Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie: Von der Verhütung zur Vernichtung >lebensunwerten Lebens<, 1890-1945 9783666357374, 3525357370, 9783525357378

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Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie: Von der Verhütung zur Vernichtung >lebensunwerten Lebens<, 1890-1945
 9783666357374, 3525357370, 9783525357378

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 75

VÔR

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Helmut Bertling, Jürgen Kocka Hans-Ulrich Wehler

Band 75

Hans-Walter Schmuhl Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie Von der Verhütung zur Vernichtung >lebensunwerten LebensEuthanasie
Euthanasie< - Wandlungen eines Begriffs II. Das rassenhygienische Paradigma als Matrix der Vorstellungen von der »Vernichtung lebensunwerten Lebens< 1. Die Idee der »Euthanasie« in der rassenhygienischen Programmatik. . . a) Die »Auslese« und »Ausmerze« von Neugeborenen als erbpflegerische Maßnahme b) Alternativen zur »Euthanasie« in der rassenhygienischen Programmatik: Marginalisierung, Asylierung und Sterilisierung als Instrumente negativer Eugenik 2. Strukturelemente des rassenhygienischen Paradigmas a) Naturgesetzlichkeit und Gesellschaftsgeschehen b) Evolutions-und Selektionsprinzip c) Degenerationstheorie und Züchtungsutopie d) Die Entwertung des Menschenlebens auf der Basis bioorganismischer Sozialtheorien 3. Die Rassenhygiene zwischen wissenschaftlicher Form und ideologischer Funktion 4. Rassenhygienische Konzeptionen in der Medizin 5. Die politische Implementierung des rassenhygienischen Paradigmas a) Die Konstituierung rassenhygienischer Institutionen b) Die Debatte um die Legalisierung der rassenhygienischen Sterilisierung III. Die Diskussion um Tötung auf Verlangen, Sterbehilfe und »Vernichtung lebensunwerten Lebens« (1895-1933) 1. Das Schrifttum zur Sterbehilfe vor dem Ersten Weltkrieg 2. Das Schrifttum zur »Vernichtung lebensunwerten Lebens« nach dem Ersten Weltkrieg

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Teil Β: Realgeschichte der >Euthanasie< I. Charismatische Legitimation u n d polykratische Struktur des nationalsozialistischen Regimes als Antriebskräfte im Prozeß der Realisierung der >Euthanasie< II. Die >Gleichschaltung< des Gesundheitswesens

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III. Negative Eugenik in den Anfangsjahren des >Dritten Reiches
Euthanasie< 2. Die Asylierung der >Asozialen
Dritten Reiches
Euthanasieaktion
Kindereuthanasie
Aktion T4< VIII. >Sonderaktionen< 1. Die Ermordung derjüdischen Anstaltsinsassen 2. Die>Sonderbehandlungl4fl3< IX. Die Reinstitutionalisierung der >Euthanasieaktion< in den Jahren 1943/1944 1. 2. 3. 4.

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Die >wilde Euthanasie< Die Ausweitung der Erfassung zur Vernichtung Die >Aktion Brandt< Die Ermordung von geisteskranken und tuberkulösen Zwangsarbeitern

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X . >Euthanasie< u n d >Endlösung< 1. Die Krankentötung in den preußischen Ostprovinzen, Polen und der Sowjetunion 2. Die Vernichtungslager Chelmno, Belzec, Sobibor und Treblinka. . . . XI. >Euthanasie< u n d Psychiatrie: Die >Euthanasieaktion< als Impetus zur M o d e r n i s i e r u n g der Psychiatrie 1. 2. 3. 4.

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Der Primat der Therapie Planungen zur Reform des Anstaltswesens Die >Euthanasieaktion< als Gelegenheit zur Grundlagenforschung . . . Die Propaganda zur >Euthanasie< als Imagepflege der Psychiatrie . . . .

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XII. >Euthanasie< und Justiz: Der »halbierte >RechtsstaatVernichtung lebensunwerten Lebens< . . 1. Entwürfe zu einem Gesetz über die Sterbehilfe bei unheilbar Kranken 2. Die partielle Integration des Justizapparats in die >Euthanasieaktion
Euthanasie< und Ethik: Die Kirchen zwischen Anpassung u n d Widerstand 1. Die Haltung der Kirchen zur nationalsozialistischen Sterilisierungsgesetzgebung 2. Die Konfrontation der evangelischen Kirche mit der >Euthanasieaktion< a) Die württembergische Landeskirche b) Die v. Bodelschwinghschen Anstalten und der Central-Ausschuß fur die Innere Mission c) Die Bekennende Kirche 3. Die Konfrontation der katholischen Kirche mit der >Euthanasieaktion
Die Synthese von Arzt und Henken« von der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie an der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen. Gegenüber der ursprünglichen Fassung ist die vorliegende an einigen Stellen überarbeitet worden. Für vielfache Unterstützung und konstruktive Kritik bin ich meinem Doktorvater Prof. H.-U. Wehler sowie Prof. C. Kleßmann und Prof. R. Koselleck besonders verbunden. Dem Arbeitskreis »Euthanasie-Forschung«, insbesondere Prof. K. Dörner, schulde ich für vielfache Anregungen Dank. Gedankt sei auch den Mitarbeitern der von mir besuchten Archive. Für ihre Mitwirkung bei der Erstellung des Manuskripts und beim Korrekturlesen danke ich M. Hettling, F.-M. Kuhlemann und K. Schmuhl. Die Drucklegung der Dissertation wurde durch einen Druckkostenzuschuß des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der Verwertungsgesellschaft Wort ermöglicht. Auch dafür sei herzlich gedankt.

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Einleitung Um den »Abfall vom Humanen«, 1 der sich wie ein roter Faden durch die deutsche Geschichte der Zwischenkriegszeit zog, an einem Beispiel zu verdeutlichen, wies Thomas Mann in seinem Roman »Doktor Faustus« auch auf den Massenmord an seelisch Kranken und geistig Behinderten hin, der in den Jahren von 1939 bis 1945 im Machtbereich des nationalsozialistischen Regimes stattgefunden hatte. Durch einen geschickten Kunstgriff die Zeitebenen verschiebend, kleidete Mann seine Deutung des Massenmordes hinter Anstaltsmauern, dem der Zusammenbruch Deutschlands gerade erst ein Ende gesetzt hatte - der betreffende Abschnitt entstand in den ersten Monaten des Jahres 19462 - , in die Gestalt einer Voraussage, die er in die fiktiven Debatten eines Schwabinger Intellektuellenzirkels im Jahre 1919 einflocht. »Zweifellos«, hieß es dort, »würde m a n . . . die Nicht-Bewahrung des Kranken im größeren Stil, die Tötung Lebensunfähiger und Schwachsinniger, wenn man eines Tages dazu überging, volks- und rassehygienisch begründen, während es sich in Wirklichkeit... um weit tiefere Entschlüsse, um die Absage an alle humane Verweichlichung handeln würde, die das Werk der bürgerlichen Epoche gewesen war: um ein instinktives Sich-inForm-Bringen der Menschheit für harte und finstere, der Humanität spottende Laufte«. Den Vernichtungswillen, der sich gegen Kranke und Behinderte richtete, führte Mann, hierin durchaus die Diktion der Pamphlete zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens Vernichtung lebensunwerten Lebens< vor dem Hintergrund der »Verfallsgeschichte der bürgerlichen Kultur in Deutschland« 4 betrachtete, eröffnete Thomas Mann eine historische Perspektive, der sich Ansatzpunkte für eine kausalgenetische Interpretation der >Euthanasie< abgewinnen lassen. Denn sie lenkt die Aufmerksamkeit auf soziokulturelle Prozesse im Vorfeld der Vernichtung, die man, um einen von Alexander Mitscherlich geprägten Schlüsselbegriff zu verwenden, als »Kulturentledigung« beschreiben kann. Von diesem Begriff ausgehend, erhebt sich die Frage nach der verhängnisvollen »Verknüpfung von vernunftlähmenden und triebent11

hemmenden Umständen«, 5 die in der tiefgestaffelten Vorgeschichte der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< zur Delegitimierung der deontologischen Konventionen, ethischen Normen und juristischen Kautelen beitrugen, auf denen das ärztliche Berufsethos beruhte. Zur Debatte steht die Hybris einer Medizin, die, einem selbstangemaßten Allmachtsanspruch erliegend, glaubte, u m jeden Preis - auch u m den Preis der Gewaltanwendung - helfen zu müssen. Diese Perversion des therapeutischen Imperativs führte, in Verbindung mit einem verfehlten ganzheitlichen Ansatz, der den >Volkskörper< zum Objekt der Medizin erhob, schließlich dazu, daß man Krankheiten und Behinderungen bekämpfte, indem man Kranke und Behinderte ermordete. Für das ärztliche Handeln bedeutete dies, wie ein kritischer Psychiater bereits im Jahre 1922 scharfsinnig voraussah, in letzter Konsequenz die » Synthese von Arzt und Henker «. 6 Diese prägnante Formulierung umschreibt in nuce das erklärungsbedürftige Phänomen, dem sich die geschichtswissenschaftliche Forschung zur >Euthanasie< im Nationalsozialismus zu stellen hat. Zunächst soll - unter besonderer Berücksichtigung kausalgenetischer Interpretationen - ein Kurzüberblick über den Forschungsstand gegeben werden. Da die Thematik der >Euthanasie< im Grenzbereich verschiedener Wissenschaftsfelder angesiedelt ist, haben Teildisziplinen wie die Zeit-, Sozial·, Ideen-, Wissenschafts-, Medizin- und Kirchengeschichte ihren Beitrag zur Erforschung der >Euthanasie< im Nationalsozialismus geleistet. Die Forschung hat mittlerweile ihre eigene Geschichte, die sich in drei Abschnitte gliedert, wobei äußere Anlässe die Zäsuren zwischen den Stadien markieren: 1. Besonders ertragreich war die Forschung in den ersten Nachkriegsjahren. Die in dieser Zeitspanne entstandenen Arbeiten stammten fast ausschließlich von Ärzten, die zunächst von den alliierten, später von den deutschen Gerichten und Behörden zur Mitarbeit an der strafrechtlichen Verfolgung der für die »Vernichtung lebensunwerten Lebens< Verantwortlichen herangezogen wurden. An erster Stelle sind die Veröffentlichungen zu nennen, die im Zusammenhang mit dem Nürnberger Ärzteprozeß standen, der vom 9. Dezember 1946 bis zum 20. August 1947 vor dem Ersten Amerikanischen Gerichtshof stattfand. Das Verfahren wurde von einer Deutschen Ärztekommission beobachtet. Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern die Leitung dieser Kommission übernommen hatte, gab noch während des Prozesses - gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Fred Mielke - eine Broschüre mit dem Titel »Das Diktat der Menschenverachtung« heraus. Obwohl diese Schrift in der Ärzteschaft als Nestbeschmutzung heftig angefeindet wurde, beauftragte der 51. Deutsche Ärztetag, der am 16./17. O k t o ber 1948 in Stuttgart stattfand, die Verfasser, einen ausfuhrlichen Abschlußbericht vorzulegen. Er erschien - unter dem Titel »Wissenschaft ohne Menschlichkeit« - im Jahre 1949 in einer Auflage von 10 000 Exemplaren, 12

die fur den Gebrauch der Ärztekammern bestimmt waren. Im Gegensatz zur ersten Fassung wurde diese Veröffentlichung in der Ärzteschaft totgeschwiegen. Nachweislich hat sie nur dem Weltärztebund vorgelegen, der sie zum Anlaß nahm, die deutsche Ärzteschaft wieder in seine Reihen aufzunehmen. Erst eine Neuausgabe im Jahre 1960 - nunmehr unter dem Titel »Medizin ohne Menschlichkeit« - fand in der Öffentlichkeit weite Verbreitung. 7 Im Umkreis der Deutschen Ärztekommission beim Nürnberger Ärzteprozeß entstand auch die Arbeit über »Die Tötung Geisteskranker in Deutschland« von Alice Platen-Hallermund, die erstmals eine geschlossene Darstellung der >Euthanasie< im Nationalsozialismus vorlegte, wobei der Gau Hessen-Nassau besonders berücksichtigt wurde. 8 Es blieb für über ein Jahrzehnt im deutschen Sprachraum die einzige Gesamtdarstellung zur Vernichtung lebensunwerten LebensEuthanasie< bereits in eine Analyse der Medizin im Nationalsozialismus eingebettet wurde. Den Anfang machte der Médicin Principale de la Marine, François Bayle, der als Mitglied der International Scientific Commission den Nürnberger Ärzteprozeß verfolgt hatte, in seinem Werk »Croix Gammée contre Caducée«. 9 In Deutschland entstanden um diese Zeit die ersten Regional- und Lokalstudien. Dazu gehörte die von Robert Poltrot - unter dem Titel »Die Ermordeten waren schuldig?« - herausgegebene Dokumentation der Direction de la Santé Publique der französischen Militärregierung, die schwerpunktmäßig die >Vernichtung lebensunwerten Lebens< in Südwestdeutschland beleuchtete - auf Grund einer fragwürdigen Auswahl der Quellen unter einem ungewollt apologetischen Akzent. 10 Von bleibendem Wert dagegen ist der Bericht des im Juni 1945 zum Kommissarischen Leiter der Anstalt Eglfing-Haar bei München bestellten Psychiaters Gerhard Schmidt über die »Selektion in der Heilanstalt 1939-1945«, der einerseits quantifizierende Daten, beispielsweise zu den Selektionsdiagnosen, bot, andrerseits - in Form von Interviews mit überlebenden Anstaltsinsassen - Einblick in die Erlebniswelten der Gequälten und Gedemütigten gab. Obwohl diese Arbeit bereits im Jahre 1946 fertiggestellt wurde, fand sich erst im Jahre 1965 ein Verleger zur Veröffentlichung bereit. 1983 wurde sie neu herausgegeben. 11 Einen Versuch, über die moralische und juristische Schuldzuweisung hinaus die Wurzeln der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< aufzudecken, unternahmen die Beiträge » U m die Menschenrechte der Geisteskranken« von Werner Leibbrand und »>Euthanasie< und Menschen versuche« von Viktor v. Weizsäcker, 12 diejedoch in einem »bedauerlich engen, rein geisteswissenschaftlichen Bezugsrahmen« 13 befangen blieben. Die Dokumentation von Mitscherlich und Mielke hatte die »wie von einem Missionsgedanken getragene Begeisterung«, 14 die in den Reihen der an der >Euthanasieaktion< beteiligten Ärzte herrschte, verdeutlicht. Dieser >therapeutische Idea13

lismus< war erklärungsbedürftig. In einem ersten großen Versuch der Reflexion über den wissenschaftstheoretischen Bezugsrahmen der >Euthanasie< stellte v. Weizsäcker die These auf, die Medizin sei zu Beginn des 20. Jahrhunderts allzu sehr »naturwissenschaftliche Technik« geworden, die »den Menschen nur als Objekt behandelt, anstatt den Menschen, der sich selbst zum Individuum und zur Gemeinschaft hin transzendiert, ins Auge zu fassen«. Die »Denkweise einer Medizin, welche den Menschen betrachtet wie ein chemisches Molekül oder einen Frosch oder ein Versuchskaninchen«, habe, behauptete v. Weizsäcker, der »moralische[n] Anästhesie gegenüber den Leiden der zu Euthanasie und Experimenten Ausgewählten« Vorschub geleistet. 15 So bestechend dieser Gedankengang - oberflächlich betrachtet - auch sein mag, er ist in der Zwischenzeit - insbesondere durch die Forschungen zur Psychiatriegeschichte von H.-J. Güse und N . Schmacke - überzeugend widerlegt worden. Die von Wilhelm Griesinger geleistete naturwissenschaftliche Grundlegung des psychiatrischen Paradigmas war vielmehr anfänglich mit einem emanzipatorischen Impetus verbunden. Erst die Verknüpfung naturwissenschaftlichen Denkens mit im Kern irrationalistischen Ideologien, die, von der sozialdarwinistischen Doktrin bereitgestellt, in das psychiatrische Paradigma eindrangen, bewirkte den Wandel der Psychiatrie zur reaktionären Sozialtechnik. 16 Obwohl der von v. Weizsäcker vertretene Erklärungsansatz verfehlt erscheint, hatte er der bald darauf in der medizinischen Literatur einsetzenden Apologetik eines voraus: Er führte die >Euthanasieaktion< nicht auf das Diktat des nationalsozialistischen Regimes zurück. Bei Platen-Hallermund fanden sich sogar erste Hinweise darauf, daß es in den Anfangsjahren des >Dritten Reiches< eine Art von Meinungsbildungsprozeß zur Thematik der >Euthanasie< gab, daß also das Bild eines von Anfang an zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens< entschlossenen totalitären Regimes, dem sich die Medizin habe unterwerfen müssen, unzutreffend war. 2. Unter dem Eindruck des Kalten Krieges kam die strafrechtliche Verfolgung der >Vernichtung lebensunwerten LebensEuthanasie< im Nationalsozialismus in den fünfziger Jahren brachlag. Erst zu Beginn der sechziger Jahre kam es zu einer erneuten Intensivierung der Debatte über die >Euthanasie< im Nationalsozialismus. Anlaß war die Enttarnung des unter einem Falschnamen in der Bundesrepublik praktizierenden ersten ärztlichen Leiters der Euthanasiezentraldienststelle, Werner Hey de, im Jahre 1959 - er beging kurz vor Eröffnung der Hauptverhandlung im Jahre 1964 unter ungeklärten Umständen in der Untersuchungshaft Selbstmord. Hinzu kamen die apologetischen Traktate eines der Hauptbeteiligten an der >KindereuthanasieEuthanasie< im Nationalsozialismus nicht von innen her, d. h. aus der - gesellschaftlich vermittelten - Verfassung der Medizin bzw. Psychiatrie, sondern von außen her, als »Einbruch der Unmenschlichkeit und des Ungeistes in die Medizin«, 18 verstand. »Die mißbrauchte und geschändete Psychiatrie« sei im großen und ganzen »Opfer der Partei- und Staatsdoktrin« geworden, wenn es auch unter den Psychiatern »Schrittmacher und Vollzugsgehilfen« 19 gegeben habe, »beruflich unerfahrene, politisch zuverlässige Ärzte«, die als schwarze Schafe abgestempelt werden konnten. »Die Hauptbeteiligten sind tot, suizidiert, hingerichtet.« 20 Damit glaubte man, das Kapitel Psychiatrie im Nationalsozialismus, das - als etwas Einmaliges und Erstmaliges - zur Episode erklärt wurde, abschließen zu können. Selbst die im Jahre 1965 erschienene - sonst vorzügliche - Arbeit über »Euthanasie und Vernichtung >lebensunwerten< Lebens« von Helmut Ehrhardt war nicht frei von solchen apologetischen Tendenzen. 21 Die neuere Forschung hat die Fragwürdigkeit dieser Sichtweise aufgedeckt. Zum einen war die Zahl der in die >Vernichtung lebensunwerten Lebens< verstrickten Anstalts- und Universitätspsychiater sehr viel größer, als es die apologetische Literatur glauben machen wollte, zum anderen umfaßte dieser Kreis die Avantgarde der Psychiatrie, die in den 1920er und 1930er Jahren das Anstaltswesen unter dem Primat therapeutischer Innovationen richtungweisend umgestaltet hatte. Obwohl in Details überholt, gibt der Aufsatz »Nationalsozialismus und Lebensvernichtung« von Klaus Dörner, der im Jahre 1967 in den »Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte« erschien, eine Fülle von Anregungen zur theoretischen Fundierung der Forschung zur >Euthanasie< im Nationalsozialismus. 2 2 Dörner ordnete, neuere Forschungsbefunde vorwegnehmend, den therapeutischen Idealismus< der Euthanasiepsychiater in einen wissenschaftstheoretischen Bezugsrahmen ein, den er idealtypisch als imperialistische Denkstruktur< beschrieb. Die Bedeutung sozialdarwinistisch-rassenhygienischer Ideen im Hinblick auf die Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus - in den fünfziger Jahren von Hedwig Conrad-Martius angedeutet 23 - wurde von Dörner hervorgehoben. Außerdem arbeitete er eine Reihe von Rahmenbedingungen des Massenmordes heraus, die mit Strukturmerkmalen des nationalsozialistischen Regimes, etwa den führerunmittelbaren Befehlswegen, der Umgehung des Gesetzgebungsverfahrens usw., zusammenhingen. Dörners Aufsatz lenkte die Aufmerksamkeit der Zeitgeschichte, für die das Thema >Euthanasie< im Nationalsozialismus bis dahin tena incognita geblieben war, auf die >Vernichtung lebensunwerten LebensVernichtung lebensunwerten Lebens< wiederbelebt. 27 Apologetische Tendenzen prägten über Jahrzehnte hinweg auch das Schrifttum aus dem kirchlichen Umfeld. Im Gegensatz zur Judenverfolgung und -Vernichtung hatte die nationalsozialistische >Euthanasieaktion< eine Vielzahl von Protesten kirchlicher Amtsträger ausgelöst, die als das Beispiel kirchlichen Widerstandes im >Dritten Reich< gelten. Kirchengeschichtliche Arbeiten, in denen bisweilen eine einseitige Auswahl des Quellenmaterials vorgenommen wurde, verschleierten die Beteiligung der Kirchen am Programm negativer Eugenik im Vorfeld der Vernichtung, übergingen innerkirchliche Auseinandersetzungen um den Protest gegen die >EuthanasieEuthanasie< und Sterilisierung im >Dritten ReichEuthanasieEuthanasieaktionEuthanasie< zugewandt. Ergänzt werden diese Beiträge durch eine Vielzahl vorzüglicher Lokal- und Regionalstudien, unter denen der von der Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS- Regimes in Hamburg zusammengestellte Sammelband »Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg« besondere Beachtung verdient. 36 Eine Ausnahmestellung nehmen die bahnbrechenden Forschungsbeiträge von Götz Aly und Karl-Heinz Roth ein, die bislang unerschlossene Forschungsfelder - unter Heranziehung teilweise unbekannten Quellenmaterials37 - bearbeitet haben. Sie haben überzeugend dargelegt, daß im Vorfeld der Vernichtung durch eine erbbiologische Bestandsaufnahme< die statistische Basis für die >Euthanasieaktion< geschaffen wurde, daß sich die Euthanasiepsychiater im Verlauf der >Euthanasieaktion< um eine gesetzliche Regelung bemühten, daß nach Abschluß der unter dem Decknamen >Aktion T4< durchgeführten ersten Phase der >Euthanasieaktion< die >Gemeinschaftsfremden< in die »Vernichtung lebensunwerten Lebens< einbezogen werden sollten und daß die >Euthanasieaktion< im Zusammenhang mit der Intensivierung der Katastrophenmedizin im Jahre 1943 reorganisiert wurde. 38 Den Massenmord an polnischen und sowjetischen Psychiatriepatienten, einen bislang wenig beachteten Aspekt der >Euthanasie< im Nationalsozialismus, behandeln zwei Beiträge, die in der neuen Reihe »Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik«39 veröffentlicht worden sind: Matthias Hamann hat »Die Morde an polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern in deutschen Anstalten« umfassend dargestellt, während Angelika Ebbinghaus und Gerd Preissler eine Dokumentation über »Die Ermordung psychisch kranker Menschen in der Sowjetunion« 17

vorgelegt haben. 40 Neuartige Aspekte der >Euthanasie< im Nationalsozialismus beleuchtet auch die Monographie über »>Euthanasie< im NS-Staat« von Ernst Klee (ζ. B. den Nexus zwischen >Euthanasie< und der Asylierung der >AsozialenEuthanasieEuthanasieaktion< wird im Zusammenhang mit einer tiefgreifenden und weitreichenden Reform der Psychiatrie unter dem Primat der Therapie betrachtet. Medizin und Psychiatrie werden in zunehmendem Maße als »ideologische Mächte« 4 2 verstanden, die zur Aufrechterhaltung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse im >Dritten Reich< entscheidend beitrugen. Dieser Sichtweise zufolge war die Psychiatrie im Nationalsozialismus Bestandteil einer rigorosen Sozialtechnik, die letztlich auf eine >Endlösung der sozialen Frage< abzielte. Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, die bislang in der Forschung vertretenen Erklärungsangebote für die Genese der >Euthanasie< im Nationalsozialismus — soweit sie denjüngsten Forschungen standhalten— zu einem umfassenden Deutungsmuster zusammenzufügen. Zu diesem Zweck sollen einerseits die neueren Erkenntnisse über die Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus mit den Befunden der Wissenschaftsgeschichte zur Konstituierung des Sozialdarwinismus, insbesondere der Rassenhygiene verknüpft werden. 43 Andrerseits sollen die Erklärungsansätze, die von der Zeitgeschichte bereitgestellt worden sind, in die Untersuchung einbezogen werden. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Bemerkungen Broszats über den Zusammenhang von Vernichtungspolitik und innerer Verfassung des nationalsozialistischen Regimes und die Thesen Broszats und Hans Mommsens zur Genesis des Holocaust von Bedeutung. Dadurch soll die Euthanasieproblematik an zentrale Probleme der Historiographie über den Nationalsozialismus angebunden werden. Das Ursachengeflecht, das der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< zugrundelag, läßt sich - so die Grundthese der vorliegenden Arbeit - in zwei Faktorenkomplexe zergliedern: 1. Die Genese der Euthanasieidee, die in ein Argumentationsschema eingelagert war, dessen Basis das rassenhygienische Paradigma bildete, war eng mit der Konstituierung der Rassenhygiene verschränkt. Die Akzeptanz der rassenhygienischen Programmatik, die von den 1890er Jahren bis in die 1930er Jahre stetig anstieg, stellte das Vehikel dar, mit dessen Hilfe der Gedanke der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< Raum greifen konnte. 18

Von besonderer Bedeutung war die Diffusion des rassenhygienischen Paradigmas in die Sphäre wissenschaftlicher Erkenntnisse, politischer Entscheidungsprozesse und ethischer Normen: a) Das rassenhygienische Paradigma setzte sich als Bezugsrahmen des rationalen Diskurses der im Rezeptionsbereich des Sozialdarwinismus gelegenen Wissenschaften durch. Als besonders gefährlich erwies sich das Eindringen der rassenhygienischen Programmatik in die therapeutischen Konzeptionen der Medizin, insbesondere der Psychiatrie, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Umbruch begriffen war. Auf der Grundlage des rassenhygienischen Paradigmas bahnte sich eine grundlegende Reorganisation der Psychiatrie an, die zu humanitätsabgewandten Vernichtungsprogrammen führte. b) Teilweise erfolgreich war die politische Implementierung des rassenhygienischen Programms. Gestützt auf die Institutionalisierung der Rassenhygiene gelang es, rassenhygienische Postulate - vor allem das Postulat der rassenhygienisch indizierten Sterilisierung - in die Gesundheits- und Sozialpolitik einzubringen. c) Das rassenhygienische Paradigma konstituierte eine Ethik neuen Typs, die scheinbar durch die darwinistische Biologie wissenschaftlich abgesichert war. Diese ethische Komponente der Rassenhygiene trug zur Delegitimierung christlich-humanistischer Positionen in der Wohlfahrtspflege bei. Die Übernahme des Sterilisierungspostulats durch die evangelische Wohlfahrtspflege ist ein Beleg für den Wertewandel im Vorfeld der Vernichtung. 2. Die politische Implementierung des rassenhygienischen Paradigmas war im Jahre 1933 weitgehend abgeschlossen. Unter dem Druck der nationalsozialistischen Ideologie, die sich die rassenhygienische Argumentation einverleibt hatte, kam zum Abschluß, was sich in den Jahrzehnten zuvor bereits angebahnt hatte. Dennoch stellte die >Machtergreifung< in der Genesis der >Euthanasie< einen Wendepunkt dar. Fortab unterlag das rassenhygienische Programm einem rapiden Radikalisierungsprozeß, der in der Abfolge von Sterilisierung, Abtreibung und >Euthanasie< zum Ausdruck kam. Diesem Radikalisierungsprozeß leisteten spezifische Strukturelemente des nationalsozialistischen Regimes Vorschub: a) Z u m einen verband sich der charismatische Legitimitätsanspruch des Nationalsozialismus mit dem durch die Rassenhygiene induzierten Dualismus von biologischer Krise und biologischer Katharsis. Indem er die Heilung des >Volkskörpers< zum Ziel charismatischer Herrschaftsausübung auf dem Feld der Gesundheits- und Sozialpolitik erhob, bewirkte der Nationalsozialismus einen rassenhygienischen Radikalisierungsschub. b) Dynamisierend wirkte sich auch die polykratische Struktur des nationalsozialistischen Regimes aus. Das rassenhygienische Programm wurde durch die Konkurrenz relativ autonomer Machtzentren, die sich in der Rigorosität ihrer Mittel und Ziele zu überbieten versuchten, sukzessive radikalisiert. 19

Jedes der beiden Ursachenbündel für sich genommen stellte für die V e r nichtung lebensunwerten Lebens< im >Dritten Reich< eine notwendige, aber nicht hinreichende Vorbedingung dar. Erst die Koinzidenz der beiden Faktorenkomplexe schuf eine Konstellation, die mit Notwendigkeit auf den Massenmord an gesellschaftlichen Randgruppen, die als krank, behindert oder >gemeinschaftsfremd< ausgegrenzt wurden, hinauslief. Ohne die eugenische Fundierung der nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik wäre die Realisierung des Euthanasiepostulats kaum denkbar gewesen, doch genügt der Verweis auf die rassenhygienische Orientierung der nationalsozialistischen Politik nicht, um den abgestuften Radikalisierungsprozeß von der Verfolgung zur Vernichtung hinreichend zu erklären. Es bedurfte der spezifischen Dynamik des nationalsozialistischen Regimes, die aus dem Ineinandergreifen von charismatischem Legitimitätsanspruch und polykratischer Herrschaftsstruktur resultierte, um die dem rassenhygienischen Paradigma inhärente Radikalisierungstendenz zu Tage treten zu lassen. Eine doppelte kontrafaktische Fragestellung scheint geeignet, diese These zu veranschaulichen. Wäre es zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens< gekommen, wenn das System der Präsidialregierungen in der Endphase der Weimarer Republik Bestand gehabt hätte, wenn es also nicht zur Installierung des nationalsozialistischen Regimes gekommen wäre? Alles spricht dafür, daß die politische Implementierung des rassenhygienischen Programms in diesem Fall mit der Legalisierung der rassenhygienisch indizierten Sterilisierung auf freiwilliger Grundlage - vergleichbar der einschlägigen Gesetzgebung anderer Staaten - zum Abschluß gekommen wäre. Welche Entwicklung hätte die Gesundheits- und Sozialpolitik in der Ära des Nationalsozialismus durchlaufen, hätte sich das rassenhygienische Paradigma bis zum Beginn der 1930er Jahre als Bezugsrahmen der sozialpolitischen Diskussion nicht durchgesetzt? Wahrscheinlich wären im deutschen >Radikalfaschismus< eugenische Ideologieelemente ohne Bedeutung geblieben — ähnlich wie im italienischen >NormalfaschismusEuthanasie< im Nationalsozialismus zum Gegenstand hat. Der erste Hauptteil geht — nach einem knappen begriffsgeschichtlichen Abriß (Α. I.) — zunächst auf die Frage ein, inwieweit das Euthanasiepostulat Bestandteil der rassenhygienischen Programmatik war (Α. II. 1.). Dabei sind - abgesehen von der expliziten Formulierung des Euthanasiepostulats (Α. II. 1. a.) - alternative Programme negativer Eugenik, vor allem die Asylierung und Sterilisierung, zu berücksichtigen, die als Substitute der Eutha20

nasieidee angesehen werden können (Α. II. 1. b.). Darauf folgt ein Abschnitt, in dem die grundlegenden Strukturelemente des rassenhygienischen Paradigmas, also des Argumentationsschemas, das zur Legitimierung des Euthanasiepostulats benutzt wurde, herausgearbeitet werden (Α. II. 2.). In einem gesonderten Kapitel wird die Konstituierung der Rassenhygiene unter dem Gesichtspunkt der ideologischen Funktionalität untersucht (A.II.3.). Eine Analyse der Diffusion des rassenhygienischen Paradigmas in die medizinische Theoriebildung (A.II.4.) und der politischen Implementierung des rassenhygienischen Programms (Α. II. 5.) schließt sich an. Der erste Hauptteil endet mit einer Darstellung der auf dem rassenhygienischen Paradigma basierenden Diskussion um Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen und Vernichtung lebensunwerten LebensVernichtung lebensunwerten Lebens< in den Jahren von 1933 bis 1938 (Β. II.—Β. V.). Dabei stehen die Maßnahmen der ausmerzenden ErbpflegeDritten Reiches« ergriffen wurden, im Mittelpunkt (B. III.). Der zweite Abschnitt stellt den Verlauf der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< in den Jahren von 1939 bis 1945, gegliedert in die verschiedenen Phasen der >EuthanasieaktionEuthanasie< und Holocaust (Β. X.). Die letzten drei Kapitel bilden den dritten Abschnitt (Β. XI.-Β. XIII.). Er behandelt zum einen die auf der Basis der >Euthanasie< geplante Psychiatriereform. An dieser Stelle zeichnet sich das therapeutische Konzept, in das die >Euthanasieaktion< eingelagert war, deutlich ab (B.XI.). Zum anderen befaßt sich dieser Abschnitt mit der Beteiligung der Justiz an der >EuthanasieaktionEuthanasieaktion< untersucht (Β. XIII.). Am Ende werden die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung zusammengefaßt.

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TEIL A

Ideengeschichte der >Euthanasie
Euthanasie< - Wandlungen eines Begriffs

Der Begriff >Euthanasie< hat ein weitgespanntes Bedeutungsfeld. Seine Vielschichtigkeit ist darauf zurückzufuhren, daß sich im Zuge seiner semantischen Metamorphose verschiedene Bedeutungsebenen übereinander ablagerten, ohne daß ältere Bedeutungsgehalte völlig verdrängt wurden. Während die Denotation von >Euthanasie< weitreichenden und tiefgreifenden Wandlungen unterworfen war, wirkten abgesunkene Bedeutungsschichten konnotativ nach und trugen zur Unschärfe des Begriffs bei, indem sie sein Bedeutungsfeld ausweiteten. Daß >Euthanasie< mit der Zeit einen euphemistischen Charakter annahm, beruhte nicht zuletzt darauf, daß unterschwellige Nebenbedeutungen dem negativ besetzten Begriff eine positive Akzentuierung gaben. Das griechische Wort ε υ θ α ν α σ ί α - erstmals im 5. Jahrhundert v. Chr. belegt 1 - bezeichnete im hellenistischen und römischen Sprachgebrauch entweder ein im Sinne epikureischer Philosophie leichtes und schmerzloses Sterben - als vorbildhaft galt in diesem Zusammenhang der von Sueton beschriebene Tod des Augustus 2 - oder einen zumeist nach stoischen Wertmaßstäben guten und ehrenvollen Tod - in diesem Sinne wandte etwa Cicero den Begriff auf das Sterben im Dienste des Staates an. 3 Nachdem ε υ θ α ν α σ ί α auf Grund der v o m Christentum getragenen Anschauung v o m Tod als der Sünde Sold aus dem Wortschatz des mittelalterlichen Latein verschwunden war 4 - auch die sich im 15. Jahrhundert zu einer eigenständigen Literaturgattung entwickelnden Traktate zur ars moriendi griffen das Wort nicht auf 5 - , gebrauchte zu Beginn des 17. Jahrhunderts Francis Bacon den Begriff >Euthanasie< - nunmehr in der lateinischen Transkription euthanasia — in einem völlig neuen Sinn. In seinem Werk »De dignitate et augmentis scientiarum« (1605) meinte euthanasia exterior zum ersten Mal ärztliche Handlungen, die geeignet waren, Sterbenden den Todeskampf zu erleichtern: »Ferner halte ich es der Pflicht eines Arztes gemäß, . . . daß er auch die Schmerzen und Qualen der Krankheit lindere . . . auch dann, wenn ganz und gar keine H o f f n u n g mehr vorhanden, und doch aber durch die Linderung der Qualen ein mehr sanfter und ruhiger Ü b e r gang aus diesem zu j e n e m Leben verschafft werden kann.« 6 Nahezu zwei Jahrhunderte lang wurde der neue Inhalt des Euthanasiebegriffs von älteren Bedeutungsschichten — >Euthanasie< als schmerzloses Sterben — überlagert. Auch der im Jahre 1735 von Zacharias Philippus Schulz geprägte Ausdruck euthanasia medica deckte sich nur zum Teil mit dem von Bacon verwandten 25

Euthanasiebegriff, da Schulz davon ausging, daß ein leichter Tod göttliche Fügung sei, die der Arzt lediglich zu unterstützen habe. 7 Erst u m die Wende v o m 18. zum 19. Jahrhundert nahmen Nikolaus Paradys, Johann Christian Reil, Christoph Wilhelm Hufeland u. a. 8 den Baconschen Begriff wieder auf und forderten die Aufnahme der euthanasia medica oder ε υ θ α ν α σ ί α naturalis in die medizinische Therapeutik: » U m dem Menschen ins Leben hineinzuhelfen, dazu gibt es eine eigene Kunst, die Hebammenkunst, aber dafür, daß man erträglich wieder hinauskomme, ist fast nichts getan.« 9 Nachdem die >Euthanasie< als Desiderat der Therapeutik wahrgenommen worden war, entstand in den Jahren 1820-1850 eine umfangreiche Literatur zur Euthanasieproblematik. 1 0 Der im 19.Jahrhundert als >EuthanasieEuthanasie< mithin Sterbebegleitung ohne Lebens Verkürzung. 1 2 Die bewußte Beschleunigung des Sterbens durch den Arzt stieß, soweit sie überhaupt erörtert wurde, auf unbedingte Ablehnung, wenngleich das Problem der Leidensverlängerung durch Lebensverlängerung durchaus gesehen wurde. Dennoch sprach man dem Arzt das Recht über Leben und Tod apodiktisch ab. »Das Leben der Menschen zu erhalten und womöglich zu verlängern, ist das höchste Ziel der Heilkunde, und jeder Arzt hat geschworen, nichts zu tun, wodurch das Leben eines Menschen verkürzt werden könnte«, schränkte Hufeland im Jahre 1806 das Postulat der euthanasia medica ein. 1 3 Karl Friedrich Heinrich Marx schrieb i m Jahre 1827: »Übrigens bleibt es die Pflicht des Artzes, den Lebensfaden so weit, als nur irgend möglich ist, hinauszuspinnen . . . daß er nie daran denken darf, und wenn der Kranke auf das inständigste ihn bitten und beschwören würde, ja wenn er selbst den qualvollen Leiden, für die er an keine Linderung mehr glaubt, den Tod als den letzten Balsam wünschen wollte, auch nur einen Augenblick das Leben zu verkürzen.« 1 4 U n d Karl Ludwig Klohss 26

kleidete 1835 diesen Gedanken in den Aphorismus: »Tod erleichtern, heißt nicht Tod geben, wenngleich Tod geben, oft leider so viel, als ihn erleichtern, heißen möchte.« 15 Dieser Standpunkt wurde bis zum Beginn des 20.Jahrhunderts auch in ärztlichen Deontologien, 16 medizinischen Enzyklopädien 17 und allgemeinen Nachschlagewerken 18 eingenommen. Es zeigte sichjedoch frühzeitig, daß die Frage der Leidensverlängerung durch Lebensverlängerung das Einfallstor bildete, durch das der Gedanke der schmerzlosen Tötung Unrettbarer Eingang in die Euthanasieproblematik fand. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitete sich das Bedeutungsfeld des Begriffs >Euthanasie< in so starkem Maße aus, daß es, was das Recht des Arztes über Leben und Tod anging, nachgerade zu einer Umkehrung des Begriffs kam. Im Rahmen einer in den Jahren 1913-1917 hauptsächlich in der Zeitschrift »Monistisches Jahrhundert« ausgetragenen Kontroverse um einen von Roland Gerkan formulierten Gesetzesvorschlag zur Tötung auf Verlangen wurde >Euthanasie< erstmals im Sinne von >Sterbehilfe< gebraucht, 19 wobei dieser Begriff in zweifacher Hinsicht Unschärfen aufwies. Zum einen bezog man ihn nicht nur auf Sterbehilfe im Stadium der Agonie, sondern auch auf unheilbare Kranke und Behinderte, deren Leiden keineswegs zum Tode fuhren mußte. Zum anderen wurde das Einverständnis des zu Tötenden anders als in der kurz zuvor im Zusammenhang mit einer Revision des Reichsstrafgesetzbuches geführten juristischen Diskussion um Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Selbstmord, die sich noch nicht des Begriffs der >Euthanasie< bedient hatte- etwa im Falle von Bewußtlosen oder Geisteskranken nicht mehr grundsätzlich vorausgesetzt. Durch diese Ausdehnung des Begriffs der Sterbehilfe wurden die Grenzen zur > Vernichtung lebensunwerten LebensEuthanasie< eine vehemente juristische, medizinische und theologische Debatte geführt wurde, fließend. Im Zuge der Diskussion um Tötung auf Verlangen, Sterbehilfe und >Vernichtung lebensunwerten Lebens< wurden schließlich auch sozialdarwinistisch-rassenhygienische Vorstellungen von der >Auslese< und >Ausmerze< neugeborener Kinder unter erbpflegerischen Gesichtspunkten unter dem Euthanasiebegriff subsumiert. 21 Wie die in den Konversationslexika angegebenen Definitionen belegen, 22 hatte sich das Wort >Euthanasie< gegen Ende der 1920er Jahre zum Synonym für schmerzlose Tötung entwickelt. Innerhalb des nunmehr beträchtlich ausgeweiteten Bedeutungsfeldes des Euthanasiebegriffs ließen sich vier Ebenen voneinander abheben: - als ältere semantische Komponenten, die jetzt zusehends in den Hintergrund traten: 1. >Euthanasie< als leichtes Sterben; 2. >Euthanasie< als Sterbebegleitung ohne Lebensverkürzung; - als jüngere semantische Komponenten, die in zunehmendem Maße an Bedeutung gewannen: 27

3. >Euthanasie< als Bezeichnung der verschiedenen Formen von Sterbehilfe, die zwischen den Polen aktiver und passiver Sterbehilfe angesiedelt waren: a) Sterbehilfe durch Sterbenlassen; b) Sterbehilfe mit Lebensverkürzung als Nebenwirkung; c) Sterbehilfe mit gezielter Lebensverkürzung; d) Tötung auf Verlangen; 4. >Euthanasie< als Bezeichnung der verschiedenen Formen von Vernichtung lebensunwerten LebensVernichtung lebensunwerten LebensEuthanasie< eingingen, bildeten die Legitimationsbasis des im >Dritten Reich< an Kranken und Behinderten begangenen Massenmordes, der im Kreis der Täter auch als >Euthanasie< bezeichnet wurde, während der Begriff in der Propaganda des Nationalsozialismus tabuisiert wurde. 24

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II. Das rassenhygienische Paradigma als Matrix der Vorstellungen von der >Vernichtung lebensunwerten Lebens
Vernichtung lebensunwerten Lebens< gingen aus einem rassenhygienischen Paradigma hervor, das wiederum in ein sozialdarwinistisches Substrat eingebettet war. 1 Das rassenhygienische Argumentationsschema, das der eugenischen Variante der Euthanasieidee als Matrix diente, wurde bereits in der ersten Phase sozialdarwinistischer Theoriebildung vorgeformt, die in Deutschland in den 1860er Jahren mit der Konstituierung des naturalistischen Monismus (E. Haeckel), der darwinistischen Legitimierung des Antiklerikalismus (D. F. Strauß), der Integration darwinistischer Elemente in den mechanizistischen Materialismus (C. Vogt, J. Moleschott, L. Büchner) und der Einfuhrung bioorganismischer Metaphern in soziologische Theorien (A. Schäffle, P. v. Lilienfeld) begann. 2 Aber erst in einer zweiten Periode sozialdarwinistischer Konzeptualisierung, in der sich der Schwerpunkt innerhalb des Sozialdarwinismus vom Evolutions- zum Selektionsprinzip verschob 3 und die in Deutschland mit der Genese der Rassenanthropologie und Rassenhygiene in den 1890er Jahren einsetzte, kam dieses Argumentationsschema voll zur Entfaltung. Die Rassenanthropologie, die in Deutschland vor allem durch O . A m m o n und L. Woltmann vertreten wurde, 4 war durch die Verschränkung rassentheoretischer und sozialdarwinistischer Gedankengänge geprägt. Die von dem französischen Adligen J. A. de Gobineau in seinem »Essai sur l'inégalité des races humaines« (1853-57) s niedergelegte Rassentheorie fand in Deutschland erst durch die von L. Schemann im Jahre 1899 besorgte Übersetzung weitere Verbreitung. 6 Trotz der inneren Widersprüche zwischen Gobinismus und Sozialdarwinismus - die Rassendoktrin stellte den liberalkapitalistischen Industrialisierungsprozeß vom Standpunkt des Ancien regime aus dar, während der Sozialdarwinismus diesen säkularen Transformationsprozeß vom Boden der bürgerlichen Gesellschaft aus biologistisch legitimierteverschmolzen gobinistische und sozialdarwinistische Elemente gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu synkretistischen Rassentheorien. Vor allem H. St. Chamberlain verknüpfte in seinen »Grundlagen des 19. Jahrhunderts« (1899)7 den statischen Rassenbegriff des Gobinismus mit der Dynamik des Sozialdarwinismus, indem er - im Gegensatz zu Gobineau - nicht von einer vollkommenen Urrasse, sondern von einer zu züchtenden Idealrasse aus29

ging, wobei der >nordischearische< oder germanische Rassentypus G o b i neaus das >Zuchtziel< bildete. 8 Die >Menschenzüchtung< i m Sinne der Rassentheorie bildete den Aufgabenbereich der Rassenanthropologie, soweit sie sich als angewandte Wissenschaft verstand. Vermittelt durch die von H . F. K. Günther nach d e m Ersten Weltkrieg aufgestellt Rassenlehre 9 drangen rassenanthropologische Konzeptionen - gepaart mit radikalem Rassenantisemitismus - in die nationalsozialistische Ideologie ein. 1 0 Ging es den Rassenanthropologen u m die >Aufnordungnordischen< Rassenanteils in der Bevölkerung, machten sich die Rassenhygieniker die >Aufartunghochwertiger< Erbanlagen schlechthin, zur Aufgabe. 1 1 Dabei setzten sie der Hierarchie der >SystemrassenVitalrasse< entgegen, der einfach eine menschliche Fortpflanzungsgemeinschaft bezeichnete. 1 2 Das rassenhygienische Paradigma w u r d e bereits in den 1860er Jahren in England von W. Greg, A. R. Wallace und F. Galton v o r g e f o r m t . Vor allem Galton, ein Vetter Darwins, entwickelte seit der Mitte der 1860er Jahre die Grundzüge einer »neuen Lehre von allen Einflüssen, denen es möglich sei, die angeborenen Eigenschaften einer Rasse zu verbessern und zu höchster Vollkommenheit zu entwickeln«, 1 3 für die er im Jahre 1883 den Begriff national eugenics prägte. Die Galtonsche Eugenik entfaltete eine wenig k o n krete Programmatik, die als negative Elemente etwa die Absonderung von Gewohnheitsverbrechern oder die Einschränkung der Fortpflanzung von Geistesschwachen und -kranken enthielt. 1 4 Einige Erfolge konnte die E u g e nik in den Vereinigten Staaten erringen, w o Eugeniker bei der Durchsetzung der Sterilisierungsgesetzgebung in einigen Bundesstaaten seit 1907, beim Erlaß des Immigrant Restriction Act (1924) und bei der E i n f u h r u n g der Prohibition m i t w i r k t e n . 1 5 Parallel zur Konstituierung der Eugenik bildete sich in Deutschland seit den 1890er Jahren die Rassenhygiene heraus, deren Grundzüge v o n A. Ploetz und W. Schallmayer entwickelt wurden. In ihren Zielsetzungen von Anfang an radikaler als die angelsächsischen Eugeniker, erörterten die Rassenhygieniker auch die Euthanasiefrage. Abgesehen davon, daß die E u thanasieidee explizit in die rassenhygienische Programmatik a u f g e n o m m e n wurde, bildete sie auch den Hintergrund für das gesamte von den Rassenhygienikern aufgestellte P r o g r a m m negativer Eugenik. Die sukzessive K o n kretisierung der eugenisch fundierten Euthanasieidee, die embryonal bereits in der Formationsphase des Sozialdarwinismus präformiert w o r d e n war, w a r eng verschränkt mit der Konstituierung der Rassenhygiene. D e m g e genüber wirkte die Rassenanthropologie nur indirekt, nämlich bei der Bes t i m m u n g der Zielsetzungen der von der Rassenhygiene postulierten »künstlichen Zuchtwahl·, auf die Ideengeschichte der >Euthanasie< ein. 1 6

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ί. Die Idee der >Euthanasie< in der rassenhygienischen

Programmatik

a) Die >Auslese< und >Ausmerzet von Neugeborenen als erbpßegerische

Maßnahme

Im Vordergrund der eugenischen Variante der Euthanasieidee stand der Gedanke, schwache, kranke, körperlich mißgebildete und geistig behinderte Neugeborene unter erbpflegerischen Gesichtspunkten auszusondern und abzutöten. 1 Dieser Gedanke klang erstmals im naturalistischen Monismus an, einer Natur- und Moralphilosophie auf darwinistischer Basis, die in den 1860er Jahren von dem Zoologen Ernst Haeckel formuliert wurde. 2 Haekkel, der dem Darwinismus in Deutschland zum Durchbruch verhalf, 3 verlangte bereits 1863 in seiner Jungfernrede vor der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Stettin, wo die von Charles Darwin aufgestellte Entwicklungslehre noch als ein »vorübergehender Schwindel, dem bald die unausweichliche Ernüchterung folgen werde«, 4 abgetan wurde, die Übertragung der Darwinschen Evolutionstheorie auf den Menschen. 5 In seiner »Generellen Morphologie der Organismen« (1866) 6 unternahm Haeckel den Versuch einer solchen Einbeziehung des Menschen in die darwinistische Deszendenztheorie, indem er den Stammbaum des Homo sapiens aus der Gattung der Wirbeltiere ableitete. In seiner »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« (1868), 7 die in Form »gemeinverständlicher Vorträge« die monistische Exegese des Darwinismus einer breiten Öffentlichkeit näherbracht e - das Buch erschien in insgesamt zwölf Auflagen und fünfundzwanzig Übersetzungen 8 - , gab Haeckel diesem Gedanken eine spezifisch sozialdarwinistische Wendung. Von dem durch den Darwinismus postulierten Nexus von Evolutions- und Selektionsprinzip ausgehend, kam er zu dem Schluß, daß die Entwicklungsgeschichte des Menschen, da sie in den universalen Evolutionsprozeß eingebunden sei, durch die mit der natürlichen Zuchtwahl zusammenhängenden Auslesevorgänge bestimmt werde. Seiner monistischen Naturphilosophie gemäß, die keinen Unterschied zwischen biologischen und historischen Prozessen machte, wandte Haeckel die Darwinsche Trias von Variation, Vererbung und Selektion auch auf geschichtliche Entwicklungen an. »Die Völkergeschichte... m u ß . . . größtenteils durch matürliche Züchtung< erklärbar sein, muß ein physikalisch-chemischer Prozeß sein, der auf der Wechselwirkung der Anpassung und Vererbung in dem Kampfe der Menschen ums Dasein beruht.« 9 Neben der naturalen Selektion sei auch eine »künstliche Züchtung vielfach in der Weltgeschichte wirksam«. 1 0 Unter dem Begriff der künstlichen Züchtung verstand Haeckel einerseits >contraselektorische< Effekte des Zivilisationsprozesses - ausdrücklich erwähnte er die »medizinische Züchtung«, die vermeintliche Zunahme von Erbkrankheiten auf Grund der Fortschritte der modernen Therapeutik 11 - , andrerseits gezielte Eingriffe in die natürlichen Auslese Vorgänge - als solchen begriff Haeckel etwa die Todesstrafe, die zur 31

>Ausmerze< verbrecherischer Erbanlagen diene. 12 Im Zusammenhang mit diesen Maßnahmen zur Steuerung des naturalen Selektionsprozesses erinnerte Haeckel auch an die spartanischen Kindestötungen, die er - unter Ausblendung des historischen Kontextes - als Ausdruck bewußter Erbpflege deutete: »Ein ausgezeichnetes Beispiel von künstlicher Züchtung der Menschen im großen Maßstabe liefern die alten Spartaner, bei denen auf Grund eines besonderen Gesetzes schon die neugeborenen Kinder einer sorgfältigen Musterung und Auslese unterworfen werden mußten. Alle schwächlichen, kränklichen oder mit irgendeinem körperlichen Gebrechen behafteten Kinder wurden getötet. Nur die vollkommen gesunden und kräftigen Kinder durften am Leben bleiben, und sie allein gelangten später zur Fortpflanzung. Dadurch wurde die spartanische Rasse nicht allein beständig in auserlesener Kraft und Tüchtigkeit erhalten, sondern mit jeder Generation wurde ihre körperliche Vollkommenheit gesteigert. Gewiß verdankt das Volk von Sparta dieser künstlichen Auslese oder Züchtung zum großen Teil seinen seltenen Grad an männlicher Kraft und rauher Heldentugend. « 13

Sooft in den darauffolgenden Jahrzehnten die Euthanasieproblematik im Rahmen rassenhygienischer Reformpläne diskutiert wurde, berief sich die Apologetik eines nach eugenischen Kriterien konzipierten Euthanasieprogramms auf das erstmals von Haeckel angeführte Beispiel der spartanischen Kindestötungen. Das historische Exempel schien die Effektivität der >Euthanasie< als Instrument negativer Eugenik unter Beweis zu stellen. 14 O b wohl Haeckel es auf Grund seiner Deutung der spartanischen Kindestötungen als erwiesen ansah, daß sich durch die >Auslese< und >Ausmerze< von Neugeborenen Möglichkeiten der >Menschenzüchtung< eröffneten, 1 5 findet sich in seinen Schriften noch kein konkretes Euthanasiepostulat. Diese Inkonsequenz war keineswegs das Resultat moralischer Skrupel. Zwar hatte selbst der Rassenanthropologe Otto Ammon, der von der Notwendigkeit der >natürlichen Auslese< in der menschlichen Gesellschaft überzeugt war, im Jahre 1891 Maßnahmen zur >künstlichen Zuchtwahl· beim Menschen mit den Worten abgelehnt, daß »wir den Menschen nicht züchten und der Auslese unterwerfen wollen und dürfen wie ein unvernünftiges Vieh«. 16 Und mit Blick auf die >Auslese< und >Ausmerze< von Neugeborenen hatte A m m o n hinzugefügt: »Die Natur kann schwächliche Kinder töten, wir dürfen es nicht tun, die Natur kann die unbegabten und verkehrt angelegten Individuen zu Grunde gehen lassen, wir wären gemeine Verbrecher, wenn wir dabei helfen wollten.« 1 7 Haeckel jedoch, der keiner Kontroverse aus dem Weg ging, zur Polemik neigte und aus seinem dezidierten Antiklerikalismus kein Hehl machte, nahm auf die Normen christlicher Moraltheologie keine Rücksicht. Noch im Jahre 1904 verteidigte er sein Urteil über die spartanischen Kindestötungen gegen Kritik aus kirchlichen Kreisen mit dem Argument, daß - da das Seelenleben des Menschen bei der Geburt noch nicht entfaltet sei - »die Tötung von neugeborenen verkrüppelten Kindern, wie sie ζ. B. die Spartaner behufs der Selektion der Tüchtigsten übten, vernünfti32

gerweise gar nicht unter den Begriff des >Mordes< fallen [könne], wie es noch in unseren modernen Gesetzbüchern geschieht. Vielmehr müssen wir dieselbe als eine zweckmäßige, sowohl für die Beteiligten wie für die Gesellschaft nützliche Maßregel billigen.« 18 Die Euthanasieidee stand also im Einklang mit der von Haeckel vertretenen naturalistischen Moralphilosophie. Daß er dennoch darauf verzichtete, die Freigabe >erbpflegerisch begründeter Kindestötungen< expressis verbis zu verlangen, war auf ein spezifisches Desinteresse zurückzuführen, das auf seinem Vertrauen auf die regulativen Mechanismen innerhalb des Evolutionsprozesses beruhte. Er traute dem »überall waltenden und unüberwindlichen Einflüsse der viel stärkeren natürlichen Züchtung«, die auch in Hinblick auf den Menschen »das wichtigste umgestaltende Prinzip und der kräftigste Hebel des Fortschritts und der Vervollkommnung« 1 9 sei, ohne weiteres zu, die >contraselektorischen< Effekte des Zivilisationsprozesses zu kompensieren und der Evolution einen progressus ad infinitum zu garantieren. Solange dieser Fortschrittsglaube, der die Entwicklungsgeschichte des Menschen als selbsttragenden und zielgerichteten Vorgang verstand, ungebrochen blieb, kamen die eugenischen Konzeptionen, die im naturalistischen Monismus rudimentär angelegt w a ren, nicht zum Tragen. Erst als der Sozialdarwinismus unter dem Eindruck der kulturpessimistischen Tendenzen des fin de siècle die Vorstellung von der teleologischen Perspektive des Evolutionsprozesses aufgab, gewann die eugenische Problematik an Aktualität. Mit der Konstituierung des rassenhygienischen Paradigmas nahm auch die eugenische Variante der Euthanasieidee konkretere Formen an. Die Zusammenhänge zwischen Kulturpessimismus und Zivilisationskritik einerseits, Eugenik und >Euthanasie< andrerseits kamen im Leben und Werk des Arztes Alfred Ploetz, der im Prozeß der Konzeptualisierung und Institutionalisierung der Rassenhygiene eine Schlüsselrolle spielte, beispielhaft zum Ausdruck. Ploetz, das Urbild des Loth in Gerhart Hauptmanns Drama »Vor Sonnenaufgang«, 2 0 gründete im Jahre 1884 als Student der Nationalökonomie den Verein Pacific. Zielsetzung dieser » h a r m l o s e n - a b e r was ist harmlos in der Politik? - alldeutsch-sozialen Gesellschaft« 21 war es, nach dem Vorbild der von Etienne Cabet inspirierten Gemeinschaften der Ikarier eine sozialistisch-pangermanische Kolonie in Nordamerika einzurichten. Nach einem halbjährigen Aufenthalt in einer Gemeinde der Ikarier in Iowa stellte Ploetz im Jahre 1885 jedoch enttäuscht fest, »daß mit dem heutigen durchschnittlichen Menschenmaterial der Zusammenhalt solcher Kolonien, besonders solcher mit größerer individueller Freiheit, nicht aufrecht zu erhalten wäre«. 2 2 Diese Einsicht überzeugte ihn von der » N o t w e n digkeit einer selbständigen Wissenschaft der biologischen Hebung der Rasse«, 23 der er später den N a m e n Rassenhygiene gab. In Zürich, w o Ploetz das Studium der Medizin aufnahm, 2 4 begann er, angeregt durch den Schweizer Psychiater Auguste Forel, dessen Degenerationstheorie das in statu nascendi begriffene rassenhygienische Konzept nachhaltig beeinflußte, 2 5 mit den er33

sten Ausarbeitungen zu einer umfassenden Darlegung der neuen Lehre, deren Grundzüge er in den Jahren 1890-1894 - Ploetz arbeitete damals als niedergelassener Arzt in den Vereinigten Staaten - schriftlich niederlegte, um sie schließlich unter dem Titel »Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen« (1895) 26 zu veröffentlichen. Dieses Buch enthielt ein zentrales Kapitel, das unter der Überschrift »Der ideale Rassenprocess« stand. Darin entwarf Ploetz »die Grundlinien einer Art rassenhygienischer Utopie, über deren komisches und grausames Äußere der Leser nicht zu erschrecken braucht«. Die Darstellung, schränkte Ploetz weiter ein, gehe »von einem einseitigen, durchaus nicht allein berechtigten Standpunkt aus, welcher nur den Konflikt der bis in ihre Konsequenzen verfolgten Anschauungen gewisser darwinistischer Kreise mit unseren Kulturidealen deutlich hervortreten lassen soll«. 27 Diese Vorbemerkungen verrieten das Unbehagen, das Ploetz angesichts der Radikalität seiner Vision des >idealen Rassenprozesses< offenbar empfand 2 8 - die fragmentarische Utopie »Kantsaywhere«, die sich im Nachlaß des fuhrenden englischen Eugenikers Francis Galton fand, 2 9 war beispielsweise ungleich maßvoller gehalten als die von Ploetz zu Papier gebrachten rassenhygienischen Phantasien, in die auch Vorstellungen über die >Auslese< und >Ausmerze< von Neugeborenen unter erbpflegerischen Gesichtspunkten eingeflochten waren. Neben Ideen zur Ausgestaltung einer am Primat des Selektionsprinzips orientierten Gesellschaftsordnung, die auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Aufhebung des Erbrechts und den Abbau des Systems sozialer Sicherung und medizinischer Versorgung abhoben, 3 0 bildeten Planspiele zur Manipulation des generativen Verhaltens nach eugenischen Kriterien einen Schwerpunkt der von Ploetz konzipierten rassenhygienischen Utopie. Im >idealen Rassenprozeß< sollten alle Jugendlichen einer Prüfung insbesondere ihrer moralischen und intellektuellen Qualitäten unterzogen werden, von deren Ergebnis es abhängen sollte, wieviele Kinder sie im Erwachsenenalter zur Welt bringen durften. 3 1 Der Staat sollte verhindern, daß ein Elternpaar mehr als sechs Kinder zur Welt brachte - Ploetz war davon überzeugt, daß sich vom sechsten Kind an die Erbanlagen drastisch verschlechterten. Außerdem ging es ihm darum, durch die Beschränkung der Kinderzahlen die Abstände zwischen den Geburten zu vergrößern, wovon er sich günstige Rückwirkungen auf die Erbmasse der nachgeborenen Kinder versprach. Da Ploetz es als erwiesen ansah, daß bei Kindern, deren Eltern zu jung oder zu alt waren, eine Häufung von Erbschäden auftrat, sollte im >idealen Rassenprozeß< die Fortpflanzung sowohl vor dem Erreichen der Geschlechtsreife, die Ploetz bei der Frau mit der Vollendung des 24., des 26. Lebensjahres beim Mann als gegeben annahm, als auch nach Überschreiten einer Altersgrenze, die Ploetz fur die Frau mit der Vollendung des 45., des 50. Lebensjahres für den Mann als erreicht ansah, untersagt werden. »Ganz schwächlichen oder defekten Individuen« 32 sollte die Ehe34

Schließung auf Lebenszeit verboten werden. Durch eine sorgfältige U n t e r weisung in Fragen der Rassenhygiene sollte im >idealen Rassenprozeß< sichergestellt werden, daß sich die Elternpaare bei ihrer Lebensführung von der Rücksicht auf die Erbgesundheit ihrer Nachkommenschaft leiten ließen und vor allem >Keimgifte< (Alkohol, Nikotin) mieden. Die Zeugung sollte »nicht irgendeinem Z u f a l l . . . überlassen« bleiben, sondern »nach den Grundsätzen, die die Wissenschaft für Zeit und sonstige Bedingungen aufgestellt hat«, 3 3 geregelt werden. Zu diesem Zweck sollten Methoden der Geburtenkontrolle popularisiert und Mittel zur Empfängnisverhütung zur Verfügung gestellt werden. 3 4 Während der Schwangerschaft und unter der Geburt sollten die Frauen besonderen Schutz genießen. 3 5 In diesem System eugenisch motivierter Reglementierung des generativen Verhaltens kam der >Auslese< und >Ausmerze< von Neugeborenen unter erbpflegerischen Gesichtspunkten die Funktion eines Korrektivs zu: »Stellt es sich trotzdem heraus, daß das Neugeborene ein schwächliches oder mißgestaltetes Kind ist, so wird ihm von dem Ärzte-Kollegium, das über den Bürgerbrief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet, sagen wir durch eine kleine Dosis Morphium. Die Eltern, erzogen in strenger Achtung vor dem Wohl der Rasse, überlassen sich nicht lange rebellischen Gefühlen, sondern versuchen frisch und fröhlich ein zweites Mal, wenn ihnen dies nach ihrem Zeugnis über Fortpflanzungsbefähigung erlaubt ist. Dieses Ausmerzen der Neugeborenen würde bei Zwillingen so gut wie immer und prinzipiell bei allen Kindern vollzogen werden, die nach der sechsten Geburt oder nach dem 45. Jahr der Mutter, bzw. dem 50. Jahr des Vaters überhaupt - entgegen einem gesetzlichen Verbot - geboren werden. « 36

Kann man aus dieser Textpassage folgern, daß Ploetz die Einführung von >erbpflegerisch begründeten Kindestötungen< für eugenisch notwendig und moralisch vertretbar hielt? O d e r läßt sie darauf schließen, daß Ploetz die barbarischen Konsequenzen eines radikalen Sozialdarwinismus, denen er ablehnend gegenüberstand, veranschaulichen wollte? War die Vision des >idealen Rassenprozesses< eine abstrakte Utopie, die mit Denkmöglichkeiten ohne Wirklichkeitsbezug spielte, oder eine konkrete Utopie, die dem rassenhygienischen P r o g r a m m Stoßrichtung und Zielsetzung vorgab? 3 7 U m diese Fragen beantworten zu können, ist es notwendig, die von Ploetz konzipierte rassenhygienische Utopie in die Gedankenführung seines Gesamtwerks einzuordnen. Als Ziel der Rassenhygiene definierte Ploetz die quantitative »Erhaltung und Vermehrung der Zahl« der Angehörigen einer Rasse bei gleichzeitiger qualitativer »Vervollkommnung des Typus« der Rasse. 3 8 Aus dieser doppelten Schwerpunktsetzung leitete er drei Grundforderungen der Rassenhygiene ab: » 1. Erzeugung möglichst vieler besserer Devarianten. 2. Scharfe Ausjätung des schlechteren Teiles der Convarianten... Keine Erleichterung der Gesamtgröße der selektorischen Einflüsse. 3. Keine Contraselektion, d. h. keine Ausmerzung grade der guten und kein be35

sonderer Schutz grade der schlechten Convarianten; also keine Kriege, keine blutigen Revolutionen, kein besonderer Schutz der Kranken und Schwachen. «39

Die rassenhygienische Utopie hatte die Aufgabe zu zeigen, »welch' ein Bild etwa eine Gesellschaft in groben Zügen darbieten würde, wenn sie ausschließlich danach eingerichtet wäre«. 4 0 Vor dem Hintergrund dieser gedachten Gesellschaftsordnung analysierte Ploetz sodann das real existierende soziale System in Bezug auf >selektorischenonselektorische< und >contraselektorische< Effekte. Er kam zu dem Schluß, daß die vorfindlichen gesellschaftlichen Verhältnisse den drei Forderungen der Rassenhygiene grosso modo nicht genügten. 4 1 Ploetz war sich über den Widerspruch zwischen den Erfordernissen der Rassen- und der Individualhygiene, als deren Wurzelgrund er vor allem den Sozialismus - dazu zählte er die Sozialdemokratie ebenso wie christliche Soziallehren und die Sozialpolitik des wilhelminischen Interventionsstaats 4 2 - ansah, im klaren. 4 3 Er glaubte jedoch, in gewisser Weise die Zielsetzungen der modernen Humangenetik vorwegnehmend, diesen Widerspruch durch »ein Verschieben der Auslese und Ausjäte von den Menschen auf die Zellen, aus denen sie hervorgehen, also eine künstliche Auslese der Keimzellen« 4 4 auflösen zu können. Durch ein Programm positiver Eugenik — »eine systematische Vorbereitung zu dem Zeugungsakt, das Beobachten und Schaffen aller der Bedingungen, die einen möglichst günstigen Einfluß auf die Beschaffenheit der N a c h k o m m e n haben« 4 5 - hoffte Ploetz, die >contraselektorischen< Effekte der medizinischen Versorgung, der A r m e n pflege, der Sozialversicherung usw. ausgleichen zu können. Auf der Folie dieses Argumentationsschemas wird deutlich, daß Ploetz in seiner rassenhygienischen Utopie Elemente einer positiven und einer negativen, einer abstrakten und einer konkreten Utopie miteinander verknüpfte. Die Vorstellungen zur Fortpflanzungshygiene hatten den Charakter konkreter Reformpostulate, die Ausführungen zum Abbau der Krankenpflege und der Sozialversicherung stellten die negative Alternative zu diesem Prog r a m m positiver Eugenik dar. Da die Idee einer >künstlichen Zuchtwahl· durch die >Auslese und Ausmerze erbuntüchtiger< Neugeborener, obwohl sie inhaltlich zum Problemkreis der >contraselektorischen< Effekte der Medizin gehörte, innerhalb der rassenhygienischen Utopie in den Kontext positiver Eugenik eingebettet war, kann man nicht ausschließen, daß Ploetz an eine zeitweilige Freigabe >erbpflegerisch begründeter Kindestötungen< dachte - zumindest so lange, bis durch die Beherrschung der Variabilität der genetischen Substanz die Erzeugung >erbpflegerisch unerwünschten» N a c h wuchses verhindert werden konnte. 4 6 Die Effektivität der >Euthanasie< als Instrument der Eugenik stand für ihn - auf Grund des geschichtlichen Vorbildes der spartanischen Kindestötungen 4 7 - außer Frage. Es sei aber zweifelhaft, befand er zur selben Zeit an anderer Stelle, »ob ein Mensch, der im Stande ist, Greise und Kranke zu vernichten oder auszustoßen, dasjenige 36

Maß von sozialen Tugenden und von Altruismus besitzen kann, das zur Erhaltung und höchsten Blüte der Gesellschaft notwendig ist«. Deshalb sei »die Verhinderung der Neuerzeugung von Schwachen bei der Fortpflanzung das charakteristische Problem der Hygiene . . . der gesamten menschlichen Rasse«. 48 Während Ploetz, der den Wissenschaftscharakter der Rassenhygiene hervorzuheben versuchte, den Begriff der >Menschenzüchtung< nach Möglichkeit vermied, 4 9 übte die Vorstellung, daß sich der Mensch durch die eugenische Manipulation des Evolutionsprozesses zu einem >Übermenschen< >aufarten< lasse, auf sozialdarwinistische Zirkel, die im Rezeptionsbereich des rassenhygienischen Paradigmas lagen, eine besondere Faszination aus. Der Prager Philosoph Christian v. Ehrenfels, der für eine polygame Sexualordnung plädierte, 50 Willibald Hentschel, der mit Hilfe seines Mittgart-Bundes ländliche Siedlungsgemeinschaften zur >Aufartung< der >nordischen Rasse< gründen wollte, 5 1 oder der Arzt Paul C. Franze, der anläßlich der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Salzburg im Jahre 1909 einen Vortrag über die »Höherzüchtung des Menschen auf biologischer Grundlage« 52 hielt, setzten sich für den Gedanken der >Menschenzüchtung< ein. Zu diesem Kreis zählte auch der pensionierte Sanitätsrat Fritz Dupré, der in einer Abhandlung über »Weltanschauung und Menschenzüchtung« (1926) Vorschläge zur »Erschaffung des wahren Übermenschen« 5 3 unterbreitete. Durch die Einfuhrung einer polygamen Sexualordnung und genossenschaftlicher Großhaushalte, die Durchsetzung von Eheverboten und Zwangssterilisationen wollte Dupré »Spartiaten und Spartiatinnen des 20. Jahrhunderts« 5 4 züchten. In einem Abschnitt »Über einiges Nebensächliches« forderte er als flankierende Maßnahmen zur >Menschenzüchtung< u. a. »1) Die staatliche Abtötung aller geborenen Blödsinnigen. Es sind dies diejenigen Mißgeburten, bei denen die unheilbare Verblödung an untrüglichen äußeren Kennzeichen mit absoluter Sicherheit festzustellen ist. Sie sind fiirderhin nach Feststellung des Tatbestandes auch gegen den Willen ihres Erzeugers durch die Beauftragten des Staates abzutöten. 2) Abzutöten sind alle mit schwersten körperlichen Gebrechen Geborenen, von denen mit Sicherheit anzunehmen ist, daß sie für die Dauer ihres Lebens hilflos auf ihre Umwelt angewiesen sind... 4) Früchte aus offenkundig syphilitischen, nicht ausgeheilten Eltern sind, wenn sie nicht vor oder während der Geburt absterben, staatlich abzutöten... Der gegen den Willen der Gesamtheit schwanger gewordenen syphilitischen Mutter, aber auch der scheinbar gesunden, von einem unausgeheilten syphilitischen Manne geschwängerten Frau kann nur die Wahl gelassen werden, ob sie ihre Leibesfrucht vor oder nach deren Geburt abgetötet haben will. « 5S

Ein Einwand, der immer wieder gegen die >Auslese< und >Ausmerze< von Neugeborenen unter erbpflegerischen Gesichtspunkten erhoben wurde, stützte sich auf das Beispiel historischer Persönlichkeiten, die trotz Krank37

heit oder Behinderung Hervorragendes geleistet hatten. Ammon kritisierte im Jahre 1893 an der von Ploetz konzipierten rassenhygienischen Utopie, daß, da ihre Auslesekriterien an körperlichen Tauglichkeitsmerkmalen orientiert waren, »unter diesem System... Immanuel Kant in den Windeln vergiftet worden« S6 wäre. Κ. H. Bauer bezeichnete es im Jahre 1926 als einen »Irrwahn gewisser Rassefanatiker«, daß die Rassenhygiene »spartanische Methoden« erfordere: »Wer schützt uns davor, daß man mit einem Siebenmonatskind einen künftigen Wilhelm III. von England oder mit einem bei der Geburt schwächlichen Kinde einen Alexander v. Humboldt... oder mit einem Wasserkopf das kommende Genie eines Menzel oder Helmholtz aussetzte?«57 U m diesen Einwand zu entkräften, ging Dupré auf den Fall der amerikanischen Schriftstellerin Helen Keller ein, die als Kleinkind Gehör und Augenlicht verlor, dank der Bemühungen ihrer Lehrer jedoch Sprechen, Lesen und Schreiben lernte. Er räumte zwar ein, daß, wenn die Behinderungen dieser Frau angeboren gewesen wären, unter dem von ihm vorgeschlagenen rassenhygienischen Regime ein hochbegabter Mensch der Vernichtung anheimgefallen wäre. Gleichzeitig verwies er aber auf die Einmaligkeit dieses Falles, der auf der Verkettung günstiger Umstände beruhe. Wenn man, wie er es vorschlage, Geist zum Ziel der >Menschenzüchtung< erheben würde, brauche »man nicht mehr so ängstlich jedes Körnlein Geist aus der Spreu der Mittelmäßigkeit herauszusieben«. 58 Deshalb nahm Dupré den Fall Helen Keller sogar zum Anlaß, seine Forderungen dahingehend zu erweitern, »daß in Zukunft auch die Träger erworbener körperlicher Schäden abgetötet werden sollen, so lange es sich um ein Alter handelt, in welchem die Betroffenen von sich selbst noch keine klare Vorstellung haben«. 5 9 Für die Konstituierung der eugenischen Variante der Euthanasieidee war die Genese der Rassenhygiene von ausschlaggebender Bedeutung. Umgekehrt stand die Euthanasieidee jedoch keineswegs im Zentrum der rassenhygienischen Programmatik. Vielmehr wurde sie im rassenhygienischen Diskurs durchaus differenziert diskutiert, ζ. B. von Fritz Lenz, der imjahre 1923 auf den ersten Lehrstuhl für Rassenhygiene in Deutschland an der Universität München berufen wurde. In der 1931 erschienenen dritten Auflage seines Werkes »Menschliche Auslese und Rassenhygiene (Eugenik)«, das Teil des seit den 1920er Jahren fuhrenden deutschsprachigen Lehrbuchs fur Rassenhygiene »Menschliche Erblehre und Rassenhygiene« von Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz war, nahm Lenz zum Problem der >Euthanasie< ausfuhrlicher Stellung als in den vorausgegangenen Auflagen. 60 In einer Schrift von F. Barth war der Eindruck entstanden, Lenz trete bedingungslos für die >Euthanasie< ein. 61 Demgegenüber betonte Lenz, »daß die sogenannte Euthanasie als wesentliches Mittel der Rassenhygiene nicht in Betracht kommt«. 6 2 Unter Bezugnahme auf die nach dem Ersten Weltkrieg intensivierte Diskussion um Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen und > Vernichtung lebensunwerten Lebens«63 vertrat Lenz die Ansicht, bei der >Euthanasie< 38

handele es sich »vorzugsweise um eine Frage der Humanität. Selbst die altspartanische Aussetzung mißratener Kinder ist noch ungleich humaner als die gegenwärtig im Namen des >Mitleids< geübte Aufzucht auch der unglücklichsten Geschöpfe«. 64 In Bezug auf die Rassenhygiene komme der >Euthanasie< hingegen insofern keine große Bedeutung zu, als der betroffene Personenkreis ohnehin kaum zur Fortpflanzung gelange; wenn diese Gefahr bestehe, könne man ihr durch Unfruchtbarmachung vorbeugen. Für die schmerzlose Tötung >mißratener< Kinder spreche vom Standpunkt der Rassenhygiene allerdings, daß sie es den Eltern ermögliche, ein weiteres, gesundes Kind zur Welt zu bringen. Dies würde auch bedeuten, daß »die Frage der Ehetauglichkeit belasteter Personen sogar viel entgegenkommender als heute beurteilt werden« 65 könne. Beispielsweise würden weniger Bedenken bestehen, eine Ehe zwischen Partnern, die, selbst gesund, als Träger der rezessiven Anlage zur Taubstummheit anzusehen seien, zu gestatten, weil man die taubstumm geborenen Kinder aus einer solchen Ehe abtöten und auf diese Weise den Eltern die Möglichkeit geben könne, so viele gesunde Kinder zu bekommen, wie es ihre Einkommensverhältnisse erlaubten. O b wohl Lenz also der Tötung von kranken und behinderten Kindern indirekt doch noch eine eugenische Funktion zuschrieb, befürwortete er sie letztlich nicht, weil durch ihre Freigabe »die Achtung vor dem individuellen Leben, die eine wesentliche Grundlage unserer sozialen Ordnung ist, eine bedenkliche Einbuße erfahren würde«. 6 6 Obwohl sich auch im westlichen Kulturkreis nicht wenige Kindestötungen zum Zweck der Geburtenregelung ereigneten, schließe »das moralische Bewußtsein im Abendlande eine rechtliche Zulassung der Kindstötung aus«. 6 7 Doch offenbarte eine abschließende Bemerkung, daß Lenz diesen moralischen Normen keinen Absolutheitsanspruch zubilligte: »Auf keinen Fall ist sie [die >Euthanasieerbpflegerisch begründeten Kindestötungen< herabzusetzen, das Euthanasiepostulat in die rassenhygienische Programmatik aufzunehmen. Offen vollzog er diesen Schritt nicht. Nachdem seine Ausführungen zur Euthanasiethematik unverändert in die vierte Auflage seines Werkes, die im Jahre 1938 erschien, übernommen worden waren, bekräftigte Lenz in einem Vorwort zu einer 1940 veröffentlichten Schrift, in der die >Ausmerze< von Neugeborenen als erbpflegerische Maßnahme gefordert wurde, seinen Standpunkt, daß es sich bei der Euthanasieproblematik primär um eine Frage der Humanität handele. 69 Als Mitglied eines Gremiums, das über einen Gesetzentwurf zur Sterbehilfe beriet, leistete Lenz im Jahr darauf seinen Beitrag zur Lösung dieser Frage. 7 0

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b) Alternativen zur >Euthanasie< in der rassenhygienischen Programmatik: Marginalisierung, Asylierung und Sterilisierung als Instrumente negativer Eugenik Für die Entstehung des Gedankens der >Auslese< und >Ausmerze< von N e u geborenen unter erbpflegerischen Gesichtspunkten war die Einbettung in die rassenhygienische Programmatik von ausschlaggebender Bedeutung. Fragt man umgekehrt nach der Relevanz der Vorstellungen von der >erbpflegerisch angezeigten Kindestötung« im Prozeß der rassenhygienischen T h e o riebildung, bleibt festzuhalten, daß dem Euthanasiepostulat, sofern es in der rassenhygienischen Literatur überhaupt thematisiert wurde, nur eine untergeordnete Rolle zukam. Die rassenhygienischen Programme zerfielen regelmäßig in Maßnahmen zur positiven und negativen Eugenik. 7 1 Der eugenisch fundierten Euthanasieidee wurde nicht nur stets eine komplementäre Funktion zum Instrumentarium positiver Eugenik zugeordnet - wie etwa in der von Ploetz entworfenen Fortpflanzungshygiene oder bei der von Dupré geforderten >Menschenzüchtung< - , sie war auch - wie der Hinweis von Lenz auf die Effektivität der rassenhygienischen Sterilisierung belegt - gegen alternative Konzepte negativer Eugenik austauschbar. Als extremste Form der negativen Eugenik stellte die >Euthanasie< die ultima ratio des rassenhygienischen Programms dar. Das übrige Instrumentarium der negativen Eugenik sollte den Vorstellungen der Rassenhygieniker zufolge die >selektiven< Funktionen, die der >Euthanasie< zugeschrieben wurden, wahrnehmen, ohne daß Menschen durch unmittelbare Gewaltanwendung zu Tode gebracht werden mußten. Überlegungen, durch eine Einschränkung der Vorsorge und Fürsorge die Sterblichkeitsraten in den als >erblich minderwertig« stigmatisierten Klassen, Schichten und Gruppen heraufzusetzen, die Fortpflanzung der vermeintlichen Träger >minderwertigen Erbgutes« durch die Schaffung von gesetzlichen Eheverboten, durch strenge Absonderung von der Außenwelt oder durch Unfruchtbarmachung zu verhindern, zielten auf eine Ausrottung ohne Massenmord ab. Sie stellten insofern keine prinzipielle Alternative zum Euthanasiepostulat dar, sondern unterschieden sich lediglich durch den Grad an Radikalität, mit dem sie grundlegende Menschenrechte - auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit - in Frage stellten. Der Vernichtungswille trat in den Programmen negativer Eugenik, die von der Formulierung des Euthanasiepostulats aus Rücksicht auf geltende juristische, ethische und religiöse N o r m e n und unter Hinweis auf andere, ebenso effektive Instrumente der >Ausmerze< absahen, deutlich zutage. Durch den Ausmerzegedanken verklammert, lagen rassenhygienische Programmpunkte wie Marginalisierung, Asylierung und Sterilisierung gleichsam auf einer schiefen Ebene - jeder Gedankengang, der sich auf dieser abschüssigen Bahn bewegte, lief Gefahr, in Vorstellungen von der V e r n i c h tung lebensunwerten Lebens« abzugleiten. Der Gedanke, durch die Einschränkung der Vorsorge und Fürsorge die Sterblichkeit der als >erblich minderwertig« diskriminierten, da sozial unter40

privilegierten Bevölkerungsschichten zu erhöhen, ging auf Alexander Tille zurück. Tille, der nach der J a h r h u n d e r t w e n d e z u m h o c h r a n g i g e n F u n k t i o när industrieller Interessenverbände i m wilhelminischen D e u t s c h l a n d a u f stieg, unterrichtete v o n 1890 bis 1900 deutsche Sprache u n d Literatur in G l a s g o w . 7 2 In diesem Z e i t r a u m verfaßte er zwei Arbeiten, die der Rassenhygiene den B o d e n bereiteten - das zunächst a n o n y m veröffentlichte Werk »Volksdienst« (1893), in d e m er die G r u n d z ü g e eines sozialdarwinistisch orientierten Sozialsystems entwickelte, u n d die A b h a n d l u n g »Von D a r w i n bis Nietzsche« (1895), in der er seine auf d e m D a r w i n i s m u s basierende >Entwicklungsethik< d e m C h r i s t e n t u m , der Sozialdemokratie u n d der staatlichen Sozialpolitik entgegensetzte. 7 3 Tille ging v o n d e m darwinistischen A x i o m aus, daß das Selektionsprinzip das S c h w u n g r a d des E v o l u t i o n s p r o zesses sei, u n d stellte die Frage: »Was sollte uns b e s t i m m e n , m i t t e n in j e n e r Schlußkette Halt zu m a c h e n u n d den Menschen, der, w i e w i r h e u t e wissen, d o c h n u r ein Lebewesen ist wie die anderen, v o n j e n e m Gesetz a u s z u n e h men?« 7 4 D i e A u ß e r k r a f t s e t z u n g der >natürlichen Z u c h t w a h l · m u ß t e , d a v o n w a r Tille überzeugt, auch b e i m M e n s c h e n zu einer >Entartung der E r b a n l a gen< f u h r e n . »Wo ein Wesen d a u e r n d außerhalb des W e t t b e w e r b s u m die Daseinsmittel gestellt w i r d , da ist m i t dieser Stellung regelmäßig eine g e schlechtliche D e g e n e r i e r u n g v e r b u n d e n . « 7 5 D e m g e m ä ß n a h m Tille an, daß i m Z u g e des Zivilisationsprozesses 7 6 die »Sistierung der natürlichen Auslese aus religiösem Vorurteil vielleicht sogar eine S c h w ä c h u n g des D u r c h schnittsmenschen h e r v o r g e r u f e n h a t « . 7 7 Die h u m a n e Ü b e r f o r m u n g des Selektionsprinzips lehnte Tille daher als contradictio in adiecto ab. Jeder Versuch, den M e n s c h e n »ein Leben über der N a t u r « zu verschaffen, f ü h r e dazu, ihnen »ein Dasein unter der bereits erreichten leiblichen u n d geistigen Vollk o m m e n h e i t s s t u f e zu bereiten«. 7 8 U m der >Entartungsgefahr< zu b e g e g n e n u n d d a r ü b e r hinaus eine » H e b u n g u n d Herrlichergestaltung der menschlichen Rasse« 7 9 zu bewirken, verlangte Tille »die A u f r e c h t e r h a l t u n g der natürlichen Auslese«; diese sei gewährleistet, »sobald n u r erst soziale Z u stände geschaffen sind, in denen j e d e r auf seine natürlichen Anlagen a n g e wiesen ist.« 8 0 D a d u r c h sollte eine »soziale Auslese und Ausscheidung, k r a f t deren die tüchtigsten Arbeiter überleben u n d reichliche N a c h k o m m e n s c h a f t erzeugen, w ä h r e n d die u n t ü c h t i g s t e n w o m ö g l i c h schon v o r d e m Heiratsalter z u g r u n d e g e h e n « , 8 1 erreicht w e r d e n . In seiner Verherrlichung des K a m p f e s u m s Dasein ging Tille so weit, O s t l o n d o n , das Elendsviertel der englischen H a u p t s t a d t , das Friedrich E n gels etwa zur gleichen Zeit als » S u m p f v o n s t o c k e n d e m Elend u n d Verzweiflung, v o n H u n g e r s n o t , w e n n unbeschäftigt, v o n physischer u n d m o r a l i scher E r n i e d r i g u n g , w e n n beschäftigt«, 8 2 bezeichnete, als »Nationalheilanstalt« zu feiern: »In dieser Atmosphäre von Straßendunkel, Kot und Ungeziefer, Alkohol und halbnackten Weibern und Kindern... in Frost, Hunger und Not geht alles zu Grunde, 41

was in den Strudel gezogen wird, und mit einer Präzision, die Staunen erregt. N i c h t an Epidemien - der Alkohol scheint dieses Volk gegen Pocken und Cholera zu f e i e n - , sondern an V e r s u m p f u n g , am Herabsinken z u m S c h w e i n e . . . Die Sterblichkeitziffer dieser Distrikte beträgt das Anderthalbfache derjenigen des übrigen L o n don, und die Zahl der Todesfälle nahezu das Doppelte der Geburten. Mit unerbittlicher Strenge scheidet die N a t u r die z u m Tier und unter das Tier herabgesunkenen Menschen aus den Reihen der anderen aus. Mit unerbittlicher Strenge sucht sie unter solchen Verhältnissen, w o es sich schon u m ein bedeutendes M e h r an Kraft handeln m u ß , w e n n m a n sich im Daseinssumpf behaupten will, die Sünden der Väter an den Kindern heim bis ins dritte Glied - d e m vierten spart sie die Existenz. « 8 3

Die ideologische Funktion dieser Argumentation, die sich übrigens gegen den von William Booth in seinem »Darkest England« an die Adresse von Francis Galton und Alfred R. Wallace gerichteten Vorwurf wandte, sie hielten es »für die Pflicht einer auf ihr Wohl bedachten Gesellschaft, denen, die einmal gefallen sind, auch noch auf dem Rücken zu knieen«, 8 4 wurde von aufmerksamen Zeitgenossen deutlich wahrgenommen. Der Biologe Oskar Hertwig schrieb in seiner brillanten Kritik des Sozialdarwinismus zu dieser Textpassage, Elendsquartiere wie Ostlondon »dienen f ü r w a h r nicht der zukünftigen Veredelung des Menschengeschlechts durch negative Auslese, sondern sind Geschwüre am Körper eines staatlichen O r g a n i s m u s ; es sind soziale Schäden, die offensichtlich für j e d e r m a n n zutage treten u n d Heilung erfordern. Es ist eine faule Ausrede, die sich in d e r a r t i g e n . . . Erscheinungen äußernde N o t einfach als eine selbstverschuldete zu beschönigen oder gar in ihr eine gerechte Strafe des H i m m e l s zu erblicken, welche Minderwertige mit der Strenge eines Naturgesetzes trifft«. 8 5

Die Rassenhygiene war denn auch in ihrer Beurteilung der Armut als eines >Selektionsfaktors< bedeutend zurückhaltender. 86 Tille hingegen plädierte dafür, »so lange man die Untüchtigsten nicht töten will«, sie zu einer Art Bodensatz der Gesellschaft, einem »Fünften Stand« in dem von Tille projezierten >sozialaristokratischen< Staat herabzudrücken. 87 Außerdem verlangte er, Erbkranken die Fortpflanzung zu untersagen und dieses Verbot auch unter Zwang durchzusetzen. Wer sich widersetzte, »den soll man erbarmungslos zugrunde gehen lassen oder isolieren, damit er nicht zum Rassenschänder wird«. 8 8 >Erblich Belastete*, die ohne die Unterstützung der Gesellschaft nicht überleben könnten, hätten ohnehin kein Recht auf Fortpflanzung, nicht einmal auf Dasein. Es müsse ein »sittliches Gebot« werden, »daß ein mangelhafter Mensch nicht heiraten darf«. 89 » O p f e r n wir unsere Krüppel u n d Angeseuchten und deren N a c h k o m m e n , damit R a u m bleibe f ü r die Söhne der Gesunden und Starken u n d keine Vermischung mit erblich Belasteten ihnen schleichendes Gift in die Adern trage. O p f e r n w i r d das Schwache d e m Starken, das Häßliche d e m Schönen, und seien w i r uns b e w u ß t , daß w i r n u r wissentlich tun, was der Wettbewerb u m die nötigen Daseinsmittel blind ebenfalls erreicht.« 9 0

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Durch diese Form der Eugenik meinte Tille, wie er offen aussprach, die >Vernichtung lebensunwerten Lebens« umgehen zu können: »Eine direkte Austilgung der Schwachen, Unglücklichen und Überflüssigen ist meines Wissen noch von keinem ernsten Menschen vorgeschlagen worden. Aber warum sollte keine indirekte möglich sein?« 91 Im weiteren Verlauf sozialdarwinistisch-rassenhygienischer Theoriebildung traten Absonderung und Unfruchtbarmachung an die Stelle von Verwahrlosung und Verelendung. Das Konzept der Asylierung ging dabei zeitlich der Idee der Sterilisierung voran. Der Arzt Wilhelm Schallmayer veröffentlichte im Jahre 1892 seine fünf Jahre zuvor verfaßte und bis dahin von verschiedenen Verlegern zurückgewiesene Schrift »Über die drohende körperliche Entartung der Culturmenschheit«, 92 die in der Publizistik ein zwiespältiges Echo hervorrief, insgesamt gesehen aber wenig Aufmerksamkeit erregte. Als im Jahre 1900 Haeckel, der Nationalökonom Johannes Conrad und der Paläontologe Eberhard Fraas ein von dem Großindustriellen Alfred Friedrich Krupp initiiertes und dotiertes Preisausschreiben zu dem Thema »Was lernen wir aus den Prinzipien der Deszendenztheorie in Beziehung auf die innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten?« veranstalteten, das der Rassenhygiene und -anthropologie kräftige Impulse gab, reichte Schallmayer eine ausführliche Darlegung seiner Grundgedanken zur Rassenhygiene ein. Dieser Schrift erkannte die Jury, bestehend aus Conrad, dem Historiker Dietrich Schäfer und dem Zoologen H. E. Ziegler, im Jahre 1903 den ersten Preis unter den sechzig eingesandten Arbeiten zu. Sie blieb - veröffentlicht unter dem Titel »Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völk e r « - bis zum Tode ihres Verfassers im Jahre 1919 das fuhrende Lehrbuch für Rassenhygiene in Deutschland. 93 Auch Schallmayer war der Überzeugung, daß die »Ungunst der äußeren Lebensbedingungen, weit davon entfernt, Entartung zu bewirken, im Gegenteil zu entsprechender Hebung der Rassetüchtigkeit« 94 führe. Milieutheorien, die davon ausgingen, daß eine Verbesserung der Lebensverhältnisse eine Steigerung der Erbanlagen bewirke, verwarf Schallmayer mit der Begründung, daß sie nicht zwischen Phänotypus und Genotypus unterschieden, und setzte ihnen die These entgegen: »Je unhygienischer die Lebensbedingungen sind, desto schärfer ist die Auslese, denn um so eher und stärker kommen jene Krankheiten [Rachitis, Gicht, Skrophulose, Tuberkulose] bei den zu ihnen disponierten Personen zur Entwicklung«. 9 5 Während es Tille jedoch fur notwendig hielt, daß die natürliche »Ausmerze* in der Gesellschaft durch die Armut, den Hunger und die Wohnungsnot in den Elendsquartieren der Großstädte ersetzt würde, sah Schallmayer die im Zuge des Zivilisationsprozesses fortschreitende Außerkraftsetzung der natürlichen Auslese - er unterschied zwischen der >LebensausleseFruchtbarkeitsausleseLebensauslese< anging, als positiv. »Einschränkungen der natürlichen Lebensauslese^e/iöre« zum Wesen der Kultur, und wir sind mit Recht stolz auf diese den Individuen und der Gesellschaft zugutekommenden Errungenschaften.« 9 7 Nachdrücklich wies Schallmayer daraufhin, »daß die in der Natur wirksame Lebensauslese als Mittel für die erstrebte Rassehygiene ganz und gar nicht in Betracht« 98 komme. Zwar durchbrach Schallmayer diesen Grundsatz an zwei Punken - zum einen sprach er sich dafür aus, bei der Geburtshilfe im Falle perinataler Komplikationen das Leben des Ungeborenen dem Leben der Mutter zu opfern, damit sich ihre »Gebärschwäche« nicht vererbte, 9 9 zum anderen kritisierte er die Zwangsernährung von Geisteskranken, die die Nahrung verweigerten, unter humanitären und rassenhygienischen Gesichtspunkten. 100 Im Mittelpunkt seines rassenhygienischen Konzepts standen jedoch die Eindämmung des Geburtenrückgangs und die Verschärfung der >FruchtbarkeitsausleseRassedienst< bezeichnete. Innerhalb dieses rassenhygienischen Programms überwogen wiederum diejenigen Programmelemente, die auf eine indirekte, positive Beeinflussung des generativen Verhaltens abzielten. U n mittelbare Eingriffe im Sinne negativer Eugenik sollten »nur für solche Fälle in Betracht kommen, durch die der Rasse sehr starke Schädigung droht«. 1 0 1 Als Voraussetzung für jegliche Form negativer Eugenik erschien Schallmayer die Einführung erbbiographischer Personalbögen, auf denen staatlich bestellte Ärzte ihre Beobachtungen zu ererbten und vererblichen, körperlichen und geistigen Eigenschaften jedes einzelnen vermerken sollten. 102 Diese allmählich zu Familienbüchern anwachsenden Personalbiographien sollten die Handhabe bieten, unerwünschte Heiraten mit Hilfe amtlich vorgeschriebener Ehezeugnisse kurzerhand zu verbieten. »Die Nichtfortpflanzung der allerungünstigsten Varianten ist ein unerläßlicher Bestandteil jeder Züchtungsmethode. « 103 Den Einwand, daß Ehe und Familie der Privatsphäre zuzurechnen seien, in die einzugreifen der Staat kein Recht habe, wies Schallmayer zurück, da er das generative Verhalten als ein Politikum von vorrangiger Bedeutung verstand. 1 0 4 Auch moralische Skrupel ließ Schallmayer nicht gelten: »Die Entbehrungen, die einigen Individuen der jeweils lebenden Generation durch Ausschließung von der E h e . . . auferlegt werden, sind geringfügig im Vergleich zu der Unsumme von Elend, die dadurch den künftigen Generationen... erspart wird«. 1 0 5 Vorläufig erschien Schallmayer die Einführung rassenhygienisch motivierter gesetzlicher Ehehindernisse nur in geringem Umfang möglich, da zum einen der Kenntnisstand der Vererbungslehre verbessert werden müsse, zum anderen die öffentliche Meinung erst noch zu gewinnen sei. Kurzfristig durchzusetzen sei 44

ein Eheverbot fur Geschlechtskranke, >hochgradig Schwachsinnige< und Epileptiker, während Alkoholiker und >Psychopathen< mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung und in Hinblick auf ungelöste Fragen des Erbgangs einstweilen von Eheverboten ausgenommen werden sollten. 1 0 6 Während Schallmayer der rassenhygienischen Sterilisierung vorerst einen geringen Stellenwert einräumte, weil ihre sinnvolle Anwendung erst auf der Grundlage der von ihm vorgeschlagenen Familienstammbücher möglich sei, 1 0 7 empfahl er, die Verwahrung von gemeingefährlichen Irren«, Epileptikern, >Schwachsinnigen< und Verbrechern aus Gründen der Rassenhygiene auf das gesamte fortpflanzungsfähige Alter auszudehnen. Schallmayers Konzept der Asylierung konnte sich auf Vorschläge der Koryphäen der Rassen- und Sozialhygiene stützen. Alfred Grotjahn, der Autor des gesundheitspolitischen Programms der S P D , 1 0 8 hatte in seinem Hauptwerk »Soziale Pathologie« die Ausdehnung der Asylierung als »ein humanes und wirksames Mittel, den menschlichen Artprozeß durch Abhaltung ganzer Gruppen von Minderwertigen von der Fortpflanzung in großem Maßstabe zu beeinflussen«, 109 bezeichnet und gefordert, »das gesamte Krankenhausund Anstaltswesen in den Dienst der Ausjätung der körperlich und geistig Minderwertigen zu stellen«. 110 Grotjahn schätzte, daß von 100000 Einwohnern des Deutschen Reiches 1200 - Geisteskranke, Idioten, Epileptiker, Alkoholiker, Blinde, Taubstumme, Krüppel und Invaliden« - asylbedürftig seien, wobei er auch daran dachte, kriminelle >Psychopathen< und > Vagabunden« in die Asylierung einzubeziehen. 111 Bereits im Jahre 1908 hatte Grotjahn in seinem Elaborat »Krankenhauswesen und Heilstättenbewegung im Lichte der Sozialen Hygiene« die Asylierung desjenigen Teils des Proletariats verlangt, der >tuberkulös, geschlechtskrank, nervenkrank, verrückt, epileptisch, arbeitsscheu, blind und taub, verkrüppelt, trunksüchtig, siech, schwer unfallverletzt und invalid« war. Verwaiste Neugeborene und Kleinkinder, alleinstehende Mütter, vorzeitig gealterte Menschen, sogar Rekonvaleszenten sollten abgesondert werden, was eine »Amortisation der Minderwertigen« 112 bewirken sollte. Grotjahn hoffte, daß mit Hilfe gesetzgeberischer Maßnahmen, die die Rechte der erbkranken und -gesunden Bevölkerungsgruppen sorgfältig gegeneinander abwägen sollten, in Zukunft alle Kategorien körperlich und geistig >minderwertiger< Personen segregiert werden konnten, wobei er davon ausging, daß sich in zunehmendem Maße Freiwilligkeit des Anstaltsaufenthalts erreichen ließe. Schallmayer bezweifelte diese Einschätzung und riet deshalb, die rassenhygienische Asylierung auf solche Fälle zu beschränken, bei denen auf Grund von Gemeingefährlichkeit ohnehin eine Sicherungsverwahrung angezeigt sei. In den anderen Fällen sei eine rassenhygienische Sterilisierung angebracht. In gewisser Weise blieb also der Rassenhygieniker Schallmayer hinter den Forderungen des Sozialhygienikers Grotjahn zurück. Einem Vorschlag des Hygienikers Ignaz Kaup, »die große Schar geisteskranker, epileptischer, idiotischer, schwachsinniger, krimineller, blinder, taubstummer und verkrüppelter Kinder in 45

Arbeitskolonien, Werkstätten usw.« 1 1 3 unterzubringen, stimmte Schallmayer zu. Beachtenswert erschien ihm dabei die Anregung, »daß die Kosten dieser Asylierung nur soweit aus öffentlichen Mitteln bestritten werden sollen, als sie nicht von den Eltern dieser Kinder, eventuell mittels Lohnpfändung und Arbeitszwang..., aufgebracht werden können. Denn die Eltern sollen dafür, daß sie minderwertige Kinder in die Welt gesetzt haben, nicht noch unterstützt werden, sondern sollen Nachteil davon haben.« 1 1 4 Soweit bei den abgesonderten Kindern eine Vererbung ihrer Anlagen zu erwarten sei, sollten sie bei Erreichen der Volljährigkeit entmündigt und dauernd asyliert bzw. sterilisiert werden. Schallmayer konnte sich auch auf eine Empfehlung des renommierten Hygienikers Max v. Gruber berufen, der vorgeschlagen hatte, »die schlimmsten Fehlschläge, Idioten, Irrsinnige, Verbrecher, Epileptiker, Berufsbettler, Gewohnheitssäufer« 115 durch Absperrung in ländlichen Zwangskolonien von der Fortpflanzung auszuschließen. Beachtenswert erschien Schallmayer der Einwand des Rassenhygienikers Geza v. Hoffmann, daß unter eugenischen Kriterien die größte Gefahr gerade von den leichteren Fällen von >Schwachsinn< ausgehe. 116 Die von Schallmayer zusammengefaßten Vorschläge und Anregungen zur rassenhygienisch motivierten Asylierung, die etwa bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die Konzeption der negativen Eugenik dominierten, wiesen bereits eine expansive Tendenz auf, die durch das Ineinandergreifen von medizinischer und sozialer Diagnostik bedingt war. Ein Vergleich zwischen den bedeutendsten rassenhygienischen Standardwerken aus dem ersten Drittel des 20Jahrhunderts - Schallmayers »Vererbung und Auslese«, die im Jahre 1918 in dritter Auflage erschien, und Lenz' »Menschliche Auslese und Rassenhygiene (Eugenik)«, deren dritte Auflage aus dem Jahre 1928 stammte - , zeigt, wie sich im Jahrzehnt nach dem ersten Weltkrieg die Präferenzen der Rassenhygieniker hinsichtlich des Instrumentariums negativer Eugenik veränderten. Das Schwergewicht verschob sich deutlich in Richtung auf die rassenhygienische Sterilisierung. Staatliche Eheverbote für Erbkranke, die bei Schallmayer noch im Vordergrund gestanden hatten, hielt Lenz für unzureichend, weil sie einerseits den außerehelichen Geschlechtsverkehr nicht zu steuern vermochten, andrerseits ihre zwangsweise Einfuhrung nach Ansicht von Lenz in der Weimarer Republik auf absehbare Zeit undurchführbar sei, da in einer Demokratie die Gesetzgebung nicht weiter gehen könne, als es das sittliche Bewußtsein der Bevölkerungsmehrheit zulasse, ohne schwere Rückschläge zu erleiden. 117 Der staatlich verordnete Austausch von Ehezeugnissen, aus denen die Ehebewerber selber ihre Schlüsse zu ziehen hätten, bewirke dagegen geradezu eine >GegenausleseHeilbehandlungerbuntüchtigen< Menschen eingeschätzt 125 - unfruchtbar zu machen. Die Amtsärzte sollten angewiesen werden, in folgenden Fällen regelmäßig zu prüfen, ob eine Sterilisierung nach rassenhygienischen Kriterien indiziert sei, und gegebenenfalls auf eine freiwillige Unfruchtbarmachung zu drängen: » 1. bei allen schwachsinnigen Hilfsschülern zur Zeit ihrer Entlassung aus der Hilfsschule; 2. bei allen Fürsorgezöglingen; 3. bei jedem rückfälligen oder Schwerverbrecher; 4. bei jedem Geisteskranken, der aus einer Anstalt entlassen wird; 5. bei jedem in Fürsorge stehenden Trinker; 6. bei jedem in Fürsorge stehenden Tuberkulösen; 7. bei jedem Empfanger von Armenunterstützung, dessen Unterstützungsbedürftigkeit durch Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitsscheu bedingt ist«. 1 2 6

Außerdem sprach sich Lenz dafür aus, Sterilisierungen aus sozialer Indikation freizugeben, da sie »ganz überwiegend wirtschaftlich minderleistungsfähige Menschen betreffen« 127 würden. Schließlich verstieg er sich zu dem abstrusen Postulat, körperliche Schwächlichkeit, Kränklichkeit und Häßlichkeit als ausreichende Gründe fur eine erbpflegerische Unfruchtbarmachung anzuerkennen. 1 2 8 In der Abtreibungsfrage sprach sich Lenz gegen eine Fristenlösung nach 47

d e m Vorbild der Sowjetunion aus, aber fur die Freigabe der medizinischen, sozialen u n d rassenhygienischen Indikation, wobei er daran dachte, die Schwangerschaftsunterbrechung aus eugenischer Indikation von der Z u s t i m m u n g der Frau zur U n f r u c h t b a r m a c h u n g abhängig zu machen. Insgesamt vertrat er jedoch die Meinung, »daß die Unterbrechung der Schwangerschaft aus rassenhygienischer Indikation ihrer Wirksamkeit u n d Bedeutung nach nicht entfernt an die Sterilisierung heranreicht«. 1 2 9 Angesichts seiner extensiven Indikationsstellung zur rassenhygienischen Sterilisierung hielt es Lenz in Hinsicht auf die gesellschaftlichen R a h m e n b e dingungen der Weimarer Republik fur geraten, »vorerst nicht auf eine gesetzliche Regelung der Sterilisierung zu dringen«, 1 3 0 da sie nach Lage der D i n g e zu eng ausfallen mußte. Lenz wies d a r a u f h i n , daß auf G r u n d der auf d e m Gebiet der U n f r u c h t b a r m a c h u n g bestehenden Rechtsunsicherheit seit den 1920er Jahren rassenhygienische Sterilisierungen möglich waren, ohne daß der Staatsanwalt einschritt. Dieser Zustand war nach Ansicht von Lenz vorteilhafter als eine gesetzliche Regelung, die alle Formen der Sterilisierung, die nicht ausdrücklich als erlaubt bezeichnet wurden, unter Strafe stellte. D e n Initiativen zur Legalisierung der rassenhygienischen Sterilisier u n g stand Lenz dementsprechend reserviert gegenüber. N o c h i m Jahre 1933, als der v o m Ausschuß für Bevölkerungswesen und Eugenik des Preußischen Landesgesundheitsrates ausgearbeitete Gesetzentwurf zur erbpflegerischen U n f r u c h t b a r m a c h u n g 1 3 1 der nationalsozialistischen Regier u n g zugeleitet wurde, erschien es Lenz zweckmäßiger, rassenhygienische Sterilisierungen in g r o ß e m Maßstab nicht durch Gesetz, sondern durch Verordnung auf dem Verwaltungsweg durchzusetzen, denn »die Befürchtung, daß ohne ein solches Gesetz ein Arzt, der rassenhygienisch indizierte Sterilisierungen ausfuhrt, der Gefahr einer Anklage oder gar Bestrafung ausgesetzt sei, ist in einem völkischen Staate völlig unbegründet, zumal da Hitler sich für die rassenhygienische Sterilisierung ausgesprochen hat. Die Reichsregierung will selbstverständlich nicht eine orientalische Despotie errichten, sondern einen Staat von freien Germanen organisieren. « 1 3 2 Schon im Jahre 1931 hatte Lenz seine H o f f n u n g e n auf die N S D A P als die »erste politische P a r t e i . . . , welche die Rassenhygiene als eine zentrale Forderung ihres P r o g r a m m s vertritt«, 1 3 3 gesetzt. Ausdrücklich hatte Lenz begrüßt, daß Hitler »die Sterilisierung nicht nur für extreme Fälle fordert, was f ü r die Gesundung der Rasse ziemlich bedeutungslos sein würde, sondern sie auf den gesamten minderwertigen Teil der Bevölkerung erstreckt wissen will.« 1 3 4 Während Lenz hinsichtlich des U m f a n g s der notwendigen rassenhygienischen Sterilisierungen mit den nationalsozialistischen Grundpositionen übereinstimmte, vertrat er in der Frage, ob U n f r u c h t b a r m a c h u n g e n auch unter Z w a n g ausgeführt werden sollten, »aus Gründen der politischen Zweckmäßigkeit« eine v o m nationalsozialistischen Standpunkt abweichende Auffassung. D e r Sterilisierung, als M a ß n a h m e der Fürsorge u n d Vorbeugung gedacht, sollte nicht der »Stempel einer Strafe aufgedrückt« werden. 48

Außerdem hegte Lenz Bedenken in Hinblick auf die Rolle des Arztes. Eine zwangsweise Unfruchtbarmachung »an einem sich sträubenden oder gar sich wehrenden Patienten wäre mit der ärztlichen Berufsauffassung schwerlich in Einklang zu bringen«. 135 Diese Bedenken hinderten ihn nicht daran, wenig später als Mitglied des Sachverständigenbeirats für Bevölkerungsund Rassenpolitik das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN), das die Anwendung von Zwang bei der Durchführung erbpflegerisch angezeigter Unfruchtbarmachungen gestattete, abzusegnen. Noch 1943 bedauerte Lenz, daß dieses Gesetz nicht auch kriminelle >AsozialeAnlageträger< einbezog. 136 Nach dem Zweiten Weltkrieg bedauerte Lenz, daß die angeblichen Erfolge der Verhütung erbkranken Nachwuchses durch die >Gegenauslese< des Krieges zunichte gemacht worden seien. Resigniert konstatierte er im Jahre 1960: »Ich glaube heute nicht mehr, daß eine eugenische Auslese in einem Ausmaß durchgeführt werden könnte, daß dadurch die Entartung der westlichen Kulturvölker aufgehalten werden könnte. « 1 3 7

2. Strukturelemente des rassenhygienischen

Paradigmas

Im Zuge der Darstellung der von den Rassenhygienikern konzipierten Programmatik negativer Eugenik sind die Umrisse des Begründungszusammenhangs, in den die rassenhygienischen Postulate eingelagert waren, bereits sichtbar geworden. Zum Zweck der Analyse kann die Struktur dieses Argumentationskomplexes in vier Leitlinien aufgeschlüsselt werden: 1. Die Rassenhygiene stützte sich auf das für die Theoriebildung des Sozialdarwinismus grundlegende monistische Axiom, demzufolge das Gesellschaftsgeschehen auf Naturgesetzen - nämlich auf den durch die darwinistische Evolutions- und Selektionstheorie aufgezeigten Entwicklungsgesetzen - beruhte. Von dieser Prämisse ausgehend konstituierte sich der Sozialdarwinismus als Naturlehre der Gesellschaft. 2. Die Rassenhygiene setzte den für die selektionistische Phase des Sozialdarwinismus charakteristischen Primat des Selektionsprinzips voraus, der mit einer Relativierung der für die evolutionistische Phase des Sozialdarwinismus typischen teleologischen Dimension des Evolutionstheorems verbunden war. 3. Die Rassenhygiene empfing dynamisierende Impulse aus der Dichotomie von Degenerationstheorien und Züchtungsutopien. 4. Die Rassenhygiene entwickelte auf der Grundlage einer bioorganismischen Metaphorik einen dezidierten Antiindividualismus, der den Wert des Menschenlebens gegenüber der als höhere Seinsstufe verstandenen Gesellschaft relativierte. Diese die rassenhygienische Programmatik legitimierenden Argumenta49

tionsfiguren sollen i m folgenden eingehend dargestellt werden, wobei der jeweilige ideengeschichtliche Z u s a m m e n h a n g , z. B. der Transformationsprozeß v o m Darwinismus z u m Sozialdarwinismus, v o m evolutionistischen z u m selektionistischen Sozialdarwinismus, bzw. wissenschaftsgeschichtliche Einflüsse, die von der Genetik, Psychiatrie, Soziologie usw. auf die Rassenhygiene ausgingen, berücksichtigt werden.

a) Naturgesetzlichkeit

und Gesellschaftsgeschehen

Der Sozialdarwinismus verstand sich als Naturlehre der Gesellschaft. Die naturwissenschaftliche Grundlegung ihrer Gesellschaftslehre erschien den Sozialdarwinisten angesichts der starken Ausstrahlung, die i m 19. J a h r h u n dert von den sich in rasantem T e m p o entwickelnden N a t u r - auf die Geisteswissenschaften ausging, unumgänglich. »Wer vermöchte es noch zu leugnen«, fragte bereits im Jahre 1873 der Geograph, Anthropologe u n d Kulturhistoriker Friedrich v. Hellwald, der die darwinistische Deszendenztheorie auf die Kulturgeschichte zu übertragen versuchte,, »daß in der Tat die auf d e m Felde der Naturerkenntnis gewonnenen Resultate auf sämtliche Z w e i g e menschlichen Denkens u n d Forschens umgestaltend wirken u n d schon gewirkt haben?« 1 U n d Haeckel stellte im Jahre 1903 vor der Versammlung Deutscher Naturforscher u n d Ärzte fest, »daß die N a t u r f o r s c h u n g allmählich das Gesamtgebiet der menschlichen Geistesarbeit erobert hat, daß alle wahre >Wissenschaft im letzten Grunde Naturwissenschaft ist«. 2 D a ß gerade die darwinistische Biologie in den Mittelpunkt der B e m ü h u n g e n rückte, eine naturwissenschaftlich abgestützte Gesellschaftslehre zu entwickeln, w a r kein Zufall. Die Schlüsselstellung des Darwinismus ergab sich vielmehr aus d e m wissenschaftsgeschichtlichen Entstehungszusammenhang, aus d e m die darwinistische Biologie hervorgegangen war. D e n n die Ü b e r t r a g u n g darwinistischer Prinzipien auf soziale P h ä n o m e n e durch den Sozialdarwinismus vollendete i m G r u n d e g e n o m m e n einen Z i r kelschluß v o n der Gesellschaft auf die N a t u r , von der N a t u r auf die Gesellschaft, der seit d e m Ausgang des 18. Jahrhunderts biologische und soziologische Evolutionstheorien miteinander verknüpft hatte. 3 Starken Einfluß auf die biologischen Entwicklungsvorstellungen übte im R a h m e n dieser Evolutionsdebatte T h o m a s R. Malthus mit seinem »Essay on the Principle of Population« (1798) 4 aus. D e r malthusianischen Bevölkerungstheorie zufolge vermehrten sich die Menschen in geometrischer, die Subsistenzmittel dagegen i m günstigsten Fall in arithmetischer Progression, so daß es zu zyklischen Übervölkerungskrisen und Hungerkatastrophen k o m m e n m u ß te. Diese Auffassung richtete sich gegen den von W. G o d w i n u n d M . J . de C o n d o r c e t 5 vertretenen Fortschrittsglauben der Aufklärung, der sich mit der in der Industriellen Revolution begriffenen Gesellschaft Großbritanniens, namentlich mit der wachsenden Verelendung bei anhaltender Bevöl50

kerungszunahme nicht mehr in Einklang bringen ließ. Die Erfahrung, daß die durch die Industrialisierung ausgelösten Umwälzungen im Gesellschaftsgefuge die Verteilungskämpfe verschärften, verschmolz in der malthusianischen Sozialtheorie mit dem aus naturwissenschaftlichen Beobachtungen gewonnenen Eindruck, daß auch in der Natur ein fortwährender Überlebenskampf stattfinde, zum Motiv des Struggle for Existence. Angeregt durch die malthusianische Sozialtheorie übertrugen Darwin und Wallace die Vorstellung eines Kampfes ums Dasein zurück auf die Natur. 6 Bestärkt wurde diese Sichtweise durch Charles Lyell, der bereits in seinen »Principles o f Geology« (1830-33), 7 von denen Spencer, Darwin und Wallace gleichermaßen beeindruckt waren, den malthusianischen Topos des Universal Struggle for Existence auf verschiedene Naturvorgänge angewandt hatte. Darwin und Wallace verbanden die Vorstellung vom Kampf ums Dasein mit der an sich gegenteiligen Auffassung von einer stetig in der Natur waltenden Anpassung (Adaptation), die der Physikotheologe William Paley in seiner »Natural Theology« (1802) 8 entwickelt hatte. In der darwinistischen Selektionstheorie bewirkte der Kampf die Anpassung, indem er nur die bestangepaßten Geschöpfe überleben ließ (Survival of the Fittest). Damit gab Darwin der seit G. L. Buffon und J . B. de Lamarck vertretenen Deszendenztheorie, die von einer aufsteigenden Entwicklungsreihe von den niederen zu den höheren Lebewesen ausging, eine biomechanische Grundlage. Die Selektion galt fortab als Triebfeder, die den Evolutionsprozeß in Bewegung setzte und in Gang hielt. Die Natur, wie Darwin sie sich vorstellte, spiegelte - vermittelt durch die malthusianische Sozialtheorie - die gesellschaftlichen Verhältnisse wider, wie Darwin sie erlebte. Aufmerksamen Zeitgenossen blieb dieser Zusammenhang nicht verborgen. Karl Marx meinte dazu: »Es ist merkwürdig, wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, >Erfindungen< und Malthusschem >Kampf ums Dasein< wiedererkennt.« 9 Der reziproke Analogieschluß, wie ihn der Sozialdarwinismus ziehen sollte, war mithin im Darwinismus selbst bereits angelegt, wie Engels schon im Jahre 1874 erkannte. »Die ganze Darwinsche Lehre vom Kampf ums Dasein ist einfach die Übertragung der Hobbesschen Lehre vom bellum omnium contra omnes und der bürgerlichen ökonomischen von der Konkurrenz, sowie der Malthusschen Bevölkerungstheorie aus der Gesellschaft in die belebte Natur. Nachdem man dies Kunststück fertiggebracht . . . ist es sehr leicht, diese Lehren aus der Naturgeschichte wieder in die Geschichte der Gesellschaft zurückzuübertragen, und eine gar zu starke Naivität, zu behaupten, man habe damit diese Behauptungen als ewige Naturgesetze nachgewiesen.« 10

Es war jedoch gerade der Anspruch, Natur und Gesellschaft in ein ganzheitliches Sinngefuge einordnen, das gesellschaftliche Geschehen auf das Walten 51

scheinbar unabänderlicher Naturgesetze zurückfuhren und die Menschheitsgeschichte als einen Strang der Naturgeschichte erklären zu können, der den Erfolg des Sozialdarwinismus begründen sollte. Ansatzpunkt f ü r die Ü b e r tragung der darwinistischen Prinzipien auf soziale P h ä n o m e n e w a r die Einbeziehung des Menschen in die darwinistisch fundierte Deszendenztheorie. D a r w i n selbst hatte in seinem grundlegenden Werk » O n the Origin of Species « (1859) 11 noch offengelassen, ob er sich den Vorgang der M e n s c h w e r d u n g als einen intranaturalen Evolutionsprozeß oder als einen supranaturalen Schöpfungsakt vorstellte. » Licht wird auch fallen a u f d e n Menschen u n d seine Geschichte«, 1 2 deutete er lediglich an. Bevor er in seiner Abhandlung »The Descent of Man« (1871) 13 den Entwicklungsgedanken auch a u f d e n M e n schen übertrug, hatte der englische Zoologe T h o m a s H. Huxley, der sich selbst als >Darwins Bulldogge< bezeichnete, etwa in seinem Buch »Man's Place in Nature« (1863) 14 die schon von C. v. Linné im Jahre 1735 v o r w e g g e n o m m e n e Einordnung des Menschen in das Tierreich n u n m e h r unter den Vorzeichen der darwinistischen Evolutionstheorie verlangt. 1 5 Im Jahre 1871 zog D a r w i n schließlich selbst die Schlußfolgerungen, die sich aus der Einbeziehung des Menschen in die Deszendenztheorie in Hinblick auf die H u m a n biologie ergaben: »Wir wissen jetzt, daß der Mensch an Körper u n d Geist variabel i s t , . . . daß die A b ä n d e r u n g e n . . . durch dieselben allgemeinen U r s a chen veranlaßt werden u n d denselben allgemeinen Gesetzen folgen wie bei den tiefer stehenden Tieren«. 1 6 D a m i t hatten die Darwinisten eine historische Dimension in die Biologie eingebracht. Den Sozialdarwinisten blieb es vorbehalten, daraus eine biologische Dimension der Geschichte abzuleiten. D e n n die sozialdarwinistische Konsequenz aus diesem Brückenschlag zwischen regnutn animale und regnum humanuni bestand darin, den Zivilisationsprozeß - unter Absehung von d e m unterschiedlichen Zeitmaß historischer u n d biologischer Prozesse 1 7 - als homogenes Element des Evolutionsprozesses zu interpretieren, wie es als erster der amerikanische Physiologe J. W. Draper in seinem 1860 vor der British Association for the Advancement of Science gehaltenen Vortrag »On the Intellectual Development of Europe« tat. 1 8 Da der Begriff der Zivilisation ein Kaleidoskop sozioökonomischer, -politischer u n d -kultureller Prozesse in sich schloß, dehnte die durch den Sozialdarwinismus vollzogene Einbeziehung der Zivilisation in die E v o l u tion den Geltungsbereich der Naturgesetze auch auf den gesellschaftlichen Wandel, mithin auf die Geschichte aus. Haeckel bekannte, daß er durch die Entwicklungslehre überzeugt w o r d e n sei, »daß dieselben Naturgesetze in der Kulturgeschichte... wie in der Naturgeschichte«19 walteten. D u r c h die U n t e r o r d n u n g des Gesellschaftsgeschehens unter natürliche Gesetzmäßigkeiten w u r d e die Weltgeschichte gleichsam zu einem Wurmfortsatz der Naturgeschichte. Mit der Einordnung der Kulturin die Naturgeschichte wandelte sich auch das Verständnis von Geschichtswissenschaft.

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»Wie anders wird das Studium der historischen menschlichen E n t w i c k l u n g . . . sich gestalten, wenn diese Tatsache erst allgemein anerkannt sein wird und wenn diese Weltgeschichte... nur als ein ganz kleiner winziger Ausläufer v o n der MillionenReihe v o n Jahrtausenden erscheinen wird, innerhalb deren unsere... Vorfahren, die Wirbeltiere... sich entwickelt haben. « 2 0

Entsprechend versuchte Haeckel, ein hierarchisches System der Wissenschaften zu konstruieren, in dem die Geschichtswissenschaft zusammen mit der Paläontologie und Embryologie 2 1 das Wissensgebiet der Entwicklungsgeschichte bilden sollte, das er der Anthropologie unterordnete, die ihm wiederum als Spezialdisziplin der in diesem System den Rang einer Metawissenschaft einnehmenden Zoologie galt. 22 Auf diese Weise wollte Haeckel die Geschichts- an die Naturwissenschaft anbinden. »Die Völkergeschichte ( - die w i r in unserer komischen anthropozentrischen Einbildung >Weltgeschichte< zu nennen belieben - ) und ihr höchster Zweig, die Kulturgeschichte, schließt sich durch die moderne Vorgeschichte des Menschen... unmittelbar an die Stammesgeschichte der Primaten an. So finden wir bei unbefangener Betrachtung kein einziges Gebiet menschlicher Wissenschaft, das den Rahmen der Naturwissenschaft (im weitesten Sinne!) überschreitet«. 2 3

Im Gegensatz zur Geschichtsauffassung der evolutionistischen Frühformen des Sozialdarwinismus ging das Geschichtsverständnis, das auf der Stufe des selektionistischen Sozialdarwinismus in den rassenhygienischen, nicht aber in den rassenanthropologischen Konzeptionen zutage trat, 24 nicht mehr von der Identität, sondern von der Parallelität historischer und biologischer Prozesse aus. Die Rückführung aller sozialen Phänomene auf vermeintlich allumfassende, unabänderliche Naturgesetze war sowohl im Licht der neukantianischen Erkenntnistheorie fragwürdig als auch vor dem Hintergrund der Ergebnisse der biologischen Forschung unhaltbar geworden. 2 5 Mit der Lockerung des Zusammenhangs zwischen Naturgesetzlichkeit und Gesellschaftsgeschehen wurden zwar geschichtliche Abläufe denkbar, die im Widerspruch zu den natürlichen Entwicklungsgesetzen standen, denen die Menschheit zu unterliegen schien, doch wurde die Bedeutung dieser natürlichen Gesetzmäßigkeiten für den Fortschritt der Menschheitsgeschichte keineswegs in Frage gestellt. Sie schien vielmehr gerade durch die von den Rassenhygienikern diagnostizierten Degenerationsphänomene, die dem rassenhygienischen Paradigma zufolge auf den denaturierten Zivilisationsprozeß zurückzufuhren waren, bestätigt zu werden. »Die Grundanschauungen des Darwinismus mußten... unvermeidlich zu der Folgerung fuhren«, faßte Schallmayer diesen Gedankengang im Jahre 1891 zusammen, »daß auch bei der Menschheit und bei den einzelnen Völkern neben ihren sozialen und kulturellen Wandlungen... unablässig auch erblich-organische Wandlungen stattfanden und noch stattfinden, die langsam zur gegenwärtigen Beschaffenheit ihrer Erbverfassung gefuhrt haben, die aber auch, und zwar viel rascher, zu Entartung führen können« 26 - wenn die gesellschaftlichen 53

Rahmenbedingungen eine >Gegenauslese< bewirkten. Die Rassenhygiene setzte sich zum Ziel, die Wechselwirkungen zwischen historischen und biologischen Prozessen zu erforschen, u m daraus Planspiele zur Manipulation der humanen Evolution abzuleiten. Z u diesem Zweck sollte der Horizont der Historiographie durch eine »selektionistische Geschichtsbetrachtung«, 2 7 die ihr Augenmerk auf gesellschaftliche Auslesevorgänge richten sollte, erweitert werden. Die Denkmöglichkeit, daß der gesellschaftliche Wandel von den durch die Naturgesetze vorgezeichneten Bahnen abweichen könnte, bedeutete den Verlust des naiven Fortschrittsglaubens, der für den evolutionistischen Sozialdarwinismus charakteristisch war. Auf der Stufe des selektionistischen Sozialdarwinismus gaben die an der darwinistischen Biologie orientierten Sozialmodelle die teleologische Perspektive des Evolutionsprozesses auf.

b) Evolutions- und Selektionsprinzip In einem Brief von Engels an Marx aus dem Jahre 1859 hieß es, Darwins Werk über die Entstehung der Arten habe die »Teleologie... kaputt gemacht«. 2 8 U n d im Jahre 1861 schrieb Marx an Lassalle, Darwin habe der »>Teleologie< in der Naturwissenschaft... den Todesstoß gegeben«. 2 9 Dieses Urteil wurde v o m orthodoxen Klerus geteilt. 1876 stellte etwa der Stadtpfarrer von Friedrichshafen, Rudolf Schmid, in einer Streitschrift über die »Darwinschen Theorien und ihre Stellung zur Philosophie, Religion und Moral« fest, daß die Konsequenz des darwinistischen Selektionstheorems in der »Eliminierung des Zweckbegriffs aus der Natur« bestehe. Folglich würden die Anhänger des Darwinismus - Schmid erwähnte namentlich Haeckel, Büchner, Strauß, Helmholtz und O . Schmidt - »allen und jeden Gedanken an eine Zweckmäßigkeit in der Natur, ein Ziel, welchem die Entwicklungen im Großen wie im Einzelnen zustreben, mit einem Wort, die ganze Kategorie der Teleologie« 30 verwerfen. Dieses Urteil traf jedoch, da es nicht zwischen zwei grundlegenden Komponenten des Teleologiebegriffs, der Zielgerichtetheit und der Zweckmäßigkeit, unterschied, in seiner Pauschalität nicht zu. Darwin selbst hatte sich die Beantwortung der Frage, ob die natürliche Entwicklung »das Resultat blinden Zufalls oder der Notwendigkeit sei«, 3 1 nicht leichtgemacht. Er bekannte als seine »innerste Überzeugung«, »daß das Weltall nicht das Resultat des Zufalls ist. Dann erhebt sich aber immer der entsetzliche Zweifel bei mir, ob die Überzeugungen im Geiste des Menschen, welcher sich aus den niederen Tieren entwickelt hat, von irgendwelchem W e r t e . . . sind. Würde sich i r g e n d j e m a n d auf die Überzeugungen in der Seele eines Affen verlassen?« 32 Dieser Einsicht in die begrenzte E r kenntnisfähigkeit des Menschen entsprechend überwog in Darwins Theorie schließlich die szientistische Skepsis das teleologische D o g m a und führte zur 54

Formulierung des auf dem Selektionsprinzip beruhenden biomechanizistischen Erklärungsansatzes des Evolutionsprozesses. Dabei räumte Darwin durchaus ein, daß es wenig glaubhaft erschien, den hohen Grad an Zweckmäßigkeit, den die höher entwickelten Organismen erreicht hatten, allein auf das blinde Naturwalten zurückzuführen - Hans Driesch, das Oberhaupt der Neovitalisten, faßte diesen Einwand gegen den Darwinismus später in den Aphorismus: »Aus zufalligen Steinwürfen kann nie und nimmer das Parthenon entstanden sein«. 33 Darwin erläuterte seine Antwort auf diesen Einwand am Beispiel des Auges. »Daß das Auge mit all seinen unnachahmlichen Einrichtungen... durch die natürliche Zuchtwahl entstanden sei, erscheint, wie ich offen bekenne, im höchsten Grade als absurd. « 34 Wenn man jedoch von der Variabilität der Organismen, von der Erblichkeit der Veränderungen und der natürlichen Auslese der unter den gegebenen Lebensbedingungen bestangepaßten Varianten ausgehe, »wenn man nun diesen Vorgang Millionen von Jahren dauern und während jedes Jahres an Millionen von Individuen... fortsetzen läßt - wird man dann nicht glauben, daß ein lebendes optisches Instrument... vollkommener als ein gläsernes gestaltet werden kann?« 35 Zweckmäßigkeit wurde also in der Evolutions- und Selektionstheorie weiterhin behauptet, allerdings als Ergebnis eines biomechanizistischen Prozesses verstanden, dem jede a priori festliegende Zielrichtung abgesprochen wurde. Darwins Theorie zeige, »wie Zweckmäßigkeit der Bildung in den Organismen auch ohne Einmischung von Intelligenz durch das blinde Walten eines Naturgesetzes entstehen kann«, 3 6 schrieb H. v. Helmholtz. Und A. Weismann hob an Darwins Kombination von Evolutions- und Selektionsprinzip hervor, sie beweise, »daß das scheinbar Unmögliche doch möglich wird, wie das Zweckmäßige zustandekommt, ohne daß eine zwecksetzende Kraft dabei mitwirkt«. 3 7 Von daher beschrieb Huxley das Verhältnis von Darwinismus und Teleologie zutreffend, als er das Selektionsprinzip als den härtesten Gegner der »gewöhnlichen und gröberen Formen der Teleologie« 38 bezeichnete. Abgesehen von seinem letzten Lebensabschnitt, 39 ging Darwin im großen und ganzen davon aus, daß der naturale Evolutionsprozeß im allgemeinen, die Entwicklungsgeschichte des Menschen im besonderen in Richtung auf eine allmähliche Vervollkommnung voranschreite. »Wir d ü r f e n . . . vertrauensvoll eine Zukunft von riesiger Dauer erhoffen... da die natürliche Zuchtwahl nur durch und für den Vorteil der Geschöpfe wirkt, so werden alle körperlichen Fähigkeiten und geistigen Gaben immer mehr nach Vervollkommnung streben.« 40 In Bezug auf die Menschheitsgeschichte glaubte Darwin, »daß der Mensch in weit entfernter Zukunft ein weit vollkommeneres Geschöpf, als er es jetzt ist, sein wird«, 4 1 denn »die Tatsache, daß e r . . . sich so erhoben, anstatt von Anfang an dorthin gestellt zu sein, mag ihm die Hoffnung auf eine noch höhere Stellung in einer fernen Zukunft erwekken«. 4 2 Doch konnte streng genommen der darwinistischen Doktrin zufolge Bewährung im Kampf ums Dasein nichts anderes heißen als Tauglichkeit 55

unter den jeweils vorgegebenen Lebensbedingungen - in der Evolutionsund Selektionstheorie bedeutete also nicht jede Entwicklung schlechthin Fortschritt, vielmehr Schloß der von D a r w i n beschriebene Entwicklungsgang Sackgassen und Irrwege ein. Genau g e n o m m e n war es der E n t w i c k lungslehre sogar unmöglich zu bestimmen, was Fortschritt sei. 4 3 Die Unterscheidung zwischen Zweckmäßigkeit und Zielgerichtetheit in der Entwicklungslehre, die bei D a r w i n schon nicht mehr trennscharf durchgehalten wurde, ging im Z u g e der grobschlächtigen Ü b e r t r a g u n g darwinistischer Prinzipien auf soziale Phänomene auf der Stufe des evolutionistischen Sozialdarwinismus vollends wieder verloren. Haeckel setzte unbek ü m m e r t das i m Daseinskampf Bestangepaßte mit d e m Besten, Tüchtigsten und Fortschrittlichsten gleich. 4 4 Während er den Glauben an eine göttliche Weltordnung auf das leidenschaftlichste b e k ä m p f t e , 4 5 führte er selber insofern einen teleologischen Aspekt in die Evolutionstheorie ein, als er - in einem geradezu »magischen Glauben an eine Allmacht der N a t u r z ü c h tung« 4 6 befangen - den Evolutionsprozeß als stetige V e r v o l l k o m m n u n g deutete. In Bezug auf den Menschen bedeutete das, daß er sowohl an die naturgesetzliche Perfektionierung der biologischen Substanz der Menschheit glaubte — weshalb sich f ü r ihn eugenische P r o g r a m m e erübrigten 4 7 - als auch an den selbstläufigen Fortschritt der menschlichen Gesellschaft - diese beiden Entwicklungsstränge fielen für ihn zusammen. In polemischer Wend u n g gegen staatliche Reaktion und kirchliche O r t h o d o x i e führte er 1863 auf der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte aus: »Dasselbe Gesetz des Fortschritts finden w i r . . . in der historischen Entwicklung des Menschengeschlechts überall w i r k s a m . . . Denn auch in den bürgerlichen und geselligen Verhältnissen sind es wieder dieselben Prinzipien, der Kampf ums Dasein und die natürliche Züchtung, welche die Völker unwiderstehlich vorwärts treiben und stufenweise zu höherer Kultur emporheben. Rückschritte im staatlichen und sozialen Bereich, im sittlichen und wissenschaftlichen Leben, wie sie die vereinten, selbstsüchtigen Anstrengungen von Priestern und Despoten in allen Perioden der Weltgeschichte herbeizuführen bemüht gewesen sind, können wohl diesen allgemeinen Fortschritt zeitweise hemmen oder scheinbar unterdrücken, - je unnatürlicher, je anachronistischer aber diese rückwärts gerichteten Bestrebungen sind, desto schneller und energischer wird durch sie der Fortschritt herbeigeführt... Denn dieser Fortschritt ist ein Naturgesetz, welches keine menschliche Gewalt, weder Tyrannenwaffen noch Priesterflüche jemals dauernd zu unterdrücken vermögen. « 4 8

N o c h im Jahre 1915, als Haeckels Z u k u n f t s o p t i m i s m u s durch die E r f a h r u n g des Ersten Weltkriegs bereits erschüttert war, meinte er, die Entwicklungsgeschichte des Menschen folge »im großen und ganzen d e m Gesetz des Fortschritts... daran wird nichts geändert durch die bedauerliche Tatsache, daß die nützliche und gut e progressive Entwicklung der Kultur i m m e r wieder zeitweise durch schädliche und schlimme regressive Perioden unterbrochen wird«. 4 9 Bezeichnenderweise wich diese Fortschrittsgläubigkeit in seinen letzten Lebensjahren - Haeckel starb 1919 - einer fatalistischen U n t e r g a n g s 56

Stimmung. 5 0 Damit wiederholte sich in der Biographie Haeckels ein Perspektivewechsel, der den Sozialdarwinismus in Deutschland seit den 1890er Jahren erfaßt hatte. In diesem Zeitraum geriet der Sozialdarwinismus in den Einflußbereich einer fin-de-siècle-Atmosphäre, die sich mit dem Begriff des >Kulturpessimismus< umschreiben läßt. 51 Der Rassenanthropologie war diese kulturpessimistische Attitüde durch Gobineau bereits vertraut. 5 2 N u n löste sich auch das rassenhygienische Paradigma aus seiner Verklammerung mit dem naiven Optimismus des evolutionistischen Sozialdarwinismus. Dies deutete sich bereits in der Gedankenfiihrung Tilles an, der die Unterscheidung von Zweckmäßigkeit und Zielgerichtetheit wiederaufnahm, ohne indessen den teleologischen Aspekt völlig aufzugeben. Das Ziel der Entwicklungsgeschichte des Menschen sah Tille vielmehr in der Verlängerung ihrer bisherigen Entwicklungsrichtung. 5 3 Indem Tille die Zivilisation nicht mehr als Resultat der Evolution interpretierte, sondern Zivilisation und Evolution als parallele, autonome Prozesse verstand, konnte er bereits die Frage stellen, ob das >Ziel der Kultur< mit dem >Ziel der Entwicklung< übereinstimmte. Mit dieser Frage konstituierte er das Degenerationsproblem, das zum Ausgangspunkt des rassenhygienischen Diskurses wurde. Schallmayer nahm im Jahre 1891 die Frage auf, »ob sich die körperliche Entwicklung der Menschheit, von welcher ein stetiges Fortschreiten der Kultur abhängig ist, gegenwärtig in niedergehender Richtung bewegt«. Diese Frage sei insofern angebracht, »als die menschliche Zuchtwahl unter dem Einfluß der Kultur in sehr wichtigen Punkten von der sogenannten natürlichen, vorkulturellen abweicht«. 54 Schallmayer hielt es für möglich, daß eine Kulturnation »bis unter die Begabung der australischen Rasse« hinabsinken könnte, ja daß der Mensch, wenn er nicht steuernd in den Evolutionsprozeß eingriff, zugrunde gehen könnte »wie das Mammut an seinem Stoßzahn«. 55 Auch Ploetz behandelte in einem »Schreiten wir noch fort?« betitelten Kapitel die Frage, ob die Entwicklungsgeschichte der Menschheit im Verlauf der zurückliegenden Jahrtausende und Jahrhunderte Fortschritte erzielt oder Rückschritte erlitten habe. Ploetz war in dieser Frage unentschieden, da er erkannt hatte, daß ihre Beantwortung entscheidend davon abhing, inwieweit man das lamarckistische Theorem der Vererbung erworbener Eigenschaften anerkannte. Wies man es zurück, mußte man auf Grund des Weismannschen Prinzips der Panmixie bei der abnehmenden Bedeutung selektiver Mechanismen im Zivilisationsprozeß von degenerativen Tendenzen in der humanen Phylogenese ausgehen. Würden hingegen erworbene Eigenschaften vererbt, »was ja in erheblichem Maße allerdings unwahrscheinlich ist, dann wäre eine Vervollkommnung trotzdem möglich, ja sogar sehr wahrscheinlich in Anbetracht der gegen früher enorm viel größeren Übung aller möglichen geistigen Funktionen«. 56 Ploetz zufolge war die »Feststellung der Gesamtrichtung des Entwicklungsprozesses, ob Degeneration, Erhaltung oder fortschreitende Entwicklung« 5 7 abhängig von der genetischen Grundlagenforschung. 57

Diese Argumentation ist ein Beleg dafür, daß die sozialdarwinistische Theoriebildung - besonders der Übergang von der evolutionistischen zur selektionistischen Form des Sozialdarwinismus - in starkem Maße von der Entwicklung der Vererbungslehre als der relevantesten Referenzwissenschaft des Sozialdarwinismus abhing. Die Formulierung der Keimplasmatheorie durch August Weismann im Jahre 1885, der zufolge der Trägerstoff der Erbanlagen, das Keimplasma, von Generation zu Generation in geschlossenen Keimbahnen weitergegeben wird, ohne daß durch äußere Einflüsse hervorgerufene Veränderungen der nicht an der Vererbung beteiligten organischen Substanz - von Weismann als Soma bezeichnet - den Erbgang beeinflussen können, konstituierte einen hereditären Determinismus, der für die Genese der Rassenhygiene von ausschlaggebender Bedeutung war. Entsprechend der von dem Botaniker W.Johannsen eingeführten Unterscheidung zwischen dem Genotypus, der Erbverfassung eines Organismus, und dem Phänotypus, dem Erscheinungsbild eines Organismus, das sich aus einer bestimmten Erbmasse unter Einwirkung der gegebenen Umwelteinflüsse ergibt, definierte sich die Rassenhygiene als eine Hygiene des Genotypus. Als solche profitierte sie von den bahnbrechenden Fortschritten des zytologischen Zweiges der Vererbungswissenschaft. Im Zeitraum von 1873 bis 1901 wurden die Grundlagen der modernen Humangenetik gelegt. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die erstmalige Beobachtung der Mitose durch F. A. Schneider im Jahre 18Î3, die erste experimentelle Fertilisation an der tierischen Eizelle durch Hertwig im Jahre 1875, die Entdeckung des Chromatins durch W. Flemming im Jahre 1882, die Formulierung der Chromosomentheorie durch Weismann und W. Roux in den 1880er Jahren, die Wiederentdeckung der Mendelschen Regeln im Jahre 1900 durch C. Correns, H. de Vries und E. Tschermak und die Formulierung der Mutationstheorie durch de Vries im Jahre 1901. 58 Der Sozialdarwinismus, der im Rezeptionsbereich der Vererbungslehre angesiedelt war, blieb hinsichtlich seiner Zukunftsvorstellungen von dieser Entwicklung nicht unbeeinflußt. Haeckels Fortschrittsglaube war eng mit der Vorstellung von der Vererbung erworbener Eigenschaften verbunden, was darin seinen Niederschlag fand, daß er die Verbesserung der Schulbildung als Mittel der künstlichen Zuchtwahl beim Menschen betrachtete. 59 Kam es zwischen Haeckel und Weismann über die Frage der Vererbung erworbener Eigenschaften zum Bruch, 6 0 akzeptierten die Protagonisten des rassenhygienischen Paradigmas in zunehmendem Maße die Weismannsche Keimplasmatheorie und maßen »dem Einfluß äußerer Lebensbedingungen, der günstigen Wirkung von körperlicher und geistiger Übung, von Erziehung und Unterricht für die Entwicklung der menschlichen Rasse entweder keine oder nur sehr geringe Bedeutung bei«. 61 Schallmayer nannte die Debatte um Weismanns Keimplasmatheorie »eine Frage von größter soziologischer Bedeutung«; da er sie anerkannte, bezeichnete er es als einen »naiven Optimismus«, wenn man »von Verbesserungen in der wirtschaftli58

chen Lage der besitzarmen Klassen, von Verkürzung ihrer Arbeitszeit und sonstigem Arbeiterschutz, von leiblicher, intellektueller und sittlicher G y m nastik der Jugend, sowie von den günstigen Beeinflussungen der individuellen Entwicklung junger Männer durch die militärischen Ü b u n g e n usw. auch günstige Wirkungen für unsere künftigen Generationen« 6 2 erwarte. »Aus der Sackgasse der beliebten Milieutheorie«, die auf einer Verwechslung von Geno- und Phänotypus beruhe, helfe nur »die reuige Zuflucht zu der befehdeten Selektionstheorie«. 6 3 Schon Hertwig, dessen ablehnende Haltung gegenüber dem Sozialdarwinismus nicht zuletzt auf seiner Gegnerschaft zu Weismanns Keimplasmatheorie beruhte, hatte erkannt, daß die Protagonisten der Eugenik und Rassenhygiene ausnahmslos auf dem Boden des genetischen Determinismus standen. 6 4 Dessen Bedeutung in Bezug auf die Herausbildung eugenischer Konzeptionen zeigte sich auch im internationalen Vergleich. In England hatte Galton seit den 1860er Jahren eine Vererbungslehre entwickelt, die den hereditären Determinismus der Weismannschen Keimplasmatheorie vorwegnahm und zur Grundlage der von Galton propagierten national eugenics wurde, die der kontinentalen Rassenhygiene u m zwei Jahrzehnte vorausgingen. Innerhalb des französischen Sozialdarwinismus spielte hingegen die Eugenik eine nur untergeordnete Rolle. Dies war nicht zuletzt auf den Chauvinismus der französischen Sozialdarwinisten zurückzufuhren, die an der überständigen Lehre des Lamarckismus festhielten. 6 5 Auf der Basis des Weismannianismus erschien die direkte Manipulation der genetischen Substanz eines Organismus durch die Gestaltung seiner Umweltbedingungen unmöglich; Umwelteinflüsse blieben jedoch insofern von Bedeutung, als sie die Rahmenbedingungen der natürlichen Auslese darstellten. Progressus, Stagnation oder Regression der humanen Phylogenese hingen in entscheidendem Maße - so das zentrale Axiom des rassenhygienischen Paradigmas - davon ab, inwieweit das Selektionsprinzip als treibende und richtende Kraft des Evolutionsprozesses in der gesellschaftlichen U m w e l t zum Tragen kam. Indem sie die durch den naturalistischen Monismus in den Sozialdarwinismus eingebrachte teleologische Perspektive der Evolution relativierte, wertete die Rassenhygiene das Selektionsprinzip zum zentralen Parameter des sozialdarwinistischen Diskurses auf.

c) Degenerationstheorie und Züchtungsutopie Unter dem Gesichtspunkt der sozialen Selektion mußte den Rassenhygienikern der Zivilisationsprozeß als eine »Kette von Pyrrhussiegen« 6 6 erscheinen. Bereits Darwin hatte die Frage aufgeworfen, welche Wirkungen von der im Zuge des Zivilisationsprozesses, insbesondere auf Grund der Fortschritte auf dem Gebiet der medizinischen Prophylaxe und Therapeutik fortschreitenden Außerkraftsetzung der selektiven Mechanismen der natür59

lichen Zuchtwahl auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung zivilisierter Nationen ausgingen. Er kam zu dem Schluß, daß die körperliche Konstitution der Kultur- im Vergleich zu den Naturvölkern - unter der durch die Zivilisation bewirkten >Gegenauslese< leiden müsse: »Unter den Wilden werden die an Körper und Geist Schwachen bald eliminiert; die Überlebenden sind gewöhnlich von kräftigster Gesundheit. Wir zivilisierten Menschen dagegen tun alles mögliche, um diese Ausscheidung zu verhindern. Wir erbauen Heime für Idioten, Krüppel und Kranke. Wir erlassen Armengesetze, und unsere Ärzte bieten alle Geschicklichkeit auf, um das Leben der Kranken so lange als möglich zu erhalten. Wir können wohl annehmen, daß durch die Impfung Tausende geschützt werden, die sonst wegen ihrer schwachen Widerstandskraft den Blattern zum Opfer fallen würden. Infolgedessen können auch die schwachen Individuen der zivilisierten Völker ihre Art fortpflanzen. Niemand, der etwas von der Zucht der Haustiere kennt, wird daran zweifeln, daß dies äußerst nachteilig für die Rasse i s t . . . ausgenommen im Falle des Menschen wird auch niemand so töricht sein, seinen schlechtesten Tieren Fortpflanzung zu gestatten. « 67

Andrerseits schrieb Darwin die Hilfe für >Arme, Kranke, Krüppel, Schwachsinnige und Sterbende< einem »Instinkt der Sympathie« zu, den man nicht hemmen dürfe, »ohne daß dadurch unsere edelste Natur an Wert verlöre«. Deshalb müßte man sich »mit den ohne Zweifel nachteiligen Folgen der Erhaltung und Vermehrung der Schwachen abfinden«. 68 Den Widerspruch zwischen ethischen und eugenischen Postulaten löste Darwin auf, indem er in seinem anthropologischen Konzept die Herausbildung sozialer Instinkte< kurzerhand zum Ziel der natürlichen Auslese erklärte, die er sich stets als Gruppenauslese, gegründet auf kollektive Solidarität, vorstellte. 69 Von diesem Vermittlungsversuch zwischen Ethik und Evolution ausgehend konnte Darwin die Forderung nach einer Einschränkung der Vorsorge und Fürsorge für gesellschaftliche Außenseiter sogar als mit den Zielsetzungen der natürlichen Auslese unvereinbar ablehnen. Auch Haeckel hatte bereits die >Gegenauslese< beklagt, die seiner Meinung nach durch die Fortschritte der Medizin bewirkt wurde. »Denn obwohl immer noch wenig imstande, innere Krankheiten wirklich zu heilen, besitzt und übt dieselbe doch mehr als früher die Kunst, schleichende, chronische Krankheiten auf lange Jahre hinauszuziehen. Gerade solche verheerende Übel, wie Schwindsucht, Skrofelkrankheit, Syphilis, ferner viele Formen der Geisteskrankheiten, sind in besonderem Maße erblich und werden von siechen Eltern auf einen Teil ihrer Kinder oder gar auf die ganze Nachkommenschaft übertragen. Je länger nun die kranken Eltern mit Hilfe der ärztlichen Kunst ihre sieche Existenz hinausziehen, desto zahlreichere Nachkommenschaft kann von ihnen die unheilbaren Übel erben, desto mehr Individuen werden dann auch wieder in der folgenden Generation, dank jener künstlichen >medizinischen ZüchtungEntartungsgefahr< ü b e r w o g , k a m es in der Formationsphase des Sozialdarwinismus noch nicht zur Ausbildung eines eugenischen Programms, das die vermeintlichen >contraselektorischen< Effekte der Medizin kompensieren sollte. Für die Rassenhygieniker hingegen w u r d e der angebliche Widerspruch von Medizin und Eugenik z u m g ä n g i g e n Topos. Schon Tille kommentierte sarkastisch: »Wir haben eigene Anstalten dafür, in denen w i r Krüppel, Lahme, Blinde, Irre, Schwindsüchtige, Syphilitische aufpäppeln, u m sie dann gelegentlich zu entlassen, damit sie sich fortpflanzen und ihre Krankheiten und Fehler weiter vererben k ö n n e n . « 7 1 Da die Medizin die Zahl der Krankheiten dauernd vermehre, die A r m e n p f l e g e die Ausbreitung der A r m u t fördere, sei eine R ü c k e n t w i c k l u n g der Menschheit durch Aufhebung der natürlichen Auslese zu befürchten. 7 2 Ähnlich äußerte sich Schallmayer: »Die therapeutische Medizin leistet für die Hebung der Volksgesundheit ungefähr das, w a s die A r m e n p f l e g e zur Hebung des Volkswohlstandes leistet. Beide tragen zur Vermehrung der Hilfsbedürftigen bei. Aus den Fortschritten der M e d i z i n . . . ist für die Zukunft der Menschheit kein Heil zu hoffen. « 7 3 Insbesondere der Pädiatrie schrieb die Rassenhygiene >contraselektorische< Effekte zu, da eine hohe Kindersterblichkeit als effizienter >Selektionsfaktor< interpretiert w u r de. »Wenn die natürliche Auslese der S c h w a c h e n . . . in Form von allerlei K i n d e r k r a n k h e i t e n . . . in ihr Recht treten w i l l « , beklagte Ploetz, » k o m m t der Arzt dazwischen und bereichert in vielen Fällen die Menschheit u m eine schwache Konstitution, die sich später oft nur selbst zur Last w i r d « . 7 4 Auch Tille, A m m o n und Haycraft betrachteten eine hohe Kindersterblichkeit als Grundbedingung der >natürlichen Auslese*. 7 5 Der These von den >contraselektorischen< Effekten der Medizin lagen spezifische Degenerationstheorien zugrunde, die den Entartungsbegriff, der in der zweiten Hälfte des 19. und i m ersten Viertel des 20. Jahrhunderts die Medizin, besonders die Psychiatrie und Sexualpathologie beherrschte, in eigentümlicher Weise abwandelten. 7 6 Der Psychiater und Anthropologe Bénédict Augustin Morel hatte Ende der 1850er Jahre - nachdem bereits J . J . M o r e a u de Tours und vor allem P. Lucas den Begriff in ähnlicher Art und Weise gebraucht hatten - eine richtungweisende B e s t i m m u n g des Begriffs >Dégénérescence< gegeben, der zufolge >Entartungen< krankhafte A b w e i chungen v o m ursprünglichen Menschenbild, d e m t y p e primitif, darstellten, die M o r e l sich primär durch die Erbsünde, sekundär durch die Buffonsche Trias von Klima, N a h r u n g und Sitten verursacht vorstellte. 7 7 Die Degenerationstheorie Morels w u r d e von Valentin M a g n a n , der C o m t e s Positivismus und D a r w i n s Evolutionstheorie zu verbinden versuchte, i m Sinne des Entwicklungsgedankens weiterentwickelt. Für M a g n a n stellten Entartungen keine A b w e i c h u n g e n von einem t y p e primitif, sondern von einem t y p e idéal, der das Ziel der aufsteigenden E n t w i c k l u n g s reihe umschrieb, d a r . 7 8 In dieser Form w u r d e der Entartungsbegriff in Deutschland beispielsweise von dem Psychiater und Sexualpathologen R i 61

chard v. Krafft-Ebing oder dem Gynäkologen Alfred Hegar übernommen. 7 9 Der Rassenanthropologie waren Entartungsvorstellungen seit den Schriften Gobineaus vertraut. In die Rassenhygiene fand der Entartungsbegriff in der Tradition der französischen Degenerationstheoretiker über die Anti-Alkohol-Bewegung Eingang. Seit Magnan herrschte zwar die Auffassung vor, daß die Mehrzahl der Entartungsfälle auf eine Kette von krankhaften, erblichen Umwandlungen zurückzuführen sei. Es galt aber auch als möglich, daß ein Mensch spontan >entarteteEntartung< nicht angeboren, aber erblich. Diese spontanen Degenerationen führte man auf Keimverderbnis zurück - Blastophthorie in der Terminologie der Degenerationstheorie Foreis - , in der der Alkohol als pars pro toto für die schädigenden >Keimgifte< stand. 80 Daneben entwickelten Eugenik und Rassenhygiene aber auch autochthone Degenerationstheorien, deren bedeutendste von Galton geprägt wurde. Seit den 1860er Jahren versuchte Galton, die Erblichkeit physischer und psychischer Merkmalsausbildungen beim Menschen mit Hilfe von biostatistischen Erhebungen, Familienuntersuchungen und Zwillingsforschungen nachzuweisen. Im Jahre 1865 - in demselben Jahr, in dem Gregor Mendel seine Forschungsergebnisse der naturwissenschaftlichen Gesellschaft in Brünn vorlegte - gestand Galton ein, daß die Vererbungsgesetze noch unbekannt waren. Trotzdem ging Galton von einem Übergewicht des Erbfaktors im Spannungsfeld von nature und nurture aus. Für ihn stand fest, daß unter den Nachkommen hochbegabter Menschen eine Häufung von hervorragenden geistigen Anlagen zu erwarten sei. Andrerseits war er davon überzeugt, daß sich die Träger >minderwertigen Erbguts< rascher vermehrten als die Träger hochwertiger Erbanlagengeborene Verbrechen Cesare Lombrosos - Stigmata seiner >Entartung< an sich, die sich der anthropometrischen Methodik erschlossen. 8 3 In der Eugenik und Rassenhygiene rechneten zum Kreis der >Entarteten< die Bevölkerungsteile, die im Sinne der Galtonschen N o r m a l verteilung und im Vergleich mit den >Ascendenten< und >Descendenten< unterdurchschnittlich begabt waren. Damit wurde der Kreis der E n t a r t e tem erheblich ausgeweitet, ohne daß der Begriff der Degeneration seinen pathologischen Aspekt verlor. Es setzte ein Prozeß der Psychiatrisierung breiter Bevölkerungsschichten ein. 2. Seit Morel war die klassische Degenerationstheorie von der Progredienz der Degeneration ausgegangen. Man setzte voraus, daß sich die >Entartungen< im Erbgang derart verschlimmerten, daß sie am Ende zur U n fruchtbarkeit führten, wodurch die >entartete Sippe< von selbst ausstarb. 8 4 Eugenik und Rassenhygiene postulierten dagegen eine überdurchschnittliche Fortpflanzungsrate der >EntartetenEntartung< in der Generationenfolge u m sich greife, so daß im Laufe weniger Generationen die >erbgesunde< Bevölkerung ausgestorben sein würde. Wurde die Rassenhygiene einerseits durch kulturpessimistische Degenerationsvorstellungen gespeist, blieb sie andrerseits, indem sie ihre H o f f n u n gen auf den Erkenntniszuwachs der Wissenschaften setzte und »trotz, ja geradezu wegen des drohenden Niedergangs die Notwendigkeit und M ö g lichkeit, den Fortschritt der Menschheit zu gewährleisten«, 8 5 gegeben sah, in gewissem Sinne fortschrittsgläubig. Wenn in der Ankündigung zum Dritten Internationalen Kongreß für Eugenik, der 1932 in N e w York stattfand, definiert wurde: »Eugenics is the self direction of human evolution«,86 waren damit in nuce die erweiterten Handlungsmöglichkeiten angesprochen, die durch die Rassenhygiene eröffnet schienen. Rassenhygienische Programme bedeuteten den »manipulativen Eingriff des Menschen in seinen Bios«. 8 7 Wie neuartig dieser Gedanke war, zeigt ein Rückblick auf die anthropologische Konzeption Immanuel Kants. In seiner »Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse« (1785) wies Kant nach dem Motto, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, die Möglichkeit der Tier- und >MenschenzuchtMenschenzüchtung< als Hirngespinst abzutun, weil er mit d e m Z ü c h t u n g s g e d a n k e n n u r Vorstellungen v o n magischen Riten oder artifiziellen M a n i p u l a t i o n e n a m I n d i v i d u u m i m Sinne der V e r e r b u n g e r w o r b e n e r Eigenschaften v e r b a n d , die sich in der Tat als falsch erwiesen. Insofern hatte Kant, v o n biologisch falschen Voraussetzungen ausgehend, einen ethisch richtigen Schluß gezogen. D a r w i n , der seine E n t w i c k l u n g s l e h r e auf der Basis intensiver Studien über künstliche T i e r z ü c h t u n g aufstellte u n d dessen Leitbild der erfolgreiche Z ü c h t e r w a r , 8 9 k o n n t e sich der Einsicht nicht verschließen, daß m a n - was körperliche M e r k m a l e betraf - auch den M e n s c h e n züchten k ö n n e . D o c h wies er den G e d a n k e n der >Menschenzüchtung< m i t d e m H i n w e i s auf die s o z i a l e n Instinkte< des M e n s c h e n u n d - dies w a r auch n o c h f ü r Haeckel das ausschlaggebende A r g u m e n t - i m Vertrauen auf die stetige V e r v o l l k o m m n u n g des Menschengeschlechts z u r ü c k . 9 0 Die Vorstellung, daß der M e n s c h zur H ö h e r e n t w i c k l u n g fähig sei, reizte zu eugenischen Spekulationen. Galton behauptete bereits 1869, daß es, wie es m ö g l i c h sei, »durch sorgfältige Auslese eine beständige Z u c h t v o n H u n den oder P f e r d e n mit b e s o n d e r e m R e n n v e r m ö g e n . . . zu erhalten«, d e n k b a r sei, »eine h o c h b e g a b t e Menschenrasse h e r v o r z u b r i n g e n « . 9 1 Tille spekulierte: »Wir sind g e w o r d e n ; w i r haben keinen G r u n d , a n z u n e h m e n , daß w i r bereits der E n d p u n k t der E n t w i c k l u n g s k e t t e sind, als deren Glied w i r uns zu betrachten gelernt haben. Werden wir weiter:... Lernen w i r die B e d i n g u n g e n kennen, unter denen die E n t s t e h u n g der G a t t u n g M e n s c h m ö g l i c h w a r , u n d versuchen wir, die U r s a c h e n lebendig zu erhalten, die unsere Vorfahren zu uns u m g e m o d e l t haben! D a n n w i r d sich j a finden, w o z u sie uns weiter u m m o d e l n w e r d e n . « 9 2 D u p r é schließlich behauptete: »Züchten k a n n u n d m u ß m a n den Menschen! D e m Wesen nach ist e s . . . ganz dasselbe, o b ich eine der übrigen Säugetierarten oder das Säugetier M e n s c h züchte«. 9 3 In seiner Kritik der rassenhygienisch inspirierten Z ü c h t u n g s u t o p i e n wies H e r t w i g d a r a u f h i n , daß, w e n n m a n die sozialdarwinistische Phraseologie v o n der >Auslese der Tüchtigsten, Veredelung des Menschengeschlechts< u s w . genauer untersuche, o f f e n b a r w e r d e , wie weit die Ansichten über die erstrebenswerten Ziele der h u m a n e n Phylogenese a u s e i n a n d e r g i n g e n . 9 4 D a mit sprach H e r t w i g eine prinzipielle A p o r i e der Rassenhygiene an: G i n g m a n d a v o n aus, daß die natürliche Auslese kein zielgerichteter V o r g a n g w a r , w a r es u n m ö g l i c h , bei einer partiellen oder totalen A u ß e r k r a f t s e t z u n g der natürlichen Z u c h t w a h l Ziele zu b e s t i m m e n , auf die hin M a ß n a h m e n der 64

künstlichen Zuchtwahl zur Substituierung der naturalen Selektion ausgerichtet werden sollten. Es ist klar, daß sich an dieser Stelle ein Einfallstor für Werturteile eröffnete. Die Zielsetzungen, auf die man sich schließlich einigte, waren auf einem derart hohen Abstraktionsniveau angesiedelt (>VolksgesundheitRassereinheitZüchtungsziele< immer höher geschraubt werden, was einerseits zu einer Verschärfung der Maßnahmen, andrerseits zu einer Ausdehnung der betroffenen Personenkreise führte. Man kann zum einen von einer dem rassenhygienischen Paradigma immanenten Tendenz zur Eskalation der Gewalt sprechen, die in der Stufenfolge Asylierung, Sterilisierung, >Euthanasie< deutlich wurde. Der Begriff des Kampfes ums Dasein, den Darwin noch in einem »weiten und metaphorischen Sinne« gebraucht wissen wollte, verengte sich zusehends auf Vernichtung im wortwörtlichen Sinne. 95 Zum anderen war eine dem rassenhygienischen Paradigma inhärente Tendenz zur Expansion der Vernichtung unverkennbar. Der Personenkreis, der zum Objekt negativer Eugenik gemacht werden sollte, weitete sich ständig aus, bis er schließlich - bei dem Sozialhygieniker Grotjahn - ein Drittel der Bevölkerung umfaßte. 96 Kam in den Degenerationstheorien, die eine rapide Erosion der genetischen Substanz voraussetzten, die in einem biologischen Kataklysmus kulminieren sollte, ein apokalyptisches Moment der Rassenhygiene zum Ausdruck, eröffnete der Züchtungsgedanke, der die Erschaffung des >Übermenschen< in den Bereich des Möglichen rückte, dem rassenhygienischen Paradigma eine eschatologische Dimension, in der der »ursprüngliche heilsgeschichtliche und endzeitliche Sinngehalt des Entwicklungsbegriffs« 97 durchschimmerte. Zukunftsangst und Fortschrittsglaube entfalteten im rassenhygienischen Diskurs eine eigentümliche Dialektik. Aus dem Antagonismus wurde ein Synergismus, der dem rassenhygienischen Paradigma seine aggressive Dynamik verlieh.

d) Die Entwertung Sozialtheorien

des Menschenlebens auf der Basis

bioorganismischer

An den sozialbiologischen Utopien, die dem rassenhygienischen Paradigma immanent waren, fällt eine totalitäre Tendenz auf. Sie erfaßten den Menschen in allen seinen Lebenszusammenhängen und Daseinsbezügen. Zur Verwirklichung ihrer Neuordnungsvorstellungen räumten die Rassenhygieniker dem Staat Kompetenzen über gesellschaftliche Bereiche ein, die zu Beginn der sozialdarwinistischen Theoriebildung noch weit außerhalb der öffentlichen Zuständigkeit gelegen hatten, und wiesen damit staatlichen Behörden eine Machtfülle über Leib und Leben zu, wie sie - nach den Worten Hertwigs - nicht einmal die katholische Kirche auf dem Höhepunkt 65

ihrer Macht durch Inquisition, Ketzergerichte und Hexenverbrennungen ausgeübt hatte. Hertwig war es auch, der davor warnte, daß ein verantwortungsbewußter Mensch an einer »Menschenzüchtungsbehörde« nicht mitwirken könne, daß sich aber in Umbruchszeiten »immer ein Robespierre oder Marat finden« lasse, »welche die Ausjätemaschine der negativen Zuchtwahl bestens zu versorgen wüßten«. 98 Die Verabsolutierung überindividueller Sozialstrukturen war innerhalb des rassenhygienischen Paradigmas eng mit der Relativierung der Einzelexistenz verschränkt. Sie stützte sich auf organizistische Sozialtheorien.99 Bis ins 18. Jahrhundert waren die Begriffe >Mechanismus< und >Organismus< auf Grund des von R. Descartes entworfenen technomorphen Modells lebender Körper beinahe deckungsgleich, so daß sich beispielsweise das Bild vom Uhrwerk ohne weiteres auf den menschlichen Körper anwenden ließ. 100 Erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts löste sich der moderne Organismusbegriff aus der Umklammerung durch die mechanizistische Theorie und entwickelte sich allmählich zum Gegenbegriff zur Mechanismusanalogie. Im Zeitalter der Französischen Revolution und des deutschen Idealismus kristallisierte sich in der staatstheoretischen und verfassungspolitischen Diskussion ein doppelter Organismusbegriff heraus - zum einen der an Kant orientierte Organismusbegriff, der in der Analogie das physikalische Moment betonte und sich an den Organisationsbegriff anlehnte, zum anderen ein an Schelling orientierter, romantischer bzw. naturtheoretischer Organismusbegriff, der in der Analogie den biologischen Aspekt hervorhob, vor allem Wachstums- und Entwicklungsvorstellungen, und den Gegenpol zu dem von den Ordnungsideen der Französischen Revolution geprägten Organisationsbegriff bildete. Anthropomorphistische Staatstheorien stießen in der staatsrechtlich-verfassungspolitischen Diskussion recht bald auf Kritik. »Die Vergleichung des Staates und seiner Anstalten... mit dem Organismus des menschlichen Körpers« sei »eine bloße Spielerei«,101 die »zu den willkürlichsten und phantastischsten Behauptungen Anlaß« 102 gebe. Während der Organismusbegriff in der staatstheoretisch-verfassungspolitischen Diskussion seit Beginn der 1860er Jahre seine Funktion als Leitbegriff einbüßte, tauchte er in Form seiner biologistischen Variante verstärkt in der sozialwissenschaftlichen Literatur auf. 103 Wie im 17. und 18. Jahrhundert astronomische und physikalische Modelle in die Gesellschaftslehre eingegangen waren, flössen im 19. Jahrhundert biologistische Metaphern in Sozialtheorien ein. Für den Sozialdarwinismus bedeutsam wurde der durch den Darwinismus bewirkte Sprung von der Analogisierung zur Identifizierung von biologischer und sozialer Sphäre, die Verbindung bioorganismischer Modelle mit Vorstellungen vom Kampf ums Dasein, Auslese, Anpassung, Entwicklung und Fortschritt. Die Gesellschaft oder der Staat wurden nicht mehr mit einem Organismus verglichen, sie stellten Organismen höherer Ordnung auf einer höheren Stufe der Evolution dar. 104 R. Virchow schrieb noch 1862: »Man kann den Staat einen 66

Organismus nennen, denn er besteht aus lebenden Bürgern; man kann umgekehrt den Organismus einen Staat, eine Gesellschaft, eine Familie nennen, denn er besteht aus lebenden Gliedern gleicher Abstammung. Aber damit hat das Vergleichen ein Ende.« 105 Der schwäbische Gelehrte A. Schäffle dagegen versuchte in seinem Hauptwerk »Bau und Leben des socialen Körpers« (1875-78),106 mit Hilfe >realer< oder >schlagender< Analogien, auf deren Relativität er allerdings immer wieder hinwies, eine Anatomie, Physiologie, Pathologie und Psychophysik des sozialen Systems zu erstellen, wobei er - angeregt durch Darwin und Haeckel - Kampf ums Dasein, Auslese, Anpassung, Variation und Vererbung als in der Gesellschaft wirkmächtige Kräfte zu fassen bemüht war. Von der Prostitution als sozialer Atrophie< bis zum gesellschaftlichen Parasitismus< spannte Schäffle den Bogen der Analogie zwischen Biologischem und Sozialem. Bei aller Parallelisierung sozialer und biologischer Prozesse blieb Schäffle bewußt, »daß die sozialen Verbindungen geistiger Art sind«. 107 Schäffles Werk, das Engels 1881 als »horrenden Kohl« 108 bezeichnete, nannte Schmoller 1888 den »ersten großen Versuch einer Soziologie, d. h. einer Zusammenfassung unserer gesamten staats- und gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis«. 109 Auf jeden Fall stehe Schäffle mit seinen Ausführungen »hoch über dem Hexensabbath von unverdauten Gedanken..., die neuerdings von einem begabten... Dilettanten unter dem Namen >Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft< unvorsichtigerweise dem Druck anvertraut worden sind«. 110 Damit meinte Schmoller das Werk des baltischen Adligen P. v. Lilienfeld. 111 Angeregt durch Lamarck, Darwin und Haeckel behauptete v. Lilienfeld eine im Kampf ums Dasein entstandene Entwicklungsreihe vom Einzeller über den Menschen zum Gesellschaftskörper, den er als wirkliche Seinsstufe verstand. Dementsprechend war er auf der Suche nach >wahren Analogien< zwischen Natur und Gesellschaft. »Die Analogie zwischen der menschlichen Gesellschaft und der N a t u r . . . ist so klar, daß sie zu allen Zeiten von den besten Köpfen anerkannt worden ist«, schrieb er unter Hinweis auf die Fabel des Menenius Agrippa, »nur wurde diese Analogie bis jetzt nicht im realen, sondern im allegorischen Sinne aufgefaßt«. 112 Diese >Realanalogien< gingen in den selektionistischen Sozialdarwinismus, besonders in die Rassenhygiene ein. Die als Naturlehre der Gesellschaft konzipierte biologistische Soziologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte ausgiebig Gebrauch von der bioorganismischen Metaphorik. L. F. Ward fugte im Jahre 1904 seiner Kritik der organizistischen Soziologie eine Aufzählung der skurrilsten Metaphern bei. Da wurden Artistokratie und Klerus als >soziale Fettschicht^ die ökonomische Produktion als >Nahrungsaufnahmeun verdaute NahrungBlutBlutkörperchenBlutgefaßeHerzAugenDrüsenGehirnGanglien des sympathetischen 67

Nervensystems* der Gesellschaft bezeichnet, militärische Gesellschaften mit >RaubtierenHuftieren< gleichgesetzt. »Es ist bemerkenswert«, resümierte Ward, »wie weit es möglich ist, eine solche Theorie zu treiben, wenn die Aufmerksamkeit einer großen Zahl von scharfen Geistern eine beträchtliche Zeit hindurch auf sie gerichtet ist«. 1 1 3 In Deutschland hielt sich die Organismusanalogie besonders hartnäckig, da sie von F. Tönnies zur Kennzeichnung des Gegensatzpaares von >GemeinschaftGesellschaftDritten Reich< einsetzenden Verfolgung der >Asozialen< mit Hilfe des rassenhygienischen Instrumentariums. 5 0 2. Die Diffusion des rassenhygienischen Paradigmas in die Konzeptionen medizinischer Therapeutik wurde durch ein sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildendes Verständnis von Krankheit und Gesundheit begünstigt, das durch die Verflechtung des Leistungs- und des Volksgemeinschaftsgedankens gekennzeichnet war. Der Hygieniker Hans Reiter, im >Dritten Reich< Präsident des Reichsgesundheitsamtes, gab i m j a h r e 1939 eine Bestimmung dessen, was der Medizin nicht erst unter dem nationalsozialistischen Regime als Gesundheit und Krankheit galt: »Wir wissen, w e n n jeder einzelne gesund und leistungsfähig ist, daß dann auch das ganze Volk gesund und leistungsfähig sein m u ß , und trennen dabei die Begriffe >gesund< und >leistungsßhig< nicht voneinander, sondern verstehen sie als etwas völlig Identisches, leugnen also die >GesundheitLeistung< vorliegt, - oder anders, wir verbinden mit der Gesundheit die Notwendigkeit einer Leistung! 86

Von dieser Sicht aus gesehen, ist für uns jedes Volk eine Einheit, ein Ganzes, - und die Existenz dieses Ganzen wird bedroht, wenn dieses Volk >krankKrankheit< k a n n . . . medizinische Ursachen haben, sie kann aber auch politisch bedingt sein: eine >Krankheit< ist beispielsweise eine Leistungsminderung oder Leistungsunfähigkeit infolge Auftretens von menschlichen Krankheitsfällen, . . . die . . . in größerer Zahl aber diese Leistungsminderung sogar zu einer Gefährdung der Existenz des ganzen Volkes steigern können. Eine >Krankheit< des Volkes ist aber auch ein Krieg, ... eine Revolution, . . . die Arbeitslosigkeit... die Streiks«.51

Diese Auffassung von Gesundheit und Krankheit war in zweifacher Hinsicht verzerrt und verkürzt. Zum einen setzte sie Gesundheit mit Leistungsfähigkeit, Krankheit mit Leistungsunfähigkeit, Erkrankung mit Leistungsminderung und Gesundung mit Leistungssteigerung gleich, so daß sich Heilung in der Wiederherstellung der Leistungskraft erschöpfen konnte. Daß dabei die Arbeitsfähigkeit zum Fluchtpunkt der medizinischen Therapeutik wurde, lag offen zutage. R. Siebeck, einer der prominenten Kliniker der Heidelberger Schule, die sich für eine Reform der Medizin im Sinne eines patientenorientierten, psychosomatischen Ansatzes einsetzte, meinte etwa, der »letzte Akt der Behandlung« bestehe in der »Arbeitstherapie - Therapie durch Arbeit zur Arbeit«. 52 Die unter dem nationalsozialistischen Regime von der Deutschen Arbeitsfront (DAF) getragene Arbeitsmedizin setzte es sich dementsprechend zum Ziel, mit Hilfe vor allem des Betriebsarztsystems 53 die menschliche Arbeitskraft so lange wie möglich, letztlich bis zum Tode auszubeuten, so daß zukünftig das Rentenalter fortfallen sollte. 54 Der Leistungs- wurde mit dem Volksgemeinschaftsgedanken verknüpft, indem die »Volks-« als »Leistungsgemeinschaft«55 gedeutet wurde. Volk und Staat wurden als Seinsstufen höherer Ordnung dem einzelnen Menschen vorgeordnet, wobei man sich der bioorganismischen Metaphorik bediente. Auf diese Weise entstand die Vorstellung eines >VolkskörpersVolkskörpers< wurde - sieht man von der Diffamierung ideologiediskordanter sozioökonomischer, -politischer oder -kultureller Phänomene mittels der bioorganismischen Metaphern ab - vor allem die Zunahme erblicher Krankheiten in der Bevölkerung aufgefaßt. Dadurch, daß die Medizin den >Volkskörper< zum Objekt der Therapeutik bestimmte, kehrte sich das individuelle Recht auf Gesundheit in eine kollektive Pflicht zur Gesundheit um. Krankheit wurde ein vom einzelnen zu verantwortendes »Pflichtversäumnis«, ein »Versagen« vor der Aufgabe, sich durch heroische Askese gesundzuerhalten. 56 Die Vorstellung von einer Pflicht zur Gesunderhaltung, die dem Recht auf Gesundheit entgegengesetzt wurde, war der Medizin nicht vom nationalsozialistischen Regime oktroyiert worden - etwa als Umsetzung der nationalsozialistischen Maxime >Gemeinnutz geht vor Eigennutz< - , sie wurde vielmehr bereits in den 1920er Jahren in der Debatte um die >Krise der Medizin< entwickelt. 57 Deutlich trat dieser Vorstellungskreis in der Diffamierungskampagne zutage, die von Seiten der Ärzteschaft gegen die Kassenpatienten 87

geführt wurde. Die Denunziation des Kassenpatienten war ein Nebenschauplatz der Auseinandersetzungen zwischen den Kassenärzten und den Krankenkassen. 58 Im Jahre 1922 bezeichnete es W. Pflug als schweren »Krebsschaden, der an unserem Volke nagt«, daß »durch den unsinnigen Versicherungstaumel . . . die Verantwortungslosigkeit in allen Schichten der Bevölkerung gestiegen« 59 sei. Ganz ähnlich sprach im Jahre 1928 der Danziger Chirurg Erwin Liek, der prominenteste Medizinkritiker seiner Zeit, von der »sittlichen Verwilderung als einer nicht vorausgeahnten Wirkung der sozialen Gesetzgebung«. Unter Berufung auf L. Stoddards »Drohung des Untermenschen« beklagte Liek die »Bevorzugung des Unsozialen, des Faulen, des Untüchtigen auf Kosten des Sozialen, des Fleißigen, des Tüchtigen«. 60 In der Denunziation des Kassenpatienten verband sich der Vorwurf des Simulantentums mit dem rassenhygienischen Topos von den >contraselektorischen< Effekten des Sozialversicherungssystems. Dementsprechend begründete Liek seine Vorschläge zur Reform der Krankenkassen - Beteiligung der Versicherten an den Arzneikosten, Vertretung der Ärzteschaft in den Krankenkassenselbstverwaltungen, angeblich, um der Bürokratisierung entgegenzuwirken, Zwangssparsystem - sozialdarwinistisch-rassenhygienisch. »Die Ausschaltung des Kampfes ums Dasein« durch das Krankenkassenwesen, warnte er, laufe »darauf hinaus, das Leben selbst, wenn auch auf Umwegen, auszuschalten«. 61 Ähnlich dem Typus des >Kriegs-, Rechts-, Sozial- und Begehrungsneurotikers< wurde das Syndrom der > Versicherungsneurose« diagnostiziert. In seiner »Psychologie des Sozialversicherten« (1930) zählte der Psychiater H. Prinzhorn die Symptome der >Versicherungsneurose< auf: »Scheu vor jeder selbständigen Entscheidung, vor Verantwortung; statt dessen Vorliebe für alles Sich-gehen-lassen, Begehrlichkeit, kritiklose Forderung an die >Kasse< oder den >StaatSchuldigeminderwertiger MenschAusmerze< wurde als rassenhygienisches Postulat deklariert, wobei die Mißachtung der Menschenrechte mit dem Volksgesundheitsgedanken gerechtfertigt wurde. Denn das Recht auf Leben galt in der Medizin nicht mehr unumschränkt, sondern wurde durch die Belange des >Volkskörpers< eingeschränkt. »Die Gemeinschaft hat auf Grund ihres den Einzelwesen übergeordneten Lebensgesetzes das Recht, unter Umständen gegen ihre Glieder sogar vernichtend vorzugehen«, schrieb H. F. Hoffmann, 6 4 wobei er auf die Todesstrafe und die Unfruchtbarmachung abhob, während er die >Vernichtung lebensunwerten Lebens< verwarf. Im Falle des 88

Instrumentariums negativer Eugenik wurde zum einen die »Entartungsgefahr< beschworen - beispielsweise aktualisierte der Rassenhygieniker F. Burgdörfer, 6 5 Mitarbeiter des Statistischen Reichsamtes, im Jahre 1935 die Galtonsche Degenerationsthese, indem er behauptete, daß die »hochwertigen< Menschen >unterfruchtig< seien und im Durchschnitt nur zwei Kinder zeugten, während die »minderwertigen* Menschen >überfruchtig< seien und durchschnittlich vier Nachkommen hinterließen, was zu einer rapiden Erosion der genetischen Substanz binnen weniger Generationen führe 66 - , zum anderen auf die Kosten der Verwahrung von >Erbkranken< und »Gemeinschaftsunfähigen* verwiesen, wie etwa von Reichsärztefiihrer Wagner auf dem Reichsparteitag von 1936 oder dem Direktor der Tübinger Nervenklinik, R. Gaupp, im Jahre 1934 vor dem Landesverein Württemberg des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). 6 7 Der »therapeutische Idealismus* wandte sich von den Individuen ab, deren psychische und somatische Leiden oft genug die Möglichkeiten der Ärzte überstiegen, und dem >Volkskörper< zu. Durch die Ausdehnung des Behandlungsziels ins Unendliche, von der Heilung des einzelnen zur Gesundung des Ganzen, wurde - hier offenbarte sich die Sprengkraft der bioorganismischen Metaphorik - Vernichtung zur Heilung. Vor dem Hintergrund einer rigorosen Triage, in der »Erbkranke* und »Unheilbare* ausgesondert wurden, schlug der »therapeutische Idealismus* in therapeutischen Nihilismus um, der in der »Euthanasie* kulminierte. H. Pfannmüller, der als Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar am Euthanasieprogramm mitwirkte, sprach schon 1938 davon, daß »unsere erste und vornehmste ärztliche Betreuung nicht den Unrettbaren und Verlorenen zuzuwenden ist, sondern den Menschen, die für die Volksgemeinschaft überhaupt noch einen Wert haben«. 6 8 Im Jahre 1940 begrüßte eine rassenhygienische Dozentin unter Anspielung auf die laufende »Euthanasieaktion* die »Umwertung aller Werte« in der Psychiatrie unter dem Motto: »Weg vom lebensunwerten Leben - hin zum behandelbaren und heilbaren Volksgenossen. Weg vom biologisch Minderwertigen - hin zur biologischen Hochwertigkeit«. 69 Das auf der Verknüpfung des Leistungs- und des Volksgemeinschaftsgedankens beruhende Krankheitskonzept wies auch dem Arzt eine neue Rolle zu. Ihm oblag nunmehr neben der Heilbehandlung die »Gesundheitsführung*, die Vorsorge, Überwachung und Erziehung einschloß. 70 Zu diesem Aufgabenkreis gehörten auch die erbbiologische Diagnostik und Prognostik. Wie es die Rassenhygieniker seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts vorausgesehen hatten, war die Realisierung eines Programms negativer Eugenik nur möglich, indem die Ärzteschaft eng an den Staat angebunden wurde. Dies kam der langfristigen Zielsetzung der Ärzteverbände entgegen, »Staat zu machen«. 7 1 Besonders in der Psychiatrie hatte die Verflechtung mit Staat, Gemeinde , Polizei, Justiz, Kirche, Schule, Armee und Wirtschaft Tradition. Auch von daher übernahmen gerade die Psychiater 89

die ihnen durch die Reichsärzteordnung (RÄO) von 1935 übertragene öffentliche Aufgabe der >Gesundheitsfuhrung< bereitwillig. 72

5. Die politische Implementierung

des rassenhygienischen

Paradigmas

Der Sozialdarwinismus wurde »geschichtsmächtig weniger durch unmittelbare Breitenwirkung als durch die Bereitstellung von Denkmodellen, d. h. von Plänen und Verfahrensweisen für die Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf biologistischer Grundlage«. 1 Dieses Urteil trifft in besonderem Maße auf die Rassenhygiene zu. Als angewandte Wissenschaft entfaltete sie eine rege Außentätigkeit, die aber weniger darauf abzielte, die öffentliche Meinung zu gewinnen, als vielmehr darauf angelegt war, gezielt Einfluß auf die Entscheidungsträger im Bereich des Gesundheitswesens, der Wohlfahrtspflege und der Sozialpolitik auszuüben. Diese Strategie ging abgestützt durch einen sukzessiven Institutionalisierungsprozeß - vor allem in der Sterilisierungsdebatte nach dem Ersten Weltkrieg auf.

a) Die Konstituierung rassenhygienischer Institutionen Conditio sine qua non für die sozialpolitische Implementierung rassenhygienischer Postulate war die Konstituierung und Konsolidierung einer organisatorischen Plattform, von der aus die Gruppierung der Rassenhygieniker eine wirksame Außentätigkeit zu entfalten imstande war. Dieser Institutionalisierungsprozeß läßt sich anhand verschiedener Zäsuren unterteilen.2 Auf einer in der Mitte der 1880er Jahre einsetzenden Vorstufe des rassenhygienischen Institutionalisierungsprozesses entstand - während in einer nicht zuletzt auf Grund des Kruppschen Preisausschreibens im Jahre 1900 zunehmenden Zahl von Veröffentlichungen zur eugenischen Problematik das rassenhygienische Paradigma konzipiert wurde - ein Netzwerk freundschaftlicher und verwandtschaftlicher Beziehungen zwischen potentiellen Interessenten an den Fragestellungen der Rassenhygiene, von denen die Mehrzahl später in rassenhygienischen Organisationen eine Rolle spielte, ζ. B. Haeckel, Weismann, Forel, Ploetz, Schallmayer, Rüdin, Baur, Fischer, Magnus Hirschfeld, Gustav Bunge, Wilhelm Bölsche, Carl und Gerhart Hauptmann. 3 An einem der Knotenpunkte dieses Beziehungsgeflechts bildete sich als Vorform rassenhygienischer Organisationen ein informeller Debattierzirkel, der Züricher Kreis, der auf Einladung von G. Hauptmann zusammentraf und unter Leitung von Forel und Ploetz auch Vererbungsfragen erörterte. 4 Ein erster Schritt zur formellen Institutionalisierung der Rassenhygiene wurde im Jahre 1904 mit der Gründung des »Archivs für Rassen- und 90

Gesellschaftsbiologie« (AfRGB) vollzogen, das sich von der Thematik und Methodik her von dem 1902 geschaffenen Publikationsorgan der Rassenanthropologen, der »Politisch-Anthropologischen Revue«, abzugrenzen versuchte. Das Organ der Rassenhygieniker wurde von Ploetz - in Verbindung mit dem Soziologen A. Nordenholz und dem Zoologen L. Plate-herausgegeben und - seit 1913 in Zusammenarbeit mit Lenz - redigiert. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte die Zeitschrift lediglich rd. 1200 Abonnenten, konnte aber seit 1924 ihre Auflagenzahlen steigern und blieb, nach einem erneuten Aufschwung seit 1933, bis 1941 bestehen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die rassenhygienische Thematik auch von anderen Periodika, ζ. B. der »Zeitschrift flir induktive Vererbungs- und Abstammungslehre«, dem »Archiv für Frauenkunde und Eugenetik«, der »Zeitschrift flir Sexualwissenschaft und Konstitutionsforschung«, dem »Kommenden Geschlecht«, verschiedenen anthropologischen Fachzeitschriften und vor allem von den neuen Zeitschriften der Rassenhygieniker, der »Zeitschrift fur Volksaufartung und Erbkunde« (seit 1930: »Eugenik, Erblehre, Erbpflege«) und »Volk und Rasse«, aufgegriffen. In der Konstituierungsphase der rassenhygienischen Institutionen entfaltete das AfRGB in Anbetracht seiner geringen Auflagenhöhe kaum Öffentlichkeitswirksamkeit, trug jedoch in beträchtlichem Ausmaß dazu bei, die sich konstituierende Disziplin der Rassenhygiene einem weiteren Interessentenkreis aus der akademischen Intelligenz vorzustellen und die im Entstehen begriffene wissenschaftliche Gemeinschaft der Rassenhygieniker nach außen abzugrenzen und nach innen zu festigen. 5 Aus dem Mitarbeiterstab des AfRGB formte sich die wissenschaftliche Gemeinschaft der Rassenhygieniker heraus. Ploetz war sich bewußt, daß es zur Umsetzung der rassenhygienischen Programmatik in sozialpolitische Reformen notwendig war, dieser Gruppierung ein institutionelles Fundament zu geben. Deshalb gründete er am 22. Juni 1905 gemeinsam mit Rüdin, Nordenholz und R. Thurnwald die Berliner Gesellschaft für Rassenhygiene. Diese Vereinigung stellte die erste eugenische Organisation überhaupt dar; nicht einmal in England mit seiner eugenischen Tradition war bis dahin eine solche Vereinsgründung vorgenommen worden. Bis Ende 1905 waren der Gesellschaft 31 Mitglieder beigetreten. Im Jahre 1906 stieg ihre Zahl auf 40 an, darunter Ziegler, Bölsche, Hauptmann, Bluhm, Bunge. Haeckel, Weismann und Hegar wurden Ehrenmitglieder. Die Mitgliederzahl blieb zwar gering - 1907 gehörten der Gesellschaft rd. 100, 1909 rd. 200, 1914 rd. 350 Mitglieder an - , doch setzte sich die Mitgliederschaft in erster Linie aus Universitätsprofessoren zusammen, deren Sozialprestige und Einflußmöglichkeiten der Rassenhygiene zugute kamen. Wie sich rassenhygienische Publikationen an die akademisch gebildete Intelligenz wandten - Ploetz adressierte sein Werk an Wissenschaftler und »sociale Practiker«, Schallmayer richtete seine Preisschrift an »Rassehygieniker, Bevölkerungspolitiker, Ärzte, Anthropologen, Soziologen, Erzieher, Kriminalisten, höhere Verwaltungsbeamte und politisch interessierte Gebildete aller Stände«6—, so 91

umfaßte der Einzugsbereich der Gesellschaft fur Rassenhygiene Biologen, Mediziner, Juristen, Soziologen, Nationalökonomen, Philosophen, Dichter und Schriftsteller. 7 Vor dem Ersten Weltkrieg entstanden neben der Berliner Gesellschaft für Rassenhygiene Ortsgruppen in München (1907) unter Vorsitz des Hygienikers v. Gruber, Freiburg (1909) unter Leitung von Fischer und Lenz und Stuttgart (1910). Im Jahre 1910 schlossen sich diese Gruppen zur Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene zusammen. 8 Seit 1907 waren die Ortsgruppen auch Bestandteile einer Internationalen Gesellschaft für Rassenhygiene, die Verbindungen nach Schweden, Norwegen, Holland, USA und England, wo im Jahre 1908 unter dem Vorsitz von Galton die Eugenics Education Society gegründet wurde, unterhielt. Diese Internationale Gesellschaft für Rassenhygiene war 1911 auf über 500 Mitglieder angewachsen. 1911 vertrat Ploetz die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene in einer in London tagenden Kommission, die den - erst nach dem Ersten Weltkrieg vollzogenen - Zusammenschluß aller eugenischen Organisationen vorbereiten sollte. 1912 war Ploetz Gastredner auf dem Ersten Internationalen Kongreß für Eugenik in London. Erst 1916, unter dem Druck des Ersten Weltkriegs, kündigte die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene ihre internationalen Kontakte formell auf. 9 Vor dem Ersten Weltkrieg verfolgte die Gesellschaft für Rassenhygiene drei Ziele, wie aus den Satzungen vom 12. März 1910 hervorgeht. 10 Vorrangig wurde der Ausbau der wissenschaftlichen Grundlegung der Rassenhygiene angestrebt. Dieser Zielsetzung eindeutig nachgeordnet waren Bestrebungen zur Popularisierung der Rassenhygiene. Schließlich sahen die Satzungen von 1910 - nachdem bereits in den Satzungen von 1907 Grundsätze für die Lebensführung der Mitglieder verankert worden waren 11 - die Bildung von Kadern innerhalb der rassenhygienischen Organisation vor, die ihr Leben nach eugenischen Prinzipien gestalten sollten, um »einen Grundstock von wissenschaftlichem Material zu schaffen, aus dem später Gesetze und Regeln gefolgert und praktische Maßnahmen und Empfehlungen abgeleitet werden« 12 sollten. An dieser Stelle ergaben sich Anknüpfungspunkte zur lebensreformerischen Bewegung. Zu Recht wurde die Gesellschaft für Rassenhygiene in diesem Stadium mit einem Orden verglichen. 1 3 Es verwundert deshalb nicht, daß bis zum Ersten Weltkrieg von einer wirksamen Außendarstellung der Gesellschaft für Rassenhygiene keine Rede sein konnte. 1906 schrieb Ploetz in einem Brief an G. Hauptmann, man habe noch nicht agitiert, sondern wolle »erst die Grundzüge aufbauen und danach weitere Kreise zu gewinnen suchen«. 14 Und 1912 kam ein außenstehender Betrachter zu dem Schluß, daß die Vereinigung »wohl vorläufig mit Absicht hinter verschlossenen Türen arbeitet«. 15 Erste Ansätze zu einer wirksamen Außentätigkeit bildeten die von Rüdin und v. Gruber initiierte Repräsentation der Rassenhygiene auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung, die im Jahre 1911 in Dresden stattfand, 16 die Ausschreibung von 92

Preisausschreiben zu rassenhygienischen und -anthropologischen Themen in den Jahren 1911-1914 17 sowie öffentliche Vorträge von Ploetz auf dem Ersten Deutschen Soziologentag in Frankfurt im Jahre 1910 und vor der Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege im Jahre 1911. 18 Diese Vorträge trugen dazu bei, daß das rassenhygienische Paradigma noch vor dem Ersten Weltkrieg in der Rassenhygiene benachbarte Wissensgebiete einzudringen vermochte, ζ. B. in die Soziologie, Kriminologie, Genealogie und Medizin. Im Bereich der Medizin warben vor allem die seit 1913 von der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik herausgegebene »Zeitschrift für Sexualwissenschaft« und das 1914 von Max Hirsch gegründete »Archiv für Frauenkunde und Eugenetik« für rassenhygienische Ideen. Noch im Jahre 1913 wurde die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene in die medizinische Hauptgruppe der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte aufgenommen. 1 9 Auch suchten die Rassenhygieniker Anschluß an sozialpolitische Interessengruppen, deren Programmatik sich in die rassenhygienische Konzeption einfügte. Beispielsweise unterstützte eine Reihe von Rassenhygienikern den im Jahre 1905 erlassenen Aufruf des Bundes für Mutterschutz zur Schaffung von Heimstätten. 20 Während des Ersten Weltkriegs versuchten die Rassenhygieniker, sich in die aufkommende Bewegung zur Bevölkerungspolitik einzureihen. In einer Ausschußsitzung der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene im Jahre 1915 herrschte »Einstimmigkeit, daß es sehr zweckmäßig sei, das durch den Krieg geweckte Interesse für Bevölkerungspolitik nach Möglichkeit für rassenhygienische Propaganda auszunutzen«. 21 Daraufhin verabschiedete die Gesellschaft einen von Lenz verfaßten Aufruf, in dem das rassenhygienische Konzept der quantitativen und qualitativen Bevölkerungspolitik dargelegt wurde. Auf der Grundlage dieses Aufrufs trat die Gesellschaft mit über 15 anderen Organisationen mit bevölkerungspolitischer Zielsetzung in Verbindung. 2 2 Im Zuge der Kooperation mit bevölkerungspolitischen Organisationen war in Hinblick auf die Zweck- und Zielsetzungen der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene eine Wendung nach außen vollzogen worden, die im Jahre 1916 in einer Satzungsänderung ihren Niederschlag fand: Die Popularisierung rassenhygienischer Ideen trat in den Vordergrund der Vereinstätigkeit, während die wissenschaftliche Komponente deutlich an Gewicht verlor und das lebensreformerische Element aufgegeben wurde. 2 3 Nachdem das Vereinsleben in den ersten Nachkriegsjahren offenbar zum Erliegen gekommen war, 2 4 wurde auf der Hauptversammlung im Jahre 1922 eine Reorganisation der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene durchgeführt. Dabei stand neben der Wahl eines neuen Vorsitzenden Medizinalrat Krohne löste die beiden bisherigen Amtsträger Ploetz und v. Gruber ab, die Ehrenvorsitzende wurden - die Verabschiedung neuer Leitsätze — die ersten Leitsätze der Gesellschaft für Rassenhygiene stammten aus dem Jahre 1914 - auf der Tagesordnung. 2 5 Ebenfalls im Jahre 1922 kam 93

es unter Leitung des Hygienikers P. Kuhn zur Gründung einer ersten neuen Ortsgruppe in Dresden. Es folgten Ortsgruppen in Kiel und Bremen (1923), Tübingen (1924), Württemberg (1925), Münster und Osnabrück (1926), Solingen, Barmen-Elberfeld, Wuppertal und Niederschlesien (1929), Vechta, Cloppenburg, Köln, Leverkusen und Baden (1930), Erfurt, Görlitz, Oberschlesien, Holstein, Ostfriesland und Westfalen (1931-1933) sowie Linz (1923), Graz und Wien (1924), die sich zum Verband der Österreichischen Gesellschaften für Rassenhygiene zusammenschlossen. 26 1 931 gehörten der Gesamtgesellschaft 1085 Mitglieder an. 2 7 Auch die internationalen Kontakte wurden nach Kriegsende wiederaufgenommen. Auf Einladung L. Darwins entsandte die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene im Jahre 1924 Krohne und Ploetz in die Internationale Kommission für Eugenik. 2 8 Die Reorganisation der Gesellschaft fur Rassenhygiene in den Nachkriegsjahren bildete die Voraussetzung für das Eindringen rassenhygienischer Ideen in verschiedene Gesellschaftsbereiche. Zu nennen sind - die Durchsetzung der Rassenhygiene als Forschungsrichtung und Lehrstoff im Wissenschaftsbereich, - die Aufnahme rassenhygienischer Postulate in die Programmatik gesellschaftlicher Interessengruppen, - die Einrichtung (sozial-)politischer Gremien, in denen Vertreter rassenhygienischer Organisationen beratend auf Entscheidungsträger einwirken konnten. 1. In der Zwischenkriegszeit gelang es der Rassenhygiene, in Wissenschaftsbereiche wie die Genetik, Anthropologie, Psychiatrie, Kriminalbiologie und Blutgruppenforschung einzudringen. Auf dem Gebiet der Vererbungswissenschaft wurde vor allem die im Jahre 1922 u. a. von Baur begründete Deutsche Gesellschaft für Vererbungswissenschaft, der bereits im ersten Jahr ihres Bestehens beinahe der gesamte Vorstand der Gesellschaft für Rassenhygiene beitrat, für die wissenschaftliche Grundlegung der Rassenhygiene bedeutsam. In der Anthropologie wiesen die nach dem Ersten Weltkrieg aufkommenden naturwissenschaftlich ausgerichteten, rassenanthropologisch orientierten Forschungsansätze z. B. E. Fischers, T. Mollisons und E. v. Eickstedts, die in der 1925 unter dem Vorsitz des Rassenhygienikers und -anthropologen O. Aichel gegründeten Deutschen Gesellschaft für Physische Anthropologie ein Diskussionsforum fanden, eine Affinität zur Rassenhygiene auf. Impulse auf die Rassenhygiene gingen auch von der 1917 gegründeten Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie, insbesondere von der Rüdin unterstehenden Abteilung für psychiatrische Erblichkeitsforschung, seit 1924: Institut für Genealogie und Demographie, aus. Im Hause der Psychiatrischen Forschungsanstalt in München war auch die 1923 geschaffene bayrische Kriminalbiologische Sammelstelle untergebracht, in der umfangreiche Datensammlungen von Straffälligen angelegt wurden, um Criminelle Dispositionen nachzuweisen. Sie wurde zum Vorbild für ähnliche Einrichtungen in Württemberg, Preußen und Thüringen. 94

Auf Anregung Baurs wurden seit 1923 Pläne zur Gründung eines KWI fur Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik erwogen. Das Projekt wurde von allen im Reichstag vertretenen Parteien unterstützt. Nachdem der als Rassenhygieniker engagierte Jesuitenpater H. Muckermann bei katholischen Industriellen und Finanziers die fehlenden Geldmittel eingeworben hatte, konnte das KWI am 15. September 1927 seiner Bestimmung übergeben werden. Direktor der Forschungsanstalt und Leiter der Abteilung Anthropologie wurde E. Fischer, die Sektion fur menschliche Erblehre wurde v. Verschuer unterstellt, die Abteilung für Eugenik übernahm Mukkermann. 29 2. Für das sozialpolitische Engagement waren programmatische Konvergenzen zwischen der Gesellschaft für Rassenhygiene und dem Reichsbund der Kinderreichen Deutschlands zum Schutze der Familie, dem 1923 gegründeten Dachverband der Bewegung der Kinderreichen, von besonderem Gewicht. Während die Gesellschaft fur Rassenhygiene die Forderung nach einem Lastenausgleich zugunsten der kinderreichen Familien in ihre Leitsätze von 1922 und 1931 aufnahm und 1931 einen besonderen Aufruf zum Familienlastenausgleich veröffentlichte, öffnete sich der Bund der Kinderreichen verstärkt seit Beginn der 1930er Jahre rassenhygienischen Postulaten bis hin zur rassenhygienisch indizierten Sterilisierung, wodurch die Außentätigkeit der Gesellschaft für Rassenhygiene erheblich an Breitenwirkung gewann. Gleichzeitig intensivierte sich die Kooperation mit den Verbänden für Sexualhygiene, -Wissenschaft und -ethik. 30 Aber auch allgemeine Ärzteverbände wie der Deutsche Ärztevereinsbund, der Deutsche Verband für Psychische Hygiene, die württembergische Ärztekammer usw. griffen das rassenhygienische Programm auf. 31 Auf kirchlicher Seite war es lange Zeit vor allem der Jesuitenpater Muckermann, der sich als Zoologe, Naturwissenschaftler und Mathematiker der Rassenhygiene zuwandte. Er war u. a. Mitherausgeber der eugenischen Zeitschrift »Das kommende Geschlecht«, die 1921 erstmals erschien. Zu einer Institutionalisierung rassenhygienisch orientierter Gremien kam es in der katholischen Kirche nicht. In der evangelischen Kirche richtete der Central-Ausschuß (CA) für die Innere Mission (IM) auf Initiative von H. Harmsen, 32 des Geschäftsführers des Gesamtverbandes der deutschen evangelischen Kranken- und Pflegeanstalten und Schriftleiters der Zeitschrift »Gesundheitsfürsorge«, im Jahre 1931 eine Fachkonferenz für Eugenik ein. 33 3. In die politische Sphäre drang das rassenhygienische Paradigma ein, als Rassenhygieniker beratend in sozialpolitischen Gremien tätig wurden. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg wurde vom Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt ein Beirat für Rassenhygiene gebildet, für den im Jahre 1920 beispielsweise die Rassenhygieniker Baur und Westenhöfer Gutachten erstellten. Zur gleichen Zeit entstand beim Preußischen Landesgesundheitsrat ein Ausschuß für Rassenhygiene und Bevölkerungswesen, der sich 1922 für eine Verstärkung von Forschung und Lehre auf dem Gebiet der menschli95

chen Vererbungslehre einsetzte. Auflnitiative des Reichsbundes der Kinderreichen wurde 1929/30 ein Reichsausschuß für Bevölkerungsfragen gegründet, der von der Gesundheitsabteilung des Reichsministeriums des Innern (RMdl) unterstützt wurde. Ihm gehörten u. a. Grotjahn, Kaup und Burgdörfer an. Im Jahre 1929 beschloß auch der Vorstand der Berliner Gesellschaft für Rassenhygiene, einen Ausschuß zur wissenschaftlichen Politikberatung zu bilden, der praxisrelevante Themen der Rassenhygiene erörtern und die Ergebnisse »sofort Parlament und Regierungsstellen als Material und Anregung übergeben« 34 sollte. Gedacht war an Fragen der Bevölkerungsstatistik, Steuerreform, Ehescheidung und rassenhygienischen Sterilisierung. Eine Zäsur im Institutionalisierungsprozeß der Rassenhygiene bildete die Konstituierung einer Konkurrenzorganisation zur Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, des Deutschen Bundes für Volksaufartung und Erbkunde. Seine Gründung hatte zwei Ursachen: 1. Mit der zunehmenden Außentätigkeit der Gesellschaft für Rassenhygiene kam es zu einer Überlastung des Führungskaders an der Spitze der hierarchisch strukturierten Organisationspyramide. Als deshalb im Jahre 1924 der rd. 7000 Mitglieder umfassende Reichs verband der deutschen Standesbeamten eine Arbeitsgemeinschaft mit der Gesellschaft für Rassenhygiene eingehen wollte, konnte diesem Wunsch nicht entsprochen werden. Daraufhin bildete sich 1925 der Deutsche Bund für Volksaufartung und Erbkunde. Er stützte sich auf die Subventionierung des RMdl, des preußischen und Reichswohlfahrtsministeriums, des Berliner Magistrats und der Standesbeamtenvereinigung, deren Bundesdirektor Krutina Schriftführer der neuen rassenhygienischen Organisation wurde. Den Vorsitz übernahm der Jurist C. v. Behr-Pinnow, Zweiter Vorsitzender wurde der Ministerialrat im preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt A. Ostermann. Nach einem Jahr hatte die neue Vereinigung bereits 1500 Mitglieder, war also größer als die Gesellschaft für Rassenhygiene. Der Bund für Volksaufartung verstand sich insofern als Ergänzung zur Gesellschaft für Rassenhygiene, als er die Gesellschaft als eine Institution, »die mehr wissenschaftlich und theoretisch Pionierarbeit auf unserem Gebiete leistet«, verstand, während der Bund die Eugenik »in ganz populärer, für jedermann verständlicher Form pflegen und verbreiten« 35 sollte. Dazu diente in erster Linie die »Zeitschrift für Volksaufartung und Erbkunde«, seit 1930 »Eugenik, Erblehre, Erbpflege«, die eine Auflage von 5000 Exemplaren erreichte. Der Bund für Volksaufartung und die Gesellschaft für Rassenhygiene konnten seit Mitte der 1920er Jahre die rassenhygienische Propaganda intensivieren. Wegweisend war die Repräsentation der Rassenhygiene auf der Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen (GESOLEI) im Jahre 1926 durch Bluhm, Lenz, Rüdin und v. Verschuer und auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung im Jahre 1930 durch Fetscher, Ostermann und M u k kermann. Gleichzeitig wurde die Vortragstätigkeit verstärkt. Fischer, 96

v. Verschuer und Muckermann hielten in den Jahren 1929/30 über 200 Vorträge. 36 2. Von Seiten der Gesellschaft für Rassenhygiene stand man dem Bund fur Volksaufartung skeptisch gegenüber. 37 Dahinter verbargen sich unterschiedliche Auffassungen zur Rassenfrage, wie sie bereits bei der Konzipierung des rassenhygienischen Paradigmas durch Ploetz und Schallmayer zum Ausdruck gekommen waren. 38 Die >Münchner RichtungBerliner RichtungMünchner Richtung< stellte der Terminus Eugenik »eine Art Linksabweichung« 41 von der Rassenhygiene dar. Im Jahre 1929 setzte sich bei den Wahlen zum Vorstand der Gesellschaft für Rassenhygiene der gemäßigte Flügel durch. E. Fischer, als Direktor des KWI um Ausgleich bemüht, wurde Erster, Ostermann Zweiter Vorsitzender, Muckermann und v. Verschuer Schriftführer. Angesichts dieses Wahlausgangs bahnte sich die Verschmelzung der Gesellschaft für Rassenhygiene mit dem Bund für Volksaufartung an. 42 1930 meinte Fischer: »Im Interesse der Einheit der Bewegung sind diese Sonderbildungen nicht, am besten wäre ihre Verschmelzung mit der alten Gesellschaft.«43 Auf der Hauptversammlung der Gesellschaft für Rassenhygiene imjahre 1931 kam es dann zur Vereinigung mit dem Bund für Volksaufartung. Der Name des Vereins wurde in Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene (Eugenik) abgewandelt, ihre Satzungen wurden geändert, wobei die rassistische Komponente eliminiert wurde, neue Leitsätze wurden verabschiedet. 44 Mit der >Machtübernahme< wurde der Primat der rassenhygienischen gegenüber der eugenischen Fraktion restauriert. Der Vorstand - Fischer, Ostermann, Muckermann - trat zurück. Rüdin stellte als neuernannter Reichskommissar den alten Namen Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene wieder her und gab ihr imjahre 1934 eine von den Nationalsozialisten aufoktroyierte Satzung, die sie zur »Unterstützung der Regierung in der Verwirklichung rassenhygienischer Bestrebungen« verpflichtete und in den Reichsausschuß für Volksgesundheit beim RMdl eingliederte. 45 Etwa die Hälfte der 20 Ortsgruppenleiter wurde ausgetauscht. Die Mitarbeiter des 97

Rassenpolitischen Amtes der NSDAP waren angewiesen, die Führung der Ortsgruppen zu übernehmen, um die rassenhygienische Propaganda über die Partei hinaus zu intensivieren. Im Juli 1933 wurde Muckermann als Leiter der Abteilung Eugenik am KWI beurlaubt und durch Lenz ersetzt. Bei dieser Gelegenheit bat Ministerialrat Gütt vom RMdl, das Institut möge sich in den Dienst des >Dritten Reiches< stellen und bei der Durchführung des Sterilisierungs- und Reichsangehörigengesetzes mitwirken. Im >Dritten Reich< setzte sich der Aufschwung der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene unvermindert fort. Bis 1938 hatten sich 58 Ortsgruppen mit 3800 Mitgliedern gebildet. Diese Zahl stieg 1939 durch die Angliederung der österreichischen Verbände auf 63 Ortsgruppen mit 4500 Mitgliedern an. Die von der Gesellschaft fur Rassenhygiene seit Juli 1933 herausgegebene Zeitschrift »Volk und Rasse« hatte 1939 eine Auflage von 13300 erreicht. Auch die internationalen Kontakte wurden aufrechterhalten. Als Vorsitzender der Internationalen Föderation eugenischer Organisationen vertrat Rüdin die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene auf den internationalen Tagungen in Zürich imjahre 1934 und Scheveningen im Jahre 1936. Für 1940 war der Vierte Internationale Kongreß für Eugenik in Wien geplant. Prominenten Rassenhygienikem wurden im >Dritten Reich« hohe Auszeichnungen zuteil. Ploetz wurde 1935 der Professorentitel zugesprochen, Rüdin 1938 mit der Goethemedaille für Kunst und Wissenschaft ausgezeichnet. Von besonderer Bedeutung war die Konstituierung rassenhygienischer Institute nach der > Machtergreifung«. 1933 wurde das Greifs walder Institut für Vererbungswissenschaft in ein Institut für menschliche Erblehre und Eugenik umgewandelt und dem Vererbungswissenschaftler G.Just unterstellt. Auch die Universitäten Berlin, Leipzig und Halle beschlossen die Einrichtung rassenhygienischer Institute; im Hygienischen Institut der Universität Münster wurde die Abteilung für Soziale Hygiene zu einer Abteilung für Sozial- und Rassenhygiene erweitert. 1935 übernahm v. Verschuer die Leitung des Frankfurter Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene. 1936 wurde das Institut für Erb- und Rassenpflege in Gießen unter Leitung von H. W. Kranz eröffnet. Eine Verbindung zwischen Rüdins Institut für Genealogie und Demographie an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie mit dem Ahnenerbe kam hingegen nicht zustande. 46 Rassenhygieniker waren im >Dritten Reich« - vermittelt über den Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik, den Reichsausschuß für Volksgesundheit usw. - an allen Entscheidungen zur Erb- und Rassenpflege maßgeblich beteiligt. Insofern, als diese Gremien zur Keimzelle der Zentraldienststelle der >Euthanasieaktion< wurden, reichte der Einfluß der Rassenhygiene bis in das Euthanasieprogramm hinein. 47

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b) Die Debatte um die Legalisierung der rassenhygienischen Sterilisierung Die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene engagierte sich seit dem Ersten Weltkrieg in der Diskussion u m den gesetzlich vorgeschriebenen Austausch von Gesundheitszeugnissen vor der Eheschließung, bei der Etablierung von Eheberatungsstellen und in der Debatte u m die Legalisierung der rassenhygienisch indizierten Sterilisierung. 48 Diese Sterilisierungsdebatte verdeutlicht beispielhaft, wie die Agitation rassenhygienischer Institutionen dadurch, daß sie das rassenhygienische Paradigma allmählich als verbindlichen Bezugsrahmen der medizinischen, juristischen und theologischen Diskussion durchsetzte, auch Einfluß auf der Ebene der Gesetzgebung gewann. Die erste rassenhygienisch indizierte Sterilisierung einer geisteskranken Frau mittels Salpingektomie wurde im Jahre 1892 von Forel in seiner psychiatrischen Klinik Burghölzli durchgeführt. Nachdem bereits im Jahre 1898 in einer Anstalt für >Schwachsinnige< in Kansas 48 Männer kastriert worden waren, nahm der amerikanische Arzt Sharp in den Jahren 1899 bis 1907 in einer Strafanstalt in Indiana rassenhygienische Sterilisierungen an 176 M ä n nern - erstmals mittels Vasektomie - vor. Seine Erfahrungen führten zur gesetzlichen Regelung eugenisch motivierter Sterilisierungen in Indiana im Jahre 1907. Auch in der Schweiz wurden in Anschluß an Forel wiederholt rassenhygienische Sterilisierungen ausgeführt, deren Berechtigung bei einer im Jahre 1911 in Zürich abgehaltenen Tagung der Juristisch-Psychiatrischen Vereinigung ausdrücklich anerkannt wurde. 4 9 Z u Beginn des 20. Jahrhunderts eröffneten die Rassenhygieniker die D e batte u m die Legalisierung der rassenhygienisch indizierten Sterilisierung in Deutschland. Die erste Unfruchtbarmachung einer erbkranken Frau in Deutschland wurde im Jahre 1897 von dem Heidelberger Gynäkologen E. Kehrer berichtet, der sich damit der schweren Körperverletzung im Sinne der §§224-225 RStGB schuldig machte. 5 0 Rüdin forderte 1903 die U n fruchtbarmachung unheilbarer Trinker. 5 1 Géza ν. Hoffmann, der als österreichisch-ungarischer Vizekonsul in den Vereinigten Staaten die national eugenics kennengelernt hatte, regte in seinem Buch »Die Rassenhygiene in den Vereinigten Staaten von Nordamerika« (1913) 52 ein Gesetz zur U n fruchtbarmachung Geisteskranker nach amerikanischem Vorbild an. Daß die Sterilisierungsgesetzgebung bis 1914 lediglich in zwei amerikanischen Bundesstaaten - Kalifornien und N o r d - D a k o t a - zur Anwendung gelangt, in anderen Staaten per Gerichtsentscheid außer Vollzug gesetzt worden war, kam in dieser Arbeit nicht klar zum Ausdruck. Nachdem Kaup im Jahre 1914 vor der Münchner Gesellschaft für Rassenhygiene einen Vortrag zum Thema »Was kosten die minderwertigen Elemente dem Staat und der Gesellschaft?«, der sich mit einem gleichlautenden Preisausschreiben auseinandersetzte, gehalten hatte, fand im neueröffneten Sozialhygienischen Seminar in München eine Diskussion zu dieser Thematik statt. Die Diskussionsgrundlage bildeten Leitsätze, von denen einer lautete: »Es ist zu erwägen, ob 99

die in Amerika zum Teil geübte Methode der Vernichtung der Fortpflanzungsfáhigkeit auch für unsere Verhältnisse wenigstens teilweise Anwendung finden könnte. « S 3 Auch in den Leitsätzen der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene aus dem Jahre 1914 wurde eine »gesetzliche Regelung des Vorgehens in solchen Fällen, wo Unterbrechung der Schwangerschaft oder Unfruchtbarmachung ärztlich geboten erscheint«, 54 gefordert. In den Referenzwissenschaften der Rassenhygiene wurde das Sterilisierungspostulat zunächst zurückhaltend aufgenommen. Beispielsweise faßte auf dem Siebten Kongreß für Kriminalanthropologie im Jahre 1911 der Vorsitzende G. Aschaffenburger die Bedenken der Teilnehmer mit den Worten zusammen: »Das Wesen der Entartung und die Gesetze der Vererbung sind uns noch nicht mit solcher Genauigkeit bekannt, daß wir die Indikation zur Sterilisierung a u s . . . eugenetischen Gründen zweifelsfrei angeben können. Und ohne eine solche zuverlässige Indikationsstellung ist eine gesetzliche Regelung unmöglich.« 5 5 Doch schon 1913 setzte sich der Medizinalrat P. Naecke, der bereits im Jahre 1900 empfohlen hatte, »gewisse Klassen von Degenerierten« 56 zu kastrieren, über diese berechtigten Bedenken hinweg und stellte befriedigt fest, daß sich in der Kriminalwissenschaft die Arbeiten zur rassenhygienisch indizierten Sterilisierung mehrten. Ihre Legalisierung, meinte er, sei nur eine Frage der Zeit. 5 7 Diese Prognose erwies sich indessen als zu optimistisch. Ein Gesetzentwurf, den Reichskanzler v. Bethmann Hollweg dem Reichstag im Jahre 1914 vorlegte, der wegen des Kriegsausbruchs nicht mehr zur Beratung gelangte, gab zwar Unfruchtbarmachung und Schwangerschaftsunterbrechung aus medizinischer, nicht aber sozialer oder rassenhygienischer Indikation frei. Im Juli 1918 wurde dieser Gesetzentwurf dem Reichstag abermals vorgelegt, der ihn an den Ausschuß für Bevölkerungspolitik weiterleitete, ohne daß es zu einer Verabschiedung kam. 5 8 Nach dem Ersten Weltkrieg nahmen die Rassenhygieniker die Thematik der rassenhygienischen Sterilisierungen wieder auf. In den Jahren 1920/21 schlugen der Physiologe E. Abderhalden, der Psychiater K. Hildebrandt und der Hygieniker Kuhn die Unfruchtbarmachung von Geisteskranken und Verbrechern vor. 5 9 Die Rassenhygieniker meinten zu diesem Zeitpunkt, die Freigabe der freiwilligen Unfruchtbarmachung in absehbarer Zeit, der Zwangssterilisierung dagegen auf lange Sicht durchsetzen zu können. In den Leitsätzen der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene aus dem Jahre 1922 hieß es: »Für zwangsmäßige Unfruchtbarmachung geistig Minderwertiger und sonst Entarteter scheint bei uns die Zeit noch nicht gekommen zu sein. Die Unfruchtbarmachung krankhaft Veranlagter auf ihren eigenen Wunsch oder mit ihrer Zustimmung sollte alsbald gesetzlich geregelt werden. « 6 0 Einen Wendepunkt in der Debatte um die Legalisierung der rassenhygienisch indizierten Sterilisierung stellte die Agitation des Zwickauer Medizinalrates Gustav Boeters in denjahren 1923 bis 1932 dar. 1923 reichte Boeters 100

beim sächsischen Gesundheitsministerium einen Gesetzentwurf ein, der die Unfruchtbarmachung bei angeborener Blindheit und Taubstummheit, >BlödsinnLex Zwickau< in der Öffentlichkeit lebhaft diskutiert wurde. Ein ähnlicher Antrag wurde zur selben Zeit im hessischen Landtag eingebracht. Einen dritten Vorschlag zur Unfruchtbarmachung aus erbpflegerischen Gründen unterbreitete Boeters im Jahre 1928. Darin weitete er den Kreis der Betroffenen auf >Alkoholabhängige, Drogensüchtige, Landstreicher und Zigeunen aus. Allein in den Jahren 1921 bis 1925 ließ Boeters im staatlichen Krankenhaus in Zwickau 63 Sterilisierungen vornehmen, ohne daß die Staatsanwaltschaft einschritt. U m den Gesetzgeber unter Druck zu setzen, ging Boeters so weit, den zuständigen Staatsanwalt im Jahre 1932 anzuzeigen, weil er nicht gegen die Sterilisierungspraxis vorging. 6 1 Im Anschluß an die Agitationskampagne Boeters' waren staatliche Stellen wiederholt mit der Sterilisierungsproblematik befaßt. Im Reichshaushaltsausschuß, im Reichsgesundheitsamt, im preußischen Landtag, im Preußischen Landesgesundheitsrat, im Strafrechtsausschuß des Reichstages-überall wurde das Sterilisierungspostulat zunächst zurückgewiesen. Dennoch gab es Ansätze zur Aufweichung der §§224—25 RStGB. Hatte bereits im Jahre 1924 eine von der Hamburger Forensisch-Psychiatrischen Gesellschaft eingesetzte Kommission aus Juristen und Medizinern die Kastration, angewandt zur Beseitigung abartiger Triebe bei Sexualverbrechern, als »Heilbehandlung< bezeichnet, sah der amtliche Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1925 vor, Sterilisierungen aus sozialer und eugenischer Indikation zuzulassen, sofern sie nicht gegen die guten Sitten verstießen. 62 Im preußischen Landtag wurden seit 1925 verschiedene Vorstöße zur Legalisierung der rassenhygienischen Sterilisierung abgewiesen, u. a. der Antrag, »bei der Reichsregierung darauf hinzuwirken, daß bei der Reform des Strafgesetzbuches die Zulässigkeit freiwilliger Sterilisierung zu eugenischen Zwecken ausdrücklich sichergestellt wird «. 63 1927 unterbreitete Grotjahn, der als einer der ersten für die zwangsweise Unfruchtbarmachung eintrat, dem Preußischen Landesgesundheitsrat den Vorschlag, in den Entwurf des Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches die rassenhygienische Sterilisierung bei Einwilligung des Betroffenen oder - bei Mindeijähri101

gen oder Unmündigen - seines gesetzlichen Vertreters und unter Zustimmung des zuständigen Medizinalbeamten von der Körperverletzung auszunehmen. 6 4 Die von Boeters initiierte Debatte um die Legalisierung der rassenhygienisch indizierten Sterilisierung wurde von seiten der Rassenhygieniker verständlicherweise günstig aufgenommen. Ostermann, der die >Lex Zwickau< in Details ablehnte, war überzeugt: »Die zwangsweise Sterilisierung wird auch in Deutschland kommen, weil sie kommen muß.« 6 5 Im Herbst 1929 stellte die Berliner Gesellschaft für Rassenhygiene einen Antrag, der die Freigabe der erbpflegerisch angezeigten Unfruchtbarmachung beinhaltete. Auch in den Leitsätzen der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene (Eugenik) von 1931 wurde das rassenhygienische Sterilisierungspostulat wiederholt. 6 6 In den Reihen der Ärzteschaft fand das Sterilisierungspostulat allmählich Zustimmung. Während die Psychiater K. Bonhoeffer, O. B u m ke und K. Jaspers noch Bedenken anmeldeten, mehrten sich die Stimmen, die die rassenhygienisch indizierte Sterilisierung befürworteten. Prominente Apologeten des Sterilisierungspostulats waren der Tübinger Psychiater R. Gaupp, der Direktor der Thüringischen Landesirrenanstalten in Stadtroda, W.Jacobi, und der Psychiater an der Staatskrankenanstalt Langenhorn, O. Kankeleit. 67 Auch von seiten der Kirchen wurde das Sterilisierungspostulat aufgegriffen. Bereits 1924/25 plädierte ein Zwickauer Pfarrer in der evangelischen Zeitschrift »Bausteine« mit der Begründung für die rassenhygienische Sterilisierung, der Arzt, der >erblich belastete< Nachkommenschaft verhindere, korrigiere nicht »die Schöpfung, sondern die Afterschöpfung«. 6 8 Ewald Meitzer, Direktor der Anstalt Katharinenhof in Großhennersdorf, der den Aufsatz positiv kommentierte, ließ bereits in der Weimarer Republik illegal rassenhygienische Sterilisierungen ausführen. 6 9 Im Mai 1931 verlangte Harmsen in seinem grundlegenden Aufsatz »Eugenetische Neuorientierung unserer Wohlfahrtspflege« 70 die >Ausmerzung erblich Belasteten durch Asylierung und Sterilisierung. Auf der ersten Sitzung der Evangelischen Fachkonferenz für Eugenik in Treysa vom 18. bis 20. Mai 1931 wurde die Freigabe der erbpflegerisch angezeigten Unfruchtbarmachung, die als in gewissen Fällen »religiös-sittlich gerechtfertigt« 71 bezeichnet wurde, verlangt. Die zwangsweise Unfruchtbarmachung wurde freilich abgelehnt. Auf katholischer Seite sprach sich neben Muckermann auch der Theologe J. Mayer im Jahre 1927 für die Legalisierung der rassenhygienisch indizierten Sterilisierung aus. 72 Im Jahre 1931 befragte der Hygieniker R. Fetscher die Verwaltungen von 95 Städten mit über 100000 Einwohnern zu ihrer Auffassung in der Frage der Sterilisierung. In den 17 Städten, die sich der rassenhygienischen Sterilisierung gegenüber aufgeschlossen zeigten, waren bis dahin schon 112 Personen sterilisiert worden. Allein in Freiburg sollen rd. 1500 Frauen - allerdings überwiegend aus sozialer Indikation - sterilisiert worden sein. Defacto war die rassenhygienische Sterilisierung gegen Ende der 1920er 102

Jahre bereits stellenweise eingeführt, de iure sollte sie zu Beginn der 1930er Jahre legalisiert werden. Während der preußische Staatsrat unter Vorsitz von Adenauer im Januar 1932 »in der Erkenntnis, daß der Geburtenrückgang in der erbgesunden... Bevölkerung sich besonders stark auswirkt und daß die Aufwendungen für Menschen mit erbbedingten, körperlichen oder geistigen Schäden schon jetzt eine für unsere Wirtschaft untragbare Höhe erreicht haben«, 73 das Staatsministerium um verstärkte Aufklärung in Fragen der Erbpflege und zur Kostensenkung bei den Ausgaben für >Minderwertige< ersuchte, verabschiedete der Strafrechtsausschuß des Reichtstages den 1925 entworfenen Absatz zur Sterilisierungsproblematik. Am 2. Juli 1932 tagte der Ausschuß für Bevölkerungswesen und Eugenik des Preußischen Landesgesundheitsrates zu dem Thema »Die Eugenik im Dienste der Volkswohlfahrt« . 7 4 Über den Kreis der Mitglieder des Landesgesundheitsrates, zu denen von selten der Rassenhygieniker Fischer, Ostermann und Muckermann gehörten, waren 36 Sachverständige geladen, u. a. Baur, Bluhm, Burgdörfer, Harmsen, v. Verschuer und Vollmann. Fischer bedankte sich für die Einladung, »mit der uns die Möglichkeit gegeben war, meines Wissens zum erstenmal einen wirklich großen wissenschaftlichen Vorstoß nach dieser Richtung zu unternehmen«. 75 Zur Beratung von Leitsätzen, die von Muckermann in Anlehnung an die Leitsätze der Gesellschaft für Rassenhygiene formuliert worden waren und in denen eine Beschränkung auf medizinisch und eugenisch indizierte Sterilisierungen auf freiwilliger Basis vorgenommen wurde, setzte das Plenum eine Kommission ein, der Fischer, Ostermann und Muckermann angehörten. Sie übermittelte den Entwurf eines Sterilisierungsgesetzes an das Ministerium für Volkswohlfahrt. § 1 lautete: »Eine Person, die an erblicher Geisteskrankheit, erblicher Geistesschwäche, erblicher Epilepsie oder an einer sonstigen Erbkrankheit leidet oder Träger krankhafter Erbanlagen ist, kann operativ sterilisiert werden, wenn sie einwilligt und nach den Lehren der ärztlichen Wissenschaft bei ihrer Nachkommenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit schwere körperliche oder geistige Erbschäden vorauszusehen sind.« 7 6

Obwohl der Gesetzentwurf das Antragsrecht einem größeren Personenkreis zugestand als das später verwirklichte GzVeN - Anträge sollten die Betroffenen, ihre gesetzlichen Vertreter, behandelnde oder beamtete Ärzte, bei Insassen von Kranken-, Gefangenen- und Heil- und Pflegeanstalten der Anstaltsleiter, der Leiter des zuständigen Fürsorgeverbandes stellen können 77 - , behielt er den Grundsatz der Freiwilligkeit bei; die Sterilisierung war aufjeden Fall von der Einwilligung des Sterilisanden, auch wenn für ihn ein gesetzlicher Vertreter bestellt worden war, abhängig. 78 Von seifen der Ärzteverbände wurde dieser Gesetzentwurf unterstützt. Gleichzeitig mit dem Ausschuß fur Bevölkerungswesen und Eugenik des Preußischen Landesgesundheitsrates tagte der Geschäftsausschuß des Deut103

sehen Ärztevereinsbundes zum Thema Eugenik, dabei berichteten Sanitätsrat Vollmann und Medizinalrat Ostermann über die Beratungen zu dem Gesetzentwurf. Der Geschäftsausschuß des Ärztevereinsbundes befürwortete den Gesetzes Vorschlag im September 1932 ausdrücklich. Im November und Dezember 1932 schlossen sich die württembergische und preußische Ärztekammer dieser Stellungnahme an. 7 9 Auch die Kirchen zeigten sich dem Gesetzentwurf gegenüber aufgeschlossen. Der nach der ersten Sitzung der Fachkonferenz für Eugenik vom CA für die IM und vom Gesamtverband der deutschen evangelischen Kranken- und Pflegeanstalten gebildete Ständige Ausschuß für eugenetische Fragen befaßte sich bei seinem ersten Zusammentreffen am 24. N o vember 1932 eingehend mit dem Gesetzentwurf. Harmsen hob hervor, daß er weitgehend mit den Forderungen der Fachkonferenz für Eugenik übereinstimmte. Der Ausschuß befürwortete den Gesetzesvorschlag, schlug aber eine Einengung des zu sterilisierenden Personenkreises auf Erbkranke vor, deren Nachkommen mit großer Wahrscheinlichkeit an schweren Erbschäden leiden und zur >Asozialität< neigen würden. Der Grundsatz der Freiwilligkeit wurde nochmals betont. Die Sterilisierung als Instrument negativer Eugenik sollte in ein Programm positiver Eugenik eingebettet werden. 80 In der katholischen Kirche wurde der Gesetzentwurf weitgehend abgelehnt. Eine Ausnahme bildete Muckermann, der an der Erarbeitung des Gesetzentwurfs maßgeblich beteiligt war, obwohl die rassenhygienisch indizierte Sterilisierung im Widerspruch zu der in der Enzyklika Casti conubii niedergelegten Lehrmeinung der katholischen Kirche stand. Offenbar wollte Muckermann vermeiden, daß die katholische Kirche durch die unvermeidliche Legalisierung der rassenhygienisch indizierten Sterilisierung ins Abseits der eugenischen Bewegung gedrängt wurde. Einen ähnlichen Standpunkt nahm auch der Verein akademisch gebildeter Katholiken ein, der im Jahre 1933 zu verstehen gab, daß er die Zwangssterilisierung aus moraltheologischen Gründen ablehnte, gleichzeitig aber versicherte, daß »bei Erlaß . . . eines Sterilisierungsgesetzes . . . die deutschen Katholiken . . . der Durchführung eines solchen Gesetzes keinen Widerstand entgegenbringen« 81 würden. Zu Beginn des Jahres 1933 stand fest, daß die rassenhygienisch indizierte Sterilisierung legalisiert werden würde. Umstritten war lediglich, ob U n fruchtbarmachungen auch unter Zwang durchgeführt werden sollten. 82 Daß das Gesetzgebungsverfahren so weit fortgeschritten war, daß es kurz nach der >Machtübernahme< durch das nationalsozialistische Regime zum Abschluß gebracht werden konnte, war zweifellos der Agitation der Rassenhygieniker zuzuschreiben. Teilweise durch direkte Intervention bei den politischen Entscheidungsträgern, teilweise durch Infiltration der Interessenverbände im Bereich des Gesundheitswesens und der Wohlfahrtspflege war es gelungen, den Gesetzgeber zum Handeln zu bewegen. Die Verwirklichung des GzVeN zu Beginn des >Dritten Reiches< bedeutete angesichts der 104

dem Programm der negativen Eugenik immanenten Radikalisierungstendenzen einen ersten Schritt in Richtung auf die >Vernichtung lebensunwerten LebensVernichtung lebensunwerten Lebens< (1895-1933)

Bereits im Jahre 1918 warnte Hertwig in seiner brillanten Kritik des Sozialdarwinismus: »Man glaube doch nicht, daß die menschliche Gesellschaft ein halbes Jahrhundert lang Redewendungen wie unerbittlicher Kampf ums Dasein, Auslese der Passenden, des Nützlichen, des Zweckmäßigen, Vervollkommnung durch Zuchtwahl usw. in ihrer Übertragung auf die verschiedensten Gebiete wie tägliches Brot gebrauchen kann, ohne in der ganzen Richtung der Ideenbildung tiefer und nachhaltiger beeinflußt zu werden. « 1 Dieses Urteil traf auch auf die von Juristen, Medizinern und Theologen geführte Diskussion u m Tötung auf Verlangen, Sterbehilfe und >Vernichtung lebensunwerten Lebens< zu, die zeitgleich mit der Konzeptualisierung der Rassenhygiene in den 1890er Jahren einsetzte. Diese Debatte, in deren Verlauf sich die utilitaristische Variante der Euthanasieidee, die stets eng mit dem Mitleidsmotiv verknüpft wurde, herausformte, bediente sich auf den ersten Blick betrachtet - nicht der Argumentationsfiguren, die durch das rassenhygienische Paradigma zur Legitimierung der eugenischen Variante der Euthanasieidee bereitgestellt worden waren. Dennoch wäre sie ohne bestimmte Denkmuster, die durch den selektionistischen Sozialdarwinismus eingeschliffen worden waren, nicht vorstellbar gewesen. Man kann sie, ohne daß sie die darwinistische Terminologie gebrauchte, den »biologistischen Modephilosophien« (H. Rickert) zurechnen. 2 Auf den Einfluß eines nach sozialdarwinistischer Logik verkürzten und verzerrten Menschenbildes war es zurückzufuhren, daß in sämtlichen Beiträgen, in denen Tötung auf Verlangen, Sterbehilfe oder >Vernichtung lebensunwerten Lebens< befürwortet wurden, der Wert des je einzelnen Menschenlebens abgeschätzt wurde. Durch die Aufgabe der Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen unter dem Eindruck der Darwinschen Deszendenztheorie wurde das Menschenleben zu einem Rechtsgut, das - entgegen dem Gedanken eines Naturrechts auf Leben - gegen andere Rechtsgüter abgewogen werden konnte. Dabei wurde der Wert eines Lebens zum einen für das Individuum bestimmt. Der >Lebenswert< richtete sich an Gesichtspunkten wie der Leistungs-, Arbeits- und Genußfahigkeit aus. Unheilbares Leiden, dem von der monistischen Philosophie jeder Sinn abgesprochen wurde, machte ein Menschenleben >lebensunwertEntartungsgefahrVernichtung lebensunwerten Lebens< insofern eine Tendenz zur Expansion der Vernichtung ab, als immer weitere Kreise von gesellschaftlichen Außenseitern in die Vernichtung einbezogen werden sollten, wobei der Grundsatz der Freiwilligkeit von Anfang an durchbrochen wurde. Diese expansive Tendenz wurde durch zwei realhistorische Faktoren entscheidend gefördert: 1. Die ungeheuren Verluste an Menschenleben im Ersten Weltkrieg gaben offensichtlich dem Gedanken Nahrung, daß es ein Widersinn war, wenn an der Front eine große Zahl von Soldaten fiel, während in den Heil- und Pflegeanstalten eine große Zahl von >Lebensunwertencontraselektorische< Effekte. In nahezu allen Veröffentlichungen zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens< nach dem Ersten Weltkrieg tauchte dieser Gedankengang auf. Manche der Autoren waren erst unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs zu Befürwortern der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< geworden. 3 Das Klischee von den im Weltkrieg auf Kosten der gesunden Bevölkerung (zwangs)emährten Geistesschwachen und -kranken war indessen unzutreffend. Auf Grund der schlechten Ernährungslage schnellten im Ersten Weltkrieg die Sterberaten in den Heil- und Pflegeanstalten in die Höhe. Durch die rigorose Rationierung von Lebensmitteln, die allerdings mit dem im Zweiten Weltkrieg eingeführten gezielten Nahrungsmittelentzug nicht vergleichbar war, kam - im Zuge einer »sozialen Euthanasie«4 — schon damals bis zu einem Drittel der Anstaltsinsassen ums Leben - allein in Preußen etwa 45 000. s 2. Hinzu kam die wirtschaftliche Notlage der Kriegs- und Nachkriegszeit. Obwohl die Kosten der Anstaltspflege in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung kaum ins Gewicht fielen - insofern erweist sich die ökonomistische Phraseologie als vorgeschoben, um den Vernichtungswillen gegen Andersartige notdürftig zu verschleiern - , konnten die Apologeten der >Euthanasie< mit ihren Rechenbeispielen angesichts der konjunkturellen Krise emotionale Ressentiments mobilisieren. Die angebliche wirtschaftliche 107

Überlastung der Volkswirtschaft implizierte ähnliche Bedrohungsvorstellungen wie die vermeintliche >Entartung< des >VolkskörpersVernichtung lebensunwerten Lebens< aus den Jahren 1895-1933 auf die beschriebenen Denkmuster hin untersucht werden.

1. Das Schrifttum zur Sterbehilfe vor dem Ersten Weltkrieg Die Forderung nach Freigabe der Tötung auf Verlangen bei unheilbarer Krankheit wurde erstmals im Jahre 1895 in der Streitschrift »Das Recht auf den Tod« von Adolf Jost erhoben. 1 Wenn die Wertlosigkeit eines Lebens offenbar sei, meinte Jost, bestehe ein Recht auf den Tod. Der Wert eines Lebens bestimme sich einerseits aus der Differenz von Freude und Schmerz im Erleben eines Menschen, andrerseits aus der Differenz von Nutzen und Schaden, die ein Leben für die Allgemeinheit bedeute. Unter den Schäden, die der Gesellschaft durch die unheilbar Kranken entstanden, verstand Jost nicht nur die Kosten der Anstaltsunterbringung. »Unsere Kranken- und Irrenhäuser mit ihren vielfach zwecklos Leidenden haben ohne Zweifel einen ganz beträchtlichen Beitrag zur trüben düsteren Stimmung der Zeit geliefert. «2 Es ist offensichtlich, daß Jost die unheilbar Kranken zu Sündenböcken abstempelte, auf die ein allgemeines Unbehagen an der gesellschaftlichen Entwicklung abgelenkt wurde. Der Wert eines Menschenlebens konnte nach Jost nicht nur »gleich Null, sondern auch negativ werden«. 3 In diesem Fall habe der Mensch das Recht auf einen schmerzlosen Tod, der Staat die Pflicht, ihm die Mittel dazu zur Verfugung zu stellen. Bei seiner sozialen Reform< dachte Jost vor allem an Menschen, die an unheilbaren körperlichen Krankheiten litten. Daneben forderte er aber auch die Tötung unheilbar Geisteskranker, obwohl diese zu keiner rechtswirksamen Willensäußerung imstande waren, nach Ermessen des Arztes auch unter Zwang. Damit überschritt Jost bereits die Grenze zwischen Tötung auf Verlangen und >Vernichtung lebensunwerten LebensEuthanasie< an: - Unheilbar Geisteskranke, Krebskranke und Aussätzige sollten auf Verlangen getötet werden können, wobei Haeckel auf die Frage der Zurechnungsfähigkeit von Geisteskranken nicht einging. 10 - Neugeborene Kinder, die verkrüppelt, geistig behindert oder taubstumm zur Welt kamen, sollten unmittelbar nach der Geburt getötet werden können. 1 1 109

- Im weiteren Sinne rechnete Haeckel auch die Todesstrafe für Mörder und Gewohnheitsverbrecher aus erblicher Anlage zum Töten aus Mitleid, da er sie als weniger grausam ansah als eine lebenslange Freiheitsstrafe. 12 In der Frage der Kindestötung und der Todesstrafe waren das eugenische, ethische und utilitaristische Motiv der Euthanasieidee eng miteinander verflochten, ohne daß Haeckel die unterschiedlichen Begründungszusammenhänge, in die er die Euthanasieidee stellte, voneinander abgrenzte. Während des Ersten Weltkriegs erneuerte Haeckel das Euthanasiepostulat mit der Begründung, der Weltkrieg verdeutliche den schroffen Gegensatz zwischen der mit der Pflege Unheilbarer verbundenen Über- und der mit dem Massensterben des Weltkriegs verbundenen Unterschätzung des Menschenlebens. 1 3 Durch den Erfolg angeregt, den Haeckel mit seinen »Welträtseln« (1908) 1 4 - s i e w u r d e n b i s l 933 in rd. 400000 Exemplaren verkauft - errungen hatte, entstand der Plan zur Gründung eines Monistenbundes. Als seine Vorläufer können der von L. Büchner im Jahre 1881 gegründete Deutsche Freidenkerbund und die im Jahre 1902 unter der Führung von E. Zola geschaffene Liga der Aufrichtigen angesehen werden. Der Deutsche Monistenbund wurde im Jahre 1906 in Jena gegründet. Haeckel übernahm den Ehrenvorsitz. Z u den insgesamt 6000 - zumeist akademisch gebildeten Mitgliedern gehörten zahlreiche Künstler und Schriftsteller, z. B. C. Hauptmann, W. Bölsche, H. Eulenberg u. a. Die Zeitschrift des Deutschen Monistenbundes, die seit 1912 unter dem Titel »Das monistische Jahrhundert« erschien, wurde von Wilhelm Ostwald - als Nobelpreisträger für Chemie im Jahre 1909 der neben Haeckel prominenteste Protagonist des Monismus, der in den Jahren 1910-1915 auch die Leitung des Monistenbundes innehatte - herausgegeben. 1 5 Nachdem in den Jahren 1901/02 der InvalideJ. Richter aus Kreischa zwei Petitionen an den sächsischen Landtag gerichtet hatte, die vergeblich u m die Freigabe der Tötung auf Verlangen ersucht hatten, 1 6 sandte am 30. April 1909 das Bundesmitglied Roland Gerkan, der schwer lungenkrank wenig später starb, einen Brief an Ostwald, in dem er einen Gesetzentwurf zur Sterbehilfe zur Diskussion stellte. Zur Begründung des Gesetzesvorschlags schrieb Gerkan: »Wir zerstören im N a m e n der Wissenschaft den Jenseitsglauben, der den Elenden ihr monate- und jahrelanges qualvolles Sterbelager erträglich m a c h t . . . Was bieten wir ihnen als Ersatz? Was antworten wir ihnen, wenn sie f r a g e n : . . . warum verurteilt ihr uns zu so trostlosem, zwecklosem, überflüssigem Leiden? Warum laßt ihr uns nicht schon heute sanft sterben, sondern fordert, daß wir den langen Marterweg durchwandern, dessen sicheres Endziel j a doch derselbe Tod ist, den ihr uns heute versagt?« 1 7

Diese Sätze verdeutlichen nochmals eindringlich, daß es kein Zufall war, wenn das Euthanasiepostulat auf dem Boden des naturalistischen Monismus 110

Wurzeln schlug. Mit der Negierung alles Transzendenten verlor jedes Leiden ohne Aussicht auf Genesung seinen Sinn. Der Gerkansche Gesetzentwurf zur Sterbehilfe, der erste seiner Art, hatte folgenden Wortlaut: »§ 1: Wer unheilbar krank ist, hat das Recht auf Sterbehilfe (Euthanasie). § 2: Die Feststellung des Rechtes auf Sterbehilfe wird durch ein Gesuch des Kranken an die zuständige Gerichtsbehörde veranlaßt. § 3: Auf Grund des Gesuches verfugt das Gericht eine Untersuchung des Kranken durch den Gerichtsarzt im Verein mit zwei zuständigen Spezialisten. An der Untersuchung können auf Wunsch des Kranken auch weitere Ärzte teilnehmen. Diese Untersuchung hat nicht später als eine Woche nach Einreichung des Gesuches zu erfolgen. § 4: Bei der Protokollierung des Untersuchungsbefundes ist anzugeben, ob nach der wissenschaftlichen Überzeugung der untersuchenden Ärzte ein tödlicher Ausgang der Krankheit wahrscheinlicher ist als die Wiedererlangung dauernder Arbeitsfähigkeit. § 5: Wenn die Untersuchung die überwiegende Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Ausgangs ergibt, dann spricht das Gericht dem Kranken das Recht auf Sterbehilfe zu. Im entgegengesetzten Falle wird das Gesuch des Kranken abschlägig beschieden. § 6: Wer einen Kranken auf dessen ausdrücklichen und unzweideutig kundgegebenen Wunsch schmerzlos tötet, bleibt straflos, wenn dem Kranken nach § 5 das Recht auf Sterbehilfe zugesprochen worden ist, oder wenn die nachträgliche Untersuchung ergibt, daß er unheilbar krank war. § 7: Wer einen Kranken tötet, ohne daß dieser es ausdrücklich und unzweideutig gewünscht hat, wird mit Zuchthaus bestraft. § 8: Die §§ 1 bis 7 finden auch auf Sieche und Verkrüppelte sinngemäße Anwendung.« 18 Ostwald kommentierte diesen Gesetzentwurf mit den Worten, man überlege, in welcher Form »dieses Material für unsere eben in Gang befindliche Arbeit an der Kodifizierung einer weltlichen Ethik verwertet werden kann«. 1 9 U m diesen Gesetzesvorschlag entspann sich in den Jahren 1913-19 innerhalb des »Monistischen Jahrhunderts« eine kontroverse Diskussion, die jedoch bald über den exklusiven Zirkel des Monistenbundes ausgriffund in der sich besonders Juristen und Mediziner engagierten. 20 In dieser Auseinandersetzung wurden die neuralgischen Punkte des Gerkanschen Gesetzentwurfs aufgedeckt. 1. Die Kritiker des Gerkanschen Gesetzentwurfs wiesen zu Recht darauf hin, daß der für die >Euthanasie< in Frage kommende Personenkreis nicht scharf genug abgegrenzt worden war. Schon in Hinblick auf die eigentliche Sterbehilfe stellte sich das Problem der infausten Prognose, dem Gerkan dadurch Rechnung getragen hatte, daß er die Indikation zur >Euthanasie< von der Wahrscheinlichkeit des tödlichen Ausgangs einer Krankheit abhängig machte. Neben der Gefahr eines diagnostisch-prognostischen Irrtums wurde die Möglichkeit therapeutischer Innovationen, die bei bislang unheilbaren Krankheiten neue Behandlungsmöglichkeiten eröffnen konnten, gegen 111

den Gerkanschen Gesetzentwurf ins Feld gefuhrt. 21 Schwerer als die Unsicherheit der Voraussage im Fall der Sterbehilfe wog, daß Gerkan durch die Einbeziehung von > Siechen und Krüppeln< die >Euthanasie< über die Sterbehilfe fur Todkranke im Stadium der Agonie hinaus auf unheilbar Kranke und Behinderte - unabhängig von ihrer Lebenserwartung - ausdehnte. Problematisch war insbesondere, daß die Entscheidung zur Tötung davon abhängen sollte, ob ein tödlicher Ausgang der Krankheit wahrscheinlicher war als die Wiederherstellung dauernder Arbeitsfähigkeit. Diese Regelung ließ offen, was mit denjenigen Kranken und Behinderten geschehen sollte, die auf Dauer arbeitsunfähig oder nur eingeschränkt arbeitsfähig waren, ohne bereits im Sterben zu liegen. 22 Die Kritiker des Gerkanschen Gesetzentwurfs erkannten auch, daß eine Ausweitung des von der >Euthanasie< betroffenen Personenkreises auf Geisteskranke und -schwache vorprogrammiert war. Dadurch, daß der Wunsch des Kranken maßgeblich sein sollte, liefen psychisch Kranke, die Selbstmordabsichten äußerten, Gefahr, in die Maschinerie der >Euthanasie< zu geraten. 23 Vor allem aber drohte die Einbeziehung der Geistesschwachen, von denen keine rechtlich erhebliche Willensbekundung zu erhalten war. Der Bielefelder Richter A. Bozi gab zu bedenken: »Würde der Gerkansche Vorschlag verwirklicht werden, so würde die nächste Frage sein, warum denn die Wohltat, die dem Kranken auf dessen ausdrückliches Verlangen zuteil wird, dem versagt werden soll, der dieses Verlangen zu äußern nicht einmal mehr imstande ist. Von diesem Gesichtspunkte würde mit Recht auf die unheilbar Geisteskranken verwiesen werden, die, ohne eigenes Lebensbewußtsein und ohne Gewinn für die Allgemeinheit in den Irrenanstalten ihr Dasein fristen. « 2 4 Der Arzt M. Beer pflichtete Bozi bei, wobei er auf die der Euthanasieidee inhärente Radikalisierungstendenz abhob: »Daß das der erste Schritt sein würde, glaube ich auch, ob aber der letzte, erscheint mir mindestens zweifelhaft... Ist einmal die Scheu vor der Heiligkeit des Lebens vermindert, die freiwillige Sterbehilfe für die geistig gesunden Unheilbaren und die unfreiwillige für die Geisteskranken eingeführt, wer steht dann dafür, daß man dabei Halt macht?« 25 2. Selbst in den Reihen des Monistenbundes warnte man davor, dem Leid jeden Sinn abzusprechen. Der Jurist W. Börner etwa meinte, zwar sei die vom Christentum getragene Forderung, alles Leid zu ertragen, abzulehnen, es sei jedoch »ebenso einseitig, die Fähigkeit zu leiden und zu dulden, nicht anerkennen zu wollen«. Als »Helden der Passivität« könnten Kranke zu Vorbildern der Gesunden werden. 26 Die Apologeten des Gerkanschen Gesetzentwurfs waren im Gegensatz dazu der Ansicht, daß man sinnvolles und sinnloses Leiden unterscheiden könne. 27 Ostwald definierte, den »rein sozialen Charakter der gesamten Ethik« 2 8 hervorhebend, darüberhinaus Leid lediglich als Verminderung der Leistungsfähigkeit, nicht nur in Hinblick auf die individuelle Persönlichkeit, sondern auch im Zusammenhang der gesellschaftlichen Bezüge, in denen Krankheit stand. Leiden stellte sich somit 112

nicht mehr als Privatsache, sondern als Gegenstand des gesamtgesellschaftlichen Interesses dar. Von daher wurde auf die Belastung der Angehörigen, den Einsatz von Arbeitskraft und die Kosten verwiesen, die durch die Pflege unheilbar Kranker und Behinderter entstanden. 29 Dieser »sozialen Nützlichkeitsmoral« wurde auch innerhalb des Monistenbundes vorgeworfen, sie mache den Einzelfall zum Rechenexempel: Gewinn und Verlust fur die Gesellschaft sollten über das Schicksal des einzelnen bestimmen. 30 Die Relativierung der Einzelexistenz gegenüber dem Staats-, Volks- oder Gesellschaftsganzen wurde bereits deutlich sichtbar. Der Jurist A. Elster erklärte, daß in der Rechtswissenschaft der Satz gelte: »Das Leben weicht höheren Rücksichten! Durch solche wird einer Tötung... der Charakter des Mordes genommen.« 31 Bozi warnte hingegen davor, daß mit der vorgeblichen Erweiterung des Selbstbestimmungsrechts des einzelnen durch die Freigabe der Sterbehilfe die Verfügungsgewalt über das Leben des einzelnen an staatliche Behörden übergehen könnte. »Damit würden ehemalige Anschauungen von dem Rechte der Allgemeinheit, über die Lebensbefugnis des einzelnen zu entscheiden, Wiederaufleben, und damit würden wir in einen Staatsabsolutismus hineintreiben, für den« - und hier irrte Bozi - »heute keinerlei Boden ist«. 32 Die Frage, ob der Staat zur Erhaltung auch ökonomisch unproduktiven Individuen verpflichtet sei, stellte sich vor dem Hintergrund der Weltkriegserfahrungen immer dringlicher, nicht nur in Hinblick auf die Kriegsinvaliden, 33 sondern auch unter verdeckt rassenhygienischen Gesichtspunkten: »Die Frage, ob dem unheilbar Kranken eine Sterbehilfe zuteil werden dürfe, ist zu einer Zeit zu erörtern besonders wertvoll, wo Tausende gesunder Leben, einer höheren Notwendigkeit folgend, sich opfern müssen. Da wird man eher geneigt sein, anders als sonst über die Kranken zu denken, die zu leben gezwungen werden.« 34 Daß aus den Kriegserfahrungen jedoch auch der Umkehrschluß gezogen werden konnte, zeigten Forderungen, daß die Gesellschaft gerade angesichts des Krieges alles daransetzen müsse, daß »bisher für unheilbar gehaltene Kranke geheilt... Opfer, die dem Tode schon verfallen waren, diesem wieder abgejagt werden«. 35 In der Kontroverse um den Gerkanschen Gesetzentwurf kamen die wesentlichen Grundzüge der Euthanasieidee klar zum Ausdruck: - das mit >LebenswertenEuthanasie< stützte, nahm biologistische Elemente in sich auf. Trotz rassenhygienischer Initiativen im 113

Monistenbund 3 6 klangen rassenhygienische Argumentationsfiguren in der Euthanasiediskussion nur unterschwellig an. Verschiedene Stellungnahmen zu Gerkans Gesetzentwurf nahmen Bezug auf die seit der Jahrhundertwende geführte juristische Diskussion u m die Tötung auf Verlangen. Sie war aus dem sächsischen Strafgesetzbuch von 1855 in den §216 des RStGB von 1871 als sog. privilegiertes Tötungsdelikt eingegangen, das mit einer Strafe von mindestens drei Jahren Gefängnis bedroht war. Im Zusammenhang mit der Revision des RStGB zu Beginn des 20. Jahrhunderts sprachen sich die Strafrechtslehrer teilweise für eine Herabsetzung des Straßmaßes, teilweise für die Straffreiheit der Tötung auf Verlangen aus. Sie begründeten ihre Haltung damit, daß auch das Leben ein veräußerliches Rechtsgut sei, daß nach dem Grundsatz volenti non fit iniuria von einer Verletzung des Rechtes auf Leben keine Rede sein könne, wenn der Tötung die Einwilligung des Getöteten vorausgegangen sei, und daß der Allgemeinheit durch die Tötung eines hoffnungslos Kranken kein Schaden erwachse. 3 7 Als der Rechtsanwalt Kaßler in seiner Erörterung des Gerkanschen Gesetzentwurfs unter Hinweis auf den §216 RStGB geltend machte, das Töten aus Mitleid widerspreche »so sehr dem Rechtsempfinden des Menschen, daß der Gesetzgeber ein solches Recht auf Tötung keinem M e n schen zusprechen darf«, 3 8 gab er den Stand der juristischen Diskussion nicht zutreffend wider. Bozi erkannte dagegen, daß die Forderung nach Freigabe der Sterbehilfe eine Weiterentwicklung der seit Mitte des 19. Jahrhunderts durchgesetzten Straffreiheit des Selbstmordes und der seit Beginn des 20. Jahrhunderts geforderten Straffreiheit der Tötung auf Verlangen war. 3 9 O b w o h l sich zahlreiche deutsche Rechtslehrer für die Freigabe der Tötung auf Verlangen eingesetzt hatten, konnten sie sich mit ihrer Auffassung nicht durchsetzen. Die Entwürfe zum neuen Strafgesetzbuch von 1909, 1913, 1925 und 1927 brachten keine Veränderung. In Juristenkreisen empfand man mit Unwillen die Kluft zwischen allgemeiner Rechtsauffassung und geltendem Recht. Deshalb setzte die Diskussion, die in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs zeitweilig nachgelassen hatte, nach Kriegsende erneut ein, wobei sich der Schwerpunkt allmählich von der Tötung auf Verlangen zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens< verschob. Sie war im deutschen Recht bis dahin durchgängig abgelehnt worden. Insofern stellte die Forderung nach Freigabe der >Vernichtung lebensunwerten Lebens* einen Bruch mit der neueren deutschen Rechtsentwicklung dar. 4 0

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2. Das Schrifttum zur >Vernichtung lebensunwerten nach dem Ersten Weltkrieg

Lebens
Euthanasie< ein. Die wissenschaftliche Leistung Bindings bestand in der Einfuhrung der Normentheorie in die Rechtswissenschaft. 2 Danach liegen dem positiven Strafrecht Rechtsbefehle oder Normen zugrunde, die sich aus dem Bedürfnis nach einem geregelten Zusammenleben der Rechtsgemeinschaft ergeben. Dieser rechtspositivistische Ansatz barg die Gefahr in sich, daß alle Rechtsgüter - auch das Leben - von ihrem >Sozialwert< für die Rechtsgemeinschaft abhängig gemacht wurden. Dieser Gefahr erlag Binding in seinen Ausführungen zur >Vernichtung lebensunwerten LebensVernichtung lebensunwerten Lebens< stets »von edlem Mitleid mit unertragbar leidenden Menschen« 5 getragen sein müsse. Die Tötung selbst verstand er als »Ausfluß freien Mitleids mit den Kranken«. 6 Mitleid verlange die >Vernichtung lebensunwerten LebensEuthanasie< rundweg ab. Es sei falsch, »ihnen [den >geistig TotenMitleid< ist den geistig Toten gegenüber im Leben und im Sterbensfall die an letzter Stelle angebrachte Gefühlsregung; wo kein Leiden ist, ist auch kein mitLeiden«. 8 N a c h Hoche entschied allein der Wert eines Menschenlebens für die Gesellschaft über seine Daseinsberechtigung. Dieser Gesichtspunkt spielte aber auch bei Binding eine entscheidende Rolle, wie aus seinen Ausführungen deutlich hervorging: »Ein beklommenes Gefühl regt sich in Jedem, der sich gewöhnt hat, den Wert des einzelnen Lebens für den Lebensträger und für die Gesamtheit abzuschätzen. Er nimmt mit Schmerzen wahr, wie verschwenderisch wir mit dem wertvollsten, vom stärksten Lebenswillen und der größten Lebenskraft erfüllten... Leben umgehen, und welch Maß von oft ganz nutzlos vergeudeter Arbeitskraft, Geduld, Vermögensaufwendung wir nur darauf verwenden, um lebensunwerte Leben so lange zu erhalten, bis die Natur - oft so mitleidlos spät - sie der letzten Möglichkeit der Fortdauer beraubt. « 9 »Für ihre Angehörigen wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbar schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke - außer vielleicht im Gefühl der Mutter oder der treuen Pflegerin. Da sie großer Pflege bedürfen, geben sie Anlaß, daß ein Menschenberuf entsteht, der darin aufgeht, absolut lebensunwertes Leben für Jahre und Jahrzehnte zu fristen. « 1 0 »Mit Aufwand unendlicher Zeit und Geduld und Sorge bemühen wir uns um die Erhaltung von Leben negativen Wertes, auf dessen Erlöschen jeder Vernünftige hoffen muß.« 1 1 Hoche differenzierte zwischen verschiedenen Krankheitsbildern »in bezug auf die wirtschaftliche und moralische Belastung der U m g e b u n g , der A n stalten, des Staates u s w . « D e m z u f o l g e waren es vor allem die »Vollidioten . . . deren Existenz a m schwersten auf der Allgemeinheit lastet«. 1 2 H o c h e hatte durch eine U m f r a g e einen durchschnittlichen A u f w a n d von 1300 M a r k pro K o p f und Jahr für jeden der schätzungsweise 2 0 - 3 0 0 0 0 >Idioten< in deutschen Heil- und Pflegeanstalten ermittelt, von denen nach Hoches Meinung 3—4000 als >geistig Tote< beseitigt werden sollten. »Nehmen wir für den Einzelfall eine durchschnittliche Lebensdauer von 50 Jahren an, so ist leicht zu ermessen, welches ungeheure Kapital in Form von Nahrungsmitteln, Kleidung und Heizung dem Nationalvermögen für einen unproduktiven Zweck entzogen wird. « 1 3 »Ein Pflegepersonal von vielen Tausend Köpfen wird für diese gänzlich unfruchtbare Aufgabe festgelegt und fordernder Arbeit entzogen; es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70Jahre und älter werden.« 14 Die Autoren kamen zu dem Schluß: »Daß es lebende Menschen gibt, deren Tod für sie eine Erlösung und zugleich für die Gesellschaft und den Staat insbesondere eine Befreiung von einer Last ist, deren Tragung außer dem einen, ein Vorbild größter Selbstlosigkeit zu sein, nicht den kleinsten Nutzen stiftet, läßt sich in keiner Weise bezweifeln. « l s 116

Volkswirtschaftliche Gesichtspunkte waren auch schon in der Euthanasiediskussion vor dem Ersten Weltkrieg geltend gemacht worden. 1 6 Dennoch war die ökonomistische Argumentation Bindings und Hoches in besonderem Maße Ausdruck »der durch den Krieg und seine Folgeerscheinungen hervorgerufenen Gefiihlslage der breiten Masse«. 1 7 »Die Frage, ob der f ü r . . . Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstands nicht dringend; jetzt aber ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr beschäftigen. Unsere Lage ist wie die der Teilnehmer an einer schwierigen Expedition, bei welcher die größtmögliche Leistungsfähigkeit Aller die unerläßliche Voraussetzung für das Gelingen der Unternehmung bedeutet, und bei der kein Platz ist für halbe, Viertels- und Achtelskräfte. Unsere deutsche Aufgabe wird für lange Zeit sein: eine bis zum höchsten gesteigerte Zusammenfassung aller Möglichkeiten, ein Freimachen jeder verfügbaren Leistungsfähigkeit für fordernde Zwecke. « 1 8

»Das Gefühl einer absoluten Verpflichtung zur Zusammenraffung aller verfugbaren Kräfte unter Abstoßung aller unnötigen Aufgaben« 1 9 gebiete, zur »Entlastung fiir unsere nationale Überbürdung« die »Vernichtung völlig wertloser, geistig Toter« und die Ausschließung anderer »Defektmenschen« von der Fortpflanzung. 20 Die ungeheuren Verluste an Menschenleben im Ersten Weltkrieg hatten die Unantastbarkeit des Lebens in Frage gestellt. Es gilt als gesichert, daß Hoche, der noch 1917 die Sterbehilfe abgelehnt hatte, unter dem Eindruck der Kriegsniederlage, die auch seinen Sohn das Leben gekostet hatte, seine Meinung änderte. 21 >Dolchstoß, Novemberverbrechen, Schandfrieden und Systemzeit< schienen die Auffassung der Rassenhygieniker von den >contraselektorischen< Effekten des Krieges eindrucksvoll zu bestätigen. Auch Binding, der seinen Beitrag bereits um 1913 konzipiert hatte, stand deutlich unter dem Eindruck des Kriegsgeschehens: »Denkt man sich gleichzeitig ein Schlachtfeld bedeckt mit Tausenden toter Jugend, oder ein Bergwerk, worin schlagende Wetter Hunderte fleißiger Arbeiter verschüttet haben, und stellt man in Gedanken unsere Idioteninstitute mit ihrer Sorgfalt für ihre lebenden Insassen daneben - und man ist auf das tiefste erschüttert von diesem grellen Mißklang zwischen der Opferung des teuersten Gutes der Menschheit im größten Maßstabe auf der einen und der größten Pflege nicht nur absolut wertloser, sondern negativ zu wertender Existenzen auf der anderen Seite. « 2 2

Der Bezug auf die Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit wurde von den Lesern der Schrift offenbar verstanden. Der Psychiater R. Gaupp erinnerte in einer Rezension an die »technischen Ungeheuerlichkeiten des Weltkrieges«, die so grauenhafte Verletzungen hervorgerufen hätten, daß sich der Gedanke der Sterbehilfe geradezu aufdränge. Auch bekannte er, es sei ihm während des Hungerwinters 1916/17 schwergefallen, Lebensmittel an unheilbar Geisteskranke zu verteilen. 23 Im Jahre 1927 urteilte ein Rezensent rückschauend, das ökonomistische Argument habe zur Zeit der Abfassung der Schrift, als sich die Inflation anbahnte, nahegelegen, sei insofern zeitbe117

dingt und habe mittlerweile seine Berechtigung verloren. 24 Mit der Weltwirtschaftskrise wurde dieses Argument jedoch wieder aktuell. Die Relativierung der individuellen Existenz entsprach der Verabsolutierung des bioorganismisch konzipierten >VolkskörpersEuthanasie< stelle sich die Frage, ob das subjektive Recht auf Leben oder die objektive Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit höher zu bewerten sei. Die Beantwortung der Frage hänge vom Kulturniveau ab. »Die Art der Lösung dieses Konfliktes war bisher der Maßstab für den Grad der in den einzelnen Menschheitsperioden und in den einzelnen Bezirken des Erdballs erreichten Humanität.« 2 7 Daran anknüpfend bauten Binding und Hoche eine rückwärts gewandte Utopie auf. Ihre scheinbar rationale Argumentation glitt ab in die Propagierung einer neuen Ethik, die im Widerspruch zum abendländischen Humanitätsbegriff stand. »Es gab eine Zeit, die wir jetzt als barbarisch betrachten, in der die Beseitigung der lebensunfähig Geborenen oder Gewordenen selbstverständlich war; dann kam die jetzt noch laufende Phase, in welcher schließlich die Erhaltung jeder noch so wertlosen Existenz als höchste sittliche Forderung galt; eine neue Zeit wird kommen, die von dem Standpunkte einer höheren Sittlichkeit aus aufhören wird, die Forderungen eines überspannten Humanitätsbegriffes und einer Überschätzung des Wertes der Existenz schlechthin mit schweren Opfern dauernd in die Tat umzusetzen. « 28

Im Vergleich zu Jost erweiterten Binding und Hoche den Kreis der Betroffenen erheblich. Außer unheilbar Kranken und unrettbar Verletzten sollten nun auch Bewußtlose, »die nur noch zu einem namenlosen Elend erwachen würden«, 2 9 und vor allem unheilbar >Blödsinnige< der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< anheimfallen. Binding hatte zwar »die volle Achtung des Lebenswillens aller, auch der kränksten und gequältesten und nutzlosesten Menschen« 30 zur Vorbedingung der > Vernichtung lebensunwerten Lebens< gemacht und hervorgehoben, daß »jede Freigabe der Tötung mit Brechung des Lebenswillens des zu Tötenden... ausgeschlossen« 31 werden müßte. In Bezug auf die Geisteskranken durchbrach er jedoch diesen Grundsatz: »Sie 118

haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben. So gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt diese auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müßte. «32 Hoche bestätigte: »Ein geistig Toter ist... nicht imstande, innerlich einen subjektiven Anspruch auf Leben erheben zu können«, also werde »auch kein subjektiver Anspruch verletzt«. 33 Denn »die geistig Toten stehen auf einem intellektuellen Niveau, das wir erst tief unten in der Tierreihe wiederfinden, und auch die Gefühlsregungen erheben sich nicht über die Linie elementarster, an das animalische Leben gebundene Vorgänge«. 34 Deshalb gebe die Arbeitsunfähigkeit der Geisteskranken den Ausschlag für ihre Vernichtung. Entscheidender Gesichtspunkt sei das »Fehlen irgendwelcher produktiver Leistungen«. 35 Daß sich hinter der Forderung nach der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< letztlich das Grauen vor der Andersartigkeit der Geisteskranken verbarg, wurde deutlich, wenn Binding und Hoche vom »Fremdkörpercharakter der geistig Toten im Gefüge der menschlichen Gesellschaft« sprachen oder die »geistig Toten« als »das furchtbare Gegenbild echter Menschen« bezeichneten. 36 Binding fügte seiner Forderung nach einer Freigabe der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< konkrete Ausführungsbestimmungen bei. Auf Antrag des Betroffenen, seines Arztes oder seiner Angehörigen sollte ein behördlicher >FreigebungsausschußVernichtung lebensunwerten Lebens< zurückhaltend aufgenommen. Gegen die »Vernichtung lebensunwerten Lebens< wurde grundsätzlich eingewandt, daß der Arzt nicht verantworten könne, Menschen, die zu keiner Willensentscheidung imstande seien, »zum Tode zu verurteilen«, 40 wie es der Leipziger Reichsanwalt L. Ebermayer ausdrückte. In einer juristischen Dissertation zur Euthanasieproblematik von B. Mayer hieß es, es widerspreche dem allgemeinen Rechtsempfinden, Krankentötungen aus wirtschaftlichen Erwägungen freizugeben. 41 Zu den Befürwortern der »Vernichtung lebensunwerten Lebens< gehörte der Berliner Kammergerichtsrat K. Klee, der in einem Vortrag vor der Forensisch-medizinischen Vereinigung im Jahre 1920 mit dem Hinweis auf die wirtschaftliche Notlage der Nachkriegszeit und die Opfer des Ersten Weltkrieges die »Ausscheidung parasitenhafter Existenzen« forderte. Die Beseitigung »passiv schädlicher Glieder des Gemeinwesens« - damit waren die Geisteskranken gemeint - und der »aktiv schädlichen Mitglieder der Gesellschaft« - damit wurde die »Vernichtung lebensunwerten Lebens< auf 119

>Gewohnheitsverbrecher< ausgedehnt - bezeichnete Klee als eine sozialhygienische M a ß n a h m e »unter dem höheren Gesichtspunkt des Menschheitshaushalts«. 4 2 Implizit w u r d e an dieser Stelle die Euthanasieidee an das rassenhygienische Paradigma rückgebunden. Explizit vollzog der Jurist A. Elster diesen Schritt, der die >Vernichtung lebensunwerten Lebens< vor d e m H i n t e r g r u n d der Eugenik sehen wollte, u m ihr das O d i u m der T ö t u n g zu nehmen. »Nur i m Z u s a m m e n h a n g mit einer eugenetischen Geburtenpolitik gewinnt die Gesellschaftsordnung ein Recht, die Vernichtung lebensunwert gewordener Existenzen u. U . straflos zu lassen. « 43 Einen Versuch, das von Binding und Hoche formulierte Euthanasiepostulat in die juristische Praxis umzusetzen, stellten Gesetzentwürfe zur Sterbehilfe und >Vernichtung lebensunwerten Lebens< dar. Einer dieser Gesetzesvorschläge entstammte einer juristischen Dissertation von F. Pelckmann aus d e m Jahre 1923. 4 4 Er unterschied zwischen der >Euthanasie i m engeren Sinne< - darunter verstand er die Sterbehilfe durch den Arzt ohne Einwilligung, sofern der Sterbende zu einer Willensäußerung nicht m e h r imstande war - u n d der >Euthanasie i m weiteren SinneEuthanasie< de lege lata nicht strafbar waren, doch wollte er de lege ferenda Kautelen gegen den Mißbrauch vor allem der >Euthanasie im weiteren Sinne< schaffen. Dazu gehörten - in Anlehnung an den Gerkanschen Gesetze n t w u r f u n d die A u s f ü h r u n g s b e s t i m m u n g e n Bindings — ein geregeltes A n tragsverfahren u n d eine Begutachtung durch eine den Landgerichten angegliederte, aus drei Ärzten (dem Gerichtsarzt und zwei weiteren Ärzten, v o n denen einer ein Spezialist f ü r die in Betracht k o m m e n d e Krankheit sein sollte) u n d einem z u m Richteramt befähigten Vorsitzenden ohne S t i m m recht bestehende Kommission. Bemerkenswert w a r an diesem Versuch die Verbindung von T ö t u n g auf Verlangen und Sterbehilfe ohne Einwilligung, die bereits in die >Vernichtung lebensunwerten Lebens« einmündete. 4 5 Auf die >Vernichtung lebensunwerten Lebens< beschränkte sich der E n t w u r f eines Gesetzes über die Freigabe der T ö t u n g unheilbarer Geistesschwacher, den der Liegnitzer Stadtrat Borchardt im Jahre 1922 veröffentlichte. 4 6 Die Frage der Sterbehilfe, der Binding noch ebensoviel Bedeutung beigemessen hatte wie der >Vernichtung lebensunwerten Lebenslebensunwerten< A n staltsinsassen aus, die den Staat im Jahr 115 Mio. M a r k kosteten - räumte er der Gesellschaft ein Recht auf Krankentötung ein, zumal diese auch d e m »Wohlejener armen Wesen, die weder den Willen zu leben noch zu sterben haben«, 4 7 dienten. Antragsberechtigt sollte nach Borchardt neben den Eltern, Geschwistern und gesetzlichen Vertretern auch der zuständige A r m e n fürsorgeverband sein, w e n n für die Pflege eines Geistesschwachen öffentliche Mittel aufgewendet w u r d e n . D a v o n versprach sich Borchardt, da die Armenfürsorgeverbände ein ökonomisches Interesse an der >Euthanasie< 120

hätten, eine größere Durchschlagskraft des Gesetzes. Dem eigentlichen Freigabeverfahren sollte eine Prüfung der Zulässigkeit des Antrags durch das zuständige Vormundschaftsgericht vorausgehen, das zu diesem Zweck Gutachten des behandelnden, Anstalts- oder Kreisarztes anfordern konnte. Ein dem zuständigen Oberlandesgericht angegliederter >FreigabeausschußGeistesschwächeSchwachsinns< Demenz, Imbezillität, Debilität - außer acht lassend, setzte Borchardt die >Schwachsinnigen< ungeachtet der Schwere ihres Leidens mit den >geistig Toten< Hoches gleich, wodurch sich die Zahl der potentiellen Euthanasieopfer vervielfachte. Ärztliche Kritiker befürchteten eine »Massenhinrichtung«. 49 »Sollte Borchardts Gesetzesentwurf jemals zum Gesetz erhoben werden«, sagte der Psychiater E. Wauschkuhn voraus, »dann wird der Aufenthalt für Geisteskranke, so wie Borchardt mit seinen Kautschukdefinitionen sie auffaßt, in öffentlichen Irrenanstalten höchst lebensgefährlich. So mancher kann dann dort hingerichtet werden, der es sich vorher nicht träumen ließ.« 50 Es sei nur eine Frage der Zeit, bis Kriegsbeschädigte, Arbeitsinvaliden, Blinde, Taubstumme, Tuberkulöse und Krebskranke in die »Hinrichtungen mit ärztlichem Henker« 51 einbezogen würden. Die Wirklichkeit des >Dritten Reiches< vorwegnehmend, stellten sich die Kritiker des Borchardtschen Gesetzentwurfs die Lage in den Anstalten bei der Durchführung der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< vor: »Welche qualvollen Angstzustände müßten viele Tausende von Geisteskranken in der ständigen Furcht erleben, auch einmal der Giftspritze zum Opfer zu fallen! Der Verfolgungswahn würde künstlich ins Unermeßliche groß gezogen werden. Ja, die Mitteilung an einem [sie!] noch nicht in der Anstalt befindlichen Kranken, daß er in Anstaltspflege kommen soll, oder gar die oft notwendige zwangsweise Überfuhrung in eine Anstalt würde entsetzliche Verzweiflungsausbrüche zur Folge haben, denen man eine Berechtigung nicht absprechen kann. « 52

2. Im Gegensatz zum Postulat der rassenhygienisch indizierten Sterilisierung stieß der Gedanke einer Freigabe der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< in der Ärzteschaft vor 1933 überwiegend auf Ablehnung. Die Veröffentlichung der Schrift von Binding und Hoche rief in weiten ärztlichen Kreisen entschiedenen Widerspruch hervor, der sich beispielsweise in der angesehenen »Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift« niederschlug. 53 Die eingehendste Auseinandersetzung mit den Gedanken Bindings und Hoches stammte von einem Mediziner - Ewald Meitzer, dem 121

Direktor der sächsischen Landesheilanstalt Katharinenhof (Großhennersdorf). 5 4 Auf dem Karlsruher Ärztetag von 1921 wurde ein Antrag auf die gesetzliche Freigabe der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< einstimmig gegen die Stimme des Antragstellers abgelehnt. Auch in den Leitsätzen des Preußischen Landesgesundheitsrates von 1932 hieß es noch, auch wenn die Ausschaltung m i n d e r w e r t i g e n Erbguts< zweckmäßig sei, »kommt Tötung oder Vernachlässigung lebensunwerten Lebens nicht in F r a g e . . . Selbst Hoffnungslose m u ß man menschenwürdig bis zu ihrem Tode aufbewahren«. 5 5 Daß die Freigabe der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< in der Weimarer Republik ärztlicherseits nur wenig Z u s t i m m u n g fand, scheint aber teilweise auch auf taktisches Kalkül zurückzufuhren zu sein. Wie aus dem Protokoll einer Sitzung der Dresdner Forensisch-Psychiatrischen Vereinigung aus dem Jahre 1922 hervorging, bei der der Gedanke der Sterbehilfe zustimmend, die Idee der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< dagegen ablehnend aufgenommen wurde, wollte man einen Antrag auf die Freigabe der > Vernichtung lebensunwerten Lebens< in Hinblick auf die Tatsache vermeiden, daß man damit in die Nähe der Forderung der Kommunistischen Partei nach Abtreibung aus sozialer Indikation rückte. 5 6 Vereinzelt wurde die >Euthanasie< in der Ärzteschaft offen befürwortet, z.B. von Medizinalrat Boeters, der sich gleichzeitig als Vorkämpfer der rassenhygienisch indizierten Sterilisierung einen N a m e n machte. 5 7 In einer medizinischen Dissertation aus dem Jahre 1922 nahm I. Malbin die von Haeckel begonnene Tradition historischer Exempel zur Legitimierung der >Euthanasie< wieder auf. An einen Gedanken Goethes anknüpfend, wonach Ideen im Z u g e eines Fortschreitens der Geschichte in Spiralen auf einer höheren Entwicklungsstufe wiederkehren, hatte Hoche drei Phasen in der Geschichte der Menschheit unterschieden: ein vergangenes, barbarisches Stadium, in dem die Tötung >lebensunwerten Lebens< selbstverständlich gewesen sei; die gegenwärtige, zivilisierte Phase, in der >lebensunwertes Leben< u m j e d e n Preis erhalten werde; schließlich eine zukünftige Periode, in der im Zeichen >höherer Sittlichkeit »lebensunwertes Leben< wiedee ausgelöscht werden würde. Malbin versuchte nun, diesen historischen Spiralweg anhand von dicta et facta probantia nachzuweisen. Dabei berief er sich auf die von Plutarch berichteten spartanischen Kindestötungen ebenso wie auf Aristoteles, Piaton und Seneca, fur die die Aussetzung verkrüppelter Kinder eine Selbstverständlichkeit w a r . 5 8 Auch das Brauchtum der Naturvölker in Hinblick auf Abtreibung, Kindesaussetzung und Krankentötung wurde angeführt. 5 9 O b w o h l sich Malbin bemühte, den religiösen, sozialen und ökonomischen Kontext seiner historischen Exempel zu berücksichtigen, kam er zu dem Fehlschluß, daß es bei N a t u r - und antiken Kulturvölkern eine planmäßige Rassenhygiene gegeben habe. Wie zahlreiche seiner Vorgänger und Nachfolger riß Malbin Zitate willkürlich aus dem Zusammenhang. Kontext wurde völlig außer acht gelassen - hatte Methode. Mit Beispielen aus der Geschichte sollte die >EuthanasieDritten ReichVernichtung lebensunwerten Lebens< abgeleitet. Es dauerte aber bis zum Beginn der 1940er Jahre, bis sich diese Auffassung durchgesetzt hatte. In einer »Ärztlichen Rechts- und Standeskunde« aus dem Jahre 1942, dem Lehrbuch für die entsprechende Pflichtvorlesung höherer Semester von Medizinstudenten, wurde zwar die Sterbehilfe abgelehnt, die >Vernichtung lebensunwerten Lebens< aber befürwortet. »In den Fällen, wo der Geist dauernder Umnachtung verfällt, wäre aus Gründen der Menschlichkeit zweifellos die Euthanasie am Platze. Aufgabe des Ärztestandes ist es, Wegbereiter für diesen Gedanken zu sein, Aufgabe des Staates, ihm Gesetzeskraft zu verleihen. « 6 1 3. Auch die ersten Stellungnahmen zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens< aus den Kirchen erschienen im Zuge der Auseinandersetzungen um die Schrift von Binding und Hoche. Auf evangelischer Seite befragte Meitzer für seine Veröffentlichung im Jahre 1925 auch einige Theologen. Dabei gewann er ein widersprüchliches Meinungsbild. Prof. L. Lemme (Heidelberg) machte das Lebensrecht Geisteskranker vom Vorhandensein eines Seelenlebens abhängig, das zur Entfaltung von Religiosität vonnöten sei, und gestand dem Staat das Recht zu, Menschen zu vernichten, die den »sozialen Organismus< belasteten. K. Weidel (Magdeburg) verglich die Pflege unheilbar Kranker mit dem Tun ägyptischer Mönche, die dürre Stöcke in die Erde steckten und gössen, um Selbstverleugnung zu üben. Der Religionspädagoge K. E. Thrändorf (Auerbach) gab der Fürsorge für die Leistungsfähigen Vorrang vor der Liebestätigkeit an Geisteskranken. A. Titius kam zu einer, wenn auch zwiespältigen Befürwortung der >EuthanasieEuthanasie< aus. Meitzer Schloß sich dieser Auffassung an. 6 2 Auch Beiträge, die gegen die >Euthanasie< argumentierten, wie die Veröffentlichung »Dürfen wir minderwertiges Leben vernichten?« (1925) von Pastor M. Ulbrich, Direktor der Heilanstalt Magdeburg-Cracau, 6 3 oder die Studie »Vom Recht zur Vernichtung unterwertigen Lebens« (1928) von H. Schreiner 64 bedienten sich zuweilen zweischneidiger Denkmuster — so etwa, wenn das Lebensrecht behinderter Kinder mit dem Argument verteidigt wurde, sie stellten für ihre Eltern Warnungen Gottes dar, die »Volkslaster«, z . B . Alkoholismus, sexuelle Libertinage, Zigarettenkonsum usw., zu meiden. 6S Die vom C A für die IM gegründete Fachkonferenz für Eugenik verurteilte auf ihrer ersten Sitzung vom 18.-20. Mai 1931 einstimmig die »Vernichtung lebensunwerten LebensEuthanasieaktion< beteiligt - im Namen der N S D A P von den Veröffentlichungen Manns distanzierte. 69 Seine Behauptung, »Schwächlinge und Kranke bilden die größte Gefahr für die Menschheit«, 70 begründete Mann nicht nur mit dem Hinweis auf die Kosten des Gesundheitswesens und die Gefahren erblicher und ansteckender Krankheiten, sondern auch mit der Beschwörung eines unheilvollen Einflusses der Kranken auf die Gesellschaft: »Eine Überzahl an Kranken kann mit ihrem Pessimismus den ganzen Staat verseuchen. So ging 1918 die Revolution in Deutschland hauptsächlich von den Genesungskompagnien aus, von Leuten, deren Unzufriedenheit während der Zeit, in welcher sie krank oder verwundet im Lazarett gelegen hatten, aufs höchste gestiegen war. Deutschland... schuf sich durch seine Arztkunst die seinen Niedergang am stärksten fördernde Macht: eine Streitmacht von Pessimisten. Krüppel und Kranke haben immer einen bösen Blick fur die Verhältnisse, in denen sie leben und einen unheilvollen Einfluß auf ihre Mitmenschen. Man stellt den Teufel nicht umsonst als Hinkenden, als Krüppel, d a r . « 7 1

Ein starkes Grauen vor Krankheit und Behinderung verschmolz in den Gedankengängen Manns mit der Verstörung und Verwirrung, die durch die Weltkriegsniederlage, die Novemberrevolution und die Weimarer Republik ausgelöst wurden. Als krank oder behindert ausgegrenzte Randgruppen mußten als Sündenböcke für geschichtliche Entwicklungen herhalten, deren eigentliche Antriebskräfte undurchschaubar blieben. Aus der Ablehnung der Gegenwart entwickelte sich eine biologistische Utopie. Mann entwarf eine Zukunft, in der sich der therapeutische Idealismus« der Medizin ganz auf die Prophylaxe konzentrierte. Seine Phantasien verdeutlichen, daß die Vorstellung von einer Ausrottung der Krankheiten in den Gedanken einer >Ausmerzung< der Kranken umschlug. »Gesunderhaltung der gesunden Bevölkerung bleibt erste Pflicht der Ärzte, aus ihr geht die Forderung der Vernichtung der Unheilbaren hervor. Erst in zweiter Linie k o m m t die Heilung der heilbaren K r a n k e n . . . D e m Arzt der Zukunft ist ein bestimmter Bezirk zugeteilt, in welchem er über den Gesundheitszustand der B e w o h ner zu wachen hat. Die Sorge für Schaffung hygienischer Lebensverhältnisse, für Belehrung des Volkes, für dessen kraftvolle körperliche Ausbildung wird die erste Aufgabe des Bezirksarztes s e i n . . . Aus den bewährtesten Bezirksärzten... gehen die Selektionsärzte h e r v o r . . . Von den Selektionskommissionen wird in bestimmten 124

Zeitabschnitten die gesamte Bevölkerung eines jeden Bezirks zu Kontrollversammlungen zusammengerufen. Während dieser Kontrollversammlungen wird der Gesundheitszustand des ganzen Volkes geprüft und die mit unheilbaren Krankheiten Behafteten ausgeschieden... Empfindet man erst Kranksein als Schande, so wird man es als Ehrenpflicht betrachten, zur Gesundheitskontrolle zu erscheinen, schon darum, u m sich nicht dem Verdacht auszusetzen, Krankheit oder Schwäche verbergen zu wollen. Den Selektionsärzten sei polizeiliche Macht beigegeben, ihr A m t auch gegen den Willen mancher Kranker durchzufuhren. Hier verbindet sich Härte mit Barmherzigkeit... Auch außerhalb der Kontrollversammlungen besteht Meldepflicht und Anzeigepflicht Schwerkranker. Jeder Gesunde handelt in seinem eigenen Interesse und zu gunsten der Gemeinschaft, wenn er Fälle schwerer E r k r a n k u n g . . . der Gesundheitspolizei meldet. Die Unheilbaren sind die größten Feinde kraftvoller Entfaltung der Menschheit, ihre Vernichtung ein Gebot der Selbsterhaltung und der Arterhaltung.« 7 2

Mann war sich bewußt, daß die Unterscheidung zwischen Gesunden und Kranken willkürlich war, hielt aber eine künstliche Grenzziehung zur Fortentwicklung der Gesellschaft für unabdingbar, wobei der Kreis der Gesunden bei fortschreitender Vervollkommnung der Menschheit immer weiter einzuschränken sei. 73 Daß es letztlich um die Umwertung aller Werte ging, wurde bei ihm besonders deutlich: »Das Gebot >Du sollst nicht töten< ist das unnatürlichste, lebens verneinendste, was es geben kann. Würde es, auf alle Lebewesen ausgedehnt, praktisch durchgeführt, so wäre es gleichbedeutend mit Verhungern und Verdursten der Ausfuhrenden. « 7 4 Im Jahre 1922 unterbreitete Mann dem Reichstag »Vier Forderungen der Barmherzigkeit«: 1. Vernichtung der Geisteskranken, 2. Sterbehilfe für Todkranke, 3. Sterbehilfe für Lebensmüde, 4. Tötung verkrüppelter und unheilbar kranker Kinder. In den Gedanken Manns war die Synthese der verschiedenen Formen der Euthanasieidee zum Abschluß gekommen. >Euthanasie< wurde von Mann als Akt der Barmherzigkeit, 75 als Mittel zur Entlastung der Volkswirtschaft 76 und als eugenisches Instrument 77 empfohlen.

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TEIL Β

Realgeschichte der >Euthanasie
Euthanasie< Bis zum Anbruch des >Dritten Reiches< verlief der Prozeß der politischen Implementierung des rassenhygienischen Programms, der sich vornehmlich in der Sterilisierungsdebatte manifestierte, in Deutschland in denselben Bahnen wie in einigen anderen Staaten, in denen eugenische Institutionen Einfluß auf soziopolitische Entscheidungsprozesse nahmen. Der vom Ausschuß für Bevölkerungswesen und Eugenik des Preußischen Landesgesundheitsrates im Jahre 1932 erarbeitete Gesetzentwurf, d e r - h ä t t e das System der Präsidialkabinette länger Bestand gehabt - sicher durch Notverordnung in Kraft gesetzt worden wäre, wenn er nicht sogar im Reichstag eine Mehrheit gefunden hätte, 1 war durchaus mit den Gesetzen zur Unfruchtbarmachung aus erbpflegerischen Gründen vergleichbar, die zuvor in 26 amerikanischen Bundesstaaten, in der kanadischen Provinz Alberta, im Schweizer Kanton Waadt und in Dänemark verabschiedet worden waren. 2 Da der preußische Gesetzentwurf lediglich die freiwillige Unfruchtbarmachung aus erbpflegerischen Gründen freigab, hätte sich die Zahl der rassenhygienisch indizierten Sterilisierungen, die bei einer Annahme dieses Gesetzesvorschlags durchgeführt worden wären, voraussichtlich in einer Größenordnung von einigen hundert oder tausend bewegt, wie sie auch in anderen Ländern mit vergleichbarer Gesetzgebung erreicht worden war. Da jedoch das GzVeN vom 14. Juli 1933 den preußischen Gesetzentwurf dahingehend verschärfte, daß es die Anwendung von Zwang, und zwar - anders als in den meisten ausländischen Gesetzen - über den Kreis der Insassen von Heil- und Pflegeanstalten hinaus zuließ, eröffnete es den neugegründeten Erbgesundheitsgerichten die Möglichkeit, rassenhygienische Sterilisierungen in einem Umfang anzuordnen, den beispielsweise die amerikanischen Eugeniker vergeblich angestrebt hatten. Allein im Jahre 1934, als das GzVeN in Kraft trat, wurden in Deutschland über 30000 Menschen unfruchtbar gemacht, bedeutend mehr als in den Vereinigten Staaten von der Legalisierung der eugenischen Sterilisierungen im Jahre 1907 bis zum Ende des Jahres 1934 zusammen. Insgesamt machte die Zahl der eugenisch indizierten Sterilisierungen, die in den U S A im Zeitraum von 1907 bis 1945 ausgeführt wurden, ein Zehntel der etwa 400000 rassenhygienisch indizierten Sterilisierungen aus, 129

die in Deutschland in der Zeitspanne von 1934 bis 1939/45 vorgenommen wurden. 3 War schon das Ausmaß, das die rassenhygienische Sterilisierung im >Dritten Reich< annahm, außergewöhnlich, so war der Umschlag von der Verhütung zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens < in den Jahren 1938/39 - die konzeptionellen, institutionellen und personellen Verbindungslinien zwischen Sterilisation und >Euthanasie< waren unverkennbar einzigartig. Ohne die Installierung des nationalsozialistischen Regimes wäre es wahrscheinlich nicht zu diesem Radikalisierungsprozeß gekommen. Zwar unterschied sich die Euthanasiediskussion in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg von der in den 1920er/30er Jahren in England initiierten Euthanasiekampagne dadurch, daß sie sich unter dem Eindruck von Kriegsniederlage und Wirtschaftskrise von der Tötung auf Verlangen zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens< verlagerte. Wie die zwiespältige Aufnahme der Schrift von Binding und Hoche jedoch zeigte, war die Diffusion der Euthanasieidee in den juristischen, medizinischen und theologischen Diskurs noch längst nicht so weit vorangeschritten, als daß der Gesetzgeber unter Druck geraten wäre. Die klare Stellungnahme des Ausschusses fur Bevölkerungswesen und Eugenik des Preußischen Landesgesundheitsrates gegen die >Vernichtung lebensunwerten Lebens< war vielmehr ein Zeichen dafür, daß zu Beginn der 1930er Jahre auch in Deutschland die Realisierung des Euthanasiepostulats nicht durchsetzbar war. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß sich daran etwas geändert hätte, wäre es nicht zur >Machtübernahme< durch den Nationalsozialismus gekommen. Das nationalsozialistische Regime bot einer an rassenhygienischen Konzeptionen orientierten Psychiatrie Freiräume zur Verwirklichung ihrer Neuordnungsvorstellungen, bei der die dem rassenhygienischen Paradigma immanenten Radikalisierungstendenzen zum Tragen kamen. Die gesellschaftlichen Sicherungen zum Schutz des Lebens, die durch die politische Implementierung des rassenhygienischen Paradigmas bereits unter Druck geraten waren - juristische Kautelen, ethische Normen und medizinische Deontologie —, wurden durch den Nationalsozialismus vollends außer Kraft gesetzt. Seinem Legitimitätsanspruch nach kann der Nationalsozialismus dem Weberschen Idealtyp der charismatischen Herrschaft zugeordnet werden. 4 »Die Schöpfung einer charismatischen Herrschaft... ist stets das Kind ungewöhnlicher äußerer, speziell politischer oder ökonomischer, oder innerer seelischer Situationen, oder beider zusammen und entsteht aus der einer Menschengruppe gemeinsamen, aus dem Außerordentlichen geborenen Erregung.« 5 Der Aufstieg des Nationalsozialismus vollzog sich vor dem Hintergrund der Zwischenkriegszeit, die durch die Zusammenballung ökonomischer, sozialer und politischer Krisenphänomene geprägt war. Im Bewußtsein der Trägergruppen des Nationalsozialismus 6 verdichteten sich die Erfahrungen ökonomischer Depression, sozialer Konflikte und politischer Desintegration zu einer chronischen Krisenmentali130

tät, die der nationalsozialistischen Agitation als Resonanzboden diente. Zu diesen Trägergruppen gehörte eindeutig auch die Ärzteschaft. Bereits in den frühesten Mitgliederlisten der NSDAP, die den Zeitraum von Ende 1919 - damals hieß die Partei noch DAP - bis zum Herbst 1922 erfaßten, machte der Anteil der Ärzte (einschließlich der Studenten und Kandidaten der Medizin) an der Gesamtmitgliederzahl der Partei 2,24% aus; in der Gruppe der akademisch gebildeten Parteimitglieder stellten die Ärzte mit 22,5% die größte geschlossene Berufsgruppe. Auffällig war vor allem der Anteil junger Ärzte: Die Hälfte der Ärzte, die sich in den Jahren 1919-1922 der N S D A P anschlossen, war im Zeitraum zwischen 1890 und 1903 geboren, ein Drittel 1895 und später. Dementsprechend machten Studenten und Kandidaten der Medizin knapp die Hälfte der ärztlichen Parteimitglieder aus. 7 Auch während der >Machtergreifung< schloß sich die Ärzteschaft wie keine andere Berufsgruppe der N S D A P an. Im Jahre 1933 entfiel knapp 1 % aller Parteieintritte auf Ärzte, Zahnärzte und Tierärzte, während der Anteil dieser Berufsgruppe an der Reichserwerbsbevölkerung lediglich 0,26% betrug. Bis 1937 hielt sich der Anteil der Neueintritte von Ärzten bei etwas unter 1%, was zu einer signifikanten Überrepräsentation der Ärzteschaft in der N S D A P führte. 8 Insgesamt traten 45% der reichsdeutschen Ärzte in die N S D A P ein, 26% der männlichen Ärzte waren Mitglied der SA, 7,3% Angehörige der SS. 9 Die Attraktivität des Nationalsozialismus in den Reihen der Ärzteschaft hatte ihre Ursachen einerseits in der wirtschaftlichen Notlage namentlich derjenigen Jungärzte, die nicht zur Kassenarztpraxis zugelassen wurden. Sie stellten einen großen Teil der Mitgliederschaft im Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund (NSDÄB), der für den Fall der >Machtübernahme< die Erfüllung berufsständischer Forderungen nach einer Besserstellung der Ärzteschaft in Aussicht stellte. 10 Andrerseits wurde eine Vielzahl von Ärzten durch das Weltkriegserlebnis zu Sympathisanten des Nationalsozialismus. Der Arzt, der sich in der >Kampfzeit< der >Bewegung< anschloß, war in der Regel Weltkriegsteilnehmer, Freikorpsangehöriger oder Mitglied einer nationalkonservativen Partei, vorzugsweise der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), gewesen. Viele Ärzte versprachen sich vom Nationalsozialismus eine politische, soziale und ökonomische Erneuerung von Grund auf, innerhalb derer der Ärzteschaft eine tragende Rolle zufallen sollte. 11 Als eine »revolutionäre Kraft in traditional gebundenen Epochen« 1 2 war der charismatisch legitimierte Nationalsozialismus ein Versuch, das gesellschaftliche Sein aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein heraus zu verändern. »Zum Unterschied von der ebenfalls revolutionierenden Macht der >ratioWelt< überhaupt bedeutet.« 13 Die Mobilisierung der im »Erwartungsstau« 1 4 der nationalsozialistischen Sympathisanten gebundenen sozialen Dynamik gelang auch deshalb, weil den nationalsozialistischen Topoi ein »zwitterhaftes, halb reaktionäres, halb revolutionäres Verhältnis zur überkommenen Gesellschaft, Staatsordnung und Tradition« 15 anhaftete. Sie benutzten Klischees eines patriarchalischen Sozialideals, die aber ins Massenhafte übersteigert wurden (aristokratische Elite - >Blutadel< der >HerrenrasseFührerschaftGefolgschaftGesundheitsfiihrung< zu. Zum einen sollte es die im Gesundheits- und Fürsorgebereich Tätigen - insbesondere die Ärzteschaft - noch enger an das nationalsozialistische Regime binden, als es durch Privilegierung und Disziplinierung möglich war. Zu diesem Zweck wies es der Ärzteschaft - vermittelt durch die Vorstellung der >Gesundheitsfuhrung< - eine zentrale Position in der durch negative Integration von psychischer Anomalie und sozialer Devianz definierten >gesunden Volksgemeinschaft zu. Mit der Bekämpfung der vermeintlichen genetischen Degeneration des >Volkskörpers< wurde der Ärzteschaft eine öffentliche Aufgabe von scheinbar staatstragender Bedeutung übertragen. Indem das nationalsozialistische Regime »Gesundheitspflege und Rassenpflege zur Grundlage der Staatspolitik zu machen« 16 schien, verwirklichte es - unter den Vorzeichen eines radikalen Sozialrassismus - den Aphorismus Virchows »Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im großen.« 17 Zum anderen eignete sich das rassenhygienische Paradigma zur Grundlegung charismatischer Herrschaft. Rassenhygienische Degenerationstheorien trugen zum Bewußtsein eines Ausnahmezustandes bei, das den Nährboden charismatischer Herrschaft abgab. Das Theorem des permanenten Mutationsdrucks unterstrich die Notwendigkeit entschlossenen Handelns im Bereich des Gesundheitswesens und erzeugte auf diese Weise die für die charismatische Herrschaft unabdingbare Bewegung. Die Rassenhygiene entwarf eine rückwärts gewandte Utopie, deren Realisierung von der Inte132

grationsfigur des charismatischen Führers abhängig gemacht werden konnte. Das hohe Abstraktionsniveau der Leitmotive dieser rassenhygienischen Utopie trug zur Perpetuierung der charismatischen Legitimation der nationalsozialistischen >Gesundheitsfiihrung< bei. Charismatische Herrschaft ist spezifisch labil in dem Sinn, daß sie einerseits, da sie auf der Bewährung im Außergewöhnlichen gründet, auf Erfolg angewiesen ist, ihr andrerseits ein voller Erfolg durch die Aufhebung des außeralltäglichen Notstandes die Legitimationsbasis entzieht. »Flutet die Bewegung, welche eine charismatische Gruppe aus dem Umlauf des Alltags heraushob, in die Bahnen des Alltags zurück, so wird zum mindesten die reine Herrschaft des Charisma regelmäßig gebrochen. « 1 8 Liegt aber das Endziel charismatischer Herrschaft im Unendlichen, kann der Ausnahmezustand in Permanenz aufrechterhalten werden, indem die verwirklichten (Teil-)Lösungen stets auf neue Problemfelder und Nahziele verweisen. Solange eine zunehmende Zahl gesellschaftlicher Randgruppen als >Erbfeinde< ausgegrenzt, die ergriffenen Maßnahmen als unzureichend herausgestellt werden konnten, um die >Entartungsgefahn zu bannen, konnten die von der Rassenhygiene inaugurierten Bedrohungsvorstellungen nie völlig entkräftet, die Zukunftserwartungen nie vollständig eingelöst werden, wodurch sich der rassenhygienisch legitimierte Herrschaftsanspruch des Nationalsozialismus über das Gesundheitswesen kontinuierlich regenerierte. Der Erfolg der >Machtergreifung< hing wesentlich von der Amalgamierung konservativer und totalitärer Kräfte im neu etablierten Machtkartell aus Partei, Bürokratie, Wehrmacht und Wirtschaft ab. Die Balance konservativer und totalitärer Kräfte in der Konsolidierungsphase des nationalsozialistischen Regimes hatte die Ablenkung der politischen Energien des Nationalsozialismus auf Politikfelder zur Folge, die von den konservativen Partnern dieser Koalition geräumt wurden. Dazu gehörte auch die Bekämpfung ohnehin machtloser randständiger Minderheiten. Auf ideologischer Ebene bedeutete dies, daß die vagen NeuordnungsVorstellungen des Nationalsozialismus zurückgedrängt wurden, während die - auch im Sinne reaktionärer Ordnungspolitik akzeptablen - negativen Ideologieelemente zur Durchführung gelangten. Während etwa positive eugenische Maßnahmen, ζ. B. eine Bodenreform oder eine staatlich gelenkte Bevölkerungspolitik, über Ansätze nicht hinauskamen, wurden negative eugenische Maßnahmen, ζ. B. die Zwangssterilisierung - zumal sie streckenweise den Gesetzesvorschlägen der Weimarer Republik folgte - , von den konservativ-autoritären Kräften dem Fanatismus der Nationalsozialisten bereitwillig zugestanden. 19 Indem allein die negativen Ideologieelemente realisiert wurden, war die Bewegung, die für die charismatische Herrschaft unerläßlich war, waren die Teilerfolge und Scheinlösungen, die zur ständigen Rechtfertigung der unter Erfolgszwang stehenden charismatischen Führerschaft notwendig waren und immer nur Vorstufen zu neuen Lösungen sein konnten, nur noch denkbar in einer steten Verschärfung des Kampfes gegen ausgegrenzte Mar133

ginalgruppen. »In der Diskriminierung konnte es jedoch keinen unendlichen Progressus geben. Infolgedessen mußte hier die >Bewegung< schließlich in der >Endlösung< enden. « 2 0 Die in der Struktur des rassenhygienischen Paradigmas vorgegebene Tendenz zur Eskalation der Gewalt und zur E x pansion der Vernichtung mußte infolge der besonderen Bedingungen, denen das nationalsozialistische Regime unterworfen war, Wirklichkeit werden. Eine morphologische Analyse weist den Nationalsozialismus als polykratisches System aus. 2 1 Das nationalsozialistische Regime war kein monolithischer Block, keine straffe Hierarchie mit klaren Über- und Unterordnungsverhältnissen zwischen Befehlshabern und -empfängern, in der die Machtströme ungehindert und störungsfrei von oben nach unten flössen, sondern es war ein komplexes und kompliziertes Herrschaftsgefiige mit einem N e ben· und Gegeneinander relativ autonomer, konkurrierender Machtaggregate, die einander in permanenten Differenzierungs- und Penetrationsprozessen zu blockieren versuchten. Charismatischer Herrschaftsanspruch und polykratische Herrschaftsstruktur schließen einander keineswegs aus, vielmehr tendiert charismatische Herrschaft zur Destabilisierung rationaler Strukturen der Herrschaftsausübung wie der Bürokratie, denn »die bureaukratische Herrschaft ist spezifisch rational im Sinn der Bindung an diskursiv analysierbare Regeln, die charismatische spezifisch irrational im Sinn der Regelfremdheit«. 2 2 Die Genese der >Euthanasieaktion< legt die These nahe, daß die sukzessive Radikalisierung der nationalsozialistischen Rassenhygiene auf der Wechselwirkung von charismatischer Dynamik und struktureller Deformation beruhte. Bereits während der Konsolidierungsphase des Regimes hatten führerunmittelbare Befehlswege, Sonderbevollmächtigungen und außerordentliche Exekutivgewalten dazu beigetragen, die staatliche Verwaltung aufzulösen. Nach der Zäsur der Jahre 1937/38 ging mit zunehmender Loslösung des Führerwillens von Staat und Regierung das notwendige Mindestmaß an Zusammenarbeit zwischen den rivalisierenden Organen und damit auch die Planrationalität des politischen Entscheidungsprozesses endgültig verloren. Neben den staatlichen Behörden wucherten fuhrerunmittelbare Organisationen als Überreste zeitlich begrenzter Vollmachten. Das bedingte eine fortschreitende Zergliederung des Regimes in immer neue Machtzentren mit einander überschneidenden Aufgabengebieten und Zuständigkeitsbereichen, die sich verselbständigten und benachbarte Kompetenz- und Funktionskomplexe an sich zogen. Die exzeptionelle Position Hitlers innerhalb der polykratischen Struktur des nationalsozialistischen Herrschaftssystems beruhte wesentlich auf der KompetenzKompetenz, die ihm als charismatischem Führer zufiel. Denn in den Kompetenzkonflikten zwischen den konkurrierenden Machtaggregaten kam ihm insofern eine Schlüsselposition zu, als er regelmäßig angerufen wurde, im unübersehbaren Wirrwarr der Vollmachten und Zuständigkeiten die einander überlappenden Kompeten134

zen der verschiedenen Herrschaftsträger und Machthaber voneinander abzugrenzen und neu zu ordnen. Die labile Balance zwischen den antagonistischen Machtpotentialen sicherte Hitler eine relativ stabile Position im vielgliedrigen und -schichtigen Herrschaftsgefiige des >Dritten Reichest 2 3 Ein Deutungsrahmen, der die polykratische Struktur des Regimes in die Analyse des nationalsozialistischen Sozialrassismus einbezieht, stellt seine Brauchbarkeit unter Beweis, wenn es darum geht, einige erklärungsbedürftige Besonderheiten in der Entstehungsgeschichte und in den Verlaufsformen der >Euthanasieaktion< in einen Erklärungszusammenhang einzuordnen. Der Radikalisierungsprozeß rassenhygienischer Politik vollzog sich stufenförmig, wobei der Übergang von einer Ebene zur anderen dadurch bedingt wurde, daß entweder ein Machtzentrum einem anderen die Gewaltherrschaft über als erbkrank ausgegrenzte Randgruppen streitig machte oder aber in Aufgabenfelder und Zuständigkeitsbereiche eindrang, die bis dahin von keinem anderen Herrschaftsträger besetzt worden waren, um durch den Vorstoß in ein Machtvakuum die eigene Einflußzone auszudehnen. Bei der Ausweitung ihrer Machtbereiche bedienten sich die verschiedenen Herrschaftsträger regelmäßig des Mittels der Sonderbevollmächtigung und des Führerbefehls. Im Zusammenhang mit der steigenden Bedeutung des fuhrerunmittelbaren Befehlsweges verloren die verschärften Ausgrenzungsmaßnahmen ihre gesetzliche Grundlage, kehrten sich schließlich sogar gegen geltendes Recht, so daß gegenüber der Öffentlichkeit ein Zwang zur Geheimhaltung entstand. Die wiederholte Kompetenzverlagerung, die den sukzessiven Radikalisierungsprozeß begleitete, spiegelte eine Verschiebung der Gewichte im Herrschaftsgefiige des >Dritten Reiches< weg von der normativen Bürokratie des Regierungsapparates hin zu den außernormativen Exekutivgewalten wider. Der Normenstaat - verstanden als » das Regierungssystem, das mit weitgehenden Herrschaftsbefugnissen zwecks Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ausgestattet ist, wie sie in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten... zum Ausdruck gelangen« - wurde von innen her durch den Maßnahmenstaat - verstanden als »das Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt ist« 2 4 - ausgehöhlt, ein Vorgang, der für charismatische Herrschaftsformen typisch ist, denn die »genuin charismatische Herrschaft kennt... keine abstrakten Rechtssätze und Reglements und keine >formale< Rechtsfindung«. 25 Die Koexistenz von Normen- und Maßnahmenstaat, die durch den Herrschaftskompromiß des >Dritten Reiches< bedingt war, führte zu einem »halbierte(n) >RechtsstaatDritten Reiches< verursachte die Herausbildung außernormativer Machtapparate, die sich auf die Beherrschung gesellschaftlicher Außenseiter stützten, und 135

setzte die juristischen Kautelen gegen den Mißbrauch des staatlichen Machtmonopols außer Kraft. Die polykratische Struktur des nationalsozialistischen Regimes übertrug sich nach der >Machtergreifung< auch auf das Gesundheitswesen, wo eine Vielzahl von bürokratischen Apparaten um die >Gesundheitsfuhrung< des >Dritten Reiches< stritt. Dabei standen sich, ehe es 1939 infolge der zunehmenden Verzahnung von Staatsbehörden und Parteidienststellen zu einem Aufbrechen der erstarrten Fronten kam, Staats- und Parteibürokratie relativ unverbunden gegenüber. Von seiten des Staates war es die Gesundheitsabteilung des RMdl unter Ministerialdirektor Arthur Gütt, die versuchte, ihren Einfluß auf das Gesundheitswesen auszudehnen, um es im Sinne der Erb- und Rassenpflege umzugestalten - eine Zielsetzung, die Gütt bereits im Jahre 1932 als Medizinalrat in Wandsbek vertreten hatte und für die er nach der >Machtübernahme< seinen Vorgesetzten, Reichsinnenminister Wilhelm Frick, gewinnen konnte. Auf Grund des persönlichen Engagements des Reichsinnenministers wurde die Gesundheitsabteilung des RMdl, die sich des Sachverständigenbeirats fur Bevölkerungs- und Rassenpolitik bedienen konnte, erheblich aufgewertet. Durch das Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens vom 3. Juli 1934 27 konnte das RMdl seine Position konsolidieren. Dieses Gesetz sah die Gründung von staatlichen Gesundheitsämtern auf der Ebene der Stadt- und Landkreise vor, die von einem Amtsarzt geleitet werden sollten. Bis 1938 entstanden auf dem Gebiet des >Altreichs< einschließlich der von den Kommunen übernommenen städtischen Einrichtungen rd. 745 staatliche Gesundheitsämter mit rd. 1500 beamteten Ärzten. Zum Tätigkeitsgebiet der Gesundheitsämter gehörten 1. die Erb- und Rassenpflege einschließlich der Eheberatung (im Rahmen dieses Zuständigkeitsbereichs fielen den Gesundheitsämtern Aufgaben bei der Durchführung des GzVeN, des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (Blutschutzgesetz) vom 15. September 1935, des Gesetzes zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Ehegesundheitsgesetz) vom 18. Oktober 1935, der 1. Durchfuhrungsverordnung (DVO) über die Gewährung von Ehestandsdarlehen vom 20. Juni 1933 und der Verordnung (VO) über die Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien zu); 2. die gesundheitliche Volksbelehrung; 3. die Übernahme aller Fürsorgestellen der Wohlfahrtspflege (mithin die Fürsorge für Süchtige, Geschlechtskranke, Tuberkulöse, Körperbehinderte und Sieche); 4. die ärztliche Mitwirkung an Maßnahmen zur Förderung der Körperpflege und Leibesübungen; 5. die Schulgesundheitspflege. 28 Damit verfugte die Gesundheitsabteilung des RMdl über einen bürokratischen Apparat zur Erfassung randständiger Minderheiten, der die institutionelle Basis für Sterilisierung und >Kindereuthanasie< bildete. 136

Den staatlichen Gesundheitsämtern standen 628 Dienststellen des Amtes für Volksgesundheit gegenüber, die sich auf die Mitarbeit von rd. 22000 Ärzten (46% der approbierten Ärzte) stützen konnten. Die Gesundheitsämter waren zur Zusammenarbeit mit den Gauämtern für Volksgesundheit, dem Gesundheitsamt der SA und den SS-Verbänden verpflichtet. Die Sanitätsstellen der SS-Verfügungstruppen und -Totenkopfverbände wurden 1937 in die amtsärztlichen Rechte eingesetzt. 1937/38 wurden die Gesundheitsämter schließlich mit dem Kriminalbiologischen Institut des Reichskriminalpolizeiamtes (RKPA) gleichgeschaltet. 29 Die parteiamtliche >Gesundheitsführung< wurde von Gerhard Wagner beherrscht. Der gebürtige Oberschlesier, der nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg den Freikorps Epp und Oberland beigetreten war, trat im Jahre 1929 in die N S D A P ein. Als ärztlicher Sachverständiger wurde er in die Hilfskasse der N S D A P berufen, die Martin Bormann im Jahre 1930 aus der SA-Versicherung formte. Aus dieser Zeit rührte eine enge Freundschaft zwischen den beiden nationalsozialistischen Funktionären. Im September 1932 übernahm Wagner die Führung des N S D Ä B . Am 24. März 1933 wurde er zum Kommissar für die ärztlichen Spitzenverbände bestellt - im Juni 1933 ließ er sich offiziell als Nachfolger A. Stauders zum Vorsitzenden des Deutschen Ärztevereinsbundes und des Hartmannbundes wählen. In dieser Funktion trat er im August 1933 an die Spitze der neugegründeten Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD). Seit dieser Zeit leitete er auch den Sachverständigenbeirat für Volksgesundheit, aus dem sich im Mai 1934 das (Haupt-)Amt für Volksgesundheit der N S D A P entwickelte, dem auch die Gesundheitseinrichtungen der DAF, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und der HJ nachgeordnet waren. Über das im April 1933 gegründete Aufklärungsamt für Bevölkerungspolitik und Rassenpflege, das im Mai 1934 in Rassenpolitisches Amt der N S D A P umbenannt wurde, führte Wagner nominell die Oberaufsicht. Durch die Protektion Bormanns, der im Juli 1933 Stabsleiter des Stellvertreters des Führers (StdF) geworden war, wurde Wagner im Sommer 1933 zum Vertrauensmann des StdF für Fragen der Volksgesundheit berufen. Dadurch sicherte er sich die Rückendeckung der Parteileitung. Zudem war Wagner seit der >Kampfzeit< so gut mit Hitler bekannt, daß er jederzeit vorgelassen wurde. Im Jahre 1936 avancierte Wagner schließlich als Leiter der neueingerichteten Reichsärztekammer (RÄK) zum Reichsärzteführer. Bis zu seinem Tod am 25. März 1939 war Wagner der mächtigste Gegenspieler Gütts auf dem Gebiet der Erb- und Rassenpflege. 30 Der Dualismus von Partei und Staat, der in den Auseinandersetzungen zwischen Gütt und Wagner um die >Gesundheitsführung< des >Dritten Reiches< zum Ausdruck kam, prägte die >Gleichschaltung< des Gesundheitswesens in den Jahren 1933-1936, die eine wesentliche Voraussetzung zur Verwirklichung der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< darstellte.

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II. Die >Gleichschaltung< des Gesundheitswesens Die Diffusion des rassenhygienischen Paradigmas in die Theoriebildung der Medizin, besonders der Psychiatrie und Sozialhygiene, war zu Beginn des >Dritten Reiches< weitgehend abgeschlossen, so daß die Ausrichtung des Gesundheitswesens auf die Erb- und Rassenpflege durch die vom nationalsozialistischen Regime installierte >Gesundheitsfuhrung< der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung der Medizin keine grundlegend neue Richtung wies. Für die praktische Realisierung der rassenhygienischen Programmatik war die >Gleichschaltung< des Gesundheitswesens, die über weite Strecken zu einer Selbstgleichschaltung geriet, gleichwohl in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. 1. Durch die Erfüllung berufsständischer Forderungen, die von den ärztlichen Standesverbänden teilweise seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgetragen worden waren, sicherte sich das nationalsozialistische Regime zumindest zeitweilig 1 die Loyalität der Ärzteschaft weit über den Kreis der Ärzte hinaus, die sich bereits in der >Kampfzeit< der >Bewegung< angeschlossen hatten oder unmittelbar nach der >Machtergreifung< der Partei beigetreten waren, und gab den Affinitäten zwischen ärztlicher Standesideologie und völkischer Weltanschauung, zu denen auch das gemeinsame Bekenntnis zu sozialdarwinistisch-rassenhygienischen Ideen gehörte, eine materielle Basis. Durch die Schaffung von ärztlichen Standesvertretungen auf Reichsebene, mit der den Forderungen der ärztlichen Spitzenverbände entsprochen wurde, verstärkte die >GesundheitsführungBerliner Abkommen< zwischen Krankenkassen und Hartmannbund/Ärztevereinsbund zu erzwingen, ein Zusatzprotokoll zur 1911 verabschiedeten Reichsversicherungsordnung (RVO), das dem Hartmannbund ein Mitspracherecht bei der Zulassung zur Kassenarztpraxis, bei der Bestimmung der >Verhältniszahl< (Arzt-PatientRelation) und bei der Verteilung der Honorare einräumte. Der Hartmannbund, eine privatrechtliche Vereinigung, war damit erstmals gesetzlich anerkannt worden. Nachdem die wesentlichen Bestimmungen des >Berliner Abkommens< 1918 durch eine Notverordnung von der Reichsregierung festgeschrieben worden waren, kam es in den Inflationsjahren, als die finanzielle Situation der Kassenärzte auf Grund der quartalsweisen Abrechnung der Honorare prekär wurde, im Dezember 1923/Januar 1924 zu einem >ÄrztestreikGleichschaltung< der ärztlichen Spitzenverbände die Kontrolle über die gesamte Kassenärzteschaft zu gewinnen hoffte. Das Kalkül ging auf. Bis zum Ende des Jahres 1933 waren die Krankenkassenselbstverwaltungen zerschlagen: durch die Einsetzung eines Reichskommissars für die Krankenkassenverbände am 24. März 1933; das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (GWB) vom 7. April 1933, das die Entlassung politisch mißliebiger, hauptamtlicher Angestellter und Geschäftsführer der Krankenkassen ermöglichte, die auf der Grundlage der 2. V O des Reichsarbeitsministeriums zur Neuordnung der Krankenversicherungen vom 4. November 1933 durch >alte Kämpfen ersetzt wurden; das Gesetz über Ehrenämter in der sozialen Versicherung und der Reichsversorgung vom 18. Mai 1933, das die Abberufung von ehrenamtlich tätigen, auf Vorschlag einer Gewerkschaft ins Amt berufenen Mitgliedern der Selbstverwaltungsgremien durch Entzug des Vertrauens durch DAF und Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation (NSBO) ermöglichte; die Schließung der Eigeneinrichtungen der Krankenkassen - im Dezember 1933 wurden die letzten 38 Ambulatorien und Polikliniken aufgelöst. 8 Dem Hartmannbund, seit dem 24. März 1933 gleichgeschaltet«, wurden am 26. Juni 1933 auch diejenigen Kassenärztlichen Vereinigungen unterstellt, die bis dahin unab140

hängig von ihm tätig gewesen waren. Am 2. August 1933 wurden sie mit der Gründung der KVD zu einem Dachverband zusammengeschlossen. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts, der alle Kassenärzte angehören mußten, vertrat die KVD die Ärzteschaft in der Reichsversicherung. Einerseits wurde die Stellung der Kassenärzteschaft in den Vertragsverhandlungen mit den Sozialversicherungsträgern dadurch entscheidend gestärkt, daß das Nachfragemonopol der Krankenkassenverbände durch ein Angebotsmonopol der KVD ersetzt worden war. Andrerseits stellte die KVD ein effektives Instrument zur Disziplinierung der Kassenärzte dar, da es ihr oblag, über die Zulassung zur Kassenarztpraxis zu entscheiden und die von den Versicherungsträgern erstattete Gesamtvergütung unter den Kassenärzten zu verteilen. 9 Nicht zuletzt auf Grund der Neuordnung des Kassenarztwesens stieg das Einkommen der Ärzteschaft in den 1930er Jahren kontinuierlich an. 10 Die RÄO vom 13. Dezember 193511 bestimmte zudem, daß die ärztliche Tätigkeit fortab nicht mehr als Gewerbe galt, wie es durch die preußische Gewerbeordnung von 1845 verfugt worden war. Dies hatte einen finanziellen Aspekt, bedeutete es doch für die Ärzteschaft die Befreiung von der Gewerbe- und Umsatzsteuer. Vor allem aber hatte es einen psychologischen Effekt. Die Einreihung des Arztes unter die Gewerbetreibenden lief dem ärztlichen Standesdenken zuwider. In den 1920er Jahren war die vermeintliche >Krise der Medizin< häufig auch damit begründet worden, daß der Arzt zum >Kaufmann< herabgewürdigt werde. Es verwundert deshalb nicht, daß die Ärzteschaft die ihr vom nationalsozialistischen Regime angetragene »öffentliche Aufgabe«, nämlich »für die Erhaltung und Hebung der Gesundheit, des Erbguts und der Rasse des deutschen Volkes zu wirken«, 12 widerspruchslos übernahm, zumal die >Gesundheitsfuhrung< trotz der Propagierung eines Konzepts der >Biologischen MedizinKurierfreiheitDritte Reich< hinein keine Ärztekammern gebildet. Seit 1926 strebte die Führung der ärztlichen Spit141

zenverbände eine RÄK mit Zwangsmitgliedschaft und Berufsgerichtshoheit an. Auf dem Ärztetag von 1931 wurde mit überwältigender Mehrheit ein Antrag angenommen, in dem die Reichsregierung aufgefordert wurde, eine zu gründende RÄK als Körperschaft des öffentlichen Rechts mit gesetzlichen Vollmachten auszustatten. Diesem Verlangen entsprach schließlich die R Ä O von 1935. Die RÄK, der - vermittelt durch ihre Untergliederungen, die Ärztekammern und Bezirksvertretungen, die nun überall im Deut-, sehen Reich geschaffen wurden - alle Ärzte unterstanden, konnte Einfluß auf die Erteilung und den Entzug der >Bestallung< (Approbation) nehmen, wodurch sie ein Berufsverbot für Ärzte, deren >nationale Zuverlässigkeit in Frage gestellt wurde, erwirken konnte, übte die Berufsgerichtsbarkeit aus, war ermächtigt, das Niederlassungsrecht einzuschränken. Hinzu kamen die Befugnisse der K V D , die als Untergliederung der RÄK angeschlossen wurde. Die ärztlichen Spitzenverbände gingen in den neugegründeten Standesvertretungen auf, der Hartmannbund in den K V D , der Ärztevereinsbund in der RÄK, und wurden formell aufgelöst. Die Führung der ärztlichen Spitzenverbände hatte die Kontrolle über die gesamte Ärzteschaft erlangt, allerdings um den Preis der Selbstgleichschaltung. 14 2. Durch die Verdrängung, Vertreibung und Vernichtung jüdischer, sozialistischer und kommunistischer Ärzte im >Dritten Reich< gingen oppositionelle Alternativen zur etablierten Medizin verloren, die sich in der Weimarer Republik herausgebildet hatten. 15 Davon war die von jüdischen Ärzten getragene deutsche Sexualmedizin, deren Zentrum, das im Jahre 1919 von M. Hirschfeld gegründete Institut für Sexualmedizin, im Mai 1933 aufgelöst wurde, trotz der Konvergenzen sexualwissenschaftlicher Ansätze- etwa von Moll, Hirschfeld und Hirsch - zu eugenischen Konzeptionen ebenso betroffen wie die sozialistischen Programme zur Gesundheitsvorsorge und -fursorge, die im Umfeld des im Jahre 1927 von I. Zadek und E. Simmel gegründeten Vereins Sozialistischer Ärzte (VSÄ) entwickelt worden waren, aus dessen Reihen die sozialdarwinistisch-rassenhygienischen Konzeptionen vor 1933 - etwa von K. Frankenthal und G. Benjamin vehement kritisiert wurden. 1 6 Die Verfolgungsmaßnahmen richteten sich also gleichermaßen gegen Ärzte, die der Eugenik verpflichtet waren, wie auch gegen Ärzte, die der Euthenik anhingen. Dennoch wird man davon ausgehen können, daß die Verfolgung jüdischer, sozialistischer und kommunistischer Ärzte das Vordringen der Erb- und Rassenpflege in der Medizin eher erleichtert hat. Auf Seiten der Ärzteschaft riefen die Verfolgungsmaßnahmen gegenjüdische, sozialistische und kommunistische Kollegen kaum Widerspruch hervor. Dabei mag, besonders bei den Landärzten und den Jungärzten ohne Kassenpraxis, die sich in der 1926 gegründeten Reichsnotgemeinschaft nicht zugelassener Ärzte, seit 1929 in zunehmendem Maße im N S D Ä B sammelten, Konkurrenzneid eine Rolle gespielt haben. Die finanzielle Situation etwa der 5800 im Ersten Weltkrieg (not-)approbierten Jungärzte, die nach 142

Kriegsende auf den ärztlichen Arbeitsmarkt drängten, war prekär, wenn auch Schätzungen, die von »20% proletaroiden Ärzten« 17 sprachen, überzogen gewesen sein mögen. Antisemitismus und -kommunismus waren jedoch in der deutschen Ärzteschaft tiefer verwurzelt, als daß sie in ökonomischen Kategorien aufgingen. 18 Der Anteil der jüdischen Ärzte an der Gesamtärzteschaft des Deutschen Reiches dürfte Anfang 1933 schätzungsweise bei 15-17% (S-9000 von 52000 Ärzten) gelegen haben. Die Zahl der Ärzte, die als Sozialisten oder Kommunisten der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt waren, läßt sich dagegen nicht genau bestimmen. Allein in Berlin dürften es Anfang 1933 rd. 400-500 Ärzte gewesen sein. 19 Die Ausschaltungsmaßnahmen begannen bereits im März 1933, als beispielsweise aus den städtischen Krankenhäusern in Berlin und Breslau die jüdischen, sozialistischen und kommunistischen Ärzte ohne gesetzliche Handhabe entlassen wurden. Nachdem sich am 24. März 1933 die ärztlichen Spitzenverbände >gleichgeschaltet< hatten, forderten sie ihre Untergliederungen auf, »beschleunigt dafür Sorge zu tragen, daß aus Vorständen und Ausschüssen die jüdischen Mitglieder ausscheiden und Kollegen, die sich innerlich der Neuordnung nicht anschließen können, ersetzt werden«. 2 0 Außerdem sollten die Kassenärztlichen Vereinigungen gegenüber den Kassen und Behörden daraufdringen, jüdische und sozialistische Vertrauensärzte abzulösen. Bereits in den ersten Apriltagen waren die >Säuberungen< in den Reihen der ärztlichen Spitzenverbände abgeschlossen. Nachdem die nationalsozialistische Regierung mit dem Judenboykott vom 1. April 1933, der sich auch gegen die Praxen jüdischer Ärzte richtete, die Initiative an sich gezogen hatte, begannen die gesetzlichen Ausschaltungsmaßnahmen, die sich zunächst gegen die beamteten Ärzte richteten. Auf Grund des GWB wurden >nichtarischenichtarischenichtarischen< Ärzte an der Gesamtärzteschaft in den Großstädten im Jahre 1934143

also nach der ersten großen Verfolgungswelle - noch 26%, in Berlin sogar 4 3 % . 2 2 Ihnen wurde schrittweise die Existenzgrundlage entzogen. Bereits am 10. August 1933 ordnete Wagner in seiner Funktion als Kommissar für die ärztlichen Spitzenverbände an, daß sich >arische< Ärzte nur von >arischen< Ärzten vertreten lassen, nur an >arische< Ärzte überweisen, keine gemeinsame Praxis mit >nichtarischen< Ärzten unterhalten, >nichtarische< Ärzte nicht konsiliarisch hinzuziehen und nur in Notfällen Überweisungen von >nichtarischen< Kollegen annehmen durften. Für jüdische Medizinstudenten wurde mit dem Gesetz gegen die Überfullung deutscher Schulen und Hochschulen vom 25. April 1933 defacto ein Numerus clausus eingeführt. Im Wintersemester 1934/35 gab es im Deutschen Reich nur noch 263 jüdische Medizinstudenten. Endgültig wurde Juden das Medizinstudium am 5. Februar 1935 verwehrt, als eine Änderung der Prüfungsordnung für Ärzte und Zahnärzte die Zulassung zur ärztlichen Prüfung und zur Approbation von einem >Ariernachweis< abhängig machte. 23 Am 14. Juni 1937 schlug Reichsärzteführer Wagner, der ein Verfechter des radikalen Antisemitismus war, Hitler vor, die noch praktizierenden jüdischen Ärzte vollends mit Berufsverbot zu belegen. Daraufhin Schloß die K V D zum 1. Januar 1938 weitere 3000jüdische Ärzte von der Zulassung zu den Ersatzkassen aus. Im Mai 1938 wurde jüdischen Ärzten die Behandlung im Rahmen der Fürsorge verwehrt. Schließlich erklärte die 4. V O zum Reichsbürgergesetz vom 25. Juli 1938 die >Bestallungen< aller jüdischen Ärzte für erloschen. Von den 3152 jüdischen Ärzten, die zu diesem Zeitpunkt noch im >Altreich< praktizierten, durften nur 709 als >Heilbehandler< weiterhin jüdische Patienten betreuen. 24 Damit waren neun Zehntel der jüdischen Ärzte aus ihrem Beruf verdrängt. Insgesamt fielen den Berufsverboten rd. 10000 Ärzte zum Opfer. 5-6000 Ärzte wanderten aus dem Deutschen Reich aus. Rd. 500 der aus ihrem Beruf ausgeschlossenen Ärzte nahmen sich das Leben. 2 5 3. Durch den Aufbau von Einrichtungen zur Aus- und Fortbildung der Ärzteschaft im Zuge der >Gleichschaltung< des Gesundheitswesens wurde die Verbreitung der Erb- und Rassenpflege gefordert. Nach 1933 wurde der Aufbau rassenhygienischer Lehrstühle oder Institute in Berlin, Greifswald, Halle, Leipzig, Frankfurt und Gießen in Angriff genommen. Die Dozenten waren häufig führende Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene und Gauleiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP. Mit der Bestallungsordnung für Ärzte vom 25. März 1936 wurde die Rassenhygiene in den Kanon der medizinischen Prüfungsfächer aufgenommen. Prüfungen konnten in Berlin, Frankfurt, Königsberg, Jena und München abgelegt werden. An den meisten anderen Universitäten bestanden Lehrdeputate. Daß die Rassenhygiene zunächst nicht zum Pflichtfach für angehende Ärzte wurde, lag an dem Mangel an qualifizierten Dozenten. Die Bemühungen um die Einrichtung eines »Werbelehrstuhls« für Rassenhygiene an der Universität Leipzig, der im Zeitraum von 1933 bis 1941 nur dreieinhalb Jahre lang mit linientreuen, aber wissenschaftlich unbedeutenden Inhabern besetzt 144

werden konnte, verdeutlichen diese Schwierigkeiten. 26 Erst seit dem Erlaß der Bestallungsordnung für Ärzte vom 17. Juli 1939 wurde die Rassenhygiene an den medizinischen Fakultäten als Pflichtfach unterrichtet. Im 9. Semester ware drei Semesterwochenstunden »Menschliche Erblehre als Grundlage der Rassenhygiene«, im 10. Semester zwei Semesterwochenstunden »Rassenhygiene« vorgeschrieben. 1944 wurde die Semesterwochenstundenzahl für die rassenhygienischen Pflichtveranstaltungen verdoppelt. Zu Fortbildungszwecken entstanden im Jahre 1933 zwei Staatsmedizinische Akademien in Berlin-Charlottenburg und München, an denen alle im öffentlichen Dienst angestellten Ärzte in Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik geschult werden sollten. Die Lehrveranstaltungen wurden u. a. von den Rassenhygienikern Fischer, Lenz, Rüdin, Burgdörfer, Mollison und v. Verschuer abgehalten. Außerdem fanden auf der Ordensburg Vogelsang Schulungskurse für jährlich etwa 550 Amtsärzte statt. Seit 1934 führte das Rassenpolitische Amt am KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik erbbiologische und rassenhygienische Kurse für Medizinstudenten durch. Auch die Führerschule der deutschen Ärzteschaft, die 1935 in Alt-Rehse gegründet wurde, behandelte bei der Fortbildung von Gesundheitsfunktionären und Jungärzten bevorzugt Fragen der Erbbiologie, Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik. 27 Die Aufnahme der Rassenhygiene in die Aus- und Fortbildung der Ärzteschaft unterstützte die Diffusion rassenhygienischer Konzeptionen in die medizinische, speziell psychiatrische Theorie und Praxis, die vor allem in der erbbiologischen Bestandsaufnahme< zum Ausdruck kam. 4. Mit der >Gleichschaltung< des Gesundheitswesens wurden Maßnahmen zur Erfassung randständiger Minderheiten ergriffen, die eine wesentliche Voraussetzung für Sterilisierung und >Euthanasie< darstellten. 28 Knotenpunkte der erbbiologischen Bestandsaufnahme bildeten die Beratungsstellen für Erb- und Rassenpflege, die bei den Gesundheitsämtern eingerichtet wurden. Alle im Gesundheits- und Fürsorgebereich Tätigen waren verpflichtet, mögliche Erbkranke dem zuständigen Amtsarzt zu melden. Als erbkrank denunzierte Personen wurden vom Amtsarzt vorgeladen und untersucht, wobei für potentielle Sterilisanden, die dem GzVeN gemäß den Erbgesundheitsgerichten überantwortet wurden, >Sippentafeln< erstellt wurden. Auf diese Weise entstand der Grundstock für reichseinheitliche >Erbarchive< und >ErbkarteienErbkarteien< zuständig. Zum Teil überschnitten sich die von den Gesundheitsämtern erhobenen Daten mit den in den 145

Jahren 1935/36 entstehenden Katastern der erbbiologischen Bestandsaufnahme* in den Heil- und Pflegeanstalten einerseits, in den Gefängnissen und Zuchthäusern andrerseits. Diese beiden Schwerpunkte der erbbiologischen Datenerfassung hatten sich bereits vor 1933 abgezeichnet. In den Jahren 1928/29 häuften sich die Initiativen zur Datenerfassung im Gesundheitswesen. Dies war auf eine Interessenkongruenz von Rassenhygienikern und Erbpsychiatern, die die Hypothesen der >empirischen Erbprognose< bestätigen wollten, Bevölkerungspolitikern, die in der erbbiologischen Statistik die Grundlage für eine rassenhygienisch orientierte Sozialtechnik erblickten, und Sozialpolitikern und Funktionären in der Gesundheits- und Fürsorgeverwaltung, die eine Rechtfertigung dafür suchten, daß bei sinkenden Ausgaben eine immer schmalere Schicht von Bedürftigen versorgt wurde, zurückzuführen. In Sachsen und Bayern entstanden Kriminalbiologische Sammelstellen. Mitarbeiter des von Rüdin geleiteten Instituts für Genealogie und Demographie an der Psychiatrischen Forschungsanstalt versuchten seit Mitte der 1920er Jahre, in bayrischen >Inzuchtgebieten< mit Hilfe erbstatistischer Methoden den Nachweis zu erbringen, daß psychiatrische Formenkreise wie Schizophrenie, manisch-depressives Irresein, >Schwachsinn< usw. erblich bedingt seien. Auch das von Fischer geleitete KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik stellte Ende der 1920er Jahre erbbiologische Studien in ländlichen Gebieten an. Außerdem wertete es - in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Reichsamt - die Ergebnisse der >Gebrechlichenzählung< aus, einer Zusatzerhebung im Rahmen der Volkszählung von 1925, bei der erstmals Geisteskranke, Epileptiker, Körperbehinderte, Blinde, Taubstumme u. a. erfaßt worden waren. Seit etwa 1929/30 machten sich die im Deutschen Verband für Psychische Hygiene zusammengeschlossenen Psychiater daran, in den Heil- und Pflegeanstalten, Fürsorgeheimen und Arbeitshäusern eine >erbbiologische Bestandsaufnahme* durchzuführen. Dabei sollten mit Hilfe der Außenfürsorge auch die Familien von Anstaltsinsassen erfaßt werden. Ab 1928 versuchte Fischer im Auftrag der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaft, die laufenden rassenhygienischen und erbbiologischen Forschungsvorhaben auf statistischer Basis zu einem Großprojekt zusammenzufassen. Im Jahre 1930 wurde von den beteiligten Rassenhygienikern, Anthropologen und Erbpsychiatern das Forschungsprojekt »Rassenkundliche und erbpathologische Erhebungen am Deutschen Volk« beschlossen, das von der Rockefeiler Foundation gefördert wurde. 2 9 Unter dem nationalsozialistischen Regime intensivierte sich - parallel zum Aufbau einer umfassenden >Reichssippenstatistik< durch das von A. Gercke geleitete Amt für Sippenforschung (seit 1935: Reichsstelle für Sippenforschung), das für den Nachweis >arischer< bzw. >deutschblütiger< Abstammung alleinverantwortlich war 3 0 - die erbbiologisch-rassenhygienische Datenerhebung auf der Ebene der Heil- und Pflegeanstalten, Fürsorgeheime, Hilfsschulen, Taubstummen- und Blindenheime, Lungenheilstät146

ten, Alkoholikerasyle und Gefangnisse, die teilweise, z.B. in Thüringen, bereits auf Gauebene organisiert wurde. An diesen Erfassungsmaßnahmen wirkte eine Reihe von Psychiatern mit, die wenige Jahre später an der >Euthanasieaktion< teilnahmen. So wurde Paul Nitsche, Direktor der ältesten deutschen Irrenanstalt, der 1811 gegründeten Anstalt Sonnenstein/ Pirna, Psychiatrischer Referent in der Medizinalabteilung des RMdl, führendes Mitglied des Deutschen Verbandes für Psychische Hygiene, seit Dezember 1941 Leiter der medizinischen Abteilung der Zentraldienststelle der >EuthanasieaktionEuthanasieaktion< Verbindungsmann zum Sicherheitsdienst (SD) der SS, Carl Schneider, der in der »Forschungsstelle Wiesloch/Heidelberg« wissenschaftliche Forschungen an Euthanasieopfern betrieb, und Gerhard Kloos, bei der >Kindereuthanasie< Leiter der Kinderfachabteilung Stadtroda/ Thüringen, taten sich bei der erbbiologischen Datenerhebung in den Heilund Pflegeanstalten hervor. 3 1 U m die Datensammlungen in den Heil- und Pflegeanstalten zu koordinieren, wurde Ende 1935 mit Zustimmung des RMdl dem Deutschen Gemeindetag mit seinen Provinzialverbänden für das Anstaltswesen die Zuständigkeit für die zentrale Datensammlung übertragen. Daraufhin wurde die Erbbiologische Kommission des Deutschen Gemeindetages in eine Zentrale für die erbbiologische Bestandsaufnahme unter Leitung von W. Stemmler umgewandelt. Etwa ein Drittel der an den Anstalten der Provinzialverbände als Landesobmänner für die erbbiologische Bestandsaufnahme tätigen Psychiater bildete seit 1939 den harten Kern des Ärztestabes, der die Gutachter und Tötungsärzte der >Euthanasieaktion< stellte, ζ. B. Heinze, Lonauer, Pohlisch, Panse, Müller/Königslutter. 32 Im Strafvollzug wurden im >Dritten Reich< auch in Preußen - nach dem Vorbild Bayerns - Kriminalbiologische Untersuchungsstellen eingerichtet, die ihre Erhebungsergebnisse an die Kriminalbiologische Sammelstelle bei dem Strafgefangnis Berlin-Plötzensee weitergaben. Eine neuartige Erfassungsaufgabe bestand in der Beobachtung von Strafgefangenen, die dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933 gemäß als gefährliche Sittlichkeitsverbrechen - dazu gehörten Lustmörder und Vergewaltiger ebenso wie Exhibitionisten, Päderasten und Homosexuelle - in einer der 27 in Zuchthauslazaretten untergebrachten Kastrationsabteilungen entmannt worden waren. Eine Gruppe von kriminalbiologisch engagierten Psychiatern, darunter auch Nitsche, forderte 1934 die Institutionalisierung einer Reichszentrale für Kastrationsuntersuchungen. 33 Eine lückenlose Erfassung des >Erbgesundheitszustandes< der Gesamtbevölkerung erwies sich als unmöglich. Beispielsweise waren die Gesundheitsämter nicht in der Lage, alle Paare, die das Aufgebot bestellt hatten, dem Ehegesundheitsgesetz gemäß einer amtsärztlichen Untersuchung zu unter147

ziehen, so daß dieses Verfahren auf >Verdachtsfálle< beschränkt werden mußte. Die erbbiologische Bestandsaufnahme funktionierte wie ein »grobmaschiges Schleppnetz«. 34 Eine Ausnahme bildete das Zentrale Gesundheitspaßarchiv (GPA) der Hamburger Gesundhei tsver waltung. Es stellte die erste regionale Datensammlung dar, die nicht nur die Ergebnisse der >Erbbestandsaufnahme< der Amts-, Gefängnis- und Anstaltsärzte zusammenfaßte, sondern auch Angaben der Krankenhäuser und Irrenanstalten, der A O K und LVA, des Amtes fur Volksgesundheit, der Fürsorgeeinrichtungen und des Jugendamtes, der Polizei und der Gerichte usw. auswertete. Bis Kriegsbeginn waren 1,1 Mio. Hamburger im GPA erfaßt; 750000 Akten warteten auf ihre Bearbeitung; über 400000 >Gesundheitspässe< lagen zur Ausgabe bereit. Dieses statistische Material bildete die Grundlage dafür, daß in Hamburg — im Verhältnis zur Gesamteinwohnerzahl - die meisten Sterilisierungen und Kastrationen vorgenommen wurden. Zudem wurde in Hamburg eine der größten Zwangsarbeitsanstalten des Deutschen Reiches zur Asylierung von >Asozialem betrieben. 35 5. Bereits am 28. Juni 1933 forderte Reichsinnenminister Frick vor dem Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik, die Ausgaben »für Asoziale, Minderwertige und hoffnungslos Erbkranke« herabzusetzen. Dabei machte er die Rechnung auf, daß »der Geisteskranke etwa 4 R M . den Tag, der Verbrecher 3,50 RM., der Krüppel und Taubstumme 5-6 RM. den Tag« koste, während »der ungelernte Arbeiter nur etwa 2,50RM., der Angestellte 3,60RM., der untere Beamte etwa 4 , - R M . den Tag« 3 6 zur Verfugung habe. Reichsärzteführer Wagner beklagte 1934 im »Deutschen Ärzteblatt«, daß Geisteskranke, Fürsorgezöglinge, Blinde, Taubstumme, Trinker und Hilfsschüler den Staat jährlich 1,2 Mrd. R M kosteten. R. Gaupp, der Direktor der Tübinger Universitätsnervenklinik, errechnete im selben Jahr, daß für einen Hilfsschüler jährlich 573 RM, für einen bildungsbedürftigen Geisteskranken 950 R M und für einen blinden Schüler 1500 R M aufgebracht werden müßten, während ein ungelernter Arbeiter noch nicht einmal 2 R M pro Tag verdiene. 37 Angesichts dieser Zahlenspiele überraschte es nicht, daß im Zuge der >Gleichschaltung< des Gesundheitswesens die Ausgaben im Fürsorgebereich drastisch gekürzt wurden. Noch im Zeitraum vom Dezember 1938 bis zum Dezember 1939 sank die Zahl der Fürsorgeempfänger auf dem Gebiet des >Altreichs< um 229000 (15,8%); während in Österreich und im >Sudetengau< noch 26 Fürsorgeempfänger auf 1000 Einwohner kamen, waren es im >Altreich< nur noch 17. 38 Die Arbeitslosenunterstützung war zu diesem Zeitpunkt praktisch abgeschafft. Weitere Einsparungen waren nur noch bei der statistischen Gruppe der sonstigen Hilfsbedürftigen«, der >Asozialen< und der Insassen von Heil- und Pflegeanstalten, möglich. Den Heil- und Pflegeanstalten waren bereits seit 1933 systematisch die Mittel entzogen worden. In der Provinz Westfalen etwa gingen die Aufwendungen für die Heil- und Pflegeanstalten von 11,9 Mio. R M im Jahre 1929 auf8,2 Mio. R M 148

im Jahre 1935 zurück. In Hessen sank der tägliche Verpflegungssatz auf unter 40Pfg. - damit »konnte man einen erwachsenen Menschen unmöglich ernähren«. 39 Da sich die Lebensbedingungen in den Anstalten auf Grund der beträchtlichen Kürzungen der Pflegesätze dramatisch verschlechterten, wurde der Frankfurter Ordinarius fur Psychiatrie, Prof. Kleist, der 1938 vehemente Kritik an der Finanzpolitik der Innenministerien übte, nicht mehr zu seinen alljährlichen Inspektionsreisen durch die hessischen Anstalten eingeladen, sondern durch C. Schneider ersetzt, der die Kritik Kleists als unbegründet zurückwies. 40 Gleichzeitig mit der Kostensenkung im Anstaltsbereich ging das nationalsozialistische Regime dazu über, die kirchlichen Träger aus der Anstaltspflege zu verdrängen. Eine Vorreiterrolle übernahm dabei die preußische Provinz Hessen-Nassau. Pfarrer F. Happich, der Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Hephata/Treysa, Mitglied im CA für die IM, kommissarischer Leiter der Landeskirche von Kurhessen-Waldeck, mutmaßte bereits am 11. Juni 1937, daß die Landeshauptleute übereingekommen seien, daß in HessenNassau der erste Versuch unternommen werden sollte, die kirchlichen Anstalten aus- oder >gleichzuschaltenVernichtung lebensunwerten LebensGleichschaltungEuthanasieaktion< entwickelte. Die Landesheil- und Pflegeanstalt Hadamar wurde zu einer der sechs Tötungsanstalten ausgebaut, in deren Gaskammern im Rahmen der >Erwachseneneuthanasie< mehr als 70000 Menschen - davon über 10000 in Hadamar - getötet wurden. Als Durchgangs- und Beobachtungsanstalten dienten die Heil- und Pflegeanstalten Weilmünster, Herborn, Scheuern, Eichberg und Kalmenhof. In den Anstalten Eichberg und Kalmenhof existierten außerdem >KinderfachabteilungenKindereuthanasie< gemordet wurde. 1943 wurde in Hadamar eine >Mischlingsabteilung< für Kinder von Juden und Zigeunern eingerichtet. Schließlich wurden in Hadamar zwischen Anfang Juli 1944 und Anfang April 1945 polnische und russische Zwangsarbeiter aus den umliegenden Arbeitslagern umgebracht. 41

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III. Negative Eugenik in den Anfangsjahren des >Dritten Reiches
Hitlerbewegung< entwickelte, in der nationalsozialistischen Programmatik verankerte. Biologismus und Sozialdarwinismus zogen sich wie ein roter Faden durch die Weltanschauung Hitlers. In »Mein Kampf« erörterte er in Anlehnung an die malthusianische Übervölkerungstheorie die Frage, wie der infolge des beschleunigten Bevölkerungswachstums drohenden »Hungerverelendung« vorzubeugen sei. Eine Geburtenregelung nach französischem Vorbild lehnte er unter Benutzung eines sozialdarwinistischen Argumentationsschemas ab: »Die Natur selber pflegt ja in Zeiten großer N o t . . . zu einer Einschränkung der Vermehrung der Bevölkerung von bestimmten Ländern oder Rassen zu schreiten; allerdings in ebenso weiser wie rücksichtsloser Methode. Sie behindert nicht die Zeugungsfähigkeit an sich, wohl aber die Forterhaltung des Gezeugten, indem sie dieses so schweren Prüfungen und Entbehrungen aussetzt, daß alles minder Starke, weniger Gesunde wieder in den Schoß des ewig Unbekannten zurückzukehren gezwungen wird... Damit ist aber die Verminderung der Zahl eine Stärkung der Person, mithin aber letzten Endes eine Kräftigung der Art. « 3

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Der Neomalthusianismus wurde mit Hilfe des darwinistischen Prinzips der natürlichen Zuchtwahl zurückgewiesen. Daran schloß sich die rassenhygienische These an, daß das Zusammenspiel von Geburtenbeschränkung und Gesundheitswesen in der modernen Zivilisation zu einer schleichenden >Entartung< führe. »Sowie erst einmal die Zeugung als solche eingeschränkt und die Zahl der Geburten vermindert wird, tritt an Stelle des natürlichen Kampfes ums Dasein, der nur den Allerstärksten und Gesündesten am Leben läßt, die selbstverständliche Sucht, auch das Schwächlichste, j a Krankhafteste u m jeden Preis zu >rettenVernichtung lebensunwerten Lebens< eigentlich nahe. Ein völkischer Staat hätte auf diese Weise dem Naturgeschehen Geburtshilfe leisten können. Tatsächlich spielte Hitler schon auf dem Nürnberger Parteitag von 1929 mit diesem Gedanken: »Würde Deutschlandjährlich eine Million Kinder bekommen und 700000 bis 800000 der Schwächsten beseitigen, dann würde am Ende das Ergebnis vielleicht sogar eine Kräftesteigerung sein. Das Gefährlichste ist, daß wir selbst den natürlichen Ausleseprozeß abschneiden (durch Pflege der Kranken und Schwachen)... Der klarste Rassenstaat der Geschichte, Sparta, hat diese Rassengesetze planmäßig durchgeführt.« 6

An dieser Stelle scheint schon frühzeitig das Euthanasiepostulat formuliert. Indessen wird man die Rhetorik Hitlers nicht überbewerten dürfen, gehörte doch der Verweis auf die spartanischen Kindestötungen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur rassenhygienischen Phraseologie, zumal es bis zur Mitte der 1930er Jahre an weiteren Belegen für die Artikulierung des Euthanasiepostulats durch Hitler fehlt. Nicht die >EuthanasieSyphilitikern, Tuberkulösen, Kretins, K r ü p peln und anderen erblich Belastetem als Maßnahmen negativer Eugenik benannt: »Der völkische Staat... muß dafür Sorge tragen, daß nur, wer gesund ist, Kinder zeugt; daß es nur eine Schande gibt: bei eigener Krankheit und eigenen Mängeln dennoch Kinder in die Welt zu setzen, doch eine höchste Ehre: darauf zu verzichten Er hat, was irgendwie ersichtlich krank und erblich belastet und damit weiter belastend ist, zeugungsunfähig zu erklären und dies praktisch auch durchzusetzen... Eine nur sechshundertjährige Verhinderung der Zeugungsfähigkeit und Zeugungsmöglichkeit seitens körperlich Degenerierter und geistig Erkrankter würde die Menschheit nicht nur von einem unermeßlichen Unglück befreien, sondern zu einer Gesundung beitragen, die heute kaum faßbar erscheint. « 8 Neben Hitler, dessen Äußerungen i m Vergleich zu manchem anderen A u tor, der für Sterilisierung und >Euthanasie< eintrat, gemäßigt waren, griffen auch A. Rosenberg, von dem die Forderung stammte, rückfälligen Verbrechern die Fortpflanzungsfähigkeit zu nehmen, 9 und W. Darré, der den Vorschlag unterbreitete, den heiratsfähigen weiblichen Nachwuchs in vier K a sten einzuteilen, von denen die beiden unteren unfruchtbar gemacht werden sollten, 1 0 das eugenisch motivierte Sterilisierungspostulat auf. Es bleibt festzuhalten, daß die rassenhygienisch indizierte Sterilisierung ein konstitutives Element der eugenischen Programmatik des Nationalsozialismus war, wobei nationalsozialistische Theoretiker kein Hehl daraus machten, daß die rassenhygienisch indizierte Sterilisierung auch unter Z w a n g ausgeführt und keineswegs nur auf Extremfälle beschränkt werden sollte. Dieser Prog r a m m p u n k t wurde nach der Machtübernahme zielstrebig in praktische Politik umgesetzt.

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b) Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses: die Legalisierung der rassenhygienisch indizierten Sterilisierung

Am 2. Juni 1933 bildete Reichsinnenminister Frick, dessen Interesse an Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik aus der Veröffentlichung eines Buches zu dieser Thematik im Jahre 1933 hervorging, 11 den Reichsausschuß für Bevölkerungsfragen, der bereits von seinem Vorgänger Severing eingerichtet worden war, in einen Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik um. Diesem Gremium gehörten im Jahre 1934 u. a. die Rassenhygieniker Ploetz, Rüdin, Lenz und Burgdörfer, der Rassenkundler H.F.K. Günther, Ministerialdirektor Gütt und Ministerialrat Linden aus dem RMdl, Reichsärzteführer Wagner, Landwirtschaftsminister Darré, Reichsjugendführer v. Schirach und der Reichsführer-SS (RFSS) Himmler an. Vor diesem Beirat hielt Frick am 28. Juni 1933 ein programmatisches Referat, in dem er mit Hilfe rassenhygienischer Argumentationsfiguren, die beinahe wortwörtlich in die Begründung des GzVeN aufgenommen wurden, die erbpflegerisch angezeigte Unfruchtbarmachung rechtfertigte. Dabei berief er sich einerseits auf den vermeintlich bedrohlichen Geburtenrückgang - angeblich fehlten schon »etwa 30% an Gebärleistungen der deutschen Frauen, um den Volksbestand in der Zukunft zu sichern«12 - , andrerseits warnte er, daß bereits bis zu 20% der Bevölkerung als so >erbgeschädigt< anzusehen seien, daß ihre Fortpflanzung unerwünscht sei. Als besonders gefährlich sah es Frick an, die eugenisch-rassenhygienische Degenerationstheorie aufgreifend, daß sich »schwachsinnige und minderwertige Personen« zwei- bis dreimal stärker fortpflanzten als die »begabtere wertvolle Schicht«, die »in wenigen Generationen nahezu vollkommen ausgestorben sein«13 werde. Zudem, argumentierte Frick, hätten infolge der »übertriebenen Fürsorge für das Einzelindividuum« ohne Rücksicht aufVererbungslehre, >Lebensauslese< und Rassenhygiene die Ausgaben für »Minderwertige, Asoziale, Kranke, Schwachsinnige, Geisteskranke, Krüppel und Verbrecher« das Maß dessen überschritten, was von der gesunden Bevölkerung getragen werden könne. Dies aber müsse »den Arbeitswillen der Gesunden ertöten und das Volk zu Rentenempfängern erziehen«.14 Frick leitete daraus die beiden Kernforderungen ab, »die Ausgaben für Asoziale, Minderwertige und hoffnungslos Erbkranke herabzusetzen und die Fortpflanzung der schwer erblich belasteten Personen zu verhindern«. 15 Kurz nach seiner Rede-vermutlich Anfang juli 1933, nur zwei Wochen vor der Verabschiedung des Gesetzes — wurde dem Beirat der Entwurf des GzVeN mit dem Auftrag vorgelegt, das gesamte Gesetzeswerk an einem Tag zu beraten. Dies brachte zum Ausdruck, mit welcher Eile das nationalsozialistische Regime die Legalisierung der rassenhygienischen Sterilisierung in die Wege leitete. Dem entsprach, daß Hitler die Verabschiedung des von Frick eingebrachten GzVeN in der Kabinettssitzung vom 14. Juli 1933 gegen den entschiede154

nen Widerspruch seines Vizekanzlers Franz v. Papen durchsetzte. Dieser verwies nicht nur zu Recht auf die Unsicherheiten der Erbprognose etwa im Falle der Schizophrenie, vor allem machte er den zu erwartenden Widerstand der katholischen Kirche geltend - das Gesetz wurde in derselben Kabinettssitzung beraten, in der die Regierung dem Reichskonkordat zustimmte. Papen regte an, die Unfruchtbarmachung von der Einwilligung des Betroffenen abhängig zu machen - das hätte den Rückgriff auf den Gesetzentwurf des Preußischen Landesgesundheitsrates von 1932 bedeutet - oder wahlweise die Unterbringung des Betroffenen in einer Anstalt freizustellen. Diese Regelung wurde, obwohl sich Frick in der Kabinettssitzung unter Hinweis auf die Kosten der Verwahrung skeptisch gab, in den Ausfuhrungsverordnungen zum GzVeN insofern aufgegriffen, als Anstaltsinsassen erst bei ihrer Entlassung unfruchtbar gemacht werden mußten. Hitler entgegnete auf die Einwände seines Vizekanzlers, »daß alle Maßnahmen berechtigt seien, die der Erhaltung des Volkstums dienten«. 16 Die rassenhygienisch indizierte Sterilisierung sei »moralisch unanfechtbar, wenn man davon ausgehe, daß sich erbkranke Menschen in erheblichem Maße fortpflanzten, während andererseits Millionen gesunder Kinder ungeboren blieben«. 17 Der Begründungszusammenhang, in den Frick und Hitler das GzVeN einbetteten, bestand aus Versatzstücken, die dem rassenhygienischen Paradigma entlehnt waren. Der Nationalsozialismus fugte der sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildenden Argumentationsfigur zur Legitimierung rassenhygienischer Sterilisierungen keine genuin nationalsozialistische Komponente hinzu. Das GzVeN, das sich über weite Strecken an den preußischen Gesetzentwurf von 1932 anlehnte, bestimmte, daß ein Erbkranker unfruchtbar gemacht werden konnte, »wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden«. 1 8 In dieser verklausulierten Formulierung kam das Dilemma der Erbprognostik zum Ausdruck. Da die Erblichkeit der im Gesetz angeführten Krankheiten nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden konnte, galt im Sinne des Gesetzes als erbkrank auch, wer an einer Krankheit litt, die zwar nicht nachgewiesenermaßen nach den Mendelschen Regeln vererbt wurde, deren Erblichkeit aber auf Grund der Familienanamnese angenommen oder mit Hilfe der dubiosen Methoden der >empirischen Erbprognose< statistisch belegt wurde. Bemerkenswert ist ferner, daß als erbkrank auch galt, wer von einer der im Gesetz genannten Krankheiten geheilt worden war. Dagegen hatte der Gesetzgeber die >AnlageträgerVolksgemeinschaft< gemessen wurde. Dan ach galten im Rückgriff auf einen schon von v. Hoffmann geäußerten Gedanken gerade die leichteren Fälle als sterilisierungsbedürftig. 19 Als Erbkrankheiten im Sinne des Gesetzes galten: 1. angeborener Schwachsinn*, 2. Schizophrenie, 3. manisch-depressives Irresein, 4. erbliche Fallsucht, 5. erblicher Veitstanz (Huntingtonsche Chorea) 6. erbliche Blindheit (einschließlich erblich bedingter Verminderungen des Sehvermögens etwa durch eine Trübung der Augenlinse infolge von Staren oder Katarakten), 7. erbliche Taubheit (einschließlich erblich bedingter, an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit), 8. schwere körperliche Mißbildungen erblicher Art (ζ. B. erbliche Knochenbrüchigkeit, primordialer Zwergwuchs, angeborener Klumpfuß, angeborene Hüftverrenkung u. v. a.), 9. schwerer Alkoholismus. In dieser Indikationsstellung waren die von Rüdins Institut für Genealogie und Demographie gewonnenen Ergebnisse der Erbprognose in den vier wichtigsten psychiatrischen Erbkreisen< berücksichtigt worden. 2 0 96% aller unter dem nationalsozialistischen Regime sterilisierten Personen wurden auf Grund der Diagnosen >Schwachsinn Schwachsinns* unfruchtbar gemachten Menschen waren wiederum zwei Drittel Frauen. Dabei stellte sich die Diagnose >Schwachsinn< als besonders problematisch heraus. Da die Erblichkeit der verschiedenen Formen der Geistesschwäche - Idiotie, Imbezillität, Debilität - im Einzelfall schwer nachweisbar war, ersetzte der Gesetzgeber den Begiff des erblichen durch den des >angeborenen Schwachsinns*, der alle Fälle umfaßte, die nicht als exogen verursacht nachgewiesen werden konnten. Die Beweislast wurde also dem Sterilisanden aufgebürdet. Die Diagnose sollte sich auf die Intelligenzprüfung, die >Lebensbewährung< und die Familienanamnese stützen. Die Heranziehung von Kriterien sozialer Diagnostik deutete bereits daraufhin, daß sich die Grenzen zwischen angeborenem Schwachsinn* und der landläufigen Dummheit* 21 rasch verschieben würden. Der Psychiater J . Lange, der bereits an den Beratungen des Ausschusses für Bevölkerungswesen und Eugenik des Preußischen Landesgesundheitsrates teilgenommen hatte, setzte sich dafür ein, »die Grenze des sterilisierungsbedürftigen Schwachsinns dort anzunehmen, wo er hilfsschulbedürftig macht«. 2 2 Dementsprechend galten die Hilfsschüler als ein »Hauptbeobachtungskreis«. Die Kommentatoren des Sterilisierungsgesetzes schätzten, daß 63% der Hilfsschüler »un156

terwertig« 23 seien. Über das Kriterium der >Lebensbewährung< fand die soziale Diagnostik einen weiteren Zugang zum GzVeN. Indem asozialen Psychopathenmoralischer Schwachsinn< unterstellt wurde, 2 4 konnte man sie in die rassenhygienischen Sterilisierungen einbeziehen, ohne daß >Psychopathie< eine Indikation gewesen wäre. Einen Zugriff auf >asoziale Psychopathen< bot auch die Diagnose schwerer Alkoholismus, der für sich genommen nicht als Krankheitsbild galt, aber als »Hinweis auf eine schwere psychopathische Degeneration« 25 gewertet wurde. Auf Grund der Diagnosen > angeborener Schwachsinn< und schwerer Alkoholismus konnten also Menschen unfruchtbar gemacht werden, weil sie eine Hilfsschule besucht hatten, wegen Diebstahls vorbestraft waren oder unter Alkoholeinfluß eine Straftat begangen hatten. Dennoch wurde in Fachkreisen bedauert, »daß asoziale Psychopathen (mit Ausnahme der Alkoholisten) trotz ihrer minderwertigen Erbmasse nicht unfruchtbar gemacht werden können«. 2 6 Die Dimension sozialer Diagnostik, die der rassenhygienisch indizierten Sterilisierung im Nationalsozialismus inhärent war, wird augenfällig, wenn man sich verdeutlicht, daß eine der wenigen Krankheiten, deren Erblichkeit einwandfrei feststand, die Bluterkrankheit, nicht in das GzVeN aufgenommen wurde, da sie, gemessen an der Zielsetzung des Gesetzgebers, »den Volkskörper zu reinigen und die krankhaften Erbanlagen allmählich auszumerzen«, 27 bedeutungslos war. Als wesentliches Ergebnis des Gesetzes erschien seinen Kommentatoren der »Primat und die Autorität des Staates, die er sich auf dem Gebiet des Lebens, der Ehe und der Familie endgültig gesichert hat«. 2 8 Der Antrag auf Unfruchtbarmachung konnte zum einen vom Sterilisanden selbst bzw. von seinem gesetzlichen Vertreter oder Pfleger gestellt werden. Zum anderen waren Amts- und Gerichtsärzte sowie Leiter von Heil- und Pflege-, Kranken- und Strafanstalten antragsberechtigt. In Württemberg wurden in den Jahren 1935 bis 1941 78% der Anträge auf Unfruchtbarmachung von Amtsärzten, 18% von Anstaltsärzten und nur 4% von den Betroffenen selbst oder ihren gesetzlichen Vertretern gestellt. Die Zahlen schwankten regional sehr stark. In Hamburg, wo die Sterilisierungspraxis von einer intensiven Propagandakampagne begleitet wurde, stellten 61% der Sterilisierten den Antrag auf Unfruchtbarmachung >freiwillig< - wobei von den Amtsärzten, ihrem gesetzlichen Auftrag gemäß, Druck ausgeübt worden sein dürfte; in Bremen dagegen waren es unter 10%. Insgesamt wird der Anteil der freiwillig beantragten Unfruchtbarmachungen bei etwa 1 % gelegen haben. 29 Eine Schlüsselstellung im Antrags verfahren nahmen die Amtsärzte ein. Eine Anzeigepflicht gegenüber dem Amtsarzt bestand für alle mit der Heilbehandlung befaßten Personen, insbesondere für approbierte Ärzte. Durch diese Anzeigepflicht wurde das gegenüber dem preußischen Gesetzentwurf von 1932 eingeschränkte Antragsrecht mehr als ausgeglichen. 157

Über die Anträge zur Unfruchtbarmachung entschieden die rd. 220 Erbgesundheitsgerichte, die den Amtsgerichten angegliedert wurden. Sie setzten sich aus einem Amtsrichter als Vorsitzendem, einem beamteten Arzt und einem weiteren Arzt, der mit der Erbgesundheitslehre vertraut sein sollte, zusammen. Diese Erbgesundheitsgerichte, die in nichtöffentlicher Sitzung tagten, waren befugt, Ermittlungen anzustellen, Zeugen und Sachverständige einzuvernehmen, den Sterilisanden vorfuhren und ärztlich untersuchen zu lassen. Gegen die Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte waren Berufungen möglich, die von den den Oberlandesgerichten angeschlossenen Erbgesundheitsobergerichten endgültig entschieden wurden. War auf Unfruchtbarmachung erkannt worden, mußte die Sterilisierung innerhalb von zwei Wochen durch einen approbierten Arzt an einer der von den obersten Landesbehörden ermächtigten Krankenanstalten durchgeführt werden. Zunächst war nur die chirurgische Sterilisierung zulässig; das Zweite Änderungsgesetz zum GzVeN vom 4. Februar 1936 30 gab auch die Strahlensterilisierung frei. Anstaltsinsassen brauchten erst bei ihrer Entlassung oder Beurlaubung unfruchtbar gemacht zu werden. Daher konnten durch die Verschiebung ausstehender Entlassungen und die Verlegung in geschlossene Abteilungen zahlreiche Anstaltsinsassen vor der Sterilisierung bewahrt werden. Das führte allerdings dazu, daß sich die Anstalten immer stärker von der Außenwelt abkapselten, worunter zwangsläufig die ambulante Psychiatrie litt. 31 Polizeilicher Zwang konnte an vier Stellen des Verfahrens angewandt werden: 1. Die Amtsärzte duften die angezeigten Sterilisanden zwangsweise vorführen lassen. 2. Nach Sterilisanden, die nicht freiwillig vor den Erbgesundheitsgerichten erschienen, wurde polizeilich gefahndet. 3. Die Erbgesundheitsgerichte konnten Sterilisanden zur Untersuchung, zur Abwendung der Fluchtgefahr und zur Verhinderung des Geschlechtsverkehrs für die Dauer des Verfahrens zwangseinweisen lassen. 4. Wurde eine Unfruchtbarmachung angeordnet, konnte der zuständige Amtsarzt den Sterilisanden, wenn er nicht freiwillig zum Eingriff erschien, von der Polizei mit Gewalt auf den Operationstisch legen lassen. Diese Form der Gewaltanwendung war in 3-30% aller Fälle notwendig. 3 2 In gewisser Weise gehörte auch das Verbot von Sterilisierungen, sofern sie nicht medizinisch oder eugenisch indiziert waren, sowie von Kastrationen, soweit sie nicht medizinisch indiziert waren, zu den Zwangsmaßnahmen. Obwohl im Unterschied zur >Euthanasie< bei der Sterilisierung Verwaltungs- und Gerichtsinstanzen mit einem gesetzlich vorgeschriebenen Antrags- und Entscheidungsverfahren beauftragt waren, ließ das Gesetz den Erbgesundheitsgerichten einen so weiten Ermessensspielraum und stattete sie mit so großen Machtmitteln aus, daß die Sterilisierungspraxis weit vom Prinzip der Rechtsstaatlichkeit entfernt war. Insofern bereitete die Form der Gesetzgebung die spätere Gesetzlosigkeit vor. 3 3 158

Das GzVeN stand mit drei weiteren Gesetzeswerken, die den Sektor negativer Eugenik tangierten, in engerem Zusammenhang: 1. Das Gesetz gegen gefahrliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933 34 regelte nicht nur die Zwangseinweisung von Straftätern in Heil- und Pflegeanstalten, Arbeitshäuser und Trinkerheilanstalten, die Strafverschärfung für Rückfalltäter und die Sicherungsverwahrung, sondern ermöglichte auch die Kastration von gefährlichen SittlichkeitsverbrechernAltreichs« lebenden Menschen im zeugungs- und gebärfähigen Alter mußten sich einer rassenhygienisch indizierten Sterilisierung unterziehen. Drei Viertel aller Unfruchtbarmachungen entfielen auf den Zeitraum von 1934 bis 1939, da nach Kriegsbeginn - und das bedeutete auch: mit dem Start der >Euthanasieaktion< - die Verfahren vor den Erbgesundheitsgerichten bis auf die dringendsten Fälle ausgesetzt wurden. Den nach dem GzVeN vollzogenen Sterilisierungen fielen - da sich das vor allem mit der Salpingektomie, die ohnehin einen erheblichen Eingriff darstellt, verbundene Risiko durch die Gewaltanwendung gegen sich wehrende Sterilisanden beträchtlich erhöhte - etwa 5-6000 Frauen und 600 Männer zum Opfer. 3 8 Die Durchführung des GzVeN stieß vielfach auf »gesellschaftliche Verweigerung«. 3 9 Deshalb erwies sich der Einsatz von Zwangsmaßnahmen in vielen Fällen als unumgänglich. Auch machten die Betroffenen von den ihnen zu Gebote stehenden Rechtsmitteln lebhaft Gebrauch. Aus diesem Grunde ergriff der Gesetzgeber Maßnahmen, um Beschwerden gegen die Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte zu erschweren. Nachdem bereits mit der 2. V O zur Ausführung des GzVeN vom 29. Mai 159

1934 die Rücknahme von Beschwerden ermöglicht worden war, verkürzte das Änderungsgesetz zum GzVeN vom 26. Juni 1935 die Beschwerdefrist von einem Monat auf vierzehn Tage. Schon am 25. Februar wurde den Erbgesundheitsgerichten in der 3. V O zur Ausführung des GzVeN die Möglichkeit eingeräumt, für nicht entmündigte Sterilisanden, die jedoch wegen ihres »krankhaften Geisteszustandes« ihre Belange angeblich nicht selbständig wahrnehmen konnten, für die Dauer des Verfahrens einen Pfleger zu bestellen. Diese gesetzliche Regelung legalisierte die Praxis der >SammelpflegschaftenAnlageträger< gedacht. Auch wurde allgemein bedauert, daß das Gesetz lediglich über den U m w e g der Diagnosen des angeborenen Schwachsinns< und des schweren Alkoholismus den Zugriff auf die Gruppe der asozialen Psychopathen< erlaubte. In den Vorschlägen zu einer extensiveren Indikationsstellung kam die dem rassenhygienischen Paradigma immanente Tendenz zur Eskalation der negativen Eugenik zum Tragen. Auch bahnte sich der Übergang von der Verhütung zur »Vernichtung lebensunwerten Lebens< an. Das Verbindungsglied stellten Schwangerschaftsabbrüche aus eugenischer Indikation dar. In der Ära des Nationalsozialismus enthielt der §218 RStGB keinerlei Indikation für den gesetzlich erlaubten Schwangerschaftsabbruch. Im Mai 1933 war das gesetzliche Abtreibungsverbot sogar noch einmal verschärft worden, was sich vor allem im verhängten Strafmaß niederschlug. Vor dem »Dritten Reich< waren Abtreibungen vorwiegend mit Geld- bzw. Gefängnisstrafen von weniger als drei Monaten belegt worden; nach 1933 nahm der Anteil höherer Gefängnisstrafen deutlich zu. Geldstrafen wurden 1932 noch in 32,75%, 1935 nur noch in 10,65% aller Fälle ausgesprochen. Entsprechend einer Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahre 1927 blieb jedoch die Schwangerschaftsunterbrechung aus medizinischer Indikation als »übergesetzlicher Notstand« straffrei. 43 Abtreibung aus eugenischer Indikation wurde bereits im März 1934- also zwei Monate nach Inkrafttreten des GzVeN - vom Hamburger Erbgesundheitsgericht - ebenfalls unter Berufung auf einen »übergesetzlichen N o t stand« — freigegeben. Im »Mustergau Hamburg«, dessen Gesundheitsverwaltung, von einer zwanzigfach höheren Fortpflanzungsrate von »Schwachsinnigen« unter großstädtischen Verhältnissen ausgehend, plante, im Laufe von fünfJahren 35-40000 »Erbminderwertige« unfruchtbar zu machen, liefen zu Beginn des Jahres 1934 die Verfahren vor den Erbgesundheitsgerichten mit beispielloser Geschwindigkeit an. Anfang September 1934 waren in H a m burg bereits über 700 Sterilisierungen ausgeführt worden, was einem Viertel aller bis dahin im Deutschen Reich vorgenommenen Unfruchtbarmachungen entsprach. Bis 1945 wurden in Hamburg insgesamt über 24000 Personen (rd. 6% aller Sterilisierten) unfruchtbar gemacht. Es verwundert daher nicht, daß die Initiative in der Abtreibungsfrage von Hamburg ausging. Nach einer Entscheidung des Hamburger Erbgesundheitsgerichts war die Einwilligung der Schwangeren Voraussetzung zur Abtreibung aus eugeni161

scher Indikation. Inwieweit von seiten der Amtsärzte Druck aufschwangere Frauen ausgeübt wurde, läßt sich nur mutmaßen. Einer von ihnen schrieb etwa unter Anträge zur Unfruchtbarmachung schwangerer Frauen: »In dubio pro Volksgemeinschaft!« 44 Die Abtreibungsfrage wurde von Reichsgesundheitsführer Wagner aufgegriffen. Bereits am 8. Januar 1934 hatte Wagner von Reichsinnenminister Frick die Einbeziehung von Abtreibungen aus erbpflegerischen Gründen in die Sterilisierungsgesetzgebung verlangt, was am Einspruch Gütts scheiterte. Daraufhin erwirkte Wagner auf dem Reichsparteitag von 1934 von Hitler die Erlaubnis, außer Unfruchtbarmachungen auch Abtreibungen zur Verhütung erbkranken Nachwuchses< durchführen zu lassen. In einem vertraulichen Rundschreiben Wagners vom 13. September 1934 an alle Gauleiter des Amtes für Volksgesundheit und Amtsleiter der Landes- und Provinzialstellen der K V D wurde die Abtreibung bei schwangeren Frauen, die von den Erbgesundheitsgerichten als erbkrank eingestuft worden waren, bei gleichzeitiger Unfruchtbarmachung sowie die Schwangerschaftsunterbrechung bei >erbgesunden< Frauen, die ein Kind von einem als erbkrank eingestuften Mann erwarteten, ohne gesetzliche Grundlage angeordnet. Bei dieser ungesetzlichen Maßnahme wurde den Ärzten von der Reichsleitung der N S D A P , die nachträglich die Genehmigung für bereits vollzogene Schwangerschaftsabbrüche zu geben versprach, Straffreiheit zugesichert. Dieses Rundschreiben sandte Wagner auch dem RMdl zur Kenntnisnahme, wobei er hervorhob, daß Hitler betont habe, er werde in seiner Eigenschaft als »der Oberste Gerichtsherr« dafür sorgen, daß die beteiligten Ärzte straffrei blieben, »denn über den Paragraphen stände das Wohl des deutschen Volkes«. 4 5 Da Hitler das Vorgehen Wagners deckte und im Oktober 1934 die Entgegennahme eines Vortrags durch Frick und Gütt zur Abtreibungsfrage ablehnte, 46 sah sich das RMdl gezwungen, auf die Forderungen des Reichsärztefuhrers einzugehen. Gütt versuchte dabei, einen am 3. Juli 1934 vom Kabinett verworfenen Entwurf eines Gesetzes gegen Mißstände im Gesundheitswesen, der die Freigabe von Abtreibungen aus medizinischer Indikation vorgesehen hatte, wieder ins Spiel zu bringen, indem er die eugenische Indikation zur Schwangerschaftsunterbrechung bei der erbkranken Frau in den Gesetzestext aufnahm. 4 7 Grundsätzlich erklärte sich Gütt gegenüber Wagner auch bereit, die eugenische Indikation zur Abtreibung bei der erbgesunden Frau, die von einem erbkranken Mann schwanger war, in den Gesetzentwurf einzubeziehen. Er gab jedoch zu bedenken, daß versucht werden könnte, »eine solche Bestimmung zu reinen Abtreibungszwecken zu mißbrauchen«. 48 Dabei sei der Nachweis der Vaterschaft gerade bei unehelicher Schwangerschaft schwer zu fuhren und mache es notwendig, die Vormundschaftsgerichte in das Verfahren einzuschalten. Wenn man aber die außereheliche Schwangerschaft aus diesen Erwägungen heraus von den Bestimmungen eines Abtreibungsgesetzes ausnehme, führe dies zu einer kaum tragbaren Ungleichbehandlung von ehelichen und unehelichen Müt162

tern. Diese Argumentation zielte augenscheinlich darauf ab, die erbpflegerisch angezeigten Abtreibungen auf erbkranke Frauen zu beschränken. In einer Sitzung im RMdl am 28. Januar 1935, an der auch Wagner teilnahm, teilte Gütt als die Auffassung Fricks mit, daß der Fall der erbgesunden Mutter, die ein Kind von einem erbkranken Mann erwartete, aus dem anstehenden Gesetzentwurf gegen Mißstände im Gesundheitswesen ausgeklammert und in einem späteren Änderungsgesetz zum GzVeN behandelt werden sollte. Dieser Auffassung Schloß sich Wagner nach einigem Bedenken an. Der Reichsärztefiihrer bestand aber darauf, vom Grundsatz der Freiwilligkeit, der im Entwurf des RMdl gewahrt worden war, abzugehen und die erbpflegerisch angezeigte Zwangsabtreibung einzuführen. 49 Der Entwurf des Gesetzes gegen Mißstände im Gesundheitswesen konnte sich letztlich nicht durchsetzen. Der Passus zur Freigabe der Abtreibung aus erbpflegerischen Gründen wurde schließlich als Änderungsgesetz zum GzVeN vom 26. Juni 1935 50 in die Sterilisierungsgesetzgebung aufgenommen. Dieses Gesetz trug die Züge einer Kompromißlösung. Es bestimmte, daß bei einer - verheirateten oder unverheirateten - Schwangeren mit ihrer Einwilligung bis zum Ende des sechsten Schwangerschaftsmonats eine Abtreibung vorgenommen werden durfte, wenn von einem Erbgesundheitsgericht rechtskräftig auf die Unfruchtbarmachung der Frau erkannt worden war. Wagner hatte durchgesetzt, daß sowohl ledige als auch verheiratete Frauen unter das Gesetz fielen; Gütt hatte erreicht, daß die Abtreibungen auf Fälle beschränkt wurden, in denen die Frau als erbkrank galt. Daß der Gesetzestext die Einwilligung der Schwangeren voraussetzte, besagte nicht, daß die Abtreibungen freiwillig vonstatten gingen. Amtsärzte und Erbgesundheitsgerichte erzwangen häufig eine Einwilligung oder aber holten erst gar keine Zustimmung ein. Oft wurde ohne Wissen und gegen den Willen der Frauen abgetrieben. Betroffen waren schätzungsweise 30000 Frauen. S1 Im Juni 1935 wurden auf Anordnung des RMdl Gutachterstellen für Schwangerschaftsunterbrechung aus medizinischer Indikation eingerichtet, die zunächst von den Bezirksstellen der KVD, nach Gründung der RÄK von den ärztlichen Bezirksvereinigungen getragen wurden. Von diesen Gutachterstellen wurde die medizinische Indikation jedoch außerordentlich eng gefaßt, so daß wenig Aussicht bestand, eine Genehmigung zur gesetzlichen Schwangerschaftsunterbrechung zu erhalten, selbst wenn die Schwangere krebs- oder lungenkrank war. Am 19. September 1940 erhielten die Gesundheitsämter und Reichsstatthaltereien einen Geheimerlaß, in dem sie aufgefordert wurden, Fälle, in denen eine Schwangerschaft aus ethischen, rassischen oder erbpflegerischen Gründen angezeigt erscheine, an das RMdl zu melden. Diese Fälle wurden vom Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden, der ursprünglich als Schlichtungsstelle für strittige Fälle von Unfruchtbarmachung und Schwangerschaftsunterbrechung eingerichtet worden war, mittlerweile jedoch zur Zentrale der >(Kinder-)Euthanasie< geworden war, begutachtet. 52 163

Abtreibungen wurden schließlich auch an schwangeren Zwangsarbeiterinnen, insbesondere aus Polen und der Sowjetunion, durchgeführt. Im März 1940 war noch verfugt worden, daß Zwangsarbeiterinnen aus Polen im Falle einer Schwangerschaft in ihre Heimat abgeschoben werden sollten. Diese Regelung wurde im Juli 1943 endgültig aufgehoben. Zwangsarbeiterinnen konnten fortan freiwillig - inwieweit Lagerärzte und -führer Druck ausübten, bleibt dahingestellt - abtreiben, wenn kein >rassisch hochstehendes< Kind zu erwarten war, das dem Lebensborn ausgeliefert werden mußte. 5 3 Das Zustandekommen des Änderungsgesetzes zum GzVeN war ein Musterbeispiel dafür, wie sich die Programmatik negativer Eugenik im polykratisch strukturierten Herrschaftssystem des Nationalsozialismus radikalisierte. Die nachträgliche Legalisierung einer illegalen Praxis, das Einholen einer Sondervollmacht beim charismatischen Führer, der Dualismus von Partei und Staat waren Kennzeichen dieser systemimmanenten Dynamik. Mit dem Übergang zur Abtreibung war ein erster Schritt in Richtung auf die >Vernichtung lebensunwerten Lebens< vollzogen. Aus der sich radikalisierenden Sterilisierungspraxis entwickelte sich schließlich auch die institutionelle Basis der >EuthanasieaktionEuthanasie< Das Zweite Änderungsgesetz zum GzVeN vom 4. Februar 1936, das lediglich die Unfruchtbarmachung durch Röntgen- und Radiumstrahlen der chirurgischen Sterilisierung gleichsetzte, war verabschiedet worden, ohne daß ein Zusatz eingefügt wurde, der besagte, daß vor der Unfruchtbarmachung eines Parteimitglieds der zuständige Gauleiter unterrichtet werden sollte. Nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen der staatlichen und der parteiamtlichen >Gesundheitsführung< war diese Textpassage gestrichen worden. Die Reichsärzteführung, vertreten durch Wagner und seinen Stellvertreter F. Bartels, ging daraufhin im Jahre 1936 dazu über, öffentlich Kritik an der Sterilisierungspraxis zu üben. Angriffspunkt war die problematische Diagnose des angeborenen SchwachsinnsLebensbewährung< dagegen zu wenig Beachtung geschenkt werde, laufe wie Bartels es ausdrückte - jeder »Bauernjunge aus Masuren«, der wegen mangelnder Schulbildung die Frage, wann Kolumbus geboren wurde, nicht beantworten könne, Gefahr, unfruchtbar gemacht zu werden. 5 4 Wagner sprach sich dafür aus, »daß lieber jemand zu wenig, als einer zuviel sterilisiert wird«. 5 5 Mit diesen Stellungnahmen vollzog die parteiamtliche >Gesundheitsfuhrung< eine überraschende Kehrtwendung. Gütt stellte irritiert fest, daß »der Standpunkt der Angreifer bis 1936 ein geradezu umgekehrter« 164

gewesen sei. Reichsjustizminister Gürtner habe »sich des öfteren über die zu scharfe Anwendung des Gesetzes beschwert«. 56 Das RMdl intervenierte angesichts der öffentlichen Verurteilung der Durchfuhrungsbestimmungen des GzVeN beim StdF, zu dessen Stab der Reichsärztefuhrer gehörte, und bezichtigte Wagner der »Sabotage am Nationalsozialismus«. 57 Auf Anraten Bormanns verfaßte Wagner - in Zusammenarbeit mit seinen Mitarbeitern Bartels und Pakheiser - eine umfangreiche Denkschrift zur Durchführung des GzVeN, die Heß sich zueigen machte und zur Vorlage bei Hitler an den Chef der Reichskanzlei, Staatssekretär H. H. Lammers, weiterreichte. Diese Denkschrift, die Hitler am 14. Juni 1937 vorgelegt wurde, wies auf einige tatsächlich bestehende Mißstände in der Sterilisierungspraxis hin, beispielsweise auf die Nichtberücksichtigung der »Bewährung in der Familie« bei Schizophrenen, die Annahme einer erblichen Fallsucht immer dann, wenn eine äußere Ursache nicht nachweisbar war, wodurch die Beweislast beim Sterilisanden lag u. a. Vor allem kritisierte Wagner die Überbewertung der Intelligenztests bei der Diagnostik des angeborenen SchwachsinnsGesundheitsführung< auf die Sterilisierungspraxis zu verstärken. »Durch das Räderwerk des nach starren Formen ausgerichteten Staatsapparats« würden die Zielsetzungen des Gesetzes zermahlen, »darum muß die Bewegung ein Mandat erhalten, die Richtung ihres Gesetzes zu steuern, dabei nur verantwortlich dem Volk und seinem ewigen Bestand«. 5 8 Als Sofortmaßnahme forderte Wagner die Bevollmächtigung eines Beauftragten der Partei zur einheitlichen Steuerung des Gesetzes. Gütt urteilte in einem Brief an Himmler vom 21. Mai 1938, er müsse »dies als einen Versuch ansehen, Konkurrenzunternehmen auf Kosten des Staates aufzuziehen, die letzten Endes nur zu Schwierigkeiten und zum Verwischen der Zuständigkeiten fuhren müssen«. 5 9 Vorsicht sei geboten, wolle man nicht »im öffentlichen Gesundheitsdienst ein Durcheinander wie auf vielen anderen Gebieten erreichen«. 60 U m der Forderung der Reichsärzteführung nach einer übergeordneten Schiedsstelle fur strittige Fragen bei der Durchführung des GzVeN zu entsprechen, erarbeitete die Medizinalabteilung des RMdl auf Anordnung des Staatssekretärs H. Pfundtner den Entwurf eines Dritten Änderungsgesetzes zum GzVeN, der die Einrichtung eines Reichserbgesundheitsgerichts vorsah. Dies wurde von Wagner, der sogar verlangte, die Erbgesundheitsgerichte durch Ausschüsse für Erbgesundheitspflege zu ersetzen, abgelehnt. Lammers Schloß sich dieser Auffassung mit der Begründung an, »daß er dem Führer zur Zeit nicht mit dem Plan eines Reichserbgesundheitsgerichts kommen könne, da sich beim Führer in letzter Zeit eine immer stärker werdende Abneigung dagegen entwickelt habe, die Zuständigkeiten der Gerichte zu verstärken«. 61 Er votierte für die Einrichtung eines Ausschusses für Erbgesundheitsfragen beim RMdl. Der Vorschlag schien eine Alternative zu der von Gütt befürchteten »Übertragung eines Teiles des öffentlichen 165

Gesundheitsdienstes auf die Ämter für Volksgesundheit der N S D A P « 6 2 aufzuzeigen. Im Mai 1938 kam es auf der Basis eines Rapprochements zwischen Wagner, Lammers und Pfundtner zur Erarbeitung eines weiteren Gesetzentwurfs zur Änderung des GzVeN, demzufolge die Erbgesundheitsgerichte beibehalten, aber um zwei nationalsozialistische Laienrichter, von denen einer eine Frau sein sollte, erweitert werden sollten. Ferner sah der Entwurf die Einrichtung eines Ausschusses für Erbgesundheitsfragen beim RMdl vor, bei dessen Besetzung RMdl, RJM und StdF zusammenwirken sollten. An diesen Ausschuß sollten sich die Erbgesundheitsobergerichte regelmäßig wenden, wenn sie vorhatten, eine Grundsatzentscheidung zu fallen oder von den Entscheidungen anderer Erbgesundheitsgerichte abzuweichen. 63 Der massiven Intervention des RJM war es zu verdanken, daß dieser Entwurf nicht verwirklicht wurde - Vertreter des RJM wiesen in den Verhandlungen darauf hin, daß Gürtner für den Fall, daß der Entwurf beibehalten werden sollte, anregen werde, auf Erbgesundheitsgerichte ganz zu verzichten. 64 Obwohl es nicht zu einem Erlaß dieses Dritten Änderungsgesetzes zum GzVeN kam, wurde der bereits um die Jahreswende 1937/1938 insgeheim gegründete Reichsausschuß für Erbgesundheitsfragen aufrechterhalten. Zu seinem Aufgabenbereich gehörten Entscheidungen über strittige Erbgesundheitsgerichtsurteile, Eheverbote und Ehestandsdarlehensbescheide sowie die Genehmigung von Abtreibung aus ethischer oder eugenischer Indikation. Ferner bestanden Verbindungen zu verschiedenen Forschungsvorhaben des Rassenpolitischen Amtes, die häufig über die rassenhygienischen Universitätsinstitute liefen, und zur Rassenhygienischen Forschungsstelle des Reichs gesundheitsamtes, die im Jahre 1941 als Kriminalbiologisches Institut dem RSHA angegliedert wurde. Der Reichsausschuß umgab sich, um seine Aufgaben wahrnehmen zu können, mit einem Kreis von Gutachtern, zu denen renommierte Psychiater, Neurologen, Gynäkologen, Pädiater u. a. zählten. Über die Funktion als oberste Schiedsstelle in Fragen der Erbpflege hinaus verstand sich dieses Gremium als eine zentrale Planungsinstanz auf dem Gebiet der Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik, weshalb es sich bald in Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden umbenannte. Als bürokratischer Apparat des Reichsausschusses fungierte die Unterabteilung Erb- und Rassenpflege in der Gesundheitsabteilung des RMdl (IVb) unter Ministerialrat Herbert Linden. Die Leitung des Reichsausschusses lag dagegen bei der Kanzlei des Führers. Sie wurde von Hitler nach der Übernahme des Reichspräsidentenamtes durch Erlaß vom 17. November 1934 als Kanzlei des Führers der N S D A P gegründet. Dieser halbamtliche Stab, dessen leitende Angestellte überwiegend Parteifunktionäre waren, betonte die Volksführerrolle Hitlers neben seinen Ämtern als Reichskanzler, Staatsoberhaupt und Parteichef. Von daher ergab sich auch der Aufgabenbereich der Kanzlei des Führers, die Bear166

beitung aller persönlich an Hitler gerichteten Eingaben. Das Nebeneinander von Kanzleien (Kanzlei des Führers, Reichskanzlei, Präsidialkanzlei), Sekretären und Adjutanten war für Hitlers Führungsstil charakteristisch. Mit dem zunehmenden Rückzug Hitlers aus den Regierungsgeschäften und den sich häufenden Rivalitäten und Kompetenzkonflikten, die nach einer Führerentscheidung verlangten, gewann die Vermittlung von Führervorträgen, -erlassen und -befehlen und damit die Funktion der Mittlerinstanzen an Bedeutung. Dies galt auch für die Kanzlei des Führers, die als führerunmittelbarer, außernormativer Machtapparat zusehends in die Kompetenzbereiche der Reichsministerien eindrang. Der Reichsausschuß bot der Kanzlei des Führers die Möglichkeit, auf ein Aufgabenfeld vorzustoßen, das an sich außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs lag, um ihre Einflußzone gegenüber anderen Herrschaftsträgern auszuweiten. Den Reichsausschuß mit der Kanzlei des Führers zu assoziieren, lag einerseits unter sachlichen Gesichtspunkten nahe, da in der Kanzlei des Führers zahlreiche Eingaben aus der Bevölkerung zu Fragen der Erb- und Rassenpflege eingingen. Andrerseits stellte die Einschaltung der Kanzlei des Führers eine Kompromißlösung zwischen der staatlichen und der parteiamtlichen >Gesundheitsfuhrung< dar. Denn die Kanzlei des Führers war zwar ein parteiamtliches Organ, wegen der unklaren Dienststellenbezeichnung und der sich überlappenden Zuständigkeitsbereiche war die Abgrenzung der Kanzlei des Führers zum Stab des StdF jedoch von vornherein schwierig, so daß sich zwangsläufig eine Rivalität zwischen Reichsleiter Philipp Bouhler, dem Leiter der Kanzlei des Führers, und Bormann, dem Stabsleiter des StdF, der wiederum Reichsärztefuhrer Wagner die Rückendeckung der Parteileitung verschaffte, ergab. Da Wagner aber am Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden beteiligt wurde, vermochte er seinen Einfluß auf dieses Gremium zu wahren. 65 Nach dem Tode Wagners verlor die Reichsärzteführung jedoch ihren Einfluß auf den Reichsausschuß. Am 20. April 1939 wurde Leonardo Conti, ein Welschschweizer deutscher Abkunft, der bereits 1923 der SA, 1927 der N S D A P beigetreten war - wie sein Vorgänger Wagner also ein >alter Kämpfen - und im >Dritten Reich< bis dahin als Ministerialrat im preußischen Innenministerium, preußischer Staatsrat und Stadtmedizinalrat von Berlin in der staatlichen und als Gauamtsleiter für Volksgesundheit und Spitzenfunktionär des N S D Ä B in der parteiamtlichen >Gesundheitsführung< tätig geworden war, zum Reichsgesundheitsfuhrer berufen, d. h. er wurde Leiter der RÄK, der K V D , des N S D Ä B und des Hauptamtes für Volksgesundheit. Kaum im Amt, gelang es ihm, den höchsten Medizinalbeamten des Deutschen Reiches, Ministerialrat Gütt, zu entmachten, dessen Nachfolge er, zum Staatssekretär befördert, im August 1939 antrat. Obwohl Conti nunmehr in Personalunion der staatlichen und der parteiamtlichen >Gesundheitsfiihrung< vorstand, verlor er bald an Einfluß, abgesehen von seiner persönlichen Führungsschwäche nicht zuletzt deshalb, weil ihm die Reichs167

ärztefiihrung, die wohl zu Recht annahm, er strebe die Bildung eines Reichsgesundheitsministeriums an, miß traute. Diese Machteinbuße trat im Jahre 1941 zutage, als sich Conti gezwungen sah, auf die Vorstellungen von einem >ReichsgesundheitswerkEuthanasieaktion< zum Rivalen des Reichsgesundheitsfuhrers Conti. In diesem Kompetenzkonflikt hatten sich die Fronten verschoben. Es standen sich nunmehr nicht mehr Partei- und Staatsbehörden gegenüber. Vielmehr handelte es sich beim Reichsausschuß um einen Machtapparat, der sich aus einer Parteidienststelle, Teilen der Ministerialbürokratie und einem Expertenstab zusammensetzte. Dieser Machtapparat setzte sich erfolgreich gegen die Hegemonie der fusionierten staatlichen und parteiamtlichen obersten >Gesundheitsfuhrung< zur Wehr. Auf diese Weise entstand die zentrale Planungsinstanz der >EuthanasieaktionAsozialen< Aus drei Gründen wurde die >Psychopathie< - manifestiert als >Asozialität< oder Kriminalität - nicht als Indikation zur rassenhygienischen Sterilisierung in das GzVeN aufgenommen. Zum ersten sollte der Krankheitsbegriff »unter keinen Umständen auf asoziales Menschentum angewandt werden«, 1 um die im Konzept der >psychopathischen Persönlichkeiten vollzogene Ausgrenzung der >Psychopathie< aus dem Kreis der Krankheiten nicht in Frage zu stellen. Zum zweiten sollten Erbkranke im Sinne des GzVeN nicht mit >Asozialen< und Kriminellen gleichgesetzt werden, um die rassenhygienisch indizierte Sterilisierung nicht mit dem Strafrecht in Verbindung zu bringen. Zum dritten erschien das Wissen um die Natur der >psychopathischen Persönlichkeiten als noch nicht ausreichend, um sie in das GzVeN einzubeziehen. 2 Dennoch fehlte es nicht an Versuchen, die Sterilisierung auf >asoziale Psychopathen auszudehnen. Dazu diente die Verkopplung der >Psychopa168

thie< mit den im GzVeN aufgeführten Indikationen zur rassenhygienischen Sterilisierung, vor allem mit dem angeborenen >moralischen Schwachsinn^ dem schweren Alkoholismus - gegen den Buchstaben des Gesetzes sollten auch minder schwere Fälle von Trunksucht in die Unfruchtbarmachungen einbezogen werden, wenn sie »Asozialensippen« 3 entstammten-, aber auch mit körperlichen Mißbildungen, die als Stigmata der >psychopathischen Persönlichkeit interpretiert wurden. Vorstöße zur Erweiterung des GzVeN in Richtung auf die asozialen Psychopathen< blieben hingegen erfolglos. Daneben gab es legislatorische Initiativen zur Neuschaffung eines Gesetzes zur >Ausmerze< von asozialen PsychopathenGemeinschaftsfremden< voneinander abgegrenzt. In den Katalog der Zwangsmaßnahmen gegen >Gemeinschaftsfremde< wurde - ein Jahrzehnt nach Inkrafttreten des GzVeN - auch die Sterilisierung aufgenommen. Zusammen mit der Todesstrafe ergänzte sie die Maßnahmen der Verwahrung in Fürsorgeanstalten und Konzentrationslagern. 4 Das Instrument der Zwangsasylierung von >Asozialen< wurde bereits seit 1933 angewandt. Anläßlich der Eröffnung der zweiten Staatsmedizinischen Akademie in München am 28. August 1933 forderte Walter Schultze, Staatskommissar für das Gesundheitswesen im Bayerischen Innenministerium, daß leicht Geisteskranke und rückfällige Straftäter durch Absonderung in Arbeitshäusern >ausgemerzt< werden sollten, und fuhr fort: »Diese Politik hat ihren Anfang teilweise schon in unseren heutigen Konzentrationslagern gefunden. « s Schultze spielte darauf an, daß zu diesem Zeitpunkt in den K Z auch schon Landstreicher, Bettler, Zigeuner, »Asozialem Kleinkriminelle, Prostituierte, Homosexuelle, Tuberkulosekranke usw. interniert wurden. Die Zwangsasylierung von >Asozialen< entsprach der Schwerpunktverlagerung in der Wohlfahrtspflege von der Fürsorge zur Vorsorge, die keineswegs nur von der N S V getragen wurde, sondern auch von den Trägern der freien Wohlfahrtspflege. Beispielsweise teilte der Vorstand des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge imjuli 1933 mit, man habe sich, da das GzVeN eine Halbheit darstelle, an den Vorsitzenden der Politischen Zentralkommission der N S D A P , Heß, gewandt, um ein Bewahrungsgesetz zu erwirken, das Zwangsmaßnahmen gegen »Arbeitsscheue, Gewohnheitsverbrecher, Landstreicher, Trinker, Rauschgiftsüchtige und Prostituierte«, die als »Parasiten am Volkskörper« bezeichnet wurden, ermöglichen sollte. 6 Der Zustimmung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände gewiß, bat die N S V die IM und den Caritas verband am 28. August 1933 um Unterstützung der Polizeibehörden bei einer fur den September 1933 geplanten Razzia gegen Bettler. 7 Auf der Hauptversammlung der drei deutschen Wandererfürsorgeverbände (Deutscher Herbergsverein, Gesamtverband der deutschen Ver169

pflegungsstationen, Zentralvorstand deutscher Arbeiterkolonien), die am 12./13. Oktober 1933 in Goslar stattfand, wurden diese Razzien ausdrücklich begrüßt. Pastor Paul G. Braune, der im Jahre 1940 wegen seines Protests gegen die >Euthanasieaktion< von der Gestapo verhaftet werden sollte, sprach sich - als Geschäftsführer des Deutschen Herbergsvereins - auf der Goslarer Tagung dafür aus, »berufsmäßige Bettler«, »krankhafte Wanderer« und »notorische Trinker« zwangsweise in Konzentrationslagern unterzubringen, wie es im schlesischen Görlitz und im pommerschen Meseritz bereits geschehen war. Auch dachte Braune an die Sterilisierung von A s o zialem unter den Wanderern, deren Anteil er allerdings nur auf 2,7% bezifferte. 8 Pastor Adolf Speimeyer beschrieb auf der Goslarer Tagung den >anlagebedingten Wanderen als >dämonischen Typusangeborene< und >erbliche< Arbeitsscheu. 9 In seinen Forderungen nach der Absonderung der arbeitsscheuen Wanderen stimmte Braune auch mit Carl Schneider, der bis Ende 1933 als Arzt in Bethel tätig war und im Rahmen des >Euthanasieprogramms< als Ordinarius für Psychiatrie in Heidelberg Forschungen an Euthanasieopfern anstellte, überein. Auch Schneider verlangte für die Wanderer ein System der Asylierung, das alle Anstaltsformen bis hin zum KZ einschließen sollte. 10 Auch die Versammlung des Deutschen Vereins gegen den Alkoholismus, die vom 22. bis 25. Oktober 1933 in Berlin unter der Schirmherrschaft von Innenminister Frick zusammentrat, befürwortete - nachdem das GzVeN die Sterilisierung bei schweren Formen des Alkoholismus ermöglicht hatte-ein Reichsbewahrungsgesetz, das die Einweisung schwerer Fälle in »arbeitsund konzentrationslagerähnliche Dauerbewahranstalten« 11 regeln sollte. Die Verbände, die sich der Bekämpfung des Alkoholismus verschrieben hatten, darunter auch die kirchlichen Enthaltsamkeitsvereine, arbeiteten den Fürsorge- und Gesundheitsämtern, Polizeibehörden und Gerichten zu, um die >unverbesserlichen Trinken, deren Sucht man sich erb- und anlagebedingt vorstellte, in Trinkerheilanstalten, in zunehmendem Maße aber auch in KZ unterzubringen. Die Folge war, daß infolge der Konkurrenz der KZ, Gefängnisse und Arbeitshäuser die Trinkerheilstätten an dauernder Unterbelegung litten. Daran änderte auch die durch das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher verfügte Zwangseinweisung von straffälligen Alkoholikern in Trinkerheilstätten nichts. 12 Obwohl sich eine Konkurrenzsituation zwischen den Einrichtungen der Wanderer- und Trinkerfürsorge einerseits, den Gefängnissen, Zuchthäusern, Arbeitshäusern, Trinkerheilanstalten andrerseits abzeichnete, stimmten die ordnungspolitischen Vorstellungen der Träger der freien Wohlfahrtspflege mit denen des nationalsozialistischen Regimes durchaus überein. Die Asylierung der > Asozialem in Bayern, organisiert von Sturmbannführer A. Seidler, hatte Modellcharakter für das Reich. Im Herbst 1933 wurden, 170

nachdem infolge der zahlreichen Verhaftungen die Arbeitshäuser überfüllt waren, die ersten Bettler und Landstreicher in das K Z Dachau eingeliefert. Seit dem 1. August 1936 war die bayerische Polizei befugt, »Bettler, Landstreicher, Zigeuner, Landfahrer, Arbeitsscheue, Müßiggänger, Prostituierte, Querulanten, Gewohnheitstrinker, Raufbolde, Verkehrssünder, Psychopathen und Geisteskranke< jederzeit in >Schutzhaft< zu nehmen. Die aufgegriffenen Obdachlosen wurden in die Arbeiterkolonie Herzogsägmühle bei Schondorf überstellt und von dort aus auf die verschiedenen Einrichtungen zur Zwangsunterbringung verteilt. Dabei stellte Dachau, w o im Jahre 1936 schon etwa zwei Drittel der Insassen zu den »polizeilichen Vorbeugehäftlingen< (Arbeitszwangshäftlinge, »Asoziale«, Homosexuelle) zählten, die ultima ratio dar. 1 3 Rudolf Höß, zu dieser Zeit Rapportfuhrer in Dachau, beschrieb in seinen Lebenserinnerungen anschaulich, wie weit der Kreis dieser Häftlinge gezogen war: »Soweit sie nicht schon mehrfach vorbestraft oder sonstwie asozial vorbelastet waren, bedrückte sie die Haft doch, sie schämten sich, besonders die Älteren, die noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Nun waren sie auf einmal bestraft, weil sie aus Dickköpfigkeit, aus bayerischer Sturheit mehrfach von ihrer Arbeit weggelaufen waren, oder weil ihnen das Bier zu gut geschmeckt hatte. « 14

In den Jahren 1936-1938 intensivierten sich die Verfolgungsmaßnahmen gegen »kriminelle Asoziale« - wobei »Kriminalität« und »Asozialität« zu austauschbaren Begriffen wurden. Nach den Worten Himmlers wartete man nicht erst, bis ein Verbrechen begangen war, man nahm den »geborenen Verbrecher« fest, bevor er straffällig werden konnte. 1 S Einen ersten H ö h e punkt erreichte die Kampagne gegen »Asoziale« mit der von Himmler am 26. Januar 1938 eingeleiteten Aktion »Arbeitsscheu Reich«. Nachdem die Stapo im April 1938 tausende Menschen als »Verbrecher, Trinker, Landstreicher, Bettler und Arbeitsscheue« in »Vorbeugehaft« genommen hatte, w u r den die Kriminalpolizeileitstellen im Juni 1938 v o m RKPA angewiesen, im Laufe einer Woche jeweils mindestens 200 arbeitsfähige Männer - Landstreicher, Bettler, Zigeuner, Zuhälter, Vorbestrafte - festzunehmen. Während die meisten der seit 1937 Festgenommenen in das K Z Flossenbürg verlegt worden waren, wurden die O p f e r der Aktion »Arbeitsscheu Reich« nach Buchenwald überstellt, w o im Jahre 1939 weitaus mehr asoziale als politische Häftlinge einsaßen. Eugen Kogon, selber Häftling in Buchenwald, schilderte den Personenkreis, der seit 1936 in verstärktem Maß als »asozial« interniert wurde, ähnlich wie Höß: »Neben wirklichen Landstreichern, Speckjägern, kleinen Taschendieben und Jahrmarktgaunern, notorischen Säufern, Zuhältern und Alimentendrückebergern gab es unter den als asozial Verhafteten auch genug Leute, denen nichts anderes vorzuwerfen war, als daß sie etwa zweimal zur Arbeit zu spät gekommen waren oder unberechtigt Urlaub genommen, ohne Genehmigung des Arbeitsamtes den Arbeits-

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platz gewechselt, ihr nationalsozialistisches Dienstmädchen schlecht behandelt«, als Eintänzer ihr Brot verdient hatten, und was dergleichen >Vergehen< mehr waren. « 16

Daß >Asozialität< in zunehmendem Maße Arbeitsverweigerung und Unbotmäßigkeit einschloß, ist ein Beleg dafür, daß die Asylierung der >Asozialen«, die während des Zweiten Weltkriegs in Form des Gesetzes über die Behandlung Gemeinschaftsfremder nachträglich legalisiert werden sollte, auch ein Instrument zur Disziplinierung der Gesamtbevölkerung darstellte. In Bezug auf die Marginalgruppen, die dieser Sozialtechnik des Nationalsozialismus zum Opfer fielen, ging es mehr und mehr um die Ausbeutung von Arbeitskraft. Da eine Vielzahl der betroffenen Menschen die Strapazen des KZ nicht überlebte, entwickelte sich daraus das Konzept der >Vernichtung durch ArbeitEuthanasie< durchsetzte. 17

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IV. Rassenhygienische Propaganda in den Anfangsjahren des >Dritten Reiches< Eine intensive Propagandakampagne zur Thematik der Rassenhygiene bereitete i m >Dritten Reich< den Nährboden fur Sterilisierung und >Euthanasie< vor. Strategie und Taktik der nationalsozialistischen Propaganda zur rassenhygienischen Problematik kamen in einem Vortrag deutlich z u m Ausdruck, den Walter Groß, der Leiter des Rassenpolitischen Amtes der N S D A P , a m 25. Januar 1936-an der Staatsmedizinischen Akademie in München hielt. Darin erteilte Groß dem verbalen Radikalismus, wie er in der Literatur zur Sterilisierung und >Euthanasie< in der Weimarer Republik gepflegt worden war, eine A b s a g e - i m Interesse der propagandistischen Effizienz: »Der Propagandist muß eine gewisse Selbstverleugnung aufbringen. Die Gegner müssen da sozusagen in den eigenen Reihen sein... Der Propagandist muß deshalb oft Gedanken und Worte gebrauchen, die diesen Gegenschichten angehören... Es muß so sein, daß der Propagandist von der Gegenseite gelobt wird, da sie nicht merkt, was für Köder ausgeworfen werden. Allerdings wird dieses Lob zunächst nur von dem oberflächlichen Teil der Hörer kommen, aber dieser Teil - ist die Masse!« In B e z u g auf die rassenhygienischen Sterilisierungen bedeutete dies, auf die ethisch orientierte Argumentation der Kritiker aus dem kirchlichen Lager einzugehen. »D. h., ich muß christlicher, katholischer, triefender sprechen als der Pfarrer dieser Leute. Es muß heißen: >Der will ja gar nichts anderes als wir.Was ich bin, bin ich aus erblichen Gründend... Hat aber der Mensch dann gefressen, daß der Mensch das Produkt der Vererbung ist, dann begreift er auch die Erblichkeit der Krankheit. «

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Sei aber das Erblichkeitsdogma internalisiert, so fänden sich die Menschen »nach einigem Gesichterschneiden« 1 mit der Sterilisierung ab. Das Rassenpolitische Amt der NSDAP, das im Mai 1934 aus dem Aufklärungsamt für Bevölkerungspolitik und Rassenpflege hervorgegangen war, legte die offizielle Sprachregelung in Belangen der Erb- und Rassenpflege fest, vereinheitlichte und überwachte die Schulungs- und Propagandatätigkeit, arbeitete an gesetzgeberischen Maßnahmen im Bereich der Erb- und Rassenpflege mit und prüfte die rassenhygienischen Forschungsergebnisse auf ihre propagandistische Verwertbarkeit hin. Bis 1938 führte das Amt 64000 öffentliche Veranstaltungen und Kundgebungen durch; 3600 ständige Mitarbeiter für die Erb- und Rassenpflege wurden ausgebildet; die Zeitschrift »Neues Volk« erschien in einer Auflage von 300000 Exemplaren, der gleichnamige Kalender erreichte eine Auflage von 800000 Exemplaren. Dazu kam eine breit angelegte Plakataktion in Schulen, Standesämtern, Büroräumen und Lagern der N S D A P usw. Mit dem Rassenpolitischen Amt konkurrierte der Reichsausschuß für Volksgesundheit im RMdl, der nicht nur an der Ausbildung der Amtsärzte in der Erb- und Rassenpflege mitwirkte, sondern auch Unterrichtsmaterial für Schulen, Parteidienststellen und staatliche Ämter zur Verfugung stellte. Einen Schwerpunkt der Propaganda bildete die Jugendarbeit. Hitler hatte die Parole ausgegeben: »Die gesamte Bildungs- und Erziehungsarbeit des völkischen Staates muß ihre Krönung darin finden, daß sie den Rassesinn und das Rassegefühl instinkt- und verstandesmäßig in Herz und Gehirn der ihr anvertrauten Jugend hineinbrennt. « 2 Seit 1933 bestand ein Erlaß, daß der Nachweis von Kenntnissen in Vererbungslehre, Rassenkunde, Rassenhygiene, Familienkunde und Bevölkerungspolitik bei allen schulischen Abschlußprüfungen obligatorisch sein, daß diese Disziplinen auch in Fächern wie Geschichte, Deutsch, Erdkunde, Singen und Kunst berücksichtigt werden sollten und daß dem Fach Biologie zwei bis drei Unterrichtsstunden in der Woche auch auf der Oberstufe der höheren Schulen einzuräumen seien, während es zuvor nur auf der Unter- und Mittelstufe unterrichtet worden war. Diese letzte Bestimmung wurde aber erst 1938 im Rahmen einer umfassenden Neuordnung der höheren Schulen verbindlich festgelegt. Seit 1939 gab es eine Reichsprüfstelle, die die älteren Unterrichtswerke, die bis dahin - mit Begleitheften oder Deckblättern versehen - weiter in Benutzung waren, durch neue Schulbücher ersetzte, die unter dem Deckmantel einer progressiven Didaktik massiv indoktrinierten. Der ökonomistische Aspekt rassenhygienischer Postulate wurde beispielsweise in Rechenaufgaben eingekleidet: »In einer Provinz des Deutschen Reiches sind 4400 Geisteskranke in staatlichen Heilanstalten untergebracht, 4500 in der Obhut der öffentlichen Fürsorge, 1600 in örtlichen Heilanstalten, 2000 in Heimen fur Epileptiker und 1500 Personen in Wohltätigkeitsheimen. Der Staat zahlt mindestens 10 Millionen Reichsmark im Jahr für die angeführten Institutionen. 174

a) Was kostet durchschnittlich ein Patient dem Staat im Jahr? I. 868 Patienten blieben länger als 10 Jahre II. 260 Patienten länger als 20 Jahre III. 112 Patienten länger als 25 Jahre b) Was kostet ein Patient der Gruppe I (II, III) dem Staat während des ganzen Zeitraums seiner Unterbringung nach den niedrigsten Durchschnittszahlen wie unter a) aufgeführt?« »Der Bau einer Irrenanstalt erfordert sechs Millionen RM. Wieviel neue Wohnblocks à 15000 RM würden für diese Summe gebaut werden können?« »Ein Geisteskranker kostet täglich RM 4,-, ein Krüppel RM 5,50, ein Verbrecher RM 3,50. In wievielen Fällen hat ein Beamter nur etwa RM 4,-, ein Angestellter kaum RM 3,50, ein ungelernter Arbeiter noch keine RM 2 , - auf den Kopf der Familie. a) Stelle diese Zahlen bildlich dar. Nach vorsichtiger Schätzung sind in Deutschland 300000 Geisteskranke, Epileptiker usw. in Anstaltspflege. b) Was kosten diese jährlich insgesamt bei einem Satz von RM 4,-? c) Wieviel Ehestandsdarlehen zu je RM 1000,- könnten - unter Verzicht auf spätere Rückzahlung - von diesem Geld jährlich ausgegeben werden?«3

Überließen es diese Rechenaufgaben, die teilweise wortwörtlich die Rechnungen wiedergaben, die von der Reichsgesundheitsfiihrung aufgemacht wurden, dem Schüler, seine Schlüsse zu ziehen, wurde in anderen Schulbüchern offen die Unfruchtbarmachung nach dem GzVeN verteidigt. Beispielsweise wurde gefragt, warum sich die Kritiker der Sterilisierung nicht auch gegen »das Abschlachten von Tieren« oder gegen jeden »durch den Arzt ausgeführten Eingriff« wendeten. Gegen die christliche Ethik wurde argumentiert, es sei falsch »zu sagen, es müsse der >Mensch im Menschen< geachtet werden, und auch das von uns als >minderwertig< Bezeichnete sei von Gott gewollt. Dazu sagen wir: Woher leiten wir alsdann das Recht her, den Dieben und Mördern die von Gott gewollte Freiheit zu nehmen?«4 Schulklassen wurden mitunter durch Heil- und Pflegeanstalten gefuhrt. Beispielsweise besuchten die Schüler der oberen Klassen der höheren Schulen in Freiburg die Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen. Auf Bitte eines Anstaltsarztes ließ der Direktor der Freiburger Ludendorffschule im Februar 1938 einen Aufsatz zu dem Thema »Besuch einer Heil- und Pflegeanstalt« schreiben. 35 von 42 Abiturienten befürworteten, »daß bald unser Volk befreit sein wird von derartig üblen Anhängseln«, wie sie als »Ausstellungsstücke« in der Anstalt zu besichtigen waren. War sich ein Schüler über die Zielsetzungen der Anstaltspflege im >Dritten Reich< nicht klar, bemerkte der Lehrer am Heftrand: »Schierlingsbecher nach Hoche-Binding«. Die wirtschaftliche Entlastung, die durch die >Ausmerze< von Anstaltsinsassen möglich war, wurde von allen Schülern als ein Argument für die >Euthanasie< verstanden. 5 Hier zeigte sich, daß die ökonomistische Argumentation, die aus Gründen der rassenhygienischen Propaganda in den Schulbüchern entwickelt wurde, bei der Jugend durchaus verfing. Der Gedanke der Vernichtung lebensunwerten Lebens < wurde in den Schulbüchern hingegen nicht 175

explizit formuliert. Von der >Euthanasie< war allenfalls am geschichtlichen Beispiel Spartas die Rede. Noch 1943 sprach man von der »heiligen Pflicht, für alle Volksgenossen, die von schweren Leiden und Gebrechen heimgesucht werden, in brüderlicher Liebe zu sorgen«. Denn »Kranke, Krüppel, Schwache und Gebrechliche« seien »an ihrem Leiden schuldlos« und bedürften der Pflege. 6 Die >Gesundheitsführung< verschaffte der Rassenhygiene und -anthropologie auch an den Universitäten, besonders in den medizinischen Fakultäten, Geltung. Reichsärzteführer Wagner, der sich auch auf den Reichsparteitagen bemühte, die Erb- und Rassenpflege einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ließ sich die Umerziehung der Ärzteschaft im Sinne der Erbund Rassenpflege besonders angelegen sein. Linientreue Mediziner führten dann wiederum rassenhygienische Kurse in den psychiatrischen Anstalten durch, wobei man mit Vorliebe abstoßend wirkende Anstaltsinsassen vorführte. Allein in der Anstalt Eglfing-Haar fanden von 1934 bis 1945 195 Schulungskurse für 21142 Teilnehmer statt. Die Reihenfolge der die meisten Mitglieder entsendenden Organisationen: SS, NS-Reichslager für Beamte, SA, politische Leiter der NSDAP, Wehrmacht, Polizei; in einer Größenordnung von weniger als 1000 Teilnehmern folgten KDF, Landwirtschaftsschulen, Strafanstaltsbeamte und Referendare, N S V , HJ, B D M , Lebensborn, Reichsarbeitsdienst (RAD) und Presse. Seit 1938 wurden in zunehmendem Maße Offiziere und Generalstabsoffiziere in diese Schulungskurse entsandt. Solche Lehrgänge wurden durch Vorträge, Ausstellungen und Schulungsbriefe ergänzt. 7 Die rassenhygienische Propaganda des nationalsozialistischen Regimes nutzte alle damals bekannten Massenmedien. Die Presse beteiligte sich mit zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften (z.B. »Ziel und Weg«, die Zeitschrift des N S D Ä B , »NS- Volksdienst«, das Organ der NSV, »Der öffentliche Gesundheitsdienst«, die Zeitschrift des Reichsausschusses für Volksgesundheit im RMdl, AfRGB, »Eugenik, Erblehre, Erbpflege« und »Volk und Rasse«, die Organe der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, »Der Erbarzt«, »Zeitschrift für Rassenkunde«, »Sonne«, »Rasse«, »Der Stürmer«, »Das Schwarze Korps« usw.). 8 Auf den Theatern wurden Stücke aufgeführt, die auf dem Rassengedanken aufbauten, z.B. das Drama »Erbstrom« von K. Dürre, das durch Erlaß des Preußischen Ministers für Wirtschaft und Arbeit den höheren Schulen zum Besuch nahegelegt wurde. Dem Reichsausschuß für Volksgesundheit unter Gütt, der sich auch selber schriftstellerisch betätigte, unterstand eine Theatergruppe, die im Jahre 1935 auch Dürres »Erbstrom« auf die Bühne brachte. 9 Ein hoher Stellenwert kam in der rassenhygienischen Propaganda des Nationalsozialismus dem Film zu. Dem Spielfilm »Ich klage an«, der von der Zentraldienststelle der >Euthanasieaktion< lanciert wurde, war seit Anfang 1934 eine wachsende Zahl von >Aufklärungsfilmen< mit Titeln wie »Opfer der Vergangenheit«, »Die Sünde wider Blut und Rasse«, »Sünden 176

der Väter« und »Paläste für Geisteskranke« vorausgegangen. 1936 zog das Reichspropagandaministerium auf Protest des RJM den Film »Verpfuschtes Leben« zurück. Während der >Euthanasieaktion< wurde der Sektor des Propagandafilms von den Euthanasieplanern übernommen. 10 Es ist auffällig, daß in der rassenhygienischen Propaganda des nationalsozialistischen Regimes bis in die Zeit der >Euthansieaktion< von der Vernichtung lebensunwerten Lebens< kaum einmal die Rede war. Dies war kein Zufall, war es doch durch Ministerialerlaß untersagt, die Euthanasieproblematik in der Propaganda zu thematisieren. 11

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V. Der Zeitraum von 1933 bis 1938 als Inkubationsphase der >Euthanasieaktion< Das staatlich verordnete Stillschweigen über die >Vernichtung lebensunwerten Lebens< in der Konsolidierungsphase des nationalsozialistischen Regimes könnte darauf zurückzufuhren sein, daß bereits zu Beginn des »Dritten Reiches< Planungen zu einem Euthanasieprogramm vorlagen, die jedoch geheimgehalten wurden, um durch eine gezielte Propagandakampagne zur rassenhygienischen Thematik erwartete Widerstände schon im Vorfeld der >Euthanasieaktion< auszuräumen. 1 Dieser Erklärung steht entgegen, daß die öffentlichen Stellungnahmen, die in den Jahren 1933-1937 zur Euthanasieproblematik abgegeben wurden, durchaus widersprüchlich waren. Als etwa die von dem rassenhygienisch interessierten Medizinalrat E. Abderhalden herausgegebene Zeitschrift »Ethik« in den Jahren 1933-1935 die Euthanasieproblematik zur Diskussion stellte 2 und einer der Autoren unterstellte, »daß heutzutage bereits nicht nur die Sterilisation der Minderwertigen erwogen, sondern die >Ausmerzung der Minderwertigem mit Hilfe der >Euthanasiefiskalischen< (!) Gründen befürwortet werden soll«, 3 sah sich Wilhelm Schneider, Beauftragter des Rassenpolitischen Amtes der N S D A P im Gau Halle-Merseburg, zu einem »parteiamtlichen« Dementi veranlaßt: »Es hat niemals in Deutschland ein maßgebender Rassenhygieniker oder maßgebender Nationalsozialist, auch nicht in der nationalsozialistischen Regierung von heute, den Gedanken der Euthanasie, das heißt der Tötung erblich Minderwertiger, erwogen.« 4 Diese Stellungnahme ließ sich sogar mit Hilfe der nationalsozialistischen Phraseologie begründen. In der Zeitschrift »Reichswart« etwa wurde im Jahre 1936 der Standpunkt vertreten, daß die Geisteskranken der Volksgemeinschaft angehörten: »Es würde gegen unseren nationalsozialistischen Volksgedanken sein, sie verkommen zu lassen und nach manchen modernen Mustern zu sagen: diese Untauglichen kümmern uns nicht, mögen sie so schnell wie möglich verschwinden, wie, wäre einerlei, wobei man im stillen denkt: am besten wäre es, sie zu vergiften. « s In der »Zeitschrift für psychische Hygiene«, die sich im Untertitel als »Offizielles Organ des Deutschen Ausschusses für psychische Hygiene der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater und des Verbandes deutscher Hilfsvereine für Geisteskranke» nannte und von Nitsche, dem späteren ärztlichen Leiter der Euthanasiezentraldienststelle, Rüdin, der in die >Eutha178

nasieaktion< eingeweiht war, freilich auch von Hans Römer, der als Leiter der Anstalt Illenau Widerstand gegen die >Euthanasieaktion< leistete, herausgegeben wurde, erschien im Jahre 1937 eine von dem Bielefelder Juristen Franz N e u k a m p verfaßte Rezension des Romans »Sendung und Gewissen« der Vorlage zu dem Film »Ich klage an« - von d e m Augenarzt H e l m u t U n g e r , der später d e m Leitungsgremium der >Kindereuthanasie< angehörte. Der Rezensent Schloß sich ablehnenden Stellungnahmen prominenter Mediziner wie Sauerbruch, Klare, Siebeck und Unverricht an. »Wer d e m Arzt das Recht zugestehen wollte, einem unheilbar Kranken mit oder ohne ernstliches Verlangen des Kranken den Gnadentod zu geben, verkennt die hohe Sendung und Aufgabe des Arztes i m Dritten R e i c h . . . Nicht die vorsätzliche, w e n n auch gewiß nur aus den edelsten u n d menschenfreundlichsten Beweggründen verübte Tötung, sondern allein Dienst am Leben ist die einzige, höchste, schwerste, vielseitigste, verantwortungsreichste und oft auch noch recht undankbare Aufgabe des deutschen Arztes.« Das Euthanasiepostulat, argumentierte N e u k a m p weiter, ziele gegen die »Stellung des autoritären Staates«, der die eugenische Problematik durch die E r b g e s u n d heitsgesetzgebung in Angriff g e n o m m e n habe. 6 Es ist unerklärlich, w a r u m Nitsche, der während der >Euthanasieaktion< gegen kritische Pressestimmen massiv intervenierte, 7 diese negative Rezension hatte durchgehen lassen, wenn zu diesem Zeitpunkt die Vorbereitungen zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens< - zentral gesteuert - bereits angelaufen waren. Schon im Jahre 1937 bekannte sich »Das Schwarze Korps«, das O r g a n der SS, offen zur >Vernichtung lebensunwerten Lebensidiotische< Kinder mit Einwilligung der Eltern getötet werden konnten. In einem K o m m e n t a r » Z u m T h e m a Gnadentod« hieß es dazu: »Man müßte ein Gesetz schaffen, das der Natur zu ihrem Recht verhilft. Die Natur würde dieses lebensunfähige Geschöpf verhungern lassen. Wir dürfen humaner sein und ihm einen schmerzlosen Gnadentod bereiten. Das ist die einzige Humanität, die in solchen Fällen angebracht ist, und sie ist hundertmal edler, anständiger und menschlicher als jene Feigheit, die sich hinter Humanitätsduselei verkriecht und dem armen Geschöpf die Last seines Daseins, der Familie und der Volksgemeinschaft die Last des Unterhalts aufbürdet... Aus dem Bibelspruch Matth. 5 >Selig sind die am Geiste Armen* wird kein vernünftiger Mensch irdische Rechte der Idioten ableiten, die anderen hat niemand bestritten. Ihrer mag das Himmelreich sein. « 8

Die unverhohlene A u f f o r d e r u n g z u m M o r d an Geisteskranken im »Schwarzen Korps« und die Einbeziehung der >Minderwertigen< in die V o l k s g e meinschaft* i m »Reichswart« stellen die beiden extremen Pole in einem Spektrum unterschiedlicher, bisweilen gegensätzlicher Meinungen zur T h e 179

matik der >Euthanasie< in der nationalsozialistischen Ära dar. Angesichts dieser Ambivalenz in der Beurteilung der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< erscheint es unwahrscheinlich, daß die Propagandakampagne zur Rassenhygiene funktional auf die >Euthanasieaktion< hin bezogen war, wenngleich sie ihr den Boden bereiten half. 9 Es gibt Hinweise darauf, daß nach der Machtergreifung von seiten der Gauleiter insgeheim M a ß n a h m e n zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens< in einzelnen Anstalten ihres Zuständigkeitsbereichs veranlaßt w u r d e n . 1 0 In verschiedenen Provinzen u n d Ländern des Deutschen Reiches gab es w a h r scheinlich Vorüberlegungen zur >Vernichtung lebensunwerten LebensEuthanasieaktion< als besonders eifriger Zuarbeiter der Euthanasiezentrale in Erscheinung trat, w u r d e bereits Jahre vor dem Krieg angefragt, wie sich die Anstalten dazu stellen würden, w e n n i m Kriegsfall unter der Voraussetzung der Lebensmittelknappheit bestimmte Gruppen von Anstaltsinsassen von Staats wegen >beseitigt< würden. Im O k t o b e r 1936 fand eine Besprechung der Anstaltsdezernenten der preußischen Provinzen z u m T h e m a »Entspricht die heutige Geisteskrankenfürsorge in den Heil- und Pflegeanstalten den nationalsozialistischen Grundsätzen?« statt. Einer der Dezernenten meinte, er könne »in der Unterhaltung der vollidiotischen Kinder keine nationalsozialistische Aufgabe m e h r . . . erkennen«. 1 1 Ein halbes Jahr später soll die Frage der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< Tagesordnungspunkt einer K o n ferenz der westfälischen Anstaltsdirektoren unter Vorsitz des westfälischen Landeshauptmanns F. K. K o l b o w gewesen sein. Im S o m m e r 1938 sprach ein Teilnehmer einer Tagung der Dezernenten für das Anstaltswesen auf Reichsebene die >Endlösung der Anstaltsfrage< an. Nitsche, der sich durch die Medizinalabteilung des sächsischen Innenministeriums zur Sterbehilfe ermutigt fühlte, wies die Anstaltsleiter Sachsens bereits Mitte 1939 an, i m Kriegsfall höhere Narkotikagaben zu verabreichen u n d damit Sterbehilfe zu leisten. 1 2 Ein zentral geplantes Euthanasieprogramm kristallisierte sich nicht vor Mitte der 1930er Jahre heraus. O b Hitler von Beginn des >Dritten Reiches* an zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens< entschlossen war, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. 1 3 Er e r g r i f f j e d o c h nicht v o n sich aus die Initiative. Vielmehr w u r d e er auf d e m Reichsparteitag von 1935 v o n Reichsärzteführer Wagner mit der Thematik der >Euthanasie< befaßt. Wagner, der zu dieser Zeit, wie die Entstehungsgeschichte der N ü r n b e r g e r Gesetze zeigte, bei Hitler eine Vertrauensstellung besaß, versuchte offenbar - analog z u m Modus operandi i m Falle der Abtreibung aus erbpflegerischen Gründen - eine Führerentscheidung zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens< herbeizufuh180

ren. Er erhielt jedoch keine Vollmacht. Damals erschien Hitler »vorsichtiges Abwarten ratsam«. Hitler gab aber auch zu verstehen, »daß, wenn ein Krieg sein soll, er diese Euthanasiefrage aufgreifen und durchführen werde«, weil er der Meinung war, daß die »Befreiung des Volkes von der Last der Geisteskranken« im Krieg, »wenn alle Welt auf den Gang der Kampfhandlungen schaut und der Wert des Menschenlebens ohnehin minder schwer wiegt«, leichter durchführbar sein werde. Insbesondere erwartete Hitler, daß im Kriegsfall »Widerstände, die von kirchlicher Seite zu erwarten wären, in dem allgemeinen Kriegsgeschehen nicht diese Rolle spielen würden wie sonst«. 14 Damit war die >Euthanasieaktion< aufgeschoben, aber nicht aufgehoben worden. Wagner verfolgte den Gedanken der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< offen weiter. Der Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden bot sich ihm als Forum an, auf dem die Integrierung der >Euthanasie< in das Arsenal rassenhygienischer Instrumente diskutiert werden konnte. Neben Wagner setzte sich vor allem sein persönlicher Referent Unger, der bereits als Autor des Romans »Sendung und Gewissen« in Erscheinung getreten war, für das Euthanasiepostulat ein. 15 Im Reichsausschuß hatte mithin ein Diskurs zur Euthanasieproblematik bereits begonnen, ehe sich ein Anlaß ergab, in der Frage der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< einen erneuten Vorstoß bei Hitler zu unternehmen.

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VI. Die >Kindereuthanasie< Eine Reihe von Bittbriefen und Eingaben zur Sterbehilfe von Seiten Angehöriger unheilbar Kranker und nationalsozialistischer Parteigänger, die in den Jahren 1938/1939 in der Kanzlei des Führers eingingen, eröffnete die Möglichkeit, die Frage der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< erneut aufzugreifen. Ausschlaggebend war schließlich der sog. >Fall Knauen. Ende 1938/ Anfang 1939 hatte Werner Catel, Professor für Kinderheilkunde, Direktor der Leipziger Universitätskinderklinik und Gutachter des Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden, eine Unterredung mit dem Ehepaar Knauer, den Eltern eines körperlich und geistig behinderten Kleinkindes, das in Catéis Klinik untergebracht war. Im Verlauf dieses Gesprächs empfahl Catel den Eltern des Kindes, durch ein Gesuch an Hitler die nach geltendem Recht strafbare Tötung des Kindes zu erwirken. Daraufhin ging in der Kanzlei des Führers ein Gesuch ein, 1 das - entsprechend der Aufgabenverteilung in der Kanzlei des Führers 2 - dem Leiter des Amtes IIb, Hans Hefelmann, 3 zugestellt wurde, der fur alle Angelegenheiten aus dem Bereich der Reichsministerien zuständig war, denn die Tötung des behinderten Kindes fiel entweder in das Ressort des RJM oder des RMdl. Hefelmann leitete das Gesuch an den Oberdienstleiter A. Bormann weiter, der dem Hauptamt I der Kanzlei des Führers, der Privatkanzlei Hitlers, vorstand. RJM und RMdl wurden nicht unterrichtet. Hitler, der sich lebhaft für den Fall interessierte, beauftragte seinen Begleitarzt Karl Brandt 4 mit der Erledigung des Gesuchs. Brandt reiste nach Leipzig, um das Kind zu untersuchen. Es wurde nach einer Besprechung zwischen Brandt und Catel eingeschläfert. Reichsjustizminister Gürtner wurde nachträglich von M. Bormann über die Tötung des Kindes in Kenntnis gesetzt. 5 Folge des > Falles Knauen war eine vermutlich mündliche Ermächtigung Brandts und Bouhlers durch Hitler, in ähnlichen Fällen ebenso zu verfahren. Die >Kindereuthanasie< war von Anfang an geheime Reichssache. Ihre Ausführung wurde der Kanzlei des Führers übertragen, die mit der Abteilung IV des RMdl zusammenarbeitete. Zunächst berieten Viktor Brack, der Oberdienstleiter des Hauptamtes II der Kanzlei des Führers, 6 Hefelmann und Linden allein über die Durchführung der >KindereuthanasieKindereuthanasieKindereuthanasie< w a r e n diejenigen Säuglinge u n d Kleinkinder, die nicht in Anstaltspflege waren. Die meisten Kinder, die i m R a h m e n der >Euthanasieaktion< u m k a m e n , w u r d e n , da sie A n s t a l t s b e w o h ner w a r e n , i m Z u g e der >Aktion T4< aus den Anstalten verschleppt u n d in den G a s k a m m e r n der >Erwachseneneuthanasie< e r m o r d e t . Beispielsweise w u r d e n i m J a h r e 1940 allein aus der badischen Anstalt E m m e n d i n g e n 300 Kinder in die Tötungsanstalt Grafeneck verlegt, w o sie den Tod i m Gas fanden.8 D a i m J a h r e 1939 diejenigen behinderten Kinder getötet w e r d e n sollten, die i m Elternhaus lebten, w a r der Reichsausschuß bei der E r f a s s u n g auf die Mitarbeit der staatlichen Gesundheitsämter u n d ihrer vorgesetzten D i e n s t behörde, der Gesundheitsabteilung des R M d l unter R e i c h s g e s u n d h e i t s f u h rer C o n t i , angewiesen. In e i n e m streng vertraulichen Erlaß des R M d l v o m 18. A u g u s t 1939 w u r d e allen H e b a m m e n , Geburtshelfern u n d leitenden Ärzten v o n E n t b i n d u n g s a n s t a l t e n u n d geburtshilflichen A b t e i l u n g e n a u f g e tragen, den örtlichen G e s u n d h e i t s ä m t e r n die G e b u r t v o n K i n d e r n zu m e l den, die an >IdiotieKinderfachabteilungen< eingeliefert. Zur >Behandlung< der zur Tötung bzw. Beobachtung vorgesehenen Kinder wurden von Hefelmann Ermächtigungen geschrieben, die von Bouhler oder Brack unterzeichnet wurden. Diese Ermächtigungsschreiben bildeten die Grundlage für die Einweisung der Kinder in eine der >Kinderfachabteilungen< durch den zuständigen Amtsarzt. Nach Aussage Karl Brandts soll der Ermächtigung zur Tötung der Kinder jeweils eine Einverständniserklärung der Eltern vorausgegangen sein. Er räumte in seiner Aussage jedoch ein, daß Einwilligungen nicht »überall in der schriftlichen Form eingefordert wurden, sondern teilweise mündlich über die Amtsärzte oder die Dienststellen, die sonst damit zu tun hatten«, 13 eingeholt wurden. Bei dieser Einlassung handelt es sich zweifellos um eine Schutzbehauptung. Es gab zwar Einzelfälle, in denen Eltern von sich aus den Tod ihrer Kinder forderten, wie ein Vater, der in der Anstalt Eglfing-Haar anfragte, ob es »nicht vielleicht am besten wäre, ein solches Kind aus dem Volkskörper auszuscheiden«. 14 Eltern, die um die Tötung ihrer Kinder ersuchten, bereiteten dem Reichsausschuß sogar besondere Schwierigkeiten, wie ein Brief des Reichsausschusses an das württembergische Innenministerium, das einen solchen Fall gemeldet hatte, zeigte: »Der Fall liegt insofern nicht ganz leicht, a l s . . . die Kindeseltern u m eine entsprechende Behandlung gebeten haben, die ihnen selbstverständlich im Hinblick auf die bestehenden Gesetze verweigert werden muß. Ich bezweifle nicht, daß Sie die Eltern in diesem Sinne unterrichtet haben, da bekanntlich keineswegs zugegeben werden darf, daß staatlicherseits entsprechende Maßnahmen betrieben w e r d e n . . . [Außerdem] wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie a u c h . . . [den zuständigen Amtsarzt] entsprechend unterrichten würden, daß keine Krankenanstalten oder Heime existieren, w o einem derartigen Wunsch entsprochen wird. « l s 184

In den Vorüberlegungen zu einem Gesetzentwurf über Sterbehilfe im Sommer 1939 wurde für eine Geheimhaltung der > (Kinder-) Euthanasie* geltend gemacht, sie gebe den Eltern die Möglichkeit zu einer »stillschweigenden Zustimmung«. 1 6 Bei der >Kindereuthanasie< waren jedoch aufseiten der Eltern erhebliche Widerstände zu brechen, wie auch aus dem Erlaß des RMdl vom 20. September 1941 hervorging: »Die Sorgeberechtigten sind oft nicht gern bereit, das Kind in eine Anstalt zu geben. Sie stützen sich dabei oft auf die Angabe des Hausarztes, daß auch eine Anstaltsbehandlung an dem Zustand nichts ändern könne, oder sie glauben, eine fortschreitende Besserung im Zustand des Kindes zu bemerken, was in Wirklichkeit aber meist keine Besserung des Zustandes des Kindes als vielmehr eine Anpassung der Beobachter an diesen Zustand darstellt. Erfahrungsgemäß ist dies bei Kindern mit m o n goloider Idiotie besonders häufig der Fall, zumal die Angehörigen die Anhänglichkeit, Freundlichkeit oder Musikfreude derartiger Kinder oft falsch werten, sich unerfüllbare Hoffnungen vortäuschen und daher von Anstaltspflege nichts wissen wollen.« 1 7

In Anbetracht der Widerstände von seiten der Eltern versuchte der Reichsausschuß, mit Hilfe der Amtsärzte die Angehörigen zu täuschen: »Sache der Amtsärzte ist es, die E l t e r n . . . des Kindes von der sich in d e r . . . Anstalt bzw. Abteilung bietenden Behandlungsmöglichkeit in Kenntnis zu setzen und sie gleichzeitig zu einer beschleunigten Einweisung des Kindes zu veranlassen. Den Eltern wird hierbei zu eröffnen sein, daß durch die Behandlung bei einzelnen Erkrankungen eine Möglichkeit bestehen kann, auch in Fällen, die bisher als hoffnungslos gelten mußten, gewisse Heilerfolge zu erzielen. « 18 In den Anschreiben an die Amtsärzte, in denen die Einweisung der Kinder verfugt wurde, strich der Reichsausschuß die Vorzüge der >Kinderfachabteilungen< heraus: »Hier kann auf Grund der durch den Reichsausschuß getroffenen Einrichtungen die beste Pflege und im Rahmen des Möglichen neuzeitliche Therapie durchgeführt werden.« 1 9 Durch diese »verschleierte Form« 2 0 wurde die Einwilligung der Eltern erschlichen. In der Hamburger >Kinderfachabteilung< Langenhorn (Ochsenzoll) täuschte man die Eltern, indem man ihnen erklärte, durch eine riskante Operation könne die geistige Behinderung ihrer Kinder möglicherweise behoben werden. Stimmten die Eltern in der Hoffnung auf einen Heilerfolg dem Eingriff zu, meldete der Arzt nach Berlin: »Die Eltern sind mit jeder Behandlung einverstanden und würden es nicht bereuen, wenn das Kind >von allem erlöst wäreKinderfachabteilung< teuer bezahlen. 23 Zur Durchführung der Kindestötungen wurden rd. 30 >Kinderfachabteilungen< in Heil- und Pflegeanstalten eingerichtet, deren leitende Ärzte mit dem Reichsausschuß zusammenarbeiteten. Dazu gehörten Einrichtungen in Ansbach, Berlin (Kinderklinik Dr. Wentzler, Städtische Klinik), Eglfingbei Haar, Eichberg bei Eltville, Görden bei Brandenburg, Großschweidnitz bei Löbau, Hadamar bei Limburg, Hamburg (Rothenburgsort, Langenhorn), Kalmenhof bei Idstein, Kaufbeuren-Irsee, Leipzig (Dösen, Universitätskinderklinik), Loben, Lüneburg, Meseritz-Obrawalde, Niedermarsberg, Sachsenberg bei Schwerin, Stadtroda/Thüringen, Stuttgart, Uchtspringe bei Stendal, Ueckermünde bei Stettin, Waldniel bei Andernach, Wien (Am Spiegelgrund, Steinhof) und Wiesloch. 24 Im Jahre 1940 waren erst wenige der >Kinderfachabteilungen< in Betrieb, z.B. Brandenburg-Görden, Niedermarsberg, Eglfing-Haar, Wien/Am Steinhof. Eine Vielzahl von >Kinderfachabteilungen< entstand dagegen erst nach dem Abbruch der >Erwachseneneuthanasie< im Rahmen der >Aktion T4Kinderfachabteilungen< vorgesehenen Ärzte wurden in der mitunter als »Reichsschulstation« 26 bezeichneten Anstalt Brandenburg-Görden, die von Heinze geleitet wurde, in ihre Arbeit eingewiesen. Kein Arzt wurde gezwungen, sich an der >Kindereuthanasie< zu beteiligen. In einem Brief an den Leiter der Anstalt Eglfing-Haar, H. Pfannmüller, begründete Dr. Friedrich Holzel am 28. August 1940, warum er sich der >Kindereuthanasie< zwar als Gutachter zur Verfügung stellte, nicht aber in einer >Kinderfachabteilung< tätig werden wollte: »So lebhaft ich in vielen Fällen den Wunsch hätte, den natürlichen Ablauf verbessern zu können, so sehr widersteht es mir, dies als eine systematische Aufgabe nach kalter Überlegung und nach wissenschaftlich-sachlichen Richtlinien - nicht aus ärztlicher Gefuhlsnötigung den Kranken gegenüber auszufuhren. Denn was mir die Arbeit im Kinderheim lieb gemacht hat, war nicht das wissenschaftliche Interesse, sondern das ärztliche Bedürfnis, inmitten unserer oft so fruchtlosen Arbeit, hier in vielen Fällen zu helfen und wenigstens zu bessern. Die psychologische Beurteilung und heilpädagogische Betreuung-Beeinflussung lagen mir stets weit mehr am Herzen, als anatomisch noch so interessante Curiositäten. « 2 7

In Wiesloch, wo der Anstaltsleiter sich scheute, selbst zu töten, übernahm sein Vertreter Dr. Schreck die >KinderfachabteilungKinderfachabteilungen< vorgesehen waren, 186

konnten diese Tätigkeit ablehnen - sie wurden lediglich zum Stillschweigen verpflichtet. 29 Ein Teil der Kinder, die in die >Kinderfachabteilungen< eingewiesen wurden, waren unmittelbar zur Tötung bestimmt, ein Teil sollte zunächst beobachtet werden. Dazu bedienten sich einzelne >Kinderfachabteilungen< modernster diagnostischer Methoden. In der Anstalt Kaufbeuren-Irsee unter Valentin Faltlhauser, der seit dem Herbst 1940 im Reichsausschuß mitarbeitete, kamen in den Jahren 1941-1945 insgesamt 209 Kinder (37% aller eingewiesenen Kinder, wobei im Jahre 1943 mit 73% ein Höhepunkt erreicht wurde) ums Leben. Gleichzeitig wurden mit den Kindern Intelligenztests und Berufseignungsprüfungen durchgeführt, erhielten die Kinder Sprachunterricht, wurde eine mit heilpädagogischem Personal besetzte >Schwachsinnigenhilfsschule< eingerichtet. 30 Diese Maßnahmen dienten allerdings eher der Diagnostik als der Therapeutik. Die Umbenennung der >Kinderfachabteilungen< in >Heilerziehungsanstalten< im Jahre 1944 dürfte ausschließlich eine Tarnmaßnahme gewesen sein. 31 Nach der Beobachtung erstatteten die Leiter der >Kinderfachabteilungen< Bericht an den Reichsausschuß, der darüber entschied, ob die >Behandlung< eingeleitet werden sollte. In den >Kinderfachabteilungen< wurden Terminkalender angelegt, in denen während einer Besprechung zwischen dem Abteilungsarzt und seinen Sonderpflegern und -pflegerinnen zu Monatsanfang festgelegt wurde, wann welches Opfer getötet werden sollte, um eine Häufung der Todesfälle zu vermeiden. Damit die Kinder möglichst unauffällig beseitigt wurden, wandte man eine bestialische Prozedur an. Die Opfer erhielten mehrmals eine Überdosis Luminal in Form von - in Tee aufgelösten - Tabletten, manchmal auch als Zäpfchen, Klysma oder Spritze. Bisweilen wurden die Luminalgaben mit Einspritzungen von MorphiumSkopolamin kombiniert. Auf diese Weise konnte man den Tod der Opfer tagelang hinauszögern, bis die tief benommenen Kinder an einer >natürlichen Todesursache< wie Lungenentzündung starben. So oft sie aus der Bewußtlosigkeit geweckt wurden, um Luminalgaben zu empfangen, litten die Kinder starke Schmerzen. Nach dem Aufbau der Gaskammern für die >Erwachseneneuthanasie< wurden auch Kinder aus den >Kinderfachabteilungen< vergast. So wurden in mindestens zwei Fällen insgesamt rd. 100 achtbis zwölfjährige Kinder aus der Anstalt Brandenburg-Görden in das benachbarte ehemalige Zuchthaus Brandenburg verschickt, das zur Vergasungsanlage ausgebaut worden war. Viele Kinder starben bereits auf dem Transport in die >KinderfachabteilungenKinderfachabteilungen< nicht behandelt werden. 32 Daneben war man bereits im Herbst 1939 dazu übergegangen, die Kinder einfach verhungern zu lassen, wie ein Bericht aus der Anstalt Eglfing-Haar belegt:

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»Nach dem Besuch einiger anderer Krankenstationen führte uns der Anstaltsleiter mit Namen Pfannmüller in eine Kinderstation. Dieser Raum machte einen sauberen, gepflegten Eindruck. In ca. 15-25 Kinderbetten lagen ebenso viele Kinder zwischen dem Alter von ca. 1-5 Jahren. Pfannmüller explizierte in dieser Station besonders eingehend seine Absichten. Folgende zusammenfassende Ansprache durch Pfannmüller ist mir dem Sinne gemäß erinnerlich: Diese Geschöpfe (gemeint waren besagte Kinder) stellen fur mich als Nationalsozialisten natürlich nur eine Belastung unseres gesunden Volkskörpers dar. Wir töten (er kann auch einen umschreibenden Ausdruck hier für dieses Wort töten gebraucht haben) nicht durch Gift, Injektionen usw., da würde die Auslandspresse und gewisse Herren in der Schweiz nur neues Hetzmaterial haben. Nein, unsere Methode ist viel einfacher und natürlicher, wie Sie sehen. Bei diesen Worten zog er unter Beihilfe einer mit der Arbeit in dieser Station betrauten Pflegerin ein Kind aus dem Bettchen. Während er dann das Kind wie einen toten Hasen herumzeigte, konstatierte er mit Kennermiene und zynischem Grinsen: Bei diesem wird's noch 2-3 Tage dauern. Der Anblick des fetten, grinsenden Mannes, in der fleischigen Hand das wimmernde Gerippe, umgeben von anderen hungernden Kindern ist mir noch immer deutlich vor Augen. Weiterhin erklärte der Mörder dann, daß nicht plötzlicher Nahrungsentzug angewandt werde, sondern allmähliche Verringerung der Rationen. Eine Dame - die ebenfalls an der Führung teilnahm - fragte in mühsam unterdrückter Empörung, ob denn nicht wenigstens eine raschere Tötung mit Injektionen usw. barmherziger wäre. Pfannmüller rühmte daraufhin seine Methode nochmals als praktischer im Hinblick auf die Auslandspresse. Die Offenheit, mit welcher Pfannmüller die oben erwähnte Behandlungsmethode offenbarte, ist mir nur als Ausfluß von Zynismus oder Tölpelhaftigkeit erklärlich. « 33 Die Aushungerung und Verwahrlosung der Kinder in den bayerischen >Kinderfachabteilungen< erfolgte später nach administrativem Schema. Ab 1942/43 wurde zunächst jede Behandlung körperlicher Erkrankungen eingestellt; laut Verfügung v o m 30. N o v e m b e r 1942 mußten die Kinder auf Hungerkost gesetzt werden; nach einer Fürsorgerechtsverordnung v o m 9. N o v e m b e r 1944 wurde allen minderjährigen Anstaltspfleglingen jegliche Erziehung und Ausbildung versagt. 3 4 Mißtrauische Eltern, die Besuchswünsche äußerten, wurden durch lange Briefwechsel, in denen die angebliche Erkrankung ihrer Kinder ausführlich beschrieben wurde, so lange hingehalten, bis die Kinder im Sterben lagen oder schon tot waren. 3 5 Entlassungsgesuche wurden verschleppt, indem man angeblich zur Vervollständigung der Krankengeschichte schriftliche Erkundigungen bei den Eltern einholte. 3 6 Dennoch führten energische Proteste der Eltern, vor allem bei persönlicher Intervention, bisweilen zur Entlassung einzelner Kinder. Dabei hatten die Eltern einen Revers zu unterschreiben, in dem es hieß: » . . . wurde auf die Gefahren und Bedenken, die mit der Entlassung verbunden sind, aufmerksam gemacht, besteht aber trotzdem auf seinem Verlangen und übernimmt die volle Verantwortung für den Kranken. Er verpflichtet sich, für geeignete Aufsicht, Warte und Pflege des Kranken Sorge zu tragen. « 37 188

Jugendämter wurden beauftragt, die entlassenen Kinder zu beaufsichtigen, u m gegebenenfalls eine erneute Einweisung veranlassen zu können. Arbeitsämter sollten die Mütter entlassener Kinder in den Arbeitsdienst vermitteln, Gesundheitsämter dafür sorgen, daß die Pflege eines Kindes nicht als Grund für die Zurückstellung eines Angehörigen v o m Arbeitseinsatz angegeben werden konnte. Die Anstalten wurden angewiesen, bei Entlassungsforderungen eine Einverständniserklärung des zuständigen Arbeitsamtes zu verlangen. 3 8 Nach dem Abbruch der Vergasungen im Rahmen der >Erwachseneneuthanasie< wurde die Altersgrenze der >KindereuthanasieSonderermächtigungen< in den >Kinderfachabteilungen< auch Erwachsene ermordet werden. Nicht nur Kinder, die genetisch oder traumatisch geschädigt waren, sondern auch Juden- und Zigeunerkinder - nach rassischen Kriterien selektiert - wurden umgebracht. Auch schwer erziehbare Kinder und Jugendliche wurden als asoziale Psychopathen< in die >Kindereuthanasie< einbezogen. Aber auch Kinder, die im Rahmen der Forschungen, die im Zusammenhang mit dem Euthanasieprogramm durchgeführt wurden, untersucht worden waren, wurden in den >Kinderfachabteilungen< getötet, u m den klinischen durch einen anatomischen Befund zu ergänzen. 3 9 Die Zahl der Kinder, die im Verlauf der >Kindereuthanasie< in den Jahren 1939-1945 ermordet wurden, wird auf mindestens 5000 geschätzt.

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VII. Die >Aktion T4< Im Juli 1939 hatte Hitler eine Besprechung mit Reichs gesundheitsführer Conti, dem Stabsleiter der Parteikanzlei Bormann und dem Reichsminister und Chef der Reichskanzlei Lammers, bei der es um die Ausweitung der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< auf Erwachsene ging. 1 Mit der Planung dieser >Euthanasieaktion< wurde zunächst Conti beauftragt, der bei Bedarf von Lammers unterstützt werden sollte. Auf Betreiben der Kanzlei des Führers - Bouhler hatte, von Brack informiert, bei Hitler interveniert wurde Conti der Auftrag jedoch wieder entzogen und den beiden Beauftragten für die >KindereuthanasieEuthanasie< bekundet hatte — die seiner Meinung nach »keinesfalls auf unheilbar Geisteskranke beschränkt bleiben« 2 sollte-, wandte sich die Bewerbung Bouhlers, die sich wieder des fuhrerunmittelbaren Befehlsweges bediente, auch gegen einen Machtzuwachs Bormanns. Dabei wurde die Kanzlei des Führers von Himmler, Göring und Frick unterstützt. 3 Bei einer Besprechung mit Brandt und Bouhler hatte Hitler bereits eine Ermächtigung entworfen, die von den beiden redigiert werden sollte, ehe er sie unterzeichnen wollte. Ein Gesetz als Rechtsgrundlage, wie es Lammers vorgeschlagen hatte, lehnte Hitler schon in den ersten Vorbesprechungen mit der Begründung ab, er wünsche eine unbürokratische Prozedur unter Umgehung möglichst aller staatlichen Dienststellen in völliger Geheimhaltung. 4 Die endgültige Formulierung des Ermächtigungsschreibens wurde von einem Gremium beraten, dem neben Brandt, Bouhler, Brack und Blankenburg von der Kanzlei des Führers auch mehrere Psychiater des Reichsausschusses angehörten. Hitler unterschrieb den geheimen Führererlaß, der die >Euthanasie< legitimieren sollte, erst im Oktober 1939, obwohl er auf den 1. September 1939, den Tag des Kriegsausbruchs, zurückdatiert wurde. Er lautete: »Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann, gez.: Adolf Hitler« 5

Die wesentlichen Gründe für die Geheimhaltung der >Euthanasie< dürften darin bestanden haben, 190

1. daß jede Einflußnahme der normativen, staatlichen Behörden auf die Arbeit der außernormativen, fuhrerunmittelbaren Organe, denen die Durchführung der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< übertragen wurde, verhindert werden sollte; 2. daß in der Bevölkerung und an der Front keine Unruhe entstehen sollte; 3. daß den Angehörigen die Möglichkeit zu einem »stillschweigenden Einverständnis« gegeben werden sollte; 6 4. daß der >Feindpropaganda< kein Material geliefert werden sollte; 5. daß die erwarteten kirchlichen Widerstände unterlaufen werden sollten. Brack und Hefelmann wurden mit der Ausführung der >Euthanasieaktion< beauftragt. Da bei der Erfassung und Verlegung der Patienten die Mitarbeit der Abteilung für Heil- und Pflegeanstalten im RMdl (Abt. IVb) notwendig war, wurde der Sachbearbeiter für das Anstaltswesen, Ministerialrat Linden, der bereits an der >Kindereuthanasie< beteiligt war, eingeweiht. Am 28. Juli 1939 erörterten Bouhler und Brack die Frage nach einem zuverlässigen ärztlichen Leiter der >EuthanasieaktionEuthanasieaktion< geeignet schienen, und um den 10. August 1939 nach Berlin geladen. 8 An der ersten Beratung dieses Gremiums nahmen neben Bouhler, Brack, Hefelmann, Linden und Brandt folgende Ärzte teil·. Prof. Dr. Heyde (Universität Würzburg), Prof. Dr. Max de Crinis (Universität Berlin), Prof. Dr. C. Schneider (Universität Heidelberg), Prof. Dr. Berthold Kihn (Universität Jena), 9 Prof. Dr. Heinze, Dr. Wentzler, Dr. Unger, Dr. Hermann Pfannmüller (Leiter der Anstalt Eglfing-Haar) und Dr. Bender (Leiter der Anstalt Buch/Berlin). Alle anwesenden Ärzte, die im Anschluß an die Sitzung von Reichsgesundheitsführer Conti Reichsinnenminister Frick vorgestellt wurden, erklärten sich zur Mitarbeit am >Euthanasieprogramm< bereit. 10 In der Folgezeit fand eine Reihe weiterer Besprechungen statt, um Ärzte anzuwerben, die teilweise von Heyde, teilweise von Nitsche geleitet wurden, dem Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein bei Pirna, der am 7. November 1939 als ständiger Vertreter Heydes gewonnen und im Mai 191

1940 nach Berlin berufen wurde. 1 1 Die Anwerbung von Ärzten für das >Euthanasieprogramm< vollzog sich, wie verschiedene Aussagen belegen, stets nach demselben Muster: Die Ärzte wurden von der Kanzlei des Führers eingeladen bzw. von anderen eingeweihten Stellen, ζ. B. vom ReichsarztSS, häufig aus dem Feld nach Berlin geschickt. Dort erläuterte man ihnen das Euthanasieprogramm, sicherte ihnen Straffreiheit zu, indem man den Geheimerlaß Hitlers als gesetzeskräftig auslegte oder gar die von Hitler verworfenen Gesetzentwürfe zur Sterbehilfe als rechtskräftige, noch unveröffentlichte Gesetze ausgab, und wies auf die Notwendigkeit unbedingter Geheimhaltung hin. Die Entscheidung zur Mitarbeit war freiwillig. Nach Aussage Brandts hätte sich jeder Arzt jederzeit weigern können, an der >Euthanasieaktion< mitzuwirken, doch scheint auf der mittleren Beamtenund Funktionärsebene bisweilen Druck auf einzelne Ärzte ausgeübt worden zu sein. 12 Dessen bedurfte es in der Regel nicht. Der zu den Gutachtern zählende Dr. Friedrich Mennecke berichtete von einer Sitzung im Februar 1940, in der »namhafte Persönlichkeiten« ihre »Einwilligung bedenkenlos« gaben. 1 3 Ein anderer Gutachter, F. Panse, charakterisierte die Atmosphäre im Kreis der beteiligten Ärzte folgendermaßen: »Es herrschte insbesondere bei den jüngeren Kollegen eine wie von einem Missionsgedanken getragene Begeisterung.« 1 4 Mindestens 50 Ärzte, die teilweise mehrere Funktionen ausübten, waren bis zum August 1941, als die >Erwachseneneuthanasie< offiziell abgestoppt wurde, unmittelbar im Euthanasieapparat tätig. Mindestens 42 Ärzte stellten sich bis zum Juni 1943 als Gutachter der Euthanasiemaschinerie zur Verfügung. 1 5 Darunter befanden sich - abgesehen von Heyde und Nitsche die Ordinarien K. Pohlisch und F. Panse (Bonn), C. Schneider (Heidelberg), E. Straub (Kiel), F. Mauz (Königsberg), B. Kihn (Jena), M. de Crinis (Berlin), W. Villinger (Breslau) sowie die Professoren Reisch und Zucker. Anders als bei den in den Tötungsanstalten tätigen Ärzten, die in der Regel sehr jung waren, wirkten bei der Planung der >Euthanasie< arrivierte Psychiater von teilweise beachtlicher Reputation mit. Nur ein einziger Fall von offenem Widerspruch ist bekannt. Am 15. August 1939, als namhafte Ärzte »zur Erörterung dringender kriegswichtiger Maßnahmen aufdem Gebiet des Heil- und Pflegewesens« nach Berlin geladen wurden, um den Kreis der Gutachter zu erweitern, protestierte Prof. Dr. G. Ewald, Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Göttingen, energisch gegen das Euthanasieprogramm, woraufhin er aus der Sitzung verwiesen wurde. Trotz des ihm von Heyde auferlegten Schweigegebots sandte Ewald Protestschreiben an Heyde, Conti, den Landeshauptmann der Provinz Hannover, Geßner, den Dekan der medizinischen Fakultät an der Universität Göttingen, Stich, und an den Psychotherapeuten M. H. Göring, einen Vetter des Reichsmarschalls. Ewald blieb bis zum Kriegsende unbehelligt. 16 Das übrige Personal der >Euthanasieaktion< wurde bis Anfang 1940 durch Notdienstverpflichtungen und Abkommandierungen aus der SS rekrutiert. 192

Die SS-Mitgliedschaft ruhte während der Tätigkeit fur die Kanzlei des Führers, »um aufjeden Fall eine Belastung der Organisation nach außen hin zu vermeiden«. 17 Den Schwestern und Pflegern gegenüber wurden teilweise dieselben Auskünfte hinsichtlich des Euthanasieprogramms, seiner gesetzlichen Grundlage und der Geheimhaltungspflicht erteilt wie den Ärzten, teilweise wurde ihre Versetzung aber auch nur mit Verlegungen von Geisteskranken aus kriegswichtigen Gründen erklärt und der eigentliche Zweck dieser Verlegungen erst an den Tötungsstätten bekanntgegeben. Grundsätzlich war die Mitarbeit freiwillig, jedoch war eine Verweigerung der Mitarbeit für Schwestern und Pfleger bedeutend schwieriger als für Ärzte. Das Personal wurde bei einer Einwilligung auf Gehorsam und Verschwiegenheit vereidigt oder mußte zumindest eine Verpflichtung zur Geheimhaltung unterschreiben, in der die Verletzung der Schweigepflicht als Sabotage mit der Todesstrafe bedroht wurde. Die Mitarbeiter entstammten überwiegend dem Kleinbürgertum, lebten in geordneten Verhältnissen, hatten die Volksschule besucht und eine handwerkliche oder kaufmännische Lehre abgeschlossen und waren fast ausnahmslos vor der >Machtergreifung< Mitglied der NSDAP, SA oder SS geworden. 18 Viele von ihnen nahmen die Arbeit des überdurchschnittlich hohen Einkommens wegen an. Nicht alle der Mitarbeiter, die - streng von der Außenwelt abgeschirmt und mit Sonderzulagen und Alkoholrationen versorgt - in den Töjtungsanstalten eingesetzt wurden, hielten der seelischen Belastung stand. In zwei Fällen wurden Angestellte, die über ihre Tätigkeit gesprochen hatten, in ein KZ eingeliefert. Brack, der häufig die Anstalten bereiste, versuchte wiederholt, das Personal durch Reden auf seine Arbeit einzustimmen. 19 Zur Organisation der >Euthanasie< entstand ein rd. 100 Personen umfassender bürokratischer Apparat, der sich an die Kanzlei des Führers anlagerte. Von der Kanzlei des Führers selber waren Reichsleiter Bouhler, das Hauptamt II unter Oberdienstleiter Brack, der als Leiter der Zentraldienststelle u. a. für die Auswahl, Einrichtung und Überwachung der Tötungsanstalten, die Auswahl und den Einsatz des nichtärztlichen Personals und die Büroorganisation der Zentraldienststelle zuständig war, innerhalb des Hauptamtes II die Ämter IIa unter Werner Blankenburg, der zum stellvertretenden Leiter der Euthanasiezentrale aufstieg, IIb unter Hefelmann, zu dessen Aufgaben neben den Belangen des für die >Kindereuthanasie< zuständigen Reichsausschusses - die Rekrutierung des ärztlichen Personals gehörte, und Ile unter Reinhold Vorberg, dem das Transportwesen unterstand, an der Euthanasieadministration beteiligt. Soweit die Angehörigen der Kanzlei des Führers im Zusammenhang mit der >Euthanasieaktion< in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten mußten, benutzten sie Decknamen: Brack nannte sich >JennerweinBrennerHintertalEuthanasieaktion< in Verbindung gebracht werden sollte, wurde der bürokratische Apparat der Euthanasiezentrale nach und nach aus den Räumen der Kanzlei des Führers, die im 193

Gebäude der Reichskanzlei in der Berliner Voßstraße untergebracht war, ausgegliedert. Am 1. Dezember 1939 wurden im >Kolumbushaus< am Potsdamer Platz mehrere Büroräume angemietet, in denen später zeitweilig das als Tarnadresse für die Tötung jüdischer Anstaltsinsassen eingerichtete >Sonderstandesamt< Cholm (Chelm) untergebracht war. Im April 1940 wurde der größte Teil der Verwaltung in eine Villa in der Tiergartenstraße 4 in Berlin-Charlottenburg, die ursprünglich jüdisches Eigentum gewesen und vom Reichsfiskus Heer enteignet worden war, verlagert. Seitdem wurde die Zentraldienststelle der >Euthanasieaktion< als >T4< bezeichnet, die >Euthanasie< selber >Aktion T4< genannt. Räumlich getrennt von der Euthanasiezentrale in der Tiergartenstraße 4 war zunächst die im April 1941 gegründete Zentral verrechnungssteile der >EuthanasieaktionSonderstandesämter< usw.). 2. Für den Transport der Kranken mitsamt ihrer Habe und Krankenakten wurde eine weitere Tarnorganisation gegründet, die Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft (GEKRAT). Die G E K R A T unterhielt eigene Transportstaffeln, die zumindest teilweise von SS-Angehörigen gebildet wurden, und war Halter des Wagenparks - die grauen Omnibusse mit verhängten oder übergestrichenen Fenstern stammten aus Beständen der SS. Geschäftsführer der G E K R A T , die auch im Handelsregister eingetragen war, wurde Vorberg. 24 3. Da die RAG nicht den Status einer selbständigen juristischen Person besaß und man im Rechtsverkehr, ζ. B. bei Lohnsteuerangelegenheiten, ihre verantwortlichen Mitglieder namentlich hätte nennen müssen, und weil man den mit dem Reichshaushalt beschäftigten staatlichen Stellen jeden Einblick in die >Euthanasieaktion< verwehren wollte, wurde eine dritte Tarnorganisation ins Leben gerufen, die Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege. Sie umfaßte die Hauptwirtschaftsabteilung der Zentraldienststelle, die für die Finanzierung des Euthanasieprogramms - Besoldung, Gebäude, Beschaffungswesen (einschließlich des als >Desinfektionsmittel< 194

deklarierten Gases und Arzneigiftes), Verwertung von Schmuck und Zahngold der Toten - verantwortlich war, und die Personalabteilung der Euthanasiezentrale, trat also als Arbeitgeber der an der > Aktion T4< beteiligten Ärzte, Schwestern, Pfleger, Chemiker, Kraftfahrer, Bürokräfte usw. auf und betrieb offiziell die zu Tötungsstätten umgebauten Anstalten. Sie wurde vom Reichsschatzmeister der N S D A P finanziert. 4. Im April 1941 wurde als vierte Tarnorganisation die Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten unter Leitung von Allers und H.-J. Becker eingerichtet. Sie stand im Mittelpunkt der Reorganisation des Abrechnungsverfahrens. Denn seit dem April 1941 mußten die Kostenträger die Pflegegelder direkt nach Berlin überweisen. Dabei konnten Gewinne in Millionenhöhe dadurch erzielt werden, daß - besonders im Fall der getöteten jüdischen Anstaltsinsassen - Pflegegelder über den tatsächlichen Todestag der Mordopfer hinaus bis zu dem fiktiven Datum eingefordert wurden, das auf den gefälschten Totenscheinen vermerkt war. Auch der Verkaufdes Zahngoldes, das aus den Gebissen der Ermordeten herausgebrochen wurde, fiel fortab in die Zuständigkeit dieser Kostenverrechnungsstelle. 25 Bei einer Besprechung des Leitungsgremiums am 9. Oktober 1939, bei der die unmittelbaren Vorbereitungen zum Start der >Euthanasieaktion< getroffen wurden, entschied man sich in der Frage der Todesart für Vergasungen mit Kohlenmonoxyd (CO), da eine Tötung durch Einspritzungen, wie sie von Nitsche, der bereits mit Injektionen experimentiert hatte, 26 favorisiert wurde, bei einer geschätzten Anzahl von 60-70000 Mordopfern undurchführbar schien. In dieser Frage hatte sich Brack an den SS-Gruppenfuhrer Arthur Nebe gewandt, den Chef des RKPA, das als Abteilung V in das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) integriert worden war. Nebe gab den Auftrag an einen Mitarbeiter des Kriminaltechnischen Instituts (KTI), in dem die Gruppe D des RKPA zusammengefaßt war, Dr. Albert G. Widmann, weiter, der zur Tötung von Geisteskranken Kohlenmonoxyd vorschlug. Das KTI-vertreten durch den Chemiker August Becker - trat später nach außen hin als Besteller der Tötungsmittel in Erscheinung. Die Stahlflaschen lieferte die Firma Mannesmann/Zweigwerk Buss a. d. Saar. Diese mit Manometern versehenen Druckbehälter wurden dann im Auftrag und auf Rechnung des KTI im Werk Ludwigshafen der IG Farben abgefüllt. 27 Aus der prokjektierten Liquidierung durch Kohlenmonoxyd ergab sich die Notwendigkeit, einzelne Anstalten als Tötungsstätten mit Vergasungsanlagen auszustatten. Als erste Tötungsanstalt wurde Schloß Grafeneck im Kreis Münsingen/Württemberg ausgewählt, das sich im Besitz der Samariterstiftung Stuttgart befand. Auf Grund des Reichsleistungsgesetzes wurde es schon am 10. Oktober 1939 beschlagnahmt und mußte bis zum 14. Oktober 1939 geräumt werden. Am 17. Oktober 1939 reiste eine Kommission aus Berlin, der Brack, Bohne, Heyde und Vorberg angehörten, nach Grafeneck, um den Umbau zu überwachen. Die Anlage wurde zum Vorbild fur alle späteren Vernichtungsanstalten. 195

In einem Nebengebäude wurden ein Aufenthaltsraum, der rd. 100 Menschen faßte, und ein Arztraum eingerichtet. Ein angrenzender Schuppen wurde in ein Wartezimmer, in dem 50 Menschen Platz fanden, und in einen weiteren Raum von gleicher Größe (rd. 50 qm 2 Grundfläche, 2,50-3,00 m Höhe) unterteilt, der mit seinen gekachelten Wänden und Duschattrappen den Eindruck eines Baderaums erweckte - diese Tarnung ging auf eine Idee Bouhlers zurück. Unmittelbar hinter dieser Gaskammer befand sich ein kleines Zimmer, von wo aus der Arzt durch Hebeldruck das Gas aus den Stahlflaschen durch die Duschdüsen in die Gaskammer einströmen lassen konnte. Neben diesem Gebäude lag das Krematorium mit zwei bis drei fahrbaren Öfen mit Ölfeuerung. Die Umbauarbeiten wurden von SS-Monteuren durchgeführt. 28 Insgesamt wurden im Rahmen der >Aktion T4< sechs Tötungsanstalten eingerichtet, von denen zwischen dem April 1940 und dem August 1941 j e vier gleichzeitig in Betrieb waren. Drei der Vergasungsanlagen waren über den Stopp der > Aktion T4< hinaus in Benutzung, der im August 1941 verfugt wurde. Zu den Tötungsanstalten gehörten 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Grafeneck/Württemberg Brandenburg/Havel Hartheim/Linz Sonnenstein/Pirna Bernburg a. d. Saale Hadamar/Limburg

von Jan. 1940 vonJan. 1940 vonJan. 1940 von Apr. 1940 von Sept. 1940 vonJan. 1941

bis bis bis bis bis bis

Dez. 1940 Sept. 1940 Ende 1944 Aug. 1943 Apr. 1943 Aug. 1941. 29

Insgesamt vierzehn Ärzte waren in den Tötungsanstalten mit den Massenhinrichtungen von Geisteskranken befaßt: - in Grafeneck Dr. Ernst Baumhardt (Nov. 1939 bis Dez. 1940), Dr. Horst Schumann (Dez. 1939 bis Apr. 1940) und Dr. Günther Hennecke (Apr. 1940 bis Dez. 1940); - in Brandenburg Dr. Irmfried Eberl (Febr. 1940 bis Ende 1940), Dr. Heinrich Bunke (Aug. 1940 bis März 1943) und Dr. Aquilin Ullrich (ab März 1940); - in Hartheim Dr. Rudolf Lonauer (ab Apr. 1940) und Dr. Georg Renno (ab Mai 1940); - in Sonnenstein Schumann, Dr. Ewald Worthmann (Mai 1940 bis Okt. 1940), Dr. Klaus Endruweit (ab Nov. 1940), Dr. Kurt Borm (ab Nov. 1940) und Dr. Kurt Schmalenbach; - in Bernburg Eberl und Borm; - in Hadamar Baumhardt und Hennecke sowie Dr. Hans Bodo Gorgaß und Dr. Berner (ab Mai 1941). 30 Im Januar 1940 fand in der Gaskammer des ehemaligen Zuchthauses Brandenburg zum ersten Mal eine Vergasung statt. Zehn bis zwanzig Männer unbekannter Herkunft wurden vergast - offenbar ein Mord zur Probe, 196

der einerseits dazu diente, die Bedenken Karl Brandts hinsichtlich der Vergasung zu zerstreuen - gleichzeitig wurden etwa sechs Personen von Brandt und Conti mittels Injektion von Morphium-Skopolamin getötet-, andrerseits die Aufgabe hatte, die als Leiter der ersten Tötungsanstalten vorgesehenen Ärzte Eberl (Brandenburg), Baumhardt (Grafeneck) und Schumann (Grafeneck) einzuweisen. Von der Kanzlei des Führers waren Bouhler, Brack und v. Hegener anwesend. Hinzu kam Christian Wirth, damals Leiter der Mordkommission des Polizeipräsidiums Stuttgart, der im Rahmen der > Aktion T4< und der >Aktion Reinhard< Karriere machen sollte. Außerdem wohnten die Chemiker Widmann und Becker vom KTI der Vergasung bei. 3 1 U m die Erfassung der Anstaltsinsassen einleiten zu können, richtete die Gesundheitsabteilung des RMdl am 21. September 1939 einen Erlaß an die außerpreußischen Landesbehörden, in dem diese aufgefordert wurden, bis zum 15. Oktober 1939 ein Verzeichnis aller öffentlichen, gemeinnützigen, caritativen und privaten Heil- und Pflegeanstalten, Siechenheime und Sanatorien, in denen »Schwachsinnige^ Epileptiker, Geisteskranke usw. nicht nur vorübergehend bewahrt wurden, aufzustellen. Über die entsprechenden Daten für Preußen verfugte das RMdl, dem das preußische Innenministerium angegliedert worden war, bereits. 32 Die Erfassung der Anstaltsinsassen begann mit einem Runderlaß der Abt. IV/RMdl vom 9. Oktober 1939, der von Conti unterzeichnet worden war. Unter Hinweis »auf die Notwendigkeit planwirtschaftlicher Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten« wurden den Anstalten Vordrucke eines Meldebogens zugeleitet, in den neben den persönlichen Daten der Patienten Angaben zur Diagnose, zur >Rassenzugehörigkeit< u n d - bei sicherungs verwahrten Anstaltsinsassen - zu den kriminellen Delikten einzutragen waren. Aus einem beigefugten Merkblatt wurde ersichtlich, welche Patienten erfaßt werden sollten: »Zu melden sind sämtliche Patienten, die 1. an nachstehenden Krankheiten leiden und in den Anstaltsbetrieben nicht oder nur mit mechanischen Arbeiten (Zupfen u. ä.) zu beschäftigen sind: Schizophrenie, Epilepsie (wenn exogen, Kriegsbeschädigung oder andere Ursachen angeben), senile Erkrankungen, Therapie-refraktäre Paralyse und andere Lues-Erkrankungen, Schwachsinn jeder Ursache, Encephalitis, Huntington und andere neurologische Endzustände; oder 2. sich seit mindestens 5 Jahren dauernd in Anstalten befinden; oder 3. als kriminelle Geisteskranke verwahrt sind; oder 4. nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder nicht deutschen oder artverwandten Blutes sind unter Angabe von Rasse und Staatsangehörigkeit.« 3 3 197

In gewissem Sinne engten die Richtlinien zur Ausfüllung des Meldebogens den in Hitlers Ermächtigungsschreiben erwähnten Personenkreis der unheilbar Kranken ein, indem sie ihn auf die >Erbkranken< im Bereich der Neurologie und Psychiatrie beschränkten, die auch im Mittelpunkt des GzVeN gestanden hatten. Schizophrenie, Epilepsie und >Schwachsinn< waren diejenigen Diagnosen, die den weitaus meisten Euthanasieopfern gestellt wurden. Den Unterlagen von 1396 Patienten aus den bayerischen Heil-und Pflegeanstalten Eglfing-Haar und Gabersee zufolge, die im Verlauf der >Euthanasieaktion< liquidiert wurden, litten 76,1% der getöteten Anstaltsinsassen an Schizophrenie, 6,2% an >SchwachsinnPsychopathieEuthanásieaktion< zum Opfer fielen, litten 34,4% an >SchwachsinnIdiotiePsychopathie< und 0,1% an manisch-depressivem Irresein. 34 Bei den Mordopfern aus den öffentlichen Anstalten überwog also die Diagnose Schizophrenie, während die Diagnosen >Schwachsinn< und Epilepsie mit weitem Abstand folgten; bei den Mordopfern aus kirchlichen Einrichtungen herrschte die Diagnose >Schwachsinn< vor, während die Diagnosen Epilepsie und Schizophrenie weit weniger häufig gestellt wurden. Es war jedoch nicht ausschließlich die psychiatrische Diagnose, die über den >Lebenswert< oder >-unwert< eines Anstaltsinsassen entschied. Arbeitsleistung, >Rassenzugehörigkeit< und >Asozialität< bzw. Kriminalität stellten in zunehmendem Maße zusätzliche Selektionskriterien dar, die im Verbund mit einer geistigen Behinderung oder Krankheit den Ausschlag zur Einbeziehung in die > Vernichtung lebensunwerten Lebens( gaben. 1. Auf dem Merkblatt zum Meldebogen war bereits festgelegt worden, daß nur Anstaltsinsassen gemeldet werden sollten, die bestenfalls zu »mechanischen Arbeiten« herangezogen werden konnten. Ergänzend verlangte der Meldebogen eine » genaue Angabe der Art der Beschäftigung «. 3 5 In einer Neufassung des Meldebogens vom Mai 1940 wurde auf genaue Angaben zur Arbeitsfähigkeit noch größeres Gewicht gelegt: »Genaueste Bezeichnung der Arbeit und der Arbeitsleistung, z. B. Feldarbeit, leistet nicht viel Schlosserei, guter Facharbeiter - keine unbestimmten Angaben, wie Hausarbeit, sondern eindeutige: Zimmerreinigung usw. Auch immer angeben, ob dauernd, häufig oder nur zeitweise beschäftigt. « 3 6 Außerdem wurden 198

nun Angaben zur Therapie verlangt. Unter der Rubrik Diagnose war anzugeben, ob Anstaltsinsassen bettlägrig, unruhig, unsauber oder unheilbar körperlich krank waren. Offenbar sollten unter den Langzeitpatienten, die von Anfang an mit erfaßt worden waren, die Pflegefálle ausgesondert werden, die nicht mehr arbeitsfähig waren, während Anstaltsbewohner, die als unentbehrliche Arbeitskräfte oft über Gebühr lange in den Anstalten zurückbehalten worden waren, geschont werden sollten. Wahrscheinlich diente die Umgestaltung des Meldebogens dazu, den Gesichtspunkt der Arbeitsfähigkeit bei der Begutachtung stärker zur Geltung zu bringen. Bei der ersten Verlegungswelle im ersten Halbjahr 1940 waren reihenweise Patienten, die als wertvolle Arbeitskräfte eingestuft worden waren, abgeholt worden. Als Beispiel sei die Anstalt Weißenau angeführt: »Mit einer geradezu bösartigen Sinnlosigkeit waren hier in den ersten Transporten die besten Arbeiter ausgesucht worden. « 3 7 Doch wurde der Begriff der Arbeitsfähigkeit von den Entscheidungsträgern in der Zentraldienststelle der >Euthanasieaktion< auch weiterhin außerordentlich eng gefaßt. Der Landeshauptmann der Provinz Hannover, Geßner, legte am 11. Juli 1940 - wahrscheinlich in der Absicht, die Zahl der Verlegungen zu vermindern - dem RMdl eine extensive Definition des im Merkblatt zum Meldebogen benutzten Begriffs der »mechanischen Arbeiten« vor, derzufolge lediglich Arbeiten, »die keinerlei Geschicklichkeit erfordern, wie Zupfen, Sortieren von Lumpen und Papier, Erbsenauszählen und dergleichen«, nicht aber das »Anfertigen von Kartonagen, Tüten, Matten und dergleichen, Arbeiten, bei denen es auf die Genauigkeit des Arbeitsergebnisses ankommt und eine gewisse Geschicklichkeit nötig ist«, oder »Arbeiten in Haushalt und Küche, wiez. B. Kartoffelnschälen und Gemüseputzen« zu den »mechanischen Arbeiten« gezählt wurden. 3 8 Linden antwortete am 26. Juli 1940, alle genannten Tätigkeiten fielen unter den Begriff der »mechanischen Arbeiten«, und gab als allgemeine Richtlinie an: »Es sind eher zu viel als zu wenig Kranke zu melden.« 3 9 Auch Bouhler und Brandt, die als Führerbevollmächtigte am 30. Januar 1941 bzw. 10. März 1941 Richtlinien zur Begutachtung erließen, verlangten eine »Ausscheidung nach strengem Maßstab«. Im März 1941 verfugten sie die Selektion nicht nur der »geistig Toten«, sondern »aller deijenigen, die unfähig sind, auch nur in Anstalten produktive Arbeit zu leisten«. 40 2. Die Frage nach der Staats- und >Rassenzugehörigkeit< diente der Erfassung der jüdischen Anstaltsinsassen. Ihre Ermordung scheint- entgegen den Einlassungen der Angeklagten im Nürnberger Ärzteprozeß — von Anfang an beschlossene Sache gewesen zu sein. Neben den Juden deutscher Staatsangehörigkeit waren Brandt und Bouhler zufolge auch staatenlose und Juden aus Übersee in die >Euthanasieaktion< einzubeziehen, während sonstige ausländische Juden in jüdische Anstalten verlegt oder in ihr Heimatland, insbesondere in die Schweiz, abgeschoben werden sollten. 41 3. Die Frage nach den als kriminell internierten Geisteskranken zielte 199

zunächst auf die gemäß §42b/c RStGB Sicherheitsverwahrten ab, sodann auch auf Anstaltsbewohner, die von der Polizei oder den Fürsorgeverbänden eingewiesen worden waren, weil sie >erhebliche Straftaten< begangen hatten, wegen Zurechnungsunfähigkeit gemäß §51 RStGB jedoch freigesprochen oder gar nicht erst strafrechtlich verfolgt worden waren. 4 2 Im Prinzip wurde durch diese Regelung die als asoziale Psychopathen« stigmatisierte Teilgruppe der Anstaltsbewohner in die >Euthanasieaktion< einbezogen. 43 Bei der Erfassung der Anstaltsinsassen sollten ferner drei Teilgruppen kenntlich gemacht werden, die mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung im In- und Ausland zumindest zeitweilig verschont werden sollten: Kriegsversehrte, Alterserkrankte und Ausländer. 1. Seit dem Mai 1940 wurde im Meldebogen gezielt nach Kriegsbeschädigungen gefragt. Im Kriegsverlauf versuchte man, auch die Kriegsversehrten des Zweiten Weltkriegs zu ermitteln. 44 Brandt und Bouhler erlegten den Gutachtern im Januar 1941 bei Kriegsteilnehmern Zurückhaltung auf. Anstaltsbewohner mit Kriegsauszeichnungen sollten nicht in die >Aktion T4< einbezogen werden. 4 5 Zwei Monate später verschärften die Führerbevollmächtigten ihre Richtlinien. Kriegsteilnahme allein, hieß es nun ausdrücklich, rechtfertige keine Zurückstellung. Insassen mit Auszeichnungen, Verdiensten und Verwundungen - ihre Bewertung sollte dem Leiter der Zentraldienststelle Brack vorbehalten bleiben - sollten vorerst in den Anstalten des Euthanasieapparats zurückgestellt werden. 4 6 Diese Maßnahme diente offensichtlich dazu, die öffentliche Meinung nicht gegen die Euthanasieaktion aufzubringen. Dennoch scheute man sich im Verlauf der >Euthanasieaktion< nicht, Anstaltsinsassen, die im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet worden waren, ja selbst Kriegsversehrte aus dem Zweiten Weltkrieg zu töten. 4 7 2. »Größte Zurückhaltung«, schärften Brandt und Bouhler den Gutachtern ein, sei bei den »Senilen« geboten. 4 8 Damit waren etwa die Arteriosklerotiker gemeint, deren Geisteskraft im hohen Alter nachgelassen hatte, nicht aber Psychotiker, Schizophrene und Epileptiker, die hinter Anstaltsmauern alt geworden waren. Auch wenn Senilität mit >Asozialität< und Kriminalität gepaart auftrat, galt sie nicht als Zurückstellungsgrund. Man kalkulierte, daß das Schicksal dieser Geisteskranken in der Öffentlichkeit weniger Aufmerksamkeit erregen werde als das Los derer, die bis zu ihrer Erkrankung im Produktionsprozeß gestanden hatten. Erst nach dem Stopp der >Aktion T4< ging man dazu über, die Altersheime zu >durchkämmenAktion T4< sollte bestimmte besetzte Gebiete - das Elsaß und Lothringen, Luxemburg und Eupen-Malmedy, das Generalgouvernement und das Protektorat Böhmen und Mähren - aussparen. Tschechen mit deutscher Staatsangehörigkeit, die in Anstalten außerhalb des Protektorats untergebracht waren, sollten in die >Euthanasie< einbezogen, Tschechen mit tschechischer Staatsangehörigkeit, die sich in den Anstalten des >Altreichs< aufhielten, in das Protektorat abgeschoben werden. Feindliche Ausländer sollten - mit Ausnahme von Staatenlosen und unbekannten Ausländern, um 200

die sich niemand kümmerte - ebenfalls verschont werden. Kriegsgefangene polnischer oder anderer Nationalität waren ebenso ausgenommen. Die polnischen Insassen der Anstalten in Schlesien, dem Warthegau und DanzigWestpreußen sollten bis auf weiteres nicht unter die >Aktion T4< fallen, sondern in polnischen Anstalten zusammengefaßt werden. Zu dem Zeitpunkt, als diese Richtlinien ergingen, waren die Massenmorde in den Anstalten des Generalgouvernements und der annektierten polnischen Gebiete sowie der östlichen Randprovinzen jedoch bereits weitgehend abgeschlossen. 5 0 ' Fragt man sich, welcher Personenkreis durch die Selektionskriterien erfaßt wurde, bleibt festzuhalten, daß aus der Gruppe der im Sinne der empirischen Erbprognose >erblich belastetem geistig Kranken oder Behinderten, die sich in Anstaltspflege befanden, diejenige Teilgruppe ausgesondert werden sollte, deren Arbeitskraft zumindest eingeschränkt war und die deshalb - da die Euthanasiepsychiater der Arbeitstherapie größtes Gewicht beimaßen 51 - als therapierefraktär galt. Hinzu traten diejenigen Teilgruppen der Anstaltsbevölkerung, die nach den Kriterien des radikalen Antisemitismus als >rassisch minderwertig< oder unter den Gesichtspunkten sozialer Diagnostik als sozial deviant eingestuft wurden, während aus Gründen der politischen Opportunität die Gruppen der Kriegsversehrten, Alterserkrankten und Ausländer ausgeklammert werden sollten. Die Kombination von Erblichkeit, Unheilbarkeit, Arbeitsunfähigkeit und >AsozialitätLebenswert< oder >-unwert< der Kranken, wobei sie sich einzig und allein auf den Meldebogen stützten. Das Ergebnis des Gutachtens trugen die Ärzte auf den ihnen zugesandten Kopien in schwarz umrandeten Kästchen ein: ein rotes +, wenn ein Kranker getötet werden sollte, ein blaues - , wenn er am Leben bleiben sollte. Konnte sich ein Gutachter nicht entschließen, durfte er ein ? einsetzen. Unter ihre Entscheidung setzten die Gutachter ihr Handzeichen, in der Regel den ersten Buchstaben ihres Nachnamens. Eine Begründung der Entscheidung war nicht erforderlich. Die Gutachter bearbeiteten jeweils nur die Meldebogen ihnen fremder Fälle. Nur gelegentlich fanden oberflächliche Untersuchungen an Ort und Stelle statt. 54 Daß dieses Begutachtungsverfahren eine Farce war, zeigte sich beispielsweise an einem Briefwechsel zwischen dem Leiter der Medizinalabteilung der Zentraldienststelle Heyde und dem Gutachter Pfannmüller vom 25. bzw. 29. November 1940, aus dem hervorging, daß Pfannmüller in höchstens drei Tagen 300 Fälle begutachtete. Dies war beileibe kein Einzelfall. In der Zeit vom 12. November bis zum 1. Dezember 1940 stellte Pfannmüller insgesamt 2109 Gutachten aus, bearbeitete also über 100 Fälle täglich. 55 Dr. Josef Arthur Schreck bearbeitete in einem Dreivierteljahr 15000 Meldebogen, wie er meinte, »sehr gewissenhaft«. 56 Die Zentraldienststelle förderte die Oberflächlichkeit der Gutachten, indem sie die Gutachter entsprechend der Anzahl der begutachteten Fälle entlohnte. Aus einem Aktenvermerk vom 6. Dezember 1940 geht hervor, daß die Gutachter seit dem 1. Oktober 1940 fur die Bearbeitung von bis zu 500 Meldebogen im Monat 100,-RM, von bis zu 2000 Meldebogen 200,-RM, von bis zu 3500 Meldebogen 300,-RM und von über 3500 Meldebogen 400,-RM erhielten. 57 Sobald die Meldebogen wieder in der Berliner Euthanasiezentrale eintrafen, wurden die Zeichen der Gutachter handschriftlich auf das Original des Meldebogens übertragen, das dann einem Obergutachter zur endgültigen Entscheidung vorgelegt wurde. Die Obergutachter vermerkten ihr Urteil mit denselben Zeichen auf dem Meldebogen wie die Gutachter. Sie mußten zu einer Entscheidung kommen, konnten jedoch in Einzelfällen Zurückstellungen verfügen. In Zweifelsfällen, z.B. bei Alterserkrankungen, fällte Brack das endgültige Urteil. Zunächst war ausschließlich Linden als Obergutachter eingesetzt; später kam Heyde hinzu; schließlich wurde Linden durch Nitsche ersetzt. Das bedeutete, daß zwei Obergutachter im Zeitraum von Januar 1940 bis August 1941 weit mehr als 70000 Meldebogen - diese Zahl umfaßt nur die Fälle, die zur Tötung freigegeben wurden - beurteilten neben ihrem Hauptberuf und ihren zahlreichen Ehrenämtern. Hatten die Obergutachter ihre Entscheidung gefällt, gingen die Meldebogen an die Zentraldienststelle zurück, wo sie, sofern auf Tötung des Begutachteten erkannt worden war, samt der in der Akte belassenen Kopien an Vorberg, den Leiter der GEKRAT, weitergeleitet wurden. 58 Die Leiter und Ärzte der Heil- und Pflegeanstalten waren sich zunächst über die eigentliche Verwendung der Meldebogen im unklaren. Im allge202

meinen vermutete man eine wehrdienstliche Angelegenheit, ζ. B. den Einsatz von Geisteskranken in der Kriegs- und Landwirtschaft oder eine Trennung der genesungs- und arbeitsfähigen von den unheilbaren Kranken zwecks Lebensmittelrationierung, eine aus dem Ersten Weltkrieg bekannte Maßnahme. Man schenkte den Meldebogen zunächst wenig Beachtung und füllte sie oft recht nachlässig aus, zumal die Frist zur Bearbeitung der Meldebogen außerordentlich knapp bemessen war und großer Personalmangel herrschte - vor allem in den nichtstaatlichen Anstalten waren die Ärzte häufig zur Wehrmacht eingezogen worden, so daß medizinische Laien die Meldebogen nach Aktenlage ausfüllten. Die Folge war, daß eine große Zahl von Anstaltsinsassen der >Euthanasieaktion< nur deshalb zum Opfer fiel, weil beim Ausfullen der Meldebogen auch >leichte Schwachsinnsgrade< als >Idiotie< - vormals ein Sammelbegriff für die verschiedenen Ausprägungen des >Schwachsinns< - bezeichnet wurden. 5 9 Häufig übertrieb man die Arbeitsunfähigkeit von Anstaltsinsassen, deren Arbeitskraft man dem eigenen Anstaltsbetrieb erhalten wollte, was für die Betroffenen das Todesurteil bedeuten konnte. 6 0 Nachdem Gerüchte über die >Euthanasieaktion< an die Öffentlichkeit gedrungen waren, versuchten manche Anstalten, das Ausfüllen der Meldebogen zu verzögern. Eine Ausnahme bildete die Anstalt Tannenhof in Remscheid-Lüttringhausen, die das Ausfüllen der Meldebogen rundheraus ablehnte: »Die Meldebogen 1 bedauern wir nicht ausfüllen zu können, nachdem wir erfahren haben, daß diese Meldebogen als Unterlagen für die Ausmerzung Gemeinschaftsunfähiger dienen sollen. Wir furchten, uns dadurch der Beihilfe zu ungesetzlichen Handlungen schuldig zu machen. « 6 1

Als der Zweck der Meldebogen bekannt war, widersetzten sich viele Anstalten der Durchführung der Verlegungen, ζ. B. durch die Verfälschung der Meldebogen, das Hinhalten der Behörden, die Benachrichtigung der Angehörigen, vorzeitige Entlassungen oder Verlegungen, Einsprüche gegen Verlegungsbefehle, Verstecken von Anstaltspfleglingen, Beihilfe zur Flucht. Die Länderbehörden untersagten daraufhin den Anstalten eigenmächtige Entlassung, Verlegung und Benachrichtigung von Verwandten. Die Zentraldienststelle der >Euthanasieaktion< antwortete auf Verzögerung und Verweigerung mit der Entsendung von Ärztekommissionen, deren Auftraggeber offiziell das RMdl war. Diese Ärztekommissionen füllten die Meldebogen in den Anstalten aus, wobei sie willkürlich — oft in der Reihenfolge des Alphabets - Kranke auswählten, die zur Vernichtung freigegeben wurden. Als Teilnehmer an solchen Ärztekommissionen sind die Ärzte Eberl, Schumann, Baumhardt, Lonauer, Renno, Steinmeyer, Mennecke, Schreck, Pfannmüller und Munkwitz belegt. Dr. Robert Müller scheute sich nicht, in seiner eigenen Anstalt Königslutter zu selegieren. Wenn die Zentraldienststelle feststellte, daß eine Anstalt versuchte, ihre Pfleglinge dadurch zu retten, daß sie ihre Arbeitsleistung übertrieb, wur203

den zuverlässige Ärzte wie Eberl ermächtigt, Nachuntersuchungen anzustellen. 62 Die G E K R A T fertigte auf Grund der eingegangenen Tötungsentscheidungen Transportlisten an, von denen eine über die Abteilung IV des RMdl, ζ. T. unter Einschaltung der zuständigen Länderministerien oder anderer vorgesetzter Dienststellen, zur Vorbereitung der Verlegung an die Stammanstalt, eine andere an die Tötungsanstalt, in deren Einzugsgebiet die Stammanstalt lag, verschickt wurde. Mit der Transportliste erhielten die Stammanstalten eine hektographierte Anordnung, die die Umstände der Übergabe regelte: Personalakten, Krankengeschichten und Besitztümer der Kranken, vor allem Geld und Wertgegenstände, waren auszuhändigen; unruhige Kranke mußten vor dem Transport mit Beruhigungsmitteln behandelt werden; die Anstaltsleitungen waren dafür verantwortlich, daß die Kranken keine Messer oder sonstigen als Waffen verwendbaren Gegenstände mit auf die Fahrt nahmen; die Kranken sollten Leukoplaststreifen mit ihrem Namenszug auf dem Rücken tragen; nicht transportfähige Kranke waren ausdrücklich vom Transport ausgenommen. Außerdem wurde den Stammanstalten durch eine Anweisung des RMdl verboten, die Angehörigen der Kranken von der bevorstehenden Verlegung zu unterrichten. Dagegen wurde in den Verlegungsbefehlen die Verständigung des Kostenträgers bzw. der Strafvollstreckungsbehörde gefordert, damit diese ihre Zahlungen über den Verlegungstermin hinaus aussetzten, bis sie von der Aufnahmeanstalt benachrichtigt wurden. Ziel und Zweck der Verlegungen gingen aus den Verlegungsbefehlen nicht hervor. Es war lediglich von kriegswichtigen Maßnahmen im Auftrag des zuständigen Reichsverteidigungskommissars die Rede. 6 3 Die Tötungsanstalten veranlaßten von sich aus die Abholung der Opfer. Jeweils eine Transportliste mit dem endgültigen Datum der Abholung ging an die zuständige Länder- oder Provinzialbehörde bzw. an die Stammanstalt, eine dritte unter Nennung des Verlegungsziels an die G E K R A T Die Verlegungen wurden in der Regel sehr kurzfristig angekündigt. Am Tage der Verlegung erschien eine Transportstaffel der G E K R A T in der Stammanstalt. Transportführer war gewöhnlich ein Fahrdienstleiter der G E K R A T , manchmal auch ein Angestellter der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege oder ein Arzt der Tötungsanstalt. Das Verlegungsziel wurde vor den Ärzten, Schwestern, Pflegern und Insassen der Stammanstalten geheimgehalten. Die Transportleiter waren angewiesen, die Busse vollbesetzt abfahren zu lassen. Wenn das infolge eines Todesfalls oder wegen der Transportunfähigkeit eines Kranken nicht möglich war, griff man auf einen anderen im Verlegungsbefehl angegebenen Kranken zurück. Denn seit April/Mai 1940 wurden auf den Verlegungsbefehlen die Namen von etwa 25% mehr Anstaltsinsassen aufgeführt, als tatsächlich abtransportiert wurden. Dadurch erhielten die Anstaltsleiter ein Mitspracherecht, welcher Anstaltsbewohner verlegt bzw. zurückgestellt wurde, was ihnen einerseits die 204

Möglichkeit bot, einzelne Kranke zu retten, sie andrerseits zu Komplizen der Euthanasiebürokraten machte. 64 Die Insassen der Heil- und Pflegeanstalten befanden sich im Zustand höchster Erregung und Verstörung. Viele von ihnen wußten um die Bedeutung der Verlegungen und lebten in ständiger Todesangst und im vollen Bewußtsein ihrer Hilflosigkeit. Fluchtversuche, manchmal vom Personal begünstigt, kamen vor. Mancher Kranke wehrte sich gegen den Abtransport und wurde mit Gewalt verschleppt. In Briefen baten Anstaltsinsassen ihre Angehörigen, sie aufzunehmen. Zwei Briefe von Anstaltspfleglingen an ihre Angehörigen sollen als Zeugnis für die Not dieser Menschen dienen: »Liebe Eltern und Geschwister! Ich lebe wieder in einer Angst, weil die Auto wieder hier waren... Wenn man da nicht aufgeregt wird, dann müßte man Nerven von Stahl und Eisen haben. Ihr könnt Euch freilich nicht in die Lage stellen, wie die Situation ist. Wenn sie aber kommen und nehmen einen am Kragen, ich bin freilich keine Schwache, das ist klar, aber ich würde es nicht glauben, wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie sie einen mitnehmen wollten, w o arbeitet in der Gärtnerei. Das sind keine Vermutungen, das ist alles wahr, was ich berichte, die Regierung will nicht mehr so viel Anstalten und uns wollen sie auf die Seite schaffen. « »Liebe Schwester: Da ja bei uns die Angst und Not immer größer wird, so will ich Dir auch mein Anliegen mitteilen. Gestern sind wieder die Auto da gewesen und vor acht Tagen auch, sie haben wieder viele geholt wo man nicht gedacht hätte. Es wurde uns so schwer, daß wir alle weinten und vollends war es mir schwer, als ich M. S. nicht mehr sah... Nun möchte ich Dich bitten, daß Du für mich einstehen würdest, daß ich zu Dir kommen dürfte, denn wir wissen nicht, ob sie die nächste Woche nicht wiederkommen. - Wenn wir je einander nicht Wiedersehen würden, so will ich meinen herzlichsten Dank aussprechen für alles was Du an mir getan hast. « 65

Im April/Mai 1940 wurden im Einzugsgebiet jeder Mordstätte mehrere Heil- und Pflegeanstalten zu Zwischenanstalten umfunktioniert. Die verschleppten Anstaltsinsassen wurden nun nicht mehr unmittelbar in die Tötungsanstalten eingeliefert, sondern zunächst in Zwischenanstalten geschafft. Diese Maßnahme diente einerseits der Tarnung, da es fur die Angehörigen schwieriger wurde, den Verbleib der verschleppten Anstaltsinsassen ausfindig zu machen. Andrerseits eröffnete sich den Angehörigen durch die Errichtung der Zwischenanstalten eine »versteckte Widerspruchsfrist« 66 - in einer Anweisung an die Zwischenanstalt Neuruppin, die Patienten aus Berlin aufnahm, hieß es am 9. August 1940, »daß Entlassungsanträgen in jedem Falle zu entsprechen sei, wenn nicht, wie auch sonst, besondere Gründe z.B. polizeiliche Einweisung, Sicherungsverwahrung oder Gemeingefährlichkeit die Ablehnung des Entlassungsantrages rechtfertigen«. 67 Außerdem bot der Einschub einer mehrwöchigen Frist zwischen Todesurteil und Hinrichtung die Möglichkeit, Fehlentscheidungen im Begutachtungsverfahren rückgängig zu machen. Die Zwischenanstalten waren jedoch nicht als Ergänzung des Begutachtungsverfahrens gedacht. Es 205

war den Leitern der Zwischenanstalten sogar ausdrücklich verboten, von sich aus Patienten vom Weitertransport zurückzustellen. Bereits am 12. Februar 1941 waren sämtliche Zwischenanstalten in diesem Sinne instruiert worden. Beim badischen und württembergischen Innenministerium mahnte die Zentraldienststelle an: »Es hat sich in einigen Zwischenanstalten im Laufe der Zeit der Brauch entwickelt, daß der Anstaltsleiter von sich aus zwischenverlegte Patienten als gute Arbeiter reklamiert und dementsprechend zurückbehalten hat. Daraus haben sich für den Ablauf der Aktion erhebliche Schwierigkeiten ergeben. Zunächst einmal tritt dadurch eine höchst unerwünschte Verstopfung unserer Durchgangsbetten ein. Darüber hinaus k o m m t es häufig vor, daß diese Patienten in ihre Ursprungsanstalt zurückgekommen sind, und somit die ganze bisherige Arbeit überflüssig wurde. Die Patienten mußten nämlich dann von neuem erfaßt und gegebenenfalls nochmals transportiert werden. Die Mitarbeit der Direktoren der Zwischenanstalten ist an sich sehr begrüßenswert. Aus Gründen der Verantwortlichkeit kannjedoch eine selbständige Zurückbehaltung von Kranken unter keinen Umständen in Frage kommen. Es ist vielmehr erforderlich, daß in j e d e m einzelnen Fall, bei dem eine Zurückstellung erwünscht erscheint, ein eingehender Befundbericht an mich gesandt wird. E s kann nur von hier aus endgültig entschieden werden, ob eine Einbeziehung in die Aktion erfolgt oder nicht. « 6 8

In den Zwischenanstalten konnte eine große Zahl von Mordopfern in Bereitschaft gehalten werden, die auf Abruf in die Tötungsanstalten verlegt wurden, so daß in der Liquidierungsmaschinerie kein Leerlauf entstand. Viele Patienten starben bereits auf den tage-, manchmal wochenlangen Transporten von den Stamm- zu den Zwischenanstalten, die unter menschenunwürdigen Bedingungen stattfanden. Weitere Patienten fanden schon in den völlig überfüllten Zwischenanstalten — mitunter auch durch Abspritzungen - den Tod. Als Zwischenanstalten dienten u. a. Zwiefalten (Grafeneck), Neuruppin, Buch/Berlin (Brandenburg), Zschadraß, Arnsdorf und Großschweidnitz in Sachsen (Sonnenstein), Teupitz und Görden in Brandenburg, Jerichow, Uchtspringe, Alt-Scherbitz in der Provinz Sachsen (Bernburg), Niederhart, Ybbs, Gschwandt (Hartheim), Eichberg, Herborn, Weilmünster, Kalmenhof und Scheuern in Hessen, Andernach in der Rheinprovinz, Wiesloch in Baden (Hadamar). 69 Unmittelbar nach dem Eintreffen der Transporte in den Tötungsanstalten- in den meisten Fällen vergingen keine 24 Stunden zwischen der Ankunft und dem Tod der Opfer - wurden die Kranken zur >Untersuchung< in den Warteraum gebracht, gemessen, gewogen, photographiert, ausgezogen und mit einer aufgestempelten Nummer gekennzeichnet. Einzeln wurden sie im Untersuchungszimmer dem Tötungsarzt vorgeführt. Dieser sah kurz die Krankengeschichte und die Kopie des Meldebogens ein und überprüfte, ob die Vermerke der Gutachter mit ihrem Handzeichen versehen waren. Die >Untersuchung Trostbriefabteilungen*. Die >Trostbriefe< wurden nach einem festen Schema verfaßt: Mit knappen Beileidsbezeugungen und unter Hinweis auf die >Erlösung< des Verstorbenen von seinem >unheilbaren Leiden< wurde der Tod unter Angabe der erfundenen Todesursache mitgeteilt; die sofortige Einäscherung des Leichnams begründete man mit >seuchenpolizeilichen Anordnungen der örtlichen Polizeibehörde; die Überfuhrung der Urne wurde angeboten; die Kleidung des Toten wurde den Angehörigen vorenthalten, indem man vorgab, sie hätte unter einer Desinfektion gelitten und sei der N S V überlassen worden. Die Unterschrift leistete der Tötungsarzt, wobei er sich eines Falschnamens bediente. 75 Da die Masse der Sterbefälle in den Tötungsanstalten bei den zuständigen Standesämtern Aufsehen erregt hätte, ordnete die Berliner Euthanasiezentrale die Einrichtung von >Sonderstandesämtern< innerhalb der Anstalten an, die fur die Ermordeten Sterbeurkunden mit der erfundenen Todesursache ausstellten. Diese Sterbeurkunden wurden den >Trostbriefen< beigefugt, die Unterlagen - das Krankenblatt und ein dem Meldebogen 1 entsprechendes Formblatt - blieben in den >SonderstandesämternAktion T4< führten diese Standesämter nur ein einziges Sterberegister. Als sich die Todesfälle Mitte 1940 häuften, wurden in jedem Standesamt mehrere Register angelegt, die von Zeit zu Zeit abgeschlossen und neu begonnen wurden. 7 6 Weil die Patienten eines Transportes für gewöhnlich aus derselben Gegend stammten, konnte es vorkommen, daß selbst in kleinen Orten zur gleichen Zeit zahlreiche Todesnachrichten aus einer einzigen Tötungsanstalt eintrafen. U m das zu verhindern, richtete man in den Tötungsanstalten >Absteckabteilungen< ein. Dort wurde der Heimatort jedes Ermordeten auf einer Generalstabskarte markiert und in Kombination mit einem Zeitplan für jeden Sterbefall ein geeigneter Todestag festgesetzt. Aus diesem Grunde trugen die Tötungsärzte zunächst kein Datum in die Totenscheine ein. Die Sterbeakte wanderte vielmehr zuerst in die >Absteckabteilung< und von dort aus in das >SonderstandesamtAbsteckabteilungen< verschiedener Anstalten Sterbeakten austauschten. 77 Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen wurden die Massenmorde hinter Anstaltsmauern im Jahre 1940 in der Bevölkerung bekannt. 78 Dazu trugen nicht zuletzt die haarsträubenden Irrtümer bei, die den Mördern bei der Fälschung der Todesursachen und der Sterbedaten unterliefen. Die Kreisleitung der N S D A P Ansbach listete in einem Bericht an die Gauleitung Franken solche Fälle auf: 208

» 1. Eine Familie hat versehentlich zwei Urnen bekommen. 2. Eine Todesnachricht zeigte als Todesursache: Blinddarmentzündung. Der Blinddarm war aber bereits vor zehn Jahren herausoperiert worden. 3. Eine andere Todesursache war Rückenmarkleiden. Die Familienangehörigen hatten den vollkommen körperlich Gesunden 8 Tage vorher besucht. 4. Eine Familie erhielt eine Todesanzeige, während die Frau heute noch in der Anstalt lebt und sich körperlich bester Gesundheit erfreut. « 7 9

In den Familien wurden die Todesnachrichten mit wachsendem Mißtrauen aufgenommen, das sich in den Todesanzeigen widerspiegelte. In der 3. Beilage der »Leipziger Neuesten Nachrichten« vom 13. Oktober 1940 fanden sich auf einer einzigen Seite allein vier solcher Todesanzeigen: »Nach banger Ungewißheit erhielt ich von Grafeneck i. Württemberg die unfaßbare Nachricht, daß mein geliebter M a n n , . . . der Kunstglaser H . S . , Kriegsteilnehmer 1914-18, am 6. Okt. 1940 seine lieben Augen für immer geschlossen hat. « »E. R. W., Kaufmann, wurde von langem schweren Leiden e r l ö s t . . . Die Einäscherung hat bereits in Linz a. d. Donau stattgefunden. « »Wir erhielten nach bereits erfolgter Einäscherung aus Grafeneck i. Wttbg. die traurige Nachricht von dem plötzlichen Tod unseres einzigen geliebten Sohnes und Bruders B . S.« »Wir erhielten die unfaßbare Nachricht, daß mein innigstgeliebter S o h n , . . . der Elektromechaniker E. S. plötzlich und unerwartet in der Landesheilanstalt Sonnenstein/Pirna verstorben ist. Die Einäscherung hat dort bereits stattgefunden. « 8 0

Auf der Gaupressekonferenz vom 30. April 1941 wurden die Hauptschriftleiter darauf aufmerksam gemacht, daß solche Anzeigen nicht mehr gedruckt werden durften. Die Verbreitung von Gerüchten über die >Aktion T4< konnte dadurch nicht aufgehalten werden. In der Bevölkerung stieß die >Vernichtung lebensunwerten Lebens< in einem Maße auf Ablehnung, das unter den Rahmenbedingungen des >Dritten Reiches< erstaunlich zu nennen ist. Wiederholt kam es zu Aufläufen vor Anstaltstoren, als die grauen Omnibusse der G E K R A T vorfuhren. Viele der versammelten Menschen - darunter auch Angehörige der N S D A P - machten ihrem Unmut durch Schmähungen gegen die Transportstaffeln Luft. 8 1 Als ein Zug, in dem sich Hitler aufhielt, im Sommer 1941 im Bahnhof von Hof dadurch aufgehalten wurde, daß Geisteskranke in Eisenbahnwaggons getrieben wurden, soll eine entrüstete Menschenmenge sogar in Hohnrufe auf den >Führer< ausgebrochen sein. 82 Will man dieses Verhalten erklären, muß man berücksichtigen, daß die >Euthanasie< - ihrer Tendenz zur Expansion des zur >Euthanasie< bestimmten Personenkreises wegen - stets die Gefahr der Selbstvernichtung in sich barg und durch die drohende Einbeziehung von Kriegsversehrten, Arbeitsinvaliden, Altersheiminsassen, Krankenhauspatienten usw. ein Klima der Bedrohung schuf, das zum Widerspruch herausforderte, während die Judenverfolgung, die sich im Gegensatz zur >Euthanasie< in der Öffentlichkeit abspielte, als Fremdvernichtung ver209

standen werden konnte. 8 3 In einem Brief des Limburger Bischofs Hilfrich an Reichsjustizminister Gürtner kam diese angstgeladene Atmosphäre zum Ausdruck: »Öfter in der Woche kommen Autobussse mit einer größeren Anzahl solcher Opfer in Hadamar an. Schulkinder der Umgebung kennen diese Wagen und reden: >Da kommt wieder die Mordkiste*. Nach Ankunft solcher Wagen beobachten dann die Hadamarer Bürger den aus dem Schlot aufsteigenden Rauch und sind von dem ständigen Gedanken an die armen Opfer erschüttert, zumal wenn sie, je nach der Windrichtung, durch die widerlichen Düfte belästigt werden... Kinder, einander beschimpfend, tun Äußerungen: >Du bist nicht recht gescheit, du kommst nach Hadamar in den BackofenHeiraten, nein! Kinder in die Welt setzen, die dann in den Rex-Apparat kommen!* Bei alten Leuten hört man die Worte: >Ja in kein staatliches Krankenhaus: Nach den Schwachsinnigen kommen die Alten als unnütze Esser an die Reihe*. unproduktive< Menschen befürchteten«. 85 Überraschend wurde die >Aktion T4< im August 1941 abgebrochen. Hitler erteilte seinem Begleitarzt Brandt den mündlichen Befehl zur Einstellung der Vergasungen im Rahmen der >Aktion T4< zur Weitergabe an die Führung der Zentraldienststelle. Brandt übermittelte den Befehl telephonisch an Bouhler und unterrichtete Brack und Hefelmann mündlich. Schriftliche Unterlagen über diesen Vorgang scheinen nicht bestanden zu haben. Aus einem Aktenvermerk des Bernburger Tötungsarztes Eberl vom 15. Januar 1943 ging hervor, daß »die Arbeit der Gemeinnützigen Stiftung fur Anstaltspflege und damit der gesamten Anstalten... seit dem 24. August 1941 « ruhte. Eberl fugte hinzu: »Seit dieser Zeit sind Desinfektionen [Vergasungen] nur in ganz geringem Umfange vorgenommen worden. Dies wird auch weiterhin in sehr beschränktem Umfang der Fall sein.« 86 Der Aktenvermerk Eberls deutet bereits darauf hin, daß der Stopp der >Aktion T4< keineswegs das Ende aller Maßnahmen zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens* - nicht einmal der Vergasungen - bedeutete. Er leitete vielmehr eine Umstrukturierung der >Euthanasieaktion* ein, die mit einer zeitweiligen Einschränkung der Krankentötungen verbunden war. Der Entscheidung zum Abbruch der im Rahmen der >Aktion T4* durchgeführten Vergasungen lag ein ganzes Bündel von Ursachen zugrunde. Innerhalb dieses Ursachengeflechts dürfte die Beunruhigung der Bevölkerung, die vom nationalsozialistischen Regime, das sich auf Grund seiner charismatischen Legitimationsbasis auch auf ein plebiszitäres Mandat stützte, genau registriert wurde, von besonderem Gewicht gewesen sein. Die 210

Geheimhaltung der Massenmorde hinter Anstaltsmauern ließ sich umso weniger aufrechterhalten, als die Predigt des Bischofs von Münster, v. Galen, vom 3. August 1941 entscheidend dazu beitrug, daß die Öffentlichkeit von der »Vernichtung lebensunwerten Lebens< in Kenntnis gesetzt wurde. Indem diese Predigt - anders als die meisten anderen Proteste, die in großer Zahl von seiten kirchlicher Würdenträger erhoben wurden - Öffentlichkeit herstellte, setzte sie die Machthaber, die dem Zwang zur Geheimhaltung unterlagen, unter Druck. Von daher kann sie als die einzige Protestaktion aus den Reihen der Kirchen angesehen werden, die effektiv zum Stopp der »Aktion T4< beitrug. 8 7 Daß die geheime Reichssache in der Bevölkerung des Deutschen Reiches allgemein bekannt war, wog sicherlich schwerer als die Tatsache, daß Nachrichten über die »Vernichtung lebensunwerten Lebens< auch ins Ausland gedrungen waren, wobei berücksichtigt werden muß, daß diese Nachrichten — vermittelt durch die >Feindpropaganda< — wieder nach Deutschland gelangten. 88 Die Friktionen, die sich infolge des »Euthanasieprogramms< im Justizapparat ergeben hatten, waren zu dem Zeitpunkt, als die »Aktion T4< gestoppt wurde, restlos ausgeräumt, so daß man davon ausgehen kann, daß sie bei der Entscheidung zum Abbruch der mit der »Aktion T4< zusammenhängenden Vergasungen keine Rolle spielten. 89 Dem Dualismus von Normen- und Maßnahmenstaat, der sich bei der Realisierung des Euthanasieprogramms, nicht zuletzt wegen des Zwangs zur Geheimhaltung, störend bemerkbar gemacht hatte, kam innerhalb des Ursachengeflechts, das dem Stopp der »Aktion T4< zugrundelag, jedoch insofern Bedeutung zu, als er die Entscheidungsträger in den außernormativen Machtaggregaten auf den rechtlosen Raum verwies, der sich in den besetzten Ostgebieten auftat, um einen vielfach umfangreicheren Vernichtungsfeldzug zu beginnen. 9 0 Dabei dürfte die Entscheidung zur Verlagerung des Schwergewichts der Vernichtungsmaßnahmen in den Osten dadurch erleichtert worden sein, daß die »Euthanasieaktion< in den Grenzen des »Altreiches< das selbstgesteckte Planziel von 70000 Liquidierungen zum Zeitpunkt des Stopps der »Aktion T4< bereits überschritten hatte. 9 1 Der Umstand, daß der Stopp der »Aktion T4< mit einer Schwerpunktverlagerung der Vernichtungsmaßnahmen in die Ostgebiete verbunden war, deutet daraufhin, daß die Entscheidung zur Einstellung der im Rahmen der »Aktion T4< durchgeführten Vergasungen auch von Verschiebungen im Machtgefiige des nationalsozialistischen Regimes beeinflußt wurde. Hatte sich die Bewerbung der Kanzlei des Führers um eine Führervollmacht zur >Erwachseneneuthanasie< gegen den Stabsleiter des StdF, Bormann, gerichtet, dürfte die Zurücknahme des Führerbefehls nicht zuletzt auf einen Machtzuwachs Bormanns zurückzufuhren sein, der nach Heß' Englandflug am 12. Mai 1941 zum Leiter der Parteikanzlei, wie die Dienststelle des StdF nun genannt wurde, berufen und Hitler persönlich unterstellt wurde, w o durch er seine Beziehungen zu Hitler ausbauen konnte. Je mehr Bormann an Einfluß gewann, desto mehr wurden die Befugnisse der Kanzlei des Führers 211

beschnitten. 1942 legte Bormann in einer grundsätzlichen Erörterung mit Bouhler Wert auf die Feststellung, daß sich die Kanzlei des Führers im Gegensatz zur Parteikanzlei mit »Einzelfállen« zu befassen habe, aber »nicht mit grundsätzlichen Angelegenheiten«. 92 Auch der Machtverfall des Reichsgesundheitsfiihrers spielte eine Rolle. Conti war zwar von der Kanzlei des Führers aus dem Leitungsgremium des Euthanasieapparates verdrängt worden, erfüllte aber innerhalb der Euthanasieadministration insofern eine nicht unbedeutende Aufgabe, als er den Teil des bürokratischen Apparates der >EuthanasieaktionEuthanasieaktion< vom RFSS und Chef der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler, und vom Chef der Sicherheitspolizei (Sipo) und des SD, Reinhard Heydrich, bestanden. Das Engagement des Machtaggregates von SS, SD und RSHA kam in der Abkommandierung von Personal und der Bereitstellung von Ausrüstung durch die SS, der Beratung bei der Entscheidung über die bei der >Euthanasieaktion< verwendete Tötungsart und der Beschaffung der Tötungsmittel durch das KTI, der Einbeziehung der Konzentrationslager in die >Euthanasieaktion< im Rahmen der >Sonderbehandlung 14fl3Aktion T4< und den seit September 1939 in den besetzten Ostgebieten operierenden Verbänden der SS, des SD und der Sipo, in der Beteiligung Heydrichs an den Beratungen über eine gesetzliche Grundlage der >EuthanasieaktionEuthanasieaktion< übernommen. Der Berliner Professor für Neurologie und Psychiatrie de Crinis, der bei der Planung der >EuthanasieEuthanasieaktion< zu partizipieren, ohne sich zu kompromittieren, wie schon aus der Tatsache hervorging, daß die SS-Mitgliedschaft während einer Tätigkeit im Rahmen der >Euthanasieaktion< ruhte. 9 6 Als sich die Proteste gegen die >Euthanasieaktion< häuften und Friktionen mit der Justiz eintraten, versuchten Himmler und Heydrich, die Beteiligung des SS/SD/RSHA-Komplexes an der >Aktion T4< herunterzuspielen. Heydrich beauftragte im November 1940 den Verbindungsmann der SS im RJM, Dr. Joël, dem Reichsjustizminister mitzuteilen, daß »die Sicherheitspolizei... nicht Träger der inzwischen eingeleiteten Aktion« sei und sich nur »wegen erhobener Vorstellungen kritisch mit den Vorgängen« 97 befasse. Himmler verlangte am 19. Dezember 1940 von Brack die Schließung von Grafeneck und versicherte am selben Tag dem Leiter des Parteigerichts, W. Buch, der ihm den Protest der Frauenschaftsfiihrerin E. v. Löwis übermittelt hatte, daß die SS »nur mit Wagen, Autos u. ä. « 9 8 aushelfe. Ohne die Unterstützung Himmlers war es jedoch nur eine Frage der Zeit, wann der Kanzlei des Führers die Führervollmacht entzogen wurde. Als es soweit war, übernahm die SS einen Großteil des Personals, der Technik und der Organisation der >EuthanasieaktionAktion T4Euthanasieaktion< keineswegs beendet. Von den Tötungsanstalten, die im August 1941 noch in Betrieb waren, wurde nur Hadamar vorübergehend stillgelegt. Die Vergasungsanlagen in Hartheim, Bernburg und Sonnenstein blieben erhalten. Hier fanden auch weiterhin Vergasungen von KZ-Häftlingen im Rahmen der > Sonderbehandlung 14fl3< statt. Vermutlich wurden auch, wenngleich in geringem Umfang, Insassen von Heil- und Pflegeanstalten, etwa zu Forschungszwecken, nach dem August 1941 vergast. Au213

ßerdem wurde die >Kindereuthanasie< durch die Heraufsetzung der Altersgrenze ausgedehnt. Schließlich wurden von den Ärzten, die im Zusammenhang mit dem Euthanasieapparat standen, fortab in den Heil- und Pflegeanstalten Giftmorde verübt (>wilde EuthanasieEuthanasieaktion< wieder zentralisiert wurden.

214

Vili. >Sonderaktionen
Euthanasieaktion< ausgenommen waren, weil »die damalige Staatsfiihrung den Juden diese Wohltat nicht gegönnt h a t . . . es sollte, wie Bouhler sich ausgedrückt hat, die Wohltat der Euthanasie nur Deutschen zugute kommen«. 1 In den Meldebogen seien Juden nur erfaßt worden, damit »man ein derartig weitläufiges Verfahren gleichzeitig benutzte, um noch andere Unterlagen zu erhalten«; diese »planwirtschaftliche Erfassung« sei gleichzeitig eine »Tarnmaßnahme« 2 gewesen. Es kannjedoch im Gegensatz zu diesen Aussagen kein Zweifel daran bestehen, daß im Kontext der >Euthanasieaktion< der erste Massenmord an jüdischen Menschen unter dem nationalsozialistischen Regime geplant war. Schon im Juni 1938 hatte das RMdl die Trennung von Deutschen und Juden in den Heil- und Pflegeanstalten verfugt, wobei als Begründung die Gefahr der >Rassenschande< angeführt worden war. Am 15. April 1940 erging ein Erlaß des RMdl, der die Erfassung aller jüdischen Anstaltsinsassen innerhalb von drei Wochen anordnete. Während das RMdl am 12. Juni 1940 die Meldung der jüdischen Anstaltspfleglinge bei den nachgeordneten Dienststellen anmahnte, wurden aus der Anstalt Berlin-Buch rd. 200 dort zusammengezogene jüdische Anstaltsinsassen - Männer, Frauen und Kind e r - in das ehemalige Zuchthaus Brandenburg gebracht und von dem Tötungsarzt Eberl vergast. Weitere Judentransporte nach Brandenburg folgten. Am 30. August 1940 verfugte das RMdl in einem weiteren Runderlaß, daß die jüdischen Geisteskranken in einzelnen Anstalten konzentriert werden sollten. Begründet wurde diese Maßnahme damit, daß »der noch immer bestehende Zustand, daß Juden mit Deutschen in Heil- und Pflegeanstalten gemeinsam untergebracht« seien, »nicht weiter hingenommen werden« könne, »da er zu Beschwerden des Pflegepersonals und von Angehörigen der Kranken Anlaß gegeben hat«. 3 Auf Veranlassung des RMdl wurden die jüdischen Pfleglinge - deutsche, polnische und staatenlose >Volljudentypisch jüdisch< aussahen, vor der Kamera gestikulieren - als »Abschaum der Menschheit«. Am 20. September 1940 konnte Pfannmüller seine Anstalt >judenfrei< melden. Die Kranken waren angeblich in die »Reichsanstalt Cholm, Post Lublin, Polen-Generalgouvernement« verlegt worden. 4 Aus der Sammelstelle Wunstorf wurden am 27. September 1940 158 von 180 jüdischen Kranken, die aus 25 psychiatrischen Institutionen Hannovers und Westfalens - u. a. aus den v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel - hierher verlegt worden waren, der GEKRAT übergeben, die sie in Eisenbahnwaggons abtransportierte. Dabei wurden auch zwei Patienten, die nicht unter die Selektionskriterien fielen, verschleppt. Der Bestimmungsort des Transportes tauchte in den Akten nicht auf. Zunächst bestand offenbar die Sprachregelung, daß eine Anstalt in der Nähe Berlins als Zielort angegeben wurde, ab Ende September wurde auch das Generalgouvernement als Zielgebiet genannt; seit Mitte Dezember 1940 wurde ausgewählten Angehörigen und Behörden als Aufenthaltsort der verlegten jüdischen Pfleglinge die Anstalt Cholm bei Lublin, manchmal aber auch die Anstalten Gkobierzyn bei Krakau und Pruschkow bei Warschau mitgeteilt. Im Jahre 1941 erhielt die Anstalt Wunstorf die Nachricht, daß zwei der verlegten jüdischen Geisteskranken in der Anstalt Cholm gestorben seien. 5 O b die Judentransporte aus Eglfing-Haar und Wunstorf tatsächlich in das Generalgouvernement, womöglich in die Anstalt Chelm-Lubelski, deren 440 Patienten im Januar 1940 von der Gestapo erschossen worden waren, 6 gingen oder ob sie - wie die ersten Judentransporte - im Zuchthaus Brandenburg endeten, ist ungewiß. Fest steht hingegen, daß die >TrostbriefeSonderbehandlung

14fl3
Schwerstkranken< in den KZ zur Verfügung zu stellen. Bouhler richtete den Auftrag an Brack aus, der seinerseits die ärztliche Leitung der »Aktion T4< verständigte. Die Tätigkeit der T4-Gutachter und -Tötungsärzte bei der Liquidierung von KZ-Häftlingen wurde als »Sonderbehandlung 14fl3< bezeichnet. >14fl3< war ein Aktenzeichen des Obersturmbannführers Liebehenschel, des Inspekteurs der Konzentrationslager beim RFSS, der seit März 1942 die Amtsgruppe D im Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (WVHA) leitete. >14< war das Kürzel für Todesfälle in den KZ, >13< bezeichnete die Todesart (Vergasung). Das Aktenzeichen >14fl3< bildete das Bindeglied zwischen der »Aktion T4< und den KZ. 1 Zwei Briefe Liebehenschels vom 10. Dezember 1941 bzw. vom 10. Januar 1942 bereiteten die KZ Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald, Mauthausen, Auschwitz, Flossenbürg, Groß-Rosen, Neuengamme und Niederhagen auf den Besuch einer Ärztekommission zur >Ausmusterung< von Häftlingen vor. Aus dem zweiten Schreiben ging die Beteiligung des SS-Obersturmbannführers und T4-Gutachters Mennecke 2 an der »Sonderbehandlung 14fl3< hervor. Da Mennecke bereits in einem Privatbrief vom April 1941 von seiner Arbeit im KZ Sachsenhausen berichtete, ist davon auszugehen, daß die »Sonderbehandlung 14fl3< entgegen der Aussage Bracks schon im Frühjahr 1941 begann. Die Selektion in den KZ überdauerte die »Aktion T4< um zwei bis drei Jahre. 3 Bereits vor dem Eintreffen der Ärztekommissionen wurden alle Häftlinge, die als arbeitsunfähig eingestuft wurden, von der SS »ausgesonderte Die Akten der ausgewählten Häftlinge wurden den Kommissionen von den politischen Abteilungen der Lager bereitgestellt. Die Ärzte ließen die Häftlinge, denen man gesagt hatte, sie kämen zur Heilung in ein anderes Lager mit besseren Lebensbedingungen, an sich vorbeiziehen. Eine körperliche Untersuchung fand nicht statt. Die Ärzte füllten für die Häftlinge den Meldebogen 1 aus und versahen ihn mit ihrem Tötungsvorschlag. Die ausgefüllten Meldebogen lieferten sie in der Zentraldienststelle der »Aktion T4< ab. Von dort gelangten sie zur GEKRAT, die Verlegungslisten zusammenstellte und an die Tötungsanstalten Sonnenstein, Bernburg und Hartheim schickte. Diese setzten sich direkt mit den KZ in Verbindung, um den Abtransport zu regeln. 4 Beispielsweise bat die Tötungsanstalt Bernburg am 3. März 1942 das KZ Groß-Rosen um den »Antransport« von 214 Häftlingen, die am 16. /17. Januar 1942 von Mennecke ausgesondert worden waren: »Uns erscheint der 24. 3. 1942 als Ankunftstag der geeignetste, da wir in der Zwischenzeit von anderen Konzentrationslagern beliefert werden und für 217

uns arbeitstechnisch ein Zwischenraum notwendig ist.« 5 Am 6. März 1942 teilte Groß-Rosen mit Bedauern mit, daß es »z. Z. nur noch etwa 125 Häftlinge sind, die überstellt werden«. 6 Am 24. und 26. März 1942 wurden dann je 107 Häftlinge aus Groß-Rosen in Bernburg vergast. Über die Zusammenarbeit bei der >Sonderbehandlung 14fl3< hinaus übernahm Bernburg die Verbrennung der in der Außenstelle Junkerswerke Schönebeck/ Elbe des K Z Buchenwald anfallenden Häftlingsleichen. Von den T4-Gutachtern waren Heyde, Nitsche, Mennecke, Schmalenbach, Schumann, Heboid, Lonauer, Müller, Steinmeyer, Wischer und Ratka an Ärztekommissionen beteiligt, die in den K Z selektierten. 7 Die Briefe Menneckes an seine Frau verdeutlichen den Zynismus der Selektionsärzte. In einem Brief vom 26. November 1941 aus Weimar (KZ Buchenwald) hieß es: »Zunächst gab es noch ca. 40 B ö g e n fertig auszufüllen von einer 1. Portion A r i e r . . . Anschließend erfolgte dann die >Untersuchung< der Pat., d. h. eine Vorstellung der einzelnen u. Vergleich der aus den Akten entnommenen E i n t r a g u n g e n . . . als 2. Portion folgen nun insgesamt 1200 Juden, die sämtlich nicht erst >untersucht< werden, sondern bei denen es genügt, die Verhaftungsgründe (oft sehr umfangreich!) aus der Akte zu entnehmen u. auf die B ö g e n zu übertragen. Es ist also eine rein theoretische A r b e i t . . . Nach den Juden folgen noch etwa 300 Arier als 3. Portion, die wieder >untersucht< werden müssen.« 8

Da zur Begutachtung nur die Vordrucke des Meldebogens 1 zur Verfügung standen, vermerkte Mennecke als >Diagnose< ζ. B. »triebhafter, haltloser Psychopath, deutschfeindliche Gesinnung«, »Fanatischer Deutschenhasser und asozialer Psychopath« oder unter der Rubrik >SymptomeSonderbehandlung 14fl3< von oben her eingedämmt. A m 26. März 1942 erging ein Rundschreiben des RFSS durch seinen KZ-Inspekteur an die Lagerkommandanten, daß unter Berücksichtigung der »den K L gestellten Arbeitsaufgaben« 11 die Auswahl der zu vernichtenden Häftlinge ausschließlich unter dem Aspekt der Arbeitsunfähigkeit zu geschehen habe. Am 27. April 1943 wurde vom SS-WVHA im Auftrag des RFSS die Vernichtung allein auf Geisteskranke beschränkt, die zudem nur von den dazu bestimmten Ärztekommissionen ausgesondert werden durften. Alle übrigen kranken Häftlinge seien von der >Aussonde218

rung< auszunehmen, da man Bettlägrige mit entsprechenden Arbeiten befassen könne. Das ökonomische Interesse der SS an der Ausbeutung der Sklavenarbeit, die von den KZ-Häftlingen verrichtet wurde, überwog jetzt offenbar den rassistisch motivierten Vernichtungswillen. Die Zahl der KZ-Häftlinge, die im Rahmen der >Sonderbehandlung 14fl3< in den Tötungsanstalten der >Aktion T4< vergast wurden, wird auf 20000 geschätzt. 12 Von April 1944 an wurden, da der Krankenstand im K Z Mauthausen auf 10000 von 50000 Häftlingen anstieg, vor allem die >MuselmanenSonderbehandlung 14fl3< wegen wurde die Demontage der Gaskammer in Hartheim bis zum 12. Dezember 1944 hinausgeschoben. An dieser Tötungsstätte sollen alles in allem 30000 Menschen zu Tode gekommen sein. 13

219

IX. Die Reinstitutionalisierung der >Euthanasieaktion< in den Jahren 1943/1944 Í. Die >wilde Euthanasie< Mit dem Abbruch der Vergasungen von Anstaltsinsassen, soweit sie im Rahmen der >Aktion T4< durchgeführt worden waren, 1 nahm der Massenmord hinter Anstaltsmauern kein Ende. Auf einer Tagung, die Ende N o vember 1941 in Sonnenstein/Pirna stattfand, wurde den versammelten T ö tungsärzten gegenüber erklärt, »daß die >Aktion< durch den eingetretenen Stopp im August 1941 nicht beendet sei, sondern weitergeführt werde«. 2 Im Zuge einer Dezentralisierung der >Euthanasieaktion< sollten die Krankentötungen fortab von zuverlässigen Ärzten, Schwestern und Pflegern durch überdosierte Medikamentengaben in den Heil- und Pflegeanstalten ausgeführt werden. Deshalb deutete man von Seiten der Zentraldienststelle der >Euthanasieaktion< den Mitarbeitern vor Ort gegenüber an, »daß es nicht unerwünscht sei, wenn der eine oder andere Arzt in den Anstalten dazu bereit wäre, einen Patienten zu töten, durch Einspritzungen oder Überdosierungen, wenn er von dessen Auslöschung überzeugt sei. Dieser Vorgang würde dann ohne jede N o r m und ohne jedes Verfahren erfolgen.« 3 Auch von Seiten derjenigen Länderbehörden, die sich in starkem Maße bei der >Aktion T4< engagiert hatten, wurde auf die Fortsetzung der Krankentötung gedrungen. Bereits nach der Schließung von Grafeneck hatte der Ministerialrat E. Stähle, der höchste Medizinalbeamte im württembergischen Innenministerium, der Direktorin der Anstalt Zwiefalten ausrichten lassen, er halte es für selbstverständlich, »daß die Direktoren selbst Euthanasie weiterbetreiben würden«. 4 K. Astel, Staatsrat im thüringischen Innenministerium, Rektor der Universität Jena und Leiter des Thüringischen Amtes für Rassewesen, forderte die Ärzte der Anstalt Hildburghausen auf, die >Euthanasie< fortzusetzen. 5 Im Jahre 1943 wurde Astel von Linden gerügt, weil in den Krankenblättern der Universitätskinderklinik Jena immer wieder Eintragungen wie »Euthanasie beantragt« auftauchten, obwohl »nach außen hin die Tatsache, daß in Einzelfällen Euthanasie gewährt werden kann, nicht in Erscheinung treten« 6 sollte. Der stellvertretende Leiter der Anstalt Arnsdorf, E. Leonhardt, wurde bereits am 30. September 1941 durch eine Verfügung des sächsischen Innenministeriums »mit der weiteren Durchführung der Sonderaktion betraut«. 7 In Sachsen waren die Leiter der Heil- und Pflegeanstalten und ihre Stellvertreter von seiten des Ministeriums für 220

Gesundheitswesen bereits vor Kriegsbeginn angewiesen worden, unruhige Kranke durch überdosierte Medikamentengaben zu beseitigen. Durch diese >Dämmerschlafkuren< war die Sterblichkeit in den Heil- und Pflegeanstalten bereits vor den ersten Vergasungen auf ein Vielfaches gestiegen. 8 Wie in Sachsen knüpften auch anderenorts die nach dem Stopp der >Aktion T4< ergriffenen Maßnahmen zur Krankentötung an Vorkriegsentwicklungen an. Dies galt in besonderem Maße für die Krankentötungen durch Verhungernlassen, war doch durch die einschneidende Kürzung der Verpflegungssätze in den Anfangsjahren des >Dritten Reiches* eine ausreichende Ernährung der Anstaltsinsassen kaum noch zu gewährleisten gewesen. 9 Dementsprechend waren die Sterblichkeitsziffern in den Heil- und Pflegeanstalten bereits vor Beginn der >Euthanasieaktion< - etwa seit 1938- gestiegen. 10 Am 17. November 1942 forderte der bayerische Staatskommissar für das Gesundheitswesen, W. Schultze, anläßlich einer Konferenz der bayerischen Anstaltsdirektoren im Münchner Innenministerium die Anstaltsleiter auf, unheilbar Kranke schlechter zu ernähren als Kranke mit Heilungsaussichten. Zwei Anstaltsleiter - beide in die >Euthanasieaktion< verstrickt - setzten sich besonders für die Einfuhrung der sog. >E-Kost< (Entzugskost) ein. Pfannmüller, Leiter der Anstalt Eglfing-Haar, erzählte den Anwesenden, »daß er einmal einer Pflegerin ein Stück Brot entrissen habe, das diese den Kranken habe geben wollen«. 11 Der Leiter der Anstalt Kaufbeuren-Irsee, Falthauser, der in der Abteilung Irsee seit August 1942, in der Hauptanstalt Kaufbeuren seit Oktober 1942 mit der Verabreichung der Hungerkost begonnen hatte, erklärte auf der Konferenz, »er gehe jetzt in seiner ihm unterstellten Anstalt so vor, daß er den Kranken, die sonst unter die Euthanasie gefallen wären, eine völlig fettlose Kost verabreichen ließe, er mache ausdrücklich auf fettlos aufmerksam. Innerhalb dreier Monate gingen die Kranken daraufhin durch Hungerödem ein. « 12 Am 30. November ordnete das bayerische Innenministerium an, daß - nach dem Vorbild Eglfing-Haars und Kaufbeuren-Irsees »diejenigen Insassen der Heil- und Pflegeanstalten, die nutzbringende Arbeit leisten oder in therapeutischer Behandlung stehen, ferner die noch bildungsfähigen Kinder, die Kriegsbeschädigten und die an Alterspsychose Leidenden zu Lasten der übrigen Insassen besser verpflegt werden« 1 3 sollten. Diese schriftliche Weisung war - wie das Beispiel der Anstalt Lohr zeigte - keineswegs bindend. In Eglfing-Haar führte der bayerische Erlaß zur Einrichtung zweier >HungerhäuserHungerhäusen war streng verboten. Das niedrigste Durchschnittsgewicht der männlichen Insassen der Anstalt Eglfing, das auf Grund der kriegsbedingten schlechten Ernährungslage zum Kriegsende hin erreicht wurde, lag mit 51,2kg (1942: 60kg) noch 11 kg höher als das der vorsätzlich ausgehungerten Männer des >HungerhausesHungerhäusern< starben bis zum 1. Juni 1945 an den direkten oder indirekten Folgen des Nahrungsentzugs 444 Kranke, obwohl nur ausgesucht antriebsschwache, körperlich entkräftete Patienten für die >Sonderbehandlung< in Frage kamen. 1 5 In Kaufbeuren stieg die Zahl der Todesfälle in den Jahren 1942/1943, d.h. bevor die Giftmorde in größerem Ausmaß einsetzten, um fast 300%, in der Außenstelle Irsee - wo die mit der Pflege betrauten Ordensschwestern die >E-Kost< heimlich aufbesserten - >nur< um 43%. Der Anstaltspfarrer von Irsee hat die dortigen Zustände folgendermaßen beschrieben: »Der Anblick der ausgemergelten, weiß gelblichen Gestalten auf den Stationen war kaum zu ertragen. Die Kranken waren zum Teil nicht mehr imstande, sich von ihrem Platz zu erheben, und bei Besuchen auf den Stationen konnte man sich des Betteins um Brot kaum noch erwehren. « 16 Auch außerhalb Bayerns, ζ. B. in Hessen und Sachsen, wurde Hungerkost verabreicht. Auf dem hessischen Eichberg, wo Mennecke Krankentötungen vornahm, sank der tägliche Verpflegungssatz auf 32-46 Pfg., obwohl der Fürsorgeverband einen Tagessatz von 1,80-2,50 R M entrichtete. Während die landwirtschaftlichen Erzeugnisse, die in den Eigenbetrieben der Anstalt produziert wurden, u. a. an Einrichtungen der N S D A P abgeführt wurden, ernährten sich die Anstaltsinsassen von gekochten Kartoffelschalen, Brennnesseln und Löwenzahn. Viele von ihnen erlagen dadurch einer >natürlichen Todesursache< wie Darmkatarrh. 1 7 Von Seiten der Euthanasietechnokraten in der Zentraldienststelle wurde das Aushungern der Anstaltsinsassen, sofern es nicht mit überdosierten Medikamentengaben kombiniert wurde, abgelehnt. Heinze schrieb am 20. Januar 1944 an Nitsche, eine Rezentralisierung der >Euthanasiaktion< sei unumgänglich, wenn man betrachte, »welcher Wahnsinn, ich denke nur an die von Großschweidnitz empfohlene Vitaminkost, der auch Herr Faltlhauser zuzustimmen geneigt war, betrieben wird«. 1 8 Der Betriebsarzt der Euthanasiezentrale, C u r d A . Runckel, berichtete Nitsche am 30. Juni 1944 von einer Inspektionsreise: »Was mich immer wieder erstaunt, ist die einerseits ablehnende Haltung vieler Direktoren gegenüber der Sterbehilfe, andererseits die selbstverständliche Billigung der verminderten Ernährung unheilbar Geisteskranker, die auf manchen Anstalten wirklich unschöne Formen zeigt. Man lehnt es ab, den Patienten die Leiden zu verkürzen durch Darreichung von Medikamenten und ist aber absolut damit einverstanden, daß der Patient wirklich hungert und unterernährt eines Tages den Weg geht, den man ihm durch eine kleine Hilfe hätte erleichtern können. So in Haina, Merxhausen, Tapiau, Kortau, in sämtlichen niederschlesischen Anstalten und ebenfalls in Rybnik.« 1 9 222

Nach Auffassung der ärztlichen Leitung der Zentraldienststelle sollten die durch Unterernährung und Unterbringung in unsauberen und ungeheizten Räumen geschwächten Anstaltsinsassen durch überdosierte Medikamentengaben getötet werden. Vorbildhaft war das bereits zu Beginn des Jahres 1940 von Nitsche - in Zusammenarbeit mit Renno - ausgearbeitete >Luminal-Schemawilden Euthanasie< durch die Überdosierung von Barbituraten, z. B. Luminal oder Veronal, die unter das Essen gemischt oder in Flüssigkeit aufgelöst wurden, manchmal auch durch Injektionen von Luft oder Morphium-Skopolamin. Der qualvolle Todeskampf der Mordopfer zog sich über Tage hin, wobei Lähmungs- und Erstickungserscheinungen auftraten. Durch die Verabreichung einer überdosierten Medikamentengabe, die allmählich zum Tode führte, sollte eine > natürliche Todesursache< vorgetäuscht werden. »So wird auch mit wenigen Ausnahmen der Tod des Euthanasierten sich vom natürlichen Tod kaum unterscheiden. Das ist das zu erstrebende Ziel.« 20 Der österreichische Arzt E. Gelny, der im Oktober 1943, mit einem Tötungsauftrag versehen, seinen Dienst in der Anstalt Gugging antrat, entwickelte über das Töten durch Abspritzen und Aushungern hinaus - eine Methode zur Liquidierung durch Ε-Schock, die nach dem Prinzip des elektrischen Stuhls funktionierte. 2 1 Obwohl die Zentraldienststelle der >Euthanasieaktion< nach dem Stopp der >Aktion T4< am Aufbau einer die gesamte Anstaltsbevölkerung umfassenden Kartei arbeitete, die als Grundlage fur die Wiederaufnahme der Vergasungen dienen sollte, entfiel in der Phase der >wilden Euthanasie< das zentral gesteuerte Begutachtungsverfahren. Über den >Lebenswert< oder >unwert< eines Anstaltsbewohners wurde nun in den Heil- und Pflegeanstalten selbst von Ärzten, Schwestern und Pflegern entschieden. Ausschlaggebend war dabei der Gesichtspunkt der Arbeitsfähigkeit. Aber auch Patienten, die dem Personal lästig waren, wurden hingerichtet — wie etwa die Bettnässer im Lehrlingsheim auf dem Kalmenhof bei Idstein. Ein Fluchtversuch oder ein Diebstahl, Widersetzlichkeit oder Aufsässigkeit, Unruhe oder Unsauberkeit, Selbstbefriedigung oder Homosexualität konnten für einen Anstaltsbewohner das Todesurteil bedeuten. 22 Der Begriff der >wilden Euthanasie* ist in gewisser Weise irreführend. Es trifft zwar zu, daß die Zentraldienststelle der >Euthanasieaktion< nicht von allen Maßnahmen zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens* in den Heilund Pflegeanstalten unterrichtet war. Noch am 24. Juli 1944 berichtete Runckel über eine Besichtigung der Anstalt Ueckermünde an Nitsche, der leitende Arzt, Herr Dr. Hillweg, habe sich der >Euthanasie< gegenüber aufgeschlossen gezeigt: »Seine vorsichtig in Erfahrung gebrachte Einstellung 223

gegenüber der Euthanasie ist durchaus positiv. Aus seinen Andeutungen glaube ich heraus gehört zu haben, daß er im gewissen Sinne bereits eine Art Sterbehilfe betreibt. Es wäre vielleicht zweckmäßig, sich einmal mit ihm persönlich über diese Frage eingehend zu unterhalten«. 23 Der Fall zeigt, daß man von seiten der Zentraldienststelle der >Euthanasieaktion< damit rechnete, daß Maßnahmen zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens< auch unabhängig vom zentralen Euthanasieapparat ergriffen wurden. Es bleibtjedoch festzuhalten, daß die > wilde EuthanasieEuthanasieaktion< kam, im großen und ganzen von der Euthanasiezentrale initiiert, koodiniert und kontrolliert wurde.

2. Die Ausweitung

der Erfassung zur

Vernichtung

Nach dem Stopp der >Aktion T4< machte sich die Zentraldienststelle der >Euthanasieaktion< daran, ein zentrales Kataster anzulegen, das - anders als bei der Datenerhebung mit Hilfe des Meldebogens 1, die nur einen Teil der Anstaltsbevölkerung erfaßt hatte 1 - alle Anstaltsinsassen umfassen sollte. Gegenüber dem Oberpräsidium der Rheinprovinz, das geargwöhnt hatte, daß die Vernichtungsmaßnahmen ausgeweitet werden sollten, beeilte sich das RMdl/Abtg. IV zu versichern, es handele sich lediglich um eine »Erbbestandsaufnahme«. »An eine Erweiterung des Personenkreises, der in die plan wirtschaftlichen Maßnahmen einbezogen werden soll«, sei hingegen »nicht gedacht«. 2 Am 24. September 1942 leitete Nitsche den Entwurf eines Erlasses zur Einschärfung der Meldepflicht an Linden weiter, der die Meldung aller Patienten psychiatrischer Institutionen, die bis dahin nicht erfaßt worden waren, zum 1. Februar 1943 vorsah sowie die halbjährliche Meldung derjenigen Insassen von Heil- und Pflegeanstalten, die neu aufgenommen wurden. Dieser Erlaß wurde am 12. November 1942 vom RMdl herausgegeben, am 19. Dezember 1942jedoch bereits durch eine Verfugung verschärft, die quartalsweise Meldungen anordnete. 3 Diese Meldungen sollten von der Zentraldienststelle überprüft werden, »um bei einer evtl. Aufhebung des >Stopp< in der Lage zu sein, mit den Arbeiten.beginnen zu können«. 4 Gleichzeitig begannen die Ärzte der Euthanasiezentrale, die noch unerledigten Meldebogen 1 an Ort und Stelle zu überprüfen. »Der frühere meist rücksichtslose Abtransport auch noch nicht geklärter oder in der Persönlichkeit gut erhaltener Fälle oder eben guter Arbeiter hat nicht nur in der Bevölkerung Beunruhigung, sondern auch bei allen amtlichen Stellen Bedenken hervorgerufen«, stellte der Landesrat, Anstaltsdezernerit von Holstein und Mitarbeiter der Euthanasiezentrale Erich Straub in einem Bericht über eine Nachuntersuchung in Schleswig-Stadtfeld vom 14. März 1942 fest und empfahl »mit Rücksicht auf die Irrtumsmöglichkeit und die Unzulänglichkeit der Meldebogen« eine »systematische Durchprüfung aller 224

als positiv bezeichneten Fälle vor dem Abtransport«. 5 Auf der Grundlage der Nachuntersuchungen und der Meldungen aus den Heil- und Pflegeanstalten entstand in der Zentraldienststelle eine sog. >Z-Kartei+?< bezeichnete einen >Plusfall0< bedeutete, daß ein Anstaltsinsasse endgültig zurückgestellt war, >ZKZKT 39Aktion T4< verschickte Meldebogen 2. Außerdem profitierte die Euthanasiezentrale von einer U m frage des Reichsgesundheitsamtes, das am 15. Oktober 1940 von den Provinzial- und Länderbehörden sowie vom Deutschen Gemeindetag Informationen zu den Bettenzahlen, Pflegekostensätzen und jährlichen Gesamtausgaben der Heil- und Pflegeanstalten eingeholt hatte. 8 Nach der Ernennung Lindens zum Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten am 23. Oktober 1941 wurde für die zweite Januarhälfte 1942 eine Sitzung der Anstaltsdezernenten der Provinzial- und Länderbehörden in Berlin anberaumt, bei der auch die Einfuhrung monatlicher Meldungen über Veränderungen im Bestand der Anstalten und Heime angekündigt werden sollte, wobei die Reservelazarette insgeheim mit erfaßt werden sollten. 9 Die Angaben, die auf diese Weise bei Linden eingingen, konnten mit den Daten verglichen werden, die bei den vom Herbst 1941 bis zum Frühjahr 1943 von den Ärzten der Euthanasiezentrale durchgeführten >Planungsfahrten< durch sämtliche Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches gesammelt wurden. 1 0 Diese Informationen sollten die Grundlage einer Reorganisation der institutionalisierten Psychiatrie nach der >Euthanasieaktion< bilden. Die Zentraldienststelle beschränkte sich nicht darauf, die Insassen der Heil- und Pflegeanstalten zu erfassen, sondern weitete gerade nach dem Stopp der > Aktion T4< die Erfassung auf Randgruppen der psychiatrischen 225

Klientel, vor allem auf die Insassen von Arbeitshäusern, Altersheimen und Fürsorgeheimen aus. Die Gruppe der >GemeinschaftsfremdenDritten Reiches< von den rassenhygienischen Sterilisierungen weitgehend ausgenommen worden. Stattdessen hatte man begonnen, sie durch Asylierung, sei es durch Einweisung in KZ ohne gesetzliche Grundlage, sei es durch Unterbringung in Arbeitshäusern auf Grund des Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher, auszugrenzen. Bereits in den Jahren 1939-1941 waren die >Gemeinschaftsfremden< dann in zunehmendem Maße in die >Euthanasieaktion< einbezogen worden. In einem geheimen Führerbefehl vom 19. November 1940 ermächtigte Hitler die beiden Euthanasiebeauftragten Brandt und Bouhler zur Freigabe von Schwangerschaftsunterbrechungen in Fällen, in denen mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten war, daß die Geburt des Kindes unerwünscht war. Auf Grund dieser Ermächtigung entschied der Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erbund anlagebedingter schwerer Leiden über Anträge zur Abtreibung aus erbhygienischer, rassischer und ethischer Indikation. Alleiniger Gutachter war der auch an der >Kindereuthanasie< beteiligte Kinderarzt Wentzler. Als ein Gesichtspunkt der Begutachtung galten »charakterliche Minderwertigkeiten, rückfällige Kriminalität«. 11 Alle sechs in den ersten zehn Monaten unter diesem Gesichtspunkt gestellten Anträge wurden genehmigt. Allerdings war man, was die >Vernichtung lebensunwerten Lebens< vor der Geburt anging, zurückhaltend. Brack gab zu bedenken: »Bei den Fällen, bei denen eine Schwangerschaftsunterbrechung nicht angeordnet wird, ist ja, falls ein erbkrankes Kind geboren wird, durch den Reichsausschuß eine Ausweichmöglichkeit vorhanden. « 12 Damit war >Asozialität< als Kriterium der >Kindereuthanasie< angesprochen. Gerade nach der Heraufsetzung der Altersgrenze wurden in zunehmendem Maße Jugendliche wegen abweichenden Verhaltens getötet, ζ. B. weil sie wegen Fernbleibens von der Arbeit in ein Arbeitslager eingewiesen und von dort aus als >leicht schwachsinnig< in eine Heil- und Pflegeanstalt überfuhrt worden waren. 1 3 Bei der >Aktion T4< wurden auch die kriminellen Geisteskranken erfaßt. Insbesondere die Sicherungsverwahrten fielen der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< zum Opfer. U m welchen Personenkreis es ging, zeigt ein Bericht aus der Anstalt Eglfing-Haar: »Zur Hälfte handelte es sich um gewöhnliche Sittlichkeitsdelikte (Unzucht mit Kindern, homosexuelle Handlungen u.a.), außerdem um eine N ö t i g u n g (>küßte Mädchen abtrug unberechtigt Parteiuniformvor einem Führerbild auffällig benommen«. « 14

226

Besonders bei der >Sonderbehandlung 14fl3Euthanasieaktion< einbezogen worden. Nach dem Stopp der >Aktion T4< machte sich die Zentraldienststelle der >Euthanasieaktion< - im Verbund mit dem Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten - daran, die Insassen der Arbeits- und Bewahrungshäuser - Bettler, Landstreicher, Kleinkriminelle, Prostituierte u. a. - zu erfassen. Zu diesem Zweck fand am 12. Januar 1942 im städtischen Arbeitshaus in Berlin-Rummelsburg eine »Musterbegutachtung« 15 statt, an der Linden (RMdl), Hefelmann (Kanzlei des Führers), Nitsche, Wischer und Müller (Zentraldienststelle der >EuthanasieaktionKinder-< und >ErwachseneneuthanasiePsychopathieErwachseneneuthanasie< und ehemaliger Direktor einer Trinkerheilstätte in Wien), H. Vellguth (Leitender Medizinalrat in Wien) sowie die Kriminalbiologen Kranz, Metzger und Knorr teilnahmen. Unabhängig voneinander begutachteten die Mitglieder der Kommission anhand eines neuentworfenen Meldebogens für >Gemeinschaftsfremde< die Insassen des Arbeitshauses, um den Grad der Übereinstimmung bei der Begutachtung festzustellen. Bei 314 Anstaltsbewohnern — etwa einem Viertel der Anstaltsbevölkerung — waren sich die Gutachter einig, daß sie der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< anheimfallen sollten, bei weiteren 765 Insassen hatte sich zumindest einer der Gutachter für eine Tötung ausgesprochen. Diese Zahlen belegen, in welchem Umfang die Vernichtung der >Gemeinschaftsfremden< geplant war. Etwa im Frühsommer 1942 wurde der >Euthanasiezentrale< die Zuständigkeit für die Sicherungsverwahrten in den Arbeitshäusern entzogen. 1 6 Sie wurden wie die in Heil- und Pflegeanstalten untergebrachten Sicherungsverwahrten in KZ überführt, da sich mittlerweile das Konzept der »Vernichtung durch Arbeit« 17 durchgesetzt hatte. Am 18. September 1942 vereinbarten der neu ernannte Staatssekretär im RJM, C. Rothenberger, und der SSGruppenführer B. Streckenbach in einer Besprechung mit Himmler »die Auslieferung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug an den Reichsfuhrer zur Vernichtung durch Arbeit«. Auch die Sicherungsverwahrten sollten »restlos ausgeliefert« 18 werden. Daraufhin machten sich am 3. Oktober 1942 die Euthanasieärzte Runckel und Borm auf eine Reise durch die Heilund Pflegeanstalten, um die nach §42 RStGB eingewiesenen Insassen zu begutachten. Die mit dem am 10. Oktober 1942 festgelegten Begutachtungsvermerk >KZasoziale Psychopathen< an Nitsche weiter, der ihre Überstellung in das KZ Mauthausen veranlaßte - wo ihnen, wenn ihre Arbeitskraft verbraucht war, der Abtransport in die Gaskammer von Hartheim drohte. 2 2 Dieses Beispiel zeigt, wie sich die verschiedenen Vernichtungsprogramme ergänzten. Es kam aber auch zu Interessenkollisionen. Die KZ waren an arbeitsfähigen Anstaltsinsassen interessiert, während sie die arbeitsunfähigen Anstaltsbewohner in den Heil- und Pflegeanstalten belassen wollten. Diese wiederu m waren bestrebt, >unproduktive< Patienten an die KZ abzugeben und dem Anstaltsbetrieb die wertvollen Arbeitskräfte zu erhalten. So verwandte sich etwa W. Möckel, der Leiter der Anstalt Wiesloch, am 19. März 1943 für die nach § 42 RStGB untergebrachten Anstaltsinsassen, die er als gute Arbeiter reklamierte. In dieser Frage setzte sich schließlich der Reichsbeauftragte für die Heil- und Pflegeanstalten gegen RJM und RMdl durch. Am 2. Juli 1943 teilte das RJM den Generalstaatsanwälten mit, daß die bisher ausgegebenen Listen ungültig seien. Fortab kämen nur noch kriminelle Patienten zur Abgabe in Betracht, die auch »vom psychiatrischen Standpunkt aus zur Abgabe an die Polizei geeignet« seien. Ausgenommen wurden ferner die in Heil- und Pflegeanstalten Sicherungsverwahrten, »die durch andere Arbeitskräfte zu ersetzen entweder unmöglich oder unzweckmäßig« 2 3 sei. Fortan entschieden die Anstalten, welche Patienten zurückbehalten, in ein KZ überführt oder in eine Tötungsanstalt verlegt wurden. 2 4 Neben den Arbeits- und Bewahrungshäusern gerieten nach dem Stopp der »Aktion T4< zunehmend auch die Altersheime in das Blickfeld der Verantwortlichen in der Euthanasiezentraldienststelle. Am 21. August 1942 schrieb Nitsche an Linden: »Die Ärztekommissionen der Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten haben festgestellt, daß noch eine sehr große Anzahl von Alters- und Pflegeheimen im Reich, die fast ausschließlich dem katholischen Caritasverband und der evangelischen Inneren Mission angehören, mit ihren Insassen weder den Aufsichtsbehörden noch den Gesundheitsbehörden bekannt s i n d . . . Die Mehrzahl dieser Heime ist auch der Reichsarbeitsgemeinschaft nicht bekannt, obwohl nachgewiesenermaßen ein erheblicher Prozentsatz der Insassen meldepflichtig nach Meldebogen 1 ist. Es sind fast stets neben Altersschwachen und körperlich Gebrechlichen auch Schwachsinnige und chronisch Geisteskranke in den Heimen untergebracht. « 2S

Nitsche regte an, zum 12. Oktober 1942 eine Meldepflicht für alle nicht staatlichen oder kommunalen Pflegeanstalten, Altersheime, Fürsorge- und Pflegeheime einzuführen. Danach sollten alle Z u - und Abgänge halbjährlich 228

bekanntgegeben werden. Durch Nachuntersuchungen an O r t und Stelle sollten sodann die Altersheimbewohner ausgesondert werden, die zu vernichten waren. Auch die Fürsorgeerziehungsanstalten wurden in zunehmendem Maße in die Erfassung zur Vernichtung einbezogen. 26 Aus den »Vorschlägen für eine zukünftige Neugestaltung jugendpsychiatrischer Anstalten«, die der Jugendpsychiater Heinze, der in der ihm unterstehenden Anstalt Brandenburg-Görden eine >Kinderfachabteilung< des Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden betrieb, am 6. Februar 1942 unterbreitete, 27 geht hervor, wie man sich in den Reihen der an der >Euthanasie< beteiligten Psychiater die Überwachung und Aussonderung der Fürsorgezöglinge vorstellte. Danach sollten alle Kinder und Jugendlichen, die in Fürsorgeerziehung überwiesen wurden, in Aufnahmeund Beobachtungsanstalten oder -abteilungen jugendpsychiatrisch untersucht werden. Dadurch meinte Heinze, »nicht nur die Erkennung Erbkranker, sondern auch die Früherfassung anlagebedingter Asozialität auf dem Boden erblicher charakterlicher Abartigkeit« - Heinze schätzte, daß bis über 50% der Fürsorgezöglinge »geistige oder charakterliche Regelwidrigkeiten« aufwiesen - gewährleisten zu können. Dem Ergebnis der Begutachtung entsprechend sollten die Fürsorgezöglinge dann auf Einrichtungen für j u gendliche Nerven- und Geisteskranke, für >Schwachsinnige< und Schwererziehbare aufgeteilt werden. Die Anstalten und Abteilungen für >Schwachsinnige< sollten nochmals in Einrichtungen für Bildungsfähige und Bildungsunfähige unterteilt werden. Während die bildungs- und arbeitsunfähigen schwachsinnigem Kinder und Jugendlichen der >Euthanasie< zugeführt werden sollten, 28 konnte man die Arbeitskraft der noch bildungsfähigen Schwachsinnigem noch gewinnbringend ausbeuten. 29 Auch die Anstalten und Abteilungen für Schwererziehbare sollten in Einrichtungen für vorwiegend Umweltgeschädigte und für vorwiegend »charakterlich Abartige« differenziert werden, um »unnütze erzieherische Versuche am untauglichen Objekt zu vermeiden«: »Im Kampf gegen die Gemeinschaftsunfähigen erwächst die weiterejugendpsychiatrische Aufgabe jugendliche Asoziale aus erblicher charakterlicher Abartigkeit möglichst rechtzeitig zu erfassen und in besonderen Bewahrungsabteilungen unterzubringen, sie aber aufjeden Fall rechtzeitig von nur umweltbedingten Verwahrlosten abzusondern. Solche schwersterziehbaren, rückfällig kriminellen Jugendlichen gehören meines Erachtens weder in Heil- und Pflegeanstalten noch in Erziehungsanstalten, wo sie nur die Heilung Kranker und die Erziehungsarbeit an noch Erziehbaren stören. Sie sind viel besser in besonderen, disziplinell straff organisierten, aber auf jeden Fall jugendpsychiatrisch laufend beaufsichtigten Jugendschutzlagern untergebracht, in denen viel strengere Maßnahmen angewendet werden können, als es die Heil- und Pflegeanstalten oder die Erziehungsanstalten zulassen. « 30

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3. Die >Aktion BrandU Die Chance zur Reinstitutionalisierung der >Euthanasieaktion< bot sich der Euthanasiezentrale, als im Zuge der Verschärfung des Luftkrieges über Deutschland im Jahre 1943 Heil- und Pflegeanstalten in verstärktem Maße als Ausweichkrankenhäuser genutzt werden sollten. Dies fiel in den Zuständigkeitsbereich zweier Führerbevollmächtigter, die eng mit dem Euthanasieapparat verbunden waren. Am 23. Oktober 1941 ernannte Hitler den Ministerialrat in der Gesundheitsabteilung des RMdl, Linden, der sowohl an der >Kinder-< als auch an der >Erwachseneneuthanasie< maßgeblich beteiligt war, zum Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten: »Die sich steigernde Nachfrage nach Krankenhausbetten macht eine Inanspruchnahme geeigneter Heil- und Pflegeanstalten oder von Teilen solcher Anstalten als Krankenhäuser oder Lazarette erforderlich. Auch zur Gewinnung von Massenunterkünften ist vielfach Anstaltsraum beansprucht worden. Eine Entscheidung der hier auftauchenden Fragen von rein örtlichen Gesichtspunkten oder v o m Gesichtspunkt der einzelnen Träger der Anstalten muß zu Mißständen fuhren, die nicht leicht behebbar sein werden. U m sie zu vermeiden, ist eine planmäßige Bewirtschaftung des gesamten vorhandenen Anstaltsraumes für das ganze Reichsgebiet erforderlich, β 1

Deshalb wurden Linden »planwirtschaftliche Aufgaben auf dem Gebiet der Heil- und Pflegeanstalten« übertragen. Formal dem Reichsinnenminister unterstellt, wurde er »ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Leiter der Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten die notwendigen Maßnahmen zu treffen«. 2 Die Ernennung Lindens zum Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten eröffnete der Zentraldienststelle der >EuthanasieaktionKinder-< und >ErwachseneneuthanasieEuthanasieaktion< gelang. Im August 1942 richtete Linden in seiner Eigenschaft als Reichsbeauftragter für die Heil- und Pflegeanstalten eine Anfrage an die nachgeordneten Länder- und Provinzialbehörden, welche Heil- und Pflegeanstalten im Einzugsbereich luftgefährdeter Gebiete im Katastrophenfall dadurch geräumt werden konnten, daß die Insassen - durch die Ausnutzung aller vorhandenen Bettenkapazitäten und die Einrichtung von Notunterkünften auf dem Anstaltsgelände - in anderen Anstalten derselben Provinz oder desselben Landes untergebracht wurden. Dieser Zielsetzung entsprechend leitete Linden in den Jahren 1943/44 ein aufwendiges Programm zum Bau von Barakken auf dem Gelände von Heil- und Pflegeanstalten ein. 7 Der freigewordene Anstaltsraum sollte den Bettenbedarf der Ausweichkrankenhäuser für die Opfer der Luftangriffe decken. Lindens Vorgesetzter Fritz Cropp, der Anfang 1943 zum Generalreferenten für Luftkriegsschäden ernannt wurde, schrieb am 23. September 1942, daß über die Verlegung innerhalb einer Provinz oder eines Landes hinaus an den Abtransport von Geisteskranken aus den überfüllten Aufnahmeanstalten in Einrichtungen anderer Länder oder Provinzen gedacht war. 8 Sowohl Linden als auch Cropp betonten, daß Heil- und Pflegeanstalten erst im Bedarfsfall geräumt werden sollten, um einer Zweckentfremdung von Anstaltsraum vorzubeugen. Man hatte aus den Erfahrungen der >Aktion T4Vernichtung lebensunwerten Lebens< in großem Maßstab unauffällig wiederaufzunehmen. Aufschlußreich war ein Runderlaß Lindens vom 4. April 1943, in dem die nachgeordneten Länder- und Provinzialbehörden gebeten wurden, den bei der Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten beschäftigten Ärzten, die, »nachdem die planwirtschaftlichen Maßnahmen in den Heil- und Pflegeanstalten auf Grund höherer Entscheidung z. Zt. nicht weiter fortgeführt werden sollen,... entbehrlich geworden« 1 1 seien, leitende Stellen in den Heil- und Pflegeanstalten zu verschaffen. Begründet wurde der Wunsch damit, »daß die von der Reichsarbeitsgemeinschaft durchgeführten Maßnahmen zu gegebener Zeit wieder aufleben werden, wobei vielleicht die Art der Durchführung eine andere sein wird, insbesondere es vielleicht nötig werden wird, die öffentlichen Heil231

und Pflegeanstalten in größerem Umfange in den Vollzug der Maßnahmen einzuschalten«. In diesem Fall sei »das Vorhandensein eines diese Maßnahme unbedingt bejahenden Direktors von außerordentlicher Wichtigkeit«. 12 Zu dieser Zeit war offenbar die Planung zur Reinstitutionalisierung der >Euthanasie< bereits angelaufen. Bei diesem Vorgehen sicherte sich die Zentraldienststelle die Rückendeckung Brandts. In einem Brief Nitsches an de Crinis vom 30. Oktober 1943 hieß es: »Sie erinnern sich, daß ich Prof. Br. [Brandt], als wir beide Ende Juni bei ihm waren, einen ganz konkreten Vorschlag in der Ε-Frage [Euthanasiefrage] machte.« 13 Bereits am 25. August 1943 hatte Nitsche de Crinis mitgeteilt: »Was unsere Aktion bei Prof. Br. anlangt, s o . . . hat er mir durch Herrn Blankenburg die Ermächtigung erteilt, im Sinne meines ihm mündlich gemachten E.-Vorschlages vorzugehen. « 14 Am 17. August 1943 bestellte Nitsche »in Verfolg des E.- Auftrages von Professor Br. « eine Gruppe besonders ausgewählter praktischer Psychiater nach Berlin. 15 Dabei wurden die Anstaltsärzte angewiesen, die Krankentötung durch überdosierte Medikamentengaben im Rahmen der durch die Räumung von Heil- und Pflegeanstalten ausgelösten Verlegungswelle verstärkt durchzufuhren. Offenbar unter Bezugnahme auf die Besprechung vom 17. August 1943 berichtete Gerhard Wischer, Direktor der Anstalt Waldheim, an Nitsche: »Im übrigen geht die in Berlin besprochene Arbeit völlig reibungslos vor sich, ich rechne mit einem monatlichen Durchschnitt von 20 bis 30 Patienten... Es kommen fast jeden Tag Neuaufnahmen, da muß man schon flott arbeiten, um alles zu schaffen. « 16 Wenig später schrieb Wischer: »Ich... habe reichlich zu tun, da fast alle Neuaufnahmen aus der Gegend zwischen Leipzig, Chemnitz und Meißen zu mir kommen. Ich könnte diese Aufnahmen natürlich niemals unterbringen, wenn ich nicht entsprechende Maßnahmen zum Freimachen von Plätzen durchführen würde, was ganz reibungslos geht. Es fehlt mir allerdings sehr an den erforderlichen Medikamenten.« 1 7 Am 2. Dezember 1943 fragte Nitsche bei Allers nach, ob und wann den Anstaltsleitern, die am 17. August 1943 einen Auftrag zur Krankentötung erhalten hatten, die dazu notwendigen Arzneigifte zur Verfugung gestellt worden waren. Nitsche wollte »ungefähr berechnen, wie lange die Einzelnen im bewußten Sinne jetzt schon arbeiten«. 18 Die Beschaffung der Arzneigifte oblag dem Chemiker A. Widmann vom KTI. Über den Reichsausschuß, die Reichsarbeitsgemeinschaft und den Reichsbeauftragten fur die Heil- und Pflegeanstalten wurden u. a. die Anstalten Meseritz, Tiegenhof, Uchtspringe, Großschweidnitz, Waldheim, Ansbach, Görden, Eichberg, Kalmenhof sowie das Kinderkrankenhaus Stuttgart N o r d beliefert. 19 Am 14. Januar 1944 schrieb Nitsche an Schneider, »daß ich die Absicht habe, bei meiner demnächstigen Anwesenheit in Berlin die Kollegen, die ich in Verfolg des E.-Auftrages von Professor Br. zum 17. August nach Berlin bestellt h a t t e , . . . nochmals alle nach Berlin zu bestellen, um die Angelegenheit weiter zu fordern und ihren gegenwärtigen Stand einmal zunächst 232

festzustellen«. 20 Einen Tag später schrieb Allers an Nitsche, daß Blankenburg und Brandt an der geplanten Konferenz teilnehmen sollten. Allers hatte den Eindruck gewonnen, daß Brandt »die Sache fur durchaus richtig hält«. Offenbar sah sich der Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen außerstande, bei Hitler um eine Aufhebung des Stopps der >Aktion T4< nachzusuchen und der Zentraldienststelle einen formellen Euthanasieauftrag zu erteilen, war jedoch bereit, die insgeheim angelaufenen Maßnahmen zur Krankentötung zu decken. »Er erschien sehr interessiert... sagte aber, daß er nichts aussprechen könne; vielmehr wegen seiner Dienststellung praktisch ja doch nur das Gegenteil sagen könne, seine Ansicht allerdings etwas verklausuliert bekanntgeben könne; er befürchtet aber, daß er dann nicht von allen verstanden w ü r d e . . . Auf jeden Fall ist Professor Brandt sehr interessiert an dem ganzen Problem. Er hat ausdrücklich betont, daß die Wiederaufnahme der Arbeit im großen Stil ohne Zweifel eines Tages k o m m e n müsse, daß allerdings im Kriege nicht mehr damit zu rechnen sei. « 2 1

Bei einer Tagung in Wien am 3.-5. Juli 1944 wurde eine erneute Ausweitung der Krankentötung ins Auge gefaßt. 2 2 Wiederum verschaffte sich die Euthanasiezentrale die Rückendeckung Brandts. Diesmal ermutigte der Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen die Zentraldienststelle von sich aus zu einer Ausweitung der Krankentötung. A m 18. Juli 1944 hatte er eine Besprechung mit C. Runckel, dem Betriebsarzt der Zentraldienststelle, bei der es um die Bereitstellung von Krankenhausraum durch die Räumung von Heil- und Pflegeanstalten und Fürsorgeerziehungsheimen ging. 2 3 A m 24.Juli 1944 berichtete Runckel über diese Unterredung an Nitsche: »Herr Prof. Brandt hat mich gebeten, Sie über diese Dinge zu informieren und gleichzeitig eine Andeutung fallen [zu] lassen, ob es Ihnen möglich wäre, eine Aktivierung unserer spezifischen Therapie hierbei unauffällig in die Wege zu leiten. « 2 4 In einer Aktennotiz für Blankenburg vom 30. Juli 1944 hob Nitsche die Bedeutung dieses indirekten Euthanasieauftrags hervor: »Damit kommt man unserem Wunsch,... bei dieser Gelegenheit die E.-Frage im Sinne unserer Wiener Verhandlungen mit Prof. Br. baldigst zu besprechen, in erwünschter Weise entgegen. Ich bitte Sie demgemäß, unter Bezugnahme auf den mir von Dr. Runckel übermittelten Wunsch von Prof. Br. ihn darum zu bitten, daß er die von mir vor 2Vi Wochen erbetene Besprechung der E.-Angelegenheit unter Hinzuziehung von Prof. de Crinis recht bald anberaumen m ö g e . « 2 5 Über den weiteren Fortgang der Verhandlungen ist nichts bekannt. Die im Zusammenhang mit der Räumung von Heil- und Pflegeanstalten im Einzugsbereich luftgefährdeter Gebiete stehende Krankentötung in den Jahren 1943/1944 wurde, da sich die Euthanasiezentrale vom Bevollmächtigten für das Sanitäts- und Gesundheitswesen autorisiert glaubte, als >Aktion Brandt< bezeichnet. Wie in der Phase der >wilden Euthanasie< vom Herbst 1941 bis zum Frühjahr 1943 wurde die Krankentötung dezentral ausgeführt, d. h. gemordet wurde nicht in einzelnen umgerüsteten Tötungs233

anstalten, sondern im Normalbetrieb der Heil- und Pflegeanstalten. Anders als in der Phase der >wilden Euthanasie< wurden die Mordopfer nun wieder in großen Transporten, die zentral gelenkt waren, zu den Tötungsstätten gebracht. Dadurch wurde eine erhebliche Ausweitung der Krankentötung ermöglicht. Durch die Reinstitutionalisierung der >Euthanasie< wurde die Bedeutung der Zentraldienststelle aufgewertet. Diese wurde kriegsbedingt auf drei Dienstorte aufgeteilt, wie aus einem »Geschäftsverteilungsplan für die Zentraldienststelle und fur die Anstalt >CDesinfektionen< durchführte. Eine dritte Dienststelle, die von Nitsche geleitet wurde, hatte sich im Haus Schoberstein etabliert, dem Erholungsheim der Zentraldienststelle am Attersee im Salzkammergut. Hier waren die Hauptabteilung I (Medizinalabteilung, zuständig für Erfassung, Begutachtung, Oberbegutachtung, Auswertung [Archiv, Propaganda], Forschung, Medizinalwesen [Krankenanstalten, Badewesen, Desinfektion]) sowie Teile der Hauptabteilung II (technische Bearbeitung der Gutachten, Kontrolle, Z Kartei u. a.) und der Hauptabteilung III (Unfallversicherung, Gehaltsabteilung) untergebracht. Der Druck, der von der Überfüllung der Heil- und Pflegeanstalten infolge der Abtretung von Anstaltsraum an Ausweichkrankenhäuser ausging, und der Sog, der durch die intensivierte >Euthanasieaktion< entstand, löste eine Verlegungswelle aus, die im Frühjahr 1943 im Rheinland einsetzte. Ziel der Verlegungen waren hier zunächst zwei Anstalten im Generalgouvernem e n t - Kulparkow bei Lemberg und Tworki bei Warschau - , da im >Altreich< die Vorbereitungen zur >Aktion Brandt< noch nicht abgeschlossen waren. Im Herbst 1943 griff die Verlegungswelle auf Westfalen über. Dabei wurden auch Patienten der v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, die der Schaffung von Lazarettraum wegen in die Anstalt Gütersloh zwischenverlegt worden waren, in Tötungsanstalten verlegt. 27 Nach den verheerenden Luftangriffen auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943, die etwa 44000 Menschenleben forderten, setzte auch in Hamburg eine zweite Verlegungswelle ein, nachdem gegen Ende der >Aktion T4< drei Transporte mit insgesamt 156 Patienten der Anstalt Langen234

horn und ein Transport mit 71 Patienten aus den Alsterdorfer Anstalten stattgefunden hatten. Bei dieser zweiten Verlegungswelle wurden aus der Anstalt Langenhorn mindestens 647 Patienten, aus den Alsterdorfer Anstalten 469 Patienten abtransportiert. Die Transporte endeten in Hadamar, Mainkofen, Kalmenhof, Eichberg und Wien. Bemerkenswert ist, daß sich unter den verlegten Anstaltsbewohnern auch Opfer des Luftkrieges befanden. Etwa ein Fünftel der 97 Frauen, die am 7. August 1943 von Langenhorn nach Hadamar verlegt wurden, hatte bei den schweren Bombenangriffen einen Nervenzusammenbruch erlitten. 28 Auch die Bewohner von Altenheimen wurden in die Transporte einbezogen. Am 6. August 1943 ging ein Transport mit 284 überwiegend älteren, teilweise bettlägrigen Menschen aus Arensburg ab, der nach zweitägiger Irrfahrt in Neuruppin endete. 29 Das Beispiel Hamburgs zeigt, daß der von der >Euthanasie< betroffene Personenkreis sich während der >Aktion Brandt< nochmals ausweitete. Er erstreckte sich übrigens auch auf Soldaten, die auf die Grauen des Krieges mit Zitteranfällen, Lähmungen, Taub- oder Stummheit reagierten, nachdem ein Befehl des Chefs des Heeressanitätswesens, S. Handloser, vom 9. Februar 1943 »Über die Behandlung von Soldaten mit hysterischen und psychogenen Reaktionen« festgelegt hatte, daß »Kriegshysteriker, die durch Behandlung nicht symptomfrei gemacht werden können, . . . in den Lazarettabteilungen an Heil- und Pflegeanstalten unterzubringen« 30 waren. Wie viele Anstaltsinsassen der dezentralisierten >Euthanasie< im Zeitraum vom September 1941 bis zum April 1945 zum Opfer fielen, läßt sich nur im Einzelfall feststellen. In Kaufbeuren-Irsee beispielsweise wurden 1200-1600 Insassen durch Hungerkost und überdosierte Medikamentengaben getötet, davon die Hälfte in der Zweiganstalt Irsee, deren Gesamtbelegung nur ein Sechstel von der in Kaufbeuren ausmachte, so daß man davon ausgehen kann, daß in Irsee jeder zweite Anstaltsbewohner einen gewaltsamen Tod starb. In den Jahren 1931-1941 starben im Durchschnitt 4,5% aller Insassen der Gesamtanstalt, im Ersten Weltkrieg waren es 8,4%, im Hungerwinter 1917 11,7% gewesen; in den Jahren 1942-1945 betrug die Sterbeziffer 20%, in den Jahren 1944/1945 25%. In den letzten beiden Kriegsjahren stieg also die Zahl der Krankentötungen nochmals steil an. Im Jahre 1944 lag die Sterblichkeit in Irsee um 245% höher als im Vorjahr, in Kaufbeuren um 189%. Von Januar bis April 1945 starben abermals 54% mehr Anstaltsbewohner als im Vorjahreszeitraum. Der Anstieg der Sterbeziffern in den Jahren 1944/1945 war nicht zuletzt das Werk der Reichspflegerin Pauline Kneissler, die, nachdem sie bereits in den Tötungsanstalten Grafeneck und Hadamar tätig gewesen war, auf Vermittlung der Euthanasiezentrale 31 am 24. April 1944 ihren Dienst in Irsee antrat und bis Kriegsende noch einmal rd. 200 Anstaltspfleglinge tötete. Da die Friedhöfe in Kaufbeuren und Irsee überfüllt waren, wurde im Jahre 1944 auf dem Anstaltsgelände ein Krematorium errichtet. 32 235

Kaufbeuren-Irsee war kein Einzelfall. Die Anzahl der Todesfälle in anderen Heil- und Pflegeanstalten, die in die >Aktion Brandt< verstrickt waren, lag zum Teil sogar erheblich über den Sterbeziffern von Kaufbeuren-Irsee. Zu den Anstalten, in denen auch nach dem Stopp der >Aktion T4< massenhaft gemordet wurde, gehörten u. a. Hadamar, Eichberg, Klagenfurt, Sachsenberg, Groß Schweidnitz, Tiegenhof und Obrawalde. 3 3 In den letzten Kriegsjahren bildete sich ein Schwerpunkt der >Euthanasieaktion< in den östlichen preußischen Provinzen, den vom Deutschen Reich annektierten Gebieten Polens und im Generalgouvernement heraus, nachdem die Heil- und Pflegeanstalten in diesem Raum nach Kriegsbeginn von Einheiten der Sipo, des SD und der SS geräumt worden waren. 3 4 Berüchtigt war insbesondere die pommersche Anstalt Meseritz-Obrawalde, die seit Anfang 1942 zum Ziel der in Eisenbahnzügen anreisenden Krankentransporte aus allen Teilen des Deutschen Reiches wurde. 3 5 Die Anstaltsinsassen wurden nicht nur ausgehungert, sondern auch, wenn sie erkrankten, sich auflehnten oder zu fliehen versuchten, durch überdosierte Medikamentengaben oder Luftinjektion getötet, mitunter auch erschossen. Monatlich starben in Meseritz-Obrawalde rd. 450-600 Menschen, bis zum 28. Januar 1945, als die letztenMorde stattfanden, insgesamt etwa 18 000. 3 6 Die Anstalt Tiegenhof bei Gnesen erfüllte eine Doppelfunktion. Einerseits diente sie als Tötungsanstalt für deutsche Anstaltsinsassen, die aus den Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches hierher verlegt wurden, andrerseits als >Scheinfriedhof< für polnische Patienten. Eine von den deutschen Dienststellen eingerichtete Zentralstelle für Krankenverlegungen mit Amtssitz in Posen verlegte zum Schein polnische Anstaltsinsassen nach Tiegenhof, obwohl sie in ihren Herkunftsanstalten umgebracht worden waren. Den Angehörigen teilte die Zentralstelle mit, die Kranken seien in Tiegenhof verstorben und begraben. 37 In einigen polnischen Anstalten — ζ. B. in Kobierzyn bei Krakau, Kulparkow bei Lemberg und Tworki bei Warschau - ließ man die Insassen planmäßig verhungern. In der Anstalt Lubliniec (Loben)/ Oberschlesien wurde im November 1941 eine >Kinderfachabteilung< eingerichtet. 38 Wieviele Anstaltsinsassen im Zweiten Weltkrieg insgesamt getötet wurden, läßt sich nur schätzen. Aus den Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches dürften es in den Jahren 1939-1945 - die >Aktion T4wilde Euthanasie< und die >Aktion Brandt< zusammengenommen - mit Sicherheit über 100000 gewesen sein. 3 9

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4. Die Ermordung von geisteskranken Zwangsarbeitern

und tuberkulösen

In die Phase der > Aktion Brandii fiel auch der Massenmord an polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern, die an einer Geisteskrankheit litten oder an Tuberkulose erkrankt waren, in den Tötungsanstalten der >Euthanasieaktion(. Im Zweiten Weltkrieg wurden insgesamt über 10 Millionen Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in das Deutsche Reich deportiert, von denen Ende 1944 noch rd. 7,5 Millionen - darunter 2,2 Millionen sowjetische und 1,65 Millionen polnische Zwangsarbeiter - in der deutschen Kriegswirtschaft eingesetzt waren. 1 Diejenigen Zwangsarbeiter, die auf Grund einer Erkrankung arbeitsunfähig wurden und deren Arbeitskraft nicht innerhalb von zwei Wochen (seit Oktober 1941: drei Wochen) wiederhergestellt werden konnte, waren - ebenso wie schwangere Zwangsarbeiterinnen - einem Erlaß des Reichsarbeitsministeriums v o m O k t o b e r 1940 gemäß in ihre Herkunftsländer abzuschieben. Von den polnischen Männern, deren Arbeitsfähigkeit vor Beginn ihres Arbeitseinsatzes bei zwei ärztlichen Untersuchungen festgestellt worden war, wurden i m j a h r e 19404,1%, i m j a h r e l 9 4 3 bereits 8% krankheitshalber >vorzeitig rückgefuhrtRückkehrersammellager< eingewiesen. 3 Diese Sammellager, in denen die kranken Zwangsarbeiter nur unzureichend ernährt und medizinisch nicht versorgt wurden, entwickelten sich immer mehr zu »Sterbelagern«. 4 In dem v o m Landesarbeitsamt Hessen betriebenen Sammellager Pfaffenwald bei Bad Hersfeld starben beispielsweise in den Jahren 1942-1945 376 M e n schen. 5 Nachdem Ende 1942 die Rückführung schwangerer Zwangsarbeiterinnen eingestellt und Mitte 1943 die Abtreibung für Zwangsarbeiterinnen freigegeben worden war, übernahmen die Sammellager auch die Funktionen von Entbindungs- und Abtreibungslagern. Die Kinder, die in diesen Lagern zur Welt kamen, wurden in besondere >Ausländerkinderpflegestätten< überfuhrt, w o die Sterblichkeit außerordentlich hoch war. Aus einem Schreiben des Hauptamtes für Volkswohlfahrt, das an Himmler gerichtet war, geht hervor, daß man sich unschlüssig war, was mit den Kindern der Zwangsarbeiterinnen geschehen sollte. Das Hauptamt für Volkswohlfahrt 237

kritisierte die Hungerkost in einem Heim für Säuglinge und Kleinkinder von Ostarbeiterinnen in Spital am Phyrn, die auf Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Zwecks dieser Einrichtung zurückgeführt wurde: »Zum Teil ist man der Auffassung, die Kinder der Ostarbeiterinnen sollen sterben, zum anderen Teil der Auffassung, sie aufzuziehen. Da eine klare Stellungnahme bisher nicht zustande gekommen ist und, wie mir gesagt wurde, man >das Gesicht gegenüber den Ostarbeiterinnen wahren wolleRückkehrersammellager< und >Ausländerkinderpflegestätten< verdeutlichen den fließenden Übergang vom Zwangsarbeitseinsatz zur Vernichtung lebensunwerten Lebens Sonderlageraktion< des RSHA, des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und des Reichsgesundheitsführers vereinheitlicht. Zwangsarbeiter, die infolge einer Geisteskrankheit dauernd arbeitsunfähig waren, sollten von den Arbeitsämtern an das RSHA gemeldet werden, das wiederum die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten mit der Verlegung der Kranken in von ihr zur Verfügung gestellte >Sonderlager< beauftragte. Die Euthanasiezentrale bestimmte daraufhin eine Reihe von Heil- und Pflegeanstalten zu Sammelanstalten für geisteskranke Zwangsarbeiter. Offiziell wurden diese Sammelanstalten erst Anfang September 1944 eingeführt. Ein Erlaß des RMdl bestimmte die Heil- und Pflegeanstalten Tiegenhof (für Ostpreußen, Danzig-Westpreußen und Wartheland), Lüben (für Oberschlesien, Niederschlesien und Sudetengau), Landsberg/Warthe 238

(für Pommern, Mecklenburg, Kurmark und Berlin), Schleswig (für Schleswig-Holstein und Hamburg), Lüneburg (für Bremen, Weser-Ems, Hannover-Ost bzw. -Süd und Braunschweig), Bonn (für die Rheinprovinz, Westfalen und Lippe), Schussenried (für Baden, Westmark, Württemberg und Hohenzollern), Kaufbeuren (für Bayern), Hadamar (für Kurhessen, Nassau und Hessen-Land), Pfafferode (für Thüringen-Land, Provinz Sachsen und Anhalt) und Mauer-Öhling (für Österreich) zu Sammelanstalten. 9 Fortab überwiesen die Gesundheitsamts-, Arbeitsamts- und Betriebsärzte geisteskranke Zwangsarbeiter unmittelbar in diese Sammelanstalten. Diejenigen Zwangsarbeiter, deren Arbeitskraft nicht kurzfristig wiederhergestellt werden konnte, wurden von der Zentralverrechnungsstelle aus den Sammel- in Tötungsanstalten verlegt, sofern die Sammel- nicht zugleich auch Tötungsanstalten waren. Getötet wurde in den Sammelanstalten Tiegenhof, wo in den Jahren 1939-1945 879 Ausländer, zumeist Polen, ums Leben kamen, unter denen sich auch eine große Zahl von aus dem Deutschen Reich verlegten Zwangsarbeitern befand, 1 0 Kaufbeuren, wo etwa ein Drittel der 174 im Jahre 1944 aufgenommenen geisteskranken Zwangsarbeiter in der Anstalt selbst bzw. auf dem Transport nach Lublin starben, 11 und Hadamar, wo von Mitte 1944 bis Kriegsende über 100 Ausländer, fast ausschließlich Polen und Sowjets, getötet wurden, 1 2 vielleicht auch in den Sammelanstalten Lüneburg, Pfafferode und Mauer-Öhling, die in anderem Zusammenhang in die >Euthanasieaktion< verstrickt waren. 1 3 Zwangsarbeiter kamen auch in den Tötungsanstalten Meseritz-Obrawalde, wo sich im Jahre 1943 unter rd. 2000 Toten nur 13 Ausländer, im Jahre 1944 unter rd. 3000 Toten hingegen 130 Ausländer fanden, Hartheim und Eichberg um. 1 4 Neben den geisteskranken wurden in Hadamar auch Zwangsarbeiter getötet, die an Tuberkulose litten. Insgesamt wurden in Hadamar zwischen dem 28. Juli 1944 und dem 17. März 1945 im Rahmen der >Sonderaktion< gegen Zwangsarbeiter 468 Menschen getötet, vorwiegend Polen und Sowjets. Daß die Tuberkulosekranken in Hadamar nicht therapiert wurden, geht eindeutig aus einem Schreiben des Chefarztes von Hadamar, A. Wahlmann, an das Gauarbeitsamt Rhein-Main vom 28.11. 1944 hervor: »Von den Arbeitsämtern werden in der Mehrzahl tuberkulöse Ausländer überwiesen, die im Anfang ihrer Erkrankung stehen und eine längere Behandlung erfordern. Die hiesige Abteilung fur die Unterbringung derartiger Ausländer eignet sich nicht zur Behandlung von frischen Fällen. Ich bitte, nur Tuberkulosekranke überweisen zu lassen, deren Erkrankung soweit fortgeschritten ist, daß eine Heilung aussichtslos erscheint und ein nicht zu fernes Ableben zu erwarten steht. Die frischen Fälle müssen eventuell der Heimat zugeführt werden. « 15

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X. >Euthanasie< und >Endlösung< 1. Die Krankentötungen in den preußischen Polen und der Sowjetunion

Ostprovinzen,

Unmittelbar nach Kriegsbeginn setzte in den preußischen Provinzen P o m mern und Ostpreußen, in den dem Deutschen Reich angegliederten Gauen Danzig-Westpreußen und Wartheland und im Generalgouvernement ein Vernichtungsfeldzug gegen die Insassen der Heil- und Pflegeanstalten ein, der weitgehend unabhängig von der T4-Zentraldienststelle durchgeführt wurde. Die Initiative ging vielmehr von den Gauleitern Schwede-Coburg (Pommern), Greiser (Wartheland) und Koch (Ostpreußen) aus. In den Ostgebieten vermochte sich Bouhler, der sich der Aussage Brandts zufolge auch deshalb u m den Auftrag zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens< b e m ü h te, »weil er fürchtete, daß unter diesen Umständen während eines Krieges da und dort einzelne Gauleiter diese Frage aufgreifen würden und ohne eine Steuerung in ihrem Gau zur Durchführung bringen könnten«, 1 in den Anfangsjahren des Zweiten Weltkrieges nicht durchzusetzen. Bei Kriegsbeginn entschloß sich F. Schwede-Coburg, Gauleiter, O b e r präsident und Reichsverteidigungskommissar der preußischen Provinz Pommern, die ihm unterstehenden Heil- und Pflegeanstalten - Stralsund, Lauenburg, Ueckermünde, Treptow a. d. Rega und die im Grenzland Posen-Westpreußen gelegene Anstalt Meseritz-Obrawalde- anderen Zwecken zuzuführen. So sagte er Himmler die Anstalt Stralsund als SS-Kaserne zu. Im Oktober 1939 erhielt der in Danzig stationierte SS-Sturmbannführer Kurt Eimann den Befehl, Insassen aus den pommerschen Anstalten, die in mehreren Transporten auf dem Bahnhof Neustadt/Westpreußen eintreffen sollten, an einer geeigneten Stelle erschießen zu lassen. Eimann entschied sich für den Wald von Piasznicz im Kreis Neustadt. D o r t fanden von Oktober bis Dezember 1939 Massenhinrichtungen an Geisteskranken statt, bei denen die Opfer durch Genickschuß getötet wurden. Ein Häftlingskommando aus dem K Z Stutthof, das am Ende selbst ermordet wurde, mußte die Leichen begraben. Die Spuren der Massengräber im Wald von Piasznicz wurden im September 1944 von einem Sonderkommando unter Leitung des SS-Standartenführers P. Blobel beseitigt. Wieviele Geisteskranke dem Wachsturm Eimann zum Opfer fielen, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen. In einem »Bericht über Aufstellung, Einsatz und Tätigkeit des SSWachsturmes E«, den der Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF) Danzig 240

und Westpreußen, Hildebrandt, an Himmler sandte, war von der »Beseitigung von 1400 unheilbar Geisteskranken aus pommerschen Irrenanstalten« und von der »Beseitigung von ca. 200 unheilbar Geisteskranken der Irrenanstalt Konradstein« die Rede. 2 In Danzig-Westpreußen begann bereits am 29. September 1939, zwei Tage nach der Kapitulation Polens, im Krankenhaus Kocborow bei B r o m berg der Massenmord an Geisteskranken, der bis zum 1. November 1939 2342 Menschenleben kostete. Im September/Oktober 1939 wurden in der Anstalt von Swiecie im Bezirk Bromberg rd. 1350 Patienten von Angehörigen der SS und des deutschen Selbstschutzes erschossen. 3 Im Oktober 1939 begannen auch die Krankentötungen im Spital Owinska bei Posen im Wartheland, denen 900-1100 Patienten zum Opfer fielen.4 Gegen Ende 1939 nahm im Gebiet des Warthelandes, Danzig-Westpreußens und Ostpreußens ein Sonderkommando unter dem Befehl des SS-Obersturmbannführers und Kriminalrates Herbert Lange, der v o m R S H A an die Stapo-Leitstelle Posen abgestellt worden war, seine Arbeit auf. Von Dezember 1939 bis Mai 1940 ermordete das Sonderkommando Lange, das aus 15 Angehörigen der Sipo, die die Hinrichtungen durchführten, und 60 Männern der Schutzpolizei, die die Absperrungen vornahmen, bestand, 1201 Patienten der in Danzig-Westpreußen gelegenen Anstalt Tiegenhof, im Wartheland 1600 Insassen der Anstalt Kosten, 126 Pfleglinge der Armenanstalt Schrimm, 792 Bewohner der Anstalt Warta und eine unbekannte Anzahl von Patienten der Anstalten Turek, Konin und Wloclawk und im Durchgangslager Soldau 1558 Insassen aus ostpreußischen Anstalten. 5 Das Sonderkommando Lange führte einen mit der Aufschrift >KaisersKaffee-Geschäft< versehenen Anhänger mit sich, der von einem Sattelschlepper gezogen wurde. Auf der Zugmaschine war ein Behälter angebracht, in dem sich eine Stahlflasche, gefüllt mit Kohlenmonoxyd, befand. Von dieser Flasche führte eine Leitung in das luftdicht verschlossene Innere des Kastenaufbaus des Anhängers. Indem man das Gas in den Kastenaufbau einströmen ließ, konnte man bis zu 70 Menschen pro Transport töten. Die Ähnlichkeit dieser fahrbaren Gaskammer mit den Vergasungsanlagen in den Tötungsanstalten der >Aktion T4< war kein Zufall, denn an ihrem Entwurf war mit großer Wahrscheinlichkeit der Chemiker A. Widmann beteiligt, der zur selben Zeit, als die Krankentötungen in den Ostgebieten einsetzten, beratend an der Planung der Gaskammern in den Vernichtungsanstalten der >Euthanasieaktion< mitwirkte. Im Januar 1940, als das Sonderkommando Lange 448 Bewohner der Anstalt Tiegenhof mit dem Gaswagen zu Tode brachte, nahm Widmann an der Probevergasung im Zuchthaus Brandenburg teil, die den Auftakt der Massenmorde hinter Anstaltsmauern im Reichsgebiet darstellte. 6 Durch den v o m K T I / R S H A vermittelten Technologietransfer wurden die v o m Sonderkommando Lange durchgeführten Massenhinrichtungen von Anstaltsinsassen in den angegliederten Ostgebieten mit der das >Alt241

reich< abdeckenden >Euthanasieaktion< verklammert. 7 In gewissem Sinne waren die Mordprogramme arbeitsteilig angelegt: Während die Einsatzgruppen der Sipo und des SD, das Sonderkommando Lange und SS-Einheiten wie der Wachsturm Eimann, deren Hauptaufgabe in der >Evakuierung< von Polen undjuden bestand, die >Euthanasieaktion< - anstelle der T4-Zentraldienststelle 8 - in den besetzten Gebieten ausführten, leitete die Euthanasiezentrale den ersten Massenmord an Juden im Reichsgebiet ein, indem sie eine wachsende Zahl von Juden deutscher Staatsangehörigkeit - Anstaltsinsassen und KZHäftlinge - in die >Euthanasieaktion< einbezog. Am 22. Juni 1941 rückte die deutsche Wehrmacht in Rußland ein, gefolgt von den Einsatzgruppen der Sipo und des SD, die sich aus Angehörigen der Sipo, der Kripo, des SD und der Waffen-SS zusammensetzten, insbesondere im Baltikum und in der Ukraine von einheimischen Hilfstruppen unterstützt. Die Einsatzgruppen richteten einen Massenmord unvorstellbaren Ausmaßes an Kommunisten, Partisanen, Juden, Zigeunern, >Asozialen< und Geisteskranken an. 9 Seit Dezember 1941 wurden von den vier Einsatzgruppen (A, B, C und D), die in der Sowjetunion operierten, etwa 30 Gas wagen eingesetzt. Die von den Einsatzgruppen der Sipo und des SD verübten Massenmorde durch Giftgas gingen auf einen Transfer der Euthanasietechnologie zurück. Drei Verbindungslinien lassen sich herstellen: 1. Ein Beleg für die unmittelbare Beteiligung der Kanzlei des Führers an den Vorarbeiten zum Einsatz von Giftgas beim Massenmord an Juden in der Sowjetunion ist der Entwurf eines Briefes, den der Sachbearbeiter f ü r j u d e n fragen im Reichsministerium für die besetzten Gebiete, E. Wetzel, am 25. Oktober 1941 an den Reichskommissar für das Ostland, H. Lohse, richtete: »Unter Bezugnahme auf mein Schreiben vom 18. Oktober 1941 teile ich Ihnen mit, daß sich Herr Oberdienstleiter Brack von der Kanzlei des Führers bereit erklärt hat, bei der Herstellung der erforderlichen Unterkünfte sowie der Vergasungsapparate mitzuwirken. Zur Zeit sind die in Betracht kommenden Apparate in genügender Anzahl nicht vorhanden, sie müssen erst hergestellt werden. Da nach Auffassung Bracks die Herstellung der Apparate im Reich viel größere Schwierigkeiten bereitet als an Ort und Stelle, hält es Brack für am zweckmäßigsten, wenn er umgehend seine Leute, insbesondere seinen Chemiker Dr. Kallmeyer, nach Riga sendet, der dort alles weitere veranlassen wird. Oberdienstleiter Brack weist daraufhin, daß d a s . . . Verfahren nicht ungefährlich ist, so daß insbesondere Schutzmaßnahmen erforderlich seien. Unter diesen Umständen bitte ich Sie, sich über Ihren Höheren SS- und Polizeiführer an Oberdienstleiter B r a c k . . . zu wenden und um die Entsendung des Chemikers Kallmeyer sowie weiterer Hilfskräfte zu bitten. Ich darf darauf hinweisen, daß Sturmbannführer Eichmann, der Sachbearbeiter für Judenfragen im R S H A . . . einverstandenist. Nach Mitteilung v o n . . . Eichmann sollen in Riga und in Minsk Lager fürjuden geschaffen werden, in die evtl. auch Juden aus dem Altreichgebiet kommen. Es werden zur Zeit aus dem Altreich Juden evakuiert, die nach Litzmannstadt (Lodz), aber auch nach anderen Lagern kommen sollen, um dann später im Osten, soweit arbeitsfähig, in Arbeitseinsatz zu kommen. 242

Nach Sachlage bestehen keine Bedenken, wenn diejenigen Juden, die nicht arbeitsfähig sind, mit den Brackschen Hilfsmitteln beseitigt werden. Auf diese Weise dürften dann auch die Vorgänge, wie sie sich bei den Erschießungen der Juden in Wilna... ergeben haben, und die auch im Hinblick darauf, daß die Erschießungen öffentlich vorgenommen wurden, kaum gebilligt werden können, nicht mehr m ö g lich sein. Die Arbeitsfähigen dagegen werden zum Arbeitseinsatz nach Osten abtransportiert. « 1 0

Dieses als >Gaskammerbrief< bezeichnete Schreiben beleuchtet den Hintergrund des Übergangs zur >Endlösung der JudenfrageEuthanasieaktion< in die Vorüberlegungen zur J u d e n vernichtung einbezogen wurde. Unklar bleibt hingegen, o b die Euthanasiezentrale tatsächlich Experten in das Reichskommissariat Ostland entsandte, u m dort die im >Gaskammerbrief( offenbar angesprochenen stationären Vergasungsanlagen zu errichten. 1 1 2. Seit September 1941 führte die von A. Nebe, d e m Chef der Abteilung V (RKPA) im R S H A , geleitete Einsatzgruppe B, die im rückwärtigen Gebiet der Heeresgruppe Mitte in Weißrußland eingesetzt war, M a s s e n m o r de an Insassen von Heil- und Pflegeanstalten in stationären Vergasungsanlagen durch, die den Gaskammern in den Tötungsanstalten der >Aktion T4< nachempfunden waren. Nebe, der nach eigenem Bekunden die >Euthanasieaktion( in der Sowjetunion fortführte, 1 2 entschloß sich im September 1941, Massentötungen durch Sprengstoff und Giftgas an Anstaltsinsassen zu erproben, nachdem sich herausgestellt hatte, daß gerade die Massenerschießungen von Geisteskranken die Angehörigen der Einsatz- u n d S o n d e r k o m mandos auf das schwerste belasteten. 1 3 Möglicherweise hatte N e b e auch im August 1941 von H i m m l e r den Befehl erhalten, humanere Liquidierungsmethoden zu entwickeln, nachdem der RFSS anläßlich einer Erschießung von Häftlingen des Minsker Gefängnisses einen N e r v e n z u s a m m e n b r u c h erlitten hatte. 1 4 Z u r E r p r o b u n g der Massentötung durch Sprengstoff und Giftgas bediente sich N e b e des Chemikers Widmann aus d e m ihm unterstehenden KTI, d e m er bereits i m Herbst 1939 - von Brack u m Amtshilfe ersucht - den Auftrag erteilt: hatte, an der Planung der Tötungsanstalten der >Aktion T4< beratend mitzuwirken. 1 5 N o c h im September 1941 w u r d e Widmann auf Veranlassung Nebes entweder von dessen Stellvertreter im R K P A , Oberregierungsrat Werner, der auch als Verbindungsmann des R K P A zur Euthanasiezentrale fungierte, oder v o m Leiter des Referats fur Chemie, Physik und Biologie im KTI, Oberregierungs- und Kriminalrat Heeß, nach Minsk beordert. N a c h d e m ein in der N ä h e von Minsk durchgeführter Versuch, einen Bunker, in dem sich etwa 24 Geisteskranke aufhielten, in die Luft zu sprengen, fehlgeschlagen war, w u r d e in Mogilew die 243

Tötung durch kohlenmonoxydhaltige Auspuffgase erprobt. Ein Laborraum in der Irrenanstalt von Mogilew, dessen Fenster bis auf zwei Rohrstücke für die Gaszufuhr zugemauert wurden, diente a!s Gaskammer. Mit Hilfe von Metallschläuchen wurden dio Auspuffgase erst eines, dann zweier Automobile durch die Rohrstücke in das Innere der Gaskammer geleitet, in der während des Versuchs mindestens fünf Geisteskranke starben. Nebe und Widmann, die die Versuchs^ergasung beaufsichtigten, zeigten sich zufrieden. 1 6 In der Folgezeit wurden die Versuche zur Massentötung mit Sprengstoff und Giftgas von den Einsatz- und Sonderkommandos der Einsatzgruppe Β offenbar wiederholt. Gegen Ende November 1941 wurden rd. 300 Patienten der psychiatrischen Abteilung des 2 Klinischen Krankenhauses in Minsk verschleppt und wahrscheinlich durch eine Sprengung getötet. 1 7 Bereits am 18. September 1941 waren im psychiatrischen Krankenhaus von Minsk rd. 200 Patienten ermordet worden, von denen ein Teil in einem zu einer Gaskammer umgerüsteten Baderaum den Tod fand. 1 8 Noch im Jahre 1943 wurde eine Gruppe von Patienten im Psychiatrischen Gebietskrankenhaus von Lotoschinsk bei Moskau in einer auf dem Krankenhausgelände hergerichteten Gaskammer ermordet. Doch erschien den Tätern diese Liquidierungsmethode nicht effektiv genug. Deshalb wurde eine zweite Gruppe der Patienten des Lotoschinsker Gebietskrankenhauses vergiftet, eine dritte erschossen, eine vierte ließ man verhungern, eine fünfte erfrieren. Insgesamt wurden in Lotoschinsk rd. 700 Patienten umgebracht. 1 9 3. Bei den Massentötungen durch Giftgas vermochten sich die stationären Vergasungsanlagen nicht durchzusetzen. An ihre Stelle traten die Gaswagen. Diese Gas- (G-) oder Speziai- (S-) Wagen genannten mobilen Liquidierungsmaschinerien bestanden aus luftdicht verschließbaren, mit Zinkblech ausgeschlagenen Kastenaufbauten auf LKW-Gestellen. Durch einen Verbindungsschlauch konnten Motorabgase in das Wageninnere geleitet werden, wo in etwa einer Viertelstunde 40 bis 60 Menschen an dem in den Abgasen enthaltenen Kohlenmonoxyd erstickten. Diese Gaswagen waren nach demselben Prinzip konstruiert wie die in den Jahren 1939/1940 in Polen eingesetzten fahrbaren Gaskammern, benötigten aber kein in Stahlflaschen abgefülltes Kohlenmonoxyd, das in den besetzten sowjetischen Territorien, auf denen die Gaswagen zum Einsatz kommen sollten, schwer zu beschaffen war. Der Auftrag zum Bau der Gaswagen war im September 1941 von Obersturmbannführer W. Rauff, dem Leiter der Abteilung II D im RSHA (Referat Kraftfahrwesen), F. Pradel übertragen worden, der wiederum enge Kontakte zu dem Chemiker A. Becker unterhielt, der im Januar 1940 als Vertreter des KTI der Versuchsvergasung im Zuchthaus Brandenburg beigewohnt hatte und im Mai 1942 im Auftrag des Referats Kraftfahrwesen des RSHA die Gaswagen in der Sowjetunion überprüfte und verbesserte. 20 An der Entwicklung der Gaswagen, die bei den Einsatzgruppen verwendet wurden, war das KTI maßgeblich beteiligt. Heeß und Widmann hatten den Gaswagen neuen Typs bereits vor Beginn des Rußlandfeldzugs konzipiert. 2 1 244

Heeß und andere Angehörige des K T I nahmen im Herbst 1941 an der Erprobung des Prototyps des neuentwickelten Gaswagens an russischen Kriegsgefangenen im K Z Sachsenhausen teil. 2 2 Die ersten der etwa 30 Gaswagen, die in der Sowjetunion zum Einsatz kamen, wurden im November/Dezember 1941 in Betrieb genommen. Im Laufe des Jahres 1942 wurden alle Einsatzgruppen mit Gas wagen ausgestattet. 2 3 Z u m Massenmord an Anstaltsinsassen wurden die Gaswagen vor allem von der von O . Ohlendorf, dem Chef des S D Inland im R S H A , späterdann von W. Bierkamp geleiteten Einsatzgruppe D benutzt, die im rückwärtigen Heeresgebiet der 11. Armee im südlichen Teil der Ukraine, auf der Krim und im Nordkaukasus operierte. Anfang 1942 waren beim Stab der Einsatzgruppe D in Simferopol drei Gaswagen stationiert. Im Psychiatrischen Krankenhaus von Simferopol waren v o m Beginn der Besatzung im N o vember 1941 bis Anfang 1942 bereits rd. 400 von 800 Patienten verhungert, weil die Anstalt von der Lebensmittelversorgung ausgenommen worden war. A m 7. März 1942 wurden die 425 überlebenden Anstaltsinsassen und die 60 Patienten der psychiatrischen Kolonie Alexandrowka in der Nähe von Belogorsk mit einem Gaswagen getötet. 2 4 In fiinfTransporten am 5., 7., 10. und 22. August und am 20. Oktober 1942 wurden insgesamt 660 Patienten psychiatrischer Institutionen in Stawropol am Nordrand des Kaukasus mit Gaswagen abgeholt. 2 5 A m 9. Oktober 1942 vergaste eine Gruppe des Einsatzkommandos 10a injeissk an der Ostküste des Asowschen Meeres behinderte Kinder, die im örtlichen Kinderheim untergebracht waren. 2 6 Aus dem Operationsgebiet der Einsatzgruppe D liegt der Bericht eines Zeugen vor, der eine Vergasung überlebte: » A m 22. August [1942] begab ich mich in das Städtische Krankenhaus N r . 3 [in Krasnoda a. Kuban], in dem ich vorher behandelt wurde; ich wollte mir eine Bescheinigung ausstellen lassen. Als ich den H o f betrat, erblickte ich als erstes ein großes Lastauto mit dunkelgrauer Karosserie. Bevor ich auch nur zwei Schritte tun konnte, packte mich ein deutscher Offizier am Kragen und stieß mich in den Kasten hinein. Das Innere des Autos war mit Menschen vollgestopft, manche ganz nackt, andere nur in Unterwäsche. Die Tür schnappte zu. Ich merkte, daß sich das Auto in Bewegung setzte. Nach einigen Minuten wurde mit übel; ich begann, das Bewußtsein zu verlieren. Ich hatte seinerzeit Luftschutzkurse besucht; daher wurde mir sofort klar, daß wir mit irgendeinem Gas vergiftet wurden. Ich zerriß mein Hemd, benetzte es mit Harn und preßte es an N a s e und Mund. So konnte ich leichter atmen, schließlich wurde ich aber doch ohnmächtig. Als ich zur Besinnung kam, lag ich in einer Grube, zwischen mehreren Dutzend von Leichen. Mit großer Mühe gelang es mir, herauszukriechen und mich nach Hause zu schleppen.« 2 7

Während die Einsatzgruppe Β zur Liquidierung von Patienten psychiatrischer Institutionen stationäre Vergasungsanlagen erprobte und die Einsatzgruppe D zum Massenmord an Anstaltsinsassen vorwiegend Gaswagen einsetzte, führten die Einsatz- und Sonderkommandos der Einsatzgruppe A, 245

die unter Leitung von W. Stahlecker bzw. H. Jost in der Etappe der Heeresgruppe Nord im Baltikum operierte, und der Einsatzgruppe C, die unter dem Kommando von O. Rasch bzw. M. Thomas im rückwärtigen Armeeund Heeresgebiet der Heeresgruppe Süd in der nördlichen und mittleren Ukraine eingesetzt war, zahllose Massenerschießungen von Geisteskranken durch, die mitunter den Abschluß eines stufenweisen Vernichtungsfeldzuges gegen die Bewohner der psychiatrischen Krankenhäuser bildeten. Diese abgestufte Vernichtung begann häufig mit einer von der Militärverwaltung verfugten Lebensmittelrationierung für die psychiatrischen Institutionen, wodurch die Verpflegung der Anstaltsbewohner unter das Existenzminim u m gedrückt wurde. Daß die Hungerkost für die psychiatrischen Patienten gezielt zur Dezimierung der Anstaltsbevölkerung eingesetzt wurde, zeigt etwa das Beispiel der Heil- und Pflegeanstalt Winniza im Operationsgebiet der Einsatzgruppe C, in der bei Einnahme der Stadt Winniza 1800 Patienten lebten. »Anfang August 1941 riefen der Feldkommandant Melting und der Leiter der Ärztlichen Abteilung der Feldkommandantur, Sepp, eine Versammlung der Ärzte ein, bei der es um die Behandlung der Patienten des Psychiatrischen Krankenhauses ging. Nach dieser Konferenz begann im Krankenhaus ein außergewöhnlich hartes Regiment. Die Essensrationen wurden drastisch herabgesetzt, Fleisch und Fett erhielten die Kranken überhaupt nicht mehr. Der Tagesverpflegungssatz wurde auf 100 g minderwertigen Brots reduziert. Alle Lebensmittelvorräte und die Hofwirtschaft konfiszierten die Deutschen. Der Arzt der Stadt Winniza, Professor Hahn, erzählte, daß er sich an den Gebietskommissar Margenfeld mit der Bitte gewandt habe, den Verpflegungssatz fur die Kranken zu erhöhen, da die festgesetzten Rationen zur Auszehrung und zum Hungertod führten. Daraufhabe der Gebietskommissar Margenfeld geantwortet: >Für psychisch Kranke sind selbst 70 g Brot zuviel.Vernichtung lebensunwerten Lebens« auf die besetzten Ostgebiete - während des Zweiten Weltkrieges wurden in Polen und in der Sowjetunion schätzungsweise j e 10000 Anstaltsinsassen ermordet 3 7 - wurde die >Euthanasieaktion< mit der sich anbahnenden >Endlösung der Judenfrage< verkoppelt, stellten doch die Anstaltstötungen nur einen Ausschnitt der Massenmorde dar, die von den Sonderkommandos und Einsatzgruppen in Polen und der Sowjetunion begangen wurden und denen über eine Million Juden zum Opfer fiel. Dabei kam es zu einem Transfer der Tötungstechnik. 3 8

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2. Die Vernichtungslager Chelmno, Belzec, Sobiborund

Treblinka

Erste Erwägungen zu einem Massenmord an Juden durch Giftgas finden sich in einem Schreiben, das der SS-Sturmbannfìihrer R.-H. Höppner, der beim Stab des HSSPF im Warthegau tätig war, am 16. Juli 1941 an Eichmann richtete: »Es besteht in diesem Winter die Gefahr, daß die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirksames Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen.« 1

Dieser TötungsVorschlag stand im Zusammenhang mit dem Plan zur Einrichtung eines riesigen Lagers, in das alle Juden des Reichsgaus Wartheland überfuhrt werden sollten, um die Ghettos in den Bezirken Posen und Lodz aufzulösen. Während dieser Plan nicht durchgeführt wurde, nahm man im Dezember 1941 in Chelmno (Kulmhof) im Reichsgau Wartheland das erste Vernichtungslager des >Dritten Reiches< in Betrieb. Dort wurde das Sonderkommando Lange eingesetzt, das bereits in denjahren 1939/1940 in DanzigWestpreußen, im Wartheland und in Ostpreußen Krankentötungen durchgeführt hatte, wobei die Tötungstechnologie der >Euthanasieaktion< zum Einsatz gekommen war. 2 Möglicherweise ging die Abstellung des Sonderkommandos Lange zur Judenvernichtung auf eine Initiative der Euthanasiezentrale zurück. Der SS- und Polizeiführer (SSPF) im Warthegau, W. Koppe, sagte im nachhinein aus, er habe vom Inspekteur der Sipo im Reichsgau Wartheland, Damzog, 3 erfahren, »daß ein Dr. Brack von der Privatkanzlei von Hitler bereits Vorbereitungen mit Giftgasen getroffen hatte und diese Giftgase durch das Sonderkommando Lange erprobt werden sollten«. Außerdem bekundete Koppe, der persönliche Referent Himmlers, Brandt, habe ihm mitgeteilt, »daß Dr. Brack bereits in Berlin mit Gasen experimentiere, die Experimente vor dem Abschluß stünden, und die Erprobung der Brackschen Gase unter seiner, Dr. Bracks, Leitung im Wartheland beabsichtigt sei. Die Durchführung der Vergasungen war offensichtlich auf das Sonderkommando Lange zugeschnitten«. 4 Vielleicht stand die Einrichtung des Vernichtungslagers Chelmno sogar mit Plänen zur Institutionalisierung einer Euthanasicanstalt im Reichsgau Wartheland in Zusammenhang. 5 Das Vernichtungslager Chelmno wurde im Oktober/November 1941 vom Sonderkommando Lange eingerichtet. Am 5. Dezember 1941 traf der erste der Judentransporte ein, die zunächst mit Lastwagen nach Chelmno gebracht, später mit der Eisenbahn bei dem Gut Powiercie in der Nähe von Chelmno abgesetzt wurden. Die Opfer wurden in das > Schloß Aktion T4< bewährt. Manchmal trugen die Angehörigen des Sonderkommandos Lange beim Empfang der Opfer sogar weiße Kittel und Stethoskope, um vorzutäuschen, sie seien Ärzte. Hier mögen die Scheinuntersuchungen, die in den Tötungsanstalten der >Aktion T4< vor den Vergasungen stattfanden, Pate gestanden haben. 6 In Chelmno waren zwei bis drei vom RSHA angelieferte Gaswagen stationiert. Wie die in der Sowjetunion verwendeten Gaswagen benutzten sie die Auspuffgase zur Vergasung, im Unterschied zu diesen war das Rohrstück zur Gaszufuhr jedoch an der Frontseite des Kastenaufbaus angebracht und mit einem metallenen Spiralschlauch mit dem ebenfalls nach vorne verlegten Auspufftopf verbunden - eine Veränderung, die offenbar der Tarnung diente. 7 Die Vergasungen, die etwa zehn Minuten dauerten, wurden noch auf dem Gelände des Schlosses durchgeführt. Anschließend fuhren die Gaswagen zu dem etwa vier Kilometer entfernten >WaldlagerPrinz Eugen< nach Jugoslawien verlegt. Im Frühjahr 1944 wurde die nunmehr als Sonderkommando Bothmann bezeichnete Einheit wieder nach Chelmno beordert, wo in provisorischen Baracken bis zum August 1944, als die rd. 70000 noch im Ghetto von Lodz verbliebenen Juden nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden, nochmals mindestens 7000 Menschen vergast wurden. Erst Mitte Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Chelmno restlos aufgelöst. 11 Anläßlich der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 äußerte der Vertreter des Generalgouverneurs Hans Frank, Staatssekretär Bühler, den Wunsch, daß »mit der Endlösung der Judenfrage im Generalgouvernement begonnen« 12 werden sollte. Im Generalgouvernement, das die Distrikte Warschau, Krakau, Lublin, Radom und Lemberg umfaßte, lebten nach Schätzung der deutschen Verwaltung zu diesem Zeitpunkt rd. 2,284 Mill. Juden. Zu ihrer Vernichtung wurden Ende 1941/Anfang 1942 im Bezirk Lublin die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka errichtet, in denen bis zum Oktober 1943 mindestens 1,75 Mill. Juden ermordet wurden. Die Judenvernichtung auf dem Gebiet des Generalgouvernements wurde nach dem am 5. Juni 1942 bei einem Attentat ums Leben gekommenen Heydrich >Aktion Reinhard« genannt. Sie war dem SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei Odilo Globocnik, dem SSPF im Distrikt Lublin, übertragen worden, der fur die Dauer der > Aktion Reinhard« Himmler unmittelbar unterstellt war. 1 3 Durch personelle Kontinuität waren die >Aktion T4< und die >Aktion Reinhard« eng miteinander verflochten. In zwei Versetzungsschüben im letzten Viertel des Jahres 1941 bzw. im ersten Viertel des Jahres 1942 stellte die Kanzlei des Führers insgesamt 92 Angestellte der T4-Zentraldienststell e - u . a. Bürokräfte, Kraftfahrer, Transportbegleiter, Leichenverbrenner— an die >Aktion Reinhard« ab. 1 4 Wer seinen Wehrdienst noch nicht geleistet hatte, erhielt im Lager Trawniki, wo die ukrainischen Hilfstruppen Globocniks ausgebildet wurden, eine kurze militärische Grundausbildung. Die Bediensteten der Zentraldienststelle wurden in Uniformen der Waffen-SS gekleidet und mindestens in den Rang eines Unterscharführers erhoben. Dennoch blieb die T4-Zentraldienststelle ihr Arbeitgeber, zuständig etwa fur Abberufungen und Beurlaubungen. Funktionäre der Euthanasiezentrale, z. B. Bouhler, Blankenburg und Allers, führten bei dem in das Generalgouvernement verlegten Personal Inspektionen durch. Die Angestellten der T4-Zentraldienststelle, die rd. 20% des Gesamtpersonals der >Aktion Reinhard« ausmachten, stellten fast die gesamte Besatzung der Vernichtungslager 15 einschließlich der Lagerkommandanten und ihrer Stellvertreter. Der Kriminalkommissar, später Polizeimajor Christian Wirth, der schon im Januar 1940 an der Versuchs Vergasung im Zuchthaus Brandenburg teilge250

nommen hatte, war in den Jahren 1940/1941 zunächst als Büroleiter in den Tötungsanstalten Grafeneck, Brandenburg und Hartheim tätig gewesen, später hatte er im Auftrag der Euthanasiezentrale die Tötungsanstalten inspiziert. Von Dezember 1941 bis August 1942 war Wirth Kommandant des Vernichtungslagers Belzec, im August 1942 stieg er zum Inspekteur der drei Vernichtungslager der >Aktion Reinhard< auf. Sein persönlicher Adjutant, SS-Oberscharführer Josef Oberhauser, entstammte ebenfalls dem Umkreis der >EuthanasieaktionAktion Reinhard< den Gaskammern in den Tötungsanstalten der >Aktion T4< ähnelten: 1. Im Vernichtungslager Belzec, mit dessen Bau im November 1941 begonnen worden war, wurden die Vergasungsanlagen Ende Februar 1942 fertiggestellt. Es handelte sich um drei mit Blech ausgeschlagene Gaskammern in einer hölzernen Baracke, in denen etwa 100-150 Menschen Platz fanden. Bei den ersten Versuchsvergasungen wurden - in Anlehnung an die Liquidierungstechnik der >Euthanasieaktion< - Stahlflaschen, gefüllt mit Kohlenmonoxyd, verwendet. Bald darauf jedoch wurde in einem Nebengebäude ein Motor installiert, dessen Abgase durch ein Rohr in die Baracke geleitet wurden. In dieser Vergasungsanlage wurden von Mitte März bis Mitte April und von Mitte Mai bis Mitte Juni 1942 17 insgesamt über 100000 Menschen — überwiegend Juden aus den Bezirken Lublin, Lemberg und Krakau — getötet. Danach wurde das Holzgebäude mit den Gaskammern abgerissen und an gleicher Stelle ein massiver Steinbau von 24 m Länge und 10 m Breite errichtet, der sechs Gaskammern enthielt. Über ihre Größe liegen unterschiedliche Angaben vor, die zwischen 4 x 4 und 4 X 8 m schwanken. In dieser neuen Vergasungsanlage konnten 1500 Menschen auf einmal umgebracht werden. Mitte Juli 1942 fertiggestellt, war sie bis Dezember 1942 in Betrieb. In ihr starben nochmals annähernd 500000 Menschen. 18 2. Das Vernichtungslager Sobibor, mit dessen Errichtung im März 1942 begonnen wurde, war Ende April 1942 einsatzbereit, nachdem die Tötungsversuche in der Vergasungsanlage abgeschlossen waren. Diese bestand aus 251

drei 4 Χ 4 m großen Gaskammern, die in einem Ziegelgebäude auf einem Betonfundament untergebracht waren. In jede der Gaskammern konnten 150-200 Menschen gepfercht werden. Auch in Sobibor wurden die Abgase eines Motors, der in einem Anbau montiert wurde, durch Rohrleitungen in die Gaskammern geleitet. Im September 1942 entstand unter Aufsicht von Lambert, der zuvor in Treblinka neue Gaskammern installiert hatte, und Lorenz Hackenholt, der für die Gaskammern in Belzec verantwortlich war, in Sobibor eine neue Vergasungsanlage. Sie hatte sechs Gaskammern mit einer Grundfläche von 4 X 4 m . Die Aufnahmekapazität wurde auf 1200-1300 Menschen gesteigert. Der ersten Vernichtungswelle, die in Sobibor von Mai bis Juli 1942 dauerte, fielen mindestens 77 000 Menschen-überwiegendJuden aus dem Bezirk Lublin, aber auch Judentransporte aus Österreich, dem Protektorat Böhmen und Mähren und der Slowakei - zum Opfer. Nach der Umrüstung der Vergasungsanlage gingen die Deportationstransporte nach Sobibor bis zum September 1943 weiter. Nachdem auf Befehl Himmlers seit Juli 1943 mit der Umwandlung des Vernichtungs- in ein Konzentrationslager begonnen worden war, setzte ein Aufstand der jüdischen Häftlinge vom 14. Oktober 1943 dem Vernichtungslager Sobibor ein Ende. Bis dahin waren insgesamt rd. 250000 Menschen vergast worden. 1 9 3. Mit dem Bau des Vernichtungslagers Treblinka wurde Ende Mai/ Anfang Juni 1942 begonnen. Bei der Einrichtung der Vergasungsanlage war Lambert für die technischen Aspekte zuständig. Die Gaskammern befanden sich in einem massiven Ziegelbau. Anfangs waren drei Gaskammern in Betrieb, die 4 X 4 m groß waren. Die giftigen Gase erzeugte auch hier ein Dieselmotor, der in einem Anbau installiert war. In dieser Vergasungsanlage fanden während der ersten Vernichtungswelle, die in Treblinka nur fünf Wochen-vom23. Julibiszum28. August-dauerte, 268000Menschen-zum großen Teiljuden aus dem Warschauer Ghetto und aus dem Bezirk Warschauden Tod. Im August 1942 ordnete der neue Lagerkommandant Stangl den Bau einer neuen Vergasungsanlage an, da in den Monaten zuvor die Gaskammern nicht ausgereicht hatten, um so große Menschenmassen - an manchen Tagen erreichten 10-12000 Deportierte das Lager - zu töten. Die neue Vergasungsanlage umfaßte 10 Gaskammern, die eine Grundfläche von 320 m 2 abdeckten, während die alten Gaskammern zusammen nur 48 m 2 groß gewesen waren. Zudem wurdedieHöhederGaskammernumrd. 60 cm auf 2 m herabgesetzt, damit die Räume sich schneller mit Gas füllten. Die neuen Gaskammern hatten eine Aufnahmekapazität von 4000 Menschen, während die alte Vergasungsanlage nur 600 Menschen gefaßt hatte. Der Neubau war wiederum von Lambert und Hackenholt durchgeführt worden. In der neuen Vergasungsanlage wurden bis zum 18./19. August 1943 Menschen vergast, obwohl schon Ende Februar/Anfang März 1943 mit der Auflösung des Lagers begonnen worden war und am 2. August 1943 ein Häftlingsaufstand stattgefunden hatte. Insgesamt wurden im Vernichtungslager Treblinka rd. 900000 Menschen umgebracht. 2 0 252

U m Fluchtversuchen und Widerstandshandlungen auf dem Weg in die Gaskammern vorzubeugen, die den reibungslosen Ablauf der Hinrichtungen gestört hätten, führte Wirth in den Vernichtungslagern der >Aktion Reinhard* ein Täuschungsmanöver ein, das sich in den Tötungsanstalten der > Aktion T4< so gut bewährt hatte, daß es zuvor schon vom Sonderkommando Lange im Vernichtungslager Chelmno übernommen worden war. Den Opfern wurde vorgespiegelt, sie seien in einem >Durchgangslager< angekommen, in dem sie vor dem Weitertransport gebadet und desinfiziert werden sollten. In Treblinka war zu diesem Zweck bereits am Lagertor eine Hinweistafel angebracht, auf der es hieß: »Achtung Warschauer Juden! Ihr befindet euch hier in einem Durchgangslager, von dem aus der Weitertransport in Arbeitslager erfolgen wird. Zur Verhütung von Seuchen sind sowohl Kleider als auch Gepäckstücke zum Desinfizieren abzugeben. Gold, Geld, Devisen und Schmuck sind gegen Quittung der Kasse zu übergeben. Sie werden später gegen Vorlage der Quittung wieder ausgehändigt. Zur K ö r perreinigung haben sich alle Ankommenden vor dem Weitertransport zu baden.« 2 1 In Sobibor hielt der Stellvertretende Lagerkommandant H. Michel Ansprachen vor den neuangekommenen Juden, in denen er ankündigte, sie würden in die Ukraine weiterverlegt, nachdem sie gebadet seien. Nach Angaben einer Überlebenden, Ada Lichtmann, weckten diese Ansprachen »Vertrauen und Begeisterung unter den Menschen. Sie applaudierten spontan, und manchmal tanzten und sangen sie sogar. « 2 2 Noch in den Baracken, in denen sich die Opfer ausziehen mußten, und in den >SchläuchenBad< wiesen. In Sobibor und Treblinka war sogar die Tarnung der Gaskammern als Duschräume übernommen worden. 2 3 Der SS-Obersturmfuhrer Kurt Gerstein, der Leiter des Desinfektionsdienstes beim Reichsarzt-SS - er war im März 1941 in die SS eingetreten, um den Massenmorden in den Tötungsanstalten und Vernichtungslagern aufdie Spur zu kommen, nachdem eine Verwandte in Hadamar umgebracht worden war 2 4 - , besuchte im Juni 1942 die Vernichtungslager der >Aktion Reinhardt 2 5 Über eine Vergasung im Vernichtungslager Belzec berichtete er: »Die Kammern füllen sich. Gut vollpacken - so hat es der Hauptmann Wirth befohlen. Die Menschen stehen einander auf den Füßen. 700-800 auf 25 Q u a d r a t m e tern, in 45 Kubikmetern! Die SS zwängt sie physisch zusammen, soweit es überhaupt geht. - Die Türen schließen sich. Währenddessen warten die anderen draußen im Freien, n a c k t . . . Mit den Dieselauspuffgasen sollen die Menschen zu Tode gebracht werden. Aber der Diesel funktioniert nicht! Der Hauptmann Wirth kommt. Man sieht, es ist ihm peinlich, daß das gerade heute passieren muß, w o ich hier bin. Jawohl, ich sehe alles! U n d ich warte. Meine Stoppuhr hat alles brav registriert. 50 Minuten, 70 Minuten - der Diesel springt nicht an! Die Menschen warten in ihren Gaskammern. Vergeblich. Man hört sie weinen, schluchzen... Nach 2 Stunden 49

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Minuten - die Stoppuhr hat alles wohl registriert - springt der Diesel an. Bis zu diesem Augenblick leben die Menschen in diesen 4 Kammern, viermal 750 Menschen in viermal 45 Kubikmetern! - Von neuem verstreichen 25 Minuten. Richtig, viele sind jetzt tot. Man sieht das durch das kleine Fensterchen, in dem das elektrische Licht die Kammer einen Augenblick beleuchtet. Nach 28 Minuten leben nur noch wenige. Endlich nach 32 Minuten ist alles tot! — Von der anderen Seite öffnen Männer v o m Arbeitskommando die Holztüren... Wie Basaltsäulen stehen die Toten aufrecht aneinandergepreßt in den Kammern. Es wäre auch kein Platz, hinzufallen oder auch nur sich vornüber zu neigen. Selbst im Tode noch kennt man die Familien. Sie drücken sich, im Tode verkrampft, noch die Hände, so daß man Mühe hat, sie auseinander zu reißen, um die Kammern fur die nächste Charge freizumachen. Man wirft die Leichen - naß von Schweiß und Urin, kotbeschmutzt, Menstruationsblut an den Beinen, heraus. Kinderleichen fliegen durch die Luft. Man hat keine Zeit, die Reitpeitschen der Ukrainer sausen auf die Arbeitskommandos. Zwei Dutzend Zahnärzte öffnen mit Haken den Mund und sehen nach Gold. Gold links, ohne Gold rechts. Andere Zahnärzte brechen mit Zangen und Hämmern die Goldzähne und Kronen aus den Kiefern. . . . Einige Arbeiter kontrollieren Genitalien und After nach Gold, Brillanten und Wertsachen. Wirth ruft mich heran: Heben Sie mal diese Konservenbüchse mit Goldzähnen, das ist nur von gestern und vorgestern!« 26

Das Herausbrechen der Goldzähne - das Zahngold wurde in der T4-Zentraldienststelle abgeliefert 27 - war aus den Tötungsanstalten der >Aktion T4< übernommen worden. Anders als in den Tötungsanstalten in der Phase der >Aktion T4< wurden in den Vernichtungslagern der >Aktion Reinhard< die Leichen nicht verbrannt, sondern in Massengräbern verscharrt. Erst im Herbst 1942 kamen die Kommandanten von Belzec und Sobibor überein, die Leichen zu verbrennen. In Treblinka begann man damit erst im Jahre 1943. Im Sommer 1942 waren die Leichengruben auf Grund der Hitze aufgequollen, hatten einen grauenhaften Gestank verbreitet, Ungeziefer angelockt und Leichenwasser abgesondert, das die Trinkwasserbrunnen zu vergiften drohte. Deshalb wurden im Laufe der Jahre 1942/1943 im Rahmen der >Sonderaktion 1005Endlösung der Judenfrage< in größerem Maßstab in den Vernichtungslagern Majdanek und Auschwitz fortgeführt. R. Höß, der Kommandant von Auschwitz, erhielt vermutlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1941 in Berlin von Himmler den Auftrag, Pläne zur Errichtung von Massenvernichtungsanlagen für die »Endlösung der Judenfrage< zu entwerfen. Seine Pläne entwickelten sich zwar in Konkurrenz zur »Aktion Reinhards folgten aber im wesentlichen dem Grundmuster, das durch die »Vernichtung lebensunwerten Lebens< vorgegeben war. Im Unterschied zu Belzec, Sobibor und Treblinka wurde in Auschwitz das Giftgas Zyklon Β zur Vergasung benutzt. Außerdem ging man mit der Fertigstellung des Bunkers II im Juni 1942 dazu 254

über, nach dem Vorbild der Tötungsanstalten der >Aktion T4< Vergasungsund Einäscherungsanlagen zu verbinden. 2 9 Das von der Euthanasiezentrale zur >Aktion Reinhard< abgestellte Personal wurde nach dem Abbruch der Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka nach Istrien verlegt. Es betrieb in San Saba bei Triest ein Internierungslager für Juden, die zur Deportation nach Auschwitz vorgesehen waren. Lambert errichtete auch hier eine Verbrennungsanlage, in der die Leichen von 2000-5000Juden, italienischen und jugoslawischen Partisanen, die in San Saba erschossen worden waren, verbrannt wurden. 3 0 Die >Aktion T4< bildete die »unmittelbare Vorgeschichte und eine wesentliche Voraussetzung« 3 1 der >Endlösung derjudenfrageEuthanasieaktion< und den ersten Stationen des Holocaust - den Einsatzgruppen der Sipo und des S D und den Vernichtungslagern Chelmno, Belzec, Sobibor und Treblinka — her. Die Bedeutung, die der >Vernichtung lebensunwerten Lebens* innerhalb des Ursachengeflechts, das dem Ü b e r gang von der Judenverfolgung zur Judenvernichtung zugrundelag, zukam, ist in der Forschung bislang fast ausnahmslos unterschätzt worden. 3 2 Es reicht jedoch nicht aus, die >Euthanasie< ganz allgemein als Vorstufe der Judenvernichtung stärker zur Geltung zu bringen. Vielmehr muß berücksichtigt werden, daß die Beschreibung der Rolle, die der >Euthanasieaktion< im Vorfeld der Judenvernichtung zufiel, von dem Deutungsmuster abhängt, das auf die Genesis des Holocaust angewandt wird. 1. Geht man - beispielsweise auf die antisemitischen Tiraden Hitlers in der Reichstagsrede anläßlich des sechsten Jahrestages der >Machtübernahme< am 30. Januar 1939 Bezug nehmend 3 3 - davon aus, daß die Entscheidung zur Judenvernichtung bereits vor Kriegsbeginn gefallen w a r , 3 4 kann man die >Euthanasieaktion< als Experiment zur Erprobung einer neuartigen T ö tungstechnik funktional auf den Holocaust hin interpretieren. Die bei der >Vernichtung lebensunwerten Lebens* gesammelten Erfahrungen mit Massenvergasung und -Verbrennung gaben - legt man dieses Deutungsraster zugrunde - in der Frage, wie diejudenvernichtung vonstatten gehen sollte, den Ausschlag; auf die Entscheidung, daß die >Endlösung derjudenfrage* in der physischen Liquidierung bestehen sollte, nahmen sie indessen keinen Einfluß. Dieser These ist insoweit zuzustimmen, als die bei der >Endlösung der Judenfrage« angewandte Massentötung durch Giftgas in entscheidendem Maße von der Tötungstechnologie der >Euthanasieaktion< geprägt w a r . 3 s Darüber hinaus ist jedoch zu überdenken, ob die >Vernichtung lebensunwerten Lebens* nicht auch die Entscheidungen, die zum Übergang von der Judenverfolgung zur Judenvernichtung führten, beeinflußte. Denn die T h e se v o m planrational vorprogrammierten Genozid erweist sich als wenig tragfähig. Zwar bildete der radikale Rassenantisemitismus, durch die Weltanschauung Hitlers in die Programmatik der N S D A P eingebracht, eine 255

Konstante der nationalsozialistischen Ideologie. Wie dieser Antisemitismus jedoch in praktische Politik umgesetzt werden sollte, dazu lag bei der >Machtübernahme< kein konkretes Programm vor. Bis zum Ende desJahres 1941 konkurrierten teilweise gegenläufige Strategien - Ausgrenzung durch Entrechtung, wirtschaftliche Ausbeutung durch >ArisierungJudenreservatProgramm< der Judenvernichtung sich vielmehr aus Einzelaktionen heraus bis zum Frühjahr 1942 allmählich institutionell und faktisch entwickelte und nach der Errichtung der Vernichtungslager in Polen (zwischen Dezember 1941 und Juli 1942) bestimmenden Charakter erhielt.« 38 Im Sommer und Herbst 1941 war in der Hoffnung auf Landgewinne in der Sowjetunion ein Deportationsprogramm in die Wege geleitet worden, ohne daß man sich über die letzten Ziele und Zwecke der Deportationen im klaren war. Dahinter standen Pläne, die Juden in Lagern östlich des Urals unterzubringen, um sie durch Arbeit zu vernichten. Parallel dazu existierten aber auch immer noch Pläne, die Juden zunächst in die Ostgebiete zu deportieren, um sie - im Sinne des Madagaskar-Plans - nach Kriegsende nach Übersee zu verschiffen. Im Herbst 1941 hatten sich die Verantwortlichen aufjeden Fall so weit auf ihr Deportationsprogramm festgelegt - nicht zuletzt auch einzelnen Gauleitern, dem Reichsprotektor Böhmen und Mähren, dem Generalgouverneur und den Regierungen der verbündeten Satellitenstaaten gegenüber - , daß sie die Deportationen auch dann nicht abbrachen, als der deutsche Vormarsch im Winter 1941 ins Stocken geriet. Weil der für die verschleppten Juden zur Verfügung stehende Raum immer enger wurde, entstand im Reichsgau Wartheland, im Generalgouvernement und in den Reichskommissariaten Ostland und Ukraine ein organisatorisches Chaos, das im Herbst 1941 Entschlüsse heranreifen ließ, zumindest kranke und arbeitsunfähige Juden zu töten, um in den Ghettos Platz für weitere Deportationen zu schaffen. Dabei konnte die Initiative durchaus von der Reichsstatthalterei des Warthegaus, der Regierung des Generalgouvernements oder vom Reichskommissariat Ostland ausgehen, wahrscheinlich im Rahmen einer generellen Tendenz zum verstärkten Einsatz von Vernichtungsmitteln, die im Oktober/November 1941 zum Tragen kam. 3 9 256

Als Beispiel sei das Ghetto Lodz angeführt, das seit Oktober 1941 zu einem zentralen Umschlagspunkt der Deportation wurde. Am 18. September 1941 schrieb Himmler an den Gauleiter und Reichsstatthalter des Warthegaus, A. Greiser: »Der Führer wünscht, daß möglichst bald das Altreich und das Protektorat v o m Westen nach dem Osten von Juden geleert und befreit werden. Ich bin daher bestrebt, möglichst noch in diesem Jahr die Juden des Altreichs und des Protektorats zunächst einmal als erste Stufe in die vor zwei Jahren neu zum Reich g e k o m menen Ostgebiete zu transportieren, u m sie im nächsten Frühjahr noch weiter nach dem Osten abzuschieben. Ich beabsichtige, in das Litzmannstädter Ghetto, das, wie ich hörte, kaum aufnahmefähig ist, rund 600000 Juden des Altreichs und des Protektorats für den Winter zu verbringen. Ich bitte Sie, diese Maßnahme, die sicherlich für Ihren Gau Schwierigkeiten und Lasten mit sich bringt, nicht nur zu verstehen, sondern im Interesse des Gesamtreiches mit allen Kräften zu unterstützen.« 4 0

Wegen der Unterbringung von 20000 reichsdeutschen Juden im Ghetto von Lodz kam es im Oktober 1941 zu heftigen Kontroversen zwischen dem Litzmannstädter Regierungspräsidenten, SS-Brigadefiihrer Übelhör, und dem RFSS sowie, nachdem die Deportation Mitte Oktober begonnen worden war, der Sipo hinsichtlich der Aufnahmefähigkeit des Ghettos. Die Einrichtung des Vernichtungslagers Chelmno stand mit diesen Konflikten in unmittelbarem Zusammenhang, sollten doch in Chelmno - wie es der SS-Sturmbannführer Höppner bereits im Juli 1941 angeregt hatte die arbeitsunfähigen Juden aus dem Ghetto Lodz vergast werden, um die Aufnahmefähigkeit des Ghettos zu erhöhen. Wie der >Gaskammerbrief< Wetzeis an Lohse zeigt, löste die zu erwartende Weiterverlegung der im Ghetto Lodz zusammengepferchten Juden auch im Reichskommissariat Ostland Überlegungen zur Einrichtung einer Massenvernichtungsanlage aus. In der Tat wurden im November 1941 erstmals aus dem Deuschen Reich in das Reichskommissariat Ostland deportierte Juden - etwa in Riga, Minsk und Kowno - von Einsatzkommandos der Einsatzgruppe A erschossen. Ähnlich stellte sich die Lage im Generalgouvernement dar. Aufschlußreich waren die Ausführungen des Generalgouverneurs anläßlich einer im Zusammenhang mit der bevorstehenden Wannseekonferenz stattfindenden Regierungssitzung: »Ich werde daher den Juden gegenüber grundsätzlich nur von der Erwartung ausgehen, daß sie verschwinden. Sie müssen weg. Ich habe Verhandlungen angeknüpft mit dem Ziel, sie nach dem Osten abzuschieben. Im Januar findet über diese Frage eine große Besprechung in Berlin statt, zu der ich Herrn Staatssekretär Dr. Bühler entsenden werde. Diese Besprechung soll im Reichssicherheitshauptamt bei SS-Obergruppenfuhrer Heydrich stattfinden. Jedenfalls wird eine große jüdische Wanderung einsetzen. Aber was soll mit den Juden geschehen? Glauben Sie, man wird sie im Ostland in Siedlungsdörfern unterbringen? Man hat uns in 257

Berlin gesagt: weshalb macht man diese Scherereien; wir können im Ostland oder im Reichskommissariat auch nichts mit ihnen anfangen, liquidiert sie selber... Wir haben im Generalgouvernement schätzungsweise 2,5, vielleicht mit den jüdisch Versippten und dem, was alles daran hängt, jetzt 3,5 Millionen Juden. Diese 3,5 Millionen Juden können wir nicht erschießen, wir können sie nicht vergiften, werden aber doch Eingriffe vornehmen müssen, die irgendwie zu einem Vernichtungserfolg führen, und zwar im Zusammenhang mit den vom Reich her zu besprechenden großen Maßnahmen. « 41

Die zwei Monate später einsetzenden Massenmorde in den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhard< sollten beweisen, daß es - unter Verwendung der Tötungstechnologie der >Euthanasieaktion< - sehr wohl möglich war, Millionen von Menschen zu töten. Wenn die Massenmorde an Juden tatsächlich zunächst nur eine >Verlegenheitslösung< darstellten, mußte es sich als verhängnisvoll herausstellen, daß infolge der >Euthanasieaktion< eine perfekte Liquidierungsmaschinerie zur Verfügung stand. Dieser U m stand trug entscheidend zur Verselbständigung der Vernichtung bei, so daß schließlich das ursprüngliche Deportationsprogramm ganz in den Dienst des Genozids gestellt wurde. Im Radikalisierungsprozeß der nationalsozialistischen Judenpolitik spielte die >Euthanasieaktion< am Wendepunkt von der Verfolgung zur Vernichtung die Rolle eine Katalysators. 42 In der physischen Liquidierung fielen die verschiedenen Stränge der Ausgrenzung randständiger Minderheiten im >Dritten ReichGemeinschaftsfremden< und die von eugenischen Konzeptionen bestimmte Diskriminierung psychisch Kranker und geistig Behinderter zusammen. Die >Endlösung der JudenfrageAktion Reinhard< - die zum Holocaust notwendige Liquidierungsmaschinerie zur Verfugung stellten, entwarfen die in der Kanzlei des Führers tonangebenden Funktionäre Bouhler, Brack, Blankenburg, H e f e l m a n n - i n Bezug auf die Juden, deren Arbeitskraft noch ausgebeutet werden konnte, ein Alternativkonzept zur physischen Liquidierung. In einem Schreiben, das Brack am 23. Juni 1942 an Himmler sandte, wurde ein Programm zur Massensterilisierung durch Röntgenkastration unterbreitet: »Bei etwa 10 Millionen europäischer Juden sind nach meinem Gefühl mindestens 2-3 Millionen sehr gut arbeitsfähige Männer und Frauen enthalten. Ich stehe in Anbetracht der außerordentlichen Schwierigkeiten, die uns die Arbeiterfrage bereitet, auf dem Standpunkt, diese 2-3 Millionen aufjeden Fall herauszuziehen und zu erhalten. 258

Allerdings geht das nur, wenn man sie gleichzeitig fortpflanzungsunfähig macht. Ich habe Ihnen vor etwa einem Jahr bereits berichtet, daß Beauftragte von mir die notwendigen Versuche fur diesen Zweck abschließend bearbeitet haben. Ich möchte diese Tatsachen nochmals in Erinnerung bringen. Eine Sterilisation, wie sie normalerweise bei Erbkranken durchgeführt wird, kommt in diesem Fall nicht in Frage, da sie zu zeitraubend und kostspielig ist. Eine Röntgenkastration jedoch ist nicht nur relativ billig, sondern läßt sich bei vielen Tausenden in kürzester Zeit durchführen. Ich glaube, daß es auch im Augenblick schon unerheblich geworden ist, ob die Betroffenen dann nach einigen Wochen, bzw. Monaten an den Auswirkungen merken, daß sie kastriert sind. Sollten Sie, Reichsführer, sich im Interesse der Erhaltung von Arbeitsmaterial dazu entschließen, diesen Weg zu wählen, so ist Reichsleiter Bouhler bereit, die für die Durchführung dieser Arbeit notwendigen Ärzte und sonstiges Personal Ihnen zur Verfügung zu stellen. « 43

Das Schreiben belegt, daß in der Kanzlei des Führers bereits im Sommer 1941 Vorüberlegungen zu einem Programm der Massensterilisierung durch Röntgenstrahlen angestellt worden waren. Im Herbst 1942 Himmler hatte sich an dem Konzept interessiert gezeigt - erhielt der Obermedizinalrat Horst Schumann, zuvor Tötungsarzt in Grafeneck und Sonnenstein, von Brack den Auftrag, die Röntgenkastration zu erproben. Zu diesem Zweck führte Schumann eine Menschenversuchsreihe an mindestens 152 Häftlingen des KZ Auschwitz durch. Den Opfern ließ er nach der Bestrahlung Hoden oder Gebärmutter operativ entfernen, um die Wirkung der Röntgenstrahlen zu überprüfen. Bei den Operationen wurden teilweise immer dieselben, zwischen den einzelnen Eingriffen nicht gereinigten Instrumente benutzt. Dabei fand eine Vielzahl von Opfern den Tod. Die Versuche stellten sich schließlich als nutzlos heraus - ebenso wie die gleichzeitig in Auschwitz stattfindenden Versuche des Gynäkologen Carl Clauberg, der glaubte, Massensterilisierungen durch die Injektion einer Formalinlösung in den Uterus, die die Eileiter verkleben sollte, bewerkstelligen zu können. 4 4 Sieht man von der Schutzbehauptung ab, das Programm zur Massensterilisierung durch Röntgenkastration habe dazu gedient, die Judenvernichtung zu begrenzen - schließlich überließ die Kanzlei des Führers die sieben bis acht Millionen Juden, die nicht voll arbeitsfähig erschienen, der Vernichtung, an der sie selbst maßgeblichen Anteil hatte 45 - , fugt sich das Sterilisierungsprogramm nahtlos in die der >Euthanasieaktion< zugrundeliegende Konzeption ein. Denn auch bei der >Euthanasie< fand eine rigorose Triage statt: Die nicht mehr therapiefähigen - und das bedeutete, da die psychiatrische Therapeutik von der Arbeitstherapie dominiert wurde, die nicht mehr arbeitsfähigen - Anstaltsinsassen fielen der >Euthanasie< anheim, während die anderen unter der Voraussetzung, daß sie sterilisiert wurden, am Leben bleiben durften. Die Kanzlei des Führers versuchte also, 259

das Muster, das der >Euthanasie< zugrundelag, auf den Holocaust zu übertragen. Dies hätte gleichzeitig bedeutet, den Einfluß der Euthanasiezentraldienststelle auf die Judenvernichtung zu stärken. Doch vermochte sich die Kanzlei des Führers nicht durchzusetzen. 46

260

XI. >Euthanasie< und Psychiatrie: Die >Euthanasieaktion< als Impetus zur Modernisierung der Psychiatrie

Í. Der Primat der

Therapie

Viele der Psychiater, die im Zuge der >Euthanasieaktion< Tausende von Geisteskranken in den Tod schickten, waren zugleich Protagonisten therapeutischer Innovationen. 1 Es erscheint als ein Paradoxon, daß der Enthusiasmus, mit dem sich eine große Zahl von Psychiatern am nationalsozialistischen Euthanasieprogramm beteiligte, tief in einem therapeutischen Idealismus< verwurzelt war. Dieser Widerspruch läßt sich nur auflösen, wenn man die Dialektik von Heilung und Vernichtung, nämlich der Heilung der Heilbaren und der Vernichtung der Unheilbaren, die in der übergeordneten Zielsetzung der Gesundung des >Volkskörpers< durch die Ausrottung von Krankheit zusammenfielen, berücksichtigt, von der die Medizin im allgemeinen, die Psychiatrie im besonderen in der Ära des Nationalsozialismus beherrscht wurde. 2 Die Euthanasiepsychiater glaubten sich an einem »Wendepunkt der Psychiatrie«, an dem »sie den therapeutischen Nihilismus, d e r . . . als verspätetes . . . Relikt uralten... Dämonenglaubens erscheinen möchte, endgültig abstreift« und »überhaupt erst eintritt in den Rahmen wirklicher Heilkunde«. 3 Der Zeitraum zwischen den 1920er und 1940er Jahren erschien ihnen als eine Phase beschleunigten Fortschritts, in der die psychiatrische Therapeutik den im Laufe von eineinhalb Jahrhunderten entstandenen Entwicklungsrückstand gegenüber der somatischen Medizin weitgehend aufgeholt hatte. Durch die Einfuhrung neuartiger Behandlungsmethoden ζ. B . der Arbeitstherapie, der Krampf-, Insulin- und Hormonbehandlung, der Diätetik - meinte man, insbesondere auf dem Gebiet der endogenen Psychosen, der Melancholien, der Arteriosklerosen und der endokrin-dysplastischen Persönlichkeiten Heilungserfolge erzielt zu haben. 4 Besonders die Schocktherapien, auf die gerade die Euthanasiepsychiater ihre Hoffnungen setzten, waren indessen von höchst zweifelhaftem Nutzen, bedeuteten für die Patienten aber eine schmerzhafte Quälerei, die zudem enorme Risiken barg. Seit den Anfängen psychiatrischer Therapeutik hatte man den Körper psychisch Kranker sadistischen Torturen unterworfen, um einen >kathartischen Schock< hervorzurufen. In den 1930er Jahren kam es in 261

dem Maße, in dem sich die Psychiatrie dem Gehirn als dem Sitz psychischer Krankheiten zuwandte, zu einem Übergang von der Körperschock- zur Hirnschocktherapie. Nachdem der deutsche Psychiater Manfred Sakel im Jahre 1928 zufällig beobachtet hatte, daß Rauschgiftsüchtige, die infolge einer Überdosis Insulin in eine durch Unterzuckerung bewirkte Bewußtlosigkeit gefallen waren, leichter lenkbar waren, begann er im Jahre 1933 mit seinen Experimenten zur Insulinschockbehandlung von schizophrenen Patienten. Zur gleichen Zeit entwickelte der ungarische Arzt Ladislaus v. Meduna die Cardiazolkrampftherapie. Das starke Kreislaufmittel Cardiazol, das das Zentralnervensystem angreift, ruft bei entsprechender Dosierung epilepsieähnliche Krämpfe hervor, die, entsprechend der unbewiesenen Annahme einer Wechselwirkung von Epilepsie und Schizophrenie, bei schizophrenen Patienten Heilungserfolge bewirken sollten. Das langsame Abgleiten in die Bewußtlosigkeit bei der Insulin- und Cardiazolkrampfbehandlung löste bei den Patienten fürchterliche Angstzustände aus. Zudem konnten die insbesondere durch die Insulinschockbehandlung hervorgerufenen gesundheitlichen Schäden durchaus lebensbedrohlich sein. Ergänzt wurden die Insulin- und Cardiazolkrampfbehandlung durch die Elektroschocktherapie. Nachdem er bei einem Besuch auf einem Schlachthof beobachtet hatte, wie Schweine vor dem Schlachten mit Elektroschocks betäubt wurden, führte der italienische Psychiater U g o Cerletti im Jahre 1938 seinen ersten Versuch mit Stromstößen am Menschen durch. Die Methode, die an die >Kaufmannkur< zur Behandlung der >Kriegsneurotiker< anknüpfte, fand bald Eingang in die psychiatrische Therapeutik, obwohl die durch den Strom hervorgerufenen Gehirnkrämpfe Muskelverspannungen, Zerrungen und Knochenbrüche bewirken konnten. Insulin-, Cardiazol- und Elektroschocktherapie verbreiteten sich besonders in Deutschland rasch, obgleich sich die Psychiater darüber im klaren waren, daß diese Therapieformen ebenso riskant wie brutal waren; man hoffte, wie es Fred Kögler, Psychiater an der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf formulierte, daß der Schock »vielleicht durch eine bedeutsame Erschütterung des vitalen Persönlichkeitskernes das noch immer so rätselhafte biologische Geschehen bei der Schizophrenie günstig beeinflussen« 5 könne. Zu diesem Zweck nahm man auch eine steigende Sterbeziffer in Kauf. In der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf etwa verdreifachte sich in den Jahren 1936-1941 die Zahl der Gestorbenen, während sich die Zahl der stationär aufgenommenen Patienten noch nicht einmal verdoppelte. Der aggressive Charakter der >aktiven Therapie< läßt verständlich erscheinen, warum sich die >Euthanasieaktion< folgerichtig aus dem therapeutischen Idealismus< ergab. Getragen von szientistischem Optimismus, stellten die Euthanasiepsychiater indessen voller Befriedigung fest, daß sich das Erscheinungsbild der Heil- und Pflegeanstalten infolge der Kombination von Schock- und Arbeitstherapie grundlegend gewandelt hatte, daß »namentlich auch die früher so unerfreulichen Zustände auf den Abteilungen für erregte Kranke eine 262

außerordentliche Besserung erfuhren, so daß es in solchen Anstalten >TobAbteilungen< im alten Sinne gar nicht mehr gibt«. 6 Auf Grund dieser scheinbar sichtbaren Fortschritte blickten die Euthanasiepsychiater optimistisch in die Zukunft: »Man darf erwarten, daß mit Fortschreiten der Forschung und mit der Vervollkommnung der therapeutischen Methoden die Heilerfolge immer besser werden. Jedenfalls kann man nach alledem sagen, daß die Psychiatrie heute eine im echten Sinne des Wortes ärztlich heilende Disziplin ist. «7 Man war zuversichtlich, die Grenzen zwischen heilbarer und unheilbarer Geisteskrankheit in naher Zukunft verschieben zu können. »Die Zeit wird nicht mehr fern sein, da man selbst die sogenannte unheilbare Geisteskrankheit der therapeutischen Bemühung zugänglich gemacht haben wird und den Kranken ebenso vor Siechtum wie vor lebenslanger Anstaltsinternierung bewahren kann, so daß er trotz seiner Erkrankung (nach seiner Unfruchtbarmachung) 8 ein tätiges Glied der Volksgemeinschaft bleiben kann.« 9 Dieser Zukunftsperspektive gemäß knüpften die an der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< beteiligten Psychiater an die >Euthanasieaktion< die Hoffnung, daß die durch die Beseitigung der therapierefraktären Patienten eingesparten Mittel benutzt würden, um die therapeutischen Innovationen zu fördern, die fur den säkularen Modernisierungsprozeß der Psychiatrie unumgänglich zu sein schienen. Hier bahnte sich ein Dissens mit den in die >Euthanasieaktion< einbezogenen Medizinalbehörden an, wo man offenbar davon ausging, daß die Psychiatrie durch die >Euthanasieaktion< obsolet werden würde. Die Euthanasiepsychiater beklagten, daß bei den »den Anstalten vorgesetzten B e h ö r d e n . . . teilweise die naivsten Vorstellungen über das vollständige Erlöschen der geistigen Erkrankungen in absehbarer Zeit« herrschten. Als Beleg wurde ein nichtärztlicher Anstaltsdezernent zitiert, der »sicherem Vernehmen nach noch vor Monaten geäußert« habe, »man werde nach dem Kriege für die Geisteskranken wohl überhaupt Ärzte nicht mehr brauchen«. 10 U m die Vorstellung zu widerlegen, »man könne durch die eingeleiteten Maßnahmen bereits in einer Generation auf alle Psychiatrie verzichten«, 11 explizierte Carl Schneider die Funktionen, die der Psychiatrie nach Abschluß der >Euthanasieaktion< zuwachsen sollten. Schneider räumte zwar ein, daß es auf lange Sicht möglich sei, durch die »Maßnahmen unserer Zeit zur wirtschaftlichen Entlastung unseres Volkes vom Druck der Aufwendungen für nutzlose Anstaltsinsassen« 12 — eine Umschreibung für die >Euthanasieaktion< - die erblichen Geisteskrankheiten weitgehend einzudämmen, wenn durch das übrige Instrumentarium negativer Eugenik - Sterilisierung, Kastration, Eheverbot - die Erbströme abgeschnitten würden. Er hob aber hervor, daß dies eine Langzeitperspektive sei. So lange erbliche Geisteskrankheiten auftraten, sei es »menschlich richtig und wirtschaftlich zweckmäßig «, 13 durch die >aktive Therapie< die Anstaltsbedürftigkeit nach Möglichkeit aufzuheben. »Es ist dann immer noch in einer größeren Zahl von psychisch angeborenen, erblichen oder erworbenen 263

psychischen Siechtumszuständen das Volk auf andere Art zu entlasten.« 14 Das bedeutete eine rigorose Triage der Patienten psychiatrischer Institutionen: Wer behandlungs- und arbeitsfähig war, sollte nach den modernsten Methoden therapiert werden, wer dagegen nicht mehr therapiefahig war, so daß seine Arbeitsfähigkeit nicht wiederhergestellt werden konnte, sollte der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< anheimfallen. Schneider verwies vor allem auf die Erträge, die durch die Ausbeutung der durch Schock- und Arbeitstherapie nutzbar gemachten Arbeitskraft der Anstaltsinsassen 15 erzielt werden konnten. Die Aufwendungen fur Forschung, die zur Weiterentwicklung dieser Therapieformen diente, würden sich deshalb bezahlt machen. U m die Situation der Psychiatrie bis zur >Ausmerzung< erblicher Geisteskranker durch Maßnahmen negativer Eugenik zu kennzeichnen, gebrauchte Schneider ein Bild: Auch eine Nation, die langfristig bestrebt sei, Kriege auf dem Wege der Völkerverständigung völlig zu verhindern, komme nicht umhin, kurzfristig neue Waffen zu erproben. Schneider hob jedoch auch hervor, daß es, selbst wenn es mit den Mitteln der Eugenik gelingen sollte, die Anlagen zur Geisteskrankheit aus der Erbmasse der Bevölkerung >auszumerzenEuthanasieaktion< mit der Bestandsaufnahme des Anstaltswesens befaßt waren, 1 allen voran Nitsche, Heyde und Schneider, war sich über die Risiken im klaren, die die Psychiatrie auf sich nahm, indem sie ihre Klientel radikal dezimierte. Mittelkürzung, Zweckentfremdung von Anstaltsraum, Stellenstreichung, Abwanderung des ärztlichen Nachwuchses - das System psychiatrischer Institutionen drohte infolge der >Euthanasieaktion< destruiert zu werden. Die >Euthanasieaktion< barg jedoch auch die Chance in sich, die verkrusteten Strukturen des Anstaltswesens aufzubrechen, um durch einen zentral gesteuerten Innovationsschub den säkularen Modernisierungsprozeß der Psychiatrie beschleunigt voranzutreiben. Zu diesem Zweck entwickelte der bürokratische Apparat der Euthanasiezentrale detaillierte Pläne zur Reorganisation der Psychiatrie auf der Basis der >EuthanasieaktionGesundheitsfuhrungEuthanasieaktion< die Funktionen einer zentralen Planungs- und Kontrollinstanz der Psychiatrie übernehmen sollte, die - die Arbeit des Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden weiterführend - eine »einheitliche Ausrichtung des deutschen Irrenwesens« unter »psychiatrischer Leitung oder doch Oberaufsicht« 2 gewährleisten sollte. So unterbreitete Allers, der Geschäftsführer der Zentraldienststelle, am 19.Januar 1944 einen »Vorschlag zur Vereinfachung auf dem Gebiet der Heil- und Pflegeanstalten«, 3 der vorsah, die Dienststellen für das Anstaltswesen bei den Provinzialverbänden, Länderregierungen und Gauselbstverwaltungen sowie die Dienststelle des Reichsbeauftragten fur die Heil- und Pflegeanstalten aufzulösen. An ihre Stelle sollte eine Zentrale auf Reichsebene treten, die mit den noch verbleibenden zuständigen Behörden - damit war offenbar die Gesundheitsabteilung des RMdl gemeint verschmolzen werden sollte. In den Zuständigkeitsbereich der neuen Zentralstelle sollten die Aufsicht über die Heil- und Pflegeanstalten, die reichseinheitliche Kostenverrechnung im Anstaltswesen, die Auswertung der Meldebogen und die sich daraus ergebenden Maßnahmen - eine Umschreibung für die >Euthanasie< - und die Koordination der psychiatrischen Forschung fallen. Dahinter war unschwer die Zentraldienststelle der >Euthanasieaktion< zu erkennen. Noch im August 1944 regte H.J. Becker, stellvertretender Leiter der Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten und Leiter der Dienststelle Hartheim, die Gründung eines Reichsamtes für Heil- und Pflegeanstalten 4 an. Daneben versuchte die Euthanasiezentrale, innerhalb der bestehenden Ordnung der >Gesundheitsführung< des >Dritten Reiches< ihren Einfluß auszuweiten. Beispielsweise verlangte man, um die Interessen der Psychiatrie im disziplinaren System der Medizin zu wahren, 265

die Aufnahme eines wissenschaftlich vorgebildeten psychiatrischen Sachbearbeiters in die Reichsärztefuhrung. 5 Ende 1939 gab es im Deutschen Reich - unter teilweiser Einbeziehung der bis dahin besetzten Gebiete - 298 Heil- und Pflegeanstalten und Abteilungen flir Geisteskranke und Epileptiker mit 173568 planmäßigen und 10187 außerplanmäßigen Betten sowie 59 sonstige Anstalten und Abteilungen mit 18161 planmäßigen und 1135 außerplanmäßigen Betten. 6 Aus einer »Übersicht über die Verteilung der in Heil- und Pflegeanstalten nicht mehr für Geisteskranke verwendeten Betten«, 7 die von der Abteilung Planung der Euthanasiezentraldienststelle am 3. August 1943 vorgelegt wurde, ging hervor, daß bis zu diesem Zeitpunkt 93521 von 282696 in den Heil- und Pflegeanstalten zur Verfügung stehenden Betten im Zuge der >Euthanasieaktion< zweckentfremdet worden waren. Die Bettenkapazität der psychiatrischen Institutionen war also infolge der >Euthanasieaktion< bis dahin um fast ein Drittel geschrumpft. In der Übersicht war genau aufgeschlüsselt, welchen Verwendungszwecken die den Heil- und Pflegeanstalten entzogenen Betten zugeführt worden waren: 31058 Betten für Reservelazarette der Wehrmacht, 9860 Betten für andere Einrichtungen der Wehrmacht (ζ. B. wurde in der Anstalt Hubertusburg eine Unteroffiziersschule mit 1000 Betten, in der Anstalt Lobetal ein Marinearsenal mit 150 Betten eingerichtet), 8995 Betten fur Hilfskrankenhäuser (darunter fast alle klinischen Abteilungen), 8577 Betten für die Volksdeutsche Mittelstelle (zur Unterbringung von rd. 20000 Umsiedlern), 7170 Betten für die SS (ζ. B. wurden die Kückenmühler Anstalten mit 1200 Betten und die Anstalt Stralsund mit 1200 Betten zu SS-Kasernen, die Anstalt Lauenburg mit 1000 Betten zur Unteroffiziersschule der Waffen-SS, die Anstalt Treskau mit 1000 Betten zur Unterkunft des Ersatz-Bataillons der SSLeibstandarte Adolf Hitler, der Karlshof bei Rastenburg mit 1000 Betten und die Anstalt Wehlau mit 1500 Betten zur Kaserne der Waffen-SS umgerüstet), 6348 Betten für die N S V (Kindergärten, Kinderlandverschickung, Heime für Mutter und Kind), 4871 Betten in Nordwestdeutschland zur Errichtung von Ausweichkrankenhäusern durch die Organisation Todt, 4620 Betten für Tbc-Asyle, 4602 Betten für Kriegsgefangenenlager und -lazarette, 870 Betten für Ñapólas, 650 Betten für Adolf-Hitler-Schulen, 766 Betten für Jugendfürsorge- und Erziehungsheime, 588 Betten als Unterkünfte für Rüstungsarbeiter, 5312 Betten für sonstiges. 8

Besondere Sorge bereitete den Planern die Zweckentfremdung von Anstaltsraum, wenn er dem Gesundheitswesen verlorenging, während Aussicht bestand, die zu Reservelazaretten und Hilfskrankenhäusern umgerü266

steten Anstaltsbetten auf lange Sicht zurückzuerhalten. Freiwerdender Anstaltsraum, schärfte der Reichsbeauftragte für die Heil- und Pflegeanstalten deshalb im Januar 1942 den Vertretern der Länder- und Provinzialbehörden ein, stehe »zuerst den Belangen der Gesundheitsfürsorge zu«. 9 Bei der >Aktion Brandt< wartete man dementsprechend mit der Räumung der Heilund Pflegeanstalten, die als Hilfskrankenhäuser vorgesehen waren, bis ein Katastrophenfall eingetreten war, um der Zweckentfremdung von Anstaltsraum vorzubeugen. 10 Die Reduzierung der Bettenkapazitäten bot den Euthanasieplanern aber auch die Möglichkeit, die psychiatrischen Institutionen unter privater und cari ta ti ver Trägerschaft aus der Anstaltspflege zu verdrängen. Dies bedeutete eine Fortsetzung des Kurses, der bereits in den Jahren 1937/1938 bei der ersten Verlegungswelle in der Provinz Hessen-Nassau eingeschlagen worden war. 1 1 Von den bis August 1943 den Heil- und Pflegeanstalten entzogenen Betten entfielen 51539 (rd. 55%) auf private, deren Gesamtbettenzahl in der Übersicht der Euthanasiezentraldienststelle lediglich mit 63289 angegeben war. 1 2 Im Januar 1942 wies der Reichsbeauftragte für die Heil- und Pflegeanstalten die nachgeordneten Länder- und Provinzialbehörden nochmals an, durch eine Konzentration der Patienten in den Landesanstalten die kirchlichen Einrichtungen zurückzudrängen. In einer von Rüdin, de Crinis, Schneider, Heinze und Nitsche verfaßten Denkschrift über »die künftige Entwicklung der Psychiatrie«, die am 26. Juni 1943 an Brandt weitergeleitet wurde, 13 verlangten die Euthanasieplaner die »Abschaffung aller privaten und konfessionellen Anstalten fur geistig Abnorme«. 1 4 Allers schlug noch im Januar 1944 eine Änderung der Reichsgewerbeordnung vor, um das Betreiben von Heil- und Pflegeanstalten durch Privatpersonen zu unterbinden und die kirchlichen Einrichtungen zur Schließung zu zwingen. 15 Die Verminderung des Anstaltsraums infolge der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< war von den Euthanasieplanern von vornherein ins Kalkül gezogen worden. Es ging ihnen darum, den Schrumpfungsprozeß zu einer weitreichenden und tiefgreifenden Reform des Anstaltswesens zu nutzen. Am 28. Januar 1943 stellte Schneider fest: »In organisatorischer Hinsicht hat die Euthanasie und die dadurch ermöglichte Aufhebung zahlreicher Anstalten die Notwendigkeit zur zweckmäßigen Ausnutzung, Einrichtung und Lage der noch verbliebenen Anstalten sowie zu einer planmäßigen Ordnung der Anstaltsverteilung über Deutschland gefordert. « 1 6 Die Planung zur Umstrukturierung des institutionellen Systems der Psychiatrie ging von einer Trennung von Heil- und Pflegeanstalten aus, wie sie Prof. W. Enke, dem Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Bernburg, auf deren Gelände bis April 1943 eine der Tötungsstätten der >Aktion T4< untergebracht war, bereits im Juli 1942 vorschwebte: »Die unheilbaren, nicht mehr sozialisierungsfähigen >Irren< finden sich in >IdiotenSterbehilfe< geleistet werden); 3. Pflegeanstalten für Alterserkrankte. Brandt und Runckel strebten eine reichseinheitliche Regelung an, derzufolge in j e d e m Versorgungsbezirk eine zentral gelegene Heilanstalt, in der die behandlungsfähigen Patienten intensiv therapiert werden sollten, sechs bis sieben Pflegeanstalten, in denen die Arbeitskraft der nicht mehr behandlungs-, aber noch arbeitsfähigen Anstaltspfleglinge ausgebeutet werden sollte, sowie acht bis neun an der Peripherie angesiedelte Pflegeanstalten, in denen die nicht mehr arbeits- und behandlungsfähigen Insassen - mit Ausnahme der Alterserkrankten - der >Euthanasie< zum Opfer fallen sollten, einzurichten waren. Daß dieses Konzept weiterverfolgt wurde, zeigt der von Allers im Januar 1944 eingereichte »Vorschlag zur Vereinfachung auf dem Gebiet der Heil- und Pflegeanstalten«, der drei Kategorien von psychiatrischen Institutionen vorsah: Heilanstalten, Heil- und Pflegeanstalten als Aufnahme- und Durchgangseinrichtungen und Pflegeanstalten. 1 9 U m in den Heilanstalten neuen Zuschnitts eine »vorbildliche Therapie« sicherzustellen, war, wie aus den »Richtlinien des Reichsbeauftragten zur Planungsfrage« 2 0 ersichtlich war, eine Richtzahl von 1500 Anstaltsbetten auf eine Million Einwohner geplant. Eine Kontroverse entbrannte in der Frage der anzustrebenden Anstaltsgröße. Gerhard Hanko, Oberverwaltungsdirektor der Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn, veröffentlichte im April 1941 - unabhängig von der Euthanasiezentraldienststelle - einen Plan zur »Reorganisation des deutschen Irrenwesens«. 2 1 Er sah vor, in einem ersten Schritt kurzfristig eine Vielzahl von kleinen und kleinsten Anstalten vor allem unter privater und konfessioneller Trägerschaft zu beseitigen und ihre Patienten in mittlere und große öffentliche Anstalten zu übernehmen, u m die Anzahl der öffentlichen, privaten und caritativen psychiatrischen Institutionen auf dem Gebiet des >Altreichs< u m etwa ein Drittel auf rd. 120 zu senken. In einer zweiten Etappe, die auf etwa fünf bis sieben Jahre angelegt war, sollte die Zahl der Anstalten im >Altreich< durch Zusammenlegungen nochmals von rd. 120 auf rd. 80 vermindert werden, so 268

daß eine Anstalt rd. eine Million Menschen zu versorgen hätte. In einer dritten Phase, die sich über dreijahrzehnte erstrecken sollte, w a r geplant, die Zahl der noch verbliebenen Anstalten abermals zu halbieren, so daß auf d e m Gebiet des >Altreichs< schließlich rd. 40 Anstalten mit j e 4-5000 Betten übrigbleiben sollten, die jeweils zwei Millionen E i n w o h n e r versorgen sollten. Z u r Durchsetzung dieser M a ß n a h m e n forderte H a n k o die Einsetzung eines »Reichskommissars mit außerordentlichen V o l l m a c h t e n . . . , der mit einem entsprechenden Stab von Mitarbeitern aus der Verwaltungs- u n d ärztlichen Sparte ausgestattet sein müßte«. 2 2 Diese Veröffentlichung rief die Psychiater der Euthanasiezentraldienststelle auf den Plan. Nitsche verfaßte einen ausführlichen Bericht an Brack, der von H e y d e und Enke unterstützt w u r d e . 2 3 Darin w u r d e die Forderung nach »Mammutanstalten« 2 4 unter Hinweis auf therapeutische Gesichtspunkte abgelehnt. Nitsche unterstützte zwar die Forderung nach Auflösung einer Vielzahl von kleinen Anstalten, insbesondere unter kirchlicher Trägerschaft. Diese mache aber die Einrichtung von Großanstalten nicht notwendig. Z u beachten sei, daß H a n k o »die Zahl der Anstaltsinsassen nach d e m Bestand v o m Beginn unserer Aktion zugrunde legt. Er rechnet nur mit einem in 30.60 [sie!] Jahren etwa sich bemerkbar machenden Rückgang der Anstaltsinsassen u m 20%, infolge der Sterilisierung Geisteskranker«. 2 5 D e m g e g e n ü b e r m ü ß t e berücksichtigt werden, »daß infolge unserer Aktion und der Auswirkung des künftigen Gesetzes über die G e w ä h r u n g letzter Hilfe usw., in Z u k u n f t ein sehr erheblich geringerer Krankenbestand anstaltsmäßig zu versorgen sein wird als bisher. Die reinen Pflegeaufgaben werden vollständig wegfallen, und das wird eine erhebliche Verminderung des Bettenbedarfes, also auch eine nennenswerte Verringerung der Zahl der nötigen Anstalten bedeuten.« 2 6 Die verbleibenden Anstalten sollten künftig »nicht mehr Pflegeanstalten, sondern Heil- und Forschungsinstitute sein«. 2 7 U m dieser Aufgabe gerecht werden zu können, empfahl Nitsche Anstalten in einer G r ö ß e n o r d n u n g v o n etwa 1000-1200 Betten. Diese Beschränkung erschien Nitsche schon deswegen erforderlich, u m eine einheitliche ärztliche Leitung der Anstalten zu gewährleisten. 2 8 Eine Kernforderung der Psychiater, die sich im Kontext der >Euthanasieaktion< u m eine Reorganisation der Psychiatrie bemühten, betraf die Lage der zukünftigen Heilanstalten. Nitsche beklagte im N o v e m b e r 1941 den » M i ß s t a n d . . . , daß die Mehrzahl der Anstalten örtlich so ungünstig« liege, »daß eine wissenschaftliche Fortbildung und Anregung, aber auch eine wissenschaftliche gemeinschaftliche Arbeit mit anderen medizinischen Forschungs- u n d Arbeitsstätten mehr oder weniger erschwert, j a nicht selten ausgeschlossen ist«. 2 9 Er bezeichnete es daher als eine »Grundforderung, daß künftig Irrenanstalten unter allen U m s t ä n d e n in erreichbarer N ä h e von wissenschaftlichen Fortbildungsstätten liegen müssen, also in der N ä h e von Universitätskliniken und von größeren Städten, in denen ein reges medizinisches und wissenschaftliches Leben herrscht, an d e m die Ärzte teilnehmen 269

können«. 3 0 Neben der engeren Anbindung der Anstalts- an die Universitätspsychiatrie spielten in dem Bemühen, die Heilanstalten in Stadtnähe anzusiedeln, zwei weitere Gesichtspunkte eine Rolle. Z u m einen sollte durch die Einrichtung von Heilanstalten im ländlichen Umfeld der Großstädte dafür gesorgt werden, »daß den Anstalten . . . zur volkswirtschaftlichen Nutzbarmachung der Beschäftigungstherapie in ausreichendem Maße industrielle oder landwirtschaftliche Arbeit zugewiesen werden kann«. 3 1 Neben dem therapeutischen Effekt wurde fur die Arbeitstherapie ins Feld geführt, daß sie die Anstalten befähige, sich selbst zu tragen. Schneider verwies außerdem auf die vermeintlichen Auswirkungen der Arbeitstherapie auf die Akzeptanz der >EuthanasieaktionVernichtung lebensunwerten Lebens< durch den sich für die A n w e n d u n g neuartiger Behandlungsmöglichkeiten einsetzenden Arzt offenbar als einen inneren Widerspruch. D e m Selbstverständnis der für die Euthanasiezentraldienststelle arbeitenden Psychiater nach ergänzten sich die Durchführung der >Euthanasieaktion< und die Einführung innovativer Therapieformen, trugen sie doch beide zur Beseitigung der »Anhäufung seelisch tief abgesunkener und verblödeter chronisch Kranker in den Anstalten« 4 5 bei. D i e >Euthanasie< sollte den Weg dafür ebnen, daß in den Anstalten Heilbehandlung und Grundlagenforschung Vorrang vor Absonderung und Verwahrung erhielten. Politischen Funktionsträgern gegenüber verwiesen die Euthanasieplaner vor allem auf die Aufgaben der 272

Rassenhygiene und Rassenpflege, die den Heil- und Pflegeanstalten unter dem nationalsozialistischen Regime zuwuchsen. 4 6 Angesichts der von ihnen aufgezeigten Zukunftsperspektiven der Psychiatrie betonten die Euthanasieplaner, »daß viele unter den heutigen Irrenärzten nach Persönlichkeit, innerer Einstellung und Können solchen Aufgaben nicht gewachsen sind«. 47 Demgemäß bildete die Aus- und Fortbildung der Anstaltsärzte einen Schwerpunkt der Reformpläne, die in der Euthanasiezentrale erarbeitet wurden. Die Ausbildung der Anstaltsärzte sollte — unter besonderer Berücksichtigung der Bereiche Erbbiologie, Rassenhygiene, Neurologie, pathologische Anatomie und innere Medizin - verschärft werden. Durch die Ansiedlung der Heil- und Pflegeanstalten im Einzugsbereich der Universitätszentren wollte man die Fortbildung der Anstaltsärzte fördern. Außerdem wurde angeregt, die Anstaltsärzte verstärkt in die Jugendfürsorge, die kriminalbiologische Betreuung u. a. einzubeziehen. Diese Bemühungen knüpften an das Engagement einer großen Zahl von Psychiatern bei der >erbbiologischen Bestandsaufnahme< an. 4 8 Schließlich wollte man das Gewicht der Anstaltsärzte erhöhen, indem man die Anstalten unter ärztliche Leitung stellte. Die Chefärzte, von denen eine wissenschaftliche Vorbildung verlangt wurde und die eine Vorbereitungszeit als stellvertretende leitende Ärzte durchlaufen sollten, um Erfahrungen in der Verwaltungstätigkeit zu sammeln, sollten als Direktoren der Heil- und Pflegeanstalten fungieren, um den Anstaltsbetrieb nach therapeutischen Kriterien zu organisieren. 49 Vor dem Hintergrund der gestiegenen Bedeutung, die der Aus- und Fortbildung der Anstaltsärzte beigemessen wurde, werteten die Euthanasieplaner den in der Psychiatrie um sich greifenden Nachwuchsmangel, vor dem Rüdin schon auf der Tagung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Jahre 1939 eindringlich gewarnt hatte, 5 0 als Alarmsignal. Im Jahre 1943 stellten sie fest, daß es »geradezu schon zu einer Flucht junger tüchtiger Ärzte aus der Psychiatrie gekommen« 5 1 sei. Als eine Ursache wurde die Anstaltspflege fur unheilbar Geisteskranke herausgestellt: »Die den Irrenärzten obliegende Verpflichtung, unzählige hoffnungslos unheilbare), verblödete, sich selbst zur Last fallende Menschenruinen am Leben zu erhalten, bedeutet von jeher eine schwer[e] innere Belastung aller derjenigen gesund empfindenden Ärzte, die auf Grund ihrer inneren Hinneigung zur psychiatrischen Wissenschaft sich diesem Berufe gewidmet haben. « 52

Diese »Schattenseite des Berufes« belaste aber nicht nur die Anstaltsärzte, sondern mindere »in weiten Kreisen, namentlich auch in der Partei, das Ansehen der Irrenärzte«. 53 Auch die Mitarbeit der Anstaltspsychiatrie am Programm negativer Eugenik - Sterilisierung, Kastration, Eheverbot - , das »naturgemäß vielfach noch auf Unverständnis und Abneigung bei den breiten Massen« 54 stoße, diskreditiere die Profession der Psychiater. In diesem Zusammenhang beklagten die an der >Euthanasieaktion< beteiligten 273

Psychiater die Diffamierung der Psychiatrie auch in Medizinerkreisen. »Der Stand der Psychiater, insbesondere Anstaltsärzte, ist in den Jahren nach der Machtübernahme durch mancherlei Äußerungen auch führender Persönlichkeiten in der Ärzteschaft vor dem Gesamt der deutschen Ärzte, j a vor dem deutschen Volk nicht immer so bewertet worden, wie es an sich im Hinblick auf die Bedeutung, die ihm für die Erbgesundheitspflege im Volke zukommt, wünschenswert gewesen wäre. « 5 S U m dem entgegenzuwirken, sollten insbesondere die Gauämter für Volksgesundheit dafür sorgen, daß statt der teilweise »falschen Bewertung der Psychiater und ihrer Arbeit richtige Vorstellungen verbreitet werden und daß die Verfemung dieser Fachärzte künftig unterbunden w i r d « . 5 6 Im Kontext der Debatte u m eine Legalisierung der >Euthanasie< im Jahre 1940 5 7 plante die Propagandaabteilung der Euthanasiezentraldienststelle sogar, einen Dokumentarfilm über die >Euthanasieaktion< zu produzieren, in dem insbesondere die Einbettung der >Euthanasie< in ein Konzept >aktiver Therapie< herausgestellt werden sollte, u m den Prestigeverlust der Psychiatrie wettzumachen. 5 8 Es war aber auch daran gedacht, die gesamte psychiatrische Profession offiziell über die >Euthanasieaktion< aufzuklären, um durch den Hinweis auf die durch die >Vernichtung lebensunwerten Lebens< eröffneten Handlungsspielräume dem Nachwuchsmangel entgegenzuwirken. In einer Aktennotiz für Brack regte Nitsche am 9. April 1941 an, »eine in diesem Jahre abzuhaltende Tagung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater« zu einer solchen Aufklärung zu nutzen. Diesen Vorschlag begründete er folgendermaßen: »Weiter ist e s . . . an der Zeit (,den) in Psychiaterkreisen um sich greifende[n] Irrtum zu bekämpfen, daß die Psychiatrie künftig als ein minderwertiges Fachgebiet abgestempelt sein werde. Es läßt sich m. E. nicht verkennen, daß die Wirkung dieses Irrtums sich bereits in der Abwanderung auch tüchtiger Psychiater bemerkbar macht. Tatsache ist doch, daß künftig gerade die psychiatrische Arbeit sich auf höherer Ebene abspielen und damit der ganze Berufsstand gehoben werden wird. U m diesen Irrtum zu bekämpfen, halte ich es für dringend wünschenswert, daß nunmehr, wenn irgend möglich, daran gegangen wird, [daß] nicht nur einzelne Ärzte, sondern möglichst alle Psychiater über die wirklichen Grundlagen unserer Aktion, über die damit verbundenen Ziele und über die zugrunde liegende gesetzliche Regelung aufgeklärt werden. « 5 9

Es scheint, daß zeitweilig tatsächlich vorgesehen war, die Teilnehmer der Jahrestagung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater, die v o m 5. bis 7. Oktober 1941 in Würzburg stattfinden sollte, von der >Euthanasieaktion< offiziell in Kenntnis zu setzen. Aus einem Brief Nitsches, der bis zum Jahre 1939 Geschäftsführer der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater gewesen war, an Rüdin, der den Vorsitz dieser Standesvertretung innehatte, v o m 17. Juni 1941 ging hervor, daß die für die Tagung vorgesehenen Vorträge einer Vorzensur unterzogen werden sollten, um eine potentielle Kritik an der >Euthanasieaktion< im Ansatz zu unterdrücken. 6 0 Dabei 274

ergab sich jedoch ein Problem. Die mit Inhaltsangaben versehenen Vortragsanmeldungen wurden satzungsgemäß dem Geschäftsführer der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater, Prof. W. Creutz, zugeleitet, einem erklärten Gegner der >EuthanasieaktionEuthanasieaktion< zu sabotieren, weitestgehend Gebrauch gemacht hatte, so daß bei der >Aktion T4< aus der Rheinprovinz vergleichsweise wenige Anstaltspfleglinge verschleppt worden waren. Creutz hatte sog a r - wenngleich vergeblich - versucht, die Landeshauptleute und Anstaltsdezernenten der Rheinprovinz, Westfalens und Hannovers zu einer gemeinsamen Abwehrfront gegen die >Euthanasieaktion< zusammenzuschließen. 61 Nitsche forderte deshalb Rüdin auf, sich über die Satzungen hinwegsetzend, die Prüfung der Vortragsanmeldungen zur Jahrestagung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater zu übernehmen. »Ebenso wie der neue Staat seine rassenhygienische Aufbauarbeit nicht stören lassen kann durch etwaige Quertreibereien wissenschaftlicher Antagonisten, . . . kann er auch angesichts des kommenden Euthanasie Gesetzes [sie!] so etwas nicht dulden.« 62 In die Vorzensur sollte auch Nitsche eingeschaltet werden: »Ich möchte Sie auch gerade zur Vermeidung unnötiger Unannehmlichkeiten u. Konflikte dringend bitte[n], mir Kenntnis von allen in dieser Richtung etwa irgendwie bedenklichen Inhaltsangaben von angemeldeten Vorträgen zu geben, also namentlich von Vorträgen, die etwa Prognosefragen betreffen. Ich würde dann gegebenenfalls mit Ihnen in Verhandlung betr. Zulassung dieser Vorträge treten. Das soll natürlich mit allem Takt usw. geschehen. « 63 Zur Vorbereitung der Tagung überwies die Reichsarbeitsgemeinschaft Heilund Pflegeanstalten im Juli 1941 10000 RM an die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater, deren Kassenverwalter, der Bonner Psychiatrieprofessor K. Pohlisch, zuvor als Gutachter der >Aktion T4< gearbeitet hatte. 64 Zu der geplanten öffentlichen Bekanntgabe der >Euthanasieaktion< kam es indessen nicht, da die Tagung verschoben wurde. Die Euthanasiezentrale war auch weiterhin bemüht, Kritik an der >Euthanasieaktion< aus den Reihen der Psychiater hinter den Kulissen zu unterdrükken. Insbesondere setzte sie sich gegen den Vorwurf zur Wehr, die >Euthanasieaktion< trage zum Prestigeverlust der Psychiatrie bei und ziele auf das Existenzrecht der Psychiatrie ab. So hatte der Leiter der Heilanstalt Strecknitz-Lübeck, Direktor Dr. Enge, in einem Aufsatz unter dem Titel »Die Zukunft der Psychiatrie«, der am 15. November 1941 in der »PsychiatrischNeurologischen Wochenschrift« erschienen war, 6 5 — wie die von Rüdin, de Crinis, Schneider, Heinze und Nitsche ausgearbeitete Denkschrift vom 26. Juni 1943 auf die Bemerkungen Rüdins auf der Jahres tagung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Jahre 1939 Bezug nehm e n d - die Diffamierung der Psychiatrie, die mit einer Stigmatisierung der psychisch Kranken einhergehe, beklagt:

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»Nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses trat eine Herabwürdigung der Erbkranken, der Geisteskranken überhaupt ein. Nicht allein, daß die Erbkranken und ihre Angehörigen selbst in der gesetzlichen Maßnahme eine persönliche und soziale Entwertung sahen, man sprach auch von den Geisteskranken nur als von den >Idioten< in den Anstalten. Mancher glaubte, seinem völkischen Heroismus dadurch Ausdruck verleihen zu müssen, daß er grundsätzlich für die Vernichtung der Geisteskranken eintrat, allerdings nur so lange, als kein Glied seiner Familie dafür in Betracht kam. « 6 6

Mußten diese Ausführungen dem Verständnis der an der >Euthanasieaktion< beteiligten Psychiater nach zu Mißverständnissen Anlaß geben, sollte doch die >Euthanasieaktion< die Basis zur Reorganisation der Psychiatrie bilden, die auch der Diffamierung der Psychiatrie und der Stigmatisierung der psychisch Kranken ein Ende setzen sollte, so faßten die Euthanasieplaner die Umformulierung dieser Textpassage in einer Besprechung des Aufsatzes von Enge im »Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie« als unverhohlene Kritik am Euthanasieprogramm auf: »Wenn man heutzutage die Psychiatrie... keineswegs selten für minderwertig und entbehrlich ansieht, ja die Erbkranken und mit ihnen oft die Geisteskranken überhaupt herabwürdigt, ja für die Vernichtung schwerer Fälle eintritt - natürlich soweit es sich nicht um Erkrankungen in der eigenen Familie handelt! - , so ist das ein großes Unrecht.« 6 7 »Wer ist denn der Schriftleiter... ?«, fragte Linden am 20. August 1942 bei Nitsche an, »man müßte meines Erachtens diesem Herrn eine Verwarnung zukommen lassen. Es geht selbstverständlich nicht an, daß Maßnahmen, die von Staats wegen durchgeführt werden, in einer derartigen Weise in der Öffentlichkeit kritisiert werden. « 68 In einem Entwurf eines Schreibens Nitsches an den verantwortlichen Redakteur vom 3. September 1942 gab der ärztliche Leiter der Euthanasiezentraldienststelle seinem »Befremden« Ausdruck, daß in der Rezension eine staatliche Maßnahme angegriffen werde, »die heute von zahlreichen verantwortungsbewußten Menschen aus ethisch hochwertigen Gründen befürwortet und auch, wie ζ. B. der Erfolg des Filmes >Ich klage an< lehrt, von weiten Kreisen des deutschen Volkes eindeutig gebilligt« werde, und daß die Kritik abgedruckt worden sei, »obwohl in der Tatsache der Zulassung des Filmes und seiner Bewertung durch das Reichspropaganda-Ministerium eine positive staatliche Stellungnahme zu dem Problem erkennbar geworden ist«. 69 Die vom Herbst 1941 an von den Psychiatern der Euthanasiezentraldienststelle durchgeführten Planungsfahrten boten die Möglichkeit, die Einstellung der Anstaltsleiter und -ärzte zur >Euthanasieaktion< in Erfahrung zu bringen, um möglichen Widerstand gegen die >Vernichtung lebensunwerten Lebens< zu brechen. Doch trafen die Euthanasiepsychiater bei ihren Planungsfahrten nur vereinzelt auf Ablehnung. Beispielsweise kritisierte der leitende Arzt der Anstalt Rickling, Dr. E. Lüdemann, der die >Euthanasieaktion< grundsätzlich guthieß, die fehlende gesetzliche Grundlage und die unzureichende Erfassung zur Vernichtung. 70 Über den Chefarzt der lippi— 276

sehen Heil- und Pflegeanstalt Lindenhaus, Dr. Müller, hieß es im Abschlußbericht der zuständigen Planungskommission: »weich, und nach Mitteilung von Regierung wegen Einstellung gegen Euthanasie in Pension gewesen«. 7 1 Aus Baden wurde über Widerstände von seiten des Geistlichen Rates V o m stein, des Leiters der Anstalt Herten, und einer katholischen Oberin in der Anstalt Wespach bei Salem berichtet, die mit Hilfe des Ministerialrates im badischen Innenministerium, L. Sprauer, eines der Medizinalbeamten der Länder, die eng mit der Euthanasiezentrale zusammenarbeiteten, ausgeräumt werden konnten. 7 2 Einzigartig war der Protest des Hausvaters der Taubstummenanstalt Wilhelmsdorf bei Ravensburg: »An der alten Anstalt, die nichts besonderes bietet, interessiert nur der Hausvater. Dieser schickte die zuerst gesandten Meldebogen zurück, da er früher in der Anstalt Stetten war und daher Bescheid wußte, daß die Kranken >getötet< - sein dauernder Ausspruch - werden sollten. Daraufhin veranlaßte der Vorstand, da der Hausvater dies nicht mit seinem Wissen getan hätte, eine Beantwortung der Fragebogen durch diesen. Der Hausvater füllte daraufhin 69 aus. Verlegt wurden aus seiner Anstalt 19, von denen 18 >getötet< wurden. Die Patienten waren von Obermedizinalrat Dr. Mauthe untersucht gewesen. Im Oktober 1941 war Dr. Straub in der Anstalt und stellte fest, daß 10 noch arbeitsunfähig seien. Von den übrigen würde nun niemand mehr >getötet< werden. Dies die eigene Aussprache des Hausvaters. Der Hausvater Heinrich Hermann ist fanatischer Euthanasiegegner. Dabei ist wichtig, daß er Schweizer Staatsangehöriger ist. Dies ist absolut unmöglich! Denn auf diesem Posten, der mitverantwortlich in der Euthanasiefrage zeichnet, darf doch kein Ausländer stehen - noch dazu ein negativ eingestellter. « 7 3 Daß die Planungskommissionen in den Heil- und Pflegeanstalten so wenig Widerspruch gegen die >Vernichtung lebensunwerten Lebens* erlebten, mag aber auch damit zusammenhängen, daß die Anstaltsärzte wußten, was es mit der Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, in deren Auftrag die Planungsfahrten stattfanden, auf sich hatte, und sich von daher zurückhaltend äußerten. Darauf läßt der Brief Runckels an Nitsche v o m 30. Juni 1944 schließen. Der Betriebsarzt der Zentraldienststelle, der im Auftrag Lindens die Heil- und Pflegeanstalten bereiste, u m die Einführung von Doppelbetten und die Aufstellung von behelfsmäßigen Baracken auf dem Gelände der Heil- und Pflegeanstalten vorzubereiten, berichtete über die Haltung der Anstaltsleiter zur >EuthanasieKindereuthanasie< im Auftrag des Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden] verrichten, in keiner Weise mit diesem Problem. Die bloße Erwähnung macht die Leute deutlich verschnupft. Ja, es geht sogar so weit, daß man eine deutliche Stimmungsänderung bemerkt, sobald die Leute auf den Verdacht kommen, daß wir mit der Reichsarbeitsgemeinschaft, die ja von den Verlegungen her überall bekannt ist, in irgendwelchem Zusammenhang stehen. Ich habe es mir daher angewöhnt, als Vertreter des Reichsbeauftragten für Heil- und Pflegeanstalten aufzutreten, was ich ja in diesem Falle auch bin, und einen Kontakt mit diesen Instituten (Reichsarbeitsgemeinschaft, Gemeinnützige Krankentransport GmbH, usw.) nicht zu erwähnen. Positiv dem Problem der Euthanasie gegenüber stehen eigentlich von den Anstaltsdirektoren, die ich bis jetzt besucht habe, nur der Leiter von Ansbach, Tiegenhof (Dr. Ratka) und betr. des Reichsausschusses die Anstalten, die bereits eine Reichsausschußabteilung haben. Nirgendwo ist es mir begegnet, daß sich ein Anstaltsdirektor darüber beklagte, ihm seien die Hände gebunden, um irgendwelche Eu.-Arbeiten zu verrichten. « 74

Dieser Quelle zufolge eröffneten die Medizinalbehörden auf Länder- und Provinzebene den Anstaltsleitern Handlungsspielräume zur >Vernichtung lebensunwerten LebensEuthanasieaktion< im Zusammenhang mit der Zurückhaltung gegenüber innovativen Therapieformen gesehen wurde. Die Triage durch >Euthanasie< wurde als eine unabdingbare Voraussetzung einer >aktiven Therapie< betrachtet. Das Desinteresse der Anstaltsdirektoren an der >Euthanasie< wurde deshalb in der Euthanasiezentrale als Hemmnis fur den säkularen Modernisierungsprozeß der Psychiatrie verstanden.

3. Die >Euthanasieaktion< als Gelegenheit

zur

Grundlagenforschung

Nach den Vorstellungen der bei der >Euthanasieaktion» engagierten Psychiater sollte die Therapeutik das Herzstück der Psychiatrie bilden, wobei sie über »die Stufe eines rohen therapeutischen Empirismus« 1 hinausgehen sollte, indem sie systematisch mit der Grundlagenforschung verknüpft wurde. Aus den Reihen der Euthanasiepsychiater wurden vor allem eine Ergänzung der klinischen Beobachtung durch die internistische Untersuchung, eine engere Verbindung von Psychiatrie und Neurologie, eine Ausgestaltung der psychiatrischen Stoffwechselpathophysiologie, Konstitutionsmor278

phologie und Hormonforschung sowie eine Erweiterung der pathologischanatomischen Untersuchungen als Grundlage der erbbiologischen Forschung in der Psychiatrie gefordert. 2 Die >Euthanasieaktion< selbst eröffnete den Forschern die Möglichkeit, klinische Beobachtungen durch pathologische Befunde zu vervollständigen. Nachdem bereits im Jahre 1939 in einer Entschließung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater die Einführung einer Sektionspflicht für die Heil- und Pflegeanstalten zur »Klärung und Erfassung der Erbkrankheiten« 3 verlangt worden war, lag es nahe, die >Euthanasieaktion< in diesem Sinne für die Forschung nutzbar zu machen. Zu diesem Zweck fand zu Beginn des Jahres 1941 - wahrscheinlich am 23. Januar 4 - eine Konferenz von Universitätsprofessoren beim Reichsdozentenführer statt, die zur Aufstellung eines großangelegten Forschungsplanes führte. In die vorgesehenen Massenuntersuchungen sollten 14 der 30 anatomischen Institute des Deutschen Reiches einbezogen werden. 5 Nachdem sich diese ambitionierte Planung als undurchführbar erwiesen hatte, regte Nitsche am 18. September 1941 die Einrichtung einer Forschungsabteilung in der Heinze unterstehenden Anstalt Brandenburg-Görden an, um »die noch vorhandenen Fälle von angeborenem Schwachsinn und von Epilepsie vor der Desinfektion [>EuthanasieKinderfachabteilungReichsschulstation< zur Ausbildung der für die >Kindereuthanasie< vorgesehenen Ärzte diente. Hier wurden auch behinderte Kinder getötet, die in den Entbindungsheimen des Lebensborns zur Welt gekommen waren. 7 Daneben fungierte die Anstalt Brandenburg-Görden als Zwischenanstalt der >ErwachseneneuthanasieLebensschule< eingerichtet, in der >schwachsinnige< Kinder, deren theoretische Intelligenz zu gering sei, u m beispielsweise Lesen und Schreiben zu lernen, deren praktische Intelligenz aber ausreiche, u m manuelle Arbeiten auszufuhren, zu Hilfsarbeitern ausgebildet wurden. 1 7 Die schwachsinnigem Kinder und Jugendlichen, die diese >Lebensschule< durchlaufen hatten, wurden, wie Heinze in einem Brief an Nitsche v o m 11. O k t o ber 1941 berichtete, in »bäuerliche Pflegestellen« vermittelt, wo sie als Hilfsarbeiter eingesetzt wurden. Angesichts des in der Landwirtschaft herrschenden Arbeitskräftemangels würden ihm die Kinder »von den Bauern buchstäblich aus den Händen gerissen«, betonte Heinze. Obwohl er für dieses Vorgehen auch einen therapeutischen Effekt geltend machte - die Vermittlung in Arbeit sollte zur Behebung des »Anstaltsmilieuschadens« beitragen - , stand das Profitinteresse eindeutig im Vordergrund. Heinze plädierte deshalb dafür, >schwer schwachsinnige< Kinder, die noch arbeitsfähig waren, von der >Euthanasieaktion< auszunehmen. 1 8 2. Z u m anderen bildete die differentialdiagnostische Unterscheidung von angeborenen Schwachsinns- und verschiedenen Demenzformen einen Forschungsschwerpunkt der Forschungsabteilung Görden. Diese Forschungen hatten unmittelbare Auswirkungen auf die >EuthanasieaktionIdiotenanstalten< an, u m sie auf wissenschaftlich interessante Patienten hin zu durchkämmen. Bereits einen Monat zuvor hieß es in einem handschriftlichen Zusatz auf einem Brief Schneiders an Nitsche: »Viele >schöne< Idioten haben wir in der elsässischen Anstalt (Hirth) Straßburg festgestellt. Verlegungsanträge werden folgen.« 2 5 Auch in der Folgezeit führten die an der >Euthanasie< beteiligten Psychiater Schneider zu Forschungszwecken >schwachsinnige< Anstaltsinsassen zu. Beispielsweise meldete Heboid am 26. Oktober 1942 einige Bewohner des Katharinenhofes bei Großhennersdorf, darunter auch Heinz H., der als »schöner Hydrocephalus. Ganz primitiv und tiefstehend, intellektuell gleich Null, Gliedmaßen o. B . « 2 6 beschrieben wurde. Im Dezember 1942 wurde der Betrieb in der Forschungsabteilung Wiesloch aufgenommen. Bis zum 18. Januar 1943 waren 16 Fälle, darunter sechs bis sieben aus der Privatklientel Schneiders, untersucht worden. 2 7 Aus einem ersten Forschungsbericht der Forschungsabteilung Wiesloch v o m 21. Januar 1943 geht hervor, daß Schneider und seine Mitarbeiter Dr. Schmorl, Dr. Suckow, Dr. Rauch, Dr. Wendt und Dr. Schmieder 2 8 sich, abgesehen von mehreren Versuchsreihen zur Krampfbehandlung, 2 9 vor allem mit der Materialsammlung zur >Idiotie< beschäftigten. Dabei habe man, wie Schneider in einem Bericht an Nitsche vom 24. Januar 1944 281

mitteilte, eine »unerwartet g r o ß e Fülle verschiedenster Schwachsinnszustände« festgestellt sowie die »ungeheure Verschiedenheit der erblichen Belastungen u n d die g r o ß e B e d e u t u n g der E r b k r a n k h e i t e n , insbesondere der Schizophrenie f ü r schwere Schwachsinnszustände« 3 0 herausgearbeitet. D i e p r a k t i sche Relevanz dieser Forschungsergebnisse bestehe darin, f ü h r t e Schneider aus, daß sie die G r u n d l a g e zur gezielten B e k ä m p f u n g des >Schwachsinns< d u r c h Rassenhygiene darstellten. Die bei der U n t e r s u c h u n g a u f g e w o r f e n e n Fragen w u r d e n einer »weitgehendsten Lösung« z u g e f ü h r t , »weil d a n k der A k t i o n eine rasche anatomische u n d histologische K l ä r u n g erfolgen k o n n t e . A u c h v o n d e m S t o p p der A k t i o n w u r d e diese Forschung wenigstens in soweit nicht berührt, als es sich u m die E r f o r s c h u n g der Idiotie h a n d e l t e « . 3 1 Die in Wiesloch klinisch u n t e r s u c h t e n >Schwachsinnigen< w u r d e n nämlich in die Anstalt E i c h b e r g verlegt u n d dort getötet. Ihre Gehirne w u r d e n d a n n w i e d e r in die Forschungsabteilung Wiesloch gebracht, u m anatomisch u n t e r s u c h t zu w e r d e n . Bereits a m 20. September 1941 hatte B l a n k e n b u r g v e r f ü g t , daß v o n j e d e r an den K r a n k e n t ö t u n g e n beteiligten Anstalt ein Arzt an ein p a t h o l o gisch-anatomisches Institut a b g e o r d n e t w e r d e n sollte, w ä h r e n d die >Aktion T4< r u h t e . 3 2 Schon i m M a i 1941 hatte N i t s c h e in einer A k t e n n o t i z f ü r Allers Instruktionen zur K o n s e r v i e r u n g der den Leichen e n t n o m m e n e n Gehirne niedergelegt, die den D i r e k t o r e n der Euthanasieanstalten auf einer T a g u n g in H a d a m a r erteilt w e r d e n sollten. 3 3 A u f diese Weise sollten die T ö t u n g s a n s t a l ten auf ihre A u f g a b e n i m R a h m e n des F o r s c h u n g s p r o g r a m m s der E u t h a n a siezentrale vorbereitet w e r d e n . S o w o h l M e n n e c k e , der zeitweilig D i r e k t o r der Anstalt Eichberg w a r , als auch W. Schmidt, der Leiter der >Kinderfachabteilung< auf d e m Eichberg, der ab 1943 de facto die Leitung der Anstalt ü b e r n a h m , hatten bei Schneider in der Heidelberger P s y c h i a t r i s c h - N e u r o l o gischen Universitätsklinik hospitiert. 3 4 D e n n o c h k a m es zwischen der F o r schungsstelle Heidelberg u n d der Tötungsanstalt Eichberg zu A u s e i n a n d e r setzungen über die Sektion der Leichen, w i e aus e i n e m Brief Schneiders an Nitsche v o m 2. S e p t e m b e r 1944 h e r v o r g e h t : »Wie Sie wissen, sind die Kinder in unserem Auftrag durch die Transportgesellschaft nach dem Eichberg verlegt worden. Der Eichberg behauptet nun, nichts davon gewußt zu haben, daß die Kinder bei uns waren, trotzdem doch alle Schritte durch uns gegangen sind und eigentlich ja alle Vereinbarungen in dieser Richtung getroffen waren. Ich... muß natürlich Ihnen zugeben, daß wir den Eichberg nicht noch einmal benachrichtigt haben. Aber ich habe das alles nicht für notwendig gehalten, da die allgemeinen Vereinbarungen mit dem Eichberg bestanden und wir angenommen haben, daß wenn die Verlegung durch die Transportgesellschaft erfolgt, alles in Ordnung geht, um so mehr als uns ja der Eichberg die Gehirne der bei ihm sterbenden Idioten ohnehin schicken sollte. Dies ist, angeblich weil unsere Transportgefaße nicht angekommen waren, unterblieben trotz meiner Bemühungen in dieser Richtung. Man behauptet auf dem Eichberg, man hätte nichts mehr von der Fortführung unserer Untersuchungen gewußt, trotzdem ab und zu einmal einer der Mitarbeiter dort war. Als dann vor einigen Tagen auf meine Veranlassung Herr Dr. Rauch die ganze Frage 282

der Gehirnübersendung noch einmal im Eichberg besprach, stellte sich heraus, daß unsere Versandgefäße da waren. Sie waren nur versteckt worden und dem Direktor gesagt, es wären keine gekommen. Auch erwies sich, daß im Eichberg zu wenig Formalin da war, so daß die Gehirne verdorben sind. Ein Teil der Kinder ist nicht seziert. Auf jeden Fall werden wir von etwa 10 der von uns untersuchten Idioten keine Gehirne bekommen. Ein weiterer Teil fällt aus, teils weil sie nicht verlegt worden sind, teils weil sie offenbar nach dem neuerlichen Vergehen [sie!] nicht mehr unter die Bestimmungen des Reichsausschusses fallen. Ich muß also rechnen, daß nur die Hälfte der Idioten, die wir hier untersucht haben, voll für die Untersuchung zur Verfugung stehen werden. Das ist sehr bedauerlich, aber nicht zu ändern. Darum habe ich natürlich in erster Linie an der ständigen Vergrößerung des Materials Interesse und bin daher froh, wenn man uns grundsätzlich ermächtigt, die Dinge weiterzufuhren in der Form wie ich es Herrn Blankenburg vorgeschlagen habe. « 3S

Bei Abfassung dieses Briefes bestand die >Außenstelle< Wiesloch nicht mehr. Sie wurde zwischen dem 31. Januar/2. Februar 1943, als die 6. Armee in Stalingrad kapitulierte, 36 und dem 31. März 1943 37 aufgelöst. Da Schneider erkrankte, ruhte die Forschungsarbeit eine Zeitlang. Am 19. Juni 1943 teilte Schneider Nitsche mit, daß er im August 1943 den Dienst wiederaufnehmen wollte. Zur Fortführung der Forschungstätigkeit sollten drei bis vier Betten der Universitätsklinik Heidelberg zur Verfugung gestellt werden, in denen monatlich zehn bis zwölf >Idioten< untersucht werden sollten. 38 Vorsorglich ersuchte die Reichsarbeitsgemeinschaft am 17. Juli 1943 das badische Innenministerium, die in der Forschungsabteilung Wiesloch verbliebenen Patienten nicht zu weit weg zu verlegen, ihren Verbleib zu melden und im Todesfalle eine Obduktion anzuordnen. 3 9 Im Februar 1944 schickte sich Schneider an, die Forschungskapazität der Forschungsstelle Heidelberg zu steigern. Da die anatomischen Untersuchungen »überraschende Befunde« ergeben hätten, sei es »dringend zu wünschen, daß wir im größeren U m f a n ge Gehirne von Idioten und schwer Schwachsinnigen zugeleitet bekommen«. 4 0 Das > Planziel· war die systematische Untersuchung von 3000 >IdiotenEuthanasieaktion< Forschungsvorhaben durchgeführt. Im Rahmen des Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden waren Heinze, Catel und Wentzler, die sich die Forschungsgebiete untereinander aufteilten, an der Beforschung von Kindern beteiligt. 41 Die Professoren L. Löffler und B. Ostertag betrieben an Leichen aus der >Kinderfachabteilung< im Wiesengrund Forschungen zu erbbiologischen Fragestellungen und intrauterinen Schädigungen. 42 In der >Kinderfachabteilung< Spiegelgrund/Wien führte Dr. H. Groß Versuche an Kindern durch. 4 3 Kinder, die zur >Euthanasie< vorgesehen waren, wurden vor ihrem Tod als Versuchskaninchen mißbraucht. Beispielsweise erprobte Heinze an ihnen einen Schar283

lachimpfstoff, Dr. Bessau und Dr. Hefter untersuchten an ihnen Probleme der tuberkulösen Immunisierung, in der Anstalt Eichberg wurden im Auftrag der IG Farben Medikamente an ihnen erprobt. 4 4 Andere Forscher ließen sich von den Tötungsanstalten mit Gehirnen beliefern. Prof. Julius Hallervorden v o m KWI für Hirnforschung bestätigte am 9. März 1944: »Insgesamt habe ich 697 Gehirne erhalten einschließlich derer, die ich einmal in Brandenburg selbst herausgenommen h a b e . . . Ein erheblicher Teil davon ist bereits untersucht, ob ich sie freilich alle histologisch genauer untersuchen werde, steht dahin. « 4S Der Direktor des Anatomischen Instituts der Medizinischen Akademie Danzig, Prof. R. M. Spanner, ließ sich von der Anstalt Conradstein mit Leichen versorgen, an denen Studenten übten. 4 6

4. Die Propaganda zur >Euthanasie< als Imagepflege der Psychiatrie A m 17. März 1942 stellte Prof. Kloos, der Direktor der Landesheilanstalten Stadtroda, w o auch eine >Kinderfachabteilung< des Reichsausschusses untergebracht war, über das thüringische Innenministerium einen Antrag an den Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten, die Einrichtung in »Landeskrankenhaus Stadtroda« umzubenennen. Diesen Antrag begründete Kloos u. a. folgendermaßen: »Aus Gründen, die ich dort als bekannt voraussetzen darf, hat die Bezeichnung >Anstalt< in der Bevölkerung heute keinen guten Klang. Allein dadurch, daß der hiesige Betrieb trotz seines andersartigen (klinischen) Charakters immer noch als >Anstalt< gilt, ist er ständig ärgerlichen Vorurteilen ausgesetzt. In weiten Kreisen der Bevölkerung herrscht heute die Meinung, daß die Aufnahme in eine >Anstalt< gleichbedeutend sei mit >Lebendig-Begraben-Sein< oder baldigem Ende. Darum sträuben sich viele Kranke oder deren Angehörige jetzt auch schon gegen eine Aufnahme in unsere nichtpsychiatrischen Abteilungen, da diese zur >Anstalt< gehören, β 1

Z w a r lehnte Linden im Einvernehmen mit Nitsche den Antrag - ebenso wie einen Antrag des Leiters der thüringischen Heil- und Pflegeanstalt Hildburghausen auf U m b e n e n n u n g in »Landesnervenklinik und Heilanstalt« 2 ab, doch waren die für das Euthanasieprogramm verantwortlichen Psychiater über das Ausmaß gesellschaftlicher Verweigerung gegen die Vernichtung lebensunwerten Lebens< offensichtlich beunruhigt. In einem Runderlaß v o m 6. Januar 1942 wurden die Länder- und Provinzialbehörden über das R M d l / A b t . IVg aufgefordert, Bericht zu erstatten, ob es im Kontext der >Euthanasieaktion< zu einer Abnahme der Anstaltsaufnahmen gekommen war, was als sichtbares Zeichen unterschwelliger Widerstände in der Bevölkerung gewertet wurde. Der zusammenfassende Bericht über die Ergebnisse dieser U m f r a g e kam zu dem Schluß, daß im allgemeinen »Scheu und Mißtrauen gegen Anstaltsaufnahmen« und -Überweisungen zugenommen 284

hatten, wenngleich die Aufnahmezahlen nicht nachhaltig und dauerhaft gesunken waren. Festzustellen sei jedoch »das Bestreben, die Kranken in konfessionellen Anstalten unterzubringen, wo sie >sicherer< seien« (Westfalen), ferner »das Bestreben, die Kranken vorzeitig aus der Anstalt zu nehmen« (Schlesien, Bayern) sowie »energisches Sträuben gegen Verlegungen« (Westpreußen, Wien). Dabei trug das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage nach Ansicht des hessischen Landeshauptmanns Traupel »mehr Schuld an dem Mißtrauen als die Maßnahmen selbst«. Die »Pflicht zur Geheimhaltung« erweise sich als »besonders belastend«, da sie ein »starkes Mißtrauen« ausgelöst habe, »zumal dem Volke die Ziele der Verlegung genau bekannt seien«. Auf Grund der »Rechtsunsicherheit«, die dadurch mitbegründet sei, »daß die Kranken ohne eine in der bisher üblichen Form kenntlich gemachte gesetzliche Grundlage behandelt würden«, regte der Marburger Anstaltsleiter A. Langelüddecke an, »die Verlegungen solange zu unterlassen, bis psychologisch die Möglichkeit gegeben ist, in offener Weise ein entsprechendes Gesetz zu erlassen und durchzufuhren.« Der Provinzialverband Westfalen schlug - in Kombination mit einer Intensivierung der Therapie, einer Verbesserung der ärztlichen Versorgung in den Anstalten und einer Trennung von Heil- und Verwahranstalten - ein »Verbot d e r . . . Diffamierung der Geisteskranken, der Heilanstalten und der Geisteskranken-Fürsorge« vor. Die Provinzialverbände Mark Brandenburg und Mecklenburg plädierten für eine Aufklärung der Bevölkerung. 3 Beide Möglichkeiten - der Erlaß eines die >Vernichtung lebensunwerten Lebens< freigebenden Gesetzes und eine gezielte Aufklärung der Bevölkerung über die Beweggründe und Verlaufsformen der >Euthanasieaktion< wurden von der Euthanasiezentraldienststelle in Betracht gezogen. U m eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit in die Wege zu leiten, wurde in der Euthanasiezentrale eine Propagandaabteilung (Id) geschaffen. Der Schwerpunkt der Euthanasiepropaganda lag auf der Filmproduktion. Bereits in den 1930er Jahren war eine Reihe von Propagandafilmen zur Thematik der Rassenhygiene entstanden, 4 deren Auffuhrung Himmler anläßlich der Schließung der Tötungsanstalt Grafeneck im Dezember 1940 als Mittel der Öffentlichkeitsarbeit empfohlen hatte. 5 Zur Propagierung der >Euthanasie< kamen zwei Filmgenres in Frage: der Dokumentär- und der Spielfilm. Da die Bemühungen um eine gesetzliche Regelung der >Euthanasieaktion< schließlich scheiterten, hatten letztendlich nur Spielfilme eine Chance, zur Aufführung zu gelangen. Der größte Erfolg der Euthanasiepropaganda war zweifellos der im Jahre 1941 uraufgeführte Spielfilm »Ich klage an«, in dem unter der Regie von W. Liebeneiner so bekannte Schauspieler wie H. Hatheyer, P. Hartmann, M. Wiemann und E. Ponto die Hauptrollen spielten. Der Film behandeltedie verschiedenen Bedeutungsebenen des Euthanasiebegriffs bewußt überschreitend - das Problem der Sterbehilfe: Ein Medizinprofessor, der - in Anlehnung an den Namen Heydes, des ersten ärztlichen Leiters der Eutha285

nasiezentrale - im Film Heyt genannt wurde, leistet seiner an multipler Sklerose leidenden Frau auf deren Wunsch Sterbehilfe. Wegen Mordes angeklagt, gelingt es ihm vor Gericht eindrucksvoll, seine Tat zu rechtfertigen. Das Drehbuch basierte auf Motiven des im Jahre 1936 erschienenen Romans »Sendung und Gewissen« von H. Unger, der als Angehöriger des Stabes des Reichsärzteführers dem Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden angehörte und an der Planung der >Kindereuthanasie< teilnahm. Der Roman hatte unter Hinweis auf ein entsprechendes Gesetzes vorhaben in England mit der Begründung, »jeder gute und wahrhafte Arzt aus Sendung und Gewissen wird den Gnadentod als Heilmittel anerkennen«, 6 ein Euthanasiegesetz angeregt. Der Stoff wurde auf Veranlassung Bracks verfilmt, wobei die Euthanasiezentrale quasi als Co-Produzent der T O B I S - F i l m hinter den Kulissen fungierte. Dramaturg war Hermann Schweninger, ein Jugendfreund Bracks, der als Transportleiter in Grafeneck eingesetzt war, bevor er in die Propagandaabteilung der Euthanasiezentraldienststelle berufen wurde. 7 Der Berliner B i s c h o f Preysing charakterisierte in einer »Information des Klerus im Bistum Berlin über den Film >Ich klage anKünstlerisch besonders wertvoll und volksbildend< erhielt, treffend als »unaufdringliche Propaganda für die Euthanasie und die Vernichtung des >lebensunwerten LebensEuthanasie< in dem Film »Ich klage an« thematisiert wurde, ohne die Euthanasieproblematik zu artikulieren. In der geheimen Presseanweisung vom 2. September 1941 hieß es: »Die Besprechung des Films >Ich klage an< wird nunmehr freigegeben... Das im Film angeschnittene Problem darf weder positiv noch negativ behandelt werden, sondern der Film soll nur rein sachlich besprochen werden. Der Film behandelt das Problem der >EuthanasieDritten Reich< dem antifaschistischen Vertrauenskreis der Neurologischen Abteilung des Krankenhauses Berlin-Moabit angehörte, einen Eindruck: »Die Schwester von Rudolf Heß hatte nach diesem Film prompt Beinbeschwerden. Sie wurde dann gesund, nachdem ich sie überzeugt hatte, daß sie keine M. S. [Multiple Sklerose] habe. Das war ganz entsetzlich. Es kamen dauernd Menschen, die sagten: >Sagen Sie mir die Wahrheit, ich hab' doch bestimmt Multiple Sklerose! Sie machen mir was vor!< Dann kamen die Ehemänner an: >Ist es nicht doch besser, wenn meine Frau eingeschläfert wird?< Jedenfalls wenn die nur geringe nervliche Beschwerden hatten, dann wurde das alles als Multiple Sklerose deklariert. Vor

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allem unter der weiblichen Bevölkerung entstand eine ziemliche Unruhe. Die psychologische Wirkung des Films war eine ungeheure. « 10 Ü b e r die A u f n a h m e der v e r b o r g e n e n Aussage des Films in der B e v ö l k e r u n g gibt ein S D - B e r i c h t Aufschluß. D e m n a c h stand die »breite Masse des deutschen Volkes« der >Vernichtung l e b e n s u n w e r t e n Lebens< positiv gegenüber, w e n n die Z u s t i m m u n g des K r a n k e n oder die E i n w i l l i g u n g der A n g e h ö r i g e n vorlag, eine K o m m i s s i o n , die n u r aus Ärzten, einschließlich des Hausarztes, bestehen sollte, unter A n l e g u n g eines strengen Maßstabes die Unheilbarkeit des Leidens feststellte u n d der K r a n k e keine p r o d u k t i v e Arbeit m e h r zu leisten v e r m o c h t e . »Der einfache Arbeiter« zeigte sich aufgeschlossener als die »Volksgenossen aus intellektuellen Kreisen«. Es w u r d e v e r m u t e t , daß die »sozial schlechter gestellten Schichten der B e v ö l k e r u n g n a t u r g e m ä ß stärker an ihre eigene finanzielle Entlastung d e n k e n « . 1 1 D u r c h den E r f o l g des Films »Ich klage an« e r m u t i g t , reichte S c h w e n i n ger das D r e h b u c h zu einem weiteren Spielfilm m i t d e m Titel »Der W e r k meister« bei der Euthanasiezentraldienststelle e i n . 1 2 Ein anderer D r e h b u c h e n t w u r f t r u g den Arbeitstitel »Drei Menschen. Ein Film u m das Gesetz des Herzens«. H a u p t p e r s o n sollte »Prof. D r . Nitsche, C h e f a r z t u n d D i rektor der städtischen Psychiatrischen Klinik, ein abgeklärter M e n s c h , r u hig u n d w ü r d i g , ein Meister des Lebens« 1 3 sein - ein Beispiel dafür, w i e die Euthanasieplaner die P r o p a g a n d a zur Selbststilisierung benutzten. D e r A u t o r , dessen Identität u n b e k a n n t ist, schrieb zur E i n f u h r u n g : »Es w u r d e die A u f g a b e gestellt, einen Film zu schreiben ü b e r Euthanasie, ü b e r Auslöschung l e b e n s u n w e r t e n Lebens. U n t e r Berücksichtigung der Z e i t u m s t ä n de sind w i r zu der Ü b e r z e u g u n g g e k o m m e n , alles möglichst v e r m e i d e n zu müssen, w a s nach geflissentlicher W e r b u n g aussieht, namentlich aber auch alles zu v e r m e i d e n , was v o n gegnerisch Eingestellten als eine v o m Staat ausgehende B e d r o h u n g aufgefaßt w e r d e n k ö n n t e . « 1 4 H i e r w i r d n o c h einmal die i m Falle der Spielfilme a n g e w a n d t e Propagandatechnik deutlich, D i n g e anzuschneiden, o h n e sie b e i m N a m e n zu n e n n e n . 1 S Eine Z w i s c h e n s t u f e zwischen Spiel- u n d D o k u m e n t a r f i l m n a h m der D r e h b u c h e n t w u r f »Dasein o h n e Leben« ein, der i m wesentlichen aus ein e m in eine R a h m e n h a n d l u n g eingebetteten Vortrag bestand, der v o n ein e m »Professor K ä m p f e r « g e n a n n t e n Psychiater gehalten w u r d e . Die >Euthanasie< w u r d e nicht ausdrücklich e r w ä h n t . Das D r e h b u c h endete vielm e h r m i t Auszügen aus einer U m f r a g e , die E w a l d Meitzer, der D i r e k t o r des Katharinenhofs bei G r o ß h e n n e r s d o r f , zur Vorbereitung seines Buches »Das P r o b l e m der A b k ü r z u n g >lebensunwerten< Lebens« (1925) 1 6 v e r a n staltet hatte. Meitzer hatte im H e r b s t 1920 den Eltern u n d V o r m ü n d e r n der 200 i m K a t h a r i n e n h o f untergebrachten b i l d u n g s u n f ä h i g e n s c h w a c h sinnigem K i n d e r f o l g e n d e Fragen vorgelegt:

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»1. Würden Sie auf jeden Fall in eine schmerzlose Abkürzung des Lebens Ihres Kindes einwilligen, nachdem durch Sachverständige festgestellt ist, daß es unheilbar blöd ist? 2. Würden Sie diese Einwilligung nur für den Fall geben, daß Sie sich nicht mehr um Ihr Kind kümmern können, ζ. B. für den Fall Ihres Ablebens? 3. Würden Sie die Einwilligung nur geben, wenn das Kind an heftigen körperlichen oder seelischen Schmerzen leidet?« 17

Von den 200 Fragebogen wurden 162 beantwortet. Zur Überraschung Meitzers sprachen sich 119 (73%) für, 43 (27%) gegen eine Kindestötung aus. N u r in 20 Fällen verneinten die Erziehungsberechtigten alle drei Fragen. Meitzer selbst relativierte das Ergebnis seiner Umfrage: Unter dem z u nächst bestechenden Eindruck^ 8 der Schrift Bindings und Hoches habe der Fragebogen eine »suggestive Färbung« erhalten. Außerdem seien die zu dieser Zeit angespannte Ernährungslage, die sich anbahnende Inflation und der auf Grund der politischen Konstellation weitverbreitete Antiklerikalismus zu berücksichtigen, Umstände, die im Gebiet der Umfrage, dem industriellen Ballungsraum Sachsens, von besonderem Gewicht gewesen seien. Bedenklich erschien Meitzer vor allem die Tatsache, daß viele Eltern es für richtiger hielten, »wenn ein solches Kind ohne Wissen der Eltern einschliefe, da brauchten sie sich keine Vorwürfe zu machen«. 19 Eine alleinstehende Frau antwortete: »Richtiger hätten Sie mir das gar nicht gesagt und hätten das Kind einschlafen lassen.« 20 Der Drehbuchentwurf griff die U m frage Meitzers auf. In Trickfilmaufnahmen sollten einzelne Antworten eingeblendet werden: »Die Antworten kritzelich mit ortographischen [sie!] Fehlern usw. handgeschrieben (verschiedene Handschrift).« 2 1 Am Schluß sollte »in Flammenschrift« der Satz »Eine Mutter schrieb: >Nicht fragen — handelnd« 22 auf der Leinwand erscheinen. Geplant war aber auch ein Dokumentarfilm, in dem die Öffentlichkeit über die >Euthanasieaktion< informiert werden sollte, wobei vor allem die Einbettung der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< in ein Konzept a k t i ver Therapie< verdeutlicht werden sollte. Der Aufbau dieses Films ging auf Vorschläge zurück, die Nitsche im Mai 1940 schriftlich niedergelegt hatte. 2 3 In einem ersten Teil sollte der durch die Geisteskrankheiten bedingte Aufwand dargestellt werden, ζ. B. anhand von Bildern »besonders schöner, auch baulich und ästhetisch wertvoller Anstalten«. 24 Der zweite Teil sollte zur »Veranschaulichung des Elends« dienen. Dazu schienen »Bilder und Aufnahmen eindrucksvoller und kennzeichnender Kranken-Typen« besonders geeignet. Gedacht war aber auch an die »bildliche Darstellung der seelischen Belastung, welche psychische Krankheitsfälle in Familien bedeuten, ζ. B. Mutter neben einem Idiotenkind, Besuch eines Angehörigen bei einem vollkommen Stuperiösen oder Erregten«. Im dritten Teil sollte ausfuhrlich auf die psychiatrische Prophylaxe und Therapeutik eingegangen, im vierten Teil schließlich der Ablauf der >Euthanasieaktion< in allen Einzelheiten dargestellt werden. Dieser Entwurf wurde im August 1940 mit Carl 288

Schneider durchgesprochen. Hey de sollte statistisches Material liefern. 25 Während der >Euthanasieaktion< wurden extrem mißgestaltete und verfallene Geisteskranke zurückgestellt, bis sie gefilmt worden waren. 26 In einer Aktennotiz an Heyde vom 11. Dezember 1940 berichtete Hefelmann: »Ich bin darauf aufmerksam gemacht worden, daß die Idiotenanstalt Kramsach in Tirol, die 70 idiotische Kinder beherbergt, ein besonders vorzügliches Filmmaterial abgeben würde.« 27 Im Oktober 1942 hatte Schweninger den Entwurf Nitsches zu einem Drehbuch ausgearbeitet. In dem geplanten Dokumentarfilm, hieß es in einem Schreiben Schweningers an Nitsche vom 26. Oktober 1942, sollte 1. ein Überblick über Stand und Leistungen der Psychiatrie gegeben, 2. »von der ethischen und moralischen Notwendigkeit der getroffenen Maßnahmen« überzeugt und 3. »die gewissenhafte und menschliche Art der Durchführung nach streng wissenschaftlichen Richtlinien« 28 verdeutlicht werden. Das Drehbuch »für den wissenschaftlichen Dokumentarfilm G.K.« vom 29. Oktober 1942 gab zunächst einen Abriß der Geschichte der Psychiatrie, stellte verschiedene geistige Behinderungen und psychische Erkrankungen vor, ging ausführlich auf innovative Therapieformen (Arbeitstherapie, Hormonbehandlung, Fieberkuren für Paralytiker, Cardiazol- und Insulinkuren, Elektroschocks) ein, ehe das Problem der unheilbaren Geisteskrankheiten angeschnitten wurde: »Neben den vielen segensreichen Errungenschaften brachte die moderne Psychiatrie auch die Möglichkeit, die Grenzen der Heilbarkeit einwandfrei festzustellen, die furchtbare Erkenntnis der Unheilbarkeit!«29 Dazu sollten Bilder aus der Abteilung für unruhige Frauen in Eglfing-Haar gezeigt werden. An die Darlegung der Gründe, die für eine >Vemichtung lebensunwerten Lebens< sprachen, Schloß sich eine Dokumentation der >Euthanasieaktion< an:

»Montage- und Trickmäßige Darstellung der Erfassung und Begutachtung.

Aufnahmen von Grafeneck und Hartheim. Ankunft und Ausladen von Kranken.

Es wurde eine Organisation ins Leben gerufen, durch die zunächst, erstmalig in Deutschland, eine zentrale Erfassung aller in Anstalten befindlichen Geisteskranken erfolgte. Aus Fachärzten zusammengesetzte Gutachterkommissionen überprüften sodann die bereits bestehenden Krankheitsgeschichten und Diagnosen und stellten die Unheilbaren fest, die im Rahmen dieser Maßnahmen ihrer Erlösung durch den Tod zugeführt werden sollen. Unklare oder Zweifelsfälle wurden von Obergutachtern überprüft. Die auf diese Weise einwandfrei als unheilbar festgestellten Kranken wurden dann in eigens dazu eingerichtete, eigene Anstalten verbracht. 289

Arzt geht durch das Krankenzimmer.

Untersuchungskommission.

Fotografieren.

Gasraum (Als Zwischenschnitte Aufdrehen des Hahns, Gasometer, Beobachtung durch den Arzt.)

Vorher - Nachher.

In diesen Sonderanstalten werden die eingelieferten Kranken durch den Anstaltsarzt einer eingehenden Beobachtung unter gleichzeitiger Überprüfung der Krankheitsgeschichten und Diagnosen unterzogen, um jede Möglichkeit eines Irrtums oder einer Fehlentscheidung durch die Gutachter zu verhindern. So kommt der Tag, an dem die Erlösung des Kranken zur Durchführung gelangt. Vor einer Untersuchungskommission unter Leitung des Anstaltsarztes werden nochmals die Personalien und der medizinische Befund des Patienten überprüft und festgestellt. Für Archiv-Zwecke werden fotografische Aufnahmen des Kranken hergestellt. In einem hermetisch abgeschlossenen Raum wird dann der Patient der Einwirkung von Kohlenoxydgas ausgesetzt. Das einströmende Gas ist völlig geruchlos und beraubt den Kranken zunächst des Beurteilungsvermögens und dann des Bewußtseins. Vom Patienten gänzlich unbemerkt, ohne Qual und ohne Kampf tritt der erlösende Tod ein. Das von unheilbarer Geisteskrankheit und unmenschlichem Dasein verzerrte und gequälte Gesicht eines Unglücklichen ist vom Frieden eines sanften Todes geglättet, der endlich Hilfe brachte, die Erlösung!« 30

Der »Ausscheidungsvorgang« 3 1 sollte ursprünglich w o h l nur anhand v o n Trickaufnahmen dargestellt werden, dann jedoch wurde in der Tötungsanstalt Sonnenstein eine Vergasung gefilmt. 3 2 Der Film wurde allerdings nur im internen Zirkel der bei der >Euthanasieaktion< engagierten Psychiater vorgeführt. Eine öffentliche Aufführung war, da sich eine gesetzliche Regelung nicht hatte erreichen lassen, nicht möglich. D i e Kopien wurden beim Einmarsch der Alliierten vernichtet. 3 3 Der propagandistischen Aufbereitung zum Trotz spiegelt das Drehbuch den therapeutischen Idealismus< der an der >Euthanasieaktion< beteiligten Psychiater wider, die sich v o n der filmischen Dokumentation der >Euthanasie< eine Aufwertung der Psychiatrie in der öffentlichen Meinung versprachen. 290

XII. >Euthanasie< und Justiz: Der »halbierte >RechtsstaatVernichtung lebensunwerten Lebens
Euthanasie< hatte seit der >Machtergreifung< bei den Vorbereitungen zur Umgestaltung des deutschen Strafrechts eine Rolle gespielt. In der im Jahre 1933 veröffentlichten Denkschrift des preußischen Justizministers H. Kerrl »Nationalsozialistisches Strafrecht« wurde die Sterbehilfe als nicht strafbare Handlung bezeichnet. Die Schaffung eines Unrechtsausschließungsgrundes bei der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< erübrige sich dagegen: »Sollte der Staat etwa bei unheilbar Geisteskranken ihre Ausschaltung aus dem Leben durch amtliche Organe gesetzmäßig anordnen, so liegt in der Ausführung solcher Maßnahmen nur die Durchführung einer staatlichen A n o r d n u n g . . . Wohl bleibt zu betonen, daß die Vernichtung lebensunwerten Lebens durch eine nichtamtliche Person stets eine strafbare Handlung darstellt. « 1

Gegen diesen Freibrief zu einer gesetzlichen Regelung der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< legte das Episkopat der Katholischen Kirche im Jahre 1934 beim RJM Protest ein. Im Bericht über die Arbeit der amtlichen Strafrechtskommission, der 1935 von Reichsjustizminister Gürtner unter dem Titel »Das kommende deutsche Strafrecht« herausgegeben wurde, hieß es zur Sterbehilfe: »Die Sterbehilfe als besonderer Fall der Tötung auf Verlangen erscheint der Ausnahmebehandlung bedürftig, falls man nicht mit der Kommission hier alles auf die Kraft des Gewohnheitsrechts abstellt, das solches Samariterwerk vor dem Zugriff der Strafverfolgung schon jetzt sichert.« 2

Diese Rechtsauffassung wurde auch in den von H. Frank herausgegebenen »Nationalsozialistischen Leitsätzen fur ein neues deutsches Strafrecht« vertreten: »Nicht in den Bereich des Strafrechts gehört die Sterbehilfe, denn die Volksgemeinschaft ist nicht so erbarmungslos, dem unheilbar Kranken und dem Sterbenden sein Leben und seine Qual gegen dessen Willen aufzuzwingen. « 3

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Die Straflosigkeit der > Vernichtung lebensunwerten Lebens< wurde im Bericht über die Tätigkeit der amtlichen Strafrechtskommission aus demjahre 1935 noch ausdrücklich abgelehnt: »Eine Freigabe der Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens k o m m t nicht in Frage. « 4 Allerdings war die Tötung nicht mehr unter Strafe gestellt, weil dabei »der Lebenswille des einzelnen mißachtet wird«, sondern weil eine Tötung grundsätzlich als ein »Angriff auf die Volksgemeinschaft« 5 zu werten sei. Damit war - durch die Ausgrenzung von >Lebensunwerten< und >Gemeinschaftsunfáhigen< aus der >Volksgemeinschaft< - doch noch eine Hintertür fur eine Freigabe der V e r nichtung lebensunwerten Lebens< eröffnet. Bis z u m j a h r 1939 galt jedoch die Feststellung des Strafrechtlers Graf Gleispach, daß kein Gesetz Vorschriften über die strafrechtliche Beurteilung der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< enthielt: »Das bedeutet in der Hauptsache, daß sie als vorsätzliche Tötung zu bestrafen ist, wenn auch mit gemilderter Strafe, sofern das Gesetz zutreffende Milderungsgründe kennt und allenfalls als >Tötung auf Verlangem, ein Sondertatbestand, der aber keineswegs in allen Fällen der Euthanasie zutreffen muß; auch mit dem Vorbehalt, daß man aufgrund allgemeiner Erwägungen oder gewohnheitsrechtlich die Euthanasie straflos läßt. «6 Erste Diskussionen um die >Euthanasie< dürften im Jahre 1938, angeregt durch Reichsärztefuhrer Wagner, im Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden geführt worden sein. 7 Fest steht, daß sich Vertreter des Reichsausschusses und Angehörige der Kanzlei des Führers im Vorfeld der >Kindereuthanasie< - zwischen dem Februar und dem Mai 1939 — mehrmals trafen, um über die Euthanasieproblematik zu beraten. Es ist wahrscheinlich, daß aus diesen Beratungen erste Anstöße zu einer gesetzlichen Regelung der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< hervorgingen. Vermutlich wurden die Ergebnisse der Gespräche schriftlich niedergelegt und über Bouhler an Hitler weitervermittelt, der wiederum seinen Leibarzt Theo Morell mit der Ausarbeitung eines Gutachtens zur Freigabe der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< beauftragt haben dürfte. 8 Aufjeden Fall beschäftigte sich Morell im Sommer 1939 eingehend mit der Euthanasiethematik. Er fertigte Exzerpte aus den wichtigsten Veröffentlichungen zur Frage der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts an, wobei ihm vom Reichsausschuß eine Zusammenstellung von Kopien der einschlägigen Literatur zur Verfügung gestellt wurde. 9 Außerdem wurden Morell die Euthanasiethematik tangierende Memoranden von nationalsozialistischen Parteigängern zugestellt. 10 Auf dieser Materialbasis erstellte Morell ein Gutachten zu einem Gesetz zur »Vernichtung lebensunwerten LebensVernichtung lebensunwerten Lebens< angeführt worden waren. 13 Der von Morell umrissene Gesetzesvorschlag, der im übrigen die Verfahrensweisen der in diesem Zeitraum anlaufenden >Kindereuthanasie< widerspiegelte, bildete wahrscheinlich in einer auf Grund der Ergebnisse des Führervortrags veränderten Fassung14 die Basis eines Gesetzentwurfs zur Sterbehilfe bzw. zur >Vernichtung lebensunwerten LebensVernichtung lebensunwerten Lebens< geprägt, die im juristischen Diskurs bereits Tradition hatte. 15 »§ 1. Wer an einer unheilbaren, sich oder andere stark belästigenden, oder sicher zum Tode führenden Krankheit leidet, kann auf sein ausdrückliches Verlangen mit Genehmigung eines besonders ermächtigten Arztes Sterbehilfe durch einen Arzt erlangen. § 2. Das Leben eines Menschen, welcher infolge unheilbarer Geisteskrankheit dauernder Verwahrung bedarf, und der im Leben nicht zu bestehen vermag, kann durch ärztliche Maßnahmen unmerklich schmerzlos für ihn vorzeitig beendet werden. « 16

Im Reichsausschuß, der sich die Protokolle der Strafrechtskommission, die den geheimen Gesetzentwurf betrafen, umgehend zuschicken ließ, 17 wurde die Verschränkung der »Vernichtung lebensunwerten Lebens< mit Fragen der Sterbehilfe fortan übernommen. Bereits in der ersten Vorbesprechung zur Euthanasieplanung, die Hitler im Juli 1939 mit Conti, Lammers und Bormann führte, hatte der Reichs293

kanzler eine gesetzliche Freigabe der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< abgelehnt. Ein Gesetzentwurf, den Lammers im Anschluß an diese Unterredung formulierte, blieb letztlich unberücksichtigt. Hitler erklärte, »daß ihm aus politischen Gründen das Gesetz unerwünscht sei«. 18 Für ihn kam offensichtlich nur eine geheime Führervollmacht in Frage. Deshalb legte er Brandt und Bouhler, die mit der Euthanasieplanung beauftragt wurden, nachdem Conti ausgebootet worden war, den Entwurf eines Ermächtigungsschreibens vor, der wahrscheinlich auf das Gutachten Morells aufbaute. Die endgültige Formulierung wurde von einem Gremium ausgearbeitet, dem neben Brandt Vertreter der Kanzlei des Führers - Bouhler, Brack, Blankenburg, Hefelmann - , der Verbindungsmann des Reichsausschusses zum RMdl, Linden, der Jugendpsychiater Heinze und der Pädiater Wentzler als an der >Kindereuthanasie< beteiligte Ärzte sowie die später an der zentralen Planung der >Aktion T4< mitwirkenden Psychiater Heyde, Nitsche und de Crinis angehörten. Das auf den 1. September 1939 rückdatierte Ermächtigungsschreiben, das schließlich im Oktober 1939 unterzeichnet wurde, sollte die einzige >Rechtsgrundlage< der >Euthanasieaktion< bleiben. Die Euthanasieplaner vermochte es nicht zufriedenzustellen. Es entsprach noch nicht einmal der Form, die zu dieser Zeit fur geheime Führererlasse üblich war. Auf privatem Briefpapier geschrieben, ohne Bezeichnung der staatsrechtlichen Stellung Hitlers unterzeichnet und nicht von den zuständigen Fachministerien gegengezeichnet, wurde es unter Verschluß gehalten und lediglich einem eng begrenzten Personenkreis zugänglich gemacht. 1 9 Inhaltlich war die Ermächtigung so vage gefaßt, daß man den >Gnadentod< sowohl auf die Gewährung von Sterbehilfe als auch auf die > Vernichtung lebensunwerten Lebens< beziehen konnte. Zu Beginn des Jahres 1940 lebte die Debatte um die Legalisierung der >Euthanasieaktion< - ausgehend von der T4-Zentraldienststelle - wieder auf. Diese Initiative war auf drei Gründe zurückzuführen: 1. Es erwies sich als schwierig, ernsthafte Widerstände von seiten der Provinzial- und Länderbehörden oder von einzelnen Funktionsträgern aus dem Justizapparat zu brechen, ohne auf eine gesetzliche Grundlage rekurrieren zu können. So sah sich die Euthanasiezentrale gezwungen, dem rheinischen Landeshauptmann, der von seinem Anstaltsdezernenten Creutz zur Ablehnung der Verlegungen bewegt worden war, den geheimen Führerbefehl vorzulegen. 20 Reichsjustizminister Gürtner, der selbst erst im August 1940 eine Kopie des Führererlasses erhielt, mußte sogar dem Amtsrichter L. Kreyssig Einsicht in das Schriftstück geben. 2 1 2. Das formlose Verfahren widersprach dem wissenschaftlichen Anspruch der Euthanasiepsychiater, die »eine klare Begrenzung des Komplexes zur Tötung Schwerstkranker« anstrebten. 22 3. Schließlich dürften die Euthanasiepsychiater ein Interesse daran gehabt haben, daß die ihnen zugesicherte Straffreiheit verbrieft wurde. 2 3 Diese Gründe wurden zu Beginn des Jahres 1940 von Hefelmann, Linden, 294

Heinze und Wentzler im Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden, der über die Organisation der >Kindereuthanasie< hinaus als zentrale Planungsinstanz der >Euthanasieaktion< fungierte, erörtert. Hefelmann und Linden arbeiteten einen Gesetzentwurf aus, der wohl im wesentlichen auf den Gesetzentwürfen des Jahres 1939 aufbaute. 24 Sein Titel lautete vermutlich >Gesetz über die Sterbehilfe für Lebensunfähigem 2 5 Von Brack gebilligt, wurde dieser Gesetzentwurf zur Grundlage einer erneuten Debatte um die Legalisierung der >EuthanasieGemeinschaftsfremdengesetzesErwachseneneuthanasie< mitwirkenden Ärzte nahmen de Crinis, Eberl, Faltlhauser, Heinze, Jekelius, Kaldewey, Kihn, Lonauer, Mauz, Pfannmüller, Pohlisch, Renno, Schmidt, 3 2 Schneider, Schumann, Steinmeyer, Ullrich und Wentzler teil; hinzu kamen aus der Medizinalverwaltung der Länder Ministerialdirektor Schultze, Gesundheitsdezernent im Bayerischen Innenministerium, Ministerialrat Sprauer, Gesundheitsdezernent im Badischen Innenministerium, Ministerialrat Stähle, Gesundheitsdezernent im Württembergischen Innenministerium, und Stadtmedizinaldirektor Vellguth, Leiter des Hauptgesundheitsamtes Wien, 3 3 schließlich vervollständigten der Rassenhygieniker Lenz als Vertreter des Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik, der forensische Psychiater Schnell vom Kriminalbiologischen Dienst des RJM und Heydrich die Teilnehmerliste. Von dieser Kommission 295

wurde die endgültige Fassung des Gesetzentwurfs, der nunmehr vermutl i c h - dem Vorschlag von Lenz folgend - den Titel >Gesetz über Sterbehilfe bei unheilbar Kranken< 34 erhielt, verabschiedet. Er bestand aus sechs Paragraphen, die sich anhand des teilweise überlieferten Kommissionsprotokolls inhaltlich rekonstruieren lassen. 35 Wie aus der Präambel hervorgeht, sollte Menschen, »die wegen einer unheilbaren Krankheit (ein Ende ihrer Qual) herbeisehnen« oder »infolge unheilbaren chronischen Leidens zum schaffenden Leben unfähig sind«, 36 Sterbehilfe geleistet werden. Die ersten beiden Paragraphen stellten leicht abgewandelte Fassungen des von der amtlichen Strafrechtskommission im Jahr zuvor verabschiedeten Entwurfs dar: § 1 : »Wer an einer unheilbaren (sich oder andere stark belästigenden oder sicher zum Tode führenden) Krankheit leidet, kann auf sein ausdrückliches Verlangen mit Genehmigung eines besonders ermächtigten Arztes Sterbehilfe durch einen Arzt erhalten. « 37 § 2: »Das Leben eines Kranken, der infolge unheilbarer Geisteskrankheit sonst lebenslänglicher Verwahrung bedürfen würde, kann durch ärztliche Maßnahmen unmerklich für ihn, beendet werden.« 3 8

Die folgenden vier Paragraphen regelten den Modus der >EuthanasieSachverständigenausschüssen< erfolgen, denen ein besonders ermächtigten Amtsarzt und zwei Beisitzer (Psychiater) angehören sollten. Diese Ausschüsse waren von einem zur Durchführung des Gesetzes eingesetzten >Reichsbeauftragten< zusammenzustellen. Dieser mit weitreichenden Befugnissen ausgestattete Sonderbevollmächtigte sollte auf der Grundlage der von den Sachverständigenausschüssen abgegebenen Gutachten über die Anträge auf Sterbehilfe entscheiden. Er sollte auch die Vollzugsärzte ernennen. Erklärte sich ein Tötungsarzt mit dem Votum eines Sachverständigenausschusses nicht einverstanden, konnte er unter eingehender schriftlicher Darlegung der Gründe ein erneutes Begutachtungsverfahren durch einen anderen Sachverständigenausschuß beantragen. Vorbedingung für die Begutachtung von Anstaltsinsassen, die der >Vernichtung lebensunwerten Lebens< zum Opfer fallen sollten, war ein zweijähriger Anstaltsaufenthalt. Die Entlassung von Anstaltsinsassen sollte von der Zustimmung des Reichsbeauftragten abhängig gemacht werden. 3 9 Fragt man sich, welche Auswirkungen ein Inkrafttreten dieses Gesetzentwurfs auf die Struktur des Euthanasieapparates gehabt hätte, stellt man eine Tendenz zur Dezentralisierung der Durchführung (Erfassung, Vernichtung) unter Beibehaltung der zentralen Steuerung fest, die später-beim Übergang zur >Aktion Brandt< - zum Tragen kam. Der Gesetzentwurf wurde jedoch im Herbst 1940 von Hitler endgültig verworfen. Entscheidend dürfte gewesen sein, daß die >Euthanasieaktion< nicht in eine normative Prozedur einge296

bunden werden sollte, die die Liquidierungskapazität des Euthanasieapparates eingeschränkt hätte. 4 0 Da eine gesetzliche Regelung scheiterte, blieb die >Euthanasie< bis zum Zusammenbruch des >Dritten Reiches< de lege lata strafbar. Noch in der 12. Auflage des Kommentars zum Strafgesetzbuch, die in den Jahren 1943/ 1944 erschien, hieß es: »Andere Arten von Vernichtung lebensunwerten Lebens, ζ. B. die Tötung unheilbar Blödsinniger, könnten erst recht nur durch Änderung der Gesetzgebung straffrei werden. « 41

2. Die partielle Integration des Justizapparats

in die >Euthanasieaktion
Euthanasieaktion< spielte sich in einem der rechtlosen Hohlräume ab, die für den »halbierten >RechtsstaatDritten Reichs< prägte. Sie war deshalb auf eine legislative Fixierung nicht angewiesen. Der normative Apparat der Justiz trug sogar selbst zur Abschirmung des rechtlosen Raumes bei, um Spannungen an der Nahtstelle zwischen Normen- und Maßnahmenstaat zu beheben. 1 Das RJM, das an der >Euthanasieaktion< zunächst nicht beteiligt war, ja noch nicht einmal in Kenntnis gesetzt wurde, erhielt durch Eingaben und Berichte untergeordneter Dienststellen Einblick in die >Vernichtung lebensunwerten LebensEuthanasie< zum Opfer fallen sollte, Strafanzeige androhte. 2 Ebenfalls am 8. Juli 1940 sandte der Vormundschaftsrichter am Amtsgericht Brandenburg/Havel, Amtsgerichtsrat Dr. Lothar Kreyssig, einen Bericht an Gürtner, in dem er seinen durch die Todesumstände verstorbener Mündel erhärteten Verdacht äußerte, daß in Hartheim planmäßig Geisteskranke umgebracht würden. Die >Euthanasie< lehnte er aus Glaubensgründen ab. Scharfsinnig erkannte er die im Deutschen Reich um sich greifende Gesetzlosigkeit: »Recht ist, was dem Volke nützt. Im Namen dieser furchtbaren von allen Hütern des Rechtes in Deutschland noch immer unwidersprochenen Lehre sind ganze Gebiete des Gemeinschaftslebens vom Rechte ausgenommen, ζ. B. die Konzentrationslager, vollkommen nun auch die Heil- und Pflegeanstalten. Was beides in der Wirkung aufeinander bedeutet, wird man abwarten müssen. Denn der Gedanke drängt sich auf, ob es denn gerecht sei, die in ihrem Irrsinn unschuldigen Volksschädlinge zu Tode zu bringen, die hartnäckig-boshaften aber mit großen Kosten zu verwahren und zu futtern. « 3

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Noch im Juli 1940 wurde Kreyssig im RJM vom Adjutanten Gürtners, Ministerialrat v. Dohnany, und Staatssekretär Freisler empfangen, der Kreyssigs Kritik an der Auffassung, der Führerwille sei verbindliches Recht, zu teilen vorgab und eine baldige gesetzliche Regelung in Aussicht stellte. In einer weiteren Unterredung zwischen Freisler und Kreyssig in der ersten Augusthälfte 1940 zeigte der Staatssekretär dem Amtsrichter einen Gesetzentwurf - wahrscheinlich einen der Vorentwürfe zu dem Gesetz über die Sterbehilfe bei unheilbar Kranken - , bestärkte ihn aber ausdrücklich in seiner Absicht, Reichsleiter Bouhler als den Verantwortlichen fur die >Euthanasieaktion< wegen Mordes anzuzeigen. Offenbar war es Freislers Absicht, die Kanzlei des Führers unter Druck zu setzen, um eine gesetzliche Regelung zu erzwingen. Kreyssig erstattete tatsächlich eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Potsdam, die offenbar jedoch nicht weiter verfolgt wurde. Darüberhinaus suchte er am 20. August 1940 die Anstalt Brandenburg-Görden auf, wies vor der versammelten Ärzteschaft auf die bestehende Rechtsunsicherheit hin und verbot die Verlegung von Kranken, die seiner Vormundschaft unterstanden. Brandenburg-Görden war zu diesem Zeitpunkt Sitz einer >Kinderfachabteilung< des Reichsausschusses und als Zwischenanstalt Anlaufstelle für Verlegungen im Rahmen der >Aktion T4Vernichtung lebensunwerten Lebens< rundweg ab. Er unterrichtete sofort Brack vom Vorgehen des Amtsrichters. Freisler, von Brack hinzugezogen, distanzierte sich nunmehr von Kreyssig. In einem an sieben Landesheilanstalten gerichteten Schreiben vom 27. August 1940 wiederholte Kreyssig das Verbot der Verlegung von seiner Obhut unterstehenden Anstaltsinsassen ohne seine Zustimmung. Diese Verfugung nahm er auch nicht zurück, als ihn der Oberpräsident der Provinz Mark Brandenburg unter Druck zu setzen versuchte. Schließlich wurde Kreyssig zu Gürtner bestellt, der ihm eine Kopie des Ermächtigungsschreibens Hitlers zeigte, die er inzwischen von der Kanzlei des Führers erhalten hatte. Da Kreyssig die Rechtsgültigkeit der Führerermächtigung nicht anerkannte, wurde er bald darauf zwangsweise in den Ruhestand versetzt, blieb sonst aber bis zum Kriegsende unbehelligt. 4 Seit dem Frühjahr 1940 hatte der Leiter der Hoffnungsthaler Anstalten in Lobetal und Vizepräsident des CA für die IM, Pastor Paul G. Braune, Informationen über die >Euthanasieaktion< gesammelt, die er auf Empfehlung des Ministerialdirektors Kritzinger von der Reichskanzlei zu einer Denkschrift zusammenfaßte. Am 9. Juli 1940 ging diese Denkschrift auch dem Reichsjustizminister zu. Am 12. Juli 1940 besuchten Braune, v. Bodelschwingh und der Chirurg Prof. F. Sauerbruch 5 Gürtner in dessen Berliner Privatwohnung und erstatteten ausführlich Bericht über die Krankentötungen. Nach Aussage Braunes gab sich Gürtner überrascht. Jedoch dürfte er durch Kritzinger und v. Dohnany aus dem Amt Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), seinen langjährigen Vertrauten und Referenten, der bei der Abfassung der Brauneschen Denkschrift mitgewirkt 298

hatte, bereits von den Beobachtungen Braunes unterrichtet gewesen sein. Zudem war er in den >Fall Knauer< eingeweiht gewesen und hatte wenige Tage zuvor erste Hinweise auf die > Aktion T4< erhalten. Seine Überraschung bezog sich wohl auf die Größenordnung und Planmäßigkeit der >EuthanasieaktionEuthanasie< verantwortlich waren. 6 Am 23. Juli 1940 wandte sich Gürtner an die Reichskanzlei, die als Clearingstelle zwischen den obersten Reichsbehörden fungierte. Lammers wies ihn daraufhin, daß Hitler eine gesetzliche Regelung abgelehnt hatte, und bat um die Übersendung der im RJM eingegangenen Berichte. Diese Unterlagen schickte Gürtner schon am nächsten Tag mit der Forderung, die >Euthanasieaktion< sofort einzustellen, da das RJM den eigenen Justizbehörden gegenüber nach Bekanntwerden der ohne gesetzliche Grundlagen vollzogenen Krankentötungen nicht den Standpunkt einnehmen könne, man wisse von nichts. 7 Dieses Schreiben ließ Gürtner auch an die Kanzlei des Führers weiterleiten. Es kam zu mehreren Unterredungen zwischen Gürtner und Bouhler, in deren Verlauf der Reichsjustizminister am 27. August 1940 die Kopie des Führerbefehls erhielt, die er später Kreyssig zeigte. Gürtner sah nun, da er wußte, daß der Massenmord hinter Anstaltsmauern auf ausdrückliche Weisung Hitlers geschah, keine Möglichkeit mehr, auf die Einstellung der Krankentötungen hinzuwirken, obwohl sie durch kein Gesetz gedeckt wurden. Er war nur noch bemüht, genaue Durchfuhrungsbestimmungen für die >Vernichtung lebensunwerten Lebens< zu erwirken, um Spannungen mit dem Justizapparat zu vermeiden. Diese Versuche blockte Bouhler in einem Schreiben vom 5. September 1940 ab: »Auf Grund der Vollmacht des Führers habe ich als der fur die Durchführung der zutreffenden Maßnahmen allein Verantwortliche die mir notwendig erscheinenden Anweisungen an meine Mitarbeiter gegeben. Darüber hinaus erscheint mir der Erlaß besonderer, schriftlich zu fixierender Ausfuhrungsbestimmungen nicht mehr erforderlich.« 8

Die Friktionen im Funktionsbereich der Justiz, die durch die >Aktion T4< hervorgerufen wurden, schlugen sich in Berichten und Anfragen nachgeordneter Dienststellen nieder, die sich in den Monaten nach dem August 1940 häuften. Der Generalstaatsanwalt Graz, Dr. Meißner, der mehrmals persönlich wegen der >Euthanasieaktion< im RJM vorstellig wurde, schrieb am 24. November 1940: »Heute sieht das Volk, daß Tötungen von Menschen stattfinden, für die kein Gesetz eine Grundlage bildet, und daß trotzdem die Justizbehörden nicht einschreiten. Dadurch leidet Ansehen und Ehre der Richter und Staatsanwälte, sie werden der Willkür verdächtig, die Justiz wird ein anrüchiges Gewerbe mit dem Schein des Rechts, als es einst das des Henkers war. Alle Sicherungen für die Gerechtigkeit richterlicher Entscheidungen erscheinen als Schwindel. « 9

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In den verschiedenen Bereichen der Rechtsprechung wirkten sich die ohne gesetzliche Grundlage verübten Anstaltsmorde aus: 1. In der freiwilligen Gerichtsbarkeit war vor allem die Vormundschaft betroffen. Die Vormundschaftsrichter erfuhren häufig erst von den Angehörigen vom Tod eines Anstaltsinsassen. Wochenlang blieb ungeklärt, ob überhaupt noch eine Vormundschaft oder Pflegschaft bestand, woraus sich Schwierigkeiten bei der Regelung vermögensrechtlicher Angelegenheiten ergaben. Auch bei den Nachlaßgerichten gab es Probleme, z . B . bei der Erteilung von Erbscheinen. Die betroffenen Amtsgerichte verlangten, wenigstens über den Aufenthaltsort und den Todestag der verlegten Anstaltsinsassen unterrichtet zu werden, eine Forderung, die von der Euthanasiezentraldienststelle abgelehnt wurde. 1 0 2. Auch auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts entstand auf Grund der Geheimhaltung der >Euthanasieaktion< Rechtsunsicherheit. Wenn bei einem Zivilprozeß in einer erbrechtlichen Angelegenheit eine Prozeßpartei die Angaben der amtlichen Sterbeurkunde anzweifelte und durch eidesstattliche Zeugenaussagen zu widerlegen versuchte, drohte den Zeugen, deren Aussage vom Inhalt der amtlichen Sterbeurkunde abwich, zu Unrecht eine Anklage wegen Meineids. 11 3. Auf dem Gebiet der Strafgerichtsbarkeit ergaben sich Schwierigkeiten zunächst mit der Unterbringung von Beschuldigten und Verurteilten nach § 4 2 b RStGB. Ärzte, die als Sachverständige vor Gericht auftraten, zögerten, die verminderte Zurechnungsfähigkeit eines Angeklagten festzustellen, um ihn vor dem Tod in der Anstalt zu bewahren. Die >Euthanasieaktion< blieb auch nicht ohne Einfluß auf die Entscheidungen der Gerichte über die Unterbringung in psychiatrischen Institutionen. 12 Die Staatsanwälte wurden über den Verbleib der nach § 42 b R S t G B in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesenen Untersuchungshäftlinge und Verurteilten im unklaren gelassen. Deshalb wurden Straf- und Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet, obwohl die Beschuldigten schon lange tot waren. Eingeleitete Verfahren konnten nicht abgeschlossen werden, weil Täter oder Zeugen der Aufsicht der Staatsanwaltschaften entzogen wurden. Zum Tode Verurteilte, die auf Grund eines Begnadigungsgesuchs zur psychiatrischen Untersuchung in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen worden waren, waren verschwunden, als die Todesstrafe vollstreckt werden sollte. In der Regel erfuhren die Justizbehörden erst von der Verlegung der gerichtlich Eingewiesenen, wenn nach drei Jahren die Überprüfung anstand, ob der Zweck der Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt erreicht war. Dabei kam die gerichtliche Entscheidung auf Entlassung häufig zu spät. 13 Wie die Vormundschaftsgerichte bestanden die Staatsanwaltschaften keineswegs auf einer gesetzlich vorgeschriebenen Genehmigungspflicht für die Verlegung, sondern forderten lediglich die Mitteilung über Verlegung und Tötung. Die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf regte am 16. Mai 1941 an, sogar auf die Forderung nach Mitteilung der Verlegung zu verzichten, 300

damit deren Häufung bei den bearbeitenden Beamten keinen Verdacht erregte, und nur auf einer Todesanzeige aus der jeweiligen Stammanstalt zu beharren. Die Tötungsanstalten sollten nur in Erscheinung treten, wenn die Stammanstalten nicht benachrichtigt wurden. Freisler, der den Vorschlag mit dem zuständigen Sachreferenten beriet, antwortete am 15. Juli 1941, er lege auch auf die Verlegungsmeldungen Wert, mußte aber zugeben, daß ein Vorstoß in dieser Richtung gescheitert war. Dieses Beispiel zeigt zum einen die Ohnmacht selbst der oberen Justizbehörden, zum anderen verdeutlicht es aber auch die Kooperationsbereitschaft des Justizapparates, der sich bereitfand, zur Tarnung der >Euthanasieaktion< beizutragen, wenn nur die Arbeit der Justiz nicht behindert wurde. 1 4 Eine groteske Situation trat ein, wenn auf Grund des >Heimtückegesetzes< ein Verfahren eröffnet werden sollte, weil jemand die >Euthanasieaktion< in der Öffentlichkeit kritisiert hatte. Da die Anstaltstötungen offiziell dementiert wurden, galten Äußerungen über die >Euthanasieaktion< als mnwahre, das Ansehen der Reichsregierung schädigende< Behauptungen, die durch das >Heimtückegesetz< unter Strafe gestellt wurden. Da man davor zurückschreckte, Kritiker der >Euthanasieaktion< zu Unrecht zu verurteilen, wurden diese Verfahren vom RJM niedergeschlagen. Staatssekretär Schlegelberger beklagte gegenüber Lammers, daß »auf diese Weise gewissenlose Hetzer ihrer gerechten Bestrafung entzogen« 15 würden. Besondere Schwierigkeiten bereiteten den Justizbehörden Anzeigen wegen Mordes, die nicht anonym erfolgten. Der bekannteste Fall dieser Art war der des Bischofs von Münster, v. Galen, der am 27. Juli 1941 bei der Staatsanwaltschaft Münster Anzeige erstattete, nachdem er erfahren hatte, daß eine große Anzahl von Bewohnern der Provinzialheilanstalt Mariental in die Zwischenanstalt Eichberg verlegt werden sollte. Der Bischof bezeichnete diesen Vorgang als Mord gemäß § 211 R S t G B und berief sich bei seiner Anzeige auf § 139 RStGB, der die Unterlassung einer Anzeige bei Verbrechen wider das Leben unter Strafe stellte. Am 3. August 1941 erwähnte v. Galen seine Anzeige in seiner berühmten Euthanasiepredigt in der Lamberti-Kirche zu Münster und fugte hinzu, daß die Staatsanwaltschaft noch nicht eingeschritten sei. Nach § 152 StPO aber war die Staatsanwaltschaft verpflichtet, bei Mord Anklage zu erheben. Dieses Prinzip war allerdings durch Bestimmungen, die nach 1933 eingeführt worden waren, häufig durchbrochen worden. Die Anzeige v. Galens wurde an das RJM weitergeleitet, ohne daß Ermittlungen einsetzten. Bei einer Beratung zwischen Vertretern des RJM, des RFSS, des Reichspropaganda- und des Reichskirchenministeriums am 27. Oktober 1941 wurde erörtert, ob v. Galen des Kanzelmißbrauchs, der Verletzung des >Heimtückegesetzes< oder des Landesverrats angeklagt werden sollte. Aber auch in diesem Fall scheuten die Strafverfolgungsbehörden vor einer Anklageerhebung zurück. 16 Nachdem feststand, daß die Massenmorde hinter Anstaltsmauern von Hitler gedeckt wurden, begann das RJM, der Euthanasiezentraldienststelle 301

zuzuarbeiten, indem es alle Berichte der nachgeordneten Dienststellen und alle Eingaben an die Justizbehörden an die Reichskanzlei weiterleitete. Materialsammlungen des RJM gingen der Reichskanzlei am 24. Juli, 26. August, 25. September, 2. und 10. Oktober 1940 sowie am 4. März 1941 zu, letztere zusammengestellt von Staatssekretär Schlegelberger, der nach dem Tode Gürtners die Amtsgeschäfte übernommen hatte. Dabei betonte Schlegelberger, daß die >Euthanasieaktion< nicht in den Kompetenzbereich der Justizverwaltung falle. 17 In der ersten Aprilhälfte 1941 nahm Schlegelberger Verbindung zu Bouhler auf, legte ihm das am 4. März 1941 der Reichskanzlei zugestellte Material vor, erbat Unterlagen zur >Euthanasie< und vereinbarte, daß die Euthanasiezentrale Gelegenheit erhalten sollte, auf einer besonderen Tagung die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte über die >Euthanasieaktion< zu informieren. Brack sandte am 18. April 1941 eine Mappe mit Unterlagen über die >Euthanasieaktion< an Schlegelberger. Am 22. April 1941 folgte ein Schreiben, in dem das Verhalten einzelner untergeordneter Justizbehörden scharf verurteilt wurde. Im September 1941 wurden diese Kritikpunkte in einer Besprechung zwischen Vertretern des RJM und dem stellvertretenden Leiter der Euthanasiezentraldienststelle, Blankenburg, ausgeräumt und unter Vorbehalt vereinbart, daß die Justizbehörden fortab über den Tod verlegter Anstaltsinsassen unterrichtet werden sollten. Die Kanzlei des Führers nahm das Angebot Freislers im Juni 1941, ihr die Lageberichte der Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte zur Verfügung zu stellen, sofort an, bot es doch die Möglichkeit, Pannen bei der Tarnung der >Euthanasieaktion< abzustellen. Vor diesem Hintergrund betrachtet bleibt festzuhalten, daß die zahlreichen, durch Detailinformationen fundierten Protestschreiben, die von kirchlicher Seite beim RJM eingingen, so gut sie auch gemeint waren, nicht nur völlig ohne Wirkung blieben, sondern sogar ungewollt zur Perfektionierung der >Euthanasieaktion< beitrugen. 1 8 U m die >Euthanasieaktion< vollends aus den bürokratischen Strukturen des Normenstaates herauszulösen, war eine Unterrichtung der nachgeordneten Dienststellen notwendig. Dem stand entgegen, daß die >Euthanasie< als geheime Reichssache fungierte. Aus vielen Berichten der untergeordneten Justizbehörden sprachen Ahnungslosigkeit und Ratlosigkeit. Ab August 1940 scheint das RJM diejenigen Generalstaatsanwälte aufgeklärt zu haben, die in konkreten Fällen um Anweisungen nachgesucht hatten. Daß im August 1940 alle Generalstaatsanwälte, in deren Einzugsgebiet Tötungsanstalten lagen, eingeweiht wurden, wie in einem Schreiben der Kanzlei des Führers behauptet wurde, erscheint hingegen als unwahrscheinlich, da die zuständigen Sachbearbeiter im RJM keine Unterlagen über diesen Vorgang auffinden konnten. Zu den wenigen nachgeordneten Justizbeamten, die informiert wurden, gehörte u. a. Generalstaatsanwalt Meißner, der am 8. November 1940 aufgeklärt wurde. Noch im September 1940 scheinen selbst die Sachbearbeiter im RJM noch nicht durchgängig unterrichtet wor302

den zu sein, denn noch in Aktenvermerken vom Oktober 1940 war von persönlichen Wahrnehmungen im Zusammenhang mit der >Euthanasieaktion< die Rede, die von der Unkenntnis über die wahren Zusammenhänge zeugen. Wahrscheinlich wurden die zuständigen Sachbearbeiter erst Ende November 1940 eingeweiht. 19 Zu einer umfassenden Aufklärung auch auf unterer Ebene entschloß sich Schlegelberger im April 1941. Am 17. April 1941 verschickte er einen Runderlaß an die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte, in dem er zu einer Tagung am 23./24. April nach Berlin einlud, bei der »Vorträge über eine für die Justiz besonders wichtige Frage« 20 auf dem Programm standen. An dieser Tagung nahmen außer den Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälten die Präsidenten des Reichsgerichts, des Landeserbhofgerichts und des Reichspatentamtes sowie Staatssekretär Freisler und andere Beamte des RJM teil. Schlegelberger eröffnete die Tagung mit einer Grundsatzrede, in der er die fortschreitende Einordnung der Justiz in das Gefuge des >Dritten Reiches< forderte. Als Gastredner trat zunächst Brack auf, der eine Kopie des Ermächtigungsschreibens Hitlers herumreichen ließ, den Entwurf zum Gesetz über die Sterbehilfe bei unheilbar Kranken verlas und die >Euthanasieaktion< als Vorermittlung in Hinblick auf das künftige Gesetz kennzeichnete, weshalb eine Mitarbeit staatlicher Behörden unerwünscht sei. Es folgte eine Beschreibung der Organisationsstruktur des Euthanasieapparates. Hey de erläuterte ergänzend die medizinischen Aspekte der >EuthanasieEuthanasie< betreffenden Angelegenheiten zu Vortragssachen bei den Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälten. Die Generalstaatsanwälte wurden angewiesen, alle Anzeigen und Eingaben unbearbeitet an das RJM weiterzugeben. Die Oberlandesgerichtspräsidenten sollten die Landesgerichtspräsidenten mündlich einweisen. Eine Anregung des Oberlandesgerichtspräsidenten Köln eine Woche nach der Berliner Tagung, auch die Vorstände der Amtsgerichte zu informieren, wurde von Freisler abgelehnt. Am 1. November 1941 teilte der Oberlandesgerichtspräsident Düsseldorf dem RJM einfach mit, er habe nunmehr alle Richter seines Amtsbereichs unterrichten lassen. Wie ein anonymes Schreiben, das am 17. Oktober 1941 beim Generalstaatsanwalt Köln einging, belegt, war der Inhalt der Berliner Tagung auch an die Öffentlichkeit gedrungen. 21 Zwar haben die Friktionen im Justizapparat, die durch die »Euthanasieaktion< verursacht wurden, als einer der - weniger gewichtigen - Gründe dafür zu gelten, daß Hitler die Einstellung der >Aktion T4< verfugte, allerdings nur, um die Vernichtung in größerem Maßstab in Absterbeanstalten und Vernichtungslagern, vornehmlich in den besetzten Ostgebieten, wo ein Rechtsvakuum bestand, Wiederaufleben zu lassen. Daß die Justiz zeitweilig hemmend auf die Maßnahmen zur >Vernichtung lebensunwerten Lebens< 303

einwirkte, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie die ihr als kriminelle Geisteskranke unterstehenden Anstaltsinsassen zunächst der >Euthanasieaktion< überließ, später der >Vernichtung durch Arbeit< überantwortete. U m sich gegenüber den außernormativen Machtzentren behaupten zu können, zog sich der Justizapparat aus den Randbereichen der Gesellschaft, aus den Heil- und Pflegeanstalten, den Zucht- und Arbeitshäusern, den Alters- und Fürsorgeheimen, den Konzentrations- und Vernichtungslagern zurück und beschränkte sich auf die Hälfte des Rechtsstaates, die das nationalsozialistische Regime nicht antastete: die Aufrechterhaltung der Rechtssicherheit im kapitalistischen Produktionsprozeß. U m die rechtsfreien Räume, in denen sich die Vernichtung randständiger Minderheiten abspielte, zu ummanteln, war die Justiz sogar bereit, zur Tarnung ungesetzlicher Maßnahmen beizutragen. Indem er sich gegen den Einbruch des Maßnahmenstaates abschottete, zerstörte der Normenstaat sich selbst.

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XIII. >Euthanasie< und Ethik: Die Kirchen zwischen Anpassung und Widerstand

Í. Die Haltung der Kirchen zur nationalsozialistischen Sterilisierungsgesetzgebung In der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) - gerade auch in der IM - war seit dem Ende der 1920er Jahre das Bestreben spürbar, sich in die rassenhygienische Reformbewegung einzugliedern. Vor allem ging es darum, die Wohlfahrtspflege der evangelischen Kirche nach eugenischen Prinzipien umzugestalten. Hans Harmsen, der Geschäftsführer des Gesamtverbandes der deutschen evangelischen Kranken- und Pflegeanstalten und Schriftleiter der evangelischen Fachzeitschrift »Gesundheitsfürsorge«, forderte bereits im Januar 1931 die Berücksichtigung der Vererbungswissenschaft in der kirchlichen Fürsorge, d. h. die Einschränkung der Wanderer-, Alters- und Krankenfursorge bei gleichzeitigem Ausbau der Kinder- und Müttererholungsfursorge und der Siedlungsbewegung sowie die Ausschließung erblich Belasteter von der Fortpflanzung durch Asylierung und Sterilisierung. 1 Die Evangelische Fachkonferenz für Eugenik, die vom CA für die IM auf Initiative Harmsens am 31. Januar 1931 ins Leben gerufen worden war, sprach sich anläßlich ihrer ersten Sitzung, die vom 18. bis 20. Mai 1931 in Treysa stattfand, 2 für eine an Harmsens Konzeption angelehnte »differenzierte Fürsorge« aus: »Erhebliche Aufwendungen sollten nur für solche Gruppen Fürsorgebedürftiger gemacht werden, die voraussichtlich ihre volle Leistungsfähigkeit wieder erlangen. Für alle übrigen sind dagegen die wohlfahrtspflegerischen Leistungen auf menschenwürdige Versorgung und Bewahrung zu begrenzen. «3 Die Schwerpunktverlagerung der Wohlfahrtspflege war nicht zuletzt durch erhebliche Mittelkürzungen im Fürsorgebereich bedingt, 4 die im >Dritten Reich< planmäßig fortgesetzt wurden. 5 Nach der >Machtergreifung< geriet die kirchliche Wohlfahrtspflege zusätzlich unter den Konkurrenzdruck der NSV, der sie zwang, die Fürsorgeleistungen nach dem Rentabilitätsprinzip zu verteilen. Die Forderung nach >Ganzheitsfursorge< konnte sich auf ein - beispielsweise von Bernhard Bavink vertretenes - theologisches Konzept berufen, demzufolge die >Volksgemeinschaft< eine göttliche Schöpfung höherer Ordnung war. 6 Dieser theologisch legitimierte Volksgemeinschaftsgedanke, der eine gefährliche Nähe zu völkischen Ideen aufwies, entsprang der konservativen Kritik an dem durch die 305

Industrialisierung ausgelösten sozioökonomischen, -politischen und "kulturellen Modernisierungsprozeß. Aus dem Ressentiment gegen Sozialismus, Demokratie, Liberalismus, >Schundliteraturentartete Kunst< und moralische Dekadenz, als deren Inbegriff die Weimarer Republik galt, erwuchsen reaktionäre Ordnungsvorstellungen, die sich leicht in eugenische Programme umgießen ließen. Nach der >Machtergreifung< glaubte die evangelische Kirche, insbesondere die IM, an eine Interessenkonformität mit dem nationalsozialistischen Regime auf dem eugenischen Sektor. Die unter dem Schlagwort > Wille zum Kind* erhobene Forderung nach einer Steigerung der Geburtenrate, die Förderung kinderreicher Familien, eugenische Eheberatung und Erziehung, aber auch die rassenhygienisch indizierte Sterilisierung und die Asylierung der > Asozialen* in Konzentrationslagern 7 - das rassenhygienische Programm des Nationalsozialismus war weitgehend im Sinne der evangelischen Kirche. Wo die rassenhygienische Politik des nationalsozialistischen Regimes über die eugenischen Konzeptionen der evangelischen Kirche hinausgingen, verhielt sie sich passiv, da das aus der Verbindung von Thron und Altar hervorgegangene Staatsverständnis Loyalität gegenüber dem gottgewollten Obrigkeitsstaat verlangte. Von daher erklärt es sich, daß das GzVeN von Seiten der IM ausdrücklich begrüßt wurde, obwohl sie zuvor auf die Freiwilligkeit des Eingriffs Wert gelegt hatte. Harmsen wollte zwar den Zwang nur bei schwer Geisteskranken angewandt wissen, die zu einer freien Willensentscheidung nicht mehr in der Lage waren, verwarf die zwangsweise Unfruchtbarmachung jedoch nicht grundsätzlich. 8 Zustimmung kam nicht nur von der Glaubensbewegung Deutsche Christen (GDC), die schon auf ihrer Gründungsversammlung im Mai 1932 in den >Hossenfelderschen Richtlinien* den »Schutz des Volkes vor den Untüchtigen und Minderwertigen« 9 verlangt hatte, sondern auch aus den Kreisen der Bekennenden Kirche (BK). So erkannte die Westfälische Provinzialsynode, in der die Bekenntniskräfte eindeutig überwogen, in ihrer Sitzung am 15. Dezember 1933 das GzVeN ausdrücklich an. Eine wertende Stellungnahme wurde sorgfältig vermieden - unterschwellig verstand man die Unfruchtbarmachung, in bedenklicher Auslegung der ZweiReiche-Lehre, als »Handhabung des Schwerts« 1 0 -, während die seelsorgerischen Aufgaben, die sich aus dem Gesetz ergaben (Tröstung der verstümmelten Opfer, seelsorgerische Beratung vor Eheschließungen) im Mittelpunkt der Erörterung standen. Die Gefahr einer steigenden Selbstmordrate wurde kritiklos in das seelsorgerische Kalkül einbezogen. Empörend ist, daß als größte Gefahr des Gesetzes die drohende »geschlechtliche Zügellosigkeit« 11 der unfruchtbar gemachten Menschen angesehen wurde. F. W. Schmidt, Ordinarius für Systematische Theologie in Münster, war sogar schon vor der Veröffentlichung des GzVeN öffentlich für die zwangsweise Unfruchtbarmachung eingetreten. In einem Vortrag an der Universität Münster in der Reihe »Sterilisation und Euthanasie« legte Schmidt am 24. Juli 1933 den »Standpunkt der evangelischen Kirche« 1 2 dar, verteidigte 306

nachdrücklich den Zwangscharakter der Sterilisierung aus rassenhygienischer Indikation, weil sich die Erbkranken ihrer Verantwortung nicht bewußt seien, und regte die Sterilisierung von »Milieugeschädigten« 13 sowie die Abtreibung aus eugenischer Indikation an. H. Wichern, der Leitende Arzt am Städtischen Krankenhaus Bielefeld und Mitglied des westfälischen Bruderrates der BK, verfaßte im Jahre 1934 eine betont antidemokratische und antikommunistische Schrift unter dem Titel »Erbkrankheit und Weltanschauung«, in der er die »haltlose, triebhafte Masse der Straße«, die sich zu »bolschewistischen Bewegungen« zusammenrotte, als von »erblich schwer Belasteten« durchsetzt beschrieb. Deshalb verlangte er in polemischer Wendung gegen den katholischen Standpunkt die Mitarbeit der evangelischen Kirche bei der Durchführung des GzVeN und forderte alle evangelischen Christen auf, von ihrem Recht auf Zeugnisverweigerung vor den Erbgesundheitsgerichten keinen Gebrauch zu machen, um »Gottes Acker von diesem Unkraut zu säubern«. 14 Der CA für die IM sah keinen Hinderungsgrund, den ihm angeschlossenen Anstalten und Verbänden die Mitarbeit an der Durchführung des GzVeN zu gestatten. Im Dezember 1933 richtete er eine Auskunftsstelle ein, die eine einheitliche Meinungsbildung zu dem Gesetz gewährleisten sollte. Ihr Leiter Harmsen war eng mit dem RMdl verbunden, so daß im Runderlaß des preußischen Innenministeriums vom 13. März 1934 auch zahlreiche evangelische Anstalten - u. a. die v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel - zur Unfruchtbarmachung ermächtigt wurden. Im Jahre 1934 wurden in evangelischen Anstalten 2399, im ersten Halbjahr 1935 bereits 3140 Sterilisierungen vorgenommen. In Bethel wurden bis Ende 1935 insgesamt 2675 Anzeigen erstattet, 600 Anträge auf Unfruchtbarmachung gestellt und 460 Patienten sterilisiert. 15 Die der IM unterstehende Anstalt Hephata bei Treysa, die von Pfarrer Happich geleitet wurde, erhielt vom Regierungspräsidenten Kassel sogar einen Verweis, weil sie unberechtigt Unfruchtbarmachungen durchgeführt hatte. 16 Nach der Veröffentlichung des offiziellen Kommentars zum GzVeN gab der Ständige Ausschuß für Fragen der Rassenhygiene und Rassenpflege am 13. Juli 1934 eine Empfehlung heraus, in der alle Stellen der IM aufgefordert wurden, bei der Durchführung des Gesetzes mitzuwirken, Sammelanzeigen zu erstatten, durch Vordrucke den antragstellenden Amtsärzten die Arbeit zu erleichtern (von der Antragstellung selbst wurde abgeraten, um das Vertrauen der Kranken zur Anstaltsleitung nicht zu erschüttern), freiwillige Unfruchtbarmachung selbst durchzuführen und Patienten, denen eine zwangsweise Unfruchtbarmachung drohte, kurzerhand in öffentliche Anstalten abzuschieben. Auch mit der rassenhygienisch indizierten Zwangssterilisierung Taubstummer, die man von Seiten der IM zunächst hatte ausnehmen wollen, fand man sich schließlich ab. In der Frage der Abtreibung aus eugenischer Indikation nahm die IM auf Grund der Beschlüsse der ersten Treysaer Fachkonferenz eine ablehnende Haltung ein; nach der Veröffentlichung des Ersten Änderungsgesetzes zum 307

GzVeN konnte sich der CA aber nicht zu einer öffentlichen Ablehnung entschließen, sondern beschränkte sich darauf, auf vertraulichem Wege beim RMdl vorstellig zu werden. Schwangerschaftsunterbrechung und zwangsweise Unfruchtbarmachung durften zwar in evangelischen Anstalten nicht durchgeführt werden, der Reichskirchenausschuß empfahl aber noch im Jahre 1936 allen Pfarrern, die Gesundheitsämter nach Kräften durch Auskünfte über Gemeindeglieder, gegen die ein Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht eröffnet werden sollte, zu unterstützen und - wo das Beichtgeheimnis dem im Wege stand - auf die Betroffenen selbst einzuwirken, sich freiwillig zu melden. In rassenhygienischen Schulungskursen appellierte man unter Berufung auf das Neue Testament an die Opferbereitschaft der Erbkranken. 1 7 Die seelsorgerische Beratung durch evangelische Geistliche und Fürsorger war wohl häufig eher Überredung als Beistand. Eine Fürsorgerin empfahl, die Sterilisanden auf ihre Einspruchsmöglichkeit hinzuweisen, allerdings nicht, weil ein Einspruch Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, sondern um den Sterilisanden den Eindruck zu vermitteln, vom Staat ernst genommen zu werden, damit sie die Sterilisierung um so williger ertrugen. 18 Auch die katholische Kirche stand eugenischen Fragestellungen grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Bereits im Jahre 1917 erschien von katholischer Seite ein Sammelband mit dem Titel »Des deutschen Volkes Wille zum Leben«, 1 9 der trotz seines martialischen Titels ein Programm positiver Eugenik und Euthenik enthielt, in dem das Instrumentarium negativer Eugenik so gut wie keine Rolle spielte. Die rassenhygienisch indizierte Sterilisierung wurde in der katholischen Kirche weitgehend abgelehnt, weil man eine Verselbständigung der Erbpflege und eine Herabwürdigung des Menschen zum Züchtungsmaterial befürchtete. Selbst Befürworter der rassenhygienisch indizierten Sterilisierung in den Reihen der katholischen Kirche wie Muckermann und Mayer 2 0 vertraten die Ansicht, daß die erbpflegerisch angezeigte Unfruchtbarmachung in ein umfassendes Programm positiver Eugenik eingebettet werden sollte. Ihrem Standpunkt wurde durch die Enzyklika Casti Conubii vom 13. Dezember 1930, die dem Staat das Recht zur rassenhygienischen Sterilisierung absprach, 21 der Boden entzogen. Muckermann versuchte, die klare Stellungnahme des Heiligen Stuhls abzuschwächen, und trat für die freiwillige Unfruchtbarmachung ein. Seine öffentliche Kritik am GzVeN brachte ihm im Jahre 1935 ein Redeverbot ein, nachdem er bereits im Jahre 1933 seines Postens als Leiter der eugenischen Abteilung des KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik enthoben worden war. 2 2 Als die Kurie von den Beratungen über den Entwurf des GzVeN erfuhr, erschien im »Osservatore Romano« vom 12./ 13. Mai 1933 ein kritischer Artikel. Die Fuldaer Bischofskonferenz vom 30. Mai/1. Juni 1933 verwarf ostentativ den Entwurf des Ausschusses für Bevölkerungswesen und Eugenik des Preußischen Landesgesundheitsrates. Trotz dieser Warnungen von Seiten der katholischen Kirche, die von Vize308

kanzler v. Papen aufgegriffen wurden, erfolgte die Annahme des Gesetzes in derselben Kabinettssitzung, in der auch das Reichskonkordat gebilligt wurde - mit Rücksicht auf die katholische Kirche wartete man allerdings mit der Veröffentlichung bis zum 25.Juli 1933. Der »Osservatore Romano« antwortete mit vehementer Kritik. Am 12. September 1933 übersandte der Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz, Kardinal Bertram, ein M e m o randum des deutschen Episkopats, das darauf angelegt war, katholische Ärzte, Anstaltsleiter, Schwestern und Richter von der Sterilisierungspraxis auszunehmen, an Reichsinnenminister Frick. Am 3. November 1933 traten Erzbischof C. Gröber (Freiburg) und Bischof W. Berning (Osnabrück) als Beauftragte des deutschen Episkopats in Verhandlungen mit dem RMdl ein. Sie erreichten, daß katholische Anstaltsleiter von der Antrags-, nicht aber von der Anzeigepflicht entbunden wurden und daß die katholische Kirche die Zusicherung erhielt, ihren Gemeinden gegenüber ungehindert ihren Standpunkt erläutern zu dürfen, während in den Monaten zuvor die bischöflichen Verlautbarungen zum GzVeN unterdrückt worden waren. Bertram ordnete daraufhin einen Hirtenbrief an, in dem zu dem Gesetz Stellung bezogen werden sollte. Da Gröber und v. Papen Bedenken anmeldeten, wählte man aber dann statt des Hirtenbriefs die Form der Kanzelabkündigung. Am 6. Januar 1934 wurde von den Kanzeln herab erklärt, daß die Sterilisierung mit der Lehrmeinung der katholischen Kirche unvereinbar sei. Schärfer war der Hirtenbrief Bischofs v. Galen vom 29. Januar 1934 gehalten, der eindeutig auf die nationalsozialistische Sterilisierungsgesetzgebung Bezug nahm. Frick protestierte im Frühjahr 1934 beim deutschen Episkopat und beim Heiligen Stuhl. Am 20. Januar 1934 fand eine Unterredung zwischen Gröber, Weihbischof Dr. Burger, Generalvikar Dr. Rösch und Hitler statt, bei der die Sonderregelungen für die katholische Kirche bestätigt, aber auch von seiten der katholischen Kirche Zugeständnisse eingeräumt wurden, z. B. die Zusicherung, sich der Meldepflicht nicht mehr zu widersetzen und einige mißliebige Priester zu versetzen. Im RMdl waren jedoch gleichzeitig Bestrebungen im Gange, die Kanzelabkündigung vom 6. Januar 1934 als Widerstand gegen die Staatsgewalt oder Verletzung des >Heimtückegesetzes< strafrechtlich verfolgen zu lassen. Vereinzelt kam es auch in den folgenden Jahren zur Anklageerhebung, z.B. gegen den Benediktinerpater Deininger (Beuron), der in einer Broschüre die katholische Lehrmeinung zur Sterilisierung verbreitet hatte, oder gegen den Vorsteher und die Oberin des Duisburger Waisenhauses, die sich geweigert hatten, einen Zögling auszuliefern, der sterilisiert werden sollte. Spätestens im Jahre 1935 stellte die katholische Kirche ihre Verhandlungen mit der nationalsozialistischen Regierung ein. In den folgenden Jahren versuchte sie, Konflikte mit dem nationalsozialistischen Regime nach Möglichkeit zu vermeiden. Dahinter stand zum einen die Befürchtung, Auseinandersetzungen um das GzVeN könnten das Reichskonkordat gefährden, zum anderen die Sorge, daß eine völlige Verweigerung der katholischen Kirche in der Frage der rassenhygie309

nischen Sterilisierungen zu einer Verdrängung der katholischen Einrichtungen auf dem Gebiet des Gesundheits- und Fürsorgewesens fuhren könne. Deshalb wurde die Sterilisierungsproblematik in den Hirtenbriefen fortab ausgespart. Dafür versuchte man, durch Bittschriften an die Reichsregierung Ausnahmeregelungen für katholische Ärzte und Richter zu erreichen. Die Kritik der katholischen Kirche an der rassenhygienischen Sterilisierung wurde zwar nur von den beiden - deswegen suspendierten - Theologen H. Barion und C. Eschweiler von der Universität Braunsberg durchbrochen, die die nationalsozialistische Sterilisierungsgesetzgebung befürworteten, doch war der Widerstand gegen die Unfruchtbarmachung keineswegs konsequent. So konnte Bertram seine Auffassung, die Beichtväter müßten katholischen Staatsbeamten das Stellen von Sterilisierungsanträgen strikt verbieten, nicht durchsetzen. Eine Vereinheitlichung des Verhaltens der Beichtväter konnte nicht erreicht werden. Auch die Auffassung, die Anzeigeerstattung sei erlaubt, weil sie keine Mitwirkung an der Unfruchtbarmachung darstellte, ließ Entschiedenheit im Urteil vermissen. Das Z u rückweichen der katholischen Kirche erweckte manchmal den Anschein, als sei sie in der Frage der Unfruchtbarmachung selber uneinig. Vor allem die schließlich doch noch erteilte Erlaubnis für die katholischen Ordensschwestern, an Unfruchtbarmachungen teilzunehmen, weichte die ablehnende Haltung der katholischen Kirche auf. Die Plenàrkonferenz der deutschen Bischöfe hatte zunächst am 6. Juni 1934 in Fulda beschlossen, jede Mitwirkung von Ordensleuten und -schwestern bei der Operation zu untersagen. Dadurch wurde die Arbeit der öffentlichen Krankenhäuser teilweise erheblich behindert. Da man aber eine Entlassung der Ordensleute und -schwestern aus den staatlichen Anstalten befürchtete, erließ das Heilige Offizium am 24. Juli 1940 die Regelung, daß katholische Krankenschwestern bei Vorliegen schwerwiegender Gründe doch an Unfruchtbarmachungen teilnehmen durften. Ein solcher Grund war aber schon gegeben, wenn die Schwester durch eine andere ersetzt zu werden drohte, die vielleicht Sterbenden die Sakramente vorenthalten würde. 2 3 Im Vorfeld der Vernichtung, als es galt, gegen die nationalsozialistische Sterilisierungsgesetzgebung zu opponieren, versagten die Kirchen, die evangelische Kirche, weil sie - auf Grund der Diffusion des rassenhygienischen Paradigmas in das Fürsorgekonzept der evangelischen Wohlfahrtspflege - am nationalsozialistischen Sterilisierungsprogramm mitwirkte, die katholische Kirche, weil sie sich, um ihre Eigeninteressen zu wahren, nicht entschieden genug der Sterilisierungsgesetzgebung widersetzte. Zu Beginn des >Dritten Reiches< hätten sich gerade der evangelischen Kirche Möglichkeiten geboten, Einfluß auf die Gesetzgebung der Koalitionsregierung auszuüben. Denn auf Grund der staatskirchlichen Tradition in Preußen bestanden enge Verbindungen zwischen der evangelischen Kirche und den konservativen Eliten der Bürokratie und des Militärs, nicht zuletzt auch zum Reichspräsidenten. Zudem mußte der Nationalsozialismus in den Anfangs310

jähren des >Dritten Reiches< Rücksicht auf seine protestantische Anhängerschaft nehmen. Außerdem scheute der charismatische Führer die Opposition einer breiten Glaubensbewegung. Von daher erklärt sich auch, daß Hitler von umfassenden Verfolgungsmaßnahmen gegen die Kirchen absah. Hier hätten sich Ansatzpunkte zur Opposition gegen die Sterilisierungsgesetzgebung geboten, die aus traditioneller Loyalität gegenüber dem Obrigkeitsstaat, aus opportunistischem Kalkül und aus eugenischem Enthusiasmus ungenutzt blieben. Die Kompromißbereitschaft der Kirchen in den Konflikten um die Sterilisierungsgesetzgebung führte in der Vorbereitungsphase der »Euthanasieaktion< sogar zu einer zumindest teilweise falschen Beurteilung des kirchlichen Standpunktes zum Euthanasieproblem durch die Euthanasieplaner. Der SD-Gruppenleiter A. Hartl, ein geweihter Priester, der seit 1935 im SDHauptamt tätig war, wurde durch Vermittlung Heydrichs von Brack beauftragt, ein Gutachten über die Haltung der katholischen Kirche zum Euthanasieproblem einzuholen. Hartl wandte sich an den Paderborner Moraltheolog e n j . Mayer, der sich bereits 1927 fiir die rassenhygienisch indizierte Sterilisierung eingesetzt hatte. Mayer verwies zwar darauf, daß die Mehrzahl der katholischen Theologen die >Euthanasie< ablehne, hielt aber die katholische Lehrmeinung fur so flexibel, daß im Falle einer >Euthanasieaktion< keine geschlossene Abwehrfront zu erwarten sei. Nach Aussage Hartls soll sich Hitler erst, »nachdem das Gutachten ergeben habe, daß in dieser Frage noch keine unfehlbare und apodiktische Entscheidung der Kirche vorliege«, 24 endgültig auf das Euthanasieprogramm festgelegt haben. Das Gutachten Mayers gab jedoch die Haltung der katholischen Kirche in der Frage der >Vernichtung lebensunwerten LebensGut ist, was dem Volke dient«... Könnte nicht ein Fanatiker auf den Wahn kommen, Mord und Meineid dienten dem Wohl des Volkes und seien daher >gut