Rat geben: Zu Theorie und Analyse des Beratungshandelns [1. Aufl.] 9783839423592

Wir befinden uns in einer Beratungsgesellschaft. Überall gibt es Rat für alle möglichen Fälle - im Internet, in Büchern,

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Rat geben: Zu Theorie und Analyse des Beratungshandelns [1. Aufl.]
 9783839423592

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Michael Niehaus, Wim Peeters (Hg.) Rat geben

Michael Niehaus, Wim Peeters (Hg.)

Rat geben Zu Theorie und Analyse des Beratungshandelns

Gedruckt mit Unterstützung der TU Dortmund

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2359-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Logik des Ratgebens. Eine Standardversion zur Beschreibung eines Typs von Sprechaktsequenzen

Michael Niehaus | 9 Der Ratschlag – Struktur und Interaktion

Rainer Paris | 65 Die dokumentarische Methode der Ratsuche. Harold Garfinkels Experiment und seine Auswertung

Erhard Schüttpelz | 93 Die Tunlichkeits-Form. Zu Grammatik, Rhetorik und Pragmatik von Ratgeberbüchern

Rudolf Helmstetter | 107 Kommunikative Strategien in Ratgeberbüchern zum Thema ›Trauer‹

Christian Schütte | 133 Vorformen moderner Ratgeberliteratur: Die neuzeitlichen Klugheitslehren von Machiavelli bis Thomasius

Burkhard Meyer-Sickendiek | 159 Der Berater als politische Figur der Gegenwart

Manfred Schneider | 179 Der Fall des Ödipus – antike Beratung zwischen Transzendenz und Immanenz

Eva Schauerte | 199 Ratgeben im barocken Trauerspiel. Drei Situationen

Armin Schäfer | 219 Beratungsresistenz bei Rabelais. Panurg und sein ›Ehe-Problem‹ im Dritten Buch von Gargantua und Pantagruel

Pierre Mattern | 237

Traumdeutung als Beratung. Zu den Josephs-Romanen von Philipp von Zesen und Thomas Mann

Hans-Walter Schmidt-Hannisa | 253 Dichter, Fürst und Kamarilla: Heinrich Heine berät Friedrich Wilhelm IV. Notiz zum Wintermärchen

Patrick Eiden-Offe | 275 Ludwig Bechsteins Ratgebermärchenkette. Zum Verhältnis von Erzählen und Rat

Wim Peeters | 301 Autorinnen und Autoren | 321

Vorwort M ICHAEL N IEHAUS / W IM P EETERS

Das Ratgeben ist ein grundlegender, ein unverzichtbarer Sprechakt. Es ist kaum eine Kultur denkbar, in der keine Sprechakte und Situationen vorkommen, die als Ratgeben beschrieben werden können. Wer einen Rat gibt, stellt eine Handlungsoder Verhaltensmöglichkeit in den Raum, ohne dabei unmittelbar direktiv zu sein: Die ersten sprechakttheoretischen Erwägungen avant la lettre über den Rat im Leviathan von Thomas Hobbes grenzen das Ratgeben vom Befehlen ab und problematisieren diese Unterscheidung zugleich – ein Rat zeichnet sich dadurch aus, dass der Adressat zumindest nominell frei entscheiden kann, ob er den Rat ablehnen oder befolgen möchte. In der abendländischen Kultur haben sich viele mehr oder weniger institutionalisierte Formen des Ratgebens ausgebildet. Gegenwärtig, so wird konstatiert, befindet sich die westliche Gesellschaft »in einem Zeitalter der Beratung, in einer Epoche der metastasierenden Konsultationsbedürfnisse und -angebote.«1 Beratung und Ratgeben kommt an allen Orten unserer Gesellschaft vor: als psychosoziale Beratung, als Verkaufsberatung, als Unternehmensberatung, als medizinischer Rat, als Rechtsberatung. Sie findet in unterschiedlichen medialen Formaten statt: mündlich, schriftlich, im Fernsehen, im Internet. Und sie tritt in sehr heterogenen institutionellen Formen auf: anonym, von Person zu Person, von Klient zu Institution, von Organisation zu Organisation. Zu den Disziplinen, die sich dieses heterogenen Feldes unter wechselnden Aspekten angenommen haben, gehören vor allem die Soziologie, aber auch die Pädagogik und die Kommunikationswissenschaften, die Politologie und die Philosophie. Im Unterschied zu den bisherigen Annäherungen an dieses Feld möchte dieses Buch, das auf eine Tagung zurückgeht, die unter dem Titel Sprachspiele des Ratge-

1

Thomas Macho: Zur Ideengeschichte der Beratung. Versuch einer Einführung, in: Gerd Prechtl (Hg.): Das Buch von Rat und Tat. Ein Lesebuch aus drei Jahrtausenden, München 1999, S. 29.

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bens im Frühjahr 2012 an der TU Dortmund stattfand, einen Zugang wählen, der daran erinnert, dass Beratung zunächst einmal mit dem Sprechakt des Ratgebens verknüpft ist und unabhängig von diesem Sprechakt nicht zureichend beschrieben werden kann. Ausgangspunkt ist also nicht das institutionell gerahmte bzw. vorformatierte Beratungsgespräch, bei dem ein professioneller Berater einem Klienten sein Expertenwissen zukommen lässt, sondern (dem Titel dieses Buches entsprechend) der Rat als eine Gabe – eine Gabe, die erbeten oder ungefragt sein kann, willkommen oder lästig, hilfreich sein oder ratlos machend. Das als Gabe aufgefasste Ratgeben ist ereignishaft und riskant. Es gehört zur Logik des Ratgebens, dass es sowohl glücken kann als auch misslingen. Aus dieser Perspektive lassen sich die Beiträge dieses Bandes vier sich überlagernden Schwerpunkten zuordnen. Ein erster Schwerpunkt ist die Beschäftigung mit der Ereignishaftigkeit eines Ratschlags – aus der Sicht der verstehenden Soziologie (Rainer Paris), von Harold Garfinkels ›dokumentarischer Methode‹ her (Erhard Schüttpelz), im Hinblick auf die Ratgeber-Literatur (Rudolf Helmstetter). Rudolf Helmstetters Beitrag bildet zugleich den Übergang zum zweiten Schwerpunkt, der Ratgeber-Literatur (Christian Schütte über Trauerratgeber, Burkhard Meyer-Sickendiek über frühneuzeitliche Klugheitslehren), bei der das Riskante vor allem in der Ungewissheit und Störanfälligkeit der Beziehung zwischen dem Autor und seinen Adressaten des Rates besteht. Der dritte und der vierte Schwerpunkt – der Rat in der Sphäre der Politik (Manfred Schneider über die Figur des Politikberaters) und in der Sphäre in der Literatur (Pierre Mattern, Wim Peeters) – treten häufig in Kombination auf, da der literarische Diskurs in besonderer Weise zuständig ist für die Inszenierung der Ereignishaftigkeit des Ratgebens und die Entfaltung der ihm innewohnenden Aporien, die insbesondere dort zum Austrag kommen, wo sich Herrscher beraten lassen wollen (Hans-Walter Schmidt-Hannisa, Armin Schäfer) oder sich als beratungsresistent erweisen (Eva Schauerte, Patrick Eiden-Offe). Die auf der Tagung gehaltenen Vorträge und die sich an sie anschließenden Diskussionen haben dazu geführt, dass die Herausgeber dieses Bandes einige Probleme in einem veränderten Licht gesehen und einige Fragen neu aufgeworfen haben – und dafür sei den Teilnehmern und Teilnehmerinnen an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich gedankt. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, wird dieser Band durch einen längeren theoretisch-systematischen Beitrag zur ›Logik des Ratgebens‹ eröffnet, der zugleich versucht, die vielfältigen Perspektiven und Anregungen der nachfolgenden Beiträge einzubeziehen. Schließlich möchten sich die Herausgeber noch einmal bei all jenen bedanken, die zum Gelingen der Tagung beigetragen haben: Xanthippe Paschalidou, Jessica Güsken, Horst Gruner und Ursula Göller. Besonderer Dank gebührt Sebastian Reumann, der maßgeblich für die Fertigstellung des Buches gesorgt hat, und Jennifer Niediek vom Transcript-Verlag für ihre ebenso unerschütterliche wie zuverlässige Betreuung.

Logik des Ratgebens Eine Standardversion zur Beschreibung eines Typs von Sprechaktsequenzen M ICHAEL N IEHAUS

1.

Vorüberlegungen

Das Vorhaben, mittels einer ›Standardversion‹ eine Art Modell zu konstruieren, um das Ratgeben als eine Sprechaktsequenz zu beschreiben, mag erstaunen und bedarf einer Rechtfertigung. Es passt nicht so recht zu den Schwerpunkten, die in der sprachwissenschaftlichen Forschung derzeit gesetzt werden: Ratgeben findet grosso modo in Gesprächen statt und dafür ist seit längerem die Gesprächsanalyse in ihren verschiedenen Spielarten und Weiterentwicklungen zuständig. Werner Kallmeyer hat die »Forschungslage« aus gesprächsanalytischer Perspektive in einem zusammenfassenden Aufsatz wie folgt umrissen: »Beraten« sei seit den 1970er Jahren »ein geradezu paradigmatischer Gegenstand für die Gesprächsanalyse« gewesen, »an dem die Komplexität sprachlichen Handelns in der Interaktion gezeigt werden konnte«. 1 Zunächst habe man »unter dem Einfluss der Sprechakttheorie« versucht, die »Gelingensbedingungen« dieses »Sprechakttyps« zu rekonstruieren 2; hierfür stehen etwa die Arbeiten von Götz Hindelang.3 In einer »ersten Erweiterung« habe man anschließend begonnen, relativ fest geregelte Verbindungen von Sprechakten« – sogenannte »Sprechaktsequenzen« – zu untersu-

1

Werner Kallmeyer: »Beraten und Betreuen. Zur gesprächsanalytischen Untersuchung von helfenden Interaktionen«, in: Zeitschrift für Qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 2 (2000), S. 227-252, S. 229.

2

Ebd.

3

Götz Hindelang: »Jemanden um Rat fragen«, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 5 (1977), S. 34-44; Götz Hindelang: Auffordern. Die Untertypen des Aufforderns und ihre sprachlichen Realisierungsformen, Göppingen 1978.

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chen4; ein derartiger Ansatz findet sich bereits in Komplexes Handeln von Jochen Rehbein.5 Dann habe sich »mit der Rezeption der Konversationsanalyse und der Entwicklung einer sich darauf aufbauenden Gesprächs- und Interaktionsanalyse« eine Sehweise durchgesetzt, die die »Makrostrukturen des Gesprächs« einbezog 6; hier ist als frühes Beispiel der Beitrag von Dieter Wunderlich Ein Sequenzmuster für Ratschläge zu nennen7 und sodann die auf ein Forschungsprojekt des Instituts für deutsche Sprache zurückgehende Untersuchung von Werner Nothdurft, Ulrich Reitemeier und Peter Schröder mit dem Titel Beratungsgespräche. Analyse asymmetrischer Dialoge.8 In der Folge hat sich dann – so Kallmeyers unverändert gültige Feststellung – die Betrachtung der verschiedenen »institutionellen Kontexte[ ]«, in denen Beratung vorkommt, immer weiter ausdifferenziert. Drei besonders relevante Themenkomplexe hätten sich dabei herauskristallisiert – zum ersten die besonderen »Eigenschaften asymmetrischer Kommunikation«, zum zweiten der »Einfluss von Bedingungen institutioneller Organisation« auf Beratung und zum dritten Fragen der »Professionalisierung von Beratern und Probleme ihres professionellen Handelns«.9 Offensichtlich hat sich also in der sprachwissenschaftlichen Thematisierung von Beraten eine grundlegende Transformation vollzogen. Drei Ebenen dieser Transformation lassen sich ohne weiteres unterscheiden. Zunächst einmal handelt es sich hinsichtlich des Analysegegenstandes um eine Verschiebung von kleinen zu größeren Einheiten – vom einzelnen Sprechakt zum Gespräch. Zweitens wurden – damit verbunden – die Deduktionen aus fiktiven Beispielsätzen in der Sprechakttheorie durch die induktive Analyse authentischer Gespräche ersetzt. Und drittens gilt die Aufmerksamkeit nicht mehr dem Beraten als solchen, sondern hat sich ganz auf institutionell gerahmte Formen des Beratens verlagert.10 Aus der Sicht der Gesprächsanalyse mag es sich um eine Fortschrittsgeschichte handeln. Hier soll hingegen argumentiert werden, dass es sich zugleich um die Geschichte eines Prob-

4

Kallmeyer: Beraten und Betreuen, S. 229.

5

Vgl. Jochen Rehbein: Komplexes Handeln. Elemente zur Handlungstheorie der Sprache,

6

Kallmeyer: Beraten und Betreuen, S. 229.

7

Dieter Wunderlich: »Ein Sequenzmuster für Ratschläge. Analyse eines Beispiels«, in:

Stuttgart 1977, S. 322-324.

Dieter Metzing (Hg.): Dialogmuster und Dialogprozesse, Hamburg 1981, S. 1-30. 8

Werner Nothdurft/Ulrich Reitemeier/Peter Schröder: Beratungsgespräche. Analyse

9

Kallmeyer: Beraten und Betreuen, S. 229f.

asymmetrischer Dialoge, Tübingen 1994. 10 Die Gründe für diese Verschiebungen sind komplex und hier nicht zu diskutieren.

LOGIK DES RATGEBENS

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lemverlusts handelt.11 Gefragt wurde nicht mehr, was Ratgeben, sondern nur mehr, was Beratung ist. Dass man das eine vom anderen überhaupt nicht explizit unterscheiden zu müssen glaubt, ist Indiz für eine gewisse strukturelle Blindheit. Wenn im Folgenden von der ›Logik des Ratgebens‹ die Rede sein soll, so ist dies zunächst einmal als ein methodologischer ›Schritt zurück‹ zu verstehen. Es ist bezeichnend, dass sich die Verengung des Blickfeldes in der Forschung auf institutionell gerahmte Beratung unter der Hand vollzieht. Dieter Wunderlich will noch expressis verbis den Versuch unternehmen, ein Sequenzmuster für Ratschläge aufzustellen. Er geht dabei von einer Grundstruktur aus, die durch verschiedene Verfahren expandiert werden kann (Iteration, Einbettung, Wiedereintritt). Insofern konstruiert Wunderlich den Ratschlag durchaus vom einzelnen Sprechakt aus, wie er – siehe John R. Searle12 – unter Einhaltung verschiedener Regeln jederzeit ausgesprochen werden kann. Entsprechend erklärt Wunderlich über Ratschläge: »Sie kommen überall im Leben vor, in privaten Situationen, in öffentlichen Situationen, in speziellen Beratungsinstitutionen: Jugend-, Sozial-, Mütter-, Studien, Anlageberatungen usw.«13 Das Beispiel, an dem er sein Verfahren im Anschluss illustriert, ist bereits ein authentischer Dialog: ein mitgeschnittenes Telefongespräch zwischen einer jungen Sprachwissenschaftlerin und einem Fachkollegen, der um Rat gefragt wird, auf welche Summe die Dissertationskosten in einem Formular beziffert werden sollen. Zwar handelt es sich also um ein privates Gespräch, das aber Berufliches betrifft und durch verschiedene Umstände ein semi-professionelles Gepräge bekommt. Der Erhebung authentischer Privatgespräche mit beratendem Inhalt stehen forschungspraktische Hindernisse entgegen, die es bei den anberaumten Gesprächen im institutionellen Kontext in ungleich geringerem Maß gibt. Abgesehen von rechtlichen Barrieren gilt: Je mehr der Ratschlag seinen ›Sitz im Leben‹ hat, desto weniger ist er vorhersehbar und normiert. Insofern ist das private Telefongespräch über die Dissertationskosten ein Glücksfall, der nicht ganz von ungefähr kommt. Nothdurft, Reitemeier und Schröder erklären in der Einleitung zu ihrer umfangreichen Untersuchung Beratungsgespräche, »Grundlage« ihrer »empirischen Arbeit« seien Tonaufnahmen in unterschiedlichsten institutionellen und nicht-in-

11 Vgl. hierzu auch Michael Niehaus: »Wie soll ich tante Emma umbringen?« Überlegungen zum Ratgeben als Institut, in: Literaturwissenschaft und Linguistik (2013), S. 122141. 12 Vgl. John R. Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Übersetzt von R. und R. Wiggershaus, Frankfurt a.M. 1971, S. 104ff. 13 Wunderlich: Sequenzmuster, S. 9. Diese dreißig Jahre alte Beispielliste verdient – nebenbei bemerkt – auch Interesse: Heute enthalten derartige Aufzählungen andere Posten.

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stitutionellen Kontexten und Transkriptionen dieser Tonaufnahmen« gewesen. 14 Den kategorialen Unterscheid zwischen institutionellen und nicht-institutionellen Kontexten rufen sie damit einerseits auf, um ihn andererseits sogleich einzuebnen. Tatsächlich entstammt nur eines der von ihnen in dieser Publikation vorgestellten Analysebeispiele einem nicht-institutionellen Kontext – es ist genau jenes Telefongespräch über die Dissertationskosten, das schon Wunderlich untersucht hatte. 15 Und Werner Kallmeyer analysiert dieses Gespräch, das aus dem Fundus des 1979 bis 1983 am IDS durchgeführten Forschungsprojektes stammt und seinerzeit eine »vieldiskutierte Textgrundlage«16 gewesen sei, noch einmal. Auch er unterstellt damit implizit, dass inner- und außerinstitutionelle Beratungsgespräche nach demselben Handlungsschema funktionieren. 17 Diese Voraussetzung soll hier nicht von vorn herein bestritten, wohl aber hinterfragt werden. Ihr entspricht – so die Annahme – sowohl eine Verengung in der Wahrnehmung dessen, was in institutionell gerahmten Kontexten geschieht, als auch eine Blindheit dafür, in welcher Weise ›das Institutionelle‹ möglicherweise auch außerhalb institutionell gerahmter Kontexte wirksam ist. Schließlich hat man schon deshalb, weil es in so vielen unterschiedlichen institutionellen Zusammenhängen vorkommt, von einem »Institut der Beratung« gesprochen.18 Wenn in Beratungen »das sprachliche Muster des Ratgebens für spezifische gesellschaftliche Zwecke institutionalisiert«19, so folgt daraus nicht, dass dieses Institut jederzeit nach den Regeln des Gesprächs funktionieren muss. Ein Seitenblick in

14 Nothdurft/Reitemeier/Schröder: Beratungsgespräche, Einleitung, S. 9. 15 Vgl. Peter Schröder: »Perspektivendivergenzen in Beratungsgesprächen«, in: Ebd., S. 90182, hier: S. 150-159. 16 Kallmeyer: Beraten und Betreuen, S. 248. 17 Das Gleiche gilt für andere gesprächsanalytisch ausgerichtete Untersuchungen zum Ratgeben anhand von empirischem Material; es wird zwar konstatiert, dass Ratgeben »laufend« auch ohne Experten »als nicht-institutionalisierte[s] Gespräch[ ]« stattfindet, aber dann werden allein Gespräche mit Experten als Grundlage einer Erforschung »natürlicher Dialoge« verwendet (Gerd Schank: Untersuchungen zum Ablauf natürlicher Dialoge, München 1981, S. 165). 18 Jochen Rehbein: »Medizinische Beratung türkischer Eltern«, in: Ders.: Interkulturelle Kommunikation, Tübingen 1985, S. 349-419, S. 350. Insofern das Ratgeben (bzw. die Beratung) ein ›Institut‹ ist, lässt es sich nicht auf die Situation reduzieren, in der es stattfindet. Sicherlich wird stets ›in einer Situation‹ darüber entschieden, ob etwas ein (gelingender oder misslingender) Rat ist oder etwas anderes (zum Beispiel eine Beleidigung, ein Befehl, eine Drohung, eine Warnung), aber diese Entscheidung ist nur möglich, weil wir das Ratgeben als Institut auffassen. 19 Ebd.

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die »Ideengeschichte der Beratung« zeigt etwa, dass es gute Gründe dafür gibt, »pragmatische Beratung« und »charismatische Beratung« zu unterscheiden 20, wobei die letztere gerade nicht als ein Gespräch nach den Regeln des kommunikativen Handelns abläuft. Weil die gelingende gesprächsweise Beratung – wie immer wieder betont wird – eine »kooperative Basis« sowie das »Vertrauen des Ratsuchers zum Berater« voraussetzt21, wird sie leicht zum Paradefall gelingenden kommunikativen Handelns trotz asymmetrischer Ausgangsbedingungen verklärt, ohne dass man sich darüber Rechenschaft ablegte, dass diese ›soziale Veranstaltung‹ auch als »Psycho-Technik«22 aufgefasst werden kann. Solche Gesichtspunkte entziehen sich aber einer genaueren Thematisierung, solange man darauf beharrt, nur von authentischen Dialogen institutionell gerahmter Beratung als Untersuchungsmaterial auszugehen und aus diesen ein Handlungsmuster zu abstrahieren. Der Versuch, eine ›Standardversion‹ für das Ratgeben als einer Sprechaktsequenz zu entwickeln, darf sich über die Ergebnisse der empirisch-induktiven Forschungen zur Beratung keineswegs hinwegsetzen, sondern muss sie integrieren und situieren. Auch kann sich ein solcher Versuch nicht darauf beschränken, auf das in der Sprechakttheorie beliebte Verfahren zurückzugreifen und die Logik der Sprechaktsequenz gewissermaßen aus selbstgewählten Beispielen »elementarer Dialogstrukturen«23 zu deduzieren. Der Terminus ›Standardversion‹ ist dabei nicht als implizit normativ miss zu verstehen, sondern als Hinweis darauf aufzufassen, dass sich die konstruierte bzw. rekonstruierte Abfolge in der Erklärung der Abweichungen zu bewähren hat: Wenn die Standardversion die ›Logik des Ratgebens‹ tatsächlich freilegt, dann muss sich mit ihrer Hilfe analysieren lassen, wieso die Abweichungen sind, wie sie sind (was im Rahmen dieser Ausführungen nur in Ansätzen möglich ist).24 Insofern ist die Abweichung der eigentlich interessante Fall.

20 Vgl. Thomas Macho: »Zur Ideengeschichte der Beratung«, in: 18. Kolloquium der IGPP: Philosophische Praxis und Wirtschaft, Bergisch Gladbach 31.10. bis 2.11. 2003). Aus diesem Aufsatz wird im Folgenden zitiert; in anderer Form findet sich der Beitrag von Thomas Macho bereits in: Gerd Prechtl (Hg.): Das Buch von Rat und Tat. Ein Lesebuch aus drei Jahrtausenden, München 1999, S. 17-33. 21 Schank: Untersuchungen, S. 165. 22 Boris Traue: Das Subjekt der Beratung. Zur Soziologie einer Psycho-Technik, Bielefeld 2010. 23 Wilhelm Franke: Elementare Dialogstrukturen. Darstellung, Analyse, Diskussion, Tübingen 1990. 24 Rudolf Helmstetter schlägt in seinem Beitrag in diesem Band (vgl. Abschn. 1) vor, das Ratgeben nicht als Sequenz, sondern als »Komplex« aufzufassen, weil keine Linearität der Elemente gegeben sein müsse. Es ist richtig, dass die Reihenfolge auf der sprachlichen Oberfläche teilweise umgestellt werden kann; dies ist aber nur möglich, weil es die

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Die ›Beispiele‹ müssen hierbei folglich eine ganz andere Rolle spielen als in der konstruktiv verfahrenden Sprechakttheorie. Deren Beispielpolitik ist fragwürdig, weil die Beispiele rein stabilisierende Funktion haben: Es werden typische sprachliche Realisierungsformen gewählt – also solche, bei denen die sprachliche Form an der Oberfläche mit der Tiefenstruktur übereinstimmt bzw. sie illustriert. Die Aussagekraft einer ›Logik des Ratgebens‹ hingegen würde sich in besonderer Weise an den scheinbaren Gegenbeispielen bewähren müssen.25 2.

Die Standardversion

2.1 Voraussetzungen: das Problem Voraussetzung dafür, dass Ratgeben stattfindet, scheint trivialer Weise ein ›Problem‹ dessen zu sein, dem der Rat gegeben wird. »Eine Partei, der Ratsuchende (RS), hat ein Problem«, notiert Werner Kallmeyer als zur »prototypischen Definition« des »Konzepts ›Beraten‹« gehörig. 26 Daraus folgt natürlich nur, dass der Ratsuchende Rat sucht, weil er ein Problem hat. Es ist aber auch möglich, einen Rat zu geben, ohne dass man um Rat gefragt wurde. »Ratschläge sind die speziellen Antworten auf Ratfragen, Bitten um Rat oder die implizit unterstellten Ratwünsche«, heißt es bei Dieter Wunderlich. 27 Mit der Unterstellung eines unausgesprochenen Ratwunsches wird offenbar auch das Vorhandensein eines Problems unterstellt. Man muss nicht aussprechen, dass man einen Rat wünscht, aber man muss ein Problem haben, wenn man einen Rat wünscht. Was es mit fälschlich unterstellten Ratwünschen auf sich hat, muss später erörtert werden. Hier ist zunächst einmal festzustellen, dass man auch das Vorhandensein eines Problems fälschlich unterstellen kann.

logische Abfolge der einzelnen Schritte gibt – weil es sie gibt, geraten wir durch etwaige Umstellungen nicht in Verwirrung. 25 In letzter Instanz gewinnen die Beispiele dadurch einen fiktionalen Status. Denn klar ist, dass erstens in der (insbesondere literarischen und filmischen) narrativen Fiktion Sequenzen des Ratgebens sowohl innerhalb wie außerhalb eines institutionellen Rahmens vorkommen können, und dass sie zweitens zwar konstruiert sind, aber eben (in der Regel) nicht zu dem Zweck, als Beispiel für einen typischen Ablauf einer Sequenz des Ratgebens bzw. eine Beratungsgesprächs zu dienen. Darüber hinaus darf man behaupten, dass das Ratgeben in der Fiktion weniger am (uninteressanten) Standardfall orientiert ist als an der (ereignishaften) Abweichung; vgl. für konzeptuelle Überlegungen zum Verhältnis von Rat und Narration den Beitrag von Wim Peeters in diesem Band. 26 Kallmeyer: Beraten und Betreuen, S. 228. 27 Wunderlich: Sequenzmuster, S. 9.

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Bei der Beratung in institutionellen Kontexten scheint diese Frage nicht aufzutauchen, da ja die beratenden Institutionen auf diejenigen warten, die mit ihren Problemen zu ihnen kommen. Die gesprächsanalytischen Beschreibungen der Beratungskommunikation beginnen – wie sollte es auch anders sein, da ja Gespräche analysiert werden – in dem Moment, in dem jemand die Tür zu einer Beratungsstelle aufmacht, weil er ein Problem hat. Letztlich ist das aber eine Frage der Perspektive; wer die Sachlage so beschreibt, teilt von vorn herein die Sicht der Institution. Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von Beratungsanlässen, die unter dem Stichwort »Beratung in Zwangskontexten« verbucht werden.28 Wer das Gefühl hat, gar nicht freiwillig die Tür aufzumachen, sieht das Problem nicht bei sich selbst, sondern bei der beratenden Institution, die sich ihm aufdrängt. Es gibt eben nicht einfach ein Problem, sondern Problemdefinitionen. Die Formel, auf die sich die Logik von Beratungsgesprächen in Zwangskontexten bringen lässt, ist innerhalb des Paradigmas kommunikativen Handelns schwer verdaulich: »Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden?«29 Spätestens dann, wenn die Institution die Macht der Problemdefinition für sich in Anspruch nimmt, hat der ›Klient‹ ein Problem. Man mag einwenden, dass solche strukturell verzerrten Beratungen diesen Namen nicht mehr verdienen. Das heißt aber dann, dass nicht alles, was Institutionen als Beratung bezeichnen, wirklich Beratung ist, was wiederum voraussetzt, dass es jene ›Logik des Ratgebens‹ als Maßstab geben muss, um die es hier geht. Die Frage ist daher, wie es um die Problemdefinition in dieser Logik des Ratgebens bestellt ist. Jedenfalls ist in der Standardversion davon auszugehen, dass der Ratsuchende einen Grund braucht, aus dem er um Rat fragt. Das heißt nicht, dass er ein Problem hat, sondern dass er ein Problem sieht (oder zu sehen vorgibt). Ein Beobachter kann zu Recht oder zu Unrecht feststellen, dass jemand eine Menge Probleme hat (mit seinem Alter, mit seinem Übergewicht, in seiner Beziehung usw.), ohne dass der Betreffende sie wahrnimmt oder als Probleme sieht, bei denen es sinnvoll wäre, jemanden um Rat zu fragen. Das führt zu der Frage, von welcher Beschaffenheit denn die Probleme sein müssen, bei denen man sich einen Rat wünscht. Hindelang spricht davon, dass es

28 Beispiele hierfür finden sich in unterschiedlichsten Kontexten, von der Beratungspflicht vor einer Abtreibung über verschiedene Formen psychosozialer Beratung (als einer Form der Therapie) bis hin zu Beratungen, die obligatorisch sind, um in den Genuss einer Vergünstigung zu kommen (die Anomalien einer Beratung bei letzterem – es geht um einen Nichtsesshaften, der einen Heimplatz für sich erwirken will – werden in »Perspektivendivergenzen in Beratungsgesprächen« von Peter Schröder untersucht (Nothdurft/ Reitemeier/Schröder: Beratungsgespräche, S. 136-150). 29 Vgl. Marie-Luise Conen/Gianfranco Cechin: Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden? Therapie und Beratung in Zwangskontexten, Heidelberg 2007.

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sich um ein »praktisches Problem« handeln müsse, das heißt ein Problem, bei dem die Problemlösung darin besteht, etwas zu tun.30 Und für dieses zukünftige Tun gibt es Alternativen. Rehbein ordnet das Ratgeben unter die handlungsbezogenen Sprechhandlungen ein und unterscheidet hier das Ratgeben vom Vorschlagen als einer weiteren Form des Typs »Handlungen unterstützen«. 31 Er behauptet, »daß es beim Ratgeben der Sprecher ist, der eine der Handlungsalternativen des Hörers bewertet und diese Handlungsbewertung dem Hörer mitteilt«. 32 Dem Hörer (also dem Ratsuchenden) fehlten nämlich »die Kriterien für eine Bewertung der Pläne«. 33 Das unterscheidet Rehbein zufolge das Ratgeben vom Vorschlagen, bei dem der Adressat sich über die Alternativen noch gar nicht im Klaren sei. Aus dieser Konzeption resultiert allerdings ein sehr reduktionistisches Verständnis von Ratschlägen. Wenn jemand – so das erste Beispiel von Rehbein – nach einer Reifenpanne das Rad nicht losbekommt und vorbeikommende Autofahrer sagen ihm, er solle es doch mal mit einem Kreuzschlüssel versuchen, so handle es sich um einen Vorschlag; wenn hingegen ein Fachmann des ADAC erkläre, er solle den Schraubenschlüssel in die andere Richtung drehen, so handle es sich um einen Rat.34 Denn der Fachmann des ADAC bewerte Handlungsalternativen, vor denen der von der Panne Betroffene tatsächlich stand, während die Autofahrer eine Handlungsalternative vorschlügen, an die er möglicherweise gar nicht gedacht habe (und die möglicherweise auch gar nicht zur Verfügung stehe). Das Beispiel ist in mehrfacher Hinsicht angreifbar. So grenzt Götz Hindelang die eigentlichen Ratfragen von den »Instruktionsfragen« ab, bei denen es einen »anerkannten Standardlösungsweg«35 gibt, was in diesem Beispiel anscheinend der Fall ist. Nun hat sich der Betroffene in dem Beispiel überhaupt nicht mit einer Frage an jemanden gewandt. Aber darin liegt ein weiterer Einwand. Das Beispiel funktioniert nur, weil die Situation auch ohne Worte für Dritte vollkommen transparent ist. Auch wenn es ungefragte Ratschläge gibt, so stellen sie doch zweifellos eine Abweichung dar; ein Strukturmodell für das Ratgeben sollte nicht aus ihnen abgeleitet werden. Für Hindelang gehört ein Vorschlag der Art, wie ihn die Autofahrer geben, zum Untermuster »Tip«36, der Ratschlag des Fachmannes vom ADAC hingegen zum Untermuster »praktische Auskunft«37, weil dieser aus der zweifelsfrei überlegenen Position des

30 Hindelang: Jemanden um Rat fragen, S. 37. 31 Rehbein: Komplexes Handeln, S. 316ff. 32 Ebd, S. 323. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 322f. 35 Hindelang: Jemanden um Rat fragen, S. 37. 36 Hindelang: Auffordern, S. 414. 37 Ebd., S. 415.

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Fachmannes lediglich zu einer Handlung rät, die auch in einer Bedienungsanleitung stehen könnte. Bei Ratschlägen im eigentlichen Sinne müsse hingegen die »Problemlage […] so komplex sein«, dass die Lösung auch für denjenigen, der den Rat gibt, »nicht unmittelbar auf der Hand liegt«. 38 Dann bedarf sie in der Regel auch einer vorausgegangenen Frage.39 Eine wichtige Klärung bezüglich des »Problems«, das die Voraussetzung für das Sprachspiel des Ratgebens ist, enthalten die Überlegungen Rehbeins gleichwohl: dass nämlich das Problem bereits irgendwie auf mögliche Handlungsalternativen hin strukturiert sein muss. Wäre dies nicht der Fall, könnte eine Bitte um Rat nicht von einer Bitte um Hilfe unterschieden werden. Es gehört zur Logik des Ratgebens, dass der Rat gegebenenfalls vom Beratenen in die Tat umgesetzt wird, der Ratgeber selbst hingegen nicht tätig wird. »Beratung ist immer subsidiär, als Hilfe zur Selbsthilfe angelegt«. 40 Und weil dies so ist, gehört es zu den notwendigen Voraussetzungen der Sprechaktsequenz des Ratgebens, dass derjenige, der einen Rat benötigt, schon vorher zu einer strukturierenden Problemdefinition gelangt. Dies sei in dem folgenden ersten Schritt zusammengefasst:

(A 1) X diagnostiziert bei sich ein Defizit und versucht sich eine Problemlage P klar zu machen.41 Was damit gemeint ist, lässt sich am besten an Ratfragen verdeutlichen, die zunächst einmal nicht die Form einer einfachen, handlungsbezogenen Entscheidungsfrage haben, sondern die Festlegung auf ein Verhalten betreffen – etwa: »Wie kann

38 Ebd., S. 415f. 39 Nicht besser ergeht es dem zweiten Beispiel, das Rehbein für das Ratgeben anführt. Hier soll der Kellner einem Gast raten, was er bestellen soll. Die Handlungsalternativen liegen in diesem Fall natürlich in Gestalt der Speisekarte auf dem Tisch. Aber das, was der Kellner dann vorbringt – »Heute sind Hasenläufe sehr gut« (Rehbein: Komplexes Handeln, S. 323) –, hat keinerlei Bezug zur spezifischen Situation des Gastes (der vielleicht aus prinzipiellen Gründen kein Wild isst etc.). Es handelt sich daher um ein nahezu paradigmatisches Beispiel für das Untermuster »Empfehlung« (vgl. Hindelang: Auffordern, S. 417ff.). Schon Searle regt übrigens in Sprechakte dazu an, »Beraten« mit »Empfehlen« zu vergleichen (Searle: Sprechakte, S. 105). 40 Markus Pohlmann: Beratung und Weiterbildung. Fallstudien, Aufgaben, Lösungen, München/Wien 2007, S. 35. 41 Unter »X« wird im Folgenden der Einfachheit halber eine Person verstanden; genau genommen ist X eine Partei, da im Prinzip natürlich auch Kollektive als Ratsuchende auftreten können. Die Logik des Ratgebens ist davon nicht tangiert.

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ich mein Übergewicht loswerden?«. Das Übergewicht ist hier weder die Problemlage noch das Defizit. Das Defizit besteht vielmehr darin, dass X diagnostiziert, sich in einer Situation zu befinden, die er ändern möchte (und prinzipiell glaubt ändern zu können). Dieses Defizit wird erst durch eine Vorstrukturierung darauf bezogener Handlungsmöglichkeiten in eine Problemlage überführt. Gäbe es eine solche Vorstrukturierung nicht, könnte X überhaupt nicht wissen, wen er gegebenenfalls um Rat fragen sollte (die Mutter, einen Psychotherapeuten, einen Ernährungsberater, einen Dicken, einen Dünnen). Ratlosigkeit ist immer spezifisch.42 Sich eine Problemlage klarzumachen versuchen, heißt, eine vage, unvollständige und vorläufige inwendige Darstellung für sie vornehmen (und insofern ihre sprachliche Darstellung vorbereiten). Rehbein spricht – die Ratlosigkeit allerdings allein als Wissensdefizit auffassend – in diesem Zusammenhang davon, dass der Ratbedürftige »einen zu breiten Bereich seines Wissens fokussiert. Genau diese breite Fokussierung führt aber zur Blockierung eines Planbildungsprozesses, also einer Entscheidung«. 43 2.2 Voraussetzungen: die Entscheidung, um Rat zu fragen Daraus, dass man ratlos ist und nicht weiß, wie man sich entscheiden soll, folgt nicht, dass man um Rat fragt. Man kann auch mit Ratlosigkeit leben. Und natürlich ist es nicht bei jeder Art Problemlage nötig, dass man zur Lösung des Problems jemanden um Rat fragt. Es gibt Probleme, die sich von selbst erledigen. Darüber hinaus grenzt Hindelang etwa die »Instruktionsfragen«, bei denen es nach der Vermutung von X einen »Standardlösungsweg« gibt, von den eigentlichen Ratfragen ab. Von einem Standardlösungsweg kann man sprechen, wenn es eine bereits vorliegende programmierte Lösung für ein Problem gibt, die statt eines Rates an die Hand gegeben werden könnte. Nach Hindelang gehört es zum Sprechakt des Fragens um Rat, dass der Ratsuchende glaubt, dass es für sein Problem keinen solchen Standardlösungsweg gibt, dass sein spezielles Problem also noch von keinem Programm vorhergesehen worden ist, und die Lösung »nur aus einer genauen Analyse der spezifischen Handlungssituation«44 des Ratsuchenden gewonnen werden kann.

42 Man kann hinzufügen: Damit sie spezifisch sein kann, muss man schon ›mit sich selbst zu Rate gegangen‹ sein (man muss ja auch, bevor man um Rat fragt, schon Entscheidungen getroffen haben). Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass die griechischen Vokabeln für Rat (boulé) und Wohlberatenheit (eùboulia) zunächst einmal die ›innere‹ Beratschlagung – und damit eine Art Verzögerung meinen (vgl. auch Abschn. 1 des Beitrags von Eva Schauerte in diesem Band). Ein Argument dafür, dass zum Raten nicht unbedingt Zwei gehören, sollte man daraus nicht machen, sondern eher umgekehrt, dass man sich in Zwei teilen muss, wenn man mit sich zu Rate gehen will. 43 Rehbein: Komplexes Handeln, S. 324. 44 Hindelang: Jemanden um Rat fragen, S. 37.

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Es ist aber klar, dass ein solches Programm, dessen Schritte der Ratsuchende dann für die Bearbeitung seines Problems nacheinander über die Beantwortung spezifizierender Fragen durchlaufen müsste, beliebig komplex werden kann. Wer ein Computerproblem hat, weiß, dass er automatisierte Hilfeprogramme in Anspruch nehmen kann, die von sich behaupten, das Problem in einer endlichen Anzahl von Schritten in einem automatisierten Dialog lösen zu können. Die Entwicklung von Programmen zur Problemlösung mittels automatisierter Dialoge ist eine Wachstumsbranche und ein weites Feld, das von der ›Dialogannahme‹ in der KFZWerkstatt bis zum psychologischen Test mit anschließendem Verhaltenstipp in einer Illustrierten reicht. Das letzte Beispiel zeigt schon, dass es schwer möglich ist, das ›eigentliche‹ Ratfragen definitorisch für Probleme zu reservieren, in denen eine Automatisierung des ›Rates‹ nicht möglich ist, und auch der Hinweis, dass bei derlei Programmen kein ›guter Rat‹ herauskommt, hilft nicht weiter, da auch ein schlechter Rat ein Rat ist. Und umgekehrt wissen wir alle, dass uns auch Probleme, für die es zweifellos einen Standardlösungsweg gibt, ratlos lassen können, wenn wir nicht wissen, wie wir die Lösungsprogramme benutzen sollen und dafür einen Rat einholen müssen usw.45 Um den Zuständigkeitsbereich einer Logik des Ratgebens abzustecken, muss von tatsächlichen Sprechakten ausgegangen werden, von einem Sprachspiel, in dem es die Positionen des Ratgebenden und des Ratsuchenden gibt. Dieses Sprachspiel unterscheidet sich kategorial vom Einholen einer Auskunft, dem Lesen einer Anleitung, dem Studieren von Prospekten oder dem Benutzen eines Hilfeprogramms, die man allenfalls als eine Ableitung aus der Logik der Ratgebens analysieren kann. Und damit unterscheidet sich die Standardversion des Ratgebens natürlich auch von den verschiedenen Weisen, in denen man sich einen Rat holen oder suchen kann, ohne sich an jemanden zu wenden, indem man sich ein Ratgeber-Buch oder Ähnliches kauft. In all diesen Fällen realisiert sich die Standardversion nur teilweise. Wenn sich mithin als zweite Voraussetzung formulieren lässt:

(A 2) X entscheidet sich, jemanden um Rat zu fragen, um der Lösung von P näher zu kommen, so ist dies vor allem in Abgrenzung von den angeführten anderen Möglichkeiten zu verstehen. Indem sich X entscheidet, sich an jemanden zu wenden, setzt er das

45 Ein Beispiel hierfür ist die »automatisierte Problembehandlung« in Windows. Wenn Sie nicht wissen, wie man mit einer solchen automatisierten Problembehandlung zurechtkommt, können Sie sich unter »Verwenden einer automatisierten Problembehandlung« Rat suchen.

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Institut (und nicht bloß das Handlungsmuster) des Ratgebens voraus: Er weiß, wie Ratgeben funktioniert. Manifest wird dieses Wissen insbesondere dann, wenn es zu Verstößen gegen die Logik des Ratgebens kommt. Die Entscheidung, jemanden um Rat zu fragen bedeutet, sich an ihn zu adressieren. Wer weiß, wie Ratgeben funktioniert, der weiß auch, dass – aus der Sicht einer soziologischen Phänomenologie gesprochen – die Grundsituation des Ratschlags die Dyade ist.46 Zur Standardversion der Sprechaktsequenz des Ratgebens gehört, dass es sich um eine Kommunikation zwischen Zweien handelt. In Gegenwart von Dritten oder öffentlich erfragte bzw. erteilte Ratschläge sind in der Regel etwas anderes.47 Man kann noch schärfer formulieren: Im Prinzip erfolgt das Ratgeben ohne Protokoll und ist, auch wenn es Bestandteil eines Verfahrens sein kann, seiner Logik nach selbst nicht verfahrensförmig.48 Mit der Entscheidung, sich an jemanden zu wenden, um ihn um Rat zu fragen, ist noch nicht entschieden, wer dieser Jemand sein soll. Daher kann als eine letzte Voraussetzung festgehalten werden:

(A 3) X entscheidet sich dafür, Y um Rat zu fragen,

46 Vgl. hierzu den Abschnitt 1.1 in den Ausführungen von Rainer Paris in diesem Band. Der Begriff Dyade ist allerdings missverständlich – denn es kann natürlich gerade nicht gemeint sein, dass der Ratgebende und der Ratbedürftige eine ›Spiegelbeziehung‹ eingehen oder unterhalten (wie es häufig mit der Mutter-Kind-Dyade assoziiert wird). Die institutionelle Dimension impliziert vielmehr die Wirksamkeit der Position des Dritten im Ratgeben. 47 Die Bestimmung des Ratgebens als eines ›quasi-intimen‹ Verhältnisses beinhaltet bzw. verdeutlicht natürlich, dass das Ratgeben, wie es hier modelliert wird, etwas kategorial anderes ist als die öffentliche ›beratende Rede‹(genus deliberativum) der rhetorischen Tradition. Rainer Paris leitet aus dem ›quasi-intimen‹ Charakter des Ratgebens auch ab, »dass die sogenannte ›Ratgeberliteratur‹ im Grunde keine Ratschläge gibt«, da sie sich an ein »grundsätzlich anonymes Publikum wendet« (Abschnitt 1.1 in den Ausführungen von Rainer Paris in diesem Band). Das ist sicher richtig. Wenn uns jedoch die Standardversion in Stand setzen soll, die Abweichungen zu analysieren, so muss es natürlich auf der Grundlage dieser Feststellung um die Rekonstruktion der Operationen gehen, mit denen die Ratgeberliteratur versucht, dieses Fehlen des ›quasi-intimen‹ Verhältnisses zu kompensieren. 48 Auf diesen sehr wichtigen Aspekt kann hier nicht näher eingegangen werden. Beratungen kommen natürlich in vielfacher Weise innerhalb von institutionell geregelten Verfahren vor. Institutionen können aber nur Rahmenbedingungen für den Ablauf von Beratungen festlegen, die innerhalb der Verfahren stets eine Art Freiraum darstellen.

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wobei Y sowohl eine Privatperson wie der Vertreter einer Institution sein kann. 49 Mit der Entscheidung für einen bestimmten Y ist in der Regel die Voraussetzung verbunden, dass X den avisierten Ratgeber Y kennt oder zumindest über ihn betreffende Informationen verfügt. Die Möglichkeiten, einen sogenannten ›Wildfremden‹ um Rat zu fragen, sind sehr eingeschränkt – nämlich auf die Fälle einer bestimmten Sorte von Ratlosigkeit, in denen man überdies, auch ohne gefragt zu haben, vermuten kann, dass Y über die notwendigen Kompetenzen als Ratgeber verfügt (etwa durch sein Aussehen als Ortskundiger in der Wildnis oder in letzter Instanz dadurch, dass er überhaupt hier angetroffen wird). Es ist wichtig, die Voraussetzung (A 3) von den übrigen zu trennen, weil es sich um eine eigenständige Entscheidung handelt. In der wissenschaftlichen Forschung zur Beratung kommt dieser praktisch außerordentlich bedeutsame Schritt meistens kaum vor, weil dort die Analysen erst mit dem Eintreten der Beratungssituation beginnen. Die Komplexität des Problems kann hier nur angedeutet werden. So ist die Frage, wen man in welchen Angelegenheiten wie um Rat fragen soll, ein Thema schon früher Reflexionen von Beratungssituationen auf dem Felde der politischen Traktate, etwa bei Nicolò Machiavelli 50 oder Francis Bacon. Hier geht es natürlich um den Rat, den sich der Souverän von seinen Räten holen soll. Wie schwer die Wahl des richtigen Ratgebers fallen kann, zeigt sich auch in dem Umstand, dass es in der heutigen ›Beratungsgesellschaft‹ die Möglichkeit gibt, sich darüber beraten zu lassen, wo man sich beraten lassen soll. Allgemein und vorläufig lässt sich sagen: In der Logik des Ratgebens setzt die Entscheidung von X für einen bestimmten Ratgeber Y eine Beziehung zu Y voraus, weil das Ratgeben eine ganz besondere Beziehung installiert. Um es emphatisch mit dem Satz auszudrücken, mit dem Francis Bacon seinen Essay über das Beraten einleitet: »Der größte Vertrauensbeweis der Menschen liegt darin, daß sie sich voneinander beraten lassen.«51 Es verwundert nicht, dass zahllose Beraterfirmen diesen Satz in ihre Selbstdarstellungen eingeflochten haben oder ihn gar als Wahlspruch verwenden. 52 Heutzutage ist nicht mehr nur der Herrscher in der Lage, dass sich ihm zweifelhafte Leute als Ratgeber aufdrängen. Das macht aber nur deutlich, dass derjenige, der um Rat

49 Übertragen auf gedruckte Ratgeber, entspräche dieser Schritt der Kaufentscheidung. 50 Vgl. zu Machiavellis Position zum Ratgeben auch die einleitenden Bemerkungen im Beitrag von Armin Schäfer in diesem Band. 51 Francis Bacon: Essays oder praktische und moralische Ratschläge (1625), Stuttgart 2005, S. 68. Das Gegenstück dazu ist die allgemeine Warnung vor dem Ratsuchen und dem Ratgeben, die man bei Michel de Montaigne, Goethe und anderen findet; vgl. Wilhelm Hennis: »Rat und Beratung im modernen Staat« (1962), in: Ders.: Politikwissenschaft und politisches Handeln, Tübingen 2000, S. 161-176, insbes. S. 168ff. 52 Wie man sich leicht über Google überzeugen kann.

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fragen will, weil er eine Entscheidung nicht treffen kann, in jedem Falle zunächst die Entscheidung treffen muss, wen er um Rat fragen will.53 Dass der gewählte Ratgeber im privaten wie im institutionellen und kommerziellen Bereich im Regelfall nicht der Einzige ist, der in Frage kommt, gehört zur Logik des Ratgebens und geht als strukturelle Voraussetzung in das Sprachspiel ein, da es die Beziehung zwischen Ratsuchendem und Ratgeber relativiert. Denn es bedingt, dass sich der Ratsuchende dem Ratgeber nicht ausliefert: Er kann seine Entscheidung für diesen Ratgeber zwar nicht rückgängig machen, aber er kann einen zweiten (und dritten) Rat einholen.54 2.3 Um Rat fragen Mit der Entscheidung, sich an eine bestimmte Person (oder an den Vertreter einer bestimmten Institution) zu wenden, um ihn um Rat zu fragen, wird die eigentliche Sprechaktsequenz des Ratgebens eingeleitet. Für die rein konstruktivsprechakttheoretischen Modelle beginnt das Fragen um Rat damit, dass man um Rat fragt. Die Ratfrage ist der ›initiale Sprechakt‹.55 Ratfrage und Rat sind einander paarweise zugeordnet, wobei das Ratgeben den ›zweiten Zug‹ darstellt.56 Was davor geschieht, gehört nicht dazu, weil es für die eigentliche Sprechaktsequenz nicht spezifisch ist. Geht man von der Analyse der Sprechaktsequenz zur Rekonstruktion von Beratungsdialogen über, so nennt man diesen Beginn die »Gesprächseröff-

53 Für diese Entscheidung können verschiedene Gründe ausschlaggebend sein, die aber irgendwie vermittelt werden müssen; hierbei spielen ›Ratgebererzählungen‹ eine besondere Rolle (vgl. den Beitrag von Wim Peeters in diesem Band). 54 Heute empfiehlt man bekanntlich im Bereich schwerwiegender medizinischer Entscheidung die sogenannte second opinion. Es sei angemerkt, dass sich prinzipiell zwei verschiedene Formen von ›Beraterkonkurrenz‹ unterscheiden lassen. Während man die second opinion einholt, wenn man die erste Meinung schon hat, können Ratgeber auch (mehr oder weniger) simultan auftreten (als Chor agieren oder sich ins Wort fallen). Insbesondere beim politischen Rat gilt: Der Souverän hat das strukturelle Problem, wem er unter verschiedenen hinzugezogenen und/oder ungebetenen Ratgebern sein Ohr leihen soll; es ist kein Zufall, dass – wie Hans-Walter Schmid-Hannisa in seinem Beitrag in diesem Band (Abschn. 2) ausführt – Philipp von Zesen im Assenat die Traumdeutungsszene zwischen Joseph und dem Pharao aus der Genesis mit einer Inszenierung der Beraterkonkurrenz kombiniert (vgl. für weitere Problemkonstellationen dieser Beraterkonkurrenz die Beiträge von Armin Schäfer, Patrick Eiden-Offe und Manfred Schneider in diesem Band). 55 Hindelang: Jemanden um Rat fragen, S. 34. 56 Franke: Elementare Dialogstrukturen, S. 15ff.

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nung«.57 Aus gesprächsanalytischer Perspektive lässt sich diese Eröffnung differenzieren: Wunderlich zufolge sind »Gesprächseinleitung« und »Themaeinleitung« obligatorische Strukturelemente58, wenn gesprächsweise ein Ratschlag gegeben werden soll. Man betrachte das berühmte »Dissertationskosten«-Beispiel: Nach dem telefonischen Austausch der Grußformeln – der unspezifischen Gesprächseinleitung – folgt sogleich die Themaeinleitung; der Anrufer, »benennt sein Anliegen«59 mit den Worten »ich brauch mal wieder deinen weisen Rat«. 60 In der Standardversion beginnt die Sprechaktsequenz des Ratgebens nicht mit der Frage um Rat. Zuvor muss artikuliert werden, worum es geht. Es ist aber ein Irrtum, dies als bloße ›Themaeinleitung‹ zu verbuchen. Im Gespräch über die Dissertationskosten, das als Modell dient, sieht das Ganze wie eine bloße Themeneröffnung aus, weil die Beziehung zwischen Ratsuchendem und Ratgeber bereits so fest installiert ist, dass der Wiederholungsfall ironisiert werden kann – »mal wieder« braucht der Anrufer einen »weisen« Rat.61 Der Anrufer weiß, dass er den Rat, nach dem er fragt, auch bekommt.62 Man kann sich aber weigern, einen Rat zu geben. Mehr noch: Man darf sich weigern. Der erste Schritt, den es genau zu analysieren gilt, ist daher:

(B 1) X fragt Y, ob er ihn um Rat fragen darf. Dieser erste Schritt in der eigentlichen Sprechaktsequenz fällt in der institutionell gerahmten Beratung natürlich weg. Die Beratungsstelle ist ja gerade eingerichtet worden, damit sie ein offenes Ohr für die Beladenen hat, die sie aufsuchen. Freilich kann sich erweisen, dass man mit seinem Problem bei der gewählten Beratungsstelle an der falschen Adresse ist. Aber das ist ein anderes Problem, das sich überdies erst in einem Beratungsgespräch erweist. Man könnte einwenden, dass es im Alltag genügend Situationen gibt, in denen man um Rat fragt, ohne zu fragen, ob man um Rat fragen darf, und dass das Sprachspiel des Ratgebens häufig und möglicherweise meistens nicht mit einer der-

57 Ebd., S. 151. 58 Wunderlich: Sequenzmuster, S. 28. 59 Ebd., S. 22. 60 Ebd. 61 Vgl. Kallmeyer: Beraten und Betreuen, S. 231. 62 Es kommt hinzu, dass der Angerufene als Assistent die Dissertation der Anruferin »b etreut« (ebd., S. 231), was in der Analyse von Wunderlich nicht so deutlich gesagt wird. Insofern hat das Gespräch doch einen – wenn auch inoffiziellen – institutionellen Rahmen.

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artigen formellen Eröffnungsfrage beginnt. Von diesem Einwand ist aber die Erstellung einer Standardversion, der es um die Logik des Ratgebens geht, überhaupt nicht berührt. Es wäre vielmehr für jeden einzelnen tatsächlichen Fall eines gesprächsweisen Ratgebens abzuleiten, unter welchen Voraussetzungen, mit welchen Gründen und mit welcher Wirkung ein konkretes Ratgeben an seiner Oberfläche von der Logik des Ratgebens abweichen kann. Ein besonderer Stellenwert kommt dabei natürlich der bereits etablierten Beziehung zwischen Ratsuchendem und Ratgeber zu sowie der Art der Frage um Rat: Wenn man meint, sich mit dieser Frage an diesen Ratgeber wenden zu dürfen, kann man von einer Einleitungsfrage absehen. Wenn man auf die Frage, ob man um Rat fragen darf, eine verneinende Antwort bekommen kann (weil der Gefragte keine Zeit oder keine Lust hat, sich auf ein Gespräch einzulassen usw.), warum kann man dann nicht gleich seine Frage um Rat stellen und dann eben keine Antwort bekommen? Erstens wird damit ein kommunikatives Gebot verletzt: Eine verneinende Antwort ist etwas grundlegend anderes als die Verweigerung einer Antwort. Wer eine einfache Frage stellt, hat das Recht auf eine Antwort. Im Grunde sind nur Fragen einfach, auf die man erstens mit Ja oder Nein antworten kann und von denen man zweitens sicher sein kann, dass der Gefragte sie beantworten kann, wenn er will. In diesem Sinne ist die Frage, ob man etwas fragen darf, ist die einfachste aller Fragen – gewissermaßen die transzendentale (und paradoxe) Frage. Da Fragen Aufforderungen sind63, ist die Frage, ob man etwas fragen darf, die Aufforderung, sich darüber zu äußern, ob man bereit ist, sich auffordern zu lassen. Wird in einer initialen Frage die Frage danach, ob man etwas fragen darf, schon mit einem spezifischen Aufforderungstypus verknüpft, ergibt sich bei einer bloß verneinenden Antwort die Uneindeutigkeit, ob der Gefragte der Aufforderung nicht Folge leisten wollte oder ihr nicht Folge leisten konnte (etwa, wenn jemand auf der Straße einen Passanten anspricht, ob er einen Euro für ihn habe und eine verneinende Antwort erhält). Die Frage, ob man jemanden um Rat fragen darf, ist eine notwendige Spezifikation der Frage, ob man etwas fragen darf. Denn nur mit dieser Spezifikation kann der Gefragte wissen, auf welchen Aufforderungstyp er sich mit einer bejahenden Antwort einlässt. In der Spezifikation steckt natürlich mehr als die des Aufforderungstyps. Denn X impliziert in dieser Frage ja, dass Y in der Lage ist, einen Rat zu geben – in einer Sache, von der Y noch nichts weiß. Das heißt, dass Y von X die Kompetenz unterstellt wird, in einer noch unbestimmten Sache einen Rat zu geben. Zugleich stellt X

63 Vgl. Franz Hundsnurscher: »Semantik der fragen«, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 3 (1975), S. 1-14. Vgl. auch den Beitrag von Rudolf Helmstetter (Abschn. 3) in diesem Band.

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damit klar, dass er selber dieser Kompetenz bedürftig ist (was nicht unbedingt heißt, dass er seinerseits die entsprechende Kompetenz nicht besitzt). Es handelt sich um den ersten Zug dessen, was aus der Perspektive der gesprächanalytischen Untersuchungen zum Beratungsgespräch als »Instanzeinsetzung« bezeichnet wird. Dieser Begriff fasst die »Aktivitäten« zusammen, »mit denen die Teilnehmer ihre Beteiligungsrollen herstellen«; dabei etabliere der Ratsuchende seine »Ratbedürftigkeit«, dem Ratgebenden hingegen werde »Zuständigkeit und/oder Kompetenz« zugeschrieben.64 Diese Beschreibung ist etwas ungenau. Im Grunde ›etabliert‹ der Ratsuchende seine Ratbedürftigkeit ja schon dadurch, dass er in der Beratungsstelle erschienen ist, und zugleich hat er auch eine Verteilung von ›Zuständigkeit und/oder Kompetenz‹ damit bereits vorausgesetzt. Es lässt sich daher folgern, dass im institutionell gerahmten Beratungsgespräch gar keine eigentliche Instanzeinsetzung stattfindet, da diese wird nur gleichsam wiederholt oder bestätigt wird. Umgekehrt kann man allerdings aus der Begriffsbildung schließen, dass eine Instanzeinsetzung auch dann noch kommuniziert und im Gespräch ratifiziert werden muss, wenn sie ›eigentlich‹ schon gegeben ist. Diese Einführung ins Gespräch bei Beratungen im institutionellen Kontext darf man jedoch nicht als einfachen Aushandlungsprozess verstehen – schließlich stehen die Positionen des Ratsuchenden und des Beratenden schon vorher fest. Innerhalb der Logik des Ratgebens kann man sehen, dass die ›Instanzeinsetzung‹ zweier Züge bedarf, deren erster als eine Art ›Anrufung‹ als Instanz aufzufassen ist.

(B 2) Y antwortet bejahend (oder verneinend). Wenn Y verneinend antwortet, ist die Instanzeinsetzung gescheitert. Zu diesem – hier natürlich nicht interessierenden – Fall wäre lediglich zu sagen, dass Y zwar gehalten ist, die Verneinung zu begründen, dass aber derartige Begründungsverpflichtungen nicht spezifisch für die Frage sind, ob man um Rat fragen darf. Wenn Y bejahend antwortet, ist die Instanzeinsetzung (vorerst) gelungen. Zugleich erklärt sich Y damit – wenn das Ratgeben gesprächsweise erfolgt – bereit, in ein Gespräch einzutreten, das der Logik des Ratgebens folgt. Um die Frage beantworten zu können, muss Y natürlich auch wissen, was der Eintritt in ein solches Gespräch bedeutet, welche Verpflichtungen daraus erwachsen. Die Kompetenz, die Y mit seiner Frage unterstellt wird, umfasst auch die Kompetenz, das Sprachspiel des Ratgebens regelkonform spielen zu können.

64 Nothdurft/Reitemeier/Schröder: Beratungsgespräche, Einleitung, S. 11.

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Worin die in der Bejahung eingegangenen Verpflichtungen bestehen, wird zu klären sein. Es sei aber schon hier angemerkt, dass den Verpflichtungen des Ratgebenden Verpflichtungen des Ratsuchenden entsprechen, die mehr als nur das Führen eines konsensorientierten Gespräches beinhalten (was in den vorhandenen Theorien zum Ratgeben unterbelichtet bleibt). Die bejahende Antwort von Y auf die Frage von X, ob man ihn um Rat fragen darf, wird oft eingeschränkt erfolgen. Dafür kann ein äußerer Grund (wie etwa Zeitmangel) verantwortlich sein, was hier nicht interessiert, aber auch ein der Logik des Ratgebens zuzurechnender Grund: nämlich – bei grundsätzlicher Bereitschaft, sich den mit dem Sprachspiel des Ratgebens verbundenen Verpflichtungen zu unterwerfen – der Zweifel daran, ob man über die Kompetenzen, die in der Frage (B 1) implizit unterstellt werden, auch verfügt, also der Zweifel darüber, ob man die Instanz, als die man angerufen wird, auch tatsächlich sein kann. Das kann Y nicht beurteilen, weil er noch nicht wissen kann, um welche Kompetenzen es geht; folglich muss er – unabhängig davon, ob er sich durch die Anfrage eher geschmeichelt oder eher gestört fühlt – beurteilen, ob er X zutraut, sich den richtigen Ratgeber in der noch unbekannten Sache zu suchen. Daher sind Formeln wie »Wenn ich kann...« oder »Kommt drauf an...« typische Antworten auf die Frage (B 1) – also eine Bejahung unter Vorbehalt, die aber X nicht nur dazu berechtigt, sondern dazu auffordert, fortzufahren.

(B 3) X legt P dar. Wer eine eingeschränkt oder uneingeschränkt bejahende Antwort auf die Frage erhalten hat, ob er um Rat fragen darf, fragt zunächst einmal nicht um Rat, sondern legt das Problem dar, für das er des Rates bedarf. In dem Aufsatz Jemanden um Rat fragen führt Götz Hindelang verschiedene Beispiele für Ratfragen auf. Die Formulierungen lassen dabei erkennen, dass die Darlegung des Problems in ihnen bereits vorausgesetzt ist. Auf die Frage »Soll ich Karin anrufen oder ihr einen Brief schreiben?« oder »Soll ich das Buch gründlich lesen?«65 kann natürlich nur antworten, wer weiß, was es mit Karin auf sich hat oder um welches Buch es sich handelt. Diesen beispielhaften Ratfragen lässt sich noch mehr entnehmen. Das Verb »raten« oder das Substantiv »Rat« kommt in ihnen in der Regel gar nicht vor. Während das Ratgeben ohne weiteres in Verbindung mit einer explizit performativen Formel auftreten kann (»Ich rate dir...«), ist dies beim Fragen um Rat nicht möglich. Das ist auch nicht verwunderlich, da ja die initiale Frage, ob man um Rat fragen darf, bereits die Explikation der anschließenden Performanz enthält. Abgesehen davon hat die deutsche Sprache für den initialen Sprechakt des Fragens um Rat kein eigenes

65 Hindelang: Jemanden um Rat fragen, S. 35.

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Verb (wie etwa das Bitten oder das Fragen).66 Verwendet man ersatzweise das aus dem Lateinischen abgeleitete Wort ›konsultieren‹, so verschiebt sich der Sinn hin auf den von Berufs wegen gegebenen und zweifelsfrei verfügbaren Expertenrat. 67 Ansonsten lässt sich das Fragen um Rat eben nur explizit performativ machen, indem man den Status der noch ausstehenden Antwort des Angerufenen explizit macht: »Würdest du mir raten, ihr einen Brief zu schreiben?« oder »Was rätst du mir?« oder »Rate mir«. Während in der ersten Variante der Gehalt des möglichen Rates schon vorweggenommen ist, so dass im Prinzip nur noch ein Ja oder Nein erfolgen müsste, entbehren die anderen beiden jeden Inhalts und machen so deutlich, dass das Fragen um Rat im Grunde in der Darlegung des Problems besteht und diese nur dann entfallen kann, wenn das Problem bereits bekannt ist. Dies zeigt außerdem noch einmal, dass es sinnvoll ist, die Voraussetzung (A 1) – dass X irgendwie eine interne Darstellung einer Problemlage anfertigen muss – in die Sequenz mit aufzunehmen. Denn in (B 3) ist X gezwungen, so gut er kann, diese interne Darstellung in Worte zu fassen. Das Ratgeben ist ein für beide Seiten sehr anspruchsvolles Sprachspiel. Die Darlegung des Problems durch den Ratsuchenden ist natürlich auch in den gesprächsanalytischen Untersuchungen ein fester Bestandteil. Man spricht von der Phase der »Problempräsentation«, einem »Handlungskomplex, in dessen Verlauf der Ratsuchende dem Ratgebenden ›sein‹ Problem darstellt«, wobei es die »Aufgabe des Ratsuchenden« sei, »den problematischen Charakter des Sachverhalts, den er vor den Ratgebenden ausbreitet, zu verdeutlichen und zu plausibilisieren«. 68 Je nach der Art des Problems kann die Darlegung natürlich verschieden ausführlich ausfallen, sie wird aber mindestens einen Satz mit den für einen befriedigenden Ratschlag als nötig erachteten Informationen umfassen. Die Darlegung des Problems lässt sich also sinnvoll als Phase eines Gesprächs auffassen, die im minimalen Fall auf einen Satz zusammenschrumpfen kann, wenn

66 Die paradigmatische paarweise Zuordnung von initiativem und reaktivem Sprechakt (Franke: Elementare Dialogstrukturen, S. 16ff.) ist fragen – antworten. Beim initialen Sprechakt bitten decken die Verben zusagen (›positiver Bescheid‹) bzw. abschlagen (›negativer Bescheid‹) nur einen Teilbereich der Reaktion ab, weil man eine Bitte auch ohne verbale Reaktion einfach erfüllen kann. Die Nichtrealisierung eines initialen Sprechaktes ›um Rat fragen‹ in einem eigenen Verb darf daher als signifikant erachtet werden: ›um Rat fragen‹ kann eben nicht als ein einzelner Sprechakt modelliert werden. 67 Das gilt auch für das englische to consult und das französische consulter. Konsultieren benennt darüber hinaus eigentlich keinen Sprechakt, sondern eine (institutionelle) Praxis: Einen Arzt konsultieren bedeutet ihn aufzusuchen; ein Wörterbuch konsultieren bedeutet nachzuschlagen. 68 Nothdurft/Reitemeier/Schröder: Beratungsgespräche, Einleitung, S. 11.

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dessen propositionaler Gehalt ausreichend zu sein scheint, die Problemlage deutlich werden zu lassen.69 Man kann natürlich auch geltend machen, im Minimalfall seien keine sprachlichen Mitteilungen nötig. Rehbein spricht in diesem Zusammenhang von ›Exothetisierung‹.70 Wenn jemand am Straßenrand neben einem Auto mit einem Benzinkanister in der Hand steht, ist klar, worin sein Problem besteht usw. Jochen Rehbein möchte aus einem sehr weiten Begriff von Ratgeben heraus das Handlungsmuster ausdrücklich auch auf solche Fälle anwenden. Natürlich schrumpft mit einer solchen Sichtweise die Sprechaktsequenz des Ratgebens auf ein Nichts zusammen. Im genannten Beispiel gäbe es ja auch keine Frage, ob man etwas fragen darf, keine Entscheidung für einen Ratgeber usw. Von einer solchen Minimalform aus lässt sich das Ratgeben als Sprechaktsequenz nicht rekonstruieren. In der Analyse der Struktur des Ratgebens, die Rehbein selbst anfertigt, zeigt sich das – wie bereits gesagt – unter anderem darin, dass es (wie an diesem Beispiel ersichtlich) kein Unterscheidungskriterium mehr zwischen der Frage um Rat und der Bitte um Hilfe geben kann. Das Ratgeben muss folglich als Ratgeben deklariert werden und nur unter dieser Voraussetzung wird auch die Darlegung des Problems als solche identifizierbar. Wäre es nicht erforderlich, die Darlegung des Problems als solche zu deklarieren, könnte ein Beobachter zu der Auffassung kommen, dass das Leben einer Person, wie es sich ihm präsentiert, gleichsam der Darlegung eines Problems dieser Person gleichkommt, auf die man mit einem (ungefragten) Ratschlag ›antworten‹ darf (dass beispielsweise übergewichtige Menschen ein Problem mit ihrem Übergewicht haben, ist eine verbreitete Unterstellung). Zwischen dem Problem, das X gegenüber Y darlegt, und dem Problem, das er möglicherweise aus der Sicht von Y tatsächlich hat, muss unbedingt unterschieden werden. Nicht jede deutlich als solche erkennbare Darlegung eines Problems zielt auf einen Ratschlag ab. Unzweideutig ist das nur, wenn zuvor (B 1) stattgefunden hat. Das heißt natürlich nicht, dass X die Frage, ob er um Rat fragen darf, nicht auslassen und unmittelbar mit einer Darlegung des Problems einsteigen kann.71 Er glaubt

69 Die Beispiele hierfür sind natürlich zahlreich: »Ich habe meine Brille im Zug liegen lassen.« 70 Rehbein: Komplexes Handeln, S. 324. 71 Ein intrikates Beispiel hierfür ist Franz Kafkas Kleine Fabel, in der die Maus unmittelbar mit einer geradezu klassischen Darlegung eines Problems beginnt. Es ist alles andere als klar, was die Maus mit ihrer Darlegung bezweckt. Dass sie sich an die Katze adressiert, wird erst im Anschluss deutlich, wenn die Katze ihr den Rat gibt, die Laufrichtung zu ändern – ein Rat, dessen Realisierbarkeit sie allerdings unmittelbar darauf vereitelt, indem sie die Maus auffrisst.

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dann darauf vertrauen zu können, dass die Darlegung nicht nur richtig als Frage um Rat verstanden wird (B 1), sondern auch auf offene Ohren stößt (B 2).

(B 4) Y stellt eine oder mehrere Rückfragen und X antwortet darauf. Im allgemeinen wird (B 3), die Darlegung des Problems P, da sie als Phase eines Gesprächs aufzufassen ist, nicht als Monolog ablaufen. »Der Ratgebende«, so heißt es, »wird sich in dieser Phase auf Aktivitäten beschränken«, die einer klaren Darlegung förderlich sind, möglicherweise werde er auch »die Aufmerksamkeit auf noch nicht oder bisher unzureichend berücksichtigte Aspekte lenken«. 72 Insofern lassen sich (B 3) und (B 4) empirisch nur begrenzt auseinanderhalten. Y kann die Darlegung von P jederzeit unterbrechen oder in eine andere Richtung lenken. Die Frage ist: Wie verhält es sich auf der Ebene der Logik des Ratgebens? Muss Y eine Rückfrage stellen? Insofern es die Funktion der Rückfragen ist, die Darlegung des Problems zu verbessern, besteht kein Bedarf an Rückfragen, wenn es nichts mehr zu verbessern gibt. So gesehen, könnte Y direkt im Anschluss an die Darlegung von P einen Rat geben. Andererseits folgt aus der Tatsache, dass die Darlegung von P aus der Sicht von Y vollkommen zureichend ist, keineswegs, dass X das weiß. Wird ein Rat gegeben, ohne dass zuvor durch Rückfragen eine gemeinsame Verständigungsbasis sichergestellt (bzw. wahrscheinlich gemacht) worden ist, kann X in Zweifel darüber geraten, ob der Rat auf der Grundlage einer Darlegung erfolgte, die Y anders aufgefasst hat als X sich vorstellte. 73 Man kann auch sagen, dass die Sprechaktsequenz des Ratgebens durch die Rückfragen den Regeln kommunikativen Handelns unterworfen und auf eine spezifische Weise seriös wird.74 Die Rückfragen dürfen daher zur Standardversion gerechnet werden, aber daraus folgt nicht, dass sie notwendig sind. Es steht nämlich nirgendwo geschrieben, dass das Sprachspiel des Ratgebens auf der Grundlage eines verständigungsorien-

72 Nothdurft/Reitemeier/Schröder: Beratungsgespräche, Einleitung, S. 11. 73 Wenn es um die Beratung des Souveräns geht, wird die Frage, wer darüber entscheidet, wie der Rat zu verstehen ist, in besonderer Weise prekär; vgl. den Beitrag von Armin Schäfer in diesem Band, insbesondere die Ausführungen zu Leo Armenius von Andreas Gryphius in Abschn. 1. 74 Eine hervorragende Probe aufs Exempel für den hier angesprochenen Komplex ist das Experiment Harold Garfinkels, das Erhard Schüttpelz in seinem Beitrag in diesem Band vorstellt und analysiert: Die Möglichkeit der Rückversicherung gibt es hier gerade nicht, das Ratgeben wird gewissermaßen imaginär bzw. schrumpft darauf zusammen, dass der Ratsuchende mit sich selbst zu Rate geht, um die Antworten des ›Ratgebers‹ zu deuten.

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tierten kommunikativen Handeln zu erfolgen hat. Verständigungsorientiert erfolgt nur der pragmatische Rat des Experten, nicht aber der charismatische Rat eines Heiligen oder eines Orakels.75 Weder fragt der charismatische Ratgeber nach, wie etwas gemeint war, noch kann man ihn nachher fragen, wie sein Ratspruch zu verstehen ist. Womöglich spricht er in Rätseln. Aus kulturgeschichtlicher Perspektive lässt sich die »Differenz zwischen den beiden Grundtypen der Beratung« – eben des Expertenrats und des charismatischen Rats – »schlicht und einfach daran festmachen, ob und in welcher Weise der Beratungsprozeß einen Metadiskurs über die Beratung selbst gestattet«. 76 Die Möglichkeit des Nachfragens ist die Voraussetzung für jeden Metadiskurs und bekanntlich notwendiger Bestandteil eines Gesprächs. Es scheint also, dass wir uns hier an einem kritischen Punkt befinden: Inwiefern folgen die vielfältigen Formen des charismatischen Ratschlags derselben Logik wie ein Gespräch, in dem jemand einen Ratschlag gibt? Soll sich die Logik des Ratgebens dem Gespräch unterordnen lassen oder nicht? Tatsächlich kann gerade der Ansatz, die Logik des Ratgebens zu rekonstruieren, zu der Einsicht verhelfen, dass es sich hier um eine Scheinalternative handelt: So, wie sich das charismatische Ratgeben auf dem Verbot des Nachfragens errichtet, steckt umgekehrt in jedem durch Nachfragen im Gespräch abgefederten Rat schon deshalb ein Moment, der das Gespräch transzendiert, weil das Fragen um Rat den Ratgeber als Instanz einsetzt – wenn das Ratgeben ein Institut ist, kann es sich nicht vollends im Gespräch auflösen.

(B 5) X formuliert sein Anliegen. Aus der Darlegung des Problems samt Rückfragen und Präzisierungen (B 3) und (B 4) lässt sich die Ratfrage, die X stellen möchte, möglicherweise erschließen – aber sie ist nicht schon diese Frage. Gesprächanalytisch gesehen »fordert der Ratsuchende den Ratgebenden« erstens »implizit durch die spezifische Akzentuierung der Problempräsentation« und zweitens »explizit durch die ›Anliegensformulierung‹

75 Auch in dieser Hinsicht ist das von Erhard Schüttpelz vorgestellte Experiment instruktiv, indem es eine pragmatische Paradoxie lanciert: Die Reduktion auf die Alternative Ja/Nein rückt dieses Ratgeben in Verbindung mit der Unmöglichkeit der Rückversicherung formal in die Nähe zum charismatischen Rat, während andererseits die Information gegeben wird, auf der anderen Seite befinde sich ein »Ratgeber in der Ausbildung«. Auf diese Weise rückt der Ratsuchende – wenn man so sagen darf – in die Position eines irritierten Systems. 76 Macho: Zur Ideengeschichte der Beratung, S. 7.

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[…] zur Beteiligung an der Lösung des Problems auf«. 77 Auf diese explizite ›Anliegensformulierung‹ kommt es an. Den empirischen Untersuchungen zu Beratungsgesprächen zufolge nimmt sie die Form an: »jetzt möchte ich gern wissen ..., und jetzt weiß ich nicht mehr ..., und jetzt wollt ich von Ihnen wissen ... o.ä.« an.78 In solchen Wendungen wird keine neue Information übermittelt, vielmehr zieht der Ratsuchende die Quintessenz aus dem Vorangegangenen, indem er sich nunmehr ausdrücklich als Ratsuchender definiert. Er positioniert sich in Bezug auf einen anderen, der damit beauftragt wird, einen Rat zu geben. Diesem wird damit »in einem formaleren Sinne« die »Aufgabe, sich an der Lösung des Problems zu beteiligen, überhaupt erst gestellt«.79 »Der Ratschlag«, so Rainer Paris, »teilt die Welt in zwei Klassen von Menschen: Ratgeber und deshalb Ratkompetente einerseits, Orientierungssuchende und darum Ratbedürftige andererseits«, woran er die »Asymmetrie« als konstitutives Merkmal des Ratgebens festmacht.80 Das darf freilich nicht als Essentialisierung verstanden werden, denn zweifellos ist der Ratschlag eine relationale Angelegenheit: Nichts hindert einen Ratsuchenden, bei der nächsten Gelegenheit als Ratgebender zu fungieren. Die Teilung der Welt durch den Ratschlag ist also eine vorläufige und betrifft lediglich die gegebene Situation. Die ›institutionelle Tatsache‹ dieser Teilung wird in der Formulierung des Anliegens allerdings erst angebahnt: X bekundet die Bereitschaft, diese Teilung vorzunehmen. Ratifiziert wird sie erst dadurch, dass der Ratschlag gegeben wird. Weil (B 5) einen formalen Akt in der Sprechaktsequenz repräsentiert, ist er in der Logik des Ratgebens unverzichtbar. Das heißt nicht, dass eine – wie auch immer – ›reguläre‹ Anliegensformulierung vorliegen muss. Vielmehr muss es etwas geben, was innerhalb der Beschreibung der Sprachaktsequenz als der entsprechende formale Akt firmieren kann. Wenn etwa Y die Darlegung des Problems durch X nicht durch eine Rückfrage unterbricht, sondern zu einem zumindest vorläufigen Abschluss bringt etwa durch die Frage »Und jetzt möchtest du gerne wissen, ...« o.ä., dann erfüllt die bejahende Antwort darauf dieselbe Funktion. Gerade weil es sich bei (B 5) um einen formalen Akt handelt, braucht ihn X nicht unbedingt zu äußern, sondern muss ihn lediglich ratifizieren. Darüber hinaus braucht dieser Akt nicht einmal markiert zu sein; es kann sich paradoxer Weise durchaus um einen stillschweigenden formalen Akt handeln. X kann sich sogar im Unklaren darüber sein, ihn ausgeführt zu haben. Es kommt le-

77 Nothdurft/Reitemeier/Schröder: Beratungsgespräche, Einleitung, S. 11. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Abschnitt 1.2. des Beitrags von Rainer Paris in diesem Band; vgl. auch Rainer Paris: »Raten und Beratschlagen«, in: Sozialer Sinn 6 (2005), S. 353-388, S. 356.

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diglich darauf an, dass er im Nachhinein (von Y) so behandelt werden kann, als hätte er eine Anliegensformulierung vorgebracht. Es handelt sich bei (B 5) um eine Art ›Vertragsangebot‹ von X, und es gibt – worüber man sich schon im Naturrecht belehren lassen kann81 – auch stillschweigende Verträge. Die Welt ist voll von ihnen. Mit der Anliegensformulierung fordert X sein Gegenüber Y dazu auf, einen Rat zu geben. Er zeigt sich damit (in Analogie zu einem Vertrag) dazu bereit, die Verpflichtungen zu übernehmen, die mit dem Entgegennehmen eines Rates verbunden sind. 2.4 Der Rat Nach diesen Voraussetzungen und Vorbereitungen kann der zentrale Sprechakt in der Logik des Ratgebens erfolgen:

(C 1) Y gibt einen Rat R oder lehnt das Geben eines Rates ab. 2.4.1 Das Geben eines Rates ablehnen Y ist bisher keine Verpflichtung eingegangen, einen Rat zu geben. Aus der Bejahung der Frage, ob man ihn um Rat fragen darf, folgt keine derartige Verpflichtung (entsprechend erfolgt die Bejahung häufig unter der einschränkenden Kautele »...wenn ich kann«). In den institutionell gerahmten Beratungsgesprächen ist der Fall der Ablehnung in der Regel ausgeschlossen – das ›Können‹ wird hier vorausgesetzt –, weshalb er auch nicht weiter reflektiert wird. In dem berühmten ›Dissertationskosten‹-Beispiel hingegen ist die Einschränkung durchaus repräsentiert – nämlich in der hinzugefügten Wendung, man werde auf die Anfrage hin einen Ratschlag äußern, »wenn es geht«. 82 Bei den institutionell gerahmten Beratungsgesprächen, die auf ein vorab bestehendes Beratungsangebot zurückgehen, muss es gehen. Allerdings gibt es auch hier Einschränkungen – dann nämlich, wenn der Ratsuchende mit seiner Frage bei der falschen Adresse gelandet ist. Dann fällt das Problem, das von X dargelegt worden ist, nicht in den Kompetenzbereich von Y. In diesem Fall gehört es zu den Pflichten des professionellen Beraters, den Ratsuchenden an eine andere, für ihn zuständige

81 Vgl. Martin Annen: »Die Idee des ›stillschweigenden Vertrages‹ und die Wahrhaftigkeitsfrage«, in: Manfred Schneider (Hg.): Die Ordnung des Versprechens. Naturrecht – Institution – Sprechakt, München 2005, S. 103-126. Unter anderem ist der ›Gesellschaftsvertrag‹, den wir alle eingegangen sein sollen, ein solcher stillschweigender Vertrag. 82 Wunderlich: Sequenzmuster, S. 13.

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Stelle zu verweisen. Jemand, der eine Rechtsberatung aufgesucht hat, gehört möglicherweise eher in psychologische Beratung usw. Man sieht aber, dass die Weigerung eines professionellen Beraters, dem Ratsuchenden einen Rat zuteilwerden zu lassen (bzw. ihm lediglich den Rat zu geben, sich an jemand anderen zu wenden), äußerst problematisch ist. Denn darin ist impliziert, dass X nicht in der Lage ist, sich an die richtige Stelle zu wenden. In eher technischen Fragen mag dies angehen. Besonders ›entmündigend‹ ist der Verweis an eine andere Stelle dort, wo die formale Ratfrage (B 5) sehr wohl in den Kompetenzbereich des professionellen Beraters fiele, dieser jedoch nach der Darlegung des Problems (B 3) zu der Überzeugung gekommen ist, dass das ›eigentliche Problem‹ von X anderer Art ist. Das Verhältnis von (B 3) und (B 5) ist ein zentraler Punkt in der Logik des Beratens auch außerhalb institutionell gerahmter Beratungsgespräche. Y kann aus der Darlegung des Problems durch X jederzeit eine andere Auffassung des Problems gewonnen haben als X in seiner Anliegensformulierung erkennen lässt. Und daraus resultiert die strukturelle Frage, inwiefern Y auf die explizite Frage von X eigentlich antworten muss. Y ist zwar durch die bisherige Sprechaktsequenz nicht darauf verpflichtet worden, einen Rat zu geben, wohl aber darauf, die etwaige Weigerung, einen Rat zu geben, zu begründen.83 Und diese Weigerungsgründe müssen spezifisch in Bezug auf den bisherigen Gesprächsverlauf sein. Sie dürfen nicht schon vor der Darlegung des Problems gegeben gewesen sein. Man kann sich nicht erst um Rat fragen lassen und dann erklären, man halte es mit Goethe und lehne das Ratgeben überhaupt ab.84 Die hauptsächliche Begründung für eine Weigerung wird daher in der bei der Darlegung von P zutage getretenen Inkompetenz von Y liegen, der in der typischen Wendung »Da kann ich dir nicht raten...« Ausdruck verliehen wird – also dem, was in der professionalisierten Beratung als Erklärung der Unzuständigkeit nebst Ver-

83 Nicht zuzustimmen ist daher Wunderlich, wenn er die Äußerung »ich werde ihn dir zuteil werden lassen, wenn ich kann« (ebd.) umstandslos interpretiert als: »A verspricht, den Rat zu geben« (ebd., S. 22). 84 Goethe im Gespräch mit Eckermann am 13. Februar 1831: »Es ist mit dem Ratgeben ein eigenes Ding […] und wenn man eine Weile in der Welt gesehen hat, wie die gescheitesten Dinge mißlingen und das Absurdeste oft zu einem glücklichen Ziele führt, so kommt man wohl davon zurück, jemandem einen Rat erteilen zu wollen. Im Grunde ist es auch von dem, der einen Rat verlangt, eine Beschränktheit, und von dem, der ihn gibt, eine Anmaßung. Man sollte nur Rat geben in Dingen, in denen man selber mitwirken will. Bittet mich ein anderer um guten Rat, so sage ich wohl, daß ich bereit sei, ihn zu geben, jedoch nur mit dem Beding, daß er versprechen wolle, nicht danach zu handeln« (Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (1836), Paderborn 2012, S. 336).

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weis an eine andere Stelle auftritt. Freilich ist dann noch eine Erläuterung erforderlich, warum diese Unzuständigkeit vorliegt. Auch in nichtinstitutionalisierten Zusammenhängen ist ein solcher Bescheid stets mehr oder weniger problematisch, da er ja das Urteil impliziert, dass sich X mit seinem Ansinnen zu Unrecht an Y gerichtet hat, weil er bei den Voraussetzungen (A 3) eine falsche Entscheidung getroffen hat. Die zweite Möglichkeit für Y, die Ablehnung eines Ratschlags zu begründen, drückt sich in der Formel aus »Da möchte ich dir nicht raten...« Mit dieser Auskunft siedelt sich das Ratgeben in einer noch sensibleren Sphäre an. Denn damit ist ja gesagt, dass Y einen Rat geben könnte – also durchaus kompetent wäre –, dass er aber kleinen Rat geben will. Die Gründe für eine Weigerung müssen unter diesem Vorzeichen besonders sorgsam expliziert werden. Im Prinzip wird mit ihnen unterstellt, dass X bei den Voraussetzungen (A 2) eine falsche Entscheidung getroffen hat: Sein Problem wird von Y gar nicht als eines eingestuft, dem man durch einen Ratschlag abhelfen kann oder soll. Das kann daran liegen, dass Y der Meinung ist, X täusche das Defizit, das er in eine Problemlage überführt und dargelegt hat, bis zu einem gewissen Grade nur vor. 85 Wenn in dieser Weise die Voraussetzungen für das Ratgeben (A 1) nicht vorhanden wären, könnte eine entsprechende Sprechaktsequenz auch nur scheinbar glücken (der scheinbaren Ratfrage entspräche ein scheinbarer Ratschlag). Es muss aber keineswegs so sein, dass die Ratbedürftigkeit von X, die Y als nichtbestehend einstuft, deshalb vorgetäuscht ist. Es ist durchaus möglich, dass X in aller Wahrhaftigkeit ein Problem darlegt, das in den Augen von Y kein ›wirkliches‹ Problem ist. In diesem Fall wäre die Formel eher »Da brauche ich dir nicht zu raten...«, und die Weigerung, einen Rat zu geben, bekäme mehr den Charakter einer Beruhigung oder einer Aufforderung zur Gelassenheit. Und insofern jemand einen Rat sucht, weil er ein praktisches Problem aus der Welt schaffen möchte, ist diese Form der Verweigerung eines Ratschlages selbst eine Form des Ratgebens, die das Problem auf eine besonders ›grundlegende‹ Art und Weise aus der Welt schafft. 86

85 Darauf nimmt etwa Adolph Freiherr von Knigge Bezug, wenn er in Über den Umgang mit Menschen (2. Teil, Kap. 12, 4) schreibt, niemand solle »nach Rat und fremdem Urteile« fragen, »wenn du schon entschlossen bist, Dein Ohr nur zum Beifall und Lobe zu neigen« (Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen (1790). Eingeleitet von Max Rychner, Bremen 1964, S. 302). 86 Dies ist mehr oder weniger der Ansatz verschiedener moderner ›Anti-Ratgeber‹. Unter diesem Label lassen sich Bücher zusammenfassen, die ihren Lesern die Ratbedürftigkeit, die ihnen die übrigen, ›herkömmlichen‹ Ratgeber einreden wollen, gerne ausreden möchten, mit allen paradoxalen Konsequenzen; vgl. dazu: Michael Niehaus/Wim Peeters: »Zum diskursiven Ort von Anti-Ratgebern. Eine kleine Blütenlese«, in: Non-Fiktion. Das

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Die Weigerung, einen Rat zu geben, indem man auf das Nichtbestehen des dargelegten Problems verweist, zeigt noch einmal, dass Y die Auffassung von X bezüglich seines Problems P nicht teilen muss. Dies gehört zur Logik des Ratgebens: X kann nicht davon ausgehen, dass Y das Problem genau so sieht wie er. Einen Rat suchen heißt mit der Möglichkeit rechnen, dass das Problem in den Augen des anderen anders liegt. X ist nicht Herr über sein Problem. Derjenige, den man um Rat fragt, ist nicht nur ein Erfüllungsgehilfe (sozusagen ein Server), sondern eine Instanz. Je eindeutiger die Problemdefinition allein in den Händen von X liegt, desto mehr nähert sich der Rat dem bloßen Auskunftgeben an. Und noch ein zweites, nicht weniger wesentliches Moment wird hier deutlich: Das Kriterium dafür, ob eine Sprechaktsequenz des Ratgebens ›glückt‹ bzw. ›gelingt‹ oder im Gegenteil ›missglückt‹ bzw. ›misslingt‹, kann nicht einfach sein, ob ein Ratschlag gegeben wird (und erst recht nicht, ob ein gegebener Ratschlag befolgt wird). Nur in einem sehr reduktionistischen Verständnis von geglückter Kommunikation wäre es möglich, eindeutige Kriterien dafür anzugeben, wann eine Sprechaktsequenz des Ratgebens gelungen ist. Man kann auch sagen: Ratgeben ist eine Form, in der die Ereignishaftigkeit von Kommunikation instituiert wird.87 Es scheint, dass diese Ereignishaftigkeit in den gesprächsanalytischen Untersuchungen systematisch unterbelichtet bleibt. Es gibt andere Umstände, unter denen man trotz Kompetenz in der Sache ablehnen kann, einen Ratschlag zu geben. Da Ratgeben auf eine – bislang noch nicht durchschaute – Weise damit zusammenhängt, dass sich der Ratgebende irgendwie an die Stelle des Ratsuchenden setzt, kann man das Ratgeben dort verweigern, wo eine solche Operation für unmöglich gehalten wird oder sinnlos ist. Dies ist insbesondere bei Ratfragen der Fall, die in Wahrheit Bitten um Geschmacksurteile sind. Welches Bild man sich ins Wohnzimmer hängen oder welche Frau man heiraten will, muss man schon selbst entscheiden. 88 Ein Rat könnte das Entscheidungsproblem in solchen Fällen eher vergrößern als verkleinern. Eine letzte – vielleicht die wichtigste – Form der Ablehnung eines Rates, den man durchaus geben könnte, liegt dann vor, wenn Y erkennt, dass sich der Rat nach der Darlegung des Problems

Arsenal der anderen Gattungen. 7. Jg. Heft 1/2: Ratgeber, hg. von David Oels und Michael Schikowski, Hannover 2012, S. 71-86. 87 Die theoretischen Implikationen des Begriffs der Ereignishaftigkeit können hier nicht weiter erörtert werden. Auf das kommunikative Handeln bezogen, genügt an dieser Stelle die analytische Bestimmung, dass die Ereignishaftigkeit jenen Moment im kommunikativen Handeln bezeichnen soll, der sich nicht als kommunikatives Handeln auflösen lässt. 88 Noch einmal Knigge: »Am vorsichtigsten sei man im Ratgeben bei Heiratsangelegenheiten (Knigge: Umgang, S. 302). Einen Paradefall hierfür stellt Pierre Mattern in seinem Beitrag in diesem Band vor.

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irgendwie erübrigt.89 Eine sprachliche Formel dafür wäre etwa »Ich glaube, du hast dir die Antwort schon selbst gegeben...«. Auch hier wäre die Verweigerung des Ratschlages nicht der Beweis missglückter, sondern im Gegenteil das Zeichen gelungener Kommunikation. 2.4.2 Einen Rat geben Welche Form hat nun aber der Rat, der tatsächlich als Rat gegeben wird? Was ist ein Rat? Und was bedeutet es, wenn man einen Rat gibt? Das Ratgeben kann sich explizit performativ vollziehen, muss es aber nicht. Insofern dem Rat der Platz bereitet ist, spielt das für die Frage, ob der Sprechakt des Ratens vorliegt, nur eine untergeordnete Rolle. 90 Es fällt jedoch auf, dass sich das Raten gerade dort, wo es durch den Gebrauch des Verbs ›raten‹ auf sich verweist, häufig hinter Konjunktiven verschanzt, etwa nach der Formel »Ich würde dir raten...«. 91 Ein Raten im Konjunktiv ist grosso modo gewiss ebenso ein Raten wie im Indikativ, und darin unterscheidet es sich von den meisten anderen explizit performativen Verben: »Ich würde dir versprechen...« ist kein Versprechen, »Ich würde befehlen...« kein Befehl, »Ich würde dich warnen...« keine Warnung. »Ich würde dir empfehlen...« freilich ist ebenfalls eine Empfehlung, ebenso »Ich würde dir vorschlagen...« ein Vorschlag und »Ich würde dich bitten...« eine Bitte. Rainer Paris stellt in seinen Überlegungen zur (soziologischen) Struktur des Ratschlags fest, dass »der Rat oftmals in einer Form präsentiert« wird, »die ihn gleichsam vorbeugend verwässert oder gar dementiert«: »Ich an deiner Stelle würde...« oder »Eventuell könnte man überlegen, ob...«; er erklärt dies mit dem Bemühen, »indirekten, nachträglich geltend gemachten Haftungsansprüchen oder Vor-

89 Vgl. nur die folgende Formulierung aus Francis Bacons Essay Über die Freundschaft: »Auch ist dies nicht etwa nur mit Rücksicht auf gute Ratschläge zu verstehen, die man von seinem Freunde empfängt, sondern es ist auch, bevor es noch dazu kommt, eine bekannte Tatsache, daß, wer sich mit Schwierigkeiten plagt, seine Gedanken klärt und das richtige Verständnis findet in der Mitteilung und Besprechung mit andern« (Bacon: Essays, S. 93). 90 Auf das hier involvierte schwierige Problem der Definition des (explizit) Performativen im Anschluss an John Austin kann hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu etwa Eckard Rolf: Der andere Austin. Zur Rekonstruktion/Dekonstruktion performativer Äußerungen – von Searle über Derrida und darüber hinaus, Bielefeld 2009. Für den vorliegenden Zusammenhang dürfte die Faustregel ausreichen, dass X jederzeit Y fragen kann: »Du gibst mir also den Rat R?« Das explizit Performative ist dadurch sichergestellt. 91 Eine Auflistung möglicher Äußerungsformen findet sich bei Götz Hindelang (Hindelang: Auffordern, S. 423ff.).

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würfen zu entgehen«, falls die Umsetzung zum »Fiasko« gerät.92 Denn mit dem Ratschlag sei ein »Verantwortungstransfer« verknüpft, der dem Ratgeber »eine gewisse Sorge und moralische Teilverantwortung« für die Auswirkungen der Befolgung des Rats aufbürde. Der Ratgeber wirft »gewissermaßen rhetorische Nebelkerzen und gibt den Rat von vorn herein so, daß der andere ihn später kaum darauf festnageln kann«.93 Mit dieser eher negativen Kennzeichnung ist die Frage der Verantwortlichkeit und ihres Transfers noch nicht ausreichend bestimmt. Die Bandbreite möglicher Äußerungsformen eines Rates hat ja in der mehr oder weniger unverhüllten Befehlsform auch einen entgegengesetzten Pol. »Du musst eine Entziehungskur machen!« oder »Mach eine Entziehungskur!« sind in der entsprechenden Situation zweifellos mit großer Entschiedenheit ausgesprochene Ratschläge. Aber sie klingen wie Befehle und könnten möglicherweise mit ihnen verwechselt werden. Die kategoriale Unterscheidung von Rat und Befehl ist der Einsatzpunkt der Überlegungen eines Autors, der in der reichhaltigen wissenschaftlichen Literatur zum Thema Ratgeben bzw. Beratung so gut wie nie erwähnt wird, obwohl er die ›Natur des Rates‹ vielleicht am klarsten gesehen hat. »Vom Rat« heißt das 25. Kapitel des Leviathan von Thomas Hobbes. Hobbes geht darin aus von einer sprechakttheoretischen Erklärung avant la lettre: »Wie irreführend es ist, die Natur der Dinge nach dem gewöhnlichen und schwankenden Gebrauch der Wörter zu beurteilen, wird fast nirgends so deutlich wie bei der Verwechslung von Rat und Befehl, die aus der Befehlsform beider Ausdrucksweisen entsteht«.94 Es liegt daher nahe, den Rat über die Abgrenzung vom Befehl zu definieren: als einen Typ des Auffor-

92 Abschn. 1.5 des Beitrags von Rainer Paris in diesem Band. 93 Ebd. Die Umetikettierung bzw. Einkleidung von Ratschlägen ist auch für gedruckte Ratgeber typisch – vor allem dann, wenn es sich um sensible Themen handelt wie sie beispielsweise in Trauerratgebern behandelt werden; vgl. dazu den Beitrag von Christian Schütte in diesem Band (insbes. Abschn. 6.2). 94 Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates (1651). Übersetzt von Walter Euchner, Frankfurt a.M. 1984, S. 196). Die Gegenüberstellung von Rat und Befehl hat natürlich eine lange Tradition. Insbesondere wird sie dort reflektiert, wo es um die Frage geht, mit welchem Verbindlichkeitsgrad Gott zu uns spricht. In der Patristik spielt die Unterscheidung zwischen den praecepta, den göttlichen Geboten, und den consilia, den Seligkeitsanratungen, eine große Rolle (vgl. zusammenfassend Adrian Steiner: System Beratung. Politikberater zwischen Anspruch und Realität, Bielefeld 2009, S. 23f.). Auch Hobbes liefert entsprechende Beispiele für den Unterschied zwischen Rat und Befehl aus der Heiligen Schrift (vgl. Hobbes: Leviathan, S. 198).

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derns.95 Auch Rainer Paris betont: »Der Rat empfiehlt ein bestimmtes Tun, aber er verlangt es nicht.«96 Das gilt ebenso für den sehr entschiedenen ›starken Ratschlag‹, in dem der gegebene Rat als mehr oder weniger alternativlos hingestellt wird. 97 Dass Raten als ein mehr oder weniger gezieltes Beeinflussen aufgefasst werden kann, widerspricht dem keineswegs. Wer den entschiedenen Rat »Mach eine Entziehungskur!« gibt, will den Angesprochenen gewiss zu einer bestimmten Handlungsentscheidung bewegen. Entscheidend ist, dass er »wenn es ein echter Ratschlag ist, über keinerlei Druckmittel« verfügt, »um das Vollziehen des Rates zu erzwingen«.98 Anders gesagt, die ›Druckmittel‹ liegen in der ›Situation‹, die unabhängig vom Ratgeber Bestand hat und durch dessen Ratschlag nur transparent gemacht wird. So muss es zumindest vom Ratgeber dargestellt werden, wenn sein Ratschlag de jure als solcher gelten soll. Wenn der Ratgeber auf die negativen Auswirkungen einer Nichtbefolgung der angeratenen Alternative selbst Einfluss hat, wird aus dem Rat eine Drohung. Dass die explizit performative Formel »Ich rate dir...« häufig nicht im Rahmen echter Ratschläge, sondern von Drohungen gebraucht wird – etwa im Rahmen pädagogischer Maßnahmen: »Ich rate dir, nicht noch einmal in einem solchen Zustand nah Hause zu kommen!« –, mag zur entsprechenden konjunktivischen Verwendung des Verbs ›raten‹ beigetragen haben.99 Aus einer soziologischen Perspektive liegt es auf der Hand, dass die Frage des Ratschlags in ihren Beziehungen zu Macht und Herrschaft beschrieben werden muss. Rainer Paris etwa stellt drei Kategorien auf: »von oben nach unten oder zwischen Gleichen oder extern«100, die er dann getrennt voneinander analysiert. Es ist für die soziologische Perspektive bezeichnend, dass der Rat »von unten nach oben« in eine Fußnote verbannt und als »sehr selten« klassifiziert wird: »Weil die Asym-

95

Vgl. Hindelang: Auffordern.

96

Abschnitt 1.5. des Beitrags von Rainer Paris in diesem Band. Vgl. auch die ausführliche, ebenfalls von Hobbes ausgehende Diskussion des Verhältnisses von Rat und Befehl im Beitrag von Rudolf Helmstetter in diesem Band.

97

Dieter Wunderlich: Studien zur Sprechakttheorie, Frankfurt a.M. 1976, S. 281 und Wunderlich, Sequenzmuster, S. 11.

98

Abschnitt 1.5. des Beitrags von Rainer Paris in diesem Band.

99

In Götz Hindelangs Klassifikation der Aufforderungstypen taucht das Drohen nicht auf; es wird gewissermaßen von vorn herein in eine legale (»Gebot«) und eine illegale Variante (»Erpressung«) aufgeteilt, wobei das Kriterium der Gesetzeskonformität im Rahmen einer sprechakttheoretischen Untersuchung natürlich problematisch ist (vgl. Hindelang: Auffordern, S. 322-364).

100

Paris, Raten und Beratschlagen, S. 365; vgl. auch den Abschn. 2 des Beitrags von Rainer Paris in diesem Band.

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metrie des Ratschlags das vorgegebene Machtgefälle offensiv umkehrt, können sie entweder nur in indirekter, kaschierter Form erfolgen oder sie kündigen ein grundsätzliches Aufbegehren des Mindermächtigen, also eine gravierende Revision des Abhängigkeitsverhältnisses an«.101 Für einen solchen Blick ist die Beziehung zwischen Ratgeber und Ratsuchendem aufgrund ihrer asymmetrischen Struktur sozusagen unheilbar von Machtbeziehungen infiltriert, die es zu analysieren gilt. Demgegenüber muss festgehalten werden, dass die Beziehung zwischen Ratgeber und Ratsuchendem ihrer Logik nach zunächst einmal – und zwar offensichtlich – gerade auf einer formalen Suspension von Machtbeziehungen beruht. Man kann das Sprachspiel des Ratgebens nicht in Termen der Macht beschreiben, wenn Macht als ein quantitatives Phänomen aufgefasst wird. Wenn man Ratbedürftigkeit als eine Art ›Ohnmacht‹ klassifizieren möchte, dann lässt sich dieser Zustand der Machtlosigkeit nicht verrechnen mit der Handlungs- und Entscheidungsmacht, über die man möglicherweise gleichzeitig verfügt.102 Für Paris ist der »Ratschlag von oben nach unten« die »übliche Konstellation, bei der man, wenn man in existenziellen Dingen nicht weiter weiß, eine Autorität um Rat fragt«.103 Theoretisch gesehen ist dies der uninteressanteste Fall, der wenig über die Logik des Ratgebens aussagt. Auf der Ebene der politischen Philosophie und ihrer Geschichte ist es daher der umgekehrte – von der Soziologie unbeachtete – Fall, der zu diskutieren ist. Die Logik des Ratgebens tritt dort zutage, wo der Rat ›von unten nach oben‹ gegeben wird. Nach Hobbes liegt ein Befehl (»Tu dies!«) dann vor, wenn kein »anderer Grund als der Wille des Redenden ersichtlich« ist, woraus zu folgern sei, dass der Befehlende »seinen eigenen Vorteil bezweckt«. Ein Rat hingegen liegt vor, wenn jemand, auch wenn er die Befehlsform verwendet (»Tu dies!«), von dem sich aus der Handlung »ergebenden Vorteil dessen ausgeht, zu dem er dies sagt«.104 Der Rat ist de jure dadurch bestimmt, dass er als eine Handlungsaufforderung zum Vorteil des Beratenen ausgesprochen wird. Daran führt kein Weg vorbei. Die Sprechakttheorie kann zu keinem anderen Schluss kommen; Searle formuliert lapidar: »Beraten bedeutet […], jemandem zu sagen, was das Beste für ihn ist.«105

101

Ebd.

102

Vgl. für eine Differenzierung verschiedener Ebenen der Asymmetrie in institutionell gerahmten Beratungsgesprächen vor allem Stephan Habscheid: Sprache in der Organisation. Sprachreflexive Verfahren im systemischen Beratungsgespräch, Berlin/New York 2003, S. 139ff.

103

Paris: Raten und Beratschlagen, S. 366.

104

Hobbes: Leviathan, S. 196.

105

Searle: Sprechakte, S. 105. Wenn der Rat ›von oben nach unten‹ erfolgt, so entsteht daraus eine strukturelle Zweideutigkeit. Denn wie lässt sich unterscheiden, ob es sich

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Die Logik des Ratgebens lässt sich jedoch nicht am isolierten Sprechakt des Ratens oder an der ›Struktur des Ratschlags‹ selbst ablesen, sondern nur innerhalb des Gefüges der Verpflichtungen, die im Sprachspiel des Ratgebens entstehen oder aufgerufen werden. Bei ihr spielt die verwickelte Struktur des ›Fragens um Rat‹ die entscheidende Rolle. Denn mit dem Fragen um Rat sollen die Machtbeziehungen suspendiert und durch gegenseitige Verpflichtungen ersetzt werden. Hobbes stellt fest, dass »niemand das Recht geltend machen kann, einem anderen Rat zu erteilen«. 106 Ein ungefragter Ratschlag ist daher entweder kein wirklicher Ratschlag, sondern ein Befehl, zu dem der Sprecher befugt ist, oder er ist ein unrechtmäßig gegebener Ratschlag, der vom Beratenen allenfalls toleriert werden kann. Auch wenn der ungefragte Ratgeber geltend machen kann, dass er eine Ratfrage sozusagen »antizipiert«, muss er sich gegebenenfalls »die Kritik gefallen lassen, daß er sich in Dinge einmische, die ihn nichts angehen«. 107 Der entscheidende Punkt in der Logik des Ratgebens ist in der folgenden Feststellung von Hobbes ausgesprochen: »Zur Natur des Rats gehört […], daß jedermann, der um ihn fragt, den Erteilenden billigerweise weder anklagen noch bestrafen kann, denn einen anderen um Rat fragen heißt ihm erlauben, den Rat zu erteilen, den er für den besten hält.« 108

Diese ›Natur des Rats‹ kommt nur zum Vorschein, wenn der um Rat Fragende den Ratgeber bestrafen könnte – also nur dann, wenn der Rat ›von unten nach oben‹ erteilt wird: Es ist das Problem des beratenen Souveräns, das im politischen Denken

um einen Rat handelt, wenn der Betreffende auch befehlen könnte? Dazu Hobbes: »Wo aber jemand rechtmäßig befehlen darf, wie ein Vater in seiner Familie oder ein Heerführer in einer Armee«, sind die »Ermahnungen und Warnungen […] nicht mehr Ratschläge, sondern Befehle«, bei denen es lediglich die »Menschlichkeit« erfordert, dass man sie in der »Form eines Rats statt in der barschen Sprache eines Befehls erteilt« (Hobbes: Leviathan, S. 198). 106

Ebd., S. 197.

107

Hindelang: Jemanden um Rat fragen, S. 34. Ratschläge ›von oben nach unten‹ werden Paris zufolge vor allem dann problematisch, wenn »der Ratgeber jemand ist, der zwar formal eine übergeordnete Position einnimmt, gleichzeitig aber nur wenig Ansehen und Anerkennung genießt« (Paris: Raten und Beratschlagen, S. 366). Einen solchem Jemand wird man von sich aus wohl kaum um Rat fragen. Solche Personen erteilen nur ungefragte Ratschläge.

108

Hobbes: Leviathan, S. 197.

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des Abendlands eine Schlüsselrolle spielt und bei Hobbes durchgearbeitet wird 109 – ein ebenso einfach zu formulierendes wie schwer zu lösendes Problem: Einen guten Rat gibt es für den Souverän nur, wenn er einen machtfreien Raum zu fingieren vermag, in dem der Rat ohne Angst vor möglichen Folgen gegeben werden kann. 110 Bei Machiavelli etwa heißt es, dass der kluge Fürst »weise Männer auswählt, denen allein er die Freiheit gewährt, ihm die Wahrheit zu sagen, und zwar nur über die Dinge, nach denen er fragt, und über nichts anderes«. 111 Nur unter diesen Bedingungen112 kann der um Rat Fragende die »Aufrichtigkeit« des Ratgebenden unter-

109

Schon der anschließende Satz im Leviathan lautet: »Und folglich kann jemand, der seinen Souverän, sei es ein Monarch oder eine Versammlung, auf dessen Verlangen hin berät, billigerweise dafür nicht bestraft werden.« (Ebd., S. 197) Im übrigen ist die Stellung des politischen Denkers, solange er kein Philosophenkönig ist, strukturell gesehen selbst die eines Ratgebers des Souveräns; in diesen Zusammenhang gehört natürlich auch der gesamte Komplex der Parrhesia; vgl. dazu eingehend Abschn. 3 im Beitrag von Armin Schäfer in diesem Band.

110

In der politischen Praxis handelt es sich natürlich vor allem um ein Professionalisierungsproblem: Der Souverän muss sich mit Experten umgeben, die viel von der Erhaltung der Macht des Souveräns verstehen, ohne selbst von der Macht korrumpiert zu werden (vgl. Hennis: Rat und Beratung). Das darin liegende Dilemma – Thomas Macho sieht darin ein »systemimmanentes Problem der Dynamik von Beratungsbeziehungen« (Macho: Zur Ideengeschichte der Beratung, S. 9) – hat ihr Gegenbild in der politischen Mythologie eines ganz anderen Rates ›von unten nach oben‹, in der der Herrscher sich den externen Rat eines Unprofessionalisierten holt: »In zahlreichen Kulturen wurde betont, daß der beste Rat oft aus der fernsten Position erteilt wird« (Macho: Zur Ideengeschichte der Beratung, S. 9f.). Paris nennt den »Rat von außen« einen »Grenzund Sonderfall«. In der Empirie mag das stimmen, in der Mythologie des Ratgebens jedoch nicht. Im übrigen setzt Paris fälschlich voraus, dass der Außenstehende »wegen seines Expertenstatus konsultiert« wird, »wobei dessen Sachautorität mehr noch als die Personenautorität stets unter dem Vorbehalt der Bewährung« stehe (Paris: Raten und Beratschlagen, S. 367). Der radikale Rat ›von außen‹ ist gerade kein Expertenrat: »Hole dir Rat bei dem Unwissenden wie bei dem Wissenden« heißt es bereits im pharaonischen Ägypten (Adolf Erman: Die Literatur der Ägypter, Leipzig 1923, S. 88; vgl. Macho: Zur Ideengeschichte der Beratung, S. 10).

111

Nicolò Machiavelli: Il Principe. Der Fürst (1532). Italienisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Philipp Rippel, Stuttgart 1986, S. 185.

112

Bei Machiavelli, Hobbes usw. geht es natürlich um den politischen Rat für den Souverän; es ist die Frage, inwiefern man das, was man heute die ›Imageberatung‹ (die es nicht nur, aber auch in der Politik gibt) nennt, darunter subsumieren kann; vgl. zu diesem Problemkomplex den Beitrag von Manfred Schneider in diesem Band. Insofern in

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stellen: X muss glauben, dass Y glaubt, dass das im Rat R angeratene Tun X nützen wird.113 Zwar ist Y nicht dazu verpflichtet, einen Rat zu geben (da er das Geben des Rates mit dem Hinweis auf seine Unfähigkeit auch ablehnen kann), aber er ist dazu verpflichtet, dass das, was er gibt, ein Ratschlag ist. Damit unterscheidet sich die durch (C 1) entstandene Verpflichtung von Y wesentlich von den kommunikativen Verpflichtungen, die Y eingegangen ist, als er die Frage (B 1), ob X ihn um Rat fragen dürfe, bejaht hat. Y ist also verpflichtet, etwas zu äußern, was die konstitutiven Merkmale eines Ratschlages aufweist. Rainer Paris gibt für einen Ratschlag die folgende »am Alltagsverständnis ansetzende« Definition: »Ein Ratschlag ist eine unmittelbar an eine Person gerichtete Sprechhandlung, die darauf abzielt, den anderen durch eine bestimmte Verhaltensempfehlung bei der Bewältigung eines für ihn dringlichen Problems zu unterstützen und ihm hierzu einen ihm selbst bislang nicht präsenten Lösungsweg aufzuzeigen.«114

Lässt man die inhaltlichen Probleme115 dieser Definition beiseite, so ist festzustellen, dass hier natürlich nicht definiert wird, was ein Ratschlag ist, sondern welche

der ›Imagepflege‹ eine latente Unterwerfung des Souveräns stattfindet, kann Imageberatung auch – im Sinne des Beitrags von Burkhard Meyer-Sickendiek in diesem Band – als Moment des Übergangs von der ›staatspolitischen‹ zur ›privatpolitischen Klugheit‹ verstanden werden. 113

Mit der Unterstellung der Aufrichtigkeit ist die Unterstellung der Uneigennützigkeit verknüpft (vgl. Abschnitt 1.4 des Beitrags von Rainer Paris in diesem Band). Hobbes stellt als »erste Voraussetzung für einen guten Berater« auf, »daß seine Ziele und Interessen mit den Zielen und Interessen dessen, den er berät, nicht unvereinbar sein dürfen« (Hobbes: Leviathan, S. 199). Diese hohe und folglich bisweilen unrealistische Anforderung könnte man dahingehend modifizieren, dass die möglicherweise widerstreitenden Interessen des Beratenden dem Ratsuchenden nicht unbekannt sein dürfen. Man sieht dies etwa am Grenzfall der Verkaufsgespräche, bei denen – wenn man sie überhaupt als ein ›reguläres‹ Ratgeben auffassen möchte – ein Interesse des Beratenden häufig gegeben ist.

114

Vgl. Abschnitt 1 des Beitrags von Rainer Paris in diesem Band.

115

Diese auf den ersten Blick wohlabgewogene Definition deckt sicherlich die große Mehrzahl von Ratschlägen ab. Aber sie umfasst keineswegs alle Formen, die von einer Logik des Ratgebens berücksichtigt werden müssen. So bedeutet das Merkmal, dass Y mit seinem Rat X einen »ihm selbst nicht bekannten Lösungsweg« aufzeigen muss, eine einseitige Verengung. Jochen Rehbein etwa hat – freilich nicht weniger einseitig – eine ganz andere Handlungsstruktur von »Ratgeben« im Blick, wenn er dem Ratsu-

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Eigenschaften einer Äußerung zuerkannt werden, wenn sie von einem Ratsuchenden X in einer bestimmten Situation als Ratschlag akzeptiert wird (der Rat also als illokutionärer Akt gelingt). Ob beispielsweise ein Ratschlag das hat, was Paris »Problembezug« nennt, muss man dem Ratschlag nicht unbedingt ansehen können (etwa im Falle zunächst rätselhaft bleibender charismatischer Ratschläge), es muss aber von X – auch ohne Einsicht – ein Problembezug unterstellt werden. Und diese Unterstellung ist deshalb möglich, weil sich Y dadurch, dass er das Geben des Rates nicht abgelehnt hat, dazu verpflichtet hat, etwas zu äußern, was einen Problembezug aufweist. Das Moment des Glaubens, das der Logik des Ratgebens inhärent ist, tritt bei den charismatischen Ratschlägen deutlich zutage. Wenn die Verpflichtung, die Y eingeht, indem er einen Rat gibt, darin besteht, X aufrichtig zu sagen, was »das Beste für ihn« in Bezug auf ein bestimmtes Problem ist, so folgt daraus nicht, dass X dies zum Zeitpunkt des Ratgebens bereits einzusehen in der Lage ist. Dieser Umstand spielt eine wesentliche Rolle bei der Frage nach dem, was Paris als den mit dem Ratgeben verbundenen »Verantwortungstransfer« bezeichnet. Es stelle sich nämlich stets »die Frage, wer denn, wenn es eventuell schiefgeht, für die Konsequenzen der Befolgung des Ratschlags einzustehen und diese zu verantworten hat«.116 Aus der Sicht des Ratgebers sei die Sache klar: Da der Rat eben nur ein Rat war und kein Befehl, trägt allein derjenige die Verantwortung, der den Rat aus freien Stücken befolgt hat. Und bei dieser Auffassung hat er, wie Paris anmerkt, das Bürgerliche Gesetzbuch auf seiner Seite.117 Gerade weil der Ratgeber rechtlich

chenden attestiert, dass ihm die »Handlungspläne bereits bekannt« sind, jedoch »als gleichwertig« erscheinen, weil ihm »die Kriterien für eine Bewertung dieser Pläne« fehlen (Rehbein: Komplexes Handeln, S. 323). Der Ratgeber verfügt über einschlägige Kriterien kraft seines »praktischen Wissen[s]« über den Erfolg der alternativen Handlungspläne »in ähnlichen Situationen« und kann deshalb einen Rat geben (ebd.). Im einen Fall werden Lösungswege aufgezeigt, im anderen Fall werden Alternativen bewertet, aber beide Male wird allein der Rat des Experten in Betracht gezogen. Dieser deckt jedoch nur einen Teil der Fälle gelungenen Ratgebens ab. Streng genommen ist ein Rat, bei dem das Problem durch das praktische Wissen eines Experten tatsächlich verlässlich gelöst werden kann, gar kein wirklicher Rat, weil es in diesem Fall eben einen ›Standardlösungsweg‹ gibt. 116

Paris: Raten und Beratschlagen, S. 360.

117

»Wer einem anderen einen Rat oder eine Empfehlung erteilt, ist […] zum Ersatz des aus der Befolgung des Rates oder der Empfehlung entstehenden Schadens nicht verpflichtet.« (BGB § 675 Abs. 2) Wer sich allerdings vertraglich zur Beratung verpflichtet hat, ist auch für die Richtigkeit des Rats verantwortlich und kann bei Verschulden ersatzpflichtig sein. Und um der Aufrichtigkeitsbedingung auch zu ihrem Recht zu ver-

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nicht für seinen Rat einstehen muss, möchte Paris ihm eine »gewisse Sorge und moralische Teilverantwortung« dafür aufbürden, »welche Auswirkung die Befolgung des Rats für den anderen hat«.118 Gestützt wird er dabei natürlich von den Vorwürfen, mit denen sich die Ratgeber häufig konfrontiert sehen, wenn ihr Rat unliebsame Folgen zeitigt. Für die Frage nach der Logik des Ratgebens, der es lediglich um die Beschreibung einer Sprechaktsequenz geht, können solche zweifellos richtigen Beobachtungen keine unmittelbare Rolle spielen, da sie späte Handlungsfolgen außerhalb der Sprechaktsequenz betreffen.119 Jedoch geht natürlich der Umstand, dass später, bei einer etwaigen Befolgung eines Ratschlags die negativen Folgen zugerechnet werden müssen, schon in die Sprechaktsequenz ein. 120 Daher die von Paris despektierlich als »rhetorische Nebelkerzen« gebrandmarkten Versuche des Ratgebers, seine Verantwortlichkeit für die Folgen vorab mit konjunktivischen Verklausulierungen zu moderieren. Solche Vorsichtsmaßnahmen sind als Symptome eines ›Verantwortungstransfers‹ auf einer strukturellen Ebene nur sinnvoll, weil sich die Stringenz des im Ratschlag aufgezeigten Lösungsweges nicht restlos kommunizieren lässt. Man kann, vereinfacht gesprochen, selbst dann weder zweifelsfrei beweisen noch garantieren, dass ein Ratschlag ein guter Ratschlag ist, wenn man selber davon überzeugt ist. Derjenige, dem der Ratschlag angetragen wird, muss es bis zu einem bestimmten Grade eben glauben. Die Bereitschaft jedoch, an die Güte eines Ratschlags zu glauben, hängt mit der Frage zusammen, wie sehr der Ratgeber selbst an die Güte seines Ratschlag glaubt. Y kann zwar nicht für die Folgen haftbar gemacht werden, wenn die Sache schlecht ausgeht, er ist aber verpflichtet, deutlich zu machen, in welchem Maße er selbst an seinen Ratschlag glaubt, damit X einschätzen kann, welches Gewicht er dem Rat von Y beimessen soll.

helfen, gilt, dass derjenige, der bewusst falschen Rat erteilt, um jemandem zu schaden, wegen Sittenwidrigkeit haftet. 118 119

Paris: Raten und Beratschlagen, S. 360. Zugänglich sind die Folgen eines befolgten oder nicht befolgten Rates ausschließlich in den Geschichten, die darüber erzählt werden können. Die Verknüpfung des Ratgebens mit seinen Folgen ist eine Konstruktion innerhalb eines Narrativs; vgl. auch dazu den Beitrag von Wim Peeters in diesem Band.

120

Im übrigen sollte man bei der Beschreibung des Ratgebens ohnehin nicht zu viel Gewicht auf die perlokutionäre Seite des Ratgebens legen. Es stimmt zwar, dass ein Ratschlag ein bestimmtes Tun oder Verhalten zum Inhalt haben muss (sonst würde sich das Ratgeben in ein Gespräch über ein Problem auflösen), was aber unter einem Befolgen eines Ratschlags zu verstehen ist, lässt sich gar nicht so ohne weiteres sagen, da damit eine durchaus fragwürdige kausale Beziehung hergestellt wird.

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Insofern lassen sich die Maßnahmen, die die Verbindlichkeit des Rates abschwächen, durchaus als wesentlicher Bestandteil der Aufrichtigkeitsverpflichtung verstehen. Und als Faustregel gilt natürlich, dass Y umso mehr als Instanz spricht, je apodiktischer er seinen Ratschlag formuliert (je mehr er sich exponiert). Wenn Y einen Rat R gibt, verpflichtet er sich also dazu, ihn als das zu auszuweisen, was er ist. Die Frage ist, wie man das macht. Kann man einen Ratschlag als das ausweisen, was er ist, indem man ihn ausspricht? Wer einen anderen um Rat fragt, der bittet um etwas: Er bittet um die Gabe eines Rates. Warum lässt sich Y auf ein Spiel verpflichten, an dessen Ende eine solche Gabe stehen soll? Natürlich geht es hier nicht darum, die psychologische Motivationslage zu eruieren, die Y dazu bringt, als Ratgeber zu firmieren, sondern gleichsam darum, auf welchem Boden das Sprachspiel des Ratgebens stattfindet. Und hier lautet die Antwort: Y gibt einen Rat, weil er – irgendwie – schon vorab dazu verpflichtet ist. Die Lage ist nicht ganz unähnlich derjenigen des Versprechens, bei dem man es, wenn man den Sprechakt isoliert betrachtet, ebenfalls rätselhaft finden mag, wie sich jemand einseitig auf eine künftige Handlungsweise verpflichten wollen kann. Bei institutionellen Beratungen liegt ja ohnehin eine Verpflichtung vor, im Falle kommerzieller Beratungsangebote entsteht sie durch einen Vertrag. Und bei »starken interpersonellen Verhältnissen« wird der Rat »immer auch auf der Folie der wechselseitigen Solidaritätsverpflichtungen wahrgenommen«.121 Ausdruck findet dies etwa darin, dass die Frage, ob man um Rat fragen darf (B 1), häufig durch eine direkte Forderung ersetzt wird: »Du musst mir einen Rat geben...«. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich auch über den Wert dieser Gabe urteilen. Sie ist zwar mehr als nichts, aber weniger als Hilfe. Wer dem anderen mit Rat und Tat zur Seite steht, tut mehr als ihn dort mit dem sprichwörtlichen wohlfeilen Rat abzuspeisen, wo er möglicherweise zur Hilfe verpflichtet gewesen wäre.122 2.5 Die Vermittlung des Rates Wenn Y einen Rat gegeben hat, der das beinhaltet, was seiner Meinung nach in der gegebenen Situation »das Beste« für X ist, so folgt daraus – wie ausgeführt – nicht, dass X dieser Rat einleuchtet, dass er ihn versteht. Y muss daher die Gelegenheit haben, den von ihm gegebenen Rat zu begründen bzw. zu kommentieren.

121

Paris: Raten und Beratschlagen S. 359.

122

Diesen Aspekt betont auch Rainer Paris in seinem insgesamt sehr skeptischen Blick auf das Institut des Ratgebens. Man muss freilich auch umgekehrt hinzufügen, dass das auf seiner Autonomie insistierende Subjekt oftmals die Hilfe zurückweist und nur den Rat anzuhören gesonnen ist.

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(C 2) Y begründet R. Dies ist zweifellos, auch wenn er zur Standardversion gehört, kein notwendiger Schritt in der Sprechaktsequenz des Ratgebens. Die Begründung kann ausfallen, es besteht aber der Logik des Ratgebens zufolge auf Seiten von X die Verpflichtung, Y die Möglichkeit einer Begründung einzuräumen. Vor allem aber gibt es ein genuines Interesse von X an einer solchen Begründung. Da er Y selbst um einen Rat gebeten hat, muss ihm daran gelegen sein, diesen Rat auch möglichst genau kennen zu lernen, weswegen die Begründung auch auf eine Nachfrage von X erfolgen kann. Deswegen gilt, dass sich der Schritt (C 2), dort, wo er ausfällt, als Fehlender bemerkbar macht – und deshalb gehört er zur Logik des Ratgebens. Die Entschiedenheit oder Apodiktizität, mit der ein Rat geäußert wurde, geht zwar bisweilen mit dem Ausfall einer Begründung einher, ist aber mit ihr nicht zu verwechseln. Der Rat »Du musst eine Entziehungskur machen...« kann durchaus durch alle möglichen Kommentare und Begründungen ergänzt werden, ohne an Entschiedenheit einzubüßen. Dort, wo die Begründung systematisch ausfällt, nämlich bei der Befragung eines Orakels, entstehen Interpretationsprobleme (und Experten, die man angesichts dieser Interpretationsprobleme um Rat fragen kann). 123 Insgesamt gehört die Unsicherheit darüber, wie ein Rat zu verstehen ist, beim charismatischen Rat häufig zum Setting: »Kein Charismatiker läßt sich fragen, warum und wieso seine Vorschläge angenommen werden sollen«. 124 Insbesondere in den Meister-Schüler-Verhältnissen, wie sie vor allem außerhalb der westlichen Kultur gepflegt bzw. modelliert wurden, gehört die Auseinandersetzung des Schülers mit dem in seiner Tragweite noch nicht erfassbaren oder sogar ganz unverständlichen Rat des Meisters zum Entwicklungsprogramm. Die Vorstellung, dass das, was im Rat vermittelt werden soll, in Form eines Gesprächs vermittelt werden kann, versteht sich eben keineswegs von selbst. Das Grundlegende, aber auch Schwierige an der Logik des Ratgebens besteht gerade darin, dass sich in ihr das Gesprächsideal

123

Oder aber das Problem besteht gerade darin, dass man das Interpretationsproblem nicht erkennt. Beispiel: Die Herakleiden (Hyllas) sollten auf Rat des Orakels von Delphi die »dritte Frucht« abwarten, um den Peleponnes zu erobern. Sie warteten drei Jahre, griffen an und wurden vernichtet. Die nächste Generation (Temenos) beklagte sich darüber beim Orakel, und dieses erklärte – Ausnahme! – , es seien nicht drei Jahre, sondern die dritte Generation gemeint gewesen (vgl. Myron Stagman: 100 Prophezeiungen vom Orakel in Delphi. Prophetischer Rat vom Gott Apollon, Frankfurt a.M. 2000, S. 134); vgl. zum Ratschlag durch Orakel allgemein Veit Rosenberger: Griechische Orakel. Eine Kulturgeschichte, Darmstadt 2000.

124

Macho, Zur Ideengeschichte der Beratung, S. 7.

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eines macht- bzw. herrschaftsfreien Diskurses ebenso erfüllen kann wie ein Konzept, das gerade umgekehrt auf der übersteigerten Übertragung bestehender Asymmetrien in das Sprechen basiert. Wenn einen Rat geben, heißt, jemandem zu sagen, was »das Beste für ihn« ist, dann dient die Begründung des Rates natürlich dazu, zu erklären, warum dieser Rat in dieser Situation das Beste sein soll. Aber was heißt überhaupt »das Beste«? Wer entscheidet darüber? Diesen Punkt nicht zu diskutieren impliziert, dass nach der Darlegung des Problems durch X (nebst etwaigen Nachfragen von Y) auch Einigkeit darüber besteht, worin das Problem liegt. Dass das eine unzulässige Annahme ist, erhellt schon daraus, dass dem Ratsuchenden X eine kompetente Darlegung seines Problems nicht a priori zugetraut werden kann. Es ist im Gegenteil von zentraler Bedeutung, methodologisch und praktisch davon auszugehen, dass X und Y eine verschiedene Sicht auf das Problem haben. Die gesprächsanalytische Forschung zu institutionell gerahmten Beratungsverhältnissen trägt dem Rechnung. In ihr wird unterschieden zwischen der Phase »Problempräsentation« und der sich anschließenden Phase »Entwickeln einer Problemsicht«.125 Für die Gesprächsanalyse ist das praktische Problem, dass X und Y eine unterschiedliche Problemsicht haben, eine Selbstverständlichkeit (auch wenn die Problemsicht von Y keine unmittelbare Darstellung findet). In einer sprechakttheoretischen Beschreibung lässt sich dies hingegen nicht ohne weiteres unterbringen – was man indirekt schon daran sieht, dass in der gesprächsanalytischen Phaseneinteilung der Sprechakt des Ratgebens keinen Platz hat (worüber noch zu sprechen sein wird). Die Schwierigkeit lässt sich an einem Beispielsatz demonstrieren, den Götz Hindelang in seinem Aufsatz Jemanden um Rat fragen anführt: »Wie soll ich Tante Emma umbringen?«126 Mit einem solchen Satz wird Y von X eine Frage vorgelegt, in der das avisierte – gesetzeswidrige – Ziel von vorn herein festgelegt ist. Das Problem ist eben nur das Wie. Lässt sich der Ratgeber auf diese Problemsicht von X ein, so ist er sicherlich kein guter Ratgeber. Aus sprechakttheoretischer Perspektive gelingt der Sprechakt des Fragens um Rat aber nur, wenn der Fragende den von ihm intendierten Antworttyp auf die von ihm gestellte Frage erhält. Ein anderes Kriterium steht nicht zur Verfügung. Insofern würde die Minimalsequenz von Ratfrage und Ratschlag in diesem Falle misslingen, wenn Y den zweifellos guten Rat gäbe, Tante Emma überhaupt nicht umzubringen. Wenn sich Y hingegen wider besseres Wissen auf die Problemsicht von X einlässt und auf diese spezielle Ratfrage im

125

Habscheid: Sprache in der Organisation, S. 138.

126

Hindelang: Jemanden um Rat fragen, S. 35; vgl. dazu ausführlich Michael Niehaus: »›Wie soll ich tante Emma umbringen?‹ Überlegungen zum Ratgeben als Institut«, in: Literaturwissenschaft und Linguistik H. 169 (2013), S. 122-141.

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Sinne von X antwortet – Hindelang erwägt Antworten wie »Langsam und qualvoll natürlich« und »Kaltblütig und ohne mit der Wimper zu zucken«127 –, dann müsste man seinen Rat im landläufigen Sinne als ›unaufrichtig‹ bezeichnen. Um dieser Konsequenz auszuweichen, muss Hindelang die Aufrichtigkeitsbedingung gewaltsam umdeuten: Ein Ratschlag, erklärt er, werde unaufrichtig, wenn der Ratgeber, »nicht ausschließlich die Interessen« seines Gegenüber »im Auge hat und sich statt dessen von seinen eigenen Wünschen und Präferenzen leiten läßt«. 128 Tatsächlich ist es integraler Bestandteile des Ratgebens als Institut, dass Y verpflichtet ist, seine Vorbehalte gegenüber der Problemsicht von X gegebenenfalls zum Ausdruck zu bringen. Nur deshalb kann der Ratgeber als Instanz angesprochen werden, nur deshalb ist er mehr als ein Server. Die Unterschiedlichkeit in der Problemsicht kann sich zwar auch im Ratschlag selbst ankündigen – wenn etwa Y überhaupt nicht auf die von X gestellte Ratfrage antwortet –, sie wird aber vor allem in der Begründung des Rats (C 2) zutage treten. Die Konterkarierung der Problemsicht des Ratsuchenden allein durch den Ratschlag selbst kann im Rahmen charismatischer Ratschläge erfolgen. Dies ist prinzipiell auf zwei (scheinbar) entgegengesetzte Weisen möglich: Entweder fordert der Ratschlag den Glauben an die Problemsicht des Ratgebenden als einer Autorität unmittelbar ein oder der Ratschlag bringt die Problemsicht des Ratsuchenden dadurch ins Wanken, dass der Ratschlag eines Meisters überhaupt nicht auf die dargelegte Problemsicht zu passen scheint. Wenn die Sprechaktsequenz des Ratgebens hingegen zur Gesprächsform tendiert, wird die Relativierung der Problemsicht von X gegebenenfalls in der Begründung des Ratschlags (C 2) erfolgen. Je nach Art des Fragens um Rat wird sie sich in mehr oder weniger engen Grenzen halten. In Situationen, in denen sich das Sprachspiel des Ratgebens dem psychoanalytischen Setting annähert, tendiert die Darlegung des Problems durch X allerdings zu dem, was Jacques Lacan das »leere Sprechen« (parole vide) genannt hat, eine »Parade vor dem Spiegel«129, die der Psychoanalytiker durch sein Schweigen ins Wanken bringt, der Ratgeber hingegen durch einen Ratschlag, der eine narzisstische Kränkung darstellt. 130 Aber gerade der

127

Hindelang: Jemanden um Rat fragen, S. 39.

128

Hindelang: Auffordern, S. 413.

129

Jacques Lacan: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanaly-

130

Psychoanalytisch betrachtet könnte man die Sprechaktsequenz des Ratgebens auch als

se« (1953), in: Ders.: Schriften. Bd. 1, Frankfurt a.M. 1975, S. 71-170, S. 88. eine Bitte (demande) um ›Absegnung‹ der eigenen Problemdarstellung auffassen, in der aber ihrerseits ein Begehren (désir) nach einem ›Einspruch‹ verborgen ist. Als Gegenstück dazu ließe sich Walter Benjamins in den Denkbildern ausgesprochener Rat verstehen, nicht abzuraten: »Wer um Rat gefragt wird, tut gut, zuerst des Fragenden eigene Meinung zu ermitteln, um sie sodann ihm zu bekräftigen« (Walter Benjamin: Denkbil-

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Grenzfall des psychoanalytischen Settings vermag deutlich zu machen, dass dem Rat des angerufenen Ratgebers stets das Moment einer potenziellen narzisstischen Kränkung innewohnt, die in der Begründung des Ratschlag moderiert werden kann.131 X ist dazu verpflichtet, das Recht auf freie Rede, das er Y durch seine Frage um Rat eingeräumt hat, gegebenenfalls auch auszuhalten. Y hat die Freiheit und das Recht, X zu enttäuschen – und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen Rat ›von oben nach unten‹, ›zwischen Gleichen‹, ›von außen‹ oder ›von unten nach oben‹ handelt. Außer beim Rat ›von oben nach unten‹ (wenn man diese fragwürdige Einteilung der Einfachheit halber beibehalten möchte) kann X freilich das Recht auf eine Begründung geltend machen.

(C 3) X stellt eine oder mehrere Rückfragen und Y antwortet darauf. Die Rückfragen, die X stellt, betreffen den Rat und die in ihm zutage getretene Auffassung des Problems. Sie entsprechen der Phase (B 4), in der Y Rückfragen zur Problemdarstellung von X stellen kann. Beide Male handelt es sich um gesprächstypische Erweiterungsmöglichkeiten in Form von Iterationen. Natürlich kann die Rückfrage, wenn die Begründung des Ratschlags durch Y (C 2) ausgefallen war, als erstes um eine Begründung von R bitten usw. Die Rückfragen können der Explikation und der Sicherung des Verständnisses dienen, aber auch Einwände gegen den Ratschlag und die in ihm zum Ausdruck kommende Problemsicht ins Feld führen. Besonders im zweiten Fall nimmt das Ratgeben eine elaborierte Gesprächsform an, die bis zu einer Auseinandersetzung über die beiden Problemsichten reichen kann. Zu solchen Gesprächen kann es auch kommen, ohne dass einer der Beteiligten um Rat gebeten hat: Es geht dann einfach darum, sich gesprächsweise über verschiedene Sichtweisen eines Problems auszutauschen, das einer der Beteiligten hat. In ein solches Gespräch kann das Fragen um Rat übergehen. In diesem Zusammenhang ist noch einmal auf die Frage nach dem Verhältnis von Ratgeben und Beratung zurückzukommen. Wer sich Rat in einer Beratungsstelle – also im Rahmen einer institutionell gerahmten Beratung – holt, kann wieder herauskommen, ohne einen Ratschlag gehört zu haben. Der Sprechakt des Ratgebens hat dann förmlich nicht stattgefunden. Wie Werner Kallmeyer bemerkt, kann es »ein wichtiger Bestandteil des Beratungskonzeptes« sein, »gerade keine Rat-

der (1933), in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. IV.2, Frankfurt a.M. 1980, S. 305438, S. 403). 131

Andernfalls würde der angerufene Ratgeber, in der Terminologie Lacans, von »Anderen« zum »anderen«.

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schläge zu geben«. 132 Vor allem im Ansatz der systemischen Beratung wird der Ratschlag systematisch vermieden. Statt dessen geht es darum, die Problemsicht des Ratsuchenden durch Irritation oder Konfrontation zu verändern und auf diese Weise »die Lösungssuche des Klienten zu unterstützen«133 usw. Wie lässt sich ein solches Vorgehen noch unter eine Logik des Ratgebens subsumieren? Der Ratschlag ist, wie man sagen könnte, ein herausgehobener Sprechakt. Wie bereits erwähnt, kann er explizit performativ sein oder auch nicht. Ob jemand sagt »Ich rate dir, eine Entziehungskur zu machen« oder aber »Du solltest auf jeden Fall eine Entziehungskur machen«, scheint pragmatisch gesehen kaum einen Unterschied zu machen. Wenn das so ist, dann kann der explizit formulierte Ratschlag aber auch durch eine indirekte Formulierung ersetzt werden, sodass etwa nicht mehr eigens betont, sondern nur noch begründet wird, dass eine Entziehungskur die einzige Lösung ist usw. Dann ist kein expliziter Ratschlag gegeben worden und gleichwohl würde der Betreffende nach dem Gespräch sagen, ihm sei dringend geraten worden, eine Entziehungskur zu machen. Wäre Betreffende im Zweifel, könnte er in der Regel durch eine Nachfrage eine Explizierung des Ratschlages bewirken. Der nächste Schritt der Entfernung vom Ratschlag als einem herausgehobenen Sprechakt bestünde darin, den Betreffenden im Gespräch bei der Darlegung und Erörterung des Problems auf eine Weise zu irritieren oder zu manipulieren, dass dieser selbst am Ende den gewünschten Ratschlag formuliert: »Dann muss ich wohl eine Entziehungskur machen« usw. In diesem Fall könnte die Erkenntnis immerhin noch im Gespräch formuliert und entsprechend ratifiziert werden: Der Gesprächspartner könnte als Ratgeber angesprochen werden. Wird die Beratungssituation hingegen ganz dem systemischen Konzept unterstellt, so wird der – als irritierbares System angesehene – Ratsuchende ohne Rat gelassen, da ihm die Position, von der aus der Ratschlag ausgesprochen wird, vorenthalten wird. Das ist dann im eigentlichen Sinne »Beratung ohne Ratschlag«.134 Aber schon diese Wendung selbst macht

132

Kallmeyer: Beraten und Betreuen, S. 228.

133

Ebd.

134

Sonja Raddatz: Beratung ohne Ratschlag. 3. Aufl. Wien 2003. Vgl. dazu auch die einleitenden Überlegungen im Beitrag von Pierre Mattern in diesem Band. Mattern verwendet hierfür den Begriff des Ratgebers als »vanishing mediator« und stellt ihn damit in einen Gegensatz zum (herausgehobenen) Orakel. Ähnlich liegt die Konstellation im Josephs-Roman von Thomas Mann (vgl. Abschn. 4 des Beitrags von Hans-Walter Schmidt-Hannisa in diesem Band): Joseph lässt die Deutung des pharaonischen Traums (eines charismatischen Ratschlags par excellence), die er als Selbstdeutung des Pharao lanciert, in schlussfolgernde staatspolitische Ratschläge übergehen, die sich selbst unter anderem mittels ihrer konjunktivischen Form zum Verschwinden zu bringen trachten.

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deutlich, warum die Logik des Ratgebens hier alles andere als außer Kraft gesetzt ist: Der Ratschlag ist stets präsent als das, was fehlt.135 In diesem Zusammenhang ist auch darauf einzugehen, dass in der Modellbildung der gesprächsanalytischen Forschung, in der Phasen des Gesprächs differenziert werden, der Ratschlag als herausgehobener Sprechakt natürlich nicht vorkommen kann, da sich an die »Problempräsentation« zunächst das Entwickeln »gemeinsamen Problemdefinition«136, einer »Problemsicht« und dann die Phase der »Lösungsentwicklung und -verarbeitung«137 unmittelbar anschließt. Während die ersten beiden Phasen den Abschnitten (B 2) bis (B 5) zuzuordnen wären, fallen (C 1) bis (C 3) in die Phase der Lösungsentwicklung und -verarbeitung. Hier werden folgende Teilaufgaben namhaft gemacht: »interaktive Ausarbeitung von Lösungskonzepten und Wegen zu ihrer Umsetzung«, »Plausibilisierung von Lösungsentwürfen seitens des Ratgebers«, »situationsbezogene Prüfung von Lösungsentwürfen seitens des Ratsuchenden« und schließlich »(Teil-)Ratifikation des Lösungsvorschlags seitens des Ratsuchenden«. 138 Das Geben eines begründeten Rates (C 1) und (C 2) ist hier ersetzt durch die Lösungsentwicklung als einem ›gemeinsamen‹ Projekt, bei dem die »Plausibilisierung« von bestimmten Handlungsalternativen durch den Berater an die Stelle des Ratschlags tritt.139 Die Möglichkeit von X hingegen, Rückfragen zu stellen (C 3), ist durch die »Prüfung« des Lösungsentwurfes

135

Die verschiedenen Spielarten der systemischen Beratung zeichnen sich dadurch aus, dass »die symbolische Ordnung umgangen wird« (Traue: Das Subjekt der Beratung, S. 166). Dass sie gleichwohl auf ihr aufruht, kann die systemische Beratung nicht denken (und folglich auch nicht den Unterschied zwischen Beratung und Nicht-Beratung). In einer verallgemeinerten systemtheoretischen Beschreibung ist Beratung tatsächlich die Moderierung von Streit: »Die Form der Veränderung ist der Streit. Die Funktion der Beratung besteht darin, den Streit durch Variation der Form zu moderieren« (Dirk Baecker: »Die Form der Veränderung ist der Streit, moderiert durch die Beratung«, in: Frank Boos/Barbara Heitner (Hg.): Veränderung systemisch. Management des Wandels. Praxis, Konzepte und Zukunft, Stuttgart 2004, S. 46-59, S. 46). Umgekehrt ist dann alles, was den Streit moderiert, Beratung, insofern es eben wie Beratung funktioniert.

136

Nothdurft/Reitemeier/Schröder: Beratungsgespräche, Einleitung, S. 13.

137

Habscheid: Sprache in der Organisation, S. 138.

138

Ebd.

139

Die gesprächsanalytischen Untersuchungen haben allerdings ergeben, dass der Lösungsansatz in der Regel gleichwohl einer ›Heraushebung‹ bedarf: »Diese Phase der Lösungsentwicklung wird mit der Formulierung eines konkreten Lösungsvorschlages abgeschlossen« (Nothdurft/Reitemeier/Schröder: Beratungsgespräche, Einleitung, S. 14).

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abgebildet, die unter der Regie des Ratsuchenden stattfindet. Dabei erscheint der Begriff der Prüfung allerdings nicht ganz unproblematisch, da er suggeriert, dass der Ratsuchende über eine entsprechende Kompetenz verfügt. Gemeint ist jedoch nur, dass es eben der Ratsuchende ist, der sich die Lösungsentwürfe zu eigen machen (›ratifizieren‹) oder sie verwerfen kann. 2.6 Der Abschluss (C 4) X bedankt sich und Y nimmt den Dank entgegen. Es gehört gewiss zur Standardversion des Ratgebens, dass sich der Ratsuchende für den erhaltenen Ratschlag bedankt, da der Ratschlag eine Gabe ist, die unentgeltlich gegeben worden ist.140 Merkwürdig mag erscheinen, dass der Dank an dieser Stelle im Rahmen der Sprechaktsequenz erfolgen soll. Dies bedarf einer Begründung. Der Dank gehört zunächst einmal zur Logik des Ratgebens, weil X dazu verpflichtet ist, anzuerkennen, dass ihm durch Y eine Gabe zuteil geworden ist. In dieser Hinsicht aufschlussreich ist der ironisch ausgesprochene Dank für ungebetene Ratschläge. Wenn beispielsweise jemand den »Rat« bekommt, er solle sich mal wieder die Haare waschen, dann mag er etwa antworten: »Vielen Dank für den Ratschlag – aber ich kann schon selbst entscheiden, wann ich mir die Haare wasche«. Gerade in der Ironisierung wird deutlich: Der Dank gilt dem Sprechakt des Ratgebens als solchem (C 1), und zwar unabhängig davon, ob es ein Ratschlag ist, den man in die Tat umzusetzen gedenkt. Der Dank ist spätestens dann fällig, wenn mit (C 2) und (C 3) der Rat ausreichend begründet, expliziert und kommentiert worden ist. Damit, dass er um Rat gefragt hat, hat sich X auch dazu verpflichtet, den Ratschlag von Y auch dann als eine Gabe anzuerkennen, wenn er mit ihm nichts anfangen kann. Denn Y hat sich nicht verpflichtet, einen Rat zu geben, den X für gut hält, sondern nur, dass das, was er gibt, ein Rat ist. Damit, dass X sich bedankt (und Y den Dank entgegennimmt), wird festgestellt, dass die Sprechaktsequenz des Ratgebens – das Ratgeben als illokutionärer Akt – gelungen ist. Was die späteren perlokutionären Folgen des Ratschlags angeht, so stehen sie ebenso auf einem anderen Blatt wie die Frage, ob X im Moment mit dem Rat zufrieden ist (was ebenfalls eine perlokutionäre Folge darstellt). Allerdings kann X, indem er seine Zufriedenheit mit

140

Natürlich gibt es entgeltlich erteilten Rat, wo die Dinge anders liegen. Aber auch dort muss sich der Ratsuchende bedanken oder ein funktionales Äquivalent für den Dank äußern.

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dem Rat zum Ausdruck bringt oder gar bereits kundtut, dass er ihn befolgen wird, unter Umständen ein funktionales Äquivalent zum Dank liefern. 141 Diese Positionierung des Dankes widerspricht auf den ersten Blick der Phaseneinteilung in den gesprächsanalytischen Untersuchungen. »Die Phase der Lösungsentwicklung«, heißt es dort, sei »abgeschlossen, wenn der Ratsuchende zu erkennen gibt, daß er den Vorschlag – mit Einschränkungen oder uneingeschränkt – in seine Handlungsorientierungen zu übernehmen gedenkt oder zumindest versuchen wird, ihn zu berücksichtigen«. Erst in der anschließenden Phase der »Situationsauflösung«, so weiter, »wird sich der Ratsuchende in der Regel beim Ratgebenden bedanken«. Hierfür seien »ich kann’s auf alle Fälle mal versuchen, vielen Dank, das hilft mir jetzt erst mal weiter, danke, jetzt seh’ ich schon etwas klarer o.ä.« typische Wendungen.142 In diesen Wendungen wird zwischen der bereits eingetretenen Folge des Ratschlags – dass man jetzt bereits ›klarer sieht‹ – und der beabsichtigten Folge – man könne es ›mal versuchen‹ – nicht unterschieden. Das ist insofern plausibel, als sich der Ratsuchende in beiden Fällen für eine Veränderung zu bedanken scheint, die die Beratung bei ihm bewirkt hat. Und für die wohltätigen Folgen des Rats kann er sich schließlich im Voraus nicht bedanken. Dennoch verdeckt diese Sichtweise, dass der Dank für den Ratschlag völlig unabhängig von der Veränderung fällig ist, die er beim Ratsuchenden ausgelöst hat. Denn diese Veränderungen sind perlokutive Effekte, der Dank gilt hingegen dem Gelingen der Illokution, um die der Ratsuchende nachgefragt hatte (verborgen bleibt dies, weil die ersten perlokutiven Effekte in der Regel mit dem Gelingen der Illokution einhergehen). Der beste Beweis dafür ist, dass der Dank im Prinzip auch dann abgestattet werden muss, wenn die unmittelbare Wirkung des Ratgebens negativ beurteilt werden, was etwa in Wendungen wie »Jetzt bin ich eigentlich noch verwirrter als vorher, aber trotzdem vielen Dank« zum Ausdruck kommen kann.143

141

In dem ›Dissertationskosten‹-Beispiel gibt es keinen expliziten Dank für den Ratschlag, statt dessen aber ein »na gut, dann schreib ich das da rein« (Wunderlich: Sequenzmuster, S. 20), mit dem der Ratsuchende zu erkennen gibt, dass er den Rat zu beherzigen gedenkt. Ob eine solche Ersetzung möglich ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab, zu denen die Art der Beziehung zwischen X und Y ebenso gehört wie die Frage, ob X noch einen weiteren Ratgeber in derselben Sache konsultieren wird.

142

Nothdurft/Reitemeier/Schröder: Beratungsgespräche, Einleitung, S. 14.

143

Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass der Effekt eines Ratschlages hinsichtlich der Komplexität der Situation von zwei Seiten her betrachtet werden kann – sowohl als komplexitätssteigernd wie auch als komplexitätsreduzierend; einerseits reduziert der gegebene Rat die Handlungsoptionen auf eine einfache Alternative (das Angeratene und das Nicht-Angeratene), andererseits muss zumindest diese Alternative der zuvor vom Ratsuchenden wahrgenommenen Komplexität hinzugefügt werden (vgl. zu diesem

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In der Gesprächsanalyse wird der abzustattende Dank in der Phase der Situationsauflösung mit der »Honorierung der Beraterleistung« verknüpft. Mit ihr – so »minimal« sie auch ausfallen mag – »signalisiert der Ratsuchende, daß damit zumindest für die bestehende Situation das Involviertsein des Ratgebenden in das Problem aufgehoben ist, er seine Beraterrolle aufgeben kann«. Man könne sozusagen von einer »Entlastung des Beraters« sprechen.144 Diese Honorierung bzw. Entlastung ist symbolischer Natur – sie besteht etwa in einer der oben angeführten Redewendungen, mit denen er die Leistung des Beraters anerkennt. Sie ist nicht zu verwechseln mit einem Honorar, das in einer kommerziellen Beratung vereinbart worden ist. Gerade in der kommerziellen Beratungsbeziehung ist über das Honorar hinaus auch eine symbolische Honorierung nötig, da der Ratsuchende nur durch sie bestätigen kann, dass er die Vereinbarung auch nach Erbringung der Leistung für einen fairen Handel hält. Das gleiche gilt für die institutionell gerahmte Beratung: Wer ein Beratungsangebot wahrnimmt, darf eine Leistung erwarten, die über das bloße Faktum, dass der Ratgeber tatsächlich einen Rat gibt, hinausgeht. Dass Dank und Honorierung in diesen Fällen mit der Erbringung einer Leistung verbunden werden, verdeckt, dass unterhalb dieser ökonomischen Ebene auch die eigentliche Logik des Ratgebens wirksam ist, in der es sich anders verhält. Das Ratgeben ist kein Sprachspiel, das man in Termen der Ökonomie zureichend beschreiben kann. Der Dank markiert das Ende der Sprechaktsequenz des Ratgebens. Insofern er abgestattet wird, signalisiert X mit ihm, dass er jetzt genug gehört hat. Nur er kann entscheiden, ob das der Fall ist. Gleichwohl kann Y versuchen, in der Beantwortung der Fragen von X diesen Abschluss auszulösen. Die »Floskeln«, mit denen das geschieht, sind aus den gesprächsanalytischen Untersuchungen ebenfalls bekannt: »viel konnt ich Ihnen ja nicht sagen, ich weiß nicht, ob Ihnen das jetzt was gebracht hat, mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen, vielleicht hab ich Ihnen ja doch etwas weiterhelfen können o.ä.«.145 Mit solchen Redewendungen, mit denen Y gewissermaßen andeutet, dass X seine Geduld jetzt genug strapaziert hat, kann Y aber an X lediglich appellieren. Oder genauer: Er teilt X seine Einschätzung mit, dass der Rat R jetzt ausreichend erörtert worden ist. Bei den charismatischen Ratschlägen, wo keine Begründung des Rates (C 2) gefordert werden kann und auch keine Rückfragen (C 3) möglich sind, erfolgt der Dank von X in der Regel unmittelbar auf den Ratschlag (C 1). Anders als beim Dank in gesprächsförmigen Beratungen wird er auch nicht mit begleitenden Kommentaren versehen, da X mit den Ratschlägen charismatischer Ratgeber überhaupt nicht die Erwartung verbinden darf, im Augen-

Problem auch die Ausführungen in Abschn. 1 von Rudolf Helmstetters Beitrag in diesem Band. 144

Nothdurft/Reitemeier/Schröder: Beratungsgespräche, Einleitung, S. 14.

145

Ebd., S. 14f.

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blick ihres Erteiltwerdens zu verstehen, was es mit ihnen auf sich hat. Während beim charismatischen Ratschlag die Sprechaktsequenz in ihrer Abfolge eindeutig definiert ist – zwar wird sie durch den Dank von X beendet, aber X ist dazu verpflichtet, sie durch den Dank zu beenden –, wird sie bei gesprächsförmig gegebenen Ratschlägen uneindeutig. Je mehr das Ratgeben erst durch Begründung und Erläuterung vollständig wird, desto mehr obliegt es X zu entscheiden, ob die Sache beendet ist. Y kann zwar äußere Gründe wie etwa ein begrenztes Zeitkontingent anführen und damit eine Gesprächsbeendigung de facto erzwingen, aber auch dann ist er de jure darauf angewiesen, dass X dieser Erzwingung durch seinen Dank zustimmt. Noch ein weiteres Missverständnis hinsichtlich der Verpflichtungen von Y bei der Beendigung der Sprechaktsequenz des Ratgebens ist auszuräumen. Es führt noch einmal vor Augen, was ein Ratschlag seiner Logik nach ist. Dieter Wunderlich beschreibt die »Situation des Ratschlagens« so, dass dort bestimmte »Aufgaben abgewickelt werden« müssen.146 Und zwar müsse der Ratgeber »dafür sorgen, daß er eine Antwort auf das Problem findet«, die den »Präferenzen« des Ratsuchenden entspreche und für ihn »akzeptabel« sei. Diese Beschreibung ist sehr allgemein und darum unklar. Sie legt nämlich nahe, dass der Ratgeber einen Rat finden muss, der den Ratsuchenden zufrieden stellt. Damit wird der Ratsuchende einmal mehr in der Position eines Leistungsempfängers gesehen, der eine Leistung als ungenügend ablehnen kann, wenn sie ihm nicht passt (was den Ratgeber entsprechend in die Position eines Servers bringt). Das ist eine Folge des allgemeinen Problems, dass die Sprechakttheorie keine vom initiierenden Sprechakt unabhängigen Kriterien für das Gelingen einer Sprechaktsequenz generieren kann. Die Frage nach der Beendigung einer Sequenz des Ratgebens ist nach dieser Anschauung noch auf andere Weise problematisch. Wunderlich behauptet nämlich folgerichtig: Nur dann, wenn der Ratsuchende »akzeptiert«, sei der Ratgeber »aus der Aufgabe entlassen«. Wenn der Ratsuchende hingegen nicht akzeptiert, müsse der Ratgeber »entweder einen neuen Ratschlag finden oder Gründe für den gegebenen Ratschlag anführen«. 147 Verschärft wird das Problem dadurch, dass für Wunderlich das Akzeptieren eines Ratschlags tatsächlich in dessen »Übernahme« 148 besteht, also in der Kundgabe der Intention, ihn zu beherzigen und nicht – wie es richtig wäre – in der Kundgabe, dass man das Problem nach dem Ratschlag anders sieht als vor dem Ratschlag. Wunderlich will dem Ratgeber auferlegen, den gegebenen Ratschlag bei Bedarf entweder zu begründen oder einen neuen Ratschlag zu geben. Diese beiden Alternativen liegen nicht auf derselben Ebene. Ersteres ist – wie man

146

Wunderlich: Sequenzmuster, S. 11.

147

Ebd.

148

Ebd., S. 26.

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gesehen hat – bei nicht-charismatischen Ratschlägen zutreffend. Letzteres macht den in seinem Inhalt unerwünschten Ratschlag zu einer mangelhaften Ware, die man zurückweisen kann, was in letzter Instanz zu absurden Konsequenzen führt. Nach Wunderlich hat der Ratsuchende die Möglichkeit, auf einen Ratschlag hin entweder zum Programmpunkt »Übernahme« voranzuschreiten oder aber einen »Einwand« zu formulieren. In seinem Ablaufdiagramm führt ein solcher Einwand über »Begründung« und »Modifizierung« wiederum zum Programmpunkt »Ratschlag«.149 Wenn alles, was nicht als »Übernahme« fungiert, schon ein Einwand ist, dann ist der Term »Einwand« falsch gewählt. In besagtem ›Dissertationskosten‹Beispiel wird auch nicht, wie Wunderlich will, ein Einwand gegen den Rat geltend gemacht150, sondern lediglich um nähere Aufklärung gebeten. Das führt dann eben zur Begründung des Ratschlags, aber keineswegs zu seiner Modifizierung. Wunderlich argumentiert für die Modifizierbarkeit eines Ratschlages, indem er ihn von der Auskunft unterscheidet: Ein Ratschlag müsse »solange modifiziert oder begründet« werden, bis er »übernommen«, also vom Ratsuchenden »im Lichte seiner Präferenzen als sinnvoll angenommen wird«, bei einer Auskunft hingegen, die nur unverhandelbare Informationen betrifft, seien »in diesem Sinne keine Einwände denkbar«.151 Das Gegenteil ist richtig; modifiziert werden kann höchstens die Formulierung eines Ratschlages zwecks besseren Verständnisses, nicht aber der Ratschlag als solcher. Bei Jochen Rehbein heißt es diesbezüglich lapidar: »Die Äußerung des Rates bindet den Sprecher selbst an die von ihm positiv markierte Perspektive.«152 Wenn Raten heißt, jemandem sagen, was ›das Beste‹ für ihn ist, dann darf sich der Ratgebende nicht durch ›Einwände‹ des Ratsuchenden davon abbringen lassen. Es ist natürlich denkbar und kommt oft genug vor, dass ein um Rat Gefragter, nachdem er seinen Ratschlag gegeben hat, bei den gesprächsweisen Rückfragen und Erläuterungen (C 3) zu der Einsicht kommt, dass er seinen Rat modifizieren muss. Aber dann verstößt er eben gegen die Logik des Ratgebens: Er hat seinen Rat vorschnell gegeben, bevor er sich durch seine Rückfragen (B 4) von der Problemlage ein ausreichendes Bild gemacht hat. Ein Ratgeber nimmt umso weniger die Position des Ratgebers ein, spricht umso weniger als Instanz, desto eher er dazu bereit ist, seinen Ratschlag zu modifizieren. Aber auch dann, wenn er es tut, kann das Kriterium der Modifikation nicht in den Präferenzen des Ratsuchenden liegen, sondern allein in der modifizierten Erkenntnis darüber, was ›das Beste für ihn‹ ist. Wenn X

149

Ebd., S. 30. Der Ratgebende befindet sich also in einer Endlosschleife, bis der Ratsu-

150

Vgl. ebd., S. 24.

chende zur Übernahme schreitet. 151

Ebd., S. 29.

152

Rehbein: Komplexes Handeln, S. 323.

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mit dem ihm von Y gegebenen Rat unzufrieden ist, muss er sich gleichwohl bedanken. Wenn er noch einen anderen Rat hören will, so muss er ihn anderswo ›einholen‹, etwa bei Z.

(C 5) X bewertet R. Mit dem Dank ist die Sprechaktsequenz des Ratgebens noch nicht beendet. Was noch fehlt, ist die Einschätzung des Rates durch X. Wie man den typischen Redewendungen, in denen der Dank auftritt, schon entnehmen konnte, wird die Bewertung empirisch häufig mit der Bewertung verknüpft. Es ist aber wesentlich, sich klarzumachen, dass sie erstens ein vom Dank unabhängiges Element darstellt und zweitens, dass dieses Element logisch gesehen dem Dank nachfolgt. Denn der Dank kann sich nicht ausschließlich auf die perlokutionären Effekte gründen, die in der Bewertung des Ratschlags zum Thema werden, wenn etwa vorgebracht wird, dass der Ratschlag hilfreich war, dass man jetzt klarer sieht, dass man den Rat beherzigen werde, dass man ihn zumindest versuchen werde umzusetzen, dass man jetzt auch nicht viel schlauer sei, dass man noch einmal mit sich selbst zu Rate gehen müsse usw. All dies sind mögliche Bewertungen einer gelungenen Sprechaktsequenz des Ratgebens. Das Gelingen der Sprechaktsequenz darf nicht von den perlokutionären Folgen abhängig gemacht werden und schon gar nicht von der sehr speziellen perlokutionären Folge der Annahme oder Beherzigung des Rates. Natürlich ist diese Bewertung durch X kein notwendiger Bestandteil des Ratgebens153, wohl aber ein wesentlicher Schritt, sobald das Ratgeben die Form eines Gesprächs annimmt. Denn dann scheint derjenige, der den Rat gegeben hat, mehr verdient zu haben als nur den Dank dafür, dass er ihn gegeben hat. Wurde der Rat in einem Gespräch gegeben, so wird ist X verpflichtet, sich abschließend zum Rat R zu äußern. Da X die Zeit und die Kompetenz von Y in Anspruch genommen hat, um den Rat zu erteilen, muss er Y die Einschätzung ermöglichen, ob der Erfolg den Aufwand gelohnt hat. Dieser letzte Sprechakt bildet also eine Art Scharnier zwischen der illokutionären und der perlokutionären Dimension des Ratens: Ratgeben impliziert die perlokutionäre Perspektive. X ist Y diese Perspektive schuldig. Erst damit ist die Sprechaktsequenz des Ratgebens (als Bestandteil menschlicher Kommunikation) abgeschlossen.154

153

Wie bereits ausgeführt, steht dem Ratsuchenden bei einem charismatischen Ratschlag

154

Nebenbei: X kann Y in der Bewertung des Rates darüber in Kenntnis setzen, was er zu

eine Bewertung gar nicht zu. tun gedenkt. Er hat dabei allerdings in der Regel gewisse Rücksichten zu nehmen. Die in vielen Fällen gegebene Möglichkeit, in derselben Sache noch einen oder mehrere

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2.7 Die Folgen des Ratgebens In analoger Weise wie die Voraussetzungen sind auch die nichtsprachlichen Folgen eines Ratgebens kurz zu betrachten, um bestimmten Missverständnissen vorzubeugen.155 Im Rahmen einer Logik des Ratgebens sind natürlich nicht die möglichen, sondern nur die notwendigen Folgen von Belang.156 Zu ihnen gehört:

(D 1) X setzt R in Beziehung zu P und stellt fest, ob der Rat dazu beigetragen hat, das Defizit zu beheben. Diese triviale Folge ist auch Gegenstand der Sprechakte von X, genauer gesagt seiner Bewertung (C 5). Anders als die geäußerte Bewertung, die bei charismatischen Ratgebern fehl am Platze ist, ist die Herstellung einer gedanklichen Beziehung zwischen dem Rat und dem Defizit wirklich notwendig: Es ist nicht sinnvoll, anzunehmen, dass jemand um Rat fragt und dann die Antwort nicht zum Grund der Frage in Beziehung setzt. Erfolgt das Ratgeben im Gespräch, so findet natürlich eine laufende Bewertung während des Gesprächs statt, die auf eine abschließende Bewertung zuläuft (die mit der geäußerten Bewertung nicht übereinstimmen muss).

(D 2) X nimmt sich vor, R umzusetzen (oder vorerst nicht umzusetzen). Wenn man einen Rat annimmt, entscheidet man sich dazu, ihn umzusetzen. Diese Entscheidung lässt sich nicht aus der Bewertung ableiten. Es ist durchaus möglich, dass man einen Rat nicht für gut hält und ihn probehalber dennoch umzusetzen gedenkt. Umgekehrt muss man einen Rat, den man nicht umzusetzen gedenkt, nicht für schlecht halten. Man kann auch zunächst noch weiteren Rat einholen wollen. Oder der Rat kann gerade deshalb wertvoll sein, weil er einem die eigene, abwei-

weitere Ratschläge von anderen einzuholen, ist häufig (nicht immer) deplaziert. Denn sie setzt das abgelaufene Gespräch entweder dem Verdacht aus, aus der Sicht von X von vorn herein nur eines in einer Reihe von gleichartigen Gesprächen gewesen zu sein und damit zu entwerten, oder aber nicht zur Zufriedenheit von X verlaufen zu sein. Ein schönes Beispiel für die (freimütige) Thematisierung der Ratgeberkommunikation in der Ratgeberkommunikation bei Rabelais analysiert Pierre Mattern in seinem Beitrag in diesem Band. 155

Um es noch einmal zu wiederholen: Diese nichtsprachlichen Folgen implizieren natürlich eine Beobachtungsposition, d.h. eine Erzählinstanz. Mitsamt ihrem nichtsprachlichen Rahmen lässt sich die Standardsequenz als eine Narration betrachten.

156

Das heißt auch, dass nur die Folgen für X in Betracht kommen.

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chende Position erst klar gemacht hat usw. Fest steht nur, dass der Rat die Frage nach seiner Umsetzung oder Nichtumsetzung in die Welt gesetzt hat. Im Übrigen ist das Umsetzen des Rates nicht gleichbedeutend damit, dass man das tut, was einem geraten worden ist. Zwischen dem Rat und der Tat muss auch eine kausale Verbindung bestehen bzw. es muss von X eine kausale Verbindung zugeschrieben werden. Es ist möglich, dass X einem Rat entsprechend handelt, ohne es zu wissen (weil er den Rat z.B. vergessen hat). Rat und Tat können zeitlich in einer Weise entkoppelt sein, dass eine kausale Verknüpfung nicht mehr vorgenommen wird.

(D 3) X setzt R um oder nicht um. Man kann sich vornehmen, einen Rat umzusetzen und es dann doch nicht tun. 157 Das geschieht vor allem (aber nicht nur), wenn er eine Festlegung auf ein Verhalten betrifft – etwa, wenn X den Rat beherzigen möchte, abends weniger zu essen usw. In solchen Fällen ist häufig gar nicht klar zu entscheiden, ob ein Rat beherzigt worden ist oder nicht (auch der ›ehrliche‹ Versuch kann schon als Beherzigung aufgefasst werden). Diese letzte Folge (D 3) hat einen anderen Status als (D 1) und (D 2). Während diese auf mentale Akte von X zielen, wird hier ein Beobachterstandpunkt eingenommen, den natürlich auch X selbst einnehmen kann, aber nicht muss. Notwendig ist sie also nur in dem Sinne, dass ein Rat als eine in die Welt gesetzte institutionelle Tatsache betrachtet werden kann, die es in jedem Fall gestattet, das, was geschieht, im Hinblick auf diese institutionelle Tatsache beobachten. Dies ist übrigens Gegenstand von Geschichten, die über das Ratgeben und seine Folgen erzählt werden können. 3.

Nachbetrachtung

Der Versuch, die Logik des Beratens zu rekonstruieren, ist mit dem Anspruch verknüpft, dass sich diese Logik in allen Situationen, die irgendwie beratungsförmig sind, nachweisen lässt. Die mit diesem Anspruch verbundenen erkenntnistheoretischen Probleme seien dabei zunächst einmal hintangestellt. Sie hängen mit der Frage zusammen, inwiefern und in welchem Sinne das Ratgeben ein Institut ist. Einstweilen soll behauptet werden, dass diese sehr verschiedenen Situationen an der Logik des Beratens ›teilhaben‹. Anders als in den bisherigen Überlegungen und Untersuchungen zum Ratgeben und zum Beraten sollte hier die ganze Bandbreite dieser Situationen berücksichtigt werden. Sie reichen vom Orakel bis zur freundschaftli-

157

Rudolf Helmstetter spricht in seinem Beitrag (am Ende von Abschn. 1) – mit Alexander Kluge – von der ›teuflischen Lücke‹ zwischen Annehmen und Befolgen.

60 | M ICHAEL N IEHAUS

chen Erörterung eines Problems, vom Verkaufsgespräch bis zur therapeutischen Beratung, vom Ratschlag eines Meisters bis zu dem vom Souverän eingeholten Rat, vom Rat des Unkundigen bis zum Rat des Experten. Von besonderem heuristischem Wert ist dabei vor allem die Einbeziehung des charismatischen Ratgebers, der in der gesprächsanalytisch orientierten Sichtweise der aktuellen Forschung völlig ausgeblendet bleibt: Die Fixierung auf die Gesprächsform verstellt die Sicht auf die eigentliche Struktur des Ratgebens. Das Sprachspiel des Ratgebens kann auf sehr verschiedene Weise gespielt werden. Gerade deshalb ist es notwendig, von einer Standardversion der Sprechaktsequenz des Ratgebens auszugehen. Die Standardversion ist etwas kategorial anderes als die »idealtypische Abfolgestruktur« eines Beratungsgespräches, weil sie erstens nicht dazu da ist, eine wünschenswerte Norm gelingenden Ratgebens aufzustellen, und weil sie zweitens nicht verschiedene Phasen eines Gesprächs unterscheidet, sondern verschiedene Positionen der Beteiligten innerhalb eines Austauschs von Sprechakten, die durch unterschiedliche Verpflichtungen in Bezug auf die Sprechaktsequenz definiert sind. Der Übersichtlichkeit halber seien die einzelnen Schritte hier noch einmal aufgeführt (unter Weglassung der nichtsprachlichen Voraussetzungen und der nichtsprachlichen Folgen des Ratgebens)

(B 1) X fragt Y, ob er ihn um Rat fragen darf. (B 2) Y antwortet bejahend (oder verneinend). (B 3) X legt das Problem P dar. (B 4) Y stellt eine oder mehrere Rückfragen und X antwortet darauf. (B 5) X formuliert sein Anliegen. (C 1) Y gibt einen Rat R oder lehnt das Geben eines Rates ab. (C 2) Y begründet R. (C 3) X stellt eine oder mehrere Rückfragen und Y antwortet darauf. (C 4) X bedankt sich und Y nimmt den Dank entgegen. (C 5) X bewertet R. Dass die Zugehörigkeit dieser zehn Schritte zur Standardversion behauptet wird, heißt nicht, dass sie alle notwendig sind. Eine Sprechaktsequenz des Ratgebens kann auf verschiedene Weise reduziert oder restringiert sein. Als Beleg dafür wurde immer wieder das Orakel angeführt, in dem es in der Regel keine Rückfragen gibt (B 4), keine Begründung des Ratschlags (C 2), keine Möglichkeit der Rückfragen (C 3) und keine abschließende sprachliche Bewertung (C 5). In der Standardversion ist die Sprechaktsequenz des Ratgebens vollständig – in ihr sind die Schritte realisiert, wie sie sich gleichsam ›naturwüchsig‹ ausbilden. Es gibt aber verschiedenste Gründe, aus denen die Sprechaktsequenz unvollständig sein kann. Damit stehen sie keineswegs in Widerspruch zur Logik des Ratgebens. Vielmehr lassen sich die Ab-

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weichungen nur verstehen, insofern die fehlenden Schritte sich eben an ihrem Platz als fehlende Schritte bemerkbar machen: Wer ein Orakel befragt, hätte wohl auch gerne eine Begründung für den Ratschlag, nur bekommt er eben keine. Wenn man sagt, dass die Sprechaktsequenz in ihren Schritten durch die unterschiedlichen Positionen strukturiert ist, die den Beteiligten jeweils zugeordnet sind, so bedeutet das nichts anderes, als dass das Ratgeben eine Gefüge von Verpflichtungen und Lizenzen ist. Die zentrale Verpflichtung (und die zentrale Lizenz) ist dabei diejenige, die Thoma Hobbes im Leviathan formuliert: »Zur Natur des Rats gehört […], daß jedermann, der um ihn fragt, den Erteilenden weder anklagen noch bestrafen kann, denn einen anderen um Rat fragen heißt ihm erlauben, den Rat zu erteilen, den er für den besten hält.«158 Man muss hinzufügen: der Erteilende ist auch verpflichtet, den Rat zu erteilen, den er für den besten hält. Darin liegt der Kern der ›Logik des Ratgebens‹ – und zwar vollkommen unabhängig davon, dass in der Mehrzahl der Fälle, in denen ein Ratschlag nicht so ausfällt, wie der Ratsuchende es sich vorgestellt hat, gegen die von Hobbes aufgestellte Regel verstoßen wird. Schon zu Zeiten von Hobbes war die »Liste der gescheiterten, gelegentlich mit dem Tode bedrohten oder hingerichteten Berater […] lang«. 159 Aber es genügt ja, jemandem den freimütig gegebenen Rat übelzunehmen (ebenso wie es umgekehrt genügt, die Lizenz zum freimütigen Rat zu missbrauchen), um das Ratgeben zu kontaminieren oder zu korrumpieren. Man kann in der jeweiligen Situation des Ratgebens nur glauben, dass das nicht der Fall ist. Gerade deshalb, weil es diese Logik des Ratgebens gibt, impliziert das Ratgeben, wie man sagen könnte, eine gewisse Ereignishaftigkeit des Wortes. Je mehr sich der Ratschlag als Sprechakt heraushebt, desto deutlicher wird auch, dass ihm ein das Gespräch transzendierendes Moment innewohnt. Die Logik des Ratgebens verbürgt dieses Moment. Als abschließender Ausblick sei noch die Frage aufgeworfen, an welcher Art von Beispielen bzw. an welchem Material sich eine Rekonstruktion der Logik des Ratgebens, wie sie hier versucht wurde, denn bewähren könnte. Während die Sprechakttheorie, die hier in Anspruch genommen wurde, mit atomistischen und reduktionistischen Belegbeispielen arbeitet, gründet sich die Gesprächsanalyse auf das empirische Material von Gesprächen, aus denen das Ratgeben als herausgehobener Sprechakt verschwunden und die institutionelle Dimension des Ratgebens in den Rahmen abgewandert ist. Um die Logik des Ratgebens am Konkreten zu sättigen, müsste man sich eines ganz anderen Vorgehens befleißigen. Man müsste sich der fiktionalen Sprechaktsequenzen des Ratgebens in der Literatur bedienen, um die Logik des Ratgebens am Werk zu sehen – auch dort, wo die Geschichten ihr zu widersprechen scheinen.

158

Hobbes: Leviathan, S. 197.

159

Macho: Zur Ideengeschichte der Beratung, S. 9.

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Der Ratschlag – Struktur und Interaktion1 R AINER P ARIS

Ratschläge überall: Gute und schlechte, beiläufige und eindringliche, erwünschte und ungebetene. Manchmal ist guter Rat teuer, in den meisten Fällen jedoch, so die Empfehlung von Mark Twain, solle man Ratschläge am Besten immer gleich weitergeben, das sei das Einzige, was man mit ihnen tun könne. Die Sache ist also offenbar nicht so einfach und unproblematisch, wie sie zunächst aussieht. Gewiss: Niemand muss einem anderen einen Rat geben, doch wenn er dies tut, setzt er damit ein bestimmtes Handlungsprogramm, eine charakteristische Definition und Dynamik der Beziehung in Gang, der er im Folgenden ausgesetzt ist und die er in Rechnung stellen muss. Allgemein gilt: Handlungen stiften Beziehungen, und Beziehungen erfordern Handlungen. Wer jemanden liebt oder gar gelobt hat, ihm »in guten und in schlechten Zeiten« beizustehen, kann, wenn dem anderen großes Unglück widerfährt und er darüber verzweifelt, nicht einfach sagen: »Das ist Dein Problem!« Liebe und Verheiratetsein rauben einem die Freiheit zum Ratverzicht. Umgekehrt konstituiert jeder Rat unabhängig von der vorgängigen Rahmung des Verhältnisses eine elementare soziale Beziehung: Er spaltet die Akteure in den, der den Rat gibt, und jenen, der ihn empfängt. Subjekt des Ratschlags der eine, Adressat und Objekt der andere. Handlungen und Beziehungen stehen so in einem komplexen und spannungsreichen Wechselverhältnis, in dem je eigene Strukturen und Gesetzmäßigkeiten aufeinandertreffen und sich miteinander verquicken, wobei die Schwierigkeit der soziologischen Analyse eben darin besteht, dass sie das, was sich empirisch immer schon mischt und überlagert, begrifflich zu separieren und auseinander zu halten hat.

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Überarbeitete Fassung einiger zentraler Abschnitte aus: Rainer Paris: »Raten und Beratschlagen«, in: sozialer sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung 6/2 (2005), S. 353-388.

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1.

Die Struktur des Ratschlags

Was ist ein Rat, möglicherweise sogar ein »guter«? Für die Beantwortung dieser Frage schlage ich folgende, zunächst am Alltagsverständnis ansetzende Definition vor: Ein Ratschlag ist eine unmittelbar an eine Person gerichtete Sprechhandlung, die darauf abzielt, den anderen durch eine bestimmte Verhaltensempfehlung bei der Bewältigung eines für ihn dringlichen Problems zu unterstützen und ihm hierzu einen ihm selbst bislang nicht präsenten Lösungsweg aufzuzeigen.2 In diese verdichtete Formulierung sind einige zentrale Bestimmungen und indexikalische Merkmale eingegangen, die nun im Einzelnen diskutiert werden sollen. 1. Persönliche Adressiertheit. Wer einem anderen etwas rät, konstituiert damit eine personale Beziehung. Der Urheber des Ratschlags ist ebenso wie der Empfänger stets eine konkrete Person. Ratschläge im vollen Sinne des Wortes gibt es nur zwischen Individuen. Institutionen oder Kollektive können anderen Kollektiven nichts raten, und auch, wenn ein Einzelner einer Gruppe in flammender Rede eine bestimmte Handlungsweise nahe legt, wird er sich zwar vielleicht einer gewissen Ratschlag-Rhetorik bedienen, trotzdem werden wir das, was er tut, nicht das Erteilen eines Rates nennen. Stattdessen ist die soziale Grundsituation des Ratschlags typischerweise die Dyade: Man »nimmt den anderen beiseite« und sondert ihn von den Dritten ab, um ihm dann »unter vier Augen« jenen Rat zu geben, den man für ihn bereithält. Ratschläge gehören also nicht in die Öffentlichkeit. Sie setzen eine – wie immer gestaffelte – persönliche Nähe, ein Vertrauensverhältnis voraus, das die Anwesenheit eines Publikums nur in Ausnahmefällen erlaubt.3 Idealtypisch sind die Akteure unter sich. Deshalb ist das Medium des Ratschlags üblicherweise das direkte Gespräch, mitunter auch der Brief. Weil der Rat sich im Normalfall auf ein persönli-

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Diese Definition korrespondiert mit der sprachlichen Normalform des Ratschlags: »Wenn du h tust, dann q« (wobei h eine Handlung oder Unterlassung bedeutet, die der Adressat ausführen soll, um ein von ihm positiv bewertetes Ereignis q herbeizuführen). Vgl. Dieter Wunderlich: »Ein Sequenzmuster für Ratschläge – Analyse eines Beispiels«, in: Dieter Metzing (Hg.): Dialogmuster und Dialogprozesse, Hamburg 1981, S. 1-30.

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Trotzdem gibt es natürlich nicht selten öffentliche Handlungsaufforderungen, die sich selbst Ratschläge nennen und als solche maskieren. Diese verfolgen jedoch zumeist einen anderen Zweck: Sie wollen den anderen brüskieren und bloßstellen, indem sie vor aller Augen aussprechen, was dieser offenbar nicht geleistet hat oder nicht zu leisten imstande war. Man denke hier etwa an die vielen, häufig kaum ernst gemeinten »Ratschläge«, mit denen sich Opposition und Regierung in parlamentarischen Redeschlachten bedenken, um sich selbst als überlegen und kompetent und die Gegenseite als hilflos und überfordert darzustellen.

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ches Problem des anderen bezieht, verlangt er die eingehende Kenntnis des Problems und des anderen, eben die Existenz einer persönlichen Beziehung und eines entsprechenden Kanals der Kommunikation. Es ist diese (unterstellte) QuasiIntimität des Verhältnisses, die Ratsituationen zumindest dort, wo sie nicht in interpersonelle Kontexte eingebettet sind, häufig so prekär und konfliktträchtig macht. Allgemein gilt: Je enger und vertrauensvoller das Verhältnis, desto qualifizierter ist in der Regel der Rat, und desto größer sind im Übrigen auch seine Chancen, dass er beim Adressaten Gehör findet. Diese restriktive Fassung des Ratschlags hat einige Konsequenzen. Die erste ist, dass die sogenannte »Ratgeberliteratur« im Grunde genommen kaum wirkliche Ratschläge gibt. Da sie sich – zwar nach Zielgruppen segmentiert – an ein grundsätzlich anonymes Publikum wendet, weisen die darin angesonnenen Verhaltensvorschläge und Empfehlungen stets einen Allgemeinheitsgrad auf, der ihrem Ratanspruch im engeren Sinne zuwiderläuft. Bei dieser Art Literatur steht es jedem frei, sie lediglich als Sachbuch oder bloße Informationsbeschaffung aufzufassen und sich nach Gusto daraus zu bedienen oder nicht. Tatsächlich handelt es sich hier um eine Form massenmedial vermittelter Kollektivbelehrung, die sich zwar häufig als Vorführung und Diskussion exemplarischer Einzelfälle präsentiert, 4 grundsätzlich aber gerade nicht um persönlichen Rat.5 Weitere Probleme ergeben sich im Hinblick auf das Verhältnis von Ratschlägen und institutionalisierter oder professioneller Beratung. Obwohl in der Regel dyadisch strukturiert, begegnen sich die Akteure hier in vorfixierten spezialisierten Rollen, die auf ein klar umrissenes Themenspektrum begrenzt sind. Die formelle Definition und Standardisierung der Situation legt eine Relevanzstaffelung fest, die einen »persönlichen« Austausch nur in engen Grenzen zulässt. Gewiss reden wir gemeinhin vom »ärztlichen Rat«, um dessentwillen wir eine Sprechstunde aufsuchen. Worum es dann in der direkten Konsultation zwischen Arzt und Patient aber wirklich geht, sind eher der Austausch von Daten und Informationen und das Bei-

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Dies gilt z. B. für die üblichen Beratungsrubriken in Illustrierten, in denen ein namentlich vorgestellter Experte (»Dr. Sommer«) auf – im Übrigen häufig fingierte – Leserbriefe antwortet. Eine Mischform sind Live-Sendungen im Fernsehen (»Domian«), in denen vor laufender Kamera eine persönliche Telefonberatung stattfindet.

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Diese Differenz entspricht in gewisser Weise der von Max Weber in seiner Religionssoziologie getroffenen Unterscheidung von Predigt und Seelsorge: Während sich die Predigt als autorisierte Belehrung über Grundfragen des Glaubens und der Ethik stets an die gesamte Gemeinde richtet, bezweckt die Seelsorge »die religiöse Pflege der Individuen«, die ebenso wie die Beichte nur im unmittelbaren Austausch mit dem einzelnen Gläubigen möglich ist. Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (1922), 5. Auflage, Tübingen 1972, S. 283.

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bringen praktischer Erklärungen und Begründungen, die gemeinsame Entscheidungen vorbereiten. Um einen eigentlichen Rat im hier thematisierten Sinne handelt es sich erst, wenn der Arzt die offerierten medizinischen Alternativen mit unmittelbar persönlichen Präferenzsignalen versieht oder mir ergänzend zu unserer Übereinkunft über das weitere Vorgehen beim Hinausgehen empfiehlt, mal wieder Urlaub an der Nordsee zu machen: Das sei gut für Lunge und Seele. 2. Asymmetrie. Der Ratschlag teilt die Welt in zwei Klassen von Menschen: Ratgeber und deshalb Ratkompetente einerseits, Orientierungssuchende und darum Ratbedürftige andererseits. Der Rat des einen ist die Ratlosigkeit des anderen, letztere ist im Tun des ersten immer schon vorausgesetzt. Aus diesem Grund wird die Situation sofort heikel, wenn der Rat nicht gesucht wurde: Er erscheint dann als etwas Aufgezwungenes, dem anderen Aufgenötigtes, das ihn automatisch in eine Lage versetzt, die seinem bislang nicht in Frage gestellten Selbstbild und der kulturell vorgegebenen Norm individueller Handlungsautonomie diametral widerspricht. Jemandem etwas raten, heißt, ihm zu sagen, was er tun könnte oder sollte – und ihm damit gleichzeitig zu sagen, dass man davon ausgehe, dass er es selbst nicht wisse. Hierin liegt das Selbsterhöhende jedes Ratschlags: Der Ratgeber versetzt sich in eine Position, die es ihm erlaubt, dem anderen einen Lösungsweg aufzuzeigen, den dieser selbst nicht sieht. Er beansprucht kognitive Überlegenheit. Wo jener orientierungslos ist, traut er sich grundsätzlich eine erfolgversprechende Vorgabe zu. Zwar muss der Vorschlag keineswegs endgültig und bereits »der Weisheit letzter Schluss« sein, doch die prinzipiell unterstellte Asymmetrie der Zuschreibungen und Fähigkeiten bleibt von solchen relativierenden Einschränkungen unberührt. Ohne dieses Apriori eines systematischen Kompetenzgefälles können wir nicht von einem Ratschlag sprechen. Hinzu kommt eine Reihe weiterer struktureller Asymmetrien der Situation, die in die Beziehungsdefinition der Akteure eingehen. 6 Während der Ratsuchende sich unter einem mehr oder minder starken Problemdruck befindet, ist der Ratgeber von solcher Belastung frei. Da er nicht selbst involviert ist, ist er auch emotional weniger betroffen. Er ist nicht tangiert vom Wechselbad der Gefühle wie Wut, Zorn und Kummer, dem der andere ausgesetzt ist. Auch sein Selbstbewusstsein ist nach wie vor ungebrochen: Selbstsicher der eine, unsicher der andere. Und das Risiko, dass am Ende keine oder eine falsche, das Problem vielleicht sogar verschlimmernde Lösung gefunden wird, trägt allein der Empfänger. Freilich variieren all diese Dimensionen der Ungleichheit mit den jeweiligen Rahmungen der Beziehung und Situation. Wenn ich eine Autorität um Rat frage, ist

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Vgl. Peter Baumann: Macht und Motivation. Zu einer verdeckten Form sozialer Macht, Opladen 1993, S. 85ff.

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in der Autoritätszuschreibung die fundamentale Distanz zum anderen schon vorausgesetzt.7 Und weil sie für mich eine Autorität ist, hat das, was sie mir empfiehlt, von vornherein besonderes Gewicht. Die Asymmetrie ist solange kein Problem, wie ich sie selber unterstelle und anerkenne. Im Gegenteil: Durch den kompetenten Rat dessen, dem ich eine größere Kompetenz zuschreibe als mir selbst, will ich ja gerade die fremde, überlegene Kompetenz für mich nutzbar machen. Erst wenn mir diese Kompetenz angemaßt erscheint oder der gegebene Rat mich unter Umständen ratloser hinterlässt als zuvor, rücken die Relevanzen der Asymmetrie in den Vordergrund und färben die Beziehung grundsätzlich negativ ein. 3. Problembezug. Ratschläge sind kein Selbstzweck. Sie referieren stets auf sachliche Blockaden und Probleme, die eine mehr oder minder dringliche Lösung erheischen. Wo alles in Ordnung ist, braucht man niemandem etwas zu raten. Ratlosigkeit gibt es nur angesichts gravierender Probleme, mit denen man unmittelbar konfrontiert ist und deren Lösung einen selbst überfordert. Dabei kann das, was jeweils das »Problem« ist, natürlich höchst Unterschiedliches sein. Es kann von einfachen Orientierungsproblemen in einer fremden Stadt 8 über handwerklich-technische Schwierigkeiten, Arbeitsblockaden bei Dissertationen, Streitigkeiten in Familie und Paarbeziehungen bis hin zu existenziellen Krisensituationen von Verzweiflung und Suizidgefahr reichen. Grundsätzlich ist hier zwischen Sachschwierigkeiten und persönlichen oder psychischen Problemen zu unterscheiden: Während der sachbezogene Rat sich inhaltlich primär auf die Dimension der Ressourcenbeschaffung und -aktivierung bezieht und darauf beschränken kann, muss die interpersonelle Hilfestellung in weit stärkerem Maße die individuellen Dispositionen, die mentalen Voraussetzungen und Fähigkeiten des anderen in Rechnung stellen. Das Problem ist gleichzeitig ein Problem der seelischen Verfassung und des Gemütszustands der anderen Person. Nicht nur, was sinnvollerweise zu tun wäre, sondern was der andere kann oder vielleicht können kann, also der Horizont seiner Möglichkeiten, steht im Zentrum der Erwägung und Aufmerksamkeit. Deshalb zeigt sich das Dilemma, ja die Tragik des Rats am schärfsten im Angesicht der Verzweiflung. Der Verzweifelte ist, nach der bekannten Formel von Søren Kierkegaard, einer, der nicht derjenige sein kann, der er ist, und gleichzeitig nicht

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Wolfgang Sofsky/Rainer Paris: Figurationen sozialer Macht. Autorität – Stellvertretung –

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Allerdings wird man, wenn ich als Ortskundiger einem Ortsunkundigen die gewünschte

Koalition, Frankfurt a.M. 1994, S. 25. Auskunft erteile, noch nicht von einem Rat sprechen können. Ein Ratschlag im hier definierten Sinne würde es erst, wenn ich zusätzlich zu der erbetenen Information dem anderen empfehle, doch lieber eine etwas andere Strecke zu fahren, um Baustellen oder Staus zu vermeiden, die Beziehung also »persönlicher« aufgefasst wird.

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derjenige werden kann, der er sein möchte.9 Was immer er versucht und wie sehr er sich anstrengt, er findet keinen Ausweg. Mehr noch: Der Verzweifelte verzweifelt auch am Rettenden, hat jedes Zutrauen auf Rettung verloren. 10 Verzweiflung ist als radikale Entwurzelung des Selbst eine Art tiefster Ratlosigkeit, die von ihrem Leid überwältigt ist und sich im Extremfall der Agonie gegen jeden Rat abgedichtet hat. Ohne Rat-Zugänglichkeit kann auch der beste Ratschlag nicht helfen, das Problem zu lösen. Aber auch wo der Rat willkommen ist, bleibt die grundsätzliche Asymmetrie des Verhältnisses schon dadurch erhalten, dass das in Frage stehende Problem bereits in der Weise der Thematisierung eindeutig personell attribuiert wird. Einen Rat gibt es nur, wenn von vornherein klar ist, um wessen Problem es sich handelt: Es ist ausschließlich das Problem des Empfängers, nicht des Ratgebers.11 Dieser macht es nur insofern »zu seiner Sache«, als er sich Gedanken darüber macht, auf welchem Wege das Problem des anderen vielleicht zu beheben sei. Und ebenso ist das Tun, das der Rat empfiehlt, immer das Tun des Beratenen, das diesem in eigener Verantwortung obliegt. Dennoch ist der Beitrag, den guter Rat für eine Problemlösung leisten kann, keineswegs marginal. Er besteht vor allem im Anstellen und Initiieren von Überlegungen, wie eine erfolgreiche Problemlösung aussehen kann. Während der Ratlose von dem Wunsch beseelt ist, sein Problem loszuwerden, zugleich aber nicht weiß, wie er dies bewerkstelligen soll, vermag der Ratgeber, gerade weil er nicht unmit-

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Vgl. Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode (1849), 4. Auflage, Hamburg 2002, S. 20: »Ein Verzweifelnder will verzweifelt er selbst sein. […] Das Selbst, das er verzweifelt sein will, ist ein Selbst, das er nicht ist (denn das Selbst sein wollen, das er in Wahrheit ist, ist ja gerade das Entgegengesetzte der Verzweiflung), er will nämlich sein Selbst von der Macht losreißen, die es setzte. Aber dies vermag er trotz allen Verzweifelns nicht; trotz aller Anstrengung der Verzweiflung ist jene Macht die stärkere und zwingt ihn, das Selbst zu sein, das er nicht sein will.« – Zur näheren Diskussion vgl. Michael Theunissen: Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt a.M. 1993.

10 Vgl. Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt, Frankfurt a.M. 1996, S. 77. 11 Hierin liegt der Hauptunterschied zur kollektiven Praxis des Beratschlagens, die von der asymmetrischen Situation des Ratschlags grundsätzlich abzugrenzen ist. Beim Beratschlagen geht es ja gerade um die prinzipiell gleichberechtigte Erörterung eines gemeinsamen Problems, eines Problems also, das alle betrifft und an dessen Lösung alle interessiert sind. Weit davon entfernt, sich reihum gute Ratschläge zu geben, wird im gemeinsamen Beratschlagen versucht, im Abgleich der Sichtweisen und Argumente möglichst alle relevanten Sachaspekte des Problems aufzuklären, um am Ende zu einer konsensuellen Lösungsperspektive zu gelangen. Vgl. ausführlich Paris, »Raten und Beratschlagen«, S. 379ff.

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telbar tangiert ist, verschiedene Lösungsperspektiven gedanklich zu antizipieren und die beste dem anderen als Handlungsvorschlag zu unterbreiten. Damit tut er für ihn einen bedeutsamen Schritt. Denn erst das Überlegen transformiert das Wünschen in ein Wollen und eröffnet so die Möglichkeit substantieller Entscheidungen.12 Raten ist kognitive Hilfe zum Überlegen, Anleitung zur Neustrukturierung des Wahrnehmungsfeldes in Hinblick auf eine bislang versperrte Problemlösung. Der Rat zentriert die Realitätsdefinition und Problemsicht des anderen neu und erlaubt ihm zugleich, sein Lösungsverlangen in einen konturierten Willen zu übersetzen. 4. Aufrichtigkeit / Uneigennützigkeit. Soll der andere den Rat annehmen, so muss er davon überzeugt sein, dass es dem Ratgeber ausschließlich darum geht, ihn bei der Bewältigung seines Problems zu unterstützen. Jener muss ernsthaft und aufrichtig darum bemüht sein, ihm zu helfen. Argwöhnt er dagegen, dass der andere mit seinem Rat gleichzeitig (oder vielleicht sogar vorrangig) eigene Motive verfolgt, so wird er kaum bereit sein, die Empfehlung des anderen als Ratschlag zu akzeptieren und den Vorschlag um so misstrauischer prüfen. Zu illustrieren ist dies etwa an einem ethnographischen Projekt über Hochschulpolitik13, in dem der Präsident einer Universität von einem Projektmitarbeiter, der ihn über mehrere Wochen als »hospitierender Forscher oder forschender Praktikant« begleitete, in seiner konkreten Machtausübung vor Ort beobachtet wurde. Es ging also um die exemplarische Analyse mikropolitischer Strategien des Führungshandelns in einer lose verkoppelten Organisation. Das Ergebnis: Einen Großteil seiner Zeit tingelt der Präsident durch die Gremien der Institute und Fachbereiche und verteilt dort Ratschläge. Die Technik des »autoritativen Ratschlags« ist seine bevorzugte Methode der informellen Vorbereitung kollektiv bindender Entscheidungen, die zugleich spezifisch universitätstypische Steuerungsschwierigkeiten aufgreift und berücksichtigt.14 Freilich ist offenkundig, dass diese »Ratschläge« in

12 Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München/Wien 2001, S. 61ff. 13 Vgl. Frank Nullmeier/Tanja Pritzlaff/Achim Wiesner: Mikro-Policy-Analyse. Ethnographische Politikforschung am Beispiel Hochschulpolitik, Frankfurt a.M./New York 2003. 14 Vgl. Achim Wiesner: »Der autoritative Ratschlag. Eine mikropolitische Analyse präsidialen Führens einer Universität«, in: hochschule ost – leipziger beiträge zu hochschule & wissenschaft 10 (2001), S. 154-166. – »Autoritativ« sei der Ratschlag des Präsidenten insofern, als alle Beteiligten um das Ausmaß seiner Entscheidungsmacht wissen und zugleich ein stilles Einvernehmen darüber herrscht, ihm den schieren Machtgebrauch nach Möglichkeit zu ersparen. (S. 158) – Zum normativ verschleierten Charakter der Machtpraxen an Hochschulen vgl. auch Rainer Paris: »Machtfreiheit als negative Utopie. Die

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Wirklichkeit gar keine Ratschläge sind: Sie dienen vor allem der frühzeitigen Informierung der Betroffenen und Abhängigen über die Präferenzen der Hochschulleitung und geben ihnen so Gelegenheit, ihre eigene Position bereits im Vorfeld darauf abzustimmen. Nicht die erfolgreiche Problemlösung der Ratbedürftigen, sondern deren Vorweganpassung an die Planungen der hierarchischen Spitze ist der Sinn der Aktion. Wenn ein Herr seinen Unterstellten, auf deren Kooperation er zugleich angewiesen ist, etwas rät, wird man kaum von seiner Uneigennützigkeit ausgehen können. So beiläufig oder wohlmeinend väterlich der Ratschlag auch daherkommen mag – stets ist die darin enthaltene implizite Drohung allen präsent und geläufig. Allerdings ist die Interessenlage nicht immer so offensichtlich wie hier. Außerdem variiert sie natürlich mit dem jeweiligen Kontext und der Grunddefinition der Beziehung. So wird in starken interpersonellen Verhältnissen (Liebe, Freundschaft) der Rat immer auch auf der Folie der wechselseitigen Solidaritätsverpflichtungen wahrgenommen, die die Partner übernommen und ausgehandelt haben. Dass der andere sich tatsächlich um eine adäquate Problemlösung bemüht, erscheint um so überzeugender, je mehr er mir zusätzlich zu dem gegebenen Rat auch praktische Hilfe offeriert: Das Hilfsangebot beglaubigt die Uneigennützigkeit, aber auch die fordernde Ernsthaftigkeit des Ratschlags. Wenn in mir jedoch der Verdacht aufkommt, der andere wolle sich mit seinem Rat im Grunde nur vor der unmittelbaren Hilfe, zu der er eigentlich verpflichtet wäre, drücken, mich also mit Rat »abspeisen«, so bezweifele ich die Aufrichtigkeit und Uneigennützigkeit des Ratschlags und werde die Beziehung überdenken. Wer jemandem wirklich helfen will, versucht alles, um ihm »mit Rat und Tat« zur Seite zu stehen. Rat ohne Tat hingegen ist für den Ratgeber billig, so dass eigennütziges Kalkül im Hintergrund womöglich nicht ausgeschlossen werden kann. 5. Verantwortungstransfer. Der Ratschlag ist ein Vorschlag. In seiner Gegenüberstellung der illokutionären Akte des Ratens und des Warnens betont Searle, dass der Ratschlag gerade keine direkte Handlungsaufforderung ist.15 Wohl hat er eine gewisse Nähe zum »Drängen« und Bedrängen, doch die Entscheidung darüber, ob er den Rat beherzigt oder nicht, liegt ausschließlich beim Empfänger. Der Rat empfiehlt ein bestimmtes Tun, aber er verlangt es nicht.16

Hochschule als Idee und Betrieb«, in: Erhard Stölting/Uwe Schimank (Hg.): Die Krise der Universitäten. Leviathan, Sonderheft 20, Wiesbaden 2001, S. 194-222. 15 Vgl. John R. Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt a.M. 1971, S. 104f. 16 Dennoch kann, worauf noch zurückzukommen ist, der Entschiedenheitsgrad der Empfehlung natürlich stark variieren. Wunderlich (Vgl. Wunderlich: Sequenzmuster, S. 2) unter-

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Der Ratschlag lässt dem anderen die Freiheit der Wahl und der Bestimmung über den weiteren Fortgang. Ob er den Rat annimmt oder ablehnt, ob ihm der angesonnene Weg einleuchtet und zu denken gibt und wozu er sich am Ende tatsächlich entschließt – das alles ist grundsätzlich eine Angelegenheit des Empfängers, nicht des Ratgebers. Dieser verfügt ja, wenn es ein echter Ratschlag ist, über keinerlei Druckmittel, um das Vollziehen des Rats zu erzwingen. Und trotzdem stellt sich natürlich die Frage, wer denn, wenn es eventuell schief geht, für die Konsequenzen der Befolgung des Ratschlags einzustehen und diese zu verantworten hat? Aus der Sicht des Ratgebers ist die Antwort klar: Weil allein der Empfänger entscheidet, trägt er auch die alleinige Verantwortung. Rechtlich ist dies speziell für professionellen Rat eindeutig geregelt und die Haftung ausgeschlossen. 17 Andererseits erlegt die im persönlichen Rat vorausgesetzte Quasi-Intimität des Verhältnisses auch dem Ratgeber eine gewisse Sorge und moralische Teilverantwortung dafür auf, welche Auswirkungen die Befolgung des Rats für den anderen hat. Endet alles in einem Fiasko, so ist auch der Ratgeber keineswegs völlig aus dem Schneider. Gewiss, er hat nur einen Rat gegeben und die Entscheidung über die Ausführung dem anderen überlassen, aber er hat eben auch diesen Rat gegeben, ohne den der andere möglicherweise sehr anders gehandelt hätte. Raten ist gezieltes Beeinflussen, das, obschon es die Freiheit der Entscheidung grundsätzlich nicht antastet, den Ausgang der Geschichte nicht ignorieren kann. Um solchen indirekten, nachträglich geltend gemachten Haftungsansprüchen oder Vorwürfen zu entgehen, wird der Rat oftmals in einer Form präsentiert, die ihn gleichsam vorbeugend verwässert oder gar dementiert. Die strikte Konditionalstruktur wird gelockert und weicht einer Vielzahl sprachlich-syntaktischer Variationen und Ausdrucksmöglichkeiten.18 Bei Ratschlägen regiert häufig der verschlungene Konjunktiv: »Ich an Deiner Stelle würde ...«; »Wenn Du mich fragen würdest, könnte ich Dir vielleicht empfehlen ...«; »Eventuell könnte man überlegen, ob ...« usw. In all diesen Wendungen tritt der Ratgeber als Subjekt und Urheber des Ratschlags mehr oder minder zurück und hält sich eine breite Hintertür offen. Um trotz

scheidet in diesem Zusammenhang zwischen einem starken und einem schwachen Ratschlag, wobei der starke Rat die Situation von vornherein so konstruiert, dass nur durch die Befolgung des Rats eine erfolgreiche Problemlösung zu erwarten sei. 17 Vgl. BGB § 675 Abs. 2: »Wer einem anderen einen Rat oder eine Empfehlung erteilt, ist, unbeschadet der sich aus einem Vertragsverhältnis, einer unerlaubten Handlung oder einer sonstigen gesetzlichen Bestimmung ergebenden Verantwortlichkeit, zum Ersatz des aus der Befolgung des Rates oder der Empfehlung entstehenden Schadens nicht verpflichtet.« 18 Vgl. Jochen Rehbein: Komplexes Handeln. Elemente zur Handlungstheorie der Sprache, Stuttgart 1977, S. 322ff.; Wunderlich, Sequenzmuster.

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der Delegation der Verantwortung nicht doch verantwortlich gemacht zu werden, wirft er gewissermaßen rhetorische Nebelkerzen und gibt den Rat von vornherein so, dass der andere ihn später kaum festnageln kann. 6. Empathie / Flexibilisierung der Perspektiven. Kein Rat ohne Einfühlung, ohne Empathie. Weil jeder Rat einem anderen rät, was er tun soll, ist für den Ratgeber die Übernahme der Perspektive des anderen konstitutiv. Dem Rat läuft ein Verstehen, genauer: ein Bemühen um Verstehen voraus, ohne das es keine erfolgreiche Problemlösung geben kann. Die prägnanteste Formulierung dessen, was die eigentliche Leistung und Anstrengung der Empathie ausmacht, habe ich bei dem Schweizer Dichter Ludwig Hohl gefunden. Dieser notiert in seinen Nuancen und Details (1939/1942) unter dem Stichwort EIN GUTES TUN: »Das, was man selber nicht braucht, was aber ein anderer, der anders ist, braucht, als notwendig erkennen können.«19 Das ist Empathie. Ein radikales Abstrahieren von den eigenen Bedürfnissen zugunsten der vollständigen Anerkennung des Brauchens und der anderen Sichtweise eines anderen. 20 Die empathische Einstellung ist eine fundamentale Geöffnetheit, der Versuch eines möglichst weitgehenden Sich-Hineinversetzens in die kognitiven Orientierungen und das emotionale Erleben des anderen, ohne indes die eigene Perspektive dabei aufzugeben. Rogers betont stets den Als-ob-Charakter der Operation, die therapeutische Kompetenz, die Welt des anderen, in die man so tief und vorurteilsfrei wie möglich einzutauchen bereit ist, jederzeit wieder verlassen zu können.21 Empathie ist also gerade nicht zu verwechseln mit Identifikation: Die zeitweise Suspendierung der eigenen Perspektive verfolgt letztlich den Zweck, in der umfassenden Übernahme der Weltsicht und Dispositionen des anderen einen verstehenden und gleichzeitig relativierenden Zugang zu seiner Realität zu gewinnen und die darin gegebenen Handlungschancen auszuloten. Nicht nur, wie er die Welt wahrnimmt und empfindet, sondern auch seine Fähigkeit oder Unfähigkeit,

19 Ludwig Hohl: Nuancen und Details, Frankfurt a.M. 1990, S. 49 20 Nicht nur der Vollständigkeit halber sei hier auch noch das Pendant EIN ÜBLES TUN zitiert: »Einem aus seiner Vergangenheit eine Schleppe machen, alle Steine hineinlegen, die man finden kann, dann zubinden –: und beweisen, wohin dieser nicht gehen kann.« (Hohl: Nuancen und Details, S. 49) – Man könnte hieraus ableiten, wie ein möglichst bösartiger Ratschlag auszusehen hätte: Es müsste einer sein, der unter der Fassade der Hilfsbereitschaft die Problemlösung für den anderen durch das Auftürmen von Schwierigkeiten und das gleichzeitige Bestreiten seiner Fähigkeiten zusätzlich erschwert und ihm auf diese Weise die Ausweglosigkeit seiner Lage um so drastischer vor Augen führt. 21 Carl R. Rogers: »Empathie – eine unterschätzte Seinsweise«, in: Carl R. Rogers/Rachel L. Rosenberg: Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit, Stuttgart 1980, S. 75-93, S. 77f.

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auf sie einzuwirken und zum Objekt zielgerichteten Handelns zu machen, ist Gegenstand der empathischen Aufmerksamkeit. In einem Leitfaden für professionelles Schreiben in den Sozialwissenschaften berichtet Howard S. Becker von seiner Begegnung und der Zusammenarbeit mit Blanche Geer in einem von Everett Hughes geleiteten medizinsoziologischen Forschungsprojekt. Dort heißt es: »Sie nahm das Schreiben außerordentlich ernst und brachte mir in heftigen Auseinandersetzungen über einzelne Wörter und Begriffe in unseren verschiedenen Fassungen eine Menge bei. Wir führten wundervolle und endlose Diskussionen miteinander, z. B. über den Begriff der ›Perspektive‹, ein Wort, dem im theoretischen Begriffsapparat unserer Studie eine zentrale Bedeutung zukam. Strittig war das Verb, das im Zusammenhang mit ›Perspektive‹ verwendet werden sollte. ›Hatten‹ die Menschen eine Perspektive, ›nahmen‹ sie eine Perspektive ›ein‹ oder ›legten‹ sie eine Perspektive ›an‹? Die Nebentöne der genannten Vokabeln erwiesen sich als deutlich verschieden und unterscheidbar, sobald man genauer hinsah. Und so lautete die Frage nicht mehr: welches Wort war richtig?, sondern: was wollten wir sagen? Die von uns diskutierten Stilfragen entpuppten sich als Theoriefragen, mußten also theoretisch geklärt werden.«22

In diesen unterschiedlichen Akzentuierungen und Sinnbezügen von »Perspektive« sehe ich einen zentralen Schlüssel für ein vertieftes Funktionsverständnis des Ratschlags. Ratlosigkeit ist ein Eingemauertsein in die Perspektive, die man hat. Der Ratlose sieht keinen Ausweg, weil er ausschließlich auf seine Perspektive restringiert ist und darin auf Gedeih und Verderb verharrt. Er ist gleichsam heillos in seine eigenen Wahrnehmungen und Empfindungen verstrickt. Ratgeben hingegen setzt voraus, empathisch die Perspektive des anderen einzunehmen und parallel dazu die Perspektive, die man selbst mitbringt oder entwickelt, beizubehalten: Erst im Abgleich und dem In-Beziehung-Setzen der beiden Perspektiven ist der Rat überhaupt möglich.23 Und er wird vermutlich um so besser ausfallen, wenn derjenige, der den Rat erteilt, qua Vorwissen und Sachkenntnis darüber hinaus in der Lage ist, die potentielle Lösung des Problems auch von der Sache her zu denken, also an das Problem eine geeignete Perspektive anzulegen. Im Ratschlag geht es also stets um eine Annäherung und das Zusammenführen dreier verschiedener Perspektiven: Der Ratgeber muss sich einfühlen in die Perspektive des anderen, ohne die eigene aufzugeben, und er hat ferner die unumgäng-

22 Howard S. Becker: Die Kunst des professionellen Schreibens. Ein Leitfaden für die Geistes- und Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M./New York 1994, S. 127. 23 Häufig ist es leichter, die fremde Perspektive einzunehmen als die eigene zu durchbrechen. Deshalb sind wir nicht selten ratkompetent für andere und ratlos für uns selbst.

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lichen Relevanzen der Sache zu eruieren und aufzugreifen, um – und dies wäre eine vierte Verb-Kombination – dem Empfänger eine Lösungsperspektive seines Problems zu eröffnen. In dieser letzten Wendung zeigt sich freilich auch, dass die unterschiedlichen, kognitiv miteinander zu verbindenden Perspektiven keineswegs gleichwertig und gleichgewichtig sind, sondern dass am Ende alles darauf ankommt, ob es gelingt, die Perspektive des anderen zu flexibilisieren oder nicht. Es gibt also einen klaren Vorrang der Empathie. Ohne den empathischen Anschluss an die Perspektive, die Weltsicht, Gestimmtheit, das Können oder vielleicht Können-Können des anderen bleibt jeder, sachlich noch so gut begründete Lösungsvorschlag folgenlos. Denn es ist ja der andere, der den Rat annehmen muss und das Problem durch seine Entscheidung für ein bestimmtes Handeln aus der Welt schaffen soll. Es geht also bei jedem Rat primär um die »Lockerung« und Neujustierung der Perspektive des Empfängers. Die andere Sicht des Problems ist die Grundbedingung und der erste Schritt seiner Lösung. Der Ratschlag initiiert einen veränderten Aufbau des Wahrnehmungsfeldes, der die bisherigen Relevanzstaffelungen durchbricht und das Gefühl der Ausweglosigkeit mindert – ein Effekt, der zuweilen auch dadurch erreicht werden kann, dass jemand lediglich durch die intensive Aufmerksamkeit und das geduldige Zuhören einer ihm vertrauensvoll zugewandten und geöffneten Person dazu ermuntert wird, seine Perspektive zu reformulieren und sich auf diesem Wege selbst von dem destruktiven Kreislauf seiner Gedanken zu lösen. So kommt es mitunter vor, dass ein Ratsuchender sich nur durch die bloße Anteilnahme des anderen aus seiner Verzweiflung herauswinden kann. Obwohl in Wirklichkeit gar kein Rat gegeben wurde, hat er dennoch das Gefühl, kompetenten Rat erhalten zu haben.24 Sprechen ist, nach einer bekannten Formulierung von John Dewey, Handeln ohne zu handeln. Weil ihn die empathische Anwesenheit des anderen dazu zwingt, situativ dessen Perspektive zu übernehmen und gleichzeitig die eigene zu verobjektivieren, erschließt sich ihm in einer solchen Konstellation manchmal spontan eine neue Perspektive auf den Gegenstand, die er zuvor nicht gesehen oder angelegt hatte. (Und in ähnlicher Weise kann natürlich auch das »Spiegeln« der eigenen Perspektive in den Umformulierungen und Verbalisierungen des anderen25 die gleiche Wirkung hervorrufen.)

24 Vgl. etwa Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon. München/Wien 2004, S. 20. Man denke hier auch an die schöne Passage über das Zuhören-Können in Michael Endes Momo. 25 Vgl. grundlegend Carl R. Rogers: Die nicht-direktive Beratung, München 1972; zur linguistisch-pragmatischen Analyse von Umformulierungen in Telefonberatungen vgl. Kristin Bührig: Reformulierende Handlungen. Zur Analyse sprachlicher Adaptierungsprozesse in institutioneller Kommunikation, Tübingen 1996, S. 123ff.

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Andererseits ist das Gelingen der Empathie zwar eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für eine erfolgreiche Problembewältigung. Wenn der Rat in die Irre führt, bleibt das Problem ungelöst und der andere damit allein. Insofern muss ihm der Rat zuallererst eine Sachschneise schlagen. Der Ratgeber ist gleichsam ein virtueller Führer, einer, der nicht selbst vorangeht, sondern nur einen Weg aufzeigt und ihn dem anderen empfiehlt. Ebenso wie das Führen muss der Rat die Relevanzen des anderen und des Ziels systematisch miteinander verknüpfen und in eine aussichtsreiche Lösungsperspektive integrieren. 26 Am Ende ist es das sachliche Ergebnis, das über die Qualität des Ratschlags entscheidet und an dem sie retrospektiv gemessen werden kann. Obwohl grundsätzlich nicht instrumentell definiert, ist der gute Rat einer, der, wenn er befolgt wird, das Problem tatsächlich löst. 2.

Variationen und Modulationen

Die Varianten und Umstände des Rats sind vielfältig. Er kann stark oder schwach, offen oder verdeckt, erbeten oder aufgedrängt sein. Je nach Kontext und Rahmung, situativen Motiven und vorgängiger Beziehungsgeschichte wird ein Ratschlag sehr unterschiedlich ausfallen und akzentuiert werden. Rekapituliert man die eingeführten Strukturmerkmale unter diesem Aspekt, so sind es vor allem die Probleme von Nähe und Distanz, die unterstellte Asymmetrie von Wissen und Fähigkeiten sowie der Transfer der Verantwortung, die auch im Hinblick auf die Verschleifung mit benachbarten Handlungsmustern als Hauptursachen der sprachlichen und sozialen Variationsmöglichkeiten gelten können. Ich beschränke mich hier auf einige theoretisch angeleitete Grundüberlegungen. Wichtig ist zunächst die wechselseitige Substituierbarkeit der konditionalen Sprechakte.27 Ebenso wie Ratschläge weisen auch Drohungen, Warnungen oder bedingte Versprechen eine Wenn/dann-Struktur auf, die einen bestimmten Ablauf der Zukunft konstruiert und ihn zugleich an das weitere Tun des Adressaten bindet. So können Drohungen, die dem anderen einen empfindlichen, von einem selbst zu veranlassenden Nachteil in Aussicht stellen, wenn er sich dem eigenen Willen nicht fügt28, leicht als Ratschläge maskiert werden: Wenn mir ein Vorgesetzter hochgradig erregt und mit knurrendem Unterton rät, eine bestimmte Arbeit, deren Ergebnis er für eine Dienstbesprechung braucht, unbedingt termingerecht fertigzustellen, so handelt es sich offensichtlich nicht um einen Rat. Ich weiß ja, was mir blüht, wenn ich der Aufforderung nicht nachkomme. Die sprachliche Normalform des Rat-

26 Vgl. auch meine Charakterisierung des Führens in Rainer Paris: Normale Macht. Soziologische Essays, Konstanz 2005, S. 78ff. 27 Vgl. Dieter Wunderlich: Studien zur Sprechakttheorie, Frankfurt a.M. 1976, S. 272ff. 28 Vgl. Rainer Paris/Wolfgang Sofsky: »Drohungen. Über eine Methode der Interaktionsmacht«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 39 (1987).

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schlags kaschiert im Verständnis beider Akteure die Drohung, nimmt ihr dadurch allerdings auch ihre Überdeutlichkeit und mildert sie so etwas ab. In ähnlicher Weise funktioniert eine ausdrückliche Warnung (»Pass auf!«) gleichzeitig als impliziter Ratschlag, empfiehlt sie mir doch das Unterlassen eines Handelns oder einer Einstellung, deren acht- und gedankenlose Fortsetzung für mich unter Umständen sehr gefährlich werden könnte. (Von einem echten, vollständigen Rat unterscheidet sie sich dadurch, dass das antizipierte Problem zwar personell attribuiert wird, vom anderen aber noch gar nicht als solches identifiziert und wahrgenommen worden ist.) Man kann also so tun, als würde man jemandem etwas raten, obwohl man in Wirklichkeit etwas ganz anderes tut, und ebenso kann man jemandem indirekt etwas raten, ohne dass die Äußerung die Vollgestalt eines Ratschlags annehmen müsste. So haben zum Beispiel ein Tipp oder ein Hinweis durchaus Ratcharakter und vermeiden gleichzeitig die im Rat virulenten Probleme der Asymmetrie und Verantwortung. Wer einem anderen einen Tipp gibt, nimmt sich selbst längst nicht so wichtig wie ein Ratgeber. Der Tipp ist eine kurze, gezielte Sachinformation, die dem anderen vielleicht nützlich sein kann. Einen Tipp kann man auch ungefragt geben, ohne dass man deshalb den Vorwurf der Zudringlichkeit fürchten müsste; schon die Beiläufigkeit, mit der er angebracht wird, lässt ein interpersonelles Problem gar nicht entstehen. Im Tipp sind weder die Fiktionen der Gleichheit noch die der Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit des anderen gefährdet. 29 Demgegenüber rückt bei einer ausdrücklichen Empfehlung das Subjekt der Äußerung stärker in den Vordergrund.30 Anders als der Tippgeber tritt der Empfehlende nicht hinter der Sache zurück und unterstellt die kognitive und soziale Asymmetrie. Wer etwas empfiehlt, weist einen Weg, von dem er behauptet, dass er gangbar sei. Die Empfehlung ist bereits ein schwacher Rat, der allerdings noch nicht besonders dringlich daherkommt und dem anderen, indem er ihm nur eine Erwägung nahelegt, alle Möglichkeiten offenlässt. Einer Empfehlung kann man nachkommen – oder auch nicht; sie hat, als »bloße« Empfehlung, immer auch ein Element des Unverbindlichen, das späteren Komplikationen vorbeugt. Ähnliches gilt für den Vorschlag, der dem anderen zunächst ohne eigene Präferenzsignale eine oder mehrere Alternativen offeriert, zwischen denen er auswählen und sich so oder anders ent-

29 Eine andere, noch schwächere Variante ist der indirekte Tipp, bei dem man die betreffende Information in anderen Kontexten des Gesprächs geschickt so lanciert, dass man darauf hofft, der andere würde das darin enthaltene Problemlösungspotential selber erkennen und später für sich nutzen können. 30 Zur typologischen Abgrenzung von Tipp, Empfehlung und Ratschlag vgl. auch Götz Hindelang: Auffordern. Die Untertypen des Aufforderns und ihre sprachlichen Realisierungsformen, Göppingen 1978, S. 414ff.

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scheiden kann.31 Beide, Empfehlung und Vorschlag, werden vom Empfänger ebenso wie der Tipp vor allem nach Kriterien ihrer instrumentellen Brauchbarkeit beurteilt und schränken seine Freiheit noch nicht gravierend ein. Dies ist beim starken Ratschlag (nur wenn du h tust, dann q) vollkommen anders. Hier ist das Problem, auch in seiner personalen Attribuierung, scharf konturiert, seine Lösung oder Bearbeitung duldet keinen weiteren Aufschub. Weil die Zeit drängt, bekommt der Rat nun etwas unmittelbar Aufforderndes, Bedrängendes. Obschon immer noch Rat, der dem anderen formal die Entscheidung freistellt, gewinnt die Äußerung unter der Hand den Charakter einer indirekten Nötigung: Der Ratgeber übersetzt den Problemdruck, unter dem der andere steht, gewissermaßen in einen persönlichen Druck, den Rat zu befolgen. Zugleich suggeriert er, dass es im Grunde nur einen, nämlich den von ihm aufgezeigten Weg der Problemlösung gäbe. Die Aufgabe des anderen sei, in der gegebenen Situation alle verfügbaren Ressourcen und Handlungsenergien in diese Richtung zu bündeln und sich durch keinerlei Alternativüberlegungen davon ablenken zu lassen. Der starke Rat konstruiert und konstituiert eine starke Beziehung. In ihm ist der »reine Typus« des Ratschlags gleichsam überprägnant ausgebildet, und zwar so sehr, dass er keine situativen Modulationen mehr zulässt. Die große Nähe und Quasi-Intimität des Verhältnisses korrespondieren mit einer scharfen Akzentuierung der Asymmetrie und der Verengung auf einen einzigen Lösungsvorschlag, dies allerdings mit der Konsequenz einer absehbaren Folgediffusion der Verantwortung: Wer einen anderen bedrängt, unbedingt einen bestimmten Handlungspfad einzuschlagen, kann sich später im Falle des Misserfolgs nicht so einfach aus der Affäre ziehen. Je stärker der Rat, desto exponierter der Ratgeber, desto schwächer der Transfer der Verantwortung. Indem der Ratgeber den anderen direkt auf ein konkretes Tun festzulegen versucht, verpflichtet er sich indirekt gleichzeitig, für den Ausgang der Geschichte auch selber mit gerade zu stehen. Hier zeigt sich, dass die Strukturmerkmale des Ratschlags nicht nur sehr unterschiedlich ausgeprägt und akzentuiert sein können, sondern darüber hinaus gerade in diesen Variationsmöglichkeiten systematisch verflochten sind. Wo der Rat schwach und die Distanz relativ groß, das Problem zwar präsent, aber nicht alles überschattend ist und Eigennutz als Motiv ausgeschlossen werden kann, ist die Autonomie des Empfängers meist noch nicht ernsthaft gefährdet und die Separierung der Verantwortung intakt. Umgekehrt kann in einer akuten Notsituation bei einer engen persönlichen Bindung der Akteure starker Rat auch für den Ratgeber teuer werden, weil er offensiv die alleinige Kompetenz an sich reißt und sich damit auch selbst nicht unwesentlich in die Pflicht nimmt. (Ob er zu dieser Teilverantwortung

31 Vgl. Rehbein: Komplexes Handeln, S. 316ff.

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nachher noch steht oder nicht, steht freilich auf einem anderen Blatt und kann selbst wiederum Gegenstand verwickelter Aushandlungsprozesse sein.) Allerdings hängt die Bandbreite möglicher Variationen nicht nur von der jeweiligen Differenzierung und Kombination der Merkmale ab. Mindestens ebenso bedeutsam ist hierfür sicherlich, welche grundlegenden Strukturbedingungen die Äußerung rahmen und wie sie in ihrer Handhabung insbesondere durch die größere oder geringere Machtdifferenz der Akteure determiniert und eingefärbt ist. Die Grundthese ist, dass Ratschläge einen sehr anderen Charakter annehmen, je nachdem, ob sie von oben nach unten oder zwischen Gleichen oder extern, also gewissermaßen etwas nach unten versetzt von der Seite erfolgen.32 Der Ratschlag von oben nach unten scheint zunächst kaum Probleme aufzuwerfen. Er umschreibt die übliche Konstellation, bei der man, wenn man in existenziellen Dingen nicht weiter weiß, eine Autorität um Rat fragt. Die Autorität gilt als ratkompetent, weil sie Werte repräsentiert, die man auch selbst bejaht 33, und darüber hinaus über einen Fundus von Wissen und Erfahrungen verfügt, die einem selber fehlen. Als »weise« Autorität verbindet sie Qualitäten wie Weitsicht und Tugend, Lebensklugheit und Erfolg. 34 Insofern ist die Asymmetrie hier gerade kein Hindernis, sondern unerlässliche Bedingung der Konsultation: Nur weil ich den anderen als Autorität anerkenne, erbitte ich seinen Rat. Dennoch muss die Antwort der Autorität die Zuschreibung auch bestätigen: Um das entgegengebrachte Vertrauen nicht zu enttäuschen, muss der Rat ernsthaft und überlegt sein, darf die Autorität das Ansinnen des Ratsuchenden keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen. Mindestens ebenso wichtig wie der Rat selbst werden deshalb Signale der Geöffnetheit und Empathie, vielleicht auch der Absonderung von den Relevanzen des Alltags sein, die das aufrichtige Bemühen der Ratautorität unterstreichen und die persönliche Grundierung des Verhältnisses ratifizieren. Wie sehr das Gelingen des Rats von dieser interpersonellen Dimension abhängig ist, lässt sich umgekehrt an solchen Fällen aufzeigen, in denen der Ratgeber je-

32 In der Machtrichtung von unten nach oben sind Ratschläge sehr selten. Sie mögen vereinzelt vorkommen, sind dann aber stets ein offenkundiger Bruch der »normalen« Situations- und Beziehungsdefinition. Weil die Asymmetrie des Ratschlags das vorgegebene Machtgefälle offensiv umkehrt, können sie entweder nur in indirekter, kaschierter Form erfolgen oder sie kündigen eben ein grundsätzliches Aufbegehren des Mindermächtigen, also eine gravierende Revision des Abhängigkeitsverhältnisses an. 33 Vgl. Sofsky/Paris: Figurationen sozialer Macht, S. 26f. 34 Vgl. Heinrich Popitz: Phänomene der Macht, 2. erw. Auflage, Tübingen 1992, S. 113: »Der Rat von Personen mit Prestige gilt mehr als der Rat gewöhnlicher Sterblicher. Es ist der Rat eines Erfolgreichen. Indem man diesem Rat folgt, schließt man sich an den Erfolg an.«

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mand ist, der zwar formal eine übergeordnete Position einnimmt, gleichzeitig aber nur wenig Ansehen und Anerkennung genießt. Wenn ein nichtgeachteter Machthaber einem etwas rät, ist der Rat stets suspekt. Weil er in der Regel aufgedrängt wird, gibt es meist gute Gründe, die Uneigennützigkeit zu bezweifeln. Dass derjenige, der das Sagen hat, deshalb schon kompetent sei, ist eine Grundannahme, die Mindermächtige nur selten unbefragt akzeptieren. Da die Asymmetrie der Macht hier nicht mit der im Autoritätsverhältnis vorausgesetzten Wertgemeinsamkeit korrespondiert, erscheint das Erteilen des Rats oftmals als bloße Anmaßung von Kompetenz, eine Arroganz, die im übrigen spätere Komplikationen um Haftung und Rechenschaft kaum zu fürchten hat. In ganz anderer Weise prekär ist der Rat zwischen Gleichen. Dies ist sicher die häufigste und am weitesten verbreitete Variante: Man zieht wegen eines ernsten Problems einen Freund oder eine Freundin zu Rate, oder gibt ihm auch ungefragt einen Rat, wenn sein Problem aufs Tapet kommt. Die persönliche Nähe verringert die Schwelle und erleichtert die Übernahme der Perspektive des anderen, birgt aber gleichzeitig ein erhöhtes Konfliktrisiko: Indem der Ratschlag die ursprünglich Gleichen in situativ Ungleiche, nämlich Ratkompetente und Ratbedürftige, verwandelt, rückt das Problem der Asymmetrie unversehens in den Vordergrund. Und weil der Rat in der personalen Attribuierung des Problems implizit gerade keine Gemeinsamkeit der Betroffenheit konstruiert, wird er auch unter Gleichen nicht selten als indirekte Zurücksetzung oder Abweisen von Verantwortung interpretiert und beargwöhnt. Deshalb ist der Rat des Freundes immer auch etwas heikel. Einerseits verlangt es die Freundschaft, den anderen mit seinem Problem nicht allein zu lassen; andererseits gefährdet der Rat jedoch die Fiktionen von Autonomie und Egalität. Um die Gefahr der Brüskierung abzuschwächen, wird der Rat unter Gleichen daher häufig in der Weise moduliert, dass er in seiner Konditionalstruktur aufgeweicht, durch Beiläufigkeitssignale entdramatisiert oder durch eine selbstdementierende Wendung in seinem Beziehungssinn verwässert wird (»Ich will dir ja nichts raten, aber ...«). Man versteckt sich als Ratsubjekt hinter einem Tipp oder Hinweis oder weicht, wo dies nicht möglich ist, in der Formulierung auf allerlei gewundene Konjunktive aus, die jede Hintertür offen lassen. Dennoch bleibt dies stets eine schwierige Gratwanderung: Sowohl der Rat als auch der Ratverzicht kann vom anderen als Affront und persönliche Geringschätzung aufgefasst werden, die das Vertrauensverhältnis unterminieren.35

35 Andererseits gilt, dass starke persönliche Anteilnahme und ein belastbares Vertrauen sich oftmals dadurch auszeichnen, dass sie vor einer gewissen schonungslosen Offenheit und Konfliktbereitschaft gerade nicht zurückschrecken.

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Um diese widersprüchlichen Impulse von Nähe und Asymmetrie, empathischem Sich-zu-eigen-Machen des Problems des anderen bei gleichzeitigem Festhalten an der Delegation der Verantwortung, interaktiv aufzunehmen und ausbalancieren zu können, tendiert der Rat unter Gleichen oftmals dazu, fließend in ein gemeinsames Beratschlagen überzugehen, das die Fallstricke des Ratschlags zugunsten einer konsensuellen Suche nach Lösungen zu vermeiden sucht. Ein Grenz- und Sonderfall ist der Rat von außen. Da Ratschläge völlig Fremder die seltene Ausnahme sind, ist der externe Ratschlag normalerweise bereits dadurch entschärft, dass die Akteure sich hier in klar definierten Funktionsrollen begegnen und der Vorrang der Sachrelevanzen eindeutige Erfolgskriterien vorgibt. Da er in der Regel nachgefragt wird, ist das Eingeständnis der Nicht-Autonomie und Ratbedürftigkeit des Empfängers kein Problem; ebenso wird der andere ja gerade wegen seines Expertenstatus konsultiert. Dennoch steht die zugeschriebene Sachautorität mehr noch als die Persönlichkeitsautorität stets unter dem Vorbehalt der Bewährung: Ob einer das, was er können muss oder soll, auch tatsächlich kann, wissen wir immer erst im nachhinein – und in diesem Fall sogar: erst nachdem der Rat befolgt worden ist. Um die Unterstellung der Kompetenz zu befestigen, muss der Expertenrat klar und schnörkellos sein. Sachlichkeit und Entschiedenheit sind oberstes Gebot, längere Legitimierungen dagegen fehl am Platz: Wer etwas legitimiert, erklärt es damit indirekt für legitimierungsbedürftig und nährt so häufig den Zweifel, den er zerstreuen will.36 Trotzdem können beiläufig eingeflochtene, scheinbar jedermann einleuchtende Gründe und fachsprachlich drapierte Problembeschreibungen den unbefragten Eindruck der Sachverständigkeit bestärken und bei Bedarf aufpolieren. Kurzum: Die externe Sachautorität inszeniert sich als jemand, der, wenn er wollte, sich jederzeit legitimieren könnte, dies aber gar nicht nötig hat. Andererseits ist der Ratgeber von außen positional nicht besonders mächtig. Wenn er kein Anbietungsmonopol hat, haben Kunden oder Klienten die Wahl. Wichtig sind deshalb, neben dem Vermeiden von Arroganz, immer auch Signale von Vertrauenswürdigkeit und Seriosität. Der Rat muss, im Ton wie in der Formulierung, stets eine prekäre Balance halten: Er muss selbstbewusst sein, darf aber nicht anmaßend klingen, er muss anschließen an die Präferenzen des anderen und trotzdem den Vorrang der Sachrelevanzen durchsetzen. Erleichtert wird dies durch die andere Rahmung: Wo der Rat zwischen Gleichen in einem gemeinschaftlichen Beratschlagen mündet, nähert sich der externe Ratschlag der Grundsituation der Beratung an.

36 Vgl. Rainer Paris: Stachel und Speer. Machtstudien, Frankfurt a.M. 1998, S. 115.

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3.

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Reaktionsmuster

Wer einen Rat bekommt, kann darauf höchst unterschiedlich reagieren. Einer ist dankbar, der andere empört, ein dritter gleichgültig. Der Empfänger kann ihn befolgen oder in den Wind schlagen, sich gegen ihn verwahren oder sofort vergessen. Doch für welche Alternative er sich auch entscheidet, er hat nicht die Freiheit, nicht zu reagieren. Wann immer jemand die Äußerung seines Gegenüber als »Ratschlag« interpretiert, kommt er nicht umhin, sie in seinem eigenen Verhalten aufzunehmen und in irgendeiner Weise zu beantworten. Es gibt natürlich die Möglichkeit, die Situation gar nicht erst eintreten zu lassen. Man hat zwar ein Problem, steuert das Gespräch aber so, dass der Ratschlag ausbleibt. So kann man ungebetenem Rat beispielsweise in der Regel einfach dadurch vorbeugen, dass man bereits im Vorfeld durchscheinen lässt, dass man die Kompetenzen des anderen nicht sonderlich hoch einschätzt. Wer soeben als blöd hingestellt worden ist, wird sich nicht unbedingt bemüßigt fühlen, dem anderen etwas zu raten.37 Die Vorweg-Umkehrung der Asymmetrie verhindert die unerwünschte Aktion. Ähnlich funktioniert der antizipative Gegenrat, der freilich in Wirklichkeit eine Drohung ist: Man rät dem anderen, einem ja nichts zu raten, und hat fortan seine Ruhe. Schon diese Beispiele zeigen, dass die unmittelbare Reaktion auf Ratschläge in hohem Maße davon abhängig ist, wie in der konkreten Situation die soziale Initiative verteilt ist. Wo der Rat nachgefragt oder sogar »erbeten« wird, ist der Empfänger darauf eingestellt und entsprechend disponiert: Er beurteilt ihn nach seiner Ernsthaftigkeit, der empathischen Qualität und dem inhaltlichen Lösungspotential. Personale Nähe, Asymmetrie und Verantwortungstransfer sind generell akzeptiert und daher nicht unmittelbar konfliktträchtig. Umgekehrt bedeutet ein Rat, der einem aufgedrängt wird, nicht nur den Oktroi eigener Rat- und Hilfsbedürftigkeit, sondern darüber hinaus eine prinzipielle Infragestellung von Selbständigkeit und Autonomie. Ähnlich wie jedes Geschenk immer auch einen indirekten Angriff auf die Autonomie des Beschenkten darstellt, erzeugt der ungebetene Rat stets eine mehr oder minder prekäre, im Extremfall außerordentlich spannungsreiche Neudefinition der Beziehung, die allen Beteiligten ein hohes Maß an Takt38 und mitunter sehr aufwendige Aktivitäten zur Restitution der situativen Normalität abverlangt.

37 Dies setzt freilich voraus, dass die Diskreditierung auch als solche registriert worden ist. Manche sind ja gar nicht in der Lage zu bemerken, dass sie gerade als blöd hingestellt worden sind – und werden sich dann vom Aufdrängen ihrer Ratschläge auch nicht abhalten lassen. 38 Eine schöne Charakterisierung des Takts gibt Helmuth Plessner: »Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus« (1924), in: Helmuth Plessner: Gesammelte Schriften, Bd. V, Frankfurt a.M. 1981, S. 7-133, S. 107f.

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Nicht immer muss jedoch, wer um Rat fragt, auch Rat wollen. Es gibt nicht selten den Fall, dass jemand, der einen anderen zuvor um einen Rat gebeten hat, sich ihn im Nachhinein energisch verbittet und darüber empört. Die Ursache dieses Unmuts lässt sich leicht am Scheitern der Flexibilisierung der Perspektiven klarmachen: In Wirklichkeit ging es dem Ratsuchenden nämlich gar nicht um einen Ausweg aus einer für ihn ausweglosen Situation, sondern um die Bestätigung derjenigen Lösungsperspektive des Problems, die er sich selbst schon zurechtgelegt hatte. Und indem ihm der Rat nun diese Bestätigung verweigert und ihn stattdessen durch eine andere Option irritiert, sieht er sich genötigt, seine mitgebrachte Orientierung gegen die vermeintliche Einmischung von außen zu verteidigen. Er verwahrt sich gegen den Rat, um nicht neu überlegen zu müssen und an der Perspektive, die er hat, unbeirrt festhalten zu können. Grundsätzlich stehen dem Empfänger drei Reaktionsalternativen zur Auswahl: Annahme, Zurückweisung und Indifferenz. Ist der Rat willkommen, so muss man sich zunächst nur erkenntlich zeigen: Man honoriert die Empathie und das Bemühen des anderen, indem man signalisiert, dass man den Rat ernst nimmt und den Überlegensanstoß aufgreift. Ebenso wie der andere mir bei meiner Problemerzählung zugehört hat, höre ich nun ihm zu und gebe ihm das Gefühl, vielleicht auf ihn zu hören. Persönliche Aufmerksamkeit und Sachkonzentration fallen zusammen. Die Aufnahme ratifiziert die im Ratschlag enthaltene Quasi-Intimität und fokussiert die Wahrnehmung zugleich auf die angebotenen Lösungsmöglichkeiten. Keinesfalls ist es nötig, besondere Bekundungen der Dankbarkeit zu zeigen. Dies würde nur den Akzent von der Inhalts- auf die Beziehungsebene zurückverlagern. Im Gegenteil: Wer sich artig für einen Ratschlag bedankt, baut damit meistens vor, dass er ihn vermutlich nicht befolgen wird.39 Stattdessen demonstrieren gestisch-mimische Begleitsignale des Innehaltens und der Reflexion die Bereitschaft, sich auf die angezielte Lockerung und Transformierung der Perspektiven einzulassen. Das situative Gelingen des Rats verschafft beiden, dem Ratgeber ebenso wie dem Empfänger, ein eigentümliches Gefühl der Befriedigung: Obwohl die personale Attribuierung des Problems nicht zur Debatte steht, stiftet das gemeinsame Überlegen einen atmosphärischen Gleichklang, eine Gemeinsamkeit, in der sich stark empfundene Nähe und Vertrautheit mit dem Anvisieren einer praktischen Lösung verbinden. Ganz anders stellt sich die Situation bei den negativ eingefärbten Reaktionen, also Ablehnung, Empörung und Entrüstung dar. Gewiss gibt es auch Formen einer taktvollen Zurückweisung, die die Nichtannahme des Rats ohne größere Komplikationen überspielen. Wo man sich jedoch ausdrücklich jede Einmischung verbittet

39 Es gibt freilich auch eine wegwerfend-ironische Art des Sich-Bedankens, die den Rat unmittelbar zurückweist und diese Zurückweisung gerade nicht kaschiert.

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und der Rat ohne Umschweife in den Wind geschlagen wird, ist der Konflikt unübersehbar. Die Abwehr des Rats ist hier zugleich eine unverhüllte Brüskierung des Ratgebers als Person: Jener hat sich in die Problemlage des anderen eingefühlt und erntet dafür jetzt Ärger und Missachtung. Indem der Empfänger das Entgegenkommen des anderen mit unverhohlener Aggression quittiert und dessen psychische Investitionen abrupt entwertet, verletzt er die Basisnorm des »Wie du mir, so ich dir« und setzt damit auf einen Schlag eine neue, grundlegend veränderte Situationsdefinition durch: Nicht das Problem des Beratenen, sondern dessen Geringschätzung des Ratgebers steht fortan im Zentrum der Interaktion und des Wahrnehmungsfeldes.40 Die möglichen Motive der Zurückweisung können überaus vielfältig sein und lassen sich entlang der eingeführten Strukturmerkmale leicht rekonstruieren. Die Verringerung der Distanz kann als unbotmäßige Annäherung und Zudringlichkeit interpretiert, die Asymmetrie als arrogante Überheblichkeit verworfen werden. Man traut dem anderen den nötigen Sachverstand nicht zu, mag seine Uneigennützigkeit bezweifeln oder zumindest argwöhnen, er wolle sich mit seinen Ratschlägen vor praktischer Hilfe drücken. Weil er den Rat ja nicht auszuführen braucht und keinerlei Risiko eingeht, hat er gut reden. Auch die wirkliche Bereitschaft zur Empathie und die Ernsthaftigkeit des Bemühens um eine tragfähige Lösung können bestritten werden. Andere Ursachen sind in der Person des Empfängers zu suchen. Die Unterstellung der Ratbedürftigkeit erscheint ihm als persönliche Kränkung und bedroht das – auch kulturell geforderte – Selbstbild von Eigenverantwortlichkeit und Autonomie. Obwohl ratlos, mag er sich seine Ratlosigkeit nicht eingestehen. Oder: Weil er sein Problem sowieso viel besser kennt als der andere, sieht er sofort, dass der Rat nichts taugt. Ja mehr noch: Wenn der andere in seinem Rat wie selbstverständlich Fähigkeiten und Ressourcen voraussetzt, von denen man übergenau weiß, dass man darüber nicht verfügt, so schlägt die Erbitterung über das eigene Nicht-Können nicht selten in empörte Zurückweisung um. Es sind solche Ratschläge, die manchmal als »Schläge« empfunden werden. Nicht nur der physische Schmerz, auch die seelische Pein unterliegt einer Grenze der Empathie, die wir willentlich nicht beeinflussen können. Wer wirklich am Abgrund steht und verzweifelt ist, vermag in den guten Ratschlägen Nicht-Verzweifelter zuweilen nur Hohn und Erniedrigung zu erblicken.41

40 Diese Konstellation entspricht in gewisser Weise der Situation beim Zurückweisen eines Lobs. Vgl. Paris: Stachel und Speer, S. 178f. 41 Eine Frau, die seit langem in der Telefonseelsorge arbeitet, erzählte mir, dass sie bei ihren Anrufen nicht selten mit einem Gesprächsverlauf konfrontiert sei, bei dem sich die anfängliche Erleichterung der Klienten über einen empathischen Kontakt oft schon nach

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Um den Konflikt zu umgehen und den Affront in Grenzen zu halten, wird die Ablehnung des Rats oft kaschiert und verschliffen. Häufig verschafft ein nonverbaler Reaktionsruf, etwa ein Signal des Stutzens oder der Überraschtheit 42, erst einmal Abstand und Zeitgewinn. Sodann steht der Empfänger vor der diffizilen interaktiven Aufgabe, den illokutionären Sinn der Aktion durch den besonderen Anschluss seiner Reaktion so zu verändern, dass die situative Normalität gewahrt bleibt und die offene Brüskierung vermieden wird. Mit anderen Worten: Er muss den Rat zurückweisen, ohne ihn direkt zurückzuweisen. Gute Dienste leistet in dieser Situation die Technik einer reaktiven Remodulierung der früheren Sprechäußerung: Man behandelt den Rat des anderen so, als sei es nur ein Tipp oder eine unverbindliche Empfehlung gewesen, die man unter Umständen in Erwägung ziehen könne. Starker Rat kann auf diesem Wege stillschweigend abgeschwächt, schwacher Rat in einen bloßen Vorschlag rückverwandelt werden. Dem Rat wird so seine Überdeutlichkeit genommen und dem anderen eine Brücke gebaut, über die er gehen kann – oder auch nicht. 43 Eine andere Methode ist die Relativierung des Rats durch Umformulieren seines propositionalen Gehalts. So kann man, ähnlich wie bei Reaktionen auf Komplimente44, den Fortgang der Geschichte auch dadurch zu steuern versuchen, dass man den Inhalt des Rats in seiner Antwort zwar einerseits aufnimmt, ihn aber gleichzeitig in ein verändertes Bezugs- und Bewertungssystem einordnet und auf diese Weise unter der Hand neu justiert. Ohne dem anderen direkt zu widersprechen, verschiebt man einfach die inhaltlichen Vorgaben und Maßstäbe. Schlechten und überflüssigen Rat stellt man als grundsätzlich gut, aber am Ende nicht gut genug hin, die Gründe des anderen leuchteten ein, aber vielleicht gäbe es ja noch eine bessere Lösung. All diese Strategien der Neutralisierung weisen in Richtung Indifferenz. Die dritte Möglichkeit, einem Rat zu begegnen, ist das virtuose Überspielen der Aktion

kurzer Zeit in eine grundsätzlich aversionsgeladene und aggressive Grundhaltung transformiere – eine Situation, die mitunter sogar in wüsten Beschimpfungen ende, sie solle auf ihrem warmen Sessel doch nicht so tun, als ob sie sich tatsächlich in die Situation der Anrufenden hineinversetzen könne. Kommentar meiner Informantin: »Und im Grunde haben sie ja recht.« 42 Vgl. Erving Goffman: Rede-Weisen. Formen der Kommunikation in sozialen Situationen, Konstanz 2005, S. 176f. 43 In ähnlicher Weise kann natürlich auch der Ratgeber selber als Reaktion auf Zurückweisungsreaktionen solche nachträglichen Remodulierungen vornehmen, um den Konflikt zu entschärfen und den Gesichtsverlust in Grenzen zu halten. 44 Vgl. Anita Pomerantz: »Compliment Responses. Notes on the Co-operation of Multiple Constraints«, in: Jim Schenkein (Hg.): Studies in the Organization of Conversational Interaction, New York/San Francisco 1978, S. 79-122.

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durch Verpuffenlassen und gezielte Ignoranz.45 Man hört sich den Rat an und überhört ihn zugleich, etwa indem man, nach einer Anschlussfloskel, unvermittelt ein anderes Thema einführt. Dies ist in der Regel ein geschickter Schachzug, bürdet er doch, indem er die aktuelle Beziehungsdefinition in der Schwebe lässt, dem anderen die Entscheidung darüber auf, ob er auf den neu eröffneten Interaktionspfad einschwenken oder auf der früheren Ratgeber/Empfänger-Konstellation beharren will. Dies zwänge ihn nicht nur zu einer überdeutlichen Wiederholung, sondern würde gleichzeitig seine Kosten im Fall einer definitiven Zurückweisung noch einmal erhöhen. Die Voraussetzung einer solchen Taktik ist freilich, dass ich selbst gegenüber meinem Problem eine einigermaßen souveräne Haltung einnehme und die Ratlosigkeit nicht besonders groß ist. Gleichgültigkeit muss man sich leisten können. Und auch dann ist die Gefahr eines möglichen Eklats keineswegs gebannt: Nicht nur die Zurückweisung, auch das Übergehen des Rats kann vom anderen als persönliche Brüskierung und Missachtung aufgefasst werden, die er nicht einfach wegstecken will. So weit die Diskussion der verschiedenen Reaktionsstränge. Dabei dürfte deutlich geworden sein, dass die zentralen Weichenstellungen der Interaktion trotz aller Kontingenz des weiteren Verlaufs häufig bereits mit den unterschiedlichen Akzentuierungen der Strukturmerkmale erfolgen und dadurch vorgezeichnet sind: Starker Rat konstituiert eine starke Beziehung, die im Annahmefall eine intensive Bindung erzeugt, bei Ablehnung jedoch ein hohes Konfliktrisiko läuft; schwacher und beiläufiger Rat kann hingegen ebenso gut aufgenommen wie neutralisiert und gekontert werden, ohne dass dadurch die situative Normalität bereits ernsthaft gefährdet oder gar eine grundsätzliche Neudefinition der Beziehung eingeleitet würde. Im Übrigen muss man sich immer vor Augen halten, dass von der unmittelbaren Reaktion auf den Ratschlag keineswegs auf die langfristige Wirkung und das tatsächliche Handeln des Empfängers im Nachfeld geschlossen werden kann. Ob er den Überlegensanstoß aufgreift und weiterverfolgt, sich die angesonnene Perspektive und Problemsicht zu eigen macht und wie er letztlich entscheidet, kurzum: ob er den Rat beherzigt und am Ende befolgt oder nicht, das alles steht auf einem anderen Blatt. Man ist sicher gut beraten, hier mit großen Diskrepanzen zu rechnen: Manch einer entrüstet sich gegen den Rat und verbittet sich ihn energisch, um ihn späterhin nichtsdestotrotz zu befolgen. Und ein anderer nimmt ihn dankbar und aufmerksam auf – und hat ihn im nächsten Moment schon wieder vergessen.

45 Als gezielte Ignoranz ist diese Ignoranz freilich nicht ignorant. Insofern setzt sie einiges schauspielerisches Talent voraus. Wäre ich tatsächlich ignorant, gäbe es für mich ja auch keinen Reaktionszwang, dem ich nachkommen müsste.

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4.

Schluss

Die Untersuchung des Ratschlags liefert nicht nur einen Beitrag zu einer allgemeinen Interaktionstheorie. Sie wirft auch ein Schlaglicht auf das gesellschaftstheoretische Grundproblem der Entwicklung und Weitergabe von Traditionen, also die Frage nach dem Fortbestehen und Wandel mentaler Prägungen und der Bedeutung der mündlichen Kommunikation in diesem Prozess. Wer rät, entwirft stets einen virtuellen Fortgang der Geschichte. Er verknüpft sinnhaft die Vergangenheit mit der Zukunft, die freilich immer auch eine andere sein könnte. In diesem Assoziationsrahmen hat Walter Benjamin in seinem berühmten Essay Der Erzähler von 1936 die Figur des Geschichtenerzählers in die Nähe des Ratgebers gerückt: »Sie (die Erzählung, R.P.) führt, offen oder versteckt, ihren Nutzen mit sich. Dieser Nutzen mag einmal in einer Moral bestehen, ein andermal in einer praktischen Anweisung, ein drittes in einem Sprichwort oder in einer Lebensregel – in jedem Fall ist der Erzähler ein Mann, der dem Hörer Rat weiß. Wenn aber ›Rat wissen‹ heute altmodisch im Ohre zu klingen anfängt, so ist daran der Umstand schuld, daß die Mitteilbarkeit der Erfahrung abnimmt. Infolge davon wissen wir uns und anderen keinen Rat. Rat ist ja minder eine Antwort auf eine Frage als ein Vorschlag, die Fortsetzung einer (eben sich abrollenden) Geschichte angehend. Um ihn einzuholen, müßte man zuvörderst einmal erzählen können. (Ganz abgesehen davon, daß ein Mensch einem Rat sich nur soweit öffnet, als er seine Lage zu Wort kommen läßt.) Rat, in den Stoff gelebten Lebens eingewebt, ist Weisheit. Die Kunst des Erzählens neigt ihrem Ende zu, weil die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt.« 46

Gewiss ist der Erzähler kein Ratgeber im engeren, hier untersuchten Sinne. Doch indem er erzählt, stiftet und verkettet er Sinn und lädt ein zum Nachdenken, Fortspinnen und Überlegen. Er zeigt, dass es andere, ja unzählige andere Perspektiven gibt als die, die man immer schon hat und mitbringt. Der Erzähler tradiert nicht nur Erfahrung, er imaginiert auch Neues. Und er vermittelt etwas, was man früher »Haltung« genannt hat.47 Wissen und Informationen lassen sich in Lexika oder auf elektronischen Datenträgern speichern; für die Fortführung und Tradierung jener »ererbten Lebenshaltungen, Gefühlsgehalte, Einstellungen [...], die den Fonds des Lebens ausmachen«, gilt hingegen, dass sie wesentlich unbewusst durch gelebtes Vorbild, Milieuwirkung oder Gewohnheiten von Generation zu Generation über-

46 Walter Benjamin: »Der Erzähler«, in: Ders.: Illuminationen, Frankfurt a.M. 1977, S. 385410, S. 388 47 Vgl. Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, 3. Auflage, Frankfurt a.M. 1956, S. 154ff.

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mittelt werden.48 Nicht das ausdrücklich durch Erziehung Gewollte, sondern das gleichsam subkutan und habituell Übertragene, etwa die besondere Atmosphäre eines Raumes oder der Klang einer Stimme49, ist das (vorläufig) Entscheidende jeder Sozialisation und biographischen Grundprägung. Und auch der mündliche Rat und die darin aufbewahrte Vertrautheit persönlicher Bindung gehören zu diesem Repertoire, ohne die eine stete Weitergabe und das Modifizieren von Traditionen auch in der modernen Gesellschaft nicht gedacht werden können. Rat und Erzählung referieren auf die Geschichtenförmigkeit des Sozialen. »Alle Geschichten sind miteinander verbunden«, sagt der englische Schriftsteller John Berger. Sie kreuzen und überschneiden sich und sind im ständigen Auf und Ab, dem ewigen Pulsieren des Prozesses der Vergesellschaftung 50 systemisch und empirisch verwoben. Insofern ist der Ratschlag ein immer nur künstlich isoliertes und isolierbares Handlungsmuster: Er ist im Fluss des Tuns und Geschehens stets eingebettet in die soziale Figuration und die persönlichen und sachlichen Verflechtungen der Akteure, ihre unverwechselbaren Biographien und die Episoden ihrer Gemeinsamkeit, auf die er sich empathisch bezieht und die er gleichzeitig fortschreibt. Der qualifizierte Rat ist nie eilfertig. Er hört zu und wägt ab, ist sich selbst oftmals keineswegs sicher. Man erkennt ihn am Tonfall: Er ist ernst und bestimmt, einfühlsam, ohne sich aufzudrängen, und er lässt dem anderen die völlige Freiheit der Entscheidung. Gerade deshalb kann man (manchmal) auf ihn bauen. Für die wirklich wichtigen Dinge im Leben brauchen wir, die Einzelnen ebenso wie die Gesellschaft, nach wie vor guten Rat.

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48 Karl Mannheim: »Das Problem der Generationen« (1928), in: Karl Mannheim: Wissenssoziologie, Berlin/Neuwied 1964, S. 509-565, S. 538 49 Vgl. Tilmann Moser: Gottesvergiftung, Frankfurt a.M. 1976, S. 23f. 50 Vgl. Georg Simmel: Grundfragen der Soziologie (1917), 4. Auflage, Berlin 1984, S. 13f.

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Die dokumentarische Methode der Ratsuche Harold Garfinkels Experiment und seine Auswertung E RHARD S CHÜTTPELZ

Ende der 1950er Jahre organisierte der amerikanische Soziologe Harold Garfinkel an der University of California in Los Angeles ein Experiment zum Ratgeben und zum Prozess von Beratschlagungen, dessen Auswertung noch nicht abgeschlossen ist. Garfinkel rekrutierte zehn Studenten, indem ihnen erzählt wurde, am Institut für Psychiatrie würde eine Alternative zur Psychotherapie ausprobiert, und zwar durch eine neue Methode: »to explore alternative means to psychotherapy ›as a way of giving persons advice about their personal problems‹«1. Der Experimentator wurde den Versuchspersonen gegenüber als Ratgeber in der Ausbildung deklariert; er befand sich im Nebenraum und kommunizierte mit den Versuchspersonen über Lautsprecher und Mikrophon. Die Versuchspersonen sollten erst einmal ihr Problem darstellen, und dann die erste Frage stellen. Jede Frage musste so gestellt werden, dass sie mit »Ja« und »Nein« beantwortet werden konnte; und es wurden insgesamt zehn Antworten versprochen. Nach jeder Antwort und am Ende der Fragenrunde sollte die Versuchsperson laut über die Antworten nachdenken und sie bewerten, während der Kanal zum Experimentator abgeschaltet wurde. Der gesamte verbale Austausch wurde auf Tonband aufgezeichnet. Der Experimentator kam am Ende der Fragenrunde persönlich aus dem Nebenraum, und der Verlauf wurde noch einmal zusammenfassend beurteilt, aber die Reihenfolge der Antworten, der jeweils zehn »Jas« und »Neins« war vorher per Zufall festgelegt worden, und für alle Versuchspersonen dieselbe.

1

Harold Garfinkel: »Common sense knowledge of social structures: the documentary method of interpretation in lay and professional fact finding«, in: Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs 1967, S. 76-103, S. 79.

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Garfinkels Aufsatz »Common sense knowledge of social structures: the documentary method of interpretation in lay and professional fact finding« ist eine Auswertung dieses Experiments, und enthält zwei ausführliche Protokolle dieser Serie von zehn Versuchspersonen. Es folgen die jeweils ersten drei Frage-AntwortSequenzen aus den zwei abgedruckten Protokollen, um einen Eindruck zu vermitteln, welche Art von Text bei diesen Protokollen entstanden ist. FALL EINS »SUBJECT: Ok, this is the situation that I am presented with. I happen to be of the Jewish faith and I have been dating a Gentile girl now for about two months. My dad is not directly opposed to this situation, but I feel at the same time that he is not exactly pleased with it. Mother feels as long as Dad is not directly opposed to this situation that I should go ahead and continue dating until he makes some direct statement to the contrary. My reason for feeling why he is not too pleased with this is that he has never said don’t date her, but at the same time he will come up with digs and sayings that make me feel very ill at ease about dating the girl. My question is, do you feel under the present circumstances that I should continue or stop dating the girl? Let me put that in a positive way. Do you feel that I should continue dating this girl? EXPERIMENTER: My answer is no. SUBJECT: No. Well, that is kind of interesting. I kinda feel that there is really no great animosity between Dad and I but, well, perhaps he feels that greater dislike will grow out of this. I suppose or maybe it is easier for an outsider to see certain things that I am blind to at this moment. I would like to ask my second question now. EXPERIMENTER: Okay. SUBJECT: Do you feel that I should have a further discussion with Dad about this situation or not? Should I have further discussion with Dad over this subject about dating the Gentile girl? EXPERIMENTER: My answer is yes. SUBJECT: Well I feel that is reasonable but I really don’t know what to say to him. I mean he seems to be not really too understanding. In other words he seems to be afraid really to discuss the situation. I mean at least it appears that way to me so far. But I guess if it is worthwhile to me, if I really want to continue to date her that I will go on and have this discussion with Dad. I really don’t know what to say because I mean I am dating her. I am not in

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love with her or anything but I really never know what is going to come out. I guess we should have a discussion based on what the future possibilities might be and how he would feel about that. He may not be too strongly opposed now because we are only dating, but perhaps he sees future complications that he would really like to get off his chest at the moment. I am ready for my third question now. If after having my conversation with Dad and he says to continue dating her, but at the same time he gives me an impression that he is really not, he really does not want me to date her, but he is only doing it because he wants to be a good Dad, should under these conditions, should I still date the girl? EXPERIMENTER: My answer is yes. SUBJECT: Well I am actually surprised at the answer. I expected a no answer on that. Perhaps this is because you are not quite aware of my dad and his reactions and he seems to be the type of person that is sensitive and therefore he is very careful in the way that he will handle things. Even though he might have said go ahead and date her I perhaps would feel guilty in knowing that he really did not want me to continue to date her. Though I don’t know that it would actually help the situation any.«2

FALL ZWEI. »SUBJECT: I would like to know whether or not I should change my major at the present time. I have a physics major with quite a deficit in grade points to bring up to get my C average in physics. I would like to switch over to mathematics. I have a little difficulty in it, but I think maybe I could handle it. I have failed several math courses here at U.C.L.A., but I have always repeated them and had C’s. I have come close to getting a B in math in one specific course because I studied a little more than in others but my question is still should I change my major? EXPERIMENTER: My answer is no. SUBJECT: Well he says no. And if I don’t then I will have to make up my deficit in grade points which will be awfully difficult because I am not doing too well this semester. If I pull through this semester with seven units of A then I can count on possibly going on to get my degree in physics in February, but then I have this stigma of nuclear physics facing me. I thoroughly dislike the study of nuclear physics. Nuclear Physics 124 will be one of my required courses to get a degree in physics.

2

Ebd., S. 80f.

96 | E RHARD S CHÜTTPELZ Do you think I could get a degree in physics on the basis of this knowledge that I must take Physics 124? EXPERIMENTER: My answer is yes. SUBJECT: He says yes. I don’t see how I can. I am not good of a theorist. My study habits are horrible. My reading speed is bad, and I don’t spend enough time in studying. Do you think that I could successfully improve my study habits? EXPERIMENTER: My answer is yes. SUBJECT: He says that I can successfully improve my study habits. I have been preached to all along on how to study properly, but I don’t study properly. I don’t have sufficient incentive to go through physics or do I?« 3

Garfinkels Verallgemeinerung des Experiments richtete sich nicht – zumindest an der Oberfläche nicht – auf die Bestimmung der Sprechakte oder der Interaktion des Ratgebens oder Beratschlagens, diese Interaktion wird von ihm zwar ausführlich analysiert und verallgemeinert, aber seine Verallgemeinerung bezieht sich auf das, was er im Titel seines Aufsatzes ein »common sense knowledge of social structures«, also das Alltagswissen über Sozialstrukturen, und »the documentary method of interpretation in lay and professional fact finding«, also die »dokumentarische Methode der Interpretation in alltäglichen und professionellen Tatsachenfeststellungen« nennt. Den Terminus einer »dokumentarischen Methode« übernimmt Garfinkel aus der Wissenssoziologie von Karl Mannheim4, allerdings mit einer gewaltigen Verschiebung, und ohne diese Verschiebung zu diskutieren.5 Mannheims Beispiel war folgendes: »Ich gehe mit einem Freund auf der Strasse, ein Bettler steht an der Ecke, er gibt ihm ein Almosen«.6 Mannheim unterscheidet an diesem Beispiel den objektiven Sinn, in diesem Fall »das soziologisch lokalisierbare Sinnge-

3

Ebd., S. 85f.

4

Mannheim, Karl: »Beiträge zur Theorie der Weltanschauungsinterpretation« (1921/22),

5

Harold Garfinkels Zweckentfremdung des wissenssoziologischen Begriffs »Dokument-

in: Wissenssoziologie, Berlin 1964, S. 91-154. sinn« von Karl Mannheim wurde bereits ausführlich kommentiert von der »Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen« in ihrer Übersetzung von Garfinkel (1961), vgl. Garfinkel 1973: S. 237ff.; dieser Kommentierung folge ich hier, was den Bezug auf Mannheim b etrifft. 6

Mannheim: Beiträge, S. 105.

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bilde ›Hilfe‹«7, also die Beziehung des Bekannten zu einem Bettler, dem durch ein Almosen Hilfe geleistet wird; den subjektiven Sinn, nämlich »mir oder dem Bettler sein Mitleid kundzutun«8; und den »Dokumentsinn«, der sich nachträglich einstellt, wenn der Vorgang im Nachhinein bewertet wird, in diesem Fall etwa, indem »ich plötzlich sehe, die gegebenen Zusammenhänge verfolgend, dass diese ›milde Gabe‹ ein Akt der ›Heuchelei‹ war.«9 Diese nachträgliche Deutung nennt Mannheim »Dokumentsinn«, weil es in ihr nicht mehr darum geht, was der Freund objektiv geleistet hat oder subjektiv leisten wollte, sondern »was durch seine Tat, auch von ihm unbeabsichtigt, sich für mich über ihn darin dokumentiert«. 10 Garfinkels Begriff einer »dokumentarischen Methode« hebt nicht auf eine solche Unterscheidung von »subjektivem«, »objektivem« und »Dokumentsinn« ab, sondern verweist ganz schlicht darauf, dass alle Alltagsereignisse und alle sozialen Interaktionen, egal ob von Laien oder von Profis, auch durch die Vorgehensweisen eines »Dokumentsinns« interpretiert werden, und zwar bereits im Lauf der Interaktion selbst und nicht nur nachträglich zum Geschehen. D.h. einzelne Vorkommnisse und Handlungen werden so gedeutet, dass sie auf ein allgemeineres Muster verweisen, dass sie als »typisch für« oder als »Hinweis auf« verallgemeinerbare Muster gedeutet, oder als eine »Manifestation von« verallgemeinerbaren Mustern verstanden werden. Wie man auf Deutsch auch sagt: dass die Ereignisse oder Handlungen einen allgemeineren Sachverhalt »dokumentieren«, oder wie Mannheim formulierte: dass dieser Sachverhalt sich »in ihnen dokumentiert«. Warum also dieses Experiment? Und warum glaubte Garfinkel, genau dieses Experiment würde die »dokumentarische Methode« demonstrieren, also das, was wir im Alltag überall tun, um allgemeinere Muster und sogar alle »Sozialstrukturen« manifestiert zu sehen, und um das, was andere Leute tun oder uns von ihnen berichtet wird, als Hinweise auf allgemeinere Sachverhalte zu behandeln? Garfinkels Antwort im Aufsatz ist sehr lakonisch, er schreibt einfach, dass dieses Experiment dazu entwickelt worden sei, die alltäglichen Eigenschaften der »dokumentarischen Methode« durch ihre Übertreibung herauszustellen und bei der Arbeit ihrer ›Tatsachenfeststellung‹ zu beobachten: »a demonstration of the documentary method was designed to exaggerate the features of this method in use and to catch the work of ›fact production‹ in flight«. 11 Im Archiv von Garfinkels Nachlass wird sich eines Tages zweifelsohne eine sehr viel ausführlichere Begründung des Versuchsaufbaus finden lassen, denn Gar-

7

Ebd., S. 106.

8

Ebd., S. 107.

9

Ebd., S. 108.

10 Ebd. 11 Garfinkel: Common sense knowledge, S. 79.

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finkel war es gewohnt, alle seine methodischen Schritte und Ergebnisse fortlaufend zu begründen und zu zergliedern. Weil eine entsprechende Publikation bisher fehlt,12 orientiere ich mich im Folgenden an Garfinkels Experimental-Praxis, d.h. ich simuliere eine entsprechende ausführlichere Begründung des RatgeberExperiments und seines Experimentalaufbaus, auch auf die Gefahr hin, auf ›dokumentarische‹ Weise zur Überinterpretation überzugehen – allerdings glaube ich nach einer eingehenden Lektüre der betreffenden Schriften, dass meine Interpretation dem theoretischen Impetus, aus dem heraus Garfinkel sein Experiment organisiert hat, nicht widerspricht. Garfinkels lakonische Begründung lässt sich folgendermaßen explizieren: Gegeben sei eine Situation, in der »common sense reasoning about social structures«, also ein »Alltagräsonieren über Sozialstrukturen« vorkommt, und nur ein solches Wissen im Mittelpunkt steht bzw. zur Rede steht. • Diese Situation ist ERSTENS dann gegeben, wenn es eine soziale Situation gibt,

in der es um das Explizitmachen und nur um das Explizitmachen von allgemeineren »Sozialstrukturen«, also um die Verallgemeinerung von Sozialbeziehungen geht, und um gemeinsame Entscheidungen über ihr Bestehen oder NichtBestehen, also um ihre Verallgemeinerbarkeit und Veränderbarkeit. • Diese Situation ist ZWEITENS dann gegeben, wenn es darum geht und nur darum geht, dass eine Partei ihre Sozialbeziehungen explizit macht und zur Disposi-

12 Eine ausführliche Auswertung des Ratsuche-Experiments (im Rahmen einer Serie anderer Experimente) findet sich in einem achtzigseitigen Manuskript von 1959, das auf dem IV. Weltkongress für Soziologie verteilt wurde (Harold Garfinkel: »Common Sense Knowledge of Social Structures«, Manuskript, 81 Seiten und 5 Seiten Anmerkungen [verteilt auf dem IV. Weltkongress für Soziologie in Stresa, Italien, am 12. September 1959]); allerdings wurde aus diesem Manuskript im Anschluss an den Kongress nur ein kurzer Abriss veröffentlicht (Harold Garfinkel: »Aspects of the Problem of Common-Sense Knowledge of Social Structures«, in: Transactions of the Fourth World Congress of Sociology. Volume IV: The Sociology of Knowledge, Louvain: International Sociological Association 1961, S. 51-65). Die spätere Veröffentlichung zur »documentary method« (Garfinkel: Common sense knowledge) präsentiert die soziologischen und sprachtheoretischen Erkentnisse von 1959, allerdings in einer anderen didaktischen Reihenfolge und zum Teil auch anders pointiert als 1959. Genaueren Aufschluss verspricht erst eine sorgfältige Edition der Versionen und Überarbeitungen von Garfinkels Buchprojekt »Common-Sense Actions as Topic and Feature of Sociological Inquiry« (dieser Titel nach Garfinkel: Aspects, S. 51). – An dieser Stelle sei Anne Warfield Rawls und Tristan Thielmann für eine Kopie des Manuskripts von 1959 gedankt.

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tion stellt, und gegenüber einer anderen Partei explizit macht, die bis dahin nichts von ihr gewusst hat, also dann, wenn die erste Partei annehmen muss, es ginge der anderen Partei nur um das, ›was alle über eine solche Beziehung wissen können‹, und damit um den Aufbau und die Demonstration eines gemeinsamen kulturellen Wissens über Sozialbeziehungen, und zwar durch die Verallgemeinerung dessen, was als ›typisch für‹, als ›Hinweis auf‹, als ›Manifestation‹ von Sozialbeziehungen gedeutet werden muss, sprich: durch eine gemeinsame »dokumentarische Methode«. • Diese Situation ist DRITTENS insbesondere dann gegeben, wenn die Reaktionen der zweiten Partei, an deren Adresse das Explizitmachen der »dokumentarischen« Verallgemeinerungen stattfindet, »randomisiert« worden sind, weil sie dann nämlich unter der Annahme, und zwar unter der bloßen Annahme stattfinden, es handele sich um ein »gemeinsames Wissen« und ein gemeinsames Interesse an der Herstellung eines »gemeinsamen Wissens«, und damit gewährleistet wird, dass dieses als gemeinsam verstandene Wissen und sein schrittweises Explizitmachen und Revidieren nicht durch den Experimentator verzerrt wird. Das heißt, die Randomisierung – die zufällige Vorauswahl der Ja/Nein-Antworten – ist dann keine Verzerrung der Interaktion, sondern eine methodische Isolierung der Adressierung eines »Alltagsräsonierens über Sozialstrukturen«, weil dieses Adressieren und Alltagsräsonieren dann und nur dann unabhängig vom professionellen sozialwissenschaftlichen Beobachter aufgezeichnet und protokolliert werden konnte, mit anderen Worten, indem der scheinbare Dialog sich im Nachhinein auch für das Versuchssubjekt zum einen als Monolog, und zum anderen als Interaktion mit einem Zufallsorakel herausstellt. Harold Garfinkels Experimente, Protokolle und empirischen Untersuchungen sind deshalb so aufschlussreich, weil man bei einer Lektüre seiner Schriften umstandslos selber wieder in eine Forschungssituation gerät, die es erlaubt, anhand seiner Schriften neue Fragen zu stellen und Schlussfolgerungen zu ziehen. Bevor das geschieht – und ich gehe davon aus, dass auch die Leser des vorliegenden Textes schon bald eigene Schlüsse zum Ratgeberexperiment entwickelt haben werden –, will ich Garfinkels eigene Ergebnisse bei der Auswertung der Protokolle seines Experiments kurz zusammenfassen. Garfinkels Ergebnisse richten sich einerseits auf den Ablauf des Ratgebens, auf den Prozess der Beratschlagung, und andererseits auf die Mittel oder Ressourcen, mit deren Hilfe die Versuchspersonen ihre Beratschlagung erfolgreich bewältigt haben. Was den Ablauf eines Beratschlagungsprozesses und seine Sprechakte und

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Interaktionsordnung betrifft, stellt Garfinkel insbesondere folgendes fest – und zwar in Form einer Liste13, von der ich nur einen kurzen Abriss geben kann: • Ratsuchende versuchen, eine Beratung als Gesamtprozedur durchzuführen. • Antworten werden als Antworten-auf-Fragen und als Ratschläge verstanden, und







• •

dabei ständig uminterpretiert, und zwar nach dem, »was gemeint ist« oder »gemeint war«. Neue Fragen werden vorausschauend und retrospektiv anhand des Verlaufs improvisiert, und zwar durch Deutungen dessen, »was gemeint gewesen ist« oder »gewesen sein könnte«. Gestellte Fragen und gegebene Antworten werden im Nachhinein anders verstanden; Redebeiträge werden als Antworten auf Fragen verstanden, die nie gestellt worden sind, oder auf mehrere Fragen zugleich, oder sie werden wieder zu einer neuen Frage gemacht. D.h. es herrscht eine ständige retrospektiv-prospektive Neuzuordnung von Fragen und Antworten, im Laufe einer Beratschlagung dieser Art, und vermutlich auch in einer alltäglichen Beratschlagung jeder Art. Unvollständige Antworten werden für zukünftige Vervollständigungen bereitgehalten; unangemessene Antworten werfen Vermutungen über Gründe der Unangemessenheit auf; Inkohärenz wird als Lernprozess für alle Parteien der Beratung verbucht oder zumindest entworfen; Widersprüche werden vergessen oder »ausgebügelt«. Der Ablauf weist eine durchgängige Bemühung um ein »verbindendes Muster« auf, das fortlaufend verändert und überprüft wird. Der Status der Äußerungen bleibt vage oder »in der Schwebe«, d.h. jede der wichtigsten Fragen: ob es sich überhaupt um einen Ratschlag, eine Problembeschreibung, eine Beantwortung handelt, und um welche oder welchen, all das kann offen bleiben oder retrospektiv anders beantwortet werden.

Zusammengefasst: Die »Zeitstruktur« einer Beratschlagung zeichnet sich durch eine ständige prospektiv-retrospektive Uminterpretation aus; der Status der Äußerungen und insbesondere ihre innersprachlichen und außersprachlichen Bezüge bleiben so vage, und sie werden selbst in ihren deutlichsten Präzisierungen als so vage behandelt, dass sie dieser ständigen prospektiv-retrospektiven Umdeutung nicht im Wege stehen. Aber dennoch – oder besser: genau deshalb – zeichnet sich der Prozess des Beratschlagens durch ein Grundvertrauen aus, und zwar durch das dreifache Vertrauen 14, dass man

13 Harold Garfinkel: Common sense knowledge, S. 89-94. 14 Ebd., S. 92-94.

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• (erstens) mit dem Ratgeber – hier natürlich in Anführungszeichen zu setzen –,

dass man zusammen mit dem »Ratgeber« ein gemeinsames und konsistentes Muster erarbeitet, dass man • (zweitens) sich auf ein gemeinsames kulturelles Wissen über »Sozialstrukturen« beziehen kann, deren »Mitglied« oder Teilnehmer man beiderseitig ist; und dadurch, dass man die Fähigkeit entwickelt, die entstehenden Ratschläge und ihre Bedeutungen und Wortverwendungen • (drittens) im normalsten, oder in ihrem jeweils als »vernünftig« verstandenen »Sinn« zu verstehen, sie zu »normalisieren«, indem man auf eine gemeinsame »Vernünftigkeit« des Umgangs und des Verstandenen abhebt. Das sind die wichtigsten sprachtheoretischen und interaktionstheoretischen Ergebnisse, die man auch anhand der zwei im Text abgedruckten Protokolle sehr gut nachvollziehen kann. Man kann die Protokolle und ihre Auswertung daher in der Tat als einen Vorgang lesen, in dem man die »dokumentarische Methode« bei der Arbeit beobachten kann: und zwar in den Protokollen dessen, was die Versuchspersonen beratschlagen, aber auch in Garfinkels eigener argumentativer Verallgemeinerung der Vorgänge des Beratschlagens und der »dokumentarischen Methode«. Garfinkels Text ist zweifelsohne auch eine »dokumentarische« Verallgemeinerung der »dokumentarischen Methode«; und diese Selbstanwendung des Experiments und seiner Auswertung ist ganz in Garfinkels Sinne, denn der Schlussteil seines Aufsatzes handelt ganz explizit davon, dass alltagssoziologische Verallgemeinerungen, also das, was wir Tag für Tag tun, wenn wir soziale Sachverhalte verallgemeinern oder »dokumentiert« sehen, und professionelle soziologische Verallgemeinerungen, auch und gerade mit statistischen Hilfsmitteln, nicht in zwei verschiedenen Welten leben, sondern sich beide unweigerlich der »dokumentarischen Methode« bedienen werden. Garfinkels Text enthält, das bleibt dennoch erstaunlich, keine Verallgemeinerungen zum Ratgeben – das Ratgeber-Experiment wird von ihm allein als ein aufschlussreiches Hilfsmittel dargestellt, dessen Experimentalaufbau, wie zitiert, die Eigenschaften der »dokumentarischen Methode« übertreiben und bei der Arbeit zeigen soll. Ich denke aber, uns steht es frei, auf der gleichen Grundlage, also auf der Grundlage von Garfinkels Experiment und seiner Auswertung, Schlussfolgerungen zu ziehen, die auch das Ratgeben und den Prozess jeder Beratschlagung betreffen. Garfinkels Experiment hatte die Absicht, ein »common sense knowledge of social structure« zu inszenieren, also zu zeigen, wie man es ganz konkret schafft, ein gemeinsames kulturelles Wissen über Sozialstrukturen auszutauschen; und das gelang ihm durch die Herstellung einer Beratschlagungssituation, die das Beratschlagungswissen einer Person in einer randomisierten Interaktion isolierte und als Selbstverständigung verbalisierte. Ich habe bereits versucht, diese Gleichsetzung explizit zu machen: nämlich durch die simulierte Formel:

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Gegeben sei eine Situation, in der ein »common sense reasoning about social structures«, also ein Alltagsräsonnieren über Sozialstrukturen vorkommt, und nur ein solches Wissen vorkommt, bzw. »zur Rede steht«. Diese Situation ist die einer an unbekannte Fremde adressierten Ratsuche, und sie konnte im Experiment – durch einen Trick – inszeniert werden. Kann man diese Gleichsetzung von Wissensform und Experimentalsituation auch umdrehen? Dann würde folgendes gelten: • Erstens. Überall da, wo ein »common sense reasoning about social structures«,

ein Alltagsräsonieren über verallgemeinerbare Sozialbeziehungen stattfindet, nimmt es, sobald Entscheidungen über die Zukunft getroffen werden können oder müssen, zugleich die Form eines Beratschlagungswissens an, oder, wenn man Garfinkels Experiment ernst nimmt: es nimmt in seiner prägnantesten Form die Form eines Beratschlagungs- und Selbstberatschlagungswissens an. • Zweitens. Weil dieses Wissen, sprich: das der »dokumentarischen Methode« unterzogene Wissen, für die Sozialwissenschaften unverzichtbar bleibt, erzeugen diese unweigerlich, sobald Entscheidungen über die Zukunft getroffen werden können oder müssen, ein Beratschlagungswissen, und zwar nicht notwendig ein Ratgeberwissen, aber ein Beratschlagungswissen – und zwar in Form ihrer Verallgemeinerungen, ein sozialer Sachverhalt sei »typisch für«, sei ein »Hinweis auf« allgemeinere oder eine »Manifestation von« allgemeineren Mustern –, ein Beratschlagungswissen, das gegenüber anderen Leuten, abgewandelt, als Ratgeberwissen auftreten kann. • Drittens. In diesem Beratschlagungswissen liegt, wenn man Garfinkel folgt, nicht der Unterschied von alltagssoziologischen und professionellen soziologischen Verallgemeinerungen, sondern im Gegenteil: die gemeinsame methodische Basis, die Überschneidung und die Übergängigkeit von Alltagssoziologie – dem, was wir alle im Wechselspiel Tag für Tag unternehmen und wissen – und professionellen Sozialwissenschaften. Anders gesagt: Nur weil und indem auch die Sozialwissenschaften die alltägliche »dokumentarische Methode« verwenden, bleiben sie fähig, ihren eigenen Forschungsalltag zu bewältigen, und zugleich dazu fähig, ein Beratschlagungswissen zu entwickeln, unter den beteiligten Sozialwissenschaftlern selbst, und für andere und Außenstehende. Der Grund für diese Übergängigkeit ist seit den späten 1970ern von den entstehenden »Science and Technology Studies« ausführlich dargestellt worden, die darin Garfinkels Methodenreflexion gefolgt sind: Forschung bleibt Alltag, und Forschungssituationen müssen Alltagswissen erzeugen und verwenden, sei es im Labor oder im Feld, in der teilnehmenden Beobachtung oder in der Kodierung und Auswertung von Fragebögen und Statistiken. Für jede professionelle sozialwissenschaftliche Untersuchung und für jede alltagssoziologische Verallgemeinerung gilt gleichermaßen, dass sie in »Alltagssituationen der Entscheidungsfindung«, in »common sense situations

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of choice« erarbeitet werden muss, unter Bedingungen, die wie folgt charakterisiert werden können15: Die Zukunft ist noch veränderbar, sonst würde man sie nicht entwerfen oder Pläne für sie entwickeln. Während einer Handlungsfolge wird die Zukunft immer wieder neu und in Alternativen antizipiert; d.h. man verhält sich in der Gegenwart entlang einer antizipierten Zukunft. Die Prozedur zur Erlangung einer antizipierten Zukunft – sei es durch Pläne, durch Methoden oder durch den nächsten Schritt – muss noch ausgearbeitet werden. Jede Prozedur unterliegt in ihrer Verwirklichung einer retrospektiven Einordnung und Bereinigung. Das Musterbeispiel für diese prospektiv-retrospektive Neu-Einschätzung ist das Gefühl oder die Behauptung, dass man jetzt endlich weiß, »worum es die ganze Zeit ging«. Diese Eigenschaften gelten für alle Situationen der alltäglichen Entscheidungsfindung, aber, wie das Experiment Garfinkels gezeigt hat, gelten sie in ganz besonderem Maße für Situationen der Beratung, denn dort erwartet und toleriert man in der Interaktion selbst eine maximale Steigerung der Vagheit und prospektiv-retrospektiven Beziehbarkeit von alten und neuen, vorherigen und unvorhergesehenen Fragen und Antworten, also der praktischen Entscheidungsfindung darüber, was in einer Beratung zur Entscheidungsfindung ansteht. Die Entscheidungsfindung über eine offene Zukunft und ihre Prozeduren führt unweigerlich dazu, dass man die Zukunft – und mit ihr auch die fortlaufende Vergangenheit – der Prozedur einer Entscheidungsfindung (prozedural) öffnet. Und damit ist eine mögliche Antwort gefunden, warum es Garfinkel nicht für nötig befand, die Charakterisierung der Ratsuche in den Mittelpunkt seiner Auswertung zu stellen – die eigenartige Lücke seiner ansonsten sorgfältig gegliederten Auswertung. Das Ratgebe-Experiment übertreibt und isoliert die Eigenschaften jeder alltäglichen Entscheidungsfindung durch ihre Rekursivität – es handelt sich um eine Entscheidungsfindung, die in mehrerer Hinsicht erst herausfinden wird, was in ihr zur Entscheidungsfindung ansteht und herangezogen werden kann, was in ihr »Ressource« und »Thema« der Entscheidungsfindung gewesen sein wird. Aber die verbalen und sozialen Eigenschaften dieser Entscheidungsfindung bleiben überall dort bestimmend (und sie bleiben durch mediale Aufzeichnungen leicht nachweisbar), wo die »dokumentarische Methode« in Alltagssituationen und im Forschungsalltag zur Anwendung kommt. Mit den letzten beiden Schlussfolgerungen gehe ich etwas über Garfinkels Darlegungen hinaus, auch wenn ich davon ausgehe, dass meine Thesen auf dem Boden seiner Ergebnisse stehen, und ohne damit behaupten zu wollen, die Auswertung des Experiments sei damit bereits abgeschlossen:

15 Vgl. ebd., S. 96ff.; vgl. Garfinkel: Aspects, S. 55-57.

104 | E RHARD S CHÜTTPELZ • Viertens. Die Rückwirkungen der Sozialwissenschaften auf ihren jeweiligen

»Gegenstand«, aber auch die Rückwirkungen des jeweiligen »Gegenstands« oder »Forschungsobjekts« auf die Sozialwissenschaften, finden insbesondere im Beratschlagungswissen statt. Schließlich können dort die jeweiligen Verallgemeinerungen durch die »dokumentarische Methode« hindurch am leichtesten hin und her wechseln, zwischen allen Parteien, die an den jeweiligen Beratschlagungen beteiligt sind, also z.B. zwischen »Informanten« und Forschern, aber auch zwischen Forschern und von ihnen Beratenen, oder zwischen »Forschungsergebnissen« und zur Beratung verwendeten Verallgemeinerungen und Vorschlägen. • Fünftens. Die »Verwissenschaftlichung« des Ratgebens, also die verschiedenen Formen, in denen Wissenschaften und Wissenschaftler zum Ratgeben, zur Beratschlagung, zum »Consulting« oder zur »Therapie« oder zur beratungstauglichen Simulation einer Zukunft übergehen, ist keine Verwissenschaftlichung einer Methode des Ratgebens oder einer jeweiligen Methode der Beratschlagung, denn die Grundlage dieser »Verwissenschaftlichung« liegt weiterhin in dem, was Garfinkel als »dokumentarische Methode« bezeichnet, also in einer Vorgehensweise, die alltagssoziologische Verallgemeinerungen und Rekurse auf ein gemeinsames kulturelles Wissen mit professionellen sozialwissenschaftlichen Verallgemeinerungen gemeinsam haben. In diesen Verallgemeinerungen, das hat Garfinkel betont, liegt bereits im Alltag echte soziologische Erkenntnis; es geht also nicht darum, alle wissenschaftlichen oder nicht-wissenschaftlichen Verallgemeinerungen, die mithilfe einer »dokumentarischen Methode« vorgenommen werden, der Unzuverlässigkeit zu überführen – das wäre ein Trugschluss und würde Garfinkels Intervention auf eine bloße Wissenschaftskritik reduzieren. Aber die wissenschaftlichen Verallgemeinerungen, Sachverhalte seien »typisch für«, »Hinweis auf« und »Manifestation von« allgemeinere(n) Mustern, also durch das, was sich in einem Sachverhalt »dokumentiert«, entstehen in jeder Forschung und in jeder Serie von Forschungen in einer ebenso irreduziblen Vagheit und Zeitstruktur der retrospektiv-prospektiven Uminterpretation wie im Alltag – und je besser und je mehr beraten wird, desto größer und unvorhersehbarer sind die von Garfinkel nachgewiesenen Sprünge und Neuanordnungen zwischen alten und neuen Fragen und Antworten. Gebt mir zehn zufällige Jas und Neins, und lasst uns feststellen, wie viele Ratschläge wir in die Welt setzen können.– – –

L ITERATUR Garfinkel, Harold: »Common sense knowledge of social structures: the documentary method of interpretation in lay and professional fact finding«, in: Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs 1967, S. 76-103.

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Garfinkel, Harold: »Common Sense Knowledge of Social Structures«, Manuskript, 81 Seiten und 5 Seiten Anmerkungen [verteilt auf dem IV. Weltkongress für Soziologie in Stresa, Italien, am 12. September 1959]. Garfinkel, Harold: »Aspects of the Problem of Common-Sense Knowledge of Social Structures«, in: Transactions of the Fourth World Congress of Sociology. Volume IV: The Sociology of Knowledge, Louvain 1961, S. 51-65 [edierte Kurzfassung von Garfinkel 1959]. Garfinkel, Harold: »Das Alltagswissen über soziale und innerhalb sozialer Strukturen«, in: Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit 1. Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie, hrsg. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, Reinbek 1973, S. 189-262 [ausführlich kommentierte Übersetzung von Garfinkel 1961]. Mannheim, Karl: »Beiträge zur Theorie der Weltanschauungsinterpretation« (1921/22), in: Wissenssoziologie, Berlin 1964, S. 91-154.

Die Tunlichkeits-Form Zu Grammatik, Rhetorik und Pragmatik von Ratgeberbüchern R UDOLF HELMSTETTER »[…] in einem Ton zwischen Rat und Befehl« 1 »We shall consider a simplified model of a situation in which we use language for talking about the world. This model we shall call by the name ›Speech-situation S°‹. – Possible we never are actually in a situation exactly like S°.« 2

Der Call for Papers, der mit der Einladung zu der Tagung »Sprachspiele des Ratgebens« ins Haus flatterte, stürzte mich in Ratlosigkeit, weil in diesem konzisen und kompakten Exposé in nuce bereits mehr oder weniger alles angesprochen schien, was zum weiten Feld des Ratgebens aus kulturwissenschaftlicher Sicht zu sagen ist und zu sagen wäre. Es berührte sich mit vielen meiner eigenen Überlegungen, die dann schließlich doch noch zur Problematisierung einiger Ausgangsprämissen führten. Im Verlauf der Ausarbeitung wurde mir deutlich, dass ein Ansatz, der Ratgeben als Sprachspiel und im Rahmen des Sprachspiel-Konzepts von Wittgenstein versteht, nicht ohne weiteres verträglich ist mit einem Ansatz, der Ratgeben als Sprechakt versteht und nach der »Logik des Sprechaktes« (Call for Papers) fragt. Ich beginne daher – nach grundsätzlichen Überlegungen zur gegenwärtigen Funktion der Ratgeberliteratur – mit dem Ansatz bei der »Logik des Sprechaktes«, schließe einige Anmerkungen zu der im Exposé aufgegriffenen Hobbesschen Un-

1

Franz Kafka: Der Verschollene (Amerika). In der Fassung der Handschrift, nach der Kri-

2

John L. Austin: »How to talk«, in: Ders.: Philosophical Papers, ed. by J.O. Urmson/G.J.

tischen Ausgabe hg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt a.M. 1996, S. 88f. Warnock 1970, S. 134-153.

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terscheidung von Rat und Befehl an, um dann den weiten Raum »zwischen Rat und Befehl« (Kafka) zu umreißen und schließlich eine spezifische Verbindung von Logik und Grammatik des Ratgebens zu untersuchen, die besonders greifbar ist in »Tunlichkeitsformen« – wie ich Gerundium und Gerundiv nennen möchte. 1. Eine unscheinbare, aber gewichtige These im Call for Papers lautet, dass Ratgeben als eine Sequenz (oder als Sprechakt in einer Sequenz) zu betrachten ist. Ratgeben mag sich zwar auf einen einzelnen Sprechakt reduzieren lassen, es ist aber nicht sehr ergiebig, Sprechakte des Ratgebens zu isolieren und isoliert, nur als Sprechakte, zu betrachten. Ratgeben ist integrierender Teil eines Komplexes von möglicherweise unterschiedlichen Sprechakten oder Sprachhandlungen in pragmatisch definierten und eingebetteten Situationen. (Und Pragmatik ist dabei nicht als Letzthorizont und Spielplatz von Spontaneität zu verstehen, sondern als Arena und Schlachtfeld von Interessen, Machtpositionen, institutionellen Markierungen und ideologischen Einsätzen.) Da mit »Sequenz« Linearität betont wird, sollte man eher von Komplex, Konglomerat oder Konstellation sprechen und den expliziten Ratschlag als manifesten Knotenpunkt in einer Konstellation betrachten, deren Elemente und Komponenten keine feste Reihenfolge aufweisen müssen und die auch latent, verdeckt, verschleiert sein können. Diese Konstellation bildet den inneren Kontext des Ratgebens, das als manifester ›Akt‹ und latenter Komplex mit äußeren, pragmatisch-situativ bestimmten Kontexten verschränkt ist und in diese interveniert. Zu diesem Komplex oder dieser Konstellation gehören außerdem: die tatsächliche (oder zumindest gefühlte) oder unterstellte Empfindung eines Mangels, eines Defizits, eines Bedarfs3, einer Problem- oder gar Notlage, die Suggestion von Optimierungs- und Perfektionierungsmöglichkeiten und das implizite oder explizite Erheben des Anspruchs, über das diesbezüglich erforderliche Wissen (Know-How) zu verfügen, sowie damit einhergehend das Signalisieren von Kompetenz und die (Selbst-)Autorisierung des Ratgebers (etwa durch Hinweise auf langjährige Erfahrung oder Spezialkenntnisse). Solche Überlegungen sind bereits am Ratgeberbuch orientiert, nicht am einzelnen, in einer aktuellen kommunikativen Situation erteilten Ratschlag, der in der Regel auf eine konkrete oder diffuse Frage antwortet (Was soll ich tun?, Was kann man da tun?), auf eine akute Ratlosigkeit, die die Betroffenen (die Ratlosen und um Rat Bittenden) in irgendeiner Form selbst beschreiben und artikulieren. Das Ratgeberbuch dagegen ist zuvorkommend, die Ratgeberliteratur ist holistisch: Ein Rat

3

Man müsste weiter ausholen, um nicht zu übergehen, dass solche »Empfindungen« nicht naturwüchsig-spontan sind, sondern auf nicht explizierten Nutzen-Schaden-Kalkülen beruhen.

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kommt selten allein, der gute Rat tritt als Sammlung, als Thesaurus, Kompendium, ja gar als System auf – in Buchform. Das macht einen nicht zu unterschätzenden Unterschied hinsichtlich des Gebrauchs und der Brauchbarkeit von Ratschlägen. Schon eine Mehrzahl von Ratgeberbüchern, und es muss noch nicht einmal ein »Überangebot« sein, kann die Ratlosigkeit und Orientierungslosigkeit, derenthalben man nach Rat sucht, verstärken. Auf dem heutigen Ratgebermarkt ist auch die Behauptung eines ›Alleinstellungsmerkmals‹ unvermeidlich: Angesichts der großen Konkurrenz muss Guter Rat mindestens der bessere oder gar beste Rat sein. Es wird immer schwerer, den Anspruch auf Erstmaligkeit und Präzedenzlosigkeit zu erheben (›eine solche Methode, einen solchen Leitfaden ... gibt es bisher nicht‹) oder so zu tun, als gäbe es nicht bereits Ratgeber en masse; unverzichtbar ist also die Überbietung vorliegender Bücher (›das Beste, was es zu dieser Frage gibt‹). Aber kompetitive Komparative und Superlative sind nichts spezifisch Ratgeberisches, sondern Konkurrenzgeburten, wie sie auch in etlichen anderen Wettbewerbssituationen üblich sind. Spezifisch ratgeberisch ist die konsultatorische Modalisierung, eine spezifische Auf- und Zubereitung von Erfahrungen, Kenntnissen, Wissen, der Wechsel in ein eigenes diskursives und stilistisches Register, den man auch den ratgiebigen Dreh oder die symbouleutische, paränetische oder protreptische Zubereitung nennen könnte – Symbouleutik ist im Griechischen die Kunst der Beratung, und Paränese und Protreptik sind alte rhetorische Gattungen der Belehrung und Unterweisung.4 Diese etwas spröden und gespreizten Ausdrücken sollen die Aneignung, Wendung, Stilisierung und Ausrichtung von auch anderweitig verfügbaren Wissensvorräten hinsichtlich einer erfolgversprechenden Anwendung oder Umsetzung bezeichnen. Ratgeber nehmen vieles woanders her, das auch anderswo zur Verfügung steht – man muss es im Bedarfsfall nur finden. Ratgeberbücher sind Informationsraffer. Aber auch wenn das in ihnen aufbereitete Wissen, das Ratsuchende suchen und das ihnen zupass und zuhilfe kommt, woanders zu finden ist, ist es in Ratgeberbüchern schneller, zusammengefasster, zubereiteter zu haben, und wer es dort, weil er gesucht hat, findet, ist schon willig und dazu disponiert, es – als entscheidungs- oder handlungsbehilflichen Rat – auch anzunehmen.

4

Protreptik ist »die Kunst der werbenden Überredung zu einem als erstrebenswert dargestellten Ziel in der Kunst, in der Wissenschaft oder im Leben. In der Regel handelt es sich um den Erwerb eines dazu erforderlichen Wissens, das allerdings häufig lebenspraktische Konsequenzen hat. Die Werberede, die zu diesem Zweck vorgetragen bzw. schriftlich verfaßt wird, heißt [...] protreptikos logos, das zugrundeliegende griech. Verb protréptein: hinwenden, antreiben, ermuntern.« J.-P.Wils: (Art.) Protreptik, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 7, hg. von Gerd Ueding, Darmstadt 2005, S. 376-380.

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Die geringe ›Originalität‹ von Ratgeberwissen und die Nähe von Ratgebern zu ›bloßer‹ Wissensaufbereitung wird auch bei einer Parallelisierung mit Gebrauchsanweisungen deutlich, etwa mit Gebrauchsanweisungen der Sprache, wie wir sie unter dem Namen Grammatik kennen – dazu gleich mehr. Ein prägnantes Beispiel für diese Modalisierung, Transformation, Aneignung von ratsamem Wissen – das aus hilfreichen, bewährten, erfolgreichen, also erfolgversprechenden Verhaltensweisen gewonnen wurde – lässt sich an dem Titel und der deutschen Übersetzung des womöglich erfolgreichsten Ratgeberbuchs der letzten Jahrzehnte – wenn nicht überhaupt – beobachten. Stephen R. Coveys The 7 Habits of Highly Effective People. Powerful lessons in personal change, von dem in den ersten 15 Jahren 15 Millionen Exemplare verkauft wurden5, wird auf dem deutschen Buchmarkt unter dem Titel Die 7 Wege [sic] zur Effektivität: Prinzipien für persönlichen und beruflichen Erfolg angeboten. Aus den englischen habits (Gewohnheiten, Verhaltensweisen, Einstellungen, Habitus) werden im Deutschen »Wege«, aus Lektionen (lessons) »Prinzipien«. Der englische Titel nennt sehr präzise habits von Menschen, die es zu etwas gebracht haben (so könnte man highly effective people wohl übersetzen), Verhaltensweisen, Routinen, Einstellungen, die sich als effektiv, wirkungsvoll erwiesen haben. Wenn der deutsche Titel daraus »Wege« und »Prinzipien« macht, abstrahiert und generalisiert er und winkt sogleich mit dem Köder »Erfolg«. Gegen das »Prinzip«, das dieser Modalisierung zugrundeliegt, ist an sich nichts zu sagen: es ist der Gedanke, dass man nicht nur aus eigenen Fehlern lernen kann, sondern auch aus den Erfolgen von anderen. 6 Der Verhaltens- und Lernpsychologe Jean Piaget hat es einmal so formuliert: Wie suchen die, die finden (oder: Wie haben die gesucht, die etwas gefunden haben)? Von den anderen kann man lernen,

5

»15 Million copies sold« steht auf dem Umschlag der 15th anniversary edition von 2005. Stephen R. Covey: The 7 Habits of Highly Effective People. Powerful Lessons in Personal Change. London 1999 (1989) (auf dem Schmutztitel abweichend vom Cover der Untertitel: Restoring the Character ethic). Diesen 7 Habits folgte dann The 8th habit. From Effectiveness to Greatness (2004). Ein anderer Titel von Covey: How to succeed with people.

6

Vgl. Hobbes: »da die Erfahrung nichts anderes ist als die Erinnerung an die Folgen von gleichen, früher beobachteten Handlungen, und ein Rat nur die sprachliche Form, mit der diese Erfahrung einem anderen bekanntgemacht wird, so sind die Vorzüge und Mängel eines Rats diesselben wie die Vorzüge und Mängel des Verstands« (Thomas Hobbes: Leviathan oder Materie. Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens, hg. von Hermann Klenner, aus dem Englischen übers. von Walter Euchner, Leipzig 1978, S. 220).

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und das ist ontogenetisch wie phylogenetisch sinnvoll und unabdingbar. Oder um es im Stil der philosophischen Anthropologie, und damit etwas dringlicher zu formulieren: Als instinktunsicheres, umweltoffenes, ›nicht-festgestelltes‹ Wesen ist der Mensch darauf angewiesen zu lernen, zumal in beschleunigten, hochkomplexen und pluralen Umwelten wie sie für Kultur und Gesellschaft der Moderne bezeichnend sind. Aber zurück zu Covey: Der Untertitel des amerikanischen Originals – Powerful lessons in personal change – tendiert dann selbst schon mehr zum Illokutionären, einfach indem er die als effektiv annoncierten habits nun als »Lektionen« bezeichneten, also etwas, was man lernen kann oder was zu lernen ist. Allerdings betreffen diese Lektionen nicht irgendwelche Sonder- und Zusatzkompetenzen – wie gute Umgangsformen, öffentliches Auftreten und Sprechen, Kuchenbacken, Schachspielen, Haustierhaltung, Kakteenzucht... –, sie gehen an die Substanz, ans Subjekt, sie betreffen personal change, sie adressieren Subjekte, deren Sozialisation bereits abgeschlossen ist, die aber eine gewisse Unzufriedenheit mit dem Resultat empfinden und daher ›änderungswillig‹ sind. Niemand, der nicht an personal change interessiert ist, muss das Buch kaufen und lesen und sich diesen powerful lessons unterziehen; sie sind freiwillig (jeder kann zumindest »nominell frei entscheiden, ob er den Rat ablehnen oder befolgen möchte«, wie das seit Hobbes geläufige Charakteristikum des Ratschlags lautet).7 Aber wer kann es sich schon leisten, keinen Erfolg zu haben? Personal change kann auf sehr unterschiedliche Weise gefordert und gefördert werden. »Du musst dein Leben ändern« heißt es in einem Gedicht von Rilke aus dem Jahre 1906, und Peter Sloterdijk hat aus diesem Vers hundert Jahre später den »ästhetischen Imperativ« extrapoliert und zum Titel eines Buches über »Anthropotechniken« gemacht8, ein Begriff, der einen umfassenderen Horizont für das Feld der ethopoetischen Literatur bezeichnet, also für diejenige Literatur, die verhaltensformende Intentionen und Wirkungen hat. Niemand ist genötigt, sich den Powerful lessons in personal change unterziehen (aber immerhin haben mittlerweile fast 20 Millionen Menschen dieses Buch gekauft), niemand ist verpflichtet, dem ästhetischen Imperativ »Du musst dein Leben ändern« Folge zu leisten. (Allerdings gibt das Gedicht selbst auch wenig oder keinerlei Hinweise darauf, wie – Wie das/Dein/Ihr Leben zu ändern ist: how to change your life –, das zu erklären und zu detaillieren ist der ethopoietischen Ratgeberliteratur vorbehalten, die dazu nicht einmal Imperative aufbieten muss. Der ästhetische Imperativ wäre analog der ästhetischen Idee Kants zu verstehen: ein paradoxer An-

7

S. im Kapitel »On Counsel«/»Vom Rat« in Hobbes: Leviathan, S. 217-224.

8

Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M. 2009.

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prall suggestiver Appelle gekoppelt mit pragmatischer Indifferenz ...). Befehle sind nicht an der Imperativform zu erkennen, und nicht jede Imperativform ist ein Befehl. Der Titel von Coveys Buch ist ein prominentes Beispiel dafür, dass Ratgeberbücher ganz ohne Imperative und Appelle auskommen, ja sogar ohne ein Verb (es sind hier allein Adjektive und Substantive, die suggestive und appellative Effekte produzieren). Was bedeutet das für »Ratgeben als Sprechakt«? Bei einer Fokussierung auf Ratgeben als Sprechakt oder Sprachhandlung würde man übersehen, dass Äußerungen (aber auch Gesten, Verhaltensweisen, Habitus ...) quasi als Rat beherzigt werden können, auch wenn sie gar nicht also solcher gemeint waren oder geäußert wurden. Es gehört aber zur Kunst des Handelns – zu den Arts de Faire (Michel de Certeau) –, kulturelle und andere Errungenschaften ›anzueignen‹, zu verwenden, zu verfremden, wo nötig umzuformen, kurz gesagt vielleicht: zu beherzigen, was einem taugt und zupass kommt, was man gerade brauchen kann, egal wo und in welcher Form man es findet. Um ein älteres, deutsches und weniger erfolgreiches Beispiel für die Appropriation und ratgiebige Modalisierung (oder die symbouleutische Wendung) anzführen: Das Lebensbuch von Broder Christiansen aus dem Jahre 1935, das im Untertitel Alte und neue Lebenserfahrungen gesammelt anbietet. 1957 hat Christiansen dann – mit deutscher Verspätung gegenüber der transatlantischen Erfolgs-Literatur – Plane und lebe erfolgreich vorgelegt, einen Band, der – wie der unverzichtbare Klappentext erklärt – »vielen, vor allem jungen Menschen, ein praktischer Ratgeber sein möchte«.9 Solche Imperative sind eher untypisch. Typisch und geradezu spezifisch ratgeberisch sind die Vermeidung des offensiven Imperativs und Gesten des SichAndienens, das Ansinnen des Rats, die Verführung zu seiner Annahme und das Bemänteln der vorgreiflichen Intervention, die eine solche Offerte darstellt. Natürlich, auch Ratgeberbücher wollen – wie Ratgeber in Person – nur unser Bestes, sie haben, wie schon Hobbes meinte, den Nutzen des Beratenen im Sinn und wollen nicht einfach ihren eigenen Willen durchsetzen, und da sie uns zu unserem Glück nicht zwingen können, mahnen, appellieren und komplimentieren sie eher, als dass sie befehlen oder instruieren, kurz gesagt: sie operieren eher mit Seduktion und mit suggestiven Appellen als mit imperativer Instruktion und mit der wohlmeinenden Unterstellung – die bis zur Schmeichelei gehen kann – , dass jeder – »auch Du/Sie« – über das Potential verfügt, seine Probleme zu lösen, seine Defizite zu überwinden, Kompetenzen zu entwickeln und letztlich seine Wünsche und Ziele zu verwirklichen – »Erfolg ist lehrbar. Jeder kann lernen, erfolgreicher zu werden als bisher. Es

9

Broder Christiansen: Plane und lebe erfolgreich, München 1954 (Klappentext).

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gibt keinen, der nicht das Maß seiner Erfolge beträchtlich steigern könnte, würde er bessere Methoden anwenden.«10 Das klingt verheißungsvoll, das ist verführerisch, und Verheißung und Verführung kann man – im Unterschied zu Befehlen – nicht ablehnen, man kann sie nur ignorieren, nicht auf sie eingehen, ihr nicht ›zum Opfer fallen‹. Der Umgang mit Komplimenten und Seduktionsofferten hat eine andere Logik, ein anderes Reaktions- und Wirkungsspektrum als der Umgang mit Instruktionen und Befehlen. Wie rhetorische Verfahren nicht nur sophistisch-persuasiv, sondern auch argumentativ-überzeugend als »Überredung zur Einsicht«11 eingesetzt werden können, so die ratgeberische Seduktion als Verführung zum eigenen Nutzen, zur Selbsthilfe, zur Selbstsorge. Und als Verführer, die nicht ihren Nutzen, sondern unser Bestes wollen, als supplementäre Erzieher, Seelsorger und Erfolgsflüsterer 12, die zu Eigeninitiative, Selbstsorge und Selbstverantworung animieren, lassen sich Ratgeberbücher machttypologisch nicht allein der Pastoralmacht, sondern auch der Disziplinarund der Kontrollmacht zurechnen. Die Unterscheidung von Befehlen und Ratschlägen scheint also nicht zu genügen, um die Spezifik und die »Logik« des Sprechaktes Ratgeben zu erfassen. Hobbes’ Unterscheidung des Ratschlags vom Befehl lautet: »Ein Rat zeichnet sich dadurch aus, dass sich der Adressat zumindest nominell frei entscheiden kann, ob er den Rat ablehnen oder befolgen möchte.«13 Das ist richtig, aber es ist nicht alles, denn auch ein Befehl kann ›abgelehnt‹ oder verweigert werden – das hat zwar Folgen, aber das gilt auch für einen erteilten Rat: man muss sich dazu verhalten, man muss wählen, eine Entscheidung treffen, und selbst die Ablehnung des Rats wirft einen Schatten: vielleicht wäre man besser gefahren, hätte man ihn angenommen ... . Ein Rat schafft also eine Situation reduzierter und strukturierter Kontingenz. Er reduziert die mehreren, vielleicht zahlreichen Handlungsoptionen auf zwei: Tu dies

10 Christiansen: Plane und lebe erfolgreich, S. 7f. 11 So die schöne Formel von Heinrich Niehues-Pröbsting: Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie. Frankfurt a.M. 1987. 12 Diese Bezeichnung scheint mir nicht unpassend für das neuere Genre der Erfolgsratgeber, vgl. Rudolf Helmstetter: Erfolgsflüsterer und der Schatten des Scheiterns, in: NonFiktion. Das Arsenal der anderen Gattungen 7. Jg. H. 1/2: Ratgeber, hg. von David Oels/Michael Schikowski, Hannover 2012, S. 49-56. 13 Hobbes: Leviathan, S. 218; dass das eine generelle Eigenschaft von Kommunikationsofferten ist, erhellt aus Weinrichs Erläuterung des »Prinzips Instruktion«: »[...] es steht dem Hörer jedoch grundsätzlich frei, dem Ansinnen des Sprechers zu folgen oder nicht« (Harald Weinrich: Textgrammatik der deutschen Sprache. Hildesheim 3. Aufl. 2005, S. 18 – siehe dazu unten mehr).

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– und nicht das (und nicht jenes und jenes auch nicht ...). Und zwar nicht, weil der Ratgeber dies so will und einfach seinen Willen durchsetzen will – »Tu dies ...« klingt, wie Hobbes bemerkt 14, oberflächlich betrachtet wie ein Befehl – , sondern weil er meint, dass es dem Adressaten des Ratschlags hilfreich und von Nutzen ist. Die Hypothek der Hobbesschen Unterscheidung ist eine problematische Verengung auf eine zweistellige Option. Ratschläge unterscheiden sich nämlich nicht nur von Befehlen, sie sind zugleich – so meine These – auch ein prägnantes Paradigma eines sehr viel größeren Spektrums von ›Wahlfreiheit‹ und Wahlfreiheitsfolgenverarbeitungsnotwendigkeiten und damit einer sehr fundamentalen sozialen – sozialisatorischen und individualisierenden, Gesellschaft und Personen bildenden – Dynamik. »[...] da erhob sich Herr Green [...] klopfte stark gegen seine Brust und sagte in einem Ton zwischen Rat und Befehl [...]«15, heißt es einmal bei Kafka, der damit beiläufig zum einen auf die nicht zu unterschätzende Dimension der Intonation von »Sprechakten« hinweist. Sprechakte werden nicht nur vollgezogen, sie sind keine feststehende Partitur, die lediglich ›aufgeführt‹, kein Text, der lediglich ausgesprochen und ›vertont‹ wird, sie sind überhaupt erst an der Betonung erkennbar und damit interpretationsabhängig. Josef Schächter schreibt in seinen Prolegomena zu einer kritischen Grammatik zur Rolle der »Betonung«: »Die Satzmelodie, die Betonung einzelner Zeichen, wie die Pausen sind oft wie geschriebene oder gesprochene Worte. Die Hebungen und Senkungen des Tones können den Satz zur Frage, zum Befehl machen und kennzeichnen oft die grammatische Struktur des Satzes.« 16

14 Hobbes: Leviathan, S. 217. 15 Im Kontext des III. Kapitels (»Ein Landhaus bei New York«) seines Romanfragments Der Verschollene (Amerika). In der Fassung der Handschrift. Nach der Kritischen Ausgabe hg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt a.M. 1996, S. 88f. (Herr Green, dem dieser Ton zugeschrieben wird, bereitet Karl Rossmann schon zuvor Schwierigkeit bei der intonatorischen Identifizierung seiner Äußerungen: » ›[...] ich höre aus Ihren Worten heraus, daß Sie es auch für das Beste halten, wenn ich gleich zurückkehre.‹ ›Das habe ich durchaus nicht gesagt‹, meinte Herr Green [...]« (S. 87). 16 Josef Schächter: Prolegomena zu einer Kritischen Grammatik (1935), Stuttgart 1978, S. 116. Auch Schächter zeigt, dass Befehle nicht allein am grammatischen Kriterium Befehlsform zu erkennen sind, und macht demgegenüber die Kriterien Intonation und situativer Kontext geltend: »Befehle sind Aufforderungen, etwas zu tun. Sind aber die Sätze ›Ich fordere dich auf, das und das zu tun‹; ›Ich befehle dir, das und das zu tun‹, auch Befehle oder sind sie Behauptungen? Diese Frage kann nicht allgemein beantwortet werden, denn es hängt eben von dem Ton ab, in dem sie gesagt werden, von den Umständen, unter denen sie gesagt werden usw.« (S. 201). – Dass Schächter Ratschläge für eine Unter-

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Grammatik und Semantik von Äußerungen ist also keine ›autonome‹ Ebene, sondern eine intonationsabhängige Variable, und das gilt nicht allein für die mündlichinteraktive Kommunikation, denn es gibt für die Intonation, für die in der mündlichen Interaktion ein ganzes Register von stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung steht, zahlreiche grammatische und rhetorische (aber auch paratextuelle) Äquivalente in der schriftlichen Kommunikation. Mit der anhand des Herrn Green exemplifizierten Beobachtung, dass Äußerungen durch die Betonung in die Schwebe »zwischen Rat und Befehl« geraten können, gibt Kafka nicht nur zu denken, dass zur »Logik« von Sprechakten auch ihre Intonation gehört, sondern er verweist auch auf die Uneindeutigkeiten und überhaupt das ganze Feld, das sich eben zwischen Rat und Befehl erstreckt, auf den sprachspielpragmatischen Zwischenraum, der von der dualen Hobbesschen Unterscheidung überblendet wird (vermutlich weil Hobbes ein bestimmtes Sprachspiel vor Augen hatte und zur Prämisse machte, nämlich die politische Beratung mit der Funktion von Entscheidungsfindung, Interaktion unter Anwesenden mit definierten Statuspositionen und Verantwortlichkeiten). Betrachtet man aber Ratgeben von diesem kafkaschen Zwischenraum aus, ergibt sich ein Blick auf die ganze subtile ›Mikropolitik‹ der Sprache – auf Sprache als ein Medium der Wirkungen und Nebenwirkungen, der Kontrolle und der unkontrollierbaren Effekte, die von den Wirkungs- und Kontrollintentionen der Sprecher gewaltig abweichen können (weil die Effekte von der ›Auffassung‹, der Interpretationsfähigkeit und -bereitwilligkeit oder auch Begriffsstutzigkeit der Hörer abhängen), kurz auf die Plätze, Felder, Spielregeln und Imponderabilien der Sprachspiele, und Sprachspiele sind – wie Wittgenstein bemerkt – Teil von Lebensformen. Die gleichen Worte können in unterschiedlichen Sprachspielen ganz Unterschiedliches bedeuten, je nach der »Rolle, die das Aussprechen dieser Worte im Sprachspiel spielt. Aber es wird wohl auch der Ton, in dem sie ausgesprochen werden, ein anderer sein, und die Miene, und noch manches andere«. 17 Mit dem Ansatz bei den Wirkungen (und nicht oder jedenfalls nicht allein den Absichten) ergibt sich eine Blickverschiebung und -erweiterung: vom ›Sender‹ zum Adressaten und Empfänger des Ratschlags, und darüberhinaus zum Funktionszusammenhang von Ratgeben und -nehmen (oder: zu Ratgeben und -nehmen als ei-

art von Befehlen hält, kann man für problematisch halten, immerhin trifft er in diesem Zusammenhang die Unterscheidung, die Austins spätere Unterscheidung von konstativen und performativen Äußerungen vorwegnimmt: »Bitten und Ratschläge sind Befehlssätze bestimmter Art: Sie können nicht wahr oder falsch sein, sondern angenommen oder abgeschlagen (befolgt oder nicht befolgt werden).« (Ebd. S. 260). 17 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: Ders., Tractatus logicophilosophicus. Tagebücher 194-196. Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1984, S. 248 (§21).

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nem Funktionszusammenhang). Die Frage nach der »Logik des Sprechaktes Ratgeben« ist also durch Fragen nach der Wirkung jenseits von guten oder bösen Absichten zu ergänzen: Wie wirkt, was bewirkt Ratgeben – und gibt es nicht funktionale Äquivalente von Ratschlägen, die gar nicht als Ratschläge kommuniziert werden, d.h. die als Ratschläge wirken, ohne als solche gemeint (gewesen) zu sein? Wirkungsabsichten, die ›falsch‹ verstanden werden und scheitern können, unbeabsichtigte Nebenwirkungen und Wirkungen, denen überhaupt keine Absicht entspricht – solche Fälle und Unfälle der Kommunikation ergeben sich aus der unkontrollierbaren Dynamik von Sprechakten überhaupt, der imponderabilen Divergenz der illokutionären Kraft und der perlokutionären Wirkung von Äußerungen, auch von solchen, die grammatisch betrachtet nur konstativ sind. Dass alles Mögliche (auch was gar nicht so gemeint war) als Rat wirken kann, dass aber kein (expliziter) Rat auch angenommen werden und die intendierte Wirkung haben muss, lässt sich zusammenführen in der These, dass es Ratschläge als solche so wenig gibt wie Befehle ›an sich‹. »Ein Befehlssatz, wie ein Satz überhaupt, ist nicht ein Satz ›an sich‹. Es ist ein Satz, insofern es jemand als Satz betrachtet, ebenso ist es ein Befehlssatz, insofern es jemand als Befehl au ffasst, insofern ihm also eine bestimmte Stellung innerhalb der Sprache zugeschrieben wird. Es kann somit für den Schreiber kein Befehl, für den Leser aber doch ein Befehl sein.« 18

Wenn das, was Schächter für Befehlssätze (den Gegenbegriff in der Hobbesschen Unterscheidung) geltend macht, auch für Rat-Sätze gilt, wie verhalten sich diese kommunikative Ambivalenz und die grammatikalische Unbestimmtheit von Ratschlägen zu der »Logik des Sprechaktes Ratgeben«? In der Sprechakttheorie werden Ratschläge einer bestimmten Klasse von Sprechakten zugeordnet, zu der auch »Warnung, Drohung, Versicherung, Belehrung, Vorwurf, Aushandeln, Erpressung, Angebot, Vorschlag gehören«. 19 Solche Sprechakte können (müssen aber nicht) »durch die Behauptungsäußerung eines deklarativen Konditionals realisiert werden«. Ratschläge gleichen in gewisser Hinsicht Aufforderungen und Behauptungen, und können mit ähnlichen sprachlichen

18 Schächter: Kritische Grammatik, S. 202. – Auch Austin hat diese formal-performative Unbestimmtheit verschiedentlich thematisiert, vgl. z.B.: »[...] (Though in general of course also the use of any one sentence form does not tie us down to the performance of some one particular variety of speech-act.)«, Austin: »How to talk«, S. 153 (Schlusssatz). 19 Dieter Wunderlich: Studien zur Sprechakttheorie, Frankfurt a.M. 1976, Kap. VI (»Behauptungen, konditionale Sprechakte und praktische Schlüsse«, v.a. 7. »Ratschläge«, gefolgt von 8. »Erpressungen und Aushandlungen«).

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Mitteln realisiert werden wie diese, sie unterscheiden sich aber wiederum in anderer Hinsicht von ihnen.20 Hinter Befehl und Befehlsverweigerung stehen Sanktionsdrohungen. Solche gibt es bei einem Rat bzw. der Weigerung, ihn anzunehmen und auszuführen (zu beherzigen), nicht. Aber Ratschläge können sich auf einen Befehl beziehen, oder an ein Gesetz, eine Anordnung, ein Verbot erinnern, und zwar mit mehr oder mit weniger Höflichkeit: So kann man etwa statt: »Hier ist Rauchen (Parken, Baden, Ballspielen ...) verboten!« auch sagen: »Ich rate Ihnen, hier nicht zu zu rauchen (zu parken, Ball zu spielen, zu baden ...) – denn wenn der Rauchmelder anspringt, bekommen Sie Ärger«. Oder: »Ich würde hier nicht parken – die Verkehrspolitessen kommen hier jede Stunde vorbei und verteilen Strafzettel«. Es gibt zahllose Beispiele für sprachliche Formen, die einen guten Rat geben und sich dabei höflich und zuvorkommend auf Normen, Gebote, Gesetze, Befehle, Verpflichtungen beziehen, die Befehlsform aber vermeiden, kaschieren, verschleieren, umgehen. Sie erinnern daran, dass es tunlich ist, dies oder jenes zu tun oder zu unterlassen, zu beachten und zu befolgen. Normen, Gebote, Gesetze, Befehle, Anordnungen, Regeln, Konventionen sind soziale Regulative von ganz unterschiedlicher Art und Autorisierung. Solche soziokulturellen Regeln, standardisierte Erwartbarkeiten und Erwartungserwartungen, sind Verpflichtungen und Selbstverpflichtungen, die weit über den Bereich der verbrieften Pflichten und Schuldigkeiten hinausgehen. In vielen Fällen fungieren ›Ratschläge‹ als Erinnerungen an und Vergegenwärtigungen von ›Pflicht und Schuldigkeit‹, daher ihr häufig mahnender und pastoraler und pädagogischer Ton, und damit grenzt die Ratgeberliteratur auch an den Bereich der Ethik im außermoralischen Sinn. In der rhetorischen Tradition wird dieser Bereich – mit unterschiedlichen Grenzziehungen – unter dem Begriff des officium, der officia behandelt.21 Nicht immer aber steht Ratgeben in einem evidenten Zusammenhang mit Gesetzen, Verboten, Normen. Wenn es keine unmittelbare oder mittelbare Sanktionsdrohungen gibt, stellt sich die Frage: was motiviert und bewirkt das Annehmen und Befolgen des Rats? Natürlich: man verspricht sich etwas davon – Nutzen, die Lö-

20 Ebd., S. 272 u. S. 276 f. 21 »Officium« ist die lateinische Übersetzung des griechischen kathekon (das Deutsche kennt nur den »Katechismus«). »Die ältesten Belegstellen des Wortes legen die Bedeutung ›gemäße Handlungsweise‹ nahe, die übergeht in ›bindend auferlegtes Tun, sittliche Verbindlichkeit, Verpflichtung, Schuldigkeit, Dienst‹«. Heinz Guntermann: Nachwort zu Marcus Tullius Cicero: De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln (lat./dt.), übers., komm. u. hg. von Heinz Guntermann, Stuttgart 1987, S. 425.

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sung eines Problems, das Erlangen eines Ziels, die Verwirklichung eines Wunsches, Glück und Erfolg. Ratgeben ist verheißungsvoll und erfolgversprechend.22 Man wird sich selbst bei einem nur oberflächlichen Blick auf die Geschichte der Ratgeberliteratur und vor allem auf die Entwicklungen des Ratgebermarkts der letzten Jahrzehnte des Eindrucks nicht erwehren können, dass solche Druckerzeugnisse Druck machen und ihre Leserschaft regelrecht ködern; sie winken mit den Prämien »Erfolg« und »Glück«, prospektieren Belohnungen. Die Rezepte, Methoden, Wege und Techniken, die sie dazu offerieren, können Glück und Erfolg nur versprechen, nicht garantieren23, aber gerade dadurch tragen Ratgeberbücher zur Zirkulation von Versprechen und Verheißungen, zur Ideologie der Machbarkeit und Effizienzsteigerung bei. Und dadurch schüren Erfolgs- und Glücksratgeber auch die Angst vor Misserfolg und Unglück – auch wenn dies nur eine ungewollte Nebenwirkung sein mag. Die moderne Ratgeberliteratur gehört zu einer Ökonomie der Versprechen und Verheißungen, des Kredits, der Spekulation und Investionen, sie ist, typisch für die Ökonomie der modernen Gesellschaft überhaupt, durch spekulative Überproduktion charakterisiert. Und sie ist eine Vorratswirtschaft: Der schriftliche, buchförmige Rat ist Vor-Rat, er kommt der Ratsuche zuvor. Ratgeberliteratur ist keine Bedarfsproduktion, eher gehört sie zur Bedarfsweckungswirtschaft (um einen Begriff der Werbeforschung zu verwenden), sie stimuliert, produziert und formt die Bedürfnisse, zu deren Befriedigung sie Produkte anbietet; sie trägt bei zur Zirkulation von Versprechen, rückt Befriedigungsmöglichkeiten, Erfolgsaussichten, Glücksmöglichkeiten in jedermanns Nähe, macht Machbarkeitskompetenz und Konkurrenzfähigkeit attraktiv und vermittelt Kenntnisse von Inklusionsmechanismen (und schürt die Angst vor Exklusion) ... – die Vermutung, dass gerade das Genre der Erfolgsratgeber dabei wohl eher Anpassungs- und Unterwerfungsbereitschaft und Konformität mit den langfristigen und konjunkturellen Imperativen und Standards der politischen Ökonomie erzeugt als Widerständigkeit dagegen oder auch nur Distanz und Kritikfähigkeit, wäre nur durch Untersuchung eines größeren Corpus’ zu erhärten. Auch wo sie keine (perlokutionären)

22 Der Erfolg, den Ratgeber selbst, zumal buchförmige, versprechen, wurde nicht immer emphatisch auch als »Glück« annonciert. Es ist bezeichnend für die moderne Ratgeberliteratur, dass sie Erfolg mit Glück zusammenrückt, Erfolg mit Glück gleichsetzt und Glück auf Erfolg gründet. 23 Mit eher seltener Offenheit ausgesprochen im Klappentext von Shad Helmstetter: What to Say When You Talk to Yourself, New York 1990: »For the first time in any book, Shad Helmstetter discloses three underlying breakthrough concepts that are foundational to successful personal and professional growth in each of us [...] when the three concepts are combined, they virtually [!] guarantee success.«

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ethopoetischen Erfolge erzielen, zeitigen die Erfolgsratgeber ethopolitische Wirkung (in Gestalt erfolgswilliger, selbstoptimierungsbereiter Subjekte). Diese ethopoetische und ethopolitische (oder anthropotechnische und biopolitische) Perspektive ist in diesem Zusammenhang nicht weiterzuverfolgen. Da es hier um die perlokutionären Nebenwirkungen von Ratschlägen und Ratgeberliteratur geht, begnüge ich mich damit, in Stichworten auf das zugehörige rhetorische Instrumentarium von Verführung, Schmeichelei, Überredung, Appelle, Suggestionen, Motivation und Inspiration hinzuweisen und zum andern auf die diesbezüglichen »Lücken, die der Teufel ließ« (mit Alexander Kluge zu sprechen): Denn eine Lücke gibt es – erstens – nicht nur zwischen Ratgabe und Ratnahme, sondern – zweitens – auch zwischen Annehmen und Befolgen eines Ratschlags. Die dritte Lücke, die der Teufel ließ – aber und sie ist viel teuflischer als die erste – ist die zwischen dem Befolgen (des Rats) und dem (gewünschten) Erfolg. Ratgeber versprechen, können aber nicht garantieren, dass diese Lücke geschlossen werden kann. Ihr Erfolgsversprechen ist die Grundlage ihres Erfolgs, aber der Erfolg der Ratgeber ist etwas ganz anderes als der Erfolg derer, die Rat suchen, Ratschläge annehmen und befolgen; damit übernehmen diese selbst die Verantwortung für Erfolg oder Misserfolg. 2. Ratgeben als Sprechakt zu betrachten und nach seiner »Logik« zu fragen, erfordert also auch, Grammatik und Rhetorik dieses Sprechakts zu untersuchen, denn diese »Logik« muss sich ja, um wirksam zu werden, sprachlich realisieren (und es scheint zu dieser »Logik« zu gehören, die sprachlichen Techniken und Künste, Tricks und Schlichen des Sprechens zu eskamotieren oder unmerklich zu machen). Eine sprechakt- und sprachspieltheoretisch interessierte Betrachtung kann aber auch dabei nicht stehenbleiben. Denn wie bereits angesprochen ist auch für den Sprechakt Ratschlag Indifferenz oder Unbestimmtheit hinsichtlich seiner grammatischen Formulierung charakteristisch: weder das Realisieren von Absichten noch das Entfalten von Wirkungen ist an bestimmte, kategorial eindeutige sprachliche Formen gebunden. Daher lohnt sich ein Blick auf die Rhetorizität grammatischer Formen. Grammatische Formen, denen ein besonderes Wirkungspotential innewohnt – und gerade in unserem Zusammenhang besonders prägnant und einschlägig – sind Gerundium und Gerundiv. Zur Erinnerung: das sind »Nominalformen des Verbums, welche die Ausführung einer Handlung bestimmen«.24 Der spätlateinische Terminus Gerundium bezeichnet, »was ausgeführt werden muß/soll [auch: in Ausführung begriffen,

24 Dr. Gustav Landgraf†/Max Leitschuh: Lateinische Schulgrammatik, 39. Auflage, Regensburg 1971, S. 167.

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befindlich]«; grammatikalisch wird das Gerundium auch kategorisiert als »Verbalsubstantiv im Unterschied zum Gerundivum, auch Partizipium necessitatis, Verbaladjektiv«. Harald Weinrich bezeichnet das Gerundiv in seiner Textgrammatik als passivisches Neutral- oder auch Modal-Partizip.25 Um gegenüber dieser grammatikophonen Nomenklatur die Wirkungsdimension deutlich zu machen, möchte ich für Gerundium, Gerundivum oder »Modalpartizipien« den Ausdruck Tunlichkeitsformen vorschlagen. Tunlichkeitsformen – vor allem, aber nicht allein Gerundium und Gerundivum – stellen besonders raffinierte und sprechakttheoretisch brisante grammatische Formen bereit. Einer ihrer Effekte ist die ›Objektivierung‹ von Befehlen, Anordnungen, Geboten. Aus einem Imperativ wird etwas Faktisches, und er klingt zugleich viel höflicher: zum Beispiel Der Anordnung ist Folge zu leisten (wie man gelegentlich liest oder hört – statt (in prädikativer Funktion) Sie müssen die Anordnung befolgen oder Die Anordnung muss befolgt werden. Oder auch Die Rechnung ist innerhalb von zwei Wochen zu begleichen statt Zahlen Sie die Rechnung innerhalb von zwei Wochen. Tunlichkeits-Formen sagen, was (mit einem etwas ungebräuchlich gewordenen Ausdruck) tunlich ist. Sie unterscheiden sich nicht nur in grammatikalischer Hinsicht vom Befehl und seinen unterschiedlichen Ausdruckformen (Imperativ und Konstruktionen mit dem Hilfsverb müssen). Alles, was tunlich ist, in nur einem gewissen Rahmen, unter bestimmten Voraussetzungen (die gegeben sein oder auch nur prätendiert werden können) tunlich. Tunlichkeitsformen sind auch machttheoretisch interessant, denn sie sagen – und zwar einem und einer jeden – was zu tun ist, ohne Angabe, wer und mit welchem Recht, welcher Befugnis, dies verfügt. Hinweise auf Tunlichkeit müssen nicht einmal mit Tunlichkeitsformen auftreten, und daher greift eine grammatische Betrachtung zu kurz. Ausdrücke wie: »Das tut man nicht / Das gehört sich nicht; Das macht man so / Das macht man so« usw. bedeuten ja auch: Tu das nicht, Mach das auch so. Und auf die Formel Ich rate Dir kann ein Ratschlag und Vorschlag, eine Empfehlung folgen, aber auch eine Drohung, je nach Intention, Intonation und kommunikativer Einbettung. Insofern Tunlichkeitsformen solche Rahmen voraussetzen, ohne sie zu thematisieren, konsolidieren sie deren Geltung, sie können wie Imperative eingesetzt werden und ebenso wirken, ohne befehlsförmig aufzutreten. Nicht jeder Imperativ ist ein Befehl im militärischen oder pädagogischen Sinn; auch Instruktionen, Direktiven, Anleitungen und Anweisungen (etwa »Gebrauchs-Anweisungen«), Forderungen und Aufforderungen, Verhaltens- und Verkehrsregeln, Rezepte (»Man nehme

25 »Das passivische Neutral-Partizip hat immer modale Bedeutung und kann daher ModalPartizip genannt werden. Es heißt in der älteren Grammatik meistens Gerundiv« (Weinrich: Textgrammatik, S. 542).

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...«) usw. kleiden sich in Formen des Imperativs (oder auch Konstruktionen mit den Hilfsverben müssen und sollen). Grammatik (verstanden als Beschreibung des nicht-situationellen Sprachgebrauchs) umfasst »alles, was unabhängig von irgendeiner denkbaren Situation des Sprechens gilt« (wie etwa Wortklassen, Satzarten, Regeln zu Deklination, Konjugation, Pluralbildung, Tempusbildung, Kasus), Rhetorik hingegen den Bereich »des situationsgebundenen Sprachgebrauchs«.26 Es geht nicht darum, Situationsbindung und Situationsbezug von Rhetorik und Pragmatik gegen das Situationsabstrakte der Grammatik auszuspielen, aber erst im rhetorischen Hinblick auf die grammatische Abstraktion vom Situativen ergibt sich, wie durch die formalen Vorgaben und Möglichkeiten des grammatischen Instrumentariums ›vorgegebene‹ Situationen geformt oder allererst definiert, bestimmt, interpretiert werden und dann auch umgeformt, gestaltet oder unterlaufen werden (können) – und wie darin bereits ein ›rhetorisches‹ Bewirkungspotential steckt. Alles, »was unabhängig von irgendeiner denkbaren Situation des Sprechens gilt«, gilt eben nur unabhängig von irgendeiner konkreten Situation des Sprechens, also eigentlich nie, denn sobald es in konkrete Situationen eintritt oder ›eingehängt‹ wird, treten auch die Geltungen der Situation in Kraft. Wie die Grammatiken (und auch Ratgeberbücher) ganz ohne Imperative auskommen, so können auch Sprachspiele des Ratgebens auf explizite – als Sprechakte festzumachende – Ratschläge verzichten. Sie sind ein Komplex, ein Konglomerat, eine Konstellation, ein Ensemble aus manifesten und latenten Komponenten. Daher lohnt es sich – ist es tunlich – , nicht nur auf die »Logik des Sprechaktes Ratgeben« zu achten, sondern auch auf dessen Grammatik und Rhetorik: oder darauf, wie die grammatischen Formen selbst rhetorische Effekte zeitigen können. Emblematisch für die grammatikalischen Formen von Ratgebern ist die Grundformel: How-todo..., im anglophonen Sprachraum heisst die Selbsthilfe- und Ratgeberliteratur auch How-to-Books. Im Englischen erscheint der direkte Imperativ sogar wie ein um das Wie verkürzter Gerundiv. So könnte das berühmte Think and grow rich (Napoleon Hill 1937) auch den Titel How to think and grow rich tragen, denn das Buch fordert nicht einfach dazu auf, durch Denken reich zu werden, es will vermitteln, wie man es anstellen muss. Andere berühmte und auflagenstarke Titel der Ratgeberliteratur sind How to make friends and influence people (Dale Carnegie 1937) und – kaum noch zu überbieten – How to get what you want (Raymond Hull 1969). Gehört auch das Buch mit dem Titel How to do things with words in dieses Feld? Wie ironisch war es wohl gemeint, als Austin seinen Vorlesungen diesen Ti-

26 Eugenio Coseriu: Textlinguistik. Eine Einführung, hg. u. bearb. von Jörn Albrecht, Tübingen/Basel 1994, S. 14.

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tel gab (der in der deutschen Übersetzung blass und wenig attraktiv Studien zur Theorie der Sprechakte lautet)? Gleichviel, die ironische Wirkung ist unübersehbar: mit diesem Titel begibt sich die Theorie der Sprechakte auf das Feld der How-toBooks, der Ratgeber (und darüber hinaus hat Austin auch einen kleinen Essay mit »How to talk« getitelt). Dabei lehrt How to do things with words gerade nicht das erfolgreiche Sprechen, den effektvollen Umgang mit Worten, sondern beschäftigt sich angelegentlich und mit einer gewissen heiteren Resignation mit der Störanfälligkeit, der Unfallgefährdung, den Misslingensmöglichkeiten des Sprechens und der verbalen Kommunikation. Und nicht zuletzt ist Austins Systematik, mit der er die weite Welt der Sprechakte ordnen möchte, kein Erfolg beschieden: Es gibt konstative und performative Äußerungen. Aber woran sind sie zu erkennen? Auch scheinbar konstative Sätze – also solche, die nur etwas zu sagen scheinen – können sich als performative erweisen, indem sie mit dem Sagen etwas tun und bewirken, und zwar auch – Quelle vieler Missverständnisse – ohne dass dies gemeint und beabsichtigt war! Und umgekehrt können sie als solche gemeint werden, aber nicht als solche ›ankommen‹: der Hörer/Kommunikationspartner versteht sie nicht (Man sagt »Es zieht«, aber der Hörer macht das Fenster nicht zu). Mit der Entdeckung der Wirkungsdimension oder der Wucht von Äußerungen – der illocutionary force – bleibt dem Sprechakttheoretiker auch nicht verborgen, dass illocutionary force (also das, was der Sprecher mit seiner Äußerung bewirken möchte) und perlocutionary force (also das, was die Äußerung tatsächlich bewirkt) auseinandertreten können. Und diese Kluft lässt sich nicht schließen, auch nicht durch ein How-to-do..., durch einen sprechakttheoretischen oder gar sprechaktpraktischen Ratgeber. Die Randbedingungen der Kommunikation, die kommunikative Situation, der kommunikative Andere, sein Verständnis und Einverständnis, widerstehen und entziehen sich der Kontrolle. Kontrollieren kann man allenfalls sich selbst (sofern man mit bewussten Interventionen und Instruktionen den/die innere/n Andere/n, das Unbewusste, die habits, die Denk- und Verhaltensroutinen erreicht). Hier setzen Selbstsuggestionsmethoden und all die self change-, self improvement-, self enhancement-Fibeln an. Die Frage ist also What to say when you talk to yourself – und das ist auch der Titel einer Anleitung für Selbstgespräche, die Shad Helmstetter vorgelegt hat.27 Was sich hinter dieser Variation der How-to-Formel verbirgt, lässt sich tatsächlich auch als Supplement zur Frage How to do things with words betrachten, es könnte auch den Titel tragen How to do yourself with words. Diese Me-

27 Shad Helmstetter: What to Say When You Talk to Yourself, New York 1990: »For the first time in any book, Shad Helmstetter discloses three underlying breakthrough concepts that are foundational to successful personal and professional growth in each of us [...] when the three concepts are combined, they virtually [!] guarantee success.«

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thode zur Verbesserung und zum persönlichkeits- und lebensdienlichen Einsatz der sprachlichen Kompetenz, des Sprachvermögens, ja der Sprachgewalt, setzt bei einer unscheinbaren aber gewaltigen Eigenschaft sprachlicher Äußerungen an: man schenkt ihnen gewöhnlich Glauben (eine weitgehend übersehene Eigenschaft oder illocutionary force auch von »konstativen« Äußerungen).28 Shad Helmstetters Selbstgesprächs-Therapie will dabei helfen, den in der Sozialisation übernommenen, entmutigenden und der Entfaltung der Persönlichkeit hinderlichen Sätzen der anderen Paroli zu bieten und eigene, ermutigende, ermächtigende Sätze zu sagen, wenn man mit sich selbst spricht (und das tut man ja still und leise häufiger als man denkt). What to say when you talk to yourself erschließt also ein brachliegendes Feld der inneren Monologe oder besser: Parolen, der als »Glaubenssätze« kaschierten Verhaltensprogramme. Bleibt zu hoffen, dass das Unterbewusstsein auch daran glaubt und mit sich reden lässt. Ich habe dieses und die anderen oben genannten Bücher vor allem ihrer Titel wegen angeführt, die für die genre-typische Formel exemplarisch sind. Da es im Deutschen kein gleichermaßen prägnantes Pendant für How-to-do... gibt, arbeiten Ratgeber hier häufig mit Kompositaformeln und Bindestrich – »xyz – Ratgeber«, oder »Ein Ratgeber für... « – und auf die genretypischen Titelkomponenten kann auch verzichtet werden. So treten zum Beispiel Diät- und Ernährungsratgeber meist gar nicht als Ratgeber und Leitfaden auf, sie offerieren einfach ernährungsphysiologische und psychologische Kenntnisse und Erfahrungen, die für das Zielpublikum als solche von Interesse sind. Dabei detaillieren sie weitgehend eine Formel, die Heinz v. Foerster einmal als die erste Erfahrung mit (verdeckt) ›politischen‹ Sprechakten angeführt hat: »Spinat ist gesund«, das ist eine subtilere Art zu sagen (und eben nicht zu befehlen): »Iss deinen Spinat« oder »Du musst Spinat essen« oder »Iss deinen Spinat, sonst...«. Aber als Element einer Sequenz oder pädagogischen Konstellation begleitet und stützt die konstative Äußerung den diätetischen Imperativ (hier noch in einem primär-pädagogischen Rahmen). Da es grammatikalisch neben dem Imperativ mehrere Möglichkeiten gibt, Befehle, Aufforderungen, Instruktionen zu formulieren – und zu kaschieren – kann jeder Aussagesatz, jede scheinbar konstative Äußerung, performativ und illokutionär sein und eine pädagogische oder ›politische‹ Dimension haben. Spinat ist gesund, Rauchen schädlich, Arbeit schändet nicht, Morgenstund’ hat Gold im Mund, und vielleicht sogar Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

28 S. dazu auch einige Passagen bei Michel de Certeau: Kunst des Handeln, Berlin 1988 (v.a. Kap. 14 u. 15).

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How to do sentences with words, wie bildet man korrekte Sätze? Grammatiken haben es nicht nötig, die grammatische Form des Befehls oder des Rats oder der Empfehlung zu verwenden, es genügt die Verdeutlichung der Regel, die Darstellung des Regelwerks (das es ja »auch so«, ohne Grammatikbücher, zu geben scheint, aber auch kompetente – und regelbefolgungswillige – Sprecher treffen immer wieder einmal auf Wissenslücken und Zweifelsfälle). Da Verstöße gegen die Grammatik nur in sehr wenigen Situationen mit Sanktionen belegt werden können, bewegen sich Grammatiken meist im Feld der neutralen Instruktion und befleißigen sich eher des Ratgebens als des Befehls. 29 In beiden Fällen aber geht es um ein Verhalten zu Regeln und um das Einverständnis, sich an die Regeln zu halten. Gerade die Stilistik – und zwar nicht nur im sprachlichen Sinn – stellt eine Grauzone zwischen konstativer und performativer Formulierung der Regeln dar, daher ist das Genre der Stilratgeber in diesem Zusammenhang aufschlussreich: Mit der Darstellung und Verdeutlichung von Regeln wird natürlich auch nahegelegt, empfohlen, gefordert, die Regeln zu befolgen. Grammatische Regeln gelten als obligatorisch. ›Guter Stil‹ ist optional, aber (und das macht ihn attraktiv) womöglich auch wirkungsvoller. »Ein guter Stil kann für Sie von großem Wert sein, wenn Sie eine Prüfung ablegen wollen, wenn Sie Geschäftsbriefe abfassen müssen, wenn Sie Verfügungen erlassen haben. Selbst Liebesbriefe sind wirkungsvoller, wenn sie in einem lebendigen Deutsch gehalten sind.« 30

29 Mir ist bewusst, dass ich damit das Problem der Normierungen, Standardermittlungen und Standardfestsetzungen sträflich vernachlässige und von einem sprachgeschichtlich und sprachpolitisch sehr späten Zustand ausgehe, in dem Normen und Standards bereits durchgesetzt sind und den Anschein der ›Selbstverständlichkeit‹ erlangt haben; vgl. zu diesem Komplex Helmut Glück: Schrift und Schriftlichkeit. Eine sprach- und kulturwissenschaftliche Studie. Stuttgart 1987, v.a. Kap. 2, II. u. III, Kap. 5 u. pass. Oder radikaler: »Die Bildung von grammatisch korrekten Sätzen ist für das normale Individuum die Voraussetzung für jede Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Gesetze.« Gilles Deleuze/Félix Guattari: Mille Plateaux. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1992, S. 140f. – Vgl. dagegen die soziologische Naivität eines »Sprach-Knigge«: »Uns gilt als Norm die Sprache von Menschen, die eine gute Erziehung und Bildung genossen haben, und die deshalb reden oder schreiben können, ohne (unwillentlich) Anstoß oder Ärgernis oder Gelächter zu erregen.« (Ilse und Ernst Leisi: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 1993, S. 10). 30 Ludwig Reiners: Stilfibel. Der sichere Weg zum guten Deutsch (1963), München (16. Aufl.) 1978, S. 5. – Reiners verzichtet nicht ganz auf Imperative, vgl. nur im Inhaltsverzeichnis: »Kein Satzdreh nach und !,/Zerreißen Sie nicht die zusammengesetzten Verben!/Baut keine Klemmkonstruktionen!« oder »Keine Kanzleiausdrücke!«.

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Die Frage ist also auch hier: How to do things with words oder Wie und was soll ich reden, so der Titel eines Buches, das die Autoren im Vorwort einen »Knigge in sprachlichen Dingen« und einen »Führer zum richtigen Reden in verschiedenen Lebenssituationen« nennen. Auch hier findet sich der Hinweis auf die ›nominelle Freiheit‹ (Hobbes) im Umgang mit Ratgebern: »Wer aber unsern Ratschlägen nicht folgen will, der ist frei, dies zu tun. Wir betrachten ihn nicht als schlechten Menschen.«31 Das ist nett, zugleich scheinen die Autoren aber doch auch »frei dies zu tun« (ratschlagresistente Leser könnten also auch, von weniger netten Leuten, als schlechte Menschen betrachtet werden). Aber nicht erst die Stilistik ist eine solche normative Grauzone, sondern bereits die Grammatik selbst. Es würde sich lohnen, eingehender zu untersuchen, wie nicht erst Stilratgeber, sondern bereits Grammatiken das sprachliche Regelwissen stilistisch darstellen: denn in allem »Das ist die Regel, d.h. das wird so gemacht / das ist so geregelt«, steckt ja die Instruktion »Mach es so, halte dich an die Regel / vermeide Schnitzer!« Grammatiken – genauer: Darstellungen der Grammatik – sind Gebrauchsbeschreibungen der Sprache, die als Gebrauchsanweisungen fungieren. Ironische Affinitäten zwischen Gebrauchsanweisungen und Grammatiken tun sich auf, wenn in Beispielsätzen von Grammatiken auch Gebrauchsanweisungen vorkommen: »die leicht zu verstehende Gebrauchsanweisung« (wird Ihnen helfen – das Regal zusammenzubauen ...). Die Implikation, dass die Gebrauchsanweisung leicht zu verstehen ist, klingt wie eine Eigenschaft der Sache selbst (die Gebrauchsanweisung ist leicht zu verstehen), die nicht von der Verstehensfähigkeit des Lesers/Benutzers abhängt. Deutlicher wird diese ›objektivierende‹ Akzentuierung bei: »die [...] noch zu berücksichtigenden Gesichtspunkte«, was soviel heißt wie »die Gesichtspunkte sind noch zu berücksichtigen«32, also: müssen/sollen/sollten noch berücksichtigt werden. Und unvermeidlich machen sich auch grammatische Beschreibungen des Imperativs und des Gerundiums selbst Gerundien zunutze. »Bei diesen Beispielen ergibt sich jeweils aus dem Kontext, im Sinne welcher Modalität, oder anders ausgedrückt, in Übereinstimmung mit welchem Modalverb die Formen des ModalPartizips zu verstehen sind [sic].«33

Oder:

31 Leisi: Sprach-Knigge, S. 11. 32 Die Beispiele finden sich bei Weinrich: Textgrammatik S. 543. 33 Ebd.

126 | RUDOLF HELMSTETTER »Die Bedeutung des Imperativs ist zu verstehen als [sic] Anweisung an den Hörer, einer Prädikation des Sprechers dadurch Geltung zu verschaffen, daß er sie als Handlung ausführt. Wir beschreiben diese Bedeutung daher mit dem semantischen Merkmal (GEBOT).«34

Nicht nur lexikalische Erklärungen sind also zirkulär, auch grammatikalische Erklärungen geraten unweigerlich in argumentative Zirkel. Wenn man verstehen will, was ein Wort »bedeutet« oder eine grammatische Form gebraucht und verstanden wird, muss man sich dazu verstehen, wie sie zu verstehen ist. Ohne Beugung unter diesen sanften Zwang – z.B. der Beugungsregeln von Verben – keine ›kompetenten Sprecher‹, oder anders: eine Sprache ist nur zu lernen und ›erfolgreich‹ sprechen (und zu schreiben), wenn man sich diesem sanften Zwang beugt; darin besteht die Normativität grammatischer Regeln und semantischer Konventionen, und daher bewegen sich auch Grammatiklehrbücher in dem Raum »zwischen Rat und Befehl«. 3. Der Gedanke, die These, der Verdacht, sprachliche Kommunikation funktioniere auf fond, prinzipiell, elementar durch Imperative, Parolen, Instruktionen, Forderungen, ist aus sehr unterschiedlichen Warten vorgebracht worden. 35 Harald Weinrich bezeichnet seine pragmatisch ausgerichtete Textgrammatik der deutschen Sprache – bei der es sich »nicht um eine normative, sondern um eine DESKRIPTIVE

34 Weinrich: Textgrammatik, S. 271f. – Systematische Ergänzungen des Imperativs stellen der Optativ und der ›indirekte Konjnktiv‹ dar: »[...] Da der indirektive Konjunktiv aber im Rahmen des Wünschens bereits ein Stück zukünftiger Wirklichkeit vorwegnimmt, kann er auch als Suppletivform in das Paradigma des Imperativs eintreten und dort als ›konjunktivischer Imperativ‹ [...] für diejenigen Gesprächsrollen verwendet werden, die keine eigenen Imperativformen ausgebildet haben.« (Ebd., S. 265) 35 Am radikalsten wohl von Deleuze/Guattari: »Sprache ist weder informativ noch kommunikativ, sie keine Übermittlung von Information, sondern [...] eine Transmission von Befehlen oder Parolen [...]«, Gilles Deleuze/Félix Guattari: Milles Plateaux. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1992 im Kapitel »Postulate der Linguistik«, S. 105-154, hier: S. 111. – Vgl. Wittgenstein: »Nicht: ›ohne Sprache könnten wir uns nicht miteinander verständigen‹ – wohl aber: ohne Sprache können wir andre Menschen nicht so und so beeinflussen [...]«, Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 430 (§ 491). – Vgl. auch »Höre ich Kommandos, so geht mir am Benehmen der Empfänger das erste ahnende Verständnis ihrer ›Bedeutung‹, d.h. genauer ihres Signalwertes auf.« Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Mit e. Geleitwort von F. Kainz. Stuttgart/New York 1982 (1934), S. 13.

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GRAMMATIK«36 handelt – explizit als »INSTRUKTIONS-GRAMMATIK« und erläutert das »Prinzip Instruktion« folgendermaßen: »Diese Grammatik versteht [...] die Bedeutungen der Sprachzeichen (›Wörter‹), aus denen ein Text besteht, als Instruktionen, das heißt, als ANWEISUNGEN, die ein Sprecher einem Hörer im Sprachspiel erteilt. Mit diesen Anweisungen instruiert der Sprecher den Hörer, wie dieser den Text verstehen soll, um sich mit seiner Hilfe ein zutreffendes Bild von der Situation machen zu können. Es steht dem Hörer jedoch grundsätzlich frei, dem Ansinnen des Sprechers zu folgen oder nicht.«

(In der letzten Bestimmung wird man leicht die bereits mehrfach angeführte Hobbessche Bestimmung des Ratschlags erkennen, der zu Folge »der Adressat zumindest nominell frei entscheiden kann, ob er den Rat ablehnen oder befolgen möchte« – man wird ihn, wenn er nicht folgt, darum noch nicht »als schlechten Menschen betrachten«37 betrachten. »Die Grundform der Bedeutungszuschreibungen ist demnach in expliziter Form ein hypoth etischer Imperativ nach dem Muster: ›Lieber Hörer, wenn dieser Text für dich Sinn haben soll, dann ordne ihn so und so der Situation zu!‹ [...].«38

36 Weinrich: Textgrammatik, S. 19. 37 Leisi: Sprach-Knigge, S. 19. 38 Weinrich: Textgrammatik, S. 18. – Im Kapitel 3.1.4. zu den Tempora: »[...] durch diesen Geltungsanspruch kommt eine Prädikation, die ihre Feststellung im Präsens ausspricht, grundsätzlich einer Handlung gleich. Es empfiehlt sich [!] also für den Hörer, diese Prädikation in gespannter, handlungsbereiter Rezeptionshaltung aufzunehmen, also mit derjenigen Einstellung, wie er sie gewöhnlich Handlungen gegenüber aufbringt, die seine Reaktion oder sein Mitwirken verlangen (›tua res agitur‹). – Am deutlichsten kommt die mit dem Präsens verbundene Instruktion der Handlungsbereitschaft in solchen Sprachspielen zum Ausdruck, in denen unter bestimmten sozialen Bedingungen eine Prädikation gleichzeitig selber eine Handlung ist, in denen also eine Handlung rein sprachlich ›vollzogen‹ wird. Man nennt solche sprachlichen Handlungen ›performative Sprechakte‹ (Austin). [...] Nicht alle präsentischen Prädikationen sind jedoch ›performative Sprechakte‹. In den meisten Fällen drückt das Präsens den Geltungsanspruch ohne einen damit verbundenen Machtanspruch aus. [...] Immerhin können auch direkte Handlungsanweisungen, statt im Imperativ im Präsens ausgedrückt werden; sie haben dann sogar einen sehr starken und bisweilen suggestiven Befehlscharakter. Beispiele: Sie gehen jetzt sofort nach Hause und legen sich ins Bett! [...].« (Ebd.)

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Auch diese Empfehlung oder Einladung, dieser »hypothetische Imperativ«, wie Weinrich sagt, gehört in das weite Feld »zwischen Rat und Befehl«. Wie grundsätzlich das – vermeintliche, weil gar nicht nur den Ratschlag betreffende – Charakteristikum des Ratschlag ist, wird nicht zuletzt daran ersichtlich, dass auch der Adressat der Einladung (zu einer Tagung etwa) und eines Call for Papers »zumindest nominell frei entscheiden kann, ob er [...] ablehnen [absagen] oder befolgen [sc. annehmen] möchte.« Man wird nicht bestraft, wenn man die Einladung und den ›Ruf‹ nicht annimmt, aber man nimmt dann eben nicht teil, man wird nicht dabeigewesen sein (und setzt auf die Dauer seinen Ruf als Wissenschaftler, der etwas beizutragen hat, aufs Spiel ...). Auch ein Call for Papers – also ein Ruf und Aufruf, Beiträge zu liefern – hat die Struktur und die illokutionäre Dynamik einer Interpellation (Althusser), einer mehr oder weniger sanktionsbewehrten Identifikationsofferte. Und je genauer man hinsieht, ist die ganze Sprache, das ganze sprachliche Leben, von solchen Appellen und Interpellationen, Forderungen, Aufforderungen und freischwebenden Instruktionen und Befehlen durchzogen. Haben Sie etwas beizutragen? Josef Schächter bemerkt in seinen Prolegomena zu einer Kritischen Grammatik: »Die Fragen sind in einem gewissen Sinne Befehle bestimmter Art.«39 Auch den als eigene grammatische Kategorie (mit eigener morphologischer und syntaktischer Typik) betrachteten Fragesätzen liegt latent ein »Imperativ« zugrunde: »Beantworte/n Sie die Frage!« Wenn also hinter jeder Frage ein Befehl steht – wenn man »Beantworte/n Sie die Frage!« schon als Befehl betrachten will – , sind die »grammatikalischen« Kategorien Imperativ- und Fragesatz auch nur stilistische Optionen, und die grammatikalischen Kategorien von Imperativ- und Fragesatz (wie vielleicht überhaupt der kategoriale Unterschied Grammatik/Stilistik) sind zu dekonstruieren (Vorsicht Gerundium!). Noch schwieriger wird es, ein Alleinstellungsmerkmal von Sprechakten ausfindig zu machen – sei es Frage, Befehl oder Ratgeben – wenn man Wittgensteins Bedenken angesichts der Unterscheidbarkeit von Sprechakten nach Maßgabe grammatischer oder grammatikomorpher Kategorien beherzigt: »Wem die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele nicht vor Augen ist, der wird etwa zu den Fragen geneigt sein, wie dieser: ›Was ist eine Frage?‹ [sc. ›Was ist ein Ratschlag?‹, RH] – Ist es die Feststellung, daß ich das und das nicht weiß, oder die Feststellung, daß ich wünsche, der

39 Schächter: Kritische Grammatik, S. 195. Schon in den einleitenden Paragraphen zu »Zeichen und Sprache« bemerkt Schächter: »[...] Die Zeichen sind Mittel zu bestimmten Handlungen. Wir bedienen uns ihrer, um Befehle zu erteilen, Wünsche zu äußern, zu fluchen, zu streiten, uns zu versöhnen, Philosophie zu treiben usf.« (S. 12).

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Andre möchte mir sagen ...? Oder ist es die Beschreibung meines seelischen Zustandes der Ungewißheit?- Und ist der Ruf ›Hilfe!‹ so eine Beschreibung?« 40

Gerade weil Wittgensteins Explikation von »Frage« der Situation des Um-RatFragens so nahekommt, ist es erstaunlich, dass Wittgensteins Liste von Sprachspielen zwar »Befehlen, und nach Befehlen handeln« anführt, nicht aber das Um-RatFragen und Rat-Geben41; auch im Register der Philosophischen Untersuchungen findet man Ratgeben ebensowenig wie Empfehlen oder Gutzureden, aber es ging Wittgenstein ja nicht um Vollständigkeit. Die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele entsteht aus der Mannigfaltigkeit der situativen Einbettungen, der Umständlichkeiten der Umstände, in denen gesprochen und gehandelt wird, der Willfährigkeit oder Widerständigkeit der Sprechenden und Hörenden. »Es gibt unzählige solcher Arten« von Sprachspielen: »Das Wort Sprachspiel soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform. Führe dir die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele an diesen Beispielen, und anderen, vor Augen: Befehlen, und nach Befehlen handeln – Beschreiben eines Gegenstands [...] – [...] Eine Geschichte erfinden; und lesen – Theater spielen – Rätsel raten – Einen Witz machen; erzählen – [...] Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten.«42

Im unmittelbaren Zusammenhang schreibt Wittgenstein auch: »[...] Befehlen, fragen, erzählen, plauschen gehören zu unserer Naturgeschichte so wie gehen, essen, trinken, spielen.« In diese Reihe sollte man auch das Ratgeben und das Um-RatFragen aufnehmen. Auch diese Sprachspiele gehören zu unserer Naturgeschichte. War es ein Befehl oder ein Rat – und wenn ja: ein guter? – oder eine symbouleuti-

40 § 24, S. 251. – Vgl. zur ›Logik‹ von Fragen auch: »Man kann freilich statt der gewöhnlichen Form der Frage die der Feststellung, oder Beschreibung setzen: ›Ich will wissen, ob [...] ‹ , oder ›Ich bin im Zweifel, ob [...]‹ – aber damit hat man die verschiedenen Sprachspiele einander nicht näher gebracht. [...] «, ebd. S. 251 (§ 24). 41 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 250 (§ 23). 42 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 250 (§ 23).

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sche Modalisierung des alten Satzes »Si tacuisses, philosophus mansisses«, als (der ›frühe‹) Wittgenstein dekretierte: »Worüber man nicht reden kann, davon muss man schweigen«?43 Worüber man nicht reden kann – das bezeichnet auch eine Ursache akuter oder chronischer Ratlosigkeit. Walter Benjamin wusste, dass es zum Sprachspiel des Ratgebens gehört, sich einem Rat zu »öffnen« und »seine Lage zu Wort kommen« zu lassen.44 Anstatt dem Stilratschlag 12 von Ludwig Reiners zu folgen: »Wenn uns nichts Besseres einfällt, tun wir am besten, ganz schlicht mit unserer letzten Aussage aufzuhören«45, schließe ich, vorläufig, mit einem Gedicht von Robert Gernhardt, das noch einmal die Tunlichkeitsform des Gerundiums vor Augen führt und anhand des sprachlichen – hier genauer: des dichterischen – Tuns die Urbanität der Vermeidung des Imperativs und des Hilfsverbs »müssen« exponiert: »Das zu Sagende zu sagen, ist dem Dichter aufgetragen. Wahre Größe freilich zeigen, jene, die selbst dies ver «46

L ITERATUR Austin, John L.: How to do things with words (The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955), hg. von J.O. Urmson/Marina Sbisà, 2. Auflage, Oxford/New York 1990 (Zur Theorie der Sprechakte, dt. von Eike von Savigny, Stuttgart 1981).

43 Wittgenstein: Tractatus 6.54 (ebd., S. S. 85). Wie anders klingt dagegen der spätere Wittgenstein: »Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir ›Spiele‹ nennen [...] Denk nicht, sondern schau! – Schau z.B. die Brettspiele an [...] Nun geh zu den Kartenspielen über [...] Vergleiche Schach mit dem Mühlfahren. [...] Denk an die Patiencen. [...] Schau, welche Rolle Geschick und Glück spielen [...]«, Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 277 (§ 66); s. dazu auch den textgrammatischen Kommentar von Weinrich: Textgrammatik, S. 27. 44 Benjamin schreibt, »[...] daß ein Mensch sich einem Rat nur insoweit öffnet, als er seine Lage zu Wort kommen läßt« (Walter Benjamin: »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows«, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser), Frankfurt a.M. 1980, Bd. II 2, S. 438-465, hier: 442. 45 Reiners: Stilfibel, S. 205. 46 Robert Gernhardt: »Drei Buchmessenvierzeiler [3]«, in: Ders.: Gedichte 1954–94, Zürich 1996, S. 268.

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Austin, John L.: »How to talk«, in: Ders.: Philosophical Papers, hg. von J.O. Urmson/G.J. Warnock, Oxford 1970. Benjamin, Walter: »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows«, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1980, Bd. II.2, S. 438-465. Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Mit e. Geleitwort von F. Kainz, Stuttgart/New York 1982. Carnegie, Dale: Wie man Freunde gewinnt. Berechtigte Übertragung aus dem Englischen von H. von Wedderkopp, Zürich/Leipzig 1938 (How to make friends and influence people, 1937). Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin 1988. Christiansen, Broder: Das Lebensbuch. Von den Wegen der Persönlichkeit. Alte und neue Lebenserfahrungen gesammelt (1935), Ebenhausen bei München 1939. Christiansen, Broder: Plane und lebe erfolgreich, München 1954. Coseriu, Eugenio: Textlinguistik. Eine Einführung, hg. u. bearb. von Jörn Albrecht, Tübingen/Basel 1994. Covey, Steven R.: The 7 Habits of highly effective People. Powerful lessons in personal change, London 1999 (1989). Gernhardt, Robert: Gedichte 1954 – 94, Zürich 1996. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Milles Plateaux. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1992. Glück, Helmut: Schrift und Schriftlichkeit. Eine sprach- und kulturwissenschaftliche Studie, Stuttgart 1987. Guntermann, Heinz: Nachwort zu Cicero, De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln (lat./dt.), übers., komm. u. hg. v. Heinz Guntermann, Stuttgart 1987. Helmstetter, Rudolf: »Erfolgsflüsterer und der Schatten des Scheiterns«, in: David Oels/Michael Schikowski (Hg.): Non-Fiktion. Das Arsenal der anderen Gattungen 7 Jg. H. 1/2: Ratgeber, hg. von David Oels/Michael Schikowski, Hannover 2012, S. 49-56. Helmstetter, Rudolf: »Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf. Experten für erfolgreiches Leben im falschen«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 760/761 (Sept./Okt. 2012), S. 957-970. Helmstetter, Shad: What to Say When You Talk to Yourself, New York 1990.

Hill, Napoleon: Think and grow rich (1937), Radford 2007. Hobbes, Thomas: Leviathan oder Materie. Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens, hg. von Hermann Klenner, aus dem Englischen übers. von Walter Euchner, Leipzig 1978. Hull, Raymond: Alles ist erreichbar. Erfolg kann man lernen, Reinbek bei Hamburg 1973 (How to get what you want, Longmans Canada Ltd. 1969). Landgraf, Gustav/Leitschuh, Max: Lateinische Schulgrammatik, 39. Auflage, Regensburg 1971.

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Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden?, Tübingen 1993. Niehues-Pröbsting, Heinrich: Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie, Frankfurt a.M. 1987. Ludwig Reiners: Stilfibel. Der sichere Weg zum guten Deutsch (1963), München (16. Aufl.) 1978. Schächter, Josef: Prolegomena zu einer Kritischen Grammatik (1935), Stuttgart 1978. Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M. 2009. Weinrich, Harald: Textgrammatik der deutschen Sprache, 3. Auflage, Hildesheim 2005. Wils, Jean-Pierre: »Protreptik«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 7, hg. von Gerd Ueding, Darmstadt 2005, S. 376-380. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, in: Ders., Tractatus logicophilosophicus. Tagebücher 194-196. Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1984. Wunderlich, Dieter: Studien zur Sprechakttheorie, Frankfurt a.M. 1976.

Kommunikative Strategien in Ratgeberbüchern zum Thema ›Trauer‹ C HR ISTIAN S C HÜTTE

1.

Einleitung

Die Trauer um einen verstorbenen Menschen macht offensichtlich ratlos. Anders lässt sich die Vielzahl und Vielfalt von Titeln für ratsuchende Trauernde auf dem Buchmarkt nicht erklären. Dieser Beitrag wirft aus textlinguistischer Perspektive einen Blick auf eine besondere Variante der Trauer-Literatur, nämlich die psychologisch orientierten Ratgeber für Hinterbliebene. Unabhängig von der Frage, inwiefern die Leser den Empfehlungen aus den Büchern im wirklichen Leben folgen 1, verspricht eine Auseinandersetzung mit diesem Thema Aufschluss zu geben über einen Teil der gesellschaftlichen Kommunikation über den Tod. Sofern man hier von einem massenmedialen Trauer-Diskurs sprechen mag, liefert diese Untersuchung auch einen Beitrag einer sprachwissenschaftlichen »Alltags-Anthropologie« nach dem diskurslinguistischen Ansatz von Hermanns.2 Andere Formen der Ratgeberliteratur zum Thema Trauer wären in diesem Zusammenhang kaum minder interessant: So gibt es neben zahlreichen Erfahrungsberichten etliche praktische Ratgeber für den Trauerfall, die sich eher auf bürokrati-

1

Zur Vorsicht bei solchen Interpretationen rät Heimerdinger, der davor warnt, von der Existenz der Ratschläge ohne Weiteres auf deren Befolgung zu schließen. Vgl. Timo Heimerdinger: »Wem nützen Ratgeber? Zur alltagskulturellen Dimension einer populären Buchgattung«, in: David Oels/Michael Schikowski (Hg.): Ratgeber (= Non-Fiktion. Das Arsenal der anderen Gattungen 7. Jg. H. 1/2), Hannover 2012, S. 37-48, S. 38-40.

2

Fritz Hermanns: »Linguistische Anthropologie«, in: Dietrich Busse/Fritz Hermanns/Wolfgang Teubert (Hg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte, Opladen 1994, S. 29-59, S. 32.

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sche und andere Erfordernisse des Alltags beziehen. 3 Für eine sprachwissenschaftliche Analyse besonders aufschlussreich wären die Titel zur Kommunikation im Trauerkontext, etwa zur Gestaltung von Todesanzeigen oder Trauerreden.4 Hier liegt der Fokus jedoch auf fünf Titeln aus den letzten drei Jahrzehnten von drei besonders erfolgreichen Autoren, die alle einen mehr oder weniger deutlichen fachpsychologischen Hintergrund haben. Ihnen ist zudem gemein, dass ihre Publikationen durch etliche Auflagen auf dem Buchmarkt stark präsent sind, so dass man auf eine relativ große Verbreitung der von ihnen vertretenen Ideen schließen darf. Es handelt sich ausschließlich um Titel des Stuttgarter Kreuz-Verlags, der sich in diesem Marktsegment besonders profiliert hat. Für eine exemplarische Analyse ausgewählt wurden (in der Chronologie ihrer Erstpublikation): • »Trauern« von Verena Kast: 1. Auflage 19825 • »Ich sehe deine Tränen« von Jorgos Canacakis: 1. Auflage 19876 • »Ich begleite dich durch deine Trauer« von Jorgos Canacakis: Originalausgabe

19897 • »Meine Trauer wird dich finden!« von Roland Kachler: 1. Auflage 20058 • »Damit aus meiner Trauer Liebe wird« von Roland Kachler: 1. Auflage 20079 Diese Untersuchung beschränkt sich damit auf Ratgebertexte, die Trauer als eine Reaktion auf Verlust durch den Tod eines anderen Menschen behandeln. Andere Formen der Trennung können ebenso Verlustgefühle und Trauer auslösen und wer-

3

Vgl. u.a. Birgit Lambers: Rat und Hilfe für den Trauerfall. München 1999; Georg Schwikart: Die 100 wichtigsten Fragen zu Tod und Trauer, Gütersloh 2008; Christina Kayales: Trauer und Beerdigung, Göttingen 2011.

4

Vgl. u.a. Ulf Wetter: Briefe und Reden für den Trauerfall, Augsburg 2003; Eva Michae-

5

Verena Kast: Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, 10. Auflage,

lis: Tröstende Worte und Reden im Trauerfall, Stuttgart 2004. Stuttgart 1989. 6

Jorgos Canacakis: Ich sehe deine Tränen. Trauern, klagen, leben können, 2. Auflage,

7

Jorgos Canacakis: Ich begleite dich durch deine Trauer. Lebensfördernde Wege aus dem

Stuttgart 1988. Trauerlabyrinth, komplett neu überarb., Stuttgart 2007. 8

Roland Kachler: Meine Trauer wird dich finden! Ein neuer Ansatz in der Trauerarbeit,

9

Roland Kachler: Damit aus meiner Trauer Liebe wird. Neue Wege in der Trauerarbeit, 4.

11. Auflage, Stuttgart 2011. Auflage, Stuttgart 2011.

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den bisweilen in denselben Büchern abgehandelt. 10 Insofern wird die Auseinandersetzung mit der Trauer um Verstorbene oft als Sonderfall der Erfahrung von Trennungen gesehen. 2.

Zur linguistischen Struktur von Ratgeberbüchern als massenmedialen Texten

Wie noch zu sehen sein wird, kann die mündliche Beratung als Bezugspunkt für die schriftlichen Formen des Ratgebens gelten. Daher lässt sich die Ausgangskonstellation des Beratungsprozesses von gesprächsanalytischen Modellen zur Face-to-FaceBeratung übernehmen: Als Grundstruktur einer Beratungssituation kann angenommen werden, dass ein Ratsuchender sich an einen Ratgebenden wendet, um einen negativen Ausgangszustand (AZ) in einen positiven Zielzustand (ZZ) zu überführen.11 Damit unterscheidet sich die Situation des schriftlichen Ratgebens bzw. Rateinholens zunächst einmal nicht von der Konstellation in Beratungsgesprächen.12 Da bei schriftlichen Texten eine unmittelbare Rückmeldung, die gemeinsame Explikation des Problems sowie die gemeinsame Ratsuche entfallen, können im Zusammenhang mit der Ratgeberliteratur neue Fragen auftauchen: Liegt überhaupt ein Problem vor? Oder ist es ein Anliegen des Textes, überhaupt erst ein Problembewusstsein zu schaffen? Wer definiert den negativen Ausgangszustand und – was sich bei Trauer-Ratgebern als besonders interessant erweist – wer definiert, was die Merkmale eines positiven Zielzustands sind? Hier stellen sich Fragen nach Wertungen, deren Begründung und damit letztlich nach den Normen und Idealen, die den Ratschlägen zugrunde liegen. Wenn man also die Face-to-Face-Beratung als Grundform des Beratens auffasst, so ergeben sich für den schriftlichen Kommunikationsweg entscheidende Abweichungen, die auf die Selbstpositionierung des Beraters Einfluss nehmen können. Es handelt sich schließlich um massenmediale Texte, bei denen nach der klassischen Definition von Maletzke »Aussagen öffentlich (also ohne begrenzte und personell definierte Empfängerschaft) durch technische Verbreitungsmittel (Medien) 10 Ein Beispiel für ein solches Ratgeberbuch, das sich mit diesen verschiedenen Anlässen zum Trauern gleichzeitig befasst, ist Verena Kast: Sich einlassen und loslassen. Neue Lebensmöglichkeiten bei Trauer und Trennung, 2. Auflage, Freiburg i.Br., 1994. 11 Vgl. zu den sprachpragmatischen Elementen eines »Handlungsplans Beraten« Gerd Schank: Zum Ablaufmuster von Kurzberatungen – Beschreibung einer Gesprächsstruktur, in: Jürgen Dittmann (Hg.): Arbeiten zur Konversationsanalyse, Tübingen 1979, S. 176-197, S. 178-180. 12 Vgl. dazu Gerd Schank: Untersuchungen zum Ablauf natürlicher Dialoge, München 1981.

136 | CHRISTIAN S CHÜTTE indirekt (also bei räumlicher oder zeitlicher oder raumzeitlicher Distanz zwischen den Kommunikationspartnern) und einseitig (also ohne Rollenwechsel zw. Aussagenden und Aufnehmenden) an ein disperses Publikum […] vermittelt werden«. 13

Im Unterschied zum Beratungsgespräch ist also eine direkte Rückmeldung des Ratsuchenden zum Ratgeber nicht möglich. Die individuelle Problemexplikation und Interaktion bei der Ratsuche14 kann in Ratgeberbüchern nicht oder zumindest nicht in derselben Weise wie im Face-to-Face-Gespräch stattfinden. Wie die Buchautoren versuchen diesen Mangel zu kompensieren, wird Thema der folgenden Kapitel sein. Auch bei Ratgebertexten handelt es sich um Experten-Laien-Kommunikation, somit um eine asymmetrische Kommunikationssituation. Es ist jedoch im Einzelfall zu klären, worin das Expertentum des Ratgebers besteht. Hier setzen die Autoren verschiedene Strategien ein, um die Akzeptanz ihrer Person und ihrer Kompetenz zu sichern (vgl. Kap. 5). Aus pragmatisch-textlinguistischer Sicht gehören Ratgeberbücher nach Brinker zur Textsortenklasse mit Appellfunktion, da die dominante Textfunktion direktiv ist.15 Deren Grundform lautet: »Ich (der Emittent) fordere dich (den Rezipienten) auf, die Einstellung (Meinung) X zu übernehmen / die Handlung X zu vollziehen.«16 Die konkrete Ausprägung dieses Aufforderns kann ganz unterschiedlich sein; daher hebt Möhn für seine Kategorie der »Instruktionstexte« hervor, dass dort neben dem Anweisen das Informieren ein wesentlicher Aspekt ist: »Um […] den Angehörigen einer Gesellschaft ein selbstbestimmtes Handeln zu ermöglichen, ist es augenscheinlich unverzichtbar, ein unverbindliches Appellieren von seiten der Appellgeber mit einem Mindestanteil an Information zu verbinden.«17 Instruierende Texte sind nach Möhn »monologische schriftlich fixierte Texte, die sich an mehrere Rezipienten wenden, zwischen Experten und Laien vermitteln (fachextern), primär zum nichtverbalen Handeln anleiten und für Geld zu erwerben sind« 18. Somit teilen sich Trauerratgeberbücher ihre Textsortenklasse mit anderen Formen von Alltagstexten

13 Gerhard Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation. Theorie und Systematik, Hamburg 1963, S. 32. 14 Vgl. ebd., S. 182-187. 15 Vgl. Klaus Brinker: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, 5. erg. Auflage, Berlin 2001, S. 112-120. 16 Ebd., S. 112. 17 Dieter Möhn: »Instruktionstexte. Ein Problemfall bei der Textidentifikation«, in: Klaus Brinker (Hg.): Aspekte der Textlinguistik, Hildesheim 1991, S. 183-212, S. 207. 18 Ebd., S. 194-195.

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wie etwa den oft prototypisch untersuchten Gebrauchsanweisungen. 19 Im Unterschied zu Bedienungsanleitungen, die z.B. einem technischen Gerät beiliegen, ist ein Ratgeberbuch jedoch ein eigenständiges kommerzielles Produkt, das als solches mit anderen Titeln zum jeweiligen Thema auf dem Markt konkurriert. 20 Dabei fällt es nach der Typologie von Eckard Rolf in die Kategorie der nicht-bindenden direktiven Textsorten 21, während die Empfehlungen einer Gebrauchsanweisung insofern verbindlich sind, als bei Nichtbeachtung der Garantieanspruch erlöschen kann. Wenn also hinsichtlich der rechtlichen Verbindlichkeit die Rezeption und Befolgung des appellativen Textes eines Ratgeberbuches weniger wahrscheinlich ist als bei einer Bedienungsanleitung, so ist sie doch höher als bei solchen Ratgebertexten, wie sie auf Service-Seiten in Tageszeitungen oder Zeitschriften abgedruckt sind.22 Verglichen mit derartigen Artikeln kann beim Rezipienten eines Trauerratgeberbuchs schon ein spezifisches Interesse am Thema vorausgesetzt werden. Wer ein solches Buch kauft, geschenkt bekommt etc., wird in aller Regel aufgrund seiner persönlichen Lebenssituation mit einem Trauerfall zu tun haben. Während der Service-Artikel in einer Zeitung oder Zeitschrift mit den anderen Beiträgen derselben Ausgabe um die Aufmerksamkeit des Lesers konkurriert, stellen für die Buchpublikation zum Thema Trauer alle anderen thematisch relevanten Titel auf dem Markt die Konkurrenz dar. Welche Folgen diese Konstellation für die Textgestaltung hat, wird die Analyse zeigen. 3.

Untersuchungskorpus: Relevanz der Trauerratgeber als Forschungsgegenstand

Da heute in kaum einer Buchhandlung im Regal für populärpsychologische Beratungsliteratur (»Lebenshilfe«) eine Abteilung für Trauer fehlt, ist davon auszugehen, dass die potenziellen Leser ein Informationsdefizit bei sich sehen und Beratungsbedarf haben. Insbesondere kann man bei diesem Thema annehmen, dass sich die Rezipienten Wissen über Handlungsmöglichkeiten in einer konkreten Trauersituation verschaffen möchten – und nicht etwa nur aus beiläufigem Interesse die Bücher zur Unterhaltung lesen.

19 Vgl. Susanne Göpferich: Textsorten in Naturwissenschaften und Technik. Pragmatische Typologie – Kontrastierung – Translation, Tübingen 1995. 20 Vgl. Möhn: Instruktionstexte, S. 204. 21 Vgl. Eckhard Rolf: Die Funktion der Gebrauchstextsorten, Berlin 1993, die Übersicht auf S. 261. 22 Vgl. Heinz-Helmut Lüger: Pressesprache, 2., neu bearb. Auflage, Tübingen 1995, S. 147151, sowie Wilhelm Franke: Massenmediale Aufklärung. Eine sprachwissenschaftliche Untersuchung zu ratgebenden Beiträgen von elektronischen und Printmedien, Frankfurt a.M. u.a. 1997.

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Der Rezipient eines Trauerratgeberbuchs befindet sich also in einem negativen Ausgangszustand der »Ratlosigkeit«. Dabei muss er nicht zwangsläufig selbst einen Verlust erlitten haben und sich im Zustand der Trauer befinden. Offensichtlich werden solche Texte auch von Personen zurate gezogen, die anderen Menschen in deren Trauer helfen wollen, u.a. in beruflichem Kontext wie in Medizin, Pflege, Seelsorge etc. Als Ursache der Hilfsbedürftigkeit in großen Teilen der Gesellschaft wird oft die Tatsache gesehen, dass es heute keine allgemein verbindlichen Trauerrituale mehr gibt.23 Schon bei der Wahl der Bestattungsform ist die Auswahl groß geworden. Der Umgang mit Trauerfällen hat sich individualisiert. Die Wahlfreiheit führt offenbar zu Unsicherheit darüber, welche Möglichkeiten es gibt, die eigene Trauer zu gestalten, d.h. was gesellschaftlich akzeptabel ist und wie man sich konkret verhalten darf oder sollte. Trotz des Beratungsbedarfs mag vielen eine Suche nach Rat im privaten Umfeld oder zu einem professionellen Beratungsgespräch so unattraktiv erscheinen, dass sie auf das Massenmedium Buch ausweichen. Ein nicht unwesentlicher Grund für die Nutzung von Ratgeberliteratur dürfte somit das Bedürfnis sein, Face-to-Face-Kommunikation zu vermeiden. 24 Gerade nach einem persönlich erlittenen Trauerfall ist es aber auch möglich, dass im privaten Kreis einfach kein Ratgeber mehr zur Verfügung steht. Was auch immer im einzelnen Fall die Gründe für die Lektüre sein mögen – dass der Bedarf nach Trauerberatung groß ist, zeigen die vielen Titel auf dem Buchmarkt sowie die Auflagen z.B. der hier analysierten Publikationen. So erlebte der älteste Ratgebertitel von Verena Kast mit dem Titel »Trauern – Phasen und Chancen des psychischen Prozesses« seine erste Auflage 1982 und liegt heute (Stand: Dezember 2012) in der 34. Auflage vor. »Ich sehe deine Tränen« (orig. 1987) von Jorgos Canacakis erschien 2002 in 18. Auflage und ist derzeit in einer Neuausgabe erhältlich. Gleiches gilt für den Nachfolgeband »Ich begleite dich durch deine Trauer« (orig. 1989; 15. Auflage 2002). Die neueren Ratgeberbände von Roland Kachler sind ebenfalls mehrfach aufgelegt worden: »Meine Trauer wird dich finden« von 2005 bereits zwölf Mal, »Damit aus meiner Trauer Liebe wird« von 2007 immerhin vier Mal.

23 Vgl. Canacakis: Ich sehe deine Tränen, S. 86-88. 24 Messerli belegt schon in einem Ratgebertext aus dem 19. Jahrhundert ein solches Motiv für einen Verzicht auf direkte Kommunikation. Vgl. Alfred Messerli: »Eine Entwicklungsgeschichte der Medien und der Rhetorik des Rates«, in: David Oels/Michael Schikowski (Hg.): Ratgeber (= Non-Fiktion. Das Arsenal der anderen Gattungen 7. Jg. H. 1/2), Hannover 2012, S. 13-26, S. 20.

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4.

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Inhalt der Trauer-Ratgeberbücher

Welche sprachlichen Strukturen in einem Ratgebertext festzustellen sind, ist vermutlich nicht unabhängig davon, welche Ratschläge darin gegeben werden. Um zu beurteilen, welche Strategien die Buchautoren verfolgen, ist es also nötig zunächst per Analyse auf propositionaler Ebene in aller Kürze zusammenzufassen, welchen positiven Zielzustand für den Ratsuchenden der jeweilige Verfasser anstrebt. Während im Fall der Trauerliteratur der negative Ausgangszustand relativ eindeutig ist (Situation nach Verlust eines Menschen), herrschen durchaus unterschiedliche Vorstellungen vom Zielzustand, den ein Trauernder erreichen soll. In der ausgewählten Ratgeberliteratur zeigt sich, dass Trauer nach einem Todesfall nicht immer problemlos verläuft: Es gibt – grob gesagt – gute und schlechte Arten zu trauern. Trauer kann »gelungen«25 sein: Positiv bewertet wird »natürliche Trauer«26 und »zielgerichtete Trauer«27. Als negativ gilt etwa bei Jorgos Canacakis »unausgedrückte, nicht erlaubte, verdrängte und verleugnete Trauer«28, aber auch ein »Sumpf der Selbst-Mitleidstränen«29. Wenn »der Zugang zu reinigenden Trauergefühlen versperrt«30 bleibt, so führt dies nach Canacakis – wiederum im Metaphernfeld der Reinheit – zu negativen Konsequenzen für die eigene Psyche und die sozialen Kontakte: »Unerledigte Trauer zerstört und verschmutzt die innere und äußere Umwelt.«31 Schuld an der Unfähigkeit, Trauer zu »erledigen«, ist für ihn die Gesellschaft: »Es ist nicht gerade leicht, in unserer depressiv-trübsinnigen Welt lebensfördernd mit Trauer umzugehen.«32 Canacakis stellt »lebensfördernde Trauer« einer »lebenshindernden Trauer« gegenüber, die ein »verdrängtes, verleugnetes, vermiedenes und nicht angenommenes Gefühl«33 ist und nur zu einer »Anhäufung depressiven, jammernden Verhaltens«34 führt. An anderer Stelle drückt derselbe Autor ein solches Scheitern mittels Finanz- und Wirtschaftsmetaphern aus: »Abschiede zu tätigen, ohne etwas zu nehmen, führt zu ›Herzenspleiten‹. Also, sorgen wir beim Verlieren und Loslassen für Gewinn!« 35

25 Kast: Trauern, S. 70. 26 Canacakis: Ich sehe deine Tränen, S. 223. 27 Canacakis: Ich begleite dich durch deine Trauer, S. 114. 28 Canacakis: Ich sehe deine Tränen, S. 24. 29 Ebd., S. 44. 30 Ebd., S. 217. 31 Ebd., S. 212. 32 Canacakis: Ich begleite dich durch deine Trauer, S. 13. 33 Ebd., S. 36. 34 Ebd., S. 37. 35 Ebd., S. 123.

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Der Zustand nach dem Trauerprozess kann somit im Vergleich zu der Zeit vor dem Todesfall als negativ (»Herzenspleite«), neutral oder sogar als positiv bewertet werden. Als neutrales Resultat können alle Entwicklungen gelten, die nach dem Ende der Trauer zu einer Wiederherstellung bzw. Instandsetzung des psychischen, physischen und sozialen Lebens des Trauernden führen, »damit das Leben wieder weitergehen kann«36 und »wir uns unsere Gesundheit erhalten können«37. Aber Trauer kann letztlich sogar positive Konsequenzen haben: »An der Emotion der Trauer, so paradox es klingt, können wir ›gesunden‹, denn sie bewirkt Wandlung.«38 Kast berichtet von Trauernden, die erkannt hätten, »daß der Tod des betrauerten Menschen ihnen nicht nur sehr viel genommen, sondern auch viel gebracht hatte«39. Canacakis betont ebenfalls positive Entwicklungsmöglichkeiten z.B. durch den Gefühlsausdruck im Weinen: »Im freien Tränenfluß können wir seelisch wachsen und an Reife gewinnen.«40 So wird die Situation nach dem Verlust neu gedeutet: »Trauer ist eine Krise, die sich aber auch als Chance anbietet.« 41 Es ist deshalb möglich, im Trauerprozess »neue lebensfördernde Erfahrungen zu machen«42 und folglich »bereichert aus dem Gefühlslabyrinth herauszufinden« 43 – mit anderen Worten »durch Trauer Power zu gewinnen«44. Kraft, Wachstum und Reife sind also vor allem bei Kast und Canacakis die Merkmale »gelungener Trauer«. Im Einzelnen sehen die drei Autoren unterschiedliche Wege für den Trauerprozess vor. Kast orientiert sich an Ideen C.G. Jungs und betont die Funktion von Träumen bei der Trauerarbeit. Anknüpfend an die Bindungstheorie von Bowlby 45 und Parkes46 entwirft Kast ein Phasenmodell des Trauerprozesses, das wiederum den bekannten Sterbephasen von Kübler-Ross47 ähnelt. Dazu gehört es u.a., »den Verlust zu akzeptieren, ein Leben ohne den Verstorbenen weiter zu leben« 48. End-

36 Kast: Trauern, S. 76. 37 Canacakis: Ich sehe deine Tränen, S. 15. 38 Kast: Trauern, S. 164. 39 Ebd., S. 76. 40 Canacakis: Ich sehe deine Tränen, S. 46. 41 Ebd., S. 208. 42 Ebd., S. 14. 43 Ebd., S. 13. 44 Ebd., S. 16, Hervorhebung im Original. 45 Vgl. John Bowlby: Verlust, Trauer und Depression, Frankfurt a.M. 1991. 46 Vgl. Colin Murray Parkes: Vereinsamung. Die Lebenskrise bei Partnerverlust. Psychologisch-soziologische Untersuchung des Trauerverhaltens, Reinbek 1978. 47 Vgl. Elisabeth Kübler-Ross: Interviews mit Sterbenden, 17. Auflage, Gütersloh 1996. 48 Kast: Trauern, S. 68.

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punkt dieser Entwicklung sollte es sein, das eigene Dasein insgesamt als »›abschiedliche‹ Existenz«49 anzuerkennen und »unsere Geschichte als Geschichte von unendlich vielen Veränderungen in uns aufleuchten zu lassen, als die Ausfaltung unserer Identität«50. Canacakis betont dagegen die Notwendigkeit von »Trauerritualen, die uns den Weg durch die Trauer zeigen«51, aber in den modernen westlichen Gesellschaften verlorengegangen sind. Auch das Weinen spielt eine wichtige Rolle – wie schon der Titel »Ich sehe deine Tränen« zeigt. Allerdings kommt es Canacakis darauf an, »dass die betreffende Person nicht in endloses Jammern und in Selbstmitleid verfällt, sondern Ausdruck im heilsamen Klagen gewinnt«52. Roland Kachlers »neuer Ansatz in der Trauerarbeit« (Untertitel) unterscheidet sich von Kasts Ratgeberbuch vor allem darin, dass er am Ende des Trauerprozesses keine Trennung vom Verstorbenen vorsieht: »Die Trauer will, dass die Liebe weitergeht – über den Tod des geliebten Menschen hinaus. Nicht zum Loslassen, sondern zum Lieben will dieses Buch ermutigen und begleiten.«53 Offenbar gegen den Trauer-Ansatz von Canacakis gewandt, kritisiert Kachler zudem die Auffassung, »dass nur eine bestimmte Art des Trauerns, wie zum Beispiel das expressive Weinen, richtig ist«54. Er selbst bietet eine Vielzahl von therapeutischen Ansätzen an, bei denen es vor allem um die Anwendung von Symbolen der Trauer geht, so dass die Verstorbenen u.a. Erinnerungsorte oder Erinnerungsrituale zugewiesen bekommen und die Hinterbliebenen weiterhin mit ihren Toten kommunizieren können. Als psychologisch-therapeutische Basis seiner Ausführungen verweist Kachler u.a. auf die systemische Familientherapie, die »Psychodynamische Imaginative Traumatherapie« und – wie Kast – auf C.G. Jung.55 5.

Kommunikative Strategien

Neben der Vermittlung von Informationen und Anweisungen auf propositionaler und illokutiver Ebene finden sich in den untersuchten Trauerratgebern als Instruktionstexten auch charakteristische kommunikative Strategien. Diese sollen vor allem das Gelingen der Sprechakte in perlokutionärer Hinsicht sichern, d.h. insbesondere die Akzeptanz der Texte, der Textproduzenten und ihrer Aussagen und Empfehlungen fördern. Konkret schlagen sich die einzelnen Strategien in verschiedenen

49 Ebd., S. 139. 50 Ebd., S. 154. 51 Canacakis: Ich sehe deine Tränen, S. 35. 52 Canacakis: Ich begleite dich durch deine Trauer, S. 114. 53 Kachler: Meine Trauer wird dich finden, S. 10. 54 Ebd., S. 20. 55 Ebd., S. 56.

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Formen der sprachlichen Gestaltung der Texte nieder. Dabei sind sie – wie zu sehen sein wird – nicht immer streng voneinander zu trennen, sondern stehen oft in engem Zusammenhang und ergänzen sich gegenseitig. 5.1 Vertrauen als Basis Im Beratungsgespräch gibt es eine Dimension der Vertrauensbildung, die bei der Rezeption von Ratgeberliteratur fehlt: Der Ratsuchende muss nicht fürchten, bei der Offenbarung seines Problems auf Indiskretion oder Ablehnung zu stoßen.56 Zweierlei Ebenen von Vertrauen auf Seiten des Ratgebenden bleiben jedoch erhalten, nämlich das Vertrauen in die Sachkompetenz des Ratgebers und in seine persönliche Integrität. Relevant ist nicht nur, ob die fachliche Qualifikation des Autors ausreicht, sondern offenkundig auch das Vertrauen in die Person. Will jemand helfen, oder geht es ihm nur ums Geld? Allein die Tatsache, dass sich ein Verlag bereitgefunden hat, das Ratgeberbuch zu veröffentlichen, reicht insofern als Kompetenznachweis nicht aus. Schon die biografischen Angaben in Klappentexten können als erste Versuche zur Vertrauensbildung betrachtet werden. Aber auch in den Texten selbst geben die Verfasser von Trauerratgebern Auskunft über ihre individuelle Qualifikation. Verena Kast verweist bereits im Vorwort auf ihre »praktische Arbeit als Therapeutin« 57. Die Autorin beschreibt dort gleichzeitig ihr induktives wissenschaftliches Vorgehen, wenn sie angibt, sie habe »zu diesem Thema zehn Jahre lang Material gesammelt« und es gehe ihr nun darum, dass auf dieser Basis der Trauerprozess »systematisch« beschrieben und die Resultate »mit den Ergebnissen der neueren Literatur in Beziehung gesetzt« werde.58 Im Gegensatz zu den anderen beiden Titeln handelt es sich bei Kasts Buch um einen dezidiert wissenschaftlichen Text, nämlich ihre Habilitationsschrift. 59 Noch ausführlicher betonen Canacakis und Kachler die eigene Lebenserfahrung. So bekennt Kachler gleich zu Beginn: »Ich schreibe dieses Buch als Psychotherapeut und als Betroffener.«60 Er berichtet ausführlich über seine eigenen Trauer-

56 Zur Frage der Vertrauensbildung in Beratungsgesprächen vgl. Werner Nothdurft: »Kompetenz und Vertrauen in Beratungsgesprächen«, in: Werner Nothdurft/Ulrich Reitemeier/Peter Schröder: Beratungsgespräche. Analyse asymmetrischer Dialoge, Tübingen 1994, S. 183-228. Vgl. auch Schank: Untersuchungen zum Ablauf natürlicher Dialoge, S. 189-191. 57 Kast: Trauern, S. 7. 58 Ebd. 59 Vgl. ebd., S. 8-9. Kast ist seit 1988 Professorin für Psychologie an der Universität Zürich. 60 Kachler: Meine Trauer wird dich finden, S. 10.

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erfahrungen nach dem Unfalltod seines 16-jährigen Sohnes. Canacakis leitet sein Ratgeberbuch ebenfalls mit einem Hinweis auf seine eigene Lebenserfahrung ein: »Da du mich noch nicht persönlich kennst, will ich dir sagen, dass ich die Fähigkeit, andere in ihrer Trauer zu verstehen und zu begleiten, nicht nur in theoretischen und wissenschaftlichen Studien erworben habe, sondern in erster Linie durch das Wahrnehmen, Verstehen, Umwandeln und Ausdrücken meiner eigenen Trauer.«61

Diese Selbstzuschreibung von Kompetenz weist bereits auf eine zweite Strategie der Trauerberater hin: die wissenschaftsskeptische Grundhaltung (siehe folgendes Kapitel). Zu den informativen und appellativen Sprechakten in den Texten kommt also zumindest eine »kontaktive Komplementärfunktion«62, die eine emotionale Nähe und Vertrauen zum jeweiligen Buchautor herstellen soll. Die Verfasser sprechen nicht nur den Leser direkt an, sondern bringen auch sich als Person ins Spiel, um ihre Kompetenz zu stützen. Insofern handelt es sich bei den Trauerratgebern im Sinne Thomas Machos nicht nur um »pragmatische Beratung«, sondern durch die Selbstdarstellung der Autoren nehmen diese bisweilen auch Züge eines »charismatischen Beraters« an.63 Die eigentlich fiktive persönliche Beziehung zum ratsuchenden Rezipienten ist von besonderer Bedeutung, da sich der Ratgeber ähnlich wie der Therapeut in einer nicht-direktiven Beratung »weniger als Experte, sondern eher als Helfer bei eigenen Lösungs- bzw. Klärungsprozessen«64 präsentiert. 5.2 Wissenschaftsskepsis Obwohl Jorgos Canacakis und Roland Kachler Diplompsychologen sind, nehmen beide in ihren Texten eine Haltung ein, die man als wissenschaftsskeptisch, wenn nicht sogar als wissenschaftsfeindlich bezeichnen muss. Dabei kritisiert Kachler die »bisherige Trauerpsychologie«65 auf der Basis seiner eigenen Erfahrungen:

61 Canacakis: Ich begleite dich durch deine Trauer, S. 13. 62 Möhn: Instruktionstexte, S. 204. 63 Vgl. zum Begriff des »charismatischen Beraters« Thomas Macho: »Was tun? Skizzen zur Wissensgeschichte der Beratung«, in: Thomas Brandstetter u.a. (Hg.): Think Tanks. Die Beratung der Gesellschaft, Zürich/Berlin 2010, S. 59-85, hier S. 70-73. 64 Ursula Rosemarie Kluck: Spielarten des Beratens. Zur Struktur von Beratungskommun ikationen, Tübingen 1984, S. 153. Grundlegend für die nicht-direktive Beratung ist Carl R. Rogers: Die nicht-direktive Beratung, 11. Auflage, Frankfurt a.M. 2004. 65 Kachler: Meine Trauer wird dich finden, S. 15.

144 | CHRISTIAN S CHÜTTE »So fühlte ich mich in meiner eigenen Trauer um meinen Sohn dann auch von der gängigen Trauerliteratur nicht verstanden. Wirkliche Hilfe erfuhr ich dort nicht. Im Gegenteil: Mein Ärger über die Psychologie, über die Trauerratgeber wurde immer größer.«66

Nicht als Wissenschaftler, sondern als Trauernder präsentiert sich der Autor hier also dem – vermutlich wissenschaftlich nicht einschlägig vorgebildeten – Leser, der vielleicht genauso enttäuscht über andere Ratgeberbücher ist. Die Lösung besteht für den Psychotherapeuten Kachler aber nicht darin, sich um eigene wissenschaftliche Forschung zu bemühen; als Grundlage für seine publizierten Thesen gibt er vielmehr an, er habe sich »von den gängigen Vorstellungen der Trauerpsychologie gelöst und mich meinen eigenen Erfahrungen überlassen«67. Sein zentrales Konzept einer den Tod transzendierenden Beziehung des Hinterbliebenen zum Verstorbenen begründet Kachler auf ähnliche Weise: Der Trauernde »spürt das Gegenüber des geliebten Menschen. Er braucht dafür keine naturwissenschaftlichen Beweise«68. Bei seinem Ansatz liegt ohnehin nicht der Schwerpunkt auf Rationalität: »Mir geht es hier nicht um Beweis oder Gegenbeweis. Für mich und viele andere Trauernde ist allein wichtig, was hilft, eine innere Beziehung zum Verstorbenen zu bewahren.«69 Canacakis gibt zwar am Ende eines Ratgebers »Literaturempfehlungen« mit psychologischen Titeln, kommentiert diese aber kritisch: »Die meisten Bücher haben einen wissenschaftlichen Anspruch und lassen die Gefühlsbeteiligung vermissen, die für das Lernen des richtigen Umgangs mit der Trauer notwendig wäre.« 70 Der Stellenwert emotionaler Anteilnahme ist also höher als der eines »wissenschaftlichen Anspruchs«.71 Schon die Darstellungen von Trauerprozessen in Phasenmodellen wie bei Kast oder Bowlby lehnt Canacakis entschieden als »geistige Ergüsse intelligenter Köpfe«72 ab. Wiederum kommt der Emotionalität ein größerer Wert zu, »denn Gefühle lassen sich nun einmal nicht in Schablonen und Muster pressen«73. Die Aufwertung des subjektiven Erlebens steht in Einklang mit den zwei

66 Ebd., S. 16. 67 Ebd., S. 16. 68 Ebd., S. 29. 69 Ebd., S. 125. 70 Canacakis: Ich sehe deine Tränen, S. 231. 71 Vgl. dazu auch Chris Paul: »So hilft der Verstand der Seele«, in: Dies. (Hg.): Neue Wege in der Trauer- und Sterbebegleitung. Hintergründe und Erfahrungsberichte für die Praxis, vollst. überarb. u. erg. Neuausgabe, Gütersloh 2011, S. 13-17, hier S. 13-14. 72 Canacakis: Ich begleite dich durch deine Trauer, S. 70. 73 Ebd.

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folgenden Kommunikationsstrategien, die das trauernde Individuum in einen Kontrast zu seiner Umwelt stellen. 5.3 Gesellschaftskritik »Wir leben in einer Gesellschaft, welche die Trauer tabuisiert, mißbilligt und die Unfähigkeit zu trauern in Kauf nimmt.«74 Dieser Tabuisierungstopos wird von allen drei Autoren vertreten. Wie schon erwähnt, sind es schließlich für Canacakis die »gesellschaftlichen Deformationsversuche unseres Alltags«75, die dazu führen, dass man »lebensfördernde« Trauer »verwechselt mit Melancholie, Depression, mit krankem Kummer und Gejammer«76. Als Gegenbild und Ideal gelingender Trauer führt Canacakis die traditionellen Klagegesänge von Klageweibern im Süden Griechenlands an.77 Bei Kachlers beziehungsorientiertem Ansatz klingt ebenfalls Gesellschaftskritik an, denn »der Trauernde bleibt in unserer Kultur allein zurück« 78. Auch Kachler verweist zur argumentativen Stützung seiner Trauerempfehlungen auf »alte Menschheitserfahrungen«79 und beruft sich auf »mythische und religiöse Traditionen«80. Die Kritik an der Gesellschaft wird in den Trauerratgebern so zur Kritik an der Moderne schlechthin. Die kommunikative Funktion der geäußerten Gesellschaftskritik dürfte wiederum darin bestehen, Nähe zum Leser herzustellen. Diese Strategie dürfte ein Versuch sein, die Haltung von Trauernden widerzuspiegeln, die sich häufig als sozial isoliert empfinden: »Trauer ist nicht erwünscht, und wir sind so erzogen, dieses Gefühl vor anderen und in der Öffentlichkeit zu unterdrücken. Wenn es unbedingt sein muß, trauern wir irgendwo im stillen Kämmerlein«81. Der Autor rückt hier an die Seite des Trauernden, der sich – mutmaßlich vereinzelt und unverstanden – von seiner sozialen Umgebung isoliert fühlt, und bestätigt in konspirativem Ton dessen Eindruck von einem abweisenden gesellschaftlichen Umfeld. So bilden Berater und Ratsuchender eine Gemeinschaft, die sich gegen ein bedrohliches, schädliches Außen, »die Gesellschaft«, verbündet und absichert. Im Verbund mit diesem Aspekt der Vereinzelung in der Trauer steht die folgende Beratungsstrategie, die noch stärker auf die Situation des Trauernden selbst zielt.

74 Canacakis: Ich sehe deine Tränen, S. 17. Vgl. auch S. 31. 75 Canacakis: Ich begleite dich durch deine Trauer, S. 35. 76 Ebd., S. 34. 77 Vgl. Canacakis: Ich sehe deine Tränen, S. 88-113. 78 Kachler: Meine Trauer wird dich finden, S. 152. 79 Ebd., S. 34. 80 Ebd., S. 172. 81 Canacakis: Ich sehe deine Tränen, S. 13.

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5.4 Betonung der Individualität Die Trauerratschläge im Massenmedium Buch richten sich ausdrücklich nicht an eine Masse, denn: »Jeder Mensch ist unwiederholbar, einzigartig, und das gilt auch für seine Weise zu trauern.«82 Die Autoren der tausendfach verkauften Ratgeber legen Wert darauf, keine »Rezepte«83 zu bieten. Dem entspricht auch Kachlers Empfehlung für die Trauernden: »Lassen Sie sich nicht von anderen und von dem, was ›man‹ tun soll, einengen.«84 Die Autonomie des ratsuchenden Subjekts soll möglichst weitgehend erhalten bleiben. Kachler betont deshalb, dass er nur »Anregungen für die eigene Trauerarbeit« geben will. Die praktischen Übungen, die er in seinem Buch vorstellt, seien »als Vorschlag und Einladung« zu verstehen. 85 Statt einer expliziten Beratung, folgt Kachler eher dem modernen Ideal der »nichtdirektiven Beratung«86 und betont die Selbstständigkeit des Trauernden: »Alle Impulse und Imaginationen in diesem Buch können von Ihnen eigenständig durchgeführt werden. Tun Sie das so, wie es für Sie und Ihre besondere emotionale Situation stimmig ist. Wenn Sie eine Abwehr gegenüber einem einzelnen Impuls oder einer Imagination spüren, dann folgen Sie Ihren Gefühlen und übergehen Sie diese Übung.« 87

Zwar gibt Kachler für die »Imaginationen« bestimmte Formulierungen vor, die der Trauernde nachsprechen soll, aber: »Sie können die vorgeschlagenen Formeln auch entsprechend Ihren Wünschen verändern und eigenständig weiterentwickeln«88. Die eigenen »Wünsche« und die »besondere emotionale Situation« des Einzelnen bestimmen also über den Umgang mit der Ratgeberlektüre. Auch Kast entwirft zwar ein Phasenmodell, aber keinen Zeitplan für den Prozess der Trauer: »Es gibt keine Richtlinien, wie lange wir um wen zu trauern hätten«89. Bei aller Kritik an der Moderne betonen damit alle Trauerratgeber die Individualität und das Ideal eines selbstbestimmten, souveränen Subjekts.

82 Ebd., S. 21. 83 Ebd., S. 203. 84 Kachler: Meine Trauer wird dich finden, S. 99. 85 Kachler: Damit aus meiner Trauer Liebe wird, S. 12. 86 Vgl. Rogers: Die nicht-direktive Beratung. 87 Kachler: Damit aus meiner Trauer Liebe wird, S. 12. 88 Ebd., S. 12. 89 Kast: Trauern, S. 87.

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5.5 Entwurf einer Rezeptionssituation Sprechakte, die das Verhalten des trauernden Lesers bestätigen, begleiten besonders bei Roland Kachler die Darstellung. Eine imaginäre Rezeptionssituation konstruiert er dabei zunächst im Hinblick auf die Situation des Trauernden zu Beginn der Lektüre. Das Trauerverhalten des Lesers nach dem Todesfall wird von ihm unterschiedslos bestätigt: »Alle diese Reaktionsweisen sind zunächst in Ordnung«90. Der Autor akzeptiert genauso eine anfängliche Ablehnung der Übungen, die er anschließend im Buch präsentiert: »Wenn Sie Schwierigkeiten haben, sich die vorgeschlagenen Bilder und Prozesse vorzustellen, dann ist das völlig in Ordnung. Zwingen Sie sich zu nichts!« 91 Selbst wenn die erwarteten Reaktionen auf die Anleitungen hin nicht sofort erfolgen, beruhigt Kachler diesbezüglich seine Leser: »Vielleicht haben Sie es noch schwer, mit Ihrem Verstorbenen zu fühlen oder ihm in Ihren Gefühlen nahe zu sein. Auch das ist ganz normal.«92 So entsteht tendenziell eine pseudo-dialogische Darstellung aus Spekulationen um die Situation des trauernden Lesers, den Anleitungen und schließlich der Kommentierung der vermuteten Reaktionen des Rezipienten. Noch einen Schritt weiter geht Canacakis, wenn er einleitend schreibt: »Ich möchte Dir, lieber Leser, erzählen, warum immer weniger Menschen sich zu trauern trauen. Es wird mir gut tun, wenn Du mir zuhörst, wie mein eigener Weg durch die Trauer verlaufen ist. Ich kann Dir versprechen, daß ich Dich so, wie Du bist, und so, wie Du trauern kannst, akzeptieren kann. Hab keine Angst. Wenn Du Dich so, wie Du bist, in Deiner Trauer annimmst, dann sind wir zwei. Zu zweit können wir uns gegenseitig unterstützen und lernen, weniger Angst zu haben.«93

Erstaunlich ist hier, dass nicht nur die Reaktion des Rezipienten imaginiert wird, sondern sogar noch eine weitere Gegenreaktion des Autors: »Es wird mir gut tun, wenn Du mir zuhörst«. Mit diesem beträchtlichen Aufwand an metakommunikativen Äußerungen, den die Autoren bisweilen betreiben, wird eine dialogische Kommunikationssituation simuliert. Offensichtlich sehen die Verfasser die raumzeitliche Distanz zum Leser generell als Problem. Wie Messerli schon anhand von Ratgebertexten aus dem 15. Jahrhundert nachweist, wird hier die »inszenierte Mündlich-

90 Kachler: Damit aus meiner Trauer Liebe wird, S. 48. Dass die »Bestätigung der sowieso schon vorhandenen Auffassungen« durchaus ein Ziel der Ratgeberlektüre sein kann, zeigt Heimerdinger: Wem nützen Ratgeber?, S. 45. 91 Kachler: Damit aus meiner Trauer Liebe wird, S. 23. 92 Ebd., S. 30. 93 Canacakis: Ich sehe deine Tränen, S. 20.

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keit als Kompensation«94 eingesetzt: »Die eingebüßte […] Interaktivität wird mittelst der Fiktion der Leseradressierung überspielt.«95 Klein und Martínez kommen nach einer Analyse aktueller Partnerschaftsratgeber zu derselben Einschätzung, denn Formulierungen wie die eben zitierten »simulieren die Kommunikation zwischen Autor […] und Leser als Gespräch face to face unter Gleichgesinnten. Die Asymmetrie und Zerdehnung der Beratungskommunikation wird so tendenziell kaschiert. Es geht hier nicht um kognitiv orientierte Wissensvermittlung, sondern um Herstellung eines emotional gleichgestimmten Kontakts zwischen Autor und Leser«. 96

5.6 Schriftlichkeit als defizitärer Modus der Kommunikation Dass die Form einer Buchpublikation tatsächlich als mangelhafter Ersatz für die Arbeit in Trauerseminaren o.Ä. zu betrachten ist, räumt Canacakis ein: »Erlebte Dinge kann man nur sehr schwach beschreiben und in einem Buch mitteilen. Die Aufgabe, Erlebtes schriftlich zu beschreiben, stößt bei mir auf viele Hemmungen und Hindernisse. Ich fühle mich immer wohler, wenn ich praktische, direkte, spontane und lebendige Arbeit verrichte.«97

Der Primat des »Erlebens«, wie es Bestandteil der Trauerseminare ist, wird also auch hier betont. Wieder erläutert Canacakis an dieser Stelle den biografischen Hintergrund seiner Haltung und seiner eingeschränkten Ausdruckskompetenz: »Meine Stärke liegt nicht im Schreiben. Es kostet mich auch viel Überwindung, mit meinen Sprachschwierigkeiten umzugehen, da ich als Zwanzigjähriger von Griechenland weg zum Studium nach Deutschland gehen mußte. Ich spüre heute in beiden Sprachen Ausdrucksbarrieren, die mir beim Schreiben Mühe machen. Auch glaube ich, daß die Natur mich nur spärlich mit dem Talent des Schreibens beschenkt hat.« 98

94 Messerli: Eine Entwicklungsgeschichte der Medien und der Rhetorik des Rates, S. 19. 95 Ebd., S. 19. 96 Christian Klein/Matías Martínez: »Herausforderungen meistern, Krisen überwinden. Über Ratgeberliteratur aus narratologischer Sicht«, in: David Oels/Michael Schikowski (Hg.): Ratgeber (= Non-Fiktion. Das Arsenal der anderen Gattungen 7. Jg. H. 1/2), Hannover 2012, S. 57-69, S. 67. 97 Canacakis: Ich sehe deine Tränen, S. 16. 98 Ebd., S. 16-17.

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Das ist strategisch wohl nicht nur als Bitte um Nachsicht zu verstehen – dieser Bescheidenheitstopos soll den Autor besonders sympathisch erscheinen lassen, etwa bei Lesern, denen der schriftliche Ausdruck ebenfalls schwerfällt. Ein weiteres Problem der Schriftlichkeit besteht darin, dass die individuelle Problemlage des Ratsuchenden im Massenmedium Buch nicht vollkommen berücksichtigt werden kann. Aus diesem Grund empfiehlt insbesondere Roland Kachler dem Leser ausdrücklich eine selektive Lektüre: »Als Leserin und Leser können Sie bei den Kapiteln beginnen, die Ihren gegenwärtigen Trauergefühlen entsprechen. Wenn der Verlust Ihres Angehörigen erst wenige Tage zurückliegt und Sie sich noch im Zustand des Nicht-begreifen-Wollens befinden, dann steigen Sie mit dem ersten Kapitel ein. Wenn bei Ihnen der Schmerz, die Trauer oder Wut oder andere intensive Gefühle vorherrschen, werden Sie in Kapitel 3 bis 5 die für Sie richtige Begleitung finden. Haben Sie Ihren Angehörigen durch einen Suizid verloren, sollten Sie unbedingt nach dem ersten Kapitel zuerst das Kapitel 10 durcharbeiten.«99

Dass eine selektive Lektüre von Ratgeberliteratur faktisch nicht selten ist, hat jüngst Heimerdinger empirisch nachgewiesen. 100 Auch hier darf und soll also der Leser eigenmächtig entscheiden, wie er das Ratgeberbuch konsumiert; den Eindruck irgendeiner Art von Bevormundung möchten die Autoren offensichtlich vermeiden. Dem Leser auf diese Art und Weise Entscheidungsfreiheit zu suggerieren, kann sich allerdings als besonders effektive Strategie erweisen und gerade eine Annahme der erteilten Ratschläge wahrscheinlicher machen. 6.

Besondere sprachliche Darstellungsformen

6.1 Personalpronomen Canacakis begründet in einem seiner Ratgeberbände ausführlich, warum er den Leser duzt: »Dir ist vielleicht schon aufgefallen, dass ich dich von Anfang an sehr persönlich mit dem ›Du‹ anspreche. Dies wundert oder verunsichert dich. Aus Erfahrung weiß ich, dass uns dies helfen kann, schneller miteinander vertraut zu werden, um Licht in das Dunkel deiner Gefühle zu bringen und ein wenig Klarheit über dich und deine Lebenssituation zu gewinnen. Ich hoffe, dass dir diese vielleicht etwas ungewöhnliche Art der Begleitung mit der Zeit gefallen wird. Uns wäre damit eine gute Möglichkeit gegeben, trotz der Ferne ein wenig vertraute Nähe zwischen uns herzustellen. Ich kann dir versichern, dass sich diese Art der Anrede in mei-

99

Kachler: Damit aus meiner Trauer Liebe wird, S. 9-10.

100

Vgl. Heimerdinger: Wem nützen Ratgeber?, S. 44.

150 | CHRISTIAN S CHÜTTE ner bisherigen Arbeit und in meinen anderen Büchern als wirkungsvoll erwiesen hat. Viele Menschen haben mir dies in unzähligen Briefen bestätigt. Ich hoffe, dass dir dieses Wissen hilft, deine anfängliche Skepsis zu überwinden und dich auf diese Form der ›Intimität‹ und Begegnung einzulassen.«101

Die Verwendung des Personalpronomens »du« zur Anrede wird hier auf ähnliche Art gerechtfertigt wie andere Strategien und stellt zudem einen Kompetenznachweis dar, wenn Canacakis auf seine »Erfahrung«, seine »bisherige Arbeit« und schließlich die »unzähligen Briefe« zufriedener Leser verweist. Das Ziel, »vertraute Nähe herzustellen« und »miteinander vertraut zu werden«, ist explizit formuliert. Canacakis antizipiert hier wieder Einstellungen und Reaktionen des abwesenden Gegenüber: Verwunderung, Verunsicherung und Skepsis, die jedoch überwunden werden sollen. Die Ansprache mit »Du« hat in Trauerratgebern oft suggestiven Charakter, wenn etwa Canacakis einen zentralen Punkt seines Ansatzes so einleitet: »Der Tod ist endgültig und ohne Versprechen auf ein Wiedersehen. Du wirst mit mir einer Meinung sein, dass dies die Basis für das Fließenlassen einer echten, tiefen und von Herzen kommenden Trauer ist.«102 Kachler spricht den Leser ebenfalls direkt an, wenngleich mit dem distanzierteren »Sie«. Bei ihm stehen Ich-Aussagen für Anweisungen an die Leser – was naheliegend ist, wenn die eigene Trauererfahrung den exemplarischen Ausgangspunkt seiner Darstellungen bildet: »Der Verstorbene ist immer schon ein Teil von mir.«103 Die 1. Person Plural ist bei Kachler und Canacakis häufig zu finden: »Wir müssen uns besonders heute, in unserer hochtechnisierten, schnellebigen Welt ständig von vielem verabschieden«104. Dabei steht das Wir manchmal für die Einheit von Autor und Leser oder aber für den Autor und alle Menschen – bisweilen sogar für die Verbindung des Ich mit abstrakten Gegenständen: »Je sicherer wir – ich und meine Trauer – im Umgang miteinander werden, umso selbstverständlicher wird es gelingen, dass die Trauer zu ihrer Zeit da sein darf und zu bestimmten Zeiten eher in den Hintergrund tritt.«105 Insgesamt dienen bei Canacakis und Kachler die Perso-

101

Canacakis: Ich begleite dich durch deine Trauer, S. 13. Dass die persönliche Ansprache generell bei Ratgebertexten beliebt ist, zeigt Michael Schikowski: »Das Sachbuch als unsachliche Erzählung: Die fünf Grundformen des Sachbuchs«, in: David Oels/Stephan Porombka/Erhard Schütz (Hg.): Recht, sachlich (= Non-Fiktion. Das Arsenal der anderen Gattungen 3. Jg. H. 1/2), Hannover 2008, S. 138-154, S. 148.

102

Canacakis: Ich begleite dich durch deine Trauer, S. 76, eigene Hervorhebung.

103

Kachler: Damit aus meiner Trauer Liebe wird, S. 166.

104

Canacakis: Ich sehe deine Tränen, S. 27.

105

Kachler: Damit aus meiner Trauer Liebe wird, S. 53.

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nalpronomen somit der direkten Ansprache des Lesers und unterstützen die »Fik tion der persönlichen Beziehung«, die eine gängige Strategie in Ratgebertexten ist.106 Nur Kast spricht bei ihrem eher fachpsychologisch orientierten Darstellungsstil die Rezipienten nicht direkt an. Zudem ist in ihrem Text der Ich-Bezug selten und wird im Wesentlichen dann eingesetzt, wenn Kast aus ihrer therapeutischen Praxis berichtet: »Ich veranlaßte den Mann, seine ganze Ehegeschichte zu erzählen.«107 6.2 Direktive und instruktive Sprechakte Dass Ratschläge auch Schläge sein können, ist längst zum geflügelten Wort geworden. Besonders in der psychotherapeutischen Praxis gilt die direkte Formulierung eines Rats als wenig hilfreich. Schon Rogers lehnt im Rahmen der nicht-direktiven Beratung Ratschläge ab: Selbst wenn ein Klient ausdrücklich um Rat bittet, soll der Berater dieser Bitte möglichst nicht entsprechen. 108 Stattdessen soll der Ratsuchende selbst nach einer Lösung suchen. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass explizit performative Formeln des Ratgebens (»ich rate Ihnen«) bei keinem Autor an irgendeiner Stelle auftreten. Explizite Formeln sind bei Kachler insbesondere Vorschläge: »Ich schlage Ihnen vor, dass Sie immer wieder sehr bewusst und ausdrücklich Ihr Tun Ihrem Verstorbenen widmen.«109 Als Höflichkeitsform mit dem Modalverb »mögen« formuliert Kachler viele Anleitungen auch als Bitte: »Ich möchte Sie bitten, die Spur Ihrer Liebe zu Ihrem geliebten Menschen aufzunehmen«. 110 Anweisungen versteckt Kachler sonst oft in Form von Aussagesätzen: »Es ist besser, sich der Macht der Trauer zu beugen und sie zuzulassen.«111 Ebenfalls mit Hilfe wertender Adjektive empfiehlt Kachler ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Einstellung, wenn er dieses als »hilfreich« oder »wichtig« bezeichnet: »Deshalb ist es wichtig, die Trauer im Körper immer wieder aufzusuchen«112. »Dann ist es hilfreich, sich auch dies ausdrücklich zu erlauben.«113 Selbst bei expliziten Imperativen handelt es sich bei Kachler meist um Verben des »Zulassens«, die nicht das aktive Ausführen einer

106

Klein/Martínez: Herausforderungen meistern, Krisen überwinden, S. 62.

107

Kast: Trauern, S. 97.

108

Vgl. Rogers: Die nicht-direktive Beratung, S. 147-150. Vgl. auch Sabine Bachmair/Jan Faber/Claudius Hennig u.a.: Beraten will gelernt sein. Ein praktisches Lehrbuch für Anfänger und Fortgeschrittene, 4. Auflage, München 1989, S. 20.

109

Kachler: Damit aus meiner Trauer Liebe wird, S. 31.

110

Ebd., S. 90.

111

Ebd., S. 48. Eigene Hervorhebung.

112

Ebd., S. 55. Eigene Hervorhebung.

113

Ebd., S. 53. Eigene Hervorhebung.

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Handlung anordnen, sondern eher eine Erlaubnis aussprechen: »Lassen Sie geschehen, was geschieht.«114 Bei den Modalverben dominiert bei Kachler die Verwendung von »können«: »Sie können dies über mehrere Tage fortführen« 115. Nur äußerst selten werden Formen des »Sollens« eingesetzt: »Trauernde sollten dann nicht angestrengt weitersuchen, sondern sich der Führung und Weisheit der Liebe überlassen.«116 Auffällig häufig verwendet Kachler das epistemische Adverb »vielleicht«. Dieses begleitet nicht nur viele Aussagen (»Vielleicht bricht jetzt Ihre ganze Trauer auf.«117), sondern auch als Aussagesatz formulierte Anweisungen: »Vielleicht schließen Sie die Augen, damit Sie sich auf Ihr Inneres konzentrieren können.«118 All diese Formen unterstreichen den Vorschlagscharakter dieser instruktiven Sprechakte, die auf keinen Fall als verbindlich erscheinen sollen. Angesichts der in vielerlei Hinsicht heterogenen Leserschaft des Massenmediums Buch sind gerade bei Kachler instruktive Sprechakte oft in Konditionalgefügen untergebracht: »Wenn Sie einen religiösen Hintergrund haben, können Sie sich vorstellen, dass Sie in Gottes Armen, von seinen Händen und in seinem Schoß gehalten sind.«119 Imperative verbindet Kachler häufig mit Nebensätzen mit temporaler Subjunktion: »Bleiben Sie in dieser Haltung, solange es Ihnen guttut.«120 Auch dadurch wird wiederum die »Freiheit« des Rezipienten bei der Umsetzung der Instruktionen hervorgehoben. Kachlers Sprachstil erinnert dabei an den hypnotherapeutischen Ansatz Ericksons121, den Kachler auch an einer Stelle als »theoretischen Hintergrund« 122 seiner Thesen erwähnt. Die Parallelen sind offensichtlich: So ähneln viele Formulierungen den »indirekten Formen von Suggestion« bei Erickson.123 Der Ähnlichkeit des Kommunikationsstils entspricht die Übereinstimmung der Problemlö-

114

Ebd., S. 161.

115

Ebd., S. 51.

116

Ebd., S. 127.

117

Ebd., S. 46.

118

Ebd., S. 106.

119

Ebd., S. 46. Eigene Hervorhebung.

120

Ebd., S. 46. Eigene Hervorhebung.

121

Vgl. Milton H. Erickson/Ernest L. Rossi: Hypnotherapie. Aufbau – Beispiele – Forschungen, München 1981.

122

Kachler: Meine Trauer wird dich finden, S. 56.

123

Vgl. Erickson/Rossi: Hypnotherapie, S. 34-78. Welche Modelle der menschlichen Psyche Autoren wie Canacakis oder Kachler letztlich zugrunde legen und von welchen Funktionszusammenhängen von Bewusstem, Unbewusstem etc. sie ausgehen, lässt sich nicht sicher rekonstruieren, zumal die Hinweise auf einschlägige psychologische Lit eratur spärlich sind.

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sungswege: In der Hypnotherapie geht es genauso wie bei Kachler darum, jedem Patienten »den Gebrauch von Fähigkeiten und Potentialen zu erleichtern, die in einem Menschen bereits existieren«. 124 Nach dieser Interpretation ist die Problemlösung schon in jeder Person angelegt, durch die Anleitungen des Hypnotherapeuten »löst eine unbewußte Suche einen unbewußten Prozeß aus, der tatsächlich das Problem löst, mit dem der bewußte Verstand nicht fertig wurde«. 125 Daher ist Kachlers Stil allerdings durchaus manipulativ zu nennen, weil es zu seinem erklärten Ziel gehört, das Bewusstsein bzw. die Ratio zu umgehen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich also, wie der Leser hinter dem Zeremoniell einer vorgeblich freien Entscheidung gesteuert werden soll. So setzt Kachler im folgenden Beispiel wiederum bei einer möglichen Abwehrhaltung des Rezipienten an: »Wenn Sie wenig Erfahrung mit Imaginationen besitzen oder zurzeit keinen Zugang zu dieser Methode finden, können Sie sich die inneren Bildreisen langsam und laut vorlesen. Lassen Sie die Bilder dann nachklingen, denken Sie immer wieder an die Bilder oder lassen Sie eigene Bilder dazu aufsteigen. So gewinnen Sie die nötige Sicherheit, um sich allmählich auf die Imaginationen einzulassen und sie wie vorgeschlagen durchzuführen.« 126

Letztlich geht es also doch darum, durch – im wörtlichen Sinne – penetrante Wiederholung »wie vorgeschlagen« den »Zugang zu dieser Methode« zu bekommen und bei den Imaginationen zu landen. Dass Formulierungen dieser Art durchaus die Einstellungen und das Verhalten der Rezipienten leiten, kann man als kommunikationsethisches Problem auffassen. Auch wenn diese Sichtweise den Verfassern der Trauerratgeber ebenso fremd scheint wie den Vertretern der Hypnotherapie, fällt aus sprachwissenschaftlicher Sicht doch der tendenziell manipulative Charakter der Anleitungen auf. Wenn man einen Manipulationsbegriff zugrunde legt, nach dem Manipulation nicht nur im Fall einer Schädigung des Kommunikationspartners vorliegt, sondern auch eine absichtliche Täuschung durch Umgehen des freien Willens einer Person zu deren Gunsten darunterfällt, wären Trauerratgeber in dieser Hinsicht durchaus kritisch zu betrachten. Gleichwohl ließe sich dieses Vorgehen rechtfertigen: Gerade Canacakis und Kachler teilen mit hypnotherapeutischen Lehrbüchern die Auffassung, dass »indirekte Formen« der Suggestion die Potenziale des Unbewussten zur Problemlösung freisetzen. Dadurch bleibt scheinbar die Autonomie des Patienten gewahrt, der so in einer Therapie letztlich seine »eigenen Ziele« verfolge. Diese Auffassung beruht

124

Ebd., S. 13.

125

Ebd., S. 65.

126

Kachler: Damit aus meiner Trauer Liebe wird, S. 13. Vgl. zu diesem Vorgehen auch S. 23.

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auf einem Menschenbild, demzufolge im Unbewussten jeder Person Kräfte zur Selbstheilung verfügbar sind, die es nur freizusetzen gilt. Diese starke psychologisch-anthropologische These wird in den einschlägigen Trauerratgebertexten allerdings nicht diskutiert, sondern als gegeben vorausgesetzt. 6.3 Metaphern und Personifikationen Da alle drei Autoren Trauer nicht als Zustand, sondern als Prozess auffassen, finden insbesondere Reise-Metaphern unterschiedlicher Art Verwendung. Die Trauer wird gemeinhin als »Weg« aufgefasst: »Welchen Weg können wir gemeinsam gehen?«127 Der Berater wird somit zum »Begleiter«, bei Jorgos Canacakis schon im Titel: »Ich begleite dich durch deine Trauer«. Die Reise-Metapher variiert der Autor am Schluss seines Textes, wenn es heißt: »Am Ende dieses Buches sehen wir am Horizont den Zielhafen, in dem unser Schiff den Anker werfen kann. Es war eine Reise über die Meere der Tränen, die wir beide zusammen mit wachsendem Vertrauen zueinander durchquert haben. Ich denke, es war eine gute gelebte gemeinsame Zeit, in der ich meine Aufgabe als Kapitän, dich mit unserer kleinen Nussschale über diese unruhigen Wogen zu geleiten, gut erfüllt habe.« 128

Auch wenn diese Selbstzufriedenheit und die Wechselseitigkeit des suggerierten »Vertrauens« von Autor und Leser an dieser Stelle besonders rätselhaft erscheinen, wird klar: Die Funktion eines Kapitäns geht hier über eine reine »Begleitung« hinaus, der Ratgeber bestimmt in diesem Bild auch die Richtung des Trauerns. Besonders ausführlich widmen sich Kachlers Publikationen der Darstellung der »inneren Bilder«, bei denen der Autor auf »Methoden des gelenkten Tagtraumes und der Imagination«129 zurückgreift. Solche Imaginationen sind in ihrer Gesamtheit häufig metaphorisch-symbolhaft angelegt: »Stellen Sie sich vor, dass Sie zusammen mit Ihrem geliebten Menschen auf einer Anhöhe, einem Hügel oder einem Berg auf einer Bank sitzen. Sie schauen gemeinsam auf Ihre Beziehungsgeschichte, die mit ihren verschiedensten Phasen und Abschnitten vor Ihren Füßen […] aufgereiht ist.«130

Als weiteres Stilmittel dienen auch Personifikationen der Anweisung, wenn etwa »die Seele«, »die Liebe« oder »die Trauer« aktiv handelt: »Im Nicht-wahrhaben-

127

Canacakis: Ich begleite dich durch deine Trauer, S. 20.

128

Ebd., S. 120.

129

Kachler: Meine Trauer wird dich finden, S. 91.

130

Kachler: Damit aus meiner Trauer Liebe wird, S. 163.

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Wollen wehrt sich unsere Seele mit ihrer Liebe dagegen, dass sich die Realität des Todes bewahrheitet. Die Liebe will mit allen Mitteln – und sei es dem der Realitätsverweigerung – weiter lieben, und zwar den realen, lebendigen Menschen.«131 Wie an dieser Stelle, so dienen auch sonst derartige Personifikationen der Darstellung nicht-rationalen Verhaltens oder psychischer Reaktionen – der Verstand oder die Vernunft werden hingegen nicht personifiziert. Die bewussten Instanzen des Seelenlebens spielen bei Kachler ohnehin kaum eine Rolle, wie er selbst wiederum unter Verwendung einer Personifikation bekennt: »Ich verlasse mich ganz auf die Weisheit meines Unbewussten.«132 7.

Fazit

Ratgeberbücher reflektieren auf unterschiedliche Art eine Krise des Ratgebens in einer Zeit, in der Beratung zusehends auf Skepsis stößt, wenn nicht sogar anstößig geworden ist – vielleicht nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Omnipräsenz in der Gesellschaft. 133 Einige Formen des Rats wie im Berufszweig der Unternehmensberatung werden vor allem mit negativen Folgen wie Entlassungen assoziiert. Andere Berater, wie z.B. die Kundenberater in der Bank, sind häufig einem Manipulationsverdacht ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund ist es bei massenmedialen Texten mit appellativer Textfunktion offensichtlich ein schwieriges Unterfangen, Vertrauen und Nähe zum Rezipienten aufzubauen, gerade wenn es sich um eine Notsituation wie einen Trauerfall handelt. Um dennoch Akzeptanz für ihre Person und ihre Empfehlungen zu sichern, greifen die Autoren der Trauer-Ratgeberbücher zu kommunikativen Strategien, bei denen sie sich ebenso gesellschaftskritisch und wissenschaftsskeptisch geben, wie es ihre Leser mutmaßlich sind. Der Leser wird direkt angesprochen, manchmal sogar geduzt – es werden ihm aber nur selten direkte Ratschläge oder Anweisungen gegeben. Stattdessen betonen die Verfasser die Individualität des Ratsuchenden und lassen ihm scheinbar die Wahl, seinen eigenen Weg durch den Prozess des Trauerns zu wählen. Dass dennoch Norm- und Idealvorstellungen zum Trauern in den Texten durchweg erkennbar sind und auch die asymmetrische Konstellation der Beratungssituation zwischen Experte und Laie bestehen bleibt, hat die Analyse gezeigt. Angesichts der beobachteten, sprachlich manifestierten Selbstpositionierung der Autoren als »Begleiter« ist letztlich zu vermuten, dass kommunikative Standards

131

Ebd., S. 22.

132

Kachler: Meine Trauer wird dich finden, S. 75.

133

Vgl. Macho: Was tun?, S. 81-85. Den Befund einer »Aversion gegen Ratgeberliteratur allgemein« diskutiert Heimerdinger: Wem nützen Ratgeber?, S. 40. Bezeichnenderweise hat sich für die professionelle oder ehrenamtliche Hilfe für Hinterbliebene statt »Trauerberatung« der Ausdruck »Trauerbegleitung« im Sprachgebrauch durchgesetzt.

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aus der mündlichen Beratungspraxis134 mit der Zeit auch den schriftlichen Darstellungsstil praxisorientierter psychologischer Ratgeberliteratur beeinflusst haben. So ist in der zweieinhalb Jahrzehnte umfassenden Entwicklung der Trauerratgeber zwischen 1982 (Kast) und 2005/2007 (Kachler) eine deutliche Abkehr von wissenschaftlichen Formulierungen und eine Tendenz zur pseudodialogischen Darstellung zu konstatieren. Teile der Texte von Roland Kachler wirken mit ihren Gesprächssimulationen wie der Mitschnitt einer Therapiesitzung. Individualität und Entscheidungsfreiheit der Ratsuchenden werden in diesen Büchern scheinbar betont. Aus kommunikationsethischer Perspektive ist es aber bedenklich, wenn keine Reflexionen darüber angestellt werden, dass auch indirekte Formen der Suggestion den Rezipienten zu einer vom Ratgeber bestimmten Einstellung und einem vom Ratgeber bestimmten Verhalten anleiten. Denn bei Trauer-Ratgeberliteratur geht es letztlich wie bei anderen instruktiven Texten genauso um die »Herbeiführung einer Änderung im kognitiven System des Adressaten«135.

L ITERATUR Bachmair, Sabine; Faber, Jan; Hennig, Claudius u.a.: Beraten will gelernt sein. Ein praktisches Lehrbuch für Anfänger und Fortgeschrittene, 4. Auflage, München 1989. Bowlby, John: Verlust, Trauer und Depression, Frankfurt a.M. 1991. Brinker, Klaus: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, 5. erg. Auflage, Berlin 2001. Canacakis, Jorgos: Ich sehe deine Tränen. Trauern, klagen, leben können, 2. Auflage, Stuttgart 1988. Canacakis, Jorgos: Ich begleite dich durch deine Trauer. Lebensfördernde Wege aus dem Trauerlabyrinth. Komplett neu überarb., Stuttgart 2007. Erickson, Milton H./Rossi, Ernest L.: Hypnotherapie. Aufbau – Beispiele – Forschungen, München 1981. Franke, Wilhelm: Massenmediale Aufklärung. Eine sprachwissenschaftliche Untersuchung zu ratgebenden Beiträgen von elektronischen und Printmedien, Frankfurt a.M. u.a. 1997. Göpferich, Susanne: Textsorten in Naturwissenschaften und Technik. Pragmatische Typologie – Kontrastierung – Translation, Tübingen 1995.

134

Vgl. Rogers: Die nicht-direktive Beratung; Bachmair u.a.: Beraten will gelernt sein; Cornelia Schinzilarz: Gerechtes Sprechen. Ich sage, was ich meine. Das Kommunikationsmodell in der Anwendung, Weinheim/Basel 2008.

135

Franke: Massenmediale Aufklärung, S. 374.

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Heimerdinger, Timo: »Wem nützen Ratgeber? Zur alltagskulturellen Dimension einer populären Buchgattung«, in: David Oels/Michael Schikowski (Hg.): Ratgeber (= Non-Fiktion. Das Arsenal der anderen Gattungen 7. Jg. H. 1/2), Hannover 2012, S. 37-48. Hermanns, Fritz: »Linguistische Anthropologie. Skizze eines Gegenstandsbereiches linguistischer Mentalitätsgeschichte«, in: Dietrich Busse/Fritz Hermanns/Wolfgang Teubert (Hg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik, Opladen 1994, S. 29-59. Kachler, Roland: Meine Trauer wird dich finden! Ein neuer Ansatz in der Trauerarbeit, 11. Auflage, Stuttgart 2011. Kachler, Roland: Damit aus meiner Trauer Liebe wird. Neue Wege in der Trauerarbeit, 4. Auflage, Stuttgart 2011. Kast, Verena: Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, 10. Auflage, Stuttgart 1989. Kast, Verena: Sich einlassen und loslassen. Neue Lebensmöglichkeiten bei Trauer und Trennung, 2. Auflage, Freiburg i.Br. 1994. Kayales, Christina: Trauer und Beerdigung. Eine Hilfe für Angehörige, Göttingen 2011. Klein, Christian/Martínez, Matías: »Herausforderungen meistern, Krisen überwinden. Über Ratgeberliteratur aus narratologischer Sicht«, in: David Oels/Michael Schikowski (Hg.): Ratgeber (= Non-Fiktion. Das Arsenal der anderen Gattungen 7. Jg. H. 1/2), Hannover 2012, S. 57-69. Kluck, Ursula Rosemarie: Spielarten des Beratens. Zur Struktur von Beratungskommunikationen, Tübingen 1984. Kübler-Ross, Elisabeth: Interviews mit Sterbenden, 17. Auflage, Gütersloh 1996. Lambers, Birgit: Rat und Hilfe für den Trauerfall. Was muss ich wissen, was ist zu tun? München 1999. Lüger, Heinz-Helmut: Pressesprache, 2. neu bearb. Auflage, Tübingen 1995. Macho, Thomas: »Was tun? Skizzen zur Wissensgeschichte der Beratung«, in: Thomas Brandstetter u.a. (Hg.): Think Tanks. Die Beratung der Gesellschaft, Zürich/Berlin 2010, S. 59-85. Maletzke, Gerhard: Psychologie der Massenkommunikation. Theorie und Systematik, Hamburg 1963. Messerli, Alfred: »Eine Entwicklungsgeschichte der Medien und der Rhetorik des Rates«, in: David Oels/Michael Schikowski (Hg.): Ratgeber (= Non-Fiktion. Das Arsenal der anderen Gattungen 7. Jg. H. 1/2), Hannover 2012, S. 13-26. Michaelis, Eva: Tröstende Worte und Reden im Trauerfall, Stuttgart 2004. Möhn, Dieter: »Instruktionstexte. Ein Problemfall bei der Textidentifikation«, in: Klaus Brinker (Hg.): Aspekte der Textlinguistik, Hildesheim 1991, S. 183-212.

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Nothdurft, Werner: »Kompetenz und Vertrauen in Beratungsgesprächen«, in: Werner Nothdurft/Ulrich Reitemeier/Peter Schröder: Beratungsgespräche. Analyse asymmetrischer Dialoge, Tübingen 1994, S. 183-228. Parkes, Colin Murray: Vereinsamung. Die Lebenskrise bei Partnerverlust. Psychologisch-soziologische Untersuchung des Trauerverhaltens, Reinbek 1978. Paul, Chris: »So hilft der Verstand der Seele«, in: Dies. (Hg.): Neue Wege in der Trauer- und Sterbebegleitung. Hintergründe und Erfahrungsberichte für die Praxis, vollst. überarb. u. erg. Neuausgabe, Gütersloh 2011, S. 13-17. Rogers, Carl R.: Die nicht-direktive Beratung, 11. Auflage, Frankfurt a.M. 2004. Rolf, Eckhard: Die Funktion der Gebrauchstextsorten, Berlin 1993. Schank, Gerd: Zum Ablaufmuster von Kurzberatungen – Beschreibung einer Gesprächsstruktur, in: Jürgen Dittmann (Hg.): Arbeiten zur Konversationsanalyse, Tübingen 1979, S. 176-197. Schank, Gerd: Untersuchungen zum Ablauf natürlicher Dialoge, München 1981. Schikowski, Michael: »Das Sachbuch als unsachliche Erzählung: Die fünf Grundformen des Sachbuchs«, in: David Oels/Stephan Porombka/Erhard Schütz (Hg.): Recht, sachlich (= Non-Fiktion. Das Arsenal der anderen Gattungen 3. Jg. H. 1/2), Hannover 2008, S. 138-154. Schinzilarz, Cornelia: Gerechtes Sprechen. Ich sage, was ich meine. Das Kommunikationsmodell in der Anwendung, Weinheim/Basel 2008. Schwikart, Georg: Die 100 wichtigsten Fragen zu Tod und Trauer, Gütersloh 2008. Wetter, Ulf: Briefe und Reden für den Trauerfall. Aufbau, Inhalt, Stil, Lizenzausg., Augsburg 2003.

Vorformen moderner Ratgeberliteratur: Die neuzeitlichen Klugheitslehren von Machiavelli bis Thomasius B UR KHAR D M EYER -S IC KENDIEK

Ich frage in meinem Beitrag nach einer Geschichte des Ratgebens bzw. nach einer sehr signifikanten historischen Zwischenstation dessen, was man heute unter dem Stichwort der »Ratgeberliteratur« subsumieren könnte. Dabei werde ich von der These ausgehen, dass eine wichtige Vorform des Ratgebens in dem uns heute vertrauten Sinne die Theorie der Klugheit im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert darstellt. Natürlich gibt es Formen der Beratung – etwa im politischen Bereich – schon weit früher. Wenn man jedoch die literarische Gattung des Ratgebens mit Stefanie Duttweiler als Anleitung zu »privater Selbstoptimierung«1 begreift, dann scheint eine wichtige Zwischenstation dieser Anleitungsliteratur eben die Klugheitslehre der Frühaufklärung gewesen zu sein. Denn diese bildet gerade aufgrund der Fokussierung einer Welt des Privaten den markanten Kontrast zu jenen beratenden Texten im Bereich der Regierungslehre, der Staatsräson oder der Fürstenspiegel, wie sie schon das Zeitalter der Renaissance kannte und umfangreich entwickelte. Darüber hinaus interessiert im Folgenden vor allem die Frage, ob und inwiefern sich die privatpolitischen Klugheitslehren der Frühaufklärung auch im Vergleich zu klassischen Texten der sogenannten »Lebenskunst« als spezifisch anders erweisen. Haben die Lehren zur Privat-Klugheit gerade angesichts ihrer Genese aus dem Genre der politischen Klugheit Vorstellungen zur privaten Selbstoptimierung entwi-

1

Stefanie Duttweiler: »Erkenne Dich selbst und finde dein Glück, Ratgeberliteratur als Anleitung privater Selbstoptimierung«, in: Interesse. Soziale Information 2 (2008), S. 1 8. Vgl. auch: Dies.: »Professionalisierung von Orientierungswissen? – Lebenshilferatgeber als Experten der Lebensführung«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede. Verhandlungsband des 32. Kongress für Soziologie, Frankfurt a.M./New York 2006, S. 3192-3201.

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ckelt, die grundlegend anders sind als dasjenige, was wir seit den einschlägigen Arbeiten Michel Foucaults mit dem Stichwort der »Selbstpraktik« bzw. der »Selbstsorge« bezeichnen? Die entscheidende Kategorie, die es bei diesem Vergleich zu berücksichtigen gilt, ist natürlich diejenige der Disziplinierung. Wir wissen inzwischen hinlänglich Bescheid über die Differenzen, die Foucault in seiner Rekonstruktion einer antiken Selbstsorge im Vergleich von altgriechischer und christlicher Ethik auszumachen meinte. Dass sich in der christlichen »Pastoralmacht« eine Subjektivität konstituierte, die ganz im Sinne von Nietzsches Genealogie der Moral aus der Beichte hervorging, ist nach Foucault als Bruch mit der antiken Ethik zu verstehen. Denn während die christliche Beichte als mühevolle und im Grunde paradoxe Wahrheitssuche in der eigenen, von Schuldgefühl und schlechtem Gewissen geprägten inneren Identität verstanden wird, führte in der Antike nach Foucault ein Meister bzw. ein Pädagoge seinen Schüler nicht zu einer inneren, sondern einer objektiven Wahrheit. Dagegen konnte im Christentum das beichtende Individuum die Wahrheit nur in sich entdecken, was Foucault bekanntlich als Ausgangspunkt einer durch pastorale Machtkonstellationen entstandenen modernen Subjektivität begriff: »Das Christentum koppelt die Psychagogik von der Pädagogik ab und fordert von der psychagogisierten und geführten Seele, dass sie eine Wahrheit sagt, die nur sie sagen kann, die nur sie besitzt und die zwar nicht das einzige, aber eines der fundamentalen Elemente jener Operation ist, durch die seine Seinsweise verändert werden wird; und genau darin besteht dann das christliche Geständnis.«2

Mich interessiert im Folgenden die Frage, ob in den Klugheitslehren der Frühaufklärung ein ähnlicher Grundzug zur Disziplinierung über das moralische Geständnis angelegt ist. Dass sich die Klugheitslehren des Spätbarock bzw. der Frühaufklärung von den antiken Weisheitstheoremen etwa Platons unterscheiden, ist freilich ein entscheidender Aspekt des Selbstverständnisses dieser Lehren, auf das noch genauer einzugehen ist. Welche Formen der Disziplinierung tatsächlich in diese ersten Beispiele moderner Ratgeberliteratur einflossen, und wie sich diese erklären, dies ist freilich noch zu erörtern. Die These wird dabei sein, dass es nicht die Idee der Pastoralmacht im foucaultschen bzw. nietzscheanischen Sinne ist, die diesem Prozess der Disziplinierung zugrunde liegt. Entscheidender ist vielmehr die Herkunft der Klugheitslehren aus der höfischen prudentia-Literatur der Renaissance und des Barock. Damit ging ein Prozess der Disziplinierung einher, der im Folgenden nicht

2

Michel Foucault: »Hermeneutik des Subjekts«, in: Ders.: Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982, hg. von Helmut Becker u.a., Frankfurt a.M. 1985, S. 3260, S. 60.

V ORFORMEN MODERNER RATGEBERLITERATUR

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über die Logik der Beichte, sondern der Transformation von Fremdzwang zu Selbstzwang verstanden werden soll, und der sich ausgesprochen schlüssig aus dem Wandel der prudentia-Lehre zur Klugheitslehre ableiten lässt. Während also die prudentia auch als eine ein aristokratisches Publikum adressierende Beratungsform zur Dominanz der sozialen Mitwelt zu verstehen ist, scheint sich in der Klugheit die Beratung auf die Beherrschung des eigenen Ichs zu fokussieren. Ziel der klugen Beratung ist nämlich letztlich die Idee der Wohlanständigkeit, und damit das genaue Gegenteil der in der prudentia-Literatur vermittelten und häufig sehr listigen Ratschläge. 1.

Der Begriff der Klugheit

Man geht in der Forschung seit Wilfried Barners Studie zur Barockrhetorik davon aus, dass die Klugheitslehren des 17. und 18. Jahrhunderts die politische Klugheit im Sinne von Niccolò Machiavellis Il Principe (1513) in eine bürgerliche »PrivatKlugheit« überführt haben.3 Dabei wird neben Christian Weise stets auf Christian Thomasius verwiesen, der in Deutschland wohl erste Philosoph, welcher eine solche Klugheitslehre entwickelte. 4 Im Unterschied zu den Fürstenspiegeln in der Tradition Machiavellis ist die Klugheitslehre des Thomasius an Balthasar Graciáns Oraculo manual y arte de prudencia von 1653 orientiert, der Begriff der Klugheit also aus dem Begriff der Prudentia abgeleitet. 5 Noch Gracián empfahl angesichts eines gesellschaftlichen Zustands, der große Ähnlichkeiten mit dem Naturzustand im Sinne Thomas Hobbes besitzt, eine Kunst der taktisch klugen Lebensführung, die auch vor der List nicht Halt macht. Und auch bei dem ersten Gracián-Übersetzer Daniel Casper von Lohenstein war das politische Handeln des Intriganten bzw. die Klugheit und List des Politikers am Hof nichts anderes als die praktische Konsequenz und das Pendant zur Spielhaftigkeit aller Dinge in der Welt. Das »allgemeine Heil« und das sittliche oder natürliche Recht können demnach in Konflikt geraten, wenn das weltgeschichtliche »Verhängnüs« dominiert, in welchem »Glück«, »Zeit« und »Klugheit« ihr »Spiel« treiben. 6 Dagegen verurteilte Thomasius die Arglistig-

3

Vgl. dazu: Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970, S. 135ff.

4

Georg Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tü-

5

Werner Schneiders: »Thomasius Politicus – Einige Bemerkungen über Staatskunst und

bingen 1989, S. 13ff. Privatpolitik in der aufklärerischen Klugheitslehre«, in: Norbert Hinske (Hg.): Halle: Aufklärung und Pietismus (Zentren der deutschen Aufklärung. Band 1. = Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Band 15.), Heidelberg 1989, S. 91-110. 6

Vgl.: Gerhard Spellerberg: »Barockdrama und Politik«, in: Daphnis 12 (1983), S. 127168.

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keit als »eine falsche Klugheit« bzw. eine »Betrügerey«, wie es 1705 in seiner Schrift Kurtzer Entwurff der politischen Klugheit heißt.7 Zugleich wird die Klugheit bei Thomasius von der Weisheit, also von der philosophischen Tradition etwa des Platonismus, der Stoiker und der Epikureer zu unterscheiden. Zwar haben sowohl Weisheit als auch Klugheit nach Thomasius »ihren Sitz nicht im Gehirne, sondern im Herzen«8. Während sich die Weisheit jedoch »allein auff das Gute« verstehe, so die Klugheit »zugleich auf das entgegen stehende Böse«. Anders gesagt: »Die Weisheit siehet mehr auf die Erlangung des Guten, die Klugheit mehr auf die Vermeidung des Bösen«9. Klugheit besteht demnach »entweder in Beurtheilung oder Ertheilung guten Raths«10. Sie wird zudem nicht durch Grundregeln, sondern durch »Übung und Exempel erlanget«. Ziel dieser Übungen ist es letztlich, im Anschluss an den Begriff des »decorum«, den Thomasius aus Ciceros de officiis entlehnte, eine für die Beherrschung der Affekte und die Gewinnung privaten Glücks dienliche Klugheitslehre zu entwickeln, deren Grundgedanke die »Wohlanständigkeit« ist.11 In seiner Studie Über den Prozess der Zivilisation betonte Norbert Elias mit Blick auf Graciáns Handorakel, dass die »Verhaltensregelungen, die sich im höfisch-aristokratischen Kreise auch bei den Erwachsenen noch ziemlich unmittelbar durch die Rücksicht auf andere Menschen, durch die Furcht vor anderen Menschen erhalten, in der bürgerlichen Welt dem einzelnen mehr als ein Selbstzwang eingeprägt«12 würden. Die Beratungskultur im Genre der Prudentia werde also letztlich von einer Idee des Fremdzwangs – Elias denkt dabei an die Beherrschung politischer Gegner à la Machiavelli oder auch Gracian – zunehmend durch ein Plädoyer für den Selbstzwang ersetzt, die »Überichbildung« sei in der bürgerlichen Welt »weit straffer und in vieler Hinsicht strenger«13. Man könnte freilich entgegen dieser These von Elias vom Zivilisationsprozess die Ausführungen des Thomasius als Versuch verstehen, angesichts einer von Machiavelli ausgehenden Pervertierung

7

Christian Thomasius: Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit, sich selbst und andern in allen Menschlichen Gesellschafften wohl zu rathen […]. Aus dem Lateinischen des Herrn Thomasii übersetzet, Franckfurt u. Leipzig 1713, S. 7-21.

8

Ebd., S. 7.

9

Ebd., S. 10.

10 Ebd., S. 21. 11 Christian Thomasius: Von der Kunst, vernünftig und tugendhaft zu lieben, oder Einleitung zur Sittenlehre, Halle 1706, S. 101. 12 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Zweiter Band. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a.M. 1992, S. 482. 13 Ebd., S. 480.

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antiker Klugheitslehren zu eben diesen antiken Anfängen wieder zurückzukehren. Und schließlich könnte man fragen: Ist die Idee des Ratgebens im Sinne der privatpolitischen Klugheit an die Genese der bürgerlichen Gesellschaft gebunden? Ist also der einstmals von Jürgen Habermas beschriebene »Strukturwandel der Öffentlichkeit«, in welchem im 18. Jahrhundert die »Innerlichkeit bürgerlichen Familienlebens« bzw. die »Privatsphäre im bürgerlichen Sinne«14 als neue soziale Welt einem zunächst konstant bleibenden Öffentlichkeitssinn der Aristokratie opponiert, wirkungsmächtiger Ausgangspunkt einer bis heute reichenden Ratgeberliteratur? Ich beginne mit der entscheidenden Begrifflichkeit: Gemeinhin ist prudentia mit Klugheit zu übersetzen und gilt neben Platos Tugenden wie Besonnenheit und Maßhalten oder den dianoethischen Tugenden des Aristoteles als eine der Kardinaltugenden.15 Diese Zuordnung der Prudentia zu den Kardinaltugenden findet sich in der Antike in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, also im Begriff der phronesis16, aber auch bei Cicero, dessen Lehre von den vier Kardinaltugenden aus der Schrift de officiis neben iustitia (Gerechtigkeit), fortitudo (Seelenstärke) und temperantia (Mäßigung, Selbstbeherrschung) die prudentia (Klugheit) an erster Stelle nennt. Dennoch geht man in der Forschung davon aus, dass sich gegenüber diesem eher auf das Geistlich-Sittliche gerichteten Modell der prudentia in der Neuzeit seit Bacon eine stärker auf die Taktiken des politischen Lebens bezogene Klugheitslehre entfaltete. Das Lexikon der Politik liefert als Beispiel dieser praktischen Klugheit insbesondere den Begriff der »Staatsräson«, also jenes in der italienischen Renais-

14 »Der städtische Adel freilich, besonders der für das übrige Europa maβgebende der französischen Hauptstadt, hält weiterhin ›Haus‹ und verpönt die Innerlichkeit bürgerlichen Familienlebens. Die Geschlechterfolge, zugleich Erbfolge der Privilegien, wird durch den Namen allein ausreichend garantiert; dazu bedarf es nicht einmal des gemeinsamen Hausstandes der Ehepartner, die oft genug ihr eigenes ›hôtel‹ bewohnen und sich zuweilen in der auβerfamilialen Sphäre des Salons häufiger treffen als im Kreis der eigenen Familie. Die maîtresse ist Institution und dafür symptomatisch, daβ die fluktuierenden, gleichwohl streng konventionalisierten Beziehungen des ›gesellschaftlichen Lebens‹ eine Privatsphäre im bürgerlichen Sinne nur selten erlauben. Verspielte Intimität, wo sie dennoch zustande kommt, unterscheidet sich von der dauerhaften Intimität des neuen Familienlebens. Diese hebt sich andererseits gegen die älteren Formen groβfamilialer Gemeinsamkeit ab, wie sie vom ›Volke‹ noch, besonders auf dem Lande, weit über das 18. Jahrhundert hinaus festgehalten werden und vorbürgerlich auch in dem Sinne sind, daβ sie sich der Unterscheidung von ›öffentlich‹ und ›privat‹ nicht fügen. « Vgl.: Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 107f. 15 Andreas Luckner: Klugheit, Berlin 2005. 16 Pierre Aubenque: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, Hamburg 2007.

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sance vor allem von Machiavelli erstmals theoretisierte »grundsätzliche Orientierungs- und Handlungsprinzip, welches die Erhaltung des Staates bzw. der staatlichen Autorität und/oder sogar deren Steigerung zur entscheidenden politischen Maxime erklärt. […]«17 Wie der Begriff der Staatsräson, so ist auch der darauf bezogene Begriff der Klugheit aus Machiavellis Il Principe von 1532 gewonnen, und er ist in diesem Sinne zu einem Synonym für eine politische Klugheitslehre, eine Strategie des »prudenter loco et tempore« geworden. Berühmt für dieses Verständnis von Klugheit ist etwa das XVIII Kapitel des principe, in welchem Machiavelli den idealen Fürsten als eine Mischung aus Fuchs und Löwen beschreibt und davor warnt, sich einzig auf die »Natur des Löwen« festzulegen. Ein kluger Fürst im Sinne des Fuchses, so erläutert Machiavelli an dieser Stelle, »kann und darf daher sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zum Nachteil gereicht und wenn die Gründe fortgefallen sind, die ihn veranlasst hatten, sein Versprechen zu geben. Wären alle Menschen gut, dann wäre diese Regel schlecht, da sie aber schlecht sind und ihr Wort dir gegenüber nicht halten würden, brauchst auch du dein Wort ihnen gegenüber nicht zu halten. Auch hat es noch nie einem Fürsten an rechtmäßigen Gründen gefehlt, um seinen Wortbruch zu verschleiern«.

18

Wie sehr sich die Klugheit seit Machiavelli und der von ihm ausgehenden Entwicklung von den universell gedachten Kardinaltugenden Ciceros und Aristoteles unterscheidet, dies hat der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler in seiner Studie zum Begriff der Staatsraison anhand zweier Emblemata verdeutlicht, die den Übergang vom 14. zum 16. Jahrhundert signifikant machen. 19 Der italienische Maler Ambrogio Lorenzetti schuf in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts diverse Altargemälde und Fresken, deren vielleicht berühmteste die allegorischen Darstellungen der Guten und der Schlechten Regierung im Palazzo Pubblico von Siena aus dem Jahre 1337 sind:

17 Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hg.): Lexikon der Politikwissenschaft: Theorien, Methoden, Begriffe, Bd. 2: N-Z, München 2002, S. 951. 18 Niccolo Machiavelli: Il Principe/Der Fürst, Stuttgart 1986, S. 137. 19 Herfried Münkler: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1987, S. 181ff.

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Palazzo Publico von Siena aus dem Jahre 1337

Quelle: http://www.jura.uni-mainz.de/kube/167.php

Die Gute Regierung wird von der großen sitzenden Gestalt mit Zepter und Schild personifiziert. Die Füße der »Guten Regierung« ruhen auf der sienesischen Wölfin (Gründungsmythos der Stadt Siena), über ihr schweben die drei christlichen Tugenden Glaube (fides), Liebe (caritas) und Hoffnung (spes). Zu ihren Seiten sitzen drei der vier weltlichen Kardinaltugenden, die Gerechtigkeit (iustitia), die Tapferkeit (fortitudo) und die Besonnenheit (temperantia; mit einer Sanduhr), ergänzt durch die Klugheit (prudentia), die Hochherzigkeit (magnanimitas) und den Frieden (pax). Lorenzetti zeigt prudentia also als eine gekrönte Frau, deren Blick sich dem in einem bärtigen Herrscher personifizierten Gemeinwohl zuwendet: Ausschnitt des Palazzo Publico

Quelle: http://www.jura.uni-mainz. de/kube/167.php

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Dagegen setzte Münkler die Darstellung der prudentia aus dem Emblematum liber des französischen Antiquitätensammler Jean-Jacques Boissard, welches aus dem Jahr 1588 bzw. 1593 stammt. Boissard überschrieb das der Klugheit gewidmete Emblem mit dem Spruch »Prudenter loco et tempore«, also: klug handeln entsprechend der Zeit und dem Ort. Klugheit ist hier keine von den äußeren Umständen abstrahierende, universell und ewig gültige Kardinaltugend mehr, sondern wird nunmehr – durchaus im Sinne Machiavellis – als Strategie der List und der Täuschung gedacht. Entsprechend ist hier die Schlange das Symbol der Klugheit, dieses trägt sie in der Rechten und tritt so einem Herrscher gegenüber, dem sie mit der Linken eine Maske reicht, das Zeichen der Täuschung und Verstellung: Emblematum liber von Jean-Jacques Boissard

Quelle: Jean-Jacques Boissard: Emblematum liber, Hildesheim: Georg Olms Verlag 1977, S. 42.

2.

Die prudentia bei Gracián

Vor diesem Hintergrund der Klugheit als einer Staatsraison entfaltet sich im spanischen Barock das Konzept der prudencia als einer Weltklugheit, als Ethos des klugen Weltmannes oder des Weltklugen, deren wichtigstes Dokument zweifellos Balthasar Graciáns von Schopenhauer übersetztes Handorakel und Kunst der Weltklugheit von 1647 bzw. 1655 darstellt. In diesem Handorakel dürfte die Skrupellosigkeit machiavellistischen Machtdenkens und die Mißachtung christlicher Ethik als eine Art Folie eine wichtige Rolle gespielt haben: Hofleben und Politik erscheinen im Handorakel geprägt durch Vorteilsnahme, Falschheit, Lüge und Betrug. Vor diesem Hintergrund wies Gracián der Klugheit einen neuen Ort im Funktionszusammenhang von Staat und Gesellschaft zu, bei welcher Selbsterkenntnis und Welter-

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kenntnis, Selbstbeherrschung und Weltbeherrschung im Vordergrund stehen. Anders als in der Staatsräson tritt im Handorakel die Technik klugen, aufmerksamen und berechnend politischen Verhaltens in den Dienst der Anstrengung, sich nicht beherrschen zu lassen. Voraussetzung dafür ist die richtige Einschätzung des Gegenübers, die Kunst des Sich-Anpassens, eine gesteigerte Wahrnehmung dessen, was den Untertanen bedrohen oder ihm zum Vorteil gereichen könnte. Kluge Ratschläge erteilt Gracián demnach für die Strategie der Selbsterhaltung und – behauptung einer Person, und zwar angesichts der Gefahren, die von der Welt als politischem Aktionsraum ausgehen, in dem divergierende Interessen aufeinanderprallen. Wie kann man in einer solchen Haifischbeckenwelt im praktischen Sinne überleben? Die insgesamt 300 knappen, aphorismushaften Sentenzen der Weltklugheit sind in diesem Sinne also eine Ratgeberliteratur, die letztlich auf jene »Verhaltenslehre der Kälte« abzielt, wie sie Helmut Lethen in seiner berühmten Studie zur Zwischenkriegsgesellschaft der Weimarer Republik bzw. der Neuen Sachlichkeit erarbeitete. Setzt man den Überschriften dieser graciánschen Sentenzen stets ein »Man sollte« voran, dann lauten seine weltklugen Maximen etwa: Man sollte seine Mitmenschen »über sein Vorhaben in Ungewissheit lassen« (§3), man sollte eine »Abhängigkeit anderer begründen« (§5), man sollte »sich vor dem Sieg über Vorgesetzte hüten« (§7), man sollte »mit dem umgehen, von dem man lernen kann«, man sollte »bald aus zweiter, bald aus erster Absicht handeln«, man sollte sich »abwechseln in der Art, zu verfahren«, man sollte »nicht unter übermäßigen Erwartungen auftreten«, man sollte »ein Mann von willkommenen Kenntnissen sein« (§22), man sollte »Winke zu verstehen wissen« (§25), man sollte »die Daumschraube eines jeden finden« (§26), man sollte »die Glücklichen und die Unglücklichen kennen« (§31), »sich zu entziehen wissen«, »Stichelreden kennen und anzuwenden verstehen« (§37), »nie übertreiben« (§41), »denken wie die wenigsten und reden wie die meisten« (§43), »seine Antipathie bemeistern« (§46), »nie aus der Fassung geraten« (§52), »den glücklichen Ausgang im Auge haben« (§66), oder »sich nicht gemeiner Launenhaftigkeit hingeben« (§69). Ein Beispiel wäre etwa die Nr. 17: »Abwechselung in der Art zu verfahren: Man verfahre nicht immer auf gleiche Weise, damit man die Aufmerksamkeit, zumal die der Widersacher, verwirre: nicht stets aus der ersten Absicht; sonst werden jene diesen einförmigen Gang bald ausgelernt haben, und uns zuvorkommen, oder gar unser Thun vereiteln. Es ist leicht den Vogel im Fluge zu treffen, der ihn in grade fortgesetzter Richtung, nicht aber den, der ihn in gewundener nimmt. Aber auch aus der zweiten Absicht darf man nicht immer handeln: denn schon beim zweiten Male kennen die Gegner die List. Die Bosheit steht auf der

168 | B URKHARD MEYER -S ICKENDIEK Lauer, und großer Schlauheit bedarf es, sie zu täuschen. Nie spielt der Spieler die Karte aus, welche der Gegner erwartet, noch weniger die, welche er wünscht.« 20

Oder die Nr. 26: »Die Daumschraube eines jeden finden: Dies ist die Kunst, den Willen Andrer in Bewegung zu setzen. Es gehört mehr Geschick als Festigkeit dazu. Man muß wissen, wo einem Jeden beizukommen sei. Es giebt keinen Willen, der nicht einen eigentümlichen Hang hätte, welcher nach der Mannigfaltigkeit des Geschmacks verschieden ist. Alle sind Götzendiener, Einige der Ehre, Andre des Interesses, die Meisten des Vergnügens. Der Kunstgriff besteht darin, daß man diesen Götzen eines Jeden kenne, um mittelst desselben ihn zu bestimmen. Weiß man, welches für Jeden der wirksame Anstoß sei, so ist es als hätte man den Schlüssel zu seinem Willen. Man muß nun auf die allererste Springfeder, oder das primum mobile21 in ihm, zurückgehen, welches aber nicht etwa das Höchste seiner Natur, sondern meistens das Niedrigste ist: denn es giebt mehr schlecht als wohlgeordnete Gemüther in der Welt. Jetzt muß man zuvörderst sein Gemüth bearbeiten, dann ihm durch ein Wort den Anstoß geben, endlich mit seiner Lieblingsneigung den Hauptangriff machen; so wird unfehlbar sein freier Wille schachmatt.«22

Entscheidender Unterschied zu den nun folgenden Überlegungen des Thomasius ist zweifellos Graciáns grundsätzlich pessimistische Auffassung der menschlichen Natur. Eine hobbessche Anthropologie gibt bei Gracián den Hintergrund ab für seine Verhaltensregeln, deren Ziel es ist, den als Einzelnen adressierten klugen Mann auf dem Theater des Lebens bestehen zu lassen. Was seine Klugheitsratschläge lehren, ist freilich nicht nur die höfische Verstellung und Heuchelei, sondern immer auch die Höflichkeit und Diskretion trotz der Einsicht in die Schlechtigkeit der menschlichen Welt. Aber es dominieren stets auch die Strategien des listigen Fremdzwangs, wie eben im Aphorismus über die Daumenschrauben. Verbreitung fand das »HandOrakel« neben einer sehr fehlerhaften Übersetzung eines Leipziger Gelehrten durch die französische Übersetzung des Amelot de la Houssaye, die den Titel »L’Homme de Cour« trägt. Christian Thomasius sah in dieser Übersetzung allerdings eine regelrechte Verkehrung der Auffassungen Graciáns, da es sich doch gar nicht um ein

20 Balthasar Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit. Aus dessen Werken gezogen von D. Vincencio Juan de Lastanosa und aus dem spanischen Original treu und sorgfältig übersetzt von Arthur Schopenhauer, mit einem Nachwort von Arthur Hübscher, Stuttgart 2009, S. 12. 21 Das erste Bewegliche nach Aristoteles. 22 Ebd., S. 16f.

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Buch über den Hofmann handle, sondern um Regeln, die von Personen sämtlicher Stände in ihrem gesellschaftlichen Leben zu beachten seien. 3.

Von der höfischen prudentia zur Privatklugheit: Thomasius und Gracián

Für das Wintersemester 1687/88 kündigte der damals 32 jährige Jurist Christian Thomasius an der Leipziger Universität seine wohl berühmteste Vorlesung in deutscher Sprache an, deren Gegenstand die Lebensregeln des Gracián sein sollten. Der Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? orientiert sich also an Graciáns »Grund-Reguln / Vernünfftig / klug und artig zu leben« (Oráculo manual y arte de prudencia, 1647). Thomasius entwickelt in dieser Vorlesung das Ideal eines vollkommen weisen Mannes, »den man in der Welt zu klugen und wichtigen Dingen brauchen kann«, und der »honnêteté, Gelehrsamkeit / beauté d’esprit, un bon goût und galanterie« besitze. Deutlich und unmissverständlich distanziert sich Thomasius von der zeitgenössischen Kritik an der Übernahme französischer Lebensart im Namen altdeutscher Sitten. Denn schließlich sei die Nachahmung der Franzosen an sich nicht kritikwürdig, zumal das menschliche Verhalten sich ja ändere. Interessant ist dabei das Argument, warum man die Überlegenheit der Franzosen auf vielen Gebieten anerkennen müsse: »ihre ohnerzwungene ehrerbietige Freyheit ist geschickter sich in die Gemüther der Menschen einzuschleichen als eine affectirte bauerstoltze gravität«. Das vielfach zitierte französische Ideal des »honnête homme«, des »homme savant, d’un bel esprit, de bon goût« und des »homme galant« ist hier also auch vor dem Hintergrund der graciánschen Weltklugheit als nachahmenswerte Form der Geschicklichkeit verstanden. Entsprechend ist es vor allem die Höflichkeit, die Thomasius an der französischen Kultur schätzt und – wiederum vor dem Hintergrund graciánscher Weltklugheit – in positiver Form als Galanterie und Politesse beschreibt. Klugheit und Galanterie sind hier also eng verwandt, besteht die Galanterie doch vor allem darin, »dass man wohl und anständig zu leben, auch geschickt und zu rechter Zeit zu reden wisse, dass man seine Lebens-Art nach dem guten Gebrauch der vernünfftigen Welt richte, dass man niemands einige grob- und Unhöffligkeit erweise, dass man denen Leuten niemals dasjenige unter Augen sage, was man sich selbst nicht wollte gesagt haben, dass man in Gesellschafft das grosse Maul nicht allein habe, und andere kein Wort aufbringen lasse, dass man bei den Frauenzimmer nicht gar ohne Rede sitze als wenn man die Sprache verlohren hätte, oder das Frauenzimmer nicht eines Worts würdig achte; hingegen auch nicht allzu kühne sey, und sich mit selbigen, wie gar vielfältig geschiehet, zu gemein mache«. 23

23 Christian Thomasius: Von Nachahmung der Franzosen, Halle 1687, S. 19.

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Zweifellos kontrastiert Thomasius die rohen Barocksitten im Deutschland des 17. Jahrhunderts mit der gehobenen Bürger- und Hofkultur im Frankreich des gleichen Zeitraums.24 Wenngleich die für alle Stände verbindliche Lebensform die höfische Lebensart sei, so findet sie Thomasius in Deutschland allenfalls im akademischen Milieu der Universität umgesetzt. Jenes in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Europa aufgekommene Mode- und Stilideal der Galanterie gibt es also für Thomasius nur als eine Art Kulturimport, denn es hat seinen Ursprung und genuinen Ort in der höfischen Kultur des französischen Absolutismus. Dies zeigt schon die zentrale Formel der Galanterie: Das »gewisse Etwas« ist eben bezeichnet als das französische »Je ne sais quoi (weiß nicht was)«, das einen Menschen oder eine Sache anziehend und galant mache. Thomasius bezieht sich damit auf die 127. Maxime der französischen Übersetzung des graciánschen Handorakels, in welcher Gracián das »Je ne sais quoi« als eine spezifisch höfisch-aristokratische Form der Vollendung, der Leichtigkeit und des Charmes definiert.25 Thomasius hingegen deutet die Galanterie als »etwas gemischtes«, welches »aus dem je ne scay quoy, aus der guten Art etwas zuthun, aus der manier zu leben / so am Hoffe gebräuchlich ist / aus Verstand / Gelehrsamkeit / einen guten judicio, Höfflichkeit und Freudigkeit zusammengesetzet werde«. 26 Die hier zutage tretende Differenz – Vollendung, Leichtigkeit und Charme bei Gracián, Verstand, Gelehrsamkeit, Höflichkeit und Freudigkeit bei Thomasius – führt wohl zwangsläufig zu einer Distanzierung im weiteren Verlauf seines Werkes.27 Schon im Discours betonte Thomasius, die insgesamt 300 Maximen des Gracián ließen sich zu etwa sechs oder acht Grundregeln zusammenfassen, was sich auch als leiser Seitenhieb lesen ließe. Das Spätwerk ist jedoch weitaus kritischer, wenn Thomasius im Summarischen Entwurff der Grundlehren, die einem Studioso Juris zu wissen und auf Universitäten zu lernen nöthig von 1699 etwa meint, »daß man mit leichter Mühe ein Buch machen könne / dessen Maximen wo nicht alle /

24 Ebd., S. 151f. 25 Vgl. zur Galanterie generell: Jörn Steigerwald: »Um 1700, Galanterie als Konfiguration von Préciosité, Libertinage und Pornographie«, in: Thomas Borgstedt/Andreas Solbach (Hg.): Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle, Dresden 2001, S. 275-304. 26 Vgl.: Christian Thomasius eröffnet Der Studierenden Jugend zu Leipzig in einem Discours, Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen sollte? Von 1687, S. 14-16 und 45-50. Nachdruck: Thomasius, Christian: Über die Begriffe »galant« und »galant homme«, in: Conrad Wiedemann (Hg.): Der galante Stil 1680-1730, Tübingen 1969, S. 1. 27 Sebastian Neumeister: »Bildungsideal Barock: Christian Thomasius liest Gracián«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge 52/1 (2002). S. 39-47.

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doch die meisten denen Maximen des Gracians schnurstracks widersprechen.« 28 Umgesetzt ist dieser Widerspruch im 1707 erschienenen Werk Kurtzer Entwurff der politischen Klugheit, sich selbst und andern in allen menschlichen Gesellschaften wohl zu rathen und zu einer gescheiden Conduite zu gelangen, das 1705 zunächst in Latein unter dem Titel Primae lineae de jureconsultorum prudentia consultatoria erschien. Hier ist der Focus nicht länger auf die Galanterie, sondern eben die Klugheit gelegt, die Thomasius zudem von der Weisheit der antiken Philosophie unterscheidet: »Die Weisheit beziehet sich allein auf das Gute, die Klugheit aber zugleich auf das entgegen stehende Böse«29, genauer: Die Weisheit siehet mehr auf die Erlangung des Guten. Die Klugheit aber mehr auf die Vermeidung des Bösen. Noch präziser heißt es dann im Folgenden: »Die Klugheit bestehet entweder in Beurteilung oder Erteilung guten Raths«, wobei damit die vielleicht deutlichste Differenz zur aristotelischen phronesis benannt ist, die ohne derart konkrete Ratschläge auskommt. Dagegen gibt es bei Thomasius sowohl eine beurteilende als auch eine ratgebende Klugheit. Und im Unterschied zum Begriff der Galanterie aus dem Discours gilt nun: Zur Lehre der Klugheit braucht man Regeln und Exempel. (II, §19). Das Buch handelt in 11 Kapiteln grundlegend von der Klugheit, die u. a. unterschieden wird in die Klugheit, Rath zu geben (II. Capitel), und diejenige, sich selbst zu rathen (IV. Capitel). Es gibt eine Klugheit, sich im täglichen Umgang wohl auffzuführen (V. Capitel), eine Klugheit »in auserlesener Conversation mit guten Freunden« (VI. Capitel), eine »Klugheit eines Haus-Vaters« (VII. Capitel), eine Klugheit in bürgerlicher Gesellschaft (VIII. Capitel) und schließlich eine »Klugheit guten Rath zu suchen, und andern zu geben« (IX. Capitel). Wo Gracián Strategien für den Hof an die Hand gab, da erörtert Thomasius die Regeln der Klugheit im Rahmen einer eher bürgerlichen Geselligkeit; geht Gracián in seinen Aphorismen ohne explizite Methode vor, so erörtert Thomasius umfangreich die Bedingungen der Möglichkeiten des Ratgebens, d. h.: Weder ein lasterhafter Mensch noch derjenige, »der sich selbst nicht zu rathen weiß«, sind als Ratgeber geeignet. Zudem stellt Thomasius die Frage, wie der beschaffen sein müsse, der andere um Rath fraget, worüber man sich Rath holen solle, oder ob man dem gegebenen Rath folgen müsse. Aber vor allem aus einem Grund lässt sich der Kurtze Entwurff als Einlösung jenes 1699 gemachten Vorsatzes lesen, den »meisten denen Maximen des Gracians schnurstracks zu widersprechen«. Entscheidend ist, dass bei Thomasius die rathgebende Klugheit von der Arglist im Sinne der Weltklugheitslehren Graciáns unterschieden wird. »Dass die Klugheit weise Thaten zu befördern und närrische zu verhindern, die Arglistigkeit aber närrische zu befördern und weise zu verhindern

28 Thomasius: Summarischer Entwurff, S. 134. 29 Thomasius: Kurtzer Entwurff der politischen Klugheit, S. 7.

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trachtet (II, §42), ist beispielsweise die präzise Umkehr der Überlegungen Graciáns, wie etwa die Daumenschrauben seiner Mitmenschen zu finden seien. Zwar muss auch Thomasius eingestehen: »Arglistigkeit und Klugheit kommen darin überein, dass sie beyderseits geschickte und sichere Mittel zur Erlangung ihres Endzwecks zu ergreifen wissen. (II, § 44). Dass man aber beispielsweise im Umgang mit Feinden sich der Kunst der Verstellung zu bedienen habe, dies ist bei Thomasius nur die zweitbeste Lösung, d. h. eine »absonderliche Regel«, die im Entwurff freilich auch genannt wird. Aber davor kommt die Maxime: »Fahre du nur fort gutes zu thun, so wirst du [die Feinde] entweder entwaffnen, wenn sie aus Feinden Freunde werden, dadurch denn zugleich ihre Anzahl ohne Blut-Vergießen vermindert wird; oder du wirst ihnen damit den größten Verdruß thun, wenn sie in Feindschafft mit dir verharren.«30

4.

Staatsklugheit und Privatklugheit: Konsequenzen einer Genealogie

Was nun angesichts der langen Vorgeschichte der prudentia erstaunt, das ist die historische Verortung, welche Thomasius seiner eigenen Klugheitslehre zukommen lässt. Denn nach Thomasius sei »auf hohen Schulen von der Klugheit bisher nichts gelehret worden«, was seinerseits wiederum daran liege, dass die »Lehre von der Klugheit [...] dem Staat der Päbstischen Clerisey nicht vorträglich« gewesen sei. Begriff demnach die »Päbstliche Clerisey« Klugheit nur als »Leichtgläubigkeit und blinden Gehorsam«, so ging die »große Reformation« mit Luther »nicht so wohl auf den Willen, als auf den Verstand, daher auch die Ratschläge der protestirenden Geistlichen auch zu der Klugheit nicht beytragen.« Weil vor allem »niemand des Aristoteles Lehren überschreiten durfte«, sei die Klugheit auch in der Folge nicht gelehrt worden. Wie also ist diese Schrift zur ›Politischen Klugheit‹ in ihrem historischen Stellenwert einzuschätzen? Sicherlich kann man sagen, dass Thomasius als erster die prudentia-Lehre sowie den Begriff des Politischen vollständig von der Doktrin der Staats-Klugheit im Sinne Machiavellis löste. Ein Vergleich mit dem großen Polyhistor des Barock, Hermann Conring, macht dies deutlich: Noch für Conring, dessen Klugheitslehre eng an Aristoteles und an Machiavelli orientiert war, meinte die prudentia civilis »alles, waß zu regierung undt conservirung eines Fürstenthumbs« nötig ist. Conrings Arbeit über die prudentia civilis von 1662, aus

30 Thomasius: Entwurff, S. 121. Ein weiteres Argument gegen Gracián ist zudem ein stilistisches, nämlich die Kritik an der vermeintlichen »politischen Regel, dass man die Dunckelheit affectiren solle«. Sie ist zum einen auf den Stil des Handorakels, zum anderen aber wohl auf die verschiedenen Strategien der List und der Verstellung zu beziehen, die einen zentralen Bestandteil der Weltklugheitslehre ausmachen.

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der Thomasius im Kurtzen Entwurff der politischen Klugheit seitenweise zitiert, scheint ihm also dennoch keine Vorlage seiner eigenen Klugheitslehre gewesen zu sein. Zugleich aber muss man auch betonen, dass die in Graciáns Handorakel entfaltete Strategie der Weltklugheit im Sinne einer höfischen bzw. weltmännischen Prudentia für Thomasius den Weg von der politischen Klugheit hin zur PrivatKlugheit eindeutig vorbereitete. Dennoch aber scheint Gracián im Selbstverständnis des Thomasius kein wirklicher Bezugsautor seiner eigenen Privat-Klugheit gewesen zu sein. Dieses Selbstverständnis des Pioniers findet insbesondere in Christoph August Heumanns Der politische Philosophus von 1714 seine Bestätigung. Ganz im Sinne seines Lehrers Thomasius fragt auch Heumann, ob es denn richtig sei, »Regenten und Staats=Ministros, klug zu machen« und für das eigene Wohlsein »keine rechtschaffene Sorge« zu tragen. Heumann unterscheidet zwischen politicam privatam und politicam publicam: »Jene will ich die Hauß-Politic, diese aber die Staatspolitic nennen.«31 Was er präsentiere, sei der Sache nach neu, der Versuch nämlich einer Philosophie des »gemeinen Lebens«. Es gebe eine übergroße Zahl von Werken zur »Staats-Klugheit«, zur »Politica publica«, die sich »mit der Wohlfahrt einer gantzen Republic« beschäftigt, kaum eines aber befasse sich mit der »Politica privata«: Erst Christian Thomasius habe für dieses neue Genre »glücklich die Bahn gebrochen«.32 Ähnlich betont gut 15 Jahre später Julius Bernhard von Rohr (16881742) in seiner Einleitung zur Ceremonial=Wissenschaft der Privatpersonen von 1728, dass sich die »Privat-Klugheit« erst seit Thomasius allmählich durchzusetzen vermochte, die politische Diskussion sei geprägt durch dasjenige, was man als »Staats-Klugheit« bezeichnete. Wenn Christoph August Heumann in seiner Schrift Der politische Philosophus zum Genre der politicam privatam Schriften zählt, »die vom decoro, von der Kinderzucht, ingleichen vom Ackerbau handeln«33, dann bekommen wir eine ungefähre Vorstellung vom Gegenstandsbereich dieser privaten Klugheit. Hatte demnach die Praxis der Beratung und des Ratgebens im Genre der neuzeitlichen Fürstenspiegel ihren Ort im staatspolitischen Verhalten, so bezieht sie sich an der Wende zum 18. Jahrhundert, zunächst bei Christian Weise, dann aber vor allem bei Thomasius auf einen nichtstaatlichen, vorwiegend außerfamiliären Bereich, den man im frühen 18. Jahrhundert eben als »privat« bezeichnete. Heute würde man die von Thomasius

31 Christoph A. Heumann: Der Politische Philosophus Das ist, Vernunfftmäßige Anweisung Zur Klugheit Jm gemeinen Leben/Aufgesetzet Von Christoph August Heumann, Des Fürstl. Seminarii Theologici zu Eisenach Inspectore Beteiligt, Franckfurt/Leipzig 1714, Vorrede (ohne Seitenangabe). 32 Ebd. 33 Ebd.

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gemeinte Form beratender Klugheit wohl eher als »vorpolitisch« charakterisieren, wurde in dieser Zone des »Privaten« doch auch ein Verhalten erprobt, das im Idealfall politisch-staatlich wirksam werden sollte. Nach Heinz Mohnhaupt, Verfasser einer umfangreicher Studie über die Prudentia Legislatoria, also die Gesetzgebungsklugheit aus dem 17. und 18. Jahrhundert, lassen sich daher durchaus gemeinsame Schwerpunktsetzungen in den diversen prudentia-Lehren im 17. und 18. Jahrhundert ausmachen: Es gehe sowohl in der Privat- wie auch in der Staatsklugheit um leiten, führen, vorausschauen, handeln, entscheiden, beurteilen, beraten, um Gesetzgebung, um Praxis, um Gut und Böse.34 Der Freiburger Literaturwissenschaftler Wolfram Mauser betonte jedoch zu Recht, dass das zentrale Stichwort der PrivatKlugheit bei Thomasius dasjenige des Vertrauens sei, welches Thomasius der unter dem Stichwort der »Arglistigkeit« subsumierten Weltklugheitslehre des Gracián entgegengesetzt habe.35 5.

Fremdzwang und Selbstzwang: Das Beispiel der Scham

In eine andere Richtung ginge freilich meine eingangs zitierte Vermutung, dass sich die Klugheitslehre des Thomasius auch als Indikator der Zivilisationstheorie von Elias, als Dokument des historischen Übergangs vom Fremdzwang zum Selbstzwang lesen lässt. Indikator eines solchen Übergangs ist meines Erachtens die für die Privatklugheit so zentrale decorum-Lehre des Thomasius, die aus Ciceros de officiis stammt und von Thomasius mit dem Begriff der Wohlanständigkeit übersetzt wurde.36 Die These von Elias, nach welcher die »Maximen des Gracian« sowie »die gesamte höfische Verhaltenslehre dem bürgerlich-mittelständischen Betrachter als mehr oder weniger ›amoralisch‹ oder zum mindesten als ›peinlich realistisch‹ erscheinen«, lässt sich gerade mit Blick auf das Hauptwerk des Thomasius, die prudentia consultatoria, leicht bestätigen. Wie verwandt dessen Denken mit demjenigen von Norbert Elias ist, dies mag abschließend das folgende Zitat aus Thomasius’ 1692 veröffentlichter Schrift Von der Kunst vernünftig und tugendhaft zu lieben verdeutlichen. Unter Abschnitt 79 heißt es da genauer:

34 Heinz Mohnhaupt: »Prudentia-Lehren im 17. und 18. Jahrhundert«, in: Mario Ascheri u.a. (Hg.): »Ins Wasser geworfen und Ozeane durchquert.« Festschrift für Knut Wolfgang Nörr, Köln 2003, S. 620. 35 Wolfram Mauser: »Ich lasse den Freund dir als Bürgen«, Das Prinzip ›Vertrauen‹ und die Freundschaftsdichtung des 18. Jahrhunderts, in: Ute Pott (Hg.): Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen, Göttingen 2004. S. 15f. Vgl. auch: Wolfgang Mauser: Konzepte aufgeklärter Lebensführung, S. 29-35. 36 Klaus-Dieter Eichler: »Klugheit und Decorum – Thomasius und das Problem der Relativität des Ethos«, in: Karol Bal/Volker Caysa/Pirmin Stekeler-Weithofer (Hg.): Philosophie und Regionalität, Wrocław 1999, S. 65-78.

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»So ist auch endlich aus der Einführung des Unterscheids der Stände / so wohl auch aus denen unterschiedlichen Graden der Vortrefflichkeit des Menschen / und aus der dem Menschen eingepflanzten Geselligkeit eine Begierde entstanden / daß die Geringeren die Oberern und vortrefflichern hochgeachtet / und diese ihre Hochachtung zu erweisen nicht allein freywillig viel äusserliche Zeichen erfunden / durch ihr Thun und Lassen dieselben zu erkennen zu geben / sondern auch freywillig der obern und vortrefflichern Menschen ihr Thun und Lassen zu imitiren angefangen / welches man eine Ehrbezeigung / Höfligkeit / Complaisance, u.s.w. nennen kann / woraus ein absonderlich Wesen / das die Lateiner Decorum nennen / entstanden / auch alle Schamhafftigkeit daher ihren Ursprung nimmet.« 37

Vor dem Hintergrund des Übergangs von der politischen zur privaten Klugheit ist diese hier beschriebene Genese der Scham freilich ausgesprochen signifikant. Denn offenbar liegt dem Begriff des decorum, den Thomasius aus Ciceros de officiis entlehnte, eine für die Beherrschung der Affekte und die Gewinnung privaten Glücks dienliche Klugheitslehre zugrunde, deren Grundgedanke die »Wohlanständigkeit«, und deren Effekt die hier beschriebene »Schamhafftigkeit« ist. Ziel des decorum als einer »Mittel-Strasse« im Sinne des Cicero soll es also sein, dass sich der von Thomasius neu theoretisierte private politicus »zwischen ungezähmter Unverschämtheit und bauerhaffter Schamhafftigkeit«38 bewege. Diese Kultivierung einer »Schamhafftigkeit« im Namen des decorum ist aber auch vor dem Hintergrund des Übergangs von staatspolitischer zu privatpolitischer Klugheit zu verstehen. Die decorum-Lehre steht also auch im Kontext eines von Thomasius kritisch diskutierten Sprichwortes: »Politicus debet esse sine religione, sine pudore, & sine uxore«, also: Der wahre Politiker solle ohne Religion, Scham und Ehe auskommen. Der Kommentar des Thomasius zu diesem Sprichwort ist als eine Art Einschränkung zu verstehen: »Ein Politicus soll nicht unverschämt, aber auch nicht allzuschamhafftig seyn, noch weniger etwas thun, das ihn beschämen könne.« Ganz im Sinne seiner Einwände gegen die listige Staatsräson Graciáns bzw. Lohensteins verbannt Thomasius also die unverschämte List aus dem Spektrum politischen Handelns: Man solle als Politiker schlichtweg nichts tun, was die eigene Person beschämen könne. Dagegen heißt es bei dem Thomasius-Schüler Christoph August Heumann in dessen bereits zitiertem Der politische Philosophus: »Vors andere muß

37 Christian Thomasius: Von der Kunst vernünftig und tugendhaft zu lieben / Als dem einzigen Mittel zu einem glückseeligen / galanten und vergnügten Leben zu gelangen; oder Einleitung zur Sittenlehre / Nebst einer Vorrede / In welcher unter andern der Verfertiger der curiösen Monatlichen Unterredungen freundlich erinnert und gebeten wird / von Sachen die er nicht verstehet / nicht zu urtheilen / und den Autorem dermahleinst in Ruhe zu lassen, Halle o. J. 1692, S. 29. 38 Thomasius: Kurtzer Entwurff der politischen Klugheit, S. 125.

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ein Politicus seyn sine pudore, das ist / er muß nicht furchtsam oder leutscheu/ sondern großmüthig und kühne seyn.«39 Dies aber bedeutet nun wiederum bei Heumann, ganz entgegen der Einschränkung seines Lehrers Thomasius: Ein Politiker »muß können simulieren und dissimulieren und, wenn er eine Staats- und Notlüge redet, nicht roth werden«. 40 Dies entspricht durchaus dem Titelbild seiner Schrift, welches der Spruch ziert: »Seyd klug wie die Schlangen und ohne falsch wie die Tauben.« Die Fragen, welche es zu diskutieren gilt, wären also: Ist der Übergang von der staatspolitischen zur privatpolitischen Klugheit auch als ein Übergang von der Idee des Fremdzwangs zur Idee des Selbstzwangs zu verstehen? Geht gar die von Thomasius diskutierte Schamhafftigkeit logisch aus diesem Übergang hervor, ist also der Übergang auch als Genese einer »affektuellen Affektkontrolle« im Sinne von Elias interpretierbar? Und: Welche Konsequenzen hätte eine solche Genealogie für unser heutiges Verständnis von Ratgeberliteratur, als deren frühe Variante in der Epoche zwischen Spätbarock und Frühaufklärung zweifellos die Lehre von der Klugheit bzw. von der prudentia gelten muss? Begreifen wir dies einfach als offene Fragen.

L ITERATUR Aubenque, Pierre: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, Hamburg 2007. Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970. Duttweiler, Stefanie: »Erkenne Dich selbst und finde dein Glück, Ratgeberliteratur als Anleitung privater Selbstoptimierung«, in: Interesse. Soziale Information 2 (2008), S. 1-8. Duttweiler, Stefanie: »Professionalisierung von Orientierungswissen? – Lebenshilferatgeber als Experten der Lebensführung«, in: Karl-Siegbert Rehberger (Hg.): Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede, Verhandlungsband des 32. Kongress für Soziologie, Frankfurt a.M./New York 2006, S. 3192-3201. Eichler, Klaus-Dieter: »Klugheit und Decorum – Thomasius und das Problem der Relativität des Ethos«, in: Karol Bal, Volker Caysa und Pirmin StekelerWeithofer (Hg.): Philosophie und Regionalität (Acta Universitatis Wratislaviensis, Band 2152.), Wrocław 1999, S. 65-78. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Zweiter Band. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a.M. 1992.

39 Heumann: Der Politische Philosophus, Kap. 21. 40 Ebd.

V ORFORMEN MODERNER RATGEBERLITERATUR

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Foucault, Michel: »Hermeneutik des Subjekts«, in: Ders. Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982, hg. von Helmut Becker u.a., Frankfurt a.M. 1985, S. 32-60. Gracián, Balthasar: Handorakel und Kunst der Weltklugheit. Aus dessen Werken gezogen von D. Vincencio Juan de Lastanosa und aus dem spanischen Original treu und sorgfältig übersetzt von Arthur Schopenhauer, mit einem Nachwort von Arthur Hübscher, Stuttgart 2009. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990. Heumann, Christoph A.: Der Politische Philosophus Das ist, Vernunfftmäßige Anweisung Zur Klugheit Jm gemeinen Leben/Aufgesetzet Von Christoph August Heumann, Des Fürstl. Seminarii Theologici zu Eisenach Inspectore Beteiligt, Franckfurt; Leipzig; [Halle] 1714. Luckner, Andreas: Klugheit, Berlin 2005. Machiavelli, Niccolo: Il Principe/Der Fürst, Stuttgart 1986. Mauser, Wolfram: »Ich lasse den Freund dir als Bürgen«, Das Prinzip ›Vertrauen‹ und die Freundschaftsdichtung des 18. Jahrhunderts, in: Ute Pott (Hg.): Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen, Göttingen 2004. S. 11-20. Mohnhaupt, Heinz: »Prudentia-Lehren im 17. und 18. Jahrhundert«, in: Mario Ascheri u.a. (Hg.): »Ins Wasser geworfen und Ozeane durchquert.« Festschrift für Knut Wolfgang Nörr, Köln 2003, S. 617-632. Münkler, Herfried: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1987. Neumeister, Sebastian: »Bildungsideal Barock: Christian Thomasius liest Gracián«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge 52/1 (2002). S. 39-47. Nohlen, Dieter/Schultze, Rainer-Olaf (Hg.): Lexikon der Politikwissenschaft: Theorien, Methoden, Begriffe, Band 2: N-Z, München 2002. Schneiders, Werner: »Thomasius Politicus – Einige Bemerkungen über Staatskunst und Privatpolitik in der aufklärerischen Klugheitslehre«, in: Norbert Hinske (Hg.): Halle: Aufklärung und Pietismus, Heidelberg 1989. S. 91-110. Spellerberg, Gerhard: »Barockdrama und Politik«, in: Daphnis 12 (1983), S. 127168. Stanitzek, Georg: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tübingen 1989. Steigerwald, Jörn: »Um 1700, Galanterie als Konfiguration von Préciosité, Libertinage und Pornographie«, in: Thomas Borgstedt/Andreas Solbach (Hg.) Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle, Dresden 2001, S. 275-304. Thomasius, Christian: Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit, sich selbst und andern in allen Menschlichen Gesellschafften wohl zu rathen, […]. Aus dem Lateinischen des Herrn Thomasii übersetzet, Franckfurt u. Leipzig 1713.

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Thomasius, Christian: Summarischer Entwurff der Grundlehren, die einem Studioso Juris zu wissen, und auff Universität zu lernen nötig […], Halle 1699. Thomasius, Christian: Über die Begriffe »galant« und »galant homme«, in: Conrad Wiedemann (Hg.): Der galante Stil 1680-1730, Tübingen 1969. Thomasius, Christian: Von der Kunst vernünftig und tugendhaft zu lieben/Als dem einzigen Mittel zu einem glückseeligen/galanten und vergnügten Leben zu gelangen; Oder Einleitung zur Sittenlehre/Nebst einer Vorrede/In welcher unter andern der Verfertiger der curiösen Monatlichen Unterredungen freundlich erinnert und gebeten wird/von Sachen die er nicht verstehet/nicht zu urtheilen/und den Autorem dermahleinst in Ruhe zu lassen, Halle 1692. Thomasius, Christian: Von Nachahmung der Franzosen, Halle 1687. Thomasius, Christian: Von der Kunst, vernünftig und tugendhaft zu lieben, oder Einleitung zur Sittenlehre, Halle 1706.

Der Berater als politische Figur der Gegenwart M ANFRED S CHNEIDER

1. Es lässt sich mit Gründen behaupten, dass die Beratung und das Politische synonym sind. Sie trennt allenfalls ein Zeitintervall. Die römische Redekunst beschreibt die Deliberation als Vorspiel der politischen Entscheidung. Nach Quintilians Bestimmung bedenkt die Beratung das Zukünftige durch Rückgriff auf Vergangenes: »ergo pars deliberativa, que eadem suasoria dicitur, de tempore futuro consultans quaerit etiam de praeterito. officiis constat duobus sudendi ac dissuadendi.«1 Das sind ihre beiden Zeitaspekte: Für die in das Zukünftige ausgelegte Entscheidung bringt sie Beispiele aus der Vergangenheit. Eine zweite Differenz teilt die Beratung in die Performativa Zuraten oder Abraten. Das Politische selbst würde sich auf die beiden Register Raten und Entscheiden verteilen. Sie können personell getrennt oder in einem Amt und einer souveränen Person vereint auftreten. Heutzutage aber scheint sich die Synonymie von Beratung und Politik durch eine neue Politisierung der Beratung noch einmal zu verdoppeln. Die Behauptung, dass das Politische und die Beratung synonym sind, kann sich auch auf die Geschichte der Ratgeber-Funktion und des zu ihr gehörigen Lexikons berufen. Varros linguistische Abhandlung De lingua latina leitet den Titel des Consuls von dem Verb consulere, »zu Rate gehen, sich beraten«, ab. Und der sprachgeschichtliche Befund erlaubt die Feststellung, dass die Gleichnamigkeit des Politischen und der Beratung in Rom aus einer Metonymie hervorging: Obgleich die Konsuln innerhalb des durch Befristung und Teilung gehegten Amtes das »volle

1

Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis Oratoriae Libri XII. Ausbildung des Redners: Zwölf Bücher, hg. u. übers. von Helmut Rahn, Darmstadt 1988 (Texte zur Forschung; Bd. 2), Bd. I, S. 362 (III 8, 6).

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alte königliche Imperium« verwalten2, ist ihr Titel nominell von der Beratung im Zuge der »Vorbereitung der Entscheidung« her bestimmt.3 Die konsularische Macht beruht praktisch auf der Machtbefugnis zur Entscheidung, aber der Entscheider verdankt seinen konsularischen Namen womöglich der Vorstellung, dass er den Senat und das Volk berät. Als oberster Magistratsbeamter trug der Konsul auch den oskischen Titel meddix, der gleichfalls die Bedeutung »Berater« hat. Nach Varro, aber auch nach einer Bemerkung Ciceros in De legibus, umfasste das konsularische Amt in Rom noch die Funktion des Richters, die iurisdicio und Entscheidungsgewalt in Zivilsachen.4 Die konsularische Beratung vollzog ihr Amt in den drei Sprechakten consilium, imperium, iudicium. Also teilte sich in Rom die politische Macht des Konsuls in drei Register. Es wird sich zeigen, dass das Verbinden und Trennen von Beratung und Entscheidung ein politisches Dilemma bleiben wird. Denn die Konsuln, die Urmagistrate der politischen Verwaltung in der westlichen Welt, sind ja lediglich nominell als Berater ausgewiesen. Die Beratungstitel tauften die souveräne Macht auf einen demokratischen Euphemismus; der synonyme griechische Titel βουλαĩος, der Ratgebende, wurde analog den höchsten Göttern, Zeus, Artemis und Athene verliehen. Und ganz gleich erhielt Jupiter in der Literatur Roms bisweilen den Beinamen eines Konsuls.5 Das Ratgeben mit den Performativa consilium, imperium, iudicium scheint überhaupt als ein Regal der Götterpolitik betrachtet worden zu sein. So lässt sich eine solche Synonymie von souveräner Politik und Rat sowohl in Rom wie auch in Griechenland nachweisen.

2

Joachim Bleicken: Die Verfassung der Römischen Republik, 8. Aufl., Paderborn 2008, S. 105.

3

Marcus Terentius Varro: On the Latin Language (De lingua latina), lat.-englisch. Übers. von Roland G. Kent, 2 Bde, London/Cambridge 1938, Bd. 1, S. 78. Varro erklärt über den Namen des Konsuls: »Consul nominatus qui consuleret populum et senatum, nisi illinc potius unde Accius ait in Bruto: ›Qui recte consulat, consul fiat‹.« (De lingua latina V, 80).

4

Varro: On the Latin Language, Bd. 1, S. 255, Anm. (De lingua latina VI, 88). – M. T. Marcus Tullius Cicero: De legibus libri tres, hg. u. übers. von W.D. Pearman. Cambridge 1881, S. 112. Cicero über die Konsuln: »Regio imperio duo sunto, iique praeeundo iudicando consulendo praetores iudices consules appellamino« (III, 8).

5

Z. B. in der Historia Augusta die Beschreibung des Firmus, in: David Magie (Hg.): The Scriptores

historiae

Augustae,

3

Bde.,

lat.-engl.,

übers

von

David

Magie,

Cambridge/Harvard 1932, Bd. III: The Two Valerians. The Two Gallieni. The Thirty Pretenders. The Deified Claudius. The Deified Aurelian. Tacitus. Probus. Firmus, Saturninus, Proculus and Bonosus. Carus, Carinus and Numerian, S. 392: »...in qua Iuppiter aureus et gemmatus sederet cum specie praetexta, ponendus in Templo Solis, Appenninis sortibus aditis, quem appellari voluerat Iovem Consulem vel Consulentem.«

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Kontrafaktisch aber könnte man zugleich vermuten, dass die an Götter und Menschen vergebenen Ratgebertitel ohne genaue Zuständigkeiten die Semantik des Ratgebens abgeflacht, um nicht zu sagen: in Bedeutungslosigkeit aufgelöst habe. Denn wer in eine gottlob erledigte deutsche Geschichte blickt, stößt dort auf zahllose Geheimräte, Legationsräte, Kommerzialräte. Dies gilt entsprechend für die nicht ganz erledigte Geschichte der österreichischen Hofräte, und fasst man dann noch die Ratsherren mit in den Blick, dann wandelt den Beobachter dieser Heerscharen von Räten und Ratstiteln leicht ein titulares Essigfliegengefühl an. Diesen Eindruck mag die folgende Anekdote verstärken, aber in der Folge auch wieder abschwächen. Die Anekdote hat der treueste Freund historischer Erkenntnis, nämlich der Zufall, der Ratgeberforschung zugespielt. Sie hält eine Episode aus dem politischen und poetischen Leben des britischen Dichters und Lords George Gordon Byron fest. Lord Byron ist politisch nicht nur als früh verstorbener Akteur im griechischen Unabhängigkeitskampf gegen die Türkei hervorgetreten. Er hatte auch in England in die Politik eingegriffen. 1798 war ihm von seinem Großonkel William Byron der Besitz der Newstead Abbey zugefallen. Außerdem erbte er von ihm den Titel des Barons und einen Sitz im House of Lords. Diesen Sitz nahm Byron dann 1808 als Vierundzwanzigjähriger ein und schloss sich der oppositionellen liberalen Whig-Partei an. In seiner ersten Rede im Frühjahr 1812 bekämpfte Byron leidenschaftlich einen Gesetzentwurf, der im Gefolge eines Arbeiterprotests gegen technisch verbesserte Webstühle in Nottingham jede aufrührerische Aktivität mit dem Galgen bedrohte. Als das Gesetz dennoch verabschiedet wurde, reagierte Byron mit einer Ode To The Framers Of The Frame Bill, die die Initiatoren des Gesetzes verhöhnte und die Verse enthält: »Men are more easily made than machinery --Stockings fetch better prices than lives --Gibbets on Sherwood will heighten the scenery, Showing how Commerce, how Liberty thrives!«6

Man könnte hierin ein Beispiel sehen, wie eine Niederlage im Sprachspiel des Ratgebens und Entscheidens dazu anregt, in ein altes Register zu wechseln und die Poesie als »Zwillingssouverän« der Macht zu Wort kommen zu lassen.7 Das zeigt ein zweites Beispiel. Byron veröffentlichte im gleichen Jahr 1812, allerdings anonym, das Gedicht Lines to a Lady weeping in der Zeitung Morning Chronicle. Anlass war

6

George G. Byron: »Ode to the Framers of the Frame Bill«, in: Byron's Poetry and Prose,

7

Vgl. hierzu Ernst H. Kantorowicz: »The Sovereignty of the Artist«, in: Ders.: Selected

selected and ed. by Alice Levine, New York/London 2010, S. 120f. Studies, Locust Valley/New York 1965, S. 352-365, S. 358f.

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ein kleiner politischer Skandal. Der Prince of Wales und spätere König George IV. hatte 1811 an Stelle seines an schweren Depressionen leidenden Bruders die königlichen Amtsgeschäfte übernommen. Auf einem Empfang hatte der Prinz, der zuvor als aufgeschlossener Parteigänger der Whigs galt, seine Einstellung geändert. Er hatte die Tories mit der Regierungsbildung betraut und sich bei diesem Empfang öffentlich herablassend über die Whigs geäußert. Die fünfzehnjährige Tochter des Prinzregenten, Charlotte of Wales, eine leidenschaftliche Anhängerin der damals fortschrittlichen Whigs, soll darauf in Tränen ausgebrochen sein. Auf diesen aristokratischen politischen Mädchenkummer spielt der Titel Lines to a Lady weeping an. Die beiden Strophen des im Morning Chronicle zunächst anonym veröffentlichten Gedichts unterziehen die politische Kehre des Prinzregenten einer rührenden Kritik. Das Gedicht wurde aber erst dann zum Anlass einer lebhaften öffentlichen Empörung, als Byron sein Anonymat ein Jahr später lüftete. Anfang 1813 brachte er das Gedicht Lines to a Lady weeping in der Erstausgabe seiner poetischen Erzählung The Corsair heraus. Dieses Buch erlebte einen sensationellen Verkaufserfolg, da die erste Auflage von 10.000 Exemplaren bereits am Tage des Erscheinens ausverkauft war.8 Im Laufe der folgenden Monate griffen noch weitere 15.000 Leser nach dem Buch mit dem Tränengedicht: »Weep, daughter of a royal line, A Sire’s disgrace, a realm’s decay; Ah! happy if each tear of thine Could wash a father’s fault away! Weep – for thy tears are Virtue’s tears Auspicious to these suffering isles; And be each drop in future years Repaid thee by thy people’s smiles!«9

Der Dichter überspielt die politische Enttäuschung mit moralisierenden Formeln (»disgrace«, »decay«, »wash a fathers fault away«) sowie durch die Prognose auf ein künftiges gerechtes iudicium: Einst werden die Tränen der Tugend durch ein dankbares Lächeln honoriert. Die konservative Presse erregte sich auf das Heftigste. Und der Hauptpunkt der Polemik gegen Byron war der Vorwurf, dass er als Peer

8

Zur Verlagsgeschichte des Corsair siehe: Dan Albergotti: »Players and Audience; or, How Byron and Murray Sold The Corsair«, in: Postscript. Publication of the Philological Association of the Carolinas 13 (1996), S. 57-66.

9

Die Darstellung nach: The Letters and Journals of Lord Byron, Teddington 2007, Bd. 2 (1811-1813), S. 325ff.

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und königlicher Ratgeber eine solche Kritik nie hätte öffentlich äußern dürfen. Ein Artikel im Morning Chronicle, der Zeitung, die das Gedicht 1812 anonym abgedruckt hatte, zitierte den empörten Kommentar aus der Zeitung The Courier: »›The Courier‹ is indignant at the discovery now made by Lord BYRON, that he was the author of ›the Verses to a Young Lady weeping,‹ which were inserted about a twelvemonth ago in ›the Morning Chronicle‹. The Editor thinks it audacious in a hereditary Counsellor of the King to admonish the ›Heir Apparent‹. It may not be ›courtly‹ but it is certainly ›British‹, and we wish the kingdom had more such honest advisers.«10

Und in der nächsten Ausgabe des Courier folgte die Antwort: »If Lord BYRON had desired to admonish the PRINCE, his course was open, plain, and known --he could have demanded an audience of the PRINCE; or, he could have given his admonition in Parliament. But to level such an attack--What!-- ›Kill men i’ the dark!‹ This, however, is called by the ›Chronicle‹ ›certainly British,‹ though it might not be ›courtly‹, and a strong wish is expressed that ›the country had many more such honest advisers‹ or admonishers. --Admonishers indeed! A pretty definition of admonition this, which consists not in giving advice, but in imputing blame, not in openly proffering counsel, but in secretly pointing censure. «11

Lord Byron hatte also nicht nur den Adelstitel des Onkels geerbt, sondern auch den eines Ratgebers, eines königlichen Counsellors. Mit seinem Auftritt als poetischer Kritiker des Souveräns hatte er in den Augen der konservativen Presse diesen Titel missbraucht und die mit dem Titel verbundenen Privilegien überschritten. Der Skandal führte zu einer ins Leere laufenden Anklage des Dichters vor dem House of Lords. Der Vorwurf lautete, dass der erbliche königliche Rat den Souverän nicht in der Form, die ihm theoretisch offen steht, nämlich »in giving advice« angesprochen habe. Vielmehr habe er sich – in den Ressorts der römischen Verwaltung – das protorichterliche Amt des Zensors angemaßt, und dies nicht in still oder vor dem Parlament gegebenen Consilia, nicht in den aufs tempus futurum ausgerichteten Sprachspielen »Zuraten« oder »Abraten« (suadere oder dissuadere), sondern in hämischer Kritik. Die römischen Zensoren, die die Kritik anführt, verwalteten neben den Steuern das iudicium de moribus, das Sittenrichteramt, das sie autorisierte, einen in ihren Augen unwürdig gewordenen Senator oder Ritter zu rügen und gar

10 Ebd. 11 Ebd.

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seines Sitzes zu berauben.12 Byrons angemaßtes richterliches Sprechen, den Zensorakt, fasst der Kommentator des Courier in das Othello-Zitat »Kill men i’ the dark!«. Freilich war Lord Byron keineswegs um seinen Rat gefragt worden, und nach dem Gesinnungswechsel des Königs gab es auch nichts mehr zu raten. Die Episode zeigt die Veränderung des Politischen in der Moderne an. Den König und seine in Beratung und Entscheidung geteilte Souveränität fordern jetzt Vertreter der eben entstehenden Öffentlichkeit heraus, Journalisten, Dichter und später PublicRelations-Experten, die erneut die Beratung von der Politik abzuspalten suchen und die zugleich eine neue politische Synonymie, nämlich die der Beratung und des (zensorischen) Urteils, stiften. Ehe diese Anmerkungen und Anekdoten zur Gegenwartsproblematik des Jahres 2012 überleiten, ist noch ein historischer Hinweis auf den britischen Berater-Titel angezeigt. Die Synonymie von Beratung und Politik, die sich im Zug der ByronDebatte auch aus der Verbindung von admonition und censure neu artikulierte, entwickelte sich weiter mit der Geschichte des britischen Parlaments, das überhaupt aus einem Ratgeberzirkel hervorging und auf Initiative Edwards I. 1295 zum ersten Mal als concilium regis in parliamento zusammentrat. Da die Beratungsämter nicht nur der Deliberation dienten, sondern auch der Neutralisierung von Rivalen, hatte der englische König um 1800 insgesamt vier Gremien mit Beratern bevölkert. Dazu zählte der bis heute noch der Queen beistehende Privy Council , der damals, wenn überhaupt, die größte Nähe zum königlichen Ohr genoss. Die Kontroverse um die zwei Tränen-Strophen erinnert daran, dass Byron wie alle Peers dem Magnum Concilium angehörte, das allerdings seit Charles I. nicht mehr zum Ratgeben einberufen worden war. So fallen auch in der englischen Szene um 1800 die Heerscharen von untätigen Beratern und leeren Beratertiteln auf. Byrons politische Interventionen markieren in zweierlei Hinsicht ein diskursives Ereignis: Einmal ergänzt er das Sprachspiel des politischen Rats, indem er als Dichter auftritt, der seiner lyrischen Deliberation zwar nicht die Autorität eines Amts oder Titels mitgeben kann, wohl aber das Ansehen des alten poetischen Souveräns, das an der Tradition der Laureatisierung hängt.13 Zum anderen vollzieht Byron den Rollenwechsel des Beraters, wenn er ein öffentliches politisches iudicium ausspricht. Denn die Worte disgrace, decay, fault in den beiden Strophen beliefern ein moralisches Urteil. Diese angemaßte Zensor-Rolle wird folglich Byron vorgehalten.

12 Vgl. Wolfgang Kunkel/Helmut Galsterer (Hg.): Staatsordnung und Staatspraxis der Römischen Republik (Handbuch der Altertumswissenschaft: Abt. 10, Rechtsgeschichte des Altertum; Teil 3, Bd. 2), Abschnitt 2: Die Magistratur von Wolfgang Kunkel u. Roland Wittmann, München 1995, S. 391ff. 13 Vgl. Manfred Schneider: »Der König im Text«. In: Zeitschrift für Ideengeschichte. III/1 (2009): Kommentieren, S. 48-63.

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Die Erweiterung des Diskursregisters wie auch die Erneuerung des Beratersprachspiels, die hier vor eben 200 Jahren einsetzten, vollenden sich auf eine vergleichbare Weise in unseren Tagen. Die neuere Geschichte der politischen Institutionen hat den erblichen Beratern ihre Titel und Funktionen entrissen, und Dichter treten nur bisweilen noch auf, die ähnliche Registerwechsel wie Byron vornehmen. Daneben lässt sich in unserem politisch-medialen System die bislang unbekannte, dennoch vergleichbare proteische Beratergestalt wiedererkennen, die ohne konsularische Souveränität zugleich consilium und iudicium vorträgt. Der neue Berater rät nicht allein in der Sache, sondern vielmehr in den Gesten und Expertisen des öffentlichen Auftritts. Er übt seine Beratungsfunktion nicht allein persönlich und im Stillen, sondern öffentlich aus. Er erteilt der Öffentlichkeit Rat, was sie von einem Politiker und seinem Gebaren zu halten habe. Hier wird der Berater selbst zu einer Figur der Politik. Zugleich spricht er in einem weiteren Register, in dem der Prognose, der praedictio. Zuraten und Abraten bleiben zwar weiterhin seine deliberative Spezialität; aber jetzt macht er sich anheischig, in den Eingeweiden der Zukunft zu lesen. Die Zukunft, die die politische Beratung gestaltet, teilt sich auf seinen Lippen in die beiden Aktionsarten des Zensor-iudiciums und der Vorhersage seiner Wirkung. Diese proteische Beratergestalt unserer Tage, die in sich die neuartige Dreifaltigkeit von consilium, iudicium und praedictio vereint, zeigt – auch im Hinblick auf die Sprechaktfrage – eine fundamentale Veränderung in der Politik an. Während die alte konsularische Metonymie nominell den Souverän aus der deliberativen Beratung hervorgehen ließ und ihm den proteischen Gestaltwandel gestattete, tritt der neue Berater als politischer Spieler aus der Homonymie des Ratens hervor: Sein Raten umfasst sowohl das consilium als auch das aenigma solvere. Er errät das künftige Schicksal des Politikers. Als Beispiel dienen hier die Fälle zweier aus ihren Ämtern gedrängter Politiker, des Verteidigungsministers zu Guttenberg und des zurückgetretenen Bundespräsidenten Wulff. Sie bieten Gelegenheit, den proteischen Gestaltwandel und kommunikativen Überschuss in der politischen Beratung unserer Tage zu fassen. 2. Diese beiden Fälle aus den Jahren 2011 und 2012 sollen kurz dargestellt werden, um den Kontext festzuhalten, in dem der Berater als neue politische Figur auftritt. Mag dieser zeitgenössische Berater als Kommunikationsspezialist auch die Rolle des einstigen Lehrers der ars rhetorica, der selbst nicht als öffentlicher Redner auftrat, weiter spielen, so hat er jetzt die neue Funktion eines Experten übernommen, der der medialen Öffentlichkeit ihr Urteil souffliert. Die Öffentlichkeit ist nach Kant ja der fiktive Raum, in dem der Gerichtshof der Vernunft tagt. Diese Vernunft teilt ihren Diskurs bekanntlich in die Register Klage, Verteidigung und Richtspruch. Das politische Scheitern der beiden Politiker, die hier als Beispiele stehen, erfolgte

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auf einem anderen Theater, wo in einer anderen Teilung moralische Urteile als politische Prognosen gesprochen wurden. Aus diesem Wechselspiel von Urteil und Prognose schält sich die neue proteische Gestalt heraus, die freilich anders als der mythische König Proteus ihre divinatorische Expertise freiwillig abgibt. Vom Innen der Macht aus gesehen, lässt sich der historische Wandel in Form zweier Zerstreuungen beschreiben. Die erste Zerstreuung erfährt das römische Konsulat, das höchste Amt im Magistrat. Diese nur durch Zeitbegrenzung und Kollegialität eingeschränkte königliche Souveränität gibt ihre Beratungsregister iurisdicio, consilium, imperium im Laufe der Geschichte an verschiedene Instanzen der politischen Mitwirkung ab. Die zweite Zerstreuung erleben die römischen Caesaren und ihre westlichen Nachfolger. Als absolute Souveräne suchen sie zwar nur fallweise persönlichen Rat; dafür aber umgeben sie sich mit Beraterschwärmen, womit nominell die alte Trennung und Sprachspieldifferenz wieder in Kraft tritt, die die souveräne Entscheidung von der beratenden Deliberation unterscheidet. Wenn nun neuerdings der Berater aus dieser Position des rhetorischen oder politischen Ratgebers, selbst wenn es sich nur um einen aristokratischen Titel gehandelt haben mag, hervortritt und zur politischen Figur aufsteigt, die das öffentliche iudicium beeinflusst, dann hat dies mit der Umstellung und Erweiterung des Politischen zu tun, die das Schlagwort »Mediendemokratie« anspricht. Eine MeinungsÖffentlichkeit aus Journalisten, Dichtern und Beratern adressieren die Mächtigen, deren Macht nicht nur zeitlich begrenzt und vielfach geteilt ist, sondern auch von Meinungen und Wählerstimmen abhängt. Die Vorbereitung der Entscheidung 14 erfolgt in diesem System nicht mehr allein über eine Serie von Argumenten und ratgebenden Interventionen. Die Entscheidung geht vielmehr aus einer Art Dauerwette hervor, nämlich aus Kaskaden öffentlich geäußerter Vermutungen, wie die Entscheidung ausfallen wird. Die praedictio maskiert sich als iudicium und bestimmt auf diese Weise das politische Spiel mit. Die politischen Schicksale des Verteidigungsministers zu Guttenberg und des Bundespräsidenten Wulff unterscheiden sich darin, dass sich im Falle zu Guttenbergs das iudicium der Öffentlichkeit, des medial erneuerten Zensoramtes, auf eine eindeutig strafrechtlich relevante Handlung der Vergangenheit bezog. Der Fall des ehemaligen Bundespräsidenten Wulff zeigte dagegen die Besonderheit, dass die machtvolle mediale Öffentlichkeit unablässig neue Straftaten vermutete. Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg wurde im Jahr 2009 zum Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland ernannt. Er galt als einer der beliebtesten deutschen Politiker und wurde zeitweise auch als möglicher Nachfolger

14 Zu den Paradoxien und inneren Unterscheidungen des Entscheidens vgl. Michael Niehaus: »Die Entscheidung vorbereiten«, in: Cornelia Visman/Thomas Weitin (Hg.): Urteilen/Entscheiden, München 2006 (Literatur und Recht), S. 17-36.

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der amtierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel gehandelt. Guttenberg war nach seinem Studium der Rechtswissenschaften im Jahre 2007 an der Universität Bayreuth für seine Dissertation über das Thema Verfassung und Verfassungsvertrag mit der Bestnote »summa cum laude« zum Doktor der Rechte promoviert worden. Seit Feburar 2011 wurden dem Freiherrn von und zu Guttenberg eine ganze Reihe von nichtmarkierten Zitaten in seiner Dissertation vorgehalten, die schließlich zu dem öffentlich erhobenen Vorwurf des Plagiats führten. Daraufhin erkannte ihm die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth nach eingehender Prüfung den Doktortitel ab. Als daraufhin auch staatsanwaltliche Ermittlungen einsetzten, die die strafrechtliche Seite der Plagiate prüften, resignierte zu Guttenberg und wurde am 3. März 2011 als Verteidigungsminister entlassen. Zugleich gab er sein Mandat als Bundestagsabgeordneter auf. In den Februarwochen des Jahres 2011 hatten sich zu der Affäre zwar auch Juristen zu Wort gemeldet, aber die entscheidende politische Dynamik, die zur Entlassung des Ministers führte, ging von öffentlichen Kommentaren aus, die nicht in erster Linie die Tat beurteilten, sondern Prognosen über das iudicium der Öffentlichkeit abgaben. Die Experten und medialen Träger des öffentlichen iudiciums stellten wiederholt die Frage: »Kann sich der Minister weiter halten?« Die andere Version dieser Frage lautete: Wenn nicht die souveräne Gewalt, das imperium der Kanzlerin, die Entscheidung über die Entlassung trifft, wer tut es dann? Wer ist die öffentliche Instanz, das Subjekt des iudiciums, das bestimmt: Der Minister muss sein Amt aufgeben? Diese Instanz hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Chor der antiken Tragödie: Heute ist es der Chor der Experten, der ankündigt, ob und wann ein solcher Machtspruch ergehen wird. Die Ereignisse und Vorwürfe, die zum Rücktritt des vormaligen Bundespräsidenten Christoph Wulff führten, wurden auch essigfliegenartig von Medienberatern, Kommunkationshelfern, Public-Relations-Professoren und MarketingFachleuten kommentiert. Allerdings – und das war das politisch Neue – äußerten sie sich zumeist nicht aus eigener Initiative, denn eigentlich hatten Berater hier nichts beizutragen; vielmehr wurden sie von Zeitungen, Hörfunk- und Fernsehsendern um ihre Expertise gebeten. Die Zensur stärkte sich durch Zensoren. Christian Wulff, langjähriger Minsterpräsident des Bundeslandes Niedersachen, wurde im Jahr 2010 zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Im Dezember des darauffolgenden Jahres sah er sich mit einer Reihe von Vorwürfen konfrontiert. Medienvertreter machten sich zunächst zum Sprachrohr des Verdachts, dass Wulff und seine Frau dank ihrer herausragenden politischen Stellung bei einem Hauskauf zunächst ein sehr günstiges privates Darlehen über 500.000 € erhalten hätten, das später wiederum durch den preiswerten Kredit einer Bank abgelöst worden sei. Der Darlehensgeber, dessen Namen Christian Wulff nicht nennen wollte, stellte sich später als langjähriger Freund des Bundespräsidenten heraus. Gegenüber dem Chefredakteur Diekmann der Zeitung BILD hatte Wulff

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telefonisch mit »Krieg« gedroht, sollte der Name des Darlehensgebers in der Zeitung genannt werden. Weiter sah sich Wulff mit dem Vorwurf konfrontiert, dass er vor dem niedersächsischen Landtag die Frage, ob er mit dem betreffenden Unternehmer Geerkens »geschäftliche Beziehungen« unterhalte, verneint hatte. Wulffs Anwalt konterte mit dem Hinweis, dass das Darlehen von der Gattin des Unternehmers Geerkens gekommen sei. Wenig später räumte Wulff auf neuerliche Recherchen der Presse ein, dass er eine Reihe kostenloser Urlaube bei befreundeten Unternehmern angenommen habe. In neuerliche Erklärungsnot geriet Wulf durch die Nachricht, dass der befreundete Unternehmer Carsten Maschmeyer im Jahre 2007 die Werbung für Wulffs Buch Besser die Wahrheit bezahlt habe. Kurz vor Weihnachten gab Wulff die Entlassung seines langjährigen Beraters Olaf Glaeseker bekannt, gegen den die Staatsanwaltschaft Hannover wegen Bestechlichkeit ermittelte. Die inkriminierten Handlungen fielen in die Zeit, als Glaeseker Wulffs Regierungssprecher in Niedersachsen war. In einem Fernsehgespräch mit den Leitern der Berliner Studios von ARD und ZDF am 4. Januar 2012 bedauerte Wulf seinen Anruf beim BILD-Chef Diekmann und kündigte »Transparenz« bei allen noch offenen Fragen an. Im Februar 2012 wurde bekannt, dass Wulff mit seiner Gattin einen vom Filmunternehmer David Groenewold bezahlten Luxus-Kurzurlaub auf Sylt verbracht hatte. Wulff erklärte daraufhin, dass er Herrn Groenewold, dem für seine Briefkastenfirma »Waterfall Productions« unter Wulffs Regierung eine nicht in Anspruch genommene Bürgschaft des Landes Niedersachsen zugesagt worden war, das Geld bar zurückgegeben habe. Daraufhin beantragte die Staatsanwaltschaft Hannover die Aufhebung der Immunität des Bundespräsidenten. Am 17. Februar erklärte Wulff seinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten. Dieser über zwei Monate hinweg laufende Abwehrkampf des Bundespräsidenten gegen immer neue Vorwürfe und Verdächtigungen fand in einem riesigen Medienechoraum statt. Kommentatoren und Berater setzten sich außer mit dem Sachgehalt der Vorwürfe vor allem mit der Frage auseinander, ob der damalige Bundespräsident in seinem Umgang mit der Öffentlichkeit gut beraten worden sei. Und die kritische bis negative Antwort auf diese Frage verband sich mit der Rüge, dass sich Wulff fehlerhaft von Juristen und nicht von Kommunikationsfachleuten beraten ließ. Er habe die beiden Zeitdimensionen verwechselt und die Zeitproblematik des öffentlichen iudiciums nicht begriffen. Bis zum Auftritt der niedersächsischen Staatsanwälte, die Mitte Februar 2012 die Aufhebung von Wulffs Immunität beantragten, spielte daher die Frage des Rechts und der Rechtsverstöße zwar eine Rolle, aber sie stand keineswegs im Zentrum der Diskussion. Juristen wurden in den Medien nicht befragt, weil in der politischen Öffentlichkeit Zensoren und nicht Juristen das Richteramt ausüben. Der Streit, ob die Aussage des vormaligen Ministerpräsidenten vor dem Landtag, wonach er mit dem Unternehmer Geerkens keine geschäftlichen Beziehungen unterhalten habe, rechtlich korrekt oder eben nur sachlich korrekt gewesen sei (da die Darlehnsgeberin Geerkens’ Gattin gewesen sein soll),

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wurde in der politischen Arena geführt. Das gleiche galt für die anderen gegen Wulff erhobenen Vorwürfe: Das günstige Bankdarlehen, die fremdfinanzierten Urlaube, das Upgrade eines Ferienfluges, der Anruf beim BILD-Chefredakteur Diekmann. Dennoch tauchte dabei gleich mehrfach die proteische Beratergestalt auf, die consilium, iudicium und die divinatorische praedictio verband. Das diskursive Ereignis vollzog sich mit dem Unterscheidungsversuch, indem die Berater erklärten, allein den »kommunikativen« Teil oder den Public RelationAspekt des politischen Theaters zu kommentieren, aber gerade damit als Zensoren das iudicium fällten und die praedictio des Rücktritts übernahmen. Pointiert gesprochen: Das moralische iudicium, das den Bundespräsidenten zum Rücktritt bewegte, ging aus dem konsularischen und prognostischen Expertendiskurs hervor, der die öffentliche Meinung formte, indem er vorhersagte, wie die öffentliche Meinung urteilen werde. Die konsularische Deliberation, die Beraterexpertise, bietet freilich ihrer Selbstbeschreibung nach ein Wissen und Raten an, das sich von dem öffentlichen iudicium absetzt. Wenn jedoch ein Berater wie Pietro Nuvolini erklärt »Es ist eine Lawine ins Rollen gekommen, die an Wucht zugenommen hat, weil Wulff nicht rechtzeitig glaubwürdige, nachvollziehbare und vollständige Antworten gegeben hat«15 formuliert er ein iudicium über das künftige iudicium und gibt damit eine Prognose ab. Es folgen gleich im Zitat weitere Berater-Äußerungen, ohne Anspruch darauf, repräsentativ oder gar umfassend zu sein.16 Ein riesiger Chor war hier beteiligt, wobei die Stimmen, die auf Internet-Foren vernehmbar wurden, nicht berücksichtigt sind. Gewiss hat bei dieser Auswahl der Zufall gleichfalls seine Hand im Spiel. Aber das Zufallsprodukt gibt einen guten Eindruck vom Diskurs der Experten. Das Essigfliegensummen der Berater und Journalisten setzt am 19. Dezember ein, als Wulff unter öffentlichem Druck Einblick in seine verschiedenen Urlaube gibt und als weiter bekannt wird, dass der Unternehmer Carsten Marschmeyer im Jahr 2007 die Werbe-Kampagne für das Wulff-Buch Besser die Wahrheit, das im Verlag Hoffmann & Campe erschienen ist, in Höhe von rund 42.000 Euro finanziert hat. Am 19.12.2011 äußert sich als einer der ersten der Kommunikationsexperte und Geschäftsführer der Stockheim-Media communication & consulting Ulrich Stockheim im WDR und noch einmal in 1Live. Er erklärt: »Wenn wir jemanden aus Wirtschaft und Politik da beraten, gilt es, frühzeitig und schnell alle Fakten zu klären, sie dann auch offenzulegen und nicht scheibchenweise herauszugeben. Bei Wulff hingegen hat man den Eindruck, man müsse ihm dauernd etwas aus der Nase ziehen.

15 Vgl. Anm. 18. 16 Eine nahezu vollständige Übersicht bietet die Website »WulffPlag«: http://de.wulffplag. wikia.com/ wiki/Pressespiegel Causa Wulff (15.01.2013). _ _

190 | MANFRED S CHNEIDER Das weckt natürlich in der Öffentlichkeit den Eindruck, dass da noch mehr ist, man mehr bohren muss. Das schadet der Glaubwürdigkeit des Bundespräsidenten.« 17

Am 21.12.2011 meldet sich der 51-jährige Pietro Nuvolini zu Wort. Als Gründer der Medienberatung dictum media in Köln berät er Führungskräfte aus Politik, Wirtschaft und Justiz. Auf die Frage nach den Fehlern des Bundespräsidenten antwortet Nuvolini in DIE ZEIT: »Erstens eine falsche Einschätzung der Folgen. Zweitens ein unentschlossenes und zu spätes Handeln – eine vernünftige Krisenkommunikation fordert immer eine gründliche Aufklärung und dann ein entschiedenes und zeitnahes Handeln. Diese beiden Fehler bereiten ihm nun große Probleme, weil es um seine Reputation und seine Glaubwürdigkeit geht. Es ist eine Lawine ins Rollen gekommen, die an Wucht zugenommen hat, weil Wulff nicht rechtzeitig glaubwürdige, nachvollziehbare und vollständige Antworten gegeben hat.« 18

Am 22.12.2011 erläutert der Politik- und Kommunikationsberater Klaus-Peter Schmidt-Deguelle im Deutschlandfunk die Frage, wer auf welche Weise beraten soll: »Es gibt Politiker, die sich beraten lassen, und es gibt auch Politiker, die vor allen Dingen die Wirkung in der Öffentlichkeit einschätzen lassen können und begutachten lassen können und sich nicht nur auf juristische Dinge beschränken, und das ist, glaube ich, hier wieder eines der Beispiele dafür, wie man es nicht machen kann. Das gilt übrigens nicht nur für die Politik, das gilt genauso für Unternehmen. Die Rechtsanwälte sehen in ihrem geschlossenen Rechtskreislauf ihre Logik und sehen nicht die Empfindungen der Leute, die das hören, die das lesen, und sich auf die Rechtsanwälte zu verlassen und deren Öffentlichkeitsstrategie, ist in der Regel völlig hilflos und wirkt völlig hilflos, weil Rechtsanwälte dazu tendieren, immer nur rechtlich unabdingbare Dinge zu sagen.«19

Am 04.01.2012 übertragen ARD und ZDF das Gespräch des Bundespräsident mit ihren Berliner Studioleitern, Ulrich Deppendorf und Bettina Schausten. Im Anschluss an die Sendung äußert sich Thomas Pleil, Professor für Public Relations an der Hochschule Darmstadt, bei t-online auf die Frage, ob Christian Wulff in der »Kredit-Affaire« womöglich den falschen PR-Berater hatte.

17 http://www1.wdr.de/themen/politik/wulffskommunikation100.html (15.01.2013). 18 http://www.zeit.de/politik/deutschland/2011-12/interview-wulff-nuvoloni (15.01.2013). 19 http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1635083/ (15.01.2013).

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»Ich bin mir ehrlich gesagt nicht einmal sicher, ob Christian Wulff überhaupt einen PRBerater an seiner Seite hatte. Seinen Pressesprecher hat er ja schon zu Beginn der Affaire rausgeworfen. Insgesamt scheint seine Kommunikation überhaupt keine Strategie zu haben.«20

Am 04.01.2012 bezeichnet der Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Norbert Bolz im Interview der Tagesschau sowohl die Kommunikation von Präsident Wulffs »fragwürdigen Kreditgeschäften« als auch seinen Umgang mit unliebsamen Journalisten als »ein einziges PR-Desaster«. Am 12.01.2012 behauptet der Kommunikationsberater Prof. Dr. Klaus Kocks bei Maybritt Illner, dass Wulff »sehr gut beraten« werde, weil er so geschickt »Nebelkerzen« werfen könne.21 Am 24.01.2012 erläutert der gleiche Kommunikationsberater Klaus Kocks bei Markus Lanz, dass Christian Wulff »falsch beraten« wurde.22 Am 05.01.2012 wird im ARD-Morgenmagazin Hugo Müller-Vogg befragt. Müller-Vogg schreibt für BILD und ist Autor des Wulff-Buches Besser die Wahrheit, das in der Affäre eine Rolle spielt, weil die 42.000 € von Marschmeyer zur Werbung für dieses Buch aufgewendet worden waren. Müller-Vogg meint aber, dass die Affäre »weitgehend ausgestanden« sei. Am 11.01.2012 erklärt der Kommunikations- und Marketing-Experte Prof. Dr. Dieter Georg Herbst im Interview mit n-tv zum Beratungsthema: »Dann muss er entscheiden, wer seine Berater sein sollen. Das ist für einen homo politicus wie Wulff möglicherweise nicht so einfach. Um das zu werden, was er heute ist, hat er sich durchsetzen müssen. Das ging nicht ohne Egoismus und ohne Egozentriertheit. Nun soll er aber Menschen um sich haben, die ihm Gutes raten, ohne dabei allzusehr ihre eigenen Belange im Blick zu haben. Diese Berater muss er nicht nur klug auswählen.«

Herbst stellt die These auf, dass es sein könnte, »dass die Berater ihm gute Ratschläge geben, er aber nur zum Teil drauf eingeht«. 23

20 http://nachrichten.t-online.de/kreditaffaere-pr-experte-raet-bundespraesident-wulff-zumruecktritt/id_52870234/index (15.01.2013). 21 http://www.youtube.com/watch?v=XRWFW4rEUpQ (15.01.2013). 22 http://markuslanz.zdf.de/ZDF/zdfportal/programdata/e6945324-1cb6-3c02-8b90-3874ee 0f4b2d/7898126?generateCanonicalUrl=true (15.01.2013). 23 http://www.n-tv.de/politik/Wulff-schafft-keinen-Befreiungsschlag-article5176681.html (15.01.2013).

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In der TAZ vom 15.01.2012 meldet sich der Kommunikationsberater Hasso Mansfeld zu Wort. Mansfeld arbeitet als selbstständiger Strategie-und Kommunikationsberater der Wirtschaft. Er analysiert die Situation und gibt die Prognose: »Christian Wulff hat die Angriffe der Medien überstanden.« Jetzt lenkten Megathemen wie die Rating-Herabstufung von neun Euro-Ländern die Aufmerksamkeit der Politik- und Wirtschaftspresse wieder auf die Schulden- und Eurokrise. Diese Zitat-Blütenlese soll nicht auf die Pointe hinauslaufen, dass die Kommunikationsberater zwar Experten sind, aber völlig unterschiedliche Ansichten äußern oder auch selbst ihre Meinung innerhalb weniger Tage umkehren wie der Experte Klaus Kock. Aufschlussreich für die Rolle und die Sprechregister dieser Berater ist nun, dass sie zumeist erklärten, dass Wulff falsch oder gar nicht beraten worden ist oder aber der richtigen Beratung nicht gefolgt ist. Insofern also kehrt sich eigentlich der Sprachakt oder die rhetorische Position der Berater um: Das Zuraten und Abraten, das genus deliberativum der klassischen politischen Beratungsrede, artikuliert das Tempus der Zukunft, während hier die urteilenden Berater im Tempus des genus iudicale sprechen, das die erörterte Sache in der Vergangenheit findet. Auch bei der Antwort auf die Rätselfrage, ob Beratung oder Nichtberatung oder Beratungsunwille das Verhalten Wulffs bestimmten, stochern die Experten im Dunkel des Imperfekt. Daran zeigt sich das Neue am öffentlichen Beratungsessigfliegentum. Um diese Aspekte der neuen judicalen und prognostischen Beratung weiter zu analysieren, muss noch einmal im Kalender zum 4. Januar 2012 zurückgeblättert werden. 3. Nach dem Gespräch am 4. Januar 2012 , das die beiden Berliner Korrespondenten von ARD und ZDF mit dem Bundespräsidenten geführt hatten, wurde in den Tagesthemen, der Nachrichtensendung der ARD, etwa zwei Stunden später Thomas Knipp befragt. Der Moderator stellte Knipp als Sprecher der Geschäftsführung der internationalen Kommunikations-Agentur Brunswick Group Deutschland GmbH vor. Folgender Dialog entspann sich: »Moderator: Ein Profi ersten Ranges ist Thomas Knipp. Er kennt beide Seiten. Er war früher Chefredakteur des Handelsblattes, jetzt ist er Geschäftsführer einer weltweit tätigen Kommunikationsberatung. Guten Abend, Herr Knipp. Knipp: Guten Abend nach Hamburg. Moderator: Zunächst mal: Wie beurteilen Sie das Interview des Bundespräsidenten von heute Abend? Knipp: Also wenn Sie’s aus kommunikationstechnischer Sicht sehen und bewusst nicht politisch, dann würde ich sagen: Das war heute Abend ein Punktsieg, ich glaube, er hat wirklich Boden gutgemacht. Er hat heute das getan, was er nach einem Rat, den wir ihm zum Beispiel

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geben würden, wenn wir seine Berater wären, was wir nicht sind, dann hätte er dies wesentlich früher getan, und ich glaube, es war hohe Zeit, und er hat es heute Abend ganz ordentlich gelöst. Moderator: Christian Wulff versuchte es ja auch, als Mensch zu zeigen, zeigte eine Mischung aus Demut, Werbung um Verständnis, aber auch Selbstbewusstsein. Was glauben Sie, wie intensiv und mit wie viel professioneller Hilfe hat er sich auf diesen Auftritt vorbereitet? Knipp: Ich habe früher als Journalist mich immer von der Regel leiten lassen, immer nur über das zu reden, was ich weiß und nicht zu spekulieren. Das hier ist reine Spekulation, ich weiß, dass er sehr gute Anwälte hat, ich kann nichts dazu sagen, wie er sich kommunikativ vorbereitet. Meine wirkliche Spekulation wäre, dass er relativ wenig Hilfe hat, denn das, was bisher kommunikativ gelaufen ist, ist sicherlich nicht mit einer besonders guten Note auszuzeichnen, und wenn man sich den Verlauf ihrer Sendung auch anschaut, die Argumente anschaut, die ausgetauscht worden sind, dann kommt man doch zu dem Eindruck, dass man sagen muss: Es gibt relativ wenig Substanz, die ihm hier vorgehalten wird, und das gesamte Thema, was wir eigentlich heute besprechen, ist eines, was doch sehr stark nicht mit den Fakten zu tun hat, um die es geht, sondern mit dem Umgang mit den Fakten und mit dem Umgang dieser Krise. Moderator: Ist was das angeht, den Umgang mit der Krise, mal von Inhalten abgesehen, kann man da sagen: Performance ist heutzutage alles? Knipp: Ja. Das kennen Sie aus Ihrem Metier sehr sehr gut. Wenn Sie Zuschauer nach Sendungen befragen, dann geht es hauptsächlich darum, ob jemand sympathisch übergekommen ist, vielleicht noch, was für eine Krawatte oder was für ein Kleid oder was für eine Brille er anhatte oder sie und weniger um die Inhalte. Nein, Performance ist heute sehr sehr wichtig, und es ist auch wichtig, dass man die Gesetzmäßigkeiten von Krisen versteht und entsprechend damit umgeht. Und das ist kein sehr schwieriges Handwerk, es braucht eine gewisse Erfahrung, und es braucht natürlich auch ein gewisses Vertrauen bei den betroffenen Personen, dass diejenigen, die einem Rat geben, diese Erfahrung auch haben. Moderator: Sie haben eben gesagt, was Sie ihm geraten hätten, wenn Sie vor heute Abend um Rat gefragt worden wären. Mal angenommen, Sie wären schon vor der ersten BILDVeröffentlichung Mitte Dezember, also als die Medien noch stocherten, vom Bundespräsidenten um Rat gefragt worden, welche Strategie hätte Sie da, in diesem frühen Stadium empfohlen? Knipp: Es ist die Strategie, die eigentlich immer gilt und die sich richtet nach den Gesetzmäßigkeiten, die Krisen haben. Wenn die erste Veröffentlichung passiert ist, dann gehört zunächst mal der nachrichtliche Raum der anderen Seite, denjenigen, die die Dinge hervorbringen. Da sollten Sie sich zunächst einen Augenblick zurückhalten, versuchen, Ihre Fakten zu ordnen, um dann eben halt sehr schnell möglichst viel Transparenz herstellen zu können. Wenn Christian Wulff sehr frühzeitig gesagt hätte, ich bemühe mich um Transparenz, ich gebe Transparenz, bei den Dingen, die noch ein bisschen mehr Zeit zur Aufklärung brauchen, um dann auch korrekt darüber reden zu können, und wir reden hier über Vorfälle, die zum Teil 9 Jahre oder länger zurückliegen, dann kann man auch verstehen, dass es für solche Aufklärung Zeit braucht. Wenn man sagt, wir geben das, was wir wissen jetzt, wir reden über das,

194 | MANFRED S CHNEIDER was wir wissen, jetzt, und die Dinge, die noch ein bisschen mehr Aufklärungszeit benötigen, da werden wir auf Sie wieder zurückkommen, wenn diese Ergebnisse vorliegen – ich glaube, wenn er das sehr sehr frühzeitig getan hätte und wenn er das in einer Art und Weise getan hätte, Sie haben eben das Stichwort ›Performance‹ genannt, die insgesamt mehr Glaubwü rdigkeit ausgestrahlt hätte, dann wäre der Verlauf dieser Krise sicherlich ein deutlich anderer gewesen. Ich glaube, dass das etwas ist, was hier sehr sehr stark zu betonen ist, er ist, er kommt als Mensch und vielleicht auch als Politiker nicht authentisch genug herüber, und das führt dann immer dazu, dass es solche Krisenreaktionen gibt. Moderator: Herr Knipp, wenn man sich mal anschaut, wie der Deutschlandtrend ungefähr reagiert hat, wie lang die Bevölkerung auch gebraucht hat, um zu sagen: Ja, wir erwägen eine Forderung nach einem Rücktritt, gibt es da auch eine Art Schutzreflex, also nach dem Motto: Je mehr die Medien sich in jemand verbeißen, desto mehr sagen die Leute: Jetzt ist aber langsam gut? Knipp: Ich glaube, dass wir alle, und ich sag jetzt mal wir in einer Einheit als diejenigen, die auf der Kommunikationsseite arbeiten, und die auf der Journalistenseite arbeiten, uns manchmal fragen müssen, ob das, was wir tun, was wir sehen, worüber wir reden, wirklich das ist, worüber auch der Normalbürger auf der Straße redet. Wir haben eine Krise in einem anderen Fall gehabt, wo es ein hohes Maß an Belagerungszustand gab, nicht, die Journalisten belagern, man selber fühlt sich belagert, und wenn man dann Umfragen macht und die Leute, die mit der ganzen Sache zunächst mal nichts zu tun haben, weit weg sind, danach befragt, dann hört man sehr häufig: Ja, haben wir von gehört, ist kein großes Thema, haben wir, ehrlich gesagt, gar nicht so viel mit zu tun. Und ich glaube, dass man darauf immer sehr sehr stark achten muss, dass man nicht in einen Belagerungszustand selber mental verfällt, sondern eine innere geistige Unabhängigkeit hat oder aber Berater hat, die in der Lage sind, einem das zu geben, diese Unabhängigkeit. Moderator: Thomas Knipp, Geschäftsführer der Beratungsfirma Brunswick Group, danke nach Frankfurt.«

Diese Stellungnahme legt das deliberative Dilemma offen, weil der Medienfachmann zunächst zwischen der politischen und kommunikativen Bewertung unterscheidet, ehe er dann auf das Problem der juristischen und medialen Beratung eingeht. Gleich am Anfang, wo Thomas Knipp nach seiner Meinung über die Wirkung des Präsidenten-Auftritts gefragt wird, kommt er auf seinen möglichen Rat zu sprechen. Hier die Äußerung noch einmal: »Also wenn Sie’s aus kommunikationstechnischer Sicht sehen und bewusst nicht politisch, dann würde ich sagen, das war heute Abend ein Punktsieg, ich glaube, er hat wirklich Boden gut gemacht, er hat heute das getan, was er nach einem Rat, den wir ihm zum Beispiel geben würden, wenn wir seine Berater wären, was wir nicht sind, dann hätte er dies wesentlich früher getan, und ich glaube, es war hohe Zeit, und er hat es heute Abend ganz ordentlich gelöst.«

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Das heißt: Wenn der Präsident uns jetzt um Rat fragte, dann würden wir ihm raten, das, was er getan hat, früher getan zu haben. Das klingt natürlich absurd, als ob ein Rechtsanwalt dem Delinquenten erklärte: Das Beste wäre, du hättest die Tat nicht begangen. Aber die Frage verwandelt bei diesem erbetenen Urteil den Berater in eine politische Figur: Wie fanden Sie als Kommunikationsexperte diesen Auftritt? Und daher hakt der Moderator der Tagesthemen noch einmal nach: Was hätten Sie geraten, als die ersten Meldungen Mitte Dezember durchsickerten? Unvermeidlich läuft durch die Antwort durch das Zeitproblem: »Es ist die Strategie, die immer gilt und sich richtet nach den Gesetzmäßigkeit en, die Krisen haben. Wenn die erste Veröffentlichung passiert ist, dann gehört zunächst mal der nachrich tliche Raum der anderen Seite, denjenigen, die die Dinge hervorbringen. Da sollten Sie sich zunächst zurückhalten, versuchen, Ihre Fakten zu ordnen, um dann eben halt sehr schnell möglichst viel Transparenz herstellen zu können. Wenn Christian Wulff sehr frühzeitig gesagt hätte, ich bemühe mich um Transparenz, ich gebe Transparenz, bei den Dingen, die noch ein bisschen mehr Zeit zur Aufklärung brauchen, um dann auch korrekt darüber reden zu können, und wir reden hier über Vorfälle, die zum Teil 9 Jahre oder länger zurückliegen, dann kann man auch verstehen, dass es für solche Aufklärung Zeit braucht. Wenn man sagt, wir geben das, was wir wissen, jetzt, wir reden über das, was wir wissen, jetzt, und die Dinge, die noch ein bisschen mehr Aufklärungszeit benötigen, da werden wir auf Sie zurückko mmen, wenn diese Ergebnisse vorliegen – ich glaube, wenn er das sehr sehr früh getan hätte, und wenn er das in einer Art und Weise getan hätte, Sie haben eben das Stichwort ›Performance‹ genannt, die insgesamt mehr Glaubwürdigkeit ausgestrahlt hätte, dann wäre der Verlauf der Krise sicherlich deutlich ein anderer gewesen.«

Das Beratungsdilemma spielt darin, dass der Berater nur raten kann, wenn das zuoder abgeratene Handeln auf die Zeit der Zukunft eingestellt ist. Jede Äußerung zur Vergangenheit läuft auf ein Urteil hinaus. Die stets gültige Strategie, die der Berater verrät, formuliert freilich eine Schönwetterregel: Alles sagen, denn der Politiker muss »glaubwürdig« erscheinen, und das hat zur Folge, dass ihm seine persönlichen Fehler nicht moralisch schaden. Würde dieser Maxime Folge geleistet und immer alles gesagt, dann wären die Berater überflüssig. So wechselt die Deliberation zwangsläufig ins Register des Urteils, des politischen iudiciums. Wenn der Ratgeber ankündigt: »Ich will es kommunikationstechnisch und bewusst nicht politisch betrachten«, klammert seine Prognose »ich glaube, er hat Boden gut gemacht« die Frage der Glaubwürdigkeit zugleich aus und ein. Die Beraterexpertise, die feststellt, dass der Politiker als Beratungssuchender versagt hat, läuft auf ein politisches Urteil hinaus. Um es in Begriffen der lateinischen Rhetorik auszudrücken: Hier vollzieht sich ein Wechsel der genera, vom genus deliberativum zum genus iudicale, vom consi-

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lium zum iudicium. Auch hier läuft eine Synomymie von Rat und Politik mit. Der Ratende kann nur raten, wenn sich die Problematik in der Zeitperspektive der Zukunft darstellte. Das ist die Zeit des Rats. In seiner strategischen Kernaussage betonte Thomas Knipp, dass es um Schnelligkeit geht. Der Politiker muss nicht nur schnell handeln, sondern zuvor rasch Rat suchen. Der in die Verteidigungsposition Geratene muss die Vergangenheitslast abschütteln und die Gleichzeitigkeit mit den Zügen seiner Gegner anstreben. Er muss alles offenbaren, um wieder in die Zukunft einzutreten. Daher kann der Berater sagen, dass der Bundespräsident nicht in dieser Perspektive gedacht und gehandelt hat, er hat in der Dimension der Vergangenheit, in gerichtlicher Zeit gedacht, er wollte den Verdacht durch gerichtliche Zeit erodieren lassen. Damit hat er einen Kardinalfehler begangen, weil sich die politische Zeit, gerade wenn das Schwert des iudiciums über seinem Kopfe schwebt, in der gegenwärtigen Zukunft ausbreitet. Das heißt: Jetzt sagen die Prognosen, ob der Mächtige demnächst noch regieren wird. Und in der Krise entscheidet die Prognose, nicht die Zukunft. Dieser Fehler, der Beratungsfehler, die Verwechslung der Zeit des Urteils und der Zeit des Rats, ist der Irrtum in den deliberativen Tempora. Das politische Tempus bildet in der Krise eine Zeitverknotung, und das öffentliche iudicium zerschlägt diesen Knoten, indem es den Politiker wegschickt, dem schlechte Prognosen die Zukunft rauben. Die nächste Frage an den Berater, die dieser eigentlich bereits beantwortet hat, lautete daher: »Wie intensiv und mit wie viel professioneller Hilfe hat sich der Bundespräsident auf das Gespräch mit ARD und ZDF vorbereitet?« Und nachdem sich der Ratgeber zu der journalistischen Devise bekannt hat, nicht zu spekulieren, setzt er zur Spekulation an und sagt: »Ich weiß, dass er sehr gute Anwälte hat, ich kann nichts dazu sagen, wie er sich kommunikativ vorbereitet, meine wirkliche Spekulation wäre, dass er relativ wenig Hilfe hat, denn das, was hier kommunikativ gelaufen ist, ist sicherlich nicht mit einer besonders guten Note au szuzeichnen.«

Eine anscheinend alltägliche, ganz praktische Frage verwandelt sich in die Schwertdrohung: Hat der Politiker einen Fehler gemacht, muss das iudicium sein Urteil sprechen, vielleicht ein Gedicht im Morning Chronicle veröffentlichen. Oder hat er sich nicht richtig beraten lassen? Die Antwort lautet: Er hat den Fehler gemacht, sich nicht richtig beraten zu lassen. Er hat in beiden Sprachspielen, im consilium und im iudicium, versagt. Die Priorität der Performance verweist auf die Register, die die Beratung verwaltet, indem sie diese beiden Performativa zugleich trennt und vereint: In der Performance zeigt sich, ob Du Dich beraten lässt, und es zeigt sich, ob Du in der Vergangenheit die richtigen Entscheidungen getroffen hast. Als schlechter Performer, der sich nicht raten lässt, wirst Du künftig scheitern.

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Es gibt allerdings auch Gefahren für die Journalisten und Berater, die nach den Worten von Thomas Knipp eine ähnliche Funktion ausüben. Als Zensoren, die zensieren, ob die Performance »glaubwürdig« war und damit eine gute Prognose stellen, stehen sie in einem politischen Krieg. Das zeigt das selbstkritische Wort vom »Belagerungszustand« an: Auch die Zensoren betreiben Politik. Die Synonymie von Beratung und Politik gilt für sie nicht nur als Zensoren, sondern auch als selbständige Akteure der Politik. Ihr Spiel kann schief gehen, ihre Maske als Berater kann in dem Augenblick fallen, wo sich sonst niemand mehr an ihrem Spiel beteiligt. Diese Passage im Statement von Thomas Knipp soll noch einmal angeführt werden: »Wir haben eine Krise in einem anderen Fall gehabt, wo es ein hohes Maß an Belagerungszustand gab, nicht, die Journalisten belagern, man selber fühlt sich belagert, und wenn man dann Umfragen macht und die Leute, die mit der ganzen Sache zunächst mal nichts zu tun haben, weit weg sind, danach befragt, dann hört man sehr häufig: Ja, haben wir von gehört, ist kein großes Thema, haben wir, ehrlich gesagt, gar nicht so viel mit zu tun. Und ich glaube, dass man darauf immer sehr sehr stark achten muss, dass man nicht in einen Belagerungszustand selber mental verfällt, sondern eine innere geistige Unabhängigkeit hat oder aber Berater hat, die in der Lage sind, einem das zu geben, diese Unabhängigkeit.«

Der hier angesprochene »andere Fall« betrifft den Sturz des einstigen Bundesverteidigungsministers zu Guttenberg. Die Zensoren in den beiden Ämtern der Expertise und der journalistischen Öffentlichkeit hatten sich Knipps Meinung nach zu tief in das Kriegsspiel, den Belagerungszustand, eingelassen. Die so genannten »Leute«, das statistische Phantom, nahmen irgendwann keinen Anteil mehr an dem Krieg. In diese Lage darf der Zensor nicht geraten, denn dann verspielt er sein politisches Beraterkapital. Von ihm lässt sich niemand mehr beraten. Was kann ihn davor bewahren? Ein Berater mit geistiger Unabhängigkeit. Auch Berater benötigen Berater, wenn sie Politik betreiben, wenn sie der Synonymie von Beratung und Politik anheimfallen, an deren Zerreißung sie eigentlich arbeiten. Das deliberative Dilemma, so beschreibt sich die Lage unserer Tage, strebt seiner Totalisierung entgegen.

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Der Fall des Ödipus – antike Beratung zwischen Transzendenz und Immanenz E VA S CHAUERTE »O Bewohner Thebens, meiner Vaterstadt! Sehet, dieser Ödipus, / der die berühmten Rätsel löste, mächtig wie kein Zweiter war, / er, auf dessen Glück ein jeder Bürger sah mit Neid, / in welch große Brandung ungeheuren Schicksals er geriet! / Drum blicke man auf jenen Tag, der zuletzt erscheint, und preise keinen, der da sterblich, selig, eh er denn / zum Ziel des Lebens durchgedrungen, ohne dass er Schmerz erlitt.«1 »Eine scheinbare Erkenntnis also von den Dingen, nicht aber die Wahrheit besitzend zeigt sich der Sophist.«2

Zu einer Zeit, in der mit den sophistischen Wanderlehrern eine weitere wichtige Instanz der antiken Beratung die Bildfläche der griechischen Politik betritt, legt Sophokles eine neue Bearbeitung des Ödipus-Themas vor, deren Resonanz weit über ihre psychoanalytische Aneignung in der Moderne hinaus das 21. Jahrhundert erreicht. Das vermutlich um 430 v. Chr.3 uraufgeführte Theaterstück reinszeniert den tragischen Mythos von Ödipus, der sich mindestens bis in das 8. Jh. v. Chr. zurück-

1

Sophokles: König Ödipus, übers. u. Nachw. von Kurt Steinmann, Stuttgart 2002, 1522.

2

Platon et al.: Sophistes, Frankfurt a. M. 2007, 233c13-14.

3

Zur Frage der Datierung siehe Carl W. Müller: Zur Datierung des sophokleischen Ödipus, Wiesbaden 1984.

200 | E VA S CHAUERTE verfolgen lässt, in welchem Homer den Stoff bereits als bekannt voraussetzt 4. Heute werden neben seiner freudschen Interpretation und deren nachfolgender Dekonstruktion ebenso der Wahrheitsbegriff und die juridische Komposition des Stücks besprochen, welches historisch den Übergang vom archaischen zum klassischen Zeitalter einläutet. Eine andere Lesart des Stücks entfaltet Michel Foucault in seiner Vorlesung »Die Wahrheit und die juristischen Formen«, in welcher er die Rechts-, Wahrheitsund Herrschaftsverhältnisse des Dramas unter die Lupe nimmt und darin den Ursprung eines »abendländischen Mythos« von einer notwendigen Trennung von Macht und Wissen aufdeckt. Nach Foucault ist Ödipus nicht mehr der Unwissende, der unschuldig schuldig in sein Verderben läuft, sondern ein Wissender; Ödipus ist σοφ|ός, weise, weil er dank seines hervorragenden Verstandes als einziger das Rätsel der Sphinx lösen und die Stadt Theben somit von dem mordenden Ungeheuer befreien kann. Jedoch ist dieses Wissen lediglich ein Erfahrungswissen, es entbirgt keine Wahrheit im platonischen Sinne, es ist solitär und autokratisch, es ist das »solitäre Wissen dessen, der ganz auf sich gestellt und ohne andere um Rat zu fragen, mit eigenen Augen sehen will. Es ist das autokratische Wissen des Tyrannen, der die Stadt ganz allein zu regieren vermag.«5 Foucault betont den Gattungsbegriff des Tyrannen, der sich prominent in dem Titel des Stücks, Ödipus Tyrannus, niederschlägt und dem die Übersetzung mit König Ödipus nur ansatzweise gerecht wird. 6 Das Stück stellt für ihn eine Verurteilung dieser engen Verflechtungen von Wissen und Macht dar, die in erster Linie auf Machterhalt ausgerichtet sind und auf der nach Platon die Tyrannei ebenso wie die Sophistik beruhe; mit Sophokles setzt demnach in der ersten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts eine Zerschlagung dieser »großen Einheit einer politischen Macht, die zugleich Wissen war«7 ein, die das klassische Zeitalter in der Folge kennzeichnet. Spätestens mit Platon, dessen Geburt ungefähr auf den Zeitpunkt der Erstaufführung des Ödipus-Dramas datiert wird, und seinen Überlegungen zum Staat beginne »ein großer abendländischer Mythos, wonach es einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Wissen und Macht gibt. Wissen setze voraus, dass man

4

Vgl. Homerus/Michael Schröder/Karl F. Lemp: Odyssee (Odyssea), Buch 11, Berlin

5

Michel Foucault: Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt a.M. 2003, S. 47.

6

Die Frage dieser Übersetzung wird kontrovers diskutiert, vgl. z.B. Hartmut Böhme: »Wer

2011, 270ff.

wir sind. Ödipus und die Kultur«, in: Ortrud Gutjahr (Hg.): Ödipus, Tyrann: von Sophokles, nach der Übersetzung von Friedrich Hölderlin und der Bearbeitung von Heiner Mü ller in der Inszenierung von Dimiter Gotscheff, Würzburg 2010, S. 111-135. 7

Foucault: Die Wahrheit und die juristischen Formen, S. 50.

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auf Macht verzichtet. Wo Wissen und Wissenschaft zur reinen Wahrheit finden, da könne es politische Macht nicht geben.«8 Während Foucaults Anliegen darin besteht, den Trugschluss dieser Trennung und in wiederholter Referenz auf Nietzsche die tiefe Durchdringung von Wissen und Macht aufzuzeigen, die uns bis heute, gerade im Kontext moderner Normalisierungsgesellschaften, charakterisiert, soll es in diesem Aufsatz um einen Teilaspekt des Ödipus-Dramas gehen, der sich an eben jener Schnittstelle von Wissen und Macht ereignet und der bei Foucault nur am Rande Erwähnung findet; es geht um Beratung. So scheint nicht nur die dialektische Figur des symbolon, also eines in Stücke gebrochenen Gegenstandes, dessen zusammengesetzte Teile eine Macht oder deren Vertretung legitimieren, für die Entwicklung des Stücks paradigmatisch zu sein9, sondern auch die Frage einer Notwendigkeit von Drittheit eine signifikante Rolle im Verlauf der Wahrheitsfindung zu spielen. Inwieweit das sophokleische Ödipusdrama auch als ein Lehrstück in Sachen antiker Beratung zu lesen ist, soll im Folgenden zunächst anhand des Stücks selbst und daran anschließend mit Foucault und in Bezug auf Platons Polemik gegenüber der Sophistik beleuchtet werden. 1. Bei Sophokles wird die Geschichte des unglücklichen Helden Ödipus, der unwissentlich den Vater ermordet und die eigene Mutter ehelicht, rückblickend erzählt, in Form einer kollektiven Rekonstruktion und Wahrheitssuche, die an moderne Formen des okzidentalen Gerichtsprozesses erinnert. Dabei bedient er sich auf dem Weg zur Wahrheit nicht nur einer Reihe von Zeugen, sondern begibt sich in unterschiedlichste Beratungssituationen, die Licht in die Dunkelheit bringen sollen. Ausgangspunkt des Dramas ist eine Epidemie in Theben, der Residenz des König Ödipus, die sich nach einem Spruch aus Delphi nur überwinden lässt, wenn der noch im Lande befindliche Mörder des vormaligen König Laios gefasst und bestraft würde. Ödipus macht es sich zur höchsten Aufgabe, dem Spruch zu entsprechen, und es folgt ein Prozess der Befragungen, Bezeugungen und Konflikte, über welche die Geschichte unausweichlich auf die Wahrheit hinsteuert, nämlich dass kein anderer als Ödipus selbst den Laios erschlagen und dessen Frau Iokaste, seine leibliche Mutter, zur Frau genommen und mit ihr vier Kinder bekommen hat. Das analytische Theater führt vor, wie sich damit sowohl das Orakel des Laios erfüllt, nach welchem er von seinem eigenen Sohn ermordet würde und weswegen er den Neugeborenen hatte aussetzen lassen, als auch das Orakel des Ödipus, er werde den Vater erschlagen und sich mit der Mutter vermählen, verlässlich eintritt. Ödipus, der damals als Weise zu König Polybos und seiner Frau Merope nach Korinth gekom-

8

Ebd., S. 51.

9

Vgl. ebd., S. 37f.; Ausführung folgt weiter unten.

202 | E VA S CHAUERTE men war, war aus Korinth nach Theben geflohen um seinem Schicksal zu entgehen. Stattdessen lieferte er sich diesem damit aus und erschlug unterwegs einen Reisenden, dessen Wächter ihm den Weg versperrten. Dieser Reisende war niemand anderes als Laios, sein leiblicher Vater. Nach dieser Erkenntnis nimmt sich Iokaste das Leben und sticht sich Ödipus die Augen aus, damit er, endlich die Wahrheit »erblickend«, nicht mehr sehen muss. Das Stück ist nicht nur deshalb auch als Beratungsdrama zu lesen, weil es verschiedene Aspekte und Praktiken der göttlichen (durch das Orakel von Delphi und seinen irdischen Stellvertreter Teiresias) oder der soziopolitischen Beratung (Kreon, Iokaste, Chor) abbildet, sondern indem es darüber hinaus den korrekten Umgang mit Beratung, Beratschlagung oder besser noch: einem Mit-sich-zu-Rate-Gehen diskutiert. Es geht um die Wohlberatenheit, die euboulia, und ihre Tücken. Die euboulia, die im fünften Jahrhundert zu einem entscheidenden Erfolgsinstrument der Sophistik wird, leitet sich zunächst von βουλη, dem Nomen zu wollen und wünschen, ab, das als Wortstamm für eine ganze Reihe an Beratungssignifikanzen dient (sich beraten, sich beschließen, Beschluss und Plan). In seiner archaischen und klassischen Verwendung, so das historische Wörterbuch der Philosophie, bezieht sich βουλη nicht nur auf den Rat, den man gibt, sondern vielmehr auf jenen, den man hegt; es meint die Erwägung oder den Ratschluss, das »sammelnde Innehalten angesichts des menschenbetreffenden Laufes der Dinge« 10 Der Begriff der Beratung, den dieser Aufsatz auf die klassische Antike appliziert, umfasst dementsprechend das Bedeutungsspektrum von einer Praktik des sich Sammelns, Erwägens und Überlegens bis hin zu ihrem Resultat, einem überlegten Willen oder Ratschluss, die Situation des sich-Beratens selbst ebenso wie dessen politische Institutionalisierung, also den Rat als Versammlung und Organ.11 Es soll gezeigt werden, wie sich die einzelnen Semantiken und Begriffsnuancen im Laufe des klassischen Zeitalters zwar aufrecht erhalten, jedoch ihre Verknüpfung mit dem Verhältnis von Raum und Zeit und Vergangenheit und Zukunft sowie ihre Verbindung mit Schicksal und Geschick und die Qualität des Innehaltens oder Sammelns selbst einem Wandel unterliegen; während der menschliche Rat bei Homer noch die unbedingte Bemühung darstellt, dem göttlichen Ratschluss zu entsprechen und sich Beratung ausschließlich mit dem Vergangenen befasst, spiegelt Herodot – und hier befinden wir uns bereits in der Zeit von Sophokles – eine etymologische Schwelle wider. Zwar stellt die Vergangenheit noch immer den Fluchtpunkt seiner Beratungsszenen dar, die Wohlberatenheit als zögerndes Innehalten wird jedoch als »größter Gewinn« für die Menschheit deklariert – ein Gedanke, den die Sophistik in der Folge

10 Thomas Buchheim: »Rat«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1992, S. 29–37, S. 30. 11 Ebd.

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implementiert: mit ihr wird die euboulia zum Hauptgaranten für das erfolgreiche Leben; der menschliche Rat mag einem konstanten Maß an Ungewissheit ausgesetzt bleiben, doch wird dem irdischen Ratschluss, seiner Vernunft und deren konkreten Anwendung auf die Dinge und ihre Handlungsoptionen eine neue Wertigkeit verliehen: »denn selten kämpft das Geschick gegen die Klugheit, sondern das meiste im Leben richtet ein einsichtiger Scharfblick gerade«, heißt es bei Demokrit. 12 Das sophokleische Ödipus-Drama entwickelt sich nun, so die These dieses Aufsatzes, aus eben jener Schwelle der Begriffsentwicklung, die sich im Laufe des fünften vorchristlichen Jahrhunderts ereignet und vertieft. Es steht für den Konflikt zwischen transzendentaler und immanenter Beratung, zwischen Wahrheit und Wissen, Vergangenheits- oder Zukunftsbezogenheit und die noch heute brandaktuelle Frage nach der Verknüpfung von Rat und Wissen. Es hinterfragt schließlich die Beziehung von Beratung und Wahrheit und eine Form der Handlungs- und Entscheidungsmacht, die rasch in Machtlosigkeit umzuschlagen droht. Die Beratschlagungen des Ödipus-Dramas bilden das gesamte Arsenal antiker Beratung ab; das Orakel wird ebenso konsultiert wie der Seher Teiresias, außerdem berät sich der König mit seinem Schwager und seiner Frau. Der Chor steht darüber hinaus für die einberufene Volksversammlung, also eine öffentliche Institution, den Rat, der das Geschehen diskutiert und für den Zuschauer kommentiert. Das Problem des Ödipus ist demnach nicht fehlender Rat; im Gegenteil summieren sich die Instanzen, Sprüche und verbalisierten Ahnungen. Es ist sein Umgang mit dem Gehörten und einem Wissen, das er sich nicht selbst angeeignet hat; er misstraut dem Wissen von Dritten und glaubt vorzugsweise dem, was er mit seinen eigenen Augen gesehen hat. Seine Taten basieren auf Vernunftsüberlegungen und sind zukunftsgerichtet, immer wieder beruft er sich auf seinen Verstand und seine Klugheit, die er im Fall der Sphinx bewiesen hat; so fragt er auch den Seher Teiresias, wo dieser denn gewesen sei, als die »Sprüchespinnerin«, also die Sphinx, die Stadt bedroht habe. Und er fährt fort: »Das Rätsel freilich – es stand nicht in jedes hergelaufnen Mannes Macht, es auszudeuten, nein, Seherkunst tat Not: Da zeigte es sich klar, dass nicht von Vögeln du sie hast noch von der Götter einem als Erkenntnis. Doch da kam ich daher, der nichts wissende Ödipus, und machte ihr ein Ende, weil mit Verstand ich’s traf, von Vögeln nicht belehrt!« 13

12 Demokrit: VS 68, B119. 13 Sophokles: König Ödipus, 392ff.

204 | E VA S CHAUERTE Und auch der Chor zweifelt daraufhin vorsichtig an der Seherkraft des Teiresias: »Nun, gewiss, Zeus und Apollon/sind voll Einsicht und in Dingen der Sterblichen/wissend. Dass aber unter Männern ein Seher mehr wert sein soll als ich,/unfehlbar lässt sich das nicht entscheiden.«14 Ödipus hingegen ist sich seines Wissens sicher, und diese Sicherheit wird ihm zum Verhängnis. Es ist ihm zwar im Vorfeld gelungen, das Rätsel der Sphinx zu lösen und die Stadt Theben damit von dem Ungeheuer zu befreien; das viel näher liegende Rätsel seiner eigenen Herkunft und die damit verbundenen Konsequenzen will er bis zum Ende nicht verstehen. So folgert auch Kreon an früherer Stelle und in Bezug auf den Mord an Laios: »Die Rätselsängerin, die Sphinx, brachte uns dazu, was im/Verborgnen lag,/zu lassen, nur auf das Nächstliegende zu schaun.«15 Offenbar ist Ödipus nur imstande, als Rätsel zu lösen, was ihm explizit als solches gestellt wird; das Rätsel wird zum Fundament seiner Macht – er betont seine Verdienste im Fall der Sphinx immer wieder – und abermals ist es ein Rätsel, dass ihm den Thron wieder nimmt. Es empfiehlt sich daher, den Verlauf dieser rätselhaften Verkettungen genauer zu betrachten: Das Stück beginnt mit einer Pestepidemie, welche die Bewohner Thebens in Ratlosigkeit zurück lässt und diese veranlasst, ihren König Ödipus, der aus oben genanntem Grunde als der beste Rätsellöser gilt, zur Hilfe zu rufen und um Rat zu bitten, egal welches mantischen Mediums er sich dabei bediene: »Wir alle wenden uns an dich und flehn dich an: Einen Schutz find uns, ob du ihn von einem der Götter, einen Spruch vernehmend, ob du ihn von irgendeinem Manne weißt. Seh ich doch bei den Bewährten auch erteilten Rat ganz besonders lebendig wirken.«

16

Ödipus nimmt die Aufgabe an, tatsächlich hat er bereits seinen Schwager Kreon zum apollinischen Orakel nach Delphi gesandt. Der kommt mit dem Spruch zurück, man solle sich des Schandfleckes des Landes, nämlich des Mörders von Laios entledigen.17 Daraufhin wendet sich Ödipus nach Anraten des Chorführers an den bezeichnenderweise blinden Seher Teiresias, der sich zunächst weigert, dann aber die Wahrheit klar und deutlich verbalisiert: »Des Mannes Mörder, den du suchst, sag ich, bist du!«18 Als Ödipus sich dieser Wahrheit wiederholt verweigert und ihn der

14 Ebd., 498ff. 15 Ebd., 130f. 16 Ebd., 41ff. 17 Ebd., 95ff. 18 Ebd., 363.

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Lüge bezichtigt, packt Teiresias seine Prophezeiung bezeichnenderweise in Rätselform, höhnisch, als ob dies der einzige Weg darstelle, dem Ödipus zu Erkenntnis zu verhelfen: »Ich sag dir aber, dieser Mann, den lang du suchst, drohend und ausrufend den Mord an Laios: der Mann ist hier, ein Fremder, meint man, zugezogen, doch dann wird als gebürtiger Thebaner er entpuppen sich und nicht sich freun der Wandlung; blind statt sehend, Bettler anstatt reich: über ein fremdes Land hin, mit seinem Stab den Grund abtastend, wird er wandern. Ans Licht wird kommen: mit den eignen Kindern lebt er zusammen, als ihr Bruder und ihr Vater, der gleiche Mann, ist der Frau, der er entspross, Sohn und Gemahl und des Vaters Mitsäer und sein Mörder! Und nun geh hinein und sinn darüber nach! Und fassest du als Lügner mich, dann sage, dass ich in der Seherkunst nichts weiß!«

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Doch Ödipus geht nicht hinein oder sinnt nach; er ist erbost und verdächtigt augenblicklich seinen Schwager Kreon, ihm nur deshalb zu der Konsultation des Teiresias geraten zu haben, weil er sich mit jenem verschworen und selbst nach der thebanischen Herrschaft trachte. 20 Kreon wehrt ab und entrüstet sich: »Und steh noch jetzt zu diesem meinem Rat.«21 Der König bespricht sich daraufhin mit der Iokaste, die von dem Spruch berichtet, den sie und Laios einmal erhalten haben, nämlich »dass über ihn das Schicksal kommen werde, durch den Sohn zu sterben, der aus mir und ihm entstünde«22 und dass sie ihren Sohn in Folge dessen in das Gebirge haben werfen lassen. Ödipus entgegnet mit einem Spruch, den er seinerseits von Apollon erhielt, »dass ich der Mutter mich vermischen müsste und ein Geschlecht, den Menschen unerträglich anzusehen, zutage bringen würde und Mörder dessen sein, der mich gepflanzt, des Vaters«23. Doch aller nun offenkundiger Indizien zum Trotz, wollen Iokaste und Ödipus die Wahrheit noch immer nicht sehen

19 Ebd., 449ff. 20 Vgl. ebd., 378ff. 21 Ebd., 557. 22 Ebd., 710ff. 23 Ebd., 785ff.

206 | E VA S CHAUERTE und rufen nach dem Hirten, der damals mit der Entsorgung des Kindes betraut war und der zugleich als der einzige Überlebende des Königsmordes ein eremitäres Leben verbringt. Erst als dieser, gemeinsam mit dem Boten aus Korinth, die Geschichte bestätigt, realisieren die beiden die Fatalität der Zusammenhänge, der sie mit dem Tod und er mit Blendung zu entgehen suchen. Eine besondere Rolle nimmt das gesamte Stück entlang der Chor ein, der nicht nur eine regelmäßige Zusammenfassung der Ereignisse liefert, sondern oberhalb der Handlung bereits ihre weitläufigeren Konsequenzen zur Sprache bringt. Das Thema einer göttlichen Wahrheit und der Prophetie einerseits und des menschlichen Verstandes und seiner Bindung an das Geschick andererseits sind in seinen Versen besonders virulent. Für die Volksversammlung stehend spricht er sich zunächst für Ödipus als Thebens legitimen Herrscher aus, weil er sich im Umgang mit dem Rätsel der Sphinx bewährt und der Stadt verdient gemacht hat. Trotzdem vereint der Chor die verschiedenen Stimmen der Bewohner Thebens, und seine Einschübe stehen für die Diskussionen der Versammlung. Es ist zunächst der Chor, der Teiresias als den »einzigen der Menschen«, den »göttlichen« Seher, »dem die Wahrheit eingeboren ist«, empfiehlt, um die Wahrheit über den Mord an Laios zu Tage zu befördern. Und ebenso zweifelt der Chor zunächst vorsichtig an den Beschuldigungen des Teiresias und spricht sich für den Angeklagten aus: »Doch niemals würd ich für mein Teil, eh ich ein bewiesnes Wort gesehen, wenn man ihn bezichtigt, beistimmen. Denn vor aller Augen trat gegen ihn an die geflügelte Jungfrau einst, und klug erschien er in der Prüfung und hold der Stadt. Darum wird, nach meinem Sinn, er nie für schuldig befunden werden einer Untat.« 24

Nie aber stimmt er in die häretischen Anwandlungen des Ödipus25 ein, der an späterer Stelle die Authentizität der Orakelsprüche aus Delphi verwirft. Stattdessen lässt

24 Ebd., 504ff. 25 »Oh, oh! Was soll dann einer, Frau, noch schaun/auf Pythos Seherherd und die droben/krächzenden Vögel, deren Weisung nach/ich töten sollte meinen Vater? Der jedoch, gestorben,/ruht im Schoß der Erde schon – und ich, dieser hier –/kein Schwert berührt – wenn nicht vor Sehnsucht er nach mir/vielleicht dahingeschwunden – so, ja, mag er gestorben sein durch mich./Doch jedenfalls die gegenwärtigen Orakelsprüche nahm er mit sich/und liegt im Hades, Polybos – und sie sind nichts wert!«, ebd., 964ff.

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er keinen Zweifel an der göttlichen Wahrheit. 26 Er warnt den Ödipus vor vorschnellen Verurteilungen (»Herr! Wer schnell denkt, strauchelt leicht.«), doch dieser beharrt auf seinem zügigen Vorgehen: »Wenn einer, der einen Anschlag plant im Dunkeln, schnell vorgeht, so muss schnell auch ich entgegenplanen. Wart ich aber in aller Ruhe zu, so wird sein Tun von Erfolg gekrönt, meines aber zuschanden sein.« 27

Es ist abermals der Chor, der den grundlegenden Trugschluss des ödipalen Handlungsprogramms aufdeckt, der erkennt, dass es schließlich die Zeit ist, die dem Ödipus zum Verhängnis wird (»Entdeckt hat gegen deinen Willen dich die alles sehende Zeit«28), und der den Kreon als Gegenpart der Handlung und Beratung installiert. Selbst nach seiner Blendung versucht Ödipus noch, im Rahmen seiner bereits verlorenen Macht Befehle zu erteilen und fordert den Chor auf, ihn ins Meer zu werfen. Doch dieser hat bereits erkannt: »Doch für das, worum du bittest, genau zur rechten Zeit kommt Kreon/jetzt, zu handeln und zu raten, da er/allein statt deiner als des Landes Hüter übrig bleibt.«29 Kreon führt als Regierungsalternative zu Ödipus nun vor, wie mit der apollinischen Beratung umzugehen ist, verhält sich dem göttlichen Orakel gegenüber demütig und will niemals etwas tun oder entscheiden, ohne es vorher von neuem zu konsultieren. Handeln und Raten werden als gleichwertige Qualitäten Kreons angeführt, das Raten findet nicht vor dem Handeln und somit diesem untergeordnet statt, sondern wird als ein immer währender und ständig zu regenerierender, gleichwertiger Prozess proklamiert. Auf Ödipus Bitte, ihn aus dem Land zu werfen, entgegnet Kreon: »Ich hätte es getan, das wisse wohl, doch möchte ich/vom Gott zuerst erfahren, was man machen soll«. Ödipus, der noch immer nicht begriffen hat, wie die delphische Mantik funktioniert, antwortet, der Spruch sei doch eindeutig gewesen, er müsse getötet werden. Doch Kreon, der Bedächtige, handelt nach Sophokles vorbildlich: »So hieß es; und trotzdem, angesichts der Not, in der wir stehn, ist’s besser nachzufragen, was zu tun sei.« Die Essenz des Stücks liegt, so meine These, in diesem Diktum. Ödipus ist derjenige, der beherzt und rasch handelnd das Rätsel der Sphinx gelöst hat, jedoch hat er damit nur die Oberfläche des wahren Problems vorübergehend bereinigt. Kreon, der mit der nötigen Distanz und Ruhe und im Aus-

26 Vgl. ebd. 497ff.: »Nun, gewiss, Zeus und Apollon/sind voll Einsicht und in Dingen der Sterblichen/wissend.« 27 Ebd., 617ff. 28 Ebd., 1212. 29 Ebd., 1416.

208 | E VA S CHAUERTE tausch mit seinem Umfeld und dem delphischen Gott die Dinge betrachtet, wird am Ende zum rechtmäßigen Entscheider. Er führt vor, dass der delphische Gott die Dinge weniger determiniert als das Zukünftige voraussagt, dass seine Sprüche bildlich und mehrdeutig zu verstehen sind30 und dass sich Prophezeiungen somit auch ändern können – jedenfalls wenn man den neueren, antiidealistischen und antideterministischen Deutungen folgt. 31 Egon Flaig weist ebenfalls auf dieses Zeitdefizit von Ödipus hin und arbeitet heraus, wie Sophokles das gesamte Stück über die Geschwindigkeit hervorhebt, mit welcher der Tyrann seine Entscheidungen trifft. Dabei ergibt sich nach Flaig ein Kommunikationsdefizit; Ödipus spart Zeit, weil er nicht über mögliche Handlungsalternativen oder erwägbare Möglichkeiten nachsinnt, und sich rasch auf eine einzige festlegt, wo andere »nachsinnen und Rat einholen«; hierin liegt sein Vergehen. Eine »kommunikative Arbeit« des Beratens wäre nach Flaig gesellschaftlich und kulturell erfordert und erwartet gewesen, zum dezidierten Zweck einer Vermeidung falscher Entscheidungen.32 Das geschwinde und unüberlegte Handeln des Ödipus ist einem Missverständnis geschuldet, welches Thomas Macho in seinen Skizzen zu einer Epistempologie der Beratung zu Recht als »oberflächliches« einstuft: Danach entspringt die »Geschichte der Beratung [...] einem Zeitgewinn, der bei oberflächlicher Auffassung als Zeitverlust erscheinen mag. Jeder Rat kommt vor der Tat, die er vertagt.«33 Weil der Tyrann den Gewinn einer ordentlichen Beratung – und dies umschließt sowohl die erneute Konsultation des Orakels als auch die respektvolle Auseinandersetzung mit dem Seher, den gemäßigten Austausch mit seinen Nächsten und zuletzt nicht zu vergessen: mit dem Volk – nicht erkennt, wird er selbst zum Opfer der Zeit. Nach Flaig spannt sich die gesamte Handlung des Stücks letztendlich zwischen den zwei Polen des Rätsels und des Orakels auf. Denn auch wenn sich das Orakel bisweilen rätselhaft ausdrückt, kontrastieren sich beide ontologisch. Das Rätsel ist zur Zeit des Sophokles ein Spiel, das kompetitiv betrieben wird und nur eine einzige Lösung zulässt – wenn es ein gutes Rätsel ist. Das Rätsel erfordert einen scharfen Verstand, Findigkeit und Schnelligkeit. Mit Lévi-Strauss versteht Flaig das Rätsel als »brüske Unterbrechung der Kommunikation [...]: die Antwort wird von der Frage abgetrennt, das Ziel der Frage besteht darin, daß die Antwort nicht zu ihr ge-

30 Hierzu vgl. Valdis Leiniek: The plays of Sophokles, Amsterdam 1982, S. 87ff. 31 Zur Diskussion der verschiedenen Deutungsweisen des Dramas siehe den Kommentar von Jean Bollack: Sophokles, König Ödipus, Frankfurt a. M. 1994.. 32 Vgl. Egon Flaig: Ödipus. Tragischer Vatermord im klassischen Athen, München 1998, S. 122. 33 Thomas Macho: »Was tun? Skizzen zur Wissensgeschichte der Beratung«, in: Thomas Brandstetter/Claus Pias/Sebastian Vehlken (Hg.): Think Tanks. Die Beratung der Gesellschaft, Berlin 2010, S. 59-85, S. 59f..

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langt, immer wieder an ihr vorbeigeht«. 34 Die Weissagung des Orakels hingegen ist vieldeutig und lässt unterschiedliche Interpretationen zu. Es habe daher in der antiken Klassik als »unratsam« gegolten, »eine Weissagung alleine deuten zu wollen; man könnte Möglichkeiten übersehen oder – unter der Anspannung, die auf einem lastet – sich verkrampfen und sich vorschnell in eine Interpretation verbeißen. Man soll sich mit Freunden oder Verwandten beraten: diesen fallen Deutungen ein, die dem Adressaten nicht in den Sinn kommen; und sie können ihn daran hindern, sich übereilt festzulegen und sich starrsinnig festzuklammern«. 35

Folgt man dieser Perspektive, ist das Ödipus-Drama von Sophokles nicht mehr als Metapher für die »Dämonie des Wissenwollens um jeden Preis«36 zu verstehen, die nach Wolfgang Schadewaldt einen Grundzug des modernen, wissenschaftlich forschenden Menschen ausmacht, sondern der leichtfertigen Setzung eines ungesicherten Wissens. Egon Flaig sieht in dem sophokleischen Ödipus-Drama im kulturellen Kontext der klassischen Politik eine »virulente Problematik der athenischen Politik« reflektiert, nämlich die des »eiligen Entscheidens«. Ödipus ist demnach nicht derjenige, der um jeden Preis und unbedingt wissen möchte, sondern der auf Kosten einer herauszufindenden Wahrheit pragmatisch und voreilig seine Entscheidungen trifft, der einen »falschen Umgang mit dem Wissen und seinen Grenzen«37 repräsentiert: »Er verkehrt das Verhältnis von Wissen und Entscheiden: Um entscheiden zu können, muß man zuvor wissen – zumindest in einem gewissen Ausmaß. In einem beängstigenden Grad macht sich Ödipus hingegen zum Herrn des Wissens: durch einen Willensentscheid bestimmt er, was er weiß – nämlich wer seine Eltern sind.«38

Versteht man die Tragödie als politisch-pädagogisch induziertes Lehrstück, was sich auf Grund der Produktions- und Aufführungsbedingungen in der antiken Klassik anbietet,39 richtet sich ihre Botschaft und Mahnung zur innehaltenden Beratung

34 Flaig: Ödipus, S. 123; Claude Levi-Strauss: »Mythe et Oubli«, in Julia Kristeva/Nicolas Ruwet/Jean C. Milner (Hg.): Langue, discours, société: pour Émile Benveniste, Paris 1975, S. 294-300. 35 Flaig: Ödipus, S. 123. 36 Wolfgang Schadewaldt, zit. n. Kurt Steinmann: »Nachwort«, in: Sophokles: König Ödipus, Stuttgart 2002, S. 77-83, S. 80. 37 Flaig: Ödipus, S. 126. 38 Ebd., S. 123. 39 Vgl. ebd., S. 52.

210 | E VA S CHAUERTE an jeden einzelnen Bürger Athens, in Bezug auf seine Entscheidungsmacht und politische Aufgabe, wie sie in der Rolle des Chores bereits anklingt. In einer Zeit, in der die Tyrannei gerade überwunden wurde und sich die Demokratie implementiert, steht das System des Ödipus einmal für eine Vergangenheit, die zu vermeiden und aus der zu lernen ist; es warnt aber zweitens auch vor einer Politik des schnellen Entscheidens und der Individualisierung, wie sie die Praktiken der neuen Volksversammlung, in der sich immer jeder zu Wort melden kann und die somit einen permanenten Druck zur Überbietung und Steigerung erzeugt, in bisher unbekanntem Maße generieren.40 Die politische Bedeutung des Stücks im Hinblick auf einen nun auch institutionalisierten Rat, nämlich die Volksversammlung und ihre politische Praxis, soll im folgenden Abschnitt diskutiert werden. 2. Auch Michel Foucault versteht das Ödipus-Drama politisch und bezieht es sowohl auf die historische Vergangenheit als auch auf die Gegenwart des Stücks. Demnach übt Sophokles am Beispiel des Ödipus Kritik an einer tyrannischen Staatsform, der es letztlich nicht um die Wahrheit, sondern vornehmlich um Machterhalt geht. Darüber hinaus verknüpft er die Tragödie mit der in ihrer Folge aufkommenden platonischen Philosophie und sieht zusammen mit dem Tyrannen oder Assyrerkönig auch die Figur des Sophisten in den Mittelpunkt der Kritik gerückt. Die Figur des Tyrannen gehört der archaischen Zeit an, von der sich die Klassik mit Sophokles und seinen Zeitgenossen und einer neuen, athenischen Demokratie verabschiedet. Gleichzeitig ist sie jedoch in Geschichten, aber auch in Gestalt von einzelnen Personen noch so präsent, dass sie eine ständige Bedrohung des gegenwärtigen Systems darstellt. Bei Herodot liest Foucault nach, was den Tyrannen des 6. und 5. Jhdts. charakterisiert, und zeigt, dass es eben jenes Zusammenspiel aus Macht und Wissen ist, das auch den Ödipus durchzieht. Der Tyrann ergreift demzufolge nicht einfach gewaltsam eine Macht, sondern setzt sich kraft seines »überlegenen Wissens«41 an die Spitze eines Volkes, wie Ödipus demonstriert. Doch Ödipus’ Fall beweist schließlich, so Foucault, die Obsolenz eines solchen Wissens in der Klassik. Die Wahrheitssuche, die sich zwischen der Wahrheit der Götter und der Erinnerung der Menschen aufspannt, führt schließlich zum Erfolg und macht das Wissen des Tyrannen »überflüssig«. Wie bei dem Zerbrechen eines traditionellen Gegenstandes, der für die Macht steht, das symbolon, werden die verschiedenen Hälften der Geschichte ineinandergefügt, und es offenbart sich eine Kongruenz von der Erinnerung der

40 Ebd., S. 117f. 41 Foucault: Die Wahrheit und die juristischen Formen, S. 46. Eine Seite zuvor bringt er das Beispiel von Kypselos bei Herodot.

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Menschen und den göttlichen Prophezeiungen – die Rekonstruktion der Vergangenheit und die Voraussagungen der Zukunft decken sich. »Diese Übereinstimmung definiert die Tragödie und schafft eine symbolische Welt, in der Erinnerung und Diskurs der Menschen gleichsam den empirischen Rand der großen Prophezeiung der Götter bilden.«42 Ödipus, als der Mann, der sich mit seinem Wissen zwischen die Götter und die Menschen stellt, wird nicht mehr gebraucht; im Gegenteil stellt er fortan eine Bedrohung für das Gleichgewicht der dialektischen Ordnung dar, ebenso wie er Krankheit und Unfruchtbarkeit über Theben gebracht hat. Transzendenz und Immanenz stellen bei Sophokles, so lässt sich resümieren, die zwei Pole einer guten Beratungspraxis dar, welche wiederum als unerlässliche Grundlage für gutes politisches Handeln gilt. Sie spiegeln und ergänzen sich, dürfen aber nie zur Unkenntlichkeit verwischen. Ödipus ist derjenige, der sich nicht an diese Dialektik hält und ihr seine eigene Ordnung aufzusetzen versucht, ein Regierungssystem, welches seine Wahrheit beliebig nach ihrem Nutzen und nicht nach dem Wesen der Dinge ausrichtet. Foucault verweist auf die Philosophie Platons, die sich einige Jahre später entwickelt und die von Sophokles gewissermaßen vorbereitet wird. Zwar werde bei Platon das Wissen der Knechte endgültig entwertet und stattdessen die Wesensschau und eine Beschäftigung mit den Ideen eingefordert; das gemeinsame Thema bei Sophokles und Platon situiert er jedoch in der allgemeinen Disqualifikation »eines privilegierten und zugleich exklusiven politischen Wissens«. Als das eigentliche Ziel hinter Ödipus und der Figur des wissenden Tyrannen erweist sich daher »in historischer Sicht der berühmte Sophist, der berufsmäßig mit politischer Macht und politischem Wissen umging und den es zur Zeit von Sophokles in der athenischen Gesellschaft tatsächlich gab«.43 Demnach machten sich besonders die Sophisten aus dem 6. und 5. Jahrhundert die »magisch-religiöse Macht« der Assyrerkönige zu Nutzen und ließen sich für ihre Vorträge und Schulungen bezahlen, über die sich ihre Kunden zu mehr Macht zu gelangen erhofften. Platon muss nun diese Verbindung zwischen Macht und Wissen zerstören um seine Philosophie des eidos und die Trennung zwischen dem Philosophen, der in Verbindung mit den ewigen Wahrheiten der Götter und des Geistes steht, und einem dem Schein verfallenen, unwissenden Volk zu installieren. Inwieweit die Sophisten dennoch, oder gerade: als Abstoßungsfigur für einen epistemologischen Bruch während des Übergangs vom archaischen zum klassischen Zeitalter stehen und welche Konsequenzen dies für die klassische Beratungspraxis bereithält, soll abschließend behandelt werden. Im Gegenzug zum Tyrannen ist der Sophist zur Zeit von Sophokles keine aussterbende Gattung, sondern ein im regen politischen Treiben präsenter Berufszweig,

42 Ebd., S. 40. 43 Ebd., S. 49.

212 | E VA S CHAUERTE der mit der neuen Staatsform der Demokratie zu Entfaltung und Professionalisierung findet. Platon, der in der Demokratie die Tyrannis immer schon angelegt sieht44, legt mit seinem Staatsentwurf ein Gegenmodell vor, in dem schließlich einige wenige die Gemeinschaft ans Licht führen sollen. Dies funktioniert nur, wenn die Macht durch Philosophen besetzt wird, deren Sorge durch die Suche nach der Wahrheit und nicht durch Machtstreben erfüllt ist. Dass sein Konzept in der Praxis wiederholt fehlschlägt und dass sowohl sein Lehrer Sokrates von der Gemeinde missverstanden zum Tode verurteilt wird, als auch er selbst in seiner beratenden Funktion wiederholt aus Sizilien flüchten muss und erfolglos bleibt, mag zu seiner Haltung gegenüber der Pragmatik der Sophisten und ihrer Anpassungsfähigkeit an das jeweilige politische System entschieden beigetragen haben, kann hier jedoch nicht ausreichend behandelt werden. Stattdessen sollen die Ausführungen von Platon dazu dienen, anhand der von ihm skizzierten Figur der Sophisten noch einmal den Zusammenhang einer klassischen euboulia und verschiedenen Beratungskontexten und –konzepten zu beleuchten. In dem Dialog Sophistes greift Platon eine Reihe von Argumenten aus seinen vorigen Texten, insbesondere aus der Politeia wieder auf, mit dem Ziel einer genauen Bestimmung des Sophisten und seiner Verwerfung als »Dünkelnachahmer«, »Seelenkrämer« und »Streitkünstler«. Ein Fremder aus Elea setzt sich im Gespräch mit dem jungen Theaitetos dialektisch mit der Frage des Sokrates auseinander, inwieweit sich die Begriffe des Sophisten, des Staatsmannes und des Philosophen unterscheiden. Er fragt danach, ob der Sophist auch Philosoph oder Staatsmann sein könne, ob es möglich wäre, dass einer über alles Bescheid wisse, und wenn ja, ob sich ein solches Wissen wirklich lehren lasse. Über eine Reihe dihairetischer Verfahren kommen die beiden Diskutanten zu dem Schluss, dass die Sophisten die Weisheit (sophia) unrechtmäßig für sich beanspruchen; sie vermitteln lediglich den Schein, »über alles zu wissen, ohne es zu wissen«45 und wenden sich mit ihrer trügerischen Kunst vorzugsweise an reiche und machthungrige Jünglinge, die sich für das sophistische Spiel mit Meinungen und einem Wissen, das an keine wahre Erkenntnis gebunden ist, sondern nach Selbstdurchsetzung strebt, besonders empfänglich zeigen. »In allen Dingen also scheinen sie ihren Schülern weise zu sein«, folgert der Fremde, ohne »es doch zu sein; denn das hatte sich als unmöglich gezeigt«46. Platons Polemik gegenüber den Sophisten trifft die Ödipus-Kritik bei Sophokles in ihrem Kern. Auch hier wird das Wissen zur Selbstdurchsetzung instrumentalisiert, wie Foucault anschaulich aufschlüsselt. Das Wissen dient der Machterweite-

44 Platon: Politeia. Der Staat: Über das Gerechte, Hamburg 1989, 562ff. 45 Platon: Sophistes, 232a10. 46 Ebd.

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rung und -sicherung, und zwar sowohl das Wissen des Sophisten selbst, als auch jenes, das er den anderen lehrt. Ausgehend von der Gegenüberstellung des Orakels und der Sophisten skizziert auch Thomas Macho seine Unterscheidung zwischen charismatischen und pragmatischen Beratern. 47 Während sich der charismatische Berater durch seine Exklusivität und Mystik, aber auch durch ein hohes Risiko auszeichnet – nur ein einziger Misserfolg würde seine Autorität zerstören –, handelt es sich bei dem pragmatischen Berater um einen öffentlich auftretenden, sich als Teil der Gemeinschaft verstehenden, zeitlich begrenzten Typus, der seine Ratschläge bei Bedarf auch revidieren oder ändern darf, ohne dabei seine Legitimität zu verlieren. Der sophistische Wanderlehrer hat sich, so könnte man sagen, an die neuen soziokulturellen und politischen Bedingungen des fünften Jahrhunderts angepasst. Während in der archaischen Zeit lange Wege zurückgelegt wurden, um die Orakel in innen-, vor allem aber auch außenpolitischen Fragen zu konsultieren, betritt mit den Sophisten eine eigens mobile Beraterschaft die Bildfläche, welche der neuen Geschwindigkeit und den geographischen Strukturen der klassischen Gesellschaft Rechnung trägt. Langsam ereignet sich ein Medienwechsel, mit dem das Orakel in eine ähnliche Lage gerät wie heute die Briefpost. Nach wie vor gilt es als ehr- und glaubwürdig, jedoch ist es langsam, umständlich und leicht korrumpierbar. Stattdessen haben sich die Sophisten verstreut, sind stets zugegen und können rasch und wendig reagieren. Ihre Präsenz und ein anderer politischer Fokus lassen die Orakelpraxis allmählich verblassen; außenpolitische Fragen werden nicht mehr mühsam nach Delphi getragen und dort diskutiert, sondern mutieren zum Spielball der Interessen ehrgeiziger Demagogen in der Volksversammlung. Das bedeutet nicht, dass die Sophisten in direkter Konkurrenz zum Orakel auftreten oder es ablösen; das Orakel genießt in der öffentlichen Wahrnehmung einen vollkommen anderen Status und wird noch bis ins vierte Jahrhundert n. Chr. konsultiert. Jedoch lassen sich Andrang und Wichtigkeit, die besonders dem delphischen Orakel als allgemeinem Ordnungsdispositiv zwischen dem achten und fünften Jahrhundert zukommt, nicht vergleichen. Infolge der unzähligen gesellschaftlichen Umbrüche und der sich abwechselnden kulturellen Systeme verliert das Orakel den globalen Glanz, den es zuvor ausgestrahlt hat, und passt sich dem historischen Wandel an, wie beispielsweise Plutarch knappe vierhundert Jahre nach Sophokles in seinen pythischen Schriften anschaulich beschreibt.48

47 Macho: Was tun?, S. 70. 48 So z.B. in dem Dialog »De defectu oraculorum«: »Da aber das Leben zugleich im Geschehen und im Wesen der Menschen eine Wandlung durchmachte, die Mode den überreichen Putz verdrängte, den goldenen Kopfschmuck beseitigte, den Leuten die weichen Prachtkleider auszog, auch wohl den allzu üppigen Haarwuchs abschor und die hohen

214 | E VA S CHAUERTE Die Sophisten nehmen parallel, folgt man der Polemik Platons, den Platz des Dritten ein, den auch der Philosoph beansprucht, jedoch führen sie nicht an das Licht, sondern bezaubern ihre Hörer mit Worten, führen »gesprochene Schattenbilder von allem« vor, »so daß man sie glauben macht, es sei etwas Wahres gesagt, und der, welcher es sagt, der weiseste unter allen in allen Dingen« 49. Dass diese Sichtweise Platons der Sophistik nicht einwandfrei gerecht wird und inwiefern die Sophistik sich als ernstzunehmende Beraterschaft und Vorbotin der modernen Wissenschaften in der griechischen Gesellschaft installiert, muss an anderer Stelle diskutiert werden. Für die Untersuchung des Ödipus-Dramas und der Frage nach der Gestalt antiker Beratung verweist sie auf eben jenen epistemologischen Umbruch oder Konflikt, der sich zwischen einer kreonischen und einer ödipalen euboulia auftut. Die Kritik von Sophokles richtet sich nach Foucault auf eine sophistische euboulia, die pragmatisch mit einem gegebenen Problem verfährt, auf das sie eine konkrete Antwort sucht. Es ist eine Wohlberatenheit, die auf der Oberfläche der Geschehnisse agiert. Gefordert ist jedoch nach Sophokles, wenn wir Foucault folgen und weiterdenken, ein permanenter Fluss an Beratung, Beratschlagung und eines Mit-Sich-zu-Rate-Gehens, welche die oberste Schicht der Ereignisse durchdringt und an die Ursachen gerät, die göttlichen Ideen und das Wesen des Augenscheinlichen freilegt. Die euboulia schwankt also im fünften Jahrhundert zwischen dem Status eines politisch-rhetorischen Instruments und dem einer ethischen Tugend, ein Schwanken, das von Sophokles als Bedrohung wahrgenommen und entlang der Tragödie des König Ödipus ins Bildhafte umgesetzt wird.

Schuhe von den Füßen zog, da man sich verständigerweise gewöhnte, der Üppigkeit gegenüber mit Einfachheit zu prunken und das Schmucklose und Schlichte höher zu schätzen als das Aufgeputzte und Überladene: da machte auch der Sprachstil die Änderung mit und legte ebenfalls den Prunk ab, die Geschichte stieg von den Versen wie von einem Wagen herunter, und durch die ungebundene Form vor allem schied sich das Wahre vom Märchenhaften, und die Philosophie zog das Klare und Belehrende dem Erschütternden vor und führte ihre Untersuchungen mit den Mitteln der Logik. Da machte auch der Gott ein Ende damit, die Pythia ihre Landsleute ›Feueranzünder‹, die Spartaner ›Schlangenfresser‹, die Menschen ›Bergbewohner‹, die Flüsse ›Bergtrinker‹ nennen zu lassen; er entfernte aus den Wahrsprüchen Verse, altertümliche Wörter, Umschreibungen und Unklarheiten und ließ sie so zu den Orakelsuchenden sprechen, wie die Gesetze mit den Gemeinden reden, die Könige mit ihren Völkern und wie die Schüler ihre Lehrer sprechen hören, indem er auf das Verständliche und Überzeugende abzielte.« (Plutarchus: Über Gott und Vorsehung, Dämonen und Weissagung, Zürich 1952, S. 98f.) 49 Platon: Sophistes, 234c.

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Diese Lesart der sophokleischen Tragödie stellt nur eine mögliche Deutungsweise dar und ist dem speziellen Fokus auf die Beratungsverhältnisse des archaischen und klassischen Zeitalters geschuldet. Dabei nimmt sie jedoch Bezug auf andere Interpretationen und Kontroversen, die sich mit Fragen nach dem Schicksal, der Möglichkeit einer condition humaine oder einer Dämonie des Wissenwollens befassen. Ziel des vorliegenden Aufsatzes war, zu zeigen, dass sich das Stück auch als Lehrstück von Beratung lesen lässt und zwar von Beratung nicht als politisches Instrument, sondern als Ethos, der das Leben und die alltägliche soziale Praxis umstandslos durchzieht. Ödipus und Kreon wurden dabei als die beiden Antipoden in Fragen der Wohlberatenheit, der euboulia, herausgearbeitet. Während Ödipus für eine pragmatische und handlungsorientierte Herangehensweise steht, die Beratung nur in bedingtem Maße zulässt und das Beratungsangebot vorzugsweise bis zu dem Augenblick ausreizt, in dem die gewollte Antwort erfolgt, repräsentiert Kreon eine besonnene Form der Hybris aus Handeln und Beraten, die dem sensiblen Gleichgewicht aus menschlicher Erinnerung und göttlicher Wahrheit Rechnung trägt. Der politisch-pädagogische Charakter des Stücks ergibt sich vor dem Hintergrund eines Wandels, der eben jene zwei Konzepte von Beratung beinhaltet und ihre Trennung verstärkt. Mit der attischen Demokratie erhält die griechische Politik eine neue Dynamik und Schnelligkeit, die andere rhetorische und politische Methoden erfordert. Der Schlagabtausch und die Redefreiheit in der Volksversammlung führen zu einem bis dato unbekannten Zeitdruck und neuen Formen der Konkurrenz. Während der König als alleiniger Entscheider noch die Zeit und Ruhe besitzt um eine Gesandtschaft nach Delphi auszusenden, den Spruch und ihre Rückkehr abzuwarten und dann erst eine Entscheidung zu treffen, erfordert das Politgeschäft der attischen Demokratie eine neue Flexibilität und Wendigkeit, die den Zeitgewinn einer innehaltenden und zögernden Beratschlagung nur noch bedingt anerkennt und sich stattdessen mit pragmatischen Lösungen und Beraterfiguren zu helfen weiß. Die Figur des Ödipus nimmt damit eine doppelte Stellvertreterschaft ein: sie repräsentiert erstens die Gestalt des Tyrannen, die sich als nicht mehr zeitgemäß erweist und zurückgedrängt werden muss; und zweitens steht Ödipus aber auch für die Sophisten, die nach Platon ähnlich pragmatisch mit Wissen und Macht handeln wie es Sophokles beim Tyrannen exemplifiziert. Grundsätzlich wird damit in dem Stück der Zusammenhang von Beraten, Handeln und Entscheiden und Rat, Wissen und Wahrheit verhandelt. Der Ausgang und das vorbildliche Verhalten von Kreon lehren, dass der größte Fehler die Sicherheit darstellt, auf der sich der Wissende ausruht. Stattdessen soll sich der Suchende in jeder Situation und nach jeder ihrer Veränderungen erneut in einen Prozess der Beratung begeben, in dem er entlang und mithilfe einer göttlichen Wahrheitssuche und einer menschlichen Vergangenheitsaufbereitung die verschiedenen Handlungsoptionen abwägt und in Diskussion mit seinem Umfeld eine Entscheidung fällt. Der Fehler des Ödipus, diese Beratschlagungen zu unterlassen und sich dauerhaft als der Klügste seines Königreichs

216 | E VA S CHAUERTE zu profilieren, wird sowohl von Kreon als auch dem Chor, also der Volksversammlung wiederholt hervorgehoben. Das Stück steht schließlich für einen Medienwechsel, der sich zwar nicht in Form einer klaren Ablösung äußert, sich jedoch im darauffolgenden Jahrhundert in seiner Kontroverse manifestiert. Die Sophisten lösen das Orakel als Beratungsinstanz nicht vollkommen ab, jedoch erhält der Begriff der euboulia mit ihnen eine neue und pragmatische Bedeutung. Das Negativbild, das Platon zeichnet und welches eine allgemeine gesellschaftliche Skepsis gegenüber der Sophistik widerspiegelt, hält die Sophisten nicht davon ab, sich zu einer wichtigen Instanz der antiken Beratung zu entwickeln, und selbst das Orakel von Delphi bleibt, wie der Bericht von Plutarch zeigt, von der allgemein einsetzenden Pragmatisierung nicht unbescholten. Neben das Orakeldispositiv, welches sich als kongruentes Netz zwischen den zwei Polen der göttlichen Wahrheit und der menschlichen Erinnerung aufspannt, tritt und erstarkt eine Praxis der politischen und pragmatischen Beratung, die auf Änderungen und Rekonzeptionen von Zeit und Raum der Klassik reagiert. Es ist diese Situation des Wandels, die Sophokles, so die wiederholte These dieses Aufsatzes, mit warnendem Zeigefinger reflektiert. Indem das Stück einerseits die Tyrannis als überholt und unwahrhaftig diskreditiert und andererseits im übertragenen Sinne vor der Eilig- und Kopflosigkeit der Demokratie warnt, schlägt sich Sophokles nicht unbedingt auf eine Seite, wie Platon, sondern bildet das komplexe Netz aus Regeln und Bräuchen ab, die sich an einem entscheidenden historischen Moment neu miteinander verknoten.

L ITERATUR Böhme, Hartmut: »Wer wir sind. Ödipus und die Kultur«, in: Ortrud Gutjahr (Hg.): Ödipus, Tyrann: von Sophokles, nach der Übersetzung von Friedrich Hölderlin und der Bearbeitung von Heiner Müller in der Inszenierung von Dimiter Gotscheff, Würzburg 2010, S. 111-135. Bollack, Jean: Sophokles, König Ödipus, Frankfurt a.M. 1994. Buchheim, Thomas/Kersting, Wolfgang: »Rat.«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1992, S. 29–37. Flaig, Egon: Ödipus. Tragischer Vatermord im klassischen Athen, München 1998. Foucault, Michel: Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt a.M. 2003. Homer: Odyssee (Odyssea), Berlin 2011. Leinieks, Valdis: The plays of Sophokles, Amsterdam 1982. Levi-Strauss, Claude: »Mythe et Oubli. «, in: Julia Kristeva/Nicolas Ruwet/Jean C. Milner (Hg.): Langue, discours, société: pour Émile Benveniste, Paris 1975, S. 294-300.

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Macho, Thomas: »Was tun? Skizzen zur Wissengeschichte der Beratung. «, in: Thomas Brandstetter/Claus Pias/Sebastian Vehlken (Hg.): Think Tanks. Die Beratung der Gesellschaft, Berlin 2010, S. 59-85. Müller, Carl Werner: Zur Datierung des sophokleischen Ödipus, Wiesbaden 1984. Platon: Sophistes, Frankfurt a. M. 2007. Platon: Politeia. Der Staat: Über das Gerechte, Hamburg 1989. Plutarchus: Über Gott und Vorsehung, Dämonen und Weissagung, Zürich 1952. Sophokles: König Ödipus, Stuttgart 2002. Steinmann, Kurt: »Nachwort«, in: Sophokles: König Ödipus, übers. von Kurt Steinmann, Stuttgart 2002, S. 77-83.

Ratgeben im barocken Trauerspiel Drei Situationen A RMIN S CHÄFER

Seit dem 16. Jahrhundert gibt es eine politische Theorie, die unter der Sammelbezeichnung des Machiavellismus gefasst worden ist. Sie unternimmt keine Rechtfertigung der Fürstenherrschaft, sondern beschreibt, wie sie ausgeübt wird: Politik, die erfolgreich ist, wird nicht immer auf rechtlich und moralisch einwandfreie Mittel zurückgreifen können. Auch wenn es für einen Fürsten, der den Fortbestand seines Reichs sichern oder ein erobertes Reich halten will, vorteilhaft ist, den Anschein von Tugend zu wahren, darf er in seinem Handeln keinem vorgängigen Moralcode folgen. Machiavelli untersucht, wie die persönliche Ausübung der Herrschaft zu sichern und wie das Band zwischen Fürsten und Untertan zu stärken sei. Hierbei räumt er ein, dass es für eine erfolgreiche Herrschaftsausübung notwendig ist Ratschläge einzuholen, weil auch des stärksten Fürsten Kräfte, Fähigkeiten und Einsichten begrenzt sind. Der Fürst muss seine Ratgeber jedoch für seine eigenen Interessen instrumentalisieren. Er muss die unvermeidlichen Schmeichler fernhalten und die freimütige Rede in seinen Dienst stellen: »Es gibt nämlich kein anderes Mitteln, sich vor Schmeicheleien zu hüten, als den Menschen zu verstehen geben, daß sie dich nicht beleidigen, wenn sie dir die Wahrheit sagen; wenn dir aber jeder die Wahrheit sagen darf, bleibt die Ehrerbietung darüber aus. Deshalb muß ein kluger Fürst einen dritten Weg einschlagen, indem er für seine Regierung weise Männer auswählt, denen allein er die Freiheit gewährt, ihm die Wahrheit zu sagen, und zwar nur über die Dinge, nach denen er fragt, und über nichts anderes. Er soll sie aber über alles um Rat fragen und ihre Meinungen anhören und dann nach eigenem Ermessen entscheiden; gegenüber jedem dieser Ratgeber soll er sich so verhalten, daß jeder von ihnen merkt, er werde desto beliebter sein, je freimütiger er redet. Außer auf sie soll er auf niemanden hören, sondern die einmal beschlossene Sache verfolgen und hartnäckig bei seinen Entscheidungen bleiben. Wer sich anders verhält, wird entweder von den Schmeichlern ins Verderben gestürzt oder er ändert oft seine Entschlüsse wegen der Verschiedenheit der Ansichten: Daraus erwächst ihm

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geringe Achtung.«1 Weil »ein Fürst, der nicht selber klug ist, auch nicht gut beraten werden kann«2, muss er selbst sein bester Ratgeber sein; Machiavellis Fürst muss also selbst in der Lage sein zu entscheiden, wann er der Beratung bedarf und wann nicht: »Ein Fürst muß sich daher immer beraten lassen, aber jeweils nur, wenn er selbst es will, und nicht wenn andere es wollen; vielmehr muß er jedem dem Mut nehmen, ihm in irgendeiner Angelegenheit einen Rat zu erteilen, wenn er ihn nicht darum gefragt hat.«3 Die politischen Theorien des Absolutismus hingegen begreifen die Souveränität als einen Stellplatz, der von wechselndem Personal besetzt wird. Der Souverän ist durch seine Entscheidungskompetenz definiert: Er setzt das Recht ein und kann es jederzeit auch außer Kraft setzen. 4 Da er keinen rechtlichen Beschränkungen unterliegt, muss durch anderweitige Mittel gesichert werden, dass seine Herrschaft nicht zur Tyrannei ausartet. Deshalb werden umfängliche Vorkehrungen getroffen, die auf seine Zähmung zielen. So wird der künftige Souverän einem Erziehungs- und Ausbildungsprogramm unterworfen, das seine Eignung zum Herrschen sicherstellen und ihm die erforderlichen Fertigkeiten verleihen soll. Der Souverän wird einem Moralcode unterstellt: Man appelliert an seine freiwillige Selbstbeschränkung und fordert, dass er sich an die christlichen Gebote hält. Und es wird ihm ein Hilfspersonal zur Seite gestellt, das ihn bei der Ausübung seiner Herrschaft beraten soll. Obwohl der Souverän die letzte Entscheidungsgewalt besitzt, erfordert der konkrete Vollzug der Herrschaft eine Teilung und Delegation des Handelns: Auch der absolute Souverän ist auf Dritte angewiesen. Die Theorie absolutistischer Souveränität erteilt also keine Anweisung zur persönlichen Machtausübung des Fürsten, sondern unterscheidet zwischen Amt und Person. Sie setzt nicht mehr voraus, dass die Regeln, wie eine Staatstätigkeit am besten auszuüben ist, dem Herrscher bereits bekannt sind. Vielmehr müssen diese Regeln einer rationalen Regierung zuallererst gefunden werden. Denn das Ziel der Regierung ist die Stärkung des Staats selbst. Der Souverän setzt seine Ratgeber nicht mehr situativ ein, sondern vielmehr ist auch für den Rat ein Stellplatz vorgesehen, der mit wechselndem Personal besetzt werden kann. Wenn der Souverän, dem die Entscheidungskompetenz obliegt, um Hilfe nachsucht, soll der Ratgeber nicht sein eigenes Interesse verfolgen, sondern als Sprachrohr einer institutionalisierten Funktion der Beratung dienen. Der Ratgeber soll zwischen Person und Amt

1

Niccolò Machiavelli: Il Principe. Der Fürst, Italienisch/Deutsch, übersetzt und hg. von Philipp Rippel, Stuttgart 1995, S. 185.

2

Ebd., S. 187.

3

Ebd.

4

Zur Genese dieser Formel siehe Dieter Wyduckel: Princeps Legibus Solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre, Berlin 1979, S. 138-168.

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des Herrschers unterscheiden und dem Amt das Primat über dessen Privatperson einräumen: Er soll dem Souverän nicht sagen, was das Beste für dessen Person, sondern, was das Beste für dessen Amt des Herrschers und für den Staat ist. Der Rat soll unter der Bedingung erteilt werden, dass der Untertan zwar zwischen Amt und Person des Herrschers unterscheiden kann, aber diese Unterscheidung nicht in eine Verweigerung der Gehorsamspflicht oder in Illoyalität umschlagen darf: Auch wenn der Souverän sich als Tyrann entpuppt, ist fraglich, ob ein Widerstandsrecht zugebilligt wird. Diese institutionalisierte Form des Ratgebens kann selbstverständlich verunglücken, wenn der Rat mit einem Tyrannen paktiert, intrigiert oder selbst die Herrschaft anstrebt. Die Machtverhältnisse sind beim Ratgeben nicht suspendiert. Die Beratung ist so etwas wie eine Urszene des Trauerspiels. Dass der Herrscher überhaupt auf Ratgeber angewiesen ist, dass der Sprechakt des Ratgebens nicht schon die Ausführung des Ratschlags ist, dass Ratschläge zweideutig sind und dass das Ratgeben eine Operation in der Zeit ist, sind Ausgangspunkte für die Stücke. Im Folgenden sollen drei Situationen des Ratgebens im barocken Trauerspiel skizziert werden: eine souveräne Form des Ratgebens, für die im System der absolutistischen Herrschaftsausübung ein institutionalisierter Stellplatz vorgesehen ist; eine disputatorisch-fiktionsbildende Beratung, die auf die Produktion von bislang unbemerkten Möglichkeiten abzielt; und der ›parrhesiastische‹ Vertrag, der nicht durch seine Institutionalisierung als Beratung, sondern aus der Art und Weise des freimütigen Redens seine Autorität bezieht. 1. In Andreas Gryphius’ erstem Trauerspiel Leo Armenius (1650) wird aus der souveränen Form des Ratgebens heraus die Dramaturgie des Stückes entfaltet. Die Handlung spielt vor und am Weihnachtstag des Jahres 820 am Hof in Konstantinopel. 5 Kaiser Leo Armenius und Michael Balbus, sein oberster Feldherr, waren einst Freunde und Kampfgefährten. Während des letzten Kriegs hatte Leo – damals selbst oberster Feldherr des Reichs – sich von seinem Kaiser losgesagt und mit Unterstützung von Michael zum Thronfolger ausrufen lassen. 6 Seither ist Michael, trotz seiner – einstigen – Freundschaft mit Leo, vom Kaiser genauso weit entfernt wie jeder andere Höfling auch. Selbst die größte Dankbarkeit Leos könnte die grundlegende Asymmetrie nicht beseitigen. Leo rekapituliert in seiner Anklage ge-

5

Andreas Gryphius: Leo Armenius, oder Fürsten-Mord. Trauerspiel, in: Ders.: Dramen, hg. von Eberhard Mannack, Frankfurt a.M. 1991, S. 9-116. Im Folgenden die Nachweise im Text mit der Sigle LA und der Angabe von Abhandlung und Vers bzw. Seitenzahl.

6

Zur Geschichte des byzantinischen Reichs siehe Warren Treadgold: The Byzantine Revival 780-842, Stanford (Cal.) 1988, S. 196-262.

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gen Michael entsprechend die Stationen ihrer Freundschaft, erläutert die Schwierigkeit, eine Freundschaft unter den Bedingungen einer solchen Asymmetrie aufrechtzuerhalten, und zählt seine Versuche auf, sich gegenüber Michael dankbar zu erweisen: »Hat uns’re Langmuth diß: hat uns’re Gunst verdint / Daß du / verfluchter! dich zu diser That erkühnt / Die auch der Feind nicht lob’t. wolan denn! weil die Güte So übel angelegt / weil dein verstockt Gemüte Durch keine Freundlichkeit zu zwingen / weil die Pest Durch linde Mittel sich nicht von dir treiben läst / Weil Wolthat dich verderbt; so fühle Brand und Eisen.« (LA II, 85-91)

Michael hingegen fordert eine vollständige Aufhebung der Asymmetrie, die keine Dankbarkeit, keine Gabe je wird leisten können: »[…] doch: kanst du dem was geben (Verzeih’ es / was die Noth mich dürr’ ausreden lehr't) Das dieses Auffrucks werth; der so dein Gutt vermehrt / Daß du diß geben kannst? laß offentlich erzehlen Was ich von dir empfing: es wird noch hefftig fehlen Daß deinem Käyserthum mein Ampt zu gleichen sey. Vnd deiner Cron mein Helm!« (LA II, 124-130)

Michael plant – und damit setzt die Handlung des Trauerspiels ein – mit seinen Gefährten einen Umsturz, weil er sich für seine Dienste ungerecht entlohnt wähnt. Der Plan wird entdeckt. Von Leo zum Tode verurteilt, erwirkt er einen Aufschub der Hinrichtung, die auf Drängen der Kaiserin bis nach dem Weihnachtsfest verschoben wird. In der dritten Abhandlung – nach Verschwörung, Gerichtsszene und der Inhaftierung Michaels – kommt das Geschehen zum Erliegen. Am Vorabend des Weihnachtsfests wird der Kaiser von einer Traumerscheinung heimgesucht, die ihm seinen Sturz prophezeit. Ausgelöst wird dieser dann, als Leo sich persönlich davon überzeugt, dass Michael tatsächlich im Kerker einsitzt. Der durch den Besuch des Kaisers im Schlaf überraschte Wärter schlägt sich aus Furcht vor einer Bestrafung auf die Seite Michaels. Er hilft dem Gefangenen Kontakt zu seinen Mitverschwörern aufzunehmen, die planen, den Kaiser während der Christmette zu ermorden. Das weitere Geschehen wird der Kaiserin durch Boten dargebracht: Während der Christmette haben die als Priester verkleideten Verschworenen den Kaiser erdolcht und Michael zum neuen Kaiser ausgerufen. Die Konstellation zwischen Kaiser Leo und Höfling Michael resultiert aus dem Verfall ihrer Freundschaft: Weil Leo seinem ehemaligen Freund nicht mehr ver-

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traut, sind für ihn dessen künftige Handlungen unberechenbar geworden. In der Rückschau erweist sich die Geschichte ihrer Freundschaft als die Geschichte eines latenten Konflikts, und was als Freundschaft, wohlmeinende Absicht und gegenseitige Hilfe gelten konnte, erscheint jetzt als Heimtücke und Täuschung. Der Kaiser sieht sich zu stetem »Argwohn« (LA III, 28) gezwungen: Der Freund, der nicht Diener am Hof sein will, wird zum Rivalen, der gar ein potentieller Usurpator ist. Michael hingegen sieht die ungerechte Entlohnung der Freundschaft als Ausweis von Leos Tyrannei und seinen eigenen Widerstand als gerechtfertigt an. Und dennoch ist für den Zuschauer nicht zu entscheiden, ob Leo rechtens einen Usurpator bestrafen oder nur seinen Rivalen beseitigen will, und ob Michael einen Tyrannen stürzen oder den Thron usurpieren will. Die Verschwörung, die entdeckt wird, provoziert eine Abfolge von Beratungsszenen. Der Kaiser Leo Armenius fragt seinen Rat Exabolius sowie den Hauptmann seiner Leibwache Nicander, was angesichts der Verschwörung zu tun sei, da Balbus nicht von seinem Plan abzubringen sei: »Leo. So nimt er weder Rath noch Warnung mehr in acht? | Exab. So ists? Vermahnen / Bitt und Dreuen wird verlacht.« (LA I, 133f.) Kaiser und Räte sind sich einig, dass eine Entscheidung zu treffen sei, und man erwägt, wie Balbus am besten zu beseitigen wäre: »was klagen wir! hier hilfft kein Klagen nicht / | Nur ein geschwinder Rath: Nicand. Brich eh’ er umb sich sticht.« (LA I, 169f.) Trotz dieser schattenhaften Verdoppelung des Souveräns in seinen Ratgebern scheint in der Szene des Ratgebens eine Differenz zwischen Person und Amt des Kaisers auf. Die Metaphern und Exempla, welche die Ratgeber gebrauchen, führen nicht allein die Person, sondern die Institution des Kaisertums an: Es gelte »Cron und Zepter« (LA I, 181); das Staatsschiff müsse die Klippen meiden. Die Ratgeber beklagen das Zögern des Kaisers: »Nicht unverhoffter Schluß! | Doch vil zu später Ernst! Verzeih’ es mir; ich muß | Entdecken was mich druckt. Der Käyser ist zu linde; | Vnd schertzt mit seinem Heil.« (LA I, 209-212) Strittig ist unter den Ratgebern nicht, ob der geplante Aufstand niederzuschlagen, sondern wie die Beseitigung des Usurpators durchzuführen sei. Während der geheimste Rat Exabolius ein gewisses Verständnis für das Zögern des Kaisers aufbringt, warnt der Militär Nicander vor einem Aufschub der Tat: »[…] der stahl schafft einig Ruh / Dem Käyser / dir / und mir. Jch sol den Mörder binden! Warumb nicht seine Brust mit diesem Dolch ergründen? So ist sein pochen aus. Diß ist Nicanders Rath! Man lobt ein grosses Werck nur nach vollbrachter That!« (LA I, 222-226)

Während der Militär bereit ist, selbst zur Tat zu schreiten, will der Rat trotz der gebotenen Eile ein formalisiertes Rechtsverfahren wahren:

224 | A RMIN S CHÄFER »Exabol. Man wird nicht lange Zeit mit Rechten hir verliren. Nicand. Jch kan ein kürtzer Recht mit disem Stahl ausführen. Exabol. Des Käysers Ruhm läst nicht so schnelle Richter zu? Nicand. Des Käyers Wolfahrt heischt und billicht was ich thu.« (LA I, 235-238)

Das Trauerspiel hat in der souveränen Form des Ratgebens nicht allein ein Handlungselement, das durch die logischen Paradoxien der absolutistischen Souveränitätslehre gekennzeichnet ist, sondern es transformiert diese Paradoxien in eine kommunikative Situation, in der sie ihre Konkretion im Verhältnis von Sender und Empfänger, Intention und Auslegung oder Rede und Rat gewinnen. Die souveräne Form des Ratgebens ist zwar durch eine formale Beziehung zwischen Herrscher und Untertan gekennzeichnet, deren Ausgestaltung treibt jedoch eine Dramaturgie der Intrige hervor. Die Beratungsszenen in Leo Armenius sind durch ein Interaktionskalkül gekennzeichnet, in welchem die Räte einander wechselseitig ihre Absichten simulieren und dissimulieren, aber jeder sich nach dem Willen des Souveräns auszurichten meint. Exabolius warnt Michael im »vierdten Eingang« (LA I, 251470) der ersten Abhandlung vor einer Ursurpation, der jedoch den Rat als Aufforderung, zur Tat zu schreiten, missversteht. Der von Exabolius inszenierte Rat hat wiederum in Nicander einen Zeugen, der für das rechtsförmige Verfahren gegen Michael gewonnen werden soll. Was dieser Ratschlag ausstellt, ist einerseits eine »Intentionsschichtung«7 durch eine Verklebung von kommunikativer und hermeneutischer Situation: Während der Empfänger, nicht aber die Intention des Ratgebers, entscheidet, wie ein Rat aufgefasst wird, lenkt der Ratgeber das Verständnis seiner Rede durch die Art und Weise, wie er kommuniziert. Andererseits ist der Rat nicht allein als eine dialogische Situation zu begreifen, sondern wird selbst wiederum durch Dritte beobachtet: Diese Beobachtung wirkt unweigerlich auf den Rat zurück, der immer schon in einem Gefüge ergeht, das nicht auf den Dialog einzugrenzen ist. Die Entzweiung der Ratgeber, die über den bestmöglichen Weg zur Erreichung des Handlungsziels uneins sind, korrespondiert mit der Entzweiung der souveränen Entscheidung, die aber dennoch als Einheit kommuniziert werden muss. Zwar wird die Entscheidung dem Kaiser zugerechnet. Und durch diese Zurechnung gewinnt die Entscheidung klare Konturen und wird zu einem kompakten Ereignis. Dennoch ist der Moment der Entscheidung selbst nicht zu fassen: Sie erfolgt in einem Rückraum, dessen Grenzen nicht anzugeben sind. Die Systemtheorie akzentuiert die Problemstellung wie folgt:

7

Rüdiger Campe, »Theater der Institution. Gryphius’ Trauerspiele Leo Armenius, Catharina von Georgen, Carolus Stuardus und Papinianus«, in: Roland Galle/Rudolf Behrens (Hg.): Konfigurationen der Macht in der Frühen Neuzeit, Heidelberg 2000, S. 257-287, S. 271.

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»Üblicherweise wird dem Entscheiden ein mysteriöses, nicht weiter aufklärbares Moment zuerkannt: sie ist Ausdruck eines Willens, der sie will; sie wird spontan getroffen; sie fügt der Kette der Ursachen, mit denen man sie erklären könnte, etwas Neues hinzu; sie ist subjektiv, also bestimmt durch die innere Unendlichkeit des Subjekts, in die man nicht hineinleuchten kann; sie ereignet sich irgendwo zwischen Rationalität und Motivation. Ihr Innenleben bleibt also dunkel und unaufklärbar.«8

Die Paradoxie der Entscheidung besteht darin, »daß die Entscheidung vor der Entscheidung eine andere ist als nach der Entscheidung. Sie ist, um ihr Mysterium zu reformulieren, als Einheit selbzweit.«9 Die Entscheidung »ist an sich selbst (also: ontologisch beschrieben) ein Nichts – nichts als die Einheit der Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft. Wenn Gegenwart als Entscheidung zur Erfahrung gebracht werden soll, kann dies also nur heißen: sie zu remystifizieren.« 10 Die Entscheidung ist die Einheit einer Unterscheidung: ››Sie ist das Verschiedene als Einheit begriffen. […] Es ist nur eine Umformulierung dieser Einsicht, wenn wir feststellen, daß eine Entscheidung als Einzelereignis gar nicht vorkommen kann.«11 Dieses Innenleben der Entscheidung gelangt im barocken Trauerspiel nicht als Aussprache einer Innerlichkeit, sondern als Szene der Beratung auf die Bühne. Der Kaiser lässt über Balbus zu Gericht sitzen. Es wird debattiert, auf welcher Grundlage überhaupt das Urteil gegen Balbus zu rechtfertigen und wie das Verhältnis von Worten, Absichten, Plänen und Taten zu fassen sei. Was die erste Abhandlung als Differenz zwischen Reden und Tun exponiert, erweist sich in der zweiten Abhandlung als eine Unterscheidung, die nicht zu rechtfertigen, sondern nur willkürlich zu treffen ist: Auch wenn die Anklage weder über ein sachliches noch ein zeitliches Kriterium verfügt, das die Rede als Verschwörung zu definieren vermag, ist die Souveränität nicht zuletzt dadurch definiert, dass sie im Konfinium von Rede und Tat eine Demarkationslinie willkürlich festlegen kann. Der Herrscher bestimmt, wann ein Sprechakt bloße Äußerung und wann er bereits Tat ist. Souveränität ist also nicht allein durch die sachliche Entscheidungskompetenz definiert, sondern auch durch die hermeneutische Auslegungskompetenz, die am Sprechakt festlegt, wann er ein Tun ist. So wie der Souverän für die Äußerung festlegt, welche Intention sie besitzt und welches Tun sie gewesen ist, so ist er auch die Instanz, die den Rat auf einer Schwelle zwischen Rede und Tun hält: Der Souverän

8

Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, hg. von André Kieserling, Frankfurt a.M.

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Ebd.

2000, S. 235. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 236.

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kann den Sprechakt des Ratgebens als bloße Rede verhallen lassen, der vom Handeln, das dem Kaiser obliegt, kategorial geschieden ist, oder aber am Sprechakt feststellen, dass er bereits ein Tun gewesen ist: Der Umschlagpunkt, an dem der Rat in eine Tat übergeht, ist nicht anzugeben. Zwar können Intention und Institution eine Äußerung eigens als Rat kennzeichnen. Jedoch entscheidet der Empfänger, nicht aber der Sender über den Sinn einer Äußerung und erkennt in ihr gegebenenfalls einen Rat. 2. Die souveräne Form des Ratgebens ist durch eine formale Beziehung zwischen Herrscher und Untertan gekennzeichnet. Die Probleme, die zu lösen sind, entspringen der Institution, und die Konflikte, die in der institutionalisierten Beziehung angelegt sind, treten prägnant hervor, wenn ein Herrscher sich als Tyrann entpuppt oder der Ratgeber zum Intriganten wird. Die disputatorisch-fiktionsbildende Form der Beratung ist hingegen weniger durch ihre Institutionalisierung als vielmehr durch ein Problem gekennzeichnet, das von außen in den Geltungsraum der absolutistischen Souveränitätslehre hereinbricht. Die Form der Beratung wird unter diesen Bedingungen disputatorisch, insofern sie als ein ritualisiertes Gespräch zwischen den Ratgebern inszeniert wird. Und sie ist fiktionsbildend, weil die Ratgeber im Modus des Als-ob bzw. des Was-wäre-wenn operieren und hierzu kleine Erzählungen fingieren, in denen sie von hypothetischen (oder auch kontrafaktischen) Prämissen ausgehen und das situative Verhältnis von Regel und Beispiel explorieren. Die Ratgeber fragen nach dem Zusammenhang von Voraussetzungen, Bedingungen und Umständen einer Entscheidung und eines Handelns, für das weder das Repertoire der rechtlichen Regelungen noch die Verhängung oder die Abwehr des Ausnahmezustands Lösungen bieten. Daniel Casper von Lohensteins Trauerspiel Cleopatra (1661/1680) führt auf das Feld der Außenpolitik bzw. des Völkerrechts. Es entnimmt seinen Stoff der Geschichte des Zweiten Triumvirats, wie er bei Sueton, Plutarch und Cassius Dio überliefert ist.12 Die erste Abhandlung setzt nach der Schlacht bei Actium mit der Belagerung Alexandrias und dem Zerfall des Triumvirats ein. Octavianus zielt auf die Vernichtung seines einzigen noch verbliebenen innenpolitischen13 Gegners

12 Daniel Casper von Lohenstein: Cleopatra. Trauerspiel. Text der Erstfassung von 1661, besorgt von Ilse-Marie Barth, Nachwort von Willi Flemming, Stuttgart 1981. Im Folgenden die Nachweise im Text mit der Sigle C und der Angabe von Abhandlung und Vers bzw. Seitenzahl. 13 Vgl. Adalbert Wichert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert. Daniel Casper von Lohenstein und sein Werk. Eine exemplarische Studie, Tübingen 1991, S. 125-135.

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Marcus Antonius, während der dritte im Triumvirat, Lepidus, längst zum unter Hausarrest stehenden Statisten degradiert worden ist. Der ägyptische Hof ist von Octavians Heer in Alexandria eingeschlossen. Angesichts der drohenden Vernichtung ruft Antonius seine Militärs zusammen und »hält mit seinen Kriegs-Obersten Rath / ob er dem Octavio Augusto, welcher ihn in Alexandria belägerte / durch fernern Außfall / oder nur innere Gegenwehre begegnen solle.« (C 11) Er fordert sie auf: »Schlüßt / wie die treue Stadt | Sich gegen Feind und Rom noch zu verhalten hat.« (C I, 153f.) Die Situation des Ratgebens zielt nicht – wie im Beispiel von Gryphius’ Trauerspiel Leo Armenius – auf eine sofortige Dezision, um einen Ausnahmezustand abzuwehren, sondern auf eine Exploration von Handlungsmöglichkeiten. In Gryphius’ Trauerspiel sind die Ratgeber sich lediglich darüber uneins, ob es klüger sei, sofort zu handeln oder die Tat aufzuschieben und ob es einer Gerichtsverhandlung bedürfe oder nicht: Dass der Usurpator zu beseitigen sei, steht außer Frage. Lohensteins Stück verhandelt hingegen nicht die Paradoxie der Souveränitätslehre, sondern eine außenpolitische bzw. völkerrechtliche Konstellation, in der antagonistische Kräfte aufeinandertreffen: Das Ratgeben ist nicht in die Paradoxie der souveränen Entscheidung verstrickt, die als Einheit kommuniziert werden muss, sondern vielmehr artikulieren die Ratgeber verschiedene Standpunkte und loten Handlungsmöglichkeiten aus. Der eingeschlossene Antonius erörtert mit den Ratgebern die Kriegsziele des Octavianus. Die Ratgeber versuchen in einer Situation, die ohne Alternative zur Kapitulation zu sein scheint, eine Restchance aufzuzeigen. Crassus, der Hauptmann des Antonius, schlägt vor, die Situation durch hinhaltendes Taktieren zu entschärfen: Octavianus habe so viele innenpolitische Gegner in Rom, dass man darauf bauen könne, dass er beseitigt werde. Es sei wahrscheinlich, dass Octavianus – so wie sein Großonkel Cäsar – ermordet werde, zumal auch nach der Proskription noch genügend innenpolitische Feinde des Octavianus verblieben sind. Caelius, der Flottenkommandant, plädiert dafür, mit der clementia des Octavianus zu rechnen: »Man hat an dem August di Sanfftmuth schon erkant.« (C I, 242) Weder sei der lästige Dritte im Triumvirat, Lepidus, beseitigt noch der Cäsar-Mörder Decimus Brutus hingerichtet worden, obwohl doch die Rache des Cäsar-Mords ausdrücklich zum politischen Programm des Octavianus gehörte. »Caelius. Warumb stürz’t er denn nicht den Lepidus durchs Schwerd? Sosius. Sein mehr als knechtisch Geist war keiner Schwerdter wehrt. Caelius. Er hat dem Decius den Vater-Mord vergässen; Sosius. Es läßt sich Fürst Anton nach keiner Richt-schnur mässen.« (C I, 249-252)

Gaius Sosius, der Caelius hier repliziert, lehnt es ab, mit der clementia des Octavianus zu rechnen. Er warnt ausdrücklich:

228 | A RMIN S CHÄFER »Gross-müttiger Anton; wer auf des Keisers Gütte Den Trost der Wolfahrt baut / baut Pfeiler in die See Sucht bey der Natter Gunst / und Flammen in dem Schnee.« (C I, 61-63)

Der Rat der Cleopatra, der an der Besprechung teilnimmt, begreift die Situation als Stellung in einem Brettspiel, das durch geopolitische und weitere, unverfügbare Faktoren bestimmt werde, die zu nutzen seien: »Wie leichte kann sich nicht des Krieges Brett-Spiel drehn. Falln wir das Läger an? laßt uns noch ein’s verspielen; Wie es vermuthlich ist; daß unser Faust so vielen Nicht kann gewachsen sein: wir sind auf einmal hin. Kann aber nur der Fürst was wenig’s hinterzihn Der Stadt Eroberung / so sind wir hochgebessert; Weil der geschwällte Nil als-denn di Felder wässert: Daß / Wo itzt Saate wächst’ und fette Lemmer gehn / Man siht den kreischen Jäscht der toben Wellen stehn. Diß zwingt den Kayser denn sein Läger aufzuheben Und wir bekommen Lufft / biß uns di Götter geben Ein Ende dieser Noth.« (C I, 158-168)

Es gibt in der disputatorisch-fiktionsbildenden Form der Beratung nicht den einen maßgeblichen Ratgeber. Die Beratung in der Gruppe zielt nicht mehr vorrangig auf eine Dezision, sondern sie versucht vor allem die Komplexität einer Situation zu erfassen und deren schematische Reduktionen zu vermeiden. Dementsprechend geht es nicht mehr nur darum, möglichst klug den Kairos zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen, sondern die Umstände und Zufälle, die den Kairos machen, in den Blick zu nehmen. An die Stelle des einen direktiven Sprechakts tritt eine Analyse von Bedingungen und Voraussetzungen des Handelns: Die Beratung entwirft in nuce eine mögliche Welt, in der Octavian jeweils als ein anderer erscheint. Der Rat nimmt eine hypothetische Form an. Er zielt nicht mehr auf eine zukünftige Gegenwart, die aus der Gegenwart heraus extrapoliert werden soll, sondern darauf, die Gegenwart selbst als kontingent zu beschreiben. Die Ratgeber formulieren Annahmen über die Vorgeschichte der gegenwärtigen Lage und versuchen, eine mögliche Zukunft zu extrapolieren. Die souveräne Form des Rats geht von der Gegenwart aus, die sich je nach getroffener Entscheidung in die vermeintlichen Alternativen verzweigt. Der disputatorisch-fiktionsbildende Rat greift über die Gegenwart hinaus in die Vergangenheit zurück. Gerade weil die aktuelle Lage ohne Alternative erscheint, müssen unvordenkliche Möglichkeiten aufgezeigt werden. Während der souveräne Rat eine Alternative aufzeigt, die innerhalb eines eng festgelegten Handlungsspielraums verbleibt, sucht die disputatorisch-fiktionsbildende Beratung nach

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Möglichkeiten, die vorgegebene Rahmung zu verlassen. Diese Suchbewegung setzt an der Vorgeschichte der aktuellen Situation an und fragt nach Aspekten, die bislang nicht berücksichtigt worden sind. Je nach dem Standpunkt, den der Ratgeber einnimmt, treten an Octavian andere Aspekte hervor und scheinen neue Möglichkeiten auf. Jeder Standpunkt impliziert eine kohärente Erzählung, die in sich und als ganze Erzählung – und nicht nur in einzelnen Aspekten – wahrscheinlich sein muss. So wie eine fingierte, mögliche Welt, in der Adam nicht sündigt, auch eine andere mögliche Welt ist, bevor Adam überhaupt gesündigt hat, so müssen die Ratgeber mit den verschiedenen Octavianen auch verschiedene Welten erfinden: Einen Octavian, der Gnade üben wird, einen Octavian, der zaudern wird, oder einen Octavian, der sofort angreifen wird. Der Widerspruch zwischen einem Octavian, der Gnade übt, und einem Octavian, der keine Gnade übt, ist kein bloß lokaler und aktueller, sondern eine Relation, die ein »originales und auf jede Form eines Widerspruchs irreduzibles Verhältnis« ist.14 Jeder dieser Octaviane ist ein anderer und lässt eine andere Zukunft erwarten, aber alle Octaviane sind in einer Hüllkurve eingeschlossen, deren Verlauf durch die plausibelste Erzählung ermittelt werden soll. Die Berater müssen mithin unvordenkliche Situationen fingieren. An die Stelle von absoluten Bedingungen und Voraussetzungen treten variable Konstellationen von Stärke und flexible Regeln, die nur mehr eine Sammlung von empirischen Verallgemeinerungen sind. Allerdings finden die Berater keine Lösung für die Situation, sondern die Beratung verschärft weiter die Lage. Die »andere Abhandlung« setzt damit ein, dass Cleopatra »mit grimmigem Eifer ihrem Geheimsten dem Archibio« erzählt, »was Antonius mit seinen Räthen ihrer Verstossung halber gerathschlagt / und wird schlüssig: den Antonium selbst wegzuräumen.« (C 11) Cleopatra beklagt: »Hilf Himmel! Wir sind hin! wir sind dahinter kommen: | Warumb man heute dich nicht hat in Rath genommen.« (C II, 1f.) Sie verdächtigt Antonius, dass er sie Octavian ausliefern will und eine entsprechende Absprache plane oder bereits getroffen habe: »Er hat für rathsam Ding den Mord-Rath angenommen.« (C I, 45) Die Beratung selbst erscheint für sie, die nicht daran teilgenommen hat, als eine Intrige: »Man lässt uns nichts mehrwissen / Was Caesar von uns will / was unser Räthe schlüssen. Man zeucht Cleopatra nicht nur nicht mehr in Rath / Man schleust auch di noch auß / di man zu Räthen hat Auß unserm Volck’ erkiest. Was mag Egypten hoffen? Nun auch der Rath nicht mehr der Königin steht offen.« (C I, 105-110) 14 Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock, aus dem Französischen von Ulrich Johannes Schneider, Frankfurt a.M. 1995, S. 99f.; siehe hierzu auch Gilles Deleuze: Logik des Sinns, aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, Frankfurt a.M. 1993, S. 212-214.

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Antonius fasst den Entschluss, Alexandrien zu verteidigen und sich nicht kampflos Octavian zu ergeben. Octavian lässt ihm die Kapitulationsforderungen durch seinen Vertrauten Proculeius überbringen. Proculeius bietet Antonius Schonung an, falls er Cleopatra aufgebe und Ägypten Octavianus überlasse. In der Disputation zwischen Proculeius und Antonius kollidieren beide Positionen, ohne dass eine Annäherung stattfände (C I, 391-598). Antonius glaubt zwar, er könne einen eigenen Willen ausbilden, jedoch wird er von Proculeius belehrt: »Man hör’t besigte nicht / den Sieger muß man hören.« (C I, 519) Dennoch gelingt es ihm zunächst einen Aufschub zu erwirken. Das Trauerspiel nimmt nun folgende Wendung: Die Berater des Octavian schlagen eine Anwendung machiavellistischer Herrschaftstechniken vor, die im konkreten Fall in einer Simulation von clementia besteht: »Wer sich nicht anstelln kan / der taug zum herrschen nicht.« (C IV, 84). Lohenstein merkt zu dem Vers an: »Ludwig der Eilfte König in Frankreich hat seinen Sohn Carolum VIII. mehr nicht lernen lassen / als diese Lateinischen Worte. Qui nescit dissimulare, nescit regnare.« (C 162) Seit Machiavelli dem Fürsten geraten hat, sich nur tugendhaft zu stellen, um seine Herrschaft zu sichern, wird darüber gestritten, welcher Unterschied zwischen simulierter und authentischer Tugend besteht. Das Problem liegt darin, dass jede Verstellung die aktuelle Situation immer schon überschreitet. Die Lösung, die Octavian wählt, besteht nicht darin, wie seine Berater fordern, sich zu verstellen und das Angebot der Begnadigung nur zu simulieren, sondern er übt tatsächlich gegenüber Cleopatra Gnade. Sein Kalkül dabei ist: Das eroberte Land wird langfristig nicht durch Grausamkeit unterworfen, sondern durch Verträge bezwungen. In der Außenpolitik erweist sich Souveränität nicht so sehr im Dezisionismus, sondern in der Unterbrechung eines hyperkomplexen Interaktionskalküls, in dem der andere jederzeit hofft, die Situation zu seinen Gunsten umkehren zu können. Die Ironie, die Octavians Kalkül heimsucht, ist bekannt: Cleopatra zieht den Freitod einer Begnadigung vor, die an für sie unannehmbare Bedingungen geknüpft ist. Die disputatorisch-fiktionsbildende Beratung öffnet einen Möglichkeitsraum, der für die Akteure die Handlungsalternativen unübersehbar werden lässt. Antonius bricht die Beratschlagung ab, ohne eine Entscheidung zu treffen: »Entweicht. Wir woll’n allein’ erwegen / was zu thun.« (C I, 754) Während die souveräne Form des Ratgebens vor der Entscheidung des Souveräns, der sie zuarbeitet, statthat, gerät in der disputatorisch-fiktionsbildenden Form der Binnenraum der Akteure in den Blick. So wird in der Beratung diskutiert, inwiefern Octavian durch eine Auslieferung Cleopatras »versöhnet« (C I, 716) werden könne: »Caelius: Schickt Masanissa nicht ein Gifft-Glas Sophonisben? Antonius: Hingegen Priamus stirb’t neben seiner Thisben. Sosius: Diß letzte Fabel-Werck kommt keinen Helden zu.

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Antonius: So räthstu: daß ich dis was Masanissa / thu? Sosius: Ich thäts’s. Antonius: ach! Solt ich an ihr zum Hencker werden. Sosius: Was Masanissa thät / rühmt noch der Kreiß der Erden. Antonius: Di Porcellane wird der Gifft-Verräther sein. Sosius: Es darf kein Meichel-Mord den Gift-Kelch schäncken ein. Antonius: Meinstu / die Fürstin wird dis Gifft mit Wissen nähmen?« (C I, 719-727)

Das Exempel des Masanissa bezeichnet den Hiatus zwischen Rat und Tat. In Lohensteins Trauerspiel Sophonisbe rät der römische Feldherr Scipio dem Fürsten Masanissa, dass er Sophonisbe die Möglichkeit zum Freitod eröffnen solle, so dass die karthagische Fürstin ihrer Auslieferung nach Rom entgehen könne.15 Die verschiedenen Standpunkte erkennen völlig verschiedene Verhältnisse zwischen Rede und Tat. Einerseits erscheint der Freitod der Sophonisbe als eine autonome Tat, die ihre Autonomie durch ihr Einverständnis erweise: »Sophonisbe empfängt mit vollem Einverständnis den giftigen Trank«, resümiert Jean Starobinski den Gang der im 17. Jahrhundert vielfach dramatisierten Fabel, »der es ihr erlaubt, die Freiheit zu bewahren. Angesichts des Schicksals ist die Gabe, die es möglich macht, der Existenz ein Ende zu setzen, eines der beredtesten überhaupt denkbaren Oxymora. Indem Sophonisbe die Gabe annimmt, die es ihr erlaubt, sich den Tod zu geben, gehört sie bis ans Ende nur sich selbst.«16 Andererseits glaubt Masanissa durch seinen »betrüglich Rath« (Soph, V, 561) den Freitod verschuldet zu haben. Scipio wiegelt die Selbstvorwürfe des Masanissa derweil ab: »Stand nicht die Wahl bey ihr? Dein Rath war kein Geboth.« (Soph, V, 560) An die Stelle von Entscheidungen, die einem Akteur zurechenbar sind, treten Konstellationen, die von Intentionen abgelöst sind, nicht unmittelbar verantwortet werden und das dezisive Moment so lange aufschieben, dass kein Ratgeber zur Verantwortung gezogen werden kann. 3. Die souveräne Form des Ratgebens und die disputatorisch-fiktionsbildende Beratung stehen stets unter dem Verdacht der Korruptionsanfälligkeit. Dass die Instanz des Ratgebers nicht spontan und situativ eingesetzt wird, sondern am Hof institutionalisiert ist, macht sie gerade verdächtig. In jedem Ratgeber, so der Argwohn, stecke ein Schmeichler, der nur seinen eigenen Vorteil suche. Das Leben am Hofe prägt eine spezifische Kommunikationsform aus, die dem Vorwurf ausgesetzt ist,

15 Daniel Casper von Lohenstein: Sophonisbe. Trauerspiel, hg. von Rolf Tarot, bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1996. Im Folgenden die Nachweise im Text mit der Sigle Soph und der Angabe von Abhandlung und Vers. 16 Jean Starobinski: Gute Gaben, schlimme Gaben. Die Ambivalenz sozialer Gesten, Frankfurt a.M. 1994, S. 70.

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dass sie keinen moralischen Grundsätzen mehr folge: Die zunehmende Komplexität sozialer Interaktion an den Höfen lasse gar kein aufrichtiges Verhalten mehr zu. Die Hofmannstraktate und Fürstenspiegel fordern von den Ratgebern auf der einen Seite jene Tugendhaftigkeit, die auch vom Souverän erwartet wird. Auf der anderen Seite versucht die Literatur über das Leben am Hofe sich auf die Frage einzulassen, wie »jedes Individuum sich, ohne sich aufzugeben, sozial akkomodieren kann«17. Die Hofmannstraktate halten trotz der erschwerten Bedingungen höfischer Kommunikation an deren Perfektionsform fest: Der ideale Hofmann ist gehalten, freimütig Kritik am Fürsten zu üben, ohne sich dabei über den Rangunterschied hinwegzusetzen. Eine Vermittlung dieser einander ausschließenden Forderungen soll dem virtuoso gelingen. »Das Ziel des vollkommenen Hofmanns nun«, heißt es bei Castiglione, besteht darin, »das Wohlwollen und das Herz des Fürsten, dem er dient, zu gewinnen, daß er diesem die Wahrheit über alles, was ihm zu wissen zukommt, ohne Furcht oder Gefahr des Mißfallens sagen kann und stets sagt. Wenn er sieht, daß dessen Sinn zu unziemlichem Tun geneigt ist, wagt er es, ihm zu widersprechen und sich auf höfliche Weise der durch seine guten Eigenschaften erworbenen Gunst zu bedienen, um ihn von jeder lasterhaften Absicht abzubringen und auf den Weg der Tugend zu führen.«18

Sofern das Hofleben nicht als normatives Ideal beschrieben ist, sondern als agonales Terrain, wie etwa bei Baltasar Gracián, wird weiterhin auf dem auf Perfektibilität hin angelegten Ideal beharrt, aber eingeräumt, dass das Hofleben selbst korrupte Kommunikationsformen produziert. In den Hofmannstraktaten und Fürstenspiegeln wird Beratung als einsinniges Handeln des Schwächeren konzipiert. Sie leiten sie aus der Freiwilligkeit des Verzichts her: Beratung setzt weder Reziprozität noch Symmetrie, sondern den Verzicht auf Entscheidungskompetenz voraus. Aus diesem Verzicht folgt allerdings nicht, dass der Berater auf seinen Vorteil verzichtet. Der kluge Herrscher weiß um die Korrumpierbarkeit der Ratgeber und verfügt über Alternativen zur institutionalisierten Beratung. Diese Alternative zum Ratgeber, der den institutionalisierten Stellplatz besetzt, ist der ›Parrhesiast‹, der eine nur situative Beziehung zum Herr-

17 Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 204. 18 Baldessar Castiglione: Das Buch vom Hofmann (Il Libro del Cortegiano), aus dem Italienischen von Fritz Baumgart, München 1986, S. 334f. Zur Verbreitung und Rezeption des Libro del Cortegiano siehe Peter Burke: Die Geschicke des »Hofmann«. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten, Berlin 1996; Manfred Hinz: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1992.

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scher eingeht. Das Gespräch, in dem die ›Parrhesia‹ gebraucht wird, ist von einer grundsätzlichen Asymmetrie der sozialen Stellung der Partner gekennzeichnet. Jedoch hat der Parrhesiast gerade keine Stellung als Ratgeber inne. Er spricht weder als Prophet noch für eine soziale Gruppe, sondern im eigenen Namen; er empfiehlt nicht, wie der Weise, allgemeine Prinzipien des Verhaltens, sondern reagiert auf Situation und Gelegenheit. Das griechische Wort parrhesia bedeutet so viel wie »alles sagen, was man im Sinn hat«. Es bezeichnet eine Beziehung zwischen einem Sprecher und dem von ihm Gesagten. Michel Foucault kennzeichnet die Technik der Parrhesia wie folgt: »bei der Parrhesia macht der Sprecher offenkundig klar und deutlich, daß das, was er sagt, seine eigene Meinung ist. Und er tut dies, indem er jedwede rhetorische Form vermeidet, die verschleiern würde, was er denkt.«19 Der parrhesiastes sagt nicht einfach nur, was er für wahr hält, sondern sein Wahrsprechen gründet auf einer reflexiven Beziehung zur Wahrheit. Seine Rede ist nicht in ein Subjekt der Aussage und ein ausgesagtes Subjekt aufgespalten, sondern Bewusstsein und Kommunikation kongruieren. Als Beweis für die Aufrichtigkeit des parrhesiastes gilt dessen Mut, ein bestimmtes Risiko einzugehen, das ihm aus seiner Rede erwächst. Die Parrhesia wird zu einem Spiel um Leben und Tod: »Wenn man das parrhesiastische Spiel akzeptiert, in dem das eigene Leben exponiert wird, nimmt man eine spezifische Beziehung zu sich selbst auf: man riskiert den Tod, um die Wahrheit zu sprechen, anstatt in der Sicherheit eines Lebens auszuruhen, in dem die Wahrheit unausgesprochen bleibt.«20

Die Funktion der parrhesia ist also nicht, »jemand anderem die Wahrheit darzutun, sondern sie hat die Funktion von Kritik: Kritik am Gesprächspartner oder am Sprecher selbst.«21 Die Tyrannei ist die Heimstatt von Schmeichelei und Schweigen. Sie ist die Regierungsform, die mit der Parrhesia grundsätzlich unvereinbar ist. Sie ist aber auch für den König keine Option der Rede, weil er nichts riskiert. 22 Im Gegensatz zum Ratschlag, den der Herrscher jederzeit einholen kann, lassen sich weder der Gebrauch der Parrhesia noch der parrhesiastische Vertrag erzwingen. Weil der Herrscher keine reziproken Beziehungen zu Gleichen, sondern asymmetrische Beziehungen unterhält, ist es für ihn, der vom Gebrauch der Parrhesia ausgeschlossen ist, 19 Michel Foucault: Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia. Sechs Vorlesungen, gehalten im Herbst 1983 an der Universität von Berkeley/Kalifornien, Berlin 2008, S. 10. 20 Ebd., S. 15. 21 Ebd., S. 16. 22 Ebd., S. 15.

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entscheidend, dass er die Möglichkeit einer temporalisierten Symmetrie offenhält: »Der Souverän selber ist kein parrhesiastes, aber die Fähigkeit, das parrhesiastische Spiel zu spielen, ist ein Prüfstein für den guten Herrscher« 23. Der weise Herrscher kann dem Unterlegenen eine Art Vertrag anbieten: »Der Souverän, derjenige, der die Macht hat, dem es aber an Wahrheit mangelt, wendet sich selbst an denjenigen, der die Wahrheit hat, dem es aber an Macht mangelt, und sagt ihm: Wenn du mir die Wahrheit sagst, was auch immer sich als Wahrheit erweist, wirst du nicht bestraft; und diejenigen, die für irgendeine Ungerechtigkeit verantwortlich sind, werden bestraft werden, und nicht diejenigen, die die Wahrheit über diese Ungerechtigkeit sagen.«24 In Gryphius’ Trauerspielen treten die Figuren, die Züge des Parrhesiasten tragen, in ein Martyrium ein. Als Widerstandsakt gegen die Tyrannen verbleibt ihnen nur mehr die freimütige Rede. In der lutheranisch geprägten Auffassung des Absolutismus, der Gryphius anhängt, wird dem Schwächeren, dem kein Widerstandsrecht gegen den Tyrannen zugebilligt wird, konzediert, dass er Parrhesia üben dürfe und so die Chance wahre, eine moralische Regung im Herrscher zu aktivieren, die sich dann als dessen freiwillige Selbstbeschränkung kundgebe. Und wenn auch dieses Mittel versage, bleibe dem Ratgeber bzw. Untertan das Selbstopfer, mit dem die Gültigkeit und Unbedingtheit seiner Moral verbürgt werde und seine Chance auf eine jenseitige Entlohnung gewahrt bleibe. In Lohensteins Trauerspielen ist die Parrhesia hingegen nur ein weiterer Stein in einem hyperkomplexen Machtspiel. Dieses Spiel setzt an der Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation an. Weil das Bewusstsein opak ist, kann, was gesagt wird, gerade nicht unmittelbar auf das Bewusstsein des Sprechers zurückgerechnet werden. Man kann einzig durch das, was der andere sagt und was an ihm äußerlich zu beobachten ist, Aufschluss über ihn bekommen. Angesichts dieser Unzugänglichkeit des anderen gewinnen Verhaltenslehren an Relevanz, die Anleitung geben, wie zu kommunizieren und die Kommunikation zu deuten sei. Aber diese Erfahrungswerte und Deutungen sind keineswegs verlässlich: Es gibt immer nur individuelle Situationen mit je spezifischen Voraussetzungen, die sich gerade nicht antizipieren lassen. Deshalb gibt es auch keine geschlossene Theorie des Ratgebens oder der Beratung, sondern allenfalls Anleitungen zur fallweisen Anwendung eines Wissensbestands bzw. Erfahrungsschatzes. Man muss lernen davon auszugehen, dass das eigene Bewusstsein für den anderen ebenso unzugänglich ist wie das Bewusstsein des anderen, und sieht sich deshalb auf die Beobachtung der Kommunikation zurückgeworfen. Hierüber gerät man wiederum in ein reziprokes Geflecht, in dem Beobachtungen sich potenzieren und eine Situation wechselseitiger Beobachtungen herstellen, die kaum

23 Ebd., S. 22. 24 Ebd., S. 31.

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mehr aufzulösen ist, sondern unablässige Klugheit erfordert. ›Klugheit‹ bezeichnet eine Kunst der Verstellung: Wer klug ist, stellt die Differenz von Bewusstsein und Kommunikation stets in Rechnung und vermag sie zu operationalisieren, sodass er in Situationen, in denen er keinen direkten Einfluss auf die Umstände nehmen kann, aber dennoch einen Rat kommunizieren muss, für sich eine Restchance wahrt.

L ITERATUR Burke, Peter: Die Geschicke des »Hofmann«. Zur Wirkung eines RenaissanceBreviers über angemessenes Verhalten, Berlin 1996. Campe, Rüdiger: »Theater der Institution. Gryphius’ Trauerspiele Leo Armenius, Catharina von Georgen, Carolus Stuardus und Papinianus«, in: Roland Galle/Rudolf Behrens (Hg.): Konfigurationen der Macht in der Frühen Neuzeit, Heidelberg 2000, S. 257-287. Castiglione, Baldessar: Das Buch vom Hofmann (Il Libro del Cortegiano), aus dem Italienischen von Fritz Baumgart, München 1986. Casper von Lohenstein, Daniel: Cleopatra. Trauerspiel. Text der Erstfassung von 1661, besorgt von Ilse-Marie Barth, Nachwort von Willi Flemming, Stuttgart 1981. Casper von Lohenstein, Daniel: Sophonisbe. Trauerspiel, hg. von Rolf Tarot, bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1996. Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock, aus dem Französischen von Ulrich Johannes Schneider, Frankfurt a.M. 1995. Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, Frankfurt a.M. 1993. Foucault, Michel: Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia. Sechs Vorlesungen, gehalten im Herbst 1983 an der Universität von Berkeley/Kalifornien, Berlin 2008. Gryphius, Andreas: Leo Armenius, oder Fürsten-Mord. Trauerspiel, in: Ders.: Dramen, hg. von Eberhard Mannack, Frankfurt a.M. 1991. Hinz, Manfred: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1992. Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft, hg. von André Kieserling, Frankfurt a.M. 2000. Machiavelli, Niccolò: Il Principe. Der Fürst, Italienisch/Deutsch, übersetzt und hg. von Philipp Rippel, Stuttgart 1995. Starobinski, Jean: Gute Gaben, schlimme Gaben. Die Ambivalenz sozialer Gesten, Frankfurt a.M. 1994. Treadgold, Warren: The Byzantine Revival 780-842, Stanford 1988. Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002.

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Wichert, Adalbert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert. Daniel Casper von Lohenstein und sein Werk. Eine exemplarische Studie, Tübingen 1991. Wyduckel, Dieter: Princeps Legibus Solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre, Berlin 1979.

Beratungsresistenz bei Rabelais Panurg und sein ›Ehe-Problem‹ im Dritten Buch von Gargantua und Pantagruel P IERRE M ATTERN

Das pragmatische Sprachspiel des Ratgebens bietet wunderbare Möglichkeiten zu seiner Entpragmatisierung. Einerseits lässt es sich leicht von außen unterwandern – die Kette der Schritte ist so fragil, dass ihr an jedem ihrer Glieder das drohen mag, was »aus Handlungen Geschichten macht«.1 Aber das Sprachspiel enthält auch innere Spannungen, die nicht alle Teilnehmer gleichermaßen auszuhalten imstande sind. Dazu gehört das Problem der Verantwortung: Handelt es sich wirklich um einen Rat, dann wird, was einer spricht, erst dem, der demgemäß handelt, als Handlung zugerechnet; das Aussprechen, das Ergehen jener Rede, die den Rat gab, soll pragmatisch keine Rolle mehr spielen. Der Ratgeber strebt dahin, ein »vanishing mediator«, ein ›verschwindender Vermittler‹ 2 zu sein, der durch einen kurzen Auftritt eine ohnehin latent schon bestehende Beziehung zwischen der Frage und der kommenden Handlung des Ratsuchenden stiftet. Jedenfalls sieht dies der Idealfall so vor. Das rückt den Rat nicht nur in die Opposition zum Befehl, 3 sondern auch

1

Vgl. Hermann Lübbe: »Was aus Handlungen Geschichten macht: Handlungsinterferenz; Heterogonie der Zwecke; Widerfahrnis; Handlungsgemengelagen; Zufall«, in: Jürgen Mittelstraß/Manfred Riedel (Hg.): Vernünftiges Denken. Studien zur praktischen Philosophie und Wissenschaftstheorie, Berlin/New York 1978, S. 237-250.

2

Vgl. Fredric Jameson: »The Vanishing Mediator or: Max Weber as Storyteller« (1973), in: Ders.: The Ideologies of Theory, Bd. 2, Minneapolis 1988, S. 3-34.

3

Das Plädoyer dafür, Ratgeber nicht zu bestrafen, und die Unterscheidung Rat /Befehl bei Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates (1651), hg. und eingel. von Iring Fetscher, Frankfurt a.M. 1984, S. 198f. (Kap. 25).

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zum Orakel. Seit Herodot die Geschichte vom lydischen König Kroisos erzählt hat, 4 der – Erbe eines Verhängnisses, das seine Dynastie von vornherein belastet – nach einem doppeldeutigen Bescheid aus Delphi sein eigenes Reich verspielt, verbindet sich die herkömmliche Vorstellung vom Orakel mit der Verstrickung in generationenübergreifende Geschichten der Befragung, des Ergehens, der Fehldeutung der Rede und der Selbstverkennung des Interpreten in eigener Sache.5 In dieser Vorstellung bleibt die Alterität bestehen; das ergehende Sprechen wird ihr als Handlung zugeschrieben, und deshalb muss sich auch niemand damit zufrieden geben, seine Entschlüsse kämen ohne nennenswerte Verstrickung in das Sprechen eines Anderen zustande. Das Orakel kann mit seiner demonstrativen Andersheit Gegenstand des Wunsches sein. Und wo der Rat sich diskret zurückzieht, gerade weil er so gut funktioniert, folgt ihm das Orakel keineswegs ins Dunkel der Geschichte. 1. Das hat schon zu Beginn der modernen Literaturgeschichte der französische Arzt, Humanist, Ex-Franziskaner- und Ex-Benediktinermönch François Rabelais (1483 oder 1494-1553) gezeigt. Rabelais’ humoristisch-satirische Roman-Pentalogie Gargantua und Pantagruel schließt an die Volksbuch-Tradition der ›Riesenchroniken‹ an: Der Titelheld und Riese Gargantua ist der Herrscher eines eigentlich winzigen Landstrichs in der Touraine, aus der auch Rabelais selber stammt, und Pantagruel ist sein Sohn. Gargantua und Pantagruel besteht aus insgesamt fünf Teilen. Das unschätzbare Leben / des großen Gargantua / Vaters Pantagruelis steht zwar am Anfang, ist aber zeitlich erst nach dem zweiten entstanden – als dessen Vorgeschichte, 1534. Der zweite Teil ist Gargantuas Sohn Pantagruel gewidmet und war zwei Jahre zuvor, 1532, erschienen. In ihm war bereits eine Fortsetzung der Handlung in Aussicht gestellt worden, die dann im Dritten Buch erst in zeitlich größerem Abstand geliefert wurde, 1546, und auch anders als angekündigt ausfiel. Drei Jahre darauf erschien der erste Teil des Vierten Buches, das 1552, im Jahr vor Rabelais’ Tod, komplett vorlag. Der fünfte und letzte Teil erschien postum 1564, also 11 Jahre nach dem Ableben des Autors, was zur Vermutung Anlass gibt, dieser Teil sei nicht (vollständig) von Rabelais selber ausgearbeitet worden. Der genaue Anteil Rabelais’, die

4

Herodot 1, 6-13 und 26-92. Herodot: Historien. Deutsche Gesamtausgabe, übers. von August Horneffer, neu hg. und erl. von Hans-Wilhelm Haussig, mit einer Einl. von Walter F. Otto, Stuttgart 1971, S. 3-6 und S. 11-44.

5

Zur Praxis des delphischen Orakels gehörte auch die Beratung in lebenspraktischen Dingen. Vgl. Marion Giebel: Das Orakel von Delphi. Geschichte und Texte, Griechisch/Deutsch, Stuttgart 2001, S. 38-47 (Kroisos bei Herodot) sowie S. 95 (Beispiel für einen Ratschlag für die private Lebenspraxis).

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Identität des Bearbeiters und der Grund für die lange Verzögerung sind dauerhafte Probleme der Rabelais-Philologie geblieben. Zum Inhalt in Kürze Folgendes. Der erste Teil erzählt von der Herkunft, der seltsamen Geburt und der Kindheit Gargantuas; der junge Riese gibt Proben seiner körperlichen Stärke »und seiner Aufgewecktheit bei überraschendem Anlaß«.6 Er wird im Hause seines Vaters Grandgoschier 7 auf einem Landgut in der Touraine geboren und erzogen, darauf verschiedenen Erziehern in Paris übergeben, was Anlass zur Satire auf mittelalterliche Lehrmethoden und ineffiziente Tageseinteilung gibt. Als das Reich seines Vaters vom Tyrannen Pikrocholus angegriffen wird, kehrt er zusammen mit einem Kreis von Gefährten dorthin zurück, führt den Krieg gegen die Aggressoren, siegt und belohnt die Seinen für ihre Treue und Tapferkeit; den Besiegten gegenüber lässt er Milde walten. Den Abschluss dieses ersten Buches bildet der Bau der utopischen Abtei von Thelem, einem Anti-Kloster, das Mitglieder beiderlei Geschlechts aufnimmt, der kultivierten Muße dient und aus dem man nur paarweise austritt: ein utopischer Ort verlässlicher Objektwahl (die Paarbildung wird später, im Dritten Buch, zum Endlosproblem und auch uns noch beschäftigen). Das zuvor entstandene zweite Buch mit dem vollen Titel Pantagruel / der Dipsoden König / in sein ursprüngliches Naturell wiederhergestellt / nebst dessen erschrecklichen Heldentaten und Ebenteuern hatte im Wesentlichen denselben Handlungsablauf geboten. Hier geht es zunächst einmal um Abstammung, Geburt und frühe Kraftproben des Sohnes, um sein Studium vor allem in Paris, und die wiederum damit verbundenen Satiren beziehen sich auf sprachverhunzende Akademiker, niemals auf den Punkt kommende Prozesshansel, in mittelalterlicher Scholastik verharrende Gelehrsamkeit. Deutlicher als bei der Gargantua-Handlung beziehen sie das Exzessive des Semiotischen mit ein und machen es zum Thema: Die Zeichen können genau so wuchern wie die Körper, was nur z.T. tadelnswert ist – wie in den genannten Satiren –, z.T. aber auch die Sympathie Pantagruels gewinnt. Dies geschieht vor allem in Gestalt des Gefährten Panurg: Das ist einer, der viele Sprachen spricht, auch die Zeichen der Taubstummen beherrscht und überhaupt, wie sein Name sagt, »zu allem imstande« ist.8 Seine Abenteuer, (zuweilen grausamen) Streiche und Verdienste machen einen großen Teil des verbleibenden zweiten Buches aus. Auch Pantagruel verlässt seine Studien um des Krieges willen, als Utopia

6

So die Formulierung Ludwig Schraders im Kommentarteil von François Rabelais: Gargantua und Pantagruel, aus dem Franz. von Gottlob Regis, hg. von Ludwig Schrader, Textbearbeitung von Karl Pörnbacher, München 1964, Bd. 1, S. 435.

7

Frz. Grandgousier. Ich verwende im Haupttext die Namen der deutschen Übersetzung

8

Zu seiner komplizierten Charakteristik vgl. Ludwig Schrader: Panurge und Hermes. Zum

von Gottlob Regis. Ursprung eines Charakters bei Rabelais, Diss., Bonn 1958.

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(Herkunftsland seiner Mutter) von den feindlichen Dipsodiern bedroht wird. Im Dritten Buch wird im besiegten Dipsodien eine Kolonie von Utopiern angesiedelt und die Herrschaft Pantagruels dort gefestigt. Zur Etablierungsthematik gehört auch die Bitte des Panurg, der dort ein Lehen erhalten hat, um einen Rat: Soll er sich verheiraten oder lieber nicht? Statt einer Serie von Taten folgt nun eine Serie von Ratschlägen und Orakelsprüchen, denn Panurg wird zwar Auskünfte erhalten, aber auch immer weitere Adressaten seiner Bitte aufsuchen. Schließlich wird beschlossen, ein großes Orakel entscheiden zu lassen, das Orakel der Göttlichen Flasche der Priesterin Bakbuk. Dazu muss man eine gefährliche Reise zu Schiff unternehmen: Das Vierte Buch bietet den ersten Teil dieser Reise, die Serie der Inseln, ihrer seltsamen Bewohner sowie ein furchtbares Unwetter; im Fünften Buch wird schließlich das Orakel erreicht, das Panurg auch eine letzte Auskunft zuteil werden lässt. Die ersten beiden Bücher verfolgen in der Handlungsführung das Schema des Ritterromanes.9 Das von Vater oder Mutter ererbte Reich wird erworben, indem es gegen Aggressoren verteidigt wird; diese Bewährung ist der wahre Abschluss der Studien, um deretwillen der Sohn die Heimat verlassen hatte. Zum Schema des Ritterromans der ersten beiden Bücher gehören auch Hinweise zur rechten Lebensführung. Bettina Rommel hat deutlich gemacht, in welchem Maße Ratgeberliteratur in den ersten Teil eingegangen ist. Diese Ratschläge sind tendenziell ›ernst gemeint‹, d.h. sie werden durch den fiktionalen Kontext keineswegs verfremdet und damit auch nicht, wie es der These Michail Bachtins von der Mehrstimmigkeit entspräche, als romanhaftes Sprechen ›abgebildet‹, vielmehr als autoritative Rede ›wiedergegeben‹. 10 So sind bei Rabelais, Bettina Rommel zufolge, die vielen »Hinweise zur gesunden Lebensweise, zur Körperpflege, Selbstmedikation und Lernpsychologie«11 im Rahmen einer »pragmatischen Finalisierung«12 durchaus ›einstimmig‹: »die Kapitel, die Gargantuas Akkulturation beschreiben […], sind gleichsam das Beispiel für eine Literatur, die als Lebensführung eine moralischpraktische Funktion gewinnt«.13 Zwar wäre Bachtin zufolge gerade der Roman Ra-

9

Jürgen von Stackelberg: Von Rabelais bis Voltaire. Zur Geschichte des französischen Romans, München 1970, S. 48.

10 Zu »Abbildung« vs. »Wiedergabe«: Michail M. Bachtin: »Das Wort im Roman« (1934/35), in: Ders.: Die Ästhetik des Wortes, hg. und eingel. von Rainer Grübel, aus dem Russischen übers. von Rainer Grübel und Sabine Reese, S. 227. 11 Bettina Rommel: Rabelais zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Gargantua: Literatur als Lebensführung, Tübingen 1997 (= mimesis. Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit/Recherches sur les littératures romanes depuis la Renaissance; 24), S. 112. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 111.

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belais’ als »sprunghafte Literarisierung der mündlichen Karnevalstraditionen des Volkes«14 anzusehen. Doch macht die Ratgeberliteratur, auf die Rabelais zurückgreift, eben bereits eine schriftliche Traditionslinie aus. Wie das Ratgeben nicht gehen sollte, wird ebenfalls demonstriert. Der Krieg gegen Gargantua wird nämlich vom Tyrannen Pikrocholus III. von Lerné, einem Flecken in der Nachbarschaft, aufgrund eines Ratschlags angezettelt, der bei aller Überzogenheit das Durchschauen schlimmer Ratschläge lehren mag. Die Ratgeber des Königs Pikrocholus geben ihm einen, wie es in der Kapitelüberschrift heißt, »übereilten« Rat, der darin besteht, »dem leicht beeinflußbaren Tyrannen den Plan einer mühelosen und raschen Welteroberung« zu entwickeln.15 Pikrocholus soll sein Heer zunächst einmal teilen, so dass die eine Hälfte das Königreich des Gargantua erobern kann, zumal dort gefüllte Staatskassen locken; die andere Hälfte erobert und plündert die Hafenstädte Südwestfrankreichs, um mit deren Macht und Reichtum die Kolonialmächte Portugal und Spanien rasch in die Knie zu zwingen. Dann würde es ein Kinderspiel sein, sich das östliche und südöstliche Mittelmeer untertan zu machen, um sich schließlich Italien zuzuwenden. Eigene Vorschläge des leicht entflammbaren Königs werden dabei brüsk zurückgewiesen, so als stünden hinter all dem tatsächlich gewisse strategische, nicht ausgesprochene Überlegungen – und nicht einfach der Wunsch nach fetter Beute: »›Jetzo ist Welschland euch untertan, da habt ihr Napel, Kalabrien, Apulien, Sizilien alles im Sack und Malta mit. […]‹ – ›Doch ging ich auch‹, sprach Pikrochol, ›gern gen Laureto.‹ – ›Nix da, nix, das kommt auf dem Rückweg‹, sagten sie. ›Von da ab nehmen wir Candien, C ypern, Rhodus und die Cycladischen Inseln und werfen uns auf Morea. Wir haben’s schon, Sankt Trinian! Gott schütz Jerusalem: denn der Sultan kann sich nicht messen mit eurer Macht.‹ ›So werd’ ich‹, sprach er, ›den Tempel Salomonis bauen.‹ – ›Nein‹, sagten sie, ›noch nicht! Verziehet noch ein wenig. Seid doch niemals so jähling in euern Unternehmungen.‹« 16

Der (im Rahmen des Gesamtplans) bescheidene Wunsch des Königs nach einem kriegerischen Abstecher in Richtung Laureto wird von den Ratgebern genau so blockiert wie der nach Maßgabe kultureller Symbolik viel anmaßendere, die Neubebauung des Tempelberges. Nur wer seine Größenphantasien schon mit der Vision verwoben hat, die der Rat ausmalt, kann selbst aus dem jegliche Grenzen sprengenden Rat noch eine Rede von der Grenze heraushören, ein scheinbar vorsichtiges Abraten, realitätsbezogen und eigentlich leicht zu befolgen (wie eben der Rat, etwas nicht zu tun, leicht zu geben und zu befolgen ist). Dies wäre die Lehre, die aus der

14 Ebd., S. 37. 15 Schrader im Kommentarteil zu Rabelais: Gargantua und Pantagruel, Bd. 1, S. 482. 16 Ebd., S. 89 (I, 33).

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Szene vom schlechten Rat gezogen werden könnte, die am Anfang der beiden Kriegsepisoden steht. 2. Mit dem Beginn des Dritten Buches tritt, wie gesagt, eine Änderung ein. Die Aggressoren sind besiegt. Pantagruel wird vom Riesen, der eine erstklassige humanistische Ausbildung erfährt, Abenteuer erlebt und fremde Länder erobert, zum guten König, der das eingeborene Volk der Dipsodier nicht bedrückt, der die Untertanen freundlich fördert, der Ämter und Wohltaten verteilt. Seine Riesengestalt ist überraschenderweise nicht mehr von Belang, er wird zu einer Art Sprechrolle. Etablierungsmaßnahmen werden getroffen, Ruhe kehrt ein, die Heldentaten sind zunächst einmal getan, die Zeit des Pragmatismus kündigt sich an. Auch hier hat eine Ratgeberszene eine wichtige Funktion. Nur ist es hier umgekehrt wie in der PikrocholusSzene: Der Gefährte des Pantagruel, der philosophisch gebildete, wortgewandte und fingerflinke Panurg, bittet den frisch gebackenen König um einen Rat. Offiziell ist Panurg ein Domestik Pantagruels, er trägt dessen Farben. Bezeichnet wird er dagegen oft als »compaignon«, eingeführt wird er mit der sogar ein wenig anrührenden Bemerkung in der Kapitelüberschrift, Pantagruel habe seinen neuen Gefährten »sein ganzes Leben lang lieb« gehabt.17 Anders als in der Pikrocholus-Szene geht es hier also um Kommunikation unter Freunden. Die Bitte – keineswegs aber die Handlung, die aus ihr resultieren müsste – wird dann das ganze weitere Geschehen des Dritten, des Vierten und des Fünften Buches bis zum (wohl nicht mehr von Rabelais selber stammenden) Schluss des gesamten Romans bestimmen. Dieses dritte Buch geht in eine Art quest nach Art des Gralsromans über;18 es ersetzt dabei, wie schon angedeutet, die Serie der Taten durch eine immer wieder gestellte einzige Frage. Was in der von Gargantua erbauten Abtei von Thelem an einen einzigen Ort gebannt ist, die verlässliche Paarbildung, bestimmt nun als Problem alle weiteren Ortswechsel im Roman. Dieser schwerwiegenden Frage geht im Text eine andere voraus, die etwas leichter klingt. Zunächst einmal fragt Panurg im sechsten Kapitel des Dritten Buches den König Pantagruel ein wenig scheinheilig nach dem Grund, warum eigentlich nach dem Gesetz des Mose neuverheiratete Männer ein ganzes Jahr vom Kriegsdienst befreit werden sollten. 19 Die Antwort liegt nahe: »So viel ich glaub«, antwort Pantagruel, »geschah es wohl, damit sie sich im ersten Jahr nach Herzenslust ihrer Lieb erfreuen, auf ihres Stammbaums Mehrung denken und Leibeserben erzielen möchten. So blieb zum mindesten, wenn sie das andre Jahr im Krieg um-

17 Ebd., S. 178 (II, 9). 18 Stackelberg: Von Rabelais bis Voltaire, S. 49. 19 Rabelais: Gargantua und Pantagruel, Bd. 1, S. 293f. (III, 6).

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kamen, ihr Nam und Wappen bei ihren Kindern.« Im Übrigen, so fügt er hinzu, könne man nach einem Jahr Ehe ganz gut die fruchtbaren von den nicht fruchtbaren Witwen unterscheiden, und letztere könnten dann von den Männern geheiratet werden, die sich keine Kinder wünschten.20 Panurg kennt zwar die kirchlichen Einwendungen gegen diese Praxis und bringt sie auch sofort zur Sprache, er weiß jedoch nun und kann davon ausgehen, dass sein Souverän die Freistellung Neuvermählter für eine doppelt sinnvolle Einrichtung hält.21 Und man sieht zudem, dass nicht nur der Begründer der Abtei Thelem, sondern auch sein Sohn sich mit dem Problem gelungener Paarbildungen beschäftigt. Doch schon am nächsten Tag und im neunten Kapitel bittet Panurg um den Rat, ob er sich wohl auch einmal verheiraten solle. Ich zitiere den Anfang des Kapitels (in der Übersetzung von Gottlob Regis). Panurg seufzt: »[…] ›Herr, ihr habt itzt meinen Entschluß vernommen: ich will freien. […] [S]agt mir, was euch bedünkt dazu.‹ – ›Da ihr‹, versetzt Pantagruel, ›den Wurf einmal getan, euchs also fest fürgesetzt und beschlossen habt, ist weiter nichts zu sagen; bleibt nichts übrig, als daß ihrs auch ins Werk richt.‹ – ›Aber ich möchts doch‹, sprach Panurg, ›nicht gern ohne euern guten Rat und Meinung tun.‹ – ›Ich mein auch wohl‹, antwort Pantagruel, ›daß ihrs tut, und rat euch dazu.‹ – ›Doch wenn ihr etwan wissen solltet‹, sprach Panurg, ›daß mir besser wär wie ich bin zu bleiben, ohn Weiterung noch Novation, blieb ich doch lieber ungefreit.‹ – ›Freit also nicht‹, antwortet Pantagruel. – ›Wollt ihr denn aber‹, sprach Panurg, ›dass ich so einsam all mein Lebtag ohn Ehegespielin bleiben soll? Ihr wißt, geschrieben steht: Vaeh soli. Der Mensch allein hat nimmermehr den Trost wie die im Ehstand sind.‹ – ›Sinnt also um des Himmels Willen auf Ehestand‹, sprach Pantagruel. – ›Wenn aber‹, sprach Panurg, ›mein Weib mir Hörner drehet’, wie ihr wißt, dass heuer ein fruchtbar Hornjahr ist, daran hätt ich allein genug, daß mein Geduldstrang überschnappt’. Ich bin den Hahnreis gut, es scheinen mir hübsche brave Leut zu sein, geh auch ganz gern mit ihnen um, möchte aber beileib doch selbst keiner sein. Vor dem Kraut graut mir traun!‹ – ›Traun also müsst ihr euch nimmer lassen, Freund‹, antwortet Pantagruel […] ›[…] Wohl, weil ich nun aber ohn Weib nicht sein kann, so wenig als ein Blinder ohne Stecken […], wärs dann nicht besser, wenn ich mich zu einer braven und ehrbaren Frau tät, statt so reihum zu gehen Tag für Tag vor Prügelsuppen, ja was noch schlimmer, vorm fränkischen Grind? denn aus tugendhaften Weibern (…) hab ich mir nie nicht viel gemacht.‹ – ›Macht also Hochzeit in Gottes Namen‹, versetzt’ Pantagruel. – ›Wenn’s aber nun Gottes Will wär‹, sprach Panurg, ›und sich begäb, dass ich ein sittsam Weib bekäm und die mich schlüg […].‹«22

20 Das Motiv der projektierten Kinderlosigkeit spielt für die Deutung des Panurg’schen Parcours eine wichtige Rolle. Siehe Anm. 37. 21 Rabelais: Gargantua und Pantagruel, Bd. 1, S. 293 (III, 6). 22 Ebd., S. 300f. (III, 9).

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Und so geht es denn noch eine ganze Weile weiter: Wenn die Frau tugendhaft, aber doch gewalttätig sein sollte? Dann also nicht. – Wird man aber aus Einsamkeit krank, gibt es ja auch keine Hausfrau, die einen pflegt. Dann also doch. – Wer aber krank ist, kommt der ehelichen Pflicht nicht nach und wird von der Hausfrau womöglich betrogen. Gut, dann lieber nicht. – Wer deswegen aber nicht heiratet, hat auch keine legitimen Nachkommen und Erben, an denen er sich erfreuen könnte. Dann also wiederum doch.– Wer dieses Spiel schließlich aufgibt, ist Panurg. Denn er meint, es sei ihm bisher immer noch kein wirklicher Rat gegeben worden. Pantagruels Antworten sind für den rhetorisch beschlagenen Panurg schließlich leicht zu durchschauen: »›Euer Rat«, sprach Panurg, »ist mit Verlaub zu melden, ein Art von Retour-Kutsch; nichts wie Gespött, Paronomasien, Sarkasmen, Epanalepsen und Widersprüch in einem Otem. Eins hebt immer das ander auf: weiß nicht, woran ich mich halten soll.«23 Den Vorwurf, nichts Verlässliches zu äußern, gibt der König wörtlich zurück: Auch Panurg sage ja nichts, womit sich irgendetwas anfangen ließe.24 Mit seiner rhetorischen Analyse hat Panurg zunächst einmal recht: In der Tat hatte Pantagruel von einem bestimmten Moment an seinen Antwortsatz mit dem letzten Wort von Panurgs Frage begonnen (Epanalepse) oder mit einem ähnlich oder gleich klingenden Wort (Paronomasie). Was die deutsche Übersetzung nicht nachahmen kann: Im Französischen des Rabelais handelt es sich dabei weitgehend um lediglich zwei Phoneme, welche die Worte »marier« und »point« anklingen lassen oder ihnen entsprechen, also: heiraten/nicht (heiraten). Dem Streitgespräch wäre damit die Struktur des Abzählreimes unterlegt (dessen Ende zwar nicht festgelegt ist, der aber umständehalber mit »heiraten« endet).25 Erinnert fühlt man sich damit auch an die Konstellation von Narziss und Echo: Dem Zustand, den der eine vorgibt, fügt der andere bloß einen Widerhall hinzu – und was damit bedeutet werden soll, dringt nicht durch. Pantagruel aber sieht sich nach Panurgs Vorwurf genötigt, Klartext zu sprechen: »[…] ›Man muß es wagen auf gutes Glück; hie heißts: verbind die Augen, bück dich und küß die Erd; im übrigen befiehl dich Gott, wenn dus ja doch bestehen willt. Gewissern Trost weiß ich euch auch nicht zu geben.‹«26

23 Ebd. S. 302 (III, 10). 24 Ebd. 25 Vgl. die feinsinnige Analyse von Myriam Marrache-Gouraud: ›Hors toute intimidation‹. Panurge ou la parole singulière, Genf 2003 (= Études Rabelaisiennes; XLI), S. 164f. 26 Rabelais: Gargantua und Pantagruel, Bd. 1, S. 302 (III, 10).

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Pantagruel hat den Rat eigentlich schon zum Trost umgebogen. Der besagt, dass der Wunsch in Bereitschaft übergehen muss. Später wird er seiner Ansicht einen noch klareren Ausdruck geben: »[…] in Heiratssachen soll jedermann seiner eigenen Gedanken Schiedsherr sein und niemand zu Rat ziehen als sich selber.« 27 Wird ein anderer gefragt, so kann es hier lediglich um das Sichtbarmachen des Entschlusses gehen, der sich in der Anfrage auf irgendeine latente Weise bereits zeigt. Dabei bleibt zu bedenken, dass dieser Rat, ausschließlich sich selbst zu Rate zu ziehen, die Szene des Ratgebens weder vereitelt noch verkürzt. Denn Pantagruels Ansicht wird von Panurg offensichtlich nicht geteilt. Hier treffen verschiedene Vorstellungen davon aufeinander, was ein Rat ist und was er bei dieser Problemstellung überhaupt leisten kann. Für Panurg geht es nicht darum, dass der andere in seiner, Panurgs, Rede eine bestimmte Bereitschaft oder Entschlossenheit dekodiert und diese zum Entscheidungsgrund ernennt. Er, Panurg, demonstriert vielmehr seine Fähigkeit, sich sowohl positive als auch negative Folgen seines Entschlusses vorstellen zu können. Da diese Fähigkeit zur Ausgewogenheit offenbar wunderbar entwickelt ist, kommt Pantagruel mit seiner Strategie nicht weiter. Was in diesem Dialog fehlt, wäre eine Art ›Trotzdem‹ bzw. ›Trotzdem nicht‹ vonseiten Pantagruels; der müsste sich dann entweder in ein kompliziertes Abwägen der positiven und negativen Folgen gegeneinander hineinziehen lassen (was nicht zu empfehlen ist, denn im Ausmalen dieser Folgen ist Panurg kaum zu schlagen) oder er müsste einen Grundsatz vertreten oder er müsste einfach ein autoritäres Machtwort sprechen – wozu er übrigens durchaus in der Lage ist –,28 das die Entscheidung vorgibt und die Diskussion beendet. Zu keiner dieser Möglichkeiten ist er bereit. Während Panurgs Fragen darauf abzielen, auf Seiten Pantagruels eine Art Überzeugung herauszukitzeln, einen Grundsatz, der die Fabrikation immer neuer guter und schlechter Folgen unterbricht, geht es für diesen darum, einem sich womöglich abzeichnenden Wunsch zur Resonanz zu verhelfen, ihn in eine Bereitschaft übergehen zu lassen und, falls diese bekannt sind, Mittel vorzuschlagen.29 Auf diese Weise ergibt sich ein Patt. Nun hat die Systemtheorie gelehrt, zu einer anstehenden Entscheidung zwischen Alternativen könne es selber keine Alternative geben. Man könne sich also nicht entscheiden, sich nicht zu entscheiden. 30 Natür-

27 Ebd., S. 362 (III, 29). 28 Wie er es kurz zuvor in Bezug auf Panurgs Lob der Schulden demonstriert: Ebd., S. 292 (III, 5), letzter Satz. 29 Zur Trias ›Wunsch – Bereitschaft – Mittel‹ als Analyse des Willens vgl. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt a.M. 2003, S. 36-42. 30 Vgl. Dirk Baecker: Postheroisches Management. Ein Vademecum, Berlin 1994, S. 161. Eine solche Struktur liegt auch schon Pascals berühmter Wette zugrunde.

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lich trifft das auch für Panurg zu: Solange er weiterfragt, heiratet er nicht. Wer so fragt wie er, erweckt den Verdacht, insgeheim eben doch schon entschieden zu sein. Interessanterweise zieht Pantagruel diesen Schluss aber gerade nicht. Gegen den Binarismus kommt auch hier das Zaudern zu seinem Recht.31 Denn nicht eine Entscheidung muss getroffen werden, sondern die Geschichte muss weitergehen. In ihrem Dienst fährt Pantagruel, als nichts mehr zu gehen scheint, mit einem in anderer Hinsicht entscheidenden Satz fort: »Doch, gefällt es euch, könnt ihr noch eins tun.«32 Pantagruel rät nun dazu, ein Buchorakel zu Rate zu ziehen. Dieser eine Satz führt dazu, dass der Roman weitergeht; er führt eine lange Serie von Orakeln ein, die bis zum Romanschluss aufgesucht und angelaufen werden können. Nicht mehr die Geschichte von Ausbildung und Bewährung, sondern die Suche nach einer verbindlichen Auskunft liefert von nun an den Faden, auf den sich die kommenden Episoden und Abschweifungen aufreihen lassen. Handelte die Roman-Tetralogie zunächst vom Raum der Proben, die zu durchlaufen sind, so geht es von jetzt an um den Ort einer letzten Antwort, die man vermisst. An dieser Stelle wird das Ratgeben selber dargestellt und in gewisser Weise aufgelöst, um zu einem Antrieb zum weiteren Erzählen zu dienen. Rabelais verarbeitet hierbei eine ganze Traktatliteratur, die seit dem Mittelalter und verstärkt zu seiner eigenen Zeit Ratschläge zur Eheschließung gegeben hatte. 33 Diese Ratschläge erfüllen jedoch nicht das Kriterium, dem die Hinweise im ersten Buch, dem Gargantua, unterliegen: zur Selbstsorge des Individuums dienen zu können. Sie betreffen vielmehr ein Verhältnis, das das Individuum eingeht und über das es keine vollständige Kontrolle beanspruchen kann. Entsprechend wird nun auch das Ratgeben zu einer Frage des Verhältnisses zwischen den Beteiligten. Der Rat (samt Trost), den Pantagruel am Ende gibt, entspricht dann zwar dem Verlangen des Panurg, etwas Grundsätzliches hinsichtlich kontingenter Umstände zur Geltung zu bringen. Er lässt freilich den letzten Schritt aus, nämlich die Anwendung auf das Individuum Panurg, die Beantwortung der Frage, worauf das alles nun in dessen Fall hinauslaufen mag. Denn auch Pantagruels Voraussetzung wird beibehalten, nämlich die, dass in irgendeiner Weise die Tendenz zum Entschluss bereits vorliegen muss. Eines, so hatte es geheißen, könne Panurg nun noch tun. Bei diesem Einen bleibt es freilich nicht. Es kommt zu einem ganzen Parcours von Orakeln und Rat-

31 Vgl. Joseph Vogl: Über das Zaudern, 2. Aufl., Zürich/Berlin 2008. 32 Rabelais: Gargantua und Pantagruel, Bd. 1, S. 302 (III, 10). 33 Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 4. Aufl., Bern/München, 1963, S. 164 sowie Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (1940/1965), übers. von Gabriele Leupold, Frankfurt a.M. 1987, S. 279-283.

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schlägen: Zunächst einmal soll Panurg das Buch mit den Dichtungen Vergils dreimal aufs Geratewohl aufschlagen, so dass die sich dabei ergebenden Verse auf sein Anliegen hin gedeutet werden können; er wird danach angewiesen, nach entsprechender Vorbereitung einen Traum als Orakel aufzufassen; man besucht sodann die Wahrsagerin von Panzoust, die, in einer Art Hexenküche sitzend, sich so schauerlich gebärdet, dass Panurg aus der Stube flieht; ein Taubstummer von Geburt an wird ebenso befragt wie ein sterbender Dichter, zwei der Gefährten genauso wie der »Her Trippa« (der verballhornte Name des Agrippa von Nettersheim), der eine unabsehbare Reihe weiterer Orakelformen anbietet, als Panurg nicht bereit ist, seinen Spruch zu akzeptieren; schließlich rät Pantagruel noch dazu, einen Theologen, einen Mediziner, einen Juristen und auch noch einen Philosophen zu Rate zu ziehen. Es ist schließlich der Narr Triboullet, der die Protagonisten auf die Idee und den Entschluss bringt, »das Orakel der göttlichen Boutelge zu besuchen«. 34 Dort wird, nach vielen weiteren Abenteuern, Panurg ein Orakel-Wort erlangen und im Rausch seine Entscheidung heraussingen.35 Im Laufe dieser Episoden entzerrt sich die Ausgangssituation. Es wird klar, dass Panurg zwar den Wunsch zur Heirat hat (was er ja im Grunde schon ausgesprochen hatte) und dass er ablehnt, die Spiegelung dieses Wunsches durch den anderen direkt zur ratio decidendi werden zu lassen, weil er drei Befürchtungen hegt: betrogen, geschlagen, beraubt zu werden.36 Leider sagen beinahe sämtliche zum Orakel gewordene Ratgeber genau diese befürchteten Misshandlungen voraus – und Her Trippa verspricht, alle denkbaren weiteren Orakel würden dasselbe sagen. Nur ist Panurg diese Auskunft begreiflicherweise nicht zu akzeptieren bereit, sondern wünscht eine Auskunft, die das Gegenteil sagt. Der Wunsch soll nicht dazu führen, sich einem Wagnis auszusetzen, dessen Umstände kontingent sind, ›von woandersher kommen‹, sich der Kontrolle des um sich selbst besorgten Subjekts entziehen. Er soll sich vielmehr zunächst einmal in einer Rede verdoppeln, die zwar auch insofern ›von woandersher kommt‹, als sie nicht einfach nur der Diskurs Panurgs über seinen eigenen Wunsch sein soll, sondern dessen Bestätigung von außen, von einer möglichst unabhängigen Stelle (z.B. wird ein von Geburt an Taubstummer gewählt). Nur soll sich die Unabhängigkeit und vor allem die Autorität dieser Instanz einzig dadurch erweisen können, dass ihr Spruch – von den Deutungen der anderen unangefochten – eben genau dem Wunsch des Panurg entspricht. Beides – das Schema, auf das Panurg abzielt, und die Praktik Pantagruels – sind, in abstrakterer Sprache ausgedrückt, Weisen, Identität und Alterität aufeinander zu beziehen und

34 Rabelais: Gargantua und Pantagruel, Bd.1, S. 411 (III, 46). 35 Ebd., Bd. 2, S. 304 und 306 (V, 44 und 45). 36 Dies ergibt sich schon beim Buchorakel. Zu dieser Dreiheit und ihrer Unausweichlichkeit vgl. Bachtin: Rabelais, S. 284. Vgl. auch die folgende Fußnote.

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gegeneinander auszuspielen. In Pantagruels Ratgebe-Praktik wäre der maßgebliche Andere nichts weiter als ein ›verschwindender Vermittler‹: Die Alterität zieht sich zurück, nachdem sie eine Identität gestiftet hat. Der Beratene soll dann ›bei sich sein‹, insofern sein Wunsch nun auch seiner Bereitschaft entspricht – oder eine Bereitschaft sich ihrer Mittel bewusst wird. Dieser Rückzug des Anderen entspräche dem Modell des Ratgebens in vertrauter Kommunikation. Man könnte natürlich das Insistieren des Panurg als einen Protest gegen diese Diskretheit, dieses Verschwindenwollen des Anderen auffassen.37 ›Maßgeblichkeit‹, darauf beharrt Panurg, kommt ›von woanders‹. Was soll dem Anderen aber zu seiner Maßgeblichkeit verhelfen, wenn nicht genau das, was man ihn sagen lassen würde, wenn man an seiner Stelle wäre? Erscheint dieser Inhalt in der Form einer Alterität, kann sich der Frager so aus der Affäre ziehen, wie es der Berater im anderen Fall tut. Der Aufwand jedoch, der getrieben werden muss, um ihn zu diesem Erscheinen als Alterität zu

37 Hans Robert Jauss sah in Panurg eher ein Beispiel für »den fragenden Adam, der sich dem Antwortsystem einer herrschenden Welterklärung entziehen will« – statt bei einer Wahrheit anzukommen, nimmt das Subjekt seinen »Weg durch die Welt«. Dieses ›Sich Entziehen‹ beginnt jedoch nicht mit der Rebellion gegen mittelalterliche Abrichtungspraktiken, sondern mit einer Praktik des vertrauten Umgangs, der freundschaftlichen Kommunikation.– Welche Antwort es jedoch ist, die Panurg ständig erhält, sobald er sich aus dieser Praktik herausbegibt (nämlich dass er betrogen, geschlagen und bestohlen werden wird), hat Michail M. Bachtin herausgespürt: Die ›Untreue‹, der schimpfliche ›Schlag‹ sowie die Einbuße an Eigentum, von denen Panurg sich so sehr beunruhigen lässt, »korrespondiert dem geläufigen mythischen Motiv der Angst vor dem Sohn als dem zum Mörder und Dieb Prädestinierten.« Der Sohn ist damit zur Rätsellösung geworden, zu einer Figur, die in die Konstellation der drei Befürchtungen einzusetzen ist, damit diese Sinn machen. Er gehört infolgedessen gerade nicht mehr in das »Antwortsystem einer herrschenden Welterklärung« (Jauss), sondern muss aus den Karnevalsriten (die z.B. die Figur des durch Prügel vertriebenen Alten in Szene setzen) herausgelesen werden, die für Bachtin die tragende Schicht des Romantextes sind. Dass die »Angst vor dem Sohn« auch schon nicht mehr zum humanistischen »Antwortsystem« des Pantagruel gehört, zeigt dessen Rat, einen Theologen, einen Mediziner und einen Juristen aufzusuchen. Er begründet dies mit einer anthropologischen Betrachtung über die Identität des Menschen: »Bemerket: Alles was wir sind und haben, bestehet in drei Stücken: Seel, Leib und Gut.« Daher die Wahl der Spezialisten. Es sind aber auch die Bereiche der Befürchtungen: Schaden an der Seele durch Betrug, am Körper durch Schläge, am Gut durch Diebstahl. An die Stelle des Sohnes tritt damit auch für Pantagruel der homo ohne genealogische Position.– Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1984, S. 405; Bachtin: Rabelais, S. 284; Rabelais: Gargantua und Pantagruel, Bd. 1, S. 362 (III, 29).

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bringen, übersteigt den des diskreten Ratgebers um ein Vielfaches. Zuletzt ist dieser Aufwand gleichumfänglich mit dem Text selbst. Panurgs Position ist also die unterhaltsamere. Sie treibt hier die Handlung voran, wird freilich in der späteren Geschichte des europäischen Romans unmöglich gemacht – durch den Mythos der romantischen Liebe, die die Wahl der Partnerin der Entscheidung für oder gegen die Heirat immer schon vorzieht. 3. Doch das Konzept Pantagruels trifft sich mit zeitgenössischen Vorstellungen vom Ratgeben. So erzählt der Soziologe Dirk Baecker zu Beginn seines Wiener Vortrags »Die Sache mit der Führung« folgende Anekdote: »Von dem erfolgreichen Unternehmensgründer und Konzernlenker Reinhard Mohn erzählt der Universitätsgründer Konrad Schily die Geschichte, wie eines Tages seine Chefsekretärin auf ihn zukam und ihn ausnahmsweise um ein Gespräch bat, da sie ein persönliches Problem habe. Er lud sie für den Nachmittag auf einen Tee zu sich nach Hause ein. Sie kam, er bat sie um die Darstellung ihres Problems und als sie nach einer knappen halben Stunde damit fertig war, sagte er, sicherlich wisse sie jetzt, was sie tun wolle. Sie sagte, das stimme, bedankte sich für den Tee und verließ das Haus. Von dem Problem und seiner Lösung war zwischen den beiden, so will es die Geschichte, nie wieder die Rede.« [Meine Hervorhebungen, P.M.] 38

Der schöne Zufall will es, dass auch hier, ganz am Ende, noch von einem eigenen ›Willen der Geschichte‹ die Rede ist – allerdings von einem (der Anekdote angemessenen) Willen zum Nichtweitergehen.– Ist der beste Rat, den man Ratgebern geben kann, nun derjenige, keinen Rat zu geben, sondern für ein Setting zu sorgen, in dem die Erwartung Pantagruels, etwas Verlässliches zu hören, nicht enttäuscht werden würde? Doch schon dieses Setting gehört, als inszenierter Raum, eher zum Register des Orakels. Und nicht nur der Raum, auch die Zeit ist mehr, als sie zu sein scheint: Sie ist nicht nur als Zeit eines Unternehmers wesentlich knapp, sie ist zugleich auch mehr als diese Zeit, die beide mit der Teetasse in der Hand in seiner Privatwohnung verbringen. Denn in dieser erzählten Zeit ist die Zeit der gemeinsamen Geschichte von Chef und Sekretärin genauso gespeichert wie die Zeit, in der der Chef eine Art Heros war, ein Gründer. Er verkörpert die nicht mehr allein dem Pragmatischen zuzurechnende Sockelzeit, die die Alltagspragmatik von Unternehmer und Chefsekretärin – auch die des Ratgebens – überhaupt erst ermöglicht. Auch dieser Andere zieht sich nicht diskret zurück, ohne zugleich den ungeheuren

38 Dirk Baecker, Die Sache mit der Führung, Wien 2009 (= Wiener Vorlesungen im Rathaus; 142), S. 11f.

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Aufwand, der in der Herbeiführung gerade dieser Situation steckt, vor Augen zu führen.

L ITERATUR Bachtin, Michail M.: »Das Wort im Roman« (1934/35), in: Ders.: Die Ästhetik des Wortes, hg. und eingel. von Rainer Grübel, aus dem Russischen übers. von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt a.M. 1979, S. 154-300. Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (1940/1965). Übers. von Gabriele Leupold, Frankfurt a.M. 1987. Baecker, Dirk: Die Sache mit der Führung, Wien 2009 (= Wiener Vorlesungen im Rathaus; 142). Baecker, Dirk: Postheroisches Management. Ein Vademecum, Berlin 1994. Bieri, Peter: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt a.M. 2003 Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 4. Aufl., Bern/München 1963. Giebel, Marion: Das Orakel von Delphi. Geschichte und Texte, Griechisch/Deutsch, Stuttgart 2001. Herodot: Historien. Deutsche Gesamtausgabe, übersetzt von August Horneffer, neu hg. und erl. von Hans-Wilhelm Haussig, mit einer Einl. von Walter F. Otto, Stuttgart 1971. Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates (1651), hg. und eingel. von Iring Fetscher, Frankfurt a.M. 1984. Jameson, Fredric: »The Vanishing Mediator or: Max Weber as Storyteller« (1973), in: Ders.: The Ideologies of Theory, Bd. 2, Minneapolis 1988, S. 3-34. Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. 4. Aufl., Frankfurt a.M., 1984. Lübbe, Hermann: »Was aus Handlungen Geschichten macht: Handlungsinterferenz; Heterogonie der Zwecke; Widerfahrnis; Handlungsgemengelagen; Zufall«, in: Jürgen Mittelstraß/Manfred Riedel (Hg.): Vernünftiges Denken. Studien zur praktischen Philosophie und Wissenschaftstheorie, Berlin/New York 1978, S. 237-250. Marrache-Gouraud, Myriam: ›Hors toute intimidation‹. Panurge ou la parole singulière, Genf 2003 (= Études Rabelaisiennes; XLI). Rabelais, François: Gargantua und Pantagruel. Aus dem Frz. von Gottlob Regis. Hg. […] von Ludwig Schrader. Textbearbeitung von Karl Pörnbacher, München 1964. Rommel, Bettina: Rabelais zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Gargantua: Literatur als Lebensführung, Tübingen 1997 (= mimesis. Untersuchungen zu

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den romanischen Literaturen der Neuzeit/Recherches sur les littératures romanes depuis la Renaissance; 24). Schrader, Ludwig: Panurge und Hermes. Zum Ursprung eines Charakters bei Rabelais, Diss., Bonn 1958. Stackelberg, Jürgen von: Von Rabelais bis Voltaire. Zur Geschichte des französischen Romans, München 1970. Vogl, Joseph: Über das Zaudern, 2. Aufl., Zürich/Berlin, 2008.

Traumdeutung als Beratung Zu den Josephs-Romanen von Philipp von Zesen und Thomas Mann HANS -W ALTER S C HM IDT -HANNISA

1. Die Antike kennt zahlreiche Beispiele für Begebenheiten, in denen Träume – oder genauer: deren Deutung – die Grundlage für Ratschläge von staatstragender Bedeutung bilden. In der Regel wurde in solchen Fällen der Name des Träumers überliefert, nicht aber der des Traumdeuters. So kommt es, dass insgesamt wenige Traumdeuter aus der Antike namentlich bekannt sind. Eine berühmte Ausnahme ist der Hebräer Joseph, dessen Geschichte im Buch Genesis erzählt wird. Den dramatischen Höhepunkt dieser novellenartigen Erzählung bildet Josephs Deutung der Träume des ägyptischen Pharaos, die dazu führt, dass effektive Maßnahmen zur Verhinderung einer – gemäß Josephs Interpretation – drohenden Hungersnot ergriffen werden können. Die Josephs-Geschichte ist aber nicht nur deshalb bemerkenswert, weil sie belegt, dass das Schicksal eines Staats und seines Volkes von einem Traum und seiner Deutung abhängig gemacht wird, sondern auch, weil sie einem Traumdeuter und Berater die Rolle des ›Helden‹ zuweist und ihr Fokus die steile Karriere ist, die Joseph dank seiner Deutungs- und Beratungskompetenz ermöglicht wird: der Aufstieg vom Sträfling zum zweiten Mann im Staat. Die Erzählung von Joseph gehört zu den populärsten biblischen Stoffen, sie wurde immer wieder auch zum Gegenstand literarischer Gestaltungen.1 Im Folgenden geht es um die Darstellung der Traumdeutungsszene in zwei Romanen aus unterschiedlichen Epochen, nämlich in Philipp von Zesens Assenat und Thomas

1

Einen Überblick über die literarische Rezeption des Joseph-Stoffes von der Antike bis zum 20. Jahrhundert liefert Bernd-Jürgen Fischer: Handbuch zu Thomas Manns ›Josephromanen‹, Tübingen/Basel 2002, S. 236-273.

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Manns Joseph der Ernährer, dem abschließenden Band der Tetralogie Joseph und seine Brüder. Einen Schwerpunkt bildet in beiden Romanen die ausführliche Schilderung der Interaktion zwischen den beiden ungleichen Protagonisten, zwischen dem (zu Unrecht) zu einer Haftstrafe verurteilten Immigranten Joseph und dem Herrscher eines Imperiums, die sich in dieser Szene als Träumer und Deuter, als Ratsuchender und Ratgeber begegnen. Die Untersuchung der entsprechenden Textausschnitte erlaubt es daher, in vergleichender Perspektive zwei Fragestellungen miteinander zu verbinden: Zum einen die Frage nach den Techniken und Prinzipien der Traumdeutung und den dabei relevanten Wissensbeständen, zum anderen die nach der Praxis der Beratung und der Modellierung des Verhältnisses von Ratsuchendem und Ratgeber. Allerdings kann es innnerhalb des hier vorgegebenen Rahmens nicht um einen systematischen Vergleich barocker und moderner Verhältnisse gehen, zumal es sich um historische Romane handelt, bei denen sich zwei Darstellungsprinzipien in komplexer Weise – und mit jeweils unterschiedlichen Akzentuierungen – überlagern, nämlich die um Plausibilität bemühte Rekonstruktion historischer Gegebenheiten und die Tendenz zur »Aktualisierung«, also die Übertragung jeweils zeitgenössischer Konzepte auf den historischen Stoff. Stattdessen soll eine Lektüre beider Texte versucht werden, die schlaglichtartig verdeutlicht, wie sich die Darstellung einer durch eine spezifische Quelle vermittelten spezifischen Beratungssituation in unterschiedlichen historischen Kontexten verändern kann. Untersucht werden im Folgenden zunächst die Merkmale des kommunikativen Settings, das mantischer Traumdeutung zugrundeliegt, sowie die Frage, ob und inwiefern Traumdeutung überhaupt als Beratung verstanden werden kann. Sodann werden die beiden erwähnten literarischen Gestaltungen der biblischen Erzählung analysiert, die das Prozedere der Traumdeutung in unterschiedlicher Weise in Szene setzen. Während von Zesens Assenat die Deutung der pharaonischen Träume als höfisches Zeremoniell gestaltet, das Fragen der Autorisierung der Berater ins Zentrum rückt, verschiebt Thomas Mann in Joseph der Ernährer den Fokus des Interesses auf die Gesprächsstrategie Josephs. Dabei überblendet Mann Techniken der Mantik mit denen der Psychoanalyse: Josephs Erfolg ist primär seiner Orientierung am Modell der Maieutik geschuldet. Doch zunächst einige grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Traumdeutung und Beratung. Ratgeben bezieht sich stets auf künftiges Handeln. Erst wird beraten, dann wird gehandelt. Beratung hat also immer ein Handeln im Blick, das erst nach dem Beratungsgespräch stattfinden wird. Zwischen Beraten und Handeln gibt es stets einen zeitlichen Abstand, der beliebig groß oder klein sein kann. Beratung beruht also auf der Antizipation von Künftigen. Sie beschäftigt sich mit Fragen vom Typ »Was wird passieren, wenn das beratene Subjekt x die Handlung y vollzieht?« Mantik, die »Kunst der Zukunftsdeutung«, ist deshalb seit alters her eine Bundesgenossin des Ratgebens. Denn jeder Ratschlag ist ein Ratschlag für die Zukunft, er formuliert, was in der Zukunft – die nach dem Akt des Ratgebens beginnt

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– zu tun oder zu lassen ist. Das Erteilen von Ratschlägen beruht somit stets auf der Antizipation von Künftigem. Der gegebene Rat ist zugeschnitten auf ein Szenerario, das nach Meinung des Ratgebers in Zukunft eintreten wird. Effektives Beraten setzt deshalb voraus, dass man möglichst viel über die Zukunft weiß. In der mantischen Praxis, zumindest in deren komplexeren Formen, geht die Gewinnung von Wissen über die Zukunft oft mit dem Erteilen von Ratschlägen Hand in Hand. Da das Feld mantischer Disziplinen heterogen und vielfältig ist – das Spektrum reicht von der Handlesekunst über Vogel- oder Eingeweideschau bis hin zur Astrologie – kann sich das Verhältnis zwischen beiden Komponenten jedoch sehr unterschiedlich darstellen. Hilfreich ist hier eine Unterscheidung, die auf Ciceros Schrift De divinatione zurückgeht. Demnach existieren zwei Grundformen der Wahrsagekunst, nämlich eine intuitiv und eine induktiv verfahrende Mantik. Während die intuitive Mantik prophetische Visionen oder Träume umfasst, die erstens nicht willentlich herbeigeführt wurden und zweitens unmittelbar verständlich sind, deutet die induktive Mantik Zeichen verschiedenster Art, oft »natürlich« auftretende wie etwa den Vogelflug, oft auch solche, die absichtlich zum Zweck des Wahrsagens hergestellt wurden – wie etwa beim Bleigießen oder beim Knochenorakel. 2 Man kann davon ausgehen, dass die von Propheten und Sehern empfangenen Botschaften, für die ein übernatürlicher Ursprung reklamiert wird, fast immer eine Appellstruktur aufweisen, die sie eher in die Nähe des Befehls als des Ratschlags rücken. Anders verhält es sich bei Praktiken induktiver Mantik. Abgesehen davon, dass viele von ihnen auch ohne Unterstützung eines Ratgebers vom Ratsuchenden selbst angewendet werden können, geht es dabei oft ausschließlich darum, Wissen über Künftiges zu gewinnen, ohne dass gleichzeitig Handlungsoptionen zur Diskussion stehen. In Bezug auf die Techniken induktiver Zukunftsdeutung könnte man also zwischen zwei Formen unterscheiden, denen jeweils gegensätzliche Schicksalskonzepte zugrundeliegen: zwischen einer fatalistischen Mantik, die fragt »Was wird passieren?«, die sich aber letztlich in der Übersetzung der vorliegenden Zeichen erschöpft, und einer handlungsorientierten, der Beratung nahestehenden Mantik, die fragt »Was könnte passieren und wie kann ich beeinflussen, was tatsächlich passieren wird?«, bzw., »Wie kann ich auf das, was passieren wird, angemessen reagieren?« Die letztere Form von Mantik setzt mithin auf die Gestaltbarkeit von Zukunft. Neben der Astrologie ist die wohl komplexeste und verbreitetste Form induktiver Mantik die Oneiromantik oder Traummantik. Die bedeutende Rolle, die gerade diese Form der Mantik in zahlreichen antiken Kulturen bei kollektiven wie indivi-

2

Vgl. Marcus Tullius Cicero: Über die Wahrsagung/De divinatione, Lateinisch/Deutsch, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Christoph Schäublin, München/Zürich 1991, S. 16-17.

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duellen Entscheidungsfindungsprozessen spielte, ist durch reiches Quellenmaterial belegt. Ihre Domäne sind die nicht-selbstverständlichen, deutungsbedürftigen Träume. Gerade in ihrem Fall ist es problematisch, ohne Weiteres von einer Form der Beratung zu sprechen, und zwar zum einen aus verfahrenslogischen, zum andern aus empirischen Gründen. Das verfahrenslogische Problem lässt sich ausgehend von der Bezeichnung ›Traumdeutung‹ skizzieren. Diese verweist auf das, worum es primär geht, nämlich um einen Akt der Deutung. Es heißt nicht ›Traumberatung‹. Wenn man davon ausgeht, dass Beratung immer handlungsorientiert ist und von einem konkreten Problem ausgeht, für dessen Lösung der Berater Vorschläge macht, dann ist Traumdeutung keine Beratung im strengen Sinn. Denn der Ausgangspunkt der Traumdeutung ist kein Problem, in Bezug auf das Handlungsbedarf besteht, sondern ein Rätsel: ein deutungsbedürftiger Traum. Traumdeutung lässt sich daher beschreiben als eine Sonderform des Beratens, bei der sich der Ratsuchende nicht mit einem konkreten Problem an den Berater wendet, sondern mit einer Erzählung, in der der Traumdeuter die Lösung eines Problems erkennt, eines Problems allerdings, das in einem vorgängigem Schritt selbst erst identifiziert werden muss. Während beispielsweise das Orakel, zumindest in seiner schlichten Version, Ja/Nein-Antworten auf präzise formulierte Entscheidungsfragen gibt – so überreicht Pythia, die legendäre Priesterin in Delphi, ihren weniger zahlungskräftigen Klienten entweder eine weiße oder eine schwarze Bohne –, muss der Traumdeuter aus einer komplexen Narration Frage und Antwort zugleich herauslesen. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass der Traum ein bedeutendes Zeichen ist oder zumindest sein kann, ein Zeichen allerdings, das decodiert oder übersetzt werden muss. Unabhängig davon, ob der vermeintliche Ursprung dieses Zeichens übernatürlich, gar göttlich ist, oder ob es aus der Seele des Träumers stammt, wird unterstellt, dass es eines bestimmten Expertenwissens bedarf, um das mantische Zeichen richtig zu lesen und es zur Lebenssituation des Träumers in Beziehung zu setzen. Weil die Verknüpfungen zwischen den Traumzeichen und ihren Bedeutungen weitgehend arbiträrer Natur sind und weil der Träumer selbst weder die Frage noch die Antwort kennt, die sein Traum birgt, lässt sich Traummantik als ein Verfahren der Sinnstiftung beschreiben, das sich seinen Rahmen und seine Bezugspunkte erst selbst schafft. An die Übersetzung des Traums in eine Information über die Zukunft kann sich nun ein Ratschlag anschließen. Dies muss aber nicht der Fall sein; liegt dem mantischen Setting ein fatalistisches Schicksalskonzept zugrunde, so liefe es sogar jeglicher Logik zuwider. Man kann jedoch davon ausgehen, dass mantische Praktiken in der Regel handlungsorientiert waren und die Erörterung von Handlungsoptionen deshalb einen festen Bestandteil des mantischen Geschäfts darstellte. Dennoch lässt sich nur darüber spekulieren, ob bzw. in welchem Maß in der oneiromantischen Praxis antiker Kulturen Deutungen von Träumen mit der Erörterung praktischer Konsequenzen oder mit Ratschlägen für die Zukunft verknüpft

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wurden. Denn soweit bekannt, erschöpfen sich die einschlägigen Schriften zur Traumdeutung in der lexikonartigen Auflistung von Traumsymbolen und ihren Bedeutungen. Die Frage, wie Traumdeuter die das Verständnis des Geträumten ermöglichenden Gespräche mit ihren Klienten führen sollten, wird dort nicht eigens thematisiert. Das gilt selbst für das berühmteste Dokument der antiken Traumdeutung, das Oneirokritikon des Artemidor von Daldis aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. Dies überrascht umso mehr, als Artemidor sein Traumbuch ausdrücklich als Ratgeber konzipiert hat, als Anleitung für Novizen seiner eigenen Zunft. Sein Buch, so schreibt er, sei für alle bestimmt, »die zwar von der Weissagekunst Gebrauch machen, die aber, weil sie keinen zuverlässigen Leitfaden in die Hand bekommen haben, völlig ratlos und schon nahe daran sind, dieselbe zu verachten und ihr den Rücken zu kehren.« Dieser Klientel wolle er »eine heilsame Anleitung geben, die statt der bisherigen Ratlosigkeit Rettung verspricht.«3 Wie Artemidor betont, ist sein Werk eine Kompilation aller ihm verfügbaren Traumbücher; gleichzeitig bezieht es aber auch den mündlich tradierten Erfahrungsschatz profesioneller Traumdeuter mit ein, die er auf den Märkten Griechenlands und Kleinasiens befragen konnte. Seinem Selbstverständnis als Ratgeber für Ratgeber entsprechend, liefert das Oneirokritikon durchaus auch Hinweise zur techné der Traumdeutung. Erörtert wird etwa die Frage, wie mit regelmäßig wiederkehrenden Träumen zu verfahren sei oder wie man mit Wortspielen in Träumen umgehen soll. Artemidor legt auch dar, dass es notwendig sei, relevante personenbezogene Daten der Klienten wie Familienstand, Beruf und soziale Stellung zu erfragen, weil die Bedeutung einzelner Traumsymbole variabel ist und jeweils von den genannten Parametern abhängt. Vermittelt wird jedoch ausschließlich ›Expertenwissen‹, während ›Beratungswissen‹ im engeren Sinn ausgespart bleibt: Zur Methodik der Gesprächsführung selbst, etwa zu Fragetechniken, zur Steuerung der Traumerzählung des Klienten oder zur Weise, wie diesem Deutungen vorgelegt werden sollen, liefert Artemidors Metadiskurs keinerlei Anhaltspunkte. Traumdeutung à la Artemidor hatte keine bestimmte soziale Zielgruppe im Blick. Sie war ein selbstverständlicher Bestandteil antiker Alltagskultur und wurde als kommerzielle Dienstleistung angeboten, die von jedem, der dafür zu bezahlen imstande war, in Anspruch genommen werden konnte. Die Verweise im Oneirokritikon auf die Notwendigkeit, Deutungen jeweils der sozialen Stellung des Klienten anzupassen, unterstreichen das Klassen übergreifende Interesse an einem derartigen Service. Die Bedeutung der Traummantik ging jedoch weit über die Sphäre des Privaten, in der individuelle Schicksale verhandelt wurden, hinaus. Wie auch andere Formen der Mantik, deren Ausübung Sache von Priestern im Staatsdienst war (man

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Artemidor von Daldis: Das Traumbuch, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort von Karl Brackertz, Zürich/München 1979, S. 7-8.

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denke etwa an die Haruspices, die Aussagen über die Zukunft machten, indem sie die Lebern geopferter Tiere untersuchten), war auch die Oneiromantik eine staatstragende Kunst. Selbst Träume des ›gemeinen Mannes‹ konnten dazu führen, dass staatliche Maßnahmen ergriffen wurden. In Rom erlässt Kaiser Augustus ein Gesetz, das alle Bürger verpflichtet, jeden das Gemeinwohl betreffenden Traum sofort der Obrigkeit zu melden.4 Unter Kaiser Tiburius werden die Träume des Volkes gar systematisch überwacht: Professionelle Traumdeuter dürfen nur in Anwesenheit eines öffentlichen Zeugen – anders gesagt: eines Spitzels – konsultiert werden, der über mögliche staatsgefährdende Details Meldung erstattet.5 Tatsächlich sind Fälle überliefert, die beweisen, dass sogar Träume einfacher Bauern zur Staatssache werden können – besonders wenn sie, wie im folgenden Beispiel, von Wunderheilungen begleitet werden: »Am Tag nach den Großen Spielen, die zu Ehren Jupiters abgehalten worden waren, träumte Titus Latinus [ein römischer Bauer], der Gott sagte ihm, daß ihm die Eröffnungszeremonie mißfallen habe; er solle zu den Konsuln gehen und eine Wiederholung der Spiele verlangen, sonst drohe der Stadt Gefahr. Titus Latinus scheute [...] vor diesem Gang zurück. Nach einigen Tagen verlor er seinen Sohn. Wieder erschien ihm der Gott und fragte, ob ihm dies als Strafe für die Nichtbeachtung des göttlichen Auftrags genüge? [...] Titus Latinus aber zauderte noch immer, und plötzlich befiel ihn eine Lähmung. [...] In einer Sänfte trug man ihn in die Kurie, er erzählte seinen Traum, die Lähmung verschwand [...]. Die Spiele aber wurden glanzvoll wiederholt«.

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Vor allem sind es jedoch die Träume der Herrscher, deren Deutungen die Geschicke des Staates bestimmen können. In den Quellen der Historie finden sich zahllose Beispiele für Träume, die in diesem Sinn Geschichte machten, man denke nur an den Traum, den Kaiser Konstantin im Jahr 312 n. Chr. vor der Schlacht an der Milvischen Brücke gegen seinen Rivalen Maximus hatte: Er habe das Kreuzeszeichen gesehen und die Worte vernommen »In hoc signum vinces«, woraufhin er die Schlacht tatsächlich im Zeichen des Kreuzes führte. Konstantin siegte, gewann die Alleinherrschaft über das Römische Imperium und erklärte das Christentum zur Staatsreligion.

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Vgl. Werner F. Bonin: Das Buch der Träume, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1984, S. 95.

5

Vgl. Marion Pongracz/Inge Santner: Das Königreich der Träume. 4000 Jahre moderne

6

Vgl. Bonin: Das Buch der Träume, S. 96 (nach Livius).

Traumdeutung, Wien/Hamburg 1963, S. 63.

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2. Auch in der Josephs-Erzählung der Genesis geht es um den Traum eines Herrschers. Bemerkenswert ist dabei jedoch, dass die Geschichte nicht aus der Perspektive des – namenlos bleibenden – träumenden Herrschers erzählt wird, sondern aus der des Deuters, der allein aufgrund seines geschickten Auftretens vor dem ägyptischen Thron vom Gefängnisinsassen zur rechten Hand des Pharaos aufsteigt. Joseph, der inhaftierte Ausländer, erhält die Chance, sich zu profilieren, nachdem »alle Wahrsager und Weisen Ägyptens« (1. Mos 41, 8), die der Pharao zur Deutung seines Traums hatte rufen lassen, sich als unfähig erwiesen haben. Da die Geschichte als bekannt vorausgesetzt werden kann, sei hier lediglich Josephs Replik auf die Traumerzählung des Pharaos zitiert. »Gott sagt dem Pharao an, was er vorhat: Die sieben schönen Kühe sind sieben Jahre und die sieben schönen Ähren sind sieben Jahre. Es ist ein und derselbe Traum. Die sieben mageren und hässlichen Kühe, die nachher heraufkamen, sind sieben Jahre und die sieben leeren, vom Ostwind ausgedörrten Ähren sind sieben Jahre Hungersnot. Das ist es, was ich meinte, als ich zum Pharao sagte: Gott ließ den Pharao sehen, was er vorhat: Sieben Jahre kommen, da wird großer Überfluss in ganz Ägypten sein. Nach ihnen aber werden sieben Jahre Hungersnot heraufziehen: Da wird der ganze Überfluss in Ägypten vergessen sein und Hunger wird das Land auszehren. Dann wird man nichts mehr vom Überfluss im Land merken wegen des Hungers, der danach kommt; denn er wird sehr drückend sein. Dass aber der Pharao gleich zweimal träumte, bedeutet: Die Sache steht bei Gott fest und Gott wird sie bald ausführen. Nun sehe sich der Pharao nach einem klugen, weisen Mann um und setze ihn über Ägypten. Der Pharao möge handeln: Er bestelle Bevollmächtigte über das Land und besteuere Ägypten mit einem Fünftel in den sieben Jahren des Überflusses. Die Bevollmächtigten sollen alles Brotgetreide der kommenden guten Jahre sammeln und auf Weisung des Pharao Korn aufspeichern; das Brotgetreide sollen sie in den Städten sicherstellen. Das Brotgetreide soll dem Land als Rücklage dienen für die sieben Jahre der Hungersnot, die über Ägypten kommen werden. Dann wird das Land nicht an Hunger zugrunde gehen.« (1. Mos 41, 25-36)

Diese Erzählung bietet sich für eine nähere Untersuchung an, weil sich in ihr Traumdeutung und Beratung aufs Engste miteinander verbinden und weil ihr Interesse weniger dem Herrscher, sondern vielmehr dem Traumdeuter gilt. Wie bereits angedeutet, wurde Joseph wiederholt zum Gegenstand literarischer Darstellungen. Zwei von ihnen werden im Folgenden näher untersucht, zum einen Philipp von Zesens 1670 erschienener Roman Assenat und Thomas Manns Joseph-Tetralogie, entstanden in den Jahren1926 bis1943. Die Lebensgeschichte Josephs könnte man im Anschluss an Jacques LeGoff als Traumbiographie bezeichnen, deren wichtige Stationen jeweils durch Träume mar-

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kiert werden.7 Im Fall Josephs sind es neben seinen eigenen Träumen die von ihm gedeuteuten Träume Fremder, die den narrativen Ablauf strukturieren. Dieses kompositorische Prinzip wird im Übrigen sowohl von Zesen als auch von Mann verstärkt, insofern beide Autoren zusätzliche Träume in die Handlung einbauen. Joseph ist neben dem Propheten Daniel der prominenteste Traumdeuter der Bibel. Zwar finden sich sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament zahlreiche Belege dafür, dass Träume als Medium göttlicher Mitteilung fungieren, andererseits lassen sich auch zahlreiche Stellen insbesondere aus dem Alte Testament anführen, die vor »heidnischer Traumdeuterei« warnen. Von Gott gesandte Traumbotschaften verstehen sich meist von selbst; sie enthalten oft eindeutige Imperative. Dass es auf der anderen Seite nirgendwo in der Bibel Hinweise auf Deutungstechniken oder auf Codes gibt, die in der Traummantik zum Einsatz kommen, ist ein deutliches Indiz für die Distanz der biblischen Autoren zu derartigen Praktiken. Joseph selbst löst diesen Wiederspruch und erklärt – als seine Mitgefangenen, der Mundschenk und der Bäcker, von ihren Träumen berichten – Traumdeutung zur »Sache Gottes«, was nichts anderes heißt, als dass Traumdeutung akzeptabel ist, wenn sie auf Charisma beruht und nicht auf kodifiziertem Wissen. Als charismatischen Deuter empfiehlt er sogleich sich selbst: »Traumdeutungen sind Sache Gottes: erzählt mir doch eure Träume!« (1. Mos 40, 8) Josephs Deutungen folgen dann jeweils prompt auf die Erzählungen der Träume; legitimierende Verweise auf technische oder methodische Aspekte der Deutung unterbleiben. Dies gilt sowohl für die Szene im Gefängnis wie für die am Hof des Pharao. Während es sich im Fall seiner Mitgefangenen aber um fatalistische Deutungen handelt, die den Träumern eine vermeintlich unabänderliche Zukunft voraussagen, zu der es keinen Beratungsbedarf gibt, schließt sich an Josephs Deutung der pharaonischen Träume ein präziser Ratschlag an. Diese Differenz hebt die politisch-soziale Bedeutung der zweiten Szene hervor; statt um individuelle Schicksale geht es hier um das Wohl des Gemeinwesens. Wenn aber Träume den Status von Staatsaffären haben, wird ihre Deutung zu einem Akt politischer Beratung. Die literarische Darstellung dieser Szene in den Josephs-Romanen von Zesen und Mann soll nun im Folgenden näher untersucht werden.

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Vgl. Jacques Le Goff: »Le christianisme et les rêves (IIe-VIIe siècles)«, in: Tullio Gregory (Hg.): I sogni nel medioevo, Roma 1985, S. 171-218, S. 181f. Le Goffs Rekonstruktion eines durch Träume strukturierten biographischen Textmusters stützt sich auf autobiographische Beispiele wie die Hieroi logoi des Aelius Aristides aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert, die Bekenntnisse des Augustinus oder De vita sua des mittelalterlichen Mönchs Guibert von Nogent.

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3. In Philipp von Zesens barockem Roman Assenat stehen Josephs Leistungen als Traumdeuter nicht einmal im Zentrum des Interesses. Darauf deutet bereits der Titel des Werkes hin, der den Fokus auf Josephs Ehegattin Assenat verschiebt, auf die Tochter der Hohen Priesters Potiphar. Der vollständige Titel lautet: Assenat: Das Ist Derselben Und Des Josefs Heilige Stahts-Lieb-Und Lebens-Geschicht. Die germanistische Forschung hat den Text konsequent meist als Staatsroman oder als höfische Liebesgeschichte gelesen. Die Romanhandlung setzt mit der Ankunft Josephs in Ägypten ein, die Vorgeschichte dazu wird durch mehrfache Rückblenden nachgetragen. Im Großen und Ganzen hält sich der Text eng an die Version der Genesis. Im Detail gibt es jedoch immer wieder signifikante Abweichungen, so auch bei der Darstellung der großen Traumdeutungsszene am Hof des Pharaos. Aufschlussreich sind vor allem zwei von Zesen eingearbeitete Sequenzen, in denen er zum einen die erfolglosen Bemühungen der höfischen Experten schildert, die Träume des Pharao zu dechiffrieren, zum anderen eine Prüfung, der Joseph unterzogen wird, um seine Kompetenz zu testen. Zunächst zu den Bemühungen der professionellen Wahrsager. Auch in der Genesis beruft der Pharao zunächst »alle Schriftkundigen Ägyptens und alle Weisen des Landes« zu sich, um sich von ihnen die beiden Träume deuten zu lassen, die er selbst sofort nach dem Aufwachen als »bedeutend« eingestuft hat. Im biblischen Text heißt es zu dieser Konsultation, die ergebnislos bleibt, lapidar: »aber es war keiner da, der sie [die Träume, H-W.S.-H.] dem Pharao zu deuten vermochte« (Gen 41, 8). Zesen dagegen geht ausführlich auf die Rahmenbedingungen des Gesprächs in der Expertenrunde ein und schildert sowohl seinen inhaltlichen Verlauf wie auch seine formale Struktur. Ausdrücklich wird klargemacht, was bei dem Treffen auf dem Spiel steht: »Es betraf des Reichs wohlfahrt. Dem gantzen Egiptischen Staht war daran gelegen / daß die Königlichen Treume recht gründlich ausgeleget würden.«8 Gleichzeitig lässt der Text keinen Zweifel an der Qualifikation der Wahrsager aufkommen. Weil sie »so färtig in der Traumdeuterei waren / daß ihnen sonst kein traum zu schweer oder zu dunkel fiel«, sei es noch nie vorgekommen, »so lange ein König in Egipten geherschet / dass ein Königlicher Traum nicht hette können gedeutet werden.« (A 180) Der Grund für das Versagen der Experten im aktuellen Fall wird einleitend kurz und bündig genannt: »Gott benahm ihnen all ihre weisheit. Der HERR entzog ihnen allen ihren verstand.« (A 177) Obwohl damit der Ausgang des Verfahrens von vorne herein bereits feststeht, verzichtet Zesen nicht darauf, das Prozedere ihrer Zu-

8

Philipp von Zesen: »Assenat«, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. von Ferdinand von Ingen, unter Mitwirkung von Ulrich Maché und Volker Meid, Berlin/New York 1990, Bd. 7, S. 180. Künftig zitiert im Text mit der Sigle A.

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sammenkunft anschließend detailreich zu beschreiben. Strukturell handelt es sich um ein allen Regeln entsprechendes Beratungsverfahren, dem durchaus nicht anzumerken ist, dass der Verstand der Beteiligten von Gott manipuliert ist. Zesens Beschreibung entfaltet in barock-enzyklopädischer Manier, mit welchem Wissen über den Traum die versammelten Experten operieren. Weil die Traumbücher, die sie mitbringen, auf konkurrierende Wissensbestände verweisen, kommt es unter den um Rat gefragten Mantik-Spezialisten zu »allerhand streitreden« (A 178), die jedoch zu keiner Lösung führen. Das Spektrum der ins Spiel gebrachten Erklärungsmodelle bildet antikes, aber nicht ägyptisches Traumwissen ab. Da die oneirologischen Paradigmen, auf die Bezug genommen wird, in mehr oder weniger unveränderter Form noch im 17. Jahrhundert Bestand hatten, lässt sich nicht einmal eindeutig sagen, ob Zesens Ausführungen überhaupt einen Versuch darstellen, ein spezifisch antikes Traumwissen vorzuführen oder ob er nicht schlicht den ägyptischen Ratgebern zeitgenössische Diskurse in den Mund legt. Ein erster Streitpunkt in der Expertenrunde ist die Frage, ob die beiden Träume des Pharao überhaupt als in prognostischer Hinsicht »bedeutend« einzustufen sind. Einer der involvierten Wahrsager argumentiert zugunsten ihrer Bedeutsamkeit und greift dabei auf die in der Antike verbreitete Theorie zurück, dass Träume nichts zu bedeuten haben, wenn sie rein physiologischen Ursprungs sind, ausgelöst etwa von schwer verdaulichen Speisen. Wenn der Pharao lange nach dem Essen in den Morgenstunden träumte, heißt dies, dass somatische Traumquellen zu diesem Zeitpunkt keine Rolle gespielt haben können. Die unter den Experten vorherrschende Meinung ist jedoch, »daß es keine bedeutende oder vorspielende / sondern nur nachspielende treume weren.« Ihre Begründung lautet, dass im Traum nur vorkomme, was der Pharao am Vortag während einer Lustfahrt durch seine am Nil gelegenen Ländereien tatsächlich gesehen hatte, nämlich Kühe und Kornähren. Die Einbildungskraft habe ihr »spiel« gespielt mit Material, das man mit Freud als Tagesreste bezeichnen könnte, sei dabei aber nicht »von den Göttern selbsten darzu [...] getrieben« worden (A 178), weshalb die Träume mimetisch, aber nicht prognostisch seien. Ein »alter Kaldeer« in der Runde entpuppt sich schließlich als Vertreter der Humoralpathologie. Träume, so argumentiert er, »die bloß aus der übermäßigsten der vier Feuchtigkeiten des menschlichen leibes entstehen« (A 178), seien unbedeutend. Dahinter steht wiederum die Annahme, dass körperbasierte Träume keinen übernatürlichen Ursprung und damit keinen prognostischen Wert haben können. Bei der Anwendung der Humoralpathologie auf die Traumdeutung werden den vier »Temperamenten«, die jeweils von einem Übermaß einer der relevanten Körperflüssigkeiten bestimmt sind (Blut, Schleim, Gelbe und Schwarze Galle), spezifische Traumbilder zugeordnet. Auf die »Säfte« zurückgeführt werden können Träume dann, so führt der Chaldäer aus,

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»wan die Flüssigen von wassern / sümpfen / schiffbrüchen / vom ertrünken / und aufhalten im fliehen; die Bluhtreichen von gastmahlen / lustigen wiesen / vogeln / vom flügen / als auch vom sing- und seitenspiele; die Vergalten vom feuer / vom fechten / streiten / und morden; die Schwartzvergalten von schwartzen und traurigen dingen / von gräbern / Mohren / Teufeln / und dem tode / treumen.« (A 178-179)

Das Temperament des Pharao sei dominiert von Schleim und Gelber Galle; eine Mischung von ›feuriger‹ Gewalt und Wasser bestimme daher die Logik seiner Traumbilder: »so ist es nicht fremde / daß ihn im traume gedeuchtet / als wan eine Kuh oder Ahre die andere verschlungen; wie auch als wan die Kühe aus dem wasser weren gestiegen.« (A 179) Die Zwischenbilanz, die der Pharao nach den Ausführungen des Chaldäers zieht, ist vernichtend: Es liegt noch keine einzige Hypothese zur Auslegung seiner Träume vor – und dies trotz aller gelehrten »Streitreden«, die durchaus im Einklang mit den Wissensbeständen und den diskursiven Regeln der Traumdeuter-Zunft stehen. Damit wird offenkundig, dass das Scheitern der Experten nichts mit einem Mangel an Wissen zu tun hat, sondern, wie der Leser weiß, mit einem gottgewollten Mangel an Verstand. Dass das Treffen des Pharao mit seiner Beraterrunde zum Desaster gerät, hat seinen Grund jedoch nicht nur in göttlichen Manipulationen, sondern auch in der Logik höfischer Beratung selbst. Zesen ist nicht nur an der sachlichen Seite der Beratschlagung interessiert, sondern auch an ihrer sozialen und psychologischen. Ausgangspunkt der Kritik an der Effizienz höfischer Beratung ist die Beobachtung des Pharaos, dass sich selbst die kleine Minderheit seiner Weisen, die nicht einfach Zuflucht zu dem Argument sucht, seine Träume seien unbedeutend und daher keiner Deutung bedürftig, in auffallender Weise zurückhält, Deutungshypothesen zu formulieren. Für den Pharao ist diese Zögerlichkeit ein deutliches Indiz dafür, dass es sich um »alzuböse« Träume handelt (A 179). Er begreift, dass das Schweigen der Berater in strategischem Kalkül begründet ist. »Zuvor hatten die Traumdeuter in auslegung der Königlichen treume / gemeiniglich geschmeuchelt. Sie hatten den Königen nichts als künftige glükseeligkeit / verkündiget. Und hierdurch hatten sie getrachtet ihre gunst und gnade zu gewinnen.« (A 179) Nun fürchten die Experten, in Ungnade zu fallen, wenn sie die sich aufdrängenden Deutungen aussprechen würden, sind diese doch so unheilvoll, dass sich die Wahrheit nicht rhetorisch verbrämen lässt: »alhier wolte das schmeucheln keine stat finden.« (A 179) Selbst die ausdrückliche Ermutigung seitens des Pharao, die Wahrheit ohne Scheu zu sagen, vermag sie nicht umzustimmen. Neben den göttlichen Einwirkungen sind es also auch schlichte Eigeninteressen der Berater, Ängste, die der Abbhängigkeit von ihrem Auftraggeber geschuldet sind, die ein effektives Funktionieren der Beratung verhindern.

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Es versteht sich, dass die ausführliche Schilderung des Scheiterns der Experten im narrativen Zusammenhang des Romans nicht zuletzt zur Schaffung eines Kontrasts dient, vor dessen Hintergrund die Leistung Josephs in umso glanzvollerem Licht erscheinen kann. Wie in der Erzählung der Genesis wird Joseph aus dem Gefängnis an den Hof gerufen. Dies geschieht auf Empfehlung des Mundschenks, der sich daran erinnert, dass Joseph im Gefängnis seinen eigenen Traum und den des Hofbäckers so zutreffend gedeutet hatte. Anders als in der Genesis-Version wird Joseph in Zesens Roman dem Pharao gleichzeitig noch von dessen Tochter Nitokris empfohlen, die Zesen als neue Figur in die Erzählung einfügt. Beide Empfehlungen reichen aber zur Legitimierung des Hebräers nicht aus. Joseph wird zusätzlich einer Probe unterzogen, bei der er seine Kompetenz unter Beweis zu stellen hat, bevor er als Berater zugelassen wird. Die Probe besteht darin, dass der Reichskanzler die beiden Träume des Pharao in Ich-Form erzählt. Joseph lässt sich aber nicht täuschen und bemerkt sofort, dass es sich bei den erzählten Träumen nur um die Träume eines Herrschers handeln kann. Die Einfügung dieser Episode unterstreicht, dass es sich um einen staatstragenden Traum handelt, wie er einem Staatsroman angemessen ist. Nach dem Bestehen dieser Probe trägt Joseph ohne weiteren Aufschub seine Deutung der Träume vor und kündigt an, dass sieben fruchtbare Jahre kommen werden, denen sieben magere folgen. Er triumphiert damit als charismatischer, intuitiver Deuter über seine professionellen Konkurrenten, deren Handwerk auf überliefertem Wissen und einschlägigen Handbüchern beruht. Dennoch lässt sich Zesens Version der Erzählung nicht ohne Weiteres als Kritik an wissensbasierten Traummantiken lesen. Weil das Eingreifen Gottes der Grund für den Misserfolg der Experten ist und nicht ein Fehler im mantischen System, bleibt die Frage nach der Stimmigkeit und Effizienz ihrer Theorien und Methoden offen. Die bereits erwähnten Hinweise auf die bisherige stets erfolgreiche Leistungsbilanz der pharaonischen Traumdeuter sind eher Indiz dafür, dass Zesen eine Deklassierung der Mantik vermeiden will. Josephs eigentlicher Coup besteht in der unmittelbaren Verknüpfung von Traumdeutung und Beratung. Seine Deutung identifiziert die Frage, auf die der Traum eine Antwort liefert: Wie ist es um die künftige Versorgungslage Ägyptens bestellt? Die niederschmetternde Antwort des Traums nimmt der Pharao selbst zum Anlass, Joseph in dieser Staatsangelegenheit um Rat zu fragen: »wie sol man ihm aber tuhn / daß die Teurung in den sieben unfruchtbaren jahren nicht alzusehr überhand nehme / und meine untertahnen vor hunger nicht gantz verschmachten?« (A 189) Josephs Replik darauf ist eine rhetorische Meisterleistung: Sein Rat lautet, der Pharao solle einen weisen Mann suchen »und ihn über das gantze Egipten« setzen (A 189); zugleich aber erteilt er Ratschläge, welche Maßnahmen dieser Weise als Verwalter des Staates ergreifen müsste, nämlich Vorratspeicher errichten, um mit dem Überfluß der fruchtbaren Jahre den Mangel der unfruchtbaren auszugleichen. Indem er demonstriert, dass er weiß, was jener Weise zu tun hätte, empfiehlt er sich

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selbst als Idealbesetzung für das nach seinem Ratschlag zu schaffende Amt. Der Pharao hält sich an diesen suggestiven Rat und überträgt dem Ratgeber die Leitungsfunktion: »Lieber Josef / so sprach ihn der König an / wir haben deinen verstand gesehen. Wir haben deine weisheit vernommen. Deine fähigkeit in der Stahtskunde ist uns nunmehr nicht unbekant. Und weil dir Gott alles / was wir aus deinem munde gehöret / hat kund getahn / halten wir niemand so verständig und weise / als dich. Du wirst die stelle desselben / den du uns zu suchen gerahten / am besten verträhten können. Und darüm setze ich dich itzund über mein Haus. Ja ich setze dich über das gantze Egipten. Alles übergebe ich deiner macht. Nur des Königlichen Stuhles und Nahmens wil ich höher sein.« (A 190f.)

Josephs Karriere beruht darauf, dass er das Dilemma jener Wahrsager löst, die aus Sorge, die unheilvolle Botschaft der Träume könnte ihnen selbst zur Last gelegt werden, diese lieber verschweigen. Joseph benennt das kommende Desaster und liefert zugleich Ratschläge zu seiner Bewältigung. Damit profiliert er sich in doppelter Weise als Herr über die Zukunft und wird zum »Liebling des Königes« (A 190). Josephs Vorgehensweise setzt voraus, dass die Zukunft nicht unabänderlich ist. Wenn dem aber so ist, stellt sich die Frage nach dem Status der mantischen Zeichen. Zesen bringt dieses Problem ausführlich zur Sprache, allerdings nicht in Bezug auf die Traumdeutung. Stattdessen verschiebt er die Diskussion auf eine andere mantische Disziplin: die Astrologie. In diese Kunst wird Joseph in Zesens Roman während seines Aufenthalts im Gefängnis von einem Mitgefangenen eingeführt. Die »Sterndeuterei« gibt Anlass, eine Theorie der Mantik zu entwickelt, die prognostische Zeichen als Warnzeichen begreift. Was im »Sternbuch« der Natur über die Zukunft zu lesen steht, muss demnach nicht mit Notwendigkeit geschehen. In Abgrenzung von seinem Lehrmeister, einem abergläubischen Chaldäer, entwickelt Joseph eine Auffassung, die keinen Verdacht aufkommen lässt, die Macht der Gestirne könnte die absolute Souveränität Gottes beeinträchtigen: »Er wuste zwar / daß Gott die Natur geschaffen / und daß Er ihren lauf eingerichtet. Aber er wuste auch / daß es in seiner macht stünde / sie / zusamt ihrem lauffe / zu ändern.« (A 165) In den Gestirnen angekündigtes Unglück zielt darauf ab, Unterwerfung und Gottesfurcht durchzusetzen; nicht zufällig knüpft Joseph seine Überlegungen an das Modell des absolutistischen Herrschers, der Strafen androht, von diesen aber absieht, »wan [...] der untertahner sich bessert« (A 167). Joseph führt aus: »Eben also tuht Gott / wan Er uns / durch die Sternschrift / [...] ein glük verspricht / oder ein unglük dreuet. Dreuet Er ein unglük; so will Er nicht / daß der Mensch die Sterne oder das unglük / das Er durch die sterne dreuet / sondern Gott selbst fürchten / und mit bußfärtigem leben und gebäht Ihm in die dreu- und strafruhte fallen sol. Ja Er wil / daß der Mensch über

266 | HANS -W ALTER S CHMIDT-HANNISA solches Zeichen nicht verzagen / noch ihm gewis einbilden / daß es also ergehen müsse / sondern daß er das instehende unglük mit tapferem muhte und mit vorsichtigem handel und wa ndel ableinen und vermeiden sol.« (A 167)

Damit wird nicht nur der Dreh- und Angelpunkt mantischer Theorie in Zweifel gezogen: die Verlässlichkeit und Gültigkeit prognostischer Zeichen. Bemerkenswert an dieser Position ist vielmehr auch, dass die Abwendung von Unglück durch ein gottgefälliges Leben möglich zu sein scheint – aber auch durch aktives Ergreifen vorbeugender Maßnahmen. Vor diesem Hintergrund gewinnt Josephs Verknüpfung von Mantik und Beratung in der Traumdeutungsszene besondere Signifikanz, weil sie die Bedeutung von Eigenverantwortung, Planung und aktiver Gestaltung der Zukunft unterstreicht. Kann Unglück im einen Fall abgewendet werden, weil Gott nicht ausführt, was er angekündigt hat, so wird es im anderen Fall abgewendet, weil das Angekündigte zwar eintritt, aber unter Rahmenbedingungen, die aufgrund der Vorwarnung und dank guter Ratschläge entscheidend verändert werden konnten. 4. Auch Thomas Manns monumentale Joseph-Tetralogie, entstanden in den Jahren 1926 bis 1943, ist dem Modell der Traumbiographie verpflichtet. Manns opus magnum, das die biblische Erzählung in starkem Maß ausschmückt und zu einem »kulturwissenschaftlichen Roman«9 erweitert, gibt auch dem Traum breiten Raum. Sowohl die von Joseph selbst geträumten als auch die von ihm gedeuteten Träume anderer Personen werden ausführlich behandelt.10 Auch die Träume des Pharao und die Umstände ihrer Deutung schildert Mann in epischer Breite. Die biblische Quelle liefert ihm ein narratives Skelett, dem der Roman eine Fülle von Details auf verschiedensten erzählerischen Ebenen hinzufügt.

9

Jacques Le Rider: »Joseph und Moses als Ägypter: Sigmund Freud und Thomas Mann«, in: Peter André Alt/Thomas Anz (Hg.): Sigmund Freud und das Wissen der Literatur, Berlin/New York 2008, S. 157-167, S. 166.

10 Umso befremdender ist es, dass das Stichwort ›Traum‹ in Fischers umfangreichem Handbuch überhaupt nicht auftaucht; vgl. Fischer: Handbuch zu Thomas Manns ›Josephromanen‹. Einen Überblick liefert jedoch das Kapitel über den Josephsroman in Gisela Bensch: Träumerische Ungenauigkeiten.Traum und Traumbewusstsein im Romanwerk Thomas Manns. Buddenbrooks – Der Zauberberg – Joseph und seine Brüder, Göttingen 2004, S. 115-177. Vgl. außerdem Lothar Pikulik: »Joseph vor Pharao. Die Traumdeutung in Thomas Manns biblischem Romanwerk Joseph und seine Brüder«, in: Thomas Mann Jahrbuch, Bd. 1 (1988), S. 99-116; Mona Clerico: Welt – Ich – Sprache. Philosophische und psychoanalytische Motive in Thomas Manns Romantetralogie »Joseph und seine Brüder«, Würzburg 2004, S. 101-122.

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Wie Zesen geht auch Mann zunächst auf die Bemühungen der professionellen Traumdeuter und deren Scheitern ein. Anders als in Zesens Assenat gibt es in Manns Roman sogar zwei aufeinander folgende Expertenrunden mit unterschiedlichen Spezialisten, die zwar jeweils Deutungen vortragen, den Pharao damit aber in keiner Weise zufrieden stellen. Die Deutungsvorschläge der – mit den Worten des Pharao – »Pfuscher vom Bücherhause«11 (J 1435) werden ridikülisiert und als Ausgeburten toten Bücherwissens denunziert. Sie lassen sich als Parodie auf mantische Traumauslegung verstehen, die die Beliebigkeit und Banalität solcher Wahrsagerei entlarvt. Beispielhaft dafür ist eine Experten-Interpretation des Kuh-Traums, nach der die fetten Kühe für sieben Prinzessinnen stehen, die dem Pharao geboren werden; die sieben mageren Kühe aber verweisen darauf, dass alle Prinzessinnen noch zu dessen Lebzeiten sterben müssten. Auf seine Beschwerde hin, diese Prognose habe mit seinem Traum »überhaupt nichts zu tun«, bescheiden die versammelten Wahrsager dem Pharao, »die Töchter seien eben die Deutung. Er dürfe nicht erwarten, in der Deutung des Kuhtraums wieder Kühe vorzufinden. In der Deutung verwandeln sich die Kühe in Königstöchter.« (J 1398) Bereits an dieser Stelle deutet sich eine signifikante Aufwertung der Rolle des Träumers im Deutungsprozess an. Der Pharao selbst formuliert als Resumee der gescheiterten Expertenrunden ein grundlegendes Kriterium gelingender Auslegung, wenn er feststellt, dass »Traum und Deutung sich ineinander wiedererkennen müßten« (J 1401). Ob dies aber der Fall ist, vermag allein der Träumer zu entscheiden, und zwar nach Maßgabe eines intuitiven Evidenzerlebnisses. In diesem Sinn begründet der Pharao seine Verwerfung der angebotenen Deutungen als »bare Stümpereien«, ja als »Lug und Trug«: »Pharao weiß es, denn Pharao hat geträumt, und wenn er auch die Deutung nicht weiß, so weiß er doch zu unterscheiden zwischen wahrer Deutung und einer so minderwertigen.« (J 1399) Das Auftreten der Experten bildet auch bei Mann nur einen Auftakt. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf dem Gespräch zwischen Joseph und dem Pharao. Im Roman Manns handelt es sich dabei um Echnaton, wobei Mann dessen ägyptischen Geburtsnamen Amenhotep benutzt. Aus historischer Sicht gibt es allerdings keinerlei Anhaltspunkte, dass Echnaton regierender Pharao war, als Joseph in Ägypten lebte. Das Szenario, das Mann entwirft, konfrontiert den Charismatiker Joseph mit einem Theokraten in Gestalt eines ebenso unsicheren wie unerfahrenen siebzehnjährigen Thronerben, der sein Amt gerade erst angetreten hat und noch lernen muss, seine »frühe Verpflichtung auf das Weltganze« (J 1414) zu akzeptieren. Seine eminente Beratungsbedürftigkeit steht außer Zweifel, wobei als wichtigste Beraterin seine Mutter Teje fungiert, die bisweilen die Grenze zur Bevormundung

11 Thomas Mann: Joseph und seine Brüder, Stockholmer Gesamtausgabe, Bd.2, Stockholm 1956. Künftig zitiert im Text mit der Sigle J.

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überschreitet. Dass sie während des Gesprächs zwischen Joseph und ihrem Sohn anwesend ist, steigert noch die psychologische Komplexität der Situation. Aus Joseph macht Mann eine Aufsteigerfigur mit den Zügen eines Felix Krull. Anlehnungen an den Schelmenroman sind gerade in den höfischen Szenen des Werks unübersehbar. Der »Götterliebling« (vgl. J 1405) verfügt über alle Merkmale und Fähigkeiten eines smarten Beraters, über Eloquenz, brilliante Rhetorik, Witz und Ironie, aber auch Empathie und psychologisches Gespür. Für ihn ist die Begegnung mit dem Pharao von schicksalsentscheidender Bedeutung: Sie eröffnet die Möglichkeit, dem Gefängnis zu entkommen und die Gunst des Herrschers zu erringen. Vor dem Thron des Pharao, am Ort der Macht schlechthin, führt sein strategisches Geschick bei der Gesprächsführung zum Erfolg. Höflich bis zur Unterwürfigkeit, verliert er doch seinen eigenen Vorteil niemals aus den Augen. Binnen kürzester Zeit fasst Amenhotep Vertrauen zu dem aus dem Gefängnis geholten Ausländer. Die zentrale Idee, die Thomas Mann dem Deutungsgespräch zugrundelegt, besteht darin, Joseph zu einem sokratisch-freudianischen Maieutiker zu machen, zu einem Berater, der sich selbst so weit wie möglich zurücknimmt und zu verhindern sucht, dass sein Mitwirken am Deutungsprozess wahrgenommen wird. Bereits die Überschrift des relevanten Romankapitels – »Pharao weissagt« – bringt auf den Punkt, welche Wendung Joseph dem Gespräch zu geben versteht. An die Stelle der sonst üblichen Rollenverteilung – ein Träumer erzählt seinen unverständlichen Traum, ein Experte verkündet sodann die darin verborgene Weissagung – tritt, so wird der Anschein erweckt, ein einziger Akt, der den Berater ausblendet. Bereits durch die ersten deutenden Bemerkungen Josephs – dass die beiden Träume Versionen eines einzigen Traums seien und dass es sich um einen Königstraum handle – fühlt sich der Pharao bestätigt: »Das hat meine Majestät sich doch gleich gedacht!« (J 1434) Im weiteren Verlauf zielt Josephs Gesprächsführung darauf ab, dem Pharao die Deutung seiner Träume gewissermaßen in den Mund zu legen. Mit den Worten Pharaos: »Du hast eine Art, [...] es einem fröhlich vorkommen zu lassen, als sei alles schon schönstens gelöst und getan, da du mir bisher doch nur wahrgesagt hast, was ich ohnedies wußte.« (J 1435f.) Für Josephs Vorgehensweise gibt es eine Reihe unterschiedlicher Gründe. Sie ergeben sich teils aus seinem Verständnis von Traumdeutung und ihren anthropologischen Grundlagen, teils sind sie aber auch strategischer Natur und der Auffassung geschuldet, die Joseph von seiner Deuter- bzw. Beraterrolle hat. Zunächst zu seinem Konzept von Deutung. Im Gespräch mit dem Pharao hält Joseph sich in dieser Frage bedeckt. Dagegen erklärt er sich an einer früheren Stelle des Romans, nämlich als er im Gefängnis die Träume des Mundschenks und des Oberbäckers auslegt. Die in diesem Zusammenhang formulierte zentrale These betrifft das Verhältnis von Traum und Deutung:

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»Mit der Träumerei möchte es wohl ein Rundes und Ganzes sein, worin Traum und Deutung zusammengehören und der Träumer und der Deuter nur scheinbar zweie und unvertauschbar, in Wirklichkeit aber vertauschbar und geradezu ein und derselbe sind, denn sie machen zusammen das Ganze aus. Wer da träumt, der deutet auch, und wer da deuten will, der muß geträumt haben. [...] Im Grunde [...] und von Natur aus ist jedermann seines Traumes Deuter, und nur aus Eleganz läßt er sich mit der Deutung bedienen. (J 1354)

Mit dieser These stellt Joseph die ›Arbeitsteilung‹ zwischen Träumer und Deuter in Frage und erklärt die Dienstleistung des Deuters zum bloßen Luxus, der den Gegebenheiten der »Natur« zuwiderläuft. Bemerkenswerterweise unterscheidet sich diese Position radikal von dem, was Joseph selbst in seiner Jugend vertreten hatte. In einem Gespräch mit seinen Brüdern, lange vor seiner Verschleppung nach Ägypten, konstatiert er die zwingende Notwendigkeit eines unabhängigen Deuters und propagiert die strikte Trennung der Rollen: »Denn wer da träumt, soll nicht deuten, sondern ein anderer. Träumet ihr, so will ich’s euch wohl auslegen, das kostet mich nichts, ich bitte den Herrn, und er gibt’s mir. Aber mit eigenem ist es was andres.« (J 122) Man kann den Übergang von einem interpersonalen Deutungsmodell zu einem als Selbstverhältnis zu begreifenden als Ergebnis eines Erkenntnis- und Reifungsprozesses verstehen, den Joseph durchläuft. Zum Zeitpunkt seiner Begegnung mit dem Pharao hat er verstanden, dass der Traum seinen Ursprung nicht außerhalb des Subjekts hat, sondern ein innerpsychischer Kommunikationsvorgang ist, bei dem zwei Modi ineinandergreifen. Diese stehen in einem Verhältnis zueinander, das auf Freuds fundamentale Unterscheidung von manifestem Trauminhalt und latentem Traumgedanken verweist. Während das Subjekt im Traummodus seine Wirklichkeit in einer Weise »gedeutet« hat, die sich ihm selbst zunächst nicht erschließt, weil das Bedeutete dabei in einem Zustand der Latenz bleibt, entbirgt es im Deutungsmodus das Latente und überführt es in Klartext. Ausdrücklich betont Joseph, dass dem Traum Deutung zugrundeliegt und dass er darin den Schlüssel zum Verständnis des Träumens sieht: »Ich will euch das Geheimnis der Träumereien verraten: die Deutung ist früher als der Traum, und wir träumen schon aus der Deutung. Wie käme es auch sonst, daß der Mensch es ganz wohl weiß, wenn der Deuter ihm falsch deutet [...].« (J 1355). Die Rolle des Deuters muss sich demnach darauf beschränken, einen Prozess der Selbstdeutung in Gang zu setzen, dem Träumer Hebammendienste zu leisten, die ihn in die Lage versetzen, die in ihm latent vorhandende Deutung auf den Begriff zu bringen. Der Deuter muss dazu mit den psychischen Mechanismen vertraut sein, die die ursprüngliche, dem Traum zugrundeliegende Deutung so entstellen, dass der Träumer selbst sie nicht mehr spontan verstehen kann. Freudianisch gesprochen: Er muss die Prinzipien der Traumarbeit kennen, um den Transformationsprozess rekonstruieren zu können, dessen Ergebnis der manifeste Traum darstellt. Der bereits zitierte Satz, »Wer da träumt, der deutet auch, und wer da deuten

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will, der muß geträumt haben«, erhält im Licht des Gesagten eine weitere Bedeutung. Sein zweiter Teil definiert ein für die Qualifikation eines Traumdeuters entscheidendes Kriterium: Nur wer als Träumer hinreichend erfahren ist, kann deutend Selbstdeutungen initialisieren. Mit dem Hinweis auf seinen eigenen Werdegang nimmt Joseph im Gespräch mit dem Pharao für sich in Anspruch, dieses Kriterium zu erfüllen: »Alles hat seine Zeit, Träume und Deuten. Da ich ein Knabe war, träumte ich, und feindliche Brüder schalten mich einen Träumer. Jetzt, wo ich schon ein Mann bin, kam die Zeit des Deutens.« (J 1420) Aus naheliegenden Gründen kann Joseph gegenüber dem Pharao seine Thesen von der Einheit von Träumen und Deuten nicht vorbringen: Würde er die übliche Arbeitsteilung von Träumer und Deuter infragestellen, gäbe es für seine Anwesenheit am Hof keinerlei Grund mehr. Stattdessen verhandelt er mit dem Pharao über die Rollenverteilung in einer Weise, die die Position des Deuters durchaus eher aufwertet. Dass er dann aber aus strategischen Gründen den Pharao selbst die Deutung seines Traums artikulieren lässt, ist eine ironische Wendung, die einmal mehr Josephs Schelmenhaftigkeit beweist. Bei der Aushandlung der beiderseitigen Rollen, die dem Gespräch über den Traum vorausgeht, wird ein theoretischer Bezugsrahmen aufgerufen, der eng mit den zentralen philosophisch-psychologischen Prämissen des Romans zusammenhängt. Wie Mann wiederholt ausgeführt hat, sollte die Josephs-Tetralogie die Erzählperspektive des bürgerlichen Individualismus hinter sich lassen und vorführen, dass Leben stets »gelebter Mythus« ist, »Nachfolge« und »In-Spuren-Gehen«, 12 Wiedervergegenwärtigung archaischer Muster. Es sei das »zeitliche Schema« des Mythos, »in dem und nach dem das vermeintlich ganz Individuelle lebt, nicht ahnend in dem naiven Dünkel seiner Erst- und Einmaligkeit, wie sehr sein Leben Formel und Wiederholung, ein Wandeln in tief ausgetretenen Spuren ist.«13 Das Individuum erscheint in dieser Perspektive als paradoxe Figur, die Postfiguration von vorgeprägten Mustern ist und zugleich Abweichung von diesen. Soziale Rollen verweisen in diesem Sinn auf »Mythisch-Typische[s]«14, da sie die kontingente Einmaligkeit der jeweiligen Träger übersteigen. Die beiden Pole menschlicher Existenz, das Mythische und das Individuelle, korrelieren auch mit dem Spannungsfeld von Bindung und Freiheit. In den Worten Josephs: »Denn das musterhaft Überlieferte kommt aus der Tiefe, die unten liegt, und ist, was uns bindet. Aber das Ich ist von Gott und ist des Geistes, der ist frei.« (J 1422) Vor diesem Hintergrund kreist die Diskussion um die Frage nach konkreten Gewichtungen von Präindividuellem

12 Thomas Mann: »Freud und die Zukunft«, in: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. IX, Frankfurt a.M. 1960, S. 478-501, S. 492. 13 Ebd., S. 493-494. 14 Vgl. ebd., S. 493.

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und Individualität. Was den Pharao anbetrifft, argumentiert Joseph, dass dessen Traum ein Königstraum gewesen sein muss, geträumt vom Träger einer Rolle und nicht von einem kontingenten Ich. Amenhotep räumt dementsprechend ein, »daß nicht ich es war, der träumte, sondern der König«, bringt aber die Interdependenz zwischen Rolle und Individuum auf den Punkt, indem er fortfährt: »soweit das eben zu trennen ist und sofern nicht eben ich nötig war, damit der König träume.« (J 1435)15 Für die Rolle des Deuters, also für sich selbst, reklamiert Joseph die Dimension der Freiheit und damit Distanz vom archaischen Modell. Wenn der Pharao ihn besorgt fragt, ob er »ein sogenanntes inspiriertes Lamm« sei, ein »prophetischer Jüngling«, der ihm »in Verzückung« die Zukunft voraussagen und dann tot umfallen werde (J 1420), rekurriert er damit zunächst auf einen ihm vertrauten ›mythischen‹ Typus des Traumdeuters. Um den Pharao zu beruhigen und um seine individuelle Deutungskompetenz ins rechte Licht zu rücken, betont Joseph in seiner Antwort seine Individualität, seinen eigenen ungebundenen »Gottesverstand« und seine Distanz zum archetypischen Rollenmodell: »Erwarte nicht, daß ich tot umsinken werde bei meinem letzten Wort, weil es sich so gehört. [...] denn es gehört nur zur Form, nicht aber zu mir, in dem sie sich abwandelt.« (J 1421) Im Vergleich zum soeben skizzierten episch-ausführlichen Vorgespräch fällt die eigentliche Deutungsszene erstaunlich knapp aus. Nachdem Joseph mit großem rhetorischen Aufwand die Bedeutung seiner Rolle als Deuter unterstrichen hat, bringt er sie ironisch zum verschwinden. »Dieser Knecht vermag nichts anderes,« erklärt er Amenhotep, »als ihm wahrzusagen, was er schon weiß.« (J 1436) Und er legt dem Pharao den Schlüssel zum Verständnis seines Traums in den Mund, lässt ihn aussprechen, dass die Ähren und die Kühe jeweils für Jahre stehen und auf die Qualität der jährlichen Ernten verweisen. Darin, dass Joseph seine indivuelle Deutungskompetenz in der Theorie zunächst betont, sie in der maieutischen Praxis aber so weit wie möglich kaschiert, besteht seine strategische Meisterleistung. Nachdem er dem Pharao klargemacht hat, dass Traumdeutung ein wichtiges, auf individueller Freiheit beruhendes Charisma ist, dessen Verkörperung er selbst sei, verzichtet er auf den entscheidenden Sprechakt, überlässt er es Amenhotep, die »Wahrheit« des Traums selbst auszusprechen, und konstatiert schließlich: »er hat geweissagt« (J 1437). Der Pharao ist intelligent genug zu durchschauen, dass Josephs Gesprächsführung nichts anderes ist als eine ironische – und selbstironische – sozialtechnologische Gratwanderung: »[...] du hast es mir nur so vorkommen lassen, als ein Schelmensohn, [...] als ob ich selbst geweissagt hätte und meine Träume gedeutet. Wa-

15 Die verhandelte Unterscheidung koinzidiert hier mit der traditionellen Unterscheidung von Amt und Person.

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rum konnt’ ich es dann nicht zuvor, ehe du kamst, und wußte nur, was falsch war, nicht aber, was recht? (J 1437) Joseph macht sich ungreifbar und zugleich unersetzlich. Mit dieser kommunikativen Doppelstrategie bereitet er bei Amenhotep das Terrain und schafft die Grundlagen für den nächsten Schritt, der schließlich zur Krönung seiner Karriere führt. Nachdem Einigkeit darüber herrscht, dass Josephs Auslegung zutrifft, stellt sich die Frage nach der Applikation des Deutungsergebnisses: Welche Maßnahmen lassen sich ergreifen, um die vorausgesagte Katastrophe zu verhindern? Erneut bringt Joseph sich nahezu zum Verschwinden – in einer Weise, die sein Licht hell leuchten lässt. Er redet über zu treffende Maßnahmen im Konjunktiv, macht Vorschläge unter Umgehung des eigentlichen entsprechenden Sprechakts. Mit anderen Worten: Er berät, ohne sich als Berater zu erkennen zu geben. Sobald er ins Gefängnis zurückgekehrt sei, werde er, so seine Ankündigung, »in Gedanken das Gespräch mit den Großen fortsetzen, in das mich in Wirklichkeit einzumischen sträflich wäre.« Sodann führt er detailreich aus, wie diese Gedanken zur Rettung Ägyptens aussehen könnten. Der Pharao ist wiederum über Josephs kommunikative Intelligenz verblüfft: »Hast du nun gesprochen oder hast du nicht gesprochen? Du hast gesprochen, indem du nicht sprachst und uns nur deine Gedanken belauschen ließest, nämlich die, die du erst zu denken gedenkst. Und ist doch so gut, als hättest du gesprochen. Mir scheint, du hast da eine Schalks-Erfindung gemacht [...].« (J 1441) Für Amenhotep hat Joseph sich damit endgültig profiliert als ein Weiser, »in dem der Geist der Träume ist, der Geist des Überblicks und der Vorsorge« (J 1444), und er ernennt ihn zum obersten Verwalter seines Landes. 5. Die Pointe der biblischen Josephs-Erzählung besteht darin, dass ein ›Träumer‹, ein Jüngling, der nicht nur träumt, sondern auch in seinen Träumen lebt, Karriere macht als Staatsmann und effizienter Wirtschaftsexperte. Der Umstand, dass Joseph seine Promotion der erfolgreichen Deutung eines Traums verdankt, macht deutlich, was man Traumdeutern zutraut, nämlich die Fähigkeit, nicht nur die Zeichen der Träume zu lesen, sondern auch die der Welt. Erfolgreiche Traumdeutung setzt Weltwissen voraus, Wissen über die Kontexte, in denen Träume entstehen und auf die sie sich beziehen. Joseph erweist sich als zukunftsorientierter Weltweiser mit Blick für das große Ganze, der es versteht, die Botschaften der Träume in präzise Handlungsanweisungen zu übersetzen. Da der Akt der Deutung selbst in der Genesis als ein Moment unmittelbarer göttlicher Inspiration erscheint, lassen sich über technische oder methodische Aspekte der Deutung keine verallgemeinerbaren Aussagen machen. Auch die beiden untersuchten Romane unternehmen keinen Versuch, diese Leerstelle näher zu bestimmen. Hinsichtlich der diskursiven und narrativen Kontextualisierung der Deu-

T RAUMDEUTUNG ALS B ERATUNG

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tungsszene unterscheiden sich beide Texte jedoch beträchtlich voneinander; sie verfolgen dabei höchst verschiedenartige Interessen. In Assenat geht es zunächst um die Legitimierung höfischen Sprechens, wobei dem durch Intuition legitimierten Sprechen Josephs, der das Täuschungsmanöver des Pharaos, seinen Reichskanzler den Traum in seinem Namen erzählen zu lassen, spontan durchschaut, das durch Expertenwissen legitimierte Sprechen der höfischen Beraterrunde gegenübergestellt wird. Zwar gilt auch Zesens Interesse den Strukturen höfischer Kommunikation, etwa den Konfliktvermeidungsstrategien der Berater, im Vordergrund steht aber das Expertenwissen selbst. Ganz im Sinne barocker Enzyklopädistik entfaltet der Roman ein Panorama oneiromantischen Wissens, das nicht prinzipiell verworfen wird. Die Logik mantischer Praktiken in ihrem Verhältnis zur christlichen Ablehnung ›heidnischer‹ Wahrsagerei ist vielmehr ein wichtiges Thema, das nicht in Bezug auf den Traum, aber stellvertretend dafür in Bezug auf Astrologie erörtert wird. In Thomas Manns Roman geht es dagegen um Mantik nur am Rande. Manns Darstellung konzentriert sich nicht auf Wissensbestände, sondern fokussiert die Kommunikation zwischen Ratsuchendem und Berater. Die Interaktion zwischen Joseph und dem Pharao wird intimisiert und psychologiert und entfernt sich immer mehr vom höfischen Protokoll. Selbst die Konkurrenten Josephs, die Weisen und staatlich bestellten Traumexperten, spielen kaum eine Rolle. Ihre Deutungspraktik steht in Gegensatz zu derjenigen Josephs, weil sie vollkommen arbiträre und dekontextualisierte Auslegungen präsentieren. Josephs maieutische Vorgehensweise beruht dagegen zuallererst auf Empathie. Das der Psychoanalyse entlehnte Prinzip, Deutung als Hilfe zur Selbstdeutung zu verstehen, wird zwar nachdrücklich propagiert, allerdings kann der Roman eine im engeren Sinn psychoanalytische Interpretation nicht liefern, weil sich die durch die biblische Quelle vorgegebene Bedeutung des Traums Amenhoteps nicht auf eine Psychodynamik, ein ›Triebschicksal‹ des Pharaos beziehen lässt. Deshalb bleibt auch bei Mann der eigentliche Deutungsakt ohne nähere Bestimmung seiner immanenten Logik. Josephs Triumph als Berater ist ein Triumph seiner Rhetorik; er ist ein Meister in Sachen Manipulation, der den Träumer an die Wahrheit seines Traums glauben lässt, ohne ihn die Abhängigkeit von der Autorität eines Experten spüren zu lassen.

L ITERATUR Artemidor von Daldis: Das Traumbuch, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort von Karl Brackertz, Zürich/München 1979. Bensch, Gisela: Träumerische Ungenauigkeiten. Traum und Traumbewusstsein im Romanwerk Thomas Manns. Buddenbrooks – Der Zauberberg – Joseph und seine Brüder, Göttingen 2004. Bonin, Werner F.: Das Buch der Träume, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1984.

274 | HANS -W ALTER S CHMIDT-HANNISA

Cicero, Marcus Tullius: Über die Wahrsagung/De divinatione, Lateinisch/Deutsch, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Christoph Schäublin, München/Zürich 1991. Clerico, Mona: Welt – Ich – Sprache. Philosophische und psychoanalytische Motive in Thomas Manns Romantetralogie Joseph und seine Brüder, Würzburg 2004. Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch zu Thomas Manns ›Josephromanen‹, Tübingen/Basel 2002. Heftrich, Eckhard: Geträumte Taten. Joseph und seine Brüder. Über Thomas Mann, Bd. III, Frankfurt a.M. 1993. Kurzke, Hermann: Mondwanderungen. Wegweiser durch Thomas Manns JosephRoman, Frankfurt a.M. 1993. Le Goff, Jacques: »Le christianisme et les rêves (IIe-VIIe siècles)«, in: Tullio Gregory (Hg.): I sogni nel medioevo, Roma 1985, S. 171-218. Le Rider, Jacques: »Joseph und Moses als Ägypter: Sigmund Freud und Thomas Mann«, in: Peter André Alt/Thomas Anz (Hg.): Sigmund Freud und das Wissen der Literatur, Berlin/New York 2008, S. 157-167. Mann, Thomas: »Freud und die Zukunft«, in: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd IX, Frankfurt a.M. 1960, S. 478-501. Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder, Stockholmer Gesamtausgabe, Bd.2, Stockholm 1956. Müller-Michaels, Harro: Hermes geht vorbei, http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/ harro.mueller-michaels/Aktuelles/Hermes/Vorlesung/vorlesung.html (18.3.2013). Pikulik, Lothar: »Joseph vor Pharao. Die Traumdeutung in Thomas Manns biblischem Romanwerk Joseph und seine Brüder«, in: Thomas Mann Jahrbuch, Bd. 1 (1988), S. 99-116. Pongracz Inge/Santner, Marion: Das Königreich der Träume. 4000 Jahre moderne Traumdeutung, Wien/Hamburg 1963. Zesen, Philipp von: Assenat, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. von Ferdinand von Ingen, unter Mitwirkung von Ulrich Maché und Volker Meid, Berlin/New York 1990, Bd. 7.

Dichter, Fürst und Kamarilla: Heinrich Heine berät Friedrich Wilhelm IV. Notiz zum Wintermärchen P ATRICK E IDEN -O FFE

Am Ende von Heinrich Heines Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen findet sich eine kleine Beratungsszene: Das sprechende Ich gibt einem König hier einen Rat und überführt diesen Rat sodann in eine Drohung, eine fatale Drohung sogar: Gedroht wird mit ewiger Verdammnis. Mit dieser Drohung schließt das Wintermärchen: »O König! Ich meine es gut mit dir Und will einen Rat dir geben: Die toten Dichter, verehre sie nur, Doch schone die da leben. Beleidge lebendige Dichter nicht, Sie haben Flammen und Waffen, Die furchtbarer sind als Jovis Blitz, Den ja der Poet erschaffen. Beleidge die Götter, die alten und neun, Des ganzen Olymps Gelichter, Und den höchsten Jehova obendrein – Beleidge nur nicht den Dichter! Die Götter bestrafen freilich sehr hart Des Menschen Missetaten, Das Höllenfeuer ist ziemlich heiß, Dort muß man schmoren und braten –

276 | P ATRICK E IDEN -O FFE Doch Heilige gibt es, die aus der Glut Losbeten den Sünder; durch Spenden An Kirchen und Seelenmessen wird Erworben ein hohes Verwenden. Und am Ende der Tage kommt Christus herab Und bricht die Pforten der Hölle; Und hält er auch ein strenges Gericht, Entschlüpfen wird mancher Geselle. Doch gibt es Höllen, aus deren Haft Unmöglich jede Befreiung; Hier hilft keine Beten, ohnmächtig ist hier Des Welterlösers Verzeihung. Kennst du die Hölle des Dante nicht, Die schrecklichen Terzetten? Wen da der Dichter hineingesperrt, Den kann kein Gott mehr retten – Kein Gott, kein Heiland erlöst ihn je Aus diesen singenden Flammen! Nimm dich in acht, daß wir dich nicht Zu solcher Hölle verdammen.«

1

Obwohl der Sprechakt des Ratgebens im Text selbst explizit benannt – »Und will einen Rat dir geben« – und dann ausgeführt wird, und obwohl sie durch ihre Finalstellung exponiert ist, hat die kleine Szene des Ratgebens als eine solche in der Forschung bisher keine Aufmerksamkeit gefunden. Der Sprechakt des Ratgebens wurde überlesen, die ganze Szene ausschließlich als Drohung – oder als Warnung – interpretiert.2 Wenn im Folgenden der Schluss des »Wintermärchens« nun als Bera-

1

Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen, in: Ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, hg. von Klaus Briegleb, Bd. 5, S. 571-644, S. 643f. Die Schriften Heines werden im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert; im Fließtext werden in Klammern zunächst der Band, dann die Seitenzahl angegeben.

2

Die »Herrscheraposthrophe«, als die Gerhard Höhn die gesamte Schlusspassage auffasst, gehe so weit, »das dichterische Wort selbst als Strafhandlung aufzufassen« (Gerhard Höhn: Heine-Handbuch. Zeit – Person – Werk, 3. überarb. u. erw. Auflage, Stuttgart/Weimar 2004, S.126). Der Strafrechtler Thomas Vormbaum fasst die Passage als

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tungsszene ausgelegt wird, muss der Forschungsbefund ernst genommen und selbst in die Interpretation miteinbezogen werden: Wie kommt es, dass die Beratungsszene als eine solche bisher immer überlesen wurde, und ist dies Überlesen der Szene selbst vielleicht adäquater als ihre Rubrizierung und Interpretation unter dem Stichwort der Beratung? Und was schließlich bringt die besondere Berücksichtigung des Beratungscharakters der Szene für deren Interpretation? Wenn ich im Folgenden den Schluss des Wintermärchens als Szene der Beratung lese, dann werde ich dabei zunächst die Frage nach den Rahmen- und den Gelingensbedingungen stellen, die gegeben sein müssen, um diese Lesart plausibel erscheinen zu lassen. Die Beantwortung dieser Frage erst lässt entscheiden, ob hier ein Sprechakt des Ratgebens als ernsthafter inszeniert ist, oder ob der Ratschlag von vornherein bloß eine Maske der Drohung ist, die ganze Abschlusssequenz ein Fall der notorischen Heineschen Ironie mithin. Gleichzeitig wird sich aber auch die Frage eröffnen, ob beide Sprechakte – Ratschlag und Drohung – sich tatsächlich ausschließen, oder ob nicht die Drohung vielleicht sogar als ein Akt aufgefasst werden muss, welcher der Ernsthaftigkeit des Ratschlags Nachdruck zu verleihen versucht. Die Frage nach den Gelingensbedingungen der Beratung wird sich dabei nicht nur textimmanent und formal klären lassen, sondern greift auch auf die historische Situation und die verschiedenen Kontexte, in denen der Ratschlag verortet ist, aus. Mit der Frage der historischen Verortung und dabei der Frage zunächst, wer hier überhaupt wen berät, will ich beginnen. 1.

Wer berät, wer wird beraten?

Mit seinem Vorwort, datiert in Hamburg auf den 17. September 1844, signiert Heine sein »Gedicht« (7, 573) und markiert dieses als ein autobiografisches; das »ich« des Wintermärchens werde ich, mit Heine, fortan der Kürze und Anschaulichkeit halber als »Heine« benennen. Heine war im Herbst 1843 nach Hamburg gereist,

»Protest« und als Forderung an den König auf; die angedrohte Hölle erscheint Vormbaum als »Entlastungs-Inferno« (Thomas Vormbaum: »›Die Einheit im Denken und Sinnen‹. Zensur und totalitäre Gefahr im Wintermährchen«, in: Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermährchen. Geschrieben im Januar 1844. Mit Kommentaren von Winfried Woesler und Thomas Vormbaum und 11 Collagen von Ruth Tesmar, Berlin 2006, S. 115-147, S. 133f). Schon Hans Kaufmann unterschlägt in seiner klassischen Studie zum Wintermärchen den Ratschlag mit der Königsapostrophe einfach und zitiert nur die nachfolgenden Strophen – als »halb ernsthaft, halb spöttisch« geäußerte Drohungen (Hans Kaufmann: Politisches Gedicht und klassische Dichtung, Berlin 1959, S. 130). In theoretisch ganz anderem Zusammenhang fasst auch Ursula Horstmann-Nash die Stelle ausschließlich als »Drohgebärde« auf (Ursula Horstmann-Nash: »Politik der Metapher: Kontingenz und Solidarität«, in: Heine-Jahrbuch 1994, 33. Jahrgang, S. 23-35, S. 35).

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nicht zuletzt, um seine alte Mutter zu besuchen und mit seinem Verleger Campe zu verhandeln. Nach seinem Gang ins Pariser Exil 1831 war Heine nicht mehr in Deutschland gewesen; das mit den Frankfurter Bundestagsbeschlüssen gegen das »Junge Deutschland« 1835 in Preußen und einigen anderen deutschen Staaten, nicht aber in Hamburg, erlassene Verbot seiner Schriften war noch immer in Kraft. Das Werk Deutschland. Ein Wintermärchen, in dem Heine die Erlebnisse seiner Reise fiktionalisiert, erscheint im September 1844 bei Campe in Hamburg, in einem Buch zusammen mit den Neuen Gedichten: Nur so wurde der Umfang von zwanzig Druckbögen überschritten, wodurch eine Vorzensur des Werks umgangen werden konnte. Wenig später entsteht für die liberaleren deutschen Staaten noch ein Separatdruck. Zwischen dem 19. Oktober und dem 30. November 1844 wird das Wintermärchen in Fortsetzungsform in der Pariser Emigrantenzeitschrift Vorwärts! nachgedruckt, für die zu dieser Zeit Karl Marx als Chefredakteur verantwortlich zeichnet.3 Die Monate zwischen Winter 1843 und Winter 1844 sind denn auch die Zeit einer intensiven Freundschaft zwischen Marx und Heine, Jeffrey Sammons nennt die 1840er Jahre in seiner zweiten Heine-Biographie insgesamt dessen »radical phase«.4 Das Wintermärchen zeitigt sofort einen großen publizistischen und buchhändlerischen Erfolg. Bereits im Oktober 1844 wird das Werk in Preußen verboten, die preußische Regierung fordert, mit unterschiedlichem Erfolg, die Regierungen der anderen Bundesstaaten auf, das Verbot zu übernehmen. Im Dezember erlässt der preußische König Friedrich Wilhelm IV. einen Haftbefehl gegen Heine – womit wir zum Beratenen kommen. Denn der König, der am Schluss des Wintermärchens angesprochen und dem ein Ratschlag erteilt wird, ist niemand anders als Friedrich Wilhelm. Der Rat, die Dichter zu schonen, wurde demnach nicht berücksichtigt, der Sprechakt des Ratgebens scheitert grandios. War dies unausweichlich? – dies wird zu fragen sein. Friedrich Wilhelm IV. war 1840 preußischer König geworden, als Nachfolger seines Vaters Friedrich Wilhelms III. Bei seiner Thronbesteigung waren gerade von liberaler Seite vielfältige Hoffnungen auf den jungen König projiziert worden: Man erwartete sich eine Lockerung der politischen Repression und des drückenden Zensurregimes, eine Erneuerung der Bindung zwischen König und Volk und nicht zuletzt eine Einlösung des Verfassungsversprechens, die der alte König seit 1815 nicht zu Wege gebracht und deren Einklagung er im letzten Jahrzehnt seiner Herr-

3

Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte vgl. Winfried Woesler: »›Censur muß sein‹. Die Redaktions- und Zensurgeschichte des Wintermährchens«, in: Heine: Deutschland, S. 69-113.

4

Jeffrey L. Sammons: Heinrich Heine. A Modern Biography, Princeton 1979, S. 249-291. Wer Informationen zu Heines Biografie sucht, ist gut beraten, dies hier zu tun.

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schaft zudem rigide unterdrückt hatte. Zumindest die ersten beiden Hoffnungen wurden tatsächlich teilweise erfüllt: Es kommt zu einer Amnestie für politische Häftlinge sowie zur Rehabilitierung prominenter Opfer der »Demagogenverfolgung«, wie Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn; die Zensurbestimmungen werden gelockert.5 Als »Romantiker auf dem Throne« – so wird ihn David Friedrich Strauß 1847 ironisch bezeichnen 6 – beruft Friedrich Wilhelm zahlreiche Geistesgrößen, vornehmlich aus der »Romantischen Schule«, nach Preußen (Ludwig Tieck, Friedrich Julius Stahl, Joseph Schelling), und er bemüht sich, das Verhältnis zu seinen Untertanen wieder auf affektivere Füße zu stellen; als großer Coup kann in dieser Hinsicht sein Engagement zur Beilegung der »Kölner Wirren« gelten, jenes ersten großen Kulturkampfs zwischen dem staatslutheranischen Preußen und den nach 1815 zu Preußen geschlagenen katholischen Rheinlanden. In den letzten Regierungsjahren Friedrich Wilhelms III. waren die Spannungen etwa an der Frage des konfessionellen Status von Kindern aus »Mischehen« eskaliert; der Kölner Erzbischof Clemens August Droste zu Vischering wurde im November 1837 wegen fortgesetzter Widersetzlichkeit schließlich abgesetzt und verhaftet, worauf es zu tumultuarischen Aufständen in den gesamten Rheinlanden kam. Friedrich Wilhelm IV. will nun die noch frischen Wunden dieser Krise heilen und dies zur Stärkung der inneren Kohäsionskräfte der Monarchie nutzen. Als Romantiker durchaus affin zu einem gewissen Kulturkatholizismus, ergreift Friedrich Wilhelm die Initiative zur Vollendung des Kölner Doms, der so aus einem katholischen und einem national-liberalen in ein übergreifendes nationales Symbol aller Deutschen (unter preußischer Hegemonie freilich) transformiert werden soll. Die neue Einigkeit im Zeichen eines nationalen Aufbauprojekts soll sich selbst ansichtig werden im Kölner Dombaufest vom September 1842, einem »großen Integrationsfest, einem Gegen-Hambach gleichsam«, wie Thomas Nipperdey schreibt: »Das Fest sollte die neue Eintracht von Staat und Kirche und den Frieden der Konfessionen ebenso feiern wie die Eintracht von König, Staat und Volk, Preußens und der Rheinländer zumal, und endlich – vor dem Hintergrund von Rheinromantik und französischer Rheindro-

5

Eine besonders empathische Schilderung jener liberalen »Stunde der Hoffnung« und ihrer ersten, trügerischen Einlösung findet sich bei Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 396.

6

David Friedrich Strauß: Der Romantiker auf dem Thron der Cäsaren, oder Julian der Abtrünnige, Mannheim 1847. Die Bezeichnung hat sich im Laufe der Zeit neutralisiert und ist zum gleichsam offiziellen Attribut ihres Trägers geworden, nicht nur in den preußenbegeisterten Subkulturen des World Wide Web; vgl. http://www.preussische-allgemeine.de/nachrichten/artikel/romantiker-auf-dem-koenigsthron.html (21.2.2013).

280 | P ATRICK E IDEN -O FFE hung von 1840 – die Einigkeit der Fürsten und Stämme, der deutschen Nation: der Dom, Werk des ›Brudersinns aller Deutschen‹, war das Wahrzeichen deutscher Einigkeit.«

7

Das Symbol oder »Wahrzeichen« aber vermochte es nicht lange, sich an Stelle jener Sache zu halten, um die es der liberalen bürgerlichen Öffentlichkeit in letzter Instanz immer ging: einer Verfassung. Auch Friedrich Wilhelm IV. war nicht gewillt, eine Verfassung zu erlassen oder auch nur Schritte zur Ausarbeitung einer solchen einzuleiten. Die ersten Risse im harmonischen Bild der neuen Regentschaft zeigten sich denn auch schon bald, und zwar anlässlich der Verfassungsfrage; prominent wurde der Fall des Königsberger Liberalen Johann Jacoby, der in seiner Denkschrift Vier Fragen beantwortet von einem Ostpreußen von 1841 den neuen König an das Verfassungsversprechen von 1815 erinnerte und dafür – mit wechselndem Erfolg – von der Obrigkeit juristisch belangt wurde.8 Dass das emphatische Engagement des Königs für den Dombau bloß die andere Seite seiner sturen Ablehnung jedes Kompromisses in der Verfassungsfrage repräsentierte, das wurde schon zeitgenössisch so wahrgenommen; Beleg dafür ist nicht zuletzt Heines Wintermärchen. In den Capita IV bis VII, die allesamt Köln als Schauplatz bespielen, werden die zwei Seiten der Politik des Königs klar als zusammengehörig aufgezeigt, etwa wenn es am Ende von Caput IV heißt: »Der Balthasar und der Melchior [zwei der Heiligen Drei Könige, deren Gebeine als Reliquien im Kölner Dom verehrt werden] / Das waren vielleicht zwei Gäuche, / Die in der Not eine Konstitution / Versprochen ihrem Reiche, // Und später nicht Wort gehalten« (586).9 Als politischer Romantiker

7

Nipperdey: Deutsche Geschichte, S. 397. Im Vorbeigehen muss hier angemerkt werden, dass der Pariser Emigrant Heine, immerhin der Dichter der »Loreley«, es sich nicht nehmen lässt, im Vorwort seines Wintermärchens – ebenfalls noch im Nachgang der Rheinkrise von 1840 – den Rhein einfach für sich persönlich zu reklamieren. An die deutschnationalen Rheinverteidiger gewandt, äußert er: »Seid ruhig, ich werde den Rhein nimmermehr den Franzosen abtreten, schon aus dem ganz einfachen Grund: weil mir der Rhein gehört. Ja, mir gehört er, durch unveräußerliches Geburtsrecht, ich bin des freien Rheins noch viel freierer Sohn, an seinem Ufer stand meine Wiege« (7, 574).

8

Johann Jacoby: Vier Fragen beantwortet von einem Ostpreußen, Mannheim 1841. Zum juristischen Nachspiel vgl. die zeitgenössische Dokumentation »Urteil des Oberappela tionssenats, in der wider den Dr. Johann Jacoby geführten Untersuchung wegen Hochverrats, Majestätsbeleidigung und frechen unehrerbietigen Tadels der Landesgesetze, mitgeteilt von Dr. Johann Jacoby«, in: Arnold Ruge/Karl Marx (Hg.): Deutsch-Französische Jahrbücher, 1ste und 2te Lieferung, Paris 1844, S. 45-70 (Reprint Leipzig 1973, S. 133161).

9

Einen ähnlichen Tenor weisen einige Beiträge aus den von Georg Herwegh herausgegebenen Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz auf, etwa das Epigramm »Stier« aus den

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lehnt Friedrich Wilhelm IV. eine Verfassung nicht etwa deswegen ab, weil diese seine Rechte beschneiden könnte, sondern weil sich eine Verfassung, als totes Papier, notwendig »zwischen Gott, König und Volk« schiebe; der König glaubt »an das Gottesgnadentum [...], das Ethos des Patriarchalismus, die ständische Gliederung der Gesellschaft, den christlichen Staat«, der auf organischen statt auf formalisierten Beziehungen beruht. 10 Der verfassungspolitische Konservatismus Friedrich Wilhelms IV. wird schon von seinen Zeitgenossen als entschieden anti-modern wahrgenommen, der König selbst als Anti-Modernisierer, wohingegen der starr-bürokratische, zuletzt unpopuläre »Alte«, Friedrich Wilhelm III. rückblickend gar als »modern« kenntlich wird, hat er doch einem immerhin bürgerlichen »Philistertum« in die Hände gespielt. In der 10. Strophe des letzten Caput des Wintermärchens, kurz vor Einsatz der finalen Beratungsszene, heißt es anlässlich einer aktuellen Aufführung der Frösche des Aristophanes 1842 in Berlin: »Der König liebt das Stück. Das zeugt / Vom guten an-

»Xenien« von David Friedrich Strauß: »Von Verfassung träumen die Preußen, von Einheit die Deutschen. / Das ist bedenklich! gebt an, wie man den Schwindel vertreibt. / ›Herr, da müßt Ihr ein Narrenseil auswerfen: die Deutschen – / Alles lassen sie stehn, glaubt mir, und hängen sich dran.‹ – / Tages darauf schon las in der Staatszeitung man den Aufruf: / Deutsche! den Dom zu Köln bauen gemeinsam wir aus!«; Dr. D. Fr. Str. [d.i. David Friedrich Strauß]: »Xenien. Ein Thierkreis«, in: Georg Herwegh: Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, Zürich/Winterthur 1843, S. 250-252, S. 250 (Reprint Leipzig 1989, S. 364-367, S. 364). 10 Nipperdey: Deutsche Geschichte, S. 397f. – Der König selbst spricht in Kabinettsordern und Briefen von der Verfassung als »auf Pergament geschriebenen Staatsgrundgesetze[n]« und bezeichnet sie weiter als einen »papiernen Wisch«; die Äußerungen finden sich mit detaillierten Quellenangaben bei Otto Büsch (Hg.): Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. II, Berlin/New York 1992, S. 223. Noch in seiner Thronrede bei der Eröffnung des Vereinigten Landtags am 11. April 1847 wird Friedrich Wilhelm Wert darauf legen, »daß es keiner Macht der Erde je gelingen soll mich zu bewegen, das natürliche, grade bei uns durch seine innere Wahrheit so mächtig machende Verhältniß zwischen Fürst und Volk in ein conventionelles, constitutionelles zu wandeln, und daß ich es nie und nimmermehr zugeben werde, daß sich zwischen unseren Herrgott im Himmel und dieses Land ein beschriebenes Blatt gleichsam als zweite Vorsehung eindränge«; zitiert nach Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Fünfter Theil. Bis zur März-Revolution, Leipzig 1894, S. 619. – Für eine zeitgenössische Gesamteinschätzung der Staatsauffassung Friedrich Wilhelms vgl. auch die hellsichtige Analyse von F. O. [Friedrich Oswald, d.i. Friedrich Engels]: »Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen«, in: Herwegh (Hg.): Einundzwanzig Bogen, S. 189-196 (Reprint S. 294-302).

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tiken Geschmacke; / Den Alten amüsierte weit mehr / Modernes Froschgequacke« (7, 642). Karl Marx hat ebenfalls 1844 in einen Beitrag zu den Deutsch-Französischen Jahrbüchern die chiastische Zusammengehörigkeit der Politiken des romantisch-enthusiastischen, antik-neuen und des philisterhaft-bürgerlichen, modern-alten Königs auf den Punkt gebracht: »Der alte König wollte nichts Extravagantes, er war ein Philister und machte keinen Anspruch auf Geist. Er wußte, daß der Dienerstaat und sein Besitz nur der prosaischen, ruhigen Existenz bedurfte. Der junge König war munterer und aufgeweckter, von der Allmacht des Monarchen, der nur durch sein Herz und seinen Verstand beschränkt ist, dachte er viel größer. Der alte verknöcherte Dienerstaat widerte ihn an. Er wollte ihn lebendig machen und ganz und gar mit seinen Wünschen, Gefühlen und Gedanken durchdringen; und er konnte das verlangen, er in seinem Staat, wenn es nur gelingen wollte. Daher seine liberalen Reden und Herzergießungen. Nicht das tote Gesetz, das volle lebendige Herz des Königs sollte alle seine Untertanen regieren. Er wollte alle Herzen und Geister für seine Herzenswünsche und langgenährten Pläne in Bewegung setzen. Eine Bewegung ist erfolgt; aber die übrigen Herzen schlugen nicht wie das seinige, und die Beherrschten konnten den Mund nicht auftun, ohne von der Aufhebung der alten Herrschaft zu reden.«

11

Diese Reden galten natürlich als »unerhört in Preußen«, und so musste der junge König die »Diener des alten Despotismus« auf den Plan rufen, um dem »undeutschen Treiben bald ein Ende« zu bereiten. 12 Im Fortgang der Auslegung wird sich die Frage stellen, ob diese »Diener« nicht die eigentlichen Adressaten der Heineschen Sprechakte der Beratung bzw. der Drohung sind. Auf sie, auf Johann Peter Friedrich Ancillon etwa, den Lehrer und Berater des jungen Königs und Anführer seiner »Kamarilla«, werden wir zurückkommen müssen.13 2.

Der Akt des Ratgebens I: Was rät der Berater?

Was also rät Heine dem König? Er rät ihm, die »Dichter [...] die da leben«, die »lebendige[n] Dichter«, zu »schone[n]«, sie nicht zu »[b]eleidige[n]« – man könnte vielleicht sagen: mit Leid zu überziehen. Welches Leid aber droht der König den lebenden Dichtern zu tun? Dies lässt sich aus einem zweiten Ratschlag Heines eru-

11 Karl Marx [und andere]: »Ein Briefwechsel von 1843«, in Ruge/Marx: DeutschFranzösische Jahrbücher, S. 17-40, hier S. 25f. (Reprint S. 101-128, S. 111f.). 12 Ebd., S. 26 (S. 112). 13 Eine Übersicht zur Staats- und Selbstauffassung Friedrich Wilhelms bietet Frank-Lothar Kroll: »Politische Romantik und romantische Politik bei Friedrich Wilhelm IV.«, in: Otto Büsch (Hg.): Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Beiträge eines Colloquiums, Berlin 1987, S. 94-106.

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ieren, der dieses Mal an einen »toten Dichter« ergeht, an den »Autor« der Frösche, jenes Stückes mithin, dessen Berliner Aufführung den König gerade sehr erfreut hat. In den Strophen 11 und 12 heißt es: »Der König liebt das Stück. Jedoch Wär noch der Autor am Leben, Ich riete ihm nicht sich in Person Nach Preußen zu begeben. Dem wirklichen Aristophanes, Dem ginge es schlecht, dem Armen; Wir würden ihn bald begleitet sehen Mit Chören von Gendarmen.« (7, 643)

Der Rat an Aristophanes enthüllt die Scheinheiligkeit und reale Widersprüchlichkeit der Kulturpolitik Friedrich Wilhelms IV., und er stellt zugleich einen Seitenhieb auf jene Dichter und Philosophen dar, die sich auf den Ruf des Königs hin nach Preußen begeben haben – etwa Ludwig Tieck, der für die gefeierte Inszenierung der Frösche in Berlin verantwortlich zeichnet: Diese können ganz offensichtlich nicht den Rang und die Größe des Aristophanes besitzen, sonst müssten sie sich unweigerlich mit den preußischen Behörden anlegen, gerade so wie es der hypothetische Aristophanes in Heines Ratschlag tut. Der durch die Apostrophe »O König!« eingeleitete, ›gut gemeinte‹ Rat an den König nun besagt, dieser solle die lebenden Dichter wenigstens schonen und nicht beleidigen, wenn er sie schon nicht »verehre«, wie er es mit den toten Kollegen tut; vermittels der Antithese von »verehren« und »schonen« simuliert der Ratgeber hier eine Bescheidenheit, die für sich selbst, immerhin einen lebenden Dichter, das erstere, die Verehrung, gar erst nicht zu beanspruchen wagt. Gleichzeitig geht der bescheidene, zurückhaltende Rat schon in der nächsten Strophe in eine unverhohlene Drohung über: »Beleidge lebendige Dichter nicht, / Sie haben Flammen und Waffen, / Die furchtbarer sind als Jovis Blitz, / Den ja der Poet erschaffen.« Die Beleidigung der Götter, so sagt es die nächste Strophe, ist minder schlimm – im Sinne von: weniger gravierend in den Konsequenzen – als die der Dichter, denn die (Höllen)Strafen der Götter können rückgängig gemacht werden: durch Gebete von Heiligen, so sagt es Strophe 18, oder »durch Spenden / An Kirchen« – etwa für den Kölner Dom, könnte man ergänzen. Die Dichter aber sind, im Gegensatz zu den Göttern, unbestechlich; sie können Strafen ohne Revisionsmöglichkeit verhängen, eine »Höllen«-»Haft« ohne »Befreiung« oder »Verzeihung« (Strophe 20). Die »Hölle des Dante« ist ein solcher Ort, aus dem es kein Entrinnen gibt: »Wen da der Dichter hineingesperrt, / Den kann kein Gott mehr retten – «. »Nimm dich in acht« – so heißt es schließlich in den letzten beiden Versen des Epos in einer Formulierung,

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die nur noch mit Mühe als Rat zu lesen ist – »daß wir dich nicht / Zu solcher Hölle verdammen«. Womit also, zusammengefasst, droht Heine? Er droht letztlich mit dem, was er gerade tut: Er droht damit, den König in eine gedichtete Hölle zu bannen. Er droht dem König damit, dass sein Nachleben, sein Ruhm, dem der Insassen der danteschen Hölle gleichen wird, deren Namen oftmals nur noch dadurch bekannt sind, dass sie eben Insassen der danteschen Hölle sind. Während der König den oder die Dichter nur durch seine Gendarmen und Haftbefehle »beleidigen« kann, steht dem Dichter mit seiner Dichtung eine organisierende Kraft des politisch-kulturellen Gedächtnisses zu Gebote: Heine droht mit einer Damnatio memoriae. Von seinem Ende her scheint der ganze Schlussabschnitt also doch im Wesentlichen eine Drohung zu sein, und der Rat, der zur Eröffnung der Schlusssequenz geflissentlich erteilt wird, eine bloße Maskierung dieser Drohung. Um die Frage »Rat oder Drohung« zu beantworten, empfiehlt es sich, die Sequenz unter formalen Gesichtspunkten zu betrachten. Beides, das Ratgeben wie die Drohung, sind Sprechakte; intrikat wird die Angelegenheit nun dadurch, dass die Gelingensbedingungen beider Sprechakte im vorliegenden Fall die gleichen sind, bzw. sich wenigstens überschneiden. Denn die Drohung funktioniert nur in Bezug auf einen Adressaten, der – so viel kann man wenigstens sagen – für Dichtung prinzipiell zugänglich ist: Einem vollkommen amusischen König wäre die Drohung egal. Bedroht fühlen wird sich nur ein Adressat, der prinzipiell darum weiß, dass der Dichtung tatsächlich eine reale, eine real-politische Kraft zukommt; die Kraft etwa, das politischkulturelle Gedächtnis zu formieren. Dass Friedrich Wilhelm ein solcher Adressat ist, dass lässt sich an seiner Vorliebe für Aristophanes ablesen, aber auch an seinen Bemühungen, die eigene Fama als kunst-, literatur- und philosophieliebender Mäzen zu verbreiten und zu festigen. Wenn es, wie Marx schreibt, vor allem die – Wackenroder/Tieckschen (!) – »Herzergießungen« des Königs sind, durch die dieser zu regieren trachtet, wenn das »volle lebendige Herz« des Königs diesem als das wesentliche Organ der Monarchie überhaupt gilt, dann kann dieses Herz sich wiederum als nicht ganz unzugänglich zeigen für eine Sprache des Herzens, wie sie von all den Dichtern und Philosophen gesprochen wird, mit denen Friedrich Wilhelm sich zu umgeben liebte. Wenn dem so wäre, wenn also eine prinzipielle Beratbarkeit des Königs gerade von Seiten der Dichter vorausgesetzt werden kann, dann müsste der Rat Heines im Wintermärchen nicht nur als Maske der Drohung gelesen werden, sondern umgekehrt könnte die Drohung auch als ein Mittel verstanden werden, das prinzipiell vorhandene Wissen um die eigene Beratungsbedürfigkeit beim König freizusetzen und wirksam werden zu lassen. Der Befund, dass Heine einen (gerade von Dichtern und Philosophen) prinzipiell beratbaren und beratungsoffenen König voraussetzt, muss im historischen Kontext einerseits als überraschend gelten – und andererseits als trivial. Überraschend

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wirkt die implizite (Rest-)Wertschätzung für Friedrich Wilhelm, oder besser vielleicht die Tatsache, dass Heine den König noch nicht ganz abgeschrieben hat, im Hinblick auf Heines übrige Königslyrik der Jahre um und nach 1842. Diese Gedichte – man denke an »Der Kaiser von China« aus den Neuen Gedichten oder an den im Sommer 1844 im Pariser Vorwärts! abgedruckten »Neuen Alexander«14 – sind bissig bis zur Bösartigkeit, sie stellen den König als einen idiotischen und impotenten Alkoholiker vor, der sich offensichtlich jenseits aller vernünftigen Ansprechbarkeit bewegt. So wird in der Eröffnungsstrophe des »Kaisers« wiederum der Gegensatz des jungen Königs zum alten beschworen: »Mein Vater war ein trockner Taps, / Ein nüchterner Duckmäuser, / Ich aber trinke meinen Schnaps / Und bin ein großer Kaiser.« Trivial ist der Befund, dass Heine Friedrich Wilhelm überhaupt für beratbar hält insofern, als es zur Zeit der Veröffentlichung des Wintermärchens keine große Neuigkeit war, dass der König offen für die Ratschläge Dritter ist. Es war allgemein bekannt, und es wurde gar als das größere Problem angesehen, dass der König geradezu beratungsanfällig und seinen Beratern verfallen war. Berücksichtigt man diesen Komplex, so stößt man in den erwähnten Königsgedichten Heines immer wieder auf Beraterfiguren. Verkörpert Friedrich Wilhelm den »Neuen Alexander«, so kann man in dessen »Aristoteles« unschwer Johann Peter Friedrich Ancillon identifizieren, den Erzieher des jungen Friedrich Wilhelm und Führer der »Kronprinzenpartei«, einer inoffiziellen Gruppierung am preußischen Hof, die schon in den letzten Regierungsjahren Friedrich Wilhelms III. gegen die Reformpartei um die Freiherren von Stein und Hardenberg Politik gemacht hatte und die dann mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. zur zentralen Schaltstelle der Macht in Preußen avancierte.15 Ab der Revolution von 1848 gibt sich diese Gruppe, zu der auch Friedrich Julius Stahl gehört, selbst den Namen »Kamarilla«.16 Ancillon hat dies freilich nicht mehr erlebt, er starb 1837. Sein philosophisches Hauptwerk, das zweibändige Zur Vermittlung der Extreme in den Meinungen von 1831, ist eine der

14 »Der Kaiser von China« (7, 425f); »Der neue Alexander« (7, 456-458). Das dreistrophige Spottgedicht erschien in zwei Folgen am 15.6. und am 13.7.1844 im Vorwärts! unterm Strich: Im Feuilleton-Teil auf den Titelseiten der beiden Ausgaben. 15 Geradezu eingeschossen auf Ancillon, die Kronprinzenpartei und die spätere Kamarilla hat sich Klaus Briegleb in seinen Kommentaren der Sämtlichen Schriften Heines; vgl. etwa 8, 973ff. 16 Zum historischen Hintergrund vgl. den Abschnitt »Der König und seine Berater« in Büsch: Handbuch preußische Geschichte, S. 202-204.

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beliebtesten Zielscheiben vormärzlichen Spotts; nicht nur Engels,17 auch Heine macht sich darüber lustig, etwa im »Neuen Alexander«: »Er hat nachher als Philosoph Vermittelt die Extreme, Und leider Gottes hat er mich Erzogen nach seinem System. Ich ward ein Zwitter, ein Mittelding Das weder Fisch noch Fleisch ist, Das von den Extremen unsrer Zeit Ein närrisches Gemisch ist. [...] Ein aufgeklärter Obskurant, Und weder Hengst noch Stute! Ja, ich begeistre mich zugleich Für Sophokles und die Knute.« (7, 458)

3.

Der Akt des Ratgebens II: Wem rät der Berater? – Beraterkonkurrenz

Die Lächerlichkeit Friedrich Wilhelms rührt vielleicht also vor allem daher, so legt etwa »Der neue Alexander« nahe, dass er schwach und seinen Beratern verfallen, dass er ein Spielball der unterschiedlichen Parteien und Positionen am Hofe ist. So stellt es ebenfalls der »Kaiser von China« dar. Hier gibt es eine greise »Mandarinenritterschaft«, die den König umgibt, und ihm nicht zuletzt rät, die »große Pagode«, den Kölner Dom, als »Symbol und Hort / Des Glaubens« fertigzustellen. Weiter heißt es: »Es schwindet der Geist der Revolution / Und es rufen die edelsten Mantschu: / Wir wollen keine Konstitution, / Wir wollen den Stock, den Kantschu.« (5, 426) Die Mandarinen, als chinesische Hofbeamte, gehen hier, über den nordchi-

17 Bei Engels heißt es über Friedrich Wilhelms Probleme, das Verhältnis zum Katholizismus und das zwischen Kirche und Staat langfristig und grundsätzlich zu lösen: »Die Frage war prinzipiell geworden, und vor den Prinzipien hatte der einzelne Fall als solcher zurücktreten müssen. Was that nun Friedrich Wilhelm IV.? Aecht theologisch drängte er die vorlauten, unbequemen Prinzipien zurück, hielt sich rein an den vorliegenden Fall, der nun ohne Prinzipien vollends verwickelt wurde, und suchte diesen durch Vermittlung aus dem Weg zu schaffen« (Engels: Friedrich Wilhelm, S. 298).

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nesischen Dialekt des Mandarin, in die Mantschu oder Mandschu über. Diese bezeichnen, so könnte man dem Brockhaus von 1839 folgen, »eine mongol. Völkerschaft«, die nach verschiedenen Irrungen und Wirrungen im 17. Jahrhundert von Norden her nach China eindrangen und 1644 den chinesischen Kaiserthron übernahmen; obwohl die neuen Herrscher »die Sprache und Sitte der Überwundenen angenommen«, bleiben sie lange als distinkte Gruppe erkennbar, nicht zuletzt durch ihre privilegierte Stellung am Hof. 18 Im Vormärz wurde Berlin immer wieder scherzhaft als »nördliche Hauptstadt« bezeichnet, was wiederum auf die wörtliche Bedeutung von Peking/Beijing anspielt; die Preußen aus dem Osten werden so mit den Mongolen aus dem Norden überblendet, die beide den politischen und kulturellen Schwerpunkt der von ihnen usurpierten Reiche nach Norden verschieben. Die Mandarinen und Mantschu in Heines Gedicht jedenfalls dürfen mit jener »uckermärkischen Kamarilla« identifiziert werden, die Heine in der Vorrede seiner Französischen Zustände schon 1832 angegriffen hat (5, 96), nicht zuletzt deshalb, weil diese, so der Artikel VIII jener Sammlung, so »vornehm und adelsstolz« auf den »armen Bürgerkönig« Louis Philippe herabschaut (5, 197). In der Vorrede wiederum hatte Heine das Problem der Kamarilla mit der Verfassungsfrage verknüpft: die »konstitutionellen deutschen Fürsten«, so heißt es hier, »schmachten in den Ketten ihrer kleinen Kamarillen« – im Kontrast zur großen in Preußen – und sind deshalb »nicht zurechnungsfähig« (5, 93). Heines Freund Karl August Varnhagen von Ense verleiht schon 1841 in seinem Tagebuch der Enttäuschung über die politische Laxheit des neuen Königs Ausdruck und verbindet diese mit dessen Beratungsanfälligkeit, aus welcher letztlich wieder eine Entschlussschwäche folgt. Am 15. Februar notiert er: »Man fürchtet, daß die Alte-Weiber-Herrschaft hier sehr um sich greifen und viel Uebel anstiften könnte; Aristokratie, Pietismus, und Kamarilla! Das wäre eine schöne Mischung! Ja, so viel ist gewiß, klar und fest sehen die Dinge hier nicht aus, sondern trüb’ und schwankend; die Fäden der Regierung sind nicht straffer geworden, im Gegentheil, und Ehrfurcht fehlt ganz, fast auch schon die Furcht. [...] Der König soll sich seit vierzehn Tagen nicht entschließen können, wen er zum Kriegsminister machen soll. Viele glauben, er werde General von Boyen dazu wählen. Die Ultras arbeiten sehr dagegen, einen Liberalen auf diesem wichtigen Posten zu sehen.«

19

Dass die Könige – und zuvörderst der preußische – zurechnungs- und entscheidungsunfähig werden, hängt damit zusammen, dass die Kamarillen die Frage systematisch verunklaren, wer nun eigentlich das vernünftige und souveräne Subjekt

18 Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3, Leipzig 1839, S. 43. 19 Karl August Varnhagen von Ense: Tagebücher, erster Band, Leipzig 1861, S. 273.

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ist, das hier entscheidet. Es scheint dabei kein äußerlicher Zufall zu sein, dass die Kamarilla in Preußen dem König davon abrät, eine Konstitution zu erlassen. Dieser Rat trifft das Kamarilla-Wesen vielmehr in seinem Kern. Die Kamarilla will keine Konstitution, weil jede Formalisierung der Regierungsverhältnisse ihre eigene Macht nicht nur womöglich schmälern, sondern elementar verunmöglichen würde, weil die Macht der Kamarilla gerade auf nicht formalisierten, auf informellen Verhältnissen beruht. Der Rat, den die Kamarilla dem König gibt, wenn sie ihm davon abrät, eine Verfassung zu erlassen, ist gewissermaßen reflexiv, es ist der Meta-Rat jedes Beraterwesens, des informellen zumal: »Lass Dich weiterhin von uns beraten!«20 Für die preußischen Reformer und diejenigen, die auf eine Fortführung der Reformen drangen – beileibe nicht alles und nicht einmal vor allem Liberale oder gar Demokraten –, wurde die Kamarilla um den »Intriganten«21 Ancillon zur bevorzugten Zielscheibe der Kritik; die Reformminister Hardenberg und Altenstein wären hier zu nennen, aber auch Hegel. In dessen Grundlinien der Philosophie des Rechts gibt es zwei Paragraphen, die versuchen, auch unter Bedingungen eines informell beratenen Monarchen ein Subjekt der Zurechnung sicherzustellen. Im § 283 bestätigt Hegel das Recht des Monarchen, seine Souveränitätsrechte zunächst darin auszuüben, bei der »Erwählung der Individuen«, die ihn beraten sollen, »seine unbeschränkte Willkür« walten zu lassen; es muss dem Souverän unbenommen bleiben, sich nur solche Individuen auszuwählen, denen er vertraut. Formal verordnete Berater können nicht funktionieren, so konzediert Hegel damit. Aber schon im nächsten Paragraphen soll diese »Willkür« haftbar gemacht werden, und zwar nach unten, zu den Beratern hin: Da nur die Berater qua Sachverstand »das Objektive der Entscheidung« durchschauen können, müssen auch »die beratenden Stellen oder Individuen allein der Verantwortung unterworfen« werden. Der Monarch zieht sich hier in seine rein formale Existenz als »letzte entscheidende Subjektivität« zurück, er ist »entscheidende Subjektivität« überhaupt, nicht mehr verantwortliches Subjekt. 22

20 Eine Einschätzung der Bedeutung der Kamarilla in nachmärzlicher Zeit, die aber auch Rückschüsse auf den Vormärz zulässt, bietet Günther Grünthal: »Bemerkungen zur Kamarilla Friedrich Wilhelms IV. im nachmärzlichen Preußen«, in: Büsch: Friedrich Wilhelm IV., S. 39-47. 21 So ohne Umschweife bei James J. Sheehan: Der Ausklang des alten Reichs. Deutschland seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges bis zur gescheiterten Revolution 1763 bis 1854, Propyläen Geschichte Deutschlands Bd. 6, Frankfurt a.M./Berlin 1994, S. 387. 22 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821), mit Hegels eingehändigen Randbemer kungen in seinem Handexemplar der Rechtsphilosophie, in der Textedition von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1995, S. 250f.

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Noch diesseits der Frage, ob diese Konstruktion des modernen Beraterwesens bei Hegel konsequente Folgerung aus den systematischen Prämissen seines Staatsrechts ist, und ob es sich dabei um die allein mögliche Konsequenz handelt, kann sicher festgestellt werden, dass Hegel hier auch den Umständen im Preußen der späten 1810er, frühen 1820er Jahre Rechnung trägt und versucht, in seine Rechtsphilosophie einen Sicherungsmechanismus gegen das um sich greifende Kamarilla-Wesen einzubauen. Sozialhistorischer Hintergrund der Konflikte um die Kamarilla ist der Machtkampf zwischen alten, vornehmlich ländlich begründeten Adelseliten und neuen, urban-bürgerlichen Deutungs- und Entscheidungseliten. Den letzteren gilt eine Formalisierung der Macht nachgerade als Garant für ungehinderten Zugang zu und Partizipation an politischen Entscheidungen. Reinhard Koselleck formuliert die umgekehrte Motivation der adligen Kreise hinter der Kamarilla: »Gewöhnt, durch persönlichen Zugang zum Hof oder durch Immediateingaben den König direkt zu beeinflussen, wußte der Adel seinen Forderungen weit größeren Nachdruck zu verleihen, als es den Bürgern auf dem Wege der Publizistik möglich war. Schließlich gewann der Adel in Ancillon und dem Kronprinzen mächtige Fürsprecher und schuf damit jene Konstellation, die den verfassungsmäßig vorgeschriebenen Weg der Verwaltungsplanung umging.«

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Mit dem Hinweis auf die Publizistik und das bürgerliche Prinzip der Publizität spricht Koselleck einen weiteren Punkt an, der den nachhaltig schlechten Ruf Ancillons24 befördert hat: Als Mitglied des preußischen Oberzensurkollegiums legte er sich nicht nur mit (zu) freisinnigen Schriftstellern aller Art an, sondern auch mit liberaleren Kollegen, die sich im selben Gremium betätigten, um die Zensur möglichst geschmeidig zu handhaben; zu denken wäre hier etwa an den Historiker und Tieck-Intimus Friedrich von Raumer, der dem Kollegium 1831 den Rücken kehrte – was seinen Ruf bei Heine im übrigen nicht wiederherstellte: Für ihn bleibt Raumer »ein deutscher Lump«, wie es im Wintermärchen gleich zweimal heißt (7, 601f.). Noch Koselleck tadelt Ancillons Wirken im Oberzensurkollegium ganz ohne historisch-wissenschaftliche Distanz: »Einmal eingeführt, fanden sich zur illibe-

23 Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1987, S. 319. 24 Vgl. etwa den desaströsen Eintrag in der Allgemeinen Deutschen Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 1 (1875), S. 420-424. Eine kurze und bündige Würdigung, die den Gewürdigten an seinen Platz stellt, liefert Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band II: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800-1914, München 1992, S. 147f.

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ralen Institution auch die illiberalen Männer. Aus der vorbeugenden Zensur haben sie ein blindes Polizeiinstrument gemacht.«25 Das Wirken Ancillons als Mitarbeiter der Zensur kann als geradezu sinnbildlich gelten auch für das Wirken der Kamarilla insgesamt: sie ist eine per se lichtscheue Quasi-Institution, der jede Publizität verhasst sein muss. Ihr Wirken muss für die bürgerliche Öffentlichkeit mit ihren Rationalitäts- und Transparenzidealen im Ungefähren bleiben, weil jede Überprüfung der Wirkungsweise diese beeinträchtigen würde. Die bürgerliche Öffentlichkeit reagiert wiederum mit ihren Waffen: Sie zieht die Kamarilla ins Licht und gibt sie der Sichtbarkeit und damit der Lächerlichkeit preis. Hier liegt auch der Einsatz Heines. Heine zieht Ancillon und Konsorten ans Licht und tritt mit ihnen in den Ring: Er inszeniert eine Beraterkonkurrenz, indem er versucht, sich als alternativen Berater des Königs in Stellung zu bringen. Damit würde aber der Rat, den Heine dem König am Ende des Wintermärchens gibt, vielleicht gar nicht so sehr diesen persönlich adressieren – oder nicht ausschließlich diesen –, sondern wäre ebenso sehr auch als eine verstellte Kampfansage an dessen Berater zu lesen, als Kampfansage an die Kamarilla. Dies würde auch zu der rhetorischen Figur passen, vermittels welcher der Sprechakt des Ratgebens eingeleitet wird. Diese Figur, die Apostrophe »O König!«, die den Sprechakt des Ratgebens eigentlich erst zu einem solchen macht, indem sie ihn ereignishaft heraushebt aus der Rede des Ich über anderes – dieser eigentlich konstitutive Sprechakt ist vielleicht auch dafür verantwortlich, dass dieser als solcher, als Sprechakt des Ratgebens, immer überlesen wurde. Denn die Apostrophe ist rhetorisch bestimmt nicht als Hinwendung (zum König etwa), sondern Abwendung vom ursprünglichen Publikum, das aber, nichtsdestotrotz, weiter angesprochen bleibt; gleichzeitig kann die aversio, die Perspektivänderung, die mit der Apostrophe verbunden ist, aber auch mit einer Neueinstellung auf einen genauer gefassten oder gar neu avisierten Adressaten einhergehen – einen neuen Adressaten, der gerade nicht der in der Apostrophe angesprochene sein muss. In der Gerichtsrhetorik spricht der Anwalt mittels einer Apostrophe nicht mehr den Richter oder die Geschworenen an, denen die persuasive Kraft seiner Rede natürlich weiterhin gilt, sondern er wendet sich von diesen ab und spricht direkt die gegnerische Partei an: Es handelt sich um eine Finte, die die gerichtliche Dreierkonstellation, die den Konflikt einhegt, rhetorisch aussetzt und eine direkte Konfrontation mit dem Gegner simuliert; eigentlicher Adressat aber bleibt der Dritte, der Richter oder die Geschworenen. Wenn dieses Modell hier gilt, dann wäre der König eben nicht der eigentliche Adressat von Heines Apostrophe, sondern die eigentlichen Adressaten wären Ancillon und die Kamarilla, zu denen sich Heine in Konkurrenz begibt. Und zugleich ginge es beim Sprechakt des Ratgebens nicht so sehr um den Rat, der hier, im kon-

25 Koselleck: Preußen, S. 416.

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kreten Fall, gerade erteilt wird; dieser wäre sogar zu vernachlässigen. Es ginge vielmehr darum, dass der Ratgeber sich selbst als ein solcher, als Ratgeber des Königs, installiert und diese Position gegen andere machtvoll verteidigt. Daher auch die Tirade gerade gegen all die anderen Schreiber, Dichter, Wissenschaftler, Künstler und Philosophen, mit denen der König sich in Berlin umgeben hat (7, 601f.): Hengstenberg, Neander, Birch-Pfeiffer, Raumer, Freiligrath, Jahn, Maßmann, Schelling... 4.

Der Akt des Ratgebens III: Wem rät der Ratgeber noch? – Dichterkonkurrenz

Vielleicht ist aber auch noch ein ganz anderer Adressatenkreis angesprochen, wenn Heine mit der Königsapostrophe eine ausschließliche Hinwendung zum König simuliert. Dieser andere Kreis ließe sich wiederum, in erster Annäherung, über die formale Struktur des Wintermärchens ermitteln. Denn der Apostrophe »O König« kommt eine rahmenbildende Funktion zu, wenn man sie auf eine andere Apostrophe im ersten Caput bezieht: »Ein neues Lied, ein besseres Lied, / O Freunde, will ich Euch dichten! / Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten.« Die Antithese legt es nahe, dass es die gleichen sind, die hier das Himmelreich und die im letzten Caput die Hölle errichten/erdichten sollen: die Dichter, die DichterFreunde und -Kollegen Heines. Ein Dichterkollege, der hier in herausgehobener Weise als Adressat von Heines Anrufung gelten kann, ist Georg Herwegh. Wenn Heine zwei Verse nach der Königsapostrophe auf die »lebendige[n] Dichter« zu sprechen kommt, so rückt der Dichter der Gedichte eines Lebendigen in den Fokus, deren erster Band 1841 für Furore gesorgt hatte.26 Herwegh, zwanzig Jahre jünger als Heine, machte sich damit einen Namen als politisch radikalster der jungen Dichtergeneration; Heine und Herwegh hatten sich 1841 in Paris kennengelernt und angefreundet.27 Herwegh galt, bei aller Radikalität – oder gerade wegen dieser –, als politisch unstet; über die Geste des Widerspruchs hinaus blieb seine politische Position weitgehend unbestimmt. Auch er optierte – im Nachgang der Rheinkrise 1840 – für den »freien deutschen Rhein« (Nikolaus Becker)28, wobei er einmal mehr das deutsche Element betont, dann mehr das freie.29 Der allgemein als subversiv wahrgenommene Gehalt der Ge-

26 Georg Herwegh: Gedichte eines Lebendigen. Mit einer Dedikation an den Verstorbenen, Zürich/Winterthur 1841. 27 Zu Heines Beziehung zu Herwegh vgl. Sammons: Biography, S. 256-259. 28 Auf die »Bierstimmen«, die diesen Gassenhauer gegen die Franzosen schmettern, kommt Heine im Vorwort des Wintermärchens zu sprechen (7, 574). 29 Vgl. etwa das »Rheinweinlied« mit dem Kehrvers »Der Rhein soll deutsch verbleiben«, oder »Wer ist frei?«; Herwegh: Lieder eines Lebendigen, S. 36f. und S. 20-22. Zu Heines

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dichte Herweghs besteht vor allem in jenem ungerichteten vitalen Impuls, der sich schon im Titel der Sammlung annonciert. Getragen werden die Gedichte dabei von einer Opposition des Lebendigen und des Toten, Alten und Überkommenen: »Die Jungen und die Alten«, so lautet der programmatische Titel eines der Gedichte.30 In der Sammlung von 1841 hatte sich Herwegh vorsichtig optimistisch auch an den neuen preußischen König Friedrich Wilhelm IV. gewandt. Im Gedicht »An den König von Preußen« heißt es etwa: »Das ratlos auseinander irrt, Mein Volk soll dir entgegenflammen; Steh auf und sprich: ›Ich bin der Hirt, Der eine Hirt, der eine Wirt, Und Herz und Haupt, sie sind beisammen!‹ Das West und Ost, das Nord und Süd – Wir sind der vielen Worte müd; Du weißt, wonach der Deutsche glüht, – 31

Wirst du auch lächeln und verdammen?«

Auch bei Herwegh geht freilich die Anrufung des Königs in der letzten Strophe über in eine Drohung: »Nun schweig, du ehernes Gedicht! Des Fürsten Mund wird bitter schmollen. Ich weiß, man hört die Sänger nicht, Man stellt die Freien vor Gericht Und wirft sie in die Schar der Tollen. Gleichviel – wie er auch immer schmollt, Ich hab getan, was ich gesollt; Und wer, wie ich, mit Gott gegrollt, Darf auch mit einem König grollen.«

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Auseinandersetzung mit den diversen lyrischen Konsequenzen der Rheinkrise vgl. Dieter Martin: »Deutschland. Ein Wintermährchen. Patriotismus im Exil«, in: Werner Frick (Hg.): Heinrich Heine. Neue Lektüren, Freiburg i.Br. 2011, S. 205-226, besonders S. 217220. 30 Herwegh: Gedichte, S. 48f. 31 Ebd., S. 120-125, hier S. 123. 32 Ebd., S. 125.

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Das im Gedicht vorweggenommene Verhältnis zwischen Herwegh und dem König wird sich wenig später auch in der Realität gründen. Der Zürcher Wissenschaftler, Politiker und Verleger Julius Fröbel hatte 1841/42 angeregt, die Zeitschrift Deutscher Bote aus der Schweiz einem Relaunch zu unterziehen und zum politischen Sprachrohr der deutschen Exil-community in der Schweiz zu machen. Zu diesem Zwecke wurde die Redaktion an Herwegh übergeben, dessen Renommee weitere prominente Mitarbeiter ins Boot ziehen sollte. 33 Herwegh begab sich dann im Herbst 1842 auf eine Rundreise durch Deutschland, um Interessenten an dem Zeitschriftenprojekt zu treffen und das weitere Vorgehen abzustimmen. Die Reise geriet zu einem regelrechten Triumphzug: »In mehreren Städten brachte man ihm Ständchen dar, huldigte ihm mit Fackelzügen und veranstaltete Festbankette zu seinen Ehren.«34 Am 19. November 1842 schließlich empfing Friedrich Wilhelm höchstselbst den Dichter zu einer Privataudienz, die für Herwegh allerdings unbefriedigend verlief. Im Verlauf der Audienz lässt der König den notorischen Satz fallen, er liebe »eine gesinnungsvolle Opposition«. Zum Abschied macht der König schon einen kommenden Paulus im noch oppositionellen Saulus aus und schließt: »Ich wünsche Ihnen einen Tag von Damaskus, und Sie werden Ungeheures wirken!«35 Eine einstweilige Wirkung blieb Herwegh allerdings vorenthalten: Friedrich Wilhelm verbot umgehend nach der Audienz Herweghs Zeitschriftenprojekt; der enttäuschte Herwegh schreibt daraufhin einen gesalzenen, schon in seiner Formlosigkeit vollkommen respektlosen offenen Brief an den König, der an Heiligabend 1842 in der Leipziger Allgemeinen Zeitung erscheint; noch vor Jahresende wird Herwegh daraufhin auf direkten Befehl des Königs unter persönlicher Überwachung zweier Gendarmen über die Grenze nach Sachsen abgeschoben. Heine be-

33 Fröbel hatte 1841 seinen »Verlag des literarischen Comptoirs« eigens gegründet, um Herweghs Gedichte eines Lebendigen erscheinen lassen zu können. In den folgenden Jahren wurde dieser Verlag zu einer der zentralen Agenturen der literarischen Opposition im deutschsprachigen Raum. Vgl. dazu und zur Einbettung Herweghs in die deutsche Exilcommunity in der Schweiz Walter Grab: Dr. Wilhelm Schulz aus Darmstadt. Weggefährte von Georg Büchner und Inspirator von Karl Marx, Frankfurt a.M./Olten/Wien 1987, S. 233-255. Zur Geschichte des »Deutschen Boten« vgl. auch den dokumentarischen Anhang in Herwegh: Einundzwanzig Bogen, Reprint S. 457-471. 34 Grab: Schulz, S. 237. 35 Die Szene mit den Zitaten schildert, freilich ohne Quelle, ein Einschub des Herausgebers in: »Robert Prutz und Georg Herwegh. Dokumente einer Freundschaft«, in: Robert Prutz: Zwischen Vaterland und Freiheit. Eine Werkauswahl, hg. und komment. v. Hartmut Kircher, Köln 1975, S. 45-79, S. 53. Eine ausführliche Schilderung von Herweghs Deutschlandreise und der Audienz beim König findet sich bei Ulrich Enzensberger: Herwegh. Ein Heldenleben, Frankfurt a.M. 1999, S. 107-130.

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schreibt diese Szene in seinem Gedicht »An Georg Herwegh«, wo es heißt »An jeder Seite ein Gendarm, / Erreichtest endlich du die Grenze« (7, 422), und diese Szene klingt auch im Wintermärchen noch nach, wo Heine einem Aristophanes der Gegenwart prophezeit: »Wir würden ihn bald begleitet sehn / Mit Chören von Gendarmen.« In seinem Brief an den König zeigt Herwegh seine Enttäuschung darüber, vom König wie ein einfacher Untertan behandelt zu werden, nachdem dieser sich – so Herwegh – bei der persönlichen Begegnung noch gewünscht hatte, sie mögen »ehrliche Feinde« sein. Herwegh imaginiert sich in die Position eines alternativen Beraters des Königs hinein, wenn er meint, diesen auf die Umtriebe seines Ministeriums hinweisen zu müssen. Denn der König – so Herwegh vielleicht gespielt, vielleicht aber auch ernsthaft naiv – könne von dem Verbot nichts wissen; dieses müsse daher hinter seinem Rücken und gegen seinen Willen erlassen worden sein: »Ohne Zweifel haben Ew. Maj.[estät] von diesem Verfahren gar keine Kunde, und der Zweck dieses Briefes ist auch nur, diese einfache Thatsache zu Ihrer Kenntnis zu bringen, damit Ew. Maj. weiter beschließen mögen, was Rechtens ist.«36 Der Brief Herweghs reklamiert eine Intimität zwischen Herrscher und Dichter, die jedes funktionale – sei es formalisierte, sei es informelle – Verhältnis zwischen dem Herrscher und seinen Mitarbeitern und Beratern an Intensität hinter sich lässt. Dabei wusste Herwegh schon 1839, dass jedes vertrauensvoll-innige Verhältnis zwischen »Dichter und Staat« – so der Titel eines »kritischen Aufsatzes« aus jenem Jahr – seit der Französischen Revolution perdu ist. Voltaire, so heißt es hier, »war wohl der letzte Schriftsteller, der von einem Einfluß der Literatur auf die Mächtigen dieser Erde geträumt« hat. Seit der Französischen Revolution herrsche auf Seiten der Macht das »Mißtrauen«; »[j]eder Dichter« aber, so heißt es weiter, »steht in Opposition mit dem Staate«. Diese Opposition erst – und die Aufkündigung jeder weiteren Intimität – habe aus der Literatur »die zweite Macht im Staate« werden lassen. Wenn in Deutschland allenthalben »Göthe« und seine Freundschaft zu Fürst August als Gegenbeispiel aufgeboten werde, dann werde vergessen, dass dieses Verhältnis schon aus der Zeit vor der großen Revolution herrühre. 37 Der Dichterfürst mit seinem Fürst, so kann man schließen, sind Männer des letzten Jahrhunderts; die »Endschaft der ›Goetheschen Kunstperiode‹« ist auch bei Herwegh längst erreicht.38

36 Brief zit. nach Herwegh: Einundzwanzig Bogen, Reprint S. 466-468, S. 467. 37 Georg Herwegh, »Dichter und Staat«, in: Ders.: Gedichte und kritische Aufsätze aus den Jahren 1839 und 1840, Belle Vue, bei Constanz, 1845, S. 34-38, 35f., Hervorhebungen im Original gesperrt. 38 So die berühmte Formulierung aus dem Anfang der Heineschen Romantischen Schule (5, 360). Einen instruktiven Vergleich der Schreibstrategien von Herwegh und Heine im

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Herwegh wusste also schon 1839, dass sein angestrebtes Verhältnis zu Friedrich Wilhelm IV. notwendig illusionär, weil historisch überholt ist – er veröffentlichte diese Erkenntnis freilich erst 1845. Offenbar aber musste er selbst erst die Erfahrung machen, dass der Dichter keinen privilegierten Zugang zum Machthaber mehr beanspruchen kann; dass der Dichter am Hof des Fürsten kein Dichterfürst und damit kein Fürst oder Führer des Fürsten mehr werden kann. 1844, im Wintermärchen, wird Herwegh diese Erkenntnis von Heine unter die Nase gerieben, in Form jenes verstellten Ratschlags, den dieser dem König angedeihen lässt. Heines Rat geht also, unter der Maske der Königsapostrophe, auch an Herwegh, dem seine eitlen Flausen ausgetrieben werden sollen. Zwar bringt sich Heine vordergründig selbst als alternativer Fürsten-Berater in Stellung, er reklamiert für sich aber einen höheren, abgeklärten Realismus, der Herwegh abzugehen scheint. Für Heine ist der König nichts als ein Empfänger von Ratschlägen, und es ist das reine Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen, konkurrierenden Beratern, das letztlich entscheidet, wohin die Reise politisch geht. Politik ist hier reines Machtspiel. Herwegh hingegen spricht den König als jemanden an, der diesem Machtspiel enthoben sein sollte und es eigentlich auch ist: Der König ist für Herwegh eine Instanz, die über den Ränken der Berater steht, und er selbst sieht und präsentiert sich als jemanden, der den König aus diesen Ränken befreien kann – als ehrlichen, aufrichtigen Berater, gegenüber den falschen, durchtriebenen, eigennützigen. Herwegh lässt in seinen Gedichten und in seiner öffentlichen Selbstinszenierung damit genau jene irdisch-diesseitige Illusionslosigkeit vermissen, auf die Heine seine »Freunde« mit dem neuen und besseren Lied aus Caput 1 des Wintermärchens verpflichten will. 39

Hinblick auf ein von beiden diagnostiziertes »Ende der Literatur« bietet Esther Kilchmann: »Schreiben am Ende der Literatur. Heinrich Heines und Georg Herweghs Aus einandersetzugen mit den Paradigmen der Literaturgeschichte«, in: Zeitschrift für Germanistik 1 (2007), S. 38-49. 39 Noch im Nachmärz, im Romanzero, wird Heine auf die Geschichte der Herweghschen Audienz zurückkommen. Unter dem Titel »Die Audienz (Eine alte Fabel)« heißt es, bezeichnenderweise aus der Perspektive das Königs: »Ich will, wie einst mein Heiland tat / Am Anblick der Kinder mich laben; / Laß zu mir kommen die Kindlein, zumal / Das gr oße Kind aus Schwaben«. Nachdem strophenlang auf dem Schwabenscherz herumgeritten wurde, heißt es schließlich in bestürzender Einfachheit: »Erbitte dir eine Gnade, sprach / Der König. Da kniete nieder / Der Schwabe und rief: O geben Sie, Sire, / Dem Volke die Freiheit wieder. // Der Mensch ist frei, es hat die Natur / Ihn nicht geboren zum Knechte – / O geben Sie, Sire, dem deutschen Volk / Zurück seine Menschenrechte! // Der König stand erschüttert tief – / Es war eine schöne Szene; – / Mit seinem Rockärmel wischte sich / Der Schwab aus dem Auge die Träne. // Der König sprach endlich: Ein schöner Traum! – / Leb

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Die Antithese von Illusionslosigkeit – als Voraussetzung jeder möglichen Wirksamkeit – auf Heines und naiv-überschwänglichem Optimismus auf Herweghs Seite wird pointiert in einem kleinen Gedicht, das Heine Herwegh gewidmet hat. Die Quintessenz dieser berühmten Verse lässt sich wiederum in einem gut gemeinten Rat zusammenfassen, in dem Rat »Flieg nicht so hoch, mein kleiner Freund«: »Herwegh, du eiserne Lerche, Mit klirrendem Jubel steigst du empor Zum heiligen Sonnenlichte! Ward wirklich der Winter zunichte? Steht wirklich Deutschland im Frühlingsflor? Herwegh, du eiserne Lerche, Weil du so himmelhoch dich schwingst, Hast du die Erde aus dem Gesichte Verloren – Nur in deinem Gedichte Lebt jener Lenz den du besingst.« (7, 485f)

5.

Das Ende des Dichterfürsten: Vom Dichter zu den Dic htern

Am Ende ist es ausgerechnet Dante, auf den sich Heines Drohung an den König stützt – »Kennst du die Hölle des Dante nicht, / Die schrecklichen Terzetten?« Dante aber hat, so zeigt Ernst H. Kantorowicz, im Einklang mit den Juristen des italienischen Mittelalters die »aequiparatio von Dichter und Kaiser oder König – das heißt vom Dichter und dem höchsten, Souveränität verkörpernden Amt« festgestellt. Für Dante ist der Dichter nicht bloß Berater des Souveräns, er ist diesem gleichgesetzt, er ist s/Souverän: »König und Dichter als Gleichgestellte«. 40 Nicht zuletzt hat Dante »die souveräne Macht usurpiert, über alle Menschen zu urteilen« 41 und sie nach freier Willkür und selbst gesetztem Recht in die Hölle zu verdam-

wohl, und werde gescheiter; / Und da du ein Somnambülericht / So geb ich dir zwei Begleiter, // Zwei sichre Gendarmen, die sollen dich / Bis an die Grenze führen – / Leb wohl! ich muss zur Parade gehen, / Schon hör ich die Trommel rühren. // So hat die rührende Audienz / Ein rührendes Ende genommen. / Doch ließ der König seitdem nicht mehr / Die Kindlein zu sich kommen« (11, 231-233). 40 Ernst H. Kantorowicz: »Die Souveränität des Künstlers. Einige Anmerkungen zu Rechtsgrundsätzen und Kunsttheorien der Renaissance«, in: Ders.: Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums, hg. v. Eckhart Grünewald und Ulrich Raulff, Stuttgart 1998, S. 329-348, S. 343f. 41 Ebd., S. 347.

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men.42 Ist es nun ein ähnliches Verständnis vom Dichter als Souverän, das in Heines Wintermärchen nachklingt? Oder klingt es hier bloß aus? Nach der soeben vorgestellten Lesart des Schlusses, nach der sich der Ratschlag im Schluss-Caput mindestens ebenso sehr an Georg Herwegh wie an Friedrich Wilhelm richtet, müsste diese, die danteske Interpretation des Schlusses, bestritten werden. Oder richtiger: Die Vorstellung, der Dichter selbst sei Souverän, würde von Heine an Herwegh vorgeführt und mit diesem zur Disposition gestellt. Ein kleines Detail in den Schlussstrophen unterstützt diese Lesart. Denn in den Strophen nach der Königsapostrophe scheint sich Heine nicht recht entscheiden zu können, in wessen Namen und mit wessen Vollmacht er eigentlich spricht, berät und droht: im Namen des Dichters oder der Dichter. Der Numerus schwankt, wobei »der Dichter« als singulärer ein gewisses Übergewicht besitzt, das Epos aber im Namen eines pluralen »wir« ausklingt: »Nimm dich in acht, daß wir dich nicht / Zu solcher Hölle verdammen.« Der eine Dichter, der sich auf Augenhöhe der höchsten Macht imaginiert, muss als Souverän einig und unteilbar sein. Die vielen Dichter, die Dichter»Freunde« hingegen wirken nur kraft ihrer Pluralität. Die vielen Dichter wirken auch nur kraft der Publizität ihrer Äußerungen, wohingegen der eine Dichter im Gespräch mit dem König das Arkanum der Macht aufsucht und wahrt.43 Der eine Dichter, der dem Fürsten so nah ist, dass er selbst zum Dichterfürsten wird, ist gerade keiner der vielen Berater, die den Fürsten immer umgeben – er steht weit über diesen. Sowohl Herwegh wie auch Heine scheinen die Verführungskraft dieses Modells noch gespürt zu haben, wider besseren Wissens vielleicht. Denn beide wissen auch – und Heine exekutiert dieses Wissen an Herwegh –, dass die Zeit der großen Dichter-Fürsten, der Dichter-Fürsten-Paare, mit der »Goetheschen Kunstperiode« zu Ende gegangen ist. Etwa einhundert Jahre nach Heine und Herwegh werden Denker aus dem Kreis eines späten Dichterfürsten das alte Modell noch einmal auf den Begriff bringen – auf den Begriff vom »Dichter als Führer« etwa, oder auf den von der »Souveränität des Künstlers« –, und wieder wird Goethes Verhältnis zu Herzog Carl August in den Fokus rücken. Bei Max Kommerell wird dieses Verhältnis nur ein einziges Mal als ein solches zwischen einem »Fürsten und

42 In diesem Sinn versteht Kilchmann den Schluss des Wintermärchens: Hier werde Literatur als »eigener Raum ultimativer Rechtssetzung« inszeniert; vgl. Kilchmann: Schreiben, S. 49. 43 Zu den Prinzipien der Pluralität und Publizität in der politischen Philosophie und philosophischen Publizistik der posthegelschen Epoche vgl. Miquel Abensour: Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellische Moment, Frankfurt a.M. 2012, besonders das 3. Kapitel »Von der Krise von 1843 zur Kritik der Politik«, S. 92-105.

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seinem Berater« gefasst,44 als ein Berater-Verhältnis, das Carl August nur »nach Vertrauen« eingeht, nicht nach »Anciennität« oder sonstigen formalisierbaren Vorgaben.45 Wie aber um den Ruch modernen Beratertums abzuschütteln, wird der Berater Goethe ansonsten stilisiert als »Seelenführer« und »Menschenbildner«. 46 Die notorische Heinesche Ironie zeigt sich im Wintermärchen vielleicht auch darin, dass hier all die Versatzstücke klassisch-goethezeitlicher Kunstreligion noch einmal in ihrer ganzen Attraktivität aufgeführt werden, diese aber letztlich nur als Erinnerungsreste – durchaus auch als noch der reflexiven Auflösung harrende Prätentionen des Dichters selbst – sich zu erkennen geben. 47 Der Dichterfürst ist längst zum Berater unter Beratern geworden.

L ITERATUR Abensour, Miquel: Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellische Moment, Frankfurt a.M. 2012. Allgemeine Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 1 (1875). Böhm, Alexandra: »Groteske Transgressionen im Medium der Verserzählung am Ende der Romantik: Byron Heine, Puschkin«, in: Bernd Füllner/Karin Füllner (Hg.): Von Sommerträumen und Wintermärchen. Versepen im Vormärz, Bielefeld 2007, S. 129-159. Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3, Leipzig 1839. Büsch, Otto (Hg.): Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. II, Berlin/New York 1992. Enzensberger, Ulrich: Herwegh. Ein Heldenleben, Frankfurt a.M. 1999.

44 Max Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik: Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin (1928), 3. Auflage, Frankfurt a.M. 1982, S. 163. 45 Kommerell: Dichter, S. 156. 46 Ebd., S. 150f. 47 Man kann, über Heine hinaus, die Konjunktur der Gattung Versepos im Vormärz überhaupt als Ausdruck jener Janusgesichtigkeit auszeichnen, die ich hier am Wintermärchen diagnostiziere; vgl. dazu Alexandra Böhm: »Groteske Transgressionen im Medium der Verserzählung am Ende der Romantik: Byron Heine, Puschkin«, in: Bernd Füllner/Karin Füllner (Hg.): Von Sommerträumen und Wintermärchen. Versepen im Vormärz, Bielefeld 2007, S. 129-159; was oben genereller über die »Goethezeit« gesagt wird, bezieht Böhm spezieller auf die Romantik, die bei Heine »zwar [...] aufgerufen, zugleich aber auch verabschiedet« werde (S. 159).

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Grab, Walter: Dr. Wilhelm Schulz aus Darmstadt. Weggefährte von Georg Büchner und Inspirator von Karl Marx, Frankfurt a.M./Olten/Wien 1987. Grünthal, Günther: »Bemerkungen zur Kamarilla Friedrich Wilhelms IV. im nachmärzlichen Preußen«, in: Otto Büsch (Hg.): Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Beiträge eines Colloquiums, Berlin 1987, S. 39-47. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821), mit Hegels eigenhändigen Randbemerkungen in seinem Handexemplar der Rechtsphilosophie, in der Textedition von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1995. Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, hg. von Klaus Briegleb, München/Wien 1976. Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermährchen. Geschrieben im Januar 1844. Mit Kommentaren von Winfried Woesler und Thomas Vormbaum und 11 Collagen von Ruth Tesmar, Berlin 2006. Herwegh, Georg: Gedichte eines Lebendigen. Mit einer Dedikation an den Verstorbenen, Zürich/Winterthur 1841. Herwegh, Georg, »Dichter und Staat«, in: Ders.: Gedichte und kritische Aufsätze aus den Jahren 1839 und 1840, Belle Vue, bei Constanz, 1845, S. 34-38. Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Zeit – Person – Werk, 3. überarb. u. erw. Auflage, Stuttgart/Weimar 2004. Horstmann-Nash, Ursula: »Politik der Metapher: Kontingenz und Solidarität«, in: Heine-Jahrbuch 1994, 33. Jahrgang, S. 23-35. Jacoby, Johann: Vier Fragen beantwortet von einem Ostpreußen, Mannheim 1841. Jacoby, Johann: »Urteil des Oberappelationssenats, in der wider den Dr. Johann Jacoby geführten Untersuchung wegen Hochverrats, Majestätsbeleidigung und frechen unehrerbietigen Tadels der Landesgesetze, mitgeteilt von Dr. Johann Jacoby«, in: Arnold Ruge/Karl Marx (Hg.): Deutsch-Französische Jahrbücher, 1ste und 2te Lieferung, Paris 1844, S. 45-70 (Reprint Leipzig 1973, S. 133161). Kantorowicz, Ernst H.: »Die Souveränität des Künstlers. Einige Anmerkungen zu Rechtsgrundsätzen und Kunsttheorien der Renaissance«, in: Ders.: Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums, hg. v. Eckhart Grünewald und Ulrich Raulff, Stuttgart 1998, S. 329-348. Kaufmann, Hans: Politisches Gedicht und klassische Dichtung, Berlin 1959. Kilchmann, Esther: »Schreiben am Ende der Literatur. Heinrich Heines und Georg Herweghs Auseinandersetzungen mit den Paradigmen der Literaturgeschichte«, in: Zeitschrift für Germanistik 1 (2007), S. 38-49. Kommerell, Max: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik: Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin (1928), 3. Auflage, Frankfurt a.M. 1982. Koselleck, Reinhart: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1987.

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Ludwig Bechsteins Ratgebermärchenkette Zum Verhältnis von Erzählen und Rat W IM P EETERS

1.

Rat erzählen

Manchmal scheint es ratsam zu sein, einen Rat nicht direkt, sondern in Form einer Erzählung weiterzugeben. Das hat den großen Vorteil, dass der Ratgeber1 nicht die Position eines Experten oder Wissenden einnehmen muss, der die Problemdarstellung des Ratsuchenden direkt kommentiert. Vielmehr bringt der Ratgeber dadurch, dass er mit einer Erzählung auf die Darlegung der Ratbedürftigkeit reagiert, den Ratsuchenden selbst in die Position eines Interpreten. Ratsuchender und Ratgeber bewegen sich in ihrer Tätigkeit folglich vorübergehend auf einer Ebene: Beide erzählen und deuten. Die Erzählung ist dann, als Reaktion auf die Bitte um Rat, ein Ersatz für den Sprechakt des Ratgebens bzw. zumindest dessen Ergänzung. Für Walter Benjamin, der sich in seinem Essay Der Erzähler zu dieser Problematik geäußert hat, wäre diese Darstellung zu sehr vereinfachend: Man müsste sich fragen, ob Rat geben ohne Erzählen überhaupt denkbar sei. Rat geben und die Praxis des Erzählens sind für ihn immer eng miteinander verbunden. In seiner Schrift macht er den überraschenden Vorschlag, Rat weniger als »Antwort auf eine Frage« aufzufassen, sondern eher als »Vorschlag« für die »Fortsetzung einer (eben sich abrollenden) Geschichte«. 2 Rat könne man nur dann einholen, wenn man einerseits »seine Lage zu Wort kommen lässt«, also eine Herkunftsgeschichte des Problems erzählerisch darlegen kann, andererseits das Lösungsangebot des Ratgebers als Fortsetzung der eigenen Geschichte »zuvörderst einmal erzählen«3 könne. Rat

1

Ich verwende die Begriffe »Ratgeber« und »Ratsuchender« geschlechtsneutral. Aus-

2

Walter Benjamin: »Der Erzähler« (1936/37), in: Ders.: Illuminationen, Frankfurt a.M.

3

Ebd.

schließlich aus Gründen der Lesbarkeit des Textes bevorzuge ich die männliche Form. 1977, S. 388.

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kommt also immer als Erzählung an. Die Erzählung funktioniert hier als zuverlässiges Übersetzungsmedium. Im Idealfall ist der Ratgeber auch ein Erzähler: Der Erzähler ist »immer auch einer, der Rat weiß. Und um den zu bekommen, muß man selber ihm erzählen.«4 Woher soll der Ratsuchende wissen, wie man einen Rat erzählerisch mit der eigenen Geschichte verbindet? Rat geben muss nach Auffassung Benjamins immer im Kontext von exemplarischen Erzählungen gesehen werden. Benjamin hatte noch die mündliche Erzähltradition vor Augen. Aus seiner Sicht wurde Erfahrung in der Vormoderne maßgeblich in Form mündlicher Erzählungen weitergegeben, und diese Erzählungen waren jederzeit als Gemeinplatz zur Unterstützung eines Rates abrufbar. Nach diesem Muster konnte der Ratsuchende dann auch bei der eigenen Geschichte verfahren. Moderne Subjekte haben es nach Benjamin jedoch verlernt, ihren Sorgen eine Erzählform zu geben, was aber Voraussetzung für ihre Beratungsfähigkeit wäre. Die massenmedial gesättigte Informationsgesellschaft habe unseren Erfahrungshorizont allzu sehr mit zerstückelten und zerstreuten Einzelinformationen überfrachtet. Da das Subjekt kein Erzählbeispiel in seinem Umfeld mehr vorfinde, das ihm demonstriere, wie er seine Erfahrung in eine Geschichte fassen und sie dadurch mit einem Rat kompatibel machen kann, komme er aus dem Jammertal nicht heraus. Einsetzende Ratlosigkeit eben auch auf der Ebene des Erzählens sei die Folge. 5 Anknüpfend an Hegel und Lukács situiert Benjamin hier die Geburtsstunde des Romans: »Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann. Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze treiben. Mitten in der Fülle des Lebens und durch die Darstellung dieser Fülle bekundet der Roman die tiefe Ratlosigkeit des Lebenden.«6

Benjamins Verlustrechnung, »daß die Mitteilbarkeit von Erfahrung« abnehme und »die Erzählung allmählich aus dem Bereich der lebendigen Rede entrückt«7 sei,

4

Walter Benjamin: »Das Taschentuch« (1932), in: Ders.: Kleine Prosa. BaudelaireÜbertragungen. Gesammelte Schriften, Bd. IV.2, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt a.M. 1991, S. 741.

5

Benjamin: Erzähler, S. 389. Vgl. Rudolf Helmstetter: »Guter Rat ist (un)modern – Die Ratlosigkeit der Moderne und ihre Ratgeber«, in: Gerhart von Graevenitz (Hg.): Konzepte der Moderne (DFG-Symposion 1997), Stuttgart 1999, S. 147 und 171.

6

Ebd., S. 388.

7

Ebd.

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muss wohl relativiert werden. Kleinformatige Erzählungen können nicht eindeutig einer oralen und dadurch besonders ›authentischen‹ Überlieferungstradition zugerechnet werden. Man muss sich die Überlieferung und Rezeption dieser Erzählungen »als komplexen, multimedialen Vorgang« vorstellen, »durch den sich gerade der außerordentlich dauerhafte Erfolg vieler Stoffe erklärt«.8 Darüber hinaus übersieht Benjamin, dass sich etwas verspätet neben dem Roman das Medium Ratgeberliteratur entwickelt hat, das zur Vermittlung seiner Botschaften auf Beispielserzählungen setzt. Das ist erstaunlich, da er selbst einen Ratgeber rezensiert hat: In seiner Rezension des Kräuterbuchs Chrut und Uchrut (1930) würdigt er sogar die Schilderung der Erfahrungen eines Bauern mit Verstopfung, die der Autor Pfarrer Johann Künzle »mit wahrhaft Hebelscher Weltbürgerlichkeit« heranziehe. 9 Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts bildet die Ratgeberliteratur ein reiches Archiv von mit Rat einhergehenden Beispielerzählungen. Für den Literaturwissenschaftler Michael Schikowski sind sowohl Romane als auch Ratgeber »Medien der Sozialisation und waren dies vermutlich in größerer Zahl und in der längsten Zeit ihres Bestehens«. 10 Zumindest könne man in Romanen des 19. Jahrhunderts (Balzac, Dickens, Fontane etc.) zum Beispiel Rat in Sachen Mode, Benehmen und Konversation finden. »Erst mit der professionalisierten Literaturwissenschaft werden ›Kunst und Leben‹ getrennt und Romane zu eigentümlichen Artefakten fern der Verwertung im Sinne der Alltagspragmatik.« 11 Wenn Benjamin in seinen systematischen Äußerungen die Entwicklungen in der Ratgeberliteratur übersieht, ist er wohl Opfer seiner Zunft. Ob der Roman des 20. Jahrhunderts noch länger Lebenshilfe bietet oder nicht, sei dahingestellt; unstrittig ist der Stellenwert von Narrationen in der Ratgeberliteratur. Die unterschiedlichen Beispielerzählungen sind »normative Wirklichkeitserzählungen«: Es wird ein (un)erwünschter »Zu-

8

Thomas Frank: »Schwank, Exempel, Märchen«, in: Thomas Frank/Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/Ethel Matala de Mazza (Hg.) – unter Mitwirkung von Andreas Kraß: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren, Frankfurt a.M. 2002, S. 109.

9

Walter Benjamin: »Wie erklären sich große Bucherfolge? ›Chrut und Uchrut‹ – ein schweizerisches Kräuterbuch« (1931), in: Ders.: Kritiken und Rezensionen. Gesammelte Schriften, Bd. III, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a.M. 1972, S. 296.

10 Michael Schikowski: »Burn after reading. Der Ratgeber und seine Beziehung zum Komischen«, in: Non-Fiktion. Das Arsenal der anderen Gattungen 1/2 (2012): Ratgeber, hg. von David Oels und Michael Schikowski, S. 117. 11 Ebd.

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stand von Wirklichkeit geschildert mit dem Ziel, eine gewisse Praxis zu regulieren«12. 2.

Glaubhafte Überlieferung

Rat bleibt in der Moderne also erzählbar. Es sind aber keine Erzählungen, die Benjamin als »weise« bezeichnen würde, da sie der Nachprüfbarkeit oder Erklärung bestimmter Zusammenhänge dienen und nicht von Dauer sind.13 Die Kunst des Erzählens bestehe nämlich darin, Erfahrung frei von Erklärungen und jeglichem Plausibilitätskalkül zu halten. Die Muße, einem Erzähler zu lauschen, der als Alteingesessener oder Weitgereister Weisheit überliefert, sei in der kurzlebigen Gesellschaft nicht länger vorhanden, und damit sterbe »die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit,«14 aus. Dieser Verlustrechnung wird von Michel de Certeau in seiner Kunst des Handelns, die auch das Erzählen umfasst, teilweise widersprochen. Zwar ist er mit Benjamin einer Meinung, dass die Moderne geschwätzig sei (»Überall gibt es nur noch Neuigkeiten, Informationen, Statistiken und Umfragen.«15); folgt man Certeau, hat sich die Praxis des Erzählens jedoch taktisch auf die neue Situation eingestellt. Die Erzähltaktik der Moderne bestehe darin, Narrative mit »Fakten, Begebenheiten und Ereignissen« (C 328) zu verbinden, die es ermöglichen »trotzdem« glaubhaft zu wirken. Die Herstellung dieses angeblich evidenten »erzählten Reale[n]« funktioniert nur noch über den Umweg einer Überlieferung »im Namen von Anderen« (C 332), die sich selbst wiederum auf Dritte beziehen etc. Paradoxerweise funktioniert das Erzählsystem der Hochmoderne nach Certeau im Grunde, »ohne irgendeinen glaubwürdigen Gegenstand zu liefern«. (C 331) Wie das Urmedium der Beratung, das »Orakel von Delphi« (C 328f.), haben die medial kolportierten Geschichten die Macht, unser Handeln bis hin zu unseren Traumerlebnissen vorherzubestimmen: »Das gesellschaftliche Leben übernimmt die Gebärden und Verhaltensweisen, die von den narrativen Modellen geprägt worden sind; es reproduziert und akkumuliert unablässig die ›Kopien‹ von Berichten. Unsere Gesellschaft ist in dreifachem Sinne zu einer rezitierten Gesellschaft geworden: sie wird gleichzeitig durch Berichte (récits) (die Fabeln unserer Wer-

12 Christian Klein: »Von rechter Sittlichkeit und richtigem Betragen. Erzählen im moralisch-ethischen Diskurs«, in: Christian Klein/Matías Martínez (Hg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart 2009, S. 6. 13 Vgl. Benjamin: Erzähler, S. 390 und 397. 14 Ebd., S. 388. 15 Michel de Certeau: Kunst des Handelns, aus dem Franz. von Ronald Voullié, Berlin 1988, S. 327. Künftig zitiert im Text mit dem Sigle C.

LUDW IG B ECHSTEINS RATGEBERMÄRCHENKETTE

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bung und unserer Informationsmedien), durch deren Zitierung und durch deren unendliche Rezitierung definiert.« (C 329)

Im Sinne von Certeau müsste man auch die Ratgeberliteratur zu den wichtigen institutionalisierten Produzenten dieser modernen »Legenden (Legenda, was man lesen und sagen muß)« (ebd.) rechnen. 3.

Ratgebermärchen erzählen

Das Märchen hat diese historische Veränderung, da sind sich Benjamin und Certeau einig, überlebt. Diese Erzählgattung sei – in den Worten Benjamins – immer noch der »erste Ratgeber der Kinder«16 »Das Märchen gibt uns Kunde von den frühesten Veranstaltungen, die die Menschheit getroffen hat, um den Alp, den der Mythos auf ihre Brust gelegt hatte, abzuschütteln. [...] Das Ratsamste, so hat das Märchen vor Zeiten die Menschheit gelehrt, und so lehrt es noch heute die Kinder, ist, den Gewalten der mythischen Welt mit List und mit Übermut zu begegnen.« 17

Mit seinem »befreiende[n] Zauber« löse das Märchen den jungen Menschen vom Fatum und wirke aus diesem Grund als Komplize des »befreiten Menschen«, der erst dadurch Glück empfinden könne. Auch für Certeau lebt diese Kraft der Gattung Märchen in jeglichem Erzählen fort. Im isolierten Raum, frei von »alltäglichen Auseinandersetzungen« (C 66)18, überliefern diese ursprünglichen Erzählungen ein Repertoire von »an die Gelegenheit gebundene(n) Handlungsweisen«, bzw. das Grundmuster für »gute oder miese Tricks« (C 67), die absolut alltagstauglich sind. Sie enthalten taktische Handlungsanweisungen für »Simulation/Dissimulation« (C 68), insofern auch für die Manipulation durch Sprache. Im Sinne Benjamins können sowohl Ratgeber als auch Ratsuchender auf die Märchen- bzw. Tierfabelwelt als »episches Gedächtnis«19 zurückgreifen. 4.

Ad infinitum

In Ludwig Bechsteins Neues Deutsches Märchenbuch von 185620 findet sich eine Reihe von Märchen, die als Extremfall vorführen, wie Beratung auf Erzählen setzen

16 Benjamin: Erzähler, S. 403. 17 Ebd., S. 403f. 18 Der Autor baut hier auf Propp auf. 19 Benjamin: Erzähler, S. 399. 20 Ludwig Bechstein: »Neues Deutsches Märchenbuch« (1856), in: Ders.: Sämtliche Märchen, Bd. 2, hg. von Walter Scherf, München 1988, S. 651-676. Im Text mit dem Sigle B.

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kann. Die unterschiedlichen Märchen sind von einem Zerwürfnis zwischen dem Volk der Raben und dem Volk der Adler gerahmt, das sich zuspitzt, nachdem die Raben von letzteren überfallen werden. Im titelgebenden ersten Märchen Die Adler und die Raben bekräftigt ein Ratgeber des Königs, seinen Rat mit einer Erzählung. In dieser Binnenerzählung wiederholt sich diese Beratungsszene, und diese zweite Erzählung von Rat geht sogar mit zwei Beispielerzählungen einher. Das Muster Rat + Beispielerzählung wiederholt sich noch viermal. Hier antwortet nicht nur eine Erzählung auf eine Erzählung, sondern es antwortet in der Märchenkette eine Erzählung vom Rat auf eine Erzählung vom Rat. Diese Beratungspraxis wird letztendlich zum Untergang des Volkes der Adler führen. Bei dieser episodenhaften Reihung von in Märchen und Fabeln gerahmten Beispielerzählungen handelt es sich nicht um einen literarischen Einzelfall: Bechstein benutzte als Vorlage die erste deutsche Übersetzung der Pañcatantra: Das Buch der alten Weisen (fünfft capittel von der schar der rappen unnd der schar der ären) aus 1592.21 Die »Märchenkette«22 liest sich auf einer ersten Ebene als in literarischer Form ausgeschmückter Fürstenspiegel voller Ratgeberepisoden. Hier drängt sich der Vergleich mit Georg Rollenhagens Tierfabelepos FroschMeuseler23 aus 1595 auf. Das ausufernde Versepos geht auf die pseudo-homerische Batrachomyomachia (Froschmäusekrieg) zurück. Ähnlich wie bei Bechsteins Märchen kommt es in Rollenhagens didaktischer Sitten- bzw. Staatslehre zu einer kriegerischen Auseinandersetzung, diesmal zwischen dem Volk der Mäuse und dem Volk der Frösche, die zunächst zu Gunsten der Mäuse ausgeht. Sowohl der FroschMeuseler24 als auch Bechsteins Märchensammlung wurden im 19. Jahrhundert in überarbeiteter Form vom protestantischen Bürgertum gerne als Kinderbuch zur Vermittlung von Biedermeieridealen eingesetzt. Bechsteins Märchen waren im 19.

21 Ein photomechanischer Nachdruck der Ausgabe von Wilhelm Ludwig Holland (1860, Band 65 der Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart) erschien 1969 bei Rodopi in Amsterdam. Vgl. Walter Scherf: »Anmerkungen«, in: Ludwig Bechstein: Sämtliche Märchen, Bd. 2, hg. von Walter Scherf, München 1988, S. 831 und 884. Vgl. auch: Klaus Schmidt: Untersuchungen zu den Märchensammlungen von Ludwig Bechstein (1935), Hildesheim/Zürich/New York 1984, S. 143f. 22 Ebd., S. 831. 23 Georg Rollenhagen: Frosch-Meuseler (1595), Bibliothek der frühen Neuzeit, Bd. 12, hg. von Dietmar Peil, Frankfurt a.M. 1989. Die Ratgebererzählungen sind hier verstreut in einer ausgedehnten Sammlung von Nebenhandlungen, Abhandlungen und anderen Textsorten eingebettet. 24 Otto Brunken: Georg Rollenhagens Froschmeuseler, ein späthumanistisches didaktisches Tierepos für die Jugend des gebildeten »Mittelstands«, in: Die Schiefertafel. Zeitschrift für historische Kinderbuchforschung 2 (1989), S. 46.

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Jahrhundert besonders populär und erzielten höhere Auflagen als die Sammlung der Gebrüder Grimm. 25 5.

Die Adler und die Raben

Bechsteins Ratgebermärchenkette setzt in der ersten Erzählung Die Adler und die Raben (B 651-656) mit einem Beratungsfall ein. Gestellt wird die Frage, wie das Volk der Raben reagieren soll, nachdem es ohne vorherige Kriegserklärung heimtückisch in der Nacht vom Vogelgeschlecht der Adler aus dem Nachbarwald überfallen wurde. Bei diesem offensichtlich völkerrechtswidrigen Angriff stellt sich die Frage nach möglichen Vergeltungsmaßnahmen als besondere strategische Herausforderung heraus. Aufgrund der kräftemäßig eindeutigen Überlegenheit der Adler haben die Raben kaum noch strategischen Spielraum, um die Verhältnisse zu verkehren. Ihnen droht der Verlust ihrer Heimatbasis. Für Certeau setzt Strategie immer »einen Ort voraus, der als etwas Eigenes umschrieben werden kann und der somit als Basis für die Organisierung seiner Beziehungen zu einer bestimmten Außenwelt (Konkurrenten, Gegner, [...]) dienen kann«. (C 23) Der Rabenkönig muss nach dem Überfall die »Kräfteverhältnisse[]« neu klären, damit er als stellvertretend für sein Volk »mit Macht und Willenskraft ausgestattetes« Handlungssubjekt weiterhin »von einer ›Umgebung‹« unterschieden werden kann. (ebd.) Dazu ruft der König seine fünf Geheimräte zusammen, um in einer geheimen Sitzung einen Ausweg aus der schwierigen Lage zu suchen. Die erste dieser grauen Eminenzen rät dem König, der Übermacht aus zu weichen. Dabei beruft er sich auf die alten Weisen. Der zweite Rat ist der Meinung, man solle die Heimat nicht ohne Widerstand aufgeben. Wie frühneuzeitliche Fürstenlehren es vorsehen 26, äußert sich der König nicht und hört den nächsten Rat an. Der rät zu Verhandlungen und der Bereitschaft, eine Ablösesumme für den Frieden zu bezahlen. Der vierte Rat votiert dagegen: »Die alten Weisen sagten: Wer sich seinem Feinde unterwürfig macht, der hilft ihm wider sich selbst.« (B 664) Er ist dafür, sich im Exil Verbündete für einen Krieg zu suchen. Der fünfte Rat rät alternativ dazu, »mit sanfter Gewalt durch List und Verstand« (ebd.) Krieg und Unterwerfung zu vermeiden. Auf Nachfrage des Königs rät er erstens dazu, zu warten, bis der Schreck des Überfalls etwas abklinge, und zweitens, die Sache von der Ursache des Überfalles her zu denken. Dabei stellt er unter Beweis, dass Raben gute Redner sind. »Lasset uns unser aller Rat so lange prüfen und weislich durchdenken, bis wir das finden, was das gemeinsame Beste ist«, so emp-

25 Walter Scherf: »Nachwort«, in: Ebd., S. 779. 26 Vgl. z. B. Francis Bacon: »Über das Beraten« (1625), in: Ders.: Essays oder praktische und moralische Ratschläge, hg. von Levin L. Schücking und übers. von Elisabeth Schücking, Stuttgart 1970, S. 74.

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fiehlt er. Die Ursache, die er ergründet zu haben behauptet, will er dem König jedoch nur unter vier Augen preisgeben. Mit diesem Kunstgriff zwingt er den König, seine erste Entscheidung, kollektiv zu beratschlagen, zu revidieren. Bereits bei Francis Bacon kann man lesen, dass es »von besonderem Wert für Fürsten« sei, »die Meinungen seiner Räte sowohl getrennt als in der Versammlung entgegenzunehmen. Denn unter vier Augen sind ihre Äußerungen freimütiger, aber vor andern rücksichtsvoller.«27 »Gesetzt die Zahl der Berater sei gleich«, so ist nach Thomas Hobbes die Einzelberatung eindeutig die bessere Wahl. Abgesehen von der Möglichkeit unter vier Augen gezielter nachfragen zu können, laufen die Geheimräte in der Versammlung Gefahr, bei der Meinungsbildung nicht ihre eigene Position zu vertreten, sondern vom Widerspruch bzw. von der Beredsamkeit anderer Ratgeber oder den Mehrheitsverhältnissen in der Versammlung fremdgesteuert zu werden. Darüber hinaus können sie von einem dem öffentlichen Interesse entgegenstehenden Einzelinteresse oder durch den Profilierungsdrang einzelner Räte gezielt getäuscht werden.28 6.

Vom Hasen und dem Elefantenkönige

In der Einzelkonstellation wird der fünfte Geheimrat später seinen eigentlichen Rat offenbaren. Zunächst aber erzählt er im Märchen Vom Hasen und dem Elefantenkönige (B 656-660), wie es zum Übergriff der Adler gekommen ist. Vor Jahren sollte bei einer Versammlung der neue König aller Vögel gekürt werden. Zunächst favorisierten die meisten Stimmen den Adler. Der abgeordnete Rabe, der zu spät kommt, votiert, nachdem er um seinen Rat gebeten wurde, dagegen. Hier hat Bechstein die eher lapidare Vorlage stark dramatisch ausgebaut.29 Beim Rat des Raben handelt es sich um eine Warnung im Sinne von Thomas Hobbes: um einen »äußerst dringende[n] Rat«, der die Vögel von Ihrer Wahl abbringen soll. Das gelingt dem Raben auch mit Hilfe von zwei Erzählungen, die seine Worte untermauern. Bei dieser Vorgehensweise setzt man nach Hobbes zur Bekräftigung der Alternativlosigkeit und Ehrenhaftigkeit der eigenen Position explizit auf »Gleichnisse, Metaphern« und »Beispiele«, um bei der »Darlegung der Gründe die üblichen menschlichen Leidenschaften und Meinungen« besser berücksichtigen zu können.30 Das Aktivieren des beratenden Potenzials von Erzählungen ist der

27 Bacon: Über das Beraten, S. 72. 28 Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates (1651), hg. von Iring Fetscher und übers. von Walter Euchner, Frankfurt a.M. 1984, S. 200f. 29 Walter Scherf: »Anmerkungen«, in: Ludwig Bechstein: Sämtliche Märchen, Bd. 2, hg. von Walter Scherf, München 1988, S. 884. 30 Hobbes, Leviathan, S. 197.

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Versuch, »aus den Kräften Nutzen [zu] ziehen«, die einem eigentlich »fremd sind«. (vgl. C 23) Dieses Vorgehen situiert sich nach Certeau auf der Ebene des Taktischen. Die Taktik hat im Gegensatz zur Strategie nach Certeau »nur den Ort des Anderen. Sie dringt teilweise in ihn ein, ohne ihn vollständig erfassen zu können und ohne ihn auf Distanz halten zu können.« (Ebd.) Taktik steht immer im Verhältnis zur Strategie. Mit der List der Erzählung kann man versuchen, taktisch einen strategischen Mangel an institutionell verbürgten objektiven Kalkulationsmöglichkeiten zu kompensieren. Dass die warnenden Worte des Raben dennoch Unheil über das Rabenvolk bringen werden, liegt, folgt man Hobbes weiter, in der Natur der Warnung: Wenn man, gebeten um Rat, warne, sei man ein »unlautere[r] Ratgeber«, da man sich verhalte, als wäre man vom »eigenen Interesse bestochen. Denn mag der erteilte Rat noch so gut gemeint sein, so ist der Erteilende doch ebenso wenig ein guter Ratgeber wie der ein gerechter Richter, der gegen Belohnung ein gerechtes Urteil fällt.« 31 Nach Hobbes handelt es sich also um eine Ratgeberpflichtverletzung durch den Raben, da er bei seinem Ratschlag wohl nicht ausschließlich auf den Vorteil des Ratsuchenden, sondern auch auf das eigene Wohl bedacht ist. Bevor der Rabe die erste Geschichte Vom Hasen und dem Elefantenkönige erzählt, beteuert der Vogel, dass das Beispiel des Königs der Hasen in der Geschichte zeige, dass »edle Einfalt der Gemütsart« besser sei als die heimtückische und grausame »allesüberlistende Klugheit« der Adler. Ein König mit etwas schlichterem Verstand sei besser, vorausgesetzt er wisse sich von weisen Ratgebern umringt. Hobbes Vorläufer, Niccolò Machiavelli, ist grundsätzlich anderer Auffassung: »Es ist nämlich eine allgemeine Regel, die nie fehlgeht, dass ein Fürst, der nicht selber klug ist, auch nicht gut beraten werden kann [...].«32 Er würde die unterschiedlichen Ratschläge nicht richtig abwägen können. Der Rabe hat dieses Problem in seiner Erzählung schlau umgangen. Machiavelli macht nämlich eine Ausnahme, wenn der Fürst »sich ganz auf die Führung eines einzigen besonders klugen Mannes« verlasse. Diese Bedingung ist in der Erzählung erfüllt, und das Risiko, das Machiavelli sieht – nämlich dass dieser Rat dem Machthaber »nach kurzer Zeit die Herrschaft entreiß[t]« –, spielt im Märchen keine Rolle. In der besagten ersten Erzählung des Raben fliehen die Elefanten vor einer Trockenheit auf das Territorium der Hasen, das sie durch ihre Körpermasse zu zerstören drohen. Nachdem der König der Hasen erkennt, dass ihm die Weisheit fehle, dieses Problem zu lösen, gibt er einem alten Hasen die Vollmacht, im Alleingang als Botschafter mit den Elefanten zu verhandeln. Mit einer List kann dieser den Ele-

31 Ebd., S. 198. 32 Niccolò Machiavelli: Il Principe. Der Fürst (1532), Italienisch/Deutsch, übers. und hg. von Philipp Rippel, Stuttgart 1986, S. 187.

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fantenkönig glauben machen, das übermächtige Rüsseltier habe den Mond, dessen Brunnenheiligtum sich auf dem Territorium der Hasen befindet, erzürnt. Als Beweis soll der Elefant aus dem Mondbrunnen trinken und dabei feststellen, wie sich das sich auf der Oberfläche des Wassers spiegelnde Bild des Gottes voller Zorn verziehe. Das Tier erschreckt bei dem Versuch und zieht besorgt mit den seinen möglichst weit weg. Diese Erzählung soll belegen, dass es besser ist, »einen verständigen König« zu wählen, »der, wie jener König der Hasen, auf verständigen Rat achtet, und nicht stets selbstherrisch immer oben hinaus will, wie der Adler, und auf der Irrigkeit eines starken Kopfes beharrt, oder der auch, weil Weisheit ihm mangelt, wie dem Elefantenkönige, leicht zu überlisten ist«. (B 660) 7.

Von einem Hasen und einem Vogel

Das zweite Märchen, das die Vögel davon abhalten soll, einen Adler zum König zu nehmen, warnt davor, einen fremden Gebieter über sich richten zu lassen. In der Erzählung Von einem Hasen und einem Vogel (B 660-664) haben sowohl ein Hase als auch ein mit dem Raben befreundeter Vogel einen berechtigten Anspruch auf ein Felsloch als Wohnstätte. Ein Unparteiischer soll schlichten. Der Vogel kennt vom Hörensagen »einen frommen, redlichen Alten«, der Recht sprechen soll. Es handele sich um einen Maushund, der angeblich seiner Katzennatur entsagt habe und zum Einsiedler geworden sei. Nach anfänglichem Misstrauen kann der Vogel seinen Kontrahenten überzeugen, die Schlichtungsmöglichkeit wahrzunehmen. Der Rabe, der dem Duo von ferne gefolgt ist, kann später bezeugen, wie beide kurz nachdem der Maushund sie eingeladen hat, sich erst einmal auszuruhen, von diesem verspeist werden. Daraufhin bezieht das Raubtier das umstrittene Wohnobjekt, das bequemer ist als seine eigene Unterkunft. Nachdem der Rabe am Ende der Erzählung seine Warnung noch einmal erneuert, ergreift der König der Adler das Wort und stellt ebenso wortgewandt wie der Rabe fest, dass »das Feuer der Feindschaft, in das die Zunge Öl gießt, [...] sonder Ende« brenne. Daraufhin verflucht er das ganze Geschlecht der Raben bis zum bitteren Ende. Mit diesem Machtwort macht der Adler klar, was warnende Worte ohne Befehlsgewalt wert sind. Das Märchen führt im Sinne Hobbes vor, dass es nur demjenigen, der »rechtmäßig befehlen darf« zusteht, zu warnen, da es sich bei einer Warnung im Grunde genommen lediglich um eine mildere Form des Befehls handele.33 Setzt man im Sinne von Certeau auf Taktik ohne wirkliche Schwäche oder Not, kann sich dieses listige Kalkül auch gegen einen selbst kehren. Dann ist sie fehl am Platz. Da der Rabe kein legitimer Berater des Volkes der Vögel ist, stellt sich die

33 Hobbes: Leviathan, S. 198.

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Frage nach seiner Beratungsstrategie oder -taktik eigentlich nicht. Durch seinen rhetorischen Geltungsdrang führt er einen »Zerfall von Ortsbeständigkeit« (C 24) der Raben in der Gesellschaft aller Vögel herbei; sie werden zu Außenseitern. Das sieht der Rabe auch ein: Die anderen Vögel »haben nicht Neigung gehabt, ihre Zungen zu verbrennen, wie ich getan, ich alter Narr und alberner Schwätzer. Jene gedachten der Zukunft, ich hatte nur die Gegenwart im Auge.« (B 664) Da Taktik nicht ortsbeständig ist, ist sie darauf angewiesen, mit der Gunst der Stunde zu rechnen. Dazu ist das Volk der Raben nach dieser Urkatastrophe verurteilt. 8.

Vom einem Einsiedel und drei Gaunern und Der listige Rabe

Nachdem die Ursache des Hasses wieder ins Gedächtnis gerufen ist, fragt der König den Rat seines Vertrauens, was zu tun übrig bleibe. Daraufhin offenbart dieser dem König seinen eigentlichen geheimen Rat: Die Übermacht und Klugheit der Adler könne überlistet werden, auch wenn das auf den ersten Blick unwahrscheinlich erscheine. Um diesen nicht unbedingt nachvollziehbaren Rat zu bekräftigen, erzählt der Rabe vorab die Geschichte Von einem Einsiedel und drei Gaunern (B 665-666). Die Strategie erscheint so unkalkulierbar, dass eine Erzählung Not tut, in der es um taktische Vernunft geht, die eine unwahrscheinliche Situation hervorrufen kann. Das Gaunerstück34 handelt davon, dass man jeden glauben machen kann, was offensichtlich nicht der Fall ist. Die Gauner haben es auf die frisch erworbene Ziege eines Einsiedlers abgesehen. Indem sie angeblich völlig unabhängig voneinander das Tier als Hund identifizieren, können sie den Mann davon überzeugen, dass er betrogen worden ist und eigentlich einen Hund gekauft hat. Der Einsiedler verstößt das Tier, das beim Beten nur stören würde, wodurch die Betrüger einen leckeren Braten erhalten. Der geheime Plan des Raben besteht zunächst schlicht und ergreifend darin, dass der Rabenkönig ihn dem Anschein nach als schlechten und bösen Rat im Zorn verbannen und sein Volk aus der Reichweite der Adler in Sicherheit bringen soll. Danach soll er sich gedulden, bis der Rabe sich wieder meldet. Im nächsten Abschnitt des Märchenbuches, Der listige Rabe (B 666-668), wird der Rabe halbtot von den Adlern vorgefunden. Er wird vom Adlerkönig als »Abkömmling jenes elenden Schwätzers, der meinen Ahnherrn um die allgemeine Reichskrone des gesamten Geflügels brachte« (B 667) identifiziert. Auf die Frage, was ihm passiert sei, berichtet der Rabe von der Ratsversammlung der Raben nach dem Angriff des Erzfeindes. Er habe die Position vertreten, kein Blut vergießen zu

34 Die Gattungsunterscheidungen sind bei Bechstein eher unscharf: Sowohl Gaunerstück als auch Tierfabel fasst er unter den Oberbegriff Märchen. Für die schwierige Abgrenzung dieser kleinepischen Formen, vgl. Frank: Schwank, Exempel, Märchen, S. 104 und 108f.

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wollen und den Adlern ein jährliches Schutzgeld zu zahlen. Daraufhin sei er verstoßen worden. Als der König der Adler diese Geschichte seinen Ratgebern zur Beurteilung vorlegt, sind sie sich uneinig. Der Premier vertritt die Position, dass man sich des »listigsten und verschlagensten« (B 668) Exemplars des Rabengeschlechts unbedingt entledigen solle. Die zentrale Frage ist, in den Worten von Hobbes, inwiefern die »Leidenschaft« des Raben für oder gegen die Adler ihn »verdächtig und [...] unaufrichtig« macht. Als »erste Voraussetzung für einen guten Berater« stellt der Philosoph die Maxime auf, »dass seine Ziele und Interessen mit den Zielen und Interessen dessen, den er berät, nicht unvereinbar sein dürfen«.35 Der zweite Rat hält es dennoch für möglich, dass aus dem entehrten Feind ein Freund wird. Auch der dritte Rat votiert mit dem Argument, dass man Nutzen aus dem Überläufer ziehen könne, gegen die Exekution. Dazu fällt diesem Rat eine Erzählung ein, die der König natürlich hören möchte. 9.

Der Dieb und der Teufel und Die verwandelte Maus

Im Märchen Der Dieb und der Teufel (B 669-671) erfährt ersterer, dass ein Einsiedler eine Kuh geschenkt bekommen hat. Als er sich auf dem Weg macht, das Tier an sich zu nehmen, bemerkt er, dass er nicht alleine unterwegs ist. Es stellt sich heraus, dass der Teufel den Einsiedler beseitigen will. Da der Dieb nicht möchte, dass bei dem frommen Mann übernachtende Pilger vom Werk des Teufels alarmiert werden, bittet er um den Vortritt. Der Teufel und der Dieb können sich nicht einigen, es kommt zu einem Handgemenge. Die Gäste des Einsiedlers erwachen, und beide werden vertrieben. Diese Geschichte soll belegen, dass die Zwietracht seiner Feinde einem weisen Mann Vorteile bringen könne. Die nun folgende Entscheidung des Königs, den Raben zu begnadigen, basiert aber ausdrücklich nicht auf dieser Erzählung, sondern auf »königlicher Großmut«, als wolle er »zeigen, dass er herrsche und dass seine Räte nicht Reichsregenten seien« (B 670). Als der Rabe dem König darauf die Treue verspricht und durch seine Kunstfertigkeit, »zu rechter Zeit zu reden und zu rechter Zeit zu schweigen« (B 671), alsbald in die Gunst des Hofes kommt, kann der erste Rat nicht länger schweigen und beteuert, dass ein Rabe immer ein Rabe bleiben wird, wie es im indischen Märchen Die verwandelte Maus (B 671-674) überliefert wurde. Die Adler begehren auch diese Geschichte zu hören. Diese letzte Binnenerzählung handelt von einem frommen Mann, der sich um eine verletze Maus kümmert, die einem Sperber entkommen konnte. Da er kein Aufsehen erregen möchte, bittet er Gott darum, die Maus in ein Mädchen zu verwandeln. Er wird erhört und pflegt das Mädchen, bis es ins heiratsfähige Alter

35 Hobbes: Leviathan, S. 199.

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kommt. Gefragt nach seinen Wünschen möchte sein verwöhntes Pflegekind den »höchsten Herrscher« (B 672) heiraten. Als ersten Kandidaten fragt der Pflegevater den »mächtigen Sol«, der ihn aber abwimmelt: Der Wolkenproduzent sei mächtiger. Der verweist seinerseits auf den Vater des Windes. Der meint aber, er komme gegen einen mächtigen Berg nicht an. Wie zu erwarten, zeigt der Berg auf jemanden, der – in seinen Worten – »mächtiger ist als ich, denn ich muss ihn dulden, ich mag nun wollen oder nicht wollen«. (B 673) Es handelt sich dabei um die Maus. Am Ende wird das Mädchen zurückverwandelt und heiratet das Mausemännlein. Nach kurzer erneuter Erwägung der Moral der Geschichte bleibt der König der Adler bei seiner Entscheidung. Zieht man wieder Hobbes heran, hätte der König sich komplett einer »Erregung seiner Leidenschaften« durch die Erzählungen seiner Räte entziehen sollen. Nach Hobbes laufen »vorschnelle und unklare Schlussfolgerungen, die nur Beispielen entnommen sind oder sich auf Bücher berufen und keine Beweise für Gut und Böse, sondern nur für eine Tatsache oder eine Meinung sind, [...] der Pflicht eines Beraters zuwider«. Das Denken in überlieferten Beispielen und diese Art »sich auszudrücken taugt nur dazu, den Beratenen zu täuschen oder ihn zu anderen Zielen als seinen eigenen zu führen«.36 Die Frage ist, ob dies auch insgesamt für Bechsteins Kette von Ratgebererzählungen gilt, die explizit das Verhältnis von Rat und Erzählung problematisieren? Die Märchen bei Bechstein setzen in mehreren Etappen und durchaus komplex die Klugheit und die Selbstreflexion des Herrschers in ein Verhältnis zu den Beispielerzählungen, mit denen er konfrontiert wird. Auf den ersten Blick scheint es so zu sein, dass diese spezifische Art der Überlieferung im Sinne der absolutistischen »literarischen Ratgeber ad usum delphini« die Illusion vermittelt, »für die Unbestechlichkeit einer Literatur zu werben, die den Stoff hat, aus dem die Machtmittel souveräner Fürsten sind«37 oder, in den Worten von Bacon, dass die Literatur »ohne Unschweife« redet, »wo Ratgeber Ausflüchte machen«.38 Im abschließenden Abschnitt von Bechsteins Märchenkette wird dies noch deutlicher. 10. Der Raben Arglist und Rache Im achten und letzten Glied der Märchen, Der Raben Arglist und Rache (B 674676), findet der alte Rabe, nachdem er lange als Mitglied im »geheimen Cabinet«

36 Ebd., S. 199f. 37 Ethel Matala de Mazza: »Rat, Ratgeber«, in: Thomas Frank/Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/Ethel Matala de Mazza (Hg.) – unter Mitwirkung von Andreas Kraß: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren, Frankfurt a.M. 2002, S. 131. 38 Bacon: Über das Beraten, S. 73.

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(B 674) des Adlerkönigs als Rat gedient hat, endlich die günstige Gelegenheit, sein Versprechen dem Rabenkönig gegenüber zu erfüllen. Die Taktik des Raben besteht darin, zu warten und möglichst unauffällig die erarbeitete Position als Rat-Erzähler am Hof der Adler zu halten. Die eigentliche strategische Position des Raben ist schwach, da er letztendlich nur mit strategischen Fehlern der Adler kalkulieren kann. Dadurch dass der Rabe den Adlerkönig für sich einnehmen kann, ist noch nichts gewonnen. Die Gelegenheit zur Rache fehlt noch. Das ist nach Certeau kennzeichnend für den Gegensatz von Strategie und Taktik: »[Die Taktik] verfügt über keine Basis, wo sie ihre Gewinne kapitalisieren, ihre Expansionen vorbereiten und sich Unabhängigkeit gegenüber den Umständen bewahren kann. Das ›Eigene‹ ist ein Sieg des Ortes über die Zeit. Gerade weil sie keinen Ort hat, bleibt die Taktik von der Zeit abhängig.« (C 23)

Nach langer Zeit wendet sich endlich das Blatt für die Raben. Der alte Rabe entdeckt die Schwachstelle einer vermeintlich uneinnehmbaren Felsenkluft, die die Adler als neue Wohnstätte bezogen haben. Der Horst hat nur einen schmalen unüberwachten Eingang, der im Falle eines Feuers zur Falle wird. Sofort überbringt der treue Berater seinem König die Botschaft, dass man im Eingangsbereich Feuer legen solle. Mit einer Ausnahme sterben alle Adler in dem Brand. Hier weichen Original und Überarbeitung von Bechstein stark voneinander ab. Die indische Vorlage enthält eine Beispielerzählung mehr – das Gleichnis von einer Schlange, die einem Frosch zum Pferd wurde39  die jedoch in der Überarbeitung des Autors nicht vorkommt. Stattdessen hat Bechstein die Kündigung des ersten Ratgebers der Adler hinzu erfunden40, der nicht länger für den beratungsresistenten König arbeiten möchte und das Weite sucht. Die Märchenkette schließt mit den Worten: »So gewann das Reich der Aaren und ihre Feindschaft gegen die Raben ein Ende, und wenn nicht jener weise Ratgeber mit den Seinen sich in jenes Gebirge zurückgezogen hätte, so gäbe es gar keine Adler mehr, deren Geschlecht selten geworden ist, der Raben aber sind viele geworden, haben sich überall hin verbreitet, sind auch jeweilig noch große Redner, und hassen die Aaren immer noch.« (B 675f.)

Der Herausgeber von Bechsteins Sammlung Walter Scherf sieht den Grund für diese Abänderung des Originals darin, dass bei Bechstein »eben alles mit der Wirk-

39 Wilhelm Ludwig Holland (Hg.): Das Buch der alten Weisen (1592), Stuttgart 1860, S. 120f. 40 Scherf: Anmerkungen, S. 884.

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lichkeit annähernd zusammenstimmen« muss.41 Die Verbreitung der Adler ist zwar im Vergleich zur Rabenpopulation eher gering, aber ganz ausgerottet sind sie nicht. Durch diese Abwandlung des Originals hat Bechstein der Märchenreihe nicht nur auf der Ebene des Ornithologischen, »die Tendenz zu einer Erklärungssaga«42 gegeben. Der rechtzeitig geflüchtete Rat der Adler lässt erahnen, dass er die Katastrophe als Erzählung für künftigen Rat nutzbar machen wird. Dadurch gibt es nach dem Untergang der Adler wieder eine Öffnung und ist ein Nachspiel also ausdrücklich bei Bechstein mitbedacht. Der überlebende Rat der Adler wird auf die Überlieferung dieser tragischen Geschichten setzen, um die Gunst der Stunde für seine Nachkommen auszunutzen. Die Geschichte vom Untergang der Adler kann zu jeder Zeit zum Zwecke der Beratung der letzten Überlebenden der Adler eingesetzt werden. 11.

Gemeinplatzhaftigkeit und Kybernetik

Vordergründig gibt die Märchenkette bei Bechstein den Glauben weiter, dass es möglich sei, auf dem Wege des Ratgebens Kontingenz zu minimieren und gezielt Chancen zu eröffnen. Im Sinne von Certeau wäre die Form der Kontingenzbewältigung strategisches Alltagshandeln, dessen Erfolg in den optimierten eigenen Fähigkeiten verortet wird. In den Märchen wird ein strategisch denkendes freies Beratungssubjekt inszeniert, das aber auch ein souveränes Gespür für den Einsatz und die List der Erzählung haben muss. Wenn Ratgeber anfangen Geschichten zu erzählen, sollte der Ratsuchende hellhörig werden. Entweder erfordert die Lage des Ratsuchenden diese Taktik oder das Verhältnis des Beraters zur Macht. Der König der Adler würdigt fatalerweise nur den Unterhaltungswert der ihm offerierten Erzählungen. Auf dieser Grundlage fußt die Rationalität des Fürstenspiegels und kann die Ratgebergeschichte als Exempel ihre Kraft entfalten. Wenn man so will, gibt Bechsteins Märchenkaskade auch jenseits der ›Königsklasse‹ einen Überblick über die grundlegenden Beratungsdilemmata von Führungspersonal. Die eigentliche Aktualität des Textes für den heutigen Leser geht jedoch darüber hinaus. Die Sammlung überliefert auch praxiologisches Wissen über das Verhältnis von Erzählen und Rat. Erzählungen ermöglichen es nach Certeau, aus dem Gedächtnis heraus taktisch in einem ihnen fremden Kontext eine Gelegenheit zu ergreifen im Glauben, man mache das aus gutem Grund. Das ist die List der Erzählung: Erzählungen verfügen über keine Macht, sondern haben Teil an einer aus einer Reihe ähnlicher Erzählungen überlieferten Autorität: »diese aus dem kollektiven oder individuellen Gedächtnis ›gewonnene‹ Autorität ›autorisiert‹ (ermöglicht) eine Umkehrung, eine

41 Ebd., S. 885. 42 Schmidt: Untersuchungen, S. 147.

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Veränderung der Ordnung oder des Ortes, einen Übergang zum Differenten«. (C 171) Aus dem kollektiven Gedächtnis heraus werden in den Worten von Rudolf Helmstetter »Aussichten auf Erfolg in den Raum« gestellt, die diesen Raum verändern und damit auch »das Verhalten in ihm, die Selbstverortung und die Orientierung im Handlungsraum.«43 Deshalb sind Erzählungen gerade in einer unbeständigen vom »Zerfall von Ortsbeständigkeit« (C 24) geprägten modernen Gesellschaft von besonderem Nutzen. Märchen führen prototypisch vor, was in jeglicher alltäglichen »volkstümlichen« (C 169) Überlieferungspraxis enthalten ist. Sie ermöglichen den »Rückgriff auf eine fremde Welt, aus der ein Coup kommen kann, kommen muß,« (ebd.) der die aktuelle Ordnung verändert. Sie sind »zu symbolischen und narrativen Projektionen« vergrößerte »Schlagschatten der tagtäglichen Praxis [...], die darin besteht, die Gelegenheit zu ergreifen und aus dem Gedächtnis ein Mittel zur Transformation von Orten zu machen.« (Ebd.) Nach Michel de Certeau liegt dieses Potenzial von Erzählungen darüber hinaus »in der glücklichen Stereotypie des Gemeinplatzes verborgen«. (C 174) Dies erklärt auch die endlose Überlieferung von »wohlbekannte[n] und somit klassifizierbare[n] Geschichte[n]«. (Ebd.) Sie haben sich als besonders anpassungsfähig an die stets veränderten Anforderungen des Alltags erwiesen. Es kommt weniger auf die erwartbaren Inhalte an als auf die Einpassung des Erzählten in den aktuellen Beratungskontext. Einerseits kann das Erzählgedächtnis seine »Interventionskraft« (C 170) erst durch die Veränderung in einem ihm fremden Kontext der Beratung mobilisieren. Anderseits kann es nur »verschwunden« ohne festen Ort »Möglichkeiten zu glauben« bereit stellen und die damit einhergehende Haltung – »sie wachsam auf der Lauer liegend zu erwarten« (ebd.) – hervorrufen. Die Hervorhebung oder Änderung eines auf den ersten Blick ›beiläufigen‹ Details (vgl. C 174) in der Märchenkette kann die Tragweite des überlieferten Originals verändern und ihm neue Aktualität verleihen. Rat und die »antwortende Alternation« (C 172) von Erzählungen bedingen sich gegenseitig. Die Antwort bleibt aber singulär. Es kann sich nur um eine metonymische Beziehung, eine Taktgleichheit handeln, »zwischen einem konkreten Detail und einer Konjunktur, die hier für eine Ereignisspur gehalten wird und dort durch die Produktion einer Übereinstimmung oder einer ›Harmonie‹ erzeugt wird«. (C 173) Dadurch dass die erzählten Details durch den immer wieder anderen praktischen Bezug nicht stabil bleiben, erhält dieser

43 Rudolf Helmstetter: »Ratgeber als Erfolgsflüsterer und der Schatten des Scheiterns«, in: Non-Fiktion. Das Arsenal der anderen Gattungen 1/2 (2012): Ratgeber, hg. von David Oels und Michael Schikowski, S. 53.

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»›Raum‹ eines wandernden Nicht-Ortes [...] die Subtilität einer kybernetischen Welt. Er bildet wahrscheinlich [...] das Modell einer Kunst des Handelns [...], die – indem sie die Gelegenheiten ergreift – unaufhörlich an den Orten, wo die Mächte sich ausbreiten, die ungewöhnliche Triftigkeit der Zeit erneuert.« (Ebd.)

12.

Aufschub

Erzählungen, die Rat geben zum Thema haben, bilden einen Sonderfall unter den Beispielerzählungen. Sie sind im kulturellen Gedächtnis als Metarat abrufbar; Sie bereiten Beratungswissen auf und sagen etwas über die Praxiologie des Rat erzählens aus. Die Ratgebermärchenkette von Bechstein führt vor, dass alleine schon die Möglichkeit, einen Rat mit überlieferten Erzählungen einhergehen zu lassen, genügt, um die Beratungspraxis, die bekanntlich nicht immer zuverlässig ist, dennoch glaubhaft erscheinen zu lassen. Der Abgleich mit auf den Beratungsgegenstand zugeschnittenen Erfolgsaussichten aus überlieferten Erzählungen verändert den aktuellen Fall allein schon dadurch, dass die Geschichten Aufschub sozial plausibel machen44 und Zeit als List darstellen. Thomas Macho äußert zu Recht die Vermutung, dass »sich die ›Geschichten von Rat und Tat‹ [vielleicht] der raschen Universalisierung, der systematischen Subsumption unter eine generelle, einheitliche Rationalität« entziehen würden. 45 Entsprechend werde eine »Kultur- und Ideengeschichte der Beratung [...] um die Praxis der Erzählens und Deutens, wenn es um Rat geht, nicht herum kommen«.46

L ITERATUR Bacon, Francis: »Über das Beraten« (1625), in: Ders.: Essays oder praktische und moralische Ratschläge, hg. von Levin L. Schücking und übers. von Elisabeth Schücking, Stuttgart 1970, S. 68-74. Bechstein, Ludwig: »Neues Deutsches Märchenbuch« (1856), in: Ders.: Sämtliche Märchen, Bd. 2, hg. von Walter Scherf, München 1988.

44 Vgl. Peter Fuch/Enrico Mahler: »Form und Funktion von Beratung«, in: Soziale Systeme 2 (2000), S. 356f. 45 Macho, Thomas: »Zur Ideengeschichte der Beratung. Versuch einer Einführung«, in: Gerd Prechtl (Hg.): Das Buch von Rat und Tat. Ein Lesebuch aus drei Jahrtausenden, München 1999, S. 30. 46 Ebd.

318 | W IM P EETERS

Benjamin, Walter: »Wie erklären sich große Bucherfolge? ›Chrut und Uchrut‹ – ein schweizerisches Kräuterbuch« (1931), in: Ders.: Kritiken und Rezensionen. Gesammelte Schriften, Bd. III, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a.M. 1972, S. 294-300. Benjamin, Walter: »Der Erzähler« (1936/37), in: Ders.: Illuminationen, Frankfurt a.M. 1977, S. 385-410. Benjamin, Walter: »Das Taschentuch« (1932), in: Ders.: Kleine Prosa. BaudelaireÜbertragungen. Gesammelte Schriften, Bd. IV.2, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt a.M. 1991, S. 741-745. Brunken, Otto: Georg Rollenhagens Froschmeuseler, ein späthumanistisches didaktisches Tierepos für die Jugend des gebildeten »Mittelstands«, in: Die Schiefertafel. Zeitschrift für historische Kinderbuchforschung 2 (1989), S. 46-73. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, aus dem Franz. von Ronald Voullié, Berlin 1988. Frank, Thomas: »Schwank, Exempel, Märchen«, in: Thomas Frank/Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/Ethel Matala de Mazza (Hg.) – unter Mitwirkung von Andreas Kraß: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren, Frankfurt a.M. 2002, S. 103-110. Fuchs, Peter/Mahler, Enrico: »Form und Funktion von Beratung«, in: Soziale Systeme 2 (2000), S. 349-368. Helmstetter, Rudolf: »Guter Rat ist (un)modern – Die Ratlosigkeit der Moderne und ihre Ratgeber«, in: Gerhart von Graevenitz (Hg.): Konzepte der Moderne (DFGSymposion 1997), Stuttgart 1999, S. 147-172 Helmstetter, Rudolf: »Ratgeber als Erfolgsflüsterer und der Schatten des Scheiterns«, in: Non-Fiktion. Das Arsenal der anderen Gattungen 1/2 (2012): Ratgeber, hg. von David Oels und Michael Schikowski, S. 49-56. Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates (1651), hg. von Iring Fetscher und übers. von Walter Euchner, Frankfurt a.M. 1984. Holland, Wilhelm Ludwig (Hg.): Das Buch der alten Weisen (1592), Stuttgart 1860. Klein, Christian: »Von rechter Sittlichkeit und richtigem Betragen. Erzählen im moralisch-ethischen Diskurs«, in: Christian Klein/Matías Martínez (Hg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart 2009. Machiavelli, Niccolò: Il Principe. Der Fürst (1532), Italienisch/Deutsch, übers. und hg. von Philipp Rippel, Stuttgart 1986. Macho, Thomas: »Zur Ideengeschichte der Beratung. Versuch einer Einführung«, in: Gerd Prechtl (Hg.): Das Buch von Rat und Tat. Ein Lesebuch aus drei Jahrtausenden, München 1999, S. 17-33. Matala de Mazza, Ethel: »Rat, Ratgeber«, in: Thomas Frank/Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/Ethel Matala de Mazza (Hg.) – unter Mitwirkung von

LUDW IG B ECHSTEINS RATGEBERMÄRCHENKETTE

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Andreas Kraß: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren, Frankfurt a.M. 2002, S. 120-132. Rollenhagen, Georg: Frosch-Meuseler (1595), Bibliothek der frühen Neuzeit, Bd. 12, hg. von Dietmar Peil, Frankfurt a.M. 1989. Schikowski, Michael: Burn after reading. Der Ratgeber und sein Beziehung zum Komischen, in: Non-Fiktion. Das Arsenal der anderen Gattungen 1/2 (2012): Ratgeber, hg. von David Oels und Michael Schikowski, S. 99-126. Schmidt, Klaus: Untersuchungen zu den Märchensammlungen von Ludwig Bechstein, Hildesheim/Zürich/New York 1984 (1935).

Autorinnen und Autoren

Patrick Eiden-Offe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Germanistik und Kulturwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Promotion 2008 an der Universität Konstanz über Imaginationen des Reichs bei Hermann Broch. Arbeitsschwerpunkte u.a. Literatur der Romantik, des Vormärz und des Realismus, Wissenschaftsgeschichte der Sozialwissenschaften und besonders der Ethnologie, Neue Sozialgeschichte, Deutscher Idealismus. Letzte Buchveröffentlichungen: Totenkulte. Literarische und kulturelle Grenzgänge (Frankfurt/New York 2006, hg. mit Nacim Ghanbari, Tobias Weber und Martin Zillinger); Das Reich der Demokratie. Hermann Brochs »Der Tod des Vergil« (München 2011). Rudolf Helmstetter ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Arbeiten zum modernen Roman, zur Öffentlichkeitsgeschichte des Realismus, zu Luhmanns Systemtheorie, zu Literarizität und Phantasmatik pragmatischer Texte (Anstands- und Ratgeberliteratur u.ä.). – Buchveröffentlichungen: Das Ornament der Grammatik in der Eskalation der Zitate. »Die Strudlhofstiege«, Doderers moderne Poetik des Romans und die Rezeptionsgeschichte (München 1995); Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Theodor Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des poetischen Realismus (München 1997). Schiller gedenken vergessen lesen (Mithg., München 2009). Pierre Mattern ist Literaturwissenschaftler und Übersetzer. 2010/11 »Chercheur en formation postdoctorale« an der Université du Luxembourg mit einem Projekt über Führerfiguren und Führungsprojekte 1900 bis 1939. Zuvor Wiss. Mitarbeiter an der Ruhruniversität Bochum, Lehraufträge. Arbeitsbereiche u.a.: Politische Philosophie, Fantastische Reisen. Monographie: »Kotzebue’s Allgewalt«. Literarische Fehde und politisches Attentat (Würzburg 2011). Übersetzungen: Pierre Legendre, Die Kinder des Textes. Zur Elternfunktion des Staates (2011); Ders., Verstreute Ansichten (2013).

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Burkhard Meyer-Sickendiek ist Heisenberg-Stipendiat und Privatdozent an der Freien Universität Berlin. Er studierte an der Universität Bielefeld, promovierte 1999 an der Universität Tübingen und war dann Postdoc und wissenschaftlicher Koordinator für den Promotionsstudiengang Literaturwissenschaft der LudwigMaximilians-Universität München. 2003 bekam er den Bayerischen Habilitationsförderpreis, habilitierte mit einer Arbeit zur deutsch-jüdischen Moderne und ging 2008 als Gastprofessor an den Exzellenz-Cluster Languages of Emotion der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen u.a.: Die Ästhetik der Epigonalität (Tübingen 2001); Affektpoetik – eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen (Würzburg 2005); Was ist literarischer Sarkasmus? – ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Moderne (München 2009); Tiefe. Über die Faszination des Grübelns (München 2010), Lyrisches Gespür – Vom geheimen Sensorium moderner Poesie (München 2012). Michael Niehaus ist Professor für Neuere deutsche Literatur – Intermedialität/Interkulturalität an der TU Dortmund. Promotion 1993 über monologische Prosaformen im 20. Jahrhundert; Habilitation mit der Untersuchung Das Verhör. Geschichte – Theorie – Fiktion (München 2003). Arbeitsschwerpunkte u.a.: Literatur und Institution, Erzählliteratur des 19. bis 21. Jahrhunderts, intermediale Narratologie. Letzte Buchveröffentlichungen: Das Buch der wandernden Dinge (München 2009); Franz Kafka: Erzählungen (München 2010); Erschöpfendes Interpretieren. Eine exemplarische Auseinandersetzung mit Heinrich von Kleists »Das Bettelweib von Locarno« (Berlin 2013). Rainer Paris ist Professor für Soziologie am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Arbeitsgebiete: Allgemeine Soziologische Theorie, Mikrosoziologie, Macht- und Organisationsforschung. Studium der Soziologie, Psychologie und Germanistik an der Freien Universität Berlin; Pomotion 1983; Habilitation 1992. Veröffentlichungen u. a.: Figurationen sozialer Macht. Autorität – Stellvertretung – Koalition (Frankfurt a.M. 1994, mit W. Sofsky); Stachel und Speer (Frankfurt a.M. 1998); Normale Macht (Konstanz 2005); Neid. Von der Macht eines versteckten Gefühls (Waltrop/Leipzig 2010); zahlreiche Aufsätze in soziologischen Fachzeitschriften und im Merkur. Wim Peeters ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur der TU Dortmund. Studium in Leuven, Gent und Bochum. 2008 Promotion mit Recht auf Geschwätz. Geltung und Darstellung von Rede in der Moderne. Aktuelle Forschungsinteressen: Literatur und Kommentar, Narrative in Ratgeberliteratur. Letztes Buch: Zus. mit M. Niehaus: Mythos Abraham. Texte der Genesis bis Friedrich Chr. Delius (Stuttgart 2009). Letzte Aufsätze: Zus. mit M. Niehaus: »Zum diskursiven Ort von Anti-Ratgebern. Eine kleine Blütenlese.« In: Non Fiction (Themenheft Ratgeber) 1/2 (2012); »Contesting ›the Democratic Chattering

A UTORINNEN UND A UTOREN

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of the Letter‹. Politics of Commentary in 20th Century Literature.« In: A. Esch-van Kan/S. Packard/P. Schulte: Thinking – Resisting – Reading the Political (Zürich/ Berlin 2013). Armin Schäfer ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Geschichte der Medienkulturen an der FernUniversität in Hagen. Er ist Mitglied der Forschergruppe Kulturen des Wahnsinns. Schwellenphänomene der urbanen Moderne (1870-1930). Arbeiten u.a. zu Literatur und Wissensgeschichte, Lyrik, Barockliteratur. Veröffentlichungen u.a.: Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik (Köln u.a. 2005); hrsg. mit Bettine Menke u. Daniel Eschkötter: Das Melodram. Ein Medienbastard (Berlin 2013). Eva Schauerte ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienkulturwissenschaft der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und arbeitet an ihrem Promotionsprojekt zu einer Kultur- und Mediengeschichte der Beratung. Studium der Europäischen Medienkultur und Informations- und Kommunikationswissenschaften an der Bauhaus-Universität Weimar und der Université Lumière Lyon II (2003-2010, M.A.); Assistenz am Internationalen Kolleg für Medienphilosophie und Kulturtechnikforschung (IKKM) in Weimar (2009-2011). Arbeitsschwerpunkte: Mediengeschichte und -archäologie, Kultur- und Mediengeschichte der Beratung. Letzte Veröffentlichung: »Uwe Johnson und die New York Times. Ansätze einer Archivologie der Jahrestage«, in: Uwe Johnson-Jahrbuch, 19/2012. Hans-Walter Schmidt-Hannisa ist Professor of German und Head of Department an der National University of Ireland, Galway. Promotion 1989 über Buch und Schreiben bei Clemens Brentano; Habilitation 2000 mit einer Untersuchung über Traumaufzeichnungen in Aufklärung und Romantik. Arbeitsschwerpunkte u.a.: Aufklärung und Romantik; Literatur- und Kulturgeschichte des Traums; Geschichte der Buch- und Lesekultur. Letzte Buchveröffentlichungen: Money and Culture (Hg. mit Fiona Cox, 2007); Zeitzeuge und Phantast. Zum Werk Caspar Walter Rauhs (Hg., 2011). Manfred Schneider ist emeritierter Professor für Neugermanistik, Ästhetik und literarische Medien an der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitet u. a. zu Literatur und Recht, zu Diskurstheorie und Kulturkritik. Studium der Germanistik, Romanistik, Musikwissenschaft und Philosophie an der Universität Freiburg i.Br.; Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Essen (1981 bis 1999); Gastprofessuren in Paris, Japan und den USA. Veröffentlichungen u.a.: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert (München/Wien 1986); Liebe und Betrug. Die Sprachen des Verlangens (München/Wien 1992), Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling (München/Wien 1997); Das Atten-

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tat. Kritik der paranoischen Vernunft (Berlin 2010). Im Erscheinen: Der Transparenztraum. Literatur, Politik, Medien und die Liebe zum Unmöglichen (Berlin 2013). Christian Schütte ist Lehrkraft für besondere Aufgaben am Germanistischen Seminar der Universität Siegen. Studium der Deutschen Sprache und Literatur sowie Philosophie an der Universität Hamburg. Promotion 2006 über die explikative Textfunktion in Fußballberichten. 2008 Leiter der Schreibwerkstatt an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Arbeitsschwerpunkte u.a.: Medienlinguistik, Textlinguistik, Diskursanalyse, Argumentationsanalyse. Buchveröffentlichung: Matchwinner und Pechvögel. Ergebniserklärung in der Fußballberichterstattung in Hörfunk, Internet, Fernsehen und Printmedien (Hamburg/Münster 2006). Erhard Schüttpelz ist Professor für Medientheorie an der Universität Siegen, nach Studium und Forschung in Hannover, Exeter, Bonn, Oxford, Köln, New York, Konstanz und Wien. Arbeitsschwerpunkte: Medienanthropologie, Weltliteratur, Wissenschaftsgeschichte. Promotion 1994 in Bonn, Habilitation 2003 in Konstanz. Daraus die Bücher: Figuren der Rede (Berlin 1996); Die Moderne im Spiegel des Primitiven (München 2005).

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Nacim Ghanbari, Marcus Hahn (Hg.)

Reinigungsarbeit Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2013

Juni 2013, 216 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2353-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 13 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien April 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung März 2013, 176 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0

Kai-Uwe Hemken Exposition/Disposition Eine Grundlegung zur Theorie und Ästhetik der Kunstausstellung August 2014, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2095-5

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Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juli 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

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Frédéric Döhl, Renate Wöhrer (Hg.) Zitieren, appropriieren, sampeln Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten

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Urs Hangartner, Felix Keller, Dorothea Oechslin (Hg.) Wissen durch Bilder Sachcomics als Medien von Bildung und Information

Bastian Lange, Hans-Joachim Bürkner, Elke Schüssler (Hg.) Akustisches Kapital Wertschöpfung in der Musikwirtschaft

Oktober 2013, 336 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1983-6

Christian Hissnauer, Stefan Scherer, Claudia Stockinger (Hg.) Zwischen Serie und Werk Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im »Tatort« Juli 2014, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2459-5

August 2013, 360 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2256-0

Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Politiken des Ereignisses Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft Juli 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1993-5

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