R-Commerce: Wie die digitalen Champions von morgen mit neuen Datenstrategien echte Kundenbeziehungen aufbauen 3658420537, 9783658420536, 9783658420543

Dieses Buch definiert "R-Commerce" - die nächste Evolutionsstufe im E-Commerce. "R-Commerce" steht f

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R-Commerce: Wie die digitalen Champions von morgen mit neuen Datenstrategien echte Kundenbeziehungen aufbauen
 3658420537, 9783658420536, 9783658420543

Table of contents :
Vorwort
Stimmen zum Buch
Inhaltsverzeichnis
Über die Autoren
1 Auf die Beziehung kommt es an: Aus „E-Commerce“ wird „R-Commerce“
1.1 Das Ende der Kundenansprache, wie wir sie kennen
1.2 Doppelter Paradigmenwechsel: Datenknappheit und Kundenzentrierung
1.3 Eine neue Business-Philosophie entsteht
1.4 Bedienungsanleitung: Das Wichtigste über dieses Buch
Literatur
2 Zeitreise: Vom anonymen zum gläsernen Kunden und wieder zurück
2.1 20. Jahrhundert: Die Erfindung der Zielgruppe 
2.2 Jahrtausendwechsel: Die Kund:innen werden gläsern – Cookieseidank 
2.3 Social Media und Mobile bringen Komplexität
2.4 2020: Die Cookiecalypse – zurück zur Gießkanne? 
2.5 Heute: Marketing-Handwerk wird zur Beziehungsarbeit 
Literatur
3 Menschen und ihre Entscheidungen verstehen
3.1 Das Ende der Third Party Cookies – ein Sieg der Emanzipation
3.2 Behavioral Economics – der verkannte Schlüssel für das Verständnis des digitalen Kundenverhaltens
3.2.1 Eine kurze Einführung in den menschlichen Entscheidungsprozess
3.2.2 Grundlegende Strategien für effektive Entscheidungsarchitekturen
3.3 Partner:innen in einer freundschaftlichen Beziehung
3.3.1 Die neue Architektur des Vertrauens
3.3.2 Die Bedeutung von Marken
3.3.3 Geben und Nehmen – das Erfolgsprinzip funktionierender Beziehungen
Literatur
4 Neue rechtliche und technische Rahmenbedingungen – Impulse für eine echte Beziehung
4.1 Die DSGVO schafft neue Grundlagen für datenbestimmtes Marketing
4.1.1 Ziele der DSGVO
4.1.2 Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten (Art. 5)
4.1.3 Verfolgung von Verstößen: Die Bußgelder werden empfindlicher
4.2 Weiterentwicklung im Datenschutz: Das TTDSG
4.3 Cookie Consent: spürbare Konsequenz der DSGVO
4.3.1 „Weiche“ Auslegung der DSGVO
4.3.2 „Harte“ Auslegung der DSGVO
4.3.3 Gestaltung eines rechtssicheren und effektiven Cookie Consent-Layers
4.4 Veränderte technologische Rahmenbedingungen – Die Post-Cookie-Ära
Literatur
5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung
5.1 Big Picture: Was ist R-Commerce und warum brauchen wir es?
5.2 Die fünf Leitprinzipien: Was macht die neue Ära der Kundenbeziehung aus? 
5.2.1 Privacy First
5.2.2 Echte Kundenzentrierung
5.2.3 Datenbasiertes Handeln
5.2.4 Moment-getriebener Dialog
5.2.5 Nachhaltigkeit
5.3 Die R-Commerce-Ökonomie: Was R-Commerce den Unternehmen bringt 
5.3.1 Nicht-ökonomische Effekte
5.3.2 Vor-ökonomische Effekte
5.3.3 Ökonomische Effekte
5.4 Voraussetzungen: Was brauchen Unternehmen für R-Commerce?
5.4.1 Skalierbare Technologie
5.4.2 Echtzeit-Daten
5.4.3 Datenzentrierte Organisation
Literatur
6 Der R-Commerce-Fahrplan: Wege zur datengetriebenen Kundenzentrierung
6.1 Technologien als Enabler der Kundenbeziehung
6.1.1 Die technologische Revolution
6.1.2 Kernfunktionalitäten einer CDP
6.2 Das neue Datenmanagement
6.2.1 Daten gewinnen
6.2.2 Datenstrategien entwickeln
6.2.3 Datenaktivierung im R-Commerce
6.2.4 Case Study: Kundenzentrierte Online-Modeberatung
6.3 Die beziehungsorientierte Organisation
6.3.1 Status Quo: Marketing- und Vertriebsorganisationen heute
6.3.2 Kultur & Mindset
6.3.3 Rollen & Aufgaben
Literatur
7 Fazit: Paradigmen des R-Commerce
Glossar
Stichwortverzeichnis

Citation preview

Joachim Stalph · Philipp Spreer · Dimitrios Haratsis

R-Commerce Wie die digitalen Champions von morgen mit neuen Datenstrategien echte Kundenbeziehungen aufbauen

R-Commerce

Joachim Stalph · Philipp Spreer · Dimitrios Haratsis

R-Commerce Wie die digitalen Champions von morgen mit neuen Datenstrategien echte Kundenbeziehungen aufbauen

Joachim Stalph elaboratum GmbH Köln, Deutschland

Philipp Spreer elaboratum GmbH Hamburg, Deutschland

Dimitrios Haratsis Berlin, Deutschland

ISBN 978-3-658-42053-6 ISBN 978-3-658-42054-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-42054-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Grafiken: Manuela Unterbuchner, elaboratum Planung/Lektorat: Rolf-Guenther Hobbeling Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

R-Commerce steht für „Relationship-Commerce“ und bezeichnet eine neue Ära der digitalen Kundenansprache. Statt des Abverkaufs (als charakteristisches Merkmal des „ECommerce“) stehen bei R-Commerce Menschen und ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt. Was zunächst verdächtig nach der altbekannten Kundenzentrierung klingt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als eine grundlegende Veränderung fast aller kundengerichteter Business-Prozesse – ob im Online-Handel, den Finanzdienstleistungen, der Telekommunikation oder anderen Branchen. Ohne sich tiefgreifend mit den echten Bedürfnissen von Kund:innen1 auseinanderzusetzen, wird unter den neuen Rahmenbedingungen kein digitaler Erfolg mehr möglich sein. Wert-Schätzung und Wert-Schöpfung waren nie enger verzahnt. Strengere gesetzliche Rahmenbedingungen und ein verändertes Kundenverhalten machen R-Commerce nötig, neue technologische Entwicklungen machen R-Commerce möglich. Dieses Buch erläutert, warum wir am Beginn einer neuen Marketing- und Vertriebsära stehen. Diese ist durch die Rückgewinnung der Datenhoheit, der EchtzeitVerfügbarkeit von Informationen, skalierbare Technologien und die stringente Ausrichtung aller Kontaktpunkte an realen Kundenbedürfnissen gekennzeichnet. So eine Veränderung ist tiefgreifend; ihre Implementierung ein intensiver und langfristiger Prozess. R-Commerce beschreibt praxisnah und gleichzeitig strategisch, wie sich Werbetreibende und Digital-Unternehmen nun aufstellen müssen, wenn es um DSGVO, CookielessTracking, First Party Datenstrategie, Customer Data Platforms, Kanal-Orchestrierung und bedürfniszentrierte Customer Journeys in Echtzeit geht. All diese Themen werden auf strategisch-konzeptioneller Flughöhe beleuchtet und in Beziehung gesetzt. R-Commerce ist ein Buch über Daten und Technologie – angereichert mit Verhaltenspsychologie und 1 Hinweis zur geschlechtergerechten Sprache: Wir bemühen uns in diesem Buch um die Gleich-

behandlung aller Geschlechter. Daher nutzen wir Begriffe in der männlichen und weiblichen Form (z.B. „Kund:innen“). Bei zusammengesetzten Wörtern verwenden wir zur besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum (z.B. „Kundenbeziehung“ statt „Kund:innenbeziehung“). Selbstverständlich sind in allen Fällen stets alle Geschlechter gleichermaßen gemeint. Wo es etablierte geschlechtsneutrale englische Begriffe gibt, nutzen wir sie (z.B. „User“ statt „Nutzer:innen“). V

VI

Vorwort

Behavioral Economics, um auch bei akutem Datenmangel die Bedürfnisse von Menschen zu verstehen. Erstmals werden Data Science, digitales Marketing und User Experience ganzheitlich betrachtet – ein Leitfaden für das Digital Business dieses Jahrzehnts. So verschiedene Disziplinen zu einem stimmigen Gesamtbild zu vereinen kann nur gelingen, wenn Experten aus jedem Fachgebiet beteiligt sind. Mit diesem Anspruch sind wir als Autoren zusammengekommen: Joachim Stalph ist Datenstratege und hat für viele große und kleine Unternehmen den Weg zu einem zentralen Pool aller Kundendaten geebnet. Dimitrios Haratsis ist Marketing-Technologe der ersten Stunde und steht für skalierbare Systeme, die den Traum der Echtzeitpersonalisierung Wirklichkeit werden lassen. Dr. Philipp Spreer ist Verhaltenswissenschaftler und Behavioral Designer, der versteht, wie Kund:innen datenbasiert und bedürfnisorientiert angesprochen werden müssen. In dieses Buch sind unsere Erfahrungswerte aus vielen Beratungs- und Implementierungsprojekten eingeflossen. Sie alle optimierten die Kundenansprache an der Schnittstelle zwischen Daten, Technologie und Psychologie. „R-Commerce“ ist das einzige Buch, das Sie dieses Jahr über digitale MarketingStrategie lesen müssen. Köln Hamburg Berlin

Joachim Stalph Philipp Spreer Dimitrios Haratsis

Stimmen zum Buch

„R-Commerce schaut nicht operativ auf Marketingkanäle, sondern wirft die Grundsatzfrage im digitalen Marketing auf. Die Autoren setzen sich damit frühzeitig mit einem der zentralen Themen der aktuellen Zeit auseinander – wie findet man zu nachhaltigen Kundenbeziehungen in der digitalen Welt? Empfehlung!“ (Philipp Westermeyer, Gründer von OMR) „Mich begeistert der ganzheitliche Ansatz einer neuen Business-Philosophie: Daten, Technologie und Psychologie müssen heute zusammengedacht werden, um Menschen zu verstehen und Produkte digital zu verkaufen.“ (Björn Kolbmüller, Gründer von Flaconi, Zenloop und Jacasa) „R-Commerce erzeugt Aufbruchstimmung. Kundenzentrierung und -beziehungen sind bereits feste Werte in der Digitalbranche. Mit der richtigen Strategie, Datengrundlage und Tech-Stack werden diese Werte im Buch neu definiert und auf ein neues Niveau gehoben.“ (Fabian Frank, Global Head of Digital Sales and Marketing bei Allianz SE) „Das richtige Buch zur richtigen Zeit. Nachhaltige Kundenbeziehungen sind in einer Welt aus Walled-Gardens und erodierendem Cookie-Tracking der Schlüssel zu profitablem Wachstum. R-Commerce liefert viele Ansätze, um diesen Ansatz strategisch in Organisationen zu verankern.“ (Stefan Mues, Geschäftsführer bei hessnatur) „Eine inspirierende Pflichtlektüre von Branchenexperten für Entscheider. Für alle, die nachhaltige Kundenbeziehungen wollen und sich nicht mit kurzfristiger Optimierung zufriedengeben.“ (Christian Hein, Director Digital Performance & Frontend Experience bei OBI) „Ein hervorragender Ratgeber, wenn Sie Ihre strategischen Grundannahmen auf die heutigen Kundenbedürfnisse und technischen Möglichkeiten updaten möchten.“ (Thorsten Sonnemann, Executive Director von flatex) „Die fetten Jahre der Cookie-Ära sind vorbei. Dank dieses Buches finden Organisationsentwickler:innen ein starkes Narrativ, notwendige Reorganisationen mit mehr Nachdruck umzusetzen.“ (Vlore Krug, Head of Organizational Development bei mobile.de) „Die digitale Kundenkommunikation wird mit R-Commerce neu definiert. Neue Herausforderungen im datenbasierten Management von Kundenbeziehungen werden disziplinübergreifend durchleuchtet und passende Antworten gefunden – inspirierend für alle Digital Manager.“ (Thorsten Heckrath-Rose, Geschäftsführer von Rose Bikes) VII

VIII

Stimmen zum Buch

„Nachhaltige Kundenbeziehungen sind in Zeiten von Datenknappheit und steigenden Marketingkosten Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg. R-Commerce beschreibt eine neue Business-Philosophie, um Bedürfnisse zu verstehen und Erwartungen zu erfüllen.“ (Regina Urbani, Head of Digital Customer Channels bei Swisscom) „Mit ‚Datensparsamkeit‘ und ‚One-to-One-Kommunikation‘ erneuert sich der digitale Handel einmal mehr: E-Commerce wandelt sich zum Relationship-Commerce. R-Commerce ist ein beeindruckendes und umfassendes Grundlagenwerk für die Zukunft. Es sollte in keinem Bücherschrank von Entscheidungstragenden fehlen.“ (Joachim Graf, Herausgeber von iBusiness, ONEtoONE und Versandhausberater) „Nur wer seine Kund:innen kennt, kann eine Beziehung aufbauen. Das Buch zeigt in konkreten Beispielen auf, dass eine hohe Datenkompetenz aufzubauen und Datensilos aufzubrechen die Kernaufgabe für die Zukunft wird. Ein wegweisendes Werk für die Kundenbeziehungen von morgen.“ (Dirk Freytag, Präsident des BVDW) „Eine Marke wie die Hamburger Sparkasse lebt grundsätzlich die Beziehung und Nähe zu den Kund:innen. ‚Relationship-Commerce‘ ist für uns somit fester Bestandteil der strategischen Ausrichtung – und einer kundenzentrierten Transformation in die digitale Zukunft.“ (Birte Quitt, Bereichsvorständin Privat- und Firmenkunden der HASPA) „Ein äußerst gelungener Spagat zwischen strategischer Perspektive und praxisnahem Know-how-Transfer, der wertvolle Benchmarks für die Steuerung von Wachstumsunternehmen erlaubt.“ (Marc A. Adam, Operating Partner bei Hg Capital) „R-Commerce ist eine wirklich beeindruckende Lektüre. Als leidenschaftlicher Marketingexperte bin ich immer auf der Suche nach neuen Ansätzen, um die Kundenbindung zu stärken. Dieses Buch öffnet neue Perspektiven auf den digitalen Vertrieb und setzt wichtige Impulse, Dinge neu zu denken.“ (Michael Pietsch, MarTech Ecosystem & Business Development bei Meta)

Inhaltsverzeichnis

1 Auf die Beziehung kommt es an: Aus „E-Commerce“ wird „R-Commerce“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Das Ende der Kundenansprache, wie wir sie kennen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Doppelter Paradigmenwechsel: Datenknappheit und Kundenzentrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Eine neue Business-Philosophie entsteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Bedienungsanleitung: Das Wichtigste über dieses Buch . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Zeitreise: Vom anonymen zum gläsernen Kunden und wieder zurück . . . . . 2.1 20. Jahrhundert: Die Erfindung der Zielgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Jahrtausendwechsel: Die Kund:innen werden gläsern – Cookieseidank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Social Media und Mobile bringen Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 2020: Die Cookiecalypse – zurück zur Gießkanne? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Heute: Marketing-Handwerk wird zur Beziehungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Menschen und ihre Entscheidungen verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das Ende der Third Party Cookies – ein Sieg der Emanzipation . . . . . . . . 3.2 Behavioral Economics – der verkannte Schlüssel für das Verständnis des digitalen Kundenverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Eine kurze Einführung in den menschlichen Entscheidungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Grundlegende Strategien für effektive Entscheidungsarchitekturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 3 7 11 17 20 21 22 24 26 30 31 32 35 37 39 41 45

IX

X

Inhaltsverzeichnis

3.3 Partner:innen in einer freundschaftlichen Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Die neue Architektur des Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die Bedeutung von Marken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Geben und Nehmen – das Erfolgsprinzip funktionierender Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Neue rechtliche und technische Rahmenbedingungen – Impulse für eine echte Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die DSGVO schafft neue Grundlagen für datenbestimmtes Marketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Ziele der DSGVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten (Art. 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Verfolgung von Verstößen: Die Bußgelder werden empfindlicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Weiterentwicklung im Datenschutz: Das TTDSG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Cookie Consent: spürbare Konsequenz der DSGVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 „Weiche“ Auslegung der DSGVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 „Harte“ Auslegung der DSGVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Gestaltung eines rechtssicheren und effektiven Cookie Consent-Layers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Veränderte technologische Rahmenbedingungen – Die Post-Cookie-Ära . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Big Picture: Was ist R-Commerce und warum brauchen wir es? . . . . . . . . 5.2 Die fünf Leitprinzipien: Was macht die neue Ära der Kundenbeziehung aus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Privacy First . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Echte Kundenzentrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Datenbasiertes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Moment-getriebener Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.5 Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die R-Commerce-Ökonomie: Was R-Commerce den Unternehmen bringt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Nicht-ökonomische Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Vor-ökonomische Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Ökonomische Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

XI

5.4 Voraussetzungen: Was brauchen Unternehmen für R-Commerce? . . . . . . . 5.4.1 Skalierbare Technologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Echtzeit-Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Datenzentrierte Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

125 125 127 127 129

6 Der R-Commerce-Fahrplan: Wege zur datengetriebenen Kundenzentrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Technologien als Enabler der Kundenbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Die technologische Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Kernfunktionalitäten einer CDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Das neue Datenmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Daten gewinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Datenstrategien entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Datenaktivierung im R-Commerce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Case Study: Kundenzentrierte Online-Modeberatung . . . . . . . . . . . 6.3 Die beziehungsorientierte Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Status Quo: Marketing- und Vertriebsorganisationen heute . . . . . . 6.3.2 Kultur & Mindset . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Rollen & Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131 132 133 138 141 142 149 161 164 167 172 175 181 190

7 Fazit: Paradigmen des R-Commerce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Über die Autoren

Joachim Stalph ist Datenstratege und überführt als Managing Partner von elaboratum rohe Daten in intelligente Erkenntnisse und Aktivierungsstrategien.

Dr. Philipp Spreer ist Verhaltenswissenschaftler und als Managing Partner von elaboratum verantwortlich für die datenbasierte und bedürfnisorientierte Ansprache von Kund:innen.

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Über die Autoren

Dimitrios Haratsis ist als Gründer von AdClear ein Marketing-Technologe der ersten Stunde und Evangelist für wirklich kundengetriebenes Marketing.

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Auf die Beziehung kommt es an: Aus „E-Commerce“ wird „R-Commerce“

Zusammenfassung

Das Dilemma im Digital Business heute: Daten fehlen, weil Cookies nicht mehr funktionieren oder User ihre Daten nicht mehr freigebig teilen wollen – für Digitalunternehmen und Werbetreibende eine Katastrophe. Fakt ist: Heute sind nur noch 30 bis 40 % der möglichen Daten aktivierbar. Um dennoch eine stabile, nachhaltige und tragfähige Kundenbeziehung aufzubauen, gilt es, neue Wege zu gehen. Neue Technologien, innovative Datenstrategien und Erkenntnisse aus der Verhaltenspsychologie werden dafür integriert, um Kund:innen dort abzuholen, wo sie gerade stehen. Das Ziel: In Echtzeit auf reale Bedürfnisse reagieren. Aus E-Commerce wird R-Commerce, die Beziehung zwischen Unternehmen und Kund:in steht im Mittelpunkt allen Handelns. Dieses Kapitel richtet sich an Führungskräfte aus dem General Management und liefert kurz und knapp einen Überblick wie Unternehmen sich strategisch aufstellen können, um echte Kundenbeziehungen aufzubauen, die unter den Bedingungen der DSGVO und Datenschutzbedenken funktionieren. Letzten Donnerstag nach dem Training beschließt Tobi, dass es Zeit für eine neue YogaMatte wird. Er öffnet den Browser auf seinem Smartphone und begibt sich auf die Suche nach dem Modell von dieser neuen Marke, die ihm bei Instagram seit einiger Zeit regelmäßig angezeigt wird. Auf der Website angekommen, klickt er schnell das Pop-Up mit der Cookie Zustimmung weg und stürzt sich ins Vergnügen. Plötzlich fängt sein Baby an, zu schreien, die Windel ist voll. Stimmt, Windeln müssen auch bestellt werden. Und neue Unterwäsche für den Einjährigen! Als wieder Ruhe einkehrt, geht Tobi dieses Thema direkt an: Er sucht nach Testberichten über Bio-Strampler. Vergleichsseiten, Nachrichten-Websites und Foren ziehen am Bildschirm vorbei – viele davon noch immer gespickt mit Werbung für Yoga-Matten. Bei zwei Anbietern abonniert er den Newsletter, um mehr über Nachhaltigkeitsaspekte der

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Stalph et al., R-Commerce, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42054-3_1

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1 Auf die Beziehung kommt es an: Aus „E-Commerce“ wird „R-Commerce“

Baby-Textilien zu erfahren und den 5-Euro-Gutschein zu bekommen. Bestellen will er aber noch nicht, vielleicht hat die dm-Filiale im Ort auch etwas Passendes. Diese Anekdote wirkt reichlich trivial, in der Tat. Aber sie ist direkt aus dem Leben übernommen, durchaus repräsentativ und beinhaltet gleich mehrere spannende Erkenntnisse und Stand heute unüberwindbare Hürden für Marketer: • Echte Trigger von Kaufabsichten sind oft nicht erkennbar: Medienbrüche, Rekonstruktionen aus dem Gedächtnis, oder Impulse von Freunden und Bekannten führen zu einer lückenhaften Erfassung der Kaufprozesse. • Der Cookie Consent reduziert den Datenfundus: Viele Browser unterdrücken standardmäßig Cookies von Drittanbietern, auch der explizite Cookie Consent führt oft zu schmerzhaften Datenverlusten. • Bedürfnisse sind hochgradig kontextabhängig: Ein externer Impuls (wie das Schreien des Babys) kann den Fokus in Sekundenbruchteilen verschieben. Diesen Schwenk bekommen Marketing-Algorithmen zu spät (oder gar nicht) mit und stören mit aufdringlicher Anpreisung von Produkten, die längst nicht mehr zum Bedürfnis des Users passen. Das Anlegen eines Kundenkontos und Abo des Newsletters sind der Beginn der Beziehung: User signalisieren tiefes Interesse und zeigen sich willig, eine Beziehung (im weitesten Sinne) einzugehen. Dafür braucht es überzeugende Argumente und eine proaktive Vermarktung dieser Aktionen. Die Befriedigung eines Bedürfnisses ist oft unsichtbar. Den Moment zu erkennen, in dem das Interesse an einem Produkt endet (etwa mit dem Kauf bei einem Wettbewerber), ist aktuell fast unmöglich. So wird viel Werbegeld ausgegeben – obwohl es nicht einmal mehr eine theoretische Kaufchance gibt. Diese Erkenntnisse lassen sich auch auf einer breiten empirischen Basis bestätigen (vgl. Abschn. 1.1). Manche dieser Herausforderungen sind so alt wie das Marketing selbst, andere sind durch jüngste technologische oder regulatorische Veränderungen erst entstanden oder verschärft worden. Fakt ist, dass die digitale Ansprache von potenziellen Kund:innen heute einerseits so komplex wie nie ist, andererseits sind aber auch Werkzeuge entstanden, die langgehegte Ziele wie die skalierbare Echtzeit-Personalisierung von Webseiten endlich in den Bereich des Möglichen rücken. Voraussetzung dafür ist eine Veränderung der Perspektive, mit der auf Kund:innen geblickt wird. Heute werden diese als die Bausteine von Umsatzzahlen gesehen und mehr oder minder regelmäßig mit Kampagnen konfrontiert, die anhand ihrer Conversion Rate bewertet werden. In Zukunft wird ein beziehungsorientierter Blick notwendig: Der uneingeschränkte Respekt von Nutzerdaten, das Verständnis von realen Bedürfnissen, das Denken in Kundennutzendimensionen und eine Langfristigkeit der Beziehung sind Merkmale davon.

1.1

Das Ende der Kundenansprache, wie wir sie kennen

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In der Vergangenheit waren dies keine typischen Kennzeichen des E-Commerce: Mit der radikalen Fokussierung auf kurzfristige Erfolgskennzahlen, dem starren FunnelModell und dem Verkommenlassen der Nutzerzentrierung zum Feigenblatt hat er sich zusehends selbst in Verruf gebracht. Jeder kann heute Geschichten von wildgelaufenen Newslettern, aggressivem irrelevantem Retargeting, oder dem Scheitern einfachster Formen der Personalisierung erzählen. Cost per Order, Conversion Rate, Average Order Value – das sind die Kennzahlen, mit denen der E-Commerce sich definiert. Und alle davon sind kurzfristig ausgelegt, keine nimmt eine Perspektive über die nächste Transaktion hinaus ein. Fragt man Unternehmen nach ihrem Customer Lifetime Value, bekommt man in 9 von 10 Fällen keine Antwort. Es ist Zeit, über ein neues Denkmodell des Digital Business nachzudenken. Dieses Kapitel beschreibt, warum dieser Schritt unausweichlich erscheint und warum jetzt der richtige Zeitpunkt ist.

1.1

Das Ende der Kundenansprache, wie wir sie kennen

Vor einem Jahrzehnt war man sich im digitalen Marketing sicher, den Heiligen Gral der Werbung gefunden zu haben: Tracking über Third Party Cookies machte es möglich, wirklich alles über die User einer Website zu erfahren – und das ganz ohne eigene Datenteams. Cookies sind kleine Dateien, die beim Besuch einer Website automatisch gespeichert werden und Daten der Surfenden an die Betreiber der Website schicken. Sie verraten, wie sich die User auf der Website bewegen, welche Inhalte sie lesen, was sie anklicken etc. Eine ganze Branche von Dienstleistungsunternehmen entstand um die technische Möglichkeit herum, mit Hilfe von Cookies den Zugriff auf die Nutzungsstatistiken der eigenen Website extern zu vergeben. Da diese Cookies an Dritte außerhalb der Grenzen des eigenen Unternehmens weitergegeben wurden, bezeichnete man sie als „Third Party Cookies“. Fremde Unternehmen konnten so jede Bewegung erfassen und protokollieren, in vielen Fällen auch die Daten analysieren und aktivieren. So wurde die analytische Kompetenz externalisiert und man begab sich in eine tiefe Abhängigkeit von Drittanbietern (Third Party) hinein. Dieser Ansatz ist heute praktisch obsolet. Datenschützer haben die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO, siehe Abschn. 4.1) verabschiedet, Browser wie Safari und Firefox (und bald auch Chrome) haben das Verwenden von Cookies durch Drittunternehmen (inklusive des Trackings mit Third Party Cookies unterbunden. Was sich im ersten Moment vielleicht nach einem technischen Detail anhört, das man im Einleitungskapitel eines Buchs mit strategischem Ansatz nicht erwartet, entpuppt sich auf den zweiten Blick als das sichtbare Merkmal, in dem sich eine strukturelle Veränderung manifestiert. Denn in diesem Moment brechen die Datenpunkte schlagartig weg – die Ölquellen der Digital-Branche hören auf zu sprudeln. Ohne Third Party Cookies ist für viele Unternehmen eine präzise Nutzeransprache nicht mehr möglich, dem digitalen Marketing stellt sich die Existenzfrage. Wenn Chrome 2024 Third Party Cookies zu Grabe trägt,

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dann bleibt kaum noch Datenmaterial übrig, das für Advertising und Marketing aktiviert und herangezogen werden kann. In dieser Situation ist das Werben mit Trackingdaten kaum genauer als Plakatwerbung an der Litfaßsäule. Um eine Größenordnung zu vermitteln: Wenn dieses Buch auf den Markt kommt, haben die meisten Unternehmen im Vergleich zu den Vorjahren nur noch Zugriff auf 30 bis 40 % der möglichen Tracking-Daten wie Abb. 1.1 zeigt. Ausgehend von einem kompletten „Full Data Set“ (= 100 % bzw. die bisher verfügbare Datenmenge), gehen rund 50 % der aktivierbaren Daten durch das Unterbinden von Third Party Cookies der Browser verloren (ausgehend davon, dass Google Chrome einen Browser-Anteil von ca. 50 % in Deutschland hat; Statista, 2023). Ende 2022 lässt lediglich Google Chrome Third Party Cookies noch zu. Der Einsatz von Ad-Blockern (also kleinen Tools, die mehr als jeder dritte User installiert hat, um Werbung technisch zu blockieren) kostet weitere Datenpunkte (Rabe, 2022). Letztlich reduziert sich der Datenfundus durch die ausbleibende Zustimmung zur Nutzung von Cookies im sogenannten „Cookie Consent-Layer“ – das ist das Pop-Up-Fenster, das beim ersten Aufruf jeder Internetseite sofort erscheint. Hier liegt die Zustimmung, nach unseren Projekterfahrungen, je nach Branche zwischen 50 und 80 %. In der Summe sind bereits heute nur noch 30 bis 40 % der möglichen Daten aktivierbar. Das ist in vielerlei Hinsicht dramatisch: Unternehmen, die sich bisher auf die Verarbeitung von Daten durch Drittunternehmen (sogenannte „Third Party Data“) verlassen haben, können diesen Ansatz de facto nicht fortsetzen – gleichzeitig haben sie es in der Vergangenheit aufgrund der bequemen Alternative oft versäumt, eine eigene, interne Datenkompetenz aufzubauen. So stellt sich die große Frage, die der Aufhänger dieses Buches ist: Was nun?

Abb. 1.1 Datenverlust durch veränderte rechtliche und technische Rahmenbedingungen

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Das Ende der Kundenansprache, wie wir sie kennen

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Doch diese Herausforderung ist keine rein juristisch-technische. Auch das Kundenverhalten hat sich massiv verändert. Dieser Aspekt ist zwar schon seit Jahren erkennbar, doch in den letzten Jahrzehnten drehten sich alle Bemühungen im E-Commerce um Conversion Rates und Quartals-Absatzzahlen. Die Kund:innen gerieten dabei zusehends aus dem Blickfeld. Sie emanzipierten sich jedoch kontinuierlich, sind heute genauestens informiert, weisen vollkommen individuelle Customer Journeys auf, die sich kaum mehr standardisieren lassen. Sie reagieren situativ auf die vielen Reize, die sie permanent erreichen. So sinkt die Geradlinigkeit, mit der Kaufentscheidungen verfolgt werden, und häufig auch die Marken- oder Anbietertreue. In dieser von Reizüberflutung, Ablenkungen, Lautstärke und Entscheidungsüberlastung gekennzeichneten Digital-Welt erfolgreich zu sein, erfordert eine echte Fokussierung auf die realen Bedürfnisse der bestehenden und potenziellen Kund:innen, die weit über das oft strapazierte Schlagwort der Kundenzentrierung hinaus geht. Das kann nicht mit einem strategischen Fokus auf Produkt und Vertrieb gelingen. „Kundenzentrierung“ war vor rund einer Dekade schon einmal der Kampfbegriff der User Experience Evangelisten. Damals war er als idealisiertes Gedankenmodell und theoretisches Konzept gemeint. Doch heute kann dieser Leitgedanke endlich zu Ende gedacht und dank neuer Technologien auch in der Breite umgesetzt werden – R-Commerce beschreibt den Weg dorthin. Der Schlüssel dafür sind Beziehungen, die von gegenseitigem Geben und Nehmen geprägt sind (siehe Kap. 5). Diese gehen weit über das euphorische Anpreisen von Produkten hinaus. Bildlich zugespitzt: Im Grunde haben Marketing-Abteilungen bislang mit ihren Kund:innen nur geflirtet. Sie haben Lippenstift aufgetragen und einen Sportwagen gemietet. Der Austausch blieb an der Oberfläche, war distanziert – was nicht unmittelbar auf die Transaktion einzahlte, wurde unterlassen. Vermeintlich altruistische oder uneigennützige Handlungen sah man nie. An einer echten Beziehung und ernst gemeintem Dialog war man nicht interessiert. Heute wissen wir dank neuer Erkenntnisse aus der Psychologie und Verhaltensökonomie, dass sich die Digital-Unternehmen damit selbst in das Hamsterrad gesetzt haben: Statt langfristige Beziehungen aufzubauen, die im Zielbild fast ohne eigenes Zutun Umsätze generieren, fokussiert man exklusiv auf den nächsten Kauf – und wird abhängig von permanent erfolgreicher Neukundenakquise. Die Verhaltenswissenschaften legen dagegen nahe, Vertrauen als Schlüsselkonstrukt zu sehen. Es stellt die Grundlage für den Aufbau von Beziehungen dar und reduziert das unangenehme Gefühl, etwas „verkauft zu bekommen“, was nicht selten zu Reaktanz (also Ablehnung bzw. Zurückweisung) führt. Aus diesem Grund geht es in R-Commerce nicht nur um Daten und Technologie. Die dritte Säule stellt die Psychologie dar, die es erlaubt, Bedürfnisse besser zu verstehen und bedeutsame Aktivierungsstrategien herzuleiten, die frei von Manipulation mit Sales-Fokus sind.

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Selbstverständlich: Es wäre naiv davon auszugehen, dass verhaltensökonomische Grundkenntnisse (im Speziellen das „Nudging“) den werbetreibenden Unternehmen bisher verborgen geblieben wären. Doch aufgrund der starken Abverkaufsorientierung blieb deren Potenzial bisher weitgehend ungenutzt. Argumente wie „attraktiver Preis“, „seltene Chance“, „gerade total begehrt“, „bald bestimmt wieder ausverkauft“ arbeiten zwar mit verhaltensökonomischen Klassikern wie Verknappung, Framing oder Anchoring, sie waren jedoch jeweils lediglich transaktional ausgerichtet und nicht beziehungsbildend. Besonders befremdlich wird dieser Ansatz, wenn man sich die einleitende Anekdote von Tobis Kaufprozess noch einmal vor Augen führt. Stand heute nutzen Unternehmen alle verfügbaren Daten (meist erhoben mit Hilfe von Third Party Cookies) und kaufen weitere Dritt-Parteien-Daten zu, um verhaltensbasiert zu personalisieren. Denken wir an Tobi, wird aber klar, dass Bedürfnisse situativ definiert sind und sich jeden Moment ändern können. Verhaltensbasierte Personalisierung ist daher oft ein ressourcenaufwendiger und wenig effektiver Weg der Nutzeransprache, bei der jede Langfristigkeit und jeder vertrauensvolle Beziehungsaufbau fehlt. Ein typisches Beispiel für verhaltensbasierte Personalisierung

Tobi sucht nach Baby-Stramplern. Wir leiten ab: Frischgebackenes Elternteil, klare Sache. Konsequenz: Baby-Produkte werden massenweise in den Social Feed, in die Display-Banner der Lieblingsseiten, in die abonnierten Newsletter gedrückt. Aber anzunehmen, dass jemand, der gerade ein Kind bekommen hat, ununterbrochen Babywäsche und Windeln kaufen möchte, zeigt nur, wie weit man mit diesem Ansatz davon entfernt ist, einen Menschen zu verstehen. In dem Moment, wenn Tobi auf eine Sport-Webseite surft und einen Artikel über Yoga-Matten ansieht, interessieren Windeln überhaupt nicht. Bei Tobi kommt diese Werbebemühung oft als schockierend gewollt (und nicht gekonnt) an. Und jeder kennt das lästige und fast mitleiderweckende Gefühl, dass der Retargeting-Algorithmus nicht mitbekommen hat, dass man längst an einem anderen Thema dran ist – während er immer noch „KAUFE WINDELN!“ schreit. Windeln sind genau dann nötig, wenn der Vorrat zur Neige geht. Den Rest der Zeit haben junge Eltern andere Dinge im Kopf – genau wie alle anderen Menschen auch. Fassen wir zusammen: Wir haben es mit emanzipierten Nutzer:innen zu tun, die sich des Werts ihrer Daten bewusst und immer schwerer zu verstehen sind. Um allein das zu kompensieren, bräuchte man mehr Erkenntnisse über diese Menschen – also mehr Daten. Aber: Durch neue rechtliche Regelungen und das de-facto-Ende der Third Party Cookies stürmen wir auf eine Zeit der eklatanten Datenknappheit zu. Es geht also heute nicht mehr um die Frage, ob Unternehmen ihre bewährten Taktiken mit feingranularem Nachjustieren zu ein paar Prozent mehr Umsatzwachstum bringen

1.2

Doppelter Paradigmenwechsel: Datenknappheit und Kundenzentrierung

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können. Es geht um die existenzielle Frage, ob Unternehmen morgen noch einen effektiven (und idealerweise effizienten) Weg haben, mit ihren Kund:innen in Dialog zu treten. Doch in jeder Krise steckt bekanntlich eine Chance. Die DSGVO und das Ende der Third Party Data werden eine neue, tiefere und qualitativ hochwertigere Kundenbeziehung hervorbringen. Auf die Beziehung, auf die „Relationship“ mit den Kund:innen wird es in Zukunft ankommen! Sie wird auf einem neuen Fundament fußen: Zustimmung und Realtime-Daten sind die neue Grundlage.

1.2

Doppelter Paradigmenwechsel: Datenknappheit und Kundenzentrierung

Ein doppelter Paradigmenwechsel steht also bevor – von der Produktfokussierung hin zur (konsequenten!) Kundenzentrierung und vom Datenpluralismus (mit Third Party Daten in Hülle und Fülle) hin zur Datenknappheit. Jeder, der sich in der Branche auskennt, erkennt langsam, dass die Implikationen umfangreicher ausfallen als es vielen Unternehmen lieb ist. Immer klarer wird: Ein neuer Blick auf Kundenbeziehungen muss in den Unternehmen etabliert werden. Aber es braucht auch neue Technologien, die die Datennutzung in Echtzeit erlauben und neue Datenstrategien, die helfen, Menschen auch in Zukunft effektiv und bedürfnisorientiert zu erreichen. Dabei kommen viele Fragen auf den Tisch. Diejenigen, die von den Verantwortlichen im Rahmen von Beratungsprojekten am häufigsten gestellt werden sind folgende:

Häufige Fragen von Managern in Beratungsprojekten

• Wer sind eigentlich meine Zielgruppen? Wie segmentiere ich? Und woher weiß ich, was die User wollen? • Wie re-fokussiere ich meine Marketingaktivitäten strategisch von der Conversion hin zur Kundenqualität? • Wie minimiere ich den Anteil von Usern, die mir keine Erlaubnis zur Nutzung von (nicht technisch erforderlichen) Cookies geben wollen? Wie vermehre ich effizient meine First Party Cookies? • Wie schaffe ich Mehrwerte für die User, sodass sie bereit sind, sich zu registrieren und regelmäßig einzuloggen? • Wie muss ich mein Marketing-Technologie-Setup für die Zukunft ausrichten? • Wie spreche ich meine Zielgruppen im richtigen Moment, auf dem richtigen Kanal, mit der richtigen Botschaft an? Wie steuere ich meine Marketingaktivitäten künftig ohne Third Party Cookies? • Wie sorge ich dafür, dass mein Unternehmen und alle Mitarbeitenden den Paradigmenwechsel verstehen und den Anforderungen der Zukunft genügen?

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Und so kommt es langsam zu einem bösen Erwachen, denn all diese Themen müssen parallel angegangen und klug synchronisiert werden. Langsam wird das Ausmaß der Herausforderungen klar und Unternehmen stellen fest: Wir waren immer produktfokussiert und opportunistisch, aber eigentlich nie kundenorientiert und nachhaltig – zumindest nie jenseits der Buzzword-Ebene. Und wir haben lauter Datensilos. Die verschiedenen Touchpoints sind nicht aufeinander abgestimmt. Die Social-Media-Betreuung erfolgt unabhängig vom Web-Content und der wiederum lebt abseits von den NewsletterMailings. Die App erfasst andere Daten als die Website. Und wie immer der Klassiker: Online harmoniert weiterhin nicht mit Offline. In der Nutzeransprache müssen heute die unterschiedlichsten Kanäle bedient werden. Doch die Kanalverantwortlichen kommunizieren untereinander nicht konsequent. Damit ist der anstehende Paradigmenwechsel ganz sicher auch ein organisatorischer, wie wir in (Abschn. 6.3) ausführlich beleuchten. Aktivierbare Daten werden zur Mangelware Beginnen wir mit einem vertieften Blick auf die Herausforderungen der Datenknappheit: Wie oben skizziert, stehen 60–70 % der aktivierbaren Datenmenge im Risiko und werden ohne konsequente Maßnahmen langfristig für die Analyse und Ansprache verloren gehen. Das betrifft sowohl Statistik- als auch Marketing-Cookies. Denn der Unterschied der Zustimmungsrate zwischen den einzelnen Kategorien von Cookies ist marginal, nur 2 % aller User wählen eine nicht übereinstimmende Einstellung (Zöllner, 2020) und akzeptieren entweder Marketing- oder Statistik-Cookies. Mit anderen Worten: User lehnen entweder alle Cookies ab, oder sie stimmen der Verwendung aller Cookies zu. Wenn in so großem Umfang Statistik-Cookies abgelehnt werden, fehlen Erkenntnisse aus dem Webtracking (zum Beispiel über Google Analytics) über die Nutzung der Website. Es wird also schwieriger zu verstehen, wie eine Seite benutzt wird und sie entsprechend auf die Nutzerbedürfnisse hin zu optimieren. So entsteht ein Konflikt der Nutzerziele: User wünschen sich Sicherheit bezüglich der Nutzung ihrer Daten (und drücken das mit der fehlenden Zustimmung aus) – gleichzeitig erwarten sie ein perfektes Erlebnis und sinnvolle Empfehlungen (Sauro & Lewis, 2016). Das unterstreicht einerseits noch einmal die hohe Bedeutung eines perfekt optimierten Consent-Layers, andererseits aber auch des Aufbaus vertrauensvoller Beziehungen als Weg aus dem Zielkonflikt. Bei den Marketing Cookies reduzieren sich die Möglichkeiten einer validen Erfolgsmessung von Kampagnen. Die Wirkung fast aller Maßnahmen liegt in der Folge unter einer mehr oder weniger dichten Nebeldecke. Hinzu kommt, dass Remarketing als Kanal mit traditionell hohen Erfolgsraten weitgehend entfällt, da die Interessenskennzeichnung der User ohne Marketing Cookies unterbunden wird (Goic et al., 2021). Vertrauen als Grundlage für eine neue Beziehung Klar ist: Wir müssen künftig viel mehr tun, um aktivierbare Daten zu sammeln. Besser wäre der Ausdruck „um sie zu gewinnen“. Denn in der Post-Cookie-Ära werden uns die Zustimmung der User und weitere beziehungsvertiefende Aktivitäten nicht in den Schoß fallen.

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Doppelter Paradigmenwechsel: Datenknappheit und Kundenzentrierung

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Nur wer sich respektiert, verstanden und wertgeschätzt fühlt, wird bereit sein, sich auf ein Unternehmen einzulassen und im nächsten Schritt Daten zu teilen. Das Gefühl verstanden zu werden, hängt bei der Betrachtung der ganzen Customer Journey maßgeblich davon ab, dass das Unternehmen die User wohldosiert anspricht – mit der richtigen Botschaft zur richtigen Zeit, mit der richtigen Dosis „Geben und Nehmen“. Oberstes Ziel ist, über einen regelmäßigen Dialog Vertrauen aufzubauen und User zu motivieren, sich auf der Website zu registrieren und einzuloggen, damit eigene Datenspuren aufgebaut werden können – mit Hilfe von First Party Cookies. Diese werden vom Websitebetreiber selbst gesetzt (im Gegensatz zu „Third Party Cookies“, bei denen das ein externer Dritter tut) und werden nur für die jeweilige Domain genutzt. First Party Cookies werden von Browsern generell nicht blockiert, sie gehören nur dem Websitebetreiber und geben wertvolle Einblicke in die Nutzung der Website. Denn erst mit dem Login entsteht die permanente Einwilligung in ein DatenloggingVerhältnis. Ein sicheres Zeichen von glücklichen Usern und vertrauensvollen Beziehungen tritt dann ein, wenn User proaktiv und freiwillig ihre Daten zur Verfügung stellen, um daraus kontinuierlich für sich einen Mehrwert abzuleiten. Was einfach klingt, ist hohe Kunst. Denn die beschriebenen Datenengpässe und das gestiegene Anspruchsniveau der User sind eine Zwickmühle: Einerseits erwarten Kund:innen ein perfektes Nutzungserlebnis. Es muss intuitiv und inspirierend sein, effizient und effektiv, konsistent an jedem Touchpoint – egal ob über Smartphone oder Laptop. Andererseits sind die User aber zurückhaltender, Daten ohne weitere Erklärung preiszugeben. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Ohne Daten ist es naturgemäß komplexer, die Bedürfnisse der User zu verstehen und passende Leistungsangebote sowie kommunikative Botschaften zu entwickeln, die zu einem passenden Mehrwertangebot und damit schlussendlich zur gewünschten Aktion führen. Um das aufzulösen, arbeitet R-Commerce an beiden Fragen: Mit diesen Fragen die Zwickmühle im Datensammeln auflösen

1. Wie können wir ausreichend sinnvolle Daten gewinnen? 2. Wie müssen wir mit Usern kommunizieren, damit sie uns teilhaben lassen und Datenspuren freigeben? Die logische Abhängigkeit zwischen diesen beiden Fragen ist offensichtlich: Vertrauen ist die Grundlage für einen bedeutsamen Datenfundus. Daher wurde bei diesem Buch auch durchgehend eine (verhaltens-)psychologische Sicht auf den Menschen eingenommen, um forschungsbasiert Ableitungen zu treffen, was User wirklich wollen. Das ist der Weg aus der Datenknappheit und die Basis für effektive Echtzeitkommunikation. Am Ende des Tages werden alle Maßnahmen darauf einzahlen, dass sich zentrale Business-Kennzahlen wie der langfristige Kundenwert (der sog. „Customer Lifetime Value“, dazu später mehr) positiv entwickeln.

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Echtzeitkommunikation braucht moderne Technologien Im nächsten Schritt kommt die technologische Grundlage auf den Prüfstand. Was Unternehmen heute brauchen, ist ein Tech Stack, der allen Abteilungen sämtliche Kundendaten zur Verfügung stellt und eine 360-Grad-Sicht auf die Kund:innen in Echtzeit ermöglicht (siehe Kap. 6). Das bedeutet, die Art und Weise, wie Unternehmen ihre Kundenansprache vorbereitet haben – meist mit einer Software-Lösung für Customer Relationship Management (CRM) – muss von episodenhaften Mailings hin zu einem regelmäßigen Dialog weiterentwickelt werden. Zudem ist es erforderlich, auch Bewegungsdaten von der Website einzubeziehen, da diese Datenpunkte weitaus mehr über Bedürfnisse aussagen können, als die Transaktionsdaten, die ganz am Ende des Entscheidungsprozesses entstehen und meist die Grundlage für CRM-Aktivitäten sind. Das Ziel lautet: Weg von transaktionsbasierten Aktionen. Heute brauchen Unternehmen viel flexiblere Technologien, die auch in der frühen Phase des Entscheidungsprozesses auf Basis von Wahrscheinlichkeiten („probabilistisch“) arbeiten: Basierend auf psychologischen und verhaltensökonomischen Befunden werden Hypothesen generiert, datenbasiert bewertet und in Echtzeit implementiert. Gefragt sind integrierte Systemlandschaften und Marketing-Technologie-Setups, in deren Zentrum eine Customer Data Platform (CDP) steht. CDPs sind moderne Technologien, die es ermöglichen, mit den Kund:innen in Echtzeit zu kommunizieren und alle Datenpunkte einzubeziehen. Diese Kommunikation à la minute wird die Grundvoraussetzung für einen echten Dialog mit Kund:innen. Um dies zu ermöglichen müssen moderne Systemlandschaften grundlegende Rahmenbedingungen und Anforderungen erfüllen. Diese drehen sich vor allem um die Verfügbarkeit und Nutzbarkeit von Daten. Welche Daten sind in welchen Systemen verfügbar? Wie können diese Daten kombiniert und nutzbar gemacht werden? Welches System ist aus Datensicht die „Single Source of Truth“ und damit für die Business Intelligence in Form von Modellierungen, Reports und Dashboards verantwortlich. Und in welchem System liegen die „Golden Records“, also eindeutig identifizierte Kundenprofile, die wiederum an den Touchpoints onsite und offsite durch personalisierte Ansprache aktiviert werden sollen. Doch die Technik allein wird es nicht richten. Sie entfaltet ihre Wirkung nur, wenn die Nutzerbedürfnisse wirklich verstanden und auf dieser Basis eine neue Datenstrategie entwickelt wird. Um es ganz klar zu sagen: Die neue Marktsituation ist keine technologische Herausforderung. Sie ist viel größer. Der Paradigmenwechsel ist auch ein organisatorischer Change Entscheidend für den Erfolg der Transformation ist der Faktor Mensch. „Von unten“ kann eine Transformation dieser Größenordnung nicht gelingen. Das Top-Management muss die Marschrichtung klar und überzeugt vorgeben – den Weg aber nicht allein gehen. Denn in jedem Unternehmen gibt es Menschen, die die Defizite des Status Quo erkennen und Ideen für neue Prozesse haben. Diese gilt es zu identifizieren und zu mobilisieren und als Träger der olympischen Fackel des R-Commerce vorneweg zu schicken. Ihre Aufgabe

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Eine neue Business-Philosophie entsteht

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besteht darin, Strukturen aufzubrechen, Prozesse zu verändern und das Feuer in die Belegschaft hineinzutragen. Die Menschen im Unternehmen sind die Treiber der Transformation. Und sie machen das umso besser, je mehr die Unternehmenskultur das unterstützt. Die Forschung zeigt, dass eine Fehlerkultur unabdingbare Voraussetzung für jede Veränderung ist (Harteis et al., 2008). Nach schweren Unglücken entwickelte beispielsweise die NASA im Auftrag der amerikanischen Luftfahrtbehörde in den 1970er-Jahren ein anonymes Fehlermeldesystem für Piloten und Crewmitglieder. Die individuelle Furcht vor Strafen fiel weg, tausende Fehler wurden gemeldet und analysiert – damals musste mangelnde Fehlerkultur noch mit einem Whistleblower-Ansatz im Dunklen kompensiert werden. Einige Jahrzehnte später analysierte eine vielbeachtete mehrjährige Studie bei Google („Project Aristotle“) ab 2012 insgesamt 180 verschiedene Teams und fand schließlich heraus, dass die entscheidenden Faktoren für erfolgreiche Unternehmensteams nicht etwa Intelligenz oder Diversität sind (Google, o. J.). Worauf es ankommt, liegt in der Art und Weise, wie die Menschen miteinander umgehen. Am effektivsten und erfolgreichsten sind Teams, deren Atmosphäre von psychologischer Sicherheit geprägt ist (Edmondson & Lei, 2014). Um die starken Kräfte der Zusammenarbeit für den Unternehmenserfolg zu nutzen, ist es seitens der Unternehmensführung wichtig, Silos aufzubrechen und die dabei entstehende Reibungsenergie in positive Energie für das Unternehmen und die Mitarbeitenden umzuwandeln. Dabei ist es von enormer Bedeutung, eine auf Zusammenarbeit ausgerichtete Philosophie im Unternehmen zu etablieren, die den institutionellen Rahmen des Unternehmens dauerhaft prägt. Gehen Firmen davon aus, dass a) fehlende Third Party Daten und hohe Kundenerwartungen die Zukunft bestimmen, und glauben sie b) weiterhin daran, dass Daten die Basis allen Handelns darstellen sollten, dann kommen sie nicht umhin, die Kundenbedürfnisse als zentralen Anker in allen Unternehmensbemühungen definieren.

1.3

Eine neue Business-Philosophie entsteht

Nun ist klar: Die gesetzgebenden Institutionen haben auf Druck der Öffentlichkeit (also schlussendlich der Nutzerinnen und Nutzer) einen anspruchsvollen neuen Rahmen für das datengetriebene Marketing geschaffen, dem die Browser-Anbieter radikal mit der Unterbindung von Third Party Cookies entsprechen. Digitales Verkaufen, wie wir es bisher kannten, wird damit nicht mehr funktionieren. Doch entscheidend ist: Diese Veränderung kommt keineswegs aus dem Nichts. Sie ist die logische Weiterentwicklung und nächste Evolutionsstufe einer langen Kette von zunehmend kundengerichteten Business-Philosophien. Diesen Prozess skizziert der folgende Abschnitt mit dem Ziel, die innere Logik von R-Commerce aus der Historie heraus besser zu verstehen. Strukturelle Umwälzungen führten immer wieder zu einer Evolution der BusinessPhilosophien, die uns über Jahrzehnte in die heutige Ideenwelt gebracht hat. Wenn

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1 Auf die Beziehung kommt es an: Aus „E-Commerce“ wird „R-Commerce“

Unternehmen die letzten 50 Jahre analysieren, sehen sie eine kontinuierliche Entwicklung. Einst prägten die Märkte die Kund:innen. Jetzt prägen die Kund:innen die Märkte. Die Verbreitung der digitalen Technologien agierte und agiert dabei als Katalysator und sorgte für den unumkehrbaren Trend: Kund:innen wollen immer weniger mit klassischer Werbung belästigt werden. Sie nutzen alle verfügbaren Quellen für ihre Information und entwickeln immer individuellere Customer Journeys. Schritt für Schritt dreht sich die Informationsasymmetrie zu Gunsten der vermeintlich schwachen Kund:innen um. Produktzentriert (bis in die 2000er) In der Vor-Internet-Ära bis in die 2000er-Jahre hinein war das Kundenverhalten stark von Marken beeinflusst. TV und Radio waren die prägenden Kundenkontaktpunkte und lenkten Kaufentscheidungen maßgeblich. Bei allem, was Unternehmen taten, lag der Fokus auf ihrer Marke und ihren Produkten – nie auf den Kund:innen. Im Besonderen galt dies für den frühen E-Commerce, der seinerzeit als „Resterampe“ anderer Kanäle exklusiv auf preisaggressives Verkaufen fokussierte. Unternehmen konzentrierten sich also voll auf ihr Produktangebot und entwickelten das Portfolio abhängig vom Abverkaufserfolg inkrementell weiter. Kund:innen strukturiert nach ihren Bedürfnissen zu fragen, wurde nicht ernsthaft in Erwägung gezogen, oder war regelrecht verpönt. In einem legendären Satz, der (trotz mangelnder Beweise stets) Henry Ford zugeschrieben wird, lässt sich diese Geisteshaltung gut zusammenfassen: „If I had asked people what they wanted, they would have said faster horses.“ (Vlaskovits, 2011) Die Unternehmensphilosophie fußt entsprechend darauf, das beste Produkt zu entwickeln und alle Wettbewerber so zu übertrumpfen. Auch gefeierte Tech-Unternehmen wie Apple folgen anfangs diesem Credo und definieren als wichtigste Kennzahl die Abverkäufe von Produkten. Servicezentriert (ca. 2000 bis 2010) Doch es dauert nicht lange und die Märkte sind zunehmend gesättigt. Einmalig Produkte zu verkaufen stellte sich als harter Weg für Unternehmen mit langfristigen Wachstumsambitionen heraus. Aus dieser Erkenntnis entstehen neue Geschäftsmodelle: Die Unternehmen mit den besten Services rund um weitgehend austauschbare Produkte gewinnen. Erfolgreiche Unternehmensleitungen fokussieren sich zunehmend auf den sogenannten „Recurring Revenue“ (recurring = wiederkehrend). Als neue Ziele werden erstmals langfristig ausgerichtete Kennzahlen wie der Customer Lifetime Value (CLV) oder der Average Revenue per User (ARPU) definiert. Die Profitabilität kommt nicht mehr über Produkte, sondern über Services im Abonnement. Bleiben wir beim Beispiel Apple: Der heute unermessbar wertvolle Dienst „iCloud“ wurde in dieser Phase strategisch, konzeptionell und technisch entwickelt, intensiv mit Usern vertestet und 2011 schließlich weltweit eingeführt (Molz, 2011). Pakete nach der Logik von Gold, Silber- und Bronze bieten unterschiedliche Leistungsumfänge für verschiedene Zielgruppen und beginnen sich durchzusetzen. Auch Wagniskapitalgeber fokussieren seit dieser Zeit vor allem auf Unternehmen, die Software

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als Service anbieten. In diese Zeit fällt etwa die Gründung und Entwicklung von Salesforce (1999), Hubspot (2006) oder Spotify (2006). Doch letztlich treten Services an die Stelle, an der in der vorherigen Dekade die Produkte standen: In den Mittelpunkt. Wenn über Kundenbedürfnisse nachgedacht wurde, dann waren im Kern Abverkaufsargumente gesucht. Nutzerzentrierung war also je nach Lesart entweder ein Vertriebsvehikel oder ein Feigenblatt für das Marketing. Nutzerzentriert (ca. 2010 bis 2020) Ab ca. 2010 beginnt die Mehrheit der Unternehmen, ihre Ideen, Konzepte, Prototypen und Produkte kontinuierlich mit Kund:innen zu evaluieren – oft während des gesamten Produktlebenszyklus. Ausgangspunkt sind in der Regel die funktionalen Bedürfnisse, also konkrete praktische Herausforderungen und Pain-points von Kund:innen. Am Anfang jeder Innovation stehen also die Kund:innen: Was ist ihr Problem? Wie können Unternehmen es lösen? In der frühen Phase des Produktlebenszyklus sind Interview-basierte Forschungsmethoden das Mittel der Wahl. In Fokusgruppen, Tiefeninterviews oder Usability-Tests werden Kunden befragt, welche Ansätze ihre Bedürfnisse am besten befriedigen. Doch mittlerweile hat die verhaltensökonomische Forschung klar aufgezeigt, dass Menschen die meisten Entscheidungen unterbewusst treffen – und daher im Rahmen von Befragungen kaum verbalisieren können, wie sie sich in der späteren Kaufentscheidung tatsächlich verhalten werden. Doch nicht nur bei der Produktentwicklung, sondern auch bei der nutzerzentrierten trigger-basierten Ansprache stoßen die etablierten Prinzipien an ihre Grenzen: Die bereits ausführlich beschriebenen Herausforderungen, dass der Gesetzgeber und die Browser die Third Party Cookies in Frage stellen und Nutzer:innen zunehmend bewusster und zurückhaltender mit ihren Daten umgehen, sorgt dafür, dass die neu aufgekommenen Marketing Automation Technologien bereits nach kurzer Zeit nicht mehr über ausreichend „Futter“ für die direkte Ansprache verfügen. Beziehungszentriert (ab 2020) Diese beiden Aspekte führen aus zwei verschiedenen Seiten an denselben Punkt: Es wird wieder Zeit für ein Umdenken. Mit dem Beginn der frühen 2020er beginnen die ersten besonders visionären Unternehmen auf die Datenknappheit und Nutzeremanzipation zu reagieren, indem kontextspezifische Bedürfnisse der Nutzer:innen in den Mittelpunkt gestellt werden. Ziel ist die Abkehr vom traditionellen Ansatz, Wachstum durch die Akquisition von Neukund:innen zu erreichen und stattdessen fokussiert an der Kundenbeziehung und -bindung („Retention“) zu arbeiten. Die Idee: Von Bestandskund:innen liegen weitaus mehr nutzbare Daten vor als von anonymen Usern, also ist es weitaus vielversprechender, ihnen datenbasiert zu ihren Bedürfnissen passende Vorschläge zu unterbreiten. Getragen wird dieser Ansatz auch von der Erkenntnis, dass der Unternehmenserfolg von den Entscheidungen von Menschen abhängt – und von (fast) nichts anderem. Customer Journeys sind demnach Verkettungen von mehreren einzelnen Entscheidungen. Im

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digitalen Raum treffen Menschen Entscheidungen fast immer unter Unsicherheit, auf Basis intuitiver emotionaler Verhaltensmuster, wie wir heute wissen. Dabei wird Vertrauen wird zum Schlüsselkonstrukt der Kundenbeziehung. Es geht nicht mehr um stumpfes Verkaufen, sondern um den Aufbau von Beziehungen. Wie Lemonade Kundenbeziehungen aufbaut

Was erst einmal abstrakt klingt, lässt sich gut am Beispiel der Digital-Versicherung Lemonade veranschaulichen. In der Vergangenheit prallten beim Verkauf von Versicherungen unterschiedliche Interessen aufeinander. Je mehr Gutes die Versicherung ihren Kund:innen in Form von großzügiger Regulierung von Schäden tut, desto weniger kommerziell erfolgreich ist sie. Echte Beziehungen können so unmöglich aufgebaut werden. Lemonade löst diesen Konflikt und besinnt sich auf die ursprüngliche Idee von Versicherungen: Die Solidargemeinschaft. Konkret: Versicherte zahlen Beiträge, die Versicherung begleicht Schäden, was am Ende übrigbleibt (abzüglich einer festen Vergütung für Lemonade), geht an eine Wohltätigkeitsorganisation, die die Kund:innen selbst wählen. So sitzen Versicherung und Kund:innen auf einmal im selben Boot. Gemeinsame Interessen sind die beste Basis für den Aufbau einer Beziehung. Der revolutionäre Ansatz taugt sicherlich nicht als 1:1 Vorlage für alle Unternehmen. Doch die Leitidee, die Erfüllung der Kundenbedürfnisse zum obersten Daseinszweck zu erheben, ist beispielhaft für die neue Sicht auf Kund:innen und hat das junge Unternehmen zum Shooting Star der Branche gemacht. Zusammenfassend, wie in Abb. 1.2 tabellarisch dargestellt, lässt sich festhalten: Nachdem in der produktzentrierten Ära die „Gießkanne“ in der Kundenansprache dominierte, entwickelten sich in der Service-Ära zunehmend feinere Funnel-Modelle, die die „Reise des Kunden“ als einen mehr oder minder linearen Prozess verstanden, an dessen Ende ein Kauf stand. Was danach passiert bzw. wie langfristig Kundenbeziehungen aufgebaut werden, beantworten diese Modelle nicht. Das macht nachhaltiges Wachstum für Unternehmen zum Blindflug. Das ändert sich gerade: In der beziehungsorientierten Ära der Kundenansprache vollzieht sich ein Schwenk vom Funnel zum Flywheel. Dieses Leitbild wurde maßgeblich von dem Softwareunternehmen Hubspot geprägt (Hubspot o. J.) und lehnt sich an das mechanische Schwungrad von James Watt an, das für seine hohe Effizienz bekannt ist. Die Idee: Sobald sich das Schwungrad einmal dreht, behält es sein Momentum bei, ohne dass viel zusätzliche Energie aufgebracht werden muss. Übertragen auf das Digital Business heißt das: Zufriedene Kunden bringen als Multiplikatoren selbst die Energie auf, ein Unternehmen wachsen zu lassen. Das entspricht einer strukturellen Umkehr der Perspektive, mit der auf Kund:innen geblickt wird.

1.3

Eine neue Business-Philosophie entsteht

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Abb. 1.2 Business-Philosophien der letzten Jahrzehnte

Das Flywheel Dem Gedankenmodell des Flywheels hat sich auch das Shoppingportal Otto verschrieben. Der Online-Händler legte im März 2022 Marketing und Vertrieb in der neuen Abteilung Customer Management zusammen und definierte Experience als neues Paradigma. Statt in isolierten Kampagnen zu arbeiten soll das neue Customer Management die Beziehung zu den Kund:innen holistisch begleiten und so effektivere Vermarktungsansätze liefern. Daran zeigt sich bereits, dass ein ernsthaft kunden-

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1 Auf die Beziehung kommt es an: Aus „E-Commerce“ wird „R-Commerce“

und datenzentrierter Ansatz auch mit Veränderungen in der Organisation einhergeht. Diesem Aspekt widmen wir uns ausführlich in Abschn. 6.3. Heruntergebrochen auf ein Marketingmodell bedeutet das: Das bislang gern genutzte FunnelSystem, in dem interessierte User Schritt für Schritt den Trichter durchlaufen, bis sie am Ende als Kund:innen herauskommen, wird langsam Alteisen. Mehr und mehr setzt sich das Modell „Schwungrad“ durch, bei dem die Kund:innen ständig im Zentrum jeglicher Aktivitäten stehen. Damit kein Stillstand entsteht, halten die Abteilungen Sales, Marketing und Service das Rad bzw. die Kommunikation mit den Kund:innen in konstanter Bewegung. Der wohl größte Vorteil dieser Herangehensweise: Selbst wenn Kund:innen die klassische Customer Journey mit dem Kauf im klassischen Funnel-Verständnis „offiziell“ abgeschlossen haben, dreht sich das Rad weiter. Das Unternehmen sucht die regelmäßige, kontinuierliche Kommunikation mit den Kund:innen. So lässt sich der Customer Lifetime Value der Kund:innen steigern, die Zahl der Bestandskund:innen erhöhen und im Idealfall entstehen aus den kontinuierlichen Bemühungen sogar Markenbotschafter.

Diese Perspektive ist ein wesentlicher Baustein des R-Commerce, den dieses Buch beschreibt. Wir definieren R-Commerce wie folgt:  Definition R-Commerce R-Commerce ist das Denkmodell für das Digital Business, das auf Beziehung und Dialog setzt, um das Dilemma aus Datenknappheit, Wettbewerbsdruck und steigenden Anforderungen an das Nutzungserlebnis aufzulösen. Vertrauen zurückgewinnen, Menschen verstehen und datenbasiert in Echtzeit kommunizieren sind die Erfolgsfaktoren der Nutzeransprache im R-Commerce. Der Begriff weckt nicht zufällig namentliche Assoziationen an den E-Commerce. Denn das „E“ („Electronic“) ist längst nicht mehr das prägende Merkmal dieser Branche. Es sind die Beziehungen („Relationships“). Daher ist es Zeit für einen legitimen Nachfolger des „E-Commerce“ – dafür die Grundlage zu schaffen, ist der Anspruch von „R-Commerce“. Ein großes Ziel, ohne Zweifel. Die Frage drängt sich auf: Gibt es überhaupt schon Belege, dass beziehungsorientiert handelnde Unternehmen künftig wirklich den Wettbewerb übertrumpfen werden? Konkret: Gibt es ex-post-Zahlen die auf einer langen Zeitachse zeigen, was entsprechende Bemühungen in puncto Umsatz bringen? Klare Antwort: Nein. Wir stehen ganz am Beginn eines Umbruchs. Und die ganze Digital-Branche fragt sich: Wie genau sollen wir damit umgehen? Was ist jetzt zu tun? Wahrscheinlich gehören auch Sie dazu, denn Sie halten ein Buch in den Händen, das genau diese Fragen untersucht. Doch die Tatsache, dass das langfristige Ziel noch im Nebel liegt, sollte niemanden davon abhalten, sich auf den Weg zu machen. Denn die Richtung ist bereits klar. Ebenso ist sicher, dass die Strecke lang wird. Fest steht bereits, dass wir Bewegungen von Usern nicht wie früher erfassen können. Klar ist auch, dass die künftige Datenknappheit eine ganz andere Tiefe der Auseinandersetzung mit Kund:innen verlangt. R-Commerce ist kein neues Tool, dass eingeführt werden muss, auch keine Schulung für Mitarbeitende oder ein Kampagnenbriefing. Es ist eine strukturelle strategische Neubewertung

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Bedienungsanleitung: Das Wichtigste über dieses Buch

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der Kundenperspektive, die auf allen Ebenen Veränderungen erfordert. Wer heute fragt, „Wieviel zusätzlicher Umsatz ist möglich, wenn ab jetzt beziehungsorientiert denke?“ stellt die falsche Frage! Der Umsatz der letzten Jahre ist in Zeiten erodierender Loyalität und plötzlich nicht mehr funktionierender Marketingtaktiken alles andere als sicher. Die Karten werden komplett neu gemischt. Diejenigen Unternehmen werden obsiegen, die zuerst den verkrampften Fokus auf Conversion Rates und Warenkorbgrößen ablegen und Erfolg konsequent an langfristigen Kennzahlen ausrichten. Dazu gehört – auch das sei bereits einleitend erwähnt – auch eine Veränderung in der Unternehmensorganisation und -kultur. In den letzten Jahren haben sich Abteilungen zu abgeschotteten Datensilos entwickelt. Diese aufzubrechen, ist nicht nur eine Frage der Dateninfrastruktur, sondern auch der Verzielung der Mitarbeitenden, des Mindsets, der emotionalen Zugehörigkeit und natürlich der Arbeitsprozesse. Heute nehmen die meisten Abteilungen für sich zu Recht in Anspruch, kundenzentriert zu arbeiten. Doch eine konsequente abteilungsübergreifende Kundenzentrierung findet man in der Praxis so gut wie nie. Aber der Reihe nach…

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Bedienungsanleitung: Das Wichtigste über dieses Buch

Bevor wir uns allen Themen, die das erste Kapitel bislang angeschnitten und grob sortiert hat, in der gebührenden Tiefe widmen, ist es Zeit für eine „Bedienungsanleitung“ für dieses Buch. Wir hoffen, damit eine Orientierung geben zu können, was R-Commerce sein will und was nicht. Dies soll helfen, die folgenden Ausführungen einzuordnen und das Maximum aus dem Buch herauszuholen. Ein Buch für alle Digital Worker Als der Springer Gabler Verlag auf uns zukam, um Leitidee und Konzept des Buchs zu besprechen stellte sich schnell die Frage: Wer ist eigentlich die Zielgruppe für R-Commerce? Unsere Antwort fiel länger aus, als erwartet: • CEOs und General Manager, die eine strategische Einordnung der wichtigsten Entwicklungen im datengestützten Digital-Business suchen, um Wachstumsperspektiven zu erkennen. • CMOs und andere Marketingverantwortliche, die akute Effizienzverluste bereits heute feststellen oder künftig kommen sehen und einen Ausweg aus der Krise finden wollen. • CDOs und Business-Intelligence-Verantwortliche, die mit ihrem datenfokussierten Mindset alle Kolleg:innen mitreißen und die beste aller möglichen Datenstrategien identifizieren wollen. • CTOs, CIOs und andere Technologie-Verantwortliche, die sich fragen, ob das bestehende Tech Stack die Herausforderungen der beziehungsorientierten Kundenansprache in Echtzeit bewältigen kann.

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1 Auf die Beziehung kommt es an: Aus „E-Commerce“ wird „R-Commerce“

• Alle Expert:innen quer durch alle Hierarchieebenen, die direkt oder indirekt für Kund:innen arbeiten und ihren Horizont interdisziplinär erweitern wollen. Kurzum: Eine große Veränderung findet nicht „nur“ im Marketing, oder „nur“ in der ITAbteilung statt. Eine große Veränderung ist in aller Regel abteilungsübergreifend. Das macht die Frage nach der Zielgruppe ebenso herausfordernd wie spannend. Wir vermuten, dass jede:r Leser:in in einem der Kapitel Expertenwissen hat. Dieses Wissen dient als Startpunkt, der mit den vielleicht weniger vertrauten Betrachtungen in den weiteren Kapiteln zu einem deutlich erweiterten Bild geformt werden kann. Vogelperspektive für ein neues Big Picture Dies ist ein Buch aus der Vogelperspektive. Es werden diverse meist getrennt arbeitende Disziplinen betrachtet und miteinander verbunden: Marketing, Psychologie, IT, Business Intelligence, Recht, Strategie, Vertrieb, Service. Dieses Vorhaben kann überhaupt nur eine Chance auf Erfolg haben, wenn man auf die großen Zusammenhänge fokussiert und ein strategisches Big Picture definiert. Dennoch werden wir an ausgewählten Stellen in den Tiefflug gehen und zentrale Aspekte deutlich operativer beleuchten. Wir suchen in R-Commerce ein neues Leitbild für das digitale Verkaufen, einen Nachfolger für den E-Commerce. Daher konzentrierten wir uns auf digitale Vertriebskanäle und Kontaktpunkte. Wir sind uns bewusst, dass viele Unternehmen auch ein analoges Geschäft mit Filialen, Agenturen, oder Shops besitzen. Andere setzen vielleicht stark auf analoge Marketingmaßnahmen wie Postwurfsendungen, Kataloge oder Out-of-Home-Werbung. Alle Kernannahmen sind so formuliert, dass auch Datenpunkte aus diesen analogen Kontaktpunkten einbezogen, oder umgekehrt Kampagnen auch in diese Kontaktpunkte hinein ausgespielt werden können. Aus der Praxis für die Praxis R-Commerce ist ein Fachbuch. Fachbücher steigen in der Regel deutlich tiefer in eine Materie ein als Sachbücher und sind deutlich breiter aufgestellt als wissenschaftliche Abhandlungen. Deshalb haben wir unsere zentralen Annahmen und Hypothesen angemessen mit Quellen hinterlegt, wir verzichten aber im Sinne des Leseflusses darauf, jede einzelne Aussage mit weiterführenden Ressourcen zu belegen. Das geschieht auch deshalb, weil wir die Erfahrungswerte aus einer Vielzahl von Beratungsprojekten haben einfließen lassen. Alle Autoren sind selbst seit vielen Jahren mit genau den Fragestellungen beschäftigt, die hier behandelt werden. Im Laufe dieser Zeit konnten wir viele eigene Erkenntnisse gewinnen, die wir hier gerne weitergeben, aber nicht immer mit Quellen unterfüttern können. Ein Buch mit einer Haltung Wir unterwerfen uns als Autoren selbstverständlich dem Gebot der Objektivität und Unvoreingenommenheit, haben allerdings auch feste Standpunkte, für die wir eintreten und die sich hier und da zeigen mögen. Wir glauben an:

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Bedienungsanleitung: Das Wichtigste über dieses Buch

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• Veränderungen, die von einem starken Management mit klarer Agenda getragen werden • die Notwendigkeit zur Bereitschaft kurzfristiger Ertragseinbußen für perspektivische Sicherung und Ausbau des Geschäfts • Fairness, Offenheit und Manipulationsfreiheit in der Kundenbeziehung • Langfristigkeit und Nachhaltigkeit auf allen Ebenen • Agilität und Experimentieren als kürzesten Weg zum Erfolg Aufbau und Nutzung dieses Buchs Für die meisten Digital Business Profis ist Zeit die knappste Ressource. Deshalb bietet dieses 1. Kapitel den groben Abriss der großen Zusammenhänge und der neuen datenund beziehungsorientierten Business-Philosophie, die R-Commerce umreißt. Danach könnte man theoretisch aufhören zu lesen und wäre dennoch grundlegend im Bilde, wenn ein modernes Verständnis von Kundenbeziehungen diskutiert wird. Das 2. Kapitel stellt Gleichheit bei den historischen Entwicklungen und Anknüpfungspunkten von R-Commerce her. Kontextgesteuerte Werbung, Segmentierung, Kundenzentrierung, datenbasierte Kampagnen, Personalisierung – all das war schon einmal da. In diesem Abschnitt werden die Themen im Zeitverlauf zueinander in Beziehung gesetzt. Das 3. Kapitel über Psychologie und Verhaltensökonomie erwartet man in einem Buch, das sich im Kern mit Daten und Technologie befasst, vielleicht nicht unbedingt. Sobald wir diese Themen aber auf Beziehungen beziehen, müssen wir Bedürfnisse und Entscheidungen verstehen. Sicher waren gestiegene Ansprüche und ein emanzipiertes Nutzerverhalten der Ursprung, doch diese Veränderungen waren schleichend. Im 4. Kapitel werden die Themen analysiert, die dagegen wie ein Knall wirkten: Neue rechtliche Rahmenbedingungen und technologische Veränderungen, die das definitive Ende der heutigen Marketing-Prozesse einleiteten. Dann wechseln wir vom deskriptiven zum instruktiven Teil des Buchs: Das 5. Kapitel beschreibt im Detail R-Commerce als Business-Transformation mit seinen Leitprinzipien, Effekten und Voraussetzungen, sowie ausführlich die Rolle von Daten. Konkret wird es dann im 6. Kapitel, das den strategischen Fahrplan für die Umsetzung vorstellt. Gesondert wird dort auf die drei Knackpunkte im Einflussbereich jeder Organisation (Technologie, Datenmanagement und Organisationsentwicklung) eingegangen. Das Buch schließt im 7. Kapitel mit einer Zusammenfassung der Paradigmen des R-Commerce, also aller zentralen Aussagen – gewissermaßen zum Ausdrucken und über den Schreibtisch hängen.

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1 Auf die Beziehung kommt es an: Aus „E-Commerce“ wird „R-Commerce“

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Zeitreise: Vom anonymen zum gläsernen Kunden und wieder zurück

Zusammenfassung

Um zu verstehen, warum das Thema Kundenkommunikation heute so heiß und kontrovers diskutiert wird, hilft der in diesem Kapitel dargestellte Blick in die Entwicklungsgeschichte von Marketing und Online-Kommunikation. Die Entwicklung der Cookie-Ära und die Erfolge des Retargeting haben dafür gesorgt, dass Marken und Händler das Datensammeln ausgelagert haben. Jetzt – nach der „Cookiecalypse“ – fehlen ihnen Daten und Know-how, um die wahren Kundenbedürfnisse zu erkennen. Den Kund:innen ist es gleich: Sie erwarten seit der Erfindung von Cookies nichts weniger als ein erstklassiges Erlebnis in Service und Kommunikation, immer und überall – vom ersten Impuls bis zum Kauf (und darüber hinaus). Die feine Granularität von Third Party Daten machte es möglich. Heute müssen Unternehmen den Weg zurück zu First Party Data finden und ihr Marketing-Handwerk neu lernen, um die Kundenbedürfnisse weiterhin erfolgreich zu treffen.

Es ist kein Zufall, dass wir heute da stehen, wo wir stehen. Eine lange Kette von Strömungen, Innovationen und Glaubenssätzen hat den Handel in den letzten Jahrzehnten bis zum Status Quo weiterentwickelt. Und immer wieder stellt man fest: Was sich heute anschickt, als neuer Trend die Branche durchzurütteln, war in ähnlichem Gewand schon Jahre früher ein heißes Thema. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, wichtige Meilensteine zu beschreiben, die einen Einfluss auf das Digital Business und seine aktuellen Herausforderungen haben. Dazu gehören die ersten Zielgruppenbeschreibungen und Segmentierungsansätze, das Aufkommen Cookie-basierter Tracking-Technologien, die Erfindung des Retargetings und des Influencer-Marketings. Allerdings hat sich die Komplexität im Marketing nicht linear weiterentwickelt, sondern Dank Social Media und Mobile unüberschaubar viele neue Kanäle hervorgebracht. Diese Kanäle, die mit © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Stalph et al., R-Commerce, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42054-3_2

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2 Zeitreise: Vom anonymen zum gläsernen Kunden und wieder zurück

zur Emanzipation der User beitrugen, haben den Wunsch nach Transparenz, Vertrauen und authentischen Botschaften geschaffen – eine Forderung, die sich bis heute mehr und mehr verstärkt hat. Frei nach dem Motto: Wer heute erfolgreich die Zukunft gestalten will, tut gut daran, die Entwicklungen der Vergangenheit zu kennen. Dabei sprechen wir über die frühen Werbeformen, die damals noch „Reklame“ genannt wurden und anfangs Teil der Tageszeitung waren – zunächst als Text- und dann als Text mit Bildanzeige. Später werteten die bunten Bilder auch Magazine auf. Und schließlich lernten diese Bilder laufen. 1941 wird in den USA der erste Fernseh-Werbespot ausgestrahlt (Ganninger, 2020). Mit dem Siegeszug des Bewegtbilds entwickelten sich somit auch Anzeigenformate weiter von der reinen Textanzeige über Text plus Bild hin zu Bewegtbild. Das fühlt sich verdächtig vertraut an. Genau, im digitalen Kontext hat sich dieses Drehbuch wiederholt. Und später noch eins draufgesetzt: mit zielgenauem Targeting. Dialog statt Berieselung, Intention statt Impuls. Aus Werbung wurde langsam Marketing und gehört heute zur Kommunikationspolitik eines jeden Unternehmens. Das Ziel ist dasselbe geblieben: Produkte und Dienstleistungen sollen bekannt und begehrlich gemacht werden. Marketing will also Verhalten beeinflussen. Die Zeitreise in Abb. 2.1 bringt uns direkt an den Ausgangspunkt von R-Commerce.

2.1

20. Jahrhundert: Die Erfindung der Zielgruppe

Jahrzehnte bevor das Targeting entwickelt wurde, musste zunächst einmal die Zielgruppe „erfunden“ werden. Denn auch schon zu Analogzeiten grübelte die Werbebranche, wie sie es besser schaffen könnte, ihre Produktinformationen an die potenziellen Käufer:innen zu richten. Und so dauerte es nicht lange, bis die Werbetreibenden versuchten, ihre Botschaften gezielt an bestimmte Adressaten zu bringen. Naheliegend und einfach umzusetzen waren die Zielgruppen „Frau“ und „Mann“. Gemäß der damaligen patriarchalischen Vorstellungen der 1940er, 50er und 60er Jahre (und teilweise weit darüber hinaus) waren Frauen besonders für Produkte rund um Schönheit und Haushalt empfänglich, Männer interessierten sich dagegen für Autos oder Heimwerken, keinesfalls jedoch für Körperpflege. Das Konzept schien aufzugehen und wurde im Laufe der Zeit weiter verfeinert durch soziografische Merkmale wie Alter, soziale Schicht oder Einkommen. Diese Zielkriterien haben viele Jahrzehnte lang die Werbeplanung im Marketing beherrscht. Auf die ersten rudimentären Zielgruppen wurde keineswegs empathisch und bedürfnisorientiert geblickt. Es war die Zeit der absoluten Produktversessenheit, in der eine große Distanz zu den Kund:innen zelebriert wurde und man lediglich nach strukturierenden Merkmalen in der Käuferschaft suchte. Fernsehwerbung war ein gutes Medium, um genau diese produktzentrierte Philosophie zu unterstützen. Ausgesteuert wurde die Werbung über das Themenumfeld – also „kontextuell“, würde man heute sagen. Und so konnten Werbetreibende des letzten Jahrhunderts

2.1

20. Jahrhundert: Die Erfindung der Zielgruppe

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Abb. 2.1 Zeitreise der Kundenansprache

das Massenmedium Fernsehen nutzen und zugleich versuchen, gezielt ihre Wunschkund:innen (Zielgruppen wäre tatsächlich noch ein zu großer Begriff) zu erreichen. Zugegeben, ein Spagat. Defacto ähnelte Fernsehwerbung hinsichtlich ihrer Genauigkeit

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2 Zeitreise: Vom anonymen zum gläsernen Kunden und wieder zurück

einer Gießkanne. Macht nichts, sagten die Werbeverantwortlichen. Denn die große Reichweite des Fernsehens war ein unschlagbarer Vorteil, der die geringe Treffgenauigkeit wettmachte. Praktisch jeder im Land mit „Volksempfänger“ konnte adressiert werden. An vielen potenziellen Kund:innen ging diese Werbung jedoch völlig vorbei. Nicht erfreulich, wie budgetbewusste Marketer fanden und sich nach genauerer Zielgruppenausspielung sehnten. Sie mussten sich gedulden, bis das Internet erfunden und einige Browsergenerationen ins Land gezogen waren. Denn erst dank der technologischen Entwicklung im digitalen Raum konnte man langsam Zielgruppen definieren und von Targeting sprechen. Die ersten Werbebemühungen im Netz erinnerten allerdings noch stark an das Gießkannenprinzip der Werbung in TV, Zeitungen und Magazinen. Die Unternehmen starteten anfangs auch im Netz mit klassischem Outbound-Marketing als der Methode der Wahl – sie übergossen Kund:innen mit werblichen Informationen in Form von Bannern – so, wie sie es auch via Zeitung, Plakat oder TV-Spot taten, in der Hoffnung, damit auf fruchtbaren Boden zu fallen. Das werbende Unternehmen drückte (daher der Begriff des „Push-Marketing“) die Kund:innen zum Produkt. Doch im Laufe der Zeit wurde es immer schwerer, die Kund:innen vom eigenen Produkt zu überzeugen. Der Werbedruck stieg langsam, aber stetig. Die Werbewirkung von Bannern aller Art nahm indessen jedoch ab. Die User wurden zusehends unempfänglich. Die Studie „Werbung für Finanzdienstleistungen im Internet“ (Henn, 1999) zeigt beispielsweise zur Jahrtausendwende, dass sich Werbebanner im Internet hinsichtlich ihrer Wirkung ebenso abnutzen wie Werbung in klassischen Medien, d. h. dass die durchschnittliche Klickrate von Werbebannern im Zeitverlauf sinkt. Später fand dieser Effekt als „Banner Blindness“ Eingang in die Marketing-Literatur. Ein Grund dafür ist, dass durch die schiere Masse an Werbebannern eine Art Gewöhnungseffekt bei den Usern eintrat und Banner daher oft kaum noch wahrgenommen werden. Langsam aber sicher änderte sich das Vorgehen bei der Werbeschaltung daher. Auf Outbound folgte Inbound – die Nutzer:innen fingen an, zu bestimmen, welchen Content sie sehen möchten. Beim Inbound-Marketing (auch „Pull-Marketing“) zeigen die Kund:innen generelles Interesse, das Unternehmen lenkt beziehungsweise zieht (engl.: to pull) die Kund:innen zum Produkt. Die Zeit des Content Marketing begann. Rein produktbezogene Werbung, wie sie noch Ende des 20. Jahrhunderts an der Tagesordnung war, rückte langsam in den Hintergrund.

2.2

Jahrtausendwechsel: Die Kund:innen werden gläsern – Cookieseidank

Rund um den Jahrtausendwechsel wurde es für die Werbebranche, die verzweifelt nach der Rückgewinnung der Kontrolle suchte, zunächst noch herausfordernder. 1998 trieb die Geburt von Google die Professionalisierung im digitalen Marketing voran und schuf

2.2

Jahrtausendwechsel: Die Kund:innen werden gläsern …

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völlig neue Möglichkeiten. Um 2000 entstanden die ersten Blogs und wurden prompt besser in Suchmaschinen gefunden als erfolgreiche Marken (Baker, 2021). Unternehmen sahen in diesen legeren Newcomern zunächst eine Gefahr – schnappten sie ihnen doch ihre Beziehung zu den Kund:innen weg. Unternehmen waren plötzlich nicht mehr in der Lage, alle Nachrichten über sich zu kontrollieren und zu verwalten. Was heute wie das Normalste der Welt klingt, war seinerzeit ein absoluter Paradigmenwechsel. Und so beginnt bereits um die Jahrtausendwende der langsame Weg zu emanzipierten Kund:innen. Während Influencer:innen seit Anfang 2000 immer mehr an Glaubwürdigkeit gewannen – auch wenn sie damals noch schlicht „Blogger“ hießen – verloren platte Werbeaussagen von Unternehmen und Marken an Bedeutung (Mortimer, 2018). Die Kund:innen wurden kritischer, ihr Mediennutzungsverhalten differenzierter. Dann aber passierte etwas Großartiges: Tracking-Methoden im noch jungen Internet kamen auf – allen voran: Cookies. Sie wurden in den folgenden Jahren zu dem wichtigsten Werkzeug in der digitalen Industrie für die Messung und Evaluation von Marketingmaßnahmen. Sie gaben den Unternehmen den Kontakt zu den Kund:innen zurück und ebneten den Siegeszug des digitalen Marketings. Die ersten Cookies dienten ab 1994 im E-Commerce für die reibungslose Abwicklung von Online-Bestellungen. Niemand konnte damals ahnen, zu welch tragender Bedeutung sie sich entwickeln sollten. Und dann ging es Schlag auf Schlag: HTTP-Cookies, Sitzungs-Cookies, dauerhafte („persistente“) Cookies und später auch Third Party Cookies begannen den Webverkehr für Marketer zu ordnen. Insbesondere die Cookies von Drittanbietern ermöglichten es Marketing-Dienstleistern, den Usern auf der ursprünglichen Website und über einzelne Seiten hinweg zu folgen. Daten zu Dauer und Häufigkeit von aufgerufenen Websites und Unterseiten, Reihenfolge der besuchten Seiten, verwendete Suchbegriffe, Klickverhalten auf den Seiten, Uhrzeit, Länder- und Spracheinstellungen sowie verwendete Technik (Device-Klasse, Betriebssystem, Versionsnummer des Browsers, etc.) vermittelten spannende Einblicke. Eine Anmeldung der User auf diesen Websites war und ist nicht notwendig. Auf diese Weise entstanden Profile, die ein umfassendes Bild der UserInteressen bereitstellten. Eine ganze Industrie entwickelt sich rund um Tools, die darauf ausgelegt sind, diese Daten auszuwerten und für Online-Kampagnen nutzbar zu machen. Und in dieser Zeit nahm eine weitere wichtige Entwicklung ihren Anfang: Retargeting. Retargeting ist eine intelligente Methode, um bereits interessierte User endgültig zu konvertieren. Egal, ob sie nur eine Website besuchten oder sogar ein Produkt in ihren Warenkorb legten: Diese User haben bereits Interesse am Angebot des Website-Betreibers gezeigt. Der Aufwand, der noch betrieben werden musste, um sie zum Kaufen zu bewegen, war deutlich geringer als bei Personen, die diese Website noch nie zuvor besucht haben (Fishman, 2020). Retargeting verstärkte den ersten Eindruck und hielt Produkte im Gedächtnis der potenziellen Kund:innen. Die Wirkung basiert auf einem psychologischen Effekt, der als „Mere-Exposure-Effekt“ bezeichnet wird (Spreer, 2021): Je häufiger wir etwas sehen, desto vertrauter erscheint es uns. Und zu vertrauten Dingen entwickeln wir meist eine positive Einstellung.

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2 Zeitreise: Vom anonymen zum gläsernen Kunden und wieder zurück

Natürlich reizten werbetreibende Unternehmen die Möglichkeiten der neuen Technologie bis zum äußersten aus. Die Kund:innen können sich vor dem immerselben Werbebanner kaum noch retten – erste Anzeichen von Paranoia werden erkennbar. Wer am Abend den Traumurlaub auf den Malediven gegoogelt hat, wird fortan wochenlang mit hübschen Banner-Anzeigen voll weißem Sandstrand und tiefblauem Meer beglückt – selbst dann, wenn die Reise längst gebucht ist. Hier nahm eine Entwicklung ihren Lauf, mit deren Folgeschäden Unternehmen bis heute kämpfen. Die Schere der Interessen zwischen Usern und den Unternehmen begann auseinanderzudriften.

2.3

Social Media und Mobile bringen Komplexität

Ab spätestens 2010 ist klar: Die Zeiten, in denen Anzeigen und Marketingbotschaften ausschließlich dazu dienen, Aufmerksamkeit zu erregen, sind vorbei. Die User erwarten mehr. Sie fordern Mehrwert statt einfacher Werbung. Letztlich ist die Erfolgsstory des Influencer-Marketings im Kern ein Ausdruck dessen. Etwas größer gefasst, ist dies die Ära des Social Media Marketing. Dem „The State of Marketing 2010 Report“ (Marketinginstitut 2010) zufolge arbeitete zu diesem Zeitpunkt bereits fast die Hälfte der befragten Marketingfachkräfte (47 %) mit Web 2.0-Instrumenten. Weitere 23 % planten einen Einsatz in den nächsten 12 Monaten. Das wichtigste Element des Web 2.0 ist seine Rückkanalfähigkeit. User können selbst zum Erzeuger von Inhalten werden, sie kommentieren und verbreiten. So wandelte sich die Kommunikation von einem statischen und einseitigen Sender-Empfänger-Modell zu einem dynamischen Interaktionsmodell. Die Branche begann, in „Touchpoints“ zu denken und die Anzahl und Qualität von Interaktionen mit den Kund:innen als Wert zu begreifen. Auch Video-Werbung war im Kommen: 75 % setzten Bewegtbild bereits ein oder planten einen Einsatz (Marketinginstitut 2010). Die Kehrseite: Abermals buhlten immer mehr Impulse um die begrenzte Aufmerksamkeit der User, die Lautstärke stieg. Das Leben wurde schnelllebiger, die Aufmerksamkeitsspanne sank. Zugleich zeigte sich: Marken, die sich konzentriert bemühten, in ihrer Marketingkommunikation offener zu sein und mit den Kund:innen zu interagieren, riefen positive Userreaktionen hervor, die zu Markentreue und Markenfürsprache führen konnten. Erste „Fanblogs“ entstanden (woraus sich später die Influencer-Landschaft entwickeln sollte). Basis dafür war das Vertrauen zwischen Marke und Kund:innen. Doch Vertrauen ist keine einmalige Sache, sondern eine fortlaufende Anstrengung. Solche Einwände wurden in der damals hart auf kommerzielle Kennzahlen ausgerichteten Digitallandschaft lange als Esoterik abgetan. Doch das Wachstum der sozialen Netzwerke förderte bei den Usern diesen Wunsch nach Transparenz, Vertrauen und authentischen Botschaften. Die Beziehung zwischen Kund:in und Unternehmen begann sich zu wandeln. Dazu trägt auch bei, dass neue Angebote auf den Markt kamen: Services. Plötzlich haben Unternehmen aufgrund der neuen Abo-Geschäftsmodelle ein echtes (weil finanzielles) Interesse, langfristige

2.3

Social Media und Mobile bringen Komplexität

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Kundenbeziehungen aufzubauen. Der Customer Lifetime Value (CLV) und Average Revenue per User (ARPU) erblickten das Licht der Exceltabellen der Marketer. Recurring Revenue, also wiederkehrende Umsätze, wurden zum ultimativen Ziel – und das nicht nur von Risikokapitalgebern, die in dieser Zeit Unmengen an Geld in jedes digitale Geschäftsmodell pumpten, das auch nur entfernt nach „Something-as-a-Service“ klang. Aber zurück zum Dialog: Ab ca. 2015 fingen Unternehmen an zu lernen, wie sie sich mit guten Geschichten im Kampf um Aufmerksamkeit durchsetzen können. Agenturen und Berater empfahlen deshalb, mehr Nutzwertinhalte statt Produktmerkmale zu veröffentlichen. Und damit taten sich viele Unternehmen schwer – zu hart schien die Abkehr von jahrzehntelang bewährten produktzentrierten Werbekonzepten. Doch Kund:innen wollten dort abgeholt werden, wo sie gerade stehen. Wer sich für BMW-Motorräder interessierte, wollte die aktuellen News über Rallyes, Motorentwicklungen, Rennfahrer etc. vorgestellt bekommen. Die sich ändernde Ansprache der Kund:innen erforderte eine genauere Kenntnis der Zielgruppen und dessen, was sie interessiert. Dank der Third Party Cookies ließen sich entsprechende Profile erstellen und Kund:innen immer gezielter und feingranulierter ansprechen. Doch das machte die Anzeigenplanung immer komplexer. Die Neuausrichtung auf all diese neuen Herausforderungen stellte für viele Unternehmen eine große Herausforderung dar. Wer sie effektiv bewältigen wollte, benötigte deshalb eine ganzheitliche Marketing-Plattform, auf der alles integriert, vereinheitlicht, skaliert sowie automatisiert war und effizient gemessen werden konnte – mit dem Ziel: produktiver zu werben, mehr Menschen besser orchestriert zu erreichen und mehr Umsatz zu erzielen. Customer Relationship Management Systeme (CRM) und Marketing Automation wurden Standard in den meisten Unternehmen (Malthouse et al., 2013). Es war die Stunde der Marketing-Lösungen von HubSpot, Salesforce, Adobe Marketing Cloud oder MS Dynamics. Diese Lösungen veränderten nun rasant das Marketing. Die Frage wurde zentral: Welche Inhalte müssen auf welchen Marketingkanälen positioniert werden, um die Aufmerksamkeit der User zu wecken? Die technische Grundlage für erfolgreiches Storytelling rund um die Produkte und Services eines Unternehmens war geschaffen – zumindest für die Kund:innen, von denen man Profile in der CRM-Datenbank besaß. Die Marketingabteilungen bemühten sich mit teils sehr anspruchsvollem und kreativem Content um die Kund:innen. Deren Ausspielung erfolgte immer mehr auf der Basis von zugekauften Third Party Daten. Mit jedem Jahr wurden die werbetreibenden Unternehmen genauer, erfuhren mehr über die Vorlieben bestimmter Kundengruppen und maßen, ob ihre Annahmen bzgl. Zielgruppe korrekt waren. Es wurde optimiert und optimiert. Und tatsächlich: Die Kund:innen gewöhnten sich an passgenaue Werbung. Mehr noch, sie erwarteten regelrecht, dass ihnen personalisierte Inhalte ausgeliefert wurden (Malowska et al., 2016). Google und Facebook waren mit ihren sich ständig ändernden Algorithmen nur die (Mit-)Wegbereiter einer Entwicklung, die immer mehr dahin ging, dass unpassende

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2 Zeitreise: Vom anonymen zum gläsernen Kunden und wieder zurück

oder uninteressante Werbung und suchmaschinenoptimierte Textblasen bei den Empfänger:innen nicht mehr verfingen. Entscheidend wurde der Wert des Contents – egal ob Unterhaltung oder Vermittlung von Wissen und Informationen. Das Entscheidungsverhalten der Menschen wurde in der Folge immer komplexer. Wie sehr, zeigt eine Analyse der Gesellschaft für Konsumforschung für den Abschluss einer Autoversicherung (Youngman, 2014): Über einen Zeitraum von 35 Tagen waren es durchschnittlich neun Besuche auf fünf verschiedenen Websites mit einer Gesamtdauer von 34 min. Der Einfluss von Online-Kanälen war klar: 82 % der Käufer recherchieren online, während vier Prozent sich offline informieren. Auffallend war dabei die Komplexität der Customer Journey (vgl. Abb. 2.2) über mehrere Geräte und eine längere Zeit, insbesondere bei Käufen mit hohem Engagement oder hohem Einkaufswert. Zur Erinnerung: Wir sprechen über eine Zeit, die fast ein Jahrzehnt vor dem Erscheinen dieses Buchs liegt. Die Herausforderung bestand darin, den richtigen Zeitpunkt für die eigenen Werbebotschaften während der Customer Journey zu finden. Beispiel Urlaubsbuchung: Sandstrand,

Abb. 2.2 Die Komplexität der Customer Journey

2.3

Social Media und Mobile bringen Komplexität

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Mauritius, Abenteuer wurden plötzlich liebliche Schlagworte, die die Kund:innen magisch anzogen, wenn sie auf der Suche nach ihrem Traumurlaub waren. Aber nur, bis sie gebucht hatten. Für die Reiseanbieter war es allerdings alles andere als leicht, zu erraten, wann diese Worte plötzlich Signalwirkung entwickelten. Würde der Hersteller die User ständig zweimal pro Monat mit Werbung zum Thema Mauritius überschütten, wären sie bestenfalls gleichgültig, wahrscheinlich aber eher genervt von diesen fruchtlosen Bemühungen. Umgekehrt: Sobald der Kaufprozess abgeschlossen ist, sollte die Bespielung eines Users mit den entsprechenden Themen enden. Doch diese Philosophie begann sich langsam zu wandeln: Der Kauf ist nicht das Ende. Im Gegenteil: Dieser Moment markiert eher den Anfang. Den Anfang einer langjährigen positiven Beziehung zwischen Kund:innen und Unternehmen auf Augenhöhe. Auch in der Marketing-Theorie machte sich diese Sichtweise breit: Das in die Jahre gekommene AIDA-Modell (Awareness, Intention, Desire, Action), dessen letzte Phase den Kauf markierte, war für die Planung einer langfristigen Beziehung nicht mehr nutzbar. Customer Journeys wurden nun mit dem ACCRA-Modell strukturiert: 1. Awareness: Der potenzielle Kunde erkennt ein Problem/Bedürfnis und ist auf der Suche nach einer Lösung. Er wird auf Ihr Produkt aufmerksam. 2. Consideration: Der potenzielle Kunde zieht den Kauf Ihres Produkts in Erwägung. 3. Conversion: Der potenzielle Kunde wird zum tatsächlichen Kunden. Er konvertiert. 4. Retention (Erhalt): Der Kunde ist zufrieden mit dem Produkt. Vielleicht kauft er es noch einmal oder er kauft ähnliche Produkte aus Ihrem Sortiment. 5. Advocacy (Fürsprache): Der Kunde ist vollends zufrieden. Er wird selbst zum Botschafter der Marke, indem er Ihr Produkt weiterempfiehlt. Diese neue Customer Journey Typologie ist ein erster Vorstoß hinsichtlich Kundenzentrierung. Mit der Advocacy Phase erweiterten Marketingverantwortliche den Kontakt langfristig um nachhaltig gedachte Dimensionen. Ebenfalls 2015 machen die Kund:innen auch den Sprung ins mobile Internet (Kim, 2012) – mit weiteren Konsequenzen für Werbetreibende. User waren in der Folge quasi immer online. Die größten To Do’s für 2015 lauteten daher für Marketingabteilungen: Gutes Storytelling entwickeln, Inhalte für mobilen Traffic optimieren und Traffic-Kanäle diversifizieren. Die Menschen legten ihren Laptop oder Computer immer öfter beiseite, um stattdessen mit dem Smartphone oder Tablet im Internet zu surfen. Die Grenzen bei der Interaktion mit Inhalten verschwommen. Die gesteigerte Komplexität ging auch an der Organisation der Unternehmen nicht spurlos vorüber: Dies war die Phase, in der Stück für Stück Silos entstanden, die den Unternehmen heute so viel Kopfzerbrechen und entgangenen Umsatz bescheren. Einer der Gründe war die deutlich gesteigerte Schnelligkeit, in der Digital Marketer ihre Strategien anpassen mussten, um am Puls der Zeit zu bleiben und den Überblick über neue Online-Marketingkanäle, Innovationen, Technologien und Trends zu behalten. Das Mittel

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2 Zeitreise: Vom anonymen zum gläsernen Kunden und wieder zurück

der Wahl war die Fokussierung der Teams auf einzelne Touchpoints oder Kanäle – ein folgenschwerer Schritt wie man heute feststellen muss. Trotz der entstehenden Silos thronte über allem die neue Maxime der „Customer Centricity“ – die als Konzeptionsmodell schon länger bekannt war, nun aber endlich einen allseits akzeptierten Namen bekam. Sie verlangte, dass die Marke stets nah bei ihren Kund:innen sein sollte – und zwar entlang der gesamten Customer Journey. Video/ Content Marketing, Social Media, E-Mail, Kampagnen-Management, Lead-Generierung, Analytics, SEO, Conversion-Optimierung – die Liste der Tätigkeitsbereiche im Digital Marketing war lang und sollte in Zukunft weiter wachsen. Erst später zeigte sich jedoch, dass Customer Centricity zu diesem Zeitpunkt ein Missverständnis war: Jede Abteilung hat für sich kundenzentriert gearbeitet, übergeordnet (und nur das zählt in der Wahrnehmung der Menschen) gab es allerdings keinerlei Synchronisation.

2.4

2020: Die Cookiecalypse – zurück zur Gießkanne?

Die User waren also gut informiert, verglichen, ließen sich auf Social Media beraten – all das bei einer stetig wachsenden Zahl von Anbietern und stetig schrumpfenden Wechselbarrieren. In der Folge stiegen die Erwartungen. Kund:innen erwarteten nicht weniger als ein erstklassiges Erlebnis in Service und Kommunikation, immer und überall – vom ersten Impuls bis zum Kauf (und darüber hinaus). Best-in-Class-Kommunikation bedeutete: Sie musste zu den Bedürfnissen des Users passen. Dafür waren eigenes Tracking und die feine Granularität von Third Party Daten unersetzlich. Denn die ehemals weitgehend lineare Customer Journey wurde durch eine steigende Zahl an Touchpoints aufgeweicht. Laut Google machen 76 % der User auf ihren unergründlichen Shoppingwegen unerwartete Entdeckungen, mit denen sich 85 % in den folgenden 24 h beschäftigen (Thinkwithgoogle, 2020). Die Wünsche und Bedürfnisse von Kund:innen, die sie selbst noch nicht kannten, vorauszusehen und mit relevanten Angeboten zu bedienen, wurde für Marken ein zentraler Erfolgsfaktor. Innovative Anzeigenformate wie Discovery Ads und Deep-Link-Anzeigen für Apps schlugen genau in diese Kerbe und sprachen die User im richtigen Moment mit der richtigen Botschaft an. Marketing-Budgets stiegen in dieser Zeit stark an. Forbes rechnete mit 1,3 Billionen Dollar Werbebudget in 2020 weltweit (Hall, 2020). Werbetreibende befanden sich auf dem Höhepunkt der Kundenansprache mit Third Party Data. Was sie nicht wussten: Sie befanden sich auf dem Zenit – und trugen ihren Teil dazu bei, den Sinkflug selbst einzuleiten. Der Informationsflut folgte eine Reizüberflutung; und der ursprünglichen Demokratisierung von Wissen und Information die Anarchie und Inflation der Ansprache. Das Gebot der Ausgewogenheit in allen Formen der Kommunikation wurde vollkommen ignoriert. Die Omnipräsenz und Omnipotenz der Werbeindustrie führte zur Ohnmacht der User. Die Rufe nach Regulierung und Veränderung wurden

2.5

Heute: Marketing-Handwerk wird zur Beziehungsarbeit

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lauter und dringender. Die Stunde der staatlichen Intervention schlug zu: DSGVO als Begriff eines Neuanfangs und als vermeintliches „Todes-Verdikt“ einer auf Wachstum und Profitabilität ausgerichteten Werbeindustrie schwebte über allen Werbebemühungen. Mit dem Inkrafttreten der DSGVO wurden die Treiber des digitalen Werbewachstums grundsätzlich in Frage gestellt. Die Branche nahm das zunächst gelassen – man könnte auch sagen: ignorant. Ein Umdenken fand nicht statt, das Marketing setzte weiter auf die alten Methoden – insbesondere Third Party Cookies – und verdrängte die Realität. Ein Beispiel: 2020 – zwei Jahre nachdem die DSGVO in Kraft getreten war – hatten immer noch 13 % von 2500 zufällig ausgewählten Unternehmen keine Datenschutzerklärung, wie eine Studie des Fachverbands deutscher Websiten-Betreiber (FdWB) (FdWB, 10.8.2020) herausfand. Kontaktformulare müssen seit Einführung der DSGVO klaren Vorgaben entsprechen, auch das Tracking von Website-Besuchern und der Einsatz von Cookies bedarf spezieller Aufklärungen. Obwohl Cookies das Surfen bequemer machen – angefangen beim Zusammenstellen von individuellen Wunschlisten im Online-Shop bis hin zur personalisierten Werbung – verschlechterte sich der Ruf der „Kekse“ immer weiter. Aufgrund der breiten öffentlichen Debatte fühlten sich für die meisten User Tracking-Cookies plötzlich wie Spyware an. Ausdruck fand dieses Gefühl in der hohen Verbreitung von Ad-Blockern – kleine Tools oder Browser-Erweiterungen, die Werbung ausblenden und Cookies unterdrücken. In Deutschland lag der Anteil der Internetnutzer mit Ad-Blocker 2020 bereits bei 39 % (s. o., Rabe, 2022). Viele Browser unterstützten mittlerweile ebenfalls das Blockieren von Cookies. Und damit wurde, wie eingangs skizziert, der verwertbare Anteil an Informationen, der über die User vorliegt, sukzessive immer kleiner. So fehlten einerseits die großen Datenmengen, die eine feingranulare Segmentierung überhaupt erst ermöglichen. Andererseits verringerte sich die Möglichkeit, User zur richtigen Zeit und im richtigen Moment anzusprechen, da sie zusehends im cookiefreien Nebel verschwanden. „Es war so schön“ – doch dank DSGVO, Browser-Initiativen gegen Cookies und einer selbstbewussteren Haltung der User sind Third Party Daten (bald) Geschichte. Die Wege der Kund:innen sind heute schwerer denn je zu erkunden. Drohen wir, in den Zustand zu Beginn der Internet-Ära zurückzufallen und wieder die Gießkanne auszupacken? Wird Werbung mangels Daten wieder auf Verdacht ausgespielt? Unternehmen müssen sich überlegen, wie sie den Kontakt zu den Kund:innen in gewohnter Qualität halten können.

2.5

Heute: Marketing-Handwerk wird zur Beziehungsarbeit

„Nicht Daten sind der Rohstoff des 21. Jahrhunderts, sondern Vertrauen“ stellt der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber bereits Ende 2019 fest (Kleinz, 2019). Third Party Cookies spielen seit einigen Jahren die entscheidende Rolle, um die Kaufreise des

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2 Zeitreise: Vom anonymen zum gläsernen Kunden und wieder zurück

Users zu nutzen und ihm die eigenen Produkte zu unterbreiten. Doch die neue Realität zwingt die Branche zum Umdenken: Die einzige Möglichkeit besteht darin, eigene Datenquellen zu erschließen. Der Weg führt weg von Third Party Data hin zu First Party Data. Unternehmen haben alle Möglichkeiten, Daten von den Usern auf ihrer eigenen Website auszuwerten – ihre Zustimmung vorausgesetzt. Um den Datenfortbestand zu sichern, muss also eine Beziehung zu den Kund:innen aufgebaut werden. Im Gegenzug für hochwertige, personalisierte Erlebnisse sind drei Viertel aller Befragten bereit, ihre Daten preiszugeben, wie eine Studie von Epsilon zeigt (Epsilon, 2021). Doch Kund:innen wollen selbst entscheiden, welche persönlichen Informationen sie mit Unternehmen teilen – und zu welchem Zweck. Idealerweise ist das Angebot so gut, dass diese bereit sind, ihre Daten der Website preis zu geben und vielleicht sogar ein Kundenkonto anzulegen. Denn erst das Kundenkonto garantiert, dass User immer, wenn sie durch den Shop surfen, nutzbare Datenspuren hinterlassen, um personalisierte Angebote zu unterbreiten. Je frühzeitiger die Einwilligung erfolgt, desto mehr Erkenntnisse können gewonnen werden. Auch aus dieser Begründung heraus müssen Unternehmen also ihren bisherigen Produktfokus verlassen und den Kundenfokus ausrufen. Das Ziel: Die Aufmerksamkeit der User zurückzugewinnen. Die Basis dafür: Vertrauen. Vertrauen wird zum Schlüsselkonstrukt dieser neuen Kundenbeziehung (siehe dazu auch Abschn. 3.3.1). Es geht nicht mehr um simples Verkaufen, sondern um den Aufbau von Beziehungen. Und Beziehungen können nur etabliert werden, wenn ein Dialog stattfindet und wenn der User Vorteile aus der Beziehung ziehen kann. Diese Vorteile können Informationen aus erster Hand, geldwerte Vorteile oder die Erfüllung bestimmter Bedürfnisse wie beispielsweise Sicherheit sein.

Literatur Baker, L. (2021). 20+ years of SEO: A brief history of search engine optimization. https://www.sea rchenginejournal.com/seo/seo-history/#close. Zugegriffen: 10. Febr. 2023. Epsilon (2021). Third-Party Cookies Phase Out. https://www.epsilon.com/emea/insights/resources/ third-party-cookies-phase-out. Zugegriffen: 10. Febr. 2023. FdWB (2020). Studie des FdWB von 2500 Webseiten zeigt: 41Prozent deutscher Webseiten sind nicht sicher. https://fdwb.de/studie-des-fdwb-von-2-500-webseiten-2020. Zugegriffen: 10. Febr. 2023. Fishman, J. (2020). What is retargeting and why is it important? https://www.forbes.com/sites/forbes agencycouncil/2020/05/20/what-is-retargeting-and-why-is-it-important/Zuletzt. Zugegriffen: 10. Febr. 2023. Ganninger, D. (26. Oktober 2020). https://medium.com/knowledge-stew/the-worlds-first-televisioncommercial-cb51fd0acb18. Zugegriffen: 10. Febr. 2023. Hall, J. (2020). 2020 trends in digital marketing. https://www.forbes.com/sites/forbesagencycouncil/ 2020/02/03/2020-trends-in-digital-marketing/?sh=72b831c82f03. Zugegriffen: 10. Febr. 2023.

Literatur

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Henn, B. (1999). Werbung für Finanzdienstleistungen im Internet. Gabler Edition Wissenschaft · Verlag. Deutscher Universitätsverlag. https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-322-952 11-0. Zugegriffen: 3. Juni 2023 Kim, B. (2012). The diffusion of mobile data services and applications: Exploring the role of habit and its antecedents. Telecommunications Policy, 36(1), 69–81. Kleinz, T. (2019). Nicht Daten sind der Rohstoff des 21. Jahrhunderts, sondern Vertrauen. https:// www.heise.de/newsticker/meldung/36C3-Nicht-Daten-sind-der-Rohstoff-des-21-Jahrhundertssondern-Vertrauen-4624834.html. Zugegriffen: 10. Febr. 2023. Malthouse, E. C., Haenlein, M., Skiera, B., Wege, E., & Zhang, M. (2013). Managing customer relationships in the social media era: Introducing the social CRM house. Journal of interactive marketing, 27(4), 270–280. Mortimer, R. (2018). Marketing through the ages: The 2000s bring the dilemmas of digital. https:// www.marketingweek.com/marketing-through-the-ages-2000s-dilemmas-digital. Zugegriffen: 10. Febr. 2023. Rabe, L. (2022). Statistiken zum Thema Adblocking. https://de.statista.com/themen/3068/adbloc king/#topicOverview. Zugegriffen: 10. Febr. 2023. Spreer, P. (2021). PsyConversion. Springer Gabler. Thinkwithgoogle (2020). The Digital Marketing Trends 2020. https://www.thinkwithgoogle.com/_ qs/documents/8810/TwG_Marketing_Trends_2020_Mittelstand.pdf. Zugegriffen: 10. Febr. 2023. Marktinginstitut (2010). The State of Marketing 2010 Report. https://www.marketinginstitut.biz/ blog/studie-marketing-trends-2010-was-passiert-im-marketing. Zugegriffen: 10. Febr. 2023. Youngman, W. (2014). How people buy car insurance: Part 1: The Research Phase. https://www. gfk.com/blog/2014/08/how-people-buy-car-insurance-part-1-the-research-phase. Zugegriffen: 10. Febr. 2023.

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Menschen und ihre Entscheidungen verstehen

Zusammenfassung

Hinter jedem Datenpunkt steckt ein Individuum, mit Wünschen, Ängsten, bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen und Routinen. Daher ist es unerlässlich, sich mit den Menschen hinter Daten, ihren Bedürfnissen und Entscheidungen strukturiert zu befassen. Behavioral Economics und die in jahrelanger Forschung identifizierten Verhaltensmuster helfen Marketern, ihre User besser zu verstehen und wirksame Trigger zu nutzen, um in einen Dialog zu treten. Dieses Kapitel erläutert wie Menschen im digitalen Raum Entscheidungen treffen. In R-Commerce-Unternehmen werden Kund:innen wie Partner in einer freundschaftlichen Beziehung gesehen – die Basis dieser Beziehung ist Vertrauen, wie Prof. Dr. Eric Eller in einem Gastimpuls zu „VertrauensArchitektur“ darlegt.

Ob sie nun viele, oder wenig Daten besitzen: Ein simples „Detail“ vergessen Unternehmen oft, wenn sie sich mit aggregierten Datenbeständen im Webtracking oder CRM beschäftigen. User sind Menschen. Hinter jedem Datenpunkt steckt ein Individuum, mit Wünschen, Ängsten, bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen und Routinen. Daher ist es unerlässlich, sich mit Menschen ihren Bedürfnissen zu befassen, um Beziehungen aufbauen zu können. Diese Aufgabe übernimmt das dritte Kapitel. Es ist vielleicht die „Überraschung“ in einem Buch über datenbasiertes Marketing und doch ein elementarer Bestandteil, der unterstreicht, dass es ernst gemeint ist mit Beziehungen im R-Commerce. Die Brücke zwischen der vorausgegangenen Zeitreise und den nachfolgenden Ausführungen über Verhaltenswissenschaften schlägt Abschn. 3.1 mit der Emanzipation der User, die schlussendlich durch die DSGVO und die nachfolgenden Umwälzungen ins Rollen kam. Abschn. 3.2 erläutert, welchen Beitrag die Verhaltensökonomie („Behavioral Economics“) als aufstrebende Wissenschaftsdisziplin für das Verständnis von Entscheidungen © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Stalph et al., R-Commerce, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42054-3_3

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3 Menschen und ihre Entscheidungen verstehen

im digitalen Kontext leisten kann. Darauf setzt Abschn. 3.3 auf und beschreibt, mit welcher Sicht wir künftig auf User blicken müssen und welche Rolle vor allem Vertrauen dabei spielt. Jeder Mensch, der sich in einer Customer Journey befindet, trifft jeden Tag tausende von Entscheidungen. Dabei entscheidet und handelt er nach immer wiederkehrenden Prinzipien, den sogenannten Behavior Patterns – Muster oder Schablonen des menschlichen Verhaltens, könnte man auch sagen. Die meisten dieser Entscheidungen fallen unbewusst, das spart Energie und beschleunigt Entscheidungsprozesse (mehr dazu in Abschn. 3.2.1). Und nur selten analysieren Menschen ein Thema in aller Tiefe und ziehen die langfristigen Konsequenzen jeder möglichen Option in Betracht. Lieber wählen sie aus dem Bauch heraus eine Lösung, die spontan passend erscheint. Welche Muster für eine Kaufentscheidung relevant sind, hängt massiv vom Entscheidungskontext ab (Beck, 2014). Zwei plakative Beispiele dazu: Wer von einem Schnäppchenblog in einen Online-Shop kommt, ist in anderer Stimmung und wird sich anders verhalten als jemand, der sich gerade den Herz-Schmerz-Film „Titanic“ angesehen hat. Wenig überraschend, dass das einen massiven Einfluss auf die Bereitschaft hat, Geld auszugeben. Oder: Würde man bei Sonne und 34 Grad wirklich Gummistiefel und einen Friesennerz bestellen? Eher nicht. Das „Wetter“ ist ebenfalls ein Aspekt des Entscheidungskontexts und wirkt sich mitunter stark auf die Bedürfnisse aus beziehungsweise führt zu anderen Entscheidungen. Und weil Menschen zumeist nicht rational handeln, sondern abhängig von der Situation aus dem Bauch heraus, brauchen Werbetreibende einerseits tiefes Wissen zu den Grundlagen menschlicher Entscheidungen, andererseits die technischen Möglichkeiten einer dynamischen Ansprache. Der Ansatz ist nicht ganz neu: Aktuell gilt verhaltensbasierte Personalisierung, beruhend auf Tracking-Daten, als der heilige Gral der digitalen Werbewirtschaft. Verhaltensbasiert bedeutet, dass aus den Datenpunkten der letzten Aktionen der User abgeleitet wird, mit welchen Botschaften und an welchen Kontaktpunkten man sie erneut anspricht. Mitunter werden die zugrunde liegenden Verhaltensdaten über Third Party Datenlieferanten auch über Interessen und Produktpräferenzen angereichert. Doch darin liegt ein psychologischer Logik-Fehler: Menschen haben überhaupt keine stabilen Präferenzmuster, die sich durch bestimmte Verhaltensweisen ausdrücken und erfassen lassen (siehe das Windel-Beispiel in Abschn. 1.2). Stattdessen definiert der Umgebungskontext, welche Bedürfnisse Menschen haben und wie sie handeln. Anders ausgedrückt: Jemand will kein Snickers, weil er generell ein hungriger Mensch ist. Er will ein Snickers, weil sein Blutzucker gerade am unteren Limit weilt und er just in diesem Moment an einer Snickers-Werbung vorbeikommt. Aufgrund dessen funktioniert kontextbasierte Werbung in vielen Fällen also oft besser als verhaltensbasierte Personalisierung (vgl. Abschn. 1.1). Also müssen Unternehmen den Entscheidungskontext und die Entscheidungsprinzipien besser verstehen. Das ist die Aufgabe dieses Kapitels. Es vermittelt die groben Grundlagen menschlicher Entscheidungen und zeigt, wie nachhaltige Beziehungen aufgebaut werden.

3.1

3.1

Das Ende der Third Party Cookies – ein Sieg der Emanzipation

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Das Ende der Third Party Cookies – ein Sieg der Emanzipation

R-Commerce ist offensichtlich kein Theoriebuch aus der Psychologie. Deshalb werden hier die Grundlagen menschlicher Entscheidungsprozesse sehr praxisnah mit Bezug über Leitthema behandelt – angefangen bei der „Cookiecalypse“. Dieser Schritt der gesetzgebenden Institutionen und Browser-Anbieter hat die laufenden strukturellen Veränderungen für viele erst sichtbar gemacht hat. Das Kundenverhalten befindet sich aber schon bedeutend länger im Wandel. Gesetzgeber und Tech-Unternehmen haben lediglich auf den Druck aus der Bevölkerung reagiert. Third Party Cookies haben eine Ära lang die Kundenansprache bestimmt. Doch werbetreibende Unternehmen haben eine Datenhoheit genutzt, mit der die User nie explizit einverstanden waren. Die Dringlichkeit und Beharrlichkeit der Datenschutzbedenken, die von verschiedenen Nicht-Regierungs- oder Verbraucherschutzorganisationen vorgebracht wurde, ist beachtlich: Nach der Einführung der DSGVO 2018 (ausführlich behandelt in Abschn. 4.1) etablierte sich die gängige Praxis, den Rechtstext als eine Forderung nach einem „CookieHinweis“ zu lesen. „Weit gefehlt“, rief die Verbraucherzentrale Bundesverband e. V. und errang im berühmten Planet49-Urteil die Verschärfung, dass fortan eine aktive Zustimmung über die Nutzung nicht technisch notwendiger Cookies nötig sei (Aktenzeichen C-673/17). Die Branche fügte sich, machte es Usern jedoch nicht so einfach, wie sich das deren Vertreter wünschten. Und so kam es, wie es kommen musste: Die Tatsache, dass in der Vergangenheit mindestens zwei bis drei Klicks auf eine weitere Seite nötig waren, um die Zustimmung zu Cookies zu verweigern, hat das Landgericht Rostock im September 2020 für nicht zulässig erklärt (Aktenzeichen 3 O 762/19). Seitdem müssen die Buttons für Zustimmung und Ablehnung gleichwertig nebeneinander auf ihren Klick warten. Das Gericht konkretisierte, dass die Gestaltung des Buttons „Nur notwendige Cookies akzeptieren“ sich gegenüber dem primären Button „Alle Cookies zulassen“ hinreichend abheben muss. Es verbot die Verwendung von „Dark Patterns“ – ein Button muss zum Beispiel konkret als solcher zu erkennen sein. Das heißt im Klartext, dass die Schaltfläche zur Ablehnung der Cookies optisch genauso auffallen muss, wie der Button zur Zustimmung. Buttons in Form eines Textlinks in einem Textblock zu verstecken, gehört seitdem der Vergangenheit an. Nur so können dem Gericht zufolge User wirklich frei entscheiden, ob sie zustimmen wollen oder nicht. Entscheidend ist hier das Wort „frei“. Denn wie später noch deutlich wird, steckt in diesen vier zarten Buchstaben eine Revolution: Frei entscheiden wird die neue Grundlage für die Beziehungen im Online-Handel. Diesen Sieg mussten sich die User hart erarbeiten. Er ist Ausdruck gelebter Emanzipation und ein deutliches Signal an die Digitalwirtschaft. Soweit die eine Sicht. Wie sieht es nun auf der „Gegenseite“ aus? Ganz offen gesprochen: Kaum jemand, der mit Conversions im Internet seinen Lebensunterhalt bestreitet, optimiert einen Cookie Consent-Layer bisher freiwillig so, dass er Usern die bestmögliche Kontrolle über ihre Daten gibt. Dieses Verhalten ist Ausdruck der alten Sicht

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3 Menschen und ihre Entscheidungen verstehen

auf Kund:innen, die R-Commerce ablegt. Der Status Quo sieht so aus, dass die Steigerung der Zustimmungsrate aufgrund ihrer immensen Bedeutung zu einer eigenen Marketing-Disziplin wurde. Man kennt es von sich selbst: Ruft man eine Seite auf, klickt man intuitiv auf den am deutlichsten sichtbaren Button. Das ist üblicherweise die Zustimmung zu allen Cookies. User haben gelernt: Dieses Verhalten schließt das lästige Fenster und bringt uns schnell dorthin, wo wir eigentlich hinwollen. Damit geht einher, dass User wieder für die Betreiber der Website erfassbar werden. Meist wird der Cookie Consent-Layer dann noch mit Testserien weiter optimiert, bei denen stets die Zustimmungsrate als abhängige Variable und primäre Kennzahl in die Höhe getrieben wird – auch drückt die Wahl der Erfolgskennzahlen aus, dass ein beziehungsorientierter Blick auf die User fehlt. Zwei Seiten, zwei Perspektiven. Aus der Sicht der User mag man das Verhalten der Website-Betreiber kritisieren. Gleichzeitig führen diese Anstrengungen aber auch dazu, dass der kognitive Aufwand, der dem Shoppingerlebnis im Weg steht, minimiert wird. Und nur mit ausreichend Daten ist gewährleistet, dass die Optimierung der Nutzungserfahrung kontinuierlich voranschreiten kann. Es ist zu erwarten, dass dieses Spannungsfeld weitere Gerichtsurteile hervorbringen wird, die Schritt für Schritt konkretisieren, wie die rechtlichen Rahmenbedingungen zu lesen sind. Denn ein echtes Interesse an den Bedürfnissen der Kund:innen ist weiter nicht erkennbar – das muss man übrigens Juristen genauso vorwerfen wie den bereits vielgescholtenen Marketern. Denn aus zahllosen Usability-Studien ist ersichtlich: Niemand liest – geschweige denn versteht – wozu er oder sie konkret ein Einverständnis gibt. Das ist aus psychologischer auch absolut plausibel: Der Cookie Consent ist niemals das Ziel oder gar der Intent eines Users, sondern ein störendes Hindernis auf dem Weg zum Shoppingglück. Daher räumen Menschen das Hindernis Cookie Layer mit dem geringstmöglichen kognitiven Aufwand beiseite – und klicken auf „alle akzeptieren“. Und wie geht es danach weiter? User haben nach dem Opt-In keine Ahnung mehr, wem sie welche Daten freigegeben haben. Auch das ist ein Zustand, der vermutlich nicht ewig so bleiben und die Datenschützer erneut auf den Plan rufen wird. Was man ihnen heute schon als großen Erfolg anrechnen kann: Die Cookie-Diskussion hat ein grundlegend verändertes Selbstverständnis der User provoziert, das im Kleid des Datenschutzes sichtbar geworden ist. Kund:innen wissen heute genau, dass ihre persönlichen Daten wertvoll sind. Sie wollen selbstbewusst Herrschende über ihre Daten sein, autonom und mündig bestimmen, wer welche Daten bekommt. Sie emanzipieren sich vom bisherigen Datenhunger im Marketing und fordern, als gleichwertiger Partner oder gleichwertige Partnerin betrachtet zu werden. Dass das Vertrauen zu den Websitebetreibern keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt der in Abschn. 2.4 bereits erwähnte konstant hohe bzw. steigende Einsatz von Ad-Blockern (Rabe, 2022). Zur Erinnerung: Ad-Blocker sind kleine Filterprogramme oder BrowserErweiterungen, die Werbung auf Internetseiten blockieren. Ein gelebter Ausdruck von Misstrauen, der umso mehr aufschrecken sollte, weil uns die verhaltensökonomische

3.2

Behavioral Economics – der verkannte Schlüssel für das …

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Forschung gezeigt hat, dass Menschen sehr träge darin sind, ihre aktuelle Situation zu verändern – das wird als „Status Quo Bias“ bezeichnet (Spreer, 2021). Wenn mehr als jeder dritte Internetnutzer so weit geht und diesen Bias aktiv überwindet, muss das alarmieren. Die Botschaft ist deutlich: User wollen nicht mehr als „Klickvieh“ in Form von TrackingStatistiken von Händlern wahrgenommen werden. Sie wollen mit am Tisch sitzen und mit offenen Karten spielen. Noch eindrucksvoller formuliert das Magazin iBusiness die Botschaft: Die Bereitschaft zur Weitergabe persönlicher Daten im Laufe der Zeit erinnere an ein „Datenmassaker“ (Graf, 2022), so deutlich der Rückgang im Jahr 2022 gegenüber 2020 und vor allem gegenüber 2018. Während noch knapp die Hälfte der Befragten ihre Mailadresse für einen Rabatt preisgeben würde, stürzt dieser Wert bei persönlichen Daten auf ein kaum mehr messbares Niveau ab, wie Abb. 3.1 zeigt. Ein deutlicher Beleg für das Misstrauen und die verbrannte Erde, die das digitale Marketing seit der DSGVO hinterlassen hat. Wenn man nach einem Silberstreif am Horizont sucht, könnte dies sein, dass sich der Anteil der Menschen, die grundsätzlich gar keine Daten weitergeben, laut der Untersuchung nicht erhöht hat. Er liegt weiterhin bei etwa 9 %, genauso wie 2018. Das deutet zumindest an, dass die Chance besteht, mit der richtigen Ansprache weit jenseits von plumpen Verkaufsförderungsmaßnahmen die ablehnende Haltung aufzubrechen und in eine Beziehung zu überführen. Letzten Endes bedeutet das für den Handel und für Marken, dass jeder Kunde und jede Kundin von seinen E-Commerce-Anbietern mindestens dies wissen will: Welche Daten brauchst du, um passende Angebote zu entwickeln? Dann entscheide ich selbst, ob ich diese Daten freigebe. Und hier sollten Marken und Händler sehr gute und nachvollziehbare Gründe haben.

3.2

Behavioral Economics – der verkannte Schlüssel für das Verständnis des digitalen Kundenverhaltens

Die starke Forderung nach besserem Datenschutz ist nur eine legitime Reaktion auf den jahrelangen Missbrauch dieses Vertrauens durch die Werbeindustrie. Aber es gibt einen Weg zurück. Denn Menschen sind durchaus bereit, ihre Daten in einem nachvollziehbaren Rahmen zu teilen. Im Rahmen der sich ändernden Beziehungen können Unternehmen wieder ehrlich, fair und transparent mit Usern besprechen, welche Daten sie brauchen. Aber anders als bislang müssen sie beweisen, dass diese Daten dazu dienen, gute digitale Dienste anzubieten. Dafür muss sich das Denken der Verantwortlichen in der Werbeindustrie, aber vor allem auch bei den werbetreibenden Unternehmen ändern – und zwar weg von dem einseitig datengetriebenen Personalisierungswunsch hin zu einer echten Beziehung zu den Usern.

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3 Menschen und ihre Entscheidungen verstehen

Abb. 3.1 Welche Daten würden Sie einem Unternehmen überlassen – zum Beispiel für einen Rabatt auf Ware?

3.2

Behavioral Economics – der verkannte Schlüssel für das …

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Wenn der Wille zur Veränderung da ist, dann ist es das Handwerkszeug auch: Die Forschung im Bereich Verhaltenspsychologie und Verhaltensökonomie („Behavioral Economics“) hat in den letzten 20 Jahren überragende Erkenntnisse zum menschlichen Entscheidungsverhalten produziert. Diese Forschung wurde mittlerweile in Form von vielen Büchern wie „Buyology“ (Lindstrom, 2009), „Hooked“ (Eyal, 2014), „Think Limbic“ (Häusel, 2014) oder „PsyConversion“ (Spreer, 2021) auch für die Praxis anwendbar gemacht. Die folgenden Seiten beschreiben grob, was die Forschenden aus den Behavioral Economics zu Tage gefördert haben und geben Denkanstöße, wie wir für User Argumente entwickeln können, mit uns eine digitale Beziehung einzugehen. Kurz: Echte Zustimmung der User führt zu einem besseren Verständnis ihres Verhaltens und ihrer Vorlieben, was wiederum die Grundlage eines bestmöglichen Markenerlebnisses ist.

3.2.1

Eine kurze Einführung in den menschlichen Entscheidungsprozess

Jeder Mensch trifft 20.000 Entscheidungen pro Tag (Pöppel, 2008). Zwanzigtausend – das ist eine gewaltige Zahl. Sie entspricht in etwa der mittleren Zuschauerzahl bei einem Heimspiel vom FC St. Pauli. Denken Sie einmal an gestern: An wie viele dieser Entscheidungen können Sie sich erinnern? Richtig: An einen Bruchteil von 20.000 – wahrscheinlich nicht mehr als 10 bis 20. Das legt eindrucksvoll nahe, dass wir die ganz große Mehrheit aller Entscheidungen nicht bewusst treffen. Die Wissenschaft der Behavioral Economics bestätigt: Rund 95 % aller Entscheidungen fällen wir intuitiv (Spreer, 2021; Kahneman, 2011). Um diese Aussage in ihrer ganzen Kraft einordnen zu können, muss man zwei Dinge wissen: Wir haben nicht nur ein Entscheidungssystem, sondern zwei. Der PsychologieProfessor und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann beschreibt sie schlicht als System 1 und System 2. System 1 ist dabei das intuitive Entscheidungssystem, das schnell, ressourcenschonend und assoziativ arbeitet – oft ohne, dass wir es auch nur bemerken. System 2 ist dagegen das rationale Entscheidungssystem, das logisch, langsam und anstrengend arbeitet. Es analysiert, wägt ab und bemüht den Verstand. Die beiden Systeme interagieren in der Regel: Sie können sich gegenseitig bestätigen, korrigieren oder im Konsens zu einer Entscheidung kommen. Aber: Eines der beiden Systeme ist immer die letzte und (im wahrsten Sinne des Wortes) entscheidende Instanz. Das bringt uns zum zweiten Punkt. Diese entscheidende Instanz ist in ca. 95 % aller Fälle überraschenderweise nicht unser rationales System, sondern das intuitive – eine Aussage, die unser bisheriges Weltbild gründlich durcheinanderwirft. Denn alle Annahmen aus der Volks- und Betriebswirtschaftslehre zu unserem Menschenbild, das wir seit Jahrhunderten haben, werden mit dieser Feststellung grundlegend hinterfragt. Es ist ein bisschen wie als Galileo behauptete,

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3 Menschen und ihre Entscheidungen verstehen

die Erde drehe sich um die Sonne. Sind Menschen etwa keine rationalen Nutzenmaximierer, keine berechnenden Egoisten, die immer die vorteilhafteste Option wählen? Für den jetzigen Moment sei verraten: Wir sind überhaupt nicht in der Lage, durchgehend rational zu entscheiden. Wir entscheiden und handeln überwiegend auf Basis intuitiver Verhaltensmuster. Die Mehrheit dieser Muster ist evolutionsbiologisch tief verankert und stammt aus einer Zeit, in der unsere Mitgliedschaft in einer sozialen Gruppe überlebensnotwendig war – was deutlich macht, warum Egoismus nicht unbedingt die präferierte Überlebensstrategie war. Diese beiden Kernerkenntnisse fasst Abb. 3.2 zusammen. Sie werden im weiteren Verlauf des Buchs immer wieder wichtig werden. Den „Homo Oeconomicus“ gibt es doch – aber anders als vermutet Als „Homo Oeconomicus“ wird das Menschenbild bezeichnet, das das 20. Jahrhundert dominiert hat, wie kein anderes: Menschen als egoistische Nutzenmaximierer – im Kern selbstsüchtig und schlecht. Heute lehnt die überwiegende Mehrheit der wissenschaftlichen Community diesen modellhaften Gedanken ab und folgt damit frühen Kritikern wie Herbert Simon, der schon in den 50erJahren des 20. Jahrhunderts äußerte, Menschen besäßen überhaupt nicht die erforderliche kognitive Leistungsfähigkeit („begrenzte Rationalität“, Simon, 1959). Andere waren hartnäckiger und wollten es genau wissen: Gab es wirklich keine Kultur, die durchweg egoistische Individuen nach dem Bild des Homo oeconomicus hervorbringt? Diese Frage stellten sich Joseph Henrich und seine Kollegen, als sie 15 verschiedene Gesellschaften weltweit untersuchten (Henrich et al., 2001). Das Ergebnis war frappierend: Natürlich waren nicht alle Menschen überall ausnahmslos gut. Strukturell egoistische Gesellschaften wurden aber tatsächlich in keinem Fall gefunden. Fun Fact am Rande: Die intensive Theoriebildung zum Homo Oeconomicus war dennoch nicht umsonst. Schließlich fanden die Wissenschaftler ein Wesen, dessen Verhalten sich

Abb. 3.2 Merkmale von System 1 und System 2

3.2

Behavioral Economics – der verkannte Schlüssel für das …

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mit dem Modell einigermaßen vorhersagen ließ: Es war der Schimpanse. Von Homo (= Mensch) Oeconomicus kann man seitdem nicht mehr sprechen.

Wir wissen also jetzt, dass Menschen zwei Entscheidungssysteme haben und meistens das intuitive Entscheidungssystem (System 1) nutzen. Was wir noch nicht wissen, ist, auf welcher Basis die Entscheidungsprozesse ablaufen. Und natürlich, was all das mit dem Digital Business zu tun hat. Also: Wenn System 2 rational ist, ist dann System 1 irrational und Entscheidungen entstehen zufällig? Weit gefehlt! Das Gegenteil ist der Fall. Seine Geschwindigkeit und Effizienz erreicht das intuitive Entscheidungssystem, indem es auf die immergleichen Muster zurückgreift. Unbekannte Situationen werden kategorisiert und zu den Kategorien passende Entscheidungsskripte abgerufen. Was könnte weniger irrational sein als dieser hocheffiziente Ansatz? Dass nicht jede intuitive Entscheidung perfekt ist, ist angesichts der Vorteile zu verschmerzen. Behavior Patterns – die Trampelpfade unseres Verhaltens Die Entscheidungs- und Handlungsskripte, die in allen denkbaren Situationen abgespielt werden – vom Lesen von Kochrezepten bis zum Autokauf – bezeichnet die Wissenschaft als „Behavior Patterns“. Auf Deutsch könnte man von standardisierten Verhaltensmustern oder Schablonen unseres Verhaltens sprechen. Behavior Patterns sind die geheime Zutat unseres evolutionären Aufstiegs als Gattung Mensch. Sie sorgten einst dafür, dass wir bei einem Rascheln im Gebüsch sofort Reißaus nahmen und nicht erst streng rational abwogen, was dafür und dagegen spräche, dass es sich bei dem Verursacher des Geräuschs um einen unserer Fressfeinde handelt. Rascheln – Flucht! Kein Hinterfragen, keine Überprüfung der Handlungsintention, keine langsamen rationalen Prozesse. Ein klarer evolutionärer Vorteil! Man kann gewissermaßen sagen, dass wir ohne Behavior Patterns heute nicht gemütlich mit diesem Buch auf der Couch sitzen würden. Sämtlichen unserer Vorfahren ist es offenbar gelungen, ihre Gene mit Hilfe dieser Behavior Patterns weiterzugeben – seien wir dankbar für diese Leistung. Die Anzahl der Behavior Patterns, mit denen wir jeden Tag meistern, ist nicht abschließend bekannt. Fest steht, dass ihre Zahl endlich ist – sonst würde der Geschwindigkeitsund Effizienzvorteil der Standardisierung verloren gehen. Für den Digitalkontext sind aktuell etwa 120 Verhaltensmuster bekannt, die wir in der Nutzeransprache oder bei der Onsite-Optimierung nutzen können (Spreer, 2021). Aufgrund der hohen Dynamik des Forschungsfelds ist aber davon auszugehen, dass sich diese Zahl in den kommenden Jahren weiter erhöhen wird. Digitale daten-basierte Nutzeransprache, die zielgerichtet an Bedürfnissen ansetzt, ist damit heute bereits sehr gut möglich und wird – das ist eine weitere gute Nachricht – in der Zukunft durch zusätzliche Forschungsbefunde immer treffgenauer werden. Um diese Breite von Verhaltensmustern zu strukturieren und effektiv nutzbar zu machen, bietet sich eine Kategorisierung an – siehe Abb. 3.3. Hier existieren verschiedene Ansätze internationaler Forschungs- und Anwendungsgruppen. R-Commerce arbeitet

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3 Menschen und ihre Entscheidungen verstehen

mit einer Eigenentwicklung von sechs Hauptkategorien von Behavior Patterns, die sich auf verschiedene bewährte Taxonomien stützt (Spreer & Eller, 2020). So eröffnen User ein Kundenkonto

Ein Beispiel: Eine Shopping-Website hat Grund zu der Annahme, dass ihre User kein Kundenkonto eröffnen, wenn sie nicht genau verstehen, welchen individuellen Vorteil sie davon haben. In dieser Situation sehen sich die Shopbetreiber die Behavior Patterns aus der Kategorie „Ego“ genauer an. Ein demnach plausibles Argument könnte lauten: „Mit einem Kundenkonto sparst du viel Zeit bei jeder Bestellung.“ Was weniger vielversprechend erschiene, wäre auszuweisen, wie hoch der Anteil anderer Kunden ist, die ein Kundenkonto eröffnen. Das wäre ein Trigger aus der Kategorie „Social“, von der nicht bekannt ist, ob sie zur Bedürfnissituation der User passt und einen Beitrag zur Vereinfachung der Entscheidung leistet. Auf diese Weise kann Kommunikation reduzierter, klarer und wirkungsvoller werden.

Abb. 3.3 Kategorisierung von Behavior Patterns

3.2

Behavioral Economics – der verkannte Schlüssel für das …

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Kommen wir noch einmal auf System 1 und System 2 zurück. Wir haben gesehen, dass 95 % aller Entscheidungen schwerpunktmäßig im intuitiven Entscheidungssystem (System 1) ablaufen. Hier lohnt sich ein vertiefender Blick: Was sind das für Situationen, in denen Menschen aus dem Bauch heraus entscheiden, ohne rational zu hinterfragen, was sie tun? Nun, es sind Situationen, die von Unsicherheit geprägt sind. Und genau dann bestimmen Heuristiken und kognitive Verzerrungen unsere Entscheidungen. Zugespitzt: Wir leben mit der Kunst, mit wenig Ahnung und noch weniger Zeit dennoch zu vernünftigen Entscheidungen und praktikablen Lösungen zu kommen. Wir nutzen gleich die Abkürzung auf dem Weg zu einer Entscheidung und sparen die Energie, die das sorgfältige Abwägen von Pro und Contra und eine sachlich tiefe Einarbeitung ins Thema kosten würden. Das trifft auf nahezu alle Kommunikations- und Kaufsituationen im Digital Business zu. Interessanterweise entscheiden wir stärker intuitiv, je weniger Entscheidungskompetenz wir besitzen. Das erscheint erst einmal seltsam: Müssten wir uns nicht ausführlich informieren bevor wir etwas kaufen, wovon wir keine Ahnung haben? In einer rationalen Welt wäre das so – aber dort leben wir nicht. Die Realität sieht eher so aus, dass wir uns unbewusst Denkabkürzungen suchen und komplizierte Fragen wie „Brauche ich dieses Produkt?“ durch einfache Fragen wie „Haben andere das Produkt auch gekauft?“ ersetzen. Das sollten wir im Hinterkopf behalten, wenn wir uns dabei ertappen, ein streng rationales Entscheidungsverhalten bei den Usern anzunehmen. Fassen wir noch einmal zusammen, was wir nun über das digitale Entscheidungsverhalten wissen: Menschen haben ein intuitives und ein rationales Entscheidungssystem. Meist nutzen sie das intuitive System, da fast alle Entscheidungen im Digital Business von Unsicherheit geprägt sind. Dann entstehen Entscheidungen auf Basis von Behavior Patterns bzw. Verhaltensmustern, die sich in sechs Kategorien einordnen lassen. Diese Kategorien helfen bei der Konzeption von intuitiven und effektiven digitalen Oberflächen bzw. einer bedürfnisorientierten Ansprache.

3.2.2

Grundlegende Strategien für effektive Entscheidungsarchitekturen

Menschen entscheiden wie gesagt fast immer stark durch den Kontext geprägt. Diesen Kontext können Unternehmen aktiv gestalten und damit Einfluss nehmen auf die Entscheidungsfindung. Präferenzen sind bei weitem nicht so stabil, wie man vermuten könnte, sondern ändern sich je nach Situation. Voraussetzung ist, dass das akute Bedürfnis verstanden wird: Dafür ist die Datenspur, die ein User hinterlässt, eine wertvolle Grundlage. Liegen keine qualifizierten Daten für einen User vor, kommt der Moment, in dem auf ein valides Persona-Modell zurückgegriffen wird. Personas sind stereotypisierte Kund:innen, die aus real existierenden Marktsegmenten hergeleitet sind. Sie bekommen ein Geschlecht, einen Namen, Hintergründe zur kulturellen Prägung, sowie Hobbies und

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3 Menschen und ihre Entscheidungen verstehen

Interessen. Sie sind fiktive Vertreter der Zielgruppen eines Unternehmens und repräsentieren die unterschiedlichen Bedürfnisse innerhalb der meist inhomogenen Zielgruppen. Nutzersegmente werden also mit Personas stellvertretend beschrieben. Im Kern steht die Frage: Warum ist ein User heute auf unsere Website gekommen? Welches Bedürfnis und welches konkrete Ziel stecken hinter dem Besuch? Dieses Wissen brauchen Unternehmen, um den User bzw. die Kund:innen gut – und zwar gut aus Kundensicht – durch ihre Angebote zu geleiten. Ziel ist stets: Die beste Entscheidung mit dem geringstmöglichen Aufwand herbeizuführen – so definieren wir eine gute Entscheidungsarchitektur. Rational betrachtet, liegt darin auf den ersten Blick bereits ein Widerspruch, der im vorherigen Abschnitt schon angedeutet wurde: Bessere Entscheidungen erreicht man nach allgemeinem Verständnis, indem man mehr Aufwand in die Informationsphase investiert. Wenn wir uns aber erinnern, dass wir den Großteil unserer Entscheidungen intuitiv treffen – also schnell, assoziativ und ressourcenschonend – löst sich dieser Konflikt sofort auf. Stellt sich die Frage: Was macht aus der Sicht der Menschen eine „gute“ Entscheidung aus? Was ist für sie „wertvoll“? Das kann Zeitersparnis durch einen besonders einfachen Bestellprozess sein. Es kann ein Belohnungsgefühl sein, wenn man den eigenen Deal verbessern konnte – beispielsweise mit einem Gutschein. Aber auch der Eindruck, eine schlechte Alternative erkannt und vermieden zu haben, zählt zu den „guten“ Entscheidungen. Zusammengefasst: Eine gute Entscheidung fühlt sich emotional richtig an und ist funktional nie zum eigenen Nachteil. Dieses zweite Merkmal betont die besondere Verantwortung, die Unternehmen für ihre Kund:innen haben: Aus ihr resultiert, dass die Entscheidungsmechanismen grundsätzlich nicht eingesetzt werden, um Business-Interessen über User-Interessen zu stellen und Kund:innen etwa zu einem Kauf motivieren, den sie sich nicht leisten können. Emotionen als Treiber von Entscheidungen Entscheidungen werden neurophysiologisch im limbischen System getroffen – dort, wo auch Emotionen verarbeitet werden. Bei Sprache passiert dies dagegen im Neocortex, dem jüngsten Teil der Großhirnrinde. Wenn wir also Entscheidungen fördern wollen, sollte die emotionale Aktivierung mitgedacht und nicht auf rein funktionelle, sprachlich wiedergegebene Argumente gesetzt werden. Deswegen lautet eine allgemeine Empfehlung, sich nicht auf „USPs“ zu stützen. Der weit verbreitete Fehler liegt bereits im Namen: Unique SELLING Propositions, sind die Argumente, mit denen uns Dinge VERKAUFT werden. Das wollen wir aber nicht. Sinnvoller ist es daher, auf UVPs zu setzen – Unique VALUE Propositions. Die Logik von UVPs lehnt sich an den bekannten „Golden Circle“ des Management-Vordenkers Simon Sinek an. In seinem Buch „Start with Why“ (Sinek, 2011) definiert er den Prototyp einer überzeugenden Kommunikationsbotschaft. Der Kerngedanke ist dabei, die Logik der Überzeugung umzudrehen: Statt (wie im E-Commerce heute noch weitgehend üblich) auf die Produktfeatures einzugehen („Mit Super-Frost-Technologie und Abtau-Automatik“) wird

3.2

Behavioral Economics – der verkannte Schlüssel für das …

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Abb. 3.4 Emotionale Kundenansprache entlang des Golden-Circle-Ansatzes

das übergeordnete WHY in den Mittelpunkt gestellt („Gesund leben mit ständig frischen Lebensmitteln“). Dies entspricht dem echten „Value“ für die angesprochenen Kund:innen und lässt die Botschaft an den Bedürfnissen und Emotionen andocken, die der Zielzustand bzw. die Nutzung des jeweiligen Produkts auslöst. Der Prozess wird dann im limbischen System verarbeitet (siehe Abb. 3.4), also dem Bereich, in dem neben Emotionen auch Entscheidungen definiert werden. Der Golden Circle – 3 Ebenen: WHY, HOW und WHAT • Das WHY: Dies bezeichnet die Vision eines Unternehmens oder Produkts. Warum entwickelt man genau diese Produkte oder Services? Weil sie die Welt und das Leben ein bisschen besser machen. Hinter dem WHY verbirgt sich die Motivation, die hinter der Dienstleistung oder dem Produkt steht. Es ist oft die Mission, für die die Marke steht. Heute wäre dieser Punkt eng mit der Bezeichnung „Purpose“ verwandt. • Das HOW: Das HOW beschreibt die praktischen Schritte, die man unternehmen muss, um das WHY zu erreichen. Es ist das praktische, operative Wissen, das die Vision zum Leben erweckt. Das können Produkt- oder Service-Merkmale sein wie „umweltfreundlich“ oder „praktisch“ oder „ästhetisch“. • Das WHAT: Das WHAT ist die (oft technische) Produkt- oder Service-Eigenschaft. Es ist direkt sichtbar und am einfachsten zu identifizieren. Daher verleitet das WHAT, nach dessen Definition aufzuhören, über die Bedürfnisorientierung des Angebots nachzudenken.

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Beispiel „Apple“ als Golden Circle des ganzen Unternehmens: • WHY: Wir denken anders. Wir fordern den Status Quo heraus. • HOW: Das tun wir, indem wir Produkte herstellen, die elegant und einfach zu nutzen sind, und das Leben unserer Kunden bereichern. • WHAT: So sind wir dazu gekommen, Computer als Produkte zu entwickeln. Zusammengefasst: Das übergeordnete WHY eines Produkts bzw. dessen VALUE beschreibt, wie das Leben der Menschen durch den Kauf besser wird. Kund:innen müssen es sofort erkennen können. Daher sollte dieser Aspekt ganz am Anfang der Argumentationskette stehen. Nur dann lassen sich effektiv Präferenzen mitgestalten. Funktionelle Produktaspekte und Features stehen dagegen am Ende des Arguments.

Was die Konzeption von Kontaktpunkten – seien es Werbemittel, Newsletter, ShopFrontends, Apps etc. – anbelangt, gibt es grundsätzlich zwei Strategien, um Entscheidungsarchitekturen zu erstellen, die wirklich funktionieren: A. Entweder Unternehmen reduzieren den kognitiven Aufwand, sorgen für kognitive Leichtigkeit und fördern intuitive Handlungen knapp unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Oder B. Unternehmen begleiten den als rational empfundenen Entscheidungsprozess und argumentieren proaktiv die Vorteile einer Entscheidung mit stimmig konfigurierten Argumenten. Letzteres gelingt besonders effektiv mit Vergleichen, da Menschen grundsätzlich immer in Abhängigkeit von einem Vergleichsobjekt entscheiden. Beide Ansätze werden im Folgenden eingehend beleuchtet. Kognitive Leichtigkeit und Flow maximieren Eine einfache Wahrheit vorweg: Wenn Menschen nicht entscheiden können, entscheiden sie nicht. Wenn sie nicht entscheiden, funktioniert kein Business. Die Herstellung der schnellen Entscheidungsfähigkeit ist ein Kernanliegen der evolutionsbiologisch angelegten Entscheidungsmuster, weswegen die einschlägige Literatur eine Vielzahl von Behavior Patterns kennt, die Komplexität reduzieren (siehe Abschn. 3.2.1). Prägende Merkmale von Entscheidungen im intuitiven Entscheidungssystem sind also Pragmatismus und Geschwindigkeit. Wir entscheiden so lange intuitiv, wie der Entscheidungskontext plausibel erscheint. Wie viele Tiere jeder Art nahm Moses mit auf seine Arche? Wissen Sie die Antwort? Sicherlich schon. Zwei jeder Art? Ganz genau. Oder… Halt! Falsch! Nicht Moses, sondern Noah war der Erbauer des biblischen Schiffs. Da jedoch die Frage in einem plausiblen Kontext präsentiert wird (Tiere, Moses, Arche – alles entstammt der Bibel), entscheiden wir intuitiv. Hätte es geheißen „Wie viele Tiere jeder Art nahm Thomas Gottschalk mit auf seine Arche?“ wäre der Entscheidungskontext nicht mehr plausibel und unser rationales Entscheidungssystem würde aktiviert.

3.2

Behavioral Economics – der verkannte Schlüssel für das …

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Wir können also so lange intuitiv entscheiden, bis uns Barrieren in einen rationalen Denkprozess zwingen. Dann wird der Entscheidungsfindungsprozess schlagartig anstrengend, fast körperlich spürbar. Und die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Entscheidung in der Folge vermeiden, steigt rapide. Daher haben Website-Betreiber immer das Bestreben, „flowige“ Prozesse zu gestalten, die in sich stimmig und ohne Plausibilitätsprobleme sind. Eine wirksame Übung, um den Flow zu maximieren, ist es, die störenden Elemente zu identifizieren. In der Psychologie bzw. im Behavioral Design nennt sich dieser Schritt „Decision Bottleneck Analysis“ oder zu Deutsch „Entscheidungsengpassanalyse“. Entscheidungsengpässe sind solche Elemente, die uns zwingen, das intuitive Entscheidungssystem zu verlassen. Bei manchen Usern gelingt das, sie wechseln bei Hürden ins rationale Entscheidungssystem. Viele andere tun dies aber nicht – sie brechen ihre Customer Journey ab. Deswegen können Entscheidungsengpässe im Digital Business auch als „Conversion Killer“ betrachtet werden. Eine einfache Übung dafür: Den eigenen Usern beim Nutzen der eigenen Website über die Schulter zu blicken offenbart oft schockierend schnell Entscheidungsengpässe, denen man als Expert:in kaum Aufmerksamkeit geschenkt hat. Daraus lässt sich eine simple nutzerzentrierte Optimierungsagenda ableiten (die selbstverständlich mit geeigneten Methoden aus dem User-Centered Design begleitet werden sollte). Vergleiche als Entscheidungsgrundlage Wenn wir entscheiden, tun wir dies niemals absolut, sondern immer relativ zu einem Vergleichswert. Ob eine Flasche Wein für 15 EUR teuer oder günstig ist, hängt davon ab, ob die Flaschen links und rechts daneben eher 5 EUR oder eher 40 EUR kosten. Eine streng rationale Bewertung eines Preises ohne einen Referenzpunkt, würde zum Beispiel Antworten auf solche Fragen erfordern: • Wie ist die mineralische Beschaffenheit des Bodens, auf dem der Weinstock gewachsen ist? • Wie war die Mikro- und Makro-Wetterlage kurz vor der Ernte? • Wie viel Zucker bilden die verwendeten Rebsorten typischerweise? • Wie kompetent war das Winzer-Team? • Ist der Wein korrekt gelagert worden? Schnell wird klar: Dieser Prozess würde viel zu viele Ressourcen verbrauchen oder uns schlicht überfordern und sich in der Folge äußerst unangenehm anfühlen. Es ist eine klassische System-2-Entscheidung. Der richtige Einstieg in einen gemütlichen Abend am Kamin? Sicherlich nicht. Wenn wir auf Basis von Referenzwerten entscheiden, können Streichpreise ein effektiver Weg sein, wie das Beispiel in Abb. 3.5 zeigt. Welche Matratze sieht spontan wie das bessere Angebot aus?

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3 Menschen und ihre Entscheidungen verstehen

Abb. 3.5 Vergleiche als Entscheidungsgrundlage: „Streichpreise“

Die rechte Variante? So geht es in vergleichbaren Studien der großen Mehrheit aller Menschen (Ariely et al., 2003). Dies ist ein Beispiel für eine funktionierende Entscheidungsarchitektur: Die Kundenziele (Einfachheit und wahrgenommene Qualität der Entscheidung) stehen im Einklang mit den Business-Zielen (Entscheidungsfähigkeit der User, zum Ausdruck gebracht mit einem Kauf). Vergleiche helfen uns, die für uns attraktivste Option zu identifizieren. Dabei kommt der Auswahl der zu vergleichenden Optionen eine große Bedeutung zu. Unternehmen können damit das Ergebnis der Entscheidung maßgeblich beeinflussen – müssen sich dieser Verantwortung aber auch zu jedem Zeitpunkt bewusst sein. Das wird von der sogenannten Wörterbuch-Studie gut illustriert, die der Psychologe Christopher Hsee an der Universität Chicago durchführte (Hsee, 2000). Was kostet ein Wörterbuch? Was ist ein Wörterbuch wert? Immer gleich viel? Es ist komplizierter. Im Rahmen der Studie wurden die Teilnehmenden zufällig in drei Gruppen eingeteilt. Eine Gruppe bekam ein Wörterbuch mit 20.000 Einträgen und zerrissenem Einband, die zweite Gruppe ein Wörterbuch mit 10.000 Wörtern und intaktem Einband und die dritte Gruppe beide Wörterbücher nebeneinander. Alle drei Gruppen sollten angeben, was sie für das jeweilige Wörterbuch zu zahlen bereit wären. Gruppe 1 hätte für das Wörterbuch mit mehr Einträgen, aber mit zerrissenem Einband im Durchschnitt 20 US$ gezahlt, während Gruppe 2, der das Wörterbuch in einwandfreiem Zustand mit weniger Einträgen präsentiert wurde, bereit war, 24 US$ hinzulegen. Bei Gruppe 3 dagegen kehrten sich die Ergebnisse um: Die Personen, die die Wörterbücher vergleichen konnten, hätten mehr Geld für das Wörterbuch mit mehr Einträgen berappt, unabhängig vom zerrissenen Einband. Im Durchschnitt schien ihnen das Wörterbuch mit 20.000 Begriffen und zerrissenem Einband 27 US$ wert zu sein, gegenüber 19 US$ für das 10.000-Wort-Wörterbuch in perfektem Zustand.

3.3

Partner:innen in einer freundschaftlichen Beziehung

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Daraus leitete Hsee spannende Erkenntnisse ab: Erstens ergibt sich der Wert eines Wörterbuchs aus den Vergleichsmöglichkeiten. Der Wert wird durch einen Prozess des Vergleichens und Kontrastierens bestimmt. Als die Probanden die Möglichkeit hatten, die Wörterbücher direkt zu vergleichen, konnten sie sie nach dem Merkmal beurteilen, das wirklich wichtig ist: der Anzahl der Einträge. Der kosmetische Mangel verblasste im Kontext dessen, was an einem Wörterbuch am wichtigsten ist. Zweite Erkenntnis: Wenn Menschen den wichtigsten Aspekt einer Sache nicht sinnvoll bewerten können, wird dieser Aspekt zugunsten eines anderen, leichter zu bewertenden Aspekts außer Acht gelassen (das Prinzip der Ersetzung einer komplizierten Frage durch eine einfache wurde oben bereits diskutiert). Auf diese Weise kann das Umfeld, in dem die Entscheidung getroffen wird, das Ergebnis der Entscheidung beeinflussen.

Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Menschen investieren intuitiv möglichst wenig Energie in die Entscheidungsfindung. Das können Shopbetreiber und Werbetreibende berücksichtigen. Sie können im Menschen evolutionsbiologisch angelegte Entscheidungsmuster adressieren – die Behavior Patterns. In der Praxis bedeutet dies zum Beispiel, Vergleichsmöglichkeiten anzubieten, um den Usern komplizierte, rationale Entscheidungen zu ersparen. In jedem Fall hängt der Erfolg der Kundenansprache daran, ob sich die Ansprache um die Bedürfnisse der Kund:innen dreht. Die vorherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass das keine Floskel ist, sondern eine harte betriebswirtschaftliche Anforderung.

3.3

Partner:innen in einer freundschaftlichen Beziehung

Nach den vorherigen Ausführungen wird die Lücke zwischen Anspruch und Realität schmerzhaft deutlich. Die Kundenansprache von heute muss also überdacht werden. Zwar hat verhaltensbasiertes Advertising in den letzten Jahren zu Steigerungen bei Neukundengewinnung und Conversion geführt. Aber wie zielgerichtet und systematisch passiert das bisher? Wo ist der langfristige Ansatz? Wie sieht digitales Marketing aus, über dessen Prinzipien man offen und transparent sprechen mag? Für all das muss sich das Denken der Verantwortlichen in der Werbeindustrie und bei den werbetreibenden Unternehmen ändern – weg von dem einseitig datengetriebenen Personalisierungswunsch hin zu einem neuen Modell. Einem Modell, das die Erkenntnisse aus Behavioral Economics zu den Entscheidungsprozessen von Menschen hinzuzieht und mit State of the Art Datenstrategie (mehr dazu in Kap. 6) zu einem gesamtheitlichen Modell der Kundenbeziehung kombiniert. Einem Modell, das die veränderten gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen berücksichtigt. Einem Modell, das die User nicht nur verbal in den Mittelpunkt stellt, sondern auch eine echte Beziehung aufbaut. Ein Modell, das hybrid ausfällt, alle Dimensionen berücksichtigt und für Relevanz sorgt. Und letzten Endes auch ein Modell, das sich wieder mehr auf Bestandskund:innen fokussiert.

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3 Menschen und ihre Entscheidungen verstehen

Die höchste Auszeichnung für die Arbeit als Marketer ist es, wenn Kund:innen frei zwischen mehreren Anbietern wählen können und sich in vollem Bewusstsein und mit absoluter Überzeugung für uns entscheiden. Frei nach dem sehr treffenden Zitat „Loyalty is when you have options and still choose to stay“ (Urheber unbekannt). Dieses Vertrauen und diese Entscheidung müssen jeden Tag neu erarbeitet werden. Denn Beziehungen sind fragile Gebilde: Es braucht Zeit, sie aufzubauen. Wer nicht achtsam ist, zerstört sie mit einer falschen Äußerung. Konkret bedeutet das, dass drei Dinge gegeben sein müssen, die wir in den folgenden Abschnitten beleuchten: Erstens: Vertrauen. Denn nur, wenn wir einem Unternehmen vertrauen, sind wir bereit, eine Beziehung mit ihm einzugehen. Dieses Vertrauen muss kommunikativ langfristig aufgebaut und gehalten werden. Zweitens: Marke. Marken sind Abkürzungen für den Aufbau und Erhalt von Beziehungen. Sie sind belegt mit spezifischen Attributen, die es den Kund:innen erleichtern, eine Einschätzung zu ihrem eigenen Risiko abzuleiten, das sie mit der Beziehung eingehen. Drittens: Fairness. Beziehungen funktionieren nur mit einem ausgewogenen Verhältnis von Geben und Nehmen. Unternehmen sind traditionell gut darin, zu überlegen, wo sie mehr von ihren Kund:innen nehmen können. Was viele Unternehmen aber nicht beherrschen ist die Frage, wo sie ihren Kund:innen etwas geben können. Wenn es gelingt, diese neue Perspektive auf die User einzunehmen, schaffen Unternehmen es auch, gute Argumente zu entwickeln, sich auf eine Beziehung einzulassen. So wird eine frühestmögliche Identifikation der User – etwa über einen Login – erreicht, was erlaubt, Verhalten und Vorlieben der User auszuwerten, wirklich zu verstehen und ein Markenerlebnis zu generieren, das langfristig die Beziehung vertieft.

3.3.1

Die neue Architektur des Vertrauens

Der folgende Abschnitt ist ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Eric Eller. Der Psychologe ist Studiengangsleiter für Medienpsychologie an der Technischen Hochschule Ingolstadt und als Behavioral Designer bei elaboratum aktiv. Eller entwickelt dort digitale Strategien und Konzepte, die auf verhaltensökonomischen Erkenntnissen beruhen. Dabei ist Vertrauen aus seiner Sicht ein zentraler Dreh- und Angelpunkt. Folgerichtig hat er dieses komplexe Konstrukt eingehend erforscht und die Kernerkenntnisse in seinem 2022 erschienenen Buch „VertrauensArchitektur für die Praxis aufbereitet. Für alle Unternehmen gilt, dass wir den Menschen Angebote machen. Wir sprechen dabei von Wertangeboten, weil durch sie Mehrwerte entstehen sollen. Oder wir sprechen von Kooperationsangeboten, weil wir für die Entstehung der Mehrwerte auch auf das Zutun unserer Kund:innen angewiesen sind. Dabei handelt es sich bei unseren Angeboten immer auch um ein Versprechen. Etwa, dass es auf unserer Website und in unserem Newsletter etwas Spannendes zu entdecken gibt, dass unsere Produkte Freude bereiten oder dass unsere Hotline pragmatische Hilfe leistet. Damit Kund:innen unsere Angebote

3.3

Partner:innen in einer freundschaftlichen Beziehung

53

wahrnehmen, müssen sie diesen Versprechen vertrauen können. Ohne Vertrauen verpuffen unsere Wert- und Kooperationsangebote. Unsere Website bleibt dann unbesucht, unsere Newsletter werden nicht abonniert, unsere Produkte verstauben unbenutzt, keiner ruft uns an. Ohne Vertrauen finden Customer Journeys gar nicht erst statt. Wenn die Autoren in diesem Buch von R(elationship)-Commerce sprechen, müssen wir uns also fragen: Welche Art von Beziehung wollen wir mit unseren Kund:innen eigentlich führen? Und die Antwort muss lauten: Wir wollen vertrauensvolle Beziehungen führen! Beziehungen also, die nachhaltig wertstiftende Kooperationen mit unseren Kund:innen ermöglichen. In diesem Abschnitt geht es darum, unter welchen Voraussetzungen echtes Vertrauen zwischen Kund:innen und Unternehmen entstehen kann und wie Unternehmen dafür die notwendigen Voraussetzungen schaffen können. Vertrauen ist eine zuversichtliche Entscheidung für Verletzlichkeit So sehr wir uns als Gestalter:innen von Unternehmen, Produkten oder deren Vermarktung in der Regel über die enorme Wichtigkeit von Vertrauen einig sind, so wenig sind wir typischerweise in der Lage, Vertrauen als abstraktes Konstrukt präzise zu beschreiben. Wenn wir in diesem Kapitel über die systematische Entwicklung von Vertrauen sprechen, sollten wir Vertrauen als Begriff vorher definieren: Vertrauen ist eine zuversichtliche Entscheidung für Verletzlichkeit (i.A.a. Luhmann, 2014; Mayer et al., 1995; Rousseau et al., 1998). Ob uns Kund:innen vertrauen oder nicht, äußert sich in drei Aspekten: Verletzlichkeit Wenn Kund:innen uns vertrauen, machen sie sich uns gegenüber verletzlich. Etwa finanziell, wenn sie Geld für unsere Produkte ausgeben oder sozial, wenn sie uns ihren Freunden weiterempfehlen. Bereits wenn sie uns auf unserer Website ihren Cookie Consent geben, machen Sie sich uns gegenüber verletzlich, weil sie sensible Personendaten mit uns teilen und wir diese weitergeben oder entgegen ihrer Interessen nutzen könnten. Generell gilt: Je mehr Verletzlichkeit die Interaktion mit unseren Kund:innen abverlangt und je mehr Kund:innen das auch wahrnehmen, desto mehr Vertrauen ist notwendig, damit diese Interaktion trotzdem stattfindet. Um mit der Arbeit am Vertrauen der Kund:innen zu beginnen, sollte man sich entsprechend fragen, wie und in welchen Situationen sich die Kund:innen einem Unternehmen gegenüber besonders verletzlich machen. Zuversicht Wenn Kund:innen uns vertrauen, machen sie sich uns gegenüber zwar grundsätzlich verletzlich. Aber sie sind dabei zuversichtlich, dass wir sie nicht verletzen werden! Sie sind also beispielsweise überzeugt, dass unsere Produkte ihren Preis wert sind oder sie anderenfalls ihr Geld zurückbekommen; dass ihre Bekannten die Weiterempfehlung schätzen werden – oder dass wir verantwortungsvoll mit ihren Daten umgehen. Für das Vertrauen unserer Kund:innen braucht es also Zuversicht. Wenn wir in diesem Kapitel über die Entwicklung von Vertrauen sprechen, geht es auch darum, diese Zuversicht zu ermöglichen.

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3 Menschen und ihre Entscheidungen verstehen

Entscheidung Zudem geht Vertrauen immer auch mit einer Entscheidung einher. Das Vertrauen oder auch Misstrauen unserer Kund:innen äußert sich in ihrem Verhalten. Etwa, in ihrem Klick auf den Cookie Consent Button oder im Verlassen der Website. Dass wir solche Vertrauensindikatoren im Digitalkontext häufig relativ einfach messen können, ist eine enorme Chance für systematische Vertrauensarbeit. Indem wir vorab definieren, wie sich unsere Kund:innen entlang ihrer Customer Journeys verhalten, wenn diese uns vertrauen bzw. misstrauen, lässt sich ihr Vertrauen verhaltensbasiert erfassen. Als Unternehmen können wir unseren Kund:innen ihre Entscheidungen für oder gegen Verletzlichkeit zwar nicht abnehmen. Aber wir können Situationen schaffen, in denen sich Entscheidungen für oder gegen Verletzlichkeit möglichst gut treffen lassen. Ob Vertrauen entsteht ist kein Zufall, sondern gezielt veränderbar Stellen wir uns die folgende Situation vor: Eine Person, die Sie vorher nie getroffen haben, steht vor Ihrer Tür und möchte bei Ihnen übernachten. Würden Sie zustimmen? Vermutlich nicht: Sie wissen nicht, ob Sie der fremden Person vertrauen können. Die Person könnte sich als unangenehmer Gast entpuppen. Oder noch schlimmer: Als Serienkiller. Trotzdem hat es das US-Unternehmen Airbnb geschafft, dass sich seine User in den letzten 13 Jahren mehr als 500 Mio. Mal genau dafür entschieden haben, sich einer fremden Person gegenüber sozial, finanziell und körperlich verletzlich zu machen und sie bei sich zu Hause übernachten zu lassen. Und das mit enormem Erfolg: Viele der User von Airbnb sind begeistert von der durch die Plattform ermöglichten Kooperation mit fremden Gästen und Gastgeber:innen. Und auch für das Unternehmen lohnt sich das ermöglichte Vertrauen: Airbnb verbuchte zuletzt Jahresumsätze von mehreren Milliarden US-Dollar (Statista, 2022). Wer die Geschichte des Unternehmens kennt, weiß: Dieses neue Vertrauen zwischen Gastgeber:innen und Reisenden ist alles andere als zufällig entstanden. Stattdessen hat das Unternehmen gemeinsam mit der Harvard Business School akribisch untersucht, wovon das Vertrauen ihrer User abhängt und systematisch die notwendigen Rahmenbedingungen für echtes Vertrauen hergestellt (Botsman & Capelin, 2015). Vertrauen entsteht also nicht irgendwie zufällig. Vielmehr ist aus jahrzehntelanger Forschung recht gut bekannt, unter welchen Bedingungen es entstehen kann. Indem Unternehmen die richtigen Voraussetzungen schaffen, können sie die Entstehung von Vertrauen wahrscheinlicher machen. Diese Art von Vertrauensarbeit lässt sich als Vertrauens Architektur begreifen (Eller, 2022): Ähnlich wie Architekt:innen etwa Brücken und Häuser nicht irgendwie, sondern vielmehr sehr systematisch planen, lässt sich auch die Entwicklung von Vertrauen gezielt angehen. Dafür braucht es sowohl psychologisches Wissen über die Determinanten von Vertrauen als auch eine sinnvolle methodische Vorgehensweise. Damit mehr Vertrauen entstehen kann, sollten wir zunächst fragen, worin Bevor wir damit beginnen können, das Vertrauen von Kund:innen systematisch aufzubauen, gilt es noch eine Sache zu klären: Nämlich worin uns die Kund:innen eigentlich vertrauen können sollen. Denn sie vertrauen oder misstrauen uns nicht grundsätzlich in allen möglichen Bereichen, sondern sehr differenziert: Beispielsweise, dass wir die besten Preise haben,

3.3

Partner:innen in einer freundschaftlichen Beziehung

55

Abb. 3.6 Worin vertrauen? Exemplarischer Bedarf an Vertrauen entlang der Customer Journey

schnell liefern oder unkompliziert retournieren. Entlang ihrer Customer Journeys ändert sich für Kund:innen ständig, worin wir sie bitten, uns zu vertrauen (siehe Abb. 3.6). Wer sich dies für das eigene Unternehmen vergegenwärtigt, schafft dadurch ein Vertrauenszielbild, für das im Anschluss die notwendigen Voraussetzungen geschafft werden können. Phase I: Interaktion In den frühen Phasen einer Customer Journey sind wir als Unternehmen gut beraten, unseren Kund:innen zunächst risikoarme Formen der Interaktion zu ermöglichen – etwa durch kostenlose Services oder Testversionen. So ermöglichen wir ihnen die positive Erfahrung zu machen, dass wir unsere Versprechen halten. Auf dieser Grundlage kann das notwendige Vertrauen für eine echte Kooperation (Phase II) entstehen, bei der sowohl Kund:innen als auch wir als Unternehmen ins Risiko gehen – also etwa durch den Kauf unseres Produkts oder die Anmeldung für unseren Service. Trotz der vergleichsweise geringen Verletzlichkeit in der ersten Phase der Interaktion, ist bereits hier Vertrauen notwendig. Beispielsweise darin, dass unsere Produkte grundsätzlich relevant sind und die bereitgestellten Informationen eine sinnvolle Bewertung ermöglichen. Phase II: Kooperation Die Phase der Kooperation beginnt mit der Entscheidung unserer Kund:innen, eine echte Kooperation einzugehen (und sich damit uns gegenüber verletzlich zu machen). Kund:innen kaufen beispielsweise unser Produkt und machen sich dadurch finanziell verletzbar oder sie melden sich in unserem Portal an und riskieren dadurch die

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3 Menschen und ihre Entscheidungen verstehen

Hoheit über ihre Daten. In der Regel erfordert die erste Kooperation besonders viel Vertrauen, zumal es Kund:innen noch an Erfahrung fehlt. Um ihnen den Schritt zu erleichtern, bietet es sich für uns als Unternehmen an, entweder an bereits bestehende Erfahrungen anzuknüpfen – beispielsweise durch eine hohe Ähnlichkeit zur bereits genutzten Testversion – oder die Bewertungen relevanter anderer Personen zu präsentieren – beispielsweise von anderen Kund:innen oder von Autoritäten. Phase III: Bindung In der dritten Phase basiert die Beziehung auf wiederkehrenden Interaktions- und Kooperationspunkten. Kund:innen erleben regelmäßig, dass wir uns als Unternehmen und mit unseren Wertangeboten an unsere Versprechen halten. Entsprechend ist das Vertrauen hoch. Kund:innen finden nun tendenziell auch leichter Vertrauen in neue Angebote und sind empfänglich für Cross- und Upselling. Möglicherweise entsteht eine Form der sozialen Identifikation mit dem Unternehmen, etwa durch gemeinsame Ziele und Werte. Entsprechend wollen Kund:innen dann auch darin vertrauen können, dass wir uns als Unternehmen integer im Sinne öffentlich gemachter Absichten und Werte verhalten. Die Kehrseite der gemeinsamen Identifikation sind neue Formen der Verletzlichkeit. Kund:innen erleben es beispielsweise als Vertrauensbruch und damit als persönliche Verletzung, wenn sich Unternehmen nicht entsprechend der nach außen getragenen Werte verhalten. Der Bedarf für Vertrauen ändert sich also entlang der Customer Journeys. Allerdings: Auch für uns als Unternehmen ändert sich im Zeitverlauf, worin wir das Vertrauen unserer Kund:innen benötigen. Ein Beispiel: Viele werden zustimmen, der deutschen Post zu vertrauen. Täglich dürfen wir erleben, wie das geschichtsträchtige Unternehmen seine Versprechen hält, indem es unsere Briefe, Dokumente und Pakete verlässlich am vereinbarten Ort abliefert. Das hohe Vertrauen in das Kerngeschäft der Post ist aber nicht ohne weiteres auch in zukünftige Geschäftsmodelle übertragbar. So musste die deutsche Post im Januar 2020 den E-Postbrief nach zehn erfolglosen Jahren einstellen. Wir vertrauen der Post zwar, dass sie mit unseren Briefen umgehen kann – aber offenbar nicht, dass sie dies auch im Digitalkontext schafft. Unternehmen, die an der Entwicklung des Vertrauens arbeiten, sollten deshalb möglichst präzise definieren, worin ihnen ihre Kund:innen vertrauen können sollen. Und das nicht nur heute sondern auch morgen. Ähnlich wie die Post werden sie dabei in vielen Fällen feststellen: Das heute bestehende Vertrauen ist nicht unbedingt das, was es auch für eine erfolgreiche Zukunft braucht. Die drei Voraussetzungen für Vertrauen lauten Wollen, Können und Einschätzen Wer für sich definiert hat, worin das Vertrauen der Kund:innen ermöglicht werden soll, kann nun damit beginnen, die dafür notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Grundsätzlich müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein, damit echtes Vertrauen zwischen Unternehmen und ihren Kund:innen entstehen kann: Wollen, Können und Einschätzen (Eller, 2022; Mayer et al., 1995). Entsprechend können wir uns Vertrauen als Dreieck vorstellen, dessen Fläche mit der Länge seiner drei Achsen Wollen, Können und Einschätzen größer wird (siehe Abb. 3.7).

3.3

Partner:innen in einer freundschaftlichen Beziehung

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Abb. 3.7 Das Dreieck des Vertrauens

Wollen Als Unternehmen sind wir dann vertrauenswürdig, wenn wir aus Sicht unserer Kund:innen das Richtige wollen, also gute Absichten haben. Aus diesem Grund kämpfen teilweise ganze Industrien mit dem Misstrauen ihrer Kund:innen. So etwa die Versicherungsindustrie, die bei Umfragen in puncto Misstrauen regelmäßig im negativen Sinne die Bestenlisten anführt (Edelmann, 2022). Der Grund, weshalb Kund:innen ihren Versicherern misstrauen, ist dabei nicht darin zu finden, dass die Unternehmen zu schlecht kapitalisiert wären und deshalb um ihre Zahlungsfähigkeit gefürchtet wird. Vielmehr besteht Misstrauen darin, dass sie im Beratungsgespräch oder im Schadenfall tatsächlich wohlwollend und aufrichtig im Sinne des Versicherungsnehmers agieren. Im speziellen Fall der Versicherungen liegt das mitunter an bestehenden Interessenkonflikten. So wird Kund:innen bereits beim Kauf einer Versicherung klar: Je ehrlicher ich diese Gesundheitsfragen beantworte, desto teurer wird die Versicherung. Spätestens im Schadenfall merken sie: Jeder Euro, den die Versicherung für meinen Schaden bezahlt, fehlt dem Unternehmen im Jahresgewinn. Das finanzielle Interesse von Versicherungsunternehmen ist dem ihrer Kund:innen also häufig genau entgegengesetzt. Vor diesem Hintergrund sollten wir als Unternehmen für nachhaltiges Vertrauen den Fokus unserer unternehmerischen Arbeit aufrichtig sowie eindeutig erkennbar auf die Bedürfnisse unserer Kund:innen legen und darüber hinaus Rahmenbedingungen schaffen, in denen unsere Interessen mit denen unserer Kund:innen harmonieren. Das macht beispielsweise der US-Versicherer Lemonade erfolgreich vor, dessen Kund:innen im Schadenfall keinen Konflikt mit ihrem Versicherer fürchten müssen: Je weniger Schäden der Versicherer zahlen muss, desto mehr wird gespendet. Der eigene Jahresgewinn bleibt davon aber unabhängig.

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3 Menschen und ihre Entscheidungen verstehen

Einer ähnlichen Herausforderung begegnen beispielsweise auch Unternehmen, die eine Content-Marketing Strategie verfolgen. Kund:innen könnten durchaus an den angebotenen Inhalten interessiert sein, aber trotzdem dem Online-Ratgeber oder Newsletter mit großer Skepsis begegnen. Will mir das Unternehmen nicht eigentlich nur etwas verkaufen? Unklare Absichten des Unternehmens können zum Trust-Killer werden. Die Anmeldung zum Ratgeber-Portal oder Newsletter bleibt dann aus. Als Unternehmen gilt es in einem solchen Fall nach dem Vorbild von Lemonade zunächst Strukturen zu schaffen, in denen die Bedürfnisse der Kund:innen mit den eigenen Zielen harmonieren. So könnte beispielsweise ein Content-Team aufgebaut werden, das unabhängig von Sales-Zielen gesteuert wird – aber dafür nach Lesedauer, Scroll-Tiefe und Bewertungen von Kund:innen. Wenn auf diese Weise Vertrauenswürdigkeit ermöglicht wird, können die gemeinsamen Ziele in einem zweiten Schritt auch glaubhaft kommuniziert werden. Etwa indem das Content-Team vor der Newsletter-Anmeldung mitsamt der authentischen Begeisterung für die eigenen Inhalte persönlich vorgestellt wird. Können Als Unternehmen sind wir dann vertrauenswürdig, wenn wir über ganz bestimmte Fähigkeiten verfügen und diese wirksam zeigen können. Das leuchtet ein: Gute Absichten alleine reichen eben nicht aus; User wollen zudem sichergehen, dass wir als Unternehmen auch liefern können. Welche spezifischen Kompetenzen ein Unternehmen benötigt, hängt davon ab, worin diese ihm vertrauen können sollen: Online-Händlern beispielsweise, dass sie schnell liefern und die bestellte Ware unkompliziert auch wieder zurücknehmen. Oder Herstellern, dass sie hohe Qualität produzieren und dabei auf ethische sowie nachhaltige Lieferketten achten. Eine gelingende Content-Marketing Strategie setzt voraus, dass Kund:innen uns bestimmte Kompetenzen zuschreiben. Kund:innen werden sich nur dann zur Anmeldung für den Newsletter oder das Ratgeber-Portal entscheiden, wenn wir als Unternehmen glaubhaft in der Lage sind, die versprochene Qualität zu liefern. Kompetenz ist dabei domänenspezifisch. Dass wir etwa als Händler oder Hersteller in unserem Kerngeschäft über die notwendigen Fähigkeiten verfügen, bedeutet für Kund:innen überhaupt nicht, dass wir auch einen guten Newsletter oder Ratgeber schreiben können. Die Frage, welche Kompetenzen wir als Unternehmen brauchen, hängt also direkt davon ab, worin uns unsere Kund:innen vertrauen können sollen. Unsere Kompetenz, erstklassige Newsletter oder Ratgeber zu schreiben gilt es, spätestens bei der Anmeldung unter Beweis zu stellen – beispielsweise durch Auszeichnungen, Siegel, Testimonials oder eine Leseprobe. Einschätzen Als Unternehmen sind wir dann vertrauenswürdig, wenn wir für unsere Kund:innen das Richtige wollen und können. Damit echtes Vertrauen entstehen kann, braucht es darüber hinaus aber eine wesentliche dritte Voraussetzung: Unsere Vertrauenswürdigkeit muss für Kund:innen auch erkennbar werden. Diese müssen uns als Unternehmen also möglichst gut einschätzen können, um uns zu vertrauen. Das stellt insbesondere neue und innovative Unternehmen vor Herausforderungen. Denn: Um ein Unternehmen oder Produkt gut einschätzen zu können, hilft es enorm, wenn Kund:innen es bereits kennen. Im

3.3

Partner:innen in einer freundschaftlichen Beziehung

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Gegensatz dazu ist es schwer, die Vertrauenswürdigkeit eines neuen Produkts oder Unternehmens einzuschätzen, mit dem man noch keine Erfahrungen sammeln konnte. Doch es gibt auch wirksame Strategien, mit denen es auch ohne eigene Erfahrungen zu Vertrauen kommen kann. Eine davon wird mit Blick auf die Elektromobilität deutlich: Ende 2020 war das in Europa meistverkaufte Elektroauto eines, das auf den ersten Blick gar nicht so neu aussieht: der VW ID.3. Es handelt sich um ein 100 % elektrisches und damit innen radikal neues Auto. Von außen aber sieht es vor allem aus wie ein seit Generationen vertrauter VW Golf. Scheinbar finden Kund:innen leichter Vertrauen in eine neue Technologie, wenn zumindest deren Verpackung bereits bekannt ist. Für Unternehmen, die darauf angewiesen sind, dass ihre Kund:innen etwas ganz Neues ausprobieren, kann es also eine gute Idee sein, nach Verbindungen zu bereits bestehenden Erfahrungen ihrer Kund:innen zu suchen. Zurück zu unserem Content-Marketing-Beispiel: Damit Kund:innen uns mit unserem Newsletter- oder Ratgeber-Angebot vertrauen können, müssen sie uns mit unserem Versprechen möglichst leicht einschätzen können. Dafür kann es beispielsweise auch hilfreich sein, wenn Kund:innen im Sinne einer Arbeitsprobe bereits vor ihrer Anmeldung Einblicke in unsere Inhalte bekommen. Bevor sich User für unseren Newsletter anmelden, sollten sie also zum Beispiel einen davon lesen können. Eine weitere effektive Alternative zu eigenen Erfahrungen sind die Erfahrungen anderer. Testimonials von anderen Kund:innen oder Bewertungen durch Autoritäten helfen Usern also, unser Angebot auch ohne eigne Erfahrungen einschätzen zu können. Wer mehr Vertrauen will, sollte mit Vertrauenswürdigkeit beginnen Für Unternehmen ist Vertrauen ein grundlegender Erfolgsfaktor. Ohne Vertrauen keine Kooperation und ohne Kooperation keine Unternehmung. Die Entwicklung von Vertrauen von Kund:innen sollte für Unternehmen dementsprechend an höchster Stelle stehen und als explizites Ziel der Unternehmenssteuerung dienen. Um die Zielerreichung kontinuierlich zu messen, empfiehlt es sich, die psychologischen Determinanten des Vertrauens kontinuierlich zu erheben. Echtes Vertrauen kann nur entstehen, wenn Unternehmen nachhaltig im Sinne der Kund:innen handeln und dafür sorgen, dass sich ihr Vertrauen für sie auszahlt. Andersherum: Wenn Vertrauen ausgenutzt wird, wird es im Keim erstickt. Das Ziel sollte hier also nicht Conversion-Optimierung lauten, nicht Umsatzsteigerung und auch nicht Customer Lifetime Value. Das Ziel von Vertrauensarbeit ist die Entwicklung von echtem Vertrauen zwischen Unternehmen und ihren Kund:innen. Und dafür braucht es den festen Willen, sich Kund:innen gegenüber vertrauenswürdig zu verhalten. Dabei muss nachhaltige Vertrauensentwicklung nicht im Widerspruch zu kurzfristiger Umsatz- oder Wachstumssteigerung stehen. Es gilt, Kundenerlebnisse zu gestalten, die beide Seiten in Einklang bringen: Umsatz und Wachstum auf der einen Seite und Vertrauen auf der anderen Seite.

60

3.3.2

3 Menschen und ihre Entscheidungen verstehen

Die Bedeutung von Marken

Marken sind Schablonen zum Aufbau von Vertrauen. Sie geben den im vorherigen Abschnitt beschriebenen Voraussetzungen Wollen, Können, Einschätzen eine Gestalt. Deswegen zeigt sich durch alle Industrien hinweg ein positiver Zusammenhang zwischen Markenstärke und Vertrauen, der sich konkret in Consent Rate, Bereitschaft zur Eröffnung von Kundenkonten, Interaktionsrate mit Werbemitteln (inkl. Suchergebnisseiten), Wiederkaufs- und Empfehlungsbereitschaft ausdrückt. Nicht umsonst wird regelmäßig über die wertvollsten Marken der Welt berichtet und Rankings erstellt: Die stärksten Marken sind meist auch überdurchschnittlich erfolgreich. Weltweit belegen Apple, Google und Amazon regelmäßig die ersten Plätze. Kurz rekapituliert, wie Menschen entscheiden, erkennt man schnell einen Zusammenhang: All diese Marken ersparen ihren Usern leidiges Nachdenken und vereinfachen ihr Leben mit der Gestaltung müheloser Entscheidungen im digitalen Raum. User wissen, worauf sie sich verlassen können. Dieser wiederholte Vertrauensbeweis ist die Basis für die Bereitschaft, Kundenkonten zu erstellen und sich regelmäßig einzuloggen. Ultimatives Ziel ist daher die Etablierung einer Marke, der User vertrauen und der gegenüber sie sich öffnen. Durch die Kraft tieferer emotionaler Konnektivität und sozialer Beweise kann dann eine Gemeinschaft von engagierten Fans aufgebaut werden. Diese wiederum bildet die Basis für die Überzeugung weiterer Kund:innen, die sich sicher fühlen und ihre Daten preisgeben. Dieser Datenbestand letztlich versetzt das Unternehmen in die Lage, Bedürfnisse noch besser zu verstehen und die Ansprache zu einer herausragenden Erfahrung werden zu lassen. Ein perfektes Schwungrad. Die Umkehrprobe: Ohne starke Brand tun sich User erheblich schwerer, Vertrauen zu entwickeln. Ohne Vertrauen kein Consent oder Log-in. Ohne Consent und Login keine Daten. Und ohne Daten keine bedürfnisgerechte Ansprache, die wiederum zu vertrauensvollen Erfahrungen führt – ein Teufelskreis. Um es deutlich zu sagen: Kleinere und mittlere Unternehmen mit schwacher Marke müssen sicherlich mehr tun als etablierte Marken, um Vertrauen aufzubauen. Die Werbeagentur Serviceplan und das Marktforschungsinstitut GfK haben alle sechs relevanten ökonomischen Krisen seit den 70er Jahren – von der Ölkrise bis zur Finanzkrise analysiert und dabei Anlässe, Dauer, Gewinner und Verlierer, erfolgreiche und nicht erfolgreiche Markenführungsstrategien unter die Lupe genommen (Serviceplan, 2021). Die Erkenntnis: Noch nie war das Vertrauen in Marken weltweit so gering wie heute. Ein Befund, den auch die Havas Group in ihrer großen „Meaningful Brands“ Studie feststellt (Havas Group, 2021). Serviceplan erklärt: Noch nie haben sich die Marktanteile in den letzten Jahrzehnten so gravierend verschoben wie derzeit. Und noch nie war die Markenwechselbereitschaft so hoch wie heute. Ein Vergleich der Finanzkrise von 2009 und der Corona-Krise 2020 mit dem Referenzjahr 2018 zeigt: Unternehmen, die in Krisenzeiten ihre Werbeausgaben nicht reduziert haben, haben Marktanteile gewonnen. In der Finanzkrise um 18,5 %, im Zeitraum der Corona-Pandemie sogar um 32,8 %.

3.3

Partner:innen in einer freundschaftlichen Beziehung

61

Ein Grund dafür: In den letzten Jahren haben die viele Marketing-Abteilungen ihren Fokus auf Abverkauf und Performance Marketing gerichtet – also auf den transaktionsnahen, unteren Bereich einer Customer Journey kurz vor dem Kauf („Lower Funnel“). Die Technologien, die klare Antworten auf die Frage nach der Sales-Effektivität der Ausgaben ermöglichten, waren schlicht zu verlockend. Brand Marketing dagegen rückte in den Hintergrund, wurde budgetär reduziert bzw. teilweise gar abgeschafft. Gesellschaftliche Entwicklungen und neue Forschungserkenntnisse zeigen den Unternehmen jetzt wieder klarer auf, dass Marken eine wichtige Rolle als Orientierungspunkte für Kund:innen spielen. Die logische Folge: Markenkommunikation, Brand Marketing und die Aktivitäten im „Upper Funnel“ erhalten wieder mehr Aufmerksamkeit – und mehr Budget. Aber ist es für diesen Sinneswandel zu spät? Haben die meisten Marken sich schon selbst zerstört? Das Vertrauen in Marken ist vielfach erschüttert: Die bereits erwähnte Studie der Havas Group (2021) mit fast 400.000 Probanden zeigen, dass es den Menschen egal wäre, wenn 75 % aller Marken einfach verschwinden würden. Eine schockierende hohe Zahl! Nur einer von vier Marken gelingt es also noch, eine emotionale Beziehung aufzubauen. Das hängt auch damit zusammen, dass nur weniger als die Hälfte aller Marken (47 %) überhaupt als vertrauenswürdig empfunden werden. Und erschreckende 71 % der Menschen haben Zweifel, dass die Marken ihre Versprechen halten. Schlimmer noch: Sie sind leerer Versprechungen müde. Doch diese Entwicklung ist nicht unumkehrbar. Historisch gesehen wuchs die Bedeutung von Marken in unsicheren Zeiten meist an. In Krisenzeiten steigt die Volatilität, die Gefahr von Marktanteilsverlusten wächst für Unternehmen ohne profilierte Marke. Denn Marken dienen auch als Sicherheitsanker und Sinnstifter, wenn sie es entsprechend kommunizieren. Die globale Pandemie, politische Friktion, Klimakrise, Spaltung der Gesellschaft, Miss- und Desinformation in den sozialen Medien, ökonomische Ängste vor Inflation und der Supply Chain Kollaps treiben den Menschen dieser Jahre genügend Sorgenfalten auf die Stirn. Damit herrschen theoretisch perfekte Bedingungen für ein Erstarken der Marken. Entsprechend steigt die Erwartung an Marken, sich im Sinne der Lösung der globalen Herausforderungen zu positionieren und einzubringen. Das drückt sich auch konkret in der Zahlungsbereitschaft aus: 64 % der Menschen ziehen Marken mit einem klaren Purpose vor, 53 % sind bereit für deren Produkte mehrt zu bezahlen (Havas Group, 2021). Entscheidend ist: Marken müssen erlebbar werden. Die Grundvoraussetzung dafür haben wir bereits geklärt: Vertrauen. Ohne das ist alles andere nichts. Darüber hinaus: Nicht mehr Media-Druck und Lautstärke entscheiden über den Erfolg einer Marke. Im Gegenteil: Marken sollen ihren Kund:innen Ruhe und Stressreduzierung bringen. Das gelingt nicht mit schrillen Werbebotschaften und maximaler Sichtbarkeit („Exposure“), was durchaus eine denkbare Reaktion auf die eingeschränkten TargetingMöglichkeiten nach der DSGVO und der Cookie-Apokalypse sein könnte. Vielmehr brauchen Unternehmen eine bedürfnisbasierte Ansprache mit viel Empathie und Verständnis. Das holt insbesondere die Gen Z ab, die mengenmäßig bereits zur größten

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3 Menschen und ihre Entscheidungen verstehen

ansprechbaren Generation für Marken geworden ist: 55 % suchen Marken, die ihre Individualität mit differenzierten Produkten und Services ausdrücken können (vs. 36 % der Baby Boomer) (Havas Group, 2021). Der Schlüsselbegriff für die Individualisierung der Ansprache und der Produkte lautet „meaningful“ (engl. für bedeutsam). Und heißt nichts anderes als „was den Kund:innen in ihrer aktuellen Situation hilft“. Unternehmen stehen vor der Aufgabe, den Entscheidungskontext und die Bedürfnisse der User zu verstehen. Das Verstehen von Bedürfnissen stellt das „sine qua non“ dar, also die Grundvoraussetzung ohne die Unternehmen heute im Netz Kund:innen nicht mehr sinnvoll ansprechen können. Und daher sind Psychologie und Behavioral Economics ein zentrales Thema im R-Commerce.

3.3.3

Geben und Nehmen – das Erfolgsprinzip funktionierender Beziehungen

Der erste Kontakt zwischen einem User und einem Unternehmen ist wie schon angesprochen oft eine Störung: Sie werden aus dem Flow gerissen und gezwungen, sich erst ausgiebig mit den Details der Datenfreigabe zu beschäftigen. Doch Menschen sind darauf gepolt, angefangene Aufgaben zu Ende zu bringen. Solange das nicht der Fall ist, entsteht eine unangenehme kognitive Dissonanz, die Spannung aufbaut und die Menschen versuchen abzubauen. Dieses Prinzip ist als „Zeigarnik-Effekt“ bekannt. Als Konsequenz räumen wir mit allerhöchster Geschwindigkeit alle Barrieren aus dem Weg, die uns von der Erledigung unserer Aufgabe abhalten – zum Beispiel Sneakers bestellen. Zu einem solchen Hindernis gehört auch der Cookie Consent-Layer. Ist dieser gut gestaltet, wirkt sich der Zeigarnik-Effekt positiv auf die Zustimmungsrate aus: Intention – Websitebesuch – Unterbrechung durch Layer – intuitiver Click auf Akzeptieren – Fortsetzung der Journey – Kauf. Wie das erfolgreich funktioniert, beschreiben wir in Abschn. 4.3. Wenn wir von unseren Usern aber mehr fordern, z. B. die Anlage eines Kundenkontos, müssen wir ihnen etwas dafür anbieten. Eine gute Beziehung funktioniert mit Geben und Nehmen – mit jemandem, der immer nur nimmt und das schlimmstenfalls nicht einmal begründet, geht man keine Beziehung ein. Wichtig dabei ist, dass Unternehmen angemessen kommunizieren, was sie bereits für ihre User tun – ihnen also geben. Das Prinzip ist in der Psychologie als „Reziprozität“ bekannt: Menschen sind geneigt, sich zu revanchieren, wenn ihnen jemand etwas Gutes tut oder etwas schenkt. Bekannt ist dessen Anwendung durch die kostenlosen Probierhäppchen im Supermarkt – wer wird dort nicht jedes Mal schwach und schlägt bei den teuren griechischen Aufstrichen oder französischen Käsevariationen zu? Aber es zahlt sich auch beim Thema Datenfreigabe aus. Wenn die User etwa erfahren, welche Anstrengungen das Unternehmen im Hintergrund bereits auf sich nimmt, um höchste Standards bei Datenschutz und IT-Security zu wahren, sind sie vermutlich eher bereit, ihre Daten freizugeben oder ein Kundenkonto zu eröffnen.

3.3

Partner:innen in einer freundschaftlichen Beziehung

63

Geben und Nehmen sind aber nicht immer gleichverteilt. In jeder Beziehung gibt es Phasen, in denen einer der beiden Partner mehr investiert als der oder die andere. Daher ist es wichtig, dass die kommunikativen Impulse gut orchestriert ihre Empfängerschaft erreichen. Erfolgversprechend sind Kommunikationskonzepte, die zielgruppengerecht geplant und ausgesteuert werden: Das heißt, spezielle Kundengruppen (Personas) über einen individuell ausgesteuerten Kommunikationsverlauf (Customer Journey) zur richtigen Zeit im richtigen Medium/Kanal (Touchpoint) mit dem richtigen “Geben” anzusprechen. Das kann trigger-basiert passieren: Sobald ein User eine bestimmte Aktion tätigt, wird eine Reihe von gut geplanten Maßnahmen ausgelöst – ein Dialog entsteht. Auch Aktivierungsmaßnahmen funktionieren so: Wenn sich Kund:innen eine Zeitlang zurückhalten, ist es an der Zeit, dass Unternehmen in Vorleistung gehen. Genauso wichtig wie die Ausspielung von Anstößen zur richtigen Zeit ist auch das Zurückhalten von Anstößen zur falschen Zeit: Wenn Kund:innen ein Produkt bereits gekauft haben, müssen Unternehmen dieses Event als Datenpunkt mitbekommen und sofort aufhören, sie mit weiteren Kaufimpulsen zu konfrontieren. Dasselbe gilt für wiederholt nicht bekundetes Interesse: Jeder Touchpoint braucht ein sogenanntes „Capping“, also einen Maximalwert bzgl. der Zeit oder Anzahl der Ausspielungen einer Botschaft. Denn entsprechend der Lambda-Hypothese steigt die Bereitschaft, zu reagieren, mit zunehmender Aktivierung an, nimmt jedoch ab einer bestimmten Aktivierungsstärke wieder ab (Foscht et al., 2017). Das ist immer dann der Fall, wenn Werbemaßnahmen zu laut, zu schrill oder zu aufdringlich wirken. Auch im R-Commerce gilt die eiserne Regel: Gute Kommunikation ist das Geheimnis glücklicher und langer Beziehungen. In der Kommunikation drückt sich ausgewogenes Geben und Nehmen aus. Dafür muss verstanden werden was der andere gerade braucht oder sich für die Zukunft wünscht, was auf drei Wegen gelingen kann: Datenbasiert Unternehmen haben eine ausreichende Datenspur des Users und können mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit auf Bedürfnisse hinter den getrackten Aktionen (in der Psychologie spricht man von „beobachtetem Verhalten“) schließen. Diese Bedürfnisse werden dann in intelligent konzipierten Triggern berücksichtigt. Forschungsbasiert Die Psychologie, Neurowissenschaften und Verhaltensökonomie sind hochagile Disziplinen, die permanent neue tief greifende Erkenntnisse über menschliche Bedürfnisse und menschliches Verhalten zu Tage fördern – viele davon mit universeller Gültigkeit. Diese Erkenntnisse können Unternehmen nutzen, um auch ohne Datenpunkte bessere Hypothesen aufzustellen, was gerade relevant und interessant für die User ist. Konzeptionell Warum nicht einfach fragen? Belastbarer als ein explizit formulierter Wunsch kann keine Herleitung der Welt sein. Unternehmen sollten also (gerade bei dünner Datenspur) deutlich stärker in Erwägung ziehen, Bedürfnisse, Motivationen, und Lebensumstände auf der Website abzufragen. Das oft gebrachte Argument „zusätzliche Abfragen

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3 Menschen und ihre Entscheidungen verstehen

reduzieren die Conversion Rate“ ist dabei entlarvend und zeigt nur, dass die Tragweite und Langfristigkeit von Beziehungen im Sinne des R-Commerce noch nicht verstanden wurde. Eine Conversion ist immer einmalig, relevante Informationen über User können von jahrelanger Haltbarkeit sein. R-Commerce interpretiert Beziehungen nicht im Sinne einer monogamen Liebesbeziehung. Sinnbildlich sind es eher freundschaftliche Beziehungen, die daher „Seitensprünge“ zu Mitbewerbern ohne weiteres aushalten. Die jeweilige Beziehung muss nicht perfekt sein, weil es keine emotionale Abhängigkeit auf beiden Seiten gibt. Wichtig ist nur, dass Unternehmen wirklich verinnerlichen, dass sie in Beziehungen investieren müssen, BEVOR sie ökonomische Maßstäbe anlegen und finanzielle Erwartungen formulieren können. Anders ausgedrückt: Hohe Kundenakquisekosten sind überhaupt kein Problem, wenn die Werthaltigkeit der Beziehung dadurch signifikant steigt.

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Literatur

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Neue rechtliche und technische Rahmenbedingungen – Impulse für eine echte Beziehung

Zusammenfassung

Technologische und rechtliche Rahmenbedingungen (wie die DSGVO und das TTDSG) zwingen Unternehmen, ihr Datensammeln komplett umstellen. Es gilt, neue Grundsätze der Datenverarbeitung von der Zweckbindung über die Datensparsamkeit bis hin zur Vertraulichkeit von Daten zu berücksichtigen. Auch die Browser-Anbieter reagieren und schränken die Arbeit mit Third Party Cookies massiv ein. Das Thema Cookie Consent ist plötzlich auf der Tagesordnung gelandet. Mehr noch: Es ist fast zu einer eigenen Marketing-Disziplin geworden, denn es bildet den Grundstein für die zukünftige erfolgreiche Kundenansprache.

Kap. 3 hat gezeigt, wie stark die verhaltenspsychologischen bzw. verhaltensökonomischen Grundlagen den Rahmen für die bedürfnisorientierte Nutzeransprache definieren. Doch wie einleitend beschrieben, sind auch die rechtlichen und technischen Rahmenbedingungen im Fluss und erfordern eine Neubewertung des Status Quo – darum geht es in diesem Kapitel. Der größte Paukenschlag gelang der EU mit der Einführung der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Sie hat das Datensammeln massiv eingeschränkt. Lange bildeten Cookies die Grundlage für alle Online-Marketing-Aktivitäten. Third Party Data erlaubten es Online-Händlern und Werbetreibenden, ihre User und Zielgruppen umfassend kennenzulernen und dieses Wissen für die Optimierung ihrer Kampagnen zu nutzen. Datenintelligenz durch Third Party Cookies galt als das virtuelle Gold im wilden Westen des digitalen Marketings. Das zog eine gigantische Peripherie von Dienstleistungsmodellen und -anbietern nach sich, die den Werbetreibenden die Datenarbeit und operative Ansprache abnahmen. Doch diese Maschinerie wird sich verändern, vielleicht sogar verschwinden. Jetzt müssen Unternehmen sich wieder selbst um ihre Daten kümmern und © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Stalph et al., R-Commerce, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42054-3_4

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4 Neue rechtliche und technische Rahmenbedingungen – Impulse für …

genau erklären, warum sie Informationen von Usern sammeln. DSGVO-konform Daten zu sammeln und zu speichern wird plötzlich zur Existenzfrage. Doch trotz der tiefgreifenden Einschnitte, sollten Unternehmen die DSGVO als Startschuss für einen völlig anderen Umgang mit Daten interpretieren – und nicht als dramatisches Verlustszenario. Ein solches Umdenken hat massive Auswirkungen auf der unternehmensstrategischen Ebene. Die bisherige Klassifizierung der Kund:innen auf Basis von Third Party Daten ist nur noch sehr eingeschränkt möglich und wird zur Sackgasse. Unternehmen müssen sich daher bemühen, Daten selbst zu erheben – die „First Party Daten“. Das Vorgehen dafür muss auf eine neue Art und Weise erfolgen, nämlich respektvoll und im Sinne der Kund:innen. Die Verwendung von First Party Daten für eine kanalübergreifende Kundenerfahrung kann erhebliche Vorteile mit sich bringen. Dies setzt allerdings eine sorgfältige Planung und eine rechtskonforme Datenerhebung voraus. Die Daten müssen verantwortungsvoll verwaltet werden und einen fairen Wertaustausch zwischen dem Unternehmen und seinen Kund:innen etablieren. Um einen First Party Datenansatz zu realisieren, brauchen Unternehmen in jedem Fall die Zustimmung der User – und die gibt es nur, wenn überzeugende Argumente geliefert werden. Dazu gehören klare Mehrwerte, etwa exklusiver Content oder Sonderangebote. Dass das funktioniert, haben Unternehmen wie Amazon, Nike oder Adidas mehrfach bewiesen. Aber auch kleinere Anbieter wie Mymuesli oder Reishunger sind auf diese Weise erfolgreich. Das Aus der Third Party Cookies bedeutet also bei weitem nicht das Ende des digitalen Marketings – ganz im Gegenteil: Eine neue Datenstrategie ist eine echte Chance. Denn Daten-Streaming in Echtzeit und ein verbessertes Customer Experience Management ermöglichen es, Kund:innen und ihre Bedürfnisse wirklich ins Zentrum unternehmerischer Überlegungen zu stellen und letztlich starke Kundenbeziehungen aufzubauen. Doch nicht nur an der gesetzgebenden Flanke hat es Neuerungen gegeben, die die Notwendigkeit für einen anderen Blick auf die Kund:innen gebieten. Auch technische Innovationen und Kooperationen tragen dazu bei. Losgelöst von den Strategien der werbetreibenden Unternehmen bemüht sich die gesamte Industrie, datenschutzkonforme Lösungen für die Post-Cookie-Ära zu schaffen. Publisher schmieden Datenkooperationen, um weiterhin attraktive Werbeumfelder anbieten zu können und eine effektive Aussteuerung von Werbung möglich zu machen – und zwar intentionsbasiert, also auf der Basis von neu geschaffenen Interessenskategorien. Diese Datenallianzen zwischen Publishern und Werbetreibenden sind geschützte Datenräume und werden auch als Data Cleanrooms (DCR) bezeichnet. DCRs sind technologische Infrastrukturen, in denen mehrere Partner ihre großen Datensätze speichern, auf Überschneidungen hin überprüfen und aktuell halten. Dafür werden Identifier wie E-Mail-Adressen genutzt. ProSiebenSat1 hat dafür „net-id“ ins Leben gerufen, Criteo setzt auf das Pendant „unified ID“. Eine Kombination aus First Party Data und Kooperationen sorgt bei diesem Ansatz dafür, dass in Zukunft eine gute Datenbasis gegeben ist, um die Bedürfnisse der User zu identifizieren, ihnen regelmäßig relevanten Content zukommen zu lassen und damit eine Beziehung zu etablieren und zu festigen.

4.1

4.1

Die DSGVO schafft neue Grundlagen für datenbestimmtes Marketing

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Die DSGVO schafft neue Grundlagen für datenbestimmtes Marketing

Jeden Tag produziert jeder von uns große Datenmengen. Wir posten Fotos auf Social Media, senden E-Mails, teilen Dokumente, zahlen Rechnungen und bestellen Produkte online. Viele Menschen fragen sich, wie viele persönliche Daten von ihnen an den verschiedensten Orten im Internet gespeichert sind – und was mit diesen Informationen passiert. Das war 2012 der Startschuss für die Europäische Kommission, eine Datenschutzreform zu starten. 2016 starteten die Diskussionen um die ePrivacy-Richtlinie (die bis heute andauern – Stand Februar 2023) und am 25. Mai 2018 verabschiedet die EU die General Data Protection Regulation (GDPR), auf Deutsch Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Im Gegensatz zur EU-Datenschutzrichtlinie, die von den EU-Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden musste, wird die DSGVO in allen EU-Mitgliedsstaaten unmittelbar gültig, abgesehen von ein paar Details, in denen die Mitgliedsländer für bestimmte Datenschutzaspekte auch nationale Regelungen finden dürfen (Euroforum, 2018). Damit reiht sich die DSGVO ein in eine Reihe von Meilensteinen, die das Tracking von Nutzerdaten grundlegend verändern, wie Abb. 4.1 zeigt Es geht hier nicht nur um IP-Adressen und besuchte Websites, sondern auch um Kontaktdaten, Adressen, Social Media-Beiträge, Einkäufe und Banking-Daten. Wenig später wird die DSGVO auch in den Nicht-EU Ländern Island, Liechtenstein und Norwegen geltendes Recht. Wir erinnern uns alle noch an die intensiven Diskussionen, welche Konsequenzen der neue Datenschutz für werbetreibende Unternehmen haben würde. Dazu später mehr. Hier nur kurz: Die praktischen Auswirkungen werden immer wieder mit der Prohibition in den USA der 30er Jahre verglichen – damals bezeichnet als „The Noble Experiment“: Bis in den privaten Alltag hinein bekommt jeder einzelne die immensen Änderungen zu spüren. Die Ziele sind heute wie damals ehrenwert und sollen für mehr Lebensqualität sorgen. Während das Alkoholverbot in den USA körperliches Leid von der Bevölkerung fernhalten sollte, plant die DSGVO die Basis für einen selbstbestimmten Umgang mit Daten zu legen. Kopfschmerzen haben wohl beide Veränderungen

Abb. 4.1 Meilensteine im Trackingschutz

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4 Neue rechtliche und technische Rahmenbedingungen – Impulse für …

bei den Beteiligten provoziert. Doch im Gegensatz zur Prohibition, die daran scheiterte, dass es kaum Möglichkeiten gab, das Gesetz auch durchzusetzen, ist die DSGVO ein durchaus scharfes Schwert.

4.1.1

Ziele der DSGVO

Die Ziele der Datenschutzgrundverordnung sind klar: Die Europa-Politiker sind darauf fokussiert, den Schutz personenbezogener Daten in der EU zu verbessern. Sie wollen die Vereinheitlichung des Datenschutzes in Europa im digitalen Zeitalter erreichen und die Rechte der Betroffenen stärken. Kerngedanke der DSGVO ist es, den Menschen die Hoheit über ihre Daten zurückzugeben. Und dabei haben sie keine halben Sachen gemacht: Es wird bei Daten im Sinne der DSGVO nicht unterschieden zwischen personenbezogenen Daten im privaten, öffentlichen oder beruflichen Rahmen. Es geht immer um die Person und nur um die Person. Das gilt sowohl für B2C- als auch für B2BUmfelder. Kund:innen in B2B-Märkten sind zwar in der Regel Unternehmen, doch die Geschäftsbeziehungen werden von realen Menschen gepflegt und fallen damit auch in den Wirkungsraum der DSGVO. Und seien wir mal ehrlich: Auch wenn viele in der Branche geflucht haben, dass die strengen deutschen Regeln plötzlich zum Exportschlager wurden, so bringt das Datenschutzziel der neuen Verordnung auch einen riesigen Vorteil: Plötzlich gelten EU-weit dieselben Regelungen für die Nutzung und Weiterverarbeitung personenbezogener Daten – egal ob in Nordnorwegen, in Irland oder am Peloponnes. Damit ist ein weiteres Ziel – nämlich fairer und transparenter Datenverkehr – erreicht. Denn der Datenschutz gilt jetzt auch für Unternehmen, die Produkte an europäische Bürger:innen verkaufen und deren personenbezogene Daten speichern wollen – auch wenn diese Firmen ihren Sitz nicht innerhalb der EU haben, sondern vielleicht in den USA oder in China. Kurz: Die DSGVO sorgt dafür, dass ein freier Datenverkehr im Europäischen Binnenmarkt gewährleistet ist – wenn auch zu neuen Konditionen. Danken wir also dem Grünen-Politiker Jan Philipp Albrecht, einem der Schöpfer der DSGVO. Er spricht davon, dass „90 Prozent der deutschen Regelungen übernommen wurden.“ Alles in allem sorgt die DSGVO für transparente Informationen zur Datenverarbeitung. Vor diesem Hintergrund können betroffene Bürger:innen eine Reihe von konkreten Rechten gegenüber datenverarbeitenden Unternehmen geltend machen. Dazu zählen unter anderem das Recht auf Auskunft über die verarbeiteten Daten (Art. 15 DSGVO), das Recht auf Löschung (Art. 17 DSGVO), soweit dem keine vertraglichen oder gesetzlichen Pflichten entgegenstehen sowie das Recht auf Einschränkung der Verarbeitung (Art. 18 DSGVO). Zusätzlich ist es immer möglich, sich bei einer Datenschutzbehörde über die Verarbeitung personenbezogener Daten durch ein Unternehmen zu beschweren (Art. 77 DSGVO).

4.1

Die DSGVO schafft neue Grundlagen für datenbestimmtes Marketing

4.1.2

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Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten (Art. 5)

Zeit, einen genaueren Blick auf das Gesetzeswerk zu werfen. Insbesondere Art. 5 der DSGVO sollte jeder Marketer kennen: Dort finden sich die Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten. §5 DSGVO: Die Grundsätze personenbezogener Datenverarbeitung

• • • • • • •

Treu und Glauben, Rechtmäßigkeit, Transparenz Zweckbindung Datenminimierung Richtigkeit Speicherbegrenzung Integrität und Vertraulichkeit Rechenschaftspflicht

Quelle: intersoft consulting (2023) Im Folgenden werden diese elementaren Grundsätze der DSGVO kurz vorgestellt. Treu und Glauben – Fairness bei der Datenverarbeitung „Jede Verarbeitung personenbezogener Daten sollte rechtmäßig und nach Treu und Glauben erfolgen. […] Der Grundsatz der Transparenz setzt voraus, dass alle Informationen und Mitteilungen zur Verarbeitung dieser personenbezogenen Daten leicht zugänglich und verständlich und in klarer und einfacher Sprache abgefasst sind. […].“ (intersoft consulting, 2023).

„Treu und Glauben“ klingt sehr nach Mittelalter und Ritterromantik. Im Englischen wird an dieser Stelle der Begriff der „Fairness“ verwendet. Fairness zählt zu den Grundprinzipien der DSGVO. Doch weit darüber hinaus sehen wir, dass dieser Wert auch ganz grundlegend unverzichtbar ist für Beziehungen im Sinne des R-Commerce. Jede Interaktion, die ein Unternehmen mit seinen Kund:innen plant, muss diesem Grundsatz gehorchen, wenn es auch in Zukunft respektiert, ernst genommen und als vertrauenswürdiger Partner empfunden werden soll. In Abschn. 3.3.1 wurde dargelegt, dass Vertrauen nur langsam aufgebaut, aber sehr schnell zerstört werden kann – etwa durch eine unfaire Behandlung. Von einer „unfairen“ d. h. verborgenen Datenverarbeitung ist also aus mehreren Gründen dringend abzusehen. Die personenbezogenen Daten werden exakt nur so verarbeitet, wie bei ihrer Erhebung angekündigt. Oder anders ausgedrückt: Die Verarbeitung darf nur in dem Umfang erfolgen, auf den die Personen vertrauen dürfen.

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4 Neue rechtliche und technische Rahmenbedingungen – Impulse für …

Ein weiteres Signalwort lautet „Transparenz“. In der DSGVO nutzen Juristen es ungefähr so: Die Identität des Verantwortlichen muss dem Betroffenen offengelegt werden. Es darf keine verdeckte oder geheime Verarbeitung von personenbezogenen Daten geben, es sei denn, es ist im Gesetz geregelt. Betroffene haben das Recht auf Auskunft ihrer personenbezogenen Daten unabhängig vom Ort der Verarbeitung. Hier hat das Zauberwort „Consent Management“ seine Wurzeln. Zweckbindung – Datenverarbeitung nur für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke „Die personenbezogenen Daten sollten für die Zwecke, zu denen sie verarbeitet werden, angemessen sein.“ (intersoft consulting, 2023)

Bei der Definition von „Zweck“ kann man ins Schwitzen geraten. Gleich vorweg: Zweck ist nicht gleich Ziel. Den Zweck versteht man am besten, wenn man fragt: „Warum“? Oder „Was bringt mir das“? Der Zweck gibt mehr oder weniger einen Grund an – der Grund warum ein Unternehmen Daten haben und wozu es diese benutzen will. Es braucht also eine plausible Antwort, warum Daten abgefragt werden – und zwar im Vorhinein. Der Zweck muss vor der Verarbeitung festgelegt werden, eindeutig und natürlich rechtmäßig sein. Und es muss einen rechtliche Rahmenbedingungen geben, wenn die personenbezogenen Daten zu einem anderen Zweck weiterverwendet werden. Achtung Falle: Die Weitergabe an Dritte ist ein neuer Zweck und bedarf eines Rechtfertigungsgrundes und einer erneuten Einwilligung. Datensparsamkeit – so wenige Daten möglich sammeln „Die personenbezogenen Daten sollten auf das für die Zwecke ihrer Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein. Dies erfordert insbesondere, dass die Speicherfrist für personenbezogene Daten auf das unbedingt erforderliche Mindestmaß beschränkt bleibt.“ (intersoft consulting, 2023)

Personenbezogene Daten dürfen nur erhoben, gespeichert und verarbeitet werden, wenn sie für den Zweck angemessen, erheblich und relevant sind. Gemeint ist: Der Verantwortliche muss sich bei personenbezogenen Daten auf die Informationen beschränken, die für den Zweck notwendig sind. Es geht um die Begrenzung des Datenhungers aus reiner Lust an den Daten – Juristen nennen dies Datensparsamkeit. Auch wenn ein Unternehmen zusätzlich zur Lieferadresse noch gerne Hobbys und die Namen der fünf besten Freunde wissen will, so ist das alles andere als datensparsam. Es dürfen eben nur Daten erhoben werden, die für den jeweiligen Zweck erforderlich sind. In der Regel sind das der Name der Kund:innen, die Anschrift und die E-Mail-Adresse für die Bestellbestätigung. Die erhobenen, personenbezogenen Daten dürfen dann auch nur zu diesem Zweck verwendet werden. Alle weiteren Zwecke wie zum Beispiel das Zusenden von individuellen Angeboten per E-Mail sind mit diesen Daten nicht erlaubt – es sei denn, die Kund:innen stimmen dieser Möglichkeit explizit zu.

4.1

Die DSGVO schafft neue Grundlagen für datenbestimmtes Marketing

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Richtigkeit – keine fehlerhaften Daten „Es sind alle angemessenen Maßnahmen zu treffen, damit [unrichtige] personenbezogene Daten unverzüglich gelöscht oder berichtigt werden.“ (intersoft consulting, 2023)

Richtigkeit meint nichts anderes als „den Tatsachen entsprechend“. Hier geht es um das Recht darauf, dass veraltete und insbesondere falsche Daten gelöscht werden. Wer jemals einen falschen Eintrag bei der Schufa hatte, weiß, wie wichtig dieser Grundsatz ist. Doch Achtung: Hier prallt Gesetzestheorie auf Datenrealität. Jeder Marketer weiß, wie schwierig es ist, Daten korrekt und aktuell zu speichern. Das Einspielen eines einzigen Backups kann veraltete Datensätze wieder hervorspülen. Daher sollten Unternehmen schon im eigenen Interesse dafür sorgen, dass die personenbezogenen Daten, die sie erarbeiten, richtig sind. Unternehmen sollten proaktiv tätig werden und nicht darauf warten, dass Betroffene ihr Recht auf Berichtigung gem. Art. 16 DSGVO geltend machen. Speicherbegrenzung – das Löschgebot „Um sicherzustellen, dass die personenbezogenen Daten nicht länger als nötig gespeichert werden, sollte der Verantwortliche Fristen für ihre Löschung oder regelmäßige Überprüfung vorsehen. Es sollten alle vertretbaren Schritte unternommen werden, damit unrichtige personenbezogene Daten gelöscht oder berichtigt werden.“ (intersoft consulting, 2023)

Kompliziert ausgedrückt: Daten müssen „in einer Form gespeichert werden, die die Identifizierung der betroffenen Personen nur so lange ermöglicht, wie es […] erforderlich ist.“ Auch wenn es im ersten Moment schwerfällt – Stichwort „Trennungsschmerz“: Personenbezogene Daten sind zu löschen, wenn der Zweck erreicht wurde. Also wenn zum Beispiel das Paket bei den Kund:innen angekommen ist. Wenn Daten behalten werden, um bestimmte Auswertungen durchzuführen, sollten diese am besten anonymisiert werden. Die explizite Zustimmung (Consent) dazu ist übrigens ebenfalls (vgl. Abschn. 4.3) erforderlich. Integrität und Vertraulichkeit – Schutz vor unrechtmäßiger Verarbeitung „Personenbezogene Daten sollten so verarbeitet werden, dass ihre Sicherheit und Vertraulichkeit hinreichend gewährleistet ist, wozu auch gehört, dass Unbefugte keinen Zugang zu den Daten haben und weder die Daten noch die Geräte, mit denen diese verarbeitet werden, benutzen können.“ (intersoft consulting, 2023)

Bei diesem Grundsatz geht es um die angemessene Sicherheit der personenbezogenen Daten, einschließlich Schutz vor unbefugter oder unrechtmäßiger Verarbeitung und vor unbeabsichtigtem Verlust, unbeabsichtigter Zerstörung oder unbeabsichtigter Schädigung. Um eine angemessene Sicherheit zu gewährleisten, müssen Unternehmen personenbezogene

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4 Neue rechtliche und technische Rahmenbedingungen – Impulse für …

Daten vor unrechtmäßiger Verarbeitung von Unbefugten oder vor Fälschung und Zerstörung bewahren. Das bedeutet Investitionen in geeignete technische und organisatorische Maßnahmen. Kurz zusammengefasst In Art. 5 der DSGVO stecken viele kluge Gedanken. Entsprechend wurde die DSGVO international gefeiert: Das Rahmenwerk hat Datenschutz und Datensicherheit, die unseren Alltag immer stärker beeinflussen, ins Bewusstsein der Menschen gebracht – sogar ins Bewusstsein der in diesem Punkt traditionell recht entspannten Amerikaner. Unternehmen werden heute wirksam gezwungen, kundenzentrierter zu denken und sich transparenter bzgl. des Umgangs mit Daten aufzustellen – in ganz Europa, nicht nur innerhalb der EU. Und vielleicht sogar bald weltweit. Inzwischen hat sich nämlich gezeigt, dass sich andere Länder den hohen Datenschutzstandards der EU anschließen und die DSGVO sich in Richtung eines globalen Standards entwickelt. Apple und Microsoft beispielsweise haben ausdrücklich erklärt, dass sie sich der Umsetzung von DSGVO-konformen Richtlinien verschrieben haben, nicht nur für EU-Verbraucher, sondern auch für den Rest der Welt. Vielleicht auch ein Ausdruck vorauseilenden Gehorsams...

4.1.3

Verfolgung von Verstößen: Die Bußgelder werden empfindlicher

Bei Nicht-Einhaltung der DSGVO-Vorgaben droht der Ausschluss des betreffenden Unternehmens und seiner Produkte aus dem Handel bzw. die Abschaltung der digitalen Services. Wiederholte Verstöße können mit bis zu vier Prozent des weltweiten Umsatzes geahndet werden. Und das ist keine leere Drohung: 2021 wurden in insgesamt 412 Bescheiden erstmals mehr als eine Milliarde Euro Bußgelder eingetrieben. 2018 waren es noch gerade einmal 436.000 Euro, 2019 etwa 72 Millionen und 2020 rund 171,5 Millionen Euro (Williams, 5.1.2022). Nicht einmal Amazon blieb vor einem Urteil gefeit. Die Luxemburger Nationale Kommission für den Datenschutz (Commission Nationale pour la Protection des Données) verhängte am 16. Juli 2021 ein Bußgeld in Höhe von 746 Millionen Euro (CNIL, 3.8.2021) gegen die Einkaufsplattform. Das ist die bislang höchste Strafe für Vergehen gegen den Datenschutz und damit – man kann es gar nicht oft genug betonen – den Respekt der Kund:innen. Allerdings gelobte Amazon nachzubessern, um die Zahlung zu vermeiden. Und auch die Facebook-Tochter WhatsApp musste im September 2021 in Irland eine empfindliche Strafe in Höhe von 225 Millionen Euro (The High Court 2021) hinnehmen. Stein des Anstoßes war auch hier die Weitergabe von persönlichen Daten der Nutzer:innen. Es wurde WhatsApp fehlende Transparenz in der Frage vorgeworfen, welche persönlichen Daten zu welchem Zweck von wem genutzt würden. Allerdings ist die Umsetzung der Datenschutzrichtlinien und die Verfolgung von Verstößen von Land zu Land sehr unterschiedlich. In Spanien wurden bis Juli 2022 genau 439

4.1

Die DSGVO schafft neue Grundlagen für datenbestimmtes Marketing

75

Bußgelder verhängt (GDPR Enforcement Tracker, 2022). Das ist seit 2018 mit Abstand die höchste Zahl an Urteilen in der EU. Dahinter folgt Italien mit 155 verhängten Bußgeldern. In Deutschland sind es lediglich 84. Noch mehr als die Anzahl an Vergehen aber differieren die Bußgeldsummen: In Spanien ist die durchschnittliche Höhe vergleichsweise gering, die Bußgeldbescheide verteilen sich auf insgesamt knapp 40 Millionen Euro. Die Bescheide in Deutschland summieren sich dagegen trotz der deutlich geringeren Anzahl auf über 50 Millionen Euro. Spanien reguliert also deutlich strenger als Deutschland. Deutschland hat vor allem die größeren Player im Auge. Die Datenschutzaufsichtsbehörden des Bundes und der Länder in Deutschland haben 2019 ein Konzept zur Bußgeldbemessung veröffentlicht, das maximale Bußgelder empfiehlt: „Die Datenschutzaufsichtsbehörden sind der Auffassung, dass in einem modernen Unternehmenssanktionsrecht mit erheblichen maximalen Bußgeldbeträgen (...) der Umsatz eines Unternehmens eine geeignete, sachgerechte und faire Anknüpfung zur Sicherstellung der Wirksamkeit, Verhältnismäßigkeit und Abschreckung darstellt.“

Das Konzept ist natürlich für Gerichte im In- und Ausland nicht bindend. Höchste Strafe bisher Abb. 4.2 • • • • •

Amazon, 746 Mio EUR (Juli 2021) WhatsApp: 225 Mio EUR (Februar 2021) Google: 50 Mio EUR (Januar 2019) H&M (Deutscher Online-Shop): 32,3 Mio EUR (Oktober 2020) In Deutschland viele weitere prominente „Opfer“ mit Millionen-Strafgeldern (z.B. notebooksbilliger.de: 10,4 Mio EUR; 1&1: 9,6 Mio EUR; AOK: 1,2 Mio EUR)

Kritisch anzumerken ist, dass aufgrund des hohen finanziellen Risikos und der drohenden Millionenstrafen viele Unternehmen die DSGVO nur umgesetzt haben, um Strafen zu entgehen. Diese Unternehmen fokussieren auf kurzfristige Kostenaspekte statt auf eine offene und ehrliche Kommunikation mit ihren Kund:innen. Die DSGVO fordert nämlich Respekt vor der Privatsphäre, die sich online durch Daten ausdrückt. Wer das mit dem Argument ignoriert „das Ergebnis zählt“ hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Denn der Respekt, der den Usern entgegengebracht wird, ist von großer Bedeutung, wie wir später sehen werden.

76

4 Neue rechtliche und technische Rahmenbedingungen – Impulse für …

Abb. 4.2 Ranking von Bußgeldern im Zusammenhang mit DSGVO-Verstößen

4.2

Weiterentwicklung im Datenschutz: Das TTDSG

Nachdem die Werbewirtschaft seit 2018 mit der DSGVO fleißig Datenschutz üben konnte, trat am 01.12.2021 das TTDSG (Telekommunikation-Telemedien-Datenschutz-Gesetz) in Kraft. Das TTDSG steht in enger Verbindung zur DSGVO. Die wichtigste Passage ist §25, der den Einsatz von Cookies und vergleichbaren Technologien regelt:

4.2 Weiterentwicklung im Datenschutz: Das TTDSG

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„Die Speicherung von Informationen in der Endeinrichtung des Endnutzers oder der Zugriff auf Informationen, die bereits in der Endeinrichtung gespeichert sind, sind nur zulässig, wenn der Endnutzer auf der Grundlage von klaren und umfassenden Informationen eingewilligt hat. Die Information des Endnutzers und die Einwilligung haben gemäß der Verordnung (EU) 2016/679 zu erfolgen.“ (DSGVP-Portal, 2023)

Die Verordnung (EU) 2016/679 ist übrigens die DSGVO. Ein komplizierter Satzbau, um zu sagen: Frage die User, ob sie getracked werden wollen. Und wenn sie nein sagen, heißt das: Leider keine Daten. Das TTDSG setzt die zu erwartenden Vorgabe der ePrivacy-Richtlinie sowie bereits gesprochene Rechtsprechung in deutsches Recht um. Diese Umsetzung ist auch deswegen notwendig, weil die ePrivacy-Verordnung, die die Richtlinie ersetzen soll, immer noch nicht beschlossen ist. Das hat in der Vergangenheit zu Rechtsunsicherheiten geführt. Konkret geht es darum, wie genau die Consent-Einholung erfolgen soll. Entscheidungshilfe kam durch das fast schon legendäre Planet49-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urteil vom 1.10.2019 – C-673/17). Planet49, ein kleines deutsches Glücksspielunternehmen, beglückt seine Kund:innen mit einem Gewinnspiel, in dessen Anmeldeformular ein Kästchen enthalten war, in dem die Zustimmung zur Verwendung von Cookies fürsorglicherweise schon im Vorhinein angekreuzt war. Wer das Häkchen entfernte, konnte trotzdem an der Verlosung teilnehmen. 2019 entschied der EuGH, dass vorab ausgewählte Einstellungen und andere Formen der stillschweigenden Einwilligung, bei denen Untätigkeit als Einwilligung gewertet wird, keine gültigen Mittel zur Einholung der Einwilligung für eine Datenverarbeitung gemäß DSGVO oder gemäß der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation sind. In dem Urteil wurde klargestellt, dass es sich bei einer gültigen Einwilligung um eine bestätigende, ausdrückliche und spezifische Handlung der User handeln muss. Auch der Bundesgerichtshof ist in der Sache „Cookie Einwilligungen II“ (BGH, Urt. v. 28.5.2020 – I ZR 7/16) zu dem Ergebnis gekommen, dass vor dem Setzen und Auslesen von Cookies Einwilligungen einzuholen sind.

§25 des TTDSG, das am 1. Dezember 2021 in Kraft trat, formuliert nun eine klare Einwilligungspflicht mit einigen Ausnahmen („nur zulässig, wenn der Endnutzer... eingewilligt hat“, siehe das Zitat am Anfang dieses Abschnitts zu §25 Abs. 1 S. 1 TTDSG). Deutsches Recht stellt damit auch klar, dass außerhalb der aufgeführten Ausnahmeregelungen für den Einsatz von Cookies und vergleichbaren Technologien eine Einwilligung grundsätzlich notwendig ist. Aus den Neuregelungen des TTDSG hinsichtlich des Einsatzes von Cookies und vergleichbaren Technologien ergeben sich also keine wesentlichen Neuerungen. Das bedeutet für Anbieter von Websites und Apps, dass sie sich im Vergleich zur bisherigen Rechtslage (DSGVO) und der bislang erfolgten praktischen Umsetzung keine neuen Gedanken machen müssen.

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4 Neue rechtliche und technische Rahmenbedingungen – Impulse für …

Hoffnung verspricht auch §26 TTDSG. Dieser Paragraf sorgt dafür, dass User nicht jedes Mal erneut ihre Zustimmung geben müssen, wenn sie auf ihren Lieblingsseiten vorbeisurfen. Denn genau diese ständig aufpoppende Aufforderung, die jede Website immer wieder aufs Neue stellt, wird von vielen Besuchern als störend empfunden. Technisch ist es längst möglich, eine Entscheidung über die Zustimmung zur Speicherung der Daten einmalig zu treffen und zu speichern, um die Information nicht jedes Mal wieder erteilen zu müssen. Bislang fehlte aber der entsprechende rechtliche Rahmen, der nun mit §26 TTDSG geschaffen wurde. Die Konsequenz: Personal Information Management Devices und sonstige Dienste zum Einwilligungsmanagement sind nun erlaubt, müssen allerdings erst von einer unabhängigen Stelle anerkannt werden. Ist das erfüllt, wären Consent-Banner auf jeder einzelnen Website bei jedem neuen Aufruf obsolet oder würden zumindest deutlich seltener erscheinen. Die genaue Ausgestaltung soll im Laufe der nächsten Jahre durch eine zusätzliche Verordnung geregelt werden, die technischen und juristischen Anforderungen werden voraussichtlich erst 2023/24 vorliegen.

4.3

Cookie Consent: spürbare Konsequenz der DSGVO

Dass die DSGVO und das TTDSG kein Wolkenkuckucksheim darstellen, sondern Einfluss auf die Kommunikation im digitalen Raum haben, ist schnell klar geworden. Niemand im Marketing will auf die wertvollen Daten verzichten, die aber nur noch mit Zustimmung der Kund:innen erhoben werden können. Die bis dato mehr oder weniger stillschweigende Politik, ein Cookie zu setzen, findet also ein jähes Ende. Ohne Cookies (quasi) kein wirksames Performance-Marketing! Der Cookie Consent ist somit schnell die neue neuralgische Stelle für den Erfolg im E-Commerce geworden. Seit die DSGVO Form angenommen hat, erfreut sich daher das Thema Consent Management größter Beliebtheit bei jedem Marketer und wurde zu einem Dauerbrenner im Bereich des Websitedatenschutzes. Denn der Consent hat massive Auswirkungen auf das User-bezogene Tracking: Solange ein User seinen Consent gibt, ändert sich im Tracking nichts. Änderungen ergeben sich, wenn User ihren Consent nicht geben. Aus diesem Grund verlassen wir hier die hohe, strategische Flughöhe für einen Moment und steigen tief in die Gestaltungsprinzipien und Best Practices ein und erklären, wie der Cookie Consent am besten eingeholt wird und was beim Speichern von User-Daten zu beachte ist. Da die Rechtsprechung noch nach einer einheitlichen Linie sucht, wird dabei zwischen der „weichen“ und der „harten“ Auslegung der DSGVO unterschieden.

4.3

Cookie Consent: spürbare Konsequenz der DSGVO

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Abb. 4.3 „Weiche“ Auslegung der DSGVO

4.3.1

„Weiche“ Auslegung der DSGVO

In der weichen Auslegung aus Abb. 4.3 wird das User-bezogene Tracking zwar untersagt – ein aggregiertes, nicht zusammenhängendes, und damit nicht user-bezogenes Tracking bleibt jedoch möglich. Wie funktioniert das? Je Seitenaufruf und Event wird eine neue User-ID erzeugt. Damit werden Onsite-Bewegungsdaten wie z.B. Anzahl Pageviews gespeichert, können aber keinem individuellen User zugeordnet werden. Auf diese Weise wird zwar kein zusammenhängender Datensatz im Sinne einer First Party Datenstrategie erzeugt, jedoch können generische Customer Journeys modelliert werden.

4.3.2

„Harte“ Auslegung der DSGVO

In der harten Auslegung aus Abb. 4.4 werden User, die keinen Consent gegeben haben, überhaupt nicht getracked. Das heißt, keinerlei Daten werden erfasst, auch nicht anonymisiert oder randomisiert. Bei einer Zustimmungsrate von durchschnittlich 65 Prozent bedeutet dies im Umkehrschluss, dass die Bewegungsdaten von mehr als einem Drittel aller User nicht nachvollzogen werden können und entsprechend viel der Datengrundlage für Website-Analyse, Reporting und Optimierung verloren geht. Unterm Strich heißt das: Ohne Consent sind Daten wertlos bzw. dürfen nicht einmal existieren. Mit Consent dürfen Unternehmen Daten weiterhin für Marketingzwecke nutzen. Das macht noch einmal klar, dass die DSGVO in der Digital-Branche eine neue

80

4 Neue rechtliche und technische Rahmenbedingungen – Impulse für …

Abb. 4.4 „Harte“ Auslegung der DSGVO

Disziplin geschaffen hat: das Consent Management. User, die keinen Consent gegeben haben, bleiben für das werbetreibende Unternehmen anonym. Sie werden bei jedem Websitebesuch im Tracking als neuer User behandelt.

4.3.3

Gestaltung eines rechtssicheren und effektiven Cookie Consent-Layers

Ganz allgemein gilt: Der Consent-Layer muss bestimmt und konkret, sowie transparent und verständlich in Darstellung und Sprache sein. Für die Umsetzung sei daher empfohlen, sich ganz konkret an folgenden zehn goldenen Regeln zu orientieren. Aufgrund der Dynamik der Rechtsprechung gilt wie bei allen Empfehlungen: Dabei handelt es sich um keine Rechtsberatung oder Handlungsaufforderung. Die Ansätze sind immer mit spezialisierten Juristen zu diskutieren. • Impliziter Consent im Stil von “Durch Nutzung der Website stimmen Sie automatisch den Cookies zu” ist nicht gestattet. • Neben „Alle Einstellungen akzeptieren“ muss Usern auch die Option „Alle ablehnen“ angeboten werden. Beide Optionen müssen vom User optisch gleich einfach erfasst werden können.

4.3

Cookie Consent: spürbare Konsequenz der DSGVO

81

• Bei den Wahl-Optionen darf keine optische Hürde entstehen. Noch erlaubt ist es, die Buttons in der gleichen Größe, aber einer unterschiedlichen Farbgebung (grün für Akzeptieren, rot für Ablehnung) zu gestalten. • Der Hinweis aufs Widerrufsrecht nach Art. 7 ist rechtlich zwingend und darf nicht fehlen. • Die Checkboxen für die einzelnen Einwilligungen dürfen nicht vorausgewählt sein. Für den Consent braucht es ein bewusstes Opt-In, bei dem User aktiv ihre Zustimmungshäkchen setzen. • Für jedes Cookie, für das die Einwilligung eingeholt wird, muss es eine Beschreibung geben, die den Zweck des Cookies beschreibt und Auskunft gibt, warum es gebraucht und gespeichert wird. • Mit Hilfe einer Consent Management Plattform müssen Unternehmen den Nachweis erbringen, dass einzelne User zugestimmt haben. Das erfolgt über technisch notwendige Cookies. Auch dieses Cookie muss gelistet und erklärt sein. • Abgesehen davon, müssen notwendige Cookies nicht individuell aufgeführt werden. Der Hinweis in der Datenschutzerklärung genügt. • Die Einwilligung bzw. Ablehnung muss auf Website-Ebene möglich sein, nicht auf Kategorie-Ebene. Es ist jedoch möglich, Kategorien nach Zweck anzuordnen. • Es dürfen keine einwilligungspflichtigen Cookies gesetzt werden bis der Consent überhaupt angezeigt wird und gegeben werden kann. Der Cookie Consent ist ein einfaches Maß, um Vertrauen zu messen. Wenn beide Optionen, also der „Ich stimme zu“- und der „Ich lehne ab“-Button genau gleich gestaltet sind, bekommt das Marketing en passant ein sauberes methodisches Setup für eine InstantMessung. Es verrät, wie hoch der Anteil der User ist, die dem Unternehmen mit einem Vertrauensvorschuss begegnen. Grundsätzlich ziehen es die User vor, eine Beziehung zu einem Unternehmen einzugehen, das sie kennen und dessen Website sie bewusst besucht haben. Doch für den Aufbau von Vertrauen braucht es einige Voraussetzungen, wie Abschn. 3.3.1 gezeigt hat. Aktive Optimierung des Consent-Layers ist daher per se absolut nichts Anrüchiges. Das Ziel liegt darin, die rechtlich erforderliche „Störung“ ihres Einkaufprozesses so gering wie möglich zu halten und ihnen nicht auf die Nerven zu gehen. Die Optimierung des Consent-Layers liegt aber noch aus einem anderen Grund im Interesse der User: Nur mit der Möglichkeit, Daten zu erheben und auszuwerten, können Bedürfnisse verstanden und Erlebnisse positiv gestaltet werden. Doch die Voraussetzung für heutiges Datensammeln lautet klar: Transparenz und Fairness. Hier zeigt sich der Paradigmenwechsel, den dieses Buch betont: Unternehmen müssen ihren Kund:innen glaubwürdige Argumente an die Hand geben, warum diese ihre privaten Daten teilen sollten. Das übergeordnete Ziel lautet also, Beziehungen zu den Usern aufzubauen. Die Grundvoraussetzung dafür sind erstens Einwilligungen für First Party Cookies (Cookie Consent) und zweitens das Anlegen eines Kundenkontos – dazu mehr in Abschn. 5.3.2. Keine triviale Aufgabe!

82

4 Neue rechtliche und technische Rahmenbedingungen – Impulse für …

Um einen effektiven und gleichermaßen rechtssicheren Consent-Layer zu gestalten und so die Grundvoraussetzung zu erfüllen, datenbasiert Maßnahmen zu entwickeln, die den Nutzerbedürfnissen entsprechen, ist das Verständnis intuitiver Entscheidungsprozesse unerlässlich. Dafür lohnt sich noch einmal ein Blick auf die Kategorien von Verhaltensmustern aus Abschn. 3.2.1. Selbstverständlich können Maßnahmen aber auch feingranularer auf der Ebene der einzelnen Behavior Patterns abgeleitet werden. Für jede der sechs Kategorien stellen wir im Folgenden konkrete Ansatzpunkte vor, wie ein effektiver Consent Layer umgesetzt werden kann. Die Beispiele sind stellvertretend für sämtliche konzeptionellen Maßnahmen zum Aufbau von Beziehungen zu Kund:innen zu verstehen. Wichtig ist, dass nicht alle Ansätze für alle User gleichermaßen wirksam sind – wenig überraschend. Man sollte daher überlegen, für welche Art von Verhaltensmustern die eigenen User besonders empfänglich sind und anschließend mit den Ansätzen aus der jeweiligen Kategorie experimentieren. Um den Cookie Consent überhaupt erst einmal einzuholen, ist systematisches Testing ein vielversprechender Ansatz. Auf diese Weise lässt sich die bestgeeignete „One-sizefits-all“-Lösung für effektiven Cookie Consent identifizieren. Doch aufgepasst: Für das klassische A/B Testing mit mehreren parallel ausgespielten Varianten sind oft Cookies und ein A/B-Testing-Tool nötig. Beides darf erst genutzt werden, wenn die User ihren Consent dazu gegeben haben. Folglich muss ein solcher Test als serieller A/B-Test aufgesetzt werden, bei dem die verschiedenen Varianten des Consent-Layers nacheinander hinsichtlich ihrer Consent-Quoten evaluiert werden. Die folgenden Varianten sind darauf ausgelegt, verschiedene Zielsegmente mit spezifischen emotionalen Bedürfnissen und spezifischen intuitiven Entscheidungsmustern besonders gut zu erreichen. Das bedeutet aber keineswegs, dass die Ansätze nicht auch frei kombiniert werden können: Vielfach wirken einzelne Verhaltensmuster im Verbund noch stärker. Übrigens: Dieselben Mechanismen lassen sich auch für das Anlegen eines Kundenkontos nutzen (siehe Abschn. 5.3.2). Je weniger die User nachdenken müssen, je stärker sie im intuitiven Entscheidungssystem bleiben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie die einfachste mehrerer Möglichkeiten wählen. Dabei können zum Beispiel Single-Sign-On-Prozesse wie das Anlegen eines Kontos mit nur einem Click helfen, z. B. über sogenannte „Gated Platforms“ wie Google oder Facebook. Alternativ sollte es möglich sein, lediglich mit der E-Mail-Adresse ein Kundenkonto anlegen zu können. Erst, wenn User persönlichen Daten eingeben oder sich sogar ein sicheres Passwort ausdenken müssen, wird das rationale Entscheidungssystem aktiviert und die User beginnen, grundlegend über eine Handlung nachzudenken. Noch einmal der Disclaimer: Die Rechtssicherheit aller Gestaltungshinweise und Visualisierungen muss wegen der sich dynamisch entwickelnden Rechtslage permanent neu geprüft werden. Alle Beispiele sind nur illustrierend zu interpretieren, um die generellen Gestaltungsprinzipien verständlich zu machen. Noch ein kleiner Tipp vorweg: Unabhängig von den Inhalten lässt sich schon mit einer zentralen Positionierung des Consent-Layers die Zustimmungsrate steigern. Mehrere

4.3

Cookie Consent: spürbare Konsequenz der DSGVO

83

A/B-Tests in verschiedenen Branchen haben ergeben, dass eine zentrale Positionierung des Consent-Layers eine deutliche Steigerung der Zustimmungsrate liefert: Im Vergleich zu einer Positionierung am oberen Rand der Seite um ca. +15 Prozent, im Vergleich zu einer Positionierung am unteren Rand der Seite um ca. +20 Prozent Zustimmung. „Cognition“-Ansätze bei der Konzeption des Cookie Consent-Layers: Gefühlte Tragweite der Entscheidung reduzieren Ein wichtiger Aspekt sei noch einmal wiederholt: Kein User kommt in einen Online-Shop oder auf eine Marken-Website, um die Cookie Einstellungen dort zu konfigurieren. Niemand hat das Ziel, ein Kundenkonto einzurichten. Im Gegenteil: Solche (erforderlichen) Aktionen stören den Weg zum eigentlichen Ziel – sei es, das Einholen von Informationen oder der Kauf von Produkten. Daher ist es ein effektiver und legitimer Weg, diese Störungen so minimalinvasiv und schmerzlos wie möglich zu gestalten. Das hat nichts mit Manipulation zu tun. Abb. 4.5 stellt direkt gegenüber, wie sich die Cookie Zustimmung im Fall maximaler Flexibilität (links, verarbeitet im System 2) und maximaler Intuitivität (rechts, verarbeitet im System 1) anfühlt. Folgendes Gedankenexperiment: Jemand möchte spontan Konzerttickets kaufen, die ihm eine Freundin empfohlen hat. Er trifft nun auf diese Cookie Consent-Layer. Bei welcher Variante wird er sich besser fühlen? Die meisten Menschen und entscheiden sich sofort für die rechte Variante, die den kognitiven Aufwand minimiert. Man möchte schließlich Tickets kaufen, nicht die Unterschiede zwischen statistischen und technischen Cookies erfahren und fünf Mikro-Entscheidungen treffen, bevor man die Seite überhaupt nutzen kann.

Abb. 4.5 Rationale vs. intuitive Gestaltung eines Cookie Consent-Layers

84

4 Neue rechtliche und technische Rahmenbedingungen – Impulse für …

Dieses Ziel erreichen Unternehmen in der rechten Variante mit Hilfe der „Cognition“Kategorie von Behavior Patterns. Zur Erinnerung: Um kognitive Ressourcen zu sparen und schnellere Entscheidungsprozesse zu erlauben, nutzen Menschen oft Abkürzungen. Was besser sichtbar ist, ist wichtiger. Ein größerer Button hat mehr Relevanz. Was klein geschrieben ist, muss der User nicht lesen. All das sind Beispiele für Behavior Patterns (namentlich: Salience, Magnitude Priming, Anchoring und andere), die Unternehmen bei der Gestaltung eines effektiven Consent-Layers oder Registrierungsformularen einsetzen können – selbstverständlich immer im Einklang mit der gültigen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Eine Orientierung zum Einstieg geben die 10 goldenen Regeln in diesem Abschnitt. Gut umgesetzt, erzeugen die Prinzipien eine einfache und intuitiv verarbeitbare Entscheidungsarchitektur, bei der Prozesse ganz überwiegend im System 1 ablaufen können. User werden in die Lage versetzt, schnelle Entscheidung zu treffen und ihr eigentliches Ziel beim Besuch der Website ohne größeren Verzug zu erreichen. Gleichzeitig handeln sie mit ihrer Zustimmung im Sinne des Website-Betreibers, der ein offenkundiges Interesse an der Erteilung des Einverständnisses zum Datenteilen hat. Das „Alignment of Interests“, also das in Einklang bringen der Ziele der User und der Websitebetreiber kann als gegeben interpretiert werden. Ganz konkret lassen sich aus der Kategorie der „Cognition“-Verhaltensmuster drei Prinzipien herausstellen: Justification Damit wir etwas tun, müssen wir wissen, warum wir es tun sollen. Das erreichen wir mit dem Textblock wie beispielsweise „Dabei helfen uns Cookies aus zwei Gründen...“. Interessanterweise ist es viel entscheidender, dass überhaupt eine Begründung für die erforderliche Zustimmung gegeben wird, als dass diese in sich außergewöhnlich überzeugend formuliert ist (siehe der nachfolgende Deep Dive). (Pseudo)Justification: Besser irgendeine Begründung als gar keine Im Experiment von Key et al. (2009) wurden Probanden gefragt, ob man sie am Kopierer vorlassen würde. Eine Begründung erhöhte die Bereitschaft der Befragten deutlich. Allerdings zeigte sich zwischen den Begründungen „weil ich es eilig habe“ (plausible Begründung) und „weil ich Kopien machen muss“ (unplausible Begründung) kaum ein Unterschied. Die Wirkungsweise der (Pseudo)Justification lässt sich wie folgt beschreiben: Unser Gehirn hinterfragt (gerade bei kleinen Bitten) die Sinnhaftigkeit der Begründung kaum. Es registriert lediglich „Würden Sie mich am Kopierer vorlassen, weil blablabla“. Die Heuristik ist, dass in der Vergangenheit fast alle Menschen nach dem Schlüsselwort „weil“ eine plausible Begründung geliefert haben. System 1 geht davon aus, dass das vermutlich in diesem Fall auch so sein wird. System 2 wird nur aktiviert, wenn die Bitte so groß ist, dass die Zustimmung substanzielle negative Konsequenzen hätte (z. B. lange Wartezeit, wenn man jemanden vorlassen soll, der mehrere Tausend Kopien machen möchte)

Salience Salience bedeutet Hervorhebung. Gut sichtbare Dinge erhalten mehr Aufmerksamkeit. So wie die gelbe Quietsche-Ente in der weißen Badewanne den Blick magisch

4.3

Cookie Consent: spürbare Konsequenz der DSGVO

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anzieht, wenden User sich auch auf der Website sofort dem größten und farblich hervorgehobenen Element (meist ein Button) zu. Das erhöht erneut die Wahrscheinlichkeit, dass User dort aktiv werden. Trust Bias Die Darstellung des Logos des Websitebetreibers dient als Trust-Signal beim Cookie Consent. Weil wir dem Anbieter in mindestens irgendeiner Weise vertrauen – sonst wären wir vermutlich nicht auf dessen Seite – sind wir bereit, auch der Empfehlung hinsichtlich der Cookie Akzeptanz zu vertrauen bzw. der Nutzung zuzustimmen. „Consistency“-Ansätze bei der Konzeption des Cookie Consent-Layers: Bisherige Schritte visualisieren Es liegt in der menschlichen Natur, angefangene Dinge zu Ende zu bringen und damit mental abhaken zu können. Nur so bleibt das Gehirn frei von dem Stress, den unvollständige Prozesse bei uns meist erzeugen. Das gilt für das Teller wegräumen nach dem Essen ebenso wie für begonnene E-Mails zu Ende schreiben und gleich abzuschicken oder eben für die Beseitigung von Störungen auf dem Weg zum Besuch einer Website. In der Fachliteratur wird das als „Zeigarnik-Effekt“ bezeichnet (Spreer, 2021). Dieser gehört in die Familie der „Consistency“-Verhaltensmuster: Diese gehen übergeordnet davon aus, dass Menschen danach streben, sich konsistent zu verhalten, was als wünschenswertes soziales Merkmal betrachtet wird. Konsistenz dient als Indikator für Rationalität, Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Stabilität Wenn Usern nun vor Augen geführt wird, dass sie sich bereits zum Besuch einer Website entschieden haben, möchten sie im weiteren Verlauf konsistent agieren und lassen sich auch von einer Unterbrechung in Form eines Cookie Consent-Layers oder der Aufforderung, ein Kundenkonto anzulegen, nicht abhalten. Das Konzept eines Consent-Layers in setzt auf diesem Phänomen auf. Es erzeugt das Bedürfnis, den visualisierten Prozess vollständig abzuschließen und damit die wahrgenommene kognitive Spannung abzubauen. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit der Zustimmung. Der Aufruf der Website wird dabei als Prozessstart visualisiert, der Cookie Consent als erforderlicher Zwischenschritt und die Nutzung der Website als ultimatives Ziel, das der Intention der User entspricht. Die iconographische Begleitung mit der Zielflagge beschleunigt die Verarbeitung dieses Ziels. Das wird als Picture-Superiority-Effect bezeichnet (Spreer, 2021). Der kleine Pfeil an der vertikalen Fortschrittsleiste in Abb. 4.6 markiert zusätzlich die Stelle, auf die die User ihre Aufmerksamkeit lenken sollen. Es handelt sich dabei um einen sogenannten „Visual Cue“, ein visueller Hinweis, dem wir intuitiv folgen. „Ego“-Ansätze bei der Konzeption des Cookie Consent-Layers: Beste Nutzererfahrung versprechen In Abschn. 3.2.1 haben wir davon gesprochen, dass mittlerweile widerlegt ist, dass Menschen egoistische Nutzenmaximierer sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass unser intuitives

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4 Neue rechtliche und technische Rahmenbedingungen – Impulse für …

Abb. 4.6 Gestaltung eines Consent-Layers mit Consistency-Trigger

Entscheidungssystem keine egoistischen Züge besitzt. Im Gegenteil: Wenn wir das Gefühl haben, dass wir stark von einer Aktion profitieren, werden eine ganze Reihe von Verhaltensmustern relevant, die in der Kategorie „Ego“ zusammengefasst sind. Eine sehr wirksame kognitive Abkürzung lautet „mehr ist besser“. Statt aufwendig die absolute Vorteilhaftigkeit für uns zu bewerten, präferiert unser intuitives Entscheidungssystem, eine schlichte Prüfung, welche Option größer ist. Dieser Effekt lässt sich nutzen, indem man den Usern die Wahl überlässt, ob sie eine hochperformante Website – dargestellt mit fünf Sternen – wünschen, die alle Cookies einsetzt. Oder ob sie lieber mit einer lediglich akzeptablen Seite – dargestellt mit drei Sternen bzw. einem Stern – Vorlieb nehmen möchten. Wichtig bei dieser Form der Umsetzung ist es, die Autonomie des Users zu betonen: Die Entscheidung liegt ganz allein bei ihr bzw. ihm. Sowohl die Wirksamkeit allgemeiner EgoTrigger als auch spezifischer Autonomie-Trigger (siehe und Abschn. 3.2.1) resultiert aus einem starken Dominanz- bzw. Popularitätsbedürfnis. Unterstützt wird die Wirksamkeit noch mit einer Vorauswahl (rechtliche Machbarkeit im konkreten Einzelfall zu prüfen!), da wir gerade bei intuitiven Entscheidungen stark dazu neigen, den aktuellen Status Quo beibehalten zu wollen (Status Quo Bias). Implizit gehen wir davon aus, dass es einen guten Grund gibt, dass genau dieser Zustand der vorbelegte „Default-Zustand“ ist. „Motivation & Emotion“-Ansätze bei der Konzeption des Cookie Consent-Layers: Love-Brand werden Unternehmen, die stark auf Community setzen wie in Abb. 4.7 können die Kraft tieferer emotionaler Bindungen nutzen, damit sich die User sicher genug fühlen, um ihre Daten von sich aus freizugeben. Bei der Consent-Abfrage werden Emotionen adressiert, indem das Erlebnis

4.3

Cookie Consent: spürbare Konsequenz der DSGVO

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in den Vordergrund rückt. „Hilf uns, Dein Adidas-Erlebnis zu gestalten“, schreibt beispielsweise der Sportartikelhersteller Adidas aus Herzogenaurach über die Abstimmungskästchen auf seinem Consent-Layer. Ähnlich wirken auch Ansätze, die mit der harten Unterbrechung des Cookie ConsentLayers arbeiten. Sie reißen User aus der laufenden Customer Journey (Abb. 4.8) und zwingen sie, ihre eigentliche Absicht hinter dem Besuch der Website kurz zurückzustellen. In Frage kommen folgende Verhaltensmuster: „Motivation Uncertainty“ und „Curiosity“ Besonders begehrenswert sind für uns die Dinge, die wir (noch) nicht haben. Daher kann im Cookie Consent-Layer die Neugierde der User auf die dahinterliegende Website genutzt werden. Sobald der Spannungsbogen steht, erhöht sich das Bedürfnis, mit der intuitiven Akzeptanz den Layer zu schließen und die Spannung abzubauen. „Threat“ Die Befürchtung, ein nicht perfektes Nutzungserlebnis in Folge der Ablehnung von nicht-funktionalen Cookies kann die Akzeptanzrate steigern. Eine geeignete Formulierung kann sinngemäß lauten: „Bei der Ablehnung von Cookies können wir dir kein optimales Nutzungserlebnis garantieren.“ Dies ist ein gutes Beispiel, das die Kombinierbarkeit der Ansätze zeigt: Threat lässt sich gut in der oben skizzierten Ego-orientierten Variante des Consent-Layers integrieren.

Abb. 4.7 Gestaltung eines Consent-Layers mit Ego-Trigger

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4 Neue rechtliche und technische Rahmenbedingungen – Impulse für …

Abb. 4.8 Adidas: Emotionaler Prime im Cookie Consent-Layer

„Perception“-Ansätze bei der Konzeption des Cookie Consent-Layers: Transparenz schaffen Das Grundanliegen der DSGVO wird berücksichtigt, wenn bei der Consent-Abfrage aufgeklärt wird, warum die Website ein Opt-In braucht und was die Alternativen sind. Um im Beispiel zu bleiben: Adidas beispielsweise schreibt: „adidas verwendet Cookies, Pixel, Tags und andere ähnliche Technologien (‚Cookies usw.‘), damit wir genau wissen, dass Du unsere Websites oder Apps besuchst. Dies ermöglicht es uns, ein personalisiertes Erlebnis einschließlich der Anzeige maßgeschneiderter Produktempfehlungen und einzigartiger Inhalte für Dich zu schaffen.“

Ein anderes Framing kann Wunder wirken: Wenn aus „Wir wollen Ihre Daten, jetzt zustimmen!“ etwa „Was interessiert Sie? Wir wollen Ihnen das beste Erlebnis bieten.“ wird, dann ist es nicht überraschend, wenn die Zustimmungsrate signifikant steigt. „Framing“ wird auch genutzt, wenn die sichtbar sehr starke (und infolgedessen wichtige) Überschrift umformuliert wird. Der von Adidas gewählte Text „Wir benötigen deine Zustimmung“ definiert einen aktivierenden Frame. So wird die Handlungsbereitschaft erhöht, indem signalisiert wird, dass man als User aktiv werden muss. Zugleich wird das Bestätigungsszenario (durch das Wort „Zustimmung“) aktiviert, was die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung reduziert.

4.3

Cookie Consent: spürbare Konsequenz der DSGVO

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„Social“-Ansätze bei der Konzeption des Cookie Consent-Layers: An Fairness appellieren Menschen sind soziale Wesen und haben als solche ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Bei Unsicherheit richten sie sich intuitiv nach den Erwartungen, Empfehlungen oder Handlungen anderer. Verhaltensmuster aus dieser Familie, die für die Gestaltung des Cookie ConsentLayers in Frage kommen, sind etwa die Folgenden, wie Abb. 4.9 zeigt: Liking Liking lässt sich sowohl der „Social“-Kategorie von Behavior Patterns zuordnen als auch der „Motivation“-Kategorie. Es drückt aus: Wir lassen uns eher von Menschen überzeugen, die wir mögen und sympathisch finden, weil wir dort einfacher Vertrauen aufbauen können. Umgesetzt werden kann der Ansatz etwa mit der Darstellung (als Foto) der Menschen hinter der Website und beziehungsbildenden Aussagen, wie „wir personalisieren für dich“, was das Geben und Nehmen dokumentiert und gleichzeitig Reziprozität auslöst. Bandwagon Effect Wir entscheiden oft nicht aufgrund funktionaler Nutzenmerkmale, sondern auf Basis der Popularität einer Entscheidung in der Peergroup. Dahinter steckt das Bedürfnis, zu einer Gruppe zugehörig zu sein. Hier sind diverse Gestaltungsmöglichkeiten gegeben, von dezent bis eindrucksvoll. Ein subtiler Ansatz ist es, die handlungsauffordernde Frage mit dem Wort „auch“ zu versehen: Damit wird die individuelle Entscheidung eingebettet in den Kontext der Gruppe, was dem Verhaltensmuster zu Wirkung hilft („auch für dich“).

Abb. 4.9 Gestaltung eines Consent-Layers mit Social-Trigger

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4.4

4 Neue rechtliche und technische Rahmenbedingungen – Impulse für …

Veränderte technologische Rahmenbedingungen – Die Post-Cookie-Ära

Bisher ein alltägliches Szenario: Am Vorabend hat ein User noch schnell im Internet nach Ferienzielen gegoogelt. Am nächsten Morgen erscheint die passende Reiseempfehlung auf einem Werbebanner – zum Beispiel auf Spiegel Online, auf der täglich besuchten BörsenSeite oder auch auf Facebook. Diese Form der personalisierten Werbung geht für die Nutzer wohl bald zu Ende. Umso erschreckender lesen sich folgende Zahlen: 82 Prozent der Marketing-Entscheidungsträger im DACH-Raum haben 2021 noch keine Lösung für die Zeit nach dem Cookie-Aus hatten (Adform, 2021). Dabei erwarten 73 Prozent der Befragten, dass das Ende der Third Party Cookies einen direkten und spürbaren Einfluss auf das eigene Geschäft haben wird. An Cookie Alternativen mit mehr Datenschutz arbeitet Google seit 2020 gemeinsam mit der Standardisierungsorganisation W3C im Rahmen des Privacy-Sandbox-Projekts. Außerhalb des Google Imperiums werden Lösungen wie Ad Identifier diskutiert und fleißig Kooperationen geschmiedet (vgl. die einleitenden Worte dieses Kapitels und vor allem Abschn. 5.2.3) Aber letzten Endes geht es um Datenhoheit. Fakt ist, dass Google über seinen „Walled Garden“ First Party Daten in gigantischem Ausmaß besitzt. Zur Erinnerung: Ein Walled Garden ist ein in sich geschlossenes Werbe-Ökosystem, bei dem die erhobenen Daten nur zum Targeting in Kombination mit dem eigenen Werbeinventar genutzt werden. Die EU-Kommission hat bereits im Juni 2021 ein Wettbewerbsverfahren gegen Google eröffnet, in dem es auch um die Privacy Sandbox geht. In Großbritannien hat die Aufsichtsbehörde „Competitions and Markets Authority“ (CMA) erzwungen, dass Google die weiteren Schritte eng mit ihr abstimmt, um dieses Monopol zu kontrollieren. Diskutiert wird auch, ob Google die Rahmenbedingungen für Datenverarbeitung im Chrome-Browser diktieren kann. Denn Bestimmungen des Digital Markets Act (DMA) verbieten es den Internet-Giganten (wie Google, Amazon, Facebook und Apple), auf ihren Plattformen eigene Produkte gegenüber der Konkurrenz zu bevorzugen. Wie ein fairer Wettbewerb in Zukunft funktionieren soll, ist noch nicht geklärt. Und das macht umso klarer, dass Unternehmen all ihre Kraft in den Aufbau eigener First Party Data stecken müssen. Wie bereits an verschiedenen Stellen dieses Buches erwähnt, waren Third Party Cookies lange Zeit eine wesentliche Säule des Online-Marketings und die technische Basis für das seitenübergreifende Tracking – und damit wichtigste Grundlage für effizientes Marketing. Tracking gilt als gängigste Methode zur Identifizierung von Usern im Internet – und ist nach wie vor die Grundlage für personalisierte Erfahrungen. Doch durch juristische Vorschriften wie die DSGVO und ein wachsendes Bewusstsein der User wurden plötzlich die Browser-Anbieter vom Saulus zum Paulus und kündigten unisono an, die Unterstützung für Cookies von Drittanbietern einzustellen: Firefox blockiert Cookies von Drittanbietern standardmäßig seit 2019. Safari hat Anfang 2020 nachgezogen. Seit

4.4 Veränderte technologische Rahmenbedingungen – Die Post-Cookie-Ära

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Herbst 2022 steht in Firefox die Total Cookie Protection bereit, wie Abb. 4.10 zeigt. Die Cookies einzelner Webseiten werden dabei voneinander isoliert. Dadurch wird verhindert, dass Tracking-Unternehmen diese Cookies verwenden, um Ihr Surfverhalten von Webseite zu Webseite zu verfolgen. Demnach bekommt nun jede Webseite für seine Cookies eine „eigene Keksdose“, also einen separaten Speicher für Cookies. Damit haben Unternehmen nicht länger die Möglichkeit, das erfasste User-Verhalten auf mehreren Webseiten zu verknüpfen. Sie erhalten nur noch Einblick in das Verhalten auf einzelnen Webseiten. Google hat das Ende der Cookie Ära für 2024 angekündigt. Für Unternehmen bedeutet dies eine Gnadenfrist, ein letztes Weihnachten, bevor der gewohnte Datenfluss versiegt. Das ist vor allem deshalb relevant, weil Chrome als der mit Abstand beliebteste Browser gilt. Fast die Hälfte des Surf-Traffics läuft hierzulande über den Google-Browser (Statista, 2023). Alle anderen relevanten Browser unterdrücken Third Party Cookies bereits und haben teilweise auch Verschärfungen bei First Party Cookies eingeführt – siehe Übersicht Abb. 4.11. Es ist ein trügerischer Zustand, in dem wir uns gerade befinden: Die strukturelle Veränderung ist längst eingeleitet, wird aber erst sukzessive spürbar. Im Rückblick betrachtet

Abb. 4.10 Browser lassen Third Party Cookies Schritt für Schritt sterben

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Abb. 4.11 Marktanteile der Browser 2022

war die Nutzung von Cookies eine süße Verheißung für viele werbetreibende Unternehmen. Denn sie konnten sich dank Third Party Cookies völlig auf die Arbeit von Agenturen verlassen, die für sie das Marketing gesteuert haben. Dabei haben die Unternehmen es aber versäumt, eigenes Wissen über das Verhalten ihrer User und eigene Fähigkeiten im Umgang mit den Daten aufzubauen. Es wurden und werden zwar sehr viele Daten erhoben, aber nicht in Wissen umgewandelt. Somit sind diese nicht aktivierbar, also nicht für die Zielgruppenansprache nutzbar. Consent – Grundstein für erfolgreiche Kundenansprache im R-Commerce

CONCLUSIO: Die geänderten technischen und rechtlichen Rahmenbedingungen haben dazu geführt, dass das Thema Cookie Consent groß auf der Tagesordnung gelandet ist. Denn der Consent ist der Grundstein für erfolgreiche Kundenansprache im R-Commerce. Ohne Consent keine eigenen First Party Daten. Und ohne eigene First Party Daten lassen sich kaum noch Profile erstellen. Datengetriebenes Marketing (inklusive programmatischem Einkauf und Retargeting), wie wir es kannten, wird es künftig nicht mehr geben. Erschwerte Analysemöglichkeiten sorgen für sinkende Reichweiten, Conversion Rates und Umsätze. Marketer müssen nun neue Strategien entwickeln, um nicht in das vielzitierte „Gießkannen-Prinzip“ zurückzufallen. Jetzt kommt es darauf an, eigene Datenbestände zu sammeln, zu pflegen und in aktivierbaren Reservoirs zu verwalten. Je größer der eigene Daten-Kosmos ist, desto besser.

Literatur

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Literatur Adform (2021). Adform research finds 78 % of brands have no solution in place for the removal of third-party cookies. https://site.adform.com/company/press-releases/adform-research-finds-78of-brands-have-no-solution-in-place-for-the-removal-of-third-party-cookies/. Zugegriffen: 20. Apr. 2023. CNIL (2021). L’autorité luxembourgeoise de protection des données a prononcé à l’encontre d’Amazon Europe Core une amende de 746 millions d’euros. https://www.cnil.fr/fr/lautorite-lux embourgeoise-de-protection-des-donnees-prononce-lencontre-damazon-europe-core-une. Zugegriffen: 23. Febr. 2023. DSGVP-Portal (2023). TTDSG Teil 3 – Kapitel 2 – § 25 Schutz der Privatsphäre bei Endeinrichtungen. https://www.dsgvo-portal.de/ttdsg_paragraph_25.php. Zugegriffen: 23. Febr. 2023. DSK (2019). Konzept der unabhängigen Datenschutzaufsichtsbehörden des Bundes und der Länder zur Bußgeldzumessung in Verfahren gegen Unternehmen https://www.datenschutzkonferenz-onl ine.de/media/ah/20191016_bu%C3%9Fgeldkonzept.pdf. Zugegriffen: 23. Febr. 2023. GDPR Enforcement Tracker (2022). https://www.enforcementtracker.com. Zugegriffen: 13. Febr. 2022. intersoft consulting (2023). Erwägungsgrund 39 aus der DSGVO. https://dsgvo-gesetz.de/erwaeg ungsgruende/nr-39. Zugegriffen: 23. Febr. 2023. Key, M. S., Edlund, J. E., Sagarin, B. J., & Bizer, G. Y. (2009). Individual differences in susceptibility to mindlessness. Personality and Individual Differences, 46(3), 261–264. Krisper, E. (2021). 82 Prozent der Marketer keine Lösung für Ende der Third Party Cookies. https:// internetworld.at/82-prozent-marketer-loesung-ende-third-party-cookies-2634050. Zugegriffen: 23. Febr. 2023. Spreer, P. (2021). PsyConversion. Springer Gabler. Statista (2023). Marktanteile der führenden Browserfamilien an der Internetnutzung in Deutschland von Januar 2009 bis Januar 2023. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/13007/umfrage/ marktanteile-der-browser-bei-der-internetnutzung-in-deutschland-seit-2009. Zugegriffen: 23. Febr. 2023. The High Court (2021). Judical Review 2020 No. 617 JR. https://dataprotection.ie/sites/default/files/ uploads/2021-08/Facebook%20v.%20DPC%20Judgment%2014.5.21.pdf. Zugegriffen: 23. Febr. 2023. William S. (2022). GDPR fines hit over e1 billion in 2021. https://atlasvpn.com/blog/gdpr-fines-hitover-1-billion-in-2021. Zugegriffen: 23. Febr. 2023.

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R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung

Zusammenfassung

Der Erfolg von Unternehmen wird in Zukunft davon abhängen, wie gut sie langfristige Beziehung zu Kund:innen aufbauen können. „E-Commerce“, wie es in den meisten Unternehmen gelebt und operativ gestaltet wird, hat als Konzept deshalb ausgedient und wird abgelöst durch „R-Commerce“. Denn das kennzeichnende Merkmal der kommenden Epoche des digitalen Verkaufens ist nicht das „E“ (= electronic), es ist das „R“ (= relationship). Dieses Kapitel definiert die fünf Leitprinzipien, die R-Commerce ausmachen: Privacy First, echte Kundenzentrierung, datenbasiertes Handeln, Moment-getriebener Dialog und Nachhaltigkeit. Es zeigt, welche konkreten ökonomischen und nicht-ökonomischen Vorteile daraus für Unternehmen entstehen und welche Voraussetzungen für die Transformation in Richtung R-Commerce gegeben sein müssen.

Die natürliche erste Frage, wenn man sich mit einer neuen strukturellen Transformation konfrontiert sieht, lautet sicherlich: Wie gut bin ich eigentlich gerüstet? Der LackmusTest für das Digital Business der Zukunft sieht wie folgt aus: • Definieren (auf Basis historischer Erfahrungswerte), welche Daten für die erfolgreiche Ansprache von Usern notwendig sind. • Datenpunkte nach Herkunft sortieren: First Party Datenpunkte nach links, Third Party Datenpunkte nach rechts. • Beide Gruppen vergleichen: Die rechte Gruppe ist größer? Dann drohen massive Einbußen an Effektivität und Kundenerlebnis und eine R-Commerce-Strategie wird benötigt.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Stalph et al., R-Commerce, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42054-3_5

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5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung

Doch sich nur auf das Thema „Third Party versus First Party Cookies“ zu fokussieren, wie es auch viele Fachartikel andeuten, greift zu kurz. Wir stehen am Anfang einer echten Transformation, die die Rahmenbedingungen in allen geschäftsmodellkritischen Bereichen verändert: in der übergreifenden Strategie und Haltung, bei den zugrunde liegenden Kundendaten und Ansprachelogiken, sowie hinsichtlich der eingesetzten Tools und der Systemlandschaft. Datensilos, abgeschottete Kanalkommunikation, wenig relevante Nutzeransprache, fragmentierte Systemlandschaft, datenagnostische Unternehmensorganisation – all das wird jetzt auf den Prüfstand gestellt, wie Abb. 5.1 deutlich macht. Der Geschäftserfolg wird in Zukunft davon abhängen, wie erfolgreich Unternehmen neue Kund:innen gewinnen und – mehr noch – bestehende Kund:innen halten können. Es muss eine langfristige Beziehung zwischen Kund:innen und Unternehmen geschaffen werden, die auf Vertrauen basiert. Und genau diese Haltung, Vertrauen als wertschöpfend zu sehen und den Kund:innen auf Augenhöhe zu begegnen, gilt es als Unternehmen zu entwickeln. Es geht darum, die Kundenbeziehung tatsächlich in den Mittelpunkt zu stellen – auf allen Ebenen und bei allen Handlungen. Dieses Kapitel beschreibt die strategische Lösung dafür: R-Commerce. Was das im Detail ist, für wen es sich eignet und wie es funktioniert, erläutern die folgenden Seiten. So viel sei jetzt schon verraten: Gleichgültig ob B2C, B2B oder B2B2C – alle Segmente werden von den beziehungsorientierten Ansätzen profitieren. Weiter werden fünf Leitprinzipien eingeführt, ohne die R-Commerce nicht funktionieren kann. Diese fünf Prinzipien greifen wie Zahnrädchen in einem Uhrwerk ineinander: Wird auch nur ein Prinzip halbherzig umgesetzt, stockt die Maschinerie und das Unternehmen läuft Gefahr, mit der Transformation zu scheitern. Gelingt sie aber, winkt die Aussicht auf breit gestreute ökonomische und organisatorische Vorteile für Unternehmen – einige davon vielleicht durchaus überraschend. Für Unternehmen, die sich der Herausforderung stellen, beschreibt das letzte Unterkapitel die technischen und organisatorischen Voraussetzungen, die es zu erfüllen gilt, um sich in der Post-Cookie-Ära neu zu positionieren. Eines darf dabei jedoch nicht verschwiegen werden: Diese Transformation verlangt vieles – frische Ideen, harte Arbeit, Geduld und Durchhaltevermögen. Gefordert ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Also tief Luft holen, die neuen Gegebenheiten akzeptieren, sich schnell anpassen und wie Phoenix aus der Asche als einer der „First Mover“ die Chancen echter Kundenbeziehungen nutzen – für die Shareholder, für die Kund:innen und für die Mitarbeitenden.

5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung

Abb. 5.1 Third Party- versus First Party Datenstrategie

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5.1

5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung

Big Picture: Was ist R-Commerce und warum brauchen wir es?

Braucht der E-Commerce eine Ablösung bzw. eine strukturelle Weiterentwicklung? Und wenn ja, wie sieht das neue Konzept aus? Für alle, die dieses Buch nicht an einem Stück lesen, hier die Kernaussagen der vorherigen Kapitel zu den neuen Rahmenbedingungen der anstehenden Transformation noch einmal kurz zusammengefasst. Rechtliche Rahmenbedingungen Neue Regelungen wie die DSGVO und das TTDSG zur Verwendung von Cookies (siehe Kap. 4) reduzieren das Angebot an Daten, die für die Ansprache von Usern zur Verfügung stehen. Dieser Prozess hat bereits begonnen, ist unumkehrbar und wird sich in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit fortsetzen und verstärken. Eine wichtige Neuerung ist der Consent-Layer, der User ermächtigt, selbst zu entscheiden und zu konfigurieren, in welchem Umfang sie getrackt werden möchten und ein Unternehmen mit den Daten arbeiten darf. Technologische Veränderungen Parallel haben Technologieanbieter begonnen, den Datenschutzbedenken der User Beachtung zu schenken und Restriktionen in einem Wettrennen um den sichersten Browser einzuführen. Das Gebaren der Browseranbieter, die Third Party Cookies nicht mehr zu unterstützen und in den Default-Einstellungen zu blocken, verstärkt die Entwicklung der Datenknappheit also auf technischer Ebene. Emanzipiertes Kundenverhalten Last, but definitely not least: Auf gesellschaftlicher Ebene zeigen sich die Menschen mehr und mehr emanzipiert und teilen ihre Daten nicht länger freizügig. Doch ihre Erwartungen hinsichtlich passgenauer Werbung sind so anspruchsvoll wie eh und je – in vielen Fällen wachsen sie sogar. Mit irrelevanten Informationen wollen sie in einer Zeit der ständigen Reizüberflutung nicht belästigt werden. Im Gegenteil: Sie erwarten eine perfekte, bedürfnisorientierte User Experience, die auch mal überrascht. Der Drahtseilakt zwischen Datenknappheit und gestiegenen Ansprüchen an maßgeschneiderter Infotainment-Werbung ist die Herausforderung für Marketer dieser Epoche. Neue Prozesse Der alte Brauch, mit Third Party Data von Mediapartnern smartes Marketing zu machen, läuft immer weniger geschmeidig. Onlinewerbung ist immer schlechter auszuliefern und zu tracken. Zentrale Disziplinen des E-Commerce (Personalisierung, Conversion Optimierung, Performance-Marketing etc.) brauchen neue Prozesse und Denkmodelle. Heute gilt: Wer Personalisierung sagt, meint Prozesse. Commerce-Unternehmen mit hoher Datenkompetenz gelingt es, ihre Daten durch Automatisierung nutzbar zu machen.

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Big Picture: Was ist R-Commerce und warum brauchen wir es?

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Veränderte Erfolgsmessung All diese Veränderungen können Unternehmen viel Geld kosten. Wenn User nicht identifiziert und über verschiedene Kanäle und Geräte hinweg erkannt werden können, können Customer Journeys nicht über alle Kanäle orchestriert, Erlebnisse personalisiert oder digitale Werbung optimiert ausgeliefert werden. Eine deutlich geringere Click Through Rate, also die Click Conversion Rate der Werbeanstöße, ist die Konsequenz. Das wiederum bedeutet, dass (im alten Modell) höhere Mediabudgets in die Hand genommen werden müssen, um den Traffic konstant zu halten und die geplanten Conversions und Umsätze zu erreichen – eine klare Inflation im Marketing. Im Vergleich zum Mediabudget in der „Cookie-Ära“ werden viele Unternehmen daher eine massive Return-on-Investment-Lücke (ROI) im Controlling feststellen wie Abb. 5.2 zeigt. Alternativ können Unternehmen auch ihr Mediabudget konstant halten wie in Abb. 5.3. Doch die Konsequenz bleibt die Gleiche. Bei konstantem Budget wird weniger Werbedruck aufgebaut und damit weniger Traffic generiert, der wiederum zu weniger Conversions und Umsatz führt. Auch hier stolpert das Controlling über eine erhebliche ROI-Lücke. Zusätzlich zu den Mediabudget-Traffic-Mechanismen laufen Unternehmen in die Erwartungsfalle und drohen, das Vertrauen der Kund:innen zu verlieren, da die Erwartungen an eine hervorragende Customer Experience nicht mehr erfüllt werden. Das Vertrauen in die Händler:innen hat den größten Einfluss auf die Zufriedenheit

Abb. 5.2 ROI Lücke durch gestiegenes Mediabudget und gleichbleibendem Traffic

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Abb. 5.3 ROI Lücke bei gleichbleibendem Mediabudget und sinkendem Traffic

der Kund:innen (Teller & Lehmann, 2021). Ein Vertrauensverlust führt neben dem Imageschaden unweigerlich zu Kundenverlust. Das Zeitalter von R-Commerce hat bereits begonnen All die neuen Gegebenheiten lassen den einen Schluss zu: E-Commerce, wie er in den allermeisten Unternehmen gelebt und operativ gestaltet wird, hat ausgedient. Dieser E-Commerce hat nicht (mehr) die entsprechenden Antworten auf die neuen Rahmenbedingungen. Eine derart strukturelle Transformation benötigt eine inhaltliche Klammer, einen neuen Namen, damit sie in ihrer ganzen Tragweite erfasst werden kann. R-Commerce ist der konkrete Vorschlag dafür. Denn das neue kennzeichnende Merkmal der kommenden Epoche des digitalen Verkaufens ist nicht das „E“ (= electronic), es ist das „R“ (= relationship). Beziehungsorientierung ist prägendes Merkmal und Erfolgsfaktor zugleich. Um eine Beziehung erfolgreich zu gestalten, kommt es strategisch auf eine wohldosierte, relevante und personalisierte Nutzeransprache an, die den Gesetzen einer kontinuierlichen Zielgruppenkommunikation folgt. Die Grundlage dafür ist eine orchestrierte Omni-ChannelKommunikation, die die Privatsphäre der User respektiert und sich strikt an die Datenschutzgesetze hält („Privacy first“). Hier ist ein komplettes Umdenken unumgänglich, denn stumpfes Datensammeln bei gleichzeitig nur punktueller Zielgruppenkommunikation ist in Zeiten des R-Commerce nicht mehr zielführend („Tracking first“). Die Vergangenheit hat gezeigt, dass inflationäre, beliebige und wenig relevante Nutzeransprache vielleicht

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Big Picture: Was ist R-Commerce und warum brauchen wir es?

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kurzfristig Umsatz gebracht, aber sicher kein Vertrauen aufgebaut hat. Doch jetzt, wo Daten immer schwerer zu bekommen sind und sich Unternehmen bemühen müssen, eigene Daten zu sammeln, spielt Vertrauen die entscheidende Rolle. Datenebene Das hat Konsequenzen für die erste tragende Dimension des R-Commerce, die Datenebene: Ging es im Zeitalter von Third Party Data darum, zu überlegen was Unternehmen verkaufen und wie sie es verkaufen, so wird nun verlangt, das Warum zu klären: „Welche Werte haben die Kund:innen? Was ist ihnen grundsätzlich wichtig?“ Dies sind relevante Fragen auf der Makroebene, die eine völlig andere Verkaufsphilosophie mit sich bringen. Auf der Mikroebene gilt es sich zu überlegen: „Was beschäftigt die Kund:innen gerade in dem Moment, in dem sie an den Kontaktpunkten eines Unternehmens vorbeikommen?“ Sich diesen Fragen zu widmen, zahlt auf eine nachhaltige Kundenbeziehung ein, die in Zeiten von First Party Data immer wichtiger wird. Es mag auf den ersten Blick überraschen, dass gerade die situativen Bedürfnisse des Users in einem bestimmten Moment für Nachhaltigkeit sorgen sollen. Dabei ist es nur logisch, denn Kund:innen verstehen heißt, ihnen das verkaufen, was sie wirklich brauchen. Hier und jetzt. Nicht einmalige Maximierung des Warenkorbs, sondern die (Beziehungs- und Daten-)Basis schaffen für den Folgekauf und Weiterempfehlungen. Und genau das ist das Fundament, auf dem R-Commerce aufsetzen will. Die Konsequenz: Unternehmen brauchen eine stringente Data-first Philosophie. Alle Aktivitäten werden datenbasiert abgeleitet, Messbarkeit und Datengewinnung sind Kernanforderungen jeder Aktivität. Technologische Ebene Daten ziehen unweigerlich die Frage der richtigen Technologie nach sich, der zweiten Dimension: Statt einer bislang eher fragmentierten Systemlandschaft brauchen Unternehmen eine integrierte Architektur. Viele Unternehmen haben sich nie als Technologieunternehmen gesehen, versuchten aber im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung technologisch Schritt zu halten. Die Folge sind heterogene IT-Landschaften mit hunderten Anwendungen, die zumindest in den Konzernen nicht den heutigen Anforderungen an moderne Systemlandschaften genügen. Die Konsequenz: Unternehmen brauchen ein skalierbares Tech-Stack. IT-Systeme sind die Enabler der datenbasierten Kundenzentrierung. Ein zeitgemäßes Tech-Stack ist aufgebaut, wenn Daten im großen Umfang und in Echtzeit erfasst, aus verschiedenen Systemen zusammengeführt, aufbereitet, verarbeitet und aktiviert werden können. Unternehmen, unabhängig des Geschäftsmodells, müssen sich daran gewöhnen und sich vorbereiten datenzentrierte Technologieunternehmen zu werden. Organisatorische Ebene Doch Daten und Technologie allein können keine Transformation auslösen oder tragen. Dafür muss die Organisation selbst sich verändern und ein übergreifend konsistentes Mindset

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etablieren, neue Rollen schaffen, effektive Prozesse gestalten und Wissenslücken schließen. Statt Silos und Abteilungen, die gegeneinander arbeiten, braucht es interdisziplinäre Teams mit gemeinsamen Zielen. Datengetriebene Organisationen sehen Daten als strategisches Asset und stellen daher sicher, dass alle Mitarbeitenden entsprechend befähigt und ermächtigt sind mit Daten zu arbeiten und Entscheidungen daten-basiert zu treffen. Die Konsequenz: Unternehmen brauchen eine befähigte Organisation. Alle Teams haben ein daten- und kundenbedürfniszentriertes Mindset und sind fachlich und prozessual in der Lage, effektiv relevante Erkenntnisse aus Daten zu extrahieren. All dies zusammengenommen leitet sich ein Framework ab, das die zentralen Treiber der Transformation (Kundenverhalten, rechtlicher Rahmen, Technologie) versteht und die drei Dimensionen (Data-first Philosophie, skalierbares Tech-Stack und befähigte Organisation) des R-Commerce verzahnt (Abb. 5.4). Im Kern dieser verzahnten Struktur findet sich der iterative Datenprozess aus sammeln, segmentieren, voraussagen und aktivieren, der in jedem kundengerichteten Prozess angewendet wird. Ist all das gegeben, resultieren die Erfolge des Ansatzes: echte Kundenzentrierung, maximale Relevanz und vertrauensvolle Beziehungen. Unternehmen, die dieses Spiel beherrschen, gewinnen das Vertrauen ihrer Kund:innen und damit den Kampf um den Markt. Sie erreichen Kundenzentrierung jenseits der

Abb. 5.4 Das R-Commerce Framework für eine beziehungsorientierte Kundenansprache

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Big Picture: Was ist R-Commerce und warum brauchen wir es?

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Buzzword-Ebene und schaffen es, ihre Botschaften mit maximaler Relevanz zu platzieren. Dadurch bauen sie vertrauensvolle und nachhaltige Beziehungen zu ihren Kund:innen auf. Für wen ist R-Commerce relevant? Laut dem zweiten State of Commerce Report von Salesforce (2022) befürchten 25 % der sich selbst als besonders datenkompetent einschätzenden B2C- und B2B-Firmen, dass das Abschaffen von Third Party Cookies erhebliche Konsequenzen hat, da sie mit deren Hilfe bislang auf sehr einfache Weise identifizieren konnten, welche Interessen die User im Web verfolgen. Man muss sagen: NUR 25 %. Offenbar haben 75 % noch nicht erkannt, was die Änderungen im Markt für strukturelle Auswirkungen haben. Gerade im B2C-Kontext haben sich die Erwartungen der Kund:innen stark weiterentwickelt. Unternehmen müssen sich mehr denn je bemühen, die Customer Journey einzelner Kund:innen besser zu verstehen, um Profile bilden zu können und über mehrere Kanäle zielgerichtete, personalisierte und relevante Marketingmaßnahmen auszuspielen. Der Einzelne als Teil einer Zielgruppe bestimmt somit die Entstehung der neuen Ära R-Commerce maßgeblich mit. Und genau deshalb hat die Transformation der Kundenzentrierung stärkste Auswirkungen auf B2C-Unternehmen. Das heißt jedoch nicht, dass B2B-Unternehmen sich entspannt zurücklehnen können. Denn Geschäfte werden immer noch zwischen Menschen gemacht. Und Menschen, die im Privatleben eine bestimmte Erwartung daran haben, wie sie online einen Kauf abwickeln, erwarten entsprechenden Service auch im B2B-Bereich. Der große Unterschied zu B2C besteht darin, dass im B2B üblicherweise nicht nur ein Vertragspartner auftritt, sondern mehrere Entscheider. Entsprechend komplexer verläuft die Customer Journey. Zweiter Unterschied: Der Vertrieb fußt bislang noch häufig auf persönlichen Meetings. Auch wenn Unternehmen gerade dabei sind, ihren Vertrieb zu digitalisieren und Kundenbesuche zu minimieren, geht es bei Abschlüssen über mehrere Hunderttausend oder Millionen Euro (bisher) nur selten ohne den persönlichen Austausch. Insofern wird es aus B2B-Sicht zunehmend spannender, unmittelbares und datenbasiertes Feedback vom Markt aus dem Dialog und der Beziehung zu den Kund:innen zu bekommen, das wiederum Einfluss auf das Produkt und die Produktentwicklung haben kann. Welche Unternehmen interessieren sich nicht für Antworten auf brennende Fragen wie „Wie zufrieden ist der User?“, „Was sind deren Anforderungen?“, „Wohin bewegt sich der Markt?“? Bleibt die Frage nach der Anwendbarkeit für Hersteller. Die aktuelle Dynamik, mit der immer mehr Hersteller den direkten Kanal zu ihren Kund:innen aufbauen und etablieren („Vertikalisierung“ bzw. D2C/Direct-to-Consumer), ist bemerkenswert. Im B2B2C wurden Kund:innen und die Beziehungen zu ihnen bislang vollständig an den Handel „ausgelagert“. Aus diesem Grund haben Hersteller in der Vergangenheit Channel-Marketing-Partner oder Händler:innen als „die Kund:innen“ betrachtet. Unternehmen, die sich nun direkt an die Endkund:innen wenden, haben das Dilemma erkannt. Die Chance: Hersteller besitzen als etablierte Marken oft profundes Kundenwissen und viel tiefere emotionale

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5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung

Kundenbeziehungen, die bisher aber nicht direkt ablaufen. Das ändert sich in Zeiten des R-Commerce. Doch für welche Unternehmensgrößen wird die neue Ära relevant? Wenig überraschend, sowohl KMUs als auch Corporates werden betroffen sein – mit jeweils spezifischen Herausforderungen. KMUs haben aufgrund von Kundenstruktur und Umsatzvolumen meist weniger Daten, die sie orchestrieren müssen. Das ist ein struktureller Nachteil im RCommerce, macht diese Unternehmen aber auch besonders innovationsschnell und wendig: Sie müssen tendenziell weniger Altsysteme überdenken, weniger Datenmengen prozessieren und vor allem weniger Mitarbeitende auf die neue Stoßrichtung einschwören. Große Unternehmen bzw. Corporates haben zwar in jeder Dimension mehr „Power in der Pipeline“, dadurch aber auch entsprechend größere Herausforderungen bei der Transformation. Eine spezifische Herausforderung betrifft das Management: In Unternehmen, in denen man durch möglichst wenig sichtbare Fehler Karriere macht, fehlt es den Entscheider:innen an Anreiz, große Transformationsprojekte anzustoßen – stattdessen werden Dutzende kleinere Projekte als „Quick Wins“ gestartet, die jedoch nie dasselbe substanzielle Potenzial haben. Auch Pure Player werden sich im Vergleich zu Multi-Channel-Unternehmen leichter tun. Um eine umfassende Datensicht auf Kund:innen zu bekommen, müssen Unternehmen mit stationärem Geschäft Medienbrüche überwinden und Daten aus verschiedenen Quellen zusammenführen. Das bedeutet, dass nicht nur CRM- und Web-Analytics-, sondern auch Point-of-Sale-Daten (z. B. aus dem Kassensystem) in die Customer Journey der Kund:innen einbezogen werden müssen. Doch ohne ein intelligentes Kundenbindungssystem haben diese kaum eine Chance, Daten personenbezogen am Point-o-Sale zu erheben und doublettenfrei einem übergreifenden Profil zuzuordnen. Wann wird R-Commerce relevant? Wie die vorangegangenen Kapitel gezeigt haben, steigt der Druck auf Unternehmen jeder Ausrichtung auf die neuen Bedingungen des Marktes zu reagieren und sich anzupassen. Die Zeit für einen Neuanfang ist somit JETZT. Mehr als die Hälfte des Traffics läuft bereits in Cookie-freien Umgebungen und Geräten, während 60 % aller alltäglichen AdTechFunktionen noch immer auf Third Party Cookies angewiesen sind (van Rensum, 2022). Tag X (= Google Chrome untersagt Third Party Cookies) wird daher sehr harte und prompte Auswirkungen auf Performance-Marketing, Tracking und Kampagneneffektivität haben. Gartner erhöht den Druck zusätzlich aus demographischer Sicht: Gen Z, also die Geburtsjahrgänge zwischen 1995 und 2010, repräsentieren heute bereits knapp 30 % der Weltbevölkerung. Dies ist zunächst eine spannende Zahl. Gewicht gewinnt diese aber erst, wenn man sich die Eigenschaften dieser Generation ansieht: Gen Z vertraut Unternehmen und Marken weniger, erwartet gehört und involviert zu werden, verändert schnell Vorlieben und Präferenzen, und sucht sich Marken aus, die authentische und transparente Erfahrungen bieten (Goasduff, 2019). Für diese Generation zählen personalisierte Erlebnisse, vertrauensvolle und direkte Kommunikation, sowie Echtzeitinformationen und Services. All dies erfolgt über diverse Kanäle – das Internet, mobile Apps, Servicecenter,

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Die fünf Leitprinzipien: Was macht die neue Ära der …

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aber auch am POS sowie durch virtuelle Assistenten. Gen Z ist damit der Prototyp, die erste Generation, die nur noch mit einer beziehungsorientierten Philosophie wie R-Commerce erreichbar sein wird.

5.2

Die fünf Leitprinzipien: Was macht die neue Ära der Kundenbeziehung aus?

Eine Quintessenz der ersten vier Kapitel dieses Buches ist sicherlich, dass Unternehmen zuletzt den User und die Kund:innen aus den Augen verloren haben. Und jetzt, in Zeiten der Datenknappheit, stehen sie mit leeren Händen da. R-Commerce ist daher nicht nur Evolution, die sich ohne viel Aufhebens einfach entwickelt. Vielmehr legt R-Commerce nahe, dass Unternehmen sich konkret verändern müssen. Um deutlicher zu werden: Unternehmen benötigen eine 180°-Kehrtwende bei der Frage, wie sie auf Kund:innen und Daten schauen. Auch wenn es abgedroschen klingt, folgendes kann nicht oft genug wiederholt werden: Die Kund:innen stehen im Mittelpunkt aller Aktivitäten eines Unternehmens. Aber was genau bedeutet dies für Unternehmen? Was müssen die Themen und Prinzipien für Unternehmen sein, um sich zukunftsorientiert aufzustellen? In der Vergangenheit schien Lautstärke statt Dialog die gängige Strategie zu sein, um in einer immer hektischeren Werbewelt noch gehört zu werden. Technisch gesehen war das ohne Probleme machbar, hat im Rückblick aber zu einer ungeheuren Verflachung und Generalisierung der Nutzeransprache geführt. Individualität und Relevanz sind vor allem im Performance-Marketing eindeutig verloren gegangen. Zurück zur Kundenzentrierung zu kommen, erfüllt sich aber nicht in einem normativen oder inhaltlichen Vakuum. Für einen erfolgreichen Wandel müssen Unternehmen fünf Leitprinzipien folgen, um als R-Commerce-Unternehmen erfolgreich in die Zukunft zu starten: Privacy first, kundenzentriert, datengetrieben, momentgetrieben und nachhaltig.

5.2.1

Privacy First

Lange haben die User – beispielsweise durch die massenweise Installation von AdBlockern oder das Löschen von Cookies – demonstriert, dass sie mit der ausufernden Nutzung ihrer Daten nicht einverstanden waren. Langsam und schleichend hat sich ein großes Misstrauen in den Köpfen der User etabliert. Privacy first wird – entgegen der häufig gehörten Meinung, es handle sich um den Teufel persönlich – helfen, dieses Misstrauen wieder abzubauen. Privacy-first ist damit kein Knebel, dem sich Unternehmen beugen müssen, sondern ein Weckruf! Unternehmen müssen nicht nur ihre Website und ihre Social-Media-Kanäle streng DSGVO-konform betreiben, sondern den tieferen Sinn dahinter verstehen und anfangen zu leben. Sie sollten damit beginnen, die persönlichen

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5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung

Daten der User zu respektieren. Sie können gar nicht anders als ihren Kund:innen endlich wirklich zuzuhören. Und sie kommen nicht mehr darum herum, zu erklären warum sie Dateneinwilligungen brauchen. Höchste Priorität hat jetzt, den Usern klarzumachen, dass Unternehmen die erhobenen Daten zum Wohle der Kund:innen nutzen – für eine effiziente Kommunikation, die das Interesse und die Bedürfnisse der Kund:innen trifft. Kommunikations-Spam wird zum absoluten NoGo – genauso wie der Eindruck „Hauptsache viele Daten sammeln, ohne Sinn und Verstand“. Diese Unart aus der Vergangenheit sollten Unternehmen dringend abstellen, wenn sie für potenzielle Kund:innen weiterhin relevant bleiben wollen. Jetzt geht es darum, auf Basis von Privacy first wieder Vertrauen aufzubauen. Zahlen und Fakten, die die „Consumer Privacy Survey“ empirisch erhoben hat (Integral Ad Science, 2020), zeigen die desolate Lage: Einer überragenden Mehrheit (91 %) der Deutschen ist Privatsphäre überaus wichtig, wenn sie im Netz unterwegs sind. Zugleich wissen 83 % der User, dass Unternehmen auf ihren Websites und Apps dennoch UserDaten zu Werbezwecken sammeln. Die logische Ableitung: Zwei Drittel (66 %) der Befragten sind der Meinung, dass Unternehmen zu viele Daten sammeln. Das bleibt keine bloße Meinung, sondern erzeugt messbar Aktivierung: Mehr als jeder Zweite (58 %) sieht sich selbst in der Verantwortung, die eigenen Daten vor fremdem Zugriff zu schützen. Als bevorzugte Datenschutzmaßnahmen haben sich bei den Usern insbesondere die regelmäßige Löschung von Cookies (56 %) und des Browserverlaufs (45 %), die Nutzung eines Ad Blockers (42 %) sowie der Einsatz des Inkognito-Modus (36 %) etabliert. In einem Satz: Vertrauen sieht anders aus. Die Zahlen zeigen, dass Kund:innen ein (gesundes?) Misstrauen gegenüber werbetreibenden Unternehmen empfinden und sich nicht auf Augenhöhe begegnet fühlen. Die Lehre, die Unternehmen daraus ziehen können: Es muss gelingen, den Usern das schlechte Gefühl zu nehmen, wenn man Daten über ihr Verhalten in den Händen hält. Die frühere Datenanarchie muss aktiv beendet werden. Denn jetzt sind die User ermächtigt, zu kontrollieren und zu entscheiden, wie sie ihre Daten verwendet sehen wollen. Hier ist wieder das Fingerspitzengefühl der werbetreibenden Unternehmen gefragt. Denn welche Daten bereitwillig geteilt werden, variiert stark je nach Kundensegment, so eine Studie von BCG und Google. Zum Beispiel ist es 70 % wahrscheinlicher, dass frischgebackene Eltern Angaben über ihr Einkommen machen als der Durchschnitt. Aber sie sind 43 % weniger bereit, ihre Aktivitäten auf anderen Websites zu teilen. Angesichts der unterschiedlichen Meinungen darüber, welche Daten am vertraulichsten sind, müssen Werbetreibende die individuellen Vorlieben und Situationen ihrer User berücksichtigen und dann einen segmentspezifischen Ansatz für die Datenerfassung definieren. Denn insgesamt sind User durchaus willens, ihre Daten mit Unternehmen zu teilen – wenn ein Vertrauensverhältnis besteht. Denn zwei Drittel (65 %) der Kund:innen wollen personalisiert angesprochen werden (Rodenhausen et al., 2022). Doch nur wenn Unternehmen um Erlaubnis für die Datennutzung bitten und mit diesen Daten den Nerv beziehungsweise das akute Interesse der User treffen, schafft dies das nötige Vertrauen.

5.2

Die fünf Leitprinzipien: Was macht die neue Ära der …

107

Vertrauen müssen Unternehmen sich also verdienen – gerade, wenn die eigene Branche auf keine weiße Weste verweisen kann. Privacy first, das erste Leitprinzip des R-Commerce, ist für dieses Bestreben eine – wenn auch von oben verordnete – große Hilfe. Allerdings geht es nicht ohne Engagement. Privacy first ist keine Forderung, die gesetzlichen Anforderungen voll zu erfüllen – es geht darum, den Kundenwillen hinter der Gesetzgebung zu verstehen und aufrichtig ernst zu nehmen. Wollen Unternehmen weiterhin erfolgreich bleiben, müssen sie ihre Strategie hinterfragen. Es ist der Augenblick gekommen, die Beziehung zu den Usern neu zu gestalten und Vertrauen zurückzugewinnen.

5.2.2

Echte Kundenzentrierung

„Kundenzentrierung“ oder „Nutzerzentrierung“ ist bis heute für viele Unternehmen ein Leitsatz, der nur halbherzig umgesetzt und eher als unverbindlicher Orientierungspunkt gelebt wird. Das reicht nicht mehr aus. Die harte Wahrheit lautet: Der Erfolg von Unternehmen hängt in Zukunft maßgeblich von den Entscheidungen der Kund:innen ab. Unternehmen müssen akzeptieren, dass es sich bei ihren (Ziel-)Kund:innen um Menschen handelt. Auf dieser Grundlage gilt es, ein Verständnis aufzubauen, wie diese Menschen (intuitiv) Entscheidungen treffen. Kundenzentrierung lautet die neue alte Maxime. „Machen wir doch schon lange!“, wird so manche Geschäftsführung behaupten. Doch abgesehen von dem Wort, gibt es wenig Gemeinsamkeiten zwischen der Kundenzentrierung im E-Commerce und der Kundenzentrierung im R-Commerce. Letztere meint kein abstraktes Konstrukt und Nice-to-have, sondern eine datenzentrierte Strategie mit allerhöchster Business-Relevanz. Die Kernaufgabe lautet: Eine Beziehung aufbauen! Doch das geht nicht von jetzt auf gleich. Wie in einer privaten Beziehung geht es darum, die User erst einmal kennenzulernen, langsam ihre Bedürfnisse zu verstehen und jeden Einzelnen passend zur aktuellen Stimmung anzusprechen. Technisch übersetzt bedeutet das, ein zunehmend aussagefähiges Datenprofil aufzubauen. Von der effektiven Bedeutungslosigkeit der Kundenbeziehung im letzten Jahrhundert (siehe Kap. 2) rückt die Beziehung in das Zentrum der Aufmerksamkeit von Unternehmen – jetzt wirklich. Da das zweite Leitprinzip die grundlegende philosophische Ausrichtung revolutioniert, braucht es zudem neue Kenngrößen. Neben den klassischen Key Performance Indicators (KPI) werden Customer Performance Indicators (CPIs) wichtig. Während KPIs messen, was für das Unternehmen wichtig ist, zeigen CPIs auf, was für die Kund:innen relevant ist. Die Grundannahme ist einfach: Wenn der Unternehmenserfolg nahezu einzig und allein von den Kundenentscheidungen bzw. der Kundenerfahrung abhängt, dann sind Kundenleistungsindikatoren verlässliche Vorhersageinstrumente, die den künftigen Erfolg

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5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung

valide abschätzen können. Die Kombination von KPIs und CPIs stärkt damit das Instrumentarium, das dem Management bei der Steuerung des Unternehmens zur Verfügung steht. CPIs funktionieren als direkter Spiegel des Kundenerlebnisses, wenn die Customer Journey konsequent um die Kund:innen herum gedacht wird. Dann lassen sich Customer Experience-bezogene Kennzahlen wie gesparte Zeit, höhere Bequemlichkeit, finanzielle Ersparnisse oder auch emotionale Anerkennung für Loyalität sinnvoll in das bestehende Rahmenwerk von Management-Kennzahlen integrieren. Damit geht ein holistischerer Ansatz einher: Es geht nicht mehr um die reine Betrachtung der Webtrackingdaten. Vielmehr braucht es in Echtzeit aggregiertes Wissen aus mehreren Datenquellen, das in sinnvollen Reports und Dashboards bereitgestellt wird. Im Vordergrund stehen dabei vor allem Bewegungsdaten aus Web und App sowie intelligente CRM-Auswertungen. Doch auch vermeintlich weiche Faktoren wie die Cookie Consent Rate, der Net Promoter Score (zur Messung der Weiterempfehlungsbereitschaft), die Wartezeit bis zum Erhalt eines angefragten Angebots, Kundenbewertungen oder Zufriedenheitsbefragungen im Kundenbestand sind essenziell für ein vollständiges Bild (siehe Abb. 5.5). Diese Breite von Datenquellen drückt aus, dass Erfolg in Zukunft nicht nur daran gemessen wird, wie gut einem Unternehmen die Wandlung von Interessent:innen zu Kund:innen gelingt. Sie betont das erklärte Ziel, Kund:innen als aktive Fürsprecher und Multiplikatoren zu gewinnen, die auch in ihrem privaten Umfeld (inkl. ihrer Social-MediaProfile) Interesse wecken und künftigen Umsatz akquirieren. Auf strategischer Ebene bedeutet dies: Loyalität löst Neukundenakquise ab, Retention schlägt Conversion. In der Folge schiebt sich der Customer Lifetime Value (CLV) als neue zentrale Kennzahl in den Vordergrund. Dafür werden weiterhin bekannte Tracking-Metriken an den einzelnen Touchpoints entlang des Funnels erhoben. Als eine der größten Herausforderungen präsentiert sich dabei der initiale Beginn der Kundenbeziehung: Wie sollen die passenden Kund:innen in den unendlichen Weiten des Internets denn gefunden und bedürfnisgerecht angesprochen werden, wenn es bislang keinerlei Kontaktpunkte gab, an denen wertvolle Daten entstanden sind? Hier muss mit plausiblen Hypothesen gearbeitet werden. Mit geeigneten empirischen Methoden der Kunden- und Marktforschung werden Personas erstellt, also Stellvertreter:innen für bestimmte Zielgruppen (siehe die beiden Abschn. 3.2.2 und 3.3.3). Gute Personas beinhalten alle relevanten Informationen für eine überzeugende bedürfnisorientierte Ansprache und die notwendigen Targeting-Merkmale, um die richtigen Botschaften auch zu den richtigen Menschen zu transportieren. Wie aber sieht die Realität der Kundenansprache und -kommunikation entlang der Customer Journey im Status Quo aus? In Dutzenden Beratungsprojekten zeigte sich immer wieder: Leider nicht wie in Abb. 5.5 dargestellt. Abteilungen sind zwar häufig entlang der Customer Journey aufgestellt, teilen die Customer Journey aber auch in Silos ein – häufig sogar mit konkurrierenden Zielen. Ein prominentes Beispiel in Unternehmen sind die Ziele „Neukundengewinnung“ versus „Up- und Cros-Selling“. Team A soll

5.2

Die fünf Leitprinzipien: Was macht die neue Ära der …

109

Abb. 5.5 Messung von CPIs und KPIs entlang der Customer Journey. (Beispiel aus der Versicherungsbranche)

110

5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung

beispielsweise mehr Neukund:innen generieren. Team B fokussiert sich auf Bestandskund:innen und bemüht sich um Cross- und Up-Selling. Die Konsequenz: Team A steuert seine Marketingaktivitäten rein auf den Abverkauf, völlig unabhängig vom prognostiziertem Kundenwert und CLV. Team B hat später das Problem, dass sich die Qualität des Kundenbestands stark verschlechtert und erreicht die eigenen Ziele nicht. Weil Kundenbedürfnisse nicht ernsthaft in den Mittelpunkt gestellt werden, ist die typische Reaktion, die Frequenz von Mailings zu erhöhen – getreu dem Motto: Viel hilft viel. Die inflationären und irrelevanten Anstöße führen schließlich zu geringerer Aktivierbarkeit und Kundenabwanderung. Von einem positiven, konsistenten Erlebnis kann keine Rede sein. Die Reputation verschlechtert sich, auch Team A erreicht daher mit etwas zeitlichem Versatz seine Ziele nicht mehr. Die Konsequenz: Gegenläufige Ziele und mangelnde Kundenzentrierung führen unausweichlich in ein Lose-Lose-Szenario. Die Tragik besteht darin, dass diese beiden Teams nie miteinander sprechen werden. Warum auch? Beide Abteilungen sind allein für sich genommen stimmig ausgerichtet, organisiert, verzielt – und damit in ihrer Selbstwahrnehmung kundenzentriert. Eine Synchronisation der Ziele, Prozesse und Methoden bleibt aber aus. Beide Teams haben kein Interesse daran, das Beste für die Kund:innen herauszuholen, sondern lediglich ihre kurzfristigen Abteilungsziele zu erreichen, die im Konflikt zu den Interessen der Kund:innen stehen und damit auch im Konflikt mit den übergreifenden Unternehmenszielen. Ein weiteres Hindernis im Status Quo ist, dass Kundenzentrierung häufig zu dogmatisch gelebt wird. Dies manifestiert sich darin, dass Kundenerlebnisse nicht segmentiert betrachtet werden. Die Erkenntnis, dass alle Menschen verschieden sind und unterschiedliche Bedürfnisse haben, ist zwar maximal trivial. Dennoch wird in vielen Unternehmen nach der Universalformel gesucht, um Kundenerlebnisse zu gestalten, die für alle Kund:innen funktionieren. Leider jagen diese Unternehmen einem Geist hinterher. Kundenzentrierung ist mit einem One-size-fits-all-Ansatz nicht vereinbar (Spreer & Eller, 2021) Das bringt uns direkt zum dritten Leitprinzip im R-Commerce, denn effektive Segmentierung und Personalisierung als Mittel für eine spürbar gestiegene Kundenzentrierung brauchen unbedingt die intelligente Nutzung von Daten.

5.2.3

Datenbasiertes Handeln

Ein im Sinne des R-Commerce datenbasiertes Unternehmen hat genaue Kenntnis der relevanten Kundensegmente und der dazugehörigen Customer Journeys. Mit Blick auf datenbasierte Entscheidungen und „Data-first“-Organisationen sieht es in der Praxis jedoch düster aus. In Audits fällt gerade die Dimension „datenbasierte Kundenzentrierung“ in den meisten Fällen als mangelhaft auf – das Wort darf gern in der Logik von Schulnoten interpretiert werden. In nahezu keinem Unternehmen wurde die Erkenntnis

5.2

Die fünf Leitprinzipien: Was macht die neue Ära der …

111

umgesetzt, dass datenbasiertes Handeln mit Blick auf die Kundenbeziehung nicht mehr von der Kundenzentrierung (2. Leitprinzip) getrennt gedacht werden kann. Das liegt keineswegs an mangelndem Bewusstsein für die generelle Bedeutung von Daten – diese Erkenntnis hat es mittlerweile in die Vorstandsetagen geschafft. Doch bei der Umsetzung kämpfen alle hinter den Kulissen mit Silo-Denken und Datenchaos. So werden verfügbare Daten meist nicht vereinheitlicht und normalisiert. Doch erst die Daten-Expertise versetzt Unternehmen in die Lage, Kund:innen ernsthaft in den Mittelpunkt ihrer Strategie zu stellen. Nur datenbasiert können echte Bedürfnisse identifiziert, Herausforderungen und Schmerzpunkte verstanden und dann passende Lösungen entwickelt werden. Dabei geht es weniger um die Verfügbarkeit, sondern um die intelligente Nutzung von Daten. Dies zeigt unter anderem auch Untersuchungen von Dell und Forrester (Dell, 2021), die besagen, dass bis zu 71 % der erhobenen Daten in Unternehmen nicht genutzt, also nicht analysiert und verarbeitet werden. Was bedeutet es also, eine datenzentrierte Organisation zu sein? Die Antwort ist nicht ganz einfach: Datengetrieben im Sinne des R-Commerce bedeutet, Daten methodisch und systematisch für den Aufbau von Kundenintelligenz zu nutzen, die wiederum für die personalisierte Ansprache über alle Kanäle und Touchpoints hinweg angewendet wird. Die große Herausforderung ist dabei nicht die Definition des Ziels, sondern das „Gen“ der Datenzentriertheit in einem Unternehmen zu implementieren. Mit diesem Aspekt beschäftigt sich Abschn. 6.3 in der Tiefe. Vorab: Die Hypothek eines absatz-zentristischen Mindsets mehrerer Jahrzehnte lässt sich nicht kurzfristig mit kosmetischen Korrekturen abstreifen. Das Daten-Gen muss top down eingepflanzt werden, das Top-Management muss vorleben, wie sie Daten nutzen, einen konkreten Wert ableiten und für die datenbasierte Entscheidung einsetzen (Perc et al., 2019). Offensichtlich ist dabei, dass die Arbeit mit Daten auch immer eine Technologiefrage ist: Die gelebte Praxis „IT follows Business“ muss daher in Frage gestellt werden. Nur so können Abteilungssilos aufgelöst und redundante IT-Anwendungen, die nicht miteinander kommunizieren können, vermieden werden. Geschieht das nicht, bleiben die Kund:innen die Leidtragenden. Nicht integrierte Systeme, eigene Datenmodelle und die damit einhergehende sehr begrenzte Aktivierung von Daten führt etwa zu folgenden Absurditäten: • Bei vielen Versicherungen besitzen gute Kund:innen, die mehrere Policen abgeschlossen haben, unterschiedliche Profile. Jede Sparte spricht diese Kund:innen dann regelmäßig und völlig unabgestimmt mit Bezug auf die einzelne Police an und ignoriert die individuelle Lebenssituation komplett. • Aller Digitalisierung zum Trotz landen Kund:innen bei einer Vielzahl von ServiceCentern immer erst bei für das Anliegen unqualifizierten Callcenter-Agents, die sie stets nur weiterleiten, bevor sich wirklich jemand des Anliegens annimmt. • Multi-Brand-Shops nutzen für verschiedene Produktsegmente oft verschiedene Login-Prozesse, sodass Profile nicht verzahnt werden und Unternehmen nie verstehen

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5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung

können, was aktive User umtreibt. Gute Gründe dafür gibt es immer (z. B. vergangene Akquisitionen), akzeptabel ist der Zustand deshalb aber noch lange nicht. Diese Beispiele mangelhafter Kundenzentrierung sind das Ergebnis einer über Jahre aufgebauten technischen Hypothek, die eindrucksvoll aufzeigt, wie eng verwoben eine gute User Experience mit den zur Verfügung stehenden Daten und performanten IT-Systemen zusammenhängt. Es sind echte Beispiele, die darauf zurückgehen, dass Alt-Systeme meist eigene Datenmodelle und Datensilos mitbringen. Eine Übersicht, welche Prozesse aus welchen Datentöpfen gespeist werden, hat fast nie jemand. Daher ist oft unklar, welche Daten überhaupt genutzt werden, welche einen echten Mehrwert liefern und welche Abhängigkeiten es gibt. Aufgrund dieser Unsicherheiten entwickeln sich IT- und Datenkonsolidierungsprojekte mit trauriger Regelmäßigkeit zu Debattenforen, in denen monatelang diskutiert und mit Verweis auf mögliche Risiken oft genug lieber gar nichts gemacht wird. Die anstehenden Herausforderungen sind also: • eine vollständige Übersicht der Daten- und Systemarchitektur gewinnen (Soll vs. Ist) • fachliche und technische Lasten abbauen, Wartbarkeit der Systeme verbessern • das operative Geschäft während der Transformation weiterhin mindestens mit der IstServicequalität aufrechterhalten • fachliche und technische Lasten abbauen, Wartbarkeit der Systeme verbessern • Geschwindigkeit und Qualität in den operativen Abläufen steigern und die Time-toMarket für neue (digitale) Produkte optimieren • den vorhandenen Datenschatz technisch für die bedürfnisorientierte Ansprache nutzbar machen • „Data-first“-Mindset im Unternehmen etablieren • gesunden Pragmatismus und ein ausgewogenes Risikoverständnis entwickeln Die Herausforderungen anzugehen, macht künftig den Unterschied: datengetriebene Unternehmen sehen Daten als strategisches Asset. Daher stellen diese Unternehmen sicher, dass Mitarbeitende in die Lage versetzt werden, mit Daten zu arbeiten und datenbasiert Entscheidungen zu treffen. Datengetrieben bedeutet nicht (nur), sich auf Metriken und KPIs zu fokussieren, sondern in Daten einzutauchen, Zusammenhänge zu verstehen und tiefes Wissen und Intelligenz über Kundenbedürfnisse aus den Daten zu ziehen. Ein „Data-first“-Unternehmen lässt sich an folgenden Merkmalen erkennen: Eine Data Governance ermöglicht schnelle Entscheidungen hinsichtlich der Ressourcennutzung und Änderung von Daten • Data Governance dreht sich um das Erlangen von Autorität und Kontrolle über Daten (Brackett & Earley, 2009). Um dieses Ziel zu erreichen ist es für Unternehmen wichtig

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Die fünf Leitprinzipien: Was macht die neue Ära der …

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sich nicht ausschließlich auf die Daten zu konzentrieren, sondern auf die Systeme und Prozesse durch die Daten gesammelt, prozessiert, gesteuert und aktiviert werden. Hierbei hängt eine gute Data Governance von der Zusammenarbeit zwischen Abteilungen, Teams und einzelnen Mitarbeitenden ab, die die Systeme und Prozesse verantworten. Dieser cross-funktionale Kontext benötigt daher robuste und bewährte Rahmenbedingungen um das Kernziel der Data Governance, das Teilen von Daten zwischen allen relevanten und beteiligten Abteilungen im Unternehmen, zu erfüllen, und gleichzeitig Datenschutzkonform zu sein. • Berechtigte können dann auf für sie freigeschaltete Daten in Realtime zugreifen und diese verarbeiten. • Ähnlich wie in der produzierenden Industrie, z. B. beim Automobilbau, ist beim Datafirst-Unternehmen die „Data Supply Chain“ mit Datenproduzenten und -abnehmern transparent, alle sind über ein einheitliches Datenmodell als Plattform miteinander verzahnt. Demokratisierte Daten im gesamten Unternehmen • Die Leitidee hinter Data Democratization ist, dass Daten allgegenwärtig sind und das Potenzial haben, jedes Puzzlestück eines Geschäftsmodells zu straffen und zu verschlanken. • Daten und Informationen müssen für alle zugänglich sein – und zwar in der Qualität und dem Umfang, dass Mitarbeitende „empowered“ werden, Entscheidungen datengetrieben zu treffen, unabhängig von den technischen Skills • Es braucht daher eine unternehmensweit einheitliche Sicht auf das Datenmodell. Basierend auf diesem Datenmodell sind unterschiedliche Sichten auf die Daten und Nutzerprofile zu generieren, je nach Datennutzung. Hohe Datenkompetenz • Ein hohes Maß an Datenkompetenz hilft den Mitarbeitenden, schneller bessere Entscheidungen zu treffen. • Auch die IT-Abteilung wird entlastet, da sie sich nicht täglich mit banalen Datenanfragen oder -problemen befassen muss. So kann sie sich auf strategische Aktivitäten konzentrieren und die IT-Kosten werden insgesamt gesenkt. Automatisierte Prozesse für die Daten-Prozessierung und Bereitstellung • Wie bereits erwähnt, reicht die reine Datenverfügbarkeit nicht aus. Erst die Arbeit in und mit Daten schafft Wissen und generiert Erkenntnisse. Viele Unternehmen erstellen daher unzählige Reports und Dashboards, um Erkenntnisse aus den Daten zu ziehen, dies jedoch manuell. Studien zeigen, dass Mitarbeitende bis zu 50 % ihrer Zeit mit

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5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung

banalen datenbezogenen Aufgaben verbringen, und eine schlechte Datenaufbereitung bis zu 25 % des Unternehmensumsatzes kostet (Redman, 2017). Data-first Organisationen konzentrieren sich daher darauf, Datenmanagement-Aufgaben zu automatisieren. Ein klares KPI-Framework entlang der Customer Journey • Wie bereits beim zweiten Leitprinzip beschrieben, unterstützt ein abgestimmtes KPIFramework dabei, den Erfolg identifizierter Customer Journeys ganzheitlich nachzuvollziehen und kontinuierlich zu optimieren – in jeder Phase. • Ganz nebenbei kann jede:r beteiligte Mitarbeitende transparent das eigene Mitwirken am Unternehmenserfolg nachvollziehen. Um es mit den Worten von Mastercard auszudrücken: „Unbezahlbar“ in puncto Motivation. • Entscheidend hier sind sowohl übergreifende KPIs, die den Erfolg der gesamten Customer Journey ausdrücken, als auch KPIs, die deutlich mehr im Detail eine Phase der Customer Journey messbar machen. Zusätzlich betrachten wir in unseren Beratungsprojekten sogenannte „smart“ KPIs – eine Kombination aus mindestens zwei erhobener Metriken, die im Kontext betrachtet eine hohe Aussagekraft für bestimmte Analysen oder anstehende Entscheidungen haben. Ein gutes Beispiel für eine „smart KPI“ ist der Engagement Score. Dieser drückt aus, wie intensiv sich ein Nutzer mit der Seite und den Produkten auseinandersetzt. Dieser kann je nach Daten-Reifegrad des Unternehmens unterschiedlich berechnet und ausgedrückt werden. Im besten Fall wird der Engagement Score über den gewichteten Traffic berechnet. Bedingung hierfür ist, dass ein Unternehmen den einzelnen Seitentypen einen Wert in der Customer Journey beimessen kann. Ein „Data-first“-Unternehmen versetzt sich selbst in die Lage, daten-basiert zu handeln. Für uns bedeutet dies die richtige (relevante) Ansprache zum richtigen Zeitpunkt, dem richtigen Moment, was uns zu Prinzip Nummer 4 führt.

5.2.4

Moment-getriebener Dialog

Das Wichtigste gleich vorweg: Leitprinzip Nummer 4 löst die bislang gängigen, standardisiert vorgefertigten Customer Journeys auf. Im R-Commerce werden Customer Journeys dynamisch und touchpoint-spezifisch angelegt. Keine vorplanierten Wege des Users entlang der Touchpoints mehr! Denn heute gilt die Regel: „Die Wege der User sind unergründlich“ – und damit kaum mehr prognostizierbar. Von der vordefinierten Customer Journey müssen Unternehmen jetzt auf „Moment-getriebenes Marketing “ umschalten. Nach vorne gedacht: Um eine überzeugende User Experience zu bieten, sollten die richtigen Infos im richtigen Moment ausgeliefert werden – in Abhängigkeit der Interessen der einzelnen User in einem bestimmten Moment. Die Kunst, die Motivationen, Vorlieben

5.2

Die fünf Leitprinzipien: Was macht die neue Ära der …

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und Verhaltensweisen der Kund:innen besser zu kennen, indem ihre Daten entschlüsselt und für einen besseren Dialog genutzt werden, wird also als „Moment-getriebenes Marketing“ (bzw. Dialog) bezeichnet. Voraussetzung ist – keine Überraschung – wieder eine ausreichende Datenlage und die Echtzeitanalyse. Leitprinzip 1 (Privacy first), Leitprinzip 2 (Kundenzentrierung) und Leitprinzip 3 (datenbasiertes Handeln) stützen damit Leitprinzip 4. Das zentrale Element ist der „Moment“ wie Abb. 5.6 zeigt (i.A.a. Stanhope & Warner, 2019). Er ist seiner Natur nach flüchtig und schwer zu greifen. Doch mit Hilfe von Daten zahlreicher User lassen sich die Rahmenbedingungen für die „Moments“ definieren. Demnach sind Momente zeitlich begrenzte Interaktionen in einer einzelnen Situation, existieren jedoch im Kontext umfassenderer Customer Journeys. Sie verlangen also a) ein Micro-Targeting, um die richtigen User zu identifizieren und b) die technische Fähigkeit, Usern jederzeit und an jedem Kontaktpunkt hochrelevante (weil kontextsensitive) Inhalte bereitzustellen. Dazu müssen Unternehmen die Daten zum Verhalten und Entscheidungskontext sammeln und sich bei jedem Schritt der Customer Journey mit ihren Usern verbinden. Dann können die richtigen Momente identifiziert werden, in denen eine Marke mit den Kund:innen besonders effektiv interagieren kann. Es sind Momente, in denen User offen sind für ein personalisiertes und individuell zugeschnittenes Erlebnis. Es geht also um nichts anderes als darum, Bedürfnisse in Echtzeit zu erkennen oder zu antizipieren und in Echtzeit oder echtzeit-nahe darauf zu reagieren. Der Research-Dienstleister Forrester beschreibt sechs entscheidende MarketingTechnologie-Fähigkeiten der nächsten Generation, die eine zukunftsfähige IT-Architektur enthalten muss, um moment-getriebenen Dialog zum Leben zu erwecken (Stanhope &

Abb. 5.6 Von statischer Customer-Journey-Planung zum „Moment-getriebenen“ Dialog

5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung

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Warner, 2019). Dazu gehören eine Data Fabric (als Konsolidierungs- und Standardisierungsarchitektur aller Datendienste), ein tiefes empirisches und wissenschaftlich fundiertes Kundenverständnis, aber auch eine datenverzahnte Markenstrategie für ein konsistentes und bedeutsames Markenerlebnis. Entscheidend ist, dass Unternehmen es schaffen, ihr Marketing endgültig mit der Benutzererfahrung zu verkoppeln. Die dafür erforderliche kontinuierliche Kommunikation bedeutet dann die Abkehr von der linearen und gut planbaren Funnel-Kommunikation.

5.2.5

Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit ist aus vielerlei Gründen das fünfte Leitprinzip im R-Commerce 1. In Zeiten steigender Marketingkosten sind nachhaltig funktionierende Kundenbeziehungen der entscheidende Effizienzhebel, der über Funktionieren oder Scheitern eines Geschäftsmodells entscheiden kann. 2. Da Unternehmen künftig weitaus stärker auf aussagefähige Datenprofile angewiesen sein werden, existiert ein strategisches Interesse durch einen langfristigen Dialog Daten und Kundenwissen aufzubauen. 3. Aus der Perspektive der Mitarbeitenden ist es weitaus sinn- und identitätsstiftender, sich für ein R-Commerce-Unternehmen zu engagieren, das Best Practices definiert. Die Hypothese liegt nahe, dass auf diese Weise der hohen Fluktuation und dem Fachkräftemangel im Digital Business begegnet werden kann. 4. Nachhaltigkeit und Digitalisierung sind die beiden Megathemen dieses Jahrhunderts. In ihrer Schnittmenge liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit der Schlüssel zur Lösung großer gesellschaftlicher und ökologischer Krisen. Doch nachhaltig zu handeln fällt extrem schwer, weil unsere gesamte Prägung auf kurzfristige Reizbefriedigung ausgerichtet ist (Kropp, 2018). Eine nachhaltige Weltanschauung im ökonomischen Sinne zu etablieren, kann helfen auch im ökologischen und sozialen Sinne stärker zukunftsorientiert zu agieren. Da der Schwerpunkt dieses Buches auf den ersten beiden Aspekten liegt (ganz ausdrücklich jedoch, ohne die anderen beiden Punkte in Abrede zu stellen), sei zunächst etwas konkreter auf die Bedeutung der Nachhaltigkeit in der Kundenbeziehung eingegangen. Zu den meistverwendeten Nachhaltigkeitsdefinitionen gehört die Umschreibung von Wikipedia, die sich überraschend gut auch auf den hiesigen Kontext beziehen lässt. Sie betont die „dauerhafte Bedürfnisbefriedigung durch die Bewahrung der natürlichen Regenerationsfähigkeit der beteiligten Systeme“ (Wikipedia, 2023). Zunächst fällt die Fokussierung auf Bedürfnisse auf – das Mantra der R-Commerce-Philosophie. Erfolg ist abhängig von Kundenentscheidungen, Kund:innen entscheiden sich (zur Erinnerung: intuitiv) für die Option, die ihre Bedürfnisse bestmöglich befriedigt. Die Dauerhaftigkeit liegt ebenfalls

5.3

Die R-Commerce-Ökonomie: Was R-Commerce den Unternehmen bringt

117

im Zentrum des Gedankens: Nur langlebige Beziehungen machen einen Anbieter zum Top-of-Mind bei seinen Kund:innen, nur langlebige Beziehungen reduzieren wirksam die Kundenakquisitionskosten, nur langlebige Beziehungen bauen reiche Datenprofile auf. Eng mit der Dauerhaftigkeit verbunden ist die Bewahrung der Regenerationsfähigkeit: Marketer müssen Dialoge und Kontaktfrequenzen so steuern, dass man sich stets freut, von ihnen zu lesen. Niemals darf die Touchpoint-Frequency in Höhen getrieben werden, in denen sich Kund:innen gelangweilt oder belästigt fühlen und die Beziehung zum Unternehmen explizit (z. B. durch Löschung des Kundenkontos) oder implizit (z. B. durch den emotionalen Entschluss, dort nicht mehr einzukaufen) beenden. Betrachten wir Nachhaltigkeit nun aus der Makro-Perspektive, erkennen wir, dass die ökologische und soziale Dimension zum Leitmotiv einer ganzen Generation wird: Der Klimawandel wir als größte gesellschaftliche Herausforderung unserer Epoche gesehen, die die Bedeutung von Kriegen und Pandemien noch deutlich in den Schatten stellt (UNESCO, 2021). Folgerichtig fordern Kund:innen von Unternehmen, mit denen sie langfristige Beziehungen eingehen wollen, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Das bedeutet, kein Business auf Kosten der Gesellschaft zu betreiben und für alle geschäftsbezogenen Implikationen entlang der gesamten Lieferkette gerade zu stehen. Zusammengefasst: Unternehmen, die es schaffen, für ihre Kund:innen Momente zu kreieren, die von Bedeutung sind, die vielleicht sogar außergewöhnliche Erlebnisse fördern, ihren Werten entsprechen und eine echte Beziehung etablieren, schaffen einen dauerhaften Wert für ihre Kund:innen. Und damit für sich selbst. 91 % der Kund:innen kaufen eher bei einem Anbieter, der ihren Namen und ihren Bestellverlauf kennt und personalisierte Botschaften bereitstellen kann, 48 % kehren Anbietern tendenziell den Rücken, wenn diese keine personalisierte Kommunikation bieten (Accenture, 2018). Das lässt sich nicht am Reißbrett planen, der Weg dorthin ist von gutem Handwerkszeug aus Technologie, Daten und Psychologie geprägt.

5.3

Die R-Commerce-Ökonomie: Was R-Commerce den Unternehmen bringt

Der Nutzen eines beziehungsorientierten Business-Ansatzes wie R-Commerce hat sich in den vorherigen Kapiteln und Abschnitten bereits vielfach angedeutet, meist anhand von einzelnen konkreten Aspekten. An dieser Stelle sollen die Vorteile konsolidiert, vervollständigt und um Bezüge zu den fünf Leitprinzipien erweitert werden. Interessanterweise ergeben sich aus der Forderung, die User bei jeglichem Handeln in den Mittelpunkt zu stellen, nicht nur wirtschaftliche Vorteile, sondern auch diverse Pluspunkte, die weit weniger offensichtlich, aber möglicherweise mindestens ebenso relevant sind. Man könnte von einem Superfood für das Digital Business sprechen, der Unternehmen zugleich ökonomisch, vor-ökonomisch und nicht-ökonomisch voranbringt.

5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung

118

5.3.1

Nicht-ökonomische Effekte

Nicht-ökonomische Effekte wirken sich auf das Unternehmen selbst aus, ohne direkte Effekte auf die Business-Seite. Sind sie deswegen weniger relevant? Sicher nicht. Sie zeigen, dass die zentrale Werte des R-Commerce „Vertrauen“ und „Beziehung“ Strahleffekte in alle Winkel des Unternehmens besitzen.

5.3.1.1 Datenschutz Im R-Commerce sind die Leitprinzipien Privacy first, echte Kundenzentrierung und datenbasiertes Handeln nicht voneinander zu trennen. Wenn sich alle Bemühungen um die Kund:innen drehen sollen, geht das nur mit Hilfe von Daten. Was sich im R-Commerce ändert, ist die Beschaffung und die Auswertung der Daten. Privacy first sorgt dafür, dass Kund:innen um Erlaubnis gefragt werden, ob ihre Daten genutzt werden dürfen. Der Schutz von Daten bedeutet somit, die Wünsche der Kund:innen nach Selbstbestimmung hinsichtlich ihrer Daten über die Unternehmenswünsche nach verwertbaren Daten zu stellen. Aufgrund der bereits erläuterten Gründe können werbetreibende Unternehmen ihre Anzeigen immer weniger zielgenau und personalisiert ausspielen. Es droht die minimale Effektivität und Effizienz der altbekannten Gießkanne. Um dem entgegenzuwirken, müssen die drei genannten Prinzipien als eine Einheit gedacht werden: Wird ein Prinzip „gestört“, hat dies einen negativen Einfluss auf die anderen Prinzipien. In der Praxis bedeutet dies, Kund:innen gegenüber transparent aufzutreten. Kluge Unternehmen berichten ihren Usern, wie die Daten verwendet und verwaltet werden. Sie haben ein ehrliches Interesse daran, dass User die Datenschutzrichtlinien verstehen und wissen wofür Daten benötigt werden. So wird Vertrauen legitimiert. Auch Kund:innen wieder ziehen lassen und nicht mehr als ansprechbare Adressaten im Datenbestand zu führen, gehört dazu, wie auch seitens DSGVO gefordert. Datenschutz als zentraler vor-ökonomischer Vorteil drückt sich vor allem darin aus, dass ein Unternehmen, das eine konsequente R-Commerce-Philosophie verfolgt und wirksame Prozesse nutzt, immer sicher sein kann, dass es Daten nur im Rahmen der Zustimmung ihrer User und der rechtlichen Anforderungen verwendet. Damit ist die akute Bedrohungslage in Form von Strafzahlungen (siehe Abschn. 4.1.3) gebannt. Man kann sicher darüber streiten, ob die Möglichkeit, Rückstellungen für verlorene DatenschutzKlagen aufzulösen, nicht doch ein ökonomischer Effekt ist, doch im Mittelpunkt steht die Rechtssicherheit. Durch sie werden weniger Ressourcen gebunden und das wiederum erlaubt es dem Unternehmen, sich mit seinen eigentlichen Zielen zu befassen.

5.3.1.2 Resilienz und Unabhängigkeit von Third Party Providern Ein weiterer großer nicht-ökonomischer Vorteil liegt darin, Unabhängigkeit von Third Party Providern zurückzugewinnen. Die Datenhoheit wird wieder internalisiert und zurück ins Unternehmen geholt. Unternehmen sind „Master ihrer Daten“ und entscheiden

5.3

Die R-Commerce-Ökonomie: Was R-Commerce den Unternehmen bringt

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selbst, welche Daten mit wem geteilt werden. Voraussetzung ist, dass die Kund:innen diese Daten teilen. First Party Data entstehen automatisch beim Surfen durch die Website. Die hohe Kunst besteht im Sammeln der wertvollen Zero Party Data. Das sind Daten, die die Kund:innen freiwillig von sich geben, zum Beispiel bei Umfragen oder dem Anlegen von Favoritenlisten etc. Die Erfassung von First und Zero Party Data kostet im Vergleich zu Third Party Data wenig. Und die Daten sind DSGVO-konform – ein gesundes Consent Management vorausgesetzt. Zielgruppen identifizieren und wiedererkennen, Kampagnen optimiert ausspielen und digitale Marketing-Maßnahmen messbar machen – den Job, den bislang im Wesentlichen Performance-Marketing-Agenturen mit ihren Third Party Cookies erledigt haben, gilt es neu zu erfinden. Vorbei die Zeiten, in denen Unternehmen den Aufbau von Wissen über User und Kund:innen fast vollständig aus der Hand gegeben haben; vorbei die Zeiten, in denen Kampagnen nur nach harten Sales Kennzahlen wie „Cost per Order“ oder „Conversion Rate“ gesteuert werden konnten. Der Wegfall der Third Party Infrastruktur zwingt Unternehmen zu dem Glück, Daten und Kundenwissen selbst aufzubauen. Dafür muss die eklatante Wissenslücke zu Strategien, Tools, Skills und Ressourcen geschlossen werden – all das bringt Unternehmen zurück ans Steuer. Die Spielregeln haben sich geändert – jetzt heißt es: Adaptieren oder sterben – frei nach Darwin. Oder anders ausgedrückt: In einigen Jahren werden Unternehmen diese Phase als den neuralgischen Moment des „heal of the fittest“ im Digital Business bezeichnen. Es geht darum, den schwierigen Wandel ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen, resilient zu werden und sich freizuschwimmen von der Abhängigkeit von Third Party Cookie Anbietern.

5.3.1.3 Interner Purpose/Motivation Wie die User von R-Commerce profitieren, wurde bereits dargestellt. Doch auch nach innen – in den Unternehmen selbst – entwickelt der Ansatz eine nicht zu verachtende positive Wirkung. Er erfordert eine neue Organisation, weg von den Silos hin zu interdisziplinären Teams. Sie zeichnet sich aus durch klare Ziele, die mit der Entwicklung des Gesamtunternehmens eng verzahnt sind und Fachabteilungsgrenzen überschreiten. Teams arbeiten jetzt Hand in Hand. So fühlt sich jede:r Einzelne als Teil des Ganzen und kann nachvollziehen, welchen Beitrag er oder sie zum Unternehmenserfolg beisteuert. Dabei entsteht eine ganz neue Motivation für die Mitarbeitenden. Im Rahmen des fünften R-Commerce-Leitprinzips (Nachhaltigkeit) wurden bereits die Herausforderungen von Fachkräftemangel und Fluktuation von erfahrenden Mitarbeitenden und Top-Talenten angesprochen. Untersuchungen wie die Kienbaum Purpose Studie legen nahe, dass bei zwei von drei Unternehmen ein positiver Zusammenhang zwischen einem „Purpose“ im Sinne von „Ich weiß, was ich hier tue und warum“ und der Bindung der Mitarbeitenden besteht (Kienbaum, 2020). Hier können die konsequente Bedürfnisorientierung und die interdisziplinäre Arbeitsweise einen zentralen Beitrag leisten. Ein zweiter Aspekt lässt sich nennen: In einem agilen, lernorientierten, fehlertoleranten, hochdynamischen Umfeld, wie es R-Commerce beschreibt, wird zwangsläufig

5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung

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Verantwortung und Entscheidungsbefugnis von Führungskräften auf Mitarbeitende verschoben (ausführlicher besprochen in Abschn. 6.3). Das erweitert den Radius der Kontrolle und die Selbstwirksamkeit von Mitarbeitenden. In diesem Punkt ist die Studienlage erfreulich einheitlich: Die Dinge selbst in der Hand zu haben, steigert nicht nur die Motivation, sondern hat messbar positive Effekte auf Stressempfinden (Averil, 1973; Padmanabhan, 2021) und Gesundheit (Rodin, 1986; Burger, 1992).

5.3.2

Vor-ökonomische Effekte

Von den nicht-ökonomischen Effekten nun zu den vor-ökonomischen. Diese Effekte liefern einen indirekten Impact auf zentrale Business-Kennzahlen über eine zwischengelagerte Größe. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Ein schneller und kulanter Kundenservice beispielsweise beeinflusst die Kundenzufriedenheit. Diese hat wiederum eine positive Wirkung auf die Kauffrequenz und damit den Umsatz.

5.3.2.1 360° Kundenprofile Unter dem Stichwort „Customer 360“ verstehen Marketer eine auf Daten basierende Rundum-Sicht auf die Kund:innen. Aggregiert man alle Daten aus den verschiedenen Quellen (z. B. Consent Management, CRM, ERP, Onsite Tracking, Meinungsumfragetools, diverse lokal gespeicherte Excellisten etc.), hält man eine Blaupause für die erfolgreiche beziehungsorientierte Kundenansprache in Händen – so die Theorie. Um all die Daten zu aggregieren, werden sie in einer Customer Data Platform (CDP) ausführlich behandelt in Abschn. 6.1.2) konsolidiert. Das nun zur Verfügung stehende Datenmaterial muss dann einzelnen Usern (= Menschen) zugeordnet werden. Und genau hier liegt die Herausforderung: Denn Datensätze aus verschiedenen Quellen neigen zu Dubletten und inhaltlichen Diskrepanzen – sie müssen datenschutzkonform aggregiert, normalisiert und unifiziert werden. Dieser Schritt wird als Identity-ResolutionManagement bezeichnet. Wenn er erfolgreich gelingt, entstehen eindeutige Datensätze, die mit einer „persistenten ID“ (PID) versehen werden können. Man erhält Kundenprofile („Golden Profiles“) – einzelne Bausteine der Golden Records, der einzigen Version der Wahrheit, wenn es um Kundendaten geht. Golden Records (siehe Abb. 5.7) sind die Basis für nahezu alles, was R-Commerce ausmacht. Dank Golden Records • erhalten Unternehmen eine umfassende, eindeutige und minutenaktuelle Sicht auf Ihre Kund:innen, • fallen datenbasierte Entscheidungen leichter, da die Hierarchie der Datenquellen abschließend geklärt ist, • sind interne Abstimmungen (etwa zu strategischen Entscheidungen) effizienter, da alle Mitarbeitenden dieselbe Datenbasis nutzen, • können Marketer Kund:innen segmentbasiert und damit zielgerichtet ansprechen,

5.3

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Abb. 5.7 Beispielhafte Darstellung „Golden Record“

• können Unternehmen durch bedürfnisgerechte Ansprache die Kundenzufriedenheit und -loyalität steigern, • lassen sich Markttrends schnell erkennen oder antizipieren, da das Kundenverhalten sauber dokumentiert ist, • ist ein effizientes Kundenmanagement auch im Omni-Channel-Kontext möglich. Mit einer holistischen Sicht aus Stamm- und Transaktionsdaten und einer CDP lassen sich moment-getriebene Marketing- und Vertriebsaktionen auslösen. Die Kund:innen rücken dabei automatisch in den Mittelpunkt, da alle Entscheidungen direkt auf ihrem (in Form von Daten gespeicherten) eigenen Verhalten oder dem Verhalten ähnlicher Menschen basieren.

5.3.2.2 Innovation Ein weiterer vor-ökonomischer Effekt der Einführung eines datenbasierten und bedürfnisorientierten Kundenbeziehungsbegriffs ist die Innovationskraft eines Unternehmens, die eng mit dem 360° Kundenwissen verbunden ist. Durch den agileren Ansatz des momentgetriebenen Dialogs lässt sich die Time-to-Market verkürzen, also die Zeitspanne von der Produktidee bis zu dessen Markteinführung. Das kann sowohl inkrementelle Serviceoder Produktverbesserungen betreffen, als auch echte Neuheiten. Eine ergiebige Quelle für den Start des Produktentwicklungsprozesses können Kommentare in den sozialen Medien

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oder Produktrezensionen sein, die auf die wichtigsten Leistungsmerkmale für ein Produkt hinweisen. Wichtiger Treiber der Innovationsgeschwindigkeit ist der höhere Grad von Freiheit, den Mitarbeitende in einem System wie R-Commerce genießen: Da wir uns von der Idee verabschieden, lineare Customer Journeys und Kampagnen am Reißbrett zu planen, müssen Führungskräfte Verantwortung in die Teams abgeben. Ein kontroverses Beispiel, das aus der Perspektive der Nachhaltigkeit, der Wahrung geistigen Eigentums und der Arbeitsbedingungen sicher klar zu verurteilen ist, zeigt die grundsätzliche Effektivität einer Verkürzung der Time-to-Market auf: Shein, die chinesische Ultra-Fast-Fashion-Marke, ist mit diesem Ansatz binnen kürzester Zeit auf eine Bewertung von über 100 Mrd. $ gewachsen (Guyot, 2022; Umsätze werden nicht veröffentlicht). Treiber des Wachstums war vor allem der dynamische Umgang mit Daten und der moment-getriebene Dialog mit den Kund:innen, der eine hochintensive Beziehung geschaffen hat. Als Best-Practice wollen die Autoren Shein aber keineswegs verstanden sehen und distanzieren sich davon. Kundenzentriert vorzugehen hat dabei noch einen weiteren Vorteil. Entweder können die Kund:innen in den Entwicklungsprozess mit einbezogen oder über die Entwicklungsschritte fortlaufend informiert werden – alles durchgehend datenbasiert. Das schafft nicht nur wertvolle Erkenntnisse und reduziert das Risiko eines Fehlschlags signifikant, sondern vertieft die Beziehungen zu Kund:innen und liefert ihnen Impulse für künftige Shopping-Vorhaben.

5.3.2.3 Vertrauen Vertrauen – das haben die vorangegangen Kapitel mehrfach deutlich–gemacht – ist entscheidend für eine gute Customer Experience und die Basis von Kundenbeziehungen. Das beste Produktversprechen nützt nichts, wenn potenzielle Kund:innen kein Vertrauen zum Anbieter aufbauen. Doch Vertrauen ist ein scheues Reh. So sagen 69 % der Führungskräfte, dass Vertrauen heute schwieriger herzustellen ist als noch vor zwei Jahren (Adobe, 2022), sicherlich auch beeinflusst durch die Corona-Pandemie. Dazu trägt sich auch die wachsende Anzahl von Touchpoints bei, über die Unternehmen eine konsistente, relevante und personalisierte Ansprache umsetzen müssen. Gleichzeitig wird ein Vertrauensbruch heute strenger sanktioniert: Mehr als die Hälfte (57 %) der Kund:innen gibt an, nach einem Vertrauensbruch nie wieder bei einer Marke kaufen zu wollen (Adobe, 2022). Das Herzstück vertrauenswürdiger digitaler Kommunikation liegt im Content, den Unternehmen an den einzelnen Touchpoints der Customer Journey für ihre Kund:innen bereitstellen. 62 % der Kund:innen schöpfen Vertrauen, wenn ihnen relevanter Content zum richtigen Zeitpunkt und am richtigen Ort präsentiert wird (Adobe, 2022). Personalisierung ist also eine zentrale Kundenerwartung. Wenn ein Unternehmen das Wissen aus den 360°-Kundenprofilen intelligent nutzt und eine Beziehung aufbaut, stärkt das das Vertrauen zwischen Kund:innen und Unternehmen. Und das nicht nur einmalig, sondern bei jedem weiteren Kontaktpunkt werden das Vertrauen und die Beziehung vertieft (Eller, 2022).

5.3

Die R-Commerce-Ökonomie: Was R-Commerce den Unternehmen bringt

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5.3.2.4 User Experience Eng verbunden mit dem Vertrauen ist die Wahrnehmung der User Experience – die Klammer bildet die (Über-)Erfüllung von Kundenerwartungen. Erfüllte Erwartungen bauen Vertrauen auf und fungieren als Bewertungsbasis des eigenen Erlebnisses. Dabei ist zu beachten, dass das herausstechendste Teilerlebnis mit Abstand am wichtigsten ist für die Bewertung des Gesamterlebnisses – sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Mit anderen Worten: Wenn es einer Marke gelingt, mindestens einen einzelnen Touchpoint innerhalb der Customer Journey mit Hilfe der Datenintelligenz und momentgetriebenem Dialog unerwartet positiv zu gestalten, wird sich dieser Eindruck auf die gesamte User Experience übertragen (Stichwort: „Halo-Effect“). Darin liegt eine großartige Chance: Denn die Erwartungen sind aufgrund der Geringschätzung von Usern der letzten Dekade eher niedrig und rein funktional geprägt: Wer heute bereits eine beziehungsorientierte Ansprache im Sinne des R-Commerce beherrscht, kann reihenweise positiv überraschen. Dasselbe gilt leider auch umgekehrt: Für knapp drei Viertel (70 %) sinkt laut Adobe Trust Report das Vertrauen in eine Marke, wenn die Personalisierung schlecht ist (Adobe, 2022). Und knapp die Hälfte (48 %) würde nicht mehr bei einer Marke kaufen, die keine personalisierten Erlebnisse bietet. Mit Blick auf die Erhebungsmethodik müssen diese Werte vielleicht etwas kalibriert werden – denn bei Befragungen außerhalb echter Customer Journeys werden zentrale Aspekte der Entscheidung wie der Preis nicht einbezogen – so sind sie doch mindestens ein mahnender Zeigefinger, der zeigt, dass eine gute User Experience heute nicht mehr von personalisierten Erlebnissen trennbar ist.

5.3.3

Ökonomische Effekte

Ökonomische Effekte haben einen direkten Impact auf das Unternehmen und seine Business- KPIs. Der Erfolg wird im Wesentlichen davon abhängen, wie gut und erfolgreich Unternehmen neue Kund:innen gewinnen, aber auch bestehende Kund:innen halten können.

5.3.3.1 Neukundenakquise In der Übergangsphase, in der Third Party Cookies immer weniger werden und Zero Party Data und First Party Data an Bedeutung gewinnen, zeigen Analytics-Zahlen, dass die Anzahl der Erstbesucher steigt, der Anteil der als wiederkehrend identifizierten Besucher (Returning Visitors) dagegen sinkt. Der Grund ist rein methodisch: User werden nicht mehr erkannt und daher als Erstbesucher klassifiziert. Aus dem gleichen Grund sinken die Kennzahlen „Sessions per User“ und in letzter Konsequenz auch der Customer Lifetime Value (CLV). In den Daten zeigen sich viele Einmal-Kund:innen. Am Rande: Hierzu trägt auch die unter Conversion-Optimierern beliebte Gastbestellung bei. Sie schränkt

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5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung

das Customer Journey Tracking und die Marketing-Attribution massiv ein. Das bedeutet, dass sich die Remarketing Audiences verkleinern und dass Segmente und Kohorten dahinschmelzen. Die unschöne Folge sind höhere Streuverluste im Marketing. Zudem bekommen User dieselbe Werbung so oft zu sehen, bis sie unwiderrufbar genervt sind, denn die Mechanismen, die das verhindern sollen (vor allem das „Frequency Capping“) sind ebenfalls eingeschränkt. Gastbestellung – Fluch oder Segen? In diesem Zusammenhang wäre etwa zu diskutieren, ob ein Unternehmen überhaupt noch Gastbestellungen anbieten will – vorbehaltlich der rechtlichen Möglichkeiten und insbesondere vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Datenminimierung der DSGVO, der ein verpflichtendes Kundenkonto kritisch sehen wird. Gastbestellungen sind Online-Bestellungen, die die Kund:innen tätigen können, ohne ein Kundenkonto anzulegen. Die Idee dahinter: Es den Kund:innen so einfach wie möglich zu machen und kein Ausdenken eines Passwortes verlangen. Doch ohne Kundenkonto keine Basis für eine dauerhafte Beziehung. Zwar ist die Hürde beim ersten Kauf höher, da die Kund:innen ein Passwort beim Anmelden generieren müssen (was viele Browser übrigens mittlerweile auch übernehmen). Davon abgesehen ist der Aufwand für die User fast gleich, die Marke erhält aber personenbezogene Daten von großem Wert und eine bleibende Ansprachemöglichkeit. Neben den Vorteilen aus Datensicht gilt es aber auch, die Perspektive der Conversion-Optimierer einzunehmen. Unter ihnen gilt die Gastbestellung als ultimativer Conversion-Hebel. Doch Marken und Shopbetreiber beginnen bereits zu hadern: So bemerkt das Baymard Institute mit Blick auf die UX und die Conversion Rate, dass 65 % der E-Commerce-Unternehmen Gast-Bestellungen eher zu verstecken versuchen (Scott, 2021). Unter dem Strich gilt es aber sehr klar auszubalancieren und idealerweise zu testen, was ein Unternehmen durch die Gastbestellung an identifizierten Nutzerprofilen verliert, bzw. wie stark negativ sich die Conversion Rate durch das Weglassen der Gastbestellung verhält. Ein praktischer Erfahrungswert: Mittel- bis langfristig überkompensiert die verbesserte Ansprachemöglichkeit durch einen Log-In die einmaligen Conversion-Verluste deutlich. Ist das nicht der Fall, gilt dies als klare Indikation, dass Unternehmen ihren Bestand zu wenig bespielen und maximal von der Neukundengewinnung abhängig sind – ein riskantes Spiel.

Neue Besucher:innen mit zielgerichteter Werbung anzusprechen ähnelt in der Praxis einem Lotteriespiel. Die Chance, dass die Kommunikation nicht die Bedürfnisse der einzelnen User trifft, ist relativ hoch. Umso mehr brauchen Unternehmen nun Profile, die für eine zielgerichtete und effektive Ansprache sorgen. Das sieht dann beispielsweise wie folgt aus: „wahrscheinlich weiblich, interessiert sich für Reisen, besitzt ein iPhone.“ Was bislang Drittanbieter-Cookies erledigt haben, regelt nun ein Identifier, um den Personen hinter den Bildschirmen relevante Anzeigen oder die richtige Kampagne auszuspielen. Oft müssen diese Logiken mit extrem wenig Daten auskommen. Daher lässt sich sagen: Neukundenakquise wird zum King-Maker im R-Commerce! Wer es trotz Datenarmut schafft, wahrscheinlichkeitsbasiert Bedürfnisse zu antizipieren, gewinnt. Gerade hier kommen die Erkenntnisse aus dem Behavioral Design massiv zum Tragen: Sie beschreiben allgemeine menschlich Verhaltensmuster, die zu erheblich besseren Hypothesen führen, wenn keine individuellen User-Informationen vorliegen.

5.4 Voraussetzungen: Was brauchen Unternehmen für R-Commerce?

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5.3.3.2 Bestandskundenloyalität Statt über Neukund:innen zu wachsen, verspricht die Adressierung von Bestandskund:innen zu Beginn größeren Erfolg. R-Commerce sorgt dafür, dass entsprechende Daten zur Verfügung stehen, die Customer Journey Manager auswerten können. Dabei stehen viele Marketer vor zwei Herausforderungen: Einerseits müssen die relevanten Daten aus der riesigen Masse an gesammelten Daten selektiert werden, andererseits sind die verwendeten Daten und KPIs in ein aussagekräftiges Gesamtbild zu integrieren. Denn einzelne Aktivitäten liefern meist keinen relevanten Beitrag zum langfristigen Unternehmens- und Umsatzwachstum. Der Fokus auf die Bestandskund:innen reduziert also die Abhängigkeit von permanenter Neukundenakquise. Parallel kann die Kauffrequenz der Bestandskund:innen erhöht werden, wenn es gelingt, durch zielgerichteten Dialog eine langfristige Beziehung aufzubauen. Die Reaktionen (bzw. deren Ausbleiben) tragen iterativ dazu bei, die eigenen Kund:innen immer besser kennenzulernen und weniger Fehler im Dialog zu begehen. Dies wiederum hat einen positiven Effekt auch auf die Neukundenakquise. Das aus den Daten gewonnene Wissen über betriebswirtschaftlich wertvolle und funktionierende Kundensegmente gepaart mit den Erfahrungen aus der Ansprache dieser Zielgruppen und den entsprechenden Verhaltensmustern, liefert direkte Ansätze wo (auf welchen Kanälen), welche Zielgruppen zur Neukundenakquise wie und wann angesprochen werden können (Stichwort: statistische Zwillinge/Lookalikes). Wie die Orchestrierung aller Maßnahmen an allen Touchpoints dazu beiträgt, eine nachhaltige Kundenbeziehung zu schaffen, zeigt Abschn. 6.1.

5.4

Voraussetzungen: Was brauchen Unternehmen für R-Commerce?

Die vorangegangenen Abschnitte dieses Kapitels haben erklärt, was den R-CommerceAnsatz ausmacht (Abschn. 5.1), an welchen Prinzipien er sich orientiert (Abschn. 5.2) und welche konkreten Vorteile sich daraus ableiten (Abschn. 5.3). Bevor Kap. 6 den konkreten Fahrplan beschreibt, leitet der folgende Abschnitt mit der Frage über: Was brauchen Unternehmen für all das eigentlich? Die Antwort liegt auf drei Ebenen: Technologie, Daten und Organisation.

5.4.1

Skalierbare Technologie

Wenn ein Unternehmen wachsen will, beschränkt sich dieser Wunsch nicht nur auf die Produkte oder die Zahl der Kund:innen. Zum Wachstum gehört auch die notwendige Skalierbarkeit seiner technologischen Systemlandschaft. Dieser Prozess ist keine simple

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5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung

ad-hoc-Integration neuer Systeme, sondern muss einer abteilungsübergreifenden Strategie und Koordination im Dienste der Kund:innen folgen. Die Technologie ist dabei kein Allheilmittel, sondern ein Enabler für die bedürfnisorientierte Ansprache in Echtzeit. Daten zu verknüpfen und im Sinne der Kundenzentriertheit zusammenzuführen ist im R-Commerce die zentrale Herausforderung. Dafür braucht es eine Datendurchlässigkeit zwischen den einzelnen datenführenden Systemen – konkret: das genaue Gegenteil der meist bestehenden Datensilos. Hier kommen Kundendatenplattformen (Customer Data Platform = CDP) ins Spiel und übernehmen eine, wenn nicht DIE, zentrale Rolle in modernen Systemlandschaften. Eine CDP ist darauf ausgelegt, Kundendaten aus diversen Datenquellen zu sammeln, zu normalisieren und einzigartige, einheitliche Profile für jeden einzelnen Kunden und jede einzelne Kundin zu erstellen. Das Ergebnis ist eine dauerhafte, einheitliche Kundendatenbank – nicht zu verwechseln mit CRM-Systemen – die Daten und Kundenprofile mit anderen Marketing- und Kommunikations- Technologiesystemen teilt. So profitieren alle Teams, die direkte Touchpoints mit Kunden haben, indem sie auf die gleiche Datenbasis zurückgreifen und daher abgestimmt, relevant und personalisiert kommunizieren können. R-Commerce fordert eine zentrale hoheitliche Datenhaltung für intelligente Datenmodellierung, ohne die die Potenziale maschinellen Lernens und künstlicher Intelligenz nicht voll genutzt werden können. Das dazu erforderliche Wissen sollte unbedingt im eigenen Unternehmen aufgebaut und – auch, wenn es verführerisch einfach erscheint – nicht an externe Dienstleister ausgelagert werden. Denn die Auswertungsfähigkeit von Daten macht in Zukunft den Unterschied. Diese Form der Unabhängigkeit macht Unternehmen immun gegen viele Entscheidungen, die außerhalb ihres Einflussbereichs liegen (vgl. Abschn. 5.3.1.2). Als Vergleich: Eine Konditorei braucht gute Konditor:innen. Würde eine Konditorei Kuchen aus der Fabrik verkaufen, könnten diese zwar günstiger werden. Doch wenn die Fabrik schließt oder entscheidet, keine Torten mehr anzubieten, müsste auch die Konditorei schließen, denn das Know-how um feine Torten gibt es nicht. Eine immer wichtigere Rolle spielen Microservices in der Architekturlandschaft des R-Commerce. Microservices sind kleine Bündel verschiedener Anwendungen unter einer Architektur. Sie liefern die Grundlage, damit jedes Team innerhalb der Unternehmensbedürfnisse und der Unternehmensstrategie mit seinen Tools arbeiten und unabhängig von anderen Teams eigene Lösungen entwickeln kann. So kann das Service-Team beispielsweise Self-Service-Funktionen etablieren, die den Kundenservice entlasten und zugleich den Usern schneller zu einer gewünschten Antwort verhelfen. Denn jeder Microservice hat seinen eigenen Zweck und seine eigene Verantwortung. Der große Vorteil liegt darin, dass Microservices unabhängig von anderen Microservices flexibel gestaltet werden können, weil sie miteinander zu kommunizieren im Stande sind. Damit ist Kundenzentriertheit technologisch umsetzbar.

5.4 Voraussetzungen: Was brauchen Unternehmen für R-Commerce?

5.4.2

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Echtzeit-Daten

Skalierbar allein reicht jedoch nicht aus. Noch entscheidender ist, dass die Systemlandschaft echtzeitfähig hinsichtlich Datenverfügbarkeit, Profilbildung und Datenaktivierung wird. Das Ziel muss sein, dass „on entry“ eines Users Wahrscheinlichkeitsmodelle berechnet werden können, um damit alle User nach Kaufwahrscheinlichkeit (Conversion Probability), Absprungrate (Churn Probability) und Bedürfnissen einordnen zu können, und um in Echtzeit passenden Content auf der Webseite oder in der App zu präsentieren. Dies ist die Basis für die Umsetzung des Leitprinzips, den Dialog mit den Usern moment-getrieben zu personalisieren (siehe Abschn. 5.2.4). Damit können im Idealbild an jedem Touchpoint die Bedürfnisse der User verstanden oder vorab antizipiert und darauf personalisiert reagiert werden. Nur wenn dies gelingt, kann auch von echter Kundenzentrierung die Rede sein. Wirklich datengetriebene Unternehmen nutzen Datenerkenntnisse dafür im gesamten Unternehmen, um ihre Kund:innen zu verstehen, zu entwickeln und zu erreichen. Durch das Verständnis und die Nutzung der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen können Unternehmen das „Jetzt“ viel besser managen und gleichzeitig eine viel klarere Vision in die Zukunft für kundenzentriertes Vorgehen entwerfen. R-Commerce und der Fokus auf Echtzeitdaten werfen unweigerlich Prozessfragen auf und müssen zu einer neuen Data Governance führen. Neben der strengen Einhaltung aller rechtlichen Vorgaben sind Verantwortungsbewusstsein, nachhaltige Wertschöpfung, Offenheit und Transparenz entscheidende Elemente davon. Denn in einem Unternehmen arbeiten viele Menschen in unterschiedlichen Abteilungen und Teams mit verschiedenen Fähigkeiten und Erfahrungen zusammen. Ihr gemeinsames Ziel ist das Erreichen der gesamtunternehmerischen Ziele. Dazu bedarf es einer gewissen Demokratisierung der Daten. Das heißt nichts anderes, als dass die relevanten Daten allen Mitarbeitenden vom Sales bis zum Service zur Verfügung stehen müssen. Nur so sind sie in der Lage, eigenständig Entscheidungen zu treffen, die auf die übergeordneten Vorgaben einzahlen. Daten sind nicht länger Geheimwissen, sondern stehen allen zur Verfügung. Der Einfluss eines solchen Paradigmenwechsels auf die Organisation ist offensichtlich. Das führt zu dem dritten großen Faktor, der für eine erfolgreiche Umsetzung einer neuen Business-Philosophie erforderlich ist.

5.4.3

Datenzentrierte Organisation

Daten sind als Entscheidungsgrundlage der richtige Anfang, genügen aber nicht. Zusätzlich brauchen Organisationen die Fähigkeit agil zu agieren, um schnell auf Veränderungen zu reagieren. Forrester nennt ständige Veränderung als die neue Norm in der modernen Welt (Avidon, 2021). Anpassungsfähigkeit ist demnach die zentrale Eigenschaft für Unternehmen. Aber was bedeutet dies für Organisationen? Wie wird man anpassungsfähig?

128

5 R-Commerce als Transformation der Kundenbeziehung

Konkret geht es bei den organisatorischen Voraussetzungen vor allem um die Offenheit, eine agile Organisation zu werden, interdisziplinäre Teams zu bauen, sowie klare Zielstellungen zu definieren, die miteinander synchronisiert sind und nicht zueinander im Konflikt stehen. Bildlich gesprochen (auch, wenn Fußball-Vergleiche generell reichlich abgedroschen sind): Die Mitarbeitenden müssen ein Fußballteam werden, in dem jede:r die eigene Spielposition kennt und weiß, dass das übergeordnete Ziel (Tore schießen, Siege feiern, Turniere gewinnen) nur gemeinsam erreicht werden kann – die beste individuelle Passquote oder die längste Laufstrecke aller Spieler:innen in 90 min macht niemanden zum Weltmeister. In Unternehmen ist das nicht anders: Hier dient ein etwas differenzierteres KPI-/CPI-Framework dazu, Teams auf das gemeinsame Ziel einzuschwören, um es schlussendlich zu (über)treffen. Gelingt dies, profitieren alle. User erleben ihre Beziehung zu einem Unternehmen jedoch nicht als eine Reihe kleinerer Interaktionen (gesteuert von jeweils unterschiedlichen Teams), sondern als einen fortlaufenden Dialog. Hand-in-Hand zu arbeiten ist deshalb der Schlüssel für ein nahtloses, einheitliches Erlebnis für Kund:innen. Dieses bleibt so lange unmöglich, wie die Neukundenansprache losgelöst vom Bestandskundendialog entwickelt wird – denn alle Neukund:innen werden nach dem ersten Kauf wie Bestandskund:innen behandelt und erleiden dann oft krasse Brüche in der Kommunikation. Hier schließt sich der Kreis zu den vorgenannten Voraussetzungen Technologie und Daten: Organisationen müssen ihre Mitarbeitenden in die Lage versetzen, ihre Datenkompetenz und -fähigkeiten zu erhöhen,damit diese schnell mit entsprechenden Analysetools arbeiten können. Diese Tools sind speziell dafür ausgelegt, dass Anwender:innen aus Fachbereichen ohne oder mit geringem Support der IT und ohne Entwicklerkenntnisse Zugriff auf die relevanten Datenquellen erhalten. So können sie umfangreiche Auswertungen durchführen und – noch wichtiger – verschiedene Abläufe automatisieren. Alle Mitarbeitenden brauchen für die abgestrebte Durchgängigkeit der Kommunikation einfachen Zugriff auf relevante 360°-Kundendaten, etwa auf häufig in den Warenkorb gelegte Artikel, die letzten E-Mail-Werbeaktionen, oder frühere Supportinteraktionen, um individuelle Präferenzen, Bedürfnisse und Entscheidungskontexte gezielt zu verstehen. Um diesen Kulturwandel zu fördern, müssen Unternehmen groß denken, aber klein anfangen: Oberstes Ziel ist, zunächst das Vertrauen in Daten herzustellen, um dann die Daten in allen Abteilungen verfügbar zu machen. Bei alledem ist essenziell, dass bei jeder Analyse immer die Frage gestellt wird: Was ist das Bedürfnis hinter dem in den Daten erfassten Verhalten? Organisatorisch muss sich ein Unternehmen daher entlang des „Full Funnels“ aufstellen: Es darf keine Silo-Betrachtung einzelner Phasen des Funnels geben, in Folge derer der Kundenservice nicht weiß, was das Kampagnenteam versprochen hat und die Business Intelligence Unit den geplanten Sales-Push nicht kennt. Übergreifende Zusammenarbeit entlang des gesamten Funnels und der unterschiedlichen Teams muss systematisch und institutionell gefordert und gefördert werden. Die Themen Daten und Kund:in müssen im Organigramm prominent durch explizite Rollen im Management

Literatur

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verankert werden – zum Beispiel in Form eines Architekturgremiums als qualitätssichernder „Schleusenwärter“, der in einer datenzentrierten Organisation über den Data Lake als zentrale Datenquelle wacht. Wie das machbar ist, erklärt Abschn. 6.1.

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6

Der R-Commerce-Fahrplan: Wege zur datengetriebenen Kundenzentrierung

Zusammenfassung

Nachdem das Ziel, die Leitprinzipien und die Voraussetzungen beschrieben sind, widmet sich dieses Kapitel der konkreten Umsetzung der Transformation. Diese findet auch drei Ebenen statt: der technologischen, der datenstrategischen und der organisatorischen. Schritt für Schritt wird beschrieben, wie eine Customer Data Platform zum technologischen Dreh- und Angelpunkt der beziehungsorientierten Kundenansprache wird, wie sich unter den neuen erschwerten Bedingungen noch Vertrauen und aussagekräftige Datenspuren aufbauen lassen und wie die Unternehmenskultur, Rollen und Aufgaben verändert werden müssen. Vorab: Dieser Weg ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Die Mission, Identity-Graphen aufzubauen und eine psychologisch fundierte Trigger-Architektur zu entwickeln, um Kund:innen mit der richtigen Botschaft zur richtigen Zeit zu erreichen, ist so anspruchsvoll wie alternativlos. Dabei unterstützt dieses Kapitel als praxisorientierter Leitfaden.

In den vorherigen fünf Kapiteln hat dieses Buch den Status Quo von Sales und Marketing im E-Commerce seziert und strukturiert den Bedarf einer neuen Business-Philosophie hergeleitet – verändertes Kundenverhalten, neue rechtliche Rahmenbedingungen und technologische Umwälzungen sind die wesentlichen Treiber davon. Das neue beziehungsorientierte und datengetriebene Marketing wird als R-Commerce beschrieben. Um dieses Konzept umzusetzen, müssen Unternehmen fünf Leitprinzipien etablieren: Privacyfirst, echte Kundenzentrierung, datenbasiertes Handeln, Moment-getriebenen Dialog und Nachhaltigkeit. Gelingt dies, fließen Informationen innerhalb des Unternehmens flüssiger zwischen Abteilungen, die Mitarbeitenden sehen das große Ganze, sind motiviert und fachlich wie technisch in der Lage, User in den Mittelpunkt ihres Tuns zu stellen. Diese wiederum schätzen die Bemühungen um ihre Interessen und honorieren sie mit © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Stalph et al., R-Commerce, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42054-3_6

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der Bevorzugung von R-Commerce-Unternehmen sowie mehr Loyalität. Das Marketing schwingt sich zu bisher unbekannter Effektivität und Effizienz auf. Doch vor dem Lohn kommt die Arbeit: Die Umsetzung der fünf R-CommerceLeitprinzipien bedeutet eine strukturierte Transformation, die auf den drei Ebenen Technologie, Datenmanagement und Organisation gesteuert werden muss. Den Fahrplan hin zum R-Commerce-Unternehmen beschreibt dieses Kapitel. Es basiert auf konkreten Erfahrungswerten von diversen Beratungsprojekten der Autoren aus E-Commerce, Telekommunikation, sowie Versicherung und Finanzen. Diese und weitere Branchen befassen sich derzeit intensiv mit der Suche nach einem neuen Betriebsmodell für das Marketing in der Post-Cookie-Ära und haben es teilweise bereits in einem beziehungsorientierten Mantra gefunden. Dieses Buch über R-Commerce stellt jedoch keine Blaupause dar und bleibt bewusst auf der Ebene übergeordneter Projekte. Denn wie ein Unternehmen die einzelnen Schritte mit Leben füllt, hängt von seinen Zielen, seiner Positionierung im Markt, seinen Usern und seinen Mitarbeitenden ab – all das lässt die konkrete Ausgestaltung der Schritte sehr individuell werden – genau wie die Kommunikation im R-Commerce.

6.1

Technologien als Enabler der Kundenbeziehung

To Do’s

• CRM-System auf den aktuellen Stand bringen und als wichtige Datenquelle verstehen • CDPs evaluieren und Datenarchitektur definieren • Datenquellen bestimmen In einem Punkt herrscht inzwischen Konsens: Das Fundament aller Kundenbeziehungen sind solide und fortwährende Informationen über die User – in Form von Daten. Ohne Daten bleibt vollkommen unklar, welche Ansprache User bevorzugen, welche Inhalte sie interessieren, auf welche Trigger sie reagieren. Man kann sich viele Gedanken machen, wird aber nicht über vage Hypothesen hinauskommen – gerade in Zeiten zunehmend komplexer Customer Journeys, in denen die User spontaner und unvorhersehbarer agieren denn je. Es wird also immer schwieriger für Unternehmen, die Bedürfnisse ihrer User zu kennen und zu antizipieren. Durch die zunehmende Komplexität der Customer Journeys wächst auch die Anzahl der Kundensignale (Touchpoints) über die unterschiedlichen Kanäle. Um diese Komplexität handhaben zu können führt kein Weg an state-of-the-art Technologien vorbei, ein elementarer Baustein im R-Commerce-Fahrplan.

6.1 Technologien als Enabler der Kundenbeziehung

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Die zentrale Anforderung an die eingesetzten Technologien ist es, alle diese Signale nicht nur zu erfassen, sondern auch zusammenzuführen. So wird ein holistisches Kundenprofil generiert und die Grundlage eines kundenzentrierten Vorhabens aufgebaut. Die Systeme müssen in der Lage sein, in Echtzeit oder zumindest nahe Echtzeit, mit den Kanälen der Kundenansprache konnektiert zu sein, um so intentionsbasierte Kundenerlebnisse möglich zu machen.

6.1.1

Die technologische Revolution

Das grundlegende Problem in den Unternehmen bei ihrem Vorhaben, datengetrieben zu werden, liegt darin, dass Daten in unterschiedlichen Quellen liegen und nicht miteinander kombiniert werden. Von der Fähigkeit, diese in Echtzeit zu nutzen, soll zunächst noch nicht einmal die Rede sein. Die eingesetzten Technologien haben bis dato nur bruchstückhafte Einblicke des Kundenverständnisses gewährt, aber nie ein holistisches, zusammenhängendes Kundenbild erzeugt. Jede Technologie hat ein Silo abgebildet und unterschiedliche Maßnahmen der Kundenansprache ausgelöst. Kommunikation ist damit nicht ko-orchestriert, sondern inflationär. Abnehmende Conversion Rates, hohe Streuverluste und genauso hohe Maintenance-Kosten der Technologien führen jedoch klar erkennbar zu einem technologischen Umdenken, beschleunigt von der Post-CookieÄra. Dieser Abschnitt gibt Hilfestellung und zeigt, welche Technologien Unternehmen jetzt unbedingt benötigen, um die Daten verarbeiten zu können, die für die neue Kundenbeziehung relevant sind. Das übergeordnete Ziel ist daher der Aufbau eines neuen Tech-Stacks, in dem alle Technologien miteinander kommunizieren und das gemeinsame Ziel verfolgen, Datenquellen zu verbinden und ganzheitliche Kundenprofile zu schaffen: Eine umfassende Modernisierung aller technologischen Vorhaben mit dem Ziel der Kundenzentrierung und der Effizienzsteigerung. Der erste Schritt beginnt mit dem Ersetzen oder Ergänzen gängiger CRM-Lösungen.

6.1.1.1 Vom CRM zur DMP Seit vielen Jahren nutzen Marketingspezialist:innen bereits ein Customer Relationship Management, kurz CRM – ein System, das grundlegende Kundeninformationen wie Namen, Telefonnummern, sowie die Transaktionshistorie von Käufen und ServiceAnfragen zu Produkten und Angeboten speichert. Über die Käufe und demografische Daten haben Unternehmen Kundenprofile entwickelt, die für die Ansprache von Bestandskunden genutzt werden konnten. In der Regel haben Unternehmen ihr CRM in eine Marketing-Automation-Plattform integriert, um diese Daten sinnvoll verwenden zu können und maximale Ergebnisse zu erzielen. Doch mit einem CRM stoßen Unternehmen heute schnell an ihre Grenzen. Denn ein CRM ist nicht dafür ausgelegt, eine Vielzahl von Daten aus verschiedenen Quellen zu verarbeiten, vor allem nicht in Echtzeit. Und

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schon gar nicht eignet sich ein CRM dafür, neue unbekannte User anzusprechen. Unternehmen, die auf die neuen Gegebenheiten der Post-Cookie-Ära reagieren und sich nicht nur auf die Ansprache vorhandener Kund:innen limitieren wollen, kommen daher um eine technologische Weiterentwicklung nicht herum. Diese Erkenntnis eröffnete erwartungsgemäß zügig den Raum für neue Systeme: Etwa in den Jahren 2014–2015 entwickelte sich die Data Management Platform, abgekürzt DMP, zu einem neuen Zaubermittel, um Marken zu helfen, näher an ihre (unbekannten) User heranzurücken als es bisher mit einem CRM möglich war. Die Plattform sammelt nur anonyme Daten aus verschiedenen Quellen, einschließlich Cookies, Geräte-ID, mobile Werbe-ID, etc. Diese Daten werden aggregiert, bereinigt und zu einem einzigen Kundenprofil kombiniert. So strukturiert werden die Daten anschließend anderen Marketingsystemen zur Verfügung gestellt und auf digitalen Werbeplattformen oder internen Marketingkanälen verwendet. Eine DMP-Lösung wird immer eingesetzt, um gänzlich unbekannte Profile anzusprechen. Dazu erarbeitet sie die wichtigsten Zielgruppen und liefert diese an Advertising-Plattformen, beispielsweise für die Ansprache von Lookalike Audiences (statistische Zwillinge). Lookalike Audiences basieren auf bestehenden Zielgruppen. Zur Erstellung einer Lookalike Audience werden anhand von Informationen wie demografischen Angaben, Interessen und Verhaltensweisen der Ausgangszielgruppe neue Zielgruppen, die ähnliche Merkmale aufweisen, gesucht. Die DMP arbeitet basierend auf Cookie Informationen und kann keine personenbezogenen Daten verarbeiten. Somit ist eine DMP für eine personalisierte Bestandskundenansprache keine Lösung. Doch genau diese rückt mehr und mehr in den Fokus, wenn es darum geht, eine feste Beziehung zu Usern zu etablieren – oder anders formuliert: Wenn es darum geht, R-Commerce umzusetzen. Die Entwicklungen der letzten Jahre – Stichwort DSGVO und Ad-Blocker – haben die Funktionsweise von DMPs inzwischen zusätzlich enorm eingeschränkt. Privacy First, das Unterdrücken der Third Party Cookies und die gesetzlichen Regulierungen führen dazu, dass immer weniger Daten gesammelt werden können. Spätestens 2024 ist das Schicksal anonymer Verhaltensdaten und der zugrunde liegenden Identifikatoren und Technologien besiegelt. Denn dann macht auch Google ernst und stoppt endgültig die Unterstützung von Cookies im Chrome-Browser (siehe Abschn. 4.4). Damit stellt sich die Frage, welche Existenzberechtigung DMPs noch haben. Und das beflügelt schließlich die Verbreitung und den Einsatz einer neuen Gattung an Technologien: die Customer Data Platforms (CDPs).

6.1.1.2 Der Aufstieg der CDP-Lösungen Eine Kundendatenplattform, üblicherweise als CDP bezeichnet, ist ein System, das darauf ausgelegt ist, Kundendaten aus allen Quellen zu sammeln, zu normalisieren und einzigartige, einheitliche Kundenprofile zu erstellen. Wäre die CDP ein Künstler, würde er Papierfetzen, Farbe, Holz und Plastik und alle möglichen weiteren Stoffe und Materialien sammeln, um daraus ein beeindruckendes Mosaik-Kunstwerk zu erschaffen. Das Ergebnis

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dieser Datenintegration ist eine dauerhafte, einheitliche Kundendatenbank, die Daten und Kundenprofile mit anderen Marketing-Technologien teilt. Die Idee einer einheitlichen Sicht auf die User steht seit Jahren auf den Wunschlisten von Werbetreibenden. Aber erst die globale Covid19-Pandemie mit dem brachialen Wachstum digitaler Kommunikations- und Vertriebskanäle zeigte mit aller Klarheit die Bedeutung genau dieser Art von Lösungen auf. Die Pandemie hat die Verlagerung von Kundeninteraktionen – sowohl im B2B als auch B2C – in digitale Kanäle vorangetrieben und zu deutlich mehr (messbaren) Kundenkontaktpunkten geführt. Werbetreibende Unternehmen interessieren sich spätestens seitdem zunehmend für Technologien, die Daten geräteübergreifend aus Interaktionen in verschiedenen Kanälen sammeln, sie vereinheitlichen, Erkenntnisse liefern und eine Kampagnen-Orchestrierung ermöglichen. Da erscheinen CDPs als Retter in der Not, denn sie bieten die Konsolidierung und Normalisierung aus den verschiedenen Datentöpfen und stellen die Datenprofile, die Kampagnen, Website-Tracking und andere Interaktionen auch anderen Systemen zur Verfügung. Aufgrund dieser eindrucksvollen Fähigkeiten ist es also kein Wunder, dass die CDPs die Aufmerksamkeit der werbetreibenden Unternehmen auf sich gezogen haben. Abb. 6.1 zeigt die zentrale Rolle von CDPs in modernen Systemlandschaften, um Daten aus verschiedenen Quellen zu prozessieren und für die Aktivierung aufzubereiten.

Abb. 6.1 Aufbau einer Customer Data Platform

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6.1.1.3 Aufgaben für das CRM und für die CDP-Lösung Um R-Commerce in die Praxis umzusetzen, brauchen Unternehmen sowohl ein CRM als auch eine CDP. Doch wo genau liegen nun die zentralen Unterschiede zwischen einem CRM und einer CDP? Lässt sich ein vorhandenes CRM-System nicht auch für die Zwecke einer CDP einsetzen? Ein CRM-System wird am besten eingesetzt, um die 1-zu-1-Interaktionen mit allen bekannten Usern zu optimieren. Weiß ein Unternehmen zum Beispiel, dass eine Kundin Walt-Disney-Socken kauft, kann es Kampagnen entsprechend optimieren und beispielsweise mit Mickey Mouse als Visual arbeiten. Wenn ein Kunde jedoch „unbekannt“ ist – weil er entweder zum allerersten Mal auf einer Website vorbeisurft oder weil er wegen unterdrückter Cookies nicht erkannt wird – kann ein CRM ihn weder identifizieren noch mit ihm interagieren. Es wird daher auch kein Visual der smarten Maus ausspielen. Ein CRM ist nicht darauf ausgelegt, Daten in Echtzeit aus beliebigen Quellen aufzunehmen oder mit anderen Systemen zu teilen. Um im Beispiel zu bleiben: Weil eine Kundin sich bislang nie für Walt-Disney-Produkte interessiert hat, kann ein Marketer nicht ahnen, dass genau das heute der Fall ist. Das CRM hält nämlich keine Daten bereit, die den Moment abbilden, also Echtzeitdaten. Das CRM erfasst vor allem Daten, die in der Vergangenheit liegen. Daten, die ein CRM speichert, werden üblicherweise nicht in einem Single-Customer-View-Prozess verarbeitet, sodass die Datensätze nicht bereinigt, dedupliziert (das heißt um Redundanzen bereinigt) und normalisiert (also strukturiert) werden. Dies macht es sehr schwierig, einen Überblick über die gespeicherten Informationen zu erhalten. Viele Unternehmen wissen es vielleicht aus eigener Erfahrung: Die Datenqualität ist oft ein Problem. Ganz anders steuert eine CDP die Angelegenheit: Eine CDP kann User aus mehreren Datenquellen identifizieren und alle diese Daten durch einen Prozess der Bereinigung vereinheitlichen, um eine einzige Kundenansicht über Millionen von Datensätzen zu erstellen. Es ist wie eine Fahrt durch die Waschstraße: Vorher lässt sich nicht einmal das Nummernschuld eines Autos lesen, nach dem Waschgang erkennt man sogar, ob der Fahrer ein blaues Jacket trägt. Technischer ausgedrückt: Interaktionsdaten der User aus unterschiedlichen Kanälen wie beispielsweise App, Website, Social Media, E-Mail, Umfrage, Callcenter oder im physischen Laden werden zu einem eindeutigen Kundenprofil zusammengeführt und gegebenenfalls noch um Unternehmensdaten, beispielsweise aus Vertriebs-, Finanz- oder Logistiksystemen, angereichert. Denn User interagieren über unterschiedliche Kanäle: Sie recherchieren online, vergleichen Preise, lesen Bewertungen auf Websites, lassen sich von Influencern inspirieren und sehen sich Videos an, bevor sie eine Kaufentscheidung treffen. Doch damit nicht genug: Um User möglichst personalisiert ansprechen zu können, sorgen CDPs auch dafür, Zielgruppen datenbasiert zu segmentieren. Das ist natürlich nur möglich, wenn die Kund:innen ihre Einwilligung zur Datenverarbeitung, den sogenannten Cookie Consent, gegeben haben. Abb. 6.2 zeigt Stärken und Schwächen der verschiedenen Systeme noch einmal in der Übersicht.

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Abb. 6.2 Stärken und Schwächen von MarTech-Systemen

In der Praxis sieht der Unterschied folgendermaßen aus: Ein CRM-System unterstützt eine episodenhafte Kommunikation. Bei einem Mode-Retailer kaufen die User beispielsweise im Schnitt vier Mal pro Jahr ein. Ergo schickt der Händler alle drei Monate einen Newsletter – bei schönem Wetter und guter Laune vielleicht noch mit einem Gutschein. Denn er weiß, dass nach drei Monaten der nächste Kauf fällig ist und versucht, mit dem Gutschein, die antizipierte Kaufabsicht zu triggern. Ein anderer Aufhänger für die episodenhafte Kommunikation wäre der Saisonwechsel, also Frühjahrs- versus Sommermode. Doch egal, welchen Aufhänger das Unternehmen heranzieht – es dreht sich immer um die Produkte des Unternehmens und deren Abverkauf. Die ganze (Inter-)Aktion ist transaktionsfokussiert. Das Unternehmen interessiert sich in der Regel kaum für die User und deren aktuelle Bedürfnisse. Ironischerweise ist dieses Problem genau genommen erst mit der Verbreitung von CRM-Systemen entstanden. Ein CRM-System ist schließlich dafür da, die Beziehungen und Interaktionen einer Organisation mit bestehenden Usern zu optimieren. Es hilft dabei, Kundenprozesse zu verbessern und die Rentabilität zu steigern. Eine CRM-Lösung wird vorwiegend von Call Center, Marketing und Vertrieb genutzt, um periodisch Kundenaktionen zu triggern. Allerdings ist der CRM-Ansatz statisch. Heute brauchen Unternehmen jedoch viel flexiblere Technologien. Das „R“ im Begriff CRM – das für Relationship steht – erscheint aus heutiger Sicht eher wie ein Feigenblatt. Von „Relationship“ bzw. Beziehung kann eigentlich keine Rede sein – zumindest nicht in dem tiefen Begriffsverständnis dieses Buchs. Für ein erfolgreiches kundengetriebenes Marketing im Sinne des R-Commerce ist eine Re-Evaluation der Systemlandschaft folglich mehr als erforderlich. Der neue Star am

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Marketinghimmel, ist die CDP. Sie spielt in einer cookielosen Ära in Zukunft die zentrale Rolle und schiebt das CRM als zentrales Element ein wenig zur Seite. Die neue Architektur ist eine Weiterentwicklung bestehender CRM-Lösungen und der CDP als Nukleus der zukünftigen Dateninfrastruktur. Denn damit schaffen die Unternehmen den Sprung von der produktorientierten episodenhaften Kommunikation hin zu einer kontinuierlichen, auf Vertrauen und Beziehung fußenden Kommunikation. Unternehmen suchen nach Technologien, die es ihnen ermöglichen, mit den Usern in Echtzeit zu kommunizieren. Nur wer in Echtzeit den Kontakt pflegt, kann einen wirklichen Dialog beginnen – einen Dialog, der nicht der Selbstinszenierung der Marke oder des Onlineshops dient, sondern der die akuten Wünsche und Sehnsüchte der Menschen da draußen bedient. Die CDP kümmert sich darum, dass CRM-Daten kontinuierlich angereichert werden mit den vielen, ständig wechselnden Aktivitäten der User. Kommen sie gerade von der Website von Greenpeace? Sehen sie sich nun nachhaltige Outdoorjacken an? Wie weit sind sie im Funnel? Stehen sie kurz vor dem Kauf oder brauchen sie noch Inspiration? Erfolgreiche Unternehmen sehen genau hin und fragen sich: Was machen die User eigentlich, wenn sie auf der Website surfen? Wie oft sind sie auf der Website? Welche Produkte sehen sie sich an? Denn nur auf Basis dieser Daten, die in Echtzeit analysiert werden, können Unternehmen ihre User richtig ansprechen. Und auch nur wenn diese Informationen genutzt werden, kann per Newsletter das richtige Incentive verschickt werden. Hat sich ein User schicke Anzüge angesehen, macht es wenig Sinn, ihm einen Gutschein für Badelatschen zu schicken. Und wenn jemand stundenlang durch die Schuhabteilung gescrollt ist, macht höchstwahrscheinlich ein 10-%-Rabatt für eine neue Gartenschere nicht wirklich glücklich. One-size-fits-all hat bei der Kundenkommunikation endgültig ausgedient. Kund:innen wollen individuelle Botschaften in den verschiedenen Phasen ihrer Kaufentscheidung, angepasst auf das Medium, das sie gerade nutzen und die Historie, die für diese Kundin oder diesen Kunden vorliegt. Dafür ist die Produktion von unzähligen Variationen und die automatisierte KI-basierte Ausspielung über digitale Plattformen in Echtzeit nötig. Genau deshalb braucht es eine CDP. Denn Unternehmen müssen weg von statischen Lösungen hinzu dynamischen EchtzeitVerfahren wie sie CDPs bieten. Um sie herum wird das Kundenverständnis aufgebaut. Die CDP ist der zentrale technische Baustein eines echten Paradigmenwechsels in einem multidimensionalen Kontext.

6.1.2

Kernfunktionalitäten einer CDP

Eine Customer Data Platform agiert als Marketingsystem, das die Kundendaten eines Unternehmens aus dem Marketing und anderen Kanälen zusammenführt, um die Kundenmodellierung und Profilbildung zu ermöglichen, sowie das Timing und die Kundenansprache zu optimieren. Eine CDP erstellt ein vollständiges Profil von allen individuellen

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Kund:innen durch das Sammeln und Verknüpfen von First Party Daten mit individuellen Profilen. Sie sind gebrauchsfertige Lösungen, die es Abteilungen ohne hohe technische Ressourcen oder Fähigkeiten wie dem Marketing ermöglichen, diese Daten sofort nach der anfänglichen technischen Implementierung und Einrichtung zu verwalten, zu analysieren und zu nutzen. Die Funktionen aller CDPs, unabhängig vom Anbieter, können in drei Hauptkernfunktionen eingeteilt werden (siehe auch Abb. 6.1 in Abschn. 6.1.1.2), die im Folgenden vorgestellt werden: Daten-Unifizierung, Daten-Prozessierung, Datenaktivierung. Daten-Unifizierung Die erste Aufgabe einer CDP besteht darin, Daten, Eingaben und Informationen aus jeder Quelle zu sammeln, die Kundendaten generiert oder speichert. Um sie bei dieser Aufgabe zu unterstützen, verwenden CDPs einfach zu implementierende Konnektoren, die Ihnen bei der Integration dieser Daten helfen. Durch diese Integrationen kann eine CDP etwa folgende Daten sammeln (Auswahl): • Allgemeine Kundenattribute: Dazu gehören Namen, Adressen, Kontaktdaten und Geburtstage. • Transaktionsdaten: Einkäufe, Retouren und andere Informationen aus E-Commerceoder POS-Systemen, sowohl online als auch im Geschäft. • Kampagnenkennzahlen: Engagement, Reichweite, Impressionen und andere Kennzahlen aus Kampagnen auf allen Werbeplattformen und -kanälen. • Weitere Kundenattribute: Live-Chat-Daten, Anzahl und Dauer der Interaktionen, Häufigkeit, Loyalitätsstatus, NPS-Scores, andere Daten aus CRM-Systemen. • Ereignisse: Verhaltensdaten, die sich aus den Aktionen eines Benutzers in einer Sitzung auf einer Website, in einer App, einem mobilen Browser oder Interaktionen mit Wearables und IoT ergeben. • Prognosen: Fortgeschrittene CDPs können darüber hinaus auf maschinellem Lernen basierende Vorhersagen speichern, z. B. über die Kaufwahrscheinlichkeit. Nach dieser Datenaufnahme ist es wichtig, eine anfängliche technische Einrichtung durchzuführen, um die Regeln und Prozesse zu definieren, die die CDP benötigt, um die Daten angemessen zu bereinigen und umzuwandeln oder anzureichern. Wenn dies erledigt ist, erfordert die CDP wenig technische Wartung, um diese Aufgaben auszuführen, und die Kundendaten werden bequem in einer einzigen Quelle der Wahrheit gespeichert. Die Daten, die aus dieser „Single Source of Truth“ stammen, sind vertrauenswürdig und werden so verarbeitet, dass sie zu individuellen Kundenprofilen vereinheitlicht werden können. Alle diese Datenpunkte aus dem individuellen Profil ermöglichen es, einen mehrfach auf der Website surfenden User als ein und dieselbe Person zu identifizieren. Dazu gehören sowohl Kund:innen, die einen Artikel gekauft haben, als auch neue User, die online einen Artikel in den Warenkorb gelegt haben, nachdem sie eine Anzeige gesehen haben. Die

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Kenntnis aller Touchpoints der Customer Journey, mit denen jemand interagiert, bietet auch Einblicke in die Interessen: Sie verraten, was jemand wahrscheinlich als nächstes kaufen wird oder ob diese Person einen persönlichen Rabatt benötigt, um sie nach einiger Zeit der Inaktivität wieder zu aktivieren. Daten-Prozessierung Sobald die CDP die Daten aufgenommen und in individuellen Profilen vereinheitlicht hat, können sie analysiert werden. Die analytischen Fähigkeiten von CDPs ermöglichen mehrere Arten von Analysen: • Detaillierte Kundenanalysen: Dieser Anwendungsfall ermöglicht eine eingehende Datenanalyse des aktuellen Kundenstamms, um mehr über Vorlieben und Eigenschaften der treuesten Kund:innen herauszufinden. Mit diesem Wissen können Neukundengewinnungsmaßnahmen effektiver geplant und umgesetzt werden. Außerdem lassen sich hochwertige Kund:innen identifizieren und belohnen oder für unterversorgte Kund:innen Maßnahmen zur Steigerung des CLV entwickeln. • Audiences bilden in Echtzeit: User, die bestimmte Attribute gemeinsam nutzen, können in Echtzeit zu relevanten Audiences zusammengefasst bzw. segmentiert werden. Auf diese Weise lassen sich spezifische Zielgruppen für Kampagnen erstellen und die Botschaften unter Berücksichtigung ihrer gemeinsamen Werte, Ziele oder Vorlieben gestalten. • Cross-Channel Customer Journey Analytics: Eine CDP liefert Erkenntnisse darüber, welches die profitabelsten Kanäle sind, um Kund:innen zu gewinnen und zu binden. Man findet außerdem heraus, welche Touchpoints am meisten zum Wachstum des Umsatzes beitragen und welche unterdurchschnittlich abschneiden, damit man sie verbessern kann. Datenaktivierung Nachdem die CDP die Daten aus anderen Systemen und Kanälen aufgenommen, sie zu individuellen Kundenprofilen vereinheitlicht und auf eine Weise analysiert hat, die entweder tiefere Kundeneinblicke gewährt, oder zielgerichtete Kundensegmente erstellt, startet die Aktivierung in den unterschiedlichen Kanälen. Hier können diverse Ansätze für eine Full-Funnel-Ansprache erfolgen: Von der Umsetzung von Use Cases im Retargeting bei Usern, die die Website bereits besucht haben, bis hin zu Use Cases für die Optimierung der Bestandskundenansprache durch Cross- und Upselling-Kampagnen, ist die CDP der Dreh- und Angelpunkt aller Kommunikationsmaßnahmen. Im Sinne eines kundenzentrierten Vorhabens empfiehlt sich, dass Unternehmen ihre Kommunikation mit Hilfe einer CDP ko-orchestrieren, indem eine sinnvolle Abfolge aller Maßnahmen je Audience erfolgt. CDPs bieten die Möglichkeit, bei der Aktivierung audience-spezifische Customer Journeys aufzubauen und eine sequentielle Kanalansprache möglich zu machen. Abb. 6.3 zeigt die konzeptionelle Ko-Orchestrierung, eine Art Ablaufplan, über welche Kanäle der User basierend auf seiner initialen Aktion, kontaktiert wird. Kanäle und Timings sind hier eng

6.2

Das neue Datenmanagement

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Abb. 6.3 Ko-orchestrierte Datenaktivierung

aufeinander abgestimmt. Tonalität und Inhalt der Kommunikation werden wiederum stark von der Art der Aktion und den zur Verfügung stehenden Daten und Informationen über den User beeinflusst.

6.2

Das neue Datenmanagement

To Do’s

• • • • • •

Entwicklung einer Zero/First Party Data Strategie Identity Graph erstellen Transaktionsdaten und Onsite-Bewegungsdaten analysieren Prognosen wagen Datenbasierte Personas definieren Umgebungskontext der Entscheidung verstehen und geeignete Behavior Patterns ableiten • User intentionsbasiert ansprechen: Gestaltung von Audiences auf Basis des Customer Lifetime Value (CLV) • Customer Journey neu definieren in Form von „Moments“ auf allen Kanälen

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Die Art und Weise, wie in der Vergangenheit mit den Daten der User im Online-Business umgegangen wurde, hat für die jüngsten Umwälzungen in der digitalen Industrie gesorgt und auch für ein zunehmendes Misstrauen der User gegenüber werbetreibenden Unternehmen. Gleichzeitig wissen die User zu schätzen, dass das Teilen von Daten zu Produkten und Dienstleistungen führen kann, die ihr Leben einfacher und unterhaltsamer machen, sie aufklären und ihnen Geld sparen. Unternehmen, die es verstehen, das Vertrauen der User zurückzugewinnen, werden die Taktgeber in der neuen Ära des R-Commerce sein. Der Weg dahin führt über Zero- und First Party Daten (denn Third Party Daten stehen ja nicht länger zur Verfügung). Und so müssen sich Unternehmen vor allem auf eigene Daten verlassen, die User explizit teilen, um ihre User näher kennenzulernen. Eigene First Party Daten haben einen entscheidenden Vorteil: Sie sind zuverlässiger, von höherer Qualität, kostengünstiger und vor allem eines: DSGVO-konform. Der größte Vorteil liegt also in einer größtmöglichen Sicherheit und Kontrolle – kein schlechtes Argument in Zeiten von Privacy first. Um solche Datenerhebungs- und -aktivierungsstrategien geht es beim „neuen Datenmanagement“.

6.2.1

Daten gewinnen

First Party Daten waren schon immer die wertvollste Art von Daten, über die ein Unternehmen verfügt. Die Omnipräsenz der Cookies hat deren Bedeutung temporär verschleiert und dafür gesorgt, dass Unternehmen den Fokus verlagert und die Datenhoheit aus der Hand gegeben haben. Jetzt entdecken viele Unternehmen die Macht dieser Daten neu. Und auch der Charme von Zero Party Data wird immer deutlicher. Zero Party Data werden von Usern aktiv, bewusst und willentlich mit dem Unternehmen geteilt, weil sie sich konkrete sofortige Verbesserung des Nutzungserlebnisses oder Informationen erhoffen.

6.2.1.1 First Party Daten First Party Daten sind Daten, die Unternehmen direkt von den Kunden und Zielgruppen durch Interaktionen mit ihnen sammeln. Dazu gehören demografische Daten, Kaufhistorie, Website-Aktivitäten, Interaktionen, Interessen, mobile App-Daten und Verhaltensweisen – wie z. B. auf eine E-Mail klicken oder das Lesen eines Artikels auf einer Website. Diese Daten werden durch den Verkauf von Produkten und Dienstleistungen, durch Support-Prozesse, Formulare auf der Website, Abonnements, Umfragen, Verbindungen zu sozialen Medien etc. gesammelt. First Party Daten werden in den eingesetzten Systemen der Unternehmen gespeichert: im CRM, in der Marketing-Automatisierungsplattform, in Call-Center-Systemen und in anderen Vertriebs-, Support- und Marketinganwendungen. First Party Daten sind die Grundlage für ein allumfassendes Kundenverständnis. Der erste Schritt erfolgt durch das Einreichen des Consent – der Zustimmung zur Nutzung von Cookies. Es ist der erste Anhaltspunkt des aufkeimenden Vertrauens. Aber

6.2

Das neue Datenmanagement

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diese Zustimmung ist noch lange nicht gleichbedeutend mit einer Kundenbeziehung. Der Beweggrund der User beim Consent ist vielmehr und sehr oft der Wunsch, schnell einen Kaufvorgang abzuschließen oder an Informationen zu kommen. Es geht dem User weniger darum, mit dem Unternehmen in Dialog zu treten. Ein Cookie Consent ist also offensichtlich noch kein „Ja“ zu einer Beziehung. Erst wenn User proaktiv ihre personenbezogenen Informationen hinterlassen, ist der Aufbau einer Beziehung in Sicht. Der Schritt aber vom Consent zum Login als echter Vertrauensbeweis, den ein User machen kann, ist nicht trivial. Unternehmen müssen hierfür aktiv Überzeugungsarbeit leisten und Anreize oder Mehrwerte schaffen bzw. die Entscheidung vereinfachen und als erstrebenswerten Zustand (der es auch tatsächlich sein sollte!) präsentieren. Dabei können Erkenntnisse aus den Behavioral Economics weiterhelfen. Die Grundidee ist, den Entscheidungskontext so zu verändern, dass keinerlei Formen von monetärer „Bestechung“ (das schließt Rabatte und Co. explizit ein) mehr notwendig sind. Bei nicht-monetärer Incentivierung identifizieren sich die User mit dem Unternehmen oder der Marke. Sie schätzen deren Purpose, bewundern die Authentizität oder genießen die Vorteile der Community. Grundlage ist eine intrinsische Motivation, die auf großer Wertschätzung der Marke basiert. Es sind die typischen Love Brands wie Adidas und Nike oder Thermomix, denen es gelingt, User ohne finanzielle Anreize zur Anlage eines Logins zu bringen und damit den Auftakt zu einer kontinuierlichen Kommunikation zu legen. In der Praxis ist zu beobachten, dass solche Interventionen zwar oft wirksam (und dann naturgemäß spektakulär günstig) sind, in bestimmten Situationen oder bei bestimmten Zielgruppen braucht es allerdings auch klassische funktionale Anreize und Incentivierungen wie geldwerte Vorteile. Das zeigt auch eine Untersuchung von BCG (Rodenhausen et al., 2022), die darlegt, dass wiederkehrende aber auch einmalige Rabatte zu den aus Kundensicht wirksamsten Anreizen gehören, persönliche Informationen zu teilen – etwa im Rahmen des Anlegens eines Kundenkontos. Was aber sind konkret effektive Anreize und Nutzenargumentationen für die Anlage eines Kundenkontos? Die beiden beschriebenen Gruppen – monetär vs. nicht-monetär – lassen sich zur besseren Systematisierung mit einem weiteren Merkmal kombinieren: funktional vs. nicht-funktional. Funktionale Nutzenargumente erweitern einfach ausgedrückt die Möglichkeiten, die ein User im Shop hat. Beispiel: Ein Merkzettel als neue Funktion kommt hinzu. Nicht-funktionale Nutzenargumente stellen dagegen ein Upgrade vorhandener Funktionen dar. Beispiel: Vorher war der Kundenservice nur über einen Chatbot erreichbar, nachher steht auch eine persönliche Hotline zur Verfügung. Daraus entsteht dann eine Vier-Felder-Matrix, die in Abb. 6.4 dargestellt wird. Im Folgenden werden die einzelnen Maßnahmen bzw. Nutzenargumente kurz beschrieben.

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Abb. 6.4 Argumente für das Anlegen eines Kundenkontos

Nicht-funktional/monetär • Geburtstagsgeschenk: Einkaufsgutschein zum Geburtstag versüßen registrierten Usern diesen besonderen Tag. • Begrüßungsrabatt: Direkt nach der Anlage eines Kundenkontos findet sich dort ein Gutschein als Begrüßungsrabatt, der sofort eingelöst werden kann. • Kostenlose Lieferung: Für Shops, die ihren User Versandkosten berechnen, können diese registrierten Usern erlassen oder reduziert werden. Funktional/monetär • Bonuspunkte sammeln: Für jeden Einkauf gibt es Bonuspunkte, die gegen attraktive Prämien eingelöst werden können. Außerdem können User Badges erhalten, z. B. wenn sie besonders wenig retournieren. • Zugriff/Discount auf Abos: Immer mehr Digital-Unternehmen versuchen, ein Subscription-Business mit regelmäßigen Erlösströmen aufzubauen. Typische Beispiele sind die regelmäßige Lieferung von Verbrauchsgütern, Abo für Bonusvorteile wie „Amazon Prime“ oder Zugriff auf digitale Produkte wie Video und Podcasts. Diese können für registrierte Kunden exklusiv oder vergünstigt angeboten werden. • Rabatte bei Partnern: Attraktive Rabatte bei Partnern jenseits des eigenen Shops werden nur registrierten Usern angeboten.

6.2

Das neue Datenmanagement

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Nicht-funktional/nicht-monetär • Identifikation: User registrieren sich, um ihre Identifikation mit dem Unternehmen und seinem Purpose, seiner Haltung, seinem Standpunkt auszudrücken. Sie wollen dazugehören und ein Zeichen ihrer Unterstützung senden. • Premium-Kundenservice: Registrierte User erhalten Zugriff auf besondere ServiceFunktionen wie eine VIP-Kundenhotline oder einen Rückrufservice. • CO2 -Kompensation: Sämtliche Aktivitäten von registrierten Usern werden durch sinnvolle Kompensation möglichst klimaneutral gestaltet. • Hochwertiger Content: nützliche, relevante und authentische Inhalte werden bereitgestellt (Blogbeiträge, Mail-Updates, Tipps & Tricks, etc.). • Feedback-Geben: User werden intelligent und an passender Stelle um Feedback gebeten, um zu belegen, dass sie sich aktiv in die Weiterentwicklung des Unternehmens und seines Produktportfolios einbringen können. Funktional/nicht-monetär • Bevorzugter Einlass bei Events: Bei Shopping-Events wie dem Singles Day oder Christmas-Shopping haben registrierte User vor allen anderen die Chance, sich besondere Produkte und Rabatte zu sichern. • Mehr Inspiration: Produktempfehlungen werden auf User passend zugeschnitten, der Suchaufwand beim Entdecken neuer Lieblingsstücke sinkt deutlich. • Exklusive Drops: Limitierte Editionen und Partnerschaften mit Labels werden nur in begrenzter Stückzahl und nur an registrierte User verkauft. • Passende Artikel: Persönliche Präferenzen und Größen können hinterlegt werden. So kann nach „meiner Größe“ oder Updates von Lieblingsmarken gefiltert werden. Was man bereits gekauft hat, ist die Basis für neue Vorschläge. • Gamification: Das Erlebnis für registrierte User wird aufregend und interaktiv gestaltet, inkl. der Möglichkeit, attraktive Rewards zu erhalten. • Merkzettel: Artikel können gemerkt und dauerhaft gespeichert werden, vielleicht ist auch eine Reservierung gemerkter Artikel für einen bestimmten Zeitraum möglich. • Bequemer shoppen: Adress- und Zahlungsdaten sind bereits hinterlegt und müssen nicht neu eingegeben werden. Zielbild Amazon: One-Click-Kauf. • Zusätzliche Zahlungsfunktionen: Zahlung auf Rechnung, Skonto bei Bezahlung per Überweisung, Ratenzahlung/„Buy now, pay later“ werden registrierten User angeboten. Diese Liste ist weder vollständig noch eine Garantie, dass es Digital-Unternehmen in kürzester Zeit gelingt, einen Großteil des Kundenstamms in ein Kundenkonto zu bringen. Doch sie basiert auf gängigen E-Commerce-Best-Practises und alle Vorschläge haben sich mehrfach in der Praxis bewiesen.

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6.2.1.2 Zero Party Data Um sich in Richtung eines R-Commerce-Unternehmens zu transformieren, ist der Aufbau einer First Party Datenstrategie der erste wichtige Schritt, wie das letzte Kapitel gezeigt hat. Denn Daten sind ab sofort die Grundlage jedes unternehmerischen Handelns in der Zukunft. Kein Businessmodell kommt heute oder in Zukunft ohne sie aus. Doch es ist nicht der einzige Schritt: Höchst erstrebenswert ist ergänzend zu den First Party Daten die Generierung von Zero Party Data. Das sind Daten, die User absichtlich und proaktiv mit einer Marke teilen. Es handelt sich um eine Schicht über den anderen Datentypen, die Marketing und Sales normalerweise nutzen. Der feine Unterschied: Bei Zero Party Data sind die User aktiv beteiligt und überlassen einem Unternehmen willentlich und wissentlich ihre Daten. Diese Art der Datenerhebung bedeutet, dass alle Informationen freiwillig gegeben werden und in der Regel zuverlässig sind. Das Sammeln ist nicht invasiv oder verdeckt und ermöglicht es den Usern, ihre Daten auf transparentere Weise zu kontrollieren. Dabei werden User im Rahmen von mehrwertstiftenden Interaktionen um Angaben gebeten – etwa, um passende Produkte zu finden oder sie zu konfigurieren. Dabei kann es sich um Hobbies und Interessen, Präferenzen zu Farben, Stil oder Größe, demografische Daten oder Standortdaten handeln. Zero Party Data sind deswegen so wertvoll, weil sie die folgenden Eigenschaften besitzen: • Wahr: Da sie direkt von Usern geteilt werden, kann das Unternehmen in der Regel sicher sein, dass die Daten korrekt und nicht nur Annahmen sind. Es ist in der Tat die genaueste Informationsquelle, da traditionelle Verhaltens- und demografische Analysen nur an der Oberfläche kratzen. • Relevant: Zero Party Data ermöglicht es Unternehmen zu erfahren, was Ihre User wollen. Es lohnt sich daher, explizit nach den Informationen zu fragen, die für die Entwicklung bedürfnisorientierter Produkte und Services nötig sind. • Kostenlos: Im Gegensatz zu Daten von Zweit- und Drittanbietern zahlt man nicht dafür, dass User diese Informationen freiwillig teilen. • Konform: Was es wirklich wertvoll macht, ist nicht zuletzt die Tatsache, dass Daten ohne Datenschutzrisiken gesammelt werden können. Vergleichbar geringe Risiken, gegen Datenschutzgesetze zu verstoßen, gibt es bei keiner anderen Datenart. Am besten gelingt das Einwerben von Zero Party Data interaktiv – ein typisches Beispiel sind etwa die Auto-Konfiguratoren von BMW oder Mercedes. Solche Ansätze sind meist niedrigschwellig und weisen deutlich bessere Engagement-Raten als statische Websites auf. Gleichzeitig stellt das ausgewogene Zusammenspiel von Geben und Nehmen eine Grundvoraussetzung dar. Aber auch in anderen Industrien gibt es gute Beispiele für Services mit Zero Party Data. In der Versicherungsindustrie lässt sich der Rentenkompass der Allianz nennen.

6.2

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Dieses Online-Tool gibt Usern die Möglichkeit, die individuelle Rentenlücke zu berechnen – ein großer Mehrwert für viele, die sich mit der finanziellen Absicherung im Alter beschäftigen. Ganz nebenbei, und als Grundlage für die Berechnung der Rentenlücke, sammelt die Allianz wertvolle sehr persönliche Daten über die User. Darunter sind soziodemographische Daten, aber auch weitergehende Information wie die Art der Krankenversicherung und bereits abgeschlossene Vorsorgeprodukte. Da die User den Mehrwert erkennen, die Rentenlücke im Alter konkret zu berechnen, geben sie bereitwillig persönliche Daten preis. Nicht zu unterschätzen dabei ist sicherlich der positive Einfluss der Marke Allianz, der für Sicherheit, Vertrauen und Zuverlässigkeit steht und damit klarstellt, dass die Daten von dem Versicherungskonzern nicht missbraucht werden. Unbekanntere Marktteilnehmer oder Startups hätten es sicherlich schwerer, ein Produkt wie den Rentenkompass (Abb. 6.5) zu positionieren und im gleichen Umfang persönliche Daten zu erheben. Das Magazin iBusiness hat weitere besonders vielversprechende Ansätze für die implizite Abfrage von Kundendaten gesammelt und untersucht, auf welche BusinessZiele sie einen Einfluss haben (Halm & Versteege, 2022). Generell gilt: Weniger ist mehr. Zu viele interaktive Annäherungsversuche können die User abschrecken und zum Verlassen der Website führen. Befragungen via Website Die User einfach nach ihren Vorlieben und Wünschen zu fragen, ist die simpelste Form, Zero Party Data zu bekommen. An verschiedenen Touchpoints der Customer Journey bietet sich dazu die Möglichkeit, beispielsweise mit Trendfragen

Abb. 6.5 Screenshot Allianz Rentenkompass

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6 Der R-Commerce-Fahrplan: Wege zur datengetriebenen …

wie „T-Shirt oder Polo-Shirt“ oder über einen Konfigurator für das Wunschauto oder die Traumküche. Auch beim Einstieg in die Website können Unternehmen direkt fragen, welche Inhalte User am liebsten sehen möchten. Soll es interaktiver sein, kann eine solche Umfrage auch als Quiz gestaltet werden. Befragungen über Social Media Über Social-Media-Kanäle können Websitebetreiber Präferenzen größerer Nutzergruppen erheben. Mit Umfragen können sie zum Beispiel ermitteln, welche Themen bei Usern besonders gut ankommen, was sie sich inhaltlich wünschen, wie sie auf Produkt-Neueinführungen reagieren und ähnliches. Das Preference Center Immer mehr Bedeutung bekommt das sogenannte „Preference Center“. Dort ist die Art und Häufigkeit der Kommunikation des Unternehmens mit dem User dokumentiert. Wie oft freuen sich User über einen Newsletter? Zu welchen Themen wollen sie E-Mails bekommen? Sollen Mailings nur zu neuen Produkten geschickt werden oder auch zu bestimmten Aktionen wie „Sale“? Und immer mehr ergänzen Anbieter diese Seite auch um Felder für persönliche Vorlieben – klassische Zero Party Data. Erhebung über E-Mails Der Klassiker ist die Frage nach einer Bewertung, wenn ein Produkt gekauft wurde. Doch auch andere Anlässe sind geeignet für die Erhebung von Zero Party Data, etwa Kundenzufriedenheitsbefragungen oder Trend-Votings. Befragungen im Ladengeschäft Individuelle Kundeninformationen aus dem stationären Handel werden gesammelt, digitalisiert und mit dem Kunden-Account verknüpft. Die technischen Brückenbauer sind Loyalty-Kundenkarten oder in Einzelfällen auch digitale Screens im Shop, sofern sie eine Möglichkeit der Identifikation bieten. Letztere speichern bei der Kleideranprobe beispielsweise Lieblingsfarben und Schnitte sowie die Größe und möglicherweise auch Lieblingsmarken. Zero Party Daten ergänzen also nicht nur sinnvollerweise bestehende First Party Daten, sie liefern auch Erkenntnisse und Informationen, welche ein kundenzentriertes Vorhaben substanziell anreichern und konsolidieren. Man kann sie daher zu Recht als Goldgrube für die Kundenzentrierung bezeichnen. Die Tabelle in Abb. 6.6 stellt die zentralen Unterschiede beider Datenformen übersichtlich gegenüber. Unternehmen, die Zero- und First Party Daten kontinuierlich aufbauen, werden in der Zukunft einen entscheidenden Datenvorsprung haben und somit die Möglichkeiten geschaffen haben, nachhaltige Kundenbeziehungen aufzubauen. Noch härter ist der Umkehrschluss: Unternehmen ohne diese Form hochwertiger Daten sind de facto dazu verdammt, mit der Gießkanne zu kommunizieren und nicht auf individuelle Bedürfnisse eingehen zu können.

6.2

Das neue Datenmanagement

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Abb. 6.6 Vergleich von First Party versus Zero Party Data

6.2.2

Datenstrategien entwickeln

Die technologische Weiterentwicklung und das fortwährende Bestreben nach dem Aufbau eines eigenen Datenbestands sind die Basis einer beziehungsorientierten Kundenzentrierung. Die Vision ist, eine fortwährende 1:1 Kundenkommunikation in Echtzeit zu ermöglichen. Die Entwicklung einer Datenstrategie ist dabei der Schlüssel zur Realisierung dieser Vision. In der Vergangenheit war es nicht unbedingt notwendig, eine konsistente Datenstrategie zu verfolgen und Datenintelligenz aufzubauen. Man konnte sich auf Daten von Drittanbietern verlassen und auf Basis punktueller Datenpunkte ein hinreichend genaues Bild der Customer Journey erstellen. Kundeninformationen wurden pixel- bzw. cookie-basiert gewonnen, also rein deterministisch. Diese deterministische Datennutzung, die auf Ursache und Wirkung fußt, hat seinerzeit gut funktioniert. Ein Beispiel: Wenn ein User auf Immobilienwebseiten unterwegs war, konnte es sinnvoll sein, Werbung für Möbel oder Anzeigen von Baumärkten wie Obi und Hornbach einzublenden. Doch die Zeiten, in denen ein derart punktuelles und opportunistisches Kundenverständnis für digitalen Erfolg ausreichend war, gehören irreversibel der Vergangenheit an. Aufgrund von Privacy und DSGVO verschwindet der Datenschatz aus Third Party Data. Mit dem Schwund an Daten werden auch deterministische Ansätze entsprechend weniger kraftvoll. Moderne Datenstrategien brauchen einen eigenen Datenbestand (First- und Zero Party Data) und können nicht mehr auf Fremd-Daten oder auf deterministischen Verfahren basieren.

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Sollen kontinuierliche Datensätze entstehen, braucht es Lösungen, die diese Datenlücken schließen. Daher müssen Unternehmen jetzt zusätzlich probabilistische Annahmen entwickeln: Es müssen Hypothesen aufgestellt und mit Wahrscheinlichkeiten verknüpft werden, um die User-Intention zu verstehen. Oder technischer ausgedrückt: Es muss die Conversion-Wahrscheinlichkeit („conversion probability“) berechnet werden. Ein Beispiel: Eine Versicherung sieht sich die historischen Daten des letzten Jahres für den Bereich KFZ-Versicherung an: Es gibt abgeschlossene Customer Journeys, die in einen Versicherungsvertrag münden. Und es gibt nicht abgeschlossene Journeys, in denen kein Vertrag zustande kommt. Die Versicherung analysiert verschiedene Onsite-Variablen wie: Was macht ein User auf der Webseite? Wie lange bleibt er? Wie viele Page Views generiert er? Dazu kommen Offsite-Variablen wie: Über welchen Kanal kommt der User (Display? Suchmaschine? E-Mail-Marketing?)? Wann kommt er (Tag und Uhrzeit)? Mit Hilfe eines logischen Regressionsmodells können Unternehmen herausfinden, welche Variablen die Conversion erklären. Die Versicherung in diesem Beispiel lernte: User, die am Freitagnachmittag vorbeisurfen, konvertieren eher als User am Montagmorgen. Kommen die User über die Suche, so ist relevant, ob sie die Versicherungsmarke direkt eintippten oder nach einem generischen Begriff wie „KFZ-Versicherung“ suchten. Aussagekräftig ist auch, wie lange User auf der Seite bleiben: Je länger, desto höher die Conversion-Wahrscheinlichkeit. Die Ergebnisse aus der Analyse ergeben für jeden User eine Scorecard. Die Scorecard zeigt, wie wahrscheinlich es ist, dass User auf ein Angebot des Unternehmens reagieren. Sie ist relevant, um einzuschätzen, welche Form der Werbemaßnahmen sich für diesen User auszahlt. Sie ist ausschlaggebend für die Useransprache und lässt sich mit verhaltensökonomischen Hypothesen koppeln. Davon hängt wiederum ab, wie die Website personalisiert wird. Sind die User eher preissensitiv oder haben sie Vertrauen in die Marke? Das hat Auswirkungen auf das Verhalten und die nächsten Schritte in der Customer Journey: next best Action, next best Offer, next best Channel sind die neuen Schlagworte in der Kundenansprache. Wie das Beispiel zeigt, beziehen sich diese Begriffe nicht nur auf das Verhalten der User als Kundengruppe, sondern auf das Verhalten jedes einzelnen Kunden und jeder einzelnen Kundin in einem spezifischen Moment. Diese Beispiele verdeutlichen die abnehmende Bedeutung der Deterministik in der Entwicklung von Datenstrategien. Die Zukunft liegt in der Entwicklung von hybriden Ansätzen: probabilistisch und deterministisch. Und noch weitreichender: Die Zukunft aller Datenstrategien obliegt neuen Gesetzmäßigkeiten. Grundlage sind unifizierte Profile. Sie dienen als Grundlage, um valide Hypothesen zu formulieren und mit psychologischen Triggern zu koppeln. Die zentralen Anforderungen werden als die drei R-Commerce-Gesetze zusammengefasst. Sie definieren die Grundlagen einer neuen Kundenzentrierung.

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Das neue Datenmanagement

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6.2.2.1 Das erste R-Commerce-Gesetz: Generiere unifizierte Profile und einen Identity-Graphen Der neue Pfeiler, der die Kundendaten auf die nächste Stufe hebt und R-Commerce ermöglicht, ist die Unifizierung aller Datenquellen. Dieser Prozess erfordert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit bei den werbetreibenden Unternehmen. Denn die Kontaktpunkte der User mit einem Unternehmen erfolgen wie beschrieben über mehrere Wege, die sich seitens der Datenspuren in mehreren Abteilungen niederschlagen. Ziel ist es, einen Identity-Graph von jedem User zu erstellen – eine große Übersichtskarte der Kunden- und Bewegungsdaten eines Users über alle Touchpoints hinweg. Es wird deutlich, dass sowohl die Gestaltung jedes einzelnen Absatzkanals als auch deren Zusammenwirken für den Erfolg entscheidend sind, um unterschiedliche und verteilt gespeicherte Daten zu einer konsistenten Identity-Perspektive zusammenzufassen. Auf diese Weise lässt sich aus Fragmenten eine vollständige und individuelle Kundensicht erstellen. Egal um welchen Touchpoint es gerade geht – Facebook-Werbung, Website, organische Social Media Postings, Retargeting-Anzeige, Online-Sale oder Kauf im Laden – jeder digitale Touchpoint liefert nur einen Bruchteil der Insights über eine Person – wobei produktspezifische, kundeneigene, soziale und situative Faktoren jeweils einen starken Einfluss auf das Kundenverhalten haben können. All das zusammen genommen ist komplex: Unterschiedliche IDs aus verschiedenen Kanälen, die Verwendung verschiedener Browser parallel sowie das Surfen über Smartphone, Tablet und Desktop – vielleicht noch in der Arbeit und zuhause an getrennten Geräten – all das erfordert dauerhafte Verknüpfungen mit digitalen Identifiern. Nur mit einer Identity-Lösung, die all die fragmentierten Datenpunkte abgleicht und dabei erkennt, wer dieser User ist und welche Erfahrungen er mit einer Marke oder einem Shop gemacht hat, gelingt der Aufbau tiefen Kundenwissens und eine zusammenhängende Customer Experience. Werden verschiedene E-Mail-Adressen, Cookie IDs und Geburtsdatum zu einem singulären Profil zusammengefügt, entsteht die Datengrundlage für eine konsistente, relevante und einzigartige Nutzererfahrung über alle Kanäle hinweg. Und genau das ist die Voraussetzung für R-Commerce – dafür, eine langfristige Kundenbindung aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Tatsächlich trägt ein allumfassender Identity-Graph dazu bei, den heiligen Gral des „Segment of One“ zu liefern, bei dem jedem einzelnen User ein personalisiertes und einzigartiges Markenerlebnis geliefert wird, das auf seinen persönlichen Merkmalen, Verhaltensmustern und Präferenzen basiert. Die entscheidenden Fragen, um die Identity eines Users zu eruieren, lauten: • Wer ist der User? Das verraten eindeutig identifizierbare Informationen, auch PIIDaten genannt („persönlich identifizierbare Informationen“), wie der vollständige Name, die Adresse, E-Mail, Handynummer oder Bankverbindung. • Welche Kanäle bevorzugt der User? Antworten liefern Insights zur Nutzung von Kanälen und Endgeräten. • Wie verhält sich der User? Hier geht es um kontextuelle Informationen über Verhaltensweisen und Aktivitäten des Users in Echtzeit.

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Die Unifizierung aller dieser Informationen zu einem singulären Profil ist die Mindestanforderung für den Aufbau einer Kundenintelligenz. Sie ist rein deterministisch, aber noch nicht allumfassend. Es müssen ergänzend dazu auch Propensitätsmodelle entwickelt werden, um Kundenintentionen zu antizipieren. Dazu ist der Einsatz von Data Science erforderlich. Mit Data Science werden vorhandene Daten statistisch analysiert und interpretiert, zudem werden Muster und Trends zur Entwicklung von Propensitätsmodellen (Predictive Analytics) abgeleitet. Dort setzt Behavioral Science an, ergänzt relevante psychologische Verhaltensmuster zu den Segmenten und liefert die Basis einer bedürfnisorientierten Ansprache – denn intelligente Datensegmente können zwar den Steilpass spielen, das Tor schießt aber eine effektiv konzipierte Ansprache. Tech, Data und Psychologie sind damit integrale Bestandteile des digitalen Marketings von morgen. Die Liste der Kundendaten, die Unternehmen sammeln können, ist sehr lang. Angefangen von Bestandskundeninformationen über Kaufhistorie, durchschnittliche Warenkorbgröße bis zu Hobbies und Vorlieben – sowohl qualitative wie quantitative Informationen können am Ende leicht mehrere hundert (wenn nicht tausende) Datenpunkte über jeden einzelnen User ergeben. Diese Informationen gilt es, zu einzelnen Profilen zu aggregieren und dabei Mehrdeutigkeiten zu eliminieren. Die Identitätsauflösung – der Prozess des Abgleichs von Identifikatoren über Geräte und Touchpoints hinweg mit einem einzigen Profil – trägt dazu bei, eine zusammenhängende Omnichannel-Ansicht von Usern aufzubauen, die es Marken ermöglicht, während der gesamten Customer Journey relevante Botschaften zu übermitteln. Noch nie hatten Marken Zugriff auf so viele Daten – aber das bedeutet, dass es auch mehr doppelte, unzusammenhängende und ungenaue Informationen gibt. Um die Identität aufzulösen, benötigt man einen Identitätsgraphen – eine Profildatenbank, die alle bekannten Identifikatoren enthält, die mit Personen korrelieren (vgl. Abschn. 5.3.2.1. Viele Werbetreibende investieren in ID-Diagramme und führen bekannte Interaktionen in einer einzigen Kundenansicht zusammen. Es ist ein wichtiger Schritt, aber wahrscheinlich nicht genug, wenn Unternehmen sich auf eine cookielose Marketinglandschaft umstellen. In der Customer Journey der User können eine oder mehrere persönliche Kennungen mit einer Person verknüpft werden: E-Mail-Adressen, physische Adressen, Mobiltelefonnummern, Geräte-IDs, Kontobenutzernamen, Kunden-IDs, Treuenummern und mehr. Ein ID-Graph sammelt und verbindet diese Identifikatoren mit einem Kundenprofil. Es entsteht ein Identitätsbild, das über einen bestehenden Kundenstamm hinausreicht und dabei hilft, Werbekampagnen und Marketingwachstum zu ermöglichen. Der Weg zum Aufbau von Identitäten kann deterministisch erfolgen, aber in vielen Fällen werden auch probabilistische Verfahren zur Unifizierung eingesetzt.

6.2.2.2 Das zweite R-Commerce-Gesetz: Entwickle eine holistische Intelligenz auf Basis des Identity-Graph Sind die unterschiedlichen Datenquellen der User unifiziert, der ID-Graph erstellt, so ist gilt es als nächstes, Logiken und Intelligenzen rund um den ID-Graphen zu bauen. Als

6.2

Das neue Datenmanagement

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Gerüst dient ein pyramidaler Ansatz zum Aufbau einer Kundenintelligenz, wie Abb. 6.7 zeigt. Die einzelnen Ebenen dieser Kundenintelligenzpyramide werden im Folgenden erläutert. Personas Das tragende Element und die unterste Stufe der Pyramide für den Aufbau einer Kundenintelligenz sind Personas. Ohne Personas geht es nämlich auch im R-Commerce nicht. Personas können Unternehmen helfen, die Bedürfnisse der User zu verstehen und herauszufinden, welche Produkte sie benötigen und wie sie auf Kampagnen oder bestimmte Inhalte reagieren. Sie basieren idealerweise auf repräsentativen Daten darüber, was potenzielle User eint und unterscheidet. Zu diesen Daten gehören demografische Daten, Präferenzen und Motivationen, Verhaltensmuster und Interessen. Gute Personas zeichnen sich aus durch Gewohnheiten und Verhaltensweisen, aber auch durch spezifische Herausforderungen und Probleme. In der Regel werden die Informationen angereichert durch nicht-empirische Annahmen zu Gewohnheiten, einem exemplarischen Tagesablauf, sowie Foto, Name und beispielhaftem Lebenslauf. Diese Angaben sind zwar für die anschließende Typologisierung nicht erforderlich (bzw. sollten dafür auch nicht genutzt werden), erleichtern aber die Empathisierung für die Digital-Teams und Kampagnenmanager:innen erheblich. Auf

Abb. 6.7 Aufbau einer Kundenintelligenz

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dieser Basis werden Typologien bzw. Segmente hergeleitet – in der Praxis trifft man meistens drei bis fünf solcher Personas an. Gute Personas erkennt man neben dem belastbaren Datenfundament daran, dass sie untereinander möglichst unterschiedlich sind, in sich aber möglichst einheitlich. Transaktionsdaten Das zweite solide und belastbare Fundament im R-Commerce beruht auf Transaktionsdaten. Dabei handelt es sich um alle gesammelten Informationen zu einem Kunden oder einer Kundin wie ein Kauf, die Anmeldung zum Newsletter, das Herunterladen eines Whitepapers und ähnliches. Zeitbasierte Transaktionsdaten sind ein großartiges Werkzeug zur Umsatzprognose, denn sie erlauben Einblicke in Echtzeitgeschäfte. Diese Metriken werden mit dem Customer Lifetime Value (CLV) gekoppelt. Dieser beziffert den aktuellen Kundenwert sowie den potenziellen Wert, den User für ein Unternehmen haben können. Kaufmännisch ausgedrückt: Der CLV beschreibt den Deckungsbetrag, den eine Person während ihres ganzen Kundenlebens realisiert. Bei einem hohen CLV lohnt es sich in der Regel, Geld für die Kundenbindung auszugeben. Fällt der Customer Lifetime Value dagegen niedrig aus, kann das Werbebudget für diese User bzw. dieses Kundesegment gekürzt werden. Der CLV gilt heute als einer der wichtigsten Kennziffern, wenn es um das Thema Kundenbindung – oder eben R-Commerce – geht. Ermittelt wird ein lukrativer CLV mittels RFM-Analyse. Diese verfolgt das Ziel, die Kundenqualität zu identifizieren, in dem Recency, Frequency und Monetary Value in den Transaktionsdaten analysiert werden. Je nachdem, wann ein User zuletzt etwas gekauft hat, wie oft etwas schon gekauft wurde und wie viel Geld pro Kauf ausgegeben wurde, werden die User in unterschiedliche Käufergruppen eingeteilt. Daraus ergeben sich Kundensegmente, die unterschiedliche Eigenschaften aufweisen. Zum Beispiel: „besonders profitabel“, „abwanderungsgefährdet“ oder „treuer Kunde“ und somit in Marketingkampagnen gezielt angesprochen werden können. Onsite Bewegungsdaten Während die ersten beiden Stufen der Pyramide auch in der Vergangenheit im Marketing eine essenzielle Rolle spielten, erschließt die dritte Stufe eine Kundenintelligenz, die moment-getrieben ausfällt. Hier manifestiert sich sehr genau, was User genau in diesem Moment bewegt, wo sie vorbeisurfen. Onsite-Bewegungsdaten sind die Spuren, die ein User beim Besuchen der Website hinterlässt: Sie zeigen etwa, wenn sich jemand von der Unterhosen-Kategorienseite zu der Aktionsseite mit den Donald-Duck-Socken und über die Produktdetailseite eines Trenchcoats weiter zur Über-uns-Seite bewegt. Die Onsite-Bewegungsdaten lassen sich dabei in drei Kategorien unterteilen, die denen der CLV-Berechnung ähneln: Recency, Frequency und Engagement. Einen Überblick gibt Abb. 6.8 Diese drei Dimensionen werden genutzt, um den gesamten Customer-JourneyKontext der User herzustellen und daraus Information und Klassifikationen abzuleiten, um die User intentionsbasiert anzusprechen. Die Intention kann empirisch belegt werden, in dem man jede der Dimensionen mit einem Score versieht.

6.2

Das neue Datenmanagement

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Abb. 6.8 Das RFE Modell

User, die einen hohen Recency, Frequency und Engagement Score aufweisen, sind solche mit einem sehr aktiven Customer-Journey-Hintergrund. Sie haben sehr oft und erst kürzlich die Website besucht und sich damit sehr intensiv beschäftigt. Daraus lässt sich eine höhere Transaktions-Intention vermuten als bei Usern mit einem eher punktuellen und flüchtigen Customer Journey Content. Diese drei Dimensionen (RFE) aus Abb. 6.9 sind die Grundlage zum Aufbau von intentionsbasierten Audiences. Diese Scores werden dann genutzt um eine Klassifizierung basierend auf den OnsiteBewegungsdaten nach Kundensegmenten vorzunehmen, und zwar nach der Intention. User Abb. 6.9 RFE Scoring – Beispiel für Wahrscheinlichkeiten für Transaktionen

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Abb. 6.10 Aufbau von intentionsbasierten Audiences

mit einem hohen RFE Score und daher einer höheren Transaktionswahrscheinlichkeit gehören zu der Audience „Top User“, während User mit einem geringen RFE-Score etwa als „uninterested User“ bezeichnet werden. Diese Audiences (siehe Abb. 6.10) werden mit unterschiedlichen Maßnahmen (Creatives, Pricing, Kommunikation) angesprochen. Prognosen Spätestens ab Stufe vier der Pyramide braucht es auch ein neues Tech Stack. Prognosen über das künftige Kundenverhalten werden nämlich zukünftig Bestandteil eines jeden Kundenprofils sein. Anhand von Prognosen wie Conversion-Wahrscheinlichkeit, Retouren-Wahrscheinlichkeit oder Churn-Wahrscheinlichkeit und Empfehlungen wie next best product, next best action, next best channel, next best offer etc. werden Kundenprofile weiter geschärft. So kommen Werbetreibende dem Anspruch einer vorausschauenden Customer Experience immer näher. Dass das händisch nicht zu machen ist, versteht sich von selbst. Glücklicherweise hat sich Machine Learning (ML) in den letzten Jahren mehr und mehr in den Unternehmen etabliert, wenn es darum geht, ein besseres Kundenverständnis und eine effizientere Kundenkommunikation zu ermöglichen. Die Grundlage des Machine Learning sind Daten. Je mehr Daten verarbeitet werden, umso genauer sind die erzielten Ergebnisse. In den Datensätzen erkennen KI-Algorithmen Muster wie beispielsweise Vorlieben, Handlungen, Bewegungen, Bestellungen, Persönlichkeiten, Präferenzen usw. Folglich entstehen in folgenden Bereichen potenziell positive Effekte:

6.2

• • • • •

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Personalisierung des Kundenerlebnisses & verbesserte Kundenerfahrung Steigerung der Umsätze Entwicklung von kundenzentrierten Produkten und Services Verbesserung im Content-Marketing und in der Suchmaschinenoptimierung Chatbots, die auf die Wünsche und Bedürfnisse der User eingehen

Die Bedeutung von Daten und Datenmodellen im R-Commerce ist spätestens jetzt richtig deutlich geworden. Vor jeder Datenmodellierung, gleichgültig ob probabilistisch und/oder deterministisch, und damit vor jeder Prognose braucht es zunächst ein Data Stitching. Data Stitching ist der Prozess der Kombination von Datensätzen aus verschiedenen Quellen und Geräten, um tiefe Einblicke in das Kundenverhalten und die Customer Journey zu erhalten. Eine intelligente Segmentierung hängt von der Kopplung zum Beispiel folgender Datenbestände ab: Transaktionsdaten und Onsite-Bewegungsdaten. Dadurch werden dynamische Profile generiert, welche nicht nur die Kundenhistorie, sondern auch das aktuelle Browserverhalten analysieren. Somit entstehen neue Sichten auf die User und deren Qualität und Potenzial. Über einen Identifier (üblicherweise eine E-Mail-Adresse) werden diese Datenbestände verknüpft. Das erfolgreiche Koppeln von unterschiedlichen Datenbeständen und eine anschließende Modellierung mit hohem Erklärungsgehalt wird beispielhaft anhand der Churn Rate deutlich. Die Churn Rate ist vor allem in Marktbereichen wichtig, in denen Kund:innen sehr wechselwillig bezüglich ihrer Anbieter wie zum Beispiel bei Handyverträgen, Internetprovidern oder Energieversorgern sind. Die Möglichkeit der Rufnummernmitnahme bei Telefonverträgen beispielsweise hat zu einer erhöhten Abwanderungsquote von Usern geführt, da ein wichtiger Wechselhinderungsgrund mit der Möglichkeit der Nummernportierung wegfiel. Im Marketing analysiert man Churn-Rates bewusst mit Hilfe des CRMs. Allen voran in der Telekommunikationsindustrie wird das Ablaufdatum von laufenden Verträgen zu Rate gezogen. Oft werden auch Informationen vom Call Center genutzt, wie die Anzahl der Kontaktaufnahmen und die Anzahl der gemeldeten Störungen. Diese Informationen verraten, wie hoch die Wahrscheinlichkeit der Abwanderung zu einem Mitbewerber ist. Daraus werden entsprechende Kommunikations- und Angebotsmaßnahmen entwickelt und ausgelöst, wie Abb. 6.11 mit Hilfe der lila Linie zeigt. Aufgrund der vorhandenen Kundenund Kontakthistorie geht man von einer erhöhten Wahrscheinlichkeit der Abwanderung aus, und man hat zum einen versucht, mit dem Kunden oder der Kundin im Dialog zu bleiben und zum anderen preislichen Anreize generiert, um eben hochgefährdete Kund:innen zu behalten. Und doch ist diese Einschätzung fehlgeleitet. Was bei der Auseinandersetzung mit CRM-Daten gänzlich unberücksichtigt bleibt, ist das Surfverhalten der User auf der Website. Sie ist eine wichtige Informationsquelle über die Intentionen der User. Wenn User sich intensiv mit der Website und den Produkten beschäftigen, wird die Abwanderungswahrscheinlichkeit auch bei einem bald endenden Vertrag gering ausfallen. Und entsprechend ist die Dringlichkeit einer incentivierten Kommunikation nicht so groß. Solche Erkenntnisse aber können nur geniert werden, wenn

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Abb. 6.11 Berechnung der Churn Wahrscheinlichkeit

das Data Stitching stattgefunden hat, die Datenquellen kombiniert werden und holistische Kundenprofile entstehen. Dies verdeutlicht die blaue Linie. Sie beschreibt nicht nur die Kunden- und Kontakthistorie (offline), sondern auch die Touchpoints und das Engagement mit der eigenen Website. Durch die Berücksichtigung beider Datenbestände verändert sich die Abwanderungsquote dramatisch. Die Empfehlung lautet daher: User mit Hilfe von Data Stiching und darauf beruhenden Prognosen intentionsbasiert ansprechen und die richtigen Trigger setzen: • • • • •

Richtiges Pricing Richtige Kanalansprache Richtige Landingpage Richtiges Creative Richtiges Angebot

Nur wer alle diese Dimensionen im R-Commerce technisch richtig umsetzt und momentgetrieben die Informationen darbietet, die die User gerade interessieren, baut langfristig Beziehungen auf und bleibt im Relevant Set.

6.2

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6.2.2.3 Das dritte R-Commerce-Gesetz: Baue eine psychologisch fundierte Trigger-Architektur auf Basis der Kundenintelligenz auf Der Aufbau einer Kundenintelligenz ist der Wegbereiter für die Schaffung einer kontextualen und intentionsbasierten Relevanz für alle User. Denn damit sich User überhaupt auf Unternehmen einlassen und im nächsten Schritt bereit sind, Daten zu teilen, müssen sie sich verstanden fühlen. Und verstanden fühlen heißt in einem Customer-JourneyKontext, die User wohldosiert anzusprechen – mit der richtigen Botschaft zur richtigen Zeit. Für Unternehmen besteht die größte Aufgabe daher darin, Usern geradlinig zu folgen und mit der richtigen Kommunikation den Weg zu bereiten. Dabei nicht vergessen: Menschen entscheiden weder rational noch in vorher vollständig planbaren Customer Journeys. Sie agieren insbesondere bei Entscheidungen unter Unsicherheit fast immer intuitiv. Diese intuitiven Entscheidungen sind abhängig von drei Merkmalen. Persönlichkeit Es gibt eine Reihe effektiver und vielfach bewährter Messinstrumente zur Erfassung und Systematisierung von Persönlichkeitsmerkmalen in der Psychologie. Das Bekannteste ist sicherlich das OCEAN-Modell (Goldberg, 1993), aber auch das HEXACO-Modell (Ashton & Lee, 2008) oder der Myer-Briggs-Typenindikator (Myers, 1985) sind zu erwähnen. Sie alle basieren auf der Erkenntnis, dass a) Menschen grundsätzlich zu Gruppen mit ähnlichen Persönlichkeitsmerkmalen zusammengefasst werden können und b) die Mitglieder einer Gruppe eine ähnliche Bedürfnislage und damit eine ähnliche Reaktion auf einen Trigger (wie z. B. eine Kampagne) aufweisen. Mit anderen Worten: Wenn es gelingt, User mit einem für ihren Persönlichkeitstyp passenden Impuls zu erreichen, ist die Reaktions- bzw. Kaufwahrscheinlichkeit viel höher. Auf Basis des Surfverhaltens lässt sich eine fundierte Annahme ableiten, zu welcher Persönlichkeitsgruppe ein User gehört: Jemand, der intensiv Extremsportvideos konsumiert hat im OCEAN-Modell vermutlich eine hohe Ausprägung der Persönlichkeitsmerkmale Offenheit und Extraversion, während jemand mit umfangreicher Tracking-Historie zu Esoterikratgebern eher Ausschläge in Richtung des Merkmals Neurotizismus haben könnte. User mit ähnlichen Verhaltensprofilen können dann zu Segmenten zusammengefasst und unterschiedlich angesprochen werden – das ist der Kerngedanke des psychographischen Targetings. Dabei handelt es sich natürlich um keine exakte Wissenschaft, aber die mit einem Persönlichkeitsmodell hergeleiteten Hypothesen sind in der Regel deutlich treffsicherer. Persönlichkeit für die Segmentierung und Strukturierung der Ansprache zu nutzen ist deswegen besonders spannend, weil die Persönlichkeit in der Psychologie als weitgehend stabil gilt – diese Typologisierung ist also von langer „Haltbarkeit“ und muss nicht ständig angepasst werden. Die PrognoseQualität der Persönlichkeit für ein bestimmtes Verhalten ist jedoch durchaus schwankend, daher müssen Unternehmen auch andere Datenpunkte und Quellen heranziehen.

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Umgebungskontext Zu diesen zusätzlichen Datenpunkten gehört der Umgebungskontext. Damit werden alle Rahmenfaktoren bezeichnet, die im Moment der Entscheidung wirken. Im Supermarkt können das etwa der Geruch frischer Backwaren und der Klang von Chansons sein. Ersteres führt dazu, dass wir mehr einkaufen als geplant, letzteres bewirkt, dass wir uns eher für französische als italienische Weine entscheiden. Der Umgebungskontext der Entscheidung definiert also maßgeblich, wie User sich entscheiden – selbst, wenn sie vorher andere rationale Absichten hatten. Er gilt im Gegensatz zur Persönlichkeit als extrem flüchtig und kurzlebig. Sein Vorteil ist jedoch, dass er eine hohe Prognosequalität liefert: Von jemandem, der sich intensiv mit Donald-Duck beschäftigt hat und dann auf ein Werbemittel mit passenden Disney-Socken klickt, können sich Unternehmen deutlich sicherer einen künftigen User erhoffen, als von jemandem, der nach dem OCEAN-Modell ein hohes Maß an Gewissenhaftigkeit aufweist. Ein weiteres Plus: Den Entscheidungskontext können Unternehmen in einer digitalen Welt relativ einfach und effektiv (mit-)gestalten – wenn sie die passenden Informationen (a.k.a. Datenpunkte) besitzen. Den richtigen Kontext schaffen Unternehmen etwa durch passende Produktempfehlungen, die Priorisierung redaktioneller Inhalte oder die Auswahl der Aktion, die Unternehmen ihren Usern vorschlagen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, warum sie ein so großes Interesse haben, mit Hilfe von Consent und Login vollständige User-Profile aufzubauen. Ohne diese Profile sind kontextuelle Anpassungen der Ansprache wegen ihrer Kurzlebigkeit kaum nutzbar. Behavior Patterns Die verhaltensökonomische Forschung hat bereits über 120 Verhaltensmuster identifiziert, die im Digital-Kontext wirksam sind Viele dieser sogenannten Behavior Patterns (siehe Abschn. 3.2.1) sind evolutionsbiologisch tief verankert und in allen Menschen angelegt, weil sie auf elementaren Überlebensstrategien aufbauen. Ein Beispiel: Drohende Verluste aktivieren uns weitaus stärker als mögliche Gewinne, weil mit dem Verlust von Nahrung oder Sicherheit das Ende des Lebens einhergehen kann. Gewinne zu realisieren ist dagegen weitaus weniger essenziell. Dieses Prinzip wird als „Loss Aversion“ (Verlustaversion) bezeichnet und ist eines der 120 Verhaltensmuster. Erwartungsgemäß wirken jedoch nicht alle Muster bei allen Menschen in allen Situationen gleich. Die Kunst ist es, herauszufinden, welche von ihnen für die anstehende Entscheidung relevant sind. Dafür liefern die beiden erstgenannten Merkmale wesentliche Hinweise: Behavior Patterns lassen sich vielfach auf Persönlichkeitszüge oder Kontextfaktoren zurückführen. Bei dem oben beschriebenen Extremsport-Fan mit ausgeprägter Extraversion wirken Behavior Patterns vermutlich gut, die die Autonomie des Users betonen (zum Beispiel „Evoking Freedom“, „Self-Efficacy“ oder „Action Bias“; Spreer, 2021). Aus dem Umgebungskontext lässt sich zum Beispiel ableiten, dass jemand eine hohe Preissensitivität hat – etwa, weil er unsere Seite über ein Preisvergleichsportal erreicht. Wirksame Behavior Patterns könnten dann solche sein, die die Preiswürdigkeit des Produktes unterstreichen (zum Beispiel Streichpreise mit „Anchoring“ oder Preis-Einordnungen mit „External Reference“).

6.2

Das neue Datenmanagement

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Es wird offensichtlich: Je bessere Aussagen Unternehmen mit strukturierter Kundenintelligenz über ihre Präferenzen potenzieller User treffen können und je besser sie den Entscheidungskontext verstehen, desto effektiver wird die Ansprache. Dieser Zusammenhang ist der zentrale Grund, warum kein Unternehmen mehr Data Science, Marketing-Technologie und Psychologie im Zeitalter des R-Commerce getrennt denken kann. Alle drei oben genannten Disziplinen müssen zusammenarbeiten wie Zahnräder, die ineinandergreifen. Nur so können die User vollständig betrachtet, verstanden und behandelt werden. Das ist die Überleitung zum nächsten Schritt eines neuen Datenmanagements, der Datenaktivierung.

6.2.3

Datenaktivierung im R-Commerce

Die Datenaktivierung in Abb. 6.12 ist der Prozess der Verwendung von Daten zur Information über Geschäftsentscheidungen und -aktivitäten (Retailrocket, 2021). Man setzt Daten in die Tat um, indem man sie in Geschäftsanwendungen zugänglich macht. Ein Beispiel hierfür ist der Zugriff auf Echtzeit-E-Commerce-Daten in einer E-MailMarketing-Software (um personalisierte Nachrichten basierend auf den letzten Einkäufen der Kund:innen zu senden). Die Datenaktivierung sollte nicht nur einen kanalübergreifenden Kontext berücksichtigen, sondern auch jeden einzelnen Touchpoint berücksichtigen und individuell gestalten. Ein Beispiel dafür ist die Aktivierung von trigger-basierten E-Mail-MarketingKampagnen: Jede einzelne Interaktion der Kundin oder des Kunden mit der Website wird dementsprechend mit einer unterschiedlichen Botschaft in der E-Mail-Kampagne versehen. Und hier kommen erneut die drei R-Commerce- Gesetze zum Tragen. Nur durch die Unifizierung aller Daten zu einem Profil, durch die Entstehung einer holistischen Intelligenz kann eine personalisierte Trigger-Architektur entstehen. Diese berücksichtigt natürlich auch den kanal-übergreifenden Kontext und den Ablauf der Customer Journeys. Auch wenn diese in der Post-Cookie-Ära langwieriger und unberechenbarer geworden sind, bedient man sich immer noch einer alten Vorgehensweise und Methodologie: dem Full-Funnel-Ansatz. Viele Käufer nutzen mehrere Kanäle gleichzeitig, um Produkte zu recherchieren und zu entdecken. Wer schon einmal im Laden vor einem Rasenroboter stand und parallel auf dem Smartphone in Produktbewertungen gestöbert hat, oder wer zwischen dem SocialMedia-Feed einer Marke und der Website gewechselt ist, während ein Fernsehwerbespot lief, ist nicht allein: 66 % der Kund:innen recherchieren beim Bummeln in Geschäften auf ihren Mobiltelefonen – zum Beispiel Wettbewerbspreise oder Bewertungen (bazaarvoice, 2019). Die Omnipräsenz des Smartphones und sozialer Medien bedeutet, dass Customer Journeys (online und offline) immer stärker fragmentiert sind und die Kanalnutzung parallelisiert ist. Deshalb braucht es eine Full-Funnel-Strategie, die über mehrere Kanäle

Abb. 6.12 Aktivierung von Trigger-basierten Marketing Kampagnen

162 6 Der R-Commerce-Fahrplan: Wege zur datengetriebenen …

6.2

Das neue Datenmanagement

163

Abb. 6.13 Der Full-Funnel-Ansatz

hinweg gleichzeitig die Bekanntheit und die Nachfrage eines Produktes und einer Marke fördert. Und dabei alle Intentions-Phasen der User berücksichtigt. Prototypisch lassen sich solche Intentionsphasen der User nach unterschiedlichen Customer Journey Schemata darstellen (AIDA ist das prominenteste Beispiel). Das ist aber ein Anachronismus. Der Full-Funnel-Ansatz (Abb. 6.13) muss in Zeiten des R-Commerce natürlich ebenfalls neu gedacht werden. In der Vergangenheit hat man Full-Funnel-Ansätze sehr starr umgesetzt und wenig Zeit und Intelligenz investiert, um eine Personalisierung möglich zu machen. 1-to-1-Beziehungen wurden dementsprechend wenig praktiziert. Man könnte eher von einer 1-to-few-Ansprache reden. Im R-Commerce geht es jedoch um 1-to-1Beziehungen. Und ergo darum, in jeder Phase des Funnels die Kundenbedürfnisse zu treffen. Es geht darum zu verstehen, wie sich jede der Phasen auf die anderen auswirkt – wie beispielsweise Medienausgaben für TV die Wirkung personalisierter E-Mails steigern oder wie Social-Media-Werbekampagnen Online- und Ladenbesuche fördern können. Während die Idee des Full-Funnel-Marketings schon seit Jahren als Denkmodell existiert, waren die meisten Unternehmen nicht in der Lage, die organisatorischen und technologischen Barrieren zu überwinden, um es tatsächlich effektiv umzusetzen. Die Folgen der Post-Cookie-Ära, das veränderte Verhalten der User nicht zuletzt durch die Pandemie und die explodierenden Marketingkosten zwingen werbetreibende Unternehmen nun aber, den Ansatz ernst zu nehmen. Das Ziel ist eine Win–Win-Situation mit den Usern: intelligente und intentionsbasierte Useransprache und Effizienz in der Allokation von Budgets. Full-Funnel-Marketing erfordert eine vollständige Top-to-Bottom-Integration der Funktionen und Abteilungen – und die operative Flexibilität, maßgeschneiderte Botschaften und Touchpoints entlang des Funnels für die User zu generieren. In diesen Prozess müssen auch externe Partner wie Media-Agenturen eingebunden werden.

164

6 Der R-Commerce-Fahrplan: Wege zur datengetriebenen …

Full-Funnel-Ansätze erfordern aber auch Schnittstellen zu den auszuführenden Systemen – gleich ob Adversting Plattform oder E-Mail-Marketing-Anbieter. Man kann benutzerdefinierte Integrationen verwenden, um die gesammelten Daten an diese nachgelagerten Tools weiterzuleiten. Aber es ist wichtig, den Zeit- und Arbeitsaufwand zu erkennen, den diese Option erfordert. Aus diesem Grund können sich Unternehmen zu einer Kundendatenplattform (CDP) hingezogen fühlen, die dabei hilft, diese Datenübertragung in Echtzeit zu automatisieren, um einen Teil der manuellen Arbeit zu entlasten, die von Entwicklern erwartet wird.

6.2.4

Case Study: Kundenzentrierte Online-Modeberatung

Nach so viel Theorie haben wir ein praktisches Beispiel vorbereitet, um zu demonstrieren, dass das umfassende Framework, das wir in diesem Buch gezeichnet haben, durchaus auch umsetzbar ist. Der Online-Modehandel boomt seit geraumer Zeit. Die Pandemie war ein weiterer Wachstumsbeschleuniger. Ein besonders spannendes Geschäftsmodell im Modehandel ist „Curated Shopping“. Hier sind Stylisten im Einsatz: Sie beraten Shopping-Muffel und ratlose (meist männliche) Kunden und stellen komplette Outfits zusammen, die den individuellen Mode-Geschmack treffen sollen. Aus R-Commerce-Sicht ist das Modell deswegen so spannend, weil es konzeptionell um den Aufbau von Beziehungen herum entwickelt wurde. Es entsteht eine hohe Bindung zum Anbieter, teilweise sogar zu einzelnen Stylist:innen. Der Charme: Empfehlungen werden vollständig daten-basiert ausgesprochen. Anlass genug, an dieser Stelle tiefere Einblicke zu geben. Einer der führenden Anbieter in Europa hat die Kundenzentrierung bereits lange vor der Cookie Apokalypse sehr ernst genommen und alles dafür unternommen, einen eigenen Datenbestand aufzubauen, ihn ständig auszubauen und immer die richtigen datenbasierten Aktivierungsstrategien auszulösen. Das entscheidende Element sind Daten zu den (männlichen) Kunden und deren Größe, Budget und Kleidungsstil. Das kuratierte Shopping setzt ein ganz genaues Verständnis der User unter Berücksichtigung aller vorhandenen Informationen voraus. Die Unifizierung aller dieser Datenquellen zu einem einzigen Profil und das Abrufen und Aktivieren dieser Daten in Echtzeit ist der relevante Faktor für die personalisierte Kommunikation und das personalisierte Angebot. Um dies zu gewährleisten, wurde die bestehende Technologie-Landschaft durch die Einführung einer CDP ergänzt. Die CDP sammelt wie in Abschn. 6.1 beschrieben Informationen aus unterschiedlichen Datenquellen und konsolidiert diese, bereinigt von Mehrdeutigkeiten, zu einem einzigen Profil. Zusätzlich dazu wurden Konnektivitäten in Echtzeit zu allen Online- und Offline-Kommunikationskanälen aufgebaut. Die grundlegende Struktur des Technologie-Setups skizziert Abb. 6.14. Die einzelnen Phasen des kunden- und datenzentrierten Ansatzes werden im Folgenden beschrieben.

6.2

Das neue Datenmanagement

165

Abb. 6.14 Datenkonsolidierung in einer CDP

Die neue strategische Maxime ist die echte Kundenzentrierung Das Unternehmen hat einen klaren Fokus von Anfang an gesetzt: Nicht mehr die Produkte und Dienstleistungen selbst, sondern die Bedürfnisse und Wünsche der Kunden sind von Relevanz. Ein ehrlich kundenzentriertes Vorgehen setzt also voraus, dass man die Kunden versteht, um daraus die ideale Customer Journey zu konstruieren. Dafür mussten Abteilungsgrenzen aufgebrochen und Change-Programme initiiert werden. Der Aufbau einer First Party Datenstrategie Der Curated-Shopping-Anbieter hat die Möglichkeit, über unterschiedliche Quellen Daten zu den Usern zu sammeln. Onsite-Bewegungsdaten Die User registrieren sich, um nach der Anmeldung einen persönlichen Beratungstermin zu bekommen und ihre Vorlieben mitzuteilen.

166

6 Der R-Commerce-Fahrplan: Wege zur datengetriebenen …

Stylisten-Feedback Nachdem der Beratungstermin stattgefunden hat, wird ein Kundenprofil vom Stylisten hinterlegt, in dem sämtliche Affinitäten und Präferenzen gespeichert werden. Ein erstes personalisiertes Warenpaket wird verschickt. Transaktions- und Retourendaten Die getätigten Kaufvorgänge wie auch die Retouren geben Aufschluss über die tatsächlichen Bedürfnisse, aber auch über die Kundenqualität. Gamification Durch zusätzliche aktivierende Incentives werden der Datenfluss und die Kommunikation zu den Usern aufrechterhalten. Die strukturierte Aktivierung der Kundendaten Kundendaten (egal ob basierend auf Third oder First Party Cookies) zu besitzen ist gut. Sie zu unifizierten Kundenprofilen zu aggregieren ist besser. Sie in Echtzeit zu aktivieren und bedürfnisgerechte, moment-getriebene Kontaktpunkte zu schaffen ist optimal. Dafür ist eine Reihe von Schritten erforderlich: • • • • •

Aufbau einer 360 Grad Kundenintelligenz Design von Audiences basierend auf Customer Life Time Value Definition von audience-spezifischen Incentives Alignment aller Technologien durch die CDP zur Datenaktivierung Ko-Orchestrierung aller Kanäle zur Datenaktivierung

Vor allem bei der Ko-Orchestrierung aller Kanäle war es entscheidend, die alten Silos abzubauen und ein neues Miteinander zu pflegen. Viel wichtiger als die einzelnen Kanäle und deren wichtige, aber doch anachronistische KPIs (CTR, Conversion) ist, dass ein neues Verständnis kultiviert wurde: Loyalty und Growth bedingen einander. Gesteuert wird diese Entwicklung dann mit dem CLV als das neue Maß aller Dinge und der Garant einer erfolgreichen Kundenzentrierung. Die Geburtstagskampagne als Beispiel der neuen Kundenzentrierung Das Unternehmen hat den CLV als Grundlage genutzt, um eine Kundenklassifizierung vorzunehmen und daraus die richtigen Kommunikationsmaßnahmen abzuleiten und die richtigen Angebote auszulösen. Eine Unterscheidung in der Kundenklassifizierung lag darin, „Premium-Kunden“ von „profitablen Kunden“ zu unterscheiden. Erstere zeichnen sich durch eine hohe Frequenz der Bestellungen und einen hohen Bestellwert aus. Letztere hingegen durch die Profitabilität, sprich vorwiegend durch geringe Retouren. Für beide Kundengruppen wird die aktuelle Kaufhistorie zu Rate gezogen bzw. ganz konkret die Kaufvorgänge in den letzten X Monaten. Ein wichtiger Touchpoint, um in Dialog zu treten, ist der Geburtstag. Dieser ist im CRM hinterlegt und wird von der CDP genutzt, immer in Zusammenhang mit der Audience-Information. Das Ergebnis ist eine differenzierte Kommunikation nach Kanal und nach Angebot:

6.3

Die beziehungsorientierte Organisation

167

• Premium-Kunden – Anrufversuche über Callcenter (max. 3) bis 18 h – Falls der Kunde nicht erreicht wird, wird danach automatisch eine persönliche SMS getriggert • Profitable Kunden – Persönliche SMS Dieser simple Use Case verdeutlicht, wie man die fünf R-Commerce-Leitprinzipien für erfolgreiche Kundenbeziehungen nutzen kann (vgl. Abschn. 5.2): • Privacy first: Alle Kommunikationsmaßnahmen basieren auf einer klaren datenschutzkonformen Grundlage. Der Consent wird immer aktualisiert und nach Art und Weise der Nutzung klassifiziert. Unerwünschte Touchpoints kommen dadurch gar nicht zustande. • Echte Kundenzentrierung: Technologien, Daten und Prozesse werden streng im Dienste der Kundenbedürfnisse genutzt. Danach richtet sich die Kanalauswahl der Kommunikation wie auch die Art und Weise der Ansprache. • Daten-basiertes Handeln: Das Unternehmen hat eine holistische Datenstrategie entwickelt. Von Zero bis Third Party Data werden alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um eine ganzheitliche, datengetriebene Intelligenz aufzubauen. Die Kunden stehen dabei im Fokus und die Daten sind die Grundlagen für die effiziente Ansprache. Dadurch wird gewährleistet, dass die Kundenkommunikation maßgeschneidert ausfällt. • Moment-getriebener Dialog: Die technische Infrastruktur ist so ausgelegt, dass alle Signale der User in Echtzeit erfasst werden und gleichzeitig in einen Score umgerechnet werden. Somit kann das Unternehmen jeden Moment nutzen, um einen intentionsbasierten Dialog aufzubauen. • Nachhaltigkeit: Die intentionsbasierte Ansprache basiert auf Daten und eine allumfassende Kundenintelligenz führt dazu, dass der regelmäßige Kontakt zu den Kunden als angenehm und erwünscht erscheint. Impulskäufe werden nicht getriggert, Retouren bleiben im Rahmen. Profitabilität und Nachhaltigkeit gehen Hand in Hand.

6.3

Die beziehungsorientierte Organisation

To Do’s

• Kundenzentrierte Organisation mit interdisziplinären Teams schaffen • Die 6 K’s etablieren: Kultur, Konversation, Kooperation, Kompetenz, Konsistenz, Kontinuität • Fehlerkultur einführen und leben • Abteilungsübergreifende Strukturen und KPIs im Dienste der Kund:innen entwickeln • Aufgaben im Top Management neu sortieren

168

6 Der R-Commerce-Fahrplan: Wege zur datengetriebenen …

Ein modernes Tech-Stack ist, wie wir gesehen haben, für datenzentrierte Unternehmen, die ihre Handlungen kompromisslos auf Datenanalyse aufbauen, unumgänglich. Doch das allein reicht noch nicht aus, um R-Commerce-ready zu werden. Es braucht auch eine kundenzentrierte Organisation. Ein kundenzentriertes Unternehmen entsteht, wenn man die Organisation wortwörtlich um die Kund:innen herum baut. Eigentlich ganz simpel. Und dennoch steckt in diesem einfachen und sicherlich spontan nachvollziehbaren Satz purer Sprengstoff! Daher widmet sich dieser Abschnitt der großen Frage, wie Organisationen strukturiert und organisiert sein müssen, um beziehungsorientierte Kundenbeziehungen überhaupt erst zu ermöglichen. Vollkommen klar ist, dass R-Commerce nicht in einer Welt von Abteilungssilos funktioniert. Die Trägheit bestehender Berichtsketten und das dezentrale Spezialistentum führen dazu, dass die Unternehmen sich mehr und mehr von tradierten Organisationsmodellen abwenden. Heute braucht es interdisziplinäre Teams, die abteilungsübergreifend zusammenarbeiten und dabei gleichzeitig die Kund:innen immer im Blick haben. Eine enge Zusammenarbeit ist aber nicht nur zwischen Marketing und Vertrieb oder Vertrieb und Service angeraten. Auch die IT und die Fachabteilungen müssen sich verbinden, um Wertschöpfungspotenziale zu identifizieren und zu erschließen Die größte Herausforderung besteht dabei in einer gemeinsamen Sprache. Um ein überzeichnetes Stereotyp illustrativ zu bedienen: Nur wenn eloquente Vertriebler, blumigoptimistische Marketer und trocken-schüchterne IT-ler lernen, die gleiche Sprache zu sprechen, werden sie es schaffen, auch informell schnell und effektiv zu kommunizieren. Als Hilfsmittel dienen die Ziele des Unternehmens, die die gemeinsame Klammer bilden. Nicht minder herausfordernd ist die Kommunikation im Rahmen dieser ChangeProzesse. Eine neue strategische Ausrichtung, Umstrukturierungen, innovationsfördernde Methoden oder Analyse-Software, all diese Dinge passieren derzeit und sie haben ihren Sinn – auch, wenn nicht jeder Mitarbeitende applaudiert. Wer es versäumt, in die interne Unternehmenskommunikation zu investieren, die neuen Ideen kundzutun und sich kritischen Fragen zu stellen, wird straucheln. Glückt das – und zwar kontinuierlich – folgt der nächste Schritt: Die Ableitung von Leitprinzipien, welche ein datengetriebenes Mindset fördern, damit am Ende die Ziele zufrieden und motiviert erreicht werden können. Die Fähigkeit einer Organisation datengetrieben vorzugehen, spiegelt sich in den 5 Stufen des Maturitätsmodells wider (Abb. 6.15 unten). Mit Blick auf die übergeordneten Ziele des R-Commerce und mit Fokus auf den Aufbau nachhaltiger und vertrauensvoller Beziehungen mit den Usern und Kund:innen braucht es fünf Level, um eine datengetriebene R-Commerce-ready-Organisation zu werden. Organisationen am unteren Level der Skala sind nicht in der Lage, User first zu agieren. Ihnen mangelt es an Insights und Wissen über ihre Kund:innen Die letzten fünfzehn Jahre war es im E-Commerce ausreichend, sich als Unternehmen in den ersten drei Leveln einzusortieren. Business-Entscheidungen und Kundenkommunikation basierten auf meist oberflächlichem Wissen. Performance-Marketing-Modelle verstärkten und zementierten

6.3

Die beziehungsorientierte Organisation

169

Abb. 6.15 Fünfstufiges Maturitätsmodell der datenbasierten Kundenzentrierung

dieses Verhalten. Die meisten Unternehmen hatten einen abverkaufsorientierten Ansatz für das Datenmanagement gewählt und mit Usern nur episodenartig interagiert. Sie behandelten Daten zwar als Grundlage für Kampagnen, machten sich aber nicht die Mühe, selbst möglichst viele Daten zu erheben und diese für einen regelmäßigen Dialog mit ihren Usern und Kund:innen einzusetzen. Eigene Datenpools waren zweitrangig – durchaus nachvollziehbar, da Daten problemlos eingekauft werden konnten. Daten wurden nur zur Unterstützung um den Abverkauf herum geplant. Unternehmen am oberen Rand der Abb. 6.15 dagegen sehen sich verpflichtet, den Kundenerwartungen vollständig zu entsprechen, indem sie nachhaltige und vertrauensvolle Beziehungen zu ihren Kund:innen aufbauen und pflegen. Das Wissen über ihre Kund:innen sehen sie als strategisches Asset an. Sie nutzen es einerseits für die personalisierte Kommunikation und andererseits, um in dem aktuell sehr dynamischen Marktumfeld auf Veränderungen schnell und dennoch im Sinne der Kund:innen reagieren zu können. Wenn Unternehmen nun auf Basis des Stufenmodells eine Blaupause für ihre Umstrukturierung zu einer effektiven R-Commerce-Organisation suchen, haben wir schlechte Nachrichten. Die Blaupause gibt es nicht. Man kann nicht auf der einen Seite hochgradig individuell und personalisiert kommunizieren, auf der anderen Seite die notwendigen Strukturen nach der immergleichen Schablone am Reißbrett planen. Dennoch: In einer Vielzahl von Beratungsprojekten, Workshops und Gesprächen wurde schrittweise erkennbar, dass sich bestimmte Muster und Merkmale effektiver Organisationen wiederholen.

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6 Der R-Commerce-Fahrplan: Wege zur datengetriebenen …

Die ideal-typische R-Commerce-Organisation sieht folgendermaßen aus: Die Organisation stellt die Beziehung zu ihren Kund:innen in den Mittelpunkt und orientiert sich daran, die Customer Journey in allen Phasen zu optimieren und die angenehmste User Experience zu ermöglichen. Dabei folgt die R-Commerce-Organisation zwei Prinzipien, die uns schon durch das ganze Buch begleiten: • User first – die Kund:innen und ihre Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt • Data first – Entscheidungen werden datengetrieben getroffen Gewinnen werden die Unternehmen, die dies im operativen Alltag konsequent und bedingungslos anwenden. Man sollte es daher halten wie die ehemalige Douglas-Chefin Tina Müller. Sie sagte in einem Focus-Interview: „Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“ sei der schlechteste Ratschlag gewesen, den man ihr je gegeben hätte. Sie hat den E-Commerce bei Douglas umgebaut, die Kund:innen in den Mittelpunkt gerückt und eine Beziehung zu jedem einzelnen potenziellen Käufer und jeder Käuferin etabliert. Dabei hat sie ihre Teams umstrukturiert und Silos abgebaut. Kurz: Sie hat die Weichen auf R-Commerce gestellt, bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Solche Vorreiter:innen folgen den Zeichen der Zeit, ziehen die richtigen Schlüsse aus all den vielen Studien, schöpfen die Möglichkeiten der neuen Technologien aus und bauen die Unternehmensorganisation entsprechend um. Oft beginnt das Umdenken im Kleinen, im Sales oder im Marketing. Und immer entsteht daraus ein Nukleus, der Kernstrategien, Kultur, Organisation, Wertschöpfungsketten, Prozesse und eingesetzte IT-Anwendungen grundlegend verändert. Wenn Unternehmen anfangen, Strukturen zu hinterfragen und mit dem Umkrempeln beginnen, kann ein agiles, modernes Unternehmen mit Zukunft Realität werden. Was Organisationen jetzt brauchen, ist ein Trainingsplan mit festgelegten Zielen, um sich dem Zielbild R-Commerce schrittweise anzunähern. Hierfür müssen sukzessive die folgenden Grundvoraussetzungen erfüllt sein – die „sechs K“: • Kultur: Alle Abteilungen denken nicht länger in Produkten, Margen oder Abverkauf. Sie denken in Kundenbedürfnissen – online, wie auch offline. Kundenzentrierung ist nicht eine Marketing-Initiative, sondern eine Veränderung in den Kernwerten und in den Fundamenten einer Organisation. • Konversation: Das Unternehmen ist stets im Kontakt mit den Kund:innen – über alle Kanäle und alle Touchpoints hinweg. Feedback wird bei jeder Gelegenheit und in allen Abteilungen gesammelt, ausgewertet und verfügbar gemacht, um angemessen zu reagieren. Konversation ist die Basis von Beziehungen. Und: Erfolgreiche R-Commerce-Unternehmen denken nicht nur FÜR Kund:innen, sondern MIT ihnen. Durch die Beteiligung der Kund:innen am Produkt- und Service-Entwicklungsprozess steigen die Begeisterung und die Loyalität zum Unternehmen.

6.3

Die beziehungsorientierte Organisation

171

• Kooperation: Das Feedback von Kund:innen wird genutzt, um intelligente Angebote und individuelle Lösungen anzubieten – egal aus welcher Abteilung diese kommen. Dafür sind abteilungsübergreifende Ziele, Kollaborationssysteme und angepasste Arbeitsprozesse die Basis. • Kompetenz: Kundenzentriert zu arbeiten ist keine Floskel und kein Einmal-Prozess. Es bedeutet, jede Entscheidung, die Kund:innen betrifft, konsequent daten-basiert herzuleiten. Erst die Kenntnis der realen Faktenlage und die Fähigkeit, sie angemessen zu interpretieren, gibt Unternehmen die Möglichkeit, individuelle Bedürfnisse – oft als Moments of Truth bezeichnet – wirklich zu verstehen und darauf im Sinne einer 1-to-1-Kommunikation zu reagieren. • Konsistenz: Jeder Touchpoint wird individuell unter Berücksichtigung aller verfügbaren Informationen gestaltet, um die richtige Botschaft zur richtigen Zeit den richtigen Zielgruppen zu zeigen. Das stellt hohe Anforderungen an die Konsistenz bezüglich der Tonalität und des Auftritts der Marke, die über allgemeingültige Kommunikationsregeln festgelegt werden. • Kontinuität: R-Commerce ist keine Vertriebstaktik und kein kurzfristiges Marketingkonzept. Es handelt sich um eine grundlegende Veränderung der Business-Philosophie. Das bedeutet, dass sich Entscheidungen, die heute getroffen werden, über Jahre hinweg auswirken werden. Das impliziert eine Langfristigkeit des Entscheidungs- und Bewertungshorizonts. Statt sich nur auf Monatsreportings und Quartalsabsatzzahlen zu fokussieren, denken R-Commerce-Organisationen an kontinuierlichen Beziehungs- und Vertrauensaufbau zu ihren Kund:innen, weil sie wissen, dass wirtschaftlicher Erfolg eine logische Konsequenz dessen ist. Mehr noch: Ohne langfristiges Investment in die Beziehung wird es keine aussichtsreiche Zukunft geben. Diese „sechs K“ stellen die Basis-Kompetenzen einer R-Commerce-Organisation dar, die sich kundenzentriert organisiert und eine gute Kundenbeziehung zum Ziel erhebt. Sie sind die Vorlagen für Poster mit Leitsätzen in den Meeting-Räumen oder die virtuellen Bildschirmhintergründe auf den Laptops von Mitarbeitenden. Nicht mehr nur auf Sales-KPIs zu starren, sondern systematisch an Beziehungen zu arbeiten – das klingt nach einer schönen, aber dennoch fernen Illusion, die mit dem Management und dessen Incentivierung ganz sicher nicht machbar scheint? Falls dies bejaht wird, markiert die Frage ein echtes Risiko. Zur Illustration ein Blick über den Atlantik: In den USA zeigt sich, dass die Disruption der Business-Philosophien und damit die neue Ära der echten Kundenzentrierung bereits Realität wird: Aus der Sicht von Entscheidern sind die drei wichtigsten Kennzahlen von daten-basierten Marketinginitiativen schon heute (!) Loyalität, Zufriedenheit und Kundenbindung. „Harte“ bzw. kurzfristige Business-Kennzahlen wie die Conversion-Rate wurden dort also bereits durch vermeintlich „weiche“ Kennzahlen der R-Commerce-Ära verdrängt. Das sollte ein deutlicher Hinweis sein, heute selbstbewusst die Weichen zu stellen, um auch morgen noch erfolgreich zu sein.

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6 Der R-Commerce-Fahrplan: Wege zur datengetriebenen …

Die To-Do-Liste für das C-Level, die sich daraus ergibt, ist lang. Es geht darum, Change-Prozesse auf mehreren Ebenen einzuleiten. Wer im fortgeschrittenen 21. Jahrhundert immer noch produkt-fokussiert aufgestellt ist, hat hier bereits die erste Baustelle gefunden. Zunächst einmal gilt es zu hinterfragen, welche Rolle die Kund:innen einnehmen? Stehen Sie wirklich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – von der Produktentwicklung über Marketing und Vertrieb bis hin zum Service? Eines sei vorweggeschickt: Wert-Schätzung und Wert-Schöpfung waren nie enger verzahnt als heute. Es sind die zentralen Schlagworte, aus denen sich eine andere Kultur und überlegene Organisationsform ergeben muss und ergeben wird – agil, selbstorganisiert, fehlertolerant und performant. Im Mittelpunkt steht eine schnellere Entscheidungsfindung für operative und strategische Aufgabenstellungen. Agiles Arbeiten ist aktuell das beste Mittel, um die Dynamik disruptiver Veränderungen voranzutreiben, wird bislang jedoch meist nur auf Teamebene gespielt. Das Organisationsmodell in seiner Gesamtheit bleibt allzu oft noch starr und unbeweglich. Stellt sich die Frage, an welchen Stellen sich Organisationen ändern müssen und was R-Commerce für Kultur & Mindset sowie für Rollen & Aufgaben bedeutet.

6.3.1

Status Quo: Marketing- und Vertriebsorganisationen heute

2010, also vor nicht allzu langer Zeit, kümmerte sich die Marketing-Abteilung in der Hälfte aller Unternehmen nebenbei um den Online-Bereich. Nur wenige Unternehmen hatten in dieser Zeit eine eigenständige Online-Marketing-Abteilung. Diese Zahlen zeigen, wie wenig die Unternehmen seinerzeit glaubten, dass das Web als relevante Säule in Marketing und Vertrieb an Bedeutung gewinnen würde. Und die Historie wirkt offensichtlich fort. So manchen Verantwortlichen fehlt auch heute das Verständnis, warum eine Transformation in Richtung R-Commerce notwendig ist. Dabei müsste man nur die eigenen Kund:innen fragen: Horrorgeschichten aus dem Callcenter, wo Kund:innen von A nach B und ins Nirwana verbunden werden, mangelndes Entgegenkommen bei Bezahloptionen, Lieferwegen oder einem Umtausch, Werbung für Produkte, die es in der Realität nicht zu kaufen gibt, oder die man längst besitzt. Prozessuale Grundlagen der Kundenbeziehung fehlen heute allerorten. Schuld sind die vielzitierten und trotzdem kaum aufbrechbaren „Silos“, die gemeinsame Herausforderungen wie einen internen Wettbewerb erscheinen lassen: Service gegen Vertrieb, Marketing gegen IT, etc. Die dringend notwendige Zusammenarbeit an der Schnittstelle von Marketing, Sales, Service, Category Management und IT verhindert in der Realität sauber abgestimmte Prozesse. Waren Unternehmen früher reine Handelsorganisationen, so müssen sie heute mehr anbieten: Sie sollten Beratung und innovative Problemlösung liefern, Anbieter von Services rund um die Produkte sein und als echte Marken mit prägnanter Identität und Haltung auftreten.

6.3

Die beziehungsorientierte Organisation

173

Einzelne Verantwortungsbereiche funktionieren individuell und im Silo betrachtet sehr gut. Geeignete Tools werden Usecase-bezogen eingesetzt, effektive Prozesse sind etabliert, Ziele von Mitarbeitenden auf das Abteilungsziel ausgerichtet. Woran es hapert, ist die Etablierung und Orchestrierung cross-funktionaler Teams. Sichtbar wird dies regelmäßig daran, dass Ziele einzelner Verantwortungsbereiche in Konflikt zueinanderstehen. Typisches Beispiel: Das Marketing verfolgt mit seinem Ziel, Neukund:innen zu gewinnen, einen anderen Fokus als das Service-Team, das auf Bestandskundenpflege verzielt ist. Solange Kund:innen im Laufe ein und desselben Kaufprozesses in die Zuständigkeit vieler verschiedener Abteilungen des Unternehmens fallen, ist eine exzellente, durchgängige Kundenerfahrung unmöglich. Folgende Abb. 6.16 zeigt, dass Abteilungen oft völlig zu Recht das Gefühl haben, für sich bereits kundenzentriert zu arbeiten. Durch mangelnde Verzahnung und fehlende Durchgängigkeit sind diese Bemühungen aber schlicht nichts wert, weil Kundenzentrierung nicht auf der Ebene des Gesamtunternehmens ankommt. Case Study: Das macht eine große Versicherung anders Große Versicherungsgesellschaften hatten jahrelang den Verkauf ihrer Versicherungen im Blick. Das Dilemma: Die eine Sparte (z. B. Sachversicherung) wusste nicht, was die andere Sparte (z. B. Lebensversicherung) trieb. Jede Abteilung arbeitete in seinem Silo nach vorgegebenen KPIs zielgerichtet vor sich hin. Umsatz und Anzahl Neuabschlüsse galten als Erfolgsanzeiger. Doch mit diesem Ansatz wird viel Potenzial verschenkt. Denn Kund:innen, die bereits eine Haftpflichtversicherung haben, interessieren sich vielleicht auch für eine Kranken- oder eine Risikolebensversicherung. Aber was interessierte die Haftpflichtabteilung der Verkauf „spartenfremder“ Policen? Der Funnel, durch den die Kund:innen geleitet wurden, wurde entlang des jeweiligen Versicherungsproduktes konzipiert, nicht entlang der Bedürfnisse der Kund:innen. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht des Versicherers ein echtes Problem! Das Ergebnis war ein komplett fragmentierter Funnel, der die Kund:innen nicht bei ihrem Bedarf abholen konnte. Bedarfsorientierte Kontaktpunkte wie „Sind Sie zufrieden mit unserer Schadensregulierung bei Ihrem KFZ-Unfall letzte Woche? Der Unfall ist ja gerade noch einmal gutgegangen. Aber wäre es nicht klug, jetzt eine Lebensversicherung oder eine Krankenhauszusatzversicherung abzuschließen? Wir hätten da ein attraktives Angebot.“ wurden nicht gedacht, geschweige denn für ein Cross-Selling genutzt. Um ein derartiges Angebot überhaupt machen zu können, müssen Versicherungen die verschiedenen Ziele, die teilweise nicht übergreifend konsolidiert sind, auf eine Linie bringen. Das Leitmotiv dafür lautet abermals Kundenzentrierung: Es geht immer weniger darum, neue Innovationsmeilensteine zu erreichen, sondern um den daten-basierten Aufbau von Verständnis, kontinuierliche Optimierung und ehrliche Arbeit an den Kund:innen. Das bedeutet zunächst, die Kommunikation umzustellen auf eine für die Kund:innen relevante Useransprache. Anhand des Alters lassen sich beispielsweise bestimmte Events im Leben eines Menschen berechnen, die bestimmte Versicherungsbedürfnisse wecken. Denn bei der Neukundenansprache geht es um Klasse statt Masse. Um im Beispiel zu bleiben: Eine Mail mit Hinweis auf einen Rentenrechner kann als guter erster Indikator genutzt werden, eine Altersklassifizierung zu entwickeln und vielversprechende bzw. interessierte User zu identifizieren. User, die sich mit Content zur Altersvorsorge auseinandersetzen und einen Rentenrechner nutzen, können sich zu Hot Leads entwickeln. User, die dagegen über eine Suche nach „billige Haftpflicht“ kommen, sind oft deutlich schwerer zu qualifizieren und zu loyalen Kund:innen zu machen. Entscheidend sind neben den klassischen Metriken wie Abschlüsse auch neue Kennzahlen wie Weiterempfehlungsquote, Net Promoter Score, oder Customer Lifetime Value.

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6 Der R-Commerce-Fahrplan: Wege zur datengetriebenen …

Abb. 6.16 Problemfelder heutiger Organisationen

Verkompliziert wird Herausforderung der konsolidierten Verzielung noch, wenn (wie in diesem Beispiel) das Unternehmen in verschiedene Profit Center bzw. unabhängige GmbHs aufgegliedert ist und international in verschiedenen Ländern unterschiedliche Vorgehensweisen anwendet. Um aus dieser Misere herauszukommen, wurde bei der Versicherung ein Projekt initiiert, das Kundenqualität messbar macht und eine langfristige Perspektive auf Kundenbeziehungen einnimmt: X Millionen Leads – gleichwelcher Qualität – zu sammeln, sollte heute kein Ziel für sich sein – denn es sagt kaum etwas über den erwartbaren betriebswirtschaftlichen Erfolg aus. Stattdessen wurden für einen hohen Customer Lifetime Value beziehungsgerichtete Maßnahmen ergriffen: ein Kundenportal mit innovativen Mehrwertservices, sinnvoll bespielte Social-Media-Kanäle, moment-getriebene

6.3

Die beziehungsorientierte Organisation

175

Marketing-Anstoßketten. All das aus dem strategischen Gedanken heraus, nachhaltige Beziehungen aufzubauen: Denn es ist nicht nachhaltig, wenn die Kund:innen einen Vertrag abschließen und dann jährlich nur in Form der Jahresrechnung von ihrem Versicherer hören. Versicherer müssen raus aus dem Hamsterrad von hohem Churn und Kundenakquisedruck und ihren Fokus auf den Aufbau vertrauensvoller Beziehungen legen.

Damit die in der Case-Study beschriebenen Ziele erreicht werden braucht es ein neues Mindset. Die Führungsetage muss vorleben, wie Datenmanagement und die richtigen Daten Entscheidungen begründen. Die persönliche Meinung als Bauchgefühl hat ausgedient. Daten müssen abteilungsübergreifend zur Verfügung stehen, sodass Marketing und Sales sich optimal abstimmen können. Es müssen sich agile Teams aus verschiedenen Abteilungen und mit unterschiedlichen Kompetenzen bilden und verstehen, dass sie gemeinsame Ziele verfolgen.

6.3.2

Kultur & Mindset

Das große Datensammeln hat begonnen. Das erklärte Ziel: kundenorientierte Produkte und Services, sowie effizientere Prozesse, um die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Wer sein Business nach den neuen Spielregeln aufbauen will, braucht eine datenzentrierte Organisation. Das bedeutet zunächst einmal: keine Angst vor Daten. Und auch nicht vorm Datensammeln mit der Zustimmung des Users und in aller Transparenz. Denn anders als früher, als Daten heimlich im Hintergrund eingesammelt wurden, bitten RCommerce-Unternehmen ihre User heute offen, explizit und begründet darum, die Daten erheben und nutzen zu dürfen. Denn Offenheit gehört zu der neuen Beziehung zu den Kund:innen dazu. Das Mindset in der gesamten Organisation dreht sich auf User-first und damit auch auf Transparenz- und Privacy-first. Und wer eine datengetriebene Organisation sein möchte, muss sich bewusst sein, dass alle Mitarbeitenden einen Einfluss auf diesen Erfolg haben und zum Wohle der Kund:innen handeln. Es reicht am Ende des Tages nicht aus, eine neue Software zu installieren, ein Analytics-Team aufzustellen und Data Scientists zu rekrutieren. In einer Organisation arbeiten viele Menschen in unterschiedlichen Abteilungen und Teams zusammen und besitzen verschiedene Fähigkeiten und Erfahrungen. Doch eines haben sie gemeinsam: die Unternehmensstrategie und ihre übergeordneten Ziele. Der nächste Schritt ist, das richtige Mindset davon abzuleiten. Dass das nicht auf Kopfdruck passiert, ist völlig logisch. Und dennoch: Alle, die mit Veränderungsprozessen zu tun haben, sind sich einig: Sie haben die Bedeutung des Menschen innerhalb der Organisation unterschätzt. Die Unternehmensberatung Capgemini hat weltweit 1135 Mitarbeitende aus elf Ländern befragt, wie es um die Digitalisierung in ihren Firmen steht (Rodenhausen et al., 2012). Das Ergebnis sollte CEOs nachdenklich stimmen: 62 % der Befragten sehen das größte Hindernis für einen umfassenden Wandel in der eigenen Unternehmenskultur. Besonders erschreckend ist, dass sich diese

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6 Der R-Commerce-Fahrplan: Wege zur datengetriebenen …

Einschätzung seit der letzten Studie aus dem Jahr 2011 sogar um sieben Prozentpunkte verschlechtert hat. Offenbar braucht es heute dringender denn je motivierte Mitarbeitende, die eine kundenzentrierte Kultur voranbringen, damit R-Commerce kein technologischer Veränderungsprozess bleibt, sondern bis auf die Ebene der Kultur und Business-Philosophie wirksam wird. Der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Everett M. Rogers hat bereits vor vielen Jahrzehnten beschrieben, was es braucht, damit aus neuen (oft im Kern technologischen) Ideen eine Veränderung der grundlegenden Weltanschauungen wird und Fortentwicklung nicht nur beobachtet, sondern auch gelebt wird (Rogers, 1962). Er erkannte, dass fünf Aspekte die Verbreitung einer neuen Idee beeinflussen: • • • • •

die die die die ein

Innovation selbst (frühen) Anwender:innen Kommunikationskanäle Zeit soziales System

Besondere Bedeutung kommt demnach den Menschen zu, die eine Idee initial aufgreifen. Diese Keimzelle der Verbreitung werden als Innovatoren bezeichnet und stellen die ersten 2,5 % der Belegschaft dar. Diese überzeugen als Vorbilder die 13,5 % Early Adopters, gefolgt von 34 % als Early Majority und 34 % als Late Majority. Und schließlich sehen auch die letzten 16 % der Nachzügler ein, dass eine neue Technologie mehr Vorals Nachteile mit sich bringt. Schafft es eine Veränderung bis zu den Early Majority, gilt der Erfolg als nahezu gesichert. Fakt ist: Praktisch jedes Unternehmen arbeitet derzeit an einer neuen strategischen Ausrichtung, an Umstrukturierungen, an einer Etablierung neuer Technologie-Stacks und an innovationsfördernden Methoden und Analyse-Tools. Das macht es Innovatoren zunehmend schwer. Denn nicht alle Mitarbeitenden spenden Applaus für die reale Unruhe, die diese Maßnahmen schaffen. Daher müssen Organisationen den Sinn und das übergeordnete Ziel jeder Veränderung klar und kontinuierlich kommunizieren – erst recht, wenn sie so umfassend ausfällt, dass Bücher darüber geschrieben werden. In einer effektiven R-Commerce-Organisation kommt der Auswahl der Innovatoren damit eine große Bedeutung zu. Als Keimzelle und Nukleus sind sie die neuralgische Stelle der Verbreitung. Daher gilt: Die ersten Kund:innen für den kulturellen Wandel sind die internen Kund:innen. Nur so wird aus Mitarbeitenden-Engagement später Kunden-Engagement werden. Kritische Fragen bleiben bei solch starken Veränderungen nicht aus, Unsicherheiten grassieren. Das ist kein grundsätzliches Problem – denn es zeigt, dass die Teams emotional involviert sind und sich beteiligen. Gleichzeitig wird der Kommunikationsbedarf zur Kernaufgabe für das Management. Denn allein das Verkünden der neuen Leitprinzipien reicht natürlich nicht aus, um ein R-Commerce-Mindset zu fördern, an dem alle

6.3

Die beziehungsorientierte Organisation

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mitziehen. Führungskräfte müssen im Blick behalten, dass fast alle Mitarbeitenden bereits diverse Ankündigungen neuer Strategieprogramme erlebt haben, genauso wie das Scheitern großer IT- und Transformationsprojekte. Diese persönlichen Blessuren sind emotional sehr präsent und können Mitarbeitende zu einer skeptischen Grundhaltung gegenüber Veränderungen bringen. Das im Blick zu behalten, Sicherheit zu geben und sich selbst (mit gutem Beispiel voran) an die Speerspitze des Veränderungsprozesses zu setzen, ist ein Schlüsselfaktor für die interne Akzeptanz. Und auch wenn es herausfordernd ist: Das alles muss top-down implementiert werden. Ohne Führungskräfte als Vorbilder geht es nicht. Oft macht sich in Gesprächen der Eindruck breit, das tatsächliche hinke dem angestrebten Mindset meilenweit hinterher. Oft steckten hinter den Kommunikationsinitiativen nur leere Worthülsen und Buzzwords, mit denen sich Unternehmen gerne schmücken. Oft scheiterten genau daran viele Transformationen, die vielversprechend begonnen haben. Dieser subjektive Eindruck lässt sich auch empirisch bestätigen, wenn es um datenzentrierte Veränderungsprozesse geht: Kulturelle Herausforderungen und Widerstände gegen Veränderungen sind nach mangelnder Datenkompetenz im Unternehmen das größte Hindernis für deren Erfolg (Abb. 6.17) (Goasduff, 2021). Die Tatsache, dass kulturelle Aspekte in dieser Erhebung ausgerechnet von dem Chief Data Officer betont werden, unterstreicht die Bedeutung noch einmal. Wer eine datengetriebene Organisation aufbauen möchte, muss sich bewusst sein, dass jeder einzelne Mitarbeitende Einfluss auf diesen Erfolg hat. Es reicht nicht aus, eine neue Softwarelösung zu installieren, ein Analytics-Team aufzustellen und Data Scientists zu

Abb. 6.17 Kritische Hindernisse für den Erfolg von datenzentrierten Organisationen

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6 Der R-Commerce-Fahrplan: Wege zur datengetriebenen …

rekrutieren. Menschen wollen wissen, warum etwas passiert und welchen Einfluss dies auf ihren Job hat. Die dafür notwendige Veränderung des Mindsets lässt sich leider nicht auf Knopfdruck aktivieren. Große, interdisziplinäre Teams für eine strukturelle Veränderung vorzubereiten und einen gemeinsamen Purpose zu etablieren, ist für sich genommen schon eine Herkules-Aufgabe. Erschwerend kommt hinzu, dass Menschen nicht auf dieselben Botschaften und Reize reagieren – zu unterschiedlich sind Bedürfnisse, Motivationen und das Selbstbild im Kontext einer Veränderung. „Growth Mindset“ und „Fixed Mindset“ Die Psychologie-Professorin Carol Dweck teilt Mitarbeitende in zwei Kategorien ein: Menschen mit einem „Growth Mindset“ und Menschen mit einem „Fixed Mindset“ (Dweck, 2017). Erstere haben ein dynamisches Selbstbild und sind davon überzeugt, dass sie sich selbst immer wieder weiterentwickeln können. Sie gehen neue Wege, probieren Neues aus und haben keine Angst davor, Fehler zu machen. Menschen mit einem Fixed Mindset dagegen haben ein statisches Selbstbild und gehen davon aus, dass Können nur mit einem bestimmten Talent möglich ist. Sie trauen sich selbst nur wenig zu, sind risikoscheu und haben Angst, Fehler zu machen. Haben Menschen oder sogar ganze Teams überwiegend ein Fixed Mindset, ist das für eine Transformation des gesamten Unternehmens, in der es auch viel um Experimentieren geht, alles andere als förderlich.

Von Management zu Empowerment Organisationen müssen sich wandeln und jedem einzelnen Mitarbeitenden neue Möglichkeiten aufzeigen. In der Ära des R-Commerce befinden sich alle, die mit Kundendaten arbeiten – und das sind idealerweise ALLE Mitarbeitenden – in einem ständigen, nie endenden Lernprozess. Das Motto lautet „fail faster“ statt Autokratie. Mitarbeitende müssen sich selbst steuern, Führungskräfte müssen besser delegieren und die Rahmenbedingungen für selbstorganisiertes und autonomes Lernen und Arbeiten schaffen. Mitarbeitende brauchen Freiheiten, Neues auszuprobieren; eine offene Fehlerkultur sorgt für die nötigen Korrekturen. Führungskräfte stärken ihre Teammitglieder und ermutigen sie zur Teilnahme am unternehmerischen Entscheidungsfindungsprozess. Entscheidend ist dabei ein guter Mix im Team an Stärken, die jede und jeder einzelne einbringen kann. Das ist insbesondere in cross-funktionalen Teams gegeben. Wichtig: Selbstorganisierte Teams sind tendenziell erfolgreicher. Wenn die Aufgabenstellung klar formuliert ist, der Weg zur Lösung jedoch offenbleibt, haben die Teams die nötige Flexibilität, auf geänderte Rahmenbedingungen schnell und effektiv zu reagieren. Dazu trägt auch bei, dass jeder Einzelne selbst Verantwortung übernommen hat und hochgradig intrinsisch motiviert ist. Auch wenn Menschen erst einmal zögern und zaudern und die Notwendigkeit von Neuerungen nicht erkennen oder sich davor fürchten: Unternehmen müssen ihren Mitarbeitenden klar machen, dass sie sich selbst organisieren dürfen, dass sie mehr Entscheidungsfreiheiten und mehr Verantwortung bekommen. Der Vorteil: Ergebnisse werden viel breiter von den Teams mitgetragen und Beschlüsse direkter und weitgehend verlustfrei umgesetzt. Stehen die Mitarbeitenden nicht hinter den neuen Ideen, so mag die Strategie zwar gut sein. Bei der Umsetzung jedoch sorgen lange Befehlsketten dafür, dass die Ecken abgeschliffen werden und Exzellenz verloren geht.

6.3

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Verantwortung bekommt in selbstorganisierten Teams eine größere Bedeutung: Selbstorganisation bedeutet, dass die Teammitglieder selbständig regeln, wer welche Aufgaben und Verantwortungen übernimmt. Kurz: Das Team bestimmt, wer die Ownership ergreifen soll (oder freundlicher ausgedrückt: darf – es ist schließlich ein Privileg!) und für die Konsequenzen der getroffenen Entscheidungen einsteht. Reine Selbstorganisation ist allerdings meist aus Komplexitätsgründen nicht das Modell der Wahl. Es läuft häufig auf eine Mischform zwischen klassischer Führung und Selbstorganisation hinaus. Bewährt hat sich dabei das Koordinationsprinzip von Hackmann (1986). Um die Entwicklung in Richtung R-Commerce zu fördern, müssen nicht nur die Teams frischen Spirit eingehaucht bekommenen. Auch das Top-Management darf an seinem Mindset arbeiten. Es geht um Macht abgeben, loslassen! Die Dinge sind in der Ära des R-Commerce nicht mehr am Reißbrett planbar, auch nicht kontrollierbar. Noch während Führungskräfte diesen Abschnitt lesen, erobern neue Technologielösungen den Markt, entsteht irgendwo unbemerkt der nächste Hype, zeichnen sich bisher unbekannte Muster in den Datenspuren der User ab, werden neue Berufsbezeichnungen entwickelt, die es bislang nicht gab. Um unter diesen agilen Rahmenbedingungen das Unternehmen weiter voranzubringen, bleibt dem Management nichts anderes übrig, als Kontrolle abzugeben. Allerdings scheint Loslassen regelmäßig gerade für das Top-Management eine schier unlösbare Aufgabe zu sein: Wer sich Jahrzehntelang über Macht definiert hat, sieht diesen Schritt mitunter als identitätskritische Bedrohung. An das Team zu denken ist leicht; es zu leben ist hart. Theoretisch ist allen klar: Selbst die beste Geschäftsführung kann nicht alles alleine schaffen. Sie ist auf ein hochmotiviertes Team angewiesen, das verschiedene Stärken besitzt und zur Geltung bringen kann. Praktisch entsteht bei vielen Führungskräften jedoch eine spürbare Barriere, Team-Mitglieder Fehler machen zu lassen und daraus lernen zu dürfen. Genau das stellt sich aber immer wieder als zentraler Erfolgsfaktor heraus. Dabei ist der Schritt, Teams mit mehr Autonomie auszustatten und selbstorganisierte Arbeit zu fördern eine große Chance für die Unternehmungsführung: CEOs bekommen damit die Möglichkeit, sich um langfristige Marktchancen, die grundlegende Ausrichtung des Unternehmens und strukturiertes Wachstum zu kümmern. Ein Team klug aufzubauen, es mit viel Handlungsspielraum auszustatten, in verantwortungsvolle Rollen hineinzumanövrieren und es schließlich einen hervorragenden Job machen zu lassen – das ist das Ziel. In den meisten klassisch geprägten Unternehmen, können solche Entwicklungen nicht „bottom-up“, also aus den operativen Funktionen heraus, angestoßen werden. Die R-Commerce-Transformation ist definitiv ein Vorstandsthema. Ohne den expliziten und glaubwürdigen Wunsch der Spitze des Unternehmens kann es keine tief greifende Veränderung und keine wirklich kundenzentrierte Organisation geben. „Learning to learn“ und psychologische Sicherheit Selbstorganisiertes Arbeiten wird nur als bereichernd wahrgenommen und ist auch wirtschaftlich nur dann effektiv, wenn zwei zentrale Voraussetzungen gegeben sind: Die Kompetenz zu lernen und psychologische Sicherheit.

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„Learning-to-learn“ wird zur Schlüsselkompetenz im R-Commerce. Auf der digitalen Dauerbaustelle müssen Führungskräfte aktiv „Upskilling“ ihrer Organisation betreiben und sollten (auch im Marketing) ca. 50 % ihrer Zeit auf die internen Kund:innen investieren statt auf Endkund:innen. Es geht darum, dass die Teams und ihre CMOs regelmäßig die Lage analysieren und Handlungsempfehlungen, die die Kund:innen in den Mittelpunkt stellen, erarbeiten. Das erfordert einen intensiven internen Dialog, von dem am Ende die Kund:innen des Unternehmens profitieren. Es gibt kein „fertig“, alles befindet sich in einem permanenten Veränderungsprozess. „Pánta rei“, wie die Griechen sagen, „alles fließt“. Was heute noch als Naturgesetz angesehen wird, kann morgen schon hinfällig sein. Wenn jede Entscheidung daten-basiert und fundiert hergeleitet wird, befinden wir uns in einem immerwährenden Lernprozess. Denn Daten bilden das Verhalten von Menschen ab. Und das ändert sich kontinuierlich. Diejenigen, die zum Lernen das beste Rüstzeug und die beste Methodenkompetenz besitzen, können ihre Lernkurve von vornherein deutlich steiler gestalten. Die Personalabteilung und die Führungskräfte sollten jede Gelegenheit nutzen, die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, zu fördern. Nur wo Organisationen von bekannten Pfaden abweichen, können sie sich entwickeln. Nur dort wird langfristige Wertschöpfung entstehen. Wenn Kompetenzen wie Eigeninitiative, Selbstführungskompetenz, interpersonale Wahrnehmung und soziale Anpassungsfähigkeit immer wichtiger werden, bedeutet das einen riesigen Kraftakt: Mitarbeitende, die jahrelang vor allem Befehlsempfänger waren, sollen plötzlich selbständig denken und arbeiten. Damit das gelingt, braucht es nicht nur einen starken Lernprozess. Die zweite Zutat: Jeder Mitarbeitende muss psychologische Sicherheit empfinden. Denn Mitarbeitende sind Menschen – und Menschen haben Ängste. In den 1990-er Jahren begründete Amy Edmondson, Professorin an der Harvard Business School, ihr Konzept der psychologischen Sicherheit, um Ängsten auf der Organisationsebene zu begegnen. Psychologische Sicherheit ist das Maß an Vertrauen in einer Gruppe, das es braucht, um Fehler zu machen, Meinungen sowie Feedback offen anzusprechen und Verletzlichkeit zeigen zu können, ohne vom Team dafür verurteilt und abgestempelt zu werden. In ihren Arbeiten zur Fehlerforschung fand Edmondson heraus, dass die Leistung eines Teams umso besser ist, je mehr Fehlermeldungen es innerhalb dieses Teams gibt. Das bedeutet nicht, dass erfolgreiche Teams quantitativ mehr Fehler als andere machen – sondern dass sie diese Fehler offen ansprechen. Psychologische Sicherheit wird bestimmt von der Wahrnehmung, dass die Teammitglieder sich in einer Umgebung befinden, die sicher ist und die darüber hinaus geeignet ist, Risiken einzugehen. Dieses Gefühl entsteht, wenn Menschen offen miteinander kommunizieren können und sich einbezogen fühlen, lernen können und bereit sind, auf festem Grund den Status Quo zu hinterfragen. Das ist eine essenzielle Voraussetzung für einen in der Tiefe verwurzelten daten-basierten Entscheidungsprozess und echte Kundenorientierung. Psychologische Sicherheit ist damit die Basis für Lern- und Entwicklungsprozesse und das Fundament für Erfolg: Durch die psychologische Sicherheit wird die Bereitschaft für ständige Weiterentwicklung gesteigert, denn die Mitarbeitenden fühlen sich freier, motivierter und verbundener mit dem Unternehmen. Und die Angst, Fehler zu machen und dafür abgemahnt zu werden, sinkt. Fehlermachen ist erlaubt, es wird sogar

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begrüßt. Denn aus Fehlern entsteht eine neue Erkenntnis, wie Dinge besser angepackt oder effizienter gelöst werden können. Sicherheit vor negativen Auswirkungen ist der Schlüssel für erfolgreiche und leistungsstarke Teams. Zusammengefasst sind die Voraussetzungen für psychologische Sicherheit in Teams: • • • •

Freie Meinungsäußerung im Team-Meeting Team-Mitglieder schätzen und respektieren sich gegenseitig Fehler sind erlaub und werden diskutiert Soziale Empathie trägt die Gruppe

Google und seine Fehlerkultur Von Google ist bekannt, dass gezielte Maßnahmen zur Förderung des Umgangs der Mitarbeitenden untereinander entwickelt wurden, die auf den etablierten Erkenntnissen zur psychologischen Sicherheit basieren. Google ist dafür der Frage nachgegangen, was ein Team konkret erfolgreich macht. Innerhalb von zwei Jahren wurden viele Google-Mitarbeitende befragt und mehr als 180 Teams beobachtet. Die Antwort: Der Erfolg eines Teams hängt davon ab, wie die Teammitglieder miteinander agieren, ihre Arbeit strukturieren und ihren eigenen Beitrag wahrnehmen. Google destillierte fünf Schlüsselfaktoren für erfolgreiche und effektive Teams heraus (Google o. J.): • • • • •

Psychologische Sicherheit Zuverlässigkeit Struktur und Klarheit Bedeutung der eigenen Arbeit (Meaning) Auswirkungen der Arbeit (Impact)

6.3.3

Rollen & Aufgaben

Die neue Beziehung mit den Kund:innen und die Notwendigkeit einer echtzeitfähigen und kundenzentrierten Kommunikation verändern wie schon angedeutet auch das Zusammenspiel zwischen den Abteilungen und definiert Rollen und Aufgaben neu. Zur Erinnerung: Angestrebt wird eine abteilungsübergreifende Strategie und Koordination aller Kontaktpunkte streng im Sinne der Kund:innen. Technologie ist dabei kein Allheilmittel, sondern ein Enabler für einen effektiven Umgang mit Daten, der wiederum die Basis nachhaltiger Kundenbeziehungen ist. Wirklich datengetriebene Unternehmen nutzen Datenerkenntnisse im gesamten Unternehmen, um ihre Kund:innen zu verstehen, zu entwickeln und zu erreichen. Durch das Verständnis und die Nutzung der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen können Unternehmen das „Jetzt“ viel besser managen und gleichzeitig eine viel klarere Vision in die Zukunft für kundenzentriertes Vorgehen entwerfen. Die kundenzentrierte Organisation der Zukunft umfasst nicht nur die dauerhafte, interdisziplinäre Verteilung von Kundeninformationen, die permanente Bereitschaft zur Innovation und Optimierung von Kundenerlebnissen, sondern auch die Schärfung bestehender Jobprofile und vielmehr das Einsetzen neuer Profile und Grundfertigkeiten. Und dabei sind die Menschen der kritische Faktor.

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Starre Abteilungen und strenge Hierarchien sollten dafür wo immer möglich abgelöst werden durch eine agile Organisation. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich in kürzester Zeit an Veränderungen und neue Anforderungen am Markt anpassen kann. Das können neue Geschäftsprozesse oder eine innovative Art der Entscheidungsfindung sein. Organisatorisch bedeutet dies, die dafür notwendigen Skills und Ressourcen einerseits aufzubauen, und andererseits Rollen neu zu definieren – weg von klassischen Fachund Applikationsverantwortlichkeiten hin zu Verantwortlichkeiten für Mehrwertbereiche (z. B. Customer Journeys), die von interdisziplinären Teams ganzheitlich bearbeitet werden. Abb. 6.18 zeigt auf, wie das gelingen kann. Dort werden drei neue Rollen geschaffen, die besondere Aufmerksamkeit verdienen: • Jede Customer Journey wird von einem dedizierten Customer Journey Manager verantwortet. Dieser ist Ende-zu-Ende für das Erlebnis der Kund:innen entlang eines gesamten Prozesses verantwortlich. Vorbei sind damit die Zeiten, in denen die Zuständigkeit für einen einzelnen User auf der Reise vom ersten Marketing-Impuls bis zur Bestandskundenbetreuung vielfach wechselte. Die Customer Journey Manager steuern ein cross-funktionales Team mit gemeinsamen Kundenzielen. Es handelt sich dabei um besonders exponierte Rollen mit unmittelbarer Wirksamkeit für das Ergebnis. • Die Customer Journey Manager werden von einem Collaboration Manager koordiniert. Dieser stellt prozessverantwortlich und ergebnisneutral sicher, dass die Customer Journey Ziele auf die Gesamtziele ausgerichtet sind und dieselben Metriken verwendet werden. Letzten Endes synchronisiert er die Customer Journey Manager fachlich. • Als Vertreter des Top-Managements steht der Chief Behavioral Officer für alle Kundenentscheidungen ein. Diese Rolle, die idealerweise im Vorstand angesiedelt ist, trägt die Verantwortung, dass Kund:innen- und businessgerichtete Ziele im Einklang stehen. Sie allokiert Budgets und setzt strategische Schwerpunkte bei den verschiedenen Kundensegmenten. Unternehmen, die einen Chief Behavioral Officer mit den notwendigen Schulterklappen ausstatten, brauchen keinen Chief Marketing Officer mehr.

6.3.3.1 Die Anforderungen an das C-Level werden handwerklicher Die neue Beziehung zu den Kund:innen und die Notwendigkeit einer echtzeitfähigen und kundenzentrierten Kommunikation verändert auch das Jobprofil des CEO und seiner CLevel-Kolleg:innen massiv. Neben dem klassischen Einmaleins der Unternehmensführung kommt es künftig auf die folgenden Eigenschaften an. • Flexibilität: Führungskräfte des C-Levels müssen gedanklich flexibler werden und in der Lage sein, sich schnell an grundlegende Veränderungen in der Welt anzupassen. Anpassungsfähig und Flexibilität sind Teil der neuen Kultur und Prozesse, müssen aber durch modernere Technologielösungen wie künstliche Intelligenz (KI) unterstützt werden, um Anpassungsfähigkeit und Flexibilität in großem Maßstab ermöglichen.

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Abb. 6.18 Aufbau einer agilen Organisation

• Tech-Know-how: Zu wissen, wie man die richtigen Technologielösungen auswählt und einsetzt, ist eine entscheidende Komponente, um den Erfolg eines Unternehmens sicherzustellen. Der moderne CEO braucht daher die richtige Technologieführung an seiner Seite (Chief Information Officer, Chief Data Officer). Der CIO/CDO sollte in der Lage sein, mit dem CEO auf eine Weise zu kommunizieren, die die Kluft zwischen Business und Technologie überbrückt. Und obwohl nicht erwartet wird, dass CEOs technisch so versiert sind wie ihr CIO, müssen sie ihr „Technik-Handicap“ verbessern und Technologien zumindest verstehen und bewerten können, wie diese das Leistungsangebot bereichern können. Um es klar zu sagen: CEOs können heute ihren

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Job kaum noch gut machen, wenn sie Automatisierungsplattformen und Technologien wie Customer Data Platforms (CDP) oder Künstliche Intelligenz (KI) nicht verstehen. • Datenaffinität: Liegt Tech-Know-how vor, müssen moderne Führungskräfte sich datengesteuerten Strategien und Entscheidungen zuwenden. Dazu gehören das Verständnis für ein zentralisiertes Datenmanagement und die kritische Bedeutung von Kundendaten für den Geschäftserfolg. Das ergibt sich aus den fünf Leitprinzipien des R-Commerce, namentlich des Prinzips des datengetriebenen Handelns. Alle Geschäftsentscheidungen sollten heute datengestützt erfolgen, die eigene subjektive Meinung muss dauerhaft durch testbare Hypothesen ersetzt werden. Das bedeutet, dass das CLevel mit Dashboards und Analytics-Tools so jonglieren kann wie früher mit dem goldenen Füllfederhalter. • Agiles Mindset: Moderne Führungskräfte müssen in der Lage sein, ihre Teams bei der Planung, Ausführung und Bereitstellung von Programmen und Produkten agil und iterativ zu unterstützen. Teil der agilen Methodik ist es, einzelne Mitarbeitende und selbstorganisierte Teams zu befähigen, Entscheidungen zu treffen und schnell zu handeln und zu reagieren. Ein weiterer wichtiger Teil ist die Bereitstellung der richtigen Tools, die es den Mitarbeitenden ermöglichen, sich auf agile Weise zu organisieren, zu planen und umzusetzen. Als Vorbild der Transformation müssen Führungskräfte letztlich auch über die emotionale Intelligenz verfügen, um einzelne Gruppen zu einem geschäftsbereichsübergreifenden Team zu verbinden. Mit diesen Fähigkeiten sind Führungskräfte des C-Levels in der Lage, ihre Unternehmen erfolgreich in die Ära der daten- und bedürfnis-orientierten Kundenbeziehungen zu führen. Dafür muss sich das Management auch auf der Ebene der einzelnen Rollen neu definieren.

6.3.3.2 Die Aufgaben im Top-Management werden neu sortiert Auf einige ausgewählte Rollen kommt es bei der Transformation zu einem R-CommerceUnternehmen besonders an. Vorab: Es wurde bereits beschrieben, dass die Erfahrung zeigt, dass eine solche Veränderung nicht bottom-up aus der Breite der Organisation angestoßen werden kann – sie muss als Top-Management-Thema gesteuert werden. Daher geht dieser Abschnitt auch nur auf die besonders erfolgskritischen Vorstandsrollen ein (der bereits beschriebene Chief Behavioral Officer bleibt aufgrund seiner noch geringen Verbreitung und um Redundanzen zu vermeiden hierbei unberücksichtigt). Es versteht sich von selbst, dass nicht jedes Unternehmen alle beschriebenen Rollen nominell ausfüllen muss, die jeweiligen inhaltlichen Aufgaben können auch abweichend verteilt werden. CEO (Chief Executive Officer) Eine Umfrage von Deloitte aus dem Jahr 2019 ergab, dass 67 % der US-Führungskräfte nicht gerne auf Daten aus ihren Tools und Ressourcen zugreifen oder diese verwenden (Davenport et al., 2019). Die großen Herausforderungen sind dabei nicht prozessualer oder

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technischer, sondern kultureller Natur. Der CEO spielt dabei die entscheidende und tragende Rolle. CEOs dürfen Daten nicht nur aus geschäftsstrategischer Sicht ansehen, sie müssen sie als zentralen Dreh- und Angelpunkt der Unternehmenssteuerung sehen. Sie sind damit die nötigen Treiber für die Transformation der Unternehmen von daten-agnostisch zu daten-getrieben und folgerichtig von produkt-fokussiert zu kunden-zentriert. Dafür muss das Vertrauen zu Daten hergestellt, die Daten in allen Abteilungen verfügbar gemacht und die Kund:innen dabei stets im Fokus behalten werden. Wenn der CEO ein sichtbarer Verfechter der neuen Kultur werden soll, braucht er oder sie eine:n operative:n Partner:in. Ein logischer Kandidat ist der Chief Data Officer, eine Rolle, die an Verbreitung, Sichtbarkeit und Umfang zunimmt. CDO (Chief Data Officer) Chief Data Officer sind die Architekten einer neuen datengetriebenen Unternehmenskultur. Sie etablieren Daten als den Dreh- und Angelpunkt aller Geschäftsentscheidungen. Sie agieren als Evangelisten und Advokaten der Daten-Demokratisierung und „EntSiloisierung“. Sie sind für die Verwaltung der Daten- und Analysevorgänge der Organisation verantwortlich – einschließlich der Architektur, der Benutzeranforderungen, der Softwareentwicklung, der Berichtsentwicklung sowie der Integration von KI und maschinellem Lernen. Und das alles vor dem Hintergrund von „Privacy-first“. CDOs müssen rechtzeitig datenbezogene Einblicke liefern, die dazu beitragen, die Fähigkeit des Unternehmens zu verbessern, proaktiv auf Kundenbedürfnisse zu reagieren und Geschäftsprozesse zu optimieren. CDOs sind auch diejenigen, die den Wert von Daten nachweisen müssen. Sie tun dies, indem sie Datenbestände monetarisieren, also in bestehende Produkte und Dienstleistungen einbinden. CDOs sind diejenigen, die auf Veränderungen drängen und die Kultur schaffen, die für den Erfolg erforderlich ist. Dazu müssen sie organisationsweit Kommunikations-, Planungs- und politische Fähigkeiten einsetzen. Die Kultur zu ändern und den Datenwert zu demonstrieren, ist die größte Herausforderung für die CDOs. CIO (Chief Information Officer) Dem gegenüber steht der CIO. Als kühle:r Rechner:in und Analytiker:in konzentriert er oder sie sich auf das Verständnis der digitalen Daten, die Modellierung, Vorhersage, und die Technologien, die ein Unternehmen für den täglichen Betrieb benötigt – unabhängig davon, ob es sich um eine Kernaktivität handelt oder die Technologie zur Unterstützung der Kernaktivitäten erforderlich ist. Ein Chief Information Officer sollte kein Berichterstatter sein, sondern sich mit strategischen und technologischen Fragen befassen, z. B. über die Entwicklung von Echtzeit-Kunden-Scores oder die Einführung von echtzeitfähigen Technologien. Der CIO ist für die Interpretation, Analyse und Synthese der Daten verantwortlich und sorgt dafür, dass die Daten kanalagnostisch in Echtzeit zur Verfügung stehen. Er ist der Analyst an der Seite des CDO. Je nach Größe und Maturität der Organisation hat er die Aufgaben eines klassischen CTOs inne.

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CCO (Chief Customer Officer) Relativ neu unter den C-Level-Jobs sind die Chief Customer Officers. Gerade wenn ein Unternehmen sich kundenzentriert zeigen möchte, braucht es eine oder einen Verantwortliche:n, der die Oberaufsicht hat und dafür sorgt, dass sich alle Geschäftsstrategien um die Kund:innen herum aufbauen. CCOs können als eine Weiterentwicklung der CMOs verstanden werden – mit einem erweiterten, kundenzentrierten Mindset. Ihre Rolle ist tief in den Prozess der digitalen Transformation eingebunden, da digitale Kanäle für die Unternehmenskommunikation immer wichtiger werden. In allen Kanälen in einem Omnichannel-Kontext ist es ihre Aufgabe, singuläre Kundenerlebnisse zu schaffen und immer intentionsbasiert und maßgeschneidert mit den Kund:innen zu kommunizieren. Ihre Kernaufgabe besteht darin, die passenden Customer Journeys zu konstruieren und Kundenintelligenz (Segmente/ Audiences) mit der Kundenansprache (Kanäle und Botschaften) intelligent zusammenzubringen. Auch nach innen sind sie wichtig: Effektive CCOs sind Pädagog:innen, die Marken und Mitarbeitenden gleichermaßen das Gefühl geben, einen höheren Zweck zu erfüllen. CCOs sind die Stimme der Kund:innen, die Dirigenten in einem OmnichannelKontext und die Designer von positiven Kundenerfahrungen bzw. singulären Kundenerlebnissen. Aufgrund der Art ihrer Aufgabe müssen sie in ständigem Kontakt mit den anderen Abteilungen stehen, um sicherzustellen, dass die Kundenkommunikation ebenso effizient wie kohärent ist. Sie stellen die Weichen für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit im Dienste der Kund:innen, die vorwiegend folgende Abteilungen umfasst: • Vertrieb: CCOs überprüfen das Verkaufsteam, um sicherzustellen, dass es an die richtigen Kund:innen verkauft. Wenn Kund:innen das Unternehmen verlassen, bevor die Kundenakquisitionskosten amortisiert sind, alarmiert das den CCO. Dessen Lieblingsmetrik ist der CLV: Er misst, wie qualifiziert einzelne Kund:innen sind und filtert damit für jede Interaktion die richtigen Kund:innen heraus. • Marketing: CCOs unterstützen Marketing-Teams bei der Erstellung von kundenfreundlichen Ansprachen. Sie orchestrieren nicht nur Kanäle, sondern überprüfen auch das Storytelling und die Incentivierungen. CCOs sorgen somit für neue Metriken und mehr Messbarkeit. Sie ersetzen die KPIs (Key Performance Indicators) durch CPIs (Customer Performance Indicators). Statt in Klicks und Conversions zu denken, orientieren sich COOs an CLV, Loyalty und Kundenzufriedenheit. • Produktmanagement: CCOs werten auch das Kundenfeedback zum Produkt aus und leiten es zur Umsetzung an das Produktmanagement weiter. Sie helfen Produktmanagementteams bei der Strategieentwicklung für ihr Angebot, um die Akzeptanz bei den Kund:innen zu steigern. Dabei fließt das Feedback zu einfacheren oder von den Kund:innen gewünschten Funktionen sowie Kundenerfahrungen in den Entwicklungsprozess mit ein. Social Listening und Fallbeispiele aus dem Service werden durch die CCOs an das Produktmanagement herangetragen.

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6.3.3.3 Operative Teams teilen sich eine gemeinsame Aufgabe Keine Abteilung kann mehr ohne die andere kundenzentriert arbeiten. Besonders deutlich macht das das „Dreamteam“ Data und Customer Experience. Ihr gemeinsamer Touchpoint sind die Golden Records. Das Data Team managt die Daten und baut die Kundenprofile auf. Das CX-Team aktiviert sie, um sie für Kampagnen zu nutzen. Der Unternehmenserfolg hängt also nicht zuletzt davon ab, wie gut das Zusammenspiel der beiden Abteilungen funktioniert und wie gut die Daten übergeben werden. Idealerweise arbeitet das Unternehmen mit einer CDP, in der alle Kundendaten für alle Units zugänglich sind. Damit klar wird, welche einzelnen Rollen in den beiden Teams gemeint sind, werden sie (in einer idealtypischen Struktur) im Folgenden kurz erläutert. Data Team Das Daten-Team setzt sich aus verschiedenen Spezialagenten mit jeweils eigenen Superkräften zusammen, wie in Abb. 6.19 dargestellt. • Data Analysts: Die Aufgabe der Daten-Analysten besteht darin, mehr oder weniger abstrakte BusinessFragen in konkrete Datenabfragen umzuwandeln, sodass sie mit der Funktionsweise des Unternehmens und seinen strategischen Zielen im Einklang stehen. Daten-Analysten verwenden Daten und teilen die Ergebnisse ihrer Analysen zur Entscheidungsfindung mit der Geschäftsleitung, um so die optimale Wirkung mit Blick auf Kundenzentriertheit zu erzielen.

Abb. 6.19 Aufbau eines Data Teams

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• Data Scientists: Data Scientists sind Mitglieder des Daten-Teams, die Statistiken, Deep Learning und maschinelles Lernen verwalten. Ziel ist es meist, Muster in riesigen Datenmengen zu finden. Data Science unterstützt viele beliebte Dienste wie Netflix, YouTube, Spotify, Twitter, oder Facebook, die damit ein optimales User-Erlebnis kredenzen. Deep Learning ist eine Teilmenge des maschinellen Lernens. Es ist eine künstliche Intelligenzfunktion, die die Funktion der Datenverarbeitung durch das menschliche Gehirn imitiert und Datenmuster zur Verwendung bei der Entscheidungsfindung erstellt. • Data Engineers: Data Engineers sind dafür verantwortlich, Daten auf Plattformen zu bringen, damit die Data Scientists und -Analysten sie nutzen können. Bildlich gesprochen kehren sie alle relevanten Daten zusammen. Dazu erfassen sie Datenpunkte aus verschiedenen Quellen in der Organisation, einschließlich Informationen zu Endprodukten. Sie sind für die Bereinigung und Transformation dieser Daten verantwortlich, bevor sie sie für die Kolleg:innen veröffentlichen. Diese Datenexperten sind üblicherweise in der IT angesiedelt und können von Anwendungsentwicklern abhängig sein, um die richtige Art von Daten zu erfassen. • Data Platform Admins: Diese Datenexperten verwalten die Dateninfrastruktur, die andere Data Warehouses und Formen der digitalen Infrastruktur umfasst. Data Platform Admins stellen sicher, dass die Infrastruktur gut funktioniert und dass genügend Kapazität vorhanden ist. CX-Team Mehr und mehr wird Datenkompetenz von der Spezialisten-Expertise zum GrundlagenSkill – auch oder vor allem im CX-Team. Datenanalyse und datenbasiertes Entscheiden werden in der Zukunft grundlegende Profilanforderungen sein. Das bedeutet, dass Unternehmen für alle Angestellten einen bestimmten Reifegrad an „Data Literacy“ aufbauen sollten. „Data Literacy“ beschreibt die Fähigkeit, Daten zu verstehen und effektiv zu nutzen, um Entscheidungen zu treffen und zu begründen. Wird Data Analytics zum Allgemeingut, holt das die Data Scientists bildlich gesprochen endlich heraus aus der „Nerd-Ecke“. Wer jammert, dass er keine Data Scientists findet oder sich die üblichen Spitzengehälter nicht leisten kann, macht es sich zu leicht. Unternehmen müssen die Transformation zum R-Commerce nicht auf unbestimmte Zeit verschieben, nur weil Datenspezialisten fehlen. „Organisationen müssen mehr Mitarbeitende in die Lage versetzen, ihre Datenkompetenz zu erhöhen, damit diese schnell mit Self-Service-Analysetools arbeiten können. Diese Tools sind speziell dafür konzipiert, dass Anwender aus den Fachbereichen mit nur geringem Support der IT-Abteilung und ohne wissenschaftlich-mathematische Spezialkenntnisse Zugriff auf die für sie benötigten Datenquellen erhalten, um damit umfangreiche Auswertungen zu starten und, noch wichtiger, diese Abläufe automatisieren zu können. Die Alternative […] würde darin bestehen, Entwickler und Data Science-Experten erst auszubilden. Das dauert jedoch einfach zu lange.“ (Tom Becker, Regional VP Central Europe von Alteryx )

6.3

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Auch im CX-Team entstehen neue Rollen. Derzeit deutet sich im Markt an, dass Marketing Technology Specialists bald ein integraler Bestandteil eines CX-Teams sein können – teilweise werden sie auch als „Marketing Dev Ops“ bezeichnet. Ihre Aufgabe besteht darin, alle Marketing-Systeme miteinander zu verdrahten und „unique Identifier“ an allen Touchpoints zu erheben. Weiter braucht es Customer Journey Manager und Collaboration Manager, die ebenfalls in einem zeitgemäßen CX-Team beheimatet sein sollten.

6.3.3.4 Der Fahrplan im Überblick Zusammenfassend erfordert die Entwicklung einer R-Commerce-Strategie in allen Unternehmen einen umfassenden Veränderungsprozess: technologisch, prozessual und organisatorisch. Die wichtigsten Schritte im Überblick sind: To Do’s Strategie • Geschäftsmodell auf Daten ausrichten • Grundlagen schaffen, um Daten zu sammeln To Do’s Technologie • CRM-System auf den aktuellen Stand bringen und als eine wichtige Datenquelle verstehen • CDPs evaluieren und Datenarchitektur definieren • Echtzeitfähigkeit und nahtloser Zusammenspiel aller Datenquellen ermöglichen To Do’s Datenmanagement • • • • • •

Identity-Graph erstellen Personas definieren Transaktionsdaten und Onsite-Bewegungsdaten analysieren Prognosen wagen Persönlichkeit, Umgebungskontext und Behavioral Patterns festlegen User intentionsbasiert ansprechen: Design von Audiences, basierend auf dem Customer Life Time Value (CLV) • Customer Journey neu definieren in Form von „Moments“ auf allen Kanälen To Do’s Organisation • Kundenzentrierte Organisation mit interdisziplinären Teams schaffen • 6 K’S etablieren: Kultur, Konversation, Kooperation, Kompetenz, Konsistenz, Kontinuität

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• Fehlerkultur etablieren und akzeptieren • Abteilungsübergreifende Strukturen und KPIs im Dienste der Kund:innen entwickeln • Aufgaben im Top Management neu sortieren

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Fazit: Paradigmen des R-Commerce

Zusammenfassung

Die Essenz der Essenz, wie R-Commerce Realität werden kann, lässt sich zusammenfassen in vier strategischen Punkten: eine klare Vision, ein funktionierendes „operational framework“, eine Kultur der Zusammenarbeit und agile Weiterentwicklung. Dieses Kapitel bildet kurz und kompakt den Abschluss des Buchs und fasst die konkreten Handlungsempfehlungen in Form von elf goldenen Regeln für alle Mitarbeitenden zusammen.

War die beziehungsorientierte, digitale Transformation bislang vielleicht noch ein etwas nebulöses, abstraktes Konstrukt, so ist jetzt am Ende dieses Buches mit Sicherheit sehr viel klarer, was es für ein Unternehmen bedeutet, sich zu transformieren und neu aufzustellen. Die gute Nachricht bleibt: Kund:innen sind an Beziehungen grundsätzlich interessiert, die für sie vorteilhaft sind. Die Zeiten, in denen sich das Marketing im Graubereich bewegen musste und ständig Gefahr lief, für das ausufernde Datensammeln sanktioniert zu werden, sind ein für alle Mal vorbei. Der Blick geht nach vorn – in Richtung echter Beziehungen. Der Kompass dafür: Die Bedürfnisse der Kund:innen. Das Instrument: Daten. Die geeignete Datenstrategie, das passende technologische Setup, der organisatorische Veränderungsprozess – all das sind keine Aufgaben für einen Tag. Der Weg zu einer robusten R-Commerce-Organisation ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Er ist gesäumt von Dutzenden von Initiativen, um die Daten- und UX-Ambitionen der Organisation zu erfüllen. Der Druck wird hoch sein, sicherzustellen, dass jede Initiative einen Business-Impact generiert – egal ob der Fokus strategisch, operativ oder governancebezogen ist. Doch die drei Dimensionen der R-Commerce-Transformation (Technologie, © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Stalph et al., R-Commerce, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42054-3_7

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Daten, Organisation) beschleunigen sich gegenseitig. Unternehmen, die sich auf den Weg machen, werden früh die ersten Erfolge beobachten können. Absolute Kundenzentrierung ermöglicht eine differenzierte Marktpositionierung und nachhaltiges Wachstum. Wie sehen die nächsten Schritte nun aus? Bewährt haben sich folgende Aktivitäten, mit denen Sie alle Stakeholder zsammenbringen und die Organisation zielorientiert auf Ihr R-Commerce-Programm einschwören: • Entwerfen Sie eine Vision und Strategie: Versammeln Sie die zentralen Stakeholder um sich und zeigen den Business-Impact von R-Commerce für Ihr Unternehmen auf. Positionieren Sie Daten als zentrales Unternehmens-Asset und fördern Sie mit Ideen, Konzepten und Use-Cases, wie die Organisation diese monetarisieren kann. Wählen Sie konkrete Projekte und Prototypen aus, die den Weg zur Vision grundlegend untermauern und ersten Business Impact generieren, um potenzielle Zweifler in der Organisation zu überzeugen. • Etablieren Sie ein „operational framework“: Es braucht ein ausbalanciertes Operating Model. Identifizieren Sie die Rollen und Kompetenzen sowie das Zielbild, das erforderlich ist, um eine datenzentrierte R-Commerce-Organisation zu schaffen. Fördern Sie darüber hinaus die Skills und Ressourcenvielfalt bei Fach- und ITStakeholdern und entwickeln Sie Fähigkeiten in den Bereichen Data Science und fortgeschrittene Analytik, um Innovationen wie künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen zu nutzen und Geschäftswert zu schaffen. • Investieren Sie in die Kultur der Zusammenarbeit, die R-Commerce DNA und Governance: Definieren und fördern Sie die Kultur rund um Daten- und UserZentrierung. Bewerten Sie hierfür die derzeitigen datenbezogenen Kompetenzniveaus in der Organisation, entwickeln Sie einen Datenkompetenz-Lehrplan und identifizieren Sie Projektchancen zur Entwicklung des Personals. Hinsichtlich Governance richten Sie entsprechende Initiativen mit zugehörigen Strukturen, Rollen, Prozessen und Praktiken ein, die entlang der übergreifenden Vision und Strategie definiert sind. Haben Sie hierbei immer das Master Data Management unter Berücksichtigung der DSGVO im Blick. • Gehen Sie smart und agil vor und lassen Sie sich nicht beirren: Verbessern Sie kontinuierlich den Daten- und UX-Reifegrad. Messen Sie hierzu den Fortschritt auf dem Weg zur R-Commerce-Organisation und sammeln Sie Feedback, um die Wirksamkeit des Vorhabens zu bewerten und kontinuierlich zu verbessern. Fehlschläge werden passieren, interpretieren Sie diese als Lernchancen. Überprüfen Sie auf dem Weg Ihre Strategie angesichts aufkommender Technologien wie Data Fabric, Internet der Dinge, Conversational AI, etc. Ganz zum Schluss – sozusagen als „Coffee to go“ und absolute Essenz der Essenz – finden Sie konkrete Handlungsanweisungen als goldene Regeln für alle Mitarbeitenden.

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Es sind die wenigen Worte, die das Zielbild der Transformation in jedem Meetingraum und an jeder leeren Flurwand sichtbar machen können – schwarz auf weiß. Die goldenen Regeln der datenbasierten Kundenzentrierung

• Sammeln Sie Daten, um Ihre Kund:innen und deren Bedürfnisse besser zu verstehen. • Nutzen Sie die Macht der Daten und generieren Sie echtzeitfähige Insights. • Nutzen Sie Technologien, um Daten und Plattformen in Echtzeit zusammen zu bringen. • Schaffen Sie ein abteilungsübergreifendes Arbeiten mit Fokus auf die Kund:innen. • Warten Sie nicht, bis Kundenbedürfnisse offensichtlich werden: antizipieren Sie sie. • Gestalten Sie dynamische, intentionsbasierte Customer Journeys, indem alle Kundensignale interpretiert und in Lösungen übersetzt werden. • Seien Sie schnell, erkennen Sie Trends, kommunizieren Sie trigger-basiert. • Qualität statt Quantität: Kundenzentrierung bedeutet nicht: „ALLES für die Kund:innen“. • Hören Sie auf Ihre Kund:innen und seien Sie stets in Kontakt mit ihnen. • Behalten Sie den Customer Lifetime Value im Blick. Und jetzt: Ärmel hochgekrempelt und ran an die Arbeit! Viel Erfolg.

Glossar

AdBlocker Filterprogramme oder Browser-Erweiterungen, die Werbung auf Internetseiten blockieren (zum Beispiel werden damit Banner nicht angezeigt). Behavioral Economics (deutsch: Verhaltensökonomie) Eine Wissenschaftsdisziplin in der Schnittmenge zwischen Wirtschaftswissenschaften und Psychologie, die menschliches Verhalten in Entscheidungssituationen untersucht. Behavior Patterns Intuitive Verhaltensmuster, die die Wahrnehmung, die Einstellungen oder das Verhalten von Menschen beeinflussen. Behavior Patterns laufen weitgehend standardisiert ab, weshalb sie für das Marketing von hohem Interesse sind. Banner (Display-Banner) Online-Werbeformat, das auf Websiten, Blogs oder YouTube ausgespielt wird und eine Werbebotschaft transportiert. Business Intelligence Sammelbegriff für den IT-gestützten Zugriff auf Informationen, sowie die IT-gestützte Analyse und Aufbereitung dieser Informationen. Ziel dieses Prozesses ist es, aus dem im Unternehmen vorhandenen Wissen neues Wissen zu generieren, das Managemententscheidungen zur Steuerung des Unternehmens unterstützt. CDP/Customer Data Platform Eine Softwareplattform, in der Kundendaten aus allen Quellen gesammelt, normalisiert und in einzigartige, einheitliche Profile aller Kund:innen verwandelt werden. Diese Profile sollen in Echtzeit bereitgestellt werden. CLV/Customer Lifetime Value Eine Kennzahl, die den Kundenwert in seinem gesamten Kundenlebenszyklus für ein Unternehmen angibt. Consent Management Plattform/Consent Management System Lösung, mit der Werbetreibende und Webseitenbetreiber die datenschutz-konforme Aussteuerung von Analytics und Marketing Cookies managen und user-bezogene Einwilligungen und Widersprüche verwalten. Conversion Die Umwandlung eines Users von Interessent:in zu Käufer:in. Wird als Maßzahl für die Erfolgsmessung einer Werbekampagne oder die Qualität einer Webseite herangezogen. Cookies Kleine Textdateien, die direkt aus einer HTML-Datei heraus auf dem Rechner des Anwenders gespeichert werden. Sie sorgen für die Wiedererkennung der User und ermöglichen es, Profile der Nutzer:innen zu erstellen. Sie erfassen besuchte Websites und Verweildauer, Sprache etc. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Stalph et al., R-Commerce, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42054-3

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Cookie Consent Die rechtlich erforderliche Frage nach der Zustimmung der Nutzer:innen zur Verwendung von Cookies, die in der Regel beim ersten Besuch einer Webseite per Overlay abgefragt wird. CRM/Customer Relationship Management Ein Softwaresystem, das grundlegende Kundeninformationen, darunter Namen, Telefonnummern sowie die Transaktionshistorie und Service-Anfragen speichert. Ein CRM-System eignet sich für die asynchrone 1-zu-1-Interaktion eines Unternehmens mit bekannten Kund:innen. Cross Site Tracking Technologie, die genutzt wird, um das Nutzungsverhalten eines Users im Internet über mehrere Webseiten hinweg zu verfolgen. Ein prominentes Beispiel sind Sharing-Buttons von sozialen Netzwerken, die sich zwar auf Webseiten von Dritten befinden, aber auch Daten an die Netzwerke zurücksenden, um übergreifende Profile zu erstellen und Werbung auszusteuern. Customer Centricity Beschreibt die konsequente Fokussierung eines Unternehmens auf Kund:innen und deren Bedürfnisse. Ursprünglich bezogen auf die Gestaltung von Customer Journeys, heute aber breiter angewendet, etwa für Kundenservice, Produktentwicklung, Pricing, etc. Customer Journey Die sinnbildliche „Reise“ von Kund:innen vom ersten Impuls bis zur Kaufentscheidung und darüber hinaus. DMP/Data Management Platform Eine Data Management Platform kann als Weiterentwicklung der CRM-Lösung verstanden werden. Es handelt sich um eine Software bzw. Datenbank, in der Daten von Nutzer:innen erfasst und ausgewertet werden. Genutzt werden die Daten bei der Steuerung und Erfolgskontrolle von Kampagnen. First Party Data Daten, die ein Unternehmen selbst von seinen Usern erfasst und auswertet. Identifier Möglichkeit, User über ein eindeutiges Identifikationsmerkmal (zum Beispiel die E-Mail-Adresse) wiederzuerkennen und mit gezielter Werbung anzusprechen. Identity-Resolution-Management Eine Lösung, um eine einzelne, einheitliche, dauerhafte Kundenidentität in Echtzeit zu erstellen. Zu den Identifikatoren gehören Geräteidentität, Browserverhalten, Transaktionen und andere kontextbezogene Daten, die dazu beitragen, dieselbe Person über Geräte, Plattformen und Kanäle hinweg zu identifizieren. Lookalikes/Lookalike Audiences Statistische Zwillinge der eigentlichen Zielgruppe. Es werden vorhandene Informationen wie Interessen und demographische Merkmale, die man von bestehenden Kund:innen kennt, verwendet, um potenzielle Neukunden mit ähnlichen Interessen und Merkmalen zu finden. Personas Dienen im Marketing dazu, Zielgruppen und Segmente zu beschreiben. Sie helfen, die Bedürfnisse der Kund:innen zu verstehen. Sie basieren auf Daten und Vermutungen darüber, was potenzielle Kund:innen wollen. Post-Cookie-Ära Beschreibt die zeitliche Epoche nach dem Ende der Third Party Cookies. Geht mit einem Paradigmenwechsel einher, weg von ungefragter Verwendung von Cookies hin zu vertrauensvollem Kundendialog und dem Aufbau von Data Ownership in Unternehmen.

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Purpose Beschreibt den Unternehmenszweck, der in der Regel darin besteht, sich in irgendeiner Art positiv auf die Welt oder die Gesellschaft auszuwirken. RFM-Analyse Ein Scoringverfahren, das Kunden anhand von drei Kennzahlen in unterschiedliche Segmente und Zielgruppen einteilt. Dabei sollen Kunden identifiziert werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Marketingmaßnahmen reagieren, besonders profitabel oder besonders abwanderungsgefährdet sind. RFM steht für die zugrundeliegenden Werte: Recency (Aktualität), Frequency (Häufigkeit) und Monetary Value (Umsatz). Third Party Cookies Datensätze, die im Browser der User hinterlegt werden, um genaue Informationen über deren Verhalten zu erlangen und sie im richtigen Moment mit der richtigen Botschaft anzusprechen. Transaktionsdaten Sind die aus Transaktionen gesammelten Informationen wie ein Kauf, die Anmeldung zum Newsletter, das Herunterladen eines Whitepapers und ähnliches. Zeitbasierte Transaktionsdaten sind ein wirksames Werkzeug zur Umsatzprognose, denn sie erlauben Einblicke in Echtzeitgeschäfte. Zero Party Data Daten, die Verbraucher bewusst und freiwillig über sich selbst preisgeben und mit einer Marke teilen. Der Begriff ist recht jung und wurde erst um 2020 geprägt.

Stichwortverzeichnis

A A/B-Test, 82 ACCRA-Modell, 29 Ad-Blocker, 4, 31, 38, 105 AIDA-Modell, 29 Allianz, 147 Aufmerksamkeit, 26, 32, 85

B Bandwagon Effect, 89 Bedürfnis, 13, 35, 57, 63, 107, 115, 116, 127, 128 Behavioral Economics, 35 Behavior Patterns, 36, 42, 43, 82, 84, 151, 160, 195 Bestandskund:innen, 13, 51, 110, 125, 128 Bußgeld, 74

C CCO. siehe Chief Customer Officer CDO. siehe Chief Data Officer CDP. siehe Customer Data Platform CEO, 183 Change-Prozess, 168 Chief Behavioral Officer, 182 Chief Customer Officer, 186 Chief Data Officer, 177, 185 Chief Information Officer, 185 Churn, 127, 175 Rate, 157 CIO. siehe Chief Information Officer Click Through Rate, 99 Collaboration Manager, 182

Consent, 60, 72, 78, 82, 87 Consistency, 85 Conversion, 29, 64, 99, 124, 150 Cookie Consent, 37, 38, 62, 80, 143 Cookies, 3, 8, 25, 31, 37, 77, 78, 80, 83, 90 CPI. siehe Customer Performance Indicator CRM-System. siehe Customer Relationship Management Customer Data Platform, 10, 120, 126, 134, 138 Customer Experience, 99, 108, 123, 156, 187 Customer Journey, 13, 16, 28, 36, 55, 99, 103, 108, 114, 132, 140, 152, 161, 182 Customer Journey Manager, 182 Customer Lifetime Value (CLV), 12, 16, 27, 59, 108, 154, 174 Customer Performance Indicator, 107, 186 Customer Relationship Management (CRM), 10, 27, 133

D Data Cleanrooms, 68 Data Democratization, 113 Data Governance, 112, 127 Data Management Platform (DMP), 134 Data Stitching, 157 Datenaktivierung, 127, 140, 161 Datenknappheit, 7, 16, 98 Datenkompetenz, 113, 128, 177, 188 Daten, personenbezogene, 72 Datenqualität, 136 Datenquellen, 32, 126, 151, 164 Datenschutz, 37, 69, 74, 76, 90, 118, 146

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Stalph et al., R-Commerce, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42054-3

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200 Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), 3, 31, 37, 67, 69, 76, 78, 98, 105 Datensilo, 8, 96, 112 Datensparsamkeit, 72 Datenstrategie, 7, 79, 96, 149, 167, 191 Dialog, moment-getriebener, 127 Digital Markets Act, 90 DMP. siehe Data Management Platform DSGVO. siehe Datenschutzgrundverordnung

E Echtzeit, 10, 115, 127, 133, 138 Eins-zu-Eins-Interaktion, 136 Engagement, 154 Engagement Score, 114 Entscheidung, 36, 41, 45, 48, 82 ePrivacy-Richtlinie, 69, 77

F Fachkräftemangel, 119 Fehlerkultur, 11, 178 First Party Cookies, 9, 81, 96 First Party Data, 32, 68, 90, 101, 119, 123, 142 Flywheel, 15 Framing, 88 Frequency, 154 Funnel, 14, 116, 128, 140, 161

G Golden Circle, 46 Golden Records, 10, 120 Google, 4, 11, 24, 82, 90, 181

I ID Graph, 152 persistente (PID), 120 Identity Graph, 151 Identity Resolution, 120 Incentivierung, 143, 171, 186

K Kaufentscheidung. siehe Entscheidung Kaufwahrscheinlichkeit, 127, 139, 159

Stichwortverzeichnis Key Performance Indicator, 107, 125, 128, 186 KPI. siehe Key Performance Indicator Kundenansprache, 3, 14, 47, 51, 150 Kundenbindung, 151, 171 Kundendatenplattform. siehe Customer Data Platform Kundenintelligenz, 111, 153, 186 Kundenkonto, 32, 44, 62, 82, 124, 143 Kundenprofil, 120, 134, 156 Kundenverhalten, V, 5, 37, 39, 98, 121, 157 Kundenwert. siehe Customer Lifetime Value Kundenzentrierung, 5, 7, 29, 102, 107, 165

L Leitprinzipien, 105 Liking, 89 Loyalität, 108, 125

M Marke, 47, 60, 61 Marketing Automation, 27 Marketing, moment-getriebenes, 114, 121 Mindset, 102, 175 Monetary Value, 154 Multi-Channel, 104

N Nachhaltigkeit, 116 Net Promoter Score, 108 Neukundenakquise, 51, 108, 124, 125

O OCEAN-Modell, 159 Onsite-Bewegungsdaten, 151, 154, 165 Organisation, agile, 128, 182

P Performance Marketing, 61 Personas, 45, 108, 153

R Recency, 154 Retargeting, 21, 25, 92, 140 Retention, 108

Stichwortverzeichnis RFE-Score, 156 RFM-Analyse, 154

S Salience, 84 Segment, 46, 82, 106, 110, 124, 140, 151 Selbstorganisierung, 178, 184 Silo, 108, 173, 185 Single Source of Truth, 139 Systemlandschaft, 10, 96, 101, 125

T Team, interdisziplinäres, 128, 168 Telekommunikation-Telemedien-DatenschutzGesetz (TTDSG), 76, 78 Third Party Cookies, 3, 9, 25, 27, 37, 67, 90, 104 Third Party Data, 4, 30, 32, 67 Touchpoint, 111, 140, 161 Tracking, 3, 31, 78, 90

201 Transparenz, 26, 72 TTDSG. siehe TelekommunikationTelemedien-Datenschutz-Gesetz

U Unternehmenskultur, 175 User Experience. siehe Customer Experience

V Verhaltensmuster. siehe Behavior Patterns Vertrauen, 5, 8, 32, 52, 53, 60, 71, 99, 106, 122 VertrauensArchitektur, 52

W Walled Garden, 90

Z Zero Party Data, 119, 123, 142, 146 Zielgruppe, 7, 22, 27, 46, 125, 134