Die Arbeitswelt von morgen: Wie wollen wir leben und arbeiten? [1. Aufl.] 9783839414231

Wie können wir auf den Verlust der historisch gewachsenen Arbeitswelt reagieren? Was sind die Visionen für eine gerechte

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Die Arbeitswelt von morgen: Wie wollen wir leben und arbeiten? [1. Aufl.]
 9783839414231

Table of contents :
Inhalt
Einleitung. DASA-Symposium »Constructing the future of work – wie wollen wir leben und arbeiten?«
Wie wir morgen arbeiten werden – Menschen brauchen Zukunft
Talkrunde 1
Kommentar zur Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland
Arbeit, Grundeinkommen, Sozialeigentum. Plädoyer für eine Gesellschaft der Ähnlichen
Talkrunde 2
Mehr Beschäftigung um jeden Preis?
Landesgrenzen und Klassenschranken
Talkrunde 3
Gerechtigkeit im Wandel. Wie sich der Bewertungsmaßstab für soziale Ungleichheit verändert
Wohlstand für alle durch Einkommen für alle? Soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert
Talkrunde 4
Gute Arbeit unter finanz kapitalistischen Verhältnissen?
Talkrunde 5
Strategische Personalentwicklung und demographischer Wandel
Talkrunde 6
»Decent Work« – eine weltweite Programmatik und Gestaltungsaufgabe für Forschung und Politik
Liebe macht glücklich! Was ist mit der Arbeit? Sozialpsychologische Aspekte von Lebens- und Arbeitszufriedenheit
Von Artisanen, Cyberteams und Prekariern. Visionen vom zukünftigen Arbeiten
Talkrunde 7 und Schlussrunde
Referenten und Diskutanten

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Karin Kaudelka, Gerhard Kilger (Hg.) Die Arbeitswelt von morgen

Karin Kaudelka, Gerhard Kilger (Hg.)

Die Arbeitswelt von morgen Wie wollen wir leben und arbeiten?

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Karin Kaudelka, Gerhard Kilger Korrektorat: Anke Poppen, Bielefeld Satz: Alexander Masch, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1423-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung. DASA-Symposium »Constructing the future of work – wie wollen wir leben und arbeiten?« Karin Kaudelka | 7

Wie wir morgen arbeiten werden – Menschen brauchen Zukunft Wilhelm Bauer und Peter Kern | 15

Talkrunde 1 Clara Schlichtenberger | 33

Kommentar zur Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland Karin Schulze-Buschoff | 37

Arbeit, Grundeinkommen, Sozialeigentum. Plädoyer für eine Gesellschaft der Ähnlichen Wolfgang Engler | 45

Talkrunde 2 Clara Schlichtenberger | 53

Mehr Beschäftigung um jeden Preis? Martin Dietz und Ulrich Walwei | 57

Landesgrenzen und Klassenschranken Jakob von Weizsäcker | 89

Talkrunde 3 Clara Schlichtenberger | 93

Gerechtigkeit im Wandel. Wie sich der Bewertungsmaßstab für soziale Ungleichheit verändert Christoph Butterwegge | 99

Wohlstand für alle durch Einkommen für alle? Soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert Götz W. Werner, Ludwig Paul Häußner und André Presse | 111

Talkrunde 4 Clara Schlichtenberger | 129

Gute Arbeit unter finanz kapitalistischen Verhältnissen? Friedhelm Hengsbach | 133

Talkrunde 5 Clara Schlichtenberger | 159

Strategische Personalentwicklung und demographischer Wandel Ursula M. Staudinger | 163

Talkrunde 6 Clara Schlichtenberger | 185

»Decent Work« – eine weltweite Programmatik und Gestaltungsaufgabe für Forschung und Politik Eva Senghaas-Knobloch | 187

Liebe macht glücklich! Was ist mit der Arbeit? Sozialpsychologische Aspekte von Lebens- und Arbeitszufriedenheit Petia Genkova | 209

Von Artisanen, Cyberteams und Prekariern. Visionen vom zukünftigen Arbeiten Karlheinz Steinmüller | 233

Talkrunde 7 und Schlussrunde Clara Schlichtenberger | 243

Referenten und Diskutanten | 247

Einleitung DASA-Symposium »Constructing the future of work – wie wollen wir leben und arbeiten?«

Arbeit ist eine grundlegende menschliche Erfahrung, die in allen bisherigen Gesellschaften notwendig gewesen ist, um die menschliche Existenz zu sichern. Sie ist die Grundlage jeder Wertschöpfung. Formen, Bedingungen und Gestaltung von Arbeit sind dagegen nicht feststehend, sondern einem fortwährenden Wandlungsprozess unterworfen. Deshalb wurde der Arbeit im Laufe der Geschichte nie die gleiche Bedeutung zugemessen. Dennoch lässt sie sich in einer Minimaldefinition wie folgt beschreiben: »Arbeit hat einen Zweck außerhalb ihrer selbst, den Zweck, etwas herzustellen, zu leisten, zu erreichen; Arbeit hat etwas von Verpflichtung oder Notwendigkeit an sich, ist Erfüllung von Aufgaben, die man selbst setzt oder anderen stellt; Arbeit ist immer auch mühsam, hat Widerstand zu überwinden, erfordert Anstrengung und ein Minimum an Beharrlichkeit, über den Punkt hinaus, an sie aufhört, ausschließlich angenehm zu sein. Spiel, Muße und Nichtstun waren die Gegenbegriffe.«1 Im 19. und 20. Jahrhundert ist eine zunehmende Verengung des Arbeitsbegriffs auf Erwerbsarbeit zu beobachten, die als vergesellschaftende Kraft und tragende Säule die industrielle Gesellschaft zunehmend geprägt hat. Zugleich gibt es einem engen 1 | Kocka, Jürgen, Last und Lust – Arbeit im Wandel. In: Neue Qualität der Arbeit, Wie wir morgen arbeiten werden, hg.v. Gerhard Kilger und Hans-Jürgen Bieneck, Frankfurt a.M./New York 2002, S. 251.

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Konnex zwischen Erwerbsarbeit und sozialer Sicherung. Die Bedeutung von Arbeit für individuelle Lebensläufe und Identitäten, aber auch für den sozialen Zusammenhalt und die Kohäsion einer Gesellschaft ist kaum zu überschätzen. Umso bedrohlicher entfaltet sich die Wirkung der Erosion der gewohnten »Normalarbeitsverhältnisse« und führt zu Verunsicherung bei den Menschen in ihrer Lebensplanung sowie – makrogesellschaftlich – zu politischer Desorientierung und Destabilisierung. Die neuen Chancen, die mit zunehmender Entgrenzung verbunden sind, geraten aus Sorge um die soziale Absicherung schnell aus dem Blick: Eine größere Fluidität zwischen Lebensund Arbeitswelt (»work life balance«) lässt Verknüpfungen mit anderen Tätigkeiten wie z.B. Freizeit, Familie, Weiterbildung einfacher zu, und auch das Verhältnis der Geschlechter in der Arbeitswelt entwickelt sich weniger ungleich und produktiver. Wenn es gelingt, mehr Elastizität in die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse zu bringen und diese zugleich mit sozialer Absicherung zu koppeln, dann verliert die tendenzielle Fragmentierung von Arbeit in Raum und Zeit an Bedrohlichkeit. Zugleich erscheint die allseits erhobene Forderung nach life long learning und beruflicher Weiterbildung einen guten Teil ihres möglicherweise unrealistischutopischen Anscheins.2 Hier wiederum liegt die conditio sine qua non für das Erreichen neuer Qualitäten, um als kreative, mit geistigen, physischen, psychischen und sozialen Ressourcen gut ausgestattete Persönlichkeiten in der Zweiten Moderne bestehen zu können. Schutz und Weiterentwicklung dieser ursprünglichen menschlichen Kompetenzen und Belange müssen im Zentrum eines modernen, zukunftsweisenden Verständnisses von Sicherheit und Ge2 | Günther Schmid, bis April 2008 Direktor der WZB-Abteilung »Arbeits marktpolitik und Beschäftigung«, dessen Theorie der sog. Übergangs arbeitsmärkte international rezipiert wurde, schlägt in jüngsten Veröffentlichungen ein Modell zur gerechten Teilung des Risikos Arbeitslosigkeit auch in Deutschland vor, das das individuelle Risiko innovativen Verhaltens und die berufliche Weiterbildung durch die auf einem »persönlichen Entwicklungskonto« angelegten Teilbeiträge zur Arbeitslosenversicherung finanziell absichert.

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sundheit, auch bei der Arbeit, stehen. Gute Arbeitsbedingungen sind die Grundlage für Ideen, Wohlbefinden und Zufriedenheit. Eine neue Kultur der Arbeit ist wirtschaftlich notwendig und menschlich sinnvoll. Wie gehen wir mit dem Verlust der historisch gewachsenen Arbeitswelt um? Wie lebt es sich im Postfordismus? Was sind die Visionen für eine gerechte Verteilung von Arbeit und Einkommen? Mit einem prominent und interdisziplinär besetzten Symposium zum Thema »Zukunft der Arbeit« startete die DASA im November 2008 eine ambitionierte Veranstaltungsreihe in neuem Format, die sich zum Ziel setzt, führende Köpfe aus Wissenschaft, Medien und Kultur in den Ausstellungsräumen der DASA zu einem konstruktiven Dialog zu bitten. Dem Rahmen des Symposiums in einer ungewöhnlich gestalteten Ausstellung entspricht die Form der Veranstaltung: Nach den einzelnen Impulsreferaten folgen kontrovers besetzte, moderierte Diskussionsrunden. Insgesamt waren an den beiden Tagen zwölf Referenten und sechs Diskutanten unterschiedlicher Disziplinen zu Gast. Sie vereinte die Suche nach Antworten auf die Frage nach der künftigen Gestalt und Gestaltbarkeit von Arbeit. Die Zukunft der Arbeit und der Arbeitsgesellschaft wird seit langem vielerorts diskutiert. Warum hat sich die DASA als Ausstellungshaus der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin aktiv in diese breit geführte Debatte eingeschaltet und was ist ihr spezifischer Beitrag? Über die Jahre hinweg hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales – jenseits von Tagespolitik und Arbeitsmarktfragen und über alle politischen Richtungen hinweg – immer wieder wichtige Impulse für das langfristige und zukunftsorientierte Denken über die Zukunft der Arbeit gesetzt. Die DASA, die zum Geschäftsbereich des BMAS gehört, greift diesen Dialog gern auf und fungiert als Forum für eine breite gesellschaftliche Debatte zu diesem Thema.

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Als bildungsaktiver Lernort thematisiert die DASA den Lebensraum Arbeitswelt in künstlerischer Szenografie. Das DASA-Publikum erfährt mit allen Sinnen Arbeitswelten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und ihre Auswirkungen auf die arbeitenden Menschen. Unter den fünf Leitbegriffen Mensch – Arbeit – Technik – Gesundheit – Kultur wirbt die DASA, eine bundesweit ausstrahlende Einrichtung mit Sitz in Dortmund, für eine Arbeitswelt, in der der Mensch mit seinen Fähigkeiten und Belangen im Vordergrund steht. Die DASA umfasst ca. 13.000 qm Ausstellungsfläche und erreicht jährlich über 200.000 Besucherinnen und Besucher. Mit ihrem hohen Anteil an jugendlichem Publikum trägt sie besonders zur nachhaltigen Förderung der Eigenverantwortung und Zufriedenheit im Arbeitsleben bei. Neben der Dauerausstellung liefert sie vor allem mit Veranstaltungen und Sonderausstellungen Beiträge zur Debatte über Mensch und Arbeit in unserer Gesellschaft. Die DASA erreicht ihre Zielsetzung mit modernsten Methoden des Ausstellungswesens: Die Inhalte werden erlebnisorientiert, anregend und spielerisch, zugleich didaktisch und wissenschaftlich angemessen vermittelt, fachlich verbindlich und mit hohem gestalterischem Anspruch dargestellt sowie durch künstlerische Interpretationen der Thematik begleitet. Ein breites Spektrum an Veranstaltungen ergänzt den Diskurs um die Ausstellungsinhalte und wirkt als zeitgemäße Belebung der DASA im Sinne eines Forums über die Themen der Arbeitswelt. Dies gilt in besonderem Maße für eine Reihe wissenschaftlicher Symposien zu aktuellen arbeits- und sozialpolitischen Fragestellungen, die mit der Tagung »Contructing the future of work« im November 2008 begonnen hat und in loser Folge fortgeführt werden soll. Das innovative Tagungsformat, in dem junge Wissenschaftler mit den Nestoren ihrer Fachgebiete diskutieren, und die Vielfalt der Beiträge aus unterschiedlichen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Perspektiven schaffen Raum für anregende Debatten und eröffnen dem Publikum eine Übersicht über die zahlreichen Facetten der Themen. Das Symposium verfolgt das Ziel, einen Diskurs zu ermöglichen, der in seiner Interdisziplinarität anderswo so nicht stattfindet. Zum Auf-

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takt der Symposien-Reihe haben Vertreter aus Arbeits-, Politik-, Kultur- und Sozialwissenschaften, aus Theologie und Psychologie, aus Wirtschaft, Wirtschaftswissenschaft und Kultur das breitgefächerte Spektrum des Themas abgesteckt. Der Unternehmer und Wissenschaftler Götz Werner (dm-Markt) traf nach seinem Beitrag »Bedingungsloses Grundeinkommen und Konsumsteuer« unter anderem auf Hilmar Schneider vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Die Arbeitswissenschaftlerin Eva Senghaas-Knobloch, die eine umfassende nachhaltige Gestaltung der Arbeitswelt fordert, diskutierte mit der Organisationspsychologin Petia Genkova. Choreograph Marcus Grolle, der als Teil des Abendprogramms eine 15-minütige Tanz-Performance uraufführte, kommentierte einen Beitrag von Jakob von Weizsäcker zum Einwanderungsland Deutschland, und der Zukunftsforscher und Science-Fiction-Autor Karlheinz Steinmüller diskutierte mit dem Leiter der DASA, Gerhard Kilger, über »Artisanen, Cyberteams und Prekarier«. Dabei kristallisierten sich Handlungsmaximen für eine menschengerechte, innovative und leistungsfähige Arbeitswelt vor dem Hintergrund komplexer werdender ökonomischer und gesellschaftlicher Verhältnisse heraus. Wenn im Spannungsfeld zwischen ökonomischer Effizienz und gesellschaftlicher Verantwortung unsere Forderung »Wirtschaft mit menschlichem Antlitz« lautet – eine Arbeitswelt, die dem Menschen dient und nicht umgekehrt –, dann braucht es klare Antworten auf die Frage nach unserer Lebens- und Arbeitskultur. Wie wir morgen leben und arbeiten wollen, ist demnach nicht zuletzt eine Frage nach der Kultur und der Sinnhaftigkeit unseres Tuns. Dr. Karin Kaudelka Dortmund, im Oktober 2009

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L ITER ATUR Kocka, Jürgen, Last und Lust – Arbeit im Wandel. In: Neue Qualität der Arbeit, Wie wir morgen arbeiten werden, hg.v. Gerhard Kilger und Hans-Jürgen Bieneck, Frankfurt a.M./New York 2002.

Kongressteilnehmer in der Ausstellung

Wie wir morgen arbeiten werden – Menschen brauchen Zukunft Wilhelm Bauer und Peter Kern

E INLEITUNG Der römische Politiker, Anwalt und Philosoph, der berühmteste Redner Roms und Konsul im Jahr 63 v. Chr. Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Chr.) hat es so formuliert: »Angenehm sind die kurzen Arbeiten.« Ist dies wirklich unsere Vorstellung von Arbeit? Ist Arbeit nicht mehr, hat Arbeit nicht viel mehr Dimensionen? Viele Fragen stellen sich, auf die wir Antworten suchen und finden müssen, u.a.: • • • • • • • •

Arbeiten wir überhaupt noch? Wenn ja: Was arbeiten wir? Wer macht das und mit wem? Wo wird Arbeit geleistet? Welche Voraussetzungen muss man mitbringen? Was gibt es für Arbeit? »Gesund trotz Arbeit« oder »Gesund durch Arbeit«? Wie steht es um das Verhältnis von Arbeit und Leben (Work Life Balance)? • Wie viel bringt Arbeit? Die Entwicklung der Arbeit von der Steinzeit über die Antike und das frühe Mittelalter zur hochindustrialisierten Massenproduktionswirtschaft hat sich in vielen Stadien und Veränderun-

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gen vollzogen. Wir haben eine zunehmende Arbeitsteilung erlebt, den Taylorismus kennengelernt und die darauf folgenden Humanisierungsbestrebungen (vgl. Abb. 1). Heute erleben wir in Ansätzen eine Renaissance ganzheitlicher Arbeit, in der Kreativität, Wissen und Information zunehmend bestimmend sind, wo sich aber Prozesse und Veränderungen auch beschleunigen und somit die Herausforderungen für die Menschen wohl nicht geringer werden. Abbildung 1: Historische Entwicklung der Arbeit

© Fraunhofer IAO, IAT Universität Stuttgart

Betrachtet man die Entwicklung der verschiedenen arbeitsrelevanten Indikatoren (vgl. Abb. 2), so kann einerseits eindeutig festgestellt werden, dass Arbeit insgesamt eher erträglicher geworden ist: Die Lebenserwartung der Menschen ist gestiegen, Arbeitsunfälle und Arbeitsunfähigkeit sind signifikant zurückgegangen. Gleichzeitig hat die durchschnittliche tarifliche Wochenarbeitszeit abgenommen und das Renteneintrittsalter ist wieder angestiegen. Auch der Anteil derer, die eher selbstbestimmt arbeiten, nämlich der Anteil der Selbständigen, hat wieder zugenommen. Hinzu kommt, dass der Wohlstand in den letzten fünfzig Jahren erheblich angestiegen ist. Sichtbar wird dies an der Entwicklung des Bruttosozialproduktes pro Einwohner und der Nettorealverdienste je beschäftigtem Arbeitnehmer.

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Abbildung 2: Entwicklung verschiedener arbeitsrelevanter Indikatoren (I-III)

© Fraunhofer IAO, IAT Universität Stuttgart

Der Anteil der Beschäftigten im Dienstleistungsbereich ist in Deutschland von 32,5% im Jahr 1950 auf 72,3% im Jahr 2006 angestiegen (Quelle: Statistisches Bundesamt, 2008). Gleichzeitig verändert sich die Arbeit immer mehr hin zu Wissensarbeit. Hier

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sind eher wenig strukturierte Tätigkeiten bestimmend, sondern vielmehr Arbeitsformen, die wenig determiniert und komplex sind, die immer wieder neues Wissen generieren und auf Erfahrungen aufbauen, die stark personen- und kommunikationsorientiert sind und bei denen die Wissensarbeiter weitgehend autonom agieren. Aktuellen Studien zufolge ist der Anteil der Wissensarbeit in Deutschland inzwischen auf etwa 37% angestiegen, Tendenz steigend. Mit der Zunahme von Wissensarbeit und der Bedeutung von Komplexinteraktionen verändern sich auch die Arbeitsplätze. Gearbeitet wird an immer verschiedeneren Orten, in einem zunehmend erweiterten zeitlichen Rahmen und in immer flexibleren und sich dynamisch wandelnden Strukturen. Abbildung 3: Wissensarbeit verändert Arbeitsplätze

© Fraunhofer IAO, IAT Universität Stuttgart

In der 2006 vom Bundesinstitut für Berufsbildung und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin durchgeführten Erwerbstätigenbefragung wurde der besondere Charakter dieser Arbeitsformen deutlich. Bedeutsam und charakteristisch sind demzufolge: • • • • •

Auf unvorhersehbare Probleme reagieren und diese lösen Schwierige Sachverhalte verständlich vermitteln Andere überzeugen und Kompromisse aushandeln Eigenständig schwierige Entscheidungen treffen Sehr viele verschiedene und neue Aufgaben oft gleichzeitig erledigen

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• • • •

Arbeit selbst planen und einteilen Arbeit meist im Sitzen Nutzung immer wieder neuer Computerprogramme Häufige Umstrukturierung und Reorganisation

Angesichts des zunehmenden Anteils von Wissensarbeit an der betrieblichen Wertschöpfung sind Unternehmen in verstärktem Maße an der Entfaltung der intellektuellen, kreativen und sozialen Potenziale ihrer Mitarbeiter interessiert. Die Anforderungen an die Beschäftigten ändern sich mit diesen Entwicklungen immens. Einerseits nimmt der Grad der Selbstbestimmung und Selbststeuerung zu, andererseits steigen aber auch die Anforderungen an die Kompetenz und die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten. Und dies hat auch ernst zu nehmende Auswirkungen auf die Gesundheit. Bei seit Jahren fast kontinuierlich sinkendem Krankenstand stiegen die Fälle von gemeldeter Arbeitsunfähigkeit wegen psychischer Störungen ebenso kontinuierlich an. Dies zeigt eine Reihe voneinander unabhängiger Gesundheitsberichte verschiedener gesetzlicher Krankenkassen in Deutschland. Eine vergleichende Analyse der Arbeitsunfähigkeitsberichte der AOK, Barmer Ersatzkasse, BKK, DAK, IKK und Techniker Krankenkasse für das Jahr 2005 belegt, dass psychische Erkrankungen bei diesen Krankenkassen an die dritte bis fünfte Stelle aller Ursachen für Arbeitsunfähigkeit gerückt sind (vgl. dazu auch Abb. 4).

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Abbildung 4: Veränderung der Arbeitsunfähigkeitstage pro 100 Versicherten der DAK in 2007 gegenüber 2000 bei den männlichen DAK-Versicherten nach ICD-Hauptgruppen in Prozent – psychische Erkrankungen steigen dramatisch an

© Fraunhofer IAO, IAT Universität Stuttgart

D IE W ELT VER ÄNDERT SICH – UND DAMIT DIE R AHMENBEDINGUNGEN FÜR L EBEN UND A RBEITEN Der amerikanische Kybernetiker und Futurologe Hermann Kahn (1922-1983) hat es einmal so gesagt: »Aus der Vergangenheit kann jeder lernen. Heute kommt es darauf an, aus der Zukunft zu lernen.« Dies gilt auch und gerade für die Frage nach den Wirkungen und Konsequenzen der dramatischen globalen Umbrüche und deren Wirkung auf die Arbeit. Nicht erst seit Kondratieff wissen wir, dass sich die Veränderungsgeschwindigkeit immer weiter erhöht und die Entwicklungen grundsätzlich weiter dynamisiert. Alle modernen Gesellschaften sind – wenngleich in teilweise unterschiedlichen Stadien – in einem tief greifenden sozio-ökonomischen Wandel begriffen. Die Rahmenbedingungen und treibenden Faktoren für diesen Veränderungsprozess zeigen sich in folgenden wesentlichen Trends:

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Wachsende Weltbevölkerung mit zunehmendem Wohlstands bedürfnis Mehr als 6,7 Milliarden Menschen leben derzeit auf der Erde und ein Ende des Bevölkerungswachstums ist nicht in Sicht. Vor allem in den Entwicklungsländern wird die Zahl der Menschen weiterhin rasant zunehmen, auf voraussichtlich insgesamt mindestens neun Milliarden bis zum Ende dieses Jahrhunderts. Dagegen werden die entwickelten Länder in Europa und auch in Deutschland einen weiteren Bevölkerungsschwund zu verzeichnen haben. Abbildung 5: Bevölkerungsentwicklung 1900 bis 2050, 2008

© Fraunhofer IAO, IAT Universität Stuttgart

Dabei leben derzeit auf der Erde mehr als eine Milliarde Menschen an der Schwelle zu einer Lebensform, wie wir sie in den entwickelten Ländern kennen. Mit einem starken Bedürfnis nach Wohlstand wie hierzulande steigt damit der weltweite Ressourcenverbrauch rasant an, mit nachhaltigen Folgen für die Umwelt, mit zunehmenden Emissionen an CO2 und wohl langfristig signifikant höheren Preisen für Energie und Rohstoffe. Es wird immer offensichtlicher, dass dieses Wohlstandsbedürfnis nur dann ökologisch, wirtschaftlich und sozial nachhaltig zu befriedigen sein wird, wenn wir wesentlich effizientere Wirtschaftsformen und revolutionär weniger Primärenergie verbrauchende technische Systeme für Produktion, Logistik, Mobilität, Leben und Wohnen entwickeln können.

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Globalisierung und weitere Vernetzung der Wertschöpfung Längst sind auch kleine und mittlere Betriebe in den Prozess der globalen und regionalen Strukturierung des Produktions- und Innovationsprozesses involviert. Das Volumen länderübergreifender Transaktionen hat sich in den letzten 30 Jahren in etwa verdreifacht, der Exportanteil der deutschen Wirtschaft hat sich von 20 % in 1993 auf etwa 45 % in 2007 mehr als verdoppelt. Hieraus entstanden und entstehen neue Arbeitsformen, die die Betriebe vor große Herausforderungen stellen – sowohl bei ihrer externen Kooperationsfähigkeit als auch bei der internen Organisation von Arbeitsabläufen, Kommunikationsprozessen und Strukturen. Eine enge Kooperation mit Menschen aus anderen Kulturen wird notwendig. In ethnisch und kulturell gemischten Belegschaften und heterogenen Teams tätig zu sein, gehört schon heute für viele zum Arbeitsalltag. Diversity muss gelebt werden. Diese Entwicklung geht einher mit einer weiteren Zunahme des globalen und regionalen Warenverkehrs und auch der beruflichen Mobilität. Prognosen gehen für Deutschland von einem jährlichen Zuwachs bis 2020 beim LKW-Verkehr von mehr als 30 % aus, beim PKW-Verkehr von ca. 20 %, im Luftfrachtverkehr von 7 % und der Fluggastzahlen im Bereich von 5 %. Bis 2015 könnte sich der weltweite Containerumschlag verdoppeln. Auch wenn die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise diese Entwicklungen derzeit etwas dämpft, grundsätzliche Steigerungen sind wohl weltweit zu erwarten.

Demographischer Wandel – Alterung und zunehmende Diversity Die zunehmende Alterung der Belegschaften, verstärkte Migration und insbesondere Nachwuchskräftemangel gewinnen in den Betrieben und in der Gesellschaft verstärkt an Bedeutung. So wird geschätzt, dass sich der Anteil an Erwerbstätigen bis 2050 um ca. 30% verringern wird. Die Herausforderungen des demographischen Wandels lassen sich nur bewältigen, wenn möglichst alle gesellschaftlichen Gruppen über sämtliche Lebensphasen hinweg

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am Arbeitsprozess beteiligt werden. Beschäftigungsfähigkeit bis ins höhere Alter durch entsprechende Maßnahmen (Bildung, gesundheitliche Prävention etc.) muss erhalten werden. Daneben sind die Verwirklichung von Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern und die Sicherung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu berücksichtigen. Abbildung 6: Demographische Entwicklung in Deutschland. Quelle: Statistisches Bundesamt, Statistisches Landesamt Baden-Württemberg

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Gleichzeitig kommt in den nächsten Jahren eine neue Generation von Beschäftigten ins Erwerbsleben, die sogenannten »Millenials« oder auch »Generation Y« genannt. Diese mit iPod, Web-2.0Technologien (wie Blogs, Communities) und viel IT-Kompetenz ausgestatteten jungen Menschen haben signifikant andere Bedürfnisse und Vorstellungen von Leben und Arbeiten. Sie haben eine schwächere Bindung ans Unternehmen, wollen flexibler arbeiten und stärker ergebnisorientiert geführt werden. Gleichzeitig haben sie eine ausgeprägte soziale Verantwortung, sind offen im Dialog und nehmen Arbeit insgesamt weniger »ernst«. Wir sprechen bei dieser jungen Generation von sogenannten »Digital Natives«, die mit der digitalen Welt aufgewachsen sind, im Gegensatz zu denjenigen, die sich an diese Welt erst im höheren Alter haben anpassen müssen, den »Digital Immigrants«.

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Beschleunigung des technologischen Wandels und dynamisches Innovationsgeschehen Der dramatische technologische Wandel hat viele Veränderungsprozesse in der Arbeitswelt erst möglich gemacht bzw. diese gefördert. Schlüsseltechnologien wie die Informations- und Kommunikationstechnologie oder die Technologien aus dem Life-Science-Umfeld haben neue Gestaltungsoptionen eröffnet. Beschleunigte Diff usion technologischer und technischer Entwick lungen zieht immer schnellere und tiefer gehende Veränderungen in der Arbeitswelt nach sich (z.B. durch mobile Technologien wie W-LAN, UMTS). Neueste Technologien im Internet (Web 2.0-Technologien) schaffen ganz neue Möglichkeiten zum verteilten kooperativen Arbeiten, virtuelle Communities entstehen. Bis zum Jahr 2015 werden weltweit etwa vier Milliarden Menschen einen Internetanschluss haben. Der Anteil mobiler Inter netzugänge wird sich bis 2010 auf ca. 820 Millionen vervierfachen. Damit können sich insbesondere Menschen in weniger ent wickelten Ländern schnell und einfach in das »Informations-Business« einklinken, eine Herausforderung für alle hoch entwickelten Wirtschaftsräume.

Wachsende Veränderungsdynamik und steigende Flexibilitätsanforderung Produkt- und Prozessinnovationen finden immer kurzzyklischer statt. Zur Bewältigung dieser Dynamik haben Unternehmen in den letzten Jahren verstärkt neue Arbeits- und Kommunikationsformen jenseits der traditionellen Hierarchie- und Abteilungsgrenzen implementiert, die z.B. das Infragestellen der herkömmlichen Aufstiegswege und Anreizsysteme sowie neue Aufgaben im Human-Ressources-Management nach sich ziehen. Dezentrale, sich selbst steuernde Organisationsformen nehmen zu. Es ist davon auszugehen, dass der Anteil an »Normalbeschäftigten« (derzeit ca. 77 Prozent aller Beschäftigten) in den Unternehmen weiter zurückgehen und der Anteil von freien und in Teilzeit Beschäftigten weiter zunehmen wird.

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Nachhaltigkeit als Prinzip in Wirtschaft und Gesellschaft Die dynamische wirtschaftliche Entwicklung gerade auch in den BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) führt zu einer erheblichen Zunahme an Ressourcen- und Energieverbrauch und in dessen Folge zu einem Anstieg der CO2-Emissionen. Nach Einschätzungen der Mehrzahl der Klimaforscher wird daher die Temperatur auf der Erde ansteigen. Je nach Szenario und erwartbarer Änderung des Verhaltens der Menschen könnten die Temperaturen im weltweiten Mittel bis zum Ende des 21. Jahrhunderts um bis zu fünf Grad ansteigen – mit möglicherweise katastrophalen Folgen für die Weltbevölkerung wie Überschwemmungen infolge des Abschmelzen von Packeis oder Wetterkatastrophen als Resultat von Veränderungen im Wettergeschehen. Der Klimawandel ist also in vollem Gange und lässt sich nicht mehr aufhalten, bestenfalls bremsen. Die Folgen sind dramatisch und verstärken sich zum Teil gegenseitig, wie z.B. die Freisetzung des Treibhausgases Methan aus schmelzenden Permafrostböden. Klimazonen werden sich verlagern – die Schätzungen liegen bei 400 bis 800 Kilometern –, auch wenn wir dies nicht mehr erleben werden. Dennoch treffen die Folgen des Klimawandels schon heute unsere Lebensbereiche, Gewohnheiten und die Art und Weise, wie wir unsere Häuser bauen und ausbauen werden, wie wir unser Mobilitätsbedürfnis befriedigen und wie wir wirtschaften werden. Die aktuelle Krise der Automobilindustrie ist – neben den Einflüssen aus Finanz- und Wirtschaftskrise – auch und vor allem eine »Systemkrise«. Viele potenzielle Autokäufer sind zutiefst verunsichert, wollen eigentlich kleinere und damit verbrauchsärmere Fahrzeuge fahren, sehen im großen Fahrzeug schon ein Imageproblem, würden gerne Elektrofahrzeuge fahren, finden aber noch kein Angebot, geschweige denn eine Infrastruktur.

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Abbildung 7: Temperaturanstieg (in Grad Celsius). Quelle: Weltklimarat, 2007

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Seit der europäischen EIPRO-Studie wissen wir, dass Produkte aus nur drei Bereichen des täglichen Lebens für 70 bis 80 Prozent der Umweltwirkungen der privaten Haushalte verantwortlich sind: Essen und Trinken, Individualverkehr und Wohnen. Diese Entwicklungen berücksichtigend, können die gegebenenfalls fatalen Folgen der weltweiten Entwicklung nur durch einen radikalen Wandel im Denken und Handeln jedes Einzelnen, der Gesellschaft und der Wirtschaft vermieden bzw. beherrscht werden. Hierzu ist ein neues Verständnis für nachhaltiges Handeln notwendig. Nachhaltigkeit hat im Sinne eines ganzheitlichen Drei-Säulen-Modells folgende primäre Zielsetzungen: • ökologische Nachhaltigkeit: Generationenübergreifender Erhalt der Natur und unserer Umwelt. • ökonomische Nachhaltigkeit: Schutz wirtschaftlicher Ressourcen vor Ausbeutung sowie Schutz und Weiterentwicklung der »Human Ressources« in Unternehmen. • soziale Nachhaltigkeit: Zukunftsfähige, lebenswerte Gesellschaft gestalten sowie Gesundheit und Sicherheit sichern. Es ist eine große gemeinsame Herausforderung, mit erheblich geringerem Ressourcenverbrauch und damit geringerer Emis-

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sionserzeugung Leben und Arbeiten sinnvoll zu gestalten und die Bedingungen für weiteren Wohlstand sowie fortwährende Beschäftigung und eine lebenswerte Welt zu schaffen. Hierzu sind Innovationen auf allen Ebenen notwendig.

H ER AUSFORDERUNG FÜR S TA AT, G ESELLSCHAF T, U NTERNEHMEN UND M ITARBEITER Die Gewährleistung zukunftssichernder Rahmenbedingungen für den Wirtschafts- und Arbeitsstandort Deutschland ist dabei eine wesentliche Herausforderung und Aufgabenstellung für den Staat und die Gesellschaft. Nur als innovative Gesellschaft mit innovativen Unternehmen und Menschen sind wir zukunftsfähig. Bildung, Forschung und Technologie sind das Rückgrat für Deutschlands Position im internationalen Wettbewerb und die Grundlagen für Wohlstand und Beschäftigung. Es geht darum, eine neue Innovationskultur in Deutschland zu erzeugen und zu entwickeln. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die Innovationen nicht behindern, sondern befördern. Der Schlüssel zur Bewältigung der Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft liegt in der Entwicklung von Innovationsfähigkeit – sowohl für Individuen als auch für Organisationen. Mit der Prioritätensetzung zugunsten von Forschung und Innovation im Beschluss des Europäischen Rates von Lissabon im Jahre 2000, die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung getan worden. Zentraler Bestandteil der Strategie ist es, Forschung und Entwicklung in den Mitgliedstaaten zu stärken und anzustreben und die FuE-Aufwendungen der Mitgliedstaaten bis zum Jahre 2010 auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben. Mit einem aktuellen Anteil von gut 2,5 Prozent verfügt Deutschland über eine gute Ausgangslage. Um jedoch das Ziel zu erreichen und die Innovationskraft Deutschlands und dessen Position im globalen Wettbewerb zu sichern, ist eine Intensivierung von Forschung und Entwicklung zwingend erforderlich.

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Die Innovationskraft unseres Landes hängt auch ganz entscheidend von der beruflichen Qualifikation der hier lebenden Menschen ab. Der strukturelle Wandel in Richtung jener Wirtschaftszweige, die überdurchschnittlich hoch qualifizierte Menschen beschäftigen, wird sich weiter beschleunigen. Damit steigt der Bedarf an qualifizierten Bildungsabschlüssen. Trotz dieses Bedarfs hat Deutschland beim Anteil der jungen Bevölkerung mit sekundärer und tertiärer Bildung langfristig im internationalen Vergleich an Boden verloren. Der demographische Wandel wird die Zahl junger Menschen, die in den Arbeitsmarkt eintreten, absehbar verringern. Es droht ein Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften – der zentralen Ressource des Hochtechnologiestandortes Deutschland. Dies kann gerade für kleinere und mittlere Unternehmen dramatisch negative Auswirkungen haben. Ein Bildungs- und Ausbildungswesen, das die Potenziale eines jeden Menschen bestmöglich fördert, ist deshalb entscheidend für den Standort Deutschland. Abbildung 8: Bildungsabschlüsse in Deutschland 2006 nach Altersgruppen in Prozent

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Unternehmen bilden aus der Perspektive der Mitarbeiter das sozio-technische Umfeld, in dem gehandelt und Arbeit erbracht wird. Hier geht es um Fragen der Unternehmenskultur und der innovativen Milieus und Umgebungen, die die Kompetenzen der Mitarbeiter entfalten helfen oder auch einschränken können. Die Menschen können ihr volles Leistungsvermögen dann entfalten, wenn sie reizvolle, anspruchsvolle und zugleich komple-

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xe Aufgabenstellungen vorfinden. Hierzu ist es notwendig, dass Mitarbeiter über ein ausreichendes Maß an Selbstbestimmung, Selbstorganisation und die entsprechenden Handlungsspielräume verfügen. Dazu ist eine Unternehmenskultur entscheidend, die Neuerungen gegenüber aufgeschlossen, nicht dem Vertrauten verhaftet ist und eine umfassende, offene Kommunikation zwischen den Mitarbeitern nicht nur zulässt, sondern begrüßt. Eine neue Kultur der Arbeit ist demnach erforderlich. Die gezielte Unterstützung kreativen Denkens und innovationsorientierten Arbeitens ist mit erfolgsentscheidend. Dazu müssen auch die infrastrukturellen Bedingungen geschaffen werden. Neben entsprechenden modernen Arbeitstools (z.B. von Kreativitätstechniken wie Brainstorming oder Mind-Mapping, Kollaborationstools wie interaktive Wände, elektronisches Papier oder Virtual-Reality-Systeme) gehören dazu auch innovative Gebäude, Räume und Arbeitsplätze. Kommunikationsintensives Innovieren kann erfolgreicher stattfinden in geeigneten Team- und MeetingRäumen, in Kreativitätsräumen oder auch flexiblen Büros. Arbeitnehmer sind aufgrund des demographischen Wandels und des steigenden Innovationstempos zunehmend gefordert, ihre Beschäftigungs- und Arbeitsfähigkeit bis zur Rente zu erhalten und weiterzuentwickeln. Durch den Wandel der Arbeit ändern sich Berufswege, fachliche Anforderungen und psychische Belastungen. Im Erwerbsleben wird Alter vor allem dann als problematisch wahrgenommen, wenn das individuelle Leistungsvermögen nicht mehr mit den steigenden Arbeitsanforderungen mithält. Wo es möglich ist, sollten Arbeitnehmer so frühzeitig wie möglich einem absehbaren Verschleiß an Qualifikation, Gesundheit und Motivation entgegenwirken, um nicht vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden zu müssen. Eine zentrale Herausforderung für alle Erwerbspersonen besteht darin, die Arbeit, die Lernprozesse und die Weiterbildung aktiv mitzugestalten, um die eigene Beschäftigungsfähigkeit zu gewährleisten. Durch die Veränderungen von Arbeitstätigkeiten und Rahmenbedingungen (z.B. Flexibilisierung, Mobilität, Zunahme von Zeitverträgen, Unsicherheit des Arbeitsplatzes) müssen Mitarbeiter lernen, die eigene Erwerbskarriere aktiver zu gestalten und eine Balance zwischen (Privat-)Leben, Lernen und Arbeiten her-

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zustellen. Viele Arbeitnehmer planen sehr rational und effektiv ihre täglichen Arbeitstätigkeiten, nicht aber ihre Erwerbsbiographie. Sie müssen den notwendigen Kompetenz- und Qualifikationserwerb zukünftig verstärkt eigenverantwortlich planen und steuern. Die frühzeitige Identifizierung von Anforderungen und benötigten Qualifikationen ist unabdingbare Voraussetzung dafür, den Wandel zu bewältigen. In einer unübersichtlicher werdenden Arbeitswelt benötigen nicht mehr nur Führungskräfte eine Karriereberatung, auch Arbeitskräfte auf mittlerem und unterem Qualifikationsniveau müssen zunehmend dabei unterstützt werden, ihre berufliche Leistungsfähigkeit zu erhalten, z.B. durch Bildungsberatung, Gesundheitsberatung oder Coaching. Zu den wichtigsten innerbetrieblichen Gestaltungsoptionen für die Bewältigung des altersstrukturellen Wandels der Belegschaften zählen: • Eine altersgerechte Arbeitsgestaltung und betriebliche Gesundheitsprävention, um eine Berufsverweildauer bis zum Erreichen der rentenrechtlichen Altersgrenze zu ermöglichen. • Die ständige Aktualisierung der betrieblichen Wissensbasis durch die Realisierung lebenslangen Lernens im Unternehmen. Mehr und auch ältere Beschäftigte müssen künftig in einen kontinuierlichen Prozess betrieblicher Weiterbildung einbezogen werden. • Die Vermeidung einseitiger Spezialisierungen und stattdessen eine systematische Förderung von Kompetenzentwicklung und Flexibilität durch Tätigkeits- und Anforderungswechsel im Rahmen betrieblicher Laufbahngestaltung. Wichtig ist dabei, ständig wachsam zu sein, um Entwicklungen frühzeitig erkennen und auf neue Anforderungen rechtzeitig reagieren zu können.

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M ENSCHEN BR AUCHEN Z UKUNF T – FÜR EINE NEUE K ULTUR DER A RBEIT Nur als innovative Gesellschaft sind wir zukunftsfähig! Bildung, Forschung und Technologie sind das Rückgrat für Deutschlands Position im internationalen Wettbewerb und die Grundlage für Wohlstand und Beschäftigung. Es geht darum, eine neue Innovationskultur in Deutschland zu erzeugen und zu entwickeln. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die Innovationen nicht behindern, sondern befördern. Der Schlüssel zur Bewältigung der Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft liegt in der Entwicklung von Innovationsfähigkeit – sowohl für Individuen wie für Organisationen. Innovationen werden von Menschen gemacht und betreffen nicht nur Produkte, sondern auch Geschäftsprozesse und Strukturen. Innovation kann nicht verordnet werden. Es bedarf eines geeigneten Klimas, in dem sich Einfallsreichtum, Kreativität, Risikobereitschaft und Mut zu Neuem entfalten können. Hierfür stellen die Mitarbeiter die Schlüsselgröße dar. Es geht darum, eine Unternehmenskultur zu schaffen, in der sich Qualifikation und Motivation bei jedem Einzelnen und auf jeder Hierarchiestufe entfalten können. Nur eine kompetente Belegschaft – und dazu gehören auch die Führungskräfte – kann Strukturwandel und Innovation voranbringen und durchsetzen. Dabei wird eine neue Kultur der Arbeit getragen sein von den Mitarbeitern eines Unternehmens, eines Netzwerks oder einer Community. Deren Bedürfnisse, Anforderungen und Wünsche sind es letztlich, die eine Kultur prägen. Zusammenfassend formulieren wir sieben Thesen für die Arbeitswelt der Zukunft: • Globalisierung ruft Wettbewerb hervor, der sich auf alle Erwerbspersonen überträgt. • Mit dem Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft vollzieht sich ein Wandel der Arbeitsplätze. • Wissensintensive Arbeit wird zunehmen. Schnelles Reagieren der Aus- und Weiterbildungsinstitutionen wird zum Schlüsselfaktor.

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• Hoch qualifizierte Mitarbeiter gehören zu den wertvollsten Ressourcen, über die ein Unternehmen verfügt. • Personal- und Unternehmensentwicklung rücken enger zusammen und verlangen Konzepte, die Arbeit sowohl produktiver als auch attraktiver machen. • Qualifizierungsstrategien müssen an Lerninhalte und Zielgruppen angepasst werden. Teilnahme an beruflicher Weiterbildung muss gefördert werden. • E-Learning, lebenslanges Lernen und Wissensmanagement sind Schlüsselaufgaben und treibende Kräfte für mehr Wettbewerbsfähigkeit, Innovationskraft und Flexibilität. Schließen möchten wir mit dem Zitat von Thomas Stewart, Autor des Buches »Intellectual Capital«: »Ein Großteil des Unternehmenswertes steckt zwischen den Ohren der Mitarbeiter.«

L ITER ATUR Stewart, Thomas: Intellectual Capital. The New Wealth of Organizations. Broadway Business 1998.

Talkrunde 1 Clara Schlichtenberger

Teilnehmer: Petia Genkova, Peter Kern, Isabel Rothe, Klaus Schönberger, Ulrich Walwei Die Diskussion im Anschluss an die Vorträge von Herrn Prof. Kern und Herrn Schönberger hatte folgende Schwerpunkte und ergänzende Aspekte: Walwei forderte, den Fokus, neben der teilweise drohenden Prekarisierung der Arbeitswelt, auf die Arbeitslosigkeit zu lenken, da seiner Ansicht nach nichts prekärer sei als Arbeitslosigkeit. Selbst ein 1-Euro-Job könne gelegentlich ein Sprungbrett sein. Darüber hinaus trüge nichts besser zu einer gelungenen Erwerbsbiographie bei als eine weitreichende und ständige formale Fortbildung. Je geringer die Qualifikation sei, um so häufiger sei der »Drehtüreffekt« festzustellen, wonach der Arbeitnehmer auch nach Phasen der Beschäftigung wieder aus dem System geworfen wird. Zudem verwies Walwei, wie auch schon in Kerns Vortrag erwähnt, auf die Herausforderung durch die hohe und weiterhin zunehmende Zahl psychischer Erkrankungen und deren Zusammenhang mit Lebenszufriedenheit auch im beruflichen Umfeld. Prof. Kern erwiderte darauf, dass die Krankenkassenstatistiken geringe Ausprägungen in bestimmten Branchen aufweisen würden, dass aber die Rubrik »Arbeitslose« überproportionale Krankenstände aufweisen. Die Frage sei, was Ursache und Auswirkung sei.

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Kern rekurrierte auf die in Schönbergers Vortrag angeführte »Entgrenzung privaten und beruflichen Lebens« und verwies auf von new-work-Konzepten geprägte Firmen wie z.B. Google in Zürich, bei denen Arbeitszeitkontrolle u.ä. zu Gunsten vollständiger – allerdings dem Unternehmensinteresse natürlich nicht gegengerichteter – Eigenverantwortlichkeit aufgegeben wurden. Genkova merkte aus organisationspsychologischer Sicht zu dem von Dr. Schönberger angeführten Punkt der Flexibilisierung der Arbeitswelten an, dass Arbeitnehmer, die keine Festarbeitszeit hätten, zufriedener seien, dass aber Studien ergeben hätten, dass die durch die Arbeitszufriedenheit erwartete Produktionssteigerung nicht »unendlich« sei. Arbeitszufriedenheit steigere nicht unbedingt die Effizienz. Was den Punkt der Zunahme psychischer Erkrankungen anginge, so gäbe es einen klaren Zusammenhang zwischen psychosomatischen Störungen und der Unsicherheit von Arbeitsverhältnissen. Abschließend ermunterte Dr. Schönberger dazu, die Frage zuzulassen, ob es sinnvoll sei, an der Konstruktion von Lohnarbeit, bzw. der Definition von Arbeit als Erwerbsarbeit festzuhalten. Dieser Punkt würde allerdings in den kommenden Referaten noch ausführlich behandelt.

Kongressplenum

Kommentar zur Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland Karin Schulze-Buschoff

Die Reformen der letzten Jahre haben die generelle Stoßrichtung der deutschen Arbeitsmarktpolitik verändert. Sie bewirkten die größten Akzentverschiebungen in der Arbeitsmarktpolitik seit der Einführung des Arbeitsförderungsgesetzes im Jahre 1969. Im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik sind sowohl in der Logik verbleibende pfadabhängige Krisenbewältigungsstrategien als auch Veränderungen der Zielsetzungen zu verzeichnen. Neu ist dabei die hohe Dynamik, d.h. die Vielzahl der gesetzlichen Änderungen und die damit einhergehende Entwicklung in der Vermittlungs- und Förderungspraxis. Festzustellen ist ein Politikwechsel weg von der aktiven hin zu einer autoritär-aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei der Förderung des Niedriglohnsektors zu. Die Niedriglohnstrategie ist jedoch in sozial- und arbeitsmarktpolitischer Hinsicht eine Sackgasse. Deshalb plädiere ich für die Reaktivierung einer fördernden, aktiven Arbeitsmarktpolitik. Durch die Überbetonung des Aspekts des Forderns und des Vorrangs einer möglichst schnellen Vermittlung in Beschäftigung – auch in prekäre und/oder nichtexistenzsichernde Arbeitsverhältnisse – wurde die aktive Arbeitsmarktpolitik aus den Augen verloren. Ausdruck des Politikwechsels von der aktiven hin zu einer »autoritär aktivierenden« Arbeitsmarktpolitik ist u.a. die Ver-

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schärfung der Anspruchsvoraussetzungen für Transferleistungen nach der Maxime »Leistung und Gegenleistung«. Wer die geforderte Gegenleistung nicht erbringt bzw. im Einzelfall nicht nachweisen kann, dass er sich regelkonform verhalten hat (Beweislastumkehr), wird mit dem (temporären) Entzug der Geldleistungen bestraft: So steht beispielsweise für Arbeitslosengeld II-Bezieher, die sich nicht »einbringen« wollen oder können, ein umfangreiches Sanktionsinstrumentarium zur Verfügung, das bis zur Streichung sämtlicher Leistungen, einschließlich der Kosten der Unterkunft, führen kann. Anspruchsvolle und in der Regel teurere Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik wie Fortbildung und Umschulung, aber auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, werden zugunsten von kurzen Trainingsmaßnahmen, Eingliederungszuschüssen oder der Beauftragung von Dritten mit Vermittlungsdienstleistungen zurückgefahren. Arbeitslosen, die nur geringe Chancen am Arbeitsmarkt haben, werden immer häufiger arbeitsmarktpolitische Instrumente zur Verbesserung ihrer Vermittlungschancen vorenthalten. Des Weiteren werden mit dem Gründungszuschuss, Miniund Midijobs sowie Arbeitsgelegenheiten (»Ein-Euro-Jobs«) Formen nichtexistenzsichernder Beschäftigung in hohem Umfang gefördert. Neu ist die Dynamik der Entwicklungen in den letzten Jahren. Neu ist ferner die Akzentverschiebung weg von traditionellen Maßnahmen wie ABM und der Förderung der beruflichen Weiterbildung (FbW) zugunsten arbeitsmarktpolitischer Förderung prekärer Beschäftigungsverhältnisse (Personal-Service-Agenturen, Ich-AG, Mini-Jobs etc.). Mit der Entwicklung der Umsteuerung gehen auch die Verkürzung von Maßnahmelaufzeiten, die Einschränkung der Zielgruppen und eine Beschränkung flankierender sozialer Angebote einher. Die Reduzierung der Ausgaben für FbW und Umschulung, die Absenkung des Niveaus der steuerfinanzierten Transferleistungen für Arbeitslose, dem Arbeitslosengeld II (Alg II), auf den Regelsatz der Sozialhilfe und die Förderung von prekären Beschäftigungsverhältnissen gepaart mit immer strikteren Zumutbarkeitskriterien führen in der Summe zu einem Paradig-

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menwechsel in einem zentralen Bereich der Arbeitsmarktpolitik: nämlich zur Abkehr von dem Ziel, Arbeitslose vorrangig in eine sozial gesicherte Beschäftigung (gegebenenfalls über den Umweg FbW) zu vermitteln. Stattdessen gewinnt eine Strategie an Bedeutung, die den Abbau der Arbeitslosigkeit nicht nur durch eine beschleunigte Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt, sondern auch durch die Etablierung bzw. Ausweitung eines Niedriglohnsektors zu erreichen sucht. Dies betrifft insbesondere Langzeitarbeitslose und andere benachteiligte Arbeitsmarktgruppen. Der Segregation des Arbeitsmarktes in einen primären, sozial abgesicherten und einen sekundären, prekären Jedermanns-Arbeitsmarkt1 wird immer deutlicher eine analog dazu segregierte Arbeitsmarktpolitik gegenübergestellt. Die chancenreichen Arbeitslosen werden dabei schnellstmöglich in den primären Arbeitsmarkt vermittelt, die weniger chancenreichen hingegen mit dem Instrumentarium einer autoritäraktivierenden Arbeitsmarktpolitik dazu gedrängt, entweder eine Maßnahme zu beginnen, mit der vor allem die Arbeitswilligkeit getestet wird (Trainingsmaßnahmen, Arbeitsgelegenheiten), oder eine Beschäftigung im sekundären Arbeitsmarkt bzw. Niedriglohnsektor aufzunehmen. Damit wurde ein Richtungswechsel in der Arbeitsmarktpolitik eingeschlagen, der sich an der Standarderklärung für die andauernde Arbeitsmarktmisere in Deutschland orientiert: Die mit wenigen Ausnahmen unisono geteilte Einschätzung, dass die im internationalen Vergleich hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland, die mit einer sehr hohen Quote von Langzeitarbeitslosen einhergeht, zu einem erheblichen Teil auf Defizite bei der Beschäftigung im Bereich einfacher Tätigkeiten oder personennaher Dienstleis-

1 | Vgl. Lutz, B./Sengenberger, W.: Segmentationsanalyse und Beschäftigungspolitik, in: Bolte, K.M. (Hg.): Mensch, Arbeit und Betrieb. Beiträge zur Berufs- und Arbeitskräfteforschung, Weinheim 1988, S. 273-286.

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tungen und damit auf zu wenige Jobs im Niedriglohnbereich zurückzuführen sei.2 Zur Förderung des Niedriglohnsektors mussten auf Seiten des Arbeitsangebotes, um es mit den Begriffen des Missbrauchsdiskurses auszudrücken, »negative Beschäftigungsanreize« abgebaut und gering entlohnte Tätigkeiten »attraktiver« gemacht werden3, indem der finanzielle Druck auf die Betroffenen durch die Absenkung von Leistungen und die Verschärfung von Anspruchsvoraussetzungen verstärkt wurden. Die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Verbund mit strengeren Zumutbarkeitskriterien, denen durch teils drastische Sanktionsdrohungen Nachdruck verliehen wird, wirkt in diese Richtung. Gleichzeitig wurden durch die Förderung von Mini- und Midijobs auch nachfrageseitig neue Anreize für mehr Beschäftigung im Niedriglohnsektor gesetzt. Eine Arbeitsmarktpolitik, zu deren zentralen Zielen die Vermittlung in prekäre oder schlecht bezahlte Jobs gehört, ist aus sozialpolitischer Sicht nur dann akzeptabel, wenn die Beschäftigung im Niedriglohnbereich transitorisch ist, ihr also eine Brückenfunktion beim Übergang von Arbeitslosigkeit in eine existenzsichernde Beschäftigung des ersten Arbeitsmarktes zukommt. Dann nämlich könnte sie ein wirksames Mittel zur Vermeidung oder Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit mit all ihren nega-

2 | Vgl. exemplarisch Zimmermann, K.F.: Beschäftigungspotentiale im Niedriglohnsektor, in: DIW-Vierteljahrsheft zur Wirtschaftsforschung, Jg. 72, Heft 1, 2003, S. 11-24; Sachverständigenrat: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2002/03: Zwanzig Punkte für Beschäftigung und Wachstum, Berlin 2002; Scharpf, F.W.: Employment and the Welfare State: A Continental Dilemma?, in: Ebbinghaus, B./Ma now, P. (Hg.): Comparing Welfare Capitalism, London 2001, S. 270-283. 3 | Vgl. IZA: Den Reformaufbruch wagen. Aufruf von 300 Ökonomen an die politischen Entscheidungsträger, in: IZA compact, Juli/August 2003, Bonn.

K OMMENTAR ZUR E NT WICKLUNG DER A RBEITSMARK TPOLITIK IN D EUTSCHL AND

tiven Auswirkungen auf die künftigen Arbeitsmarktchancen von Betroffenen sein.4 Allerdings erweist sich in Deutschland der Übergang von einem Job im Niedriglohnbereich in eine besser bezahlte Beschäftigung bisher als besonders schwierig. Gemeinsam mit den USA, dem Vereinigten Königreich und Frankreich verzeichnet Deutschland die geringste Aufwärtsmobilität unter Niedriglohnbeschäftigten.5 Die Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik und dabei insbesondere für Qualifizierungsmaßnahmen sind in den letzten Jahren erheblich gekürzt worden, obwohl die Ergebnisse verschiedener Studien6 auf eine hohe Wirksamkeit deuten und sich bereits in vielen Segmenten ein Fachkräftemangel zeigt. Das heißt: Auf der einen Seite konnte die Bundesagentur für Arbeit z.B. im Jahr 2008 einen Überschuss von einer Milliarde Euro erwirtschaften und verfügt damit über Rücklagen von mehr als 16 Milliarden Euro. Auf der anderen Seite können offene Stellen nicht besetzt werden, da den Arbeitslosen geforderte Qualifikationen fehlen. Teile dieser Mittel wieder für Qualifizierung und Weiterbildung – also für die Aufgaben, für die sie ursprünglich geplant waren – zu verwenden, liegt nahe. Damit würde der Erkenntnis der Notwendigkeit des »lebenslangen Lernens« und der Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit, der »Employability«,

4 | Vgl. Schmid, G.: Soziales Risikomanagement durch Übergangsarbeitsmärkte. WZB Discussion Paper SP I, 110/2004, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Berlin. 5 | Vgl. OECD: OECD Employment Outlook, Paris 2006. 6 | Vgl. OECD: OECD Employment Outlook, Paris 2004; Fitzenberger, B./ Speckesser, S.: Employment Effects of the Provision of Specific Professional Skills and Techniques in Germany. IAB Discussion Paper Nr. 21, Nürnberg 2005; Lechner, M./Miquel, R./Wunsch, C.: Long-run Effects of Public Sector Sponsored Training in West Germany. IAB Discussion Paper Nr. 3, Nürnberg 2005; Biewen, M./Fitzenberger, B./Osikominu, A./Völter, R./Waller, M. (2006): Beschäftigungseffekte ausgewählter Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung 3-4/2006, S. 365-390.

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Rechnung getragen. Diese Grundsätze sind nicht zuletzt als Ziele der EU-Beschäftigungs- und Sozialpolitik festgeschrieben. Bildung ist in unserer zunehmend wissensbasierten Gesellschaft der Schlüssel für die Verteilung von Lebenschancen. Auch die Erkenntnis, dass Bildungsanforderungen der heutigen Arbeitswelt nicht mit dem Abschluss von Schul- und Ausbildungszeiten enden, ist ein Gemeinplatz. Zudem werden Chancen und Risiken auf dem Arbeitsmarkt auch weiterhin von der Qualifikation bestimmt. Die sog. qualifikationsspezifische Arbeitslosigkeit trägt seit Jahren dieselben Vorzeichen: je höher die Qualifikation, desto geringer das Arbeitslosigkeitsrisiko.7 Bildungs- und Weiterbildungsförderung bleiben vor den skizzierten Hintergründen die vielversprechendsten Formen aktiver Arbeitsmarktpolitik. Siehe auch: Oschmiansky, Frank, Andreas Mauer und Karin Schulze Buschoff: Arbeitsmarktreformen in Deutschland – zwischen Pfadabhängigkeit und Paradigmenwechsel. In: WSI-Mitteilungen 6/2007, S. 291-297.

L ITER ATUR Biewen, M./Fitzenberger, B./Osikominu, A./Völter, R./Waller, M.: Beschäftigungseffekte ausgewählter Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung 3-4/2006, S. 365390. Fitzenberger, B./Speckesser, S.: Employment Effects of the Provision of Specific Professional Skills and Techniques in Germany. IAB Discussion Paper Nr. 21, Nürnberg 2005. IZA: Den Reformaufbruch wagen. Aufruf von 300 Ökonomen an die politischen Entscheidungsträger, in: IZA compact, Juli/ August 2003, Bonn. Lechner, M./Miquel, R./Wunsch, C.: Long-run Effects of Public 7 | Vgl. Reinberg, A./Hummel, M.: Vertrauter Befund: Höhere Bildung schützt auch in der Krise vor Arbeitslosigkeit. IAB-Kurzbericht Nr. 9, Nürnberg 2005.

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Sector Sponsored Training in West Germany. IAB Discussion Paper Nr. 3, Nürnberg 2005. Lutz, B./Sengenberger, W.: Segmentationsanalyse und Beschäftigungspolitik, in: Bolte, K.M. (Hg.): Mensch, Arbeit und Betrieb. Beiträge zur Berufs- und Arbeitskräfteforschung, Weinheim 1988, S. 273-286. OECD: OECD Employment Outlook, Paris 2004-2006. Reinberg, A./Hummel, M.: Vertrauter Befund: Höhere Bildung schützt auch in der Krise vor Arbeitslosigkeit. IAB-Kurzbericht Nr. 9, Nürnberg 2005. Sachverständigenrat: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2002/03: Zwanzig Punkte für Beschäftigung und Wachstum, Berlin 2002. Scharpf, F.W.: Employment and the Welfare State: A Continental Dilemma?, in: Ebbinghaus, B./Manow, P. (Hg.): Comparing Welfare Capitalism, London 2001, S. 270-283. Schmid, G.: Soziales Risikomanagement durch Übergangsarbeitsmärkte. WZB Discussion Paper SP I 110/2004, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Berlin 2004. Zimmermann, K.F.: Beschäftigungspotentiale im Niedriglohnsektor, in: DIW-Vierteljahrsheft zur Wirtschaftsforschung, Jg. 72, Heft 1/2003, S. 11-24.

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Arbeit, Grundeinkommen, Sozialeigentum Plädoyer für eine Gesellschaft der Ähnlichen Wolfgang Engler

1. Arbeit und Einkommen voneinander zu entkoppeln, das ist die Regel der geschriebenen Menschheitsgeschichte. Die einen arbeiteten, die anderen genossen die Früchte fremder Arbeit und gaben sich der Muße hin. Neu, verblüffend, für manche(n) ungehörig ist die Forderung, Einkommen generell von Arbeit abzulösen – in Form eines Grundeinkommens, das jeder und jedem ein auskömmliches Leben sichert, unabhängig vom Lohnerwerb. Da sehen viele die Fundamente der Gesellschaft wackeln. Das scheint mir übertrieben, zu dramatisch. Nüchtern betrachtet ist das Grundeinkommen »nur« ein weiteres Thema auf der sozialstaatlichen Agenda, ein Thema, das sich zwanglos in den langen Kampf um die Erweiterung von Bürgerrechten einreiht. Folgt man T.H. Marshalls klassischer Untersuchung1, krönt das Grundeinkommen die soziale Emanzipation des neuzeitlichen Subjekts. Nach der Meinungsfreiheit und der Gleichheit vor dem Gesetz, diesen im engeren Sinne juristischen Rechten, eroberte es 1 | Marshall, T.H., Class, Citizenship, and Social Development, New York 1964.

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politische – insbesondere das Recht, sich zusammenzuschließen, sowie das allgemeine Wahlrecht, um sich endlich auch ökonomische Wohlfahrt und soziale Sicherheit, sozialökonomische Rechte also, zu erstreiten. Das Recht auf Lebensunterhalt auch ohne Arbeitsnachweis setzt den vorläufigen Schlussstrich in dieser dritten Gruppe – als zusätzliche Versicherung gegen die Unwägbarkeiten des (globalen) Arbeitsmarktes.

2. Derartige Versicherungen sind geschichtlich gesehen jungen Datums und erst seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts auf dem Vormarsch. Bis dahin war Arbeit, speziell die unter dem Diktat des frühen Industriekapitals, eine Plage, eine Aussicht auf ein ebenso entbehrungsreiches wie zumeist kurzes Leben. Das änderte sich im Zusammenhang zweier komplementärer Entwicklungen: der (unterproportionalen) Teilhabe der Lohnarbeiter am Produktivitätsgewinn sowie dem Aufkommen großkollektiver Versicherungssysteme (Unfall, Krankheit, Alter, später auch Arbeitslosigkeit). Es war vorrangig dieses an Arbeit gebundene »Sozialeigentum«, das die Arbeiterexistenz erträglich gestaltete und den proletarisierten Massen zu einer »bürgerlichen Form der Lohnabhängigkeit« verhalf.2 Das Grundeinkommen vollendet diese Entwicklung und bricht zugleich mit ihr. Mehr noch als gegen die Unwägbarkeiten des Arbeitsgeschehens versichert es die Individuen gegen die »Zumutung« der Arbeit selbst. Das ist der Witz der Sache, der nicht verschwiegen werden darf. Sämtliche gängigen Instrumente der gesellschaftlichen Risikovorsorge sind ultimativ auf Erwerbsarbeit bezogen. Wer einen Arbeitsunfall erleidet, erkrankt, seine Arbeit verliert, erhält öffentliche Unterstützung, die es ihm oder ihr erlaubt, diese »Auszeiten« zu überbrücken. Die Zuwendung erfolgt in der Erwartung, dass die Empfänger den nur unterbrochenen Broterwerb nach 2 | Hierzu ausführlich: Castel, R., Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2008.

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dem Wegfall der Hinderungsgründe umgehend fortsetzen. Im gleichen Sinn auf Arbeit gepolt ist der »verdiente Ruhestand«, der in genau dem Maße verdient ist, in dem er auf ein möglichst lückenloses Arbeitsleben zurückblickt. Personen mit schweren körperlichen oder geistigen Handicaps ausgenommen, bleibt die erklärte Bereitschaft, jederzeit Arbeit leisten zu wollen, die conditio sine qua non der Existenzgewinnung.

3. Das Grundeinkommen löst das Sozialeigentum vom »Arbeiter« und überträgt es auf die dahinter stehende »Person«, auf das Individuum als solches. Hinfort käme jedwede(r) mit dem Sozialeigentum, mit umfassenden sozialen Rechten auf die Welt, und behielte sie unabhängig von der Tatsache, ob er/sie Arbeit leistet oder nicht, viel oder wenig, episodisch oder kontinuierlich. Scheinbar bietet das Grundeinkommen dem Sozialstaat nur eine weitere Handhabe für eine zeitgemäße Risikovorsorge. Tatsächlich setzt es sich an dessen Stelle, hebt, mit Ausnahme der Krankenversicherung, alle anderen Versicherungssysteme in sich auf, kassiert die anhängigen Verwaltungen und schickt das vielköpfige Personal in den Urlaub. Das macht die Sache im Grundsatz strittig. Der Streit gewinnt an Schärfe, wenn man die im Grundeinkommen eingeschlossene Novität ausdrücklich betont: die Freiheit aller, zu arbeiten oder nicht zu arbeiten. Arbeit, diese am wenigsten abweisbare Notwendigkeit des Lebens würde – mit einer noch zu erörternden Einschränkung – zur Option, zur »Lebensstilpräferenz«, wie ein Kommentator der Debatte treffend bemerkte.3

3 | Muirhead, R., Just Work, Cambridge 2004, S. 17.

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4. Das darf nicht sein, darin sind sich die Kritiker des Grundeinkommens einig. Prüft man ihre Argumente näher, dann fallen zwei besonders ins Gewicht. a) Ein allgemeines Recht auf auskömmliches Leben ohne Arbeit verstößt gegen elementare Grundsätze und Gepflogenheiten demokratischer Gesellschaften. Wer wollte als Bürger unter Bürgern ernstlich ein Recht postulieren, das es ihm oder ihr erlaubte, von der Arbeit anderer zu leben? Ein nicht arbeitender Teil der Bürgerschaft, der auf den »Gewerbefleiß« der Restgesellschaft spekuliert, diese gleichsam zur Geisel seiner Muße macht, das klingt nach Wiederkehr der mittelalterlichen Ständegesellschaft. Mit dem Gleichheitsgrundsatz moderner Demokratien scheint dieser Anspruch, da im Kern parasitär, unvereinbar. b) Ein allgemeines Recht auf auskömmliches Leben ohne Arbeit ist auch rein sachlich ein Widerspruch in sich. Es kann in einem je gegebenen Intervall niemals von allen oder auch nur von vielen in Anspruch genommen werden, und falls das doch geschieht, droht der ökonomische Kollaps. Diesen zu verhindern, müsste eine monströse Bürokratie die Ein- und Ausstiege aus der Arbeit kontrollieren, Arbeitszeit- und Freizeitkonten führen und über deren Ausgleich wachen. Die vermeintliche Freiheit mutierte derart zum Gespenst.

5. Um mit dem zweiten Einwand zu beginnen, so überzeugt er nur, wenn man von den tatsächlichen Gegebenheiten des Arbeitslebens absieht. Niemand, der in seiner Arbeit auch nur einige Befriedigung findet, wird seinen Platz im Erwerbssystem leichtfertig räumen. Abwanderungstendenzen werden sich in den unteren Rängen der Lohnarbeitsgesellschaft bemerkbar machen, dort, wo die Arbeit eintönig, kraftraubend, schlecht bezahlt ist. Um die Ausstiegsnei-

A RBEIT , G RUNDEINKOMMEN , S OZIALEIGENTUM

gung zumindest in Grenzen zu halten, müssen die Arbeitsherren nach Wegen suchen, die Arbeit entweder sachlich anspruchsvoller zu gestalten oder sie besser abfinden, oder beides zugleich. Abwählbare Arbeit stärkt die Verhandlungsmacht der am schlechtesten gestellten »Arbeitnehmer« für annähernde Waffengleichheit zwischen Unternehmern und Personal. Der erstgenannte Einwand rechnet (realistisch) mit der fortbestehenden Erwerbsneigung eines Großteils der arbeitsfähigen Bevölkerung, um sich deren Ressentiment gegen die »Faulpelze«, die freiwillig Arbeitslosen, zu eigen zu machen: Wer sich dazu entschließt, von der Arbeit anderer zu leben, untergräbt den republikanischen Geist, kündigt den demokratischen Konsens.4 Das Argument griffe, wenn es stets dieselben Personen wären, die die Ausstiegsoption wählten. Unter der Voraussetzung respektabler Arbeit für alle potentiellen Erwerbspersonen wäre das jedoch keineswegs der Fall. Indem es das Angebot »guter« Arbeit erhöht, löst das Grundeinkommen die Probleme, die es schafft.

6. Mit der Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens würde Arbeit zur Option – dies allerdings nur insofern, als es nunmehr jeder und jedem freistünde, die Arbeit abzuwählen. Sie wieder aufzunehmen, wann immer man es wünscht, ist von Faktoren abhängig, auf die die einzelnen keinen Einfluss haben. Dehnt sich das Arbeitsvolumen aus, entstehen neue Stellen, mag der Wunsch zum Zuge kommen; stagniert das Arbeitsangebot oder schrumpft es gar, steht es um die Rückkehr schlecht. Die Freiheit, die mit optionaler Arbeit einhergeht, ist one way – ein starker Anreiz, den Ausstieg gründlich abzuwägen und ein weiteres Argument gegen das vermutete Ausbluten der Lohnarbeitsgesellschaft. 4 | »For this reason many take work to be not only a necessary thing but also a kind of social obligation. Just democracies cannot be neutral […] between ways of life that contribute to economic productivity and those that do not.« Muirhead, Just Work, a.a.O., S. 18.

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7. Das Grundeinkommen definiert den materiellen Grund des Lebens; darunter darf kein Einkommen sinken, ob arbeitsam, ob nicht. Wer für Mindestlöhne streitet, sollte das zu schätzen wissen. Dies umso mehr, als ein rechtlich garantiertes Grundeinkommen die Arbeitswilligen in den Stand versetzt, Löhne zu fordern und auch durchzusetzen, die darüber liegen. Umgekehrt verhindert nur ein erfolgreicher Kampf zugunsten allgemeiner Mindestlöhne die Pervertierung des Grundeinkommens zu einem modernen Ablasshandel. Ohne flächendeckende Mindestlöhne würden Unternehmer mehr als nur versucht sein, regulär Beschäftigte durch Grundeinkommensempfänger zu ersetzen. Die bringen einen Teil ihres Einkommens immer schon mit und benötigen daher nur noch einen kleinen Zusatzlohn, um besser als zuvor zu leben. Die Begeisterung, die jüngst auch unter Unternehmern für das Grundeinkommen erwacht ist, gibt zu denken. Grundeinkommensbefürworter und Streiter für den allgemeinen Mindestlohn sind aufeinander angewiesen, verfolgen verwandte Ziele, und deshalb ist es an der Zeit, die wechselseitigen Vorbehalte zu überwinden und ein Bündnis zu schließen.

8. Abwählbare Arbeit auf Basis eines Grundeinkommens bedeutet keinen neuen Egalitarismus. Die Forderung zielt »lediglich« auf eine »Gesellschaft der Ähnlichen«, in der sich alle als Bürger unter Bürgern begegnen und anerkennen können.5 Die Abkopplung des Einkommens von Lohnarbeit sorgt für die ökonomische Unabhängigkeit aller Gesellschaftsmitglieder. Um deren Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und am kulturellen Reichtum des Gemeinwesens sicherzustellen, ist jedoch mehr vonnöten: die kulturelle Aktivierung der Individuen, Bildung im umfassenden 5 | Zu dieser Formel siehe: Castel, R., Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg 2005, S. 44-53.

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Sinn des Wortes.6 Nur wer imstande ist, sein Dasein auch in Abwesenheit von Lohnarbeit zu führen, auf eine ihn selbst und andere befriedigende Weise, zeigt sich der neuen Freiheit gewachsen.

L ITER ATUR Castel, R., Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2008. Castel, R., Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg 2005. Engler, W., Bürger ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft, Berlin 2005. Engler, W., Unerhörte Freiheit. Arbeit und Bildung in Zukunft, Berlin 2007. Marshall, T.H., Class, Citizenship, and Social Development, New York 1964. Muirhead, R., Just Work, Cambridge 2004.

6 | Diese Dialektik von ökonomischer und kultureller Emanzipation sei hier nur angedeutet. Vgl. ausführlich: Engler, W., Bürger ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft, Berlin 2005; ders., Unerhörte Freiheit. Arbeit und Bildung in Zukunft, Berlin 2007.

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Talkrunde 2 Clara Schlichtenberger

Teilnehmer: Wolfgang Engler, Ulrich Pfeiffer, Jakob von Weizsäcker Die Diskussion in Talkrunde 2 wurde durch eine Frage von Frau Dr. Weidenfeld an Herrn Engler im Anschluss an seinen Vortrag eingeleitet, wie hoch denn das bedingungslose Grundeinkommen seiner Ansicht nach sein müsse. Engler verwies, ohne sich auf eine Summe festlegen zu wollen, darauf, dass nach Abzug von Unkosten wie Miete, Energiekosten etc. eine Summe übrig bleiben müsse, die es einem erlaube, kulturelle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu haben. Im Gegensatz zu Götz Werner sei er nicht der Ansicht, dass ein Grundeinkommen die Mobilisierung des Einzelnen bewirke. Es erleichtere zwar die ökonomische Bedrängtheit des Einzelnen, müsse aber durch einen anderen Bildungsansatz unterstützt werden. Ein Teilnehmer des Symposiums, Herr Reutter (Institut für Erwachsenenbildung Bonn), warf die Frage ein, wieso Engler davon ausgehe, dass gerade Arbeitnehmer in entfremdeten, mühseligen Arbeitsumständen mit dem Erhalt eines Grundeinkommens ihren Arbeitsplatz aufgeben würden. Die schwerwiegendere Bürde der derzeitigen Situation sei doch das »Nicht-mehr-gebrauchtWerden« der aus dem Arbeitsmarkt Ausgegrenzten. Diesen Einwurf nahm Engler in die Talkrunde mit, um den Begriff des »fitting work« zu erläutern: während man sich früher oft auch nicht idealen Arbeitsbedingungen angepasst habe,

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C L ARA S CHLICHTENBERGER

so trete nun auch in »bildungsfernen« Schichten die Suche nach Authentizität, nach einem »zu einem passenden Job«, auf. Es würden demnach eher Menschen – auch vor allem junge – ihren Arbeitsplatz dann verlassen, wenn sie sich nicht mehr mit ihm identifizieren könnten. Allerdings stehe das Angebot dieser nach individuellen Bedürfnissen »idealer« Jobs in krassem Gegensatz zu der Nachfrage. Herr Pfeiffer merkte an, dass Selbstachtung und Respekt von anderen wesentlich in Zusammenhang mit der Ausübung einer Arbeit stehe. Wie würde ein Instrument wie das bedingungslose Grundeinkommen die Gesellschaft verändern? Welche emotionale Gräben würden aufgerissen zwischen Empfängern des Grundeinkommens und denjenigen, die sich der Mühsal der täglichen Arbeit unterzögen? Wie solle die zusätzliche Belastung für die Steuerzahler abgefedert werden? Sowohl Arbeit wie Güter und Dienstleistungen seien derzeit knapp und eine gesellschaftliche Konsolidierung könne nur in Annäherung an eine Vollbeschäftigung gewährleistet sein. Insofern habe sich auch Hartz IV positiv auf den Arbeitsmarkt ausgewirkt, da durch 1-Euro- und Minijobs Sprungbretter in die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt geschaffen worden seien. Laut von Weizsäcker liegt die politische Hauptattraktion der Vorstellung eines bedingungslosen Grundeinkommens in seiner Einfachheit. Erhebliche Schwierigkeiten sieht er bei der Finanzierung, wenn das Grundeinkommen einigermaßen großzügig bemessen wäre. Und wenn ein bedingungsloses Grundeinkommen knapp bemessen wäre, würde es politisch instabil. Denn dann wäre es kaum zu vermeiden, Menschen in besonders schwierigen Umständen bedarfsabhängige Zuschläge zu geben. Doch mit diesen bedarfsabhängigen Zahlungen würde man dann schnell wieder im heutigen Sozialstaat ankommen. Frau Weidenfeld wandte sich an Herrn Engler mit der Frage nach »verfestigten Karrieren« von Hartz IV-Empfängern, deren Nachkommen sich ihr Leben als Bezugempfänger »einrichten«. Engler stimmte zu, dass entsprechende Strukturen sehr wohl existierten und entsprechende Ämter zu primären Sozialpartnern würden. Das Grundeinkommen würde kurzfristig nichts daran ändern.

T ALKRUNDE 2

Pfeiffer forderte in diesem Zusammenhang ebenfalls andere Bildungsansätze, die u.a. Motivation und innere Entwicklung als Ziel hätten. Erst wenn dies geschehen sei, könnten künftige Generationen eventuell über ein bedingungsloses Grundeinkommen diskutieren. Das Grundeinkommen könnte schlimmstenfalls auch als »Solidaritätsablass« gesehen werden. Von Weizsäcker wies auf den Vorschlag von Dennis Snower1 hin, jeden Bürger mit einem relativ großzügigen Guthaben auf einem Sozialkonto in den Wohlfahrtsstaat eintreten zu lassen. Man könne dies als eine Art befristetes Bürgergeld interpretieren, das aber weniger Anreiz- und Finanzierungsprobleme habe. Denn wer das Geld auf dem Sozialkonto vollständig aufbraucht, dem stünde dann nur noch eine wesentlich bescheidenere Minimalabsicherung zu. Engler erläuterte die Vorstellung vom »basic capital«2 , das jedem 80 Dollar zur Verfügung stelle, um analog zu den Kosten eines hervorragenden Bildungsabschlusses Bildungskapital zu erwerben. Bildung allerdings nur unter dem Aspekt der Funktionalität zu sehen, sozusagen als »Vorschuss auf Cash«, sei allerdings auch nicht erstrebenswert. Abschließend kam aus dem Publikum von Prof. Hengsbach die Anmerkung, dass wenn eine individuelle Zurechnung von Leistung und Ergebnis nicht möglich sei, ob wir dann nicht doch alle in einem Boot säßen, die Arbeitslosen, die prekär Beschäftigten und diejenigen, die noch einer gesicherten Lohnarbeit nachgingen.

1 | Siehe z.B. Dennis Snower et al.: Beschäftigungskonten für Deutschland. Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 9/2 (2008), S. 139-155. 2 | John Cuncliffe, Guido Erreygers: Basic income? Basic capital, Origins and issues of a debate. Journal of Political Philosophy 11.1 (2003): 89-110.

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Mehr Beschäftigung um jeden Preis? Martin Dietz und Ulrich Walwei

1. E INLEITUNG In den beiden letzten Dekaden hat sich die Erwerbslandschaft verändert. Normalarbeitsverhältnisse – definiert als abhängige, sozialversicherungspflichtige und unbefristete Vollzeitbeschäftigung – haben an Bedeutung verloren. Erwerbsarbeit wird vermehrt in Teilzeit ausgeübt – oft ist sie nicht oder nicht voll sozialversicherungspflichtig, oder die Beschäftigung ist befristet oder als Leiharbeitsverhältnis ausgestaltet. Auch die Selbständigkeit nimmt an Bedeutung zu. Neben dem Zuwachs bei den atypischen Erwerbsformen zeigt sich an dem kontinuierlichen Wachstum des Niedriglohnsektors eine weitere wichtige strukturelle Veränderung der Erwerbslandschaft. Dabei sind die geschilderten Entwicklungen nicht trennscharf, denn Niedriglohnbeschäftigung kann sowohl auf Normalarbeitsverhältnisse als auch auf atypische Erwerbsformen zutreffen. Die geschilderten Veränderungen haben besonders in den Aufschwungjahren 2006 bis 2008 unter dem Stichwort »Gute Arbeit« eine Diskussion über den Zusammenhang von Quantität und Qualität von Beschäftigung in Gang gesetzt. So wird argumentiert, dass eine Ausweitung der Beschäftigung nur dann positiv zu beurteilen sei, wenn Erwerbspersonen nicht zu hohen individuellen Risiken, z.B. hinsichtlich der Höhe oder der Sicherheit des Einkommensstroms, ausgesetzt würden. Es geht also um nicht mehr und nicht weniger als die Frage, wie hoch der Preis

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von mehr Beschäftigung für die betroffenen Arbeitnehmer sein soll oder sein darf. Eine Beantwortung dieser nahe liegenden Frage ist aber alles andere als trivial. Sie bedarf eines genauen Blicks auf die Fakten und einer gleichermaßen sorgfältigen Interpretation. Die Gründe für die Veränderungen in der Struktur der Erwerbstätigkeit sind vielfältig. Neben den personalpolitischen Dispositionen der Betriebe und den Präferenzen der Arbeitsanbieter sind exogene Faktoren wie der rechtliche Rahmen oder auch die Lage von Wirtschaft und Arbeitsmarkt zu nennen. So sind Arbeitnehmer in schwierigen Zeiten eher bereit, Risiken auf sich zu nehmen und Zugeständnisse gegenüber den ebenfalls unter wirtschaftlichem Druck agierenden Unternehmen zu machen. Nachhaltige Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt begünstigen tendenziell unfreiwillige Teilzeitarbeit, temporäre Beschäftigung, niedrig entlohnte Tätigkeiten oder auch Existenzgründungen aus (drohender) Arbeitslosigkeit. Bei den institutionellen Einflüssen sind bspw. die Kopplung der Sozialversicherungen an den Faktor Arbeit oder die indirekten Kosten, die dem Normalarbeitsverhältnis über rechtliche Regelungen wie den Kündigungsschutz auferlegt werden, hervorzuheben. Beides trägt dazu bei, dass das Normalarbeitsverhältnis für Unternehmen relativ zu bestimmten atypischen Erwerbsformen aus Kostengesichtspunkten unattraktiv wird. Auf der Angebotsseite spielt zudem die Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik eine gewichtige Rolle. Die Maxime des stärkeren Forderns führt auf der Arbeitnehmerseite zu mehr Flexibilität und somit auch zu mehr Zugeständnissen hinsichtlich der Erwerbsformen.1 Die Ausgestaltung der Hinzuverdienstregelungen zu Transferleistungen begünstigen niedrig entlohnte Formen der Teilzeitbeschäftigung, insbesondere kleine Minijobs.2

1 | Vgl. Eichhorst, W./Koch, S./Walwei, U.: Wie viel Flexibilität braucht der deutsche Arbeitsmarkt? In: Wirtschaftsdienst, H. 9/2004, S. 551556. 2 | Vgl. Cichorek, A./Koch, S./Walwei, U.: Arbeitslosengeld II. Höhere Ar beitsanreize geplant, IAB-Kurzbericht Nr. 7/2005; Koch, S./Walwei,

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Schließlich sind auch auf Seiten der Arbeitsanbieter Flexibilisierungswünsche zu sehen. Die Präferenzen der Menschen sind heterogen und nicht ausschließlich durch eine spezifische Beschäftigungsform zu befriedigen. Zu berücksichtigen sind dabei – je nach individueller Lebenslage – Aktivitäten wie Ausbildung, Ehrenamt und Familie. So ist ein nennenswerter Anteil des Anstiegs der Teilzeitbeschäftigung im Zusammenhang mit der steigenden Frauenerwerbstätigkeit zu sehen.3 Aus der veränderten Zusammensetzung der Erwerbstätigkeit ergeben sich zwei grundlegende Fragestellungen. Die eine befasst sich mit den Niveaueffekten, also mit der Frage, ob sich die Erwerbstätigkeit insgesamt ohne den Wandel günstiger oder weniger günstig entwickelt hätte. In Zeiten immer noch hoher und wieder steigender Arbeitslosigkeit ist darüber hinaus die Offenheit des Arbeitsmarktes von besonderer Bedeutung. Erleichtern atypische Beschäftigungsverhältnisse und niedrig entlohnte Tätigkeiten den Übergang aus der Arbeitslosigkeit in den Arbeitsmarkt und erfüllen damit eine Brückenfunktion? Beiden Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden, wobei zunächst ausführlich auf atypische Erwerbsformen und dann auf den Niedriglohnsektor eingegangen wird.

2. A T YPISCHE E RWERBSFORMEN Der nach der Wiedervereinigung weiter zunehmende Wandel der Erwerbsformen ist kein neues Phänomen. Er wurde schon zu Beginn der achtziger Jahre mit der zunehmenden Bedeutung der Teilzeitbeschäftigung deutlich sichtbar.4 Diese Entwicklung hat U.: Hinzuverdienstregelung im SGB II: Quo vadis? In: Wirtschaftsdienst, Jg. 86, H. 7/2006, S. 423-427. 3 | Wanger, S. 2006(b): Arbeitszeitpolitik: Teilzeitarbeit fördert Flexibilität und Produktivität. IAB-Kurzbericht, Nr. 7/2006. 4 | Vgl. Hoffmann, E./Walwei, U.: Normalarbeitsverhältnis: ein Auslaufmodell? Überlegungen zu einem Erklärungsmodell für den Wandel der Beschäftigungsformen. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Jg. 31, H. 3/1998, S. 409-425.

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sich auch durch die Zunahme der geringfügigen Beschäftigungen fortgesetzt. Auch die befristete Beschäftigung, die Selbstständigkeit und allen voran die Leiharbeit wuchsen stärker als die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt (vgl. Abbildungen 1 und 2). Abbildung 1

Von den gut 40,3 Millionen Erwerbstätigen in 2008 stellte die Teilzeitbeschäftigung mit 12,1 Millionen Personen den größten Teil der atypischen Erwerbsformen. Die Zahl der Selbstständigen lag bei knapp 4,5 Millionen. Etwa 3,1 Millionen Menschen waren im Jahr 2007 befristet beschäftigt. Die Leiharbeit wächst gerade in den vergangenen Jahren stark, setzt aber auf einem relativ geringen Niveau auf. Mitte 2008 waren in dieser Erwerbsform knapp 0,8 Millionen Personen beschäftigt. Eine Untersuchung des Statistischen Bundesamts (2008) zur Entwicklung der Erwerbsformen kam zu ähnlichen Ergebnissen: Von 1997 bis 2007 stieg laut Mikrozensus die Zahl der abhängig Beschäftigten im Haupterwerbsalter von 15 bis 64 Jahren von knapp 29,1 Mio. auf 30,2 Mio. Während die »Normalbeschäftigung« von 24 Mio. auf 22,5 Mio. sank, konnte die atypische Beschäftigung5 um rund 2,5 Mio. zulegen und erreichte 2007 ein 5 | Im Gegensatz zur »Normalbeschäftigung« handelt es sich bei der »atypischen Beschäftigung« nach den Definitionen des Statistischen Bundesamtes um befristet Beschäftigte, Leiharbeitnehmer, geringfügig

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Niveau von fast 7,7 Mio. Alle atypischen Erwerbsformen konnten in den vergangenen zehn Jahren deutliche Zuwächse verzeichnen. Abbildung 2

Atypische Beschäftigung ist nach den Auswertungen aus dem Mikrozensus eine Frauendomäne. So lag im Jahr 2007 der Frauenanteil bei 71%. Dies ist vor allem auf deren hohe Teilzeitquote zurückzuführen. Generell sind alle Altersgruppen von atypischer Beschäftigung »betroffen«. Den höchsten Anteil verzeichneten jedoch im Jahr 2007 die 15- bis 24 -Jährigen mit gut 39%, gleichzeitig fällt der Anstieg der atypisch Beschäftigten in dieser Gruppe mit knapp 20 Prozentpunkten am stärksten aus. Besonders häufig sind auch Menschen in der atypischen Beschäftigung zu finden, die keine Berufsausbildung abgeschlossen haben. Ihr Anteil betrug 2007 ungefähr 40%. Weit darunter befanden sich die Anteile derer, die einen tertiären Bildungsabschluss (18%) oder eine berufliche Ausbildung haben (25%).

Beschäftigte und sozialversicherungspflichtig Teilzeitbeschäftigte mit einer Wochenarbeitszeit von weniger als zwanzig Stunden.

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2.1 Beschäftigungseffekte atypischer Er werbsformen auf der Makroebene Teilzeitbeschäftigung ist in Deutschland auch im Vergleich zu anderen Ländern weit verbreitet. Sie umfasst ein breites Spektrum von Beschäftigungsverhältnissen mit Arbeitszeiten knapp unterhalb der Vollzeitarbeit bis hin zu geringfügiger Beschäftigung. Teilzeitbeschäftigte arbeiten nicht selten in Mini- oder Midijobs, die allein kein Existenz sicherndes Einkommen gewährleisten. Dies zeigt sich besonders im Bereich der sog. »Aufstocker« – also bei den Haushalten im Grundsicherungsbezug, die gleichzeitig einer Beschäftigung nachgehen. Mehr als die Hälfte der Aufstocker arbeitet weniger als 15 Stunden die Woche.6 Nach der Wiedervereinigung hat sich die Teilzeitbeschäftigung in Deutschland sehr dynamisch entwickelt. Sie stieg von 1994 bis 2008 um knapp 5,7 Millionen auf gut 12,1 Millionen Arbeitnehmer. Der Anteil der Teilzeitbeschäftigung an allen abhängig beschäftigten Arbeitnehmern erhöhte sich damit von 19,1 auf 33,8 Prozent. Bemerkenswert ist zusätzlich der beachtliche Anstieg der Nebenjobs. Diese haben zwischen 1994 und 2008 um etwa 1,4 Millionen zugelegt, was vor allem mit der dynamischen Entwicklung von Minijobs als Zweitbeschäftigung in diesem Zeitraum zusammenhängt. Es wäre jedoch unrealistisch zu unterstellen, dass es sich bei der Erhöhung der Teilzeitarbeit gesamtwirtschaftlich ausschließlich um zusätzliche Beschäftigung handelt. Dies lässt sich anhand einer einfachen Modellrechnung nachvollziehen, indem die Beschäftigtenanteile der verschiedenen Erwerbsformen über die Zeit konstant gehalten und mit der tatsächlichen Entwicklung verglichen werden.7 Sie zeigt aber auch, dass ein positiver Effekt von mehr Teilzeitbeschäftigung auf das Niveau der Erwerbstätigkeit unbestritten sein dürfte. Negative Beschäftigungseffekte des 6 | Dietz, M./Müller, G./Trappmann, M.: Bedarfsgemeinschaften im SGB II: Warum Aufstocker trotz Arbeit bedürftig bleiben, IAB-Kurzbericht Nr. 2/2009. 7 | Vgl. Dietz, M./Walwei, U.: Beschäftigungswirkungen des Wandels der Erwerbsformen. In: WSI-Mitteilungen, Jg. 59, H. 5/2006.

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Strukturwandels können also über eine Ausweitung der Teilzeitarbeit abgefedert werden. Einen vergleichbaren komplementären Effekt gibt es jedoch mit Blick auf das Arbeitsvolumen nicht, weil bei insgesamt wenig auswärtsgerichteter Gesamtbeschäftigung die durchschnittliche Jahresarbeitszeit je Erwerbstätigen gesunken ist. Die Zahl befristeter Beschäftigungsverhältnisse von Arbeitnehmern und Angestellten (ohne Auszubildende) ist von 1994 bis 2007 um rund 1,1 auf fast 3,1 Millionen gestiegen. Dies entspricht einer Quote von 9,7 Prozent der abhängig Beschäftigten. Bei dieser Entwicklung spielen arbeitsmarktpolitische Einflüsse eine besondere Rolle. So waren 1994 mit etwa 340.000 Personen knapp neunmal so viele Menschen in befristeten Maßnahmen der öffentlichen Beschäftigungsförderung (wie z.B. ABM) beschäftigt wie im Januar 2009. Einen stark erhöhenden Effekt auf die Zahl der Befristungen hatten dagegen die in 2005 im SGB II eingeführten und stark genutzten Arbeitsgelegenheiten. In 2008 waren durchschnittlich 315.000 Menschen in Arbeitsgelegenheiten beschäftigt. Bei den Befristungen bestehen Hinweise auf eine Substitution unbefristeter Arbeitsverhältnisse. Ein Indiz hierfür ist, dass befristete Arbeitsverhältnisse häufig als verlängerte Probezeit genutzt werden, die nachfolgend zu einer Übernahme in Normalarbeitsverhältnisse führen.8 Selbst wenn es nicht zur betrieblichen Übernahme kommt, können durch Mitnahme des geringeren Kündigungsschutzes Substitutionseffekte auftreten. Wie frühere Untersuchungen zu den gesamtwirtschaftlichen Effekten der Einführung des Beschäftigungsförderungsgesetzes zeigen, dürfte aber dennoch ein gewisser, eher kleiner Teil komplementär sein und mit zusätzlicher Beschäftigung einhergehen.9 Dies ergibt 8 | Vgl. Boockmann, B./Hagen, T.: Die Bedeutung befristeter Arbeitsverhältnisse. In: M. Kronauer und G. Linne (Hg.): Flexicurity. Die Suche nach Sicherheit in der Flexibilität. Edition sigma, Berlin 2005, S. 149168. 9 | Vgl. Büchtemann, Chr./Höland, A.: Befristete Arbeitsverträge nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz 1985. Forschungsbericht 183 des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Bonn 1989; Bie-

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sich aus der mit dem Einsatz von Befristungen resultierenden Absenkung der Einstellungs(grenz)kosten, dem dadurch möglichen Vorziehen von Neueinstellungen und den Chancen des Abbaus vermeidbarer Überstunden. Im Vergleich zu Befristungen erlangt das Unternehmen bei Leiharbeit eine noch größere Flexibilität bei der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses. Aufgrund der Vorselektion durch die Leiharbeitsfirma fallen zudem geringere Einstellungskosten an. Schließlich ermöglicht die Arbeitnehmerüberlassung Effizienzsteigerungen durch eine verbesserte Auslastung: Für Spitzenbelastungen bzw. kurzfristige Arbeitsausfälle muss weniger Personal vorgehalten werden. Die Leiharbeit war bis 2008 die Beschäftigungsform mit dem höchsten Wachstum. Diese Entwicklung wurde durch eine Reihe arbeitsrechtlicher Deregulierungen begünstigt.10 Die Leiharbeitnehmerquote stieg zwischen 1994 und 2008 um 2,4 Prozentpunkte auf fast 2,9 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Die Zahl der Leiharbeitnehmer nahm in diesem Zeitraum um etwa 590.000 auf 794.000 Personen zu. Im Zuge der aktuellen schweren Wirtschaftskrise gibt es jedoch klare Hinweise auf einen starken Rückgang dieser konjunkturreagiblen Erwerbsform. Aussagen über die gesamtwirtschaftliche Wirkung der Leiharbeit sind schon wegen der gegenläufigen Effekte in Entleih- und Verleihbetrieben schwierig. So stehen den Beschäftigungsgewinnen in den Zeitarbeitsagenturen mögliche Arbeitsplatzverluste bei den Entleihern gegenüber. Promberger11 zeigt anhand von lenski, H.: Deregulierung des Rechts befristeter Arbeitsverträge. Enttäuschte Hoffnungen, unbegründete Befürchtungen, In: WSI-Mitteilungen, Jg. 50, H. 8/1997. 10 | Vgl. Jahn, E.J.: Leiharbeit – für Arbeitslose (k)eine Perspektive? In: A. van Aaken und G. Grözinger (Hg.): Ungleichheit und Umverteilung. Metropolis, Marburg 2004, S. 215-236; ISG/RWI: Evaluation der Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission – Arbeitspaket 1 – Bericht 30. Juni 2005. 11 | Vgl. Promberger, M.: Leiharbeit. Flexibilitäts- und Unsicherheitspotenziale in der betrieblichen Praxis. In: M. Kronauer und G. Linne

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Untersuchungen des IAB-Betriebspanels, dass zwar von einer gewissen Substitution von Normalarbeitsverhältnissen auszugehen ist, dass diese jedoch gesamtwirtschaftlich kaum ins Gewicht fällt. So sind im Zeitraum von 1998 bis 2003 lediglich in etwa 15.000 Betrieben (dies entspricht 0,75 Prozent) ein gleichzeitiger Abbau von regulärer Beschäftigung und ein Ausbau der Leiharbeit zu konstatieren. Der Aufbau von Leiharbeit geht zudem häufig zu Lasten befristeter Arbeitsverhältnisse. Der aufgrund der zunehmenden Nutzung von Leiharbeit mögliche Verzicht auf Neueinstellungen kann hierdurch jedoch nicht abgebildet werden. Vor allem Betriebe des Verarbeitenden Gewerbes nutzen in Auslastungsspitzen die Leiharbeit und können so ihre Personaldecke knapper kalkulieren. Auch wenn sich zusätzliche Beschäftigungseffekte einer Ausweitung der Leiharbeit auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene alles in allem in Grenzen halten dürften, sind sie dennoch vorhanden. So könnten bei den Entleihern über die Einsparung von Arbeitskosten und einer damit möglichen Produktionsausweitung mittel- und längerfristig Beschäftigungsgewinne erzielt werden.12 Von positiver gesamtwirtschaftlicher Bedeutung ist schließlich, dass Leiharbeit – aufgrund starker Aktivitäten im Bereich gewerblich-technischer Mangelberufe – Beiträge zur Überwindung von Arbeitskräfteengpässen und damit zur Reduzierung von Mismatch sowie von vermeidbaren Überstunden leistet.13

(Hg.): Flexicurity. Die Suche nach Sicherheit in der Flexibilität, Edition sigma, Berlin 2005, S. 183-204. 12 | Vgl. Emmerich, K./Schnur, P./Walwei, U./Zika, G.: Beschäftigung im Focus: Über makroökonomische Wirkungen mikroökonomischer Erfolge. In: G. Kleinhenz (Hg.): IAB-Kompendium Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Nr. 250/2002, Nürnberg, S. 145-157. 13 | Vgl. Klös, H.P.: Zeitarbeit – Entwicklungstrends und arbeitsmarktpolitische Bedeutung. In: iw-trends, H. 1/2000, S. 5-21.

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2.2 Eingliederungseffekte auf der Personenebene Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern es Arbeitslosen und wettbewerbsschwächeren Arbeitnehmern gelingt, über atypische Beschäftigungsverhältnisse den Weg in ein »normales« Beschäftigungsverhältnis zu finden. Es ist also zu diskutieren, welche Auswirkungen der Wandel der Erwerbsformen auf die Durchlässigkeit des Arbeitsmarktes und die Beschäftigungsdynamik hat, und ob atypische Beschäftigungsformen die ihnen häufig zugedachte Brückenfunktion in Normalarbeitsverhältnisse erfüllen können. Neben dieser Übergangsfunktion ist es jedoch ebenso denkbar, dass Personen in atypischen Beschäftigungsformen feststecken (Einsperreffekte) oder dass sich Drehtüreffekte zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit ergeben. Weiterhin ist zu fragen, ob sich der Wandel der Beschäftigungsformen für bestimmte Personengruppen besonders positiv oder negativ ausgewirkt hat. Im Hinblick auf die Problemgruppen am Arbeitsmarkt spielen vor allem die Charakteristika Alter und Qualifikation eine besondere Rolle. Die makroökonomische Wirkung des Erwerbsformenwandels leitet sich aus den mikroökonomischen Entscheidungen der Unternehmen ab. Grundsätzlich spricht die Organisation komplexer Produktionsprozesse in technologisch hoch entwickelten Unternehmen dafür, dass ein Interesse an stabilen und vertrauensvollen betrieblichen Arbeitsbeziehungen besteht.14 Um die nötige Flexibilität in einem auf Kooperation angelegten Arbeitsverhältnis zu gewährleisten, haben sich unterschiedliche interne Mechanismen herausgebildet, bspw. die Nutzung von Arbeitszeitkonten.15 Neben diesen internen Flexibilisierungsinstrumenten besteht jedoch auch der Wunsch nach einer stärkeren externen Flexibilität zum Ausgleich betrieblicher oder personeller Schwankungen. Dies ist insbesondere bei einfachen Tätigkeiten 14 | Vgl. Dietz, M.: Der Arbeitsmarkt in institutionentheoretischer Perspektive. Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft Nr. 81, Lucius und Lucius, Stuttgart 2006. 15 | Vgl. Hohendanner, Chr./Bellmann, L.: Interne und externe Flexibilität. In: WSI-Mitteilungen, Jg. 59, H. 5/2006, S. 241-246.

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der Fall, deren Ausübung leicht kontrollierbar ist und die daher stärker »marktgängig« sind. Eine auf diese Weise entstehende Differenzierung durch die unterschiedliche Nutzung interner und externer Flexibilisierungsmechanismen kann zu einer (fortschreitenden) Segmentierung des Arbeitsmarktes beitragen. Auf der anderen Seite bietet sie Arbeitslosen den Einstieg in ein – wenn auch tendenziell unsicheres – Beschäftigungsverhältnis. Aus Sicht der Outsider steht dann die Frage im Vordergrund, inwiefern sie sich auf diese Weise für einen Platz in der Kernbelegschaft empfehlen können. Betrachtet man atypische Beschäftigungsverhältnisse als eine Möglichkeit, längere Zeitspannen der Arbeitslosigkeit zu vermeiden, so gehen hiermit weitere positive Effekte einher, die mit dem Erhalt der allgemeinen und spezifischen Qualifikationen zusammenhängen. Indem die Entwertung des individuellen Humankapitals vermieden wird, sinkt die Gefahr von Verfestigungstendenzen der Arbeitslosigkeit. Auch aus psychologischer Sicht dürften die Effekte positiv ausfallen, insbesondere wenn man der Erwerbsarbeit neben der reinen Einkommensfunktion weitere Eigenschaften zuspricht (Statusfunktion, Selbstverwirklichung). Auch Entmutigungseffekte, die vor allem bei dauerhafter Arbeitslosigkeit eine Rolle spielen, treten seltener auf, wenn zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten existieren. Menschen gewöhnen sich nicht an Unterstützung durch Dritte, Eigeninitiative und Eigenverantwortung werden gestärkt und der Rückgriff auf staatliche Leistungen oder das soziale Netz erfolgt seltener. Damit strahlen die positiven Effekte eines erleichterten Zugangs zu einer Erwerbstätigkeit auch in andere gesellschaftliche Bereiche aus.

Voll sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung Obwohl die Teilzeitbeschäftigung bei Männern in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen hat, erhöht sich durch diese Erwerbsform vor allem die Arbeitsmarktpartizipation von Frauen. Diese stellen noch immer etwa drei Viertel der Teilzeitbeschäftigten. Fast die Hälfte aller weiblichen Beschäftigten arbeitet damit Teilzeit. Bei ihnen zeigt sich ein relativ ausgeglichenes Verhältnis von regulärer Teilzeit zu geringfügiger Beschäftigung, während

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Letztere bei den Männern mit 75 Prozent deutlich überwiegt. Während Männer Teilzeitarbeit eher am Anfang und am Ende ihrer Lebensarbeitszeit nutzen, nimmt sie bei Frauen während der gesamten Erwerbsbiographie eine wichtige Rolle ein.16 Obwohl der Anteil von Frauen auf »regulären« Teilzeitstellen deutlich höher liegt als bei Männern, gelingt ihnen deutlich seltener der Sprung von der Teilzeit in ein Normalarbeitsverhältnis. Reguläre Teilzeitarbeit kann für Männer also einen ersten Schritt auf der Karriereleiter darstellen, während bei Frauen die Vereinbarkeit verschiedener Lebensmuster im Vordergrund steht. Die starke Verbreitung von Teilzeitarbeit bei Frauen spiegelt nur zum Teil ihren Wunsch nach geringerer Arbeitszeit wider. Vielmehr bildet es die Mängel bei der gesellschaftlichen Verbindung von Arbeit und Familie ab, die noch immer vor allem von den Frauen getragen werden. Dies lässt sich auch daran ablesen, dass sich der Haushaltskontext beträchtlich auf ihre Erwerbsmöglichkeiten auswirkt. Frauen mit Kindern wechseln deutlich seltener in Vollzeitbeschäftigung als ihre kinderlosen Pendants. Dagegen spielt der Haushaltskontext bei Männern keine Rolle für ihren Verbleib in Teilzeitarbeit.17 Daher sind weitere Verbesserungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine Voraussetzung für mehr Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt.18 Den Weg aus der Arbeitslosigkeit über die Teilzeit in eine Vollzeitbeschäftigung gingen im Zeitraum 1995 bis 2003 nur 5,4 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, aus der Arbeitslosigkeit sofort eine Vollzeitbeschäftigung zu finden, ist deutlich höher. Der umgekehrte Weg aus einer Teilzeitbeschäftigung in die Arbeitslosigkeit wird allerdings auch nicht häufig gegangen – lediglich bei

16 | Vgl. Wanger, S.: Erwerbstätigkeit, Arbeitszeit und Arbeitsvolumen nach Geschlecht und Altersgruppen. Ergebnisse der IAB-Arbeitszeitrechnung nach Geschlecht und Alter für die Jahre 1991-2001, IAB-Forschungsbericht, Nr. 2/2006a). 17 | Vgl. Schäfer, A./Vogel, C.: Teilzeitbeschäftigung als Arbeitsmarktchance. In: DIW-Wochenbericht, H. 7/2005, S. 131-138. 18 | Vgl. Wanger 2006.

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ostdeutschen Männern steht dieses Muster mit rund 15 Prozent der Sequenzen an der Spitze.19 Ein hohes Bildungsniveau erhöht allgemein die Wahrscheinlichkeit des Wechsels in eine Vollzeitbeschäftigung und senkt die Wahrscheinlichkeit, im Anschluss arbeitslos zu werden. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist die bereits erworbene Berufserfahrung.20 Es existiert also eine gewisse Pfadabhängigkeit: Während vorangehende Arbeitslosigkeit die Gefahr erneuter Arbeitslosigkeit erhöht, steigt bei vorangehender Beschäftigung die Chance auf einen neuen Arbeitsplatz.

Minijobs und geringfügige Beschäftigung Unter Status-quo-Bedingungen ist das Arrangement der Minijobs kaum geeignet, den Übergang in ein Normalarbeitsverhältnis zu ebnen. So hat sich gezeigt, dass diese Erwerbsform gerade für solche Tätigkeiten attraktiv ist, die nur einer relativ geringen Qualifikation bedürfen. Eine Umwandlung der Minijob-Beschäftigung in ein relativ teureres Normalarbeitsverhältnis ist damit nicht zu erwarten. Auch für viele Arbeitsanbieter in diesem Segment steht der Übergang in ein Normalarbeitsverhältnis nicht im Vordergrund. Im April 2004 strebte nur rund ein Viertel der Minijobber den Wechsel in nicht-geringfügige Beschäftigung an. Minijobs sind in rund 40 Prozent der Fälle von Vornherein als Nebenbeschäftigung und damit als Hinzuverdienstmöglichkeit angelegt.21 Gründe hierfür lassen sich in der Struktur der Minijobber finden, in der Schüler, Studenten und Rentner stark vertreten sind. Weiterhin bietet der Minijob die Chance zur Aufbesserung des Haushaltseinkommens bei gleichzeitiger Vereinbarkeit von Familie 19 | Vgl. Schäfer, A./Vogel, C., Teilzeitbeschäftigung als Arbeitsmarktchance, 2005. 20 | Vgl. O’Reilly, J./Bothfeld, S.: What happens after working part time? Integration, maintenance or exclusionary transitions in Britain and western Germany. In: Cambridge Journal of Economics, Nr. 26/2002, S. 409439. 21 | Vgl. Fertig, M./Kluve, J./Scheuer, M.: Was hat die Reform der Minijobs bewirkt? Erfahrungen nach einem Jahr, RWI Schriften 77/2005, Essen.

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und Beruf – dies erklärt, warum etwa zwei Drittel der geringfügig Beschäftigten Frauen sind. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zeichnen sich durch eine hohe Fluktuation aus. Betrachtet man die Gruppe der ausschließlich geringfügig Beschäftigten, ist die Fluktuation doppelt so hoch wie bei voll sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Knapp zwei Drittel dieser Personen wechseln innerhalb eines Jahres den Arbeitsplatz.22 Empirische Untersuchungen zu Übergängen zwischen Minijobs und sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung aus den Jahren 2003/2004 zeigen, dass die Brücke in beide Richtungen begangen wird. Mit 437.000 Menschen wechselten sogar rund 50.000 Beschäftigte mehr aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in einen Minijob als umgekehrt.23 Der Integrationswirkung von Minijobs ist also mit Skepsis zu begegnen, wenn man den Übergang in ein Normalarbeitsverhältnis als oberstes Ziel betrachtet. Andererseits ergeben sich Möglichkeiten zur verstärkten Partizipation sowie zur verbesserten Vereinbarkeit unterschiedlicher Lebensinhalte, und zwar anscheinend ohne dass es in einem größeren Ausmaß zu einer Substitution von Normalarbeitsverhältnissen käme (siehe Abschnitt 2.1). Problematisch erscheint jedoch die Tatsache, dass durch Minijobs keine Sozialversicherungsansprüche erworben werden. Damit fehlt den Beschäftigten bei einem längeren Verbleib in dieser Erwerbsform eine wichtige Säule der finanziellen Absicherung. Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass diese Menschen im Alter auf steuerfinanzierte Leistungen angewiesen sein werden.

Befristungen Bei befristeten Arbeitsverhältnissen mit einem vertraglich vereinbarten Enddatum stellt sich automatisch die Frage nach dem »Danach«. Auch bei der Leiharbeit wurden hohe Erwartungen geweckt, was den Klebeeffekt in den entleihenden Betrieben angeht. 22 | Vgl. Kalina, Th./Voss-Dahm, D. (2005): Mehr Minijobs – mehr Bewegung auf dem Arbeitsmarkt? Fluktuation der Arbeitskräfte und Beschäftigungsstruktur in vier Dienstleistungsbranchen, IAT-Report Nr. 7/2005. 23 | Vgl. Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2004, Tabelle 2.

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Der Übergang in neu zu schaffende, sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse war erklärtes Ziel der Hartz-Kommission. Untersuchungen deuten darauf hin, dass Befristungen durchaus eine Scharnierfunktion auf dem Arbeitsmarkt einnehmen.24 So lässt sich eine höhere Wahrscheinlichkeit ermitteln, dass die Personen auch drei Jahre nach Aufnahme einer befristeten Tätigkeit noch in Beschäftigung sind als jene aus einer Vergleichsgruppe, die aus der Arbeitslosigkeit nach einer regulären Beschäftigung suchten.25 Etwa 40 Prozent der befristeten Arbeitsverträge werden in unbefristete umgewandelt, wobei 70 Prozent auf Wechsel innerhalb des Betriebes zurückzuführen sind. Befristungen führen anschließend zu Erwerbsverhältnissen, die langfristig ebenso stabil sind wie unbefristet abgeschlossene. Damit erfüllen Befristungen in einem beträchtlichen Umfang eine erweiterte Probezeitenfunktion und dienen als Brücke in ein Normalarbeitsverhältnis. Neben der steigenden Einstellungswahrscheinlichkeit erhöht sich aber auch das individuelle Risiko, aufgrund auslaufender Verträge arbeitslos zu werden. Der Gefahr der anschließenden Arbeitslosigkeit steht jedoch die Chance des Übergangs in ein gesichertes Erwerbsverhältnis gegenüber.26 Schließlich besteht die Möglichkeit, dass einem befristeten Arbeitsverhältnis weitere folgen.27 Damit deuten sich zwar gewisse Einsperreffekte an 24 | Vgl. Giesecke, J./Groß, M.: Befristete Beschäftigung. In: WSI-Mitteilungen, Jg. 59, H. 5/2006, S. 247-254. 25 | Vgl. McGinnity, F./Mertens, A.: Fixed-term contracts in East and West Germany: Low wages, poor prospects, SFB 373, Working Paper 72/2002; Hagen, T.: Do fixed-term contracts increase the long-term employment opportunities of the unemployed? ZEW Discussion Paper 03-49, Mannheim 2003; Boockmann, B./Hagen, T., Die Bedeutung befristeter Arbeitsverhältnisse, 2005. 26 | Vgl. Boockmann, B./Hagen, T.: Die Bedeutung befristeter Arbeitsverhältnisse, 2005. 27 | Vgl. Giesecke, J./Groß, M.: Befristete Beschäftigung: Chance oder Risiko? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 54, H. 1/2002, S. 85-108.

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– solange es an sicheren Beschäftigungsverhältnissen fehlt, sind solche Befristungsketten aber einem längerfristigen Verbleib in Arbeitslosigkeit vorzuziehen. Die Beschäftigungsrisiken und -chancen von Befristungen fallen in Abhängigkeit von persönlichen Charakteristika unterschiedlich aus.28 So ist das anschließende Arbeitslosigkeitsrisiko bei Geringqualifizierten deutlich höher als bei Höherqualifizierten. Dies überrascht allerdings nicht, wenn man sich die allgemeine Arbeitsmarktlage beider Gruppen vor Augen führt. Beide Pole stellen die Qualifikationsgruppen mit den höchsten Anteilen befristeter Beschäftigung.29 Bei qualifizierten Arbeitnehmern dürfte die Probezeitenfunktion eine größere Rolle spielen, während bei den geringer Qualifizierten eher die erhöhte Anpassungsfähigkeit an veränderte betriebliche Auslastungslagen im Vordergrund stehen wird. Grundsätzlich deuten die vorliegenden Untersuchungen darauf hin, dass Befristungen die Durchlässigkeit am Arbeitsmarkt und damit auch die Arbeitsmarktdynamik erhöhen. So stieg die Relation von befristeten zu unbefristeten Neueinstellungen von etwa 1:4 im Jahr 1991 auf rund 4:6 im Jahr 2006.30 Dabei ist der Anteil der Befristungen an allen Neueinstellungen in großen Betrieben höher als in kleinen und in der Industrie niedriger als im Dienstleistungsbereich (vgl. Abbildung 3) Diese Entwicklung ist darin begründet, dass sich der Einstieg in den Arbeitsmarkt immer mehr über befristete Arbeitsverhältnisse vollzieht, was sich u.a. in einem wachsenden Anteil junger Arbeitnehmer mit befristeten Arbeitsverträgen niederschlägt.

28 | Vgl. McGinnity, F./Mertens, A., Fixed-term contracts in East and West Germany, 2002. 29 | Vgl. Rudolph, H.: Neue Beschäftigungsformen. Brücken aus der Arbeitslosigkeit? In: B. Badura, H. Schellschmidt und C. Vetter (Hg.): Fehlzeiten-Report 2005. Springer, Berlin, Heidelberg, New York 2006, S. 35-56. 30 | Vgl. Rudolph, Neue Beschäftigungsformen, 2006; Hohendanner, Chr.: Befristet Beschäftigte: Gut positioniert mit Hoffnung auf Anschluss. In: IAB-Forum, Nr. 1/2008, S 26-31.

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Abbildung 3: Neueinstellungen und Übernahmen nach Befristungen 2006; 1. Halbjahr 2006 – Anteile in Prozent

Zudem sind befristete Beschäftigungsverhältnisse stärker volatil, d.h. Auf- und Abbau vollziehen sich mit einer höheren Rate. Während auf hundert unbefristete Beschäftigungsverhältnisse halbjährlich nur drei bis vier unbefristete Neueinstellungen vorgenommen werden, sind es bei befristeten Beschäftigungsverhältnissen über vierzig befristete Einstellungen. Dies deutet darauf hin, dass Befristungen die Anpassung der Beschäftigtenzahlen an zyklische Schwankungen verbessern. Diese zusätzliche Dynamik ist insgesamt positiv zu beurteilen, weil der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert wird. Sie geht eher nicht auf Kosten der bereits unbefristet beschäftigten Arbeitnehmer. Es ist sogar zu vermuten, dass die befristet Beschäftigten eine Art Absicherung der Festangestellten in schlechten Zeiten bieten, da über Befristungen relativ leicht Beschäftigung abgebaut werden kann (»Puffereffekt«). Die mit Befristungen verbundene Lockerung des Kündigungsschutzes bietet gerade für Personenkreise mit strukturellen Nachteilen eine Möglichkeit zur Arbeitsmarktintegration. Dabei spielen zunächst Kostensenkungspotentiale eine Rolle, die den Einsatz von weniger produktiven Arbeitnehmern für die Unternehmen

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attraktiver macht. In diesem Zusammenhang ist vor allem auf Geringqualifizierte, Ausländer und Behinderte zu verweisen, die überdurchschnittlich häufig befristet eingestellt werden. Eine weitere Gruppe mit starkem Anteil befristeter Beschäftigungsverhältnisse stellen die jüngeren Arbeitnehmer. Die Neueinsteiger auf dem Arbeitsmarkt verfügen naturgemäß noch nicht über große Berufserfahrung, so dass der Probezeitenaspekt von Befristungen im Vordergrund steht. Das Instrument verbessert auf diese Weise die Effizienz des Arbeitseinsatzes in den Unternehmen. Auf der übergeordneten Arbeitsmarktebene erhöht sich zudem die Qualität des Matching-Prozesses.

Leiharbeit Verleihfirmen rekrutieren in hohem Maße aus der Arbeitslosigkeit, bzw. aus der Nicht-Erwerbstätigkeit (vgl. Abbildung 4). Etwa sechzig Prozent der Leiharbeitnehmer waren zuvor nicht beschäftigt, weitere zehn Prozent wechselten von anderen Verleihern. Die Wünsche und Eigenschaften der Leiharbeitnehmer decken sich jedoch nicht immer mit den Anforderungen der Branche, so dass eine hohe Fluktuation zu verzeichnen ist. Nur vierzig Prozent der Arbeitsverhältnisse dauern länger als drei Monate.31 In einer Untersuchung auf Grundlage des IAB-Betriebspanels wird für 2003 ein direkter Klebeeffekt von zwölf Prozent ausgewiesen – hier sind lediglich die Übergänge gezählt, die innerhalb ein und desselben Betriebes gelingen.32 In einer breiteren Perspektive sind jedoch zusätzlich Wechsel in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen in anderen Unternehmen von Interesse. Untersuchungen lassen darauf schließen, dass die gesamte Übergangsquote in etwa bei dreißig Prozent liegt.33 Auf der ande31 | Vgl. Jahn, E.J./Wolf, K.: Flexibilität des Arbeitsmarktes: Entwicklung der Leiharbeit und regionale Disparitäten. IAB-Kurzbericht Nr. 14/2005. 32 | Vgl. Promberger, M.: Leiharbeit – Flexibilität und Prekarität in der betrieblichen Praxis. In: WSI-Mitteilungen, Jg. 56, H. 5/2006, S. 263-269. 33 | Von den Beschäftigten der 2003 geschaffenen Personal-ServiceAgenturen (PSA) konnten zwischen Mitte 2003 und Anfang 2005 jeder Dritte in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wechseln (vgl. Bernhard, S.: Personal-Service-Agenturen: Stillgelegt. IAB-Forum Nr.

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ren Seite sind auch Übergänge von Leiharbeit in Arbeitslosigkeit zu verzeichnen – Schröder (1997) beziffert sie mit rund zwanzig Prozent. Trotzdem kann der Arbeitnehmerüberlassung vor allem bei jüngeren Arbeitnehmern und Berufsanfängern eine Brückenfunktion in feste Beschäftigungen zugesprochen werden. Eine Ursache für die Integrationseffekte besteht darin, dass sich die Zeitarbeiter aus einem bestehenden Beschäftigungsverhältnis für einen regulären Arbeitsplatz bewerben und damit Arbeitswillen und -fähigkeit signalisieren können. Abbildung 4: Leiharbeitnehmer nach Dauer der Arbeitslosigkeit in Prozent

1/2008, S. 66-69.). Der Arbeitnehmerbestand in den PSA lag im Jahr 2004 bei 28.000 Personen. Vgl. Schröder, E.: Arbeitnehmerüberlassung in Vermittlungsabsicht. Start oder Fehlstart eines arbeitsmarktpolitischen Modells in Deutschland? Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Nr. 209/1997, Nürnberg; Rudolph, H.: Beschäftigungsformen. Ein Maßstab für Flexibilität und Sicherheit? In: M. Kronauer und G. Linne (Hg.): Flexicurity. Die Suche nach Sicherheit in der Flexibilität. Edition sigma, Berlin 2005, S. 97-125; Burda, M.C./Kvasnicka, M.: Zeitarbeit in Deutschland: Trends und Perspektiven. SFB 649 Discussion Paper 48/2005.

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Weiterhin erfüllt die Zeitarbeit gesamtwirtschaftlich die Funktion eines Beschäftigungspuffers, indem sie vor allem im Umfeld von Großbetrieben eine Mittlerrolle bei der Allokation des Faktors Arbeit spielt. Dabei leistet sie einen Beitrag, um die negativen Konsequenzen des Strukturwandels für wettbewerbsschwächere Arbeitnehmer abzumildern. So zeigt sich, dass die Erwerbsform der Leiharbeit vor allem bei geringer qualifizierten Beschäftigten expandierte.34 Diese üben jedoch in der Regel Tätigkeiten aus, für die in den vergangenen Jahren immer weniger Normalarbeitsverhältnisse zur Verfügung standen. Durch ihr Kostensenkungspotential trägt die Leiharbeit also dazu bei, dass das Segment der einfachen Tätigkeiten nicht weiter an Bedeutung verliert und gerade für Geringqualifizierte eine Einkommensquelle jenseits von Transferleistungen bestehen bleibt.

2.3 Zwischenfazit Die Erwerbsformen sind seit langem in Bewegung. Auch nach den großen Arbeitsmarktreformen ist das Normalarbeitsverhältnis weiter mit hohen Abgaben belastet und durch einen recht weitgehenden Kündigungsschutz gekennzeichnet. Solange die atypischen Erwerbsformen in dieser Hinsicht relativ attraktiver sind, dürften sich weitere Verschiebungen zu ihren Gunsten ergeben. Da auch Unternehmen ein Interesse an stabilen Arbeitsbeziehungen mit ihrer Kernbelegschaft haben, ist ein generelles Umschwenken auf nur kurzfristig angelegte und für die Arbeitnehmer zunehmend unsichere Beschäftigungsverhältnisse jedoch nicht zu erwarten. Was die gesamtwirtschaftlichen Effekte des Wandels der Erwerbsformen angeht, dürften sich die Zusatzbeschäftigungseffekte durch den Erwerbsformenwandel (gemessen an der Zahl der Erwerbstätigen) – abgesehen von dem beträchtlichen Beitrag der Teilzeitarbeit – in Grenzen halten. Eine andere Frage ist allerdings, ob die Probleme auf dem Arbeitsmarkt ohne den Erwerbsformenwandel nicht noch größer wären. Denn neben den Niveaueffekten sind die Flexibilität und die Durchlässigkeit des Arbeitsmarktes 34 | Vgl. Rudolph, Beschäftigungsformen, 2005.

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zu betrachten. So erhöhen atypische Erwerbsformen die Anpassungsfähigkeit des Arbeitsmarktes im Konjunkturzyklus. In Aufschwungphasen schlägt wirtschaftliches Wachstum über flexiblere Beschäftigungsformen schneller auf den Arbeitsmarkt durch. Im Abschwung wirken sie als Beschäftigungspuffer, indem sie eine Zwischenlösung zwischen den Polen Normalarbeitsverhältnis und Arbeitslosigkeit bieten. Für die Gruppe der Outsider spielen der Zugang zum ersten Arbeitsmarkt und die Brückenfunktion atypischer Beschäftigungsverhältnisse eine wichtige Rolle. Diese Funktion wird von befristeter Beschäftigung oder Leiharbeit nicht selten erfüllt. Sie tragen damit zu einer stärkeren Öffnung des Arbeitsmarktes bei und wirken dem Problem dauerhafter Arbeitslosigkeit entgegen. Für die Arbeitslosen birgt ein erleichterter Einstieg über atypische Erwerbsformen mehrere Vorteile: Sie halten Kontakt zum Erwerbsleben, sammeln Berufserfahrungen, wirken einer Entwertung ihrer Fähigkeiten entgegen und sichern sich die Möglichkeit zur Weiterentwicklung und Aufwärtsmobilität.

3. N IEDRIGLOHNSEK TOR Neben atypischen Erwerbsformen stehen Beschäftigungsverhältnisse im sogenannten Niedriglohnsektor besonders im Fokus der Debatte um gute Arbeit. Nach internationalen Standards gilt eine Beschäftigung als niedrig entlohnt, wenn der Verdienst unter zwei Dritteln des Medianlohns liegt. Tatsächlich gewinnt der Niedriglohnsektor in Deutschland zunehmend an Größe und liegt seit Ende der 90er Jahre etwas über dem EU-Durchschnitt.35 Im Jahr 2006 verdienten 19,6 Prozent der Vollzeitbeschäftigten weniger als die Niedriglohnschwelle von zwei Dritteln des Medianeinkommens. Letzteres liegt in Gesamt-

35 | Rhein, Thomas/Gartner, Hermann/Krug, Gerhard: Niedriglohnsektor: Aufstiegschancen für Geringverdiener verschlechtert. IAB-Kurzbericht, 03/2005, Nürnberg.

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deutschland bei 1.710 Euro im Monat.36 Bei einer Wochenarbeitszeit von 40 Stunden entspricht diese auf den Monatslohn bezogene Niedriglohnschwelle einem Stundenlohn von 9,70 Euro (Westdeutschland: 10,20 Euro; Ostdeutschland: 7,50 Euro). Werden zusätzlich Teilzeitbeschäftigte einbezogen, erhöht sich der Niedriglohnanteil sogar auf über 22 Prozent (vgl. Abb. 5). Abbildung 5: Niedriglohnbeschäftigung nach Beschäftigungsformen – in Prozent

In der Gruppe der vollzeitbeschäftigten Geringverdiener sind deutlich mehr Frauen, jüngere Arbeitnehmer, Personen mit Migrationshintergrund sowie Mitarbeiter von kleinen Betrieben zu finden. Beschäftigte mit geringem formalen Ausbildungsniveau sind hier überproportional und Hochschulabsolventen unterproportional vertreten. Es ist aber festzuhalten, dass über die Hälfte der Geringverdiener ein (Fach-)Abitur und/oder eine Ausbildung hat.37 36 | Rhein, Thomas/Stamm, Melanie: Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland. Deskriptive Befunde zur Entwicklung seit 1980 und Verteilung auf Berufe und Wirtschaftszweige. (IAB-Forschungsbericht, 12/2006), Nürnberg. 37 | Schank, Th./Schnabel, C./Stephani, J./Bender, S.: Niedriglohnbeschäftigung: Sackgasse oder Chance zum Aufstieg?, IAB-Kurzbericht, 8/2008.

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3.1 Beschäftigungseffekt auf der Makroebene Die Frage, ob mehr Niedriglohnbeschäftigung das volkswirtschaftliche Beschäftigungsniveau erhöht, ist nicht so leicht zu beantworten wie es auf den ersten Blick scheint. Es geht um eine Bewertung der kontrafaktischen Situation auf der Makroebene. Was wäre gewesen, wenn es nicht zu dem Anstieg der Niedriglohnbeschäftigung gekommen wäre? Hier stellen sich viele Fragen: Wären die im Niedriglohnsektor zusätzlich verrichteten Aufgaben nicht erledigt worden – wäre die Alternative also die Arbeitslosigkeit? Wären die Tätigkeiten in Eigenarbeit erstellt worden oder der Schwarzarbeit anheimgefallen? Oder wären die betreffenden Aufgaben vielleicht sogar mit stärkerem Kapitaleinsatz und unter dem Einsatz höher qualifizierter und auch höher entlohnter Arbeit ausgeführt worden? Aus ökonomischer Sicht spricht vieles dafür, dass Niedriglohntätigkeiten Beschäftigungsgewinne nach sich ziehen38, denn es erscheint unrealistisch, dass sie in Gänze substituierbar wären. Wenn dies so ist, muss aber ein gegenläufiger Aspekt berücksichtigt werden: Güter und Dienste, die mit Niedriglohnkräften erstellt bzw. ausgeführt werden, könnten durch Kaufkraftkonkurrenz teilweise kapitalintensive Hochlohnprodukte verdrängen. Alles in allem dürfte man bei mehr Niedriglohnbeschäftigung zu einer arbeitsintensiveren Produktion von Gütern und Diensten gelangen. Die Beschäftigungsschwelle und die Produktivität pro Stunde bzw. pro Person dürften tendenziell sinken.

3.2 Eingliederungseffekt auf der Personenebene Die Beurteilung des Niedriglohnsektors hängt aber nicht alleine davon ab, ob es dadurch ggf. zu mehr Beschäftigung kommt, sondern was Niedriglohnbeschäftigung für die Biographie der Be38 | Fitzenberger, B./Franz, W.: Jobs. Jobs? Jobs! Orientierungshilfen zu mehr Beschäftigung. In: W. Franz/H. Hesse/H.J. Ramsauer/M. Stadler (Hg.): Wirtschaftspolitische Herausforderungen an der Jahrhundertwende. Wirtschaftswissenschaftliches Seminar Ottobeuren 30, Mohr & Siebeck, Tübingen 2001, S. 3-41.

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troffenen bedeutet. Kann Niedriglohnbeschäftigung als Sprungbrett in eine besser bezahlte Tätigkeit dienen oder führt sie in die Sackgasse? Schank et al.39 haben in einer Verbleibsanalyse auf Basis des Beschäftigtenpanels der Bundesagentur für Arbeit (BA) untersucht, was aus den vollzeitbeschäftigten Geringverdienern der Jahre 1998/1999 geworden ist. Diese waren definiert als Personen, die zum damaligen Zeitpunkt weniger als zwei Drittel des Medianlohns verdienten. Betrachtet wurde, wem und wie der Aufstieg gelang. Die Ergebnisse zeigen, dass nur jeder achte Geringverdiener von 1998/1999 sechs Jahre später durch einen höheren Lohn die Geringverdienerschwelle überschreiten konnte (vgl. Abbildung 6). Rund jeder Dritte war im Jahr 2005 immer noch als Vollzeitbeschäftigter im Niedriglohnbereich tätig. Während jüngere und besser ausgebildete Geringverdiener deutlich öfter das Niedriglohnsegment verlassen konnten, schafften Frauen, Ältere und Unqualifizierte dies seltener. Je größer ein Betrieb ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass einem Geringverdiener innerbetrieblich der Ausstieg aus dem Niedriglohnbereich gelingt. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich Betriebswechsel aber auch generell als Möglichkeit für einen Aufstieg erweisen. Abbildung 6: Verbleib vollzeitbeschäftigter Niedriglohnbezieher – 1998/1999 in 2005, in Prozent – Quelle: Schank et al. 2008

39 | Schank, Th./Schnabel, C./Stephani, J./Bender, S., Niedriglohnbeschäftigung, 2008.

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4. D IE NEUE V IELFALT UMSICHTIG NUT ZEN Wird die Eingangsfrage des Beitrags »Mehr Beschäftigung um jeden Preis?« aufgenommen, ist zweierlei festzuhalten. Der Wandel der Erwerbsformen und der wachsende Niedriglohnsektor haben den Beschäftigungstrend positiv beeinflusst. Allerdings ist die Qualität der Erwerbstätigkeit um Einiges heterogener geworden. Daher ist die Frage berechtigt, wie hoch der Preis dafür ist und wer ihn zu zahlen hat. Manchmal klingt in öffentlichen Diskussionen an, dass die durch Ungleichverteilung atypischen Erwerbsformen und Niedriglohnbeschäftigungen nicht erwünscht oder zumindest deutlich zu begrenzen seien. Vielmehr gehe es alternativ um ein Mehr an »guter Arbeit«. Normativ wird man der politischen Forderung, dass Menschen eine aus ihrer Perspektive möglichst »gute« Arbeit erreichen sollen, sicher nicht widersprechen. Doch bei genauerem Hinsehen ist die Einlösung dieser Forderung mit einem Preis verbunden, den man als »Rache des Gutgemeinten« bezeichnen könnte. Dabei stellt sich zunächst die Frage, was eigentlich »gute« Arbeit ist. Sicherlich kommt eine stabile, gut bezahlte Vollzeitbeschäftigung dieser Vorstellung näher als ein atypisches und/oder niedrig entlohntes Beschäftigungsverhältnis. Einem solchen rein statischen Vergleich ist jedoch eine dynamische Perspektive zur Seite zu stellen. Denn scheinbar »gute« Beschäftigungsverhältnisse können durch Freisetzung beendet werden, und »weniger gute« Arbeit kann eine Brücke zu »guter« Arbeit schlagen. Zu einer Gesamtbetrachtung des Problems ist zudem der Blick dergestalt zu weiten, dass die Situation nicht ausreichend durch die Alternativen »guter« oder »schlechter« Arbeit beschrieben ist. Der Einstieg in den Arbeitsmarkt oder die Teilhabe über atypische Beschäftigungsverhältnisse sind auch der Alternative »Arbeitslosigkeit« gegenüberzustellen. Weniger gute Arbeit und die damit möglicherweise verbundenen Perspektiven können für die Betroffenen immer noch besser sein als andauernde Arbeitslosigkeit. So zeigen Untersuchungen beispielsweise, dass arbeitslose Sozialhilfeempfänger mit ihrem Leben deutlich unzufriedener sind als alle anderen Arbeitsmarktgruppen. Insbesondere gilt dies auch im Vergleich zu vollzeitbeschäftigten Niedriglohnemp-

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fängern, und dies auch nach Kontrolle verschiedener soziodemographischer Merkmale sowie dem Haushaltseinkommen und dem Gesundheitsstatus der Betroffenen.40 Nichtsdestotrotz ist an der Brückenfunktion flexibler und gering entlohnter Beschäftigung sicher noch zu arbeiten. Beide Erwerbsformen wären dann als weniger problematisch einzustufen, wenn die Aufstiegsmobilität nicht die Ausnahme, sondern die Regel darstellen würde. Das setzt allerdings voraus, dass sich die dort Beschäftigten auf ihren Positionen on the job bewähren können und perspektivisch intelligente Modelle einer berufsbegleitenden Qualifizierung mit anerkannten Zertifikaten zur Verfügung stehen. Aber auch hier muss man realistisch sein. Nicht alle Erwerbspersonen haben die Fähigkeiten und Kompetenzen, für sich einen Aufstieg zu realisieren. Für viele bildungs- und ausbildungsschwache Gruppe wäre es bereits ein Erfolg, den Arbeitsmarkt (wieder) zu erreichen und dort auch einmal über längere Zeit verbleiben zu können. Für den Personenkreis der Geringverdiener geht es daher vielmehr um die Frage, wie durch die sekundäre Einkommensverteilung auf intelligente Weise der Abstand zwischen Brutto- und Nettoeinkommen gesenkt werden kann. Was lässt sich als Fazit festhalten? Es besteht ein Zielkonflikt zwischen einer breiten Teilhabe am Arbeitsmarkt, die derzeit verstärkt durch atypische Erwerbsformen und niedrig entlohnte Beschäftigung erreicht wird, und dem Ziel »guter« Arbeit. Oder anders formuliert: »bessere« Arbeit für die Einen müsste möglicherweise durch eine höhere Arbeitslosigkeit für Andere erkauft werden. Hierbei handelt es sich um eine normative Fragestellung, über die nicht allein aus wissenschaftlicher Sicht zu entscheiden ist. Als ausgleichende Politikempfehlung kann jedoch festgehalten werden, dass es perspektivisch nicht um eine durch massive Regulierung ausgelöste Rolle rückwärts, sondern um eine die Flexibilität gestaltende und damit zukunftsweisende Rolle vorwärts geht. Die Menschen müssen angesichts der Dynamik der Volks40 | Vgl. Koch, S./Stephan, G./Walwei, U.: Workfare: Möglichkeiten und Grenzen. In: Zeitschrift für ArbeitsmarktForschung, Jg. 38, H. 2/2005, S. 419-440.

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wirtschaft noch mehr darauf vorbereitet werden, mit der von ihnen erwarteten Flexibilität umzugehen. Dazu gehören frühzeitige Investitionen in Bildung, die Förderung ihrer Beschäftigungsfähigkeit durch eine möglichst gute Ausbildung und eine systematische Weiterbildung. Am unteren Ende der Lohnstruktur können niedrigere Steuern und Abgaben für Geringverdiener sowie eine den Arbeitsanreiz stärkende, staatliche Lohnuntergrenze in Kombination mit bedürftigkeitsabhängigen Lohnzuschüssen eine überdenkenswerte Alternative darstellen.41

5. L ITER ATUR Allmendinger, J./Eichhorst, W./Walwei, U.: IAB-Handbuch Arbeitsmarkt. Analysen, Daten, Fakten, Campus, Frankfurt/New York 2005. Bach, H.U./Gaggermeier, Chr./Klinger, S./Rothe, Th./Spitznagel, E./Wanger, S.: Aktuelle Projektion. Die Konjunktur belebt den Arbeitsmarkt. IAB-Kurzbericht Nr. 12/2006. Bach, H.U./Klinger, S./Rothe, Th./Spitznagel, E.: Arbeitsmarkt 2007: Arbeitslosigkeit sinkt unter vier Millionen. IAB-Kurzbericht Nr. 5/2007. Barth, A./Zika, G.: Volkswirtschaftliche Effekte einer Arbeitszeitverkürzung. Eine Simulationsstudie für Westdeutschland mit dem makroökonometrischen Modell SYSIFO. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Jg. 29, H. 2/1996, S. 179-202. Bernhard, S.: Personal-Service-Agenturen: Stillgelegt. IAB-Forum Nr.1/2008, S. 66-69. Bielenski, H.: Deregulierung des Rechts befristeter Arbeitsverträge. Enttäuschte Hoffnungen, unbegründete Befürchtungen, In: WSI-Mitteilungen, Jg. 50, H. 8/1997. Bofinger, P./Dietz, M./Genders, S./Walwei, U.: Vorrang für das 41 | Bofinger, P./Dietz, M./Genders, S./Walwei, U.: Vorrang für das reguläre Arbeitsverhältnis. Ein Konzept für Existenz sichernde Beschäftigung im Niedriglohnbereich. Gutachten für das Sächsische Ministerium für Wirtschaft und Arbeit (SMWA). 2006.

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M EHR B ESCHÄFTIGUNG UM JEDEN P REIS ?

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Landesgrenzen und Klassenschranken Jakob von Weizsäcker

Migranten wandern in ein anderes Land auf der Suche nach einer besseren Ausbildung, nach einem besseren Job, nach einem besseren Leben. Sie machen sich ihre Wanderungsentscheidung nicht leicht. Das führt dazu, dass sie durch die Migration in der Regel tatsächlich deutlich bessere Lebenschancen erhalten, als sie sich zu Hause geboten hätten. Diese Verbesserung der Lebenschancen ist das wichtigste Argument für Migration. Genaugenommen sind es sogar zwei Argumente in einem. Erstens sorgt Migration für mehr geographische Chancengerechtigkeit. Seinen Geburtsort kann man sich nicht aussuchen. Das durchschnittliche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in den reichen Ländern der Welt ist, nach aktuellen Wechselkursen gerechnet, etwa hundertmal höher als das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in den ärmsten Ländern der Welt. Ohne Migration sind Menschen dem Pech eines bettelarmen Geburtslandes ausgeliefert. Durch Migration wird die Ungerechtigkeit abgeschwächt, weil es leichter wird, einem ungünstigen Geburtsort zu entkommen. Zweitens sorgt Migration für mehr wirtschaftliche Effizenz. In Weltgegenden, die schlechte Standortvoraussetzungen haben, zum Beispiel weil dort schlecht regiert wird, wird das Talent sehr vieler Menschen vergeudet. Die Migration aus solchen niedrigproduktiven Gegenden hin zu Gegenden, in denen Menschen ihre Talente produktiver nutzen können, läßt das Weltsozialprodukt ansteigen, sorgt also für Wirtschaftswachstum im Weltmaßstab.

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Interessant ist hier die Analogie zur sozialen Durchlässigkeit, die bekanntlich ebenfalls diesen doppelten Vorteil der Gerechtigkeit und Effizenz hat. Eine Gesellschaft, die Lebenschancen nicht nach sozialer Herkunft verteilt, sondern sich darum bemüht, die Talente ihrer Bürger unabhängig von ihrer sozialen Herkunft zur Entfaltung und Geltung zu bringen, ist nicht nur gerechter sondern auch wirtschaftlich erfolgreicher. Die Analogie trägt sogar noch ein Stück weiter. Denn genauso, wie die privilegierten Schichten früher große Angst hatten vor mehr sozialer Mobilität, genauso haben viele reiche Länder heute Angst vor mehr Einwanderung. Der tiefere Grund für die Angst ist in beiden Fällen eine Nullsummenlogik, nach der die sozial oder geographisch Unterprivilegierten nur gewinnen können, was die Privilegierten verlieren. Inzwischen wissen wir: Die Ängste der privilegierten Schichten vor sozialer Mobilität haben sich nur zu einem kleinen Teil bewahrheitet und stellten sich zu einem Großteil als irrational heraus. Denn die Nullsummenlogik war einfach falsch. Haupteffekt der sozialen Mobilität und der damit verbundenen Entwicklung von der Ständewirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft war nämlich ein ungeheurer Wohlstandsschub für alle und nicht etwa die wirtschaftliche Schädigung der vormals Privilegierten. Wirklich gelitten haben die vormals Privilegierten interessanterweise vor allem in Situationen, in denen sich die weniger Privilegierten die falsche Nullsummenlogik ebenfalls zu eigen machten. So grassiert während einiger Revolutionen die irrige Vorstellung, man könne den Armen vor allem dadurch helfen, dass man die Reichen komplett enteignet oder gar umbringt. Da mag man nicht ausschließen, dass es in der Migrationsdebatte ähnlich ist: dass nämlich eine falsche Nullsummenlogik für uns reiche Länder die eigentliche Gefahr darstellt und weniger die Migration selbst. Beispiele für falsche Nullsummenlogik in der Migrationsdebatte lassen sich jedenfalls leicht finden. So ist die Vorstellung weitverbreitet, dass es an jedem Ort eine vorgegebene Anzahl von Jobs gibt, zwischen denen Menschen wandern. Wenn dies so wäre, dann würde Zuwanderung immer Arbeitslosigkeit erzeugen, wenn die vorhandenen Arbeitsplätze schon belegt sind.

L ANDESGRENZEN UND K L ASSENSCHRANKEN

Migration wäre für das Einwanderungsland nur dann erfreulich, wenn die vielen Arbeitsplätze unbesetzt bleiben, wie in Schaubild 1 dargestellt. Schaubild 1: Menschen wandern, Arbeitsplätze nicht

Tatsächlich ist die Vorstellung jedoch falsch, dass die Zahl der Arbeitsplätze in einem Land vorgegeben ist. Mehr Einwanderung führt in der Regel tatsächlich zu mehr Arbeitsplätzen. Die Migranten bringen sozusagen Arbeitsplätze mit, wie es in Schaubild 2 schematisch dargestellt wird. Schaubild 2: Migranten können Arbeitsplätze mitbringen

Also ist Einwanderung am Arbeitsmarkt keineswegs ein Nullsummenspiel. Insbesondere hochqualifizierte Einwanderer bringen übrigens typischerweise mehr Arbeitsplätze mit als sie selbst benötigen. Sie schaffen also neue Jobs für die einheimische Bevölkerung. Spektakuläre Beispiele dafür sind Firmen wie Ebay oder

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Google in Kalifornien, die von Einwanderern gegründet wurden. Einwanderung ist also ganz offensichtlich kein Nullsummenspiel am Arbeitsmarkt, im Gegenteil. Aber selbstverständlich ist es mit dem Vermeiden der falschen Nullsummenlogik, mit der grundsätzlichen Einsicht in die Vorteile von geographischer und sozialer Mobilität nicht getan. Die Feinjustierung der Spielregeln der sozialen Mobilität ist eine politische Daueraufgabe, für die es keine Patentrezepte gibt. Dies dürfte für die Feinjustierung der Spielregeln für die Zuwanderung genauso gelten.

Talkrunde 3 Clara Schlichtenberger

Teilnehmer: Ingrid Hohenleitner, Eva Senghaas-Knobloch, Jakob von Weizsäcker, Ulrich Walwei Senghaas-Knobloch eröffnete mit durch die in Walweis Vortrag dargelegten Zahlen und Fakten inspirierten Fragen, die sie unter vier Aspekte fasste: 1. sozial-, 2. geschlechter-, 3. arbeits- und 4. demokratiepolitische Fragestellungen. • zu 1: Wie entwickelt sich das Verhältnis von Marktintegration (Erwerbsarbeit) und Sozialintegration? Wie kann man denjenigen, die im Niedriglohnbereich angesiedelt sind, Übergänge in andere Beschäftigungsformen sichern? Wie kann man sich eine befriedigende Altersversorgung vorstellen? • zu 2: Wie kann man die Zielkonflikte lösen zwischen den marktförmig notwendigen Tätigkeiten und den nicht marktförmig notwendigen Tätigkeiten, die in sich die (geschlechterpolitische) Frage nach bezahlter und unbezahlter, aber nichtsdestotrotz notwendiger Arbeit beinhalten?1 • zu 3: Wie kann man sich Arbeitsschutz für atypisch Beschäftigte vorstellen? Wie können Regelungen im Arbeitsrecht und zur Gesundheitsförderung aussehen, die z.B. der Gefahr des 1 | Im Folgendem erweitert Senghaas-Knobloch die Diskussion noch um die Herausforderung der demographischen Entwicklung: Pflege als nichterwerbsförmige Tätigkeit.

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C L ARA S CHLICHTENBERGER

Verlustes eines Gefühls für »angemessene Verausgabung« entgegenwirken? • zu 4: Wie kann demokratische Beteiligung durch Arbeitsmarktintegration gefördert werden? Walwei antwortete auf Frage 1, dass hiermit die Kardinalfrage nach den Übergängen aus der Nichtbeschäftigung in atypische Beschäftigungsverhältnisse gestellt würde. Diese müssten auf jeden Fall niedrigschwellig sein und eine Aufwärtsmobilität zulassen. Eine nah am Arbeitsverhältnis orientierte Weiterbildung sei nötig, um den Marktwert zu erhöhen. »Training on the job« und »Learning by doing« steigere die Produktivität genauso wie die individuelle Fähigkeit zur Flexibilität. Bei Frage 2 verwies Walwei als Beispiel auf Dänemark, die durch eine flexiblere »Normalarbeit« mehr Wahlfreiheit in Bezug auf den beruflichen Weg erlaubten. Hohenleitner wies darauf hin, dass die Entkopplung von Existenzsicherung und Erwerbsarbeit, die im Diskurs um ein bedingungsloses Grundeinkommen so kritisch gesehen würde, bei dem Phänomen der »working poor« doch schon längst der Fall sei. Das Grundeinkommen berge eine Chance der Arbeitsreduzierung für alle und damit eine Chance für die unfreiwillig Arbeitslosen zur Reintegration. Walwei fordere mehr Vollzeit- als Teilzeitarbeit, obwohl dies, wie Genkova bereits in der vorrangegangenen Diskussion gezeigt habe, nicht den Bedürfnissen der meisten entspräche, z.B. in der »Kindererziehungsphase«. Walwei erwiderte, dass es sich bei Minijobs um eine subventionierte Beschäftigungsform (u.a. durch den Ausfall an Einkommenssteuer) handele. Wichtiger seien erwerbsabhängige Transfer für Vollzeitbeschäftigte, die kein Existenz sicherndes Einkommen erreichen. Damit würde man im Gegensatz zu dem Konzept des Grundeinkommens die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen für sein Auskommen über ein umfassendes staatliches Eingreifen stellen. Die Frage nach einem Grundeinkommen verwies die Moderatorin Weidenfeld auf den folgenden Tag des Symposiums, der durch den Vortrag von Werner einen Schwerpunkt zum Thema biete und wandte sich an von Weizsäcker mit Frage nach dem

T ALKRUNDE 3

in Frage 4 von Senghaas-Knobloch formulierten evtl. Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktintegration und der Förderung demokratischer Beteiligung. Von Weizsäcker antwortete, dass tatsächlich eine Analogie bestünde zwischen innerbetrieblichen Partizipationsprozessen und demokratischen Prozessen in Ländern. In beiden Fällen hätten die Sesshaften de facto mehr politische Entscheidungsgewalt als die Mobilen. Das könne dann zu einem echten Problem werden, wenn die Mobilen schwach sind, z.B. weil sie am Arbeitsmarkt unfreiwillig zerstückelte Erwerbsbiographien haben, oder als Migranten unter gesellschaftlicher Diskriminierung leiden.

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Kai Dröge in der Diskussion

Gerechtigkeit im Wandel Wie sich der Bewertungsmaßstab für soziale Ungleichheit verändert Christoph Butterwegge

Gerechtigkeit dient den Menschen als Kompass für die Entwicklung der Gesellschaft und als normativer Fixpunkt, um soziale Ungleichheit zu beurteilen. Je nachdem, welcher Gerechtigkeitsbegriff in einer Gesellschaft vorherrscht, lässt sich die Kluft zwischen Arm und Reich politisch legitimieren oder skandalisieren. Mit den Plänen zum Um- bzw. Abbau des Sozialstaates häuften sich Bemühungen, die Gerechtigkeitsvorstellungen grundlegend zu verändern.1 Der allgemein gültige Gerechtigkeitsbegriff wurde dabei in dreifacher Hinsicht modifiziert: von der Bedarfs- zur »Leistungsgerechtigkeit«, von der Verteilungs- zur »Beteiligungsgerechtigkeit« und von der sozialen zur »Generationengerechtigkeit«. Außerdem diskreditiert man soziale Gleichheit und Gerechtigkeit, indem die Freiheit geradezu mystifiziert und sehr viel stärker als bisher üblich im Sinne von »Privatinitiative«, »Eigenverantwortung« bzw. »Selbstvorsorge« (fehl)interpretiert wird.

1 | Vgl. hierzu: Butterwegge, Christoph, Krise und Zukunft des Sozialstaates, 3. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 247ff.; ders., Rechtfertigung, Maßnahmen und Folgen einer neoliberalen (Sozial-)Politik, in: Christoph Butterwegge/Bettina Lösch/Ralf Ptak, Kritik des Neoliberalismus, 2. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 154ff.

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E IN ABSURDER G ERECHTIGKEITSBEGRIFF ODER S OZIALPOLITIK PAR ADOX : W OHLTATEN PRIMÄR FÜR W OHLHABENDE Peer Steinbrück, seinerzeit nordrhein-westfälischer Ministerpräsident, nahm eine totale Deformation des Gerechtigkeitsbegriffs vor und brach mit dem Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes, als er die soziale Gerechtigkeit auf die Sorge des Staates um die Leistungsträger verkürzte: »Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die – und nur um sie – muss sich Politik kümmern.« 2

Mit der besseren steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten und dem Elterngeld bietet die Familienpolitik zwei Beispiele für die Transformation von Bedarfs- in Leistungsgerechtigkeit. Während sozial benachteiligte Familien, die aufgrund ihres fehlenden oder zu geringen Einkommens keine Steuern zahlen, gar nicht erst in den Genuss der ersten, bezeichnenderweise im Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung enthaltenen, Maßnahme kommen, profitieren Besserverdienende, die sich eine Tagesmutter oder Kinderfrau leisten und zwei Drittel der Aufwendungen hierfür mit bis zu 4.000 EUR absetzen können, überdurchschnittlich stark davon. Seit dem 1. Januar 2007 wird das Elterngeld als Lohnersatzleistung in Höhe von 67 Prozent des vorherigen Nettoeinkommens gezahlt und erst bei 1.800 EUR pro Monat gedeckelt. Transferleistungsempfangende, die Kinder erziehen, haben dagegen dadurch Nachteile: Bisher erhielten Sozialhilfebeziehende, Arbeits2 | Steinbrück, Peer, Etwas mehr Dynamik bitte. Soziale Gerechtigkeit heißt heute: Der Staat muss mehr Geld in Bildung und Familien investieren. Für Gesundheit, Alter und Pflege hingegen werden die Bürger stärker selbst vorsorgen müssen, in: Die Zeit, 13.11.2003.

G ERECHTIGKEIT IM W ANDEL

lose und Studierende das Erziehungsgeld in Höhe von 300 EUR pro Monat zwei Jahre lang (oder als »Budget« in Höhe von 450 EUR ein Jahr lang); Elterngeld gibt es bloß für ein Jahr und sein Sockelbetrag, mit dem sie auskommen müssen, liegt gleichfalls bei 300 EUR (oder bei 150 EUR, wenn er zwei Jahre lang gezahlt wird). Erwerbstätige Paare erhalten im Falle der Teilung von Erziehungsarbeit unter bestimmten Voraussetzungen zwei (Partner-)Monate zusätzlich und auch erwerbstätige Alleinerziehende können das Elterngeld 14 Monate lang in Anspruch nehmen. Mithin erhalten Gutbetuchte auf Kosten von schlechter Gestellten mehr (Eltern-)Geld, das hoch qualifizierte, gut verdienende Frauen motivieren soll, (häufiger) ein Kind zu bekommen und anschließend möglichst schnell wieder in den Beruf zurückzukehren. Bekämpft wird nicht die wachsende Armut von, vielmehr die Armut an Kindern.

M EHR B ILDUNG FÜR DIE A RMEN STAT T U MVERTEILUNG DES PRIVATEN R EICHTUMS ? Obwohl das Volksvermögen so groß und die Kluft zwischen Arm und Reich so tief ist wie nie zuvor, gilt die Forderung nach Umverteilung als ideologisch verstaubt. Verteilungsgerechtigkeit, traditionelles Ziel sozialstaatlicher Politik, die nicht auf Armutsbekämpfung reduziert werden darf, wird durch Teilhabe- oder Beteiligungsgerechtigkeit ersetzt. In der »zivilen Bürgergesellschaft«, wie sie Gerhard Schröder vorschwebte, steht der Gerechtigkeitsgedanke zwar im Mittelpunkt, bezieht sich aber nicht auf Verteilungsgerechtigkeit, die dem früheren Bundeskanzler als von der gesellschaftlichen Entwicklung überholt gilt: »Gerade weil […] die Herstellung und Bewahrung sozialer Gerechtigkeit in einem umfassenden Sinne oberstes Ziel sozialdemokratischer Politik ist und bleibt, können wir uns nicht mehr auf Verteilungsgerechtigkeit beschränken. Dies geht schon deshalb nicht, weil eine Ausweitung der Sozialhaushalte nicht zu erwarten und übrigens auch nicht erstrebenswert ist. Für die soziale Gerechtigkeit in der Wissens- und Informations-

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gesellschaft ist vor allem die Herstellung von Chancengerechtigkeit entscheidend.« 3

Deutlicher wurde der frühere Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement, als er im Rahmen der sozialdemokratischen Programmdiskussion für ein »neues Godesberg« seiner Partei warb: »Heute geht es um den Abschied vom Wohlfahrtsstaat und die Hinwendung zum sozialen Bildungsstaat. […] Der Sozialstaat in seiner bisherigen Ausprägung und Ausstattung trägt nicht mehr, und wir können ihn auch nicht mehr finanzieren. Wir müssen ihn deshalb nicht bloß umbauen, er braucht ein neues Fundament, eine neue Statik.«4 Unter einem »sozialen Bildungsstaat« versteht Clement, dass für alle Bürger prinzipiell gleiche Chancen zur beruflichen Qualifikation, zu einer hochqualifizierten Aus- und Weiterbildung geschaffen werden, damit sie aus eigener Kraft und Kompetenz auf die sich ständig verändernden Anforderungen der Arbeitswelt reagieren können. »Schulische Bildung und berufliche Qualifikation, Wissenschaft und Forschung sind die Motoren des ökonomischen und sozialen Fortschritts. Sie führen in die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Da müssen wir investieren, statt immer mehr in ein soziales Netz, das um so fadenscheiniger wird, je mehr wir ›draufsatteln‹.« 5

Viel entscheidender als Umverteilung von Geld sei, dass Menschen einen gleichberechtigten Zugang zu den Bildungsinstitutionen und zum Arbeitsmarkt erhalten, heißt es immer häufiger. Zu fragen wäre freilich, weshalb ausgerechnet zu einer Zeit, wo das Geld fast in sämtlichen Lebensbereichen wichtiger als früher, aber auch ungleicher denn je verteilt ist, seine Bedeutung für die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger am gesellschaftlichen Le3 | Schröder, Gerhard, Die zivile Bürgergesellschaft. Anregungen zu einer Neubestimmung der Aufgaben von Staat und Gesellschaft, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 4/2000, S. 203. 4 | Clement, Wolfgang, Ein neues »Godesberg« für die SPD, in: Welt am Sonntag, 14.5.2006. 5 | Ebd.

G ERECHTIGKEIT IM W ANDEL

ben gesunken sein soll. Damit sie in Freiheit (von Not) leben, ihre Bedürfnisse befriedigen und ihre Pläne verwirklichen können, brauchen die Menschen nach wie vor Geld, das sie bei Erwerbslosigkeit, Krankheit und im Alter als soziale bzw. Entgeltersatzleistung vom Sozialstaat erhalten müssen. Mehr soziale Gleichheit bzw. Verteilungsgerechtigkeit bildet geradezu die Basis für Teilhabechancen benachteiligter Gesellschaftsschichten. Dies gilt beispielsweise für die (Aus-)Bildung und den Arbeitsmarkt. Ohne ausreichende materielle Mittel steht die Chance etwa für Erwerbslose, an Weiterbildungskursen teilzunehmen und die persönlichen Arbeitsmarktchancen zu verbessern, nur auf dem Papier. Natürlich ist es wichtig, dass Erwerbslose möglichst umgehend einen geeigneten Arbeitsplatz finden. Verteidigerinnen und Verteidiger des Sozialstaates, wie man ihn bisher kannte, haben denn auch nie dafür plädiert, Leistungsempfangende nur zu alimentieren und sie nicht möglichst gut weiterzuqualifizieren, was seit Inkrafttreten der sog. Hartz-Gesetze immer weniger passiert. So sinnvoll die Erweiterung des Gerechtigkeitsbegriffs in Richtung von »Teilhabe-« oder »Beteiligungsgerechtigkeit« sein mag, so wenig darf sie vergessen machen, dass dieser durch soziale Ungleichheit der Boden entzogen wird. Unglaubwürdig wird, wer Bildungs- als Sozialpolitik interpretiert und gleichzeitig von der Schule über den Weiterbildungssektor bis hin zur Hochschule alle Institutionen dieses Bereichs privatisieren möchte. Denn das heißt letztlich, sie für Wohlhabende und die Kinder besser situierter Familien zu reservieren. In einem solchen Bildungssystem stoßen Kinder nur noch auf Interesse, wenn sie (bzw. ihre Eltern) als zahlungskräftige Kunden firmieren. Schon bevor Studiengebühren eingeführt wurden und ihnen bald vielleicht neuerlich Schulgeld folgt, gab es (Weiter-)Bildung nicht umsonst. Kontraproduktiv wirken zweifellos die Beschneidung der Lernmittelfreiheit und die Schließung von (Schul-)Bibliotheken aus Kostengründen. Die zunehmende Kinderarmut wird häufig auf »Bildungsarmut« reduziert, was zur Pädagogisierung und ideologischen Entsorgung des Armutsproblems beiträgt. Bildungs- und Sozialpolitik dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Es ist falsch, die Erstere als »modern« und die Letztere als »überholt«

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zu betrachten, weil sie bezüglich der notwendigen Inklusion von Kindern aus unterprivilegierten Elternhäusern komplementär wirken. Christof Prechtl und Daniel Dettling beklagen jedoch in einem von ihnen herausgegebenen Sammelband »Für eine neue Bildungsfinanzierung«, dass die Bundesrepublik sechs Mal soviel Geld für Soziales wie für Bildung aufwende, sehen sie doch in Letzterer den Schlüssel zur Bekämpfung der (Kinder-)Armut: »Da zwischen Bildungsstand und Erfolg am Arbeitsmarkt ein klarer Zusammenhang besteht, produziert das deutsche Bildungswesen heute die Sozialfälle von morgen. Politisch bedeutet dies: Die Vermeidung von Bildungs-, nicht Einkommensarmut, ist die zentrale Herausforderung.«6 Hier unterliegen die Verfasser allerdings einem Irrtum: Was zum individuellen Aufstieg taugen mag, versagt als gesellschaftliches Patentrezept. Wenn alle Kinder mehr Bildung bekommen, konkurrieren sie um die wenigen Ausbildungs- bzw. Arbeitsplätze möglicherweise nur auf einem höheren Niveau, aber nicht mit besseren Chancen. Um die Massenerwerbslosigkeit und die zunehmende (Kinder-)Armut als gesellschaftliche Phänomene zu beseitigen, bedarf es der Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen.7

»G ENER ATIONENGERECHTIGKEIT« ALS POLITISCHER S CHL ACHTRUF, PURE I DEOLOGIE UND M IT TEL SOZIALER D EMAGOGIE 24 Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, FDP und CDU/CSU unter vierzig Jahren traten im Juli 2003 mit einem Memorandum »Deutschland 2020« an die Öffentlichkeit, das unter Mitwirkung der von den Metallarbeitgebern finanzier6 | Prechtl, Christof/Dettling, Daniel, Einleitung: »Wachstum durch Bildung – Chancen für die Zukunft nutzen!«, in: dies. (Hg.), Für eine neue Bildungsfinanzierung. Perspektiven für Vorschule, Schule und Hochschule, Wiesbaden 2005, S. 9. 7 | Vgl. hierzu: Butterwegge, Christoph/Klundt, Michael/Belke-Zeng, Matthias, Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland, 2. Aufl. Wiesbaden 2008, S. 301ff.

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ten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, der Altana AG und dem Think Tank »res publica« entstanden war, mehr Generationengerechtigkeit forderte und sich gegen eine Verschleppung von Reformen wandte. Nötig sei eine Neudefinition von Gerechtigkeit, die nicht mehr »sozialstaatliche Transfergerechtigkeit« sein dürfe, sondern als »Teilhabegerechtigkeit« für den Zugang zum Arbeitsmarkt und zu ökonomisch tragfähigen Formen sozialer Absicherung sorgen müsse: »Wer heute die soziale Gerechtigkeit nur an der Höhe staatlicher Transfers mißt, der beschränkt damit die Teilhabegerechtigkeit unserer Kinder und Enkel.«8 Generationengerechtigkeit bedeute, dass die von der aktiven Bevölkerung geschaffenen Ressourcen gerecht verteilt würden und dass die Politik für eine Realisierung dieser Potenziale sorge. Wer glaubt, dass es bei einer Umverteilung der sozialen Besitzstände und Risiken nach dem Maßstab größerer Gerechtigkeit zwischen Älteren und Jüngeren sowohl eine klare Gewinnerals auch eine klare Verlierergeneration gibt, sieht sich getäuscht. CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla erklärte die Generationengerechtigkeit zum »entscheidende(n) Kriterium« für den Um- bzw. Abbau des Sozialstaates, das offenbar Jungen wie Alten materielle Opfer abverlangt: »Jede Generation muß ihren Beitrag leisten, damit wir soziale Sicherheit heute und morgen gewährleisten können.«9 Deshalb sei es wichtig, dass die Regelaltersgrenze für den Rentenbezug erhöht, das Umlageverfahren in der Sozialen Pflegeversicherung durch Kapitaldeckung ergänzt und im Gesundheitswesen mehr Wettbewerb eingeführt werde. Durch das Schlagwort »Generationengerechtigkeit« wird die soziale Spaltung unserer Gesellschaft biologisiert, auf ein Verhältnis zwischen Alterskohorten reduziert und relativiert. Letztlich handelt es sich bei der Generationengerechtigkeit um ein Konstrukt, das bestimmten Kräften ganz unabhängig von deren Alters8 | »Deutschland 2020«. Für mehr Generationengerechtigkeit: Reformen nicht auf morgen oder übermorgen verschieben! Ein Memorandum der jungen Abgeordneten des Deutschen Bundestages, Berlin, 21. Juli 2003, S. 3. 9 | Pofalla, Ronald, Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit, in: FAZ, 4.1.2006.

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gruppenzugehörigkeit dazu dient, im Rahmen sozialökonomischer und Verteilungskonflikte ihre eigene Position zu bestimmen und gegenüber anderen zu verbessern. Es verhüllt, dass sich die soziale Ungleichheit seit geraumer Zeit innerhalb jeder Generation verschärft und die zentrale soziale Trennlinie nicht zwischen Alt und Jung, sondern immer noch, ja mehr denn je zwischen Arm und Reich verläuft. Oft scheint es, als sei der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit durch einen neuen Grundwiderspruch, nämlich demjenigen zwischen Jung und Alt, abgelöst und Klassenkampf durch einen »Krieg der Generationen« ersetzt worden. Damit lenkt man von den eigentlichen Problemen wie der ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung ab. Das verkrampfte Bemühen um mehr Generationengerechtigkeit, der noch nie so viel Beachtung wie heute zuteil wurde, überdeckt die in sämtlichen Altersgruppen, der ganzen Gesellschaft und der Welt wachsende soziale Ungleichheit. Auch dürfte sich die Struktur der Armutspopulation infolge zahlreicher Kürzungen im Sozialbereich (sog. Riester-Reform, Senkung des Rentenniveaus durch den sog. Nachhaltigkeits- und den sog. Nachholfaktor, Erhöhung des Kranken- und des Pflegeversicherungsbeitrages vor allem für Betriebsrentnerinnen und -rentner, nachgelagerte Rentenbesteuerung, Verringerung des Schonvermögens von Langzeitarbeitslosen durch Hartz IV und Absenkung der Rentenversicherungsbeiträge, die man für sie entrichtet), aber auch der starken Zunahme diskontinuierlicher Erwerbsverläufe, von Scheidungen und der Anzahl nicht eigenständig abgesicherter Frauen wieder in Richtung der Seniorinnen und Senioren verschieben. Wenn ein Wohlfahrtsstaat demontiert wird, seine Transferleistungen für Bedürftige gesenkt und die gültigen Anspruchsvoraussetzungen verschärft werden, obwohl das Bruttoinlandsprodukt wächst und der gesellschaftliche Reichtum zunimmt, kann weder von sozialer noch von Generationengerechtigkeit die Rede sein. Denn offenbar findet eine Umverteilung statt, von der gerade die Mitglieder bedürftiger Alterskohorten nicht profitieren. Die von der Großen Koalition im Frühjahr 2007 beschlossene Erhöhung des gesetzlichen Rentenzugangsalters von 65 auf 67 Jahren verschlechtert eher die Arbeitsmarktchancen künftiger Generationen,

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statt Vorteile für diese mit sich zu bringen. Überhaupt müsste, wer in den Ruf nach »Generationengerechtigkeit« einstimmt, darum bemüht sein, dass Heranwachsende auch später noch einen hoch entwickelten Wohlfahrtsstaat und das früher gewohnte Maß an sozialer Sicherheit vorfinden, statt letztere immer mehr zu beschneiden und die Menschen der privaten Daseinsvorsorge zu überantworten. Nicht nur die Renten, sondern auch die öffentlichen Haushalte sind ins Visier von »Experten« geraten, die mehr Generationengerechtigkeit verlangen. Neoliberale tun gern so, als hätten künftige Generationen hohe Schuldenberge abzutragen, wozu sie weder willens noch in der Lage wären. Dabei lastet dieser Schuldendienst nur auf einem Teil der kommenden Generationen; ein anderer erhält nämlich mehr Zinsen aus (geerbten) Schuldverschreibungen des Staates, als er selbst an Steuern zahlt, und profitiert dadurch sogar von heutigen Budgetdefiziten. Es mutet beinahe kurios an, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel die Erhöhung der Mehrwert- und der Versicherungssteuer von 16 auf 19 Prozent, welche seit dem 1. Januar 2007 vor allem Normal- und Geringverdienerfamilien mit vielen Kindern besonders hart trifft, als »moralische Verpflichtung« gegenüber künftigen Generationen legitimiert, denen dadurch angeblich der »Marsch in den Schuldenstaat« erspart bleiben soll. Ronald Pofalla, der die Debatte über das neue Grundsatzprogramm seiner Partei organisiert hat, begründete dieses Gerechtigkeitsverständnis damit, man müsse für jede Generation »eine faire Balance zwischen Eigenverantwortung und Solidarität« finden: »Alte Gerechtigkeitspolitik ist auf die Gegenwart und auf horizontale Umverteilung beschränkt. Sie führt zu einer immer stärkeren Belastung der kommenden Generationen. Die neue Gerechtigkeit muß Lasten und Leistungen von heute und morgen zwischen Alt und Jung fair verteilen. Deshalb ist es richtig, daß die Union die Konsolidierung des Haushalts vorantreibt und damit die Schuldenlast unserer Kinder zurücknimmt, auch wenn dies heute mit harten Einschnitten für alle verbunden ist.« 10

10 | Pofalla, Ronald, Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit, a.a.O.

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»F REIHEIT« UND »E IGENVER ANT WORTLICHKEIT« ALS F ORMELN ZUR R ECHTFERTIGUNG WACHSENDER U NGLEICHHEIT In dem Konzept eines »aktivierenden Sozialstaates«, das ihn von den Aufgaben eines Bedürftige und Benachteiligte alimentierenden Fürsorgestaates entbinden möchte, spielen »Eigenverantwortung«, »Selbstvorsorge« und »Privatinitiative« eine Schlüsselrolle. Dabei geht es um eine »Neujustierung des Verhältnisses von Individuum und Staat«, mithin die Frage, ob Letzterer die Menschen als mündige Bürgerinnen und Bürger, Bittstellerinnen und Bittsteller oder Kundinnen und Kunden behandelt. Das bisherige Gemeinwesen droht in einen Wohlfahrtsmarkt sowie einen Wohltätigkeits-, Almosen- bzw. Suppenküchenstaat aufgespalten zu werden: Auf dem Wohlfahrtsmarkt kaufen sich Bürgerinnen und Bürger, die es sich finanziell leisten können, soziale Sicherheit (z.B. Altersvorsorge durch Versicherungspolicen der Assekuranz). Dagegen stellt der postmoderne Sozialstaat nur noch euphemistisch »Grundsicherung« genannte Minimalleistungen bereit, die Menschen vor dem Verhungern und Erfrieren bewahren, sie jedoch der Privatwohltätigkeit überlassen. Man spricht von »Eigenverantwortung«, meint aber häufig nur eine Zusatzbelastung für Arbeitnehmende und Rentnerinnen und Rentner, während die Arbeitgeber von Sozialversicherungsbeiträgen (Lohnnebenkosten) entlastet werden. Gegenwärtig akzentuiert man nicht nur innerhalb der CDU, die ihre mit dem Hannoveraner Parteitag am 3. Dezember 2007 beendete Programmdebatte unter das Motto »Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit« gestellt hatte, vielmehr auch innerhalb der Sozialdemokratie – dem neoliberalen Zeitgeist folgend – immer stärker die Freiheit. So konstatierte Gerhard Schröder in einem Essay zum 140. Jahrestag der Gründung seiner Partei: »Unser oberstes Leitbild ist die Freiheit der Menschen, ihr Recht auf ein Leben in Würde, Selbstbestimmung und freier Entfaltung ihrer Fähigkeiten in einem solidarischen Gemeinwesen.«11 In seiner als 11 | Gerhard Schröder, Der Essay: Das Gestalten der Zukunft braucht den Mut zur Veränderung, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 5/2003, S. 7.

G ERECHTIGKEIT IM W ANDEL

»Agenda 2010« bekannt gewordenen Regierungserklärung sprach Schröder am 14. März 2003 nicht weniger als 18 Mal von »(Eigen-) Verantwortung«, in seiner Rede auf dem Berliner Sonderparteitag der SPD am 1. Juni 2003 sogar 19 Mal von »(Wahl-)Freiheit«. Die schrittweise Liquidation des Sozialstaates erhält ihre Legitimation, indem man sie als »Befreiung« bevormundeter Bürgerinnen und Bürger feiert, was nur perfide genannt werden kann. In einer wohlfahrtsstaatlichen Demokratie ist Freiheit die Möglichkeit der Schwächsten, über ihr Leben selbst zu bestimmen, statt unabhängig von der beruflichen Qualifikation wie der familiären Situation jeden Arbeitsplatz annehmen zu müssen. Sie meint aber gerade nicht die Möglichkeit von Begüterten und Spitzenverdienern, sich den allgemeinen Verpflichtungen zu entziehen. Wahlfreiheit kann deshalb nicht heißen, dass sich junge, gut verdienende und gesunde Arbeitnehmende durch die Option für preiswerte Spezialtarife ihrer Krankenkasse aus der sozialen Verantwortung stehlen. Vielmehr muss Wahlfreiheit darin bestehen, dass sich Alleinerziehende für Teilzeitarbeit entscheiden können, ohne dadurch noch Jahrzehnte später gravierende Nachteile bei der Bemessung ihrer Altersrente zu haben. Die gezielte Aufwertung der Eigenverantwortung kaschiert letztlich nur, dass der Sozialstaat zunehmend aus seiner im Grundgesetz fixierten Verantwortung für das Wohl seiner Bürgerinnen und Bürger entlassen wird. Schließlich ist die Rückverlagerung von Verantwortung auf die Familie und das Individuum, welches die Standardlebensrisiken wieder selbst trägt, in einer hoch entwickelten, arbeitsteilig organisierten und extrem ausdifferenzierten Gesellschaft anachronistisch, führt sie doch zu deren Entsolidarisierung, Pauperisierung größerer Teile der Bevölkerung und sozialer Polarisierung.

L ITER ATUR Butterwegge, Christoph, Krise und Zukunft des Sozialstaates, 3. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 247ff. Butterwege, Christoph, Rechtfertigung, Maßnahmen und Folgen einer neoliberalen (Sozial-)Politik, in: Christoph Butterwegge/

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C HRISTOPH B UTTERWEGGE

Bettina Lösch/Ralf Ptak, Kritik des Neoliberalismus, 2. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 154ff. Butterwegge, Christoph/Klundt, Michael/Belke-Zeng, Matthias, Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland, 2. Aufl. Wiesbaden 2008, S. 301ff. Clement, Wolfgang, Ein neues »Godesberg« für die SPD, in: Welt am Sonntag, 14.5.2006. »Deutschland 2020«. Für mehr Generationengerechtigkeit: Reformen nicht auf morgen oder übermorgen verschieben! Ein Memorandum der jungen Abgeordneten des Deutschen Bundestages, Berlin, 21. Juli 2003, S. 3. Pofalla, Ronald, Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit, in: FAZ, 4.1.2006. Prechtl, Christof/Dettling, Daniel, Einleitung: »Wachstum durch Bildung – Chancen für die Zukunft nutzen!«, in: dies. (Hg.), Für eine neue Bildungsfinanzierung. Perspektiven für Vorschule, Schule und Hochschule, Wiesbaden 2005, S. 9. Schröder, Gerhard, Die zivile Bürgergesellschaft. Anregungen zu einer Neubestimmung der Aufgaben von Staat und Gesellschaft, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 4/2000, S. 203. Steinbrück, Peer, Etwas mehr Dynamik bitte. Soziale Gerechtigkeit heißt heute: Der Staat muss mehr Geld in Bildung und Familien investieren. Für Gesundheit, Alter und Pflege hingegen werden die Bürger stärker selbst vorsorgen müssen, in: Die Zeit, 13.11.2003.

Wohlstand für alle durch Einkommen für alle? Soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert 1 Götz W. Werner, Ludwig Paul Häussner und André Presse

Die Motivation für diesen Beitrag bilden für jeden Zeitgenossen wahrnehmbare Phänomene. Wir verzeichnen einen Überfluss in den Warenregalen des Handels und gleichzeitig von engagierten Bürgerinnen und Bürgern organisierte Tafeln2 , weil die Einkommenssituation von Millionen Menschen prekär ist. Dadurch leidet auch die Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung für unsere freiheitlich verfasste Gesellschaft mit dem Staatsverständnis eines demokratischen und sozialen Rechtsstaats. Ludwig Erhards Buch »Wohlstand für alle« stand als das Motto für diese Wirtschaftsordnung. Hierin ist die Unternehmerfunktion von zentraler Bedeutung. Ziel ist Wohlstand für alle. 1 | Erstmals erschienen in: Karlsruher Transfer, 37 (2008), S. 14-19. 2 | »Nicht alle Menschen haben ihr täglich Brot und dennoch gibt es Lebensmittel im Überfluss. Die Tafeln bemühen sich um einen Ausgleich mit ehrenamtlichen Helfern, für die Bedürftigen ihrer Stadt. Das Ziel der Tafeln ist es, dass alle qualitativ einwandfreien Nahrungsmittel, die im Wirt-schaftsprozess nicht mehr verwendet werden können, an Bedürftige verteilt werden. Die Tafeln helfen so diesen Menschen eine schwierige Zeit zu überbrücken und geben ihnen dadurch Motivation für die Zukunft.« http://www.tafel.de, letzter Zugriff: Abruf: 24.04.2008.

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Dieser Beitrag soll aufzeigen, in welcher Weise dies heute durch Einkommen für alle (Werner 2007)3 realisierbar ist. »So wollte ich jeden Zweifel beseitigt wissen, dass ich die Verwirklichung einer Wirtschaftsverfassung anstrebe, die immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand zu führen vermag. Am Ausgangspunkt stand da der Wunsch, über eine breitgeschichtete Massenkaufkraft die alte konservative soziale Struktur endgültig zu überwinden. Diese überkommene Hierarchie war auf der einen Seite durch eine dünne Oberschicht, welche sich jeden Konsum leisten konnte, wie andererseits durch eine quantitativ sehr breite Unterschicht mit unzureichender Kaufkraft gekennzeichnet. Die Neugestaltung unserer Wirtschaftsordnung musste also die Voraussetzungen dafür schaffen, dass dieser einer fortschrittlichen Entwicklung entgegenstehende Zustand und damit zugleich auch endlich das Ressentiment zwischen ›arm‹ und ›reich‹ überwunden werden konnten. Ich habe keinerlei Anlass, weder die materielle nochdie sittliche Grundlage meiner Bemühungen mittlerweile zu verleugnen. Sie bestimmt heute wie damals mein Denken und Handeln.« 4

Moderne Gesellschaften sind auf den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit errichtet. Eine genauere Befassung mit diesen Prinzipien legt die Frage nahe: In welchem Verhältnis stehen die drei Grundsätze zueinander? Wie lassen sie sich gemeinsam verwirklichen? • Freiheit ist das Ordnungsprinzip von Kultur, Wissenschaft, Kunst und Religion sowie des gesamten Bildungswesens (Pressefreiheit, Recht auf freie Meinungsäußerung etc.). • Gleichheit ist das Ordnungsprinzip des Rechtslebens: der Bürger- und Menschenrechte, der demokratischen Mitwirkung an der staatlichen Willensbildung sowie der privaten Vertrags- und Vereinigungsfreiheit in Kultur und Wirtschaft (Gleichheit aller vor dem Gesetz). 3 | Werner, G. W.: Einkommen für alle, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2007. 4 | Erhard, Ludwig: Wohlstand für alle, 1962, S. 7.

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• Brüderlichkeit ist das Ordnungsprinzip des Wirtschaftslebens (Wechselseitigkeit in den Austausch- und Kaufbeziehungen, ›funktionale‹ Brüderlichkeit durch realwirtschaftlich gegenseitige Versorgung im Rahmen eines arbeitsteiligen Wirtschaftslebens (»einer trage des anderen Last«) sowie einer Einkommens- und Vermögensverteilung mit dem Ziel, alle Menschen an der Produktivität der arbeitsteiligen Wirtschaft so teilhaben zu lassen, dass ein Leben in Würde möglich ist (Art. 1 GG). Kultur, Staat und Wirtschaft entfalten sich nach unterschiedlichen Ordnungsprinzipien und nach eigenen Gesetzmäßigkeiten. Sie sind aber auch aufeinander angewiesen: Von einem blühenden Kulturleben können dem Staat und der Wirtschaft immer wieder neue Ideen und fähige Menschen zuströmen; von einem gesunden Wirtschaftsleben können durch Steuern und Spenden Staat und Kultur finanziert und materiell ermöglicht werden; nur ein unabhängiges Rechtsleben kann ein Kulturrecht und ein Wirtschaftsrecht schaffen und durchsetzen, das im Kulturwettbewerb immer wieder die Freiheit jeder Persönlichkeit sichert und im Wirtschaftsleben gemeinschaftsschädigende Interessenverfolgung begrenzt. Das Verständnis hierfür erwächst aus der Erkenntnis, dass wir es bei einer Gemeinschaft von Menschen nicht mit Teilen eines sozialen Mechanismus, sondern mit Gliedern eines sozialen Organismus zu tun haben.

D ENKEN IN O RDNUNGEN UND DAS V ERHÄLTNIS DER TEILORDNUNGEN UNTEREINANDER Im natürlichen Organismus behindert die Krankheit eines Organs den gesamten Organismus. Ähnlich ist es im Sozialen: Organe müssen von ihrer Aufgabe für das Ganze her verstanden werden. Sinn der Produktion ist die Konsumtion und damit die Ermöglichung der kulturellen Entwicklung des Menschen. Das Wirtschaftsleben ist die finanzielle Basis und liefert die Mittel, das Kulturleben materiell zu fundieren: Die produzierten Waren und Dienstleistungen werden konsumiert. Umgekehrt ist auch

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das Kulturleben Produzent, indem es die Menschen befähigt, in der Wirtschaft und der Gesellschaft zu wirken. Das Rechts- und Staatsleben gestaltet den Rahmen, innerhalb dessen die Menschen sich kulturell und wirtschaftlich subsidiär – in vormodernen Gesellschaften hierarchisch – entfalten. Der Staat gibt der Wirtschaftstätigkeit das Regelwerk und dem Geistesleben Freiraum. Er schafft die rechtsstaatlichen Voraussetzungen für Machtfreiheit,5 verhindert Ausbeutung und sichert so die Gegenseitigkeit (Prinzip der Brüderlichkeit) wirtschaftlicher Transaktionen, zum Beispiel durch das Markt-, Wettbewerbs- und Kartellrecht. Die Wirtschaft nutzt Fähigkeiten, um ökonomische Werte zu schaffen. Die Kultur verbraucht ökonomische Werte, um Fähigkeiten zu generieren, die wiederum in das Wirtschaftsleben einfließen. Das Staats- und Rechtsleben als dritte Teilordnung ist die ordnende Potenz.6 Die Missachtung der Erkenntnisse der Freiburger Schule führt heute dazu, dass sich private und staatliche Macht gegenüber dem Einzelnen ausbreiten. Seien es willkürlich steigende Energiepreise, menschenunwürdige bürokratische Maßnahmen gegenüber Millionen von Arbeitslosen bei nur einer Million offener Stellen oder steigende Anforderungen bei sinkenden Reallöhnen auf einem Arbeitsmarkt, der trotz immer weiter steigender Produktivität nicht mehr, sondern weniger Freiraum für kulturelle und geistige Entfaltung ermöglicht. Die dank technologischen Fortschritts erzielten Überschüsse werden aus Gründen finanzieller Rendite nicht ausreichend für die kulturelle Entwicklung – zum 5 | Innerhalb des Wirtschaftslebens darf es zu Leistungswettbewerb, nicht aber zu Behinderungswettbewerb durch einseitige Machtkonzentration kommen. Nach der Freiburger ordoliberalen Schule, der sich auch Erhard verpflichtet fühlte, ist nicht die Bekämpfung der Folgen von Macht sondern ihre Verhinderung von vornherein geboten. Im modernen Staatsleben ist der Staat die einzige Instanz, die Macht ausüben darf – und selbst er ist dabei an das Recht gebunden. 6 | Vgl. Vogel, Diether: Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit, Schaffhausen, Novalis, 1990, 126f. Vogel war Mitveranstalter der ersten Arbeitstagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft unter Ludwig Erhard.

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Beispiel für Familie und Bildung – verwendet. Der Kulturbereich wirft keine oder kaum eine betriebswirtschaftlich messbare Rendite ab. Der Ertrag in Form langfristiger Fähigkeitenbildung und Fundierung kultureller Entwicklung einer Gemeinschaft birgt die höchste, aber eine betriebswirtschaftlich nicht messbare Rendite. Die zunehmend einseitige Gewichtung der betriebswirtschaftlichen Gewinnmaximierung ist Hinweis auf die Unterfunktion des Staates bei Ausübung seiner rahmensetzenden Aufgabe im Wirtschaftsleben. Kein Zweifel: Gewinn muss sein. Realwirtschaftlich gesehen ist er aber Mittel zum Zweck der Erfüllung der Aufgabe eines Unternehmens – das Angebot immer besserer und günstigerer Waren und Dienstleistungen für die Kunden – und nicht das Ziel unternehmerischer Tätigkeit.

I NITIATIVE WECKENDE R AHMENBEDINGUNGEN SCHAFFEN Im Sinne einer Sozialen Marktwirtschaft heißt dies, Initiative weckende Rahmenbedingungen zu schaffen: Initiative fördern und dafür sorgen, dass jeder davon partizipiert. Die Soziale Marktwirtschaft ist so ein Gegenentwurf sowohl zu kommunistischer Planwirtschaft, in der das Nichterwerben von Eigentum am Ergebnis wirtschaftlicher Leistungen die Initiative lähmt, als auch zu einem Kapitalismus der Bereicherung einiger weniger auf Kosten vieler, denen durch quasi-feudale Vermögensstrukturen der Freiraum für eigenständige Entwicklungsmöglichkeit genommen wird (siehe Eingangszitat). Im Programm der CDU von 1947 heißt es mit Blick darauf: »Die neue Struktur der deutschen Wirtschaft muss davon ausgehen, dass die Zeit der unumschränkten Herrschaft des privaten Kapitalismus vorbei ist. Es muss aber ebenso vermieden werden, dass der private Kapitalismus durch Staatskapitalismus ersetzt wird, der noch gefährlicher für die politische und wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen sein würde. Es muss eine neue Struktur der Wirtschaft gesucht werden, die die Mängel der Vergangenheit vermeidet, und die Möglichkeit zu technischem Fortschritt und zur schöpferischen Initiative des Einzelnen lässt.«

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Ludwig Erhard schreibt mit Blick auf Kommunismus und Kapitalismus 1948: »Jedes System, das dem Individuum nicht in jedem Falle die freie Berufs- und Konsumwahl offen lässt, verstößt gegen die menschlichen Grundrechte und richtet sich, wie die Erfahrung lehrt, zuletzt gerade gegen diejenigen sozialen Schichten, zu deren Schutz die künstlichen Eingriffe gedacht waren.«

Auch in Bezug auf die Gefahr von Expertengläubigkeit und Manipulation äußert sich Erhard (1962) vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen unmissverständlich: »Wir sollten uns nicht so gebärden, als ob das Erkennen volkswirtschaftlicher Zusammenhänge nur den Gralshütern vorbehalten bliebe, die sich auf der einen Seite wissenschaftlich, auf der anderen Seite demagogisch ihre verhärteten Standpunkte vortragen. Nein, jeder Bürger unseres Staates muss um die wirtschaftlichen Zusammenhänge wissen und zu einem Urteil befähigt sein, denn es handelt sich hier um Fragen unserer politischen Ordnung, deren Stabilität zu sichern uns aufgegeben ist.«7

Wie aber kann sich eine gemeinschaftliche Meinung von wirtschaftlichen Zusammenhängen bilden?

L EISTUNGSENTNAHME STAT T L EISTUNGSBEITR AG BESTEUERN In einer Selbstversorgungswirtschaft ist es sinnvoll, die realen Leistungserträge der Menschen zu besteuern: Wer viel hat und am besten für sich selbst sorgen kann, kann am besten zum Gemeinwesen beitragen.

7 | Als Beispiel hierfür kann der Disput zwischen Gerhard Schröder und Paul Kirchhof im Bundestagswahlkampf 2005 gelten.

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Da die Menschen durch Arbeitsteilung heute jedoch ihre Leistung ausschließlich für andere erbringen und jeder von den Leistungen anderer lebt, ist es nicht mehr zeitgemäß, die realwirtschaftliche Leistung oder ihre nominelle Vergütung zu besteuern und damit dasjenige zu hemmen, was Wohlstand und Wohlfahrt befördert. Die Leistungserbringung ist in der Fremdversorgung nicht mehr die geeignete Grundlage der Besteuerung. In einer Fremdversorgungswirtschaft trägt der »Starke« heute durch seine Leistung im Rahmen wirtschaftlicher Betätigung zum Allgemeinwohl bei. Initiative muss von fiskalischen Belastungen befreit werden, damit Leistung ungehindert entfaltet werden kann. Im Rahmen der Arbeitsteilung werden alle Kosten des Produktionsprozesses – einschließlich aller Steuern – von den Kunden getragen, sie sind die Auftraggeber der Leistung. Eine Konsumbesteuerung (in Form der Mehrwertsteuer) macht die realen Verhältnisse transparent. Steuern verzerren dann nicht mehr den Produktionsprozess, wie durch einseitige Belastung des Produktionsfaktors Arbeit bei gleichzeitigen Abschreibungsmöglichkeiten des Produktionsfaktors maschinelle Arbeit. Besteuerungsgrundlage ist die gesamte Wertschöpfung – und die Wertschöpfungsbestandteile entsprechend ihrem Anteil an der Wertschöpfung. Ein häufig vorgetragenes Argument gegen eine Konsumsteuer ist, dass sie jene Bevölkerungsschichten benachteilige, die einen hohen Anteil ihres Einkommens für Konsum ausgeben und somit am stärksten betroffen sind. In absoluten Zahlen tragen jedoch einkommensstarke Bevölkerungsteile durch verhältnismäßig viel Konsum stärker zum Mehrwertsteueraufkommen bei. Um die Konsumsteuer auch für einkommensschwache Haushalte sozial ausgewogen zu gestalten, ist sowohl eine Staffelung durch unterschiedlich hohe Sätze möglich als auch die Übertragung des Prinzips des Einkommensteuerfreibetrages auf die Konsumsteuer notwendig. In der Einkommensbesteuerung sichert der Einkommensteuerfreibetrag die Steuerfreiheit des soziokulturellen Existenzminimums. Um dies für die Konsumbesteuerung sicherzustellen, ist die hierfür zu erwartende Steuerbelastung an den Bürger auszuzahlen. Im Karlsruher Transfer Nr. 35 erschien die Arbeit »Wohlfahrtswirkungen eines konsumsteuerfinanzierten bedingungslosen Grundeinkommens« von Martin Barbie, Tobias

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Lindner und Clemens Puppe.8 Die drei Autoren zeigen in einer präzisen Analyse, »dass ein bedingungsloses Grundeinkommen im einfachst möglichen ökonomischen Modell unzweideutig negative Wohlfahrtswirkungen nach sich zieht.« Von großem Interesse dürfte die Frage sein, wie dieses Ergebnis im Rahmen eines Makro-Modells der folgenden Art zu sehen ist: Alle Steuern bis auf die Mehrwertsteuer fallen (schrittweise) weg. Auf das dadurch (bei Wettbewerb) stark sinkende Preisniveau wird ein Mehrwertsteuersatz erhoben, bei dem das ursprüngliche Preisniveau nicht übertroffen wird. Das Grundeinkommen und die übrigen staatlichen Ausgaben werden in Höhe der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer finanziert. Die folgenden Überlegungen verdeutlichen, warum die Finanzierung des Grundeinkommens aus der Mehrwertsteuer nicht zu einer Erhöhung des Preisniveaus führen muss. Zur besseren Verständlichkeit wird ein Zahlenbeispiel gewählt. Hierzu wird ein Produkt im Wert von 10 € Nettopreis – bei einem der Einfachheit halber unterstellten Mehrwertsteuersatz in Höhe von zwanzig Prozent – zu einem Bruttopreis von 12 € verkauft (s. Abb. 1). Abbildung 1: Nettopreis, Mehrwertsteueraufkommen und Gesamtpreis im Status Quo

Die Abbildung veranschaulicht: Im Nettopreis sind sämtliche Kosten der Wertschöpfung enthalten. Im volkswirtschaftlichen 8 | Barbie, Martin/Lindner, Tobias/Puppe, Clemens: Wohlfahrtswirkungen eines konsumsteuerfinanzierten bedingungslosen Grundeinkommens, in: Karlsruher Transfer, Nr. 35/2007, S. 34-35.

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Abrechnungsstrom lösen sich alle Preise in Einkommen auf: entweder in Erwerbseinkommen, Zins- und Dividendeneinkommen oder Transfereinkommen.

1. S CHRIT T Wird der Mehrwertsteuersatz angehoben und aus den dadurch erhöhten Einnahmen ein Teil zur Finanzierung der Sozialkassen (Rentenkassen, Krankenkassen und Arbeitslosenkasse) genommen, dann sinken die Beiträge zur Sozialversicherung, wie zum Beispiel im Jahr 2007 der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4,3 und schließlich 3,3 Prozent. Hierdurch kommt es in der Volkswirtschaft zu einer finanziellen Entlastung des Faktors Arbeit. Das fördert die wirtschaftliche Entwicklungsdynamik und den Strukturwandel auf dem Weg in eine nachindustrielle Tätigkeitsgesellschaft. Dies ist eine der Ursachen für die positive wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland im Jahr 2007. Im grenzüberschreitenden Handel wurden Waren und Dienstleistungen »Made in Germany« dadurch wettbewerbsfähiger. Dieser Effekt wird beispielsweise von Rose und Uhlig beschrieben9 . Schematisch und vereinfachend ist in Abbildung 2 dargestellt, wie eine in unserem Beispiel von zwei auf drei Euro erhöhte Mehrwertsteuer wirkt. Das Preisniveau bleibt gleich, wenn sie zur entsprechenden Senkung der Sozialversicherungsbeiträge und damit der Lohn(neben)kosten genutzt wird. In unserem Beispiel ergibt sich daraus ein auf 33,3 Prozent gestiegener Mehrwertsteuersatz. Aus der Abbildung geht hervor, dass sich das Verhältnis von Mehrwertsteueranteil und »Nettopreis« verändert hat, dabei aber der Gesamtpreis gleichgeblieben ist.

9 | In der öffentlichen Diskussion ist oft unklar, ob es sich bei den »Lohnkosten« um die »Kosten für Löhne« handelt oder um »Kosten für Löhne und Lohnnebenkosten«. Hier werden Lohnkosten als die »Kosten für Löhne und Lohnnebenkosten« betrachtet.

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2. S CHRIT T Durch die Einführung eines Grundeinkommens würde der Produktionsfaktor Arbeit nicht nur von den Lohnnebenkosten, sondern auch von Teilen der Kosten für die Löhne selbst entlastet werden können. Wird das Grundeinkommen substitutiv ausgezahlt, sinken Nettolöhne und Transferzahlungen (Arbeitslosengeld, Renten, Kindergeld) um den Betrag des Grundeinkommens. Alle übrigen Größen bleiben – in der statischen Betrachtung – gleich. Abbildung 3 verdeutlicht, wie das Grundeinkommen als Sockel zur Verbilligung des Produktionsfaktors Arbeit10 bei gleichzeitigem Einkommenserhalt beiträgt. Damit wird Arbeit auch in jenen Tätigkeitsbereichen erschwinglicher, die sich nach betriebswirtschaftlich-industriellen Maßstäben nicht rechnen oder sich nicht berechnen lassen, wie Familienarbeit, Erziehungsarbeit, Lernarbeit, sozial-karitative Arbeit und kulturell-kreative Arbeit. Das Grundeinkommen wird mit Einnahmen aus der Konsumsteuer (Mehrwertsteuer) finanziert. Es stellt einen finanziellen Sockel dar, auf dessen Grundlage menschliche Arbeit in automatisierbaren wie nichtautomatisierbaren Tätigkeitsfeldern ermöglicht wird. Das Teilungsverhältnis in privaten und öffentlichen Konsum (zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben) wird auf diese Weise transparent. Das derzeitige, aus direkten Einkommens- und Ertragssteuern und indirekten Steuern sowie Verbrauchssteuern bestehende Steuerwesen ist komplex, damit intransparent und widersprüchlich (vgl. Spindler 2007).11 Wie die Ersetzung der Einkommensteuer durch die Konsumsteuer befreiend auf die Arbeit aus selbstbestimmter – durchaus marktgerichteter – Initiative wirkt, macht das Grundeinkommen 10 | Hohenleitner, Ingrid und Straubhaar, Thomas: Bedingungsloses Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld – mehr als sozialutopische Konzepte«, in: Straubhaar, Thomas: »Bedingungsloses Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld«, Hamburgisches Weltwirtschaftsinstitut, 2008, S. 51ff. 11 | Wolfgang Spindler, Präsident des Bundesfinanzhofs in einem Interview mit dem Titel »Stärker pauschalieren«…

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frei zur Ausübung insbesondere jener Tätigkeiten, die nicht oder nur eingeschränkt nach objektiven betriebswirtschaftlichen Kriterien vergütet werden können. Bei einer Umgestaltung des derzeitigen Steuerwesens in Richtung Konsumsteuer sind sowohl kleinere Schritte als auch größere Sprünge möglich. Auf diese Weise kann die Transformation länger oder kürzer dauern. Die positiven Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Außenhandel sind schon durch die in 2007 vorgenommene Mehrwertsteuererhöhung ersichtlich. Die Handelspartner des deutschen Außenhandels müssen – wie dies an der Reaktion Frankreichs auf die in 2007 durchgeführte Erhöhung der Mehrwertsteuer in Deutschland zu beobachten ist – dieser Entwicklung über kurz oder lang folgen. Der Mehrwertsteuersatz kann in der skizzierten Weise weiter angehoben werden und die übrigen Steuern und Sozialabgaben als Belastungen des Produktionsfaktors Arbeit ersetzen. Die Mehrwertsteuer stellt mit Einnahmen von voraussichtlich 180 Milliarden Euro in 2008 den größten Einnahmeposten für die öffentliche Hand dar. Die Einnahmen aus der Lohnsteuer liegen im gleichen Zeitraum bei etwa 140 Milliarden Euro (BMBF 2007). Mit welcher Rechtfertigung kann den Bürgern ein Freibetrag für jene Steuer vorenthalten werden, mit der die öffentliche Hand die meisten Einnahmen erzielt? In der Einkommensbesteuerung kann der Freibetrag als »steuerfreies Einkommen« gestaltet werden. In der Konsumbesteuerung ist die Steuerfreiheit des Mindestkonsums zu erreichen, indem die bei Erwerb der für den Mindestkonsum erforderlichen Waren und Dienstleistungen anfallende (Mehrwert-)Steuer im Voraus oder rückwirkend erstattet wird. Im weiteren Verlauf können alle übrigen Steuerfreibeträge auf den Konsumsteuerfreibetrag umgestellt – und bisherige Transferzahlungen (z.B. das Kindergeld, Elterngeld, BAföG usw.) substitutiv als Grundeinkommen pro Bürgerinnen und Bürger aus dem Volkseinkommen durch die öffentliche Hand ausgezahlt werden. Die Mehrwertsteuer ist die Steuer für eine globale Arbeitsteilung. Das Grundeinkommen ermöglicht ihren Freibetrag.

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Abbildung 2: Preisniveauneutraler Effekt einer Mehrwertsteuererhöhung bei gleichzeitiger Senkung des Nettopreises wegen des Sinkens bestimmter Steuern/Abgaben.

D IE H AUP TAUFGABEN DER W IRTSCHAF T : P RODUZIEREN SOWIE E INKOMMEN UND P RODUK TIONSMIT TEL (K APITAL) GENERIEREN Die erste Aufgabe der Wirtschaft, die Versorgung der Menschen mit Waren und Dienstleistungen, können wir heute dank hoher Produktivität besser erfüllen als je zuvor. Die zweite Aufgabe der Wirtschaft ist, die Menschen mit Einkommen zu versorgen, das ihnen den Bezug der arbeitsteilig und zunehmend automatisiert produzierten Güter und Dienstleistungen erlaubt, auch wenn sie dank gestiegener Produktivität nicht mehr in der Produktionswirtschaft oder produktionsnahen Dienstleistungen tätig sind, sondern im Bereich der Kulturarbeit und personennahen Dienstleistungen (Familie, Bildung, Pflege etc.). Die Kopplung von Arbeit und Einkommen ist kennzeichnend für die agrarisch-manufakturelle Subsistenzwirtschaft vergangener Zeiten. Mit der Industrialisierung und Arbeitsteilung sind jedoch die reale Arbeitsleistung und die real konsumierten Waren und Dienstleistungen fast vollständig entkoppelt: Wir konsumieren heute eben nicht die Güter, die wir mit unseren eigenen Händen produzieren. Diese Tatsache muss uns noch bewusster werden. Die realwirtschaftlich bereits vollzogene Entkopplung von Arbeit und Einkommen ist damit nämlich heute auch nominell geboten. Der Industriesektor stellt nicht mehr die Mehrheit der Arbeitsplätze. Seit Mitte der 1970er Jahre befinden sich die Industrie-

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nationen auf dem Weg in die nachindustrielle Gesellschaft, die man auch als Kulturgesellschaft bezeichnen könnte. Die Arbeit der Kulturgesellschaft, insbesondere nicht-automatisierbare, zugleich jedoch unverzichtbare Arbeit wie die Familienarbeit, Erziehung, Bildung, Wissenschaft, Forschung, Pflege, Kunst und andere kulturstiftende Tätigkeiten, lassen sich jedoch nicht nach den Prinzipien industrieller Leistungskriterien organisieren, weisungsgebunden durchführen und bezahlen. Heute kommt es zunehmend auf zwischen-menschliche Zuwendung an. Tätigkeiten auf diesem Feld müssen ermöglicht werden«. Durch ein Grundeinkommen werden sie fundiert. Auf dieser Grundlage können die Tätigen nach Belieben und Fähigkeit hinzuverdienen. Je weniger dieser Zuverdienst durch Einkommensteuern belastet wird, desto stärker ist auch der finanzielle Anreiz. Abbildung 3: Das Grundeinkommen als finanzielle Grundlage der Ermöglichung von Arbeit

Die Menschen würden auch mit einem Grundeinkommen von netto 600 € [10] weiterhin arbeiten, denn andernfalls würde ein signifikanter Teil der Menschen auch heute schon die Arbeit einstellen, sobald sie 600 € Einkommen erzielt haben. Nur wenige tun dies – oft nur offiziell, um dann schwarz zu arbeiten. Je geringer die Belastung des Produktionsfaktors Arbeit (makroökonomische Ebene) mit Steuern und Abgaben, desto höher ist der finanzielle Anreiz zur Arbeit (mikroökonomische Ebene). Je weniger Kapital und Einkommen durch Steuern belastet werden, desto mehr kön-

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nen Kapital und Arbeit wohlfahrtssteigernd wirksam werden. Wer macht dann die unliebsamen Arbeiten? Diese müssten entweder selbst erledigt, automatisiert oder, wie der langjährige Herausgeber der Wirtschaftswoche Wolfram Engels (Kronberger Kreis) bereits 1976 schreibt, »besser bezahlt werden«.12 In jedem Falle verwirklicht ein Grundeinkommen im Ergebnis die Forderung Ludwig Erhards nach freier Berufswahl. Abbildung 4: Klassische Darstellung des Angebots an und der Nachfrage nach Arbeit(sstunden) durch sich schneidende Kurven: »Gleichgewicht« im Schnittpunkt

Nach gängiger Arbeitsmarkttheorie gibt es stets genau einen Schnittpunkt von Arbeitsangebots- und Arbeitsnachfragekurve und damit einen »Gleichgewichtspreis« (vgl. Abbildung 4). Tatsächlich jedoch müssen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unterhalb einer bestimmten Lohnhöhe ihr Arbeitsangebot ausweiten, um auskömmlich leben zu können (Ortlieb 2004, s. Abb. 5).13 Hier schneiden sich die Kurven nicht. Das heißt: Es liegt kein »Gleichgewicht« vor. Dann herrscht in einer Volkswirtschaft hohe Beschäftigung, Teile der Erwerbsbevölkerung können 12 | Engels, Wolfram: Mehr Markt. Soziale Marktwirtschaft als politische Ökonomie, 1976, S. 144. 13 | Ortlieb, Claus Peter: Methodische Probleme und Methodische Fehler bei der mathematischen Modellierung in der Volkswirtschaftslehre. In: Hamburger Beiträge zur Modellierung und Simulation, Heft 18, Januar 2004.

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jedoch keine auskömmlichen Löhne erzielen. Die gegenwärtige Entwicklung am Arbeitsmarkt, die wirtschaftspolitische Diskussion über Mindestlöhne und die zunehmende Zahl sogenannter »Aufstocker« (sie erhalten trotz Vollzeitstelle kein auskömmliches Erwerbseinkommen und beziehen zusätzlich Arbeitslosengeld II) können als Anzeichen für ein Vorliegen der in Abbildung 5 beschriebenen Situation interpretiert werden. Nach einer aktuellen Studie der Universität Abbildung 5: Darstellung des Angebots an und der Nachfrage nach Arbeit(sstunden).

Duisburg-Essen ist die Zahl der im Niedriglohnsektor tätigen Menschen, zunehmend auch Akademiker, auf über sechs Millionen gestiegen. Durch die Einführung eines Grundeinkommens kann das Phänomen »working poor« beseitigt werden.

G RUNDEINKOMMEN ALS G RUNDRECHT UND DIE W ÜRDE DES M ENSCHEN Um die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens realisieren zu können, bedarf es eines Grundeinkommensgesetzes. Die Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft bietet die Voraussetzung für eine Rahmensetzung, die den Erfordernissen der künftigen Dienstleistungs-, Informations-, Wissens- und Kulturgesellschaft gerecht wird.

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Das Grundeinkommen eröffnet zudem eine europäische Perspektive. Der luxemburgische Regierungschef, ehemalige EU-Ratspräsident und möglicherweise erste Präsident der Europäischen Union, Jean- Claude Juncker, fordert: »Wir brauchen in Europa ein Grundeinkommen für alle.«14 In einer hochgradig interdependenten Gesellschaft und Wirtschaft ist die Realisierbarkeit von Grundrechten gefährdet, wenn der Einzelne in seiner Würde und Freizügigkeit durch bestimmte Regelungen, zum Beispiel die Sozialgesetzgebung, eingeschränkt ist. Der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf formulierte bereits 1986 – und erneut vor Bundespräsident Köhler anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der FriedrichNaumann-Stiftung im Mai 2008 – ein konstitutionelles Anrecht auf Grundeinkommen. »Das garantierte Mindesteinkommen ist so notwendig wie die übrigen Bürger- rechte, also die Gleichheit vor dem Gesetz oder das allgemeine, gleiche Wahlrecht.« Ein Grundeinkommen als Bürgerrecht realisiert das von Ludwig Erhard geforderte Recht auf freie Berufswahl durchgreifend und nachhaltig. »Kein Einwand wird mich davon abbringen zu glauben«, hat Ludwig Erhard das Wirtschaftswunder gegen den Materialismusvorwurf verteidigt, »dass die Armut das sicherste Mittel ist, um den Menschen in den kleinen materiellen Sorgen des Alltags verkümmern zu lassen. Vielleicht mögen Genies sich über solche Drangsale erheben; im Allgemeinen aber werden die Menschen durch materielle Kümmernisse immer unfreier und bleiben gerade dadurch materiellem Sinnen und Trachten verhaftet.«

Grundeinkommen und Konsumsteuer sind die sozialen Basisinnovationen, damit Initiativeentfaltung und materieller Wohlstand für alle gewährleistet ist, um darauf aufbauend die materielle und kulturelle Wohlfahrt in unserem nachindustriellen Gemeinwesen zu ermöglichen. 14 | Juncker, Jean-Claude (2006): Wir brauchen in Europa ein Grundeinkommen für alle. http://www.gouvernement.lu/salle_presse/interviews /2006/11novembre/20juncker_rundschau/index.html. Letzter Zu griff: 28.06.2010.

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»[…] und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen«.

Aus der Präambel der Schweizer Bundesverfassung.

L ITER ATUR Braunberger, Gerald: Nur keine Angst, unter: http://www.faz. net/s/RubA5A53ED802AB47C6AFC5F33A9E1AA71F/Doc ~E9D9CCCE11B79490FBCC6BB46E746E FFF~ATpl~Ecom mon~Scontent.html. 2006. Engels, Wolfram: Mehr Markt. Soziale Marktwirtschaft als politische Ökonomie, 1976. Erhard, Ludwig: Wohlstand für alle, 1962. Hohenleitner, Ingrid und Straubhaar, Thomas : Bedingungsloses Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld – mehr als sozialutopische Konzepte«, in: Straubhaar, Thomas: »Bedingungsloses Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld«, Hamburgisches Weltwirtschaftsinstitut, 2008. Juncker, Jean-Claude (2006): Wir brauchen in Europa ein Grundeinkommen für alle. http://www.gouvernement.lu/salle_presse /interviews/2006/11novembre/20juncker_rundschau/index. html. Letzter Zugriff: 28.06.2010. Ortlieb, Claus Peter : Methodische Probleme und Methodische Fehler bei der mathematischen Modellierung in der Volkswirtschaftslehre. In: Hamburger Beiträge zur Modellierung und Simulation, Heft 18, Januar 2004. Vogel, Diether: Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit, Schaffhausen, Novalis, 1990. Werner, G. W.: Einkommen für alle, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2007.

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Talkrunde 4 Clara Schlichtenberger

Teilnehmer: Christoph Butterwegge, Ingrid Hohenleitner, Ulrich Pfeiffer, Hilmar Schneider, Götz W. Werner Im Anschluss an die Beiträge von Werner und Butterwegge eröffnete Schneider die Talkrunde mit der Feststellung, dass soziale Sicherung nicht zu betreiben sei, indem man soziale Verantwortung nicht mehr zum Bestandteil eines sozialen Sicherungssystems mache. Man müsse sich damit auseinandersetzen, dass Arbeit als Einkommensquelle dazu gehöre. Wenn das »Nicht-Arbeiten« genauso attraktiv sei wie das »Arbeiten« gäbe es keine Leistungsanreize mehr. Vertrauen darin zu setzen, dass Menschen freiwillig ihren Beitrag leisten würden, wäre fahrlässig. Pfeiffer merkte an, dass man in einer Welt der Umverteilungskämpfe und der Ressourcenverschwendung lebe und man das Wachstum von Ungleichheit verhindern müsse. Das bedingungslose Grundeinkommen sehe er als Sackgasse. Arbeit, so Pfeiffer, stelle nach wie vor eine nicht unbedeutende Quelle des Selbstbewusstseins dar. Hohenleitner fasste die in den Vorträgen von Werner und Butterwegge unterschiedlichen Haltungen zum Grundeinkommen wie folgt zusammen: Butterwegge befürchte, dass durch ein Grundeinkommen der Sozialstaat abgeschafft würde. Wenn das Grundeinkommen zu niedrig angesetzt würde, käme das einem Sozialabbau gleich, und das wäre das Gegenteil dessen, was intendiert gewesen sei, nämlich dass der Mensch frei sei in seiner

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Erwerbsentscheidung, was letztlich die Bedingung für einen freien Arbeitsmarkt sei. Man könne derzeit eigentlich nicht von einem freien Arbeitsmarkt sprechen, da bereits auch heute schon bestimmte Menschen gezwungen seien zu arbeiten und andere wiederum nicht. Mit einem Grundeinkommen könne man einen echten Markt herstellen, viele Regularien könnten zurück gefahren oder abgeschafft werden, da die Existenz gesichert sei. Einkommen und Arbeit würden voneinander entkoppelt, aber der Leistungsanreiz bleibe bestehen, denn mit jedem zusätzlich verdienten Euro bliebe dem Einzelnen netto mehr, da die Lohnnebenkosten durch ein Grundeinkommen erheblich sinken würden. Mit einem Grundeinkommen wären die Verteilungsfragen offener, wenn auch nicht gelöst. Man könne entsprechend politisch aushandeln, welchen Prozentsatz man umverteilen wolle, was sich dann im Steuersatz bemerkbar mache. Durch ein Grundeinkommen wäre die politische Partizipation besser gewährleistet. Anschließend merkte Hohenleitner an, dass tendenziell unangenehme Arbeiten besser bezahlt werden müssten. Dadurch würde die durch das Grundeinkommen ermöglichte und befürchtete »Flucht« aus bestimmten Arbeitsbereichen durch ein natürliches Marktgefüge verhindert. Auch Werner führte aus, dass unser derzeitiger Arbeitsmarkt eigentlich gar keiner sei, da ein offener Markt voraussetze, dass die Teilnahme am Arbeitsmarkt der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen unterliege. Erst durch ein Grundeinkommen würde er einer. Wenn die Gesellschaft sich wandele vom »sollen« zum »wollen«, beinhalte das auch die Freiheit »nein« sagen zu dürfen. Zwangsarbeit sei verfassungsrechtlich verboten. An beiden Rändern der Gesellschaft, bei den Reichen wie bei den Armen, gäbe es Menschen, die nur konsumieren und nicht produzieren würden und damit keinerlei Beitrag leisten würden. Wenn wir Arbeitszwang ausschließen, dann müssten wir zulassen, dass es Menschen gebe die nicht arbeiten. Butterwegge führte aus, dass das bedingungslose Grundeinkommen einem Kombilohn für alle entspräche. Mit den immer wieder als Grundeinkommen genannten 800 Euro sei die Existenz zwar gesichert, aber auf einem Niveau, das nicht ausreiche. Für Unternehmer stelle das eine »paradiesische Situation« dar,

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könnten sie sich doch davon versprechen, mit niedrigen Löhnen auszukommen. Am Ende hätte man dann noch eine viel größere Verteilungsschieflage, was letztlich zur Zerstörung des Sozialstaates führe. Er plädiere für eine bedarfsorientierte, armutsfeste und repressionsfreie »Grundsicherung«. Auf die Frage von Weidenfeld an Schneider, welche Auswirkung ein Grundeinkommen auf die Erwerbsgesellschaft habe, berichtete Schneider von einem in seinem Institut entwickelten Simulationsmodell. Danach ergäben sich mit dem solidarischen Bürgergeld folgende Auswirkungen: ca. 600.000 Arbeitnehmer würden zusätzlich in den Arbeitsmarkt eintreten, was in Bezug auf die gesellschaftliche Partizipation zu begrüßen sei. Allerdings würde es einen negativen Aspekt geben, was die Arbeitszeit derjenigen angehe, die bereits in einem Arbeitsverhältnis stehen würden: sie würden ihre Arbeitszeit verkürzen. Insgesamt wäre mit einem jährlichen Mehrbedarf an öffentlichen Ausgaben in Höhe von mindestens 200 Milliarden Euro zu rechnen.

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Gute Arbeit unter finanz kapitalistischen Verhältnissen? Friedhelm Hengsbach

»Durch Deutschland muss ein Ruck gehen«, forderte 1997 der damalige Bundespräsident Roman Herzog. Dieser Ruck geht inzwischen nicht nur durch Deutschland, sondern durch die Welt – anders jedoch, als Herzog ihn sich vorgestellt hat. Diejenigen, die dreißig Jahre lang das Vertrauen in die Steuerungskraft der Märkte gepredigt und den schlanken Staat als den besten aller möglichen Staaten angehimmelt haben, glauben ruckartig nicht mehr an die Selbstheilungskräfte des Marktes. Sie rufen nach dem Staat als einem einzigartigen Retter. Indirekt gestehen sie damit ein, dass die angeblich freie und soziale Marktwirtschaft ein komplexes kapitalistisches Machtgeflecht darstellt, das bisher zwar indirekt angesprochen, aber nicht in den verschiedenen Formen staatlicher Macht, doktrinärer Mythen, normativer Grundsätze und gesellschaftlicher Erwartungen identifiziert worden ist. Das Schnüren von Rettungspaketen einzig dem Staat anzuvertrauen, verrät den blinden Fleck der Finanzeliten, die eine Sanierung der Schäden, die sie selbst verursacht haben, von einem Akteur erwarten, der mit seinen isolierten, kurzatmigen und widersprüchlichen Reaktionen selbst ein Bestandteil der Finanzkrise einschließlich ihrer sozialen und ökologischen Dimensionen ist. Einer solchen sozioökonomischen und sozio-kulturellen Diagnose möchte ich mich ansatzweise widmen. Die staatlichen Organe wären allein maßlos

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überfordert, wollten sie sich daran machen, neben dem Rettungsschirm für »notleidende« Banken und dem für gefährdete Unternehmen einen weiteren für Arbeitnehmer aufzuspannen und »gute Arbeit« in den Unternehmen zu sichern. So will ich zuerst die weltanschaulichen Quellen des Leitbildes »guter Arbeit« nennen, dann die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein solches Leitbild unter kapitalistischen Verhältnissen realisieren lässt, als sehr gering einstufen, um schließlich die Chancen einer demokratischen Aneignung des Finanzkapitalismus zu erkunden.

1. D AS L EITBILD : »G UTE A RBEIT« In den vergangenen Jahren sind in der Internationalen Arbeitsorganisation, in kirchlich-sozialen Bewegungen, im Deutschen Gewerkschaftsbund und in der IG Metall theoretische Reflexionen und politische Kampagnen angestoßen worden, deren Titel »Gute Arbeit« auf eine breite öffentliche Resonanz traf. Die Beliebtheit dieser Parole speist sich aus modernen Mythen, sozialethischen Grundsätzen und gesellschaftlichen Erwartungen.

1.1 Moderne, postmoderne Mythen Die kopernikanische Wende der Neuzeit lässt sich brennpunktartig auf jene Option zuspitzen, dass die einzelnen Menschen nicht mehr bloßer Bestandteil einer sie umgebenden Natur sind, sondern ihnen denkend und handelnd souverän gegenüberstehen. Sie analysieren ihre Gesetze, formulieren sie soziotechnisch um und eignen sich Naturschätze an (insbesondere die Sonnenenergie), die seit Jahrmillionen in der Erde als fossile Brennstoffe angehäuft worden sind. Der »homo faber« wird zum Idealtyp des modernen, neuzeitlichen Menschen. Sein Arbeiten ist nicht mehr ein Heilmittel gegen sündhaften Müßiggang oder ein Instrument gegen erzwungene Armut, sondern eine produktive Kraft der Weltverbesserung. Der Reichtum der Völker wird durch handwerkliche Arbeit und den Einsatz von Technik erworben. Das isolierte Individuum ist ein »homo oeconomicus«, ein kommerzielles Wesen. Die Arbeit ist darauf ausgerichtet, den

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eigenen Nutzen zu mehren. Wohl informiert über die Chancen und Risiken der Bedürfnisbefriedigung kalkulieren die Menschen nüchtern das Arbeitsleid ein, das sie auf sich nehmen müssen, um den erstrebten Zweck zu erreichen. Arbeit ist kein Selbstwert, sondern wird auf selbst formulierte Ziele hingeordnet. Mit steigendem materiellen Wohlstand verliert die Arbeit gemäß der Bedürfnispyramide, die Abraham Maslow rekonstruiert hat, ihren instrumentellen, zweckgerichteten Charakter. Der »homo ludens« inszeniert in der Arbeit ästhetische Stimmungen und subjektive Gefühle. Er bringt darin die Leichtigkeit der Inspiration und Fantasie zur Geltung. Sie ist ihm Medium kommunikativer Verständigung und symbolischer Selbstmitteilung.

1.2 Sozialethische Grundsätze Über Arbeit lässt sich nicht wertneutral reden. Die Arbeit ist normativ hoch aufgeladen. Auf die Frage, was gute Arbeit sei, haben Theologen und Philosophen eine Antwort zu geben versucht. So erklärt Martin Luther: »Von Arbeit stirbt kein Mensch. Aber durch Müßiggehen kommen die Leute um Leib und Leben. Denn der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen«. Der polnische Papst Johannes Paul II. hat 1991 in einem Sozialrundschreiben über die menschliche Arbeit geschrieben: »Die Arbeit ist eine fundamentale Dimension der Existenz des Menschen auf Erden«. Er beschreibt drei bzw. vier Dimensionen menschlicher Arbeit: eine soziale, naturale, personale und spirituelle Dimension. Wer zum Nutzen der Gesellschaft arbeite, gewinne dadurch allgemeine Anerkennung. In der Auseinandersetzung mit der Natur bestreite er seinen Lebensunterhalt. Der Hauptakzent der sozialethischen Reflexion liegt indessen auf der subjektiven bzw. personalen Dimension menschlicher Arbeit. Nur der Mensch kann arbeiten, weder das Tier noch die Maschine sind dazu in der Lage. Der besondere Wert der Arbeit gründet in der Tatsache, dass diejenigen, die arbeiten, mit Würde ausgestattete Personen sind. Die spirituelle Dimension besteht darin, dass die Menschen als Mitwirkende an Gottes noch nicht vollendeter Schöpfung betrachtet werden.

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1.3 Gesellschaftliche Er wartungen Die Erwerbsarbeitsgesellschaft richtet an ihre Mitglieder die Erwartung, dass diese zunächst durch die eigene Arbeit ihren Lebensunterhalt erwerben und nicht auf die Unterstützung der anderen angewiesen sind. Diese Erwartung ist allerdings mit dem Versprechen verbunden, denjenigen, die dazu bereit und in der Lage sind, eine Arbeitsgelegenheit zu bieten, die ihrer Begabung und Leistungsfähigkeit entspricht. Die Gesellschaft hat zugleich mit der berechtigten Erwartung an die Individuen diesen gegenüber eine Bringschuld einzulösen, nämlich politische Maßnahmen zu ergreifen, damit die kollektive Erwartung nicht ins Leere läuft. Aber auch die Mitglieder einer solchen Arbeitsgesellschaft haben die Erwartung, dass ihnen die Chance eingeräumt wird, eine »gute Arbeit« zu finden. Was diejenigen, die an der gesellschaftlich organisierten Arbeit beteiligt sind, unter »guter Arbeit« verstehen, hat eine Forschungsgruppe des Internationalen Instituts für empirische Sozialökonomie zu ermitteln versucht. Sie hat im Jahr 2006 mehr als 5.000 abhängig Beschäftigten zwei Fragen gestellt: »Was versteht Ihr unter guter Arbeit?« und: »Wie erlebt Ihr Eure Arbeit?« Die Kolleginnen und Kollegen haben auf die erste Frage so geantwortet: »Gute Arbeit« bedeutet nach ihrem Verständnis an erster Stelle ein festes, verlässliches Einkommen, mindestens 2000 € brutto im Monat, und ein unbefristeter, sicherer Arbeitsplatz. An zweiter Stelle wird die Qualität der Arbeit genannt. Die Arbeit soll abwechslungsreich sein und als sinnvoll erfahren werden. Die Beschäftigten wollen, wenn sie nach Hause gehen, stolz auf ihre Arbeit und deren Ergebnis sein. Die Arbeit soll sie selbstbewusst machen und aufrichten. Und an dritter Stelle richten sich hohe Erwartungen an die Vorgesetzten. Diese sollen die Kollegen als Menschen anerkennen und nicht als bloßen Kostenfaktor behandeln. Sie sollen sie vor allem nicht gegeneinander ausspielen und in ein sinnloses Leistungs- oder Rattenrennen hineintreiben. Erwartet wird, dass die Vorgesetzten sie fachlich und beruflich fördern, auch anerkennende Worte finden, wenn eine Arbeit gelungen ist. Wenn Kritik nötig ist, sollen sie diese in einer konst-

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ruktiven Form vorbringen. Sie sollen sich auch für private Probleme ihrer Untergebenen interessieren und ihr Mitgefühl äußern. Auf die zweite Frage: »Wie erlebt Ihr Eure tägliche Arbeit, wie sieht die Alltagsarbeit aus?« wurden folgende Antworten gegeben: Einerseits sind positive Erfahrungen und erfreuliche Seiten zu nennen. Die Zusammenarbeit, die Anerkennung und aufbauende Kritik der Kolleginnen und Kollegen würden eine wohltuende Atmosphäre und ein angenehmes Arbeitsklima schaffen. Die Arbeit werde auch als sinnvoll erfahren, am Arbeitsergebnis könne man ablesen, inwiefern die Anstrengungen sich lohnen, die sie auf sich genommen hätten. Sie würden bei der Arbeit auch durch Vorgesetzte unterstützt. Eine Minderheit kann gar behaupten, dass ihre Arbeit abwechslungsreich sei, dass sie die Arbeitsabläufe selbst mitsteuern und mitgestalten können, dass ihnen die Chance geboten werde, die eigenen Fähigkeiten weiterzuentwickeln, und dass auch Weiterbildung im Betrieb möglich sei. Anderseits wird auch von Schattenseiten berichtet: Jeder sechste der Vollzeitbeschäftigten verdient weniger als 1500 € brutto im Monat. Und jede Dritte der Teilzeitbeschäftigten erhält einen Lohn, der unter 400 € im Monat liegt. Bedrückend ist die Angst, dass sie den Arbeitsplatz verlieren und keine gleichwertige Stelle finden, nachdem sie arbeitslos geworden sind. Schwer belastend sind körperliche Anstrengungen, mehr noch die extrem einseitigen Beanspruchungen, etwa eine Arbeit unter hoher Dauerkonzentration, wobei nur eine extrem geringe Fehlertoleranz gegeben ist. In der Bilanz kommt die Studie zu einem überraschenden Ergebnis: Nur drei Prozent der abhängig Beschäftigten in Deutschland können gemäß der repräsentativen Stichprobe von sich sagen, dass ihr Arbeitsplatz das Merkmal »gute Arbeit« verdient. Der Saldo zwischen den angenehmen und belastenden Seiten ist positiv und/oder es wird ein Monatseinkommen erzielt, das höher ist als 2000 € brutto. 13 Prozent räumen ein, dass ihr Arbeitsplatz ausbaufähige Grundlagen bietet, Merkmale »guter Arbeit« zu gewinnen, sobald das Spektrum der Fehlbelastungen verringert wird. Immerhin sind ein existenzsicherndes Einkommen, die Möglichkeiten der Einflussnahme und Entwicklung sowie eine soziale Einbindung gegeben. Mehr als 84 Prozent behaup-

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ten, dass ein dunkler Schleier über ihrer Arbeit liegt, weil nämlich die belastenden Momente schwerer wiegen als die angenehmen Momente und/oder das Monatseinkommen brutto unter 2000 € liegt. Schlechte Arbeit ist kein Schicksal oder Naturereignis, sondern schlecht gemachte Arbeit. Von wem schlecht gemacht? Von denen, die über die Entscheidungsmacht im Unternehmen verfügen. Diese ist in einer kapitalistischen Wirtschaft denjenigen zugebilligt, die Eigentümer der Produktionsmittel sind und die sich, um diese Produktionsmittel rentabel zu verwerten, fremder Arbeit bedienen. Kann unter kapitalistischen und erst recht unter finanzkapitalistischen Verhältnissen der Wunsch nach guter Arbeit mehr als eine Illusion sein? Im zweiten Schritt soll das, was unter »kapitalistischen Verhältnissen« gemeint ist, näher erläutert werden.

2. F INANZK APITALISTISCHE V ERHÄLTNISSE Ordnungspolitische und sozialethische Kontroversen werden in Deutschland weithin mit einem normativen Bezug zur Formel der »Sozialen Marktwirtschaft« geführt. Die Debatte leidet unter vier Defiziten. Der Begriff ist erstens hinreichend vage, so dass er sich unterschiedlich auslegen lässt, je nachdem ob das ordoliberale Leitbild der Freiburger Schule unter Walter Eucken gemeint ist oder die zweite Stufe der sozialen Marktwirtschaft gemäß der Deutung von Alfred Müller-Armack oder eine aufgeklärte soziale Marktwirtschaft, wie Karl Schiller die Synthese aus Freiburger Imperativ und Keynesianischer Botschaft genannt hat, oder eine neue soziale Marktwirtschaft, für die der frühere Bundesbankpräsident Tietmeyer eintritt, oder ein sozial temperierter Kapitalismus, wie der Jesuit Oswald von Nell-Breuning die soziale Marktwirtschaft etikettiert hat. Zweitens wird die Lebenslage abhängiger Arbeit stark den Funktionsregeln des Marktes und Wettbewerbs unterworfen, ohne die Eigenart menschlicher Arbeit besonders zu würdigen. Drittens wird die ambivalente Rolle des Geldes als Tauschmittel und Wertspeicher unzulänglich gewertet. Und viertens werden die asymmetrischen Machtverhältnisse einer kapita-

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listischen Gesellschaft extrem schonend thematisiert oder ganz ausgeblendet.

2.1 Ökonomisches Funktionsgerüst Über den »Kapitalismus« lässt sich nicht wertfrei diskutieren. Deshalb ist die im Milieu der katholisch-kirchlichen Sozialverkündigung übliche Unterscheidung zwischen der kapitalistischen Produktionsweise, die nicht in sich schlecht sei, und den gesellschaftlichen Machtverhältnissen, die einer normativen Prüfung zu unterwerfen sind, nur begrenzt plausibel. Dennoch kann sie innerhalb enger methodischer Grenzen übernommen werden: Ein ökonomisches Funktionsgerüst besteht aus den Komponenten eines marktwirtschaftlichen Wettbewerbs, dem die optimale Allokation der Ressourcen zugewiesen ist, einer elastischen Geldversorgung, der die beispiellose Dynamik des Kapitalismus zu verdanken ist, die einer unzähligen Menge von Menschen einen steigenden Lebensstandard gewährleistet, einer kapitalintensiven Technik, die allerdings durch den unbedachten Griff in die »Sparbüchse« der Erde natürliche Ressourcen quasi zum Nulltarif beansprucht, und einer privatautonomen Organisationsform der Unternehmen. Der Vorwurf, durch den Abzug dieser ökonomisch-technischen Komponenten verblasse der Kapitalismus zu einem funktionsleeren Gehäuse, ist schwer zu entkräften. Eine solche Methodik verkennt nämlich die sozio-strukturellen und sozio-kulturellen Dimensionen dieser Wirtschaftsform, die ein kollektives Erzeugnis menschlichen Geistes, eine gesellschaftliche Institution, eine Kulturschöpfung, ein weltanschauliches Konstrukt, ein quasi-religiöser Mythos sind.

2.2 Gesellschaftliches Machtverhältnis Der Kapitalismus ist als Kulturschöpfung und weltanschauliches Konstrukt ein gesellschaftliches Machtverhältnis. Der Dualismus einer Minderheit, der die Produktionsmittel gehören bzw. die darüber verfügt, und einer Mehrheit, die von der Verfügung über Produktionsmittel bzw. dem Eigentum daran ausgeschlossen ist,

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strukturiert die Gesellschaft und bestimmt das primäre Machtgefälle, das sich in vier Asymmetrien verkörpert: Die Entscheidungskompetenz im Unternehmen bzw. im Betrieb liegt bei den Kapitaleignern. Diese Konstellation wirtschaftlicher Macht überträgt sich auf den Arbeitsvertrag und auf den Arbeitsmarkt. Auf den Gütermärkten gibt es in der Regel eine Schieflage der Organisationsmacht zwischen der Anbieter- bzw. Produzentenseite und der Nachfrage- bzw. Konsumentenseite. Und schließlich verfügt an der Nahtstelle von realwirtschaftlichem und monetärem Kreislauf das öffentlich-private Bankensystem über eine nahezu unbeschränkte Geld- und Kreditschöpfungsmacht. Dieser Dualismus gesellschaftlicher Macht ist allerdings ein strukturelles Grundmuster kapitalistischer Gesellschaften. Die real existierenden Wirtschafts- und Arbeitsgesellschaften formen dieses Grundmuster sehr unterschiedlich aus. Folglich lassen sich geschichtlich abweichende Formen des Kapitalismus identifizieren. So hat Michel Albert einen »Rheinischen Kapitalismus« von einem angelsächsischen Wirtschafts- und Finanzstil unterschieden. Alberts Unterscheidung soll als exemplarische Vorlage dazu dienen, einen »kooperativen Kapitalismus« analytisch präziser von einem »Finanzkapitalismus« abzugrenzen.

2.3 »Rheinischer Kapitalismus« Der Rheinische Kapitalismus ist nach dem Verständnis Michel Alberts durch vier Merkmale gekennzeichnet. Auffällig ist erstens die Synthese von wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und solidarischer Einbettung des Marktes in eine demokratische Gesellschaft und gemeinsame moralische Überzeugungen. Wohnungen, Nahverkehr, Medien, Rechtsberatung, Bildung und Gesundheit werden teilweise marktförmig, teilweise öffentlich bereitgestellt. Als politische Schaltstellen zwischen staatlichen Organen und der Zivilgesellschaft wirken die Interessenverbände wie etwa Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften oder Wohlfahrtsverbände. Als gesellschaftliche Katalysatoren schirmen sie die Wirtschaft gegen politische (Wahl-)Zyklen ab. Der Staat hat die Aufgabe, den Wettbewerb zu gewährleisten und zugunsten kleiner Unternehmen

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zu intervenieren. Der soziale Ausgleich kommt durch eine rigide Politik der Geldwertstabilität, durch eine progressive direkte Besteuerung und eine komfortable solidarische Sicherung zustande, die Beiträge gemäß der Leistungsfähigkeit einfordert und einen Hilfeanspruch gemäß der Notlage zusichert. Ein zweites Merkmal ist die tendenziell egalitäre Einkommens- und Vermögensverteilung aufgrund einer solidarischen, wenig ausdifferenzierten Tariflohnpolitik. Die Löhne steigen gemäß der Qualifikation und der Betriebszugehörigkeit, ohne die Aufstiegsmöglichkeiten der Mitarbeiter zu blockieren. Die Unternehmen gelten drittens als ein Zusammenschluss von Personen. Die Kompetenzen, Zuständigkeiten und Interessen von Managern, Aktionären, Banken, Betriebsräten und Gewerkschaften werden im Konsens ausbalanciert. Die Manager organisieren den Interessenausgleich zwischen Kunden, Belegschaften, Anteilseignern und Kommunen. Beschäftigte, Betriebsräte und Gewerkschaften im Aufsichtsrat sind an den unternehmerischen Entscheidungsprozessen beteiligt. Den Banken kommt viertens eine herausragende Stellung bei der Finanzierung und bei der Kontrolle der Unternehmen zu. Sie geben Kredite, entsenden Mitglieder in die Aufsichtsräte der Unternehmen, halten Beteiligungen an Industrieunternehmen und verfügen über das Depotstimmrecht.

2.4 Kooperativer Kapitalismus Michel Alberts Typisierung erschließt die Analyse zweier Kapitalismusprofile, in denen das Verhältnis derer, denen die Produktionsmittel gehören bzw. die darüber verfügen, zu denen, die ihr Arbeitsvermögen zur Verfügung stellen, näher thematisiert werden kann. Danach lässt sich auch die Frage beantworten, unter welchen kapitalistischen Verhältnissen gute Arbeit eine Chance hat, realisiert zu werden. Im kooperativen Unternehmer-Kapitalismus kommt der wirtschaftlichen Funktion und gesellschaftlichen Position des Unternehmers eine zentrale Rolle zu. Dessen Entscheidungsmacht im Unternehmen wird entweder aus dem Privateigentum an Produktionsmitteln und/oder aus der Managerfunktion her-

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geleitet. Sie ist zugleich durch demokratische Grundrechte der Belegschaften beschränkt. Die Eigentümer hoch leistungsfähiger, meist kleiner und mittlerer Unternehmen sind selbstständige Einzelunternehmer. Sie entsprechen dem von Joseph Schumpeter gezeichneten Typ des dynamischen Unternehmers. Dieser vermarktet innovative Produkte oder führt innovative Verfahren ein. Er vereint in einer Person die Funktion des Kapitaleigners und die Funktion dessen, der das Unternehmen leitet. Als Eigentümer bringt er sein Geldvermögen und die sachlichen Produktionsmittel, als erster Arbeiter sein Arbeitsvermögen in das Unternehmen ein. Und er verfügt nach eigenem Ermessen über die Anlagen, Gebäude und Materialien. Im »Unternehmerkapitalismus« sind die Eigentumsrechte an den Produktionsmitteln und die Verfügungsmacht über sie noch ungetrennt und in der Person des Unternehmers gebündelt. Allerdings bilden das individuelle Arbeitsrecht, die Tarifautonomie und die verfassungsfeste Sozialbindung des Privateigentums eine Schranke der individuellen Freiheitsrechte des Unternehmers. Sie garantieren, dass die Menschenwürde der abhängig Arbeitenden geachtet und ein gerechter Lohn ausgehandelt werden. Die für den »Managerkapitalismus« typische Unternehmensform ist die Publikumsgesellschaft. In ihr werden das Eigentumsrecht und die Verfügungsmacht über die Produktionsmittel unterschiedlichen Personengruppen zugewiesen. Die Verfügungsmacht über die Anlagen und Gebäude liegt bei den Managern, die keine Eigentümer sind. Die Rechte der Eigentümer bestehen darin, dass sie an der Gesellschafterversammlung und an der Bestellung der Aufsichtsrates teilnehmen sowie eine Dividende beziehen, deren Höhe sie nicht beeinflussen. Die Unternehmen gelten als ein Personenverband, die Manager sind gehalten, die Interessen derer, die sich im Unternehmen engagieren, beispielsweise der Anteilseigner und der Belegschaften, der Kredit gebenden Banken und der Kommunen, auszugleichen. Über das Unternehmen hinaus wird die Verteilung der Wertschöpfung durch die Sozialpartner und die staatlichen Organe ausgehandelt. In diesem Aushandlungs- und Verständigungsprozess sichert sich der Staat die Anteile an der Wertschöpfung, die notwendig sind, um die Realisierung der allgemeinen Interessen zu gewährleisten. Dem-

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gegenüber sind die Gestaltungsmöglichkeiten der Eigentümer von Produktionsmitteln in Bezug auf das Unternehmen und die Wirtschaftspolitik sowie auf die Verteilung der wirtschaftlichen Wertschöpfung stark beschnitten. Die Funktion und Position des Unternehmens sowie die Form der Unternehmenskontrolle sind ein gewichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Unternehmer- bzw. Managerkapitalismus einerseits und dem Finanzkapitalismus anderseits.

2.5 Finanzkapitalismus Der kooperative Kapitalismus ist die gesellschaftliche Reaktion auf die Ambivalenz des so genannten »freien Arbeitsvertrags«. Mit der Bauernbefreiung sollte das Oben und Unten der Feudalgesellschaft, in der die einen arbeiten und die anderen von fremder Arbeit leben, ein für allemal beseitigt werden. Die Klassifizierung der Menschen, je nachdem ob sie mit dem Kopf oder mit den Händen arbeiten, sollte ebenso wie die Herrschaft der Männer über die Frauen beendet sein. Vor allem sollten offene und verdeckte Sklaverei, die Leibeigenschaft und die Existenzform der Tagelöhner ein Ende haben. An die Stelle solcher Abhängigkeiten sollten die normativen Leitbilder der freien Wahl des Wohnortes und der Partnerschaft sowie des freien Arbeitsvertrags treten. Jeder Arbeitsfähige und Arbeitswillige sollte auf dem Markt als gleichrangiger Tauschpartner selbstbewusst und selbstbestimmt seine Arbeitskraft anbieten können – unter den Bedingungen, denen er zustimmte, und für ein Einkommen als Gegenleistung, das seinen Lebensunterhalt sicherte. Aber mit der Befreiung vom Joch der Leibeigenschaft war der Verlust der Existenzgrundlage verbunden. Ein großer Teil der Bevölkerung, die in die so genannte Freiheit entlassen wurde, verfügte über kein anderes Vermögen als das persönliche Arbeitsvermögen. Wer nichts anderes sein Eigen nannte, konnte im Unterschied zu denen, die das Eigentum über Grund und Boden behielten, nicht warten und war genötigt, seine Arbeitskraft auch zu den Bedingungen, die der Tauschpartner setzte, anzubieten, damit sein Lebensunterhalt gesichert blieb. Im Unterschied zum Vertragspartner, der nicht von seinem Grund und

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Boden befreit wurde, stand er unter Kontrahierungszwang. Wegen dieser Notwendigkeit unterlag er einem Zeitdruck, der eine ungleiche Verhandlungsposition erzeugte. Zwar unterstellt und respektiert die Institution des freien Arbeitsvertrags bis heute die zwanglose Zustimmung beider Parteien zum Vertragsabschluss. Aber wenn der Vertrag unter extrem ungleichen Ausgangs- und Verhandlungspositionen zustande kommt, ist mit der Freiheit der Zustimmung nicht die Gerechtigkeit des Vertragsergebnisses gewährleistet. Freie Arbeitsverträge unter ungleichen Verhandlungsbedingungen sind in der Regel strukturell ungleiche und vermutlich auch ungerechte Verträge. Unter finanzkapitalistischen Verhältnissen wird die Institution des freien Arbeitsvertrags in ein Zwangsverhältnis transformiert. Diese Behauptung soll im Folgenden begründet werden. Der Finanzkapitalismus lässt sich als eine diffuse Konstellation aus vier charakteristischen Merkmalen umschreiben: Erstens überwiegen die Märkte für Wertpapiere und Derivate, auf denen authentische Informationen gesendet und empfangen werden. Die Kreditvergabe der Banken und die Ausstattung von Unternehmen mit Investitionskapital tritt gegenüber der Finanzierung von Fusionen oder einer freundlichen bzw. feindlichen Übernahme von Unternehmen als Kapitalanlage in den Hintergrund. Zweitens bestimmen institutionelle Anleger – Großbanken, Versicherungskonzerne, Investmentgesellschaften, Finanzinvestoren – das Marktgeschehen. Drittens spielen doktrinäre Leitbilder oder Mythen eine beherrschende Rolle. Der Selbststeuerung der Märkte wird beispielsweise eine reinigende und heilsame Kraft zugewiesen. Die Kursbewegungen, so wird erklärt, spiegeln authentische Informationen über gegenwärtige und zukünftige Risiken. Die Unternehmen seien in erster Linie als Kapitalanlage der Anteilseigner zu verstehen, deren Interessen die Manager ausschließlich zu bedienen hätten. Unter den imaginären Referenzwerten ragt der »shareholder value« heraus. Diese selektive Finanzkennziffer bildet den Gegenwartswert saldierter zukünftiger Zahlungsströme des Unternehmens ab, gibt Auskunft über dessen Vermögenswert und spiegelt sich im Börsenkurs des Unternehmens. Sie hat frühere Maßstäbe des Unternehmenserfolgs verdrängt, die im Unternehmer- bzw. Managerkapitalismus in Geltung waren. Vier-

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tens hat die monetäre Sphäre die Tendenz, sich mehr und mehr von der realwirtschaftlichen Sphäre abzulösen. Zwei Wellen einer extremen Expansion des Finanzkapitalismus lassen sich identifizieren. Zum einen ist 1973 mit der Aufkündigung des Bretton-Woods-Währungssystems eine dreißig Jahre währende Epoche relativer Finanzstabilität beendet worden. Diese Stabilität war durch das System fester, anpassungsfähiger Wechselkurse garantiert. Gleichzeitig konnten auftretende Zahlungsbilanzdefizite der Länder kurzfristig durch Kredite des Internationalen Währungsfonds überbrückt werden. Mit der Flexibilisierung der Wechselkurse war eine drastische Abwertung des US-Dollars verbunden. Um die abwertungsbedingten Einkommensverluste auszugleichen, setzten die Öl exportierenden Länder eine massive Erhöhung des Rohölpreises durch. In der Folge sind riesige grenzüberschreitende Einkommensströme bewegt worden. Die gleichzeitig auftretenden Wechselkursschwankungen mussten privat abgesichert werden. Um solche Risiken abzusichern, haben international operierende Finanzunternehmen ihre Dienste angeboten. So haben sich grenzüberschreitende Finanzgeschäfte explosiv vermehrt. Eine zweite Welle der Expansion lässt sich in der Mitte der 1990er Jahre verorten. Junge Unternehmer, die über eine hohe informationstechnische Kompetenz verfügten, kündigten eine Revolution an, die in der Lage war, nicht bloß Handfertigkeiten oder Muskelkraft von Menschen durch technische Systeme zu ersetzen, sondern menschliche Intelligenz selbst. Die »neue Wirtschaft« (New Economy) löste zuerst in den USA und danach weltweit eine Dynamik aus, die alle bisherigen ökonomischen Regeln außer Kraft zu setzen schien. Da die konventionellen Geschäftsbanken sich reserviert verhielten und ihnen Investitionskredite häufig verwehrten, präsentierten sie ihre Visionen den börsennotierten Kapitaleignern, die bereit waren, ihnen das benötigte Kapital zur Verfügung zu stellen. Die imaginäre Selbstdarstellung der jungen Unternehmer und das großzügige Vertrauen der Kapitaleigner haben eine von den Börsenkursen getriebene realwirtschaftliche Belebung angestoßen, die bis zum Platzen der spekulativen Blase im Jahr 2000 währte. Danach scheint der Fi-

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nanzkapitalismus mit dem Auftreten von Finanzinvestoren auch in Deutschland angekommen zu sein.

2.6 Die Rolle des Staates In der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise wird, da die Zauberwelt des überschuldeten Finanzkapitalismus zusammen gefallen ist, der Staat herbeigerufen, das Kartenhaus zu retten. Aber der real existierende Staat ist nicht die Rettung aus dem Finanzkapitalismus, sondern dessen Bestandteil. Mehrere Gesetze, die beschlossen wurden, um die Erosion des kooperativen Kapitalismus voranzutreiben, dienten nämlich dazu, sowohl die Arbeitsverhältnisse als auch das herkömmliche Finanzregime zu entregeln. In Deutschland beispielsweise wurden seit der Jahrtausendwende die solidarischen Sicherungssysteme systematisch deformiert. Das Niveau eines angemessenen Lebensstandards wurde tendenziell auf ein sozio-kulturelles Existenzminimum abgesenkt. Das Eintreten gesellschaftlicher Risiken erklärte man durch individuelles Fehlverhalten. Die solidarischen, umlagefinanzierten Sicherungssysteme wurden daraufhin tendenziell abgeschmolzen, private kapitalgedeckte Formen der Vorsorge propagiert. Gesetze zur Befristung und Leiharbeit, zur prekären Beschäftigung und Lockerung des Kündigungsschutzes sowie Vorbehalte gegen den Flächentarifvertrag haben die Arbeitsverhältnisse sozial entsichert. Die asymmetrische Steuerpolitik hat die Schere der Verteilung von Gewinn- und Lohneinkommen sowie der Vermögen zunehmend geöffnet. Dieser Entregelung der Arbeitsverhältnisse entsprach spiegelbildlich eine Entregelung der monetären Sphäre. Während der zweiten Legislaturperiode der rot-grünen Koalition wurden im Rahmen eines Finanzmarktförderungsplans verschiedene Gesetze in der Absicht verabschiedet, den deutschen Kapitalmarkt für eine verstärkte private und betriebliche Altersvorsorge vorzubereiten, den Finanzstandort Deutschland wettbewerbsfähig zu machen, den Anlegerschutz zu verbessern und die EU-Richtlinien zur Harmonisierung der europäischen Finanzmarktgesetzgebung umzusetzen. Diese Gesetze haben unter anderem die Beschränkungen des Börsenhandels gelockert, innovative Finanzdienste

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und Akteure einschließlich der Hedgefonds sowie den Derivatehandel zugelassen, Zweckgesellschaften für Kreditverbriefungen von der Gewerbesteuer befreit und die Gewinne der Banken aus dem Verkauf der Industriebeteiligungen für steuerfrei erklärt. Die große Koalition war nach dem Regierungswechsel bemüht, innovative Finanzdienste und Vertriebswege zu fördern sowie Kapitalbeteiligungsgesellschaften steuerlich privilegiert zu behandeln. Zwar ist von diesen gesetzlichen Veränderungen in Deutschland kein direkter Einfluss auf die aktuelle Finanzkrise ausgegangen, die durch die spekulative Immobilienblase und deren Zerplatzen ausgelöst worden ist. Denn die Anzahl der in Deutschland gegründeten Hedgefonds, deren öffentlich gehandelten Anteile nur als Dachfonds zugelassen waren, war relativ gering. Außerdem waren sie vergleichsweise streng reguliert. Das gleiche gilt für die in Deutschland gegründeten Zweckgesellschaften zur Kreditverbriefung. Aber durch diese Hinweise ist die Vermutung nicht widerlegt, dass die staatlichen Organe in Deutschland dem öffentlichen Meinungsdruck, der angloamerikanische Finanzstil sei dem kontinental-europäischen Finanzstil überlegen, zu wenig Widerstand entgegen gesetzt haben.

3. D EMOKR ATISCHE A NEIGNUNG DES F INANZK APITALISMUS Die Rekonstruktion politischer Gegenmacht, die unter dem Druck der Finanzmärkte und Finanzunternehmen massiv beeinträchtigt wurde, ist in drei Richtungen fällig. Erstens ist eine Umkehrung der Verteilungstrends der Arbeits- und Kapitaleinkommen dringlich. Zweitens sollten die Belegschaften und öffentlichen Organe die Geschäftspolitik der Finanzunternehmen wirksam mitbestimmen. Und drittens ist ein beschäftigungspolitisches MakroRegime fällig.

3.1 Faire Verteilung der Wertschöpfung Die Institutionen der Primärverteilung sind im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts entwertet und desavouiert worden. Die

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Schutzregeln des individuellen Arbeitsrechts sollten gelockert, die Tarifbindung zur Disposition gestellt und die Arbeitsmärkte von Verkrustungen befreit werden. Deshalb geht es nun darum, die rechtlichen und politischen Schranken gegen eine Vermarktung der menschlichen Arbeit zu festigen. Gegen die Ansicht vieler Ökonomen, dass die Arbeit wie andere Güter auch den Gesetzen von Angebot und Nachfrage zu gehorchen hätte, sprechen zwei Gründe: Erstens ist die Arbeit etwas Persönliches. Sie kann nicht vom Subjekt der Arbeit getrennt werden. Der Arbeitgeber ist auch nicht an einer isolierten Arbeitsleistung interessiert, die er auf Knopfdruck abruft, sondern an einem vielseitig verwendbaren Arbeitsvermögen. Folglich muss sich der Arbeitende selbst einem fremden Willen unterwerfen, damit sein Arbeitsvermögen rentabel genutzt werden kann. Zweitens ist die Arbeit etwas Notwendiges. Die Arbeitnehmerin hat nichts anderes als das Arbeitsvermögen anzubieten, um durch dessen Verkauf den Lebensunterhalt zu erwerben. Im Unterschied zum Kapitaleigner, der über noch andere Ressourcen verfügt, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, stehen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter Kontrahierungszwang. Eine erste Schranke ist das individuelle Arbeitsrecht, das den Arbeitnehmer gegen Willkür und wirtschaftliche Ausbeutung durch den Arbeitgeber schützen soll. Die zweite Schranke ist der Tarifvertrag. Er korrigiert durch den solidarischen Zusammenschluss der abhängig Beschäftigten die ungleiche Verhandlungsposition, die der einzelne Arbeitnehmer dem Arbeitgeber gegenüber hat und ermöglicht Vereinbarungen »auf gleicher Augenhöhe«. Insbesondere der Flächentarifvertrag soll gewährleisten, dass die Solidarität der abhängig Beschäftigten eine halbwegs paritätische Verhandlungsmacht der Tarifparteien herstellt, so dass die Chance besteht, dass im Ergebnis Arbeitslöhne erzielt werden, die als gerecht gelten können. Die Arbeitersolidarität, die sehr heterogene Interessengruppen umfasst, begünstigt relativ die weniger konfliktfähigen Gruppen, während sie den konfliktfähigen Gruppen eine größere Rücksichtnahme auf die Schwächeren und folglich höhere »Solidaritätskosten« abverlangt. Die Folge einer solchen Kosten/Nutzen-Asymmetrie ist eine tendenziell egalisierende Verteilung der Primäreinkommen, die den So-

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zialstaat entlastet, der sonst verpflichtet wäre, die Schieflage der Primärverteilung durch eine öffentliche Sekundärverteilung zu korrigieren. Eine solche egalisierende Wirkung ist eher von zentralen Tarifsystemen zu erwarten, weil dort gesamtwirtschaftliche Rücksichten eine größere Rolle spielen, als wenn die Tarifverhandlungen auf einer regionalen oder auf der betrieblichen Ebene stattfinden. Eine dritte Schranke gegen die Vermarktung der Arbeit wird durch die solidarische Absicherung jener Risiken errichtet, die mit der Lebenslage abhängiger Arbeit verbunden sind: Arbeitslosigkeit, Berufskrankheiten und Altersarmut. Diese Risiken sind nicht durch das Fehlverhalten der Individuen, sondern durch gesellschaftliche Verhältnisse verursacht. Die Risiken, die durch persönliches Versagen entstehen, können der privaten Vorsorge überlassen werden. Die Erwartung einer solidarischen Absicherung gegen die besonderen Risiken abhängiger Erwerbsarbeit ermöglicht den Arbeitern und Arbeiterinnen einen aufrechten Gang im Büro oder in der Fabrik, er stärkt ihnen den Rücken, wenn sie auf dem demokratischen Grundrecht gegenüber privaten oder öffentlichen Arbeitgebern bestehen, nicht jede angebotene Arbeit annehmen zu müssen. In den Tarifverhandlungen wird über die Verteilung der kollektiv hergestellten Güter entschieden. Einschlussweise entscheiden die Tarifpartner jedoch auch darüber, welche gesellschaftlich notwendige Arbeit der Marktsteuerung zugewiesen und welche der Privatsphäre überlassen bleibt. Sie regeln, nach welchen Kriterien einzelne Arbeitsleistungen, etwa handwerkliche oder organisatorische Arbeitsprofile, bewertet, nach welchen Kriterien sie entgolten werden und welche geschlechtsspezifischen Differenzierungen im arbeitsteiligen Produktionsprozess zu dulden sind. Welche Maßstäbe gewährleisen eine gerechte Lohnfindung? Eine gängige Meinung geht davon aus, dass Expertenwissen oder fachliche Qualifikationen zu einer sozialen Stellung im Beruf führen, der ein verdientes Einkommen entspricht. So ließen sich die Ungleichheiten der Einkommensverteilung durch Gründe rechtfertigen, die in persönlichen Leistungen, etwa in der Mobilisierung natürlicher Talente oder Energiepotentiale verankert sind. Dagegen definieren normative Optionen den gerechten Lohn so, dass dieser dem persönlichen oder familiären Bedarf entspricht, wenn-

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gleich das Konzept eines Familienlohns oft an die Vorstellung eines Ein-Ernährer-Haushalts gekoppelt ist. Wirtschaftsexperten meinen indessen, dass gesamtwirtschaftliche Lohnsteigerungen in dem Ausmaß vertretbar seien, als sie kostenneutral blieben. Dies wäre der Fall, wenn sie die Produktivitätsrate einschließlich der Zielinflationsrate der Zentralbank nicht überstiegen. Meist jedoch spielt die unterstellte Einkommensverwendung – die Lohneinkommen fließen in den Konsum, die Gewinneinkommen dienen der Investition – als Verteilungsregel eine zentrale Rolle. Aber warum sollten die konsumorientierten Löhne der Arbeiter nicht um einen Betrag aufgestockt werden, der für investive Zwecke verfügbar bleibt? Eine nicht-kapitalistische Verteilung der unternehmerischen Wertschöpfung, die jene betriebswirtschaftliche Logik, die von den Interessen der Kapitaleigner diktiert wird, außer Kraft setzt, wird durch die folgende Tabelle veranschaulicht und die anschließende Reflexion erläutert. Unternehmerische Wertschöpfung Quellen

Verteilung

Empfänger

Verteilungsregel

Arbeitsvermögen

Lohn/Gehalt

Mitarbeitende

Kosten = min!

Naturvermögen

Umweltabgaben

Natürliche Umwelt

Kosten = min!

Gesellschaftsv.

Steuern/ Beiträge

Staat

Kosten = min!

Anteilseigner

Gewinn = max!

Geldvermögen Zinsen Reingewinn

Die unternehmerische oder volkswirtschaftliche Wertschöpfung – das sind die Faktoreinkommen oder die bewerteten Güter – entsteht durch den Einsatz von vier typisierten Ressourcen, nämlich das Arbeits-, Natur- Gesellschafts- und Geldvermögen. Deren Nutzung wird in Form von Löhnen und Gehältern, von Umweltabgaben, von Steuern und Beiträgen sowie von Zinsen (auf Eigen- bzw.

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Fremdkapital) entgolten. Die kollektiven Empfänger der Entgelte sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die natürliche Umwelt, der Staat und die Anteilseigner bzw. Gläubiger. Gemäß der Verteilungsregel einer kapitalistischen Marktwirtschaft, die durch das primäre Machtgefälle von Kapital und abhängiger Arbeit bestimmt ist, werden drei Faktoren als Kosten definiert und mit einem möglichst niedrigen Entgelt abgefunden, während der verbleibende Überschuss (Reingewinn) als das eigentliche Unternehmensziel definiert und folglich den Kapitaleignern zugewiesen wird. Die Machtverhältnisse einer pluralen Klassengesellschaft bestimmen die Einkommensanteile der abhängig Beschäftigten, des Staates und der Gesellschaft sowie der natürlichen Umwelt an der wirtschaftlichen Wertschöpfung. Die asymmetrische Machtposition der Kapitaleigner im Finanzkapitalismus erzeugt ein kumulatives Systemrisiko. Eine nicht-kapitalistische Verteilungsregel berücksichtigt die fairen Ansprüche der vier Ressourcen, die gemeinsam die unternehmerische Wertschöpfung erwirtschaftet haben.

3.2 Beteiligung an der wirtschaftlichen Entscheidungsmacht Die Beteiligung an der Entscheidungsmacht im kapitalistischen Unternehmen wird auf zwei Wegen angestrebt – indirekt auf dem Weg einer breiten Streuung des Produktivvermögens und direkt auf dem Weg einer wirksamen Mitbestimmung an den betrieblichen und unternehmerischen Entscheidungsprozessen. Dem Anspruch abhängig Beschäftigter, am Zuwachs des Produktivvermögens angemessen beteiligt zu werden, liegt die Erwartung zugrunde, dass man durch den Kauf von Anteilspapieren Eigentumsrechte am eigenen oder an fremden Unternehmen erwerben und in der Position von Anteilseignern die laufende Geschäftspolitik sowie die langfristigen Investitionsentscheidungen beeinflussen könne. In der politischen Öffentlichkeit wird das Thema einer breiten Streuung des Produktivvermögens regelmäßig thematisiert, als dringlich anerkannt und dann schnell wieder vergessen. Dabei ist es für eine demokratische Aneignung des Kapitalismus aus drei Gründen zentral. Die Kapitalausstattung pro Beschäftigtem ist in der deutschen Wirtschaft im internationalen

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Vergleich überdurchschnittlich hoch. Der Anteil der Kapitaleinkommen am gesamten Volkseinkommen steigt tendenziell, während der Anteil der Arbeitseinkommen am gesamten Volkseinkommen tendenziell sinkt. Die Ungleichheit der Verteilung des Produktivvermögens ist noch größer als die beim Nettovermögen oder beim Volkseinkommen. Das Privateigentumsrecht der Anteilseigner widerspricht dem Anspruch der Arbeitnehmer am Produktivvermögen nicht. Denn erstens ist das Recht auf Privateigentum kein absolutes Recht. Es ist der allgemeinen Zweckbestimmung der Güter der Erde für alle, die auf diesem Planeten leben, untergeordnet. Und zweitens sind beim Eigentumsrecht zwei Eigentumsformen zu unterscheiden. Das persönliche Eigentum an Gebrauchsgütern, die durch eigene Arbeit erworben oder als Geschenke übertragen werden, ist als ein Grundrecht anerkannt. Über persönliche Einkommen und Vermögen dürfen Menschen zu Recht wie über ein privates Gut nach eigenem Ermessen verfügen. Das Eigentum an Produktionsmitteln dagegen kann nur unter Einsatz fremder Arbeitskraft produktiv eingesetzt und gewinnbringend vermehrt werden. Folglich ist die durch den Einsatz von Arbeit und Kapital gemeinsam erwirtschaftete Wertschöpfung kein ausschließliches privates Gut der Aktionäre, sondern Eigentum aller, die sich im Unternehmen auf unterschiedliche Weise engagieren. Wenn den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der ihnen zukommende Teil der Wertschöpfung entrissen und einseitig auf die Konten der Aktionäre und Spitzenmanager überwiesen wird, widerspricht dies einer demokratischen Aneignung des Kapitalismus. Bei den üblichen Vorschlägen zum Investivlohn steht offensichtlich das Anliegen einer ausgewogenen Vermögensverteilung im Vordergrund, nicht die Beteiligung an der Entscheidungsmacht im Betrieb und Unternehmen. Deshalb fragen diejenigen, die eine demokratische Aneignung des Kapitalismus anstreben, ob sie den Umweg einer Vermögensbeteiligung überhaupt gehen und nicht vielmehr den direkten Weg der Mitbestimmung an unternehmerischen Entscheidungen wählen sollen – und zwar nicht auf Grund von Vermögenstiteln, sondern unmittelbar auf den Titel hin, dass sie die eigene Arbeitskraft dem Unternehmen zur Verfügung stellen. Dieser Weg ist ansatzweise in

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der Betriebsverfassung beschritten worden. Die Betriebsräte, die zur vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Unternehmensleitung verpflichtet sind, haben Informations-, Mitwirkungs- und Mitentscheidungsrechte, die im Detail fest liegen. In den Unternehmen der Montanindustrie ist seit 1952 eine paritätische Mitbestimmung der abhängig Beschäftigten verankert. Diese ist allerdings vom Mitbestimmungsgesetz 1976 nicht übernommen worden. In den Unternehmen, die einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat haben, hat der Vorsitzende, der von der Seite der Anteilseigner bestellt wird, einen Stichentscheid. Sonst steht den Arbeitnehmervertretern ein Drittel der Aufsichtsratsmandate zu. Im aktuellen Meinungsstreit wird die unternehmerische Mitbestimmung als Standortnachteil verdächtigt. Arbeitgebervertreter sehen darin gar einen »Irrtum der Geschichte«. Sie kann jedoch auch als die einladende Variante eines demokratisch angeeigneten Kapitalismus begriffen werden.

3.3 Beschäftigungspolitisches Makro-Regime In den vergangenen dreißig Jahren hat ein wirtschaftspolitischer Mikroblick das wissenschaftliche und politische Denken bestimmt. Gesellschaftliche Risiken wurden den Individuen als Verursachern zugerechnet. Die betriebswirtschaftliche Logik wurde unbesehen auf die Gesamtwirtschaft übertragen und fast alle öffentlichen Einrichtungen – Schulen, Universitäten, Kindergärten und Krankenhäuser – wurden kommerziellen Spielregeln unterworfen. Eine demokratische Aneignung des Finanzkapitalismus misslingt, wenn die politischen Entscheidungsträger sich der Konversion zu einem wirtschaftspolitischen Makroregime verweigern, das vier Komponenten, nämlich die Geld-, Fiskal- und Einkommenspolitik sowie die Politik außenwirtschaftlicher Absicherung aufeinander abstimmt. Geld ist das zentrale Steuerungsmedium der Wirtschaft. Deshalb sollte das von der Zentralbank bereitgestellte Geld die ihm zugewiesenen Funktionen, insbesondere die des Wertspeichers, erfüllen. Weil diese Funktionen sowohl durch inflationäre als auch durch deflationäre Tendenzen bedroht sind, besteht die Kunst der Geldpolitik darin, beide Tendenzen zu unterbinden. Außerdem sollte die Geldpolitik einen Beitrag zu Wachs-

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tum und Beschäftigung leisten. Sie sollte nicht zu restriktiv wirken, nicht dann schon Inflationsrisiken wittern, wenn diese noch nahezu ausgeschlossen sind. Die Zentralbank ist allerdings auf kooperative Partner angewiesen, in erster Linie auf die Lohnpolitik. Diese entlastet die Stabilitätspolitik der Zentralbank, indem die Lohnerhöhungen an der trendmäßigen Produktivitätsrate plus der Zielinflationsrate der Zentralbank orientiert bleiben. Auch die Lohnpolitik kann in zweifacher Richtung dysfunktional sein und gegen das Ziel der Geldwertstabilität verstoßen, nämlich dann, wenn die Lohnsteigerungen deutlich unter der Stabilitätsnorm bleiben und deflationäre Prozesse auslösen, aber ebenso, wenn überhöhte Lohnforderungen die Zentralbank herausfordern, eine restriktive Geldpolitik zu betreiben und in der Folge Arbeitslosigkeit zu verursachen. Entregelte und flexible Arbeitsmärkte schaffen keine zusätzliche Beschäftigung, sobald sie inflationäre oder deflationäre Turbulenzen verursachen. Gerade betriebsbezogene Lohnabschlüsse, die einer rein betriebswirtschaftlichen Logik folgen, können in Krisenzeiten deflationäre Tendenzen anstoßen. Die Fiskalpolitik sollte antizyklisch angelegt sein. Auf der Einnahmenseite sind konjunkturelle Schwankungen zuzulassen, auf der Ausgabenseite die öffentlichen Investitionen zu verstetigen. Da Budgetsalden aus Marktprozessen resultieren, sind Obergrenzen strukturneutraler Budgetdefizite dysfunktional. Zyklusübergreifend sollten die laufenden Ausgaben den laufenden Einnahmen entsprechen. Kreditfinanzierte Investitionen sind unbedenklich, solange sie Einnahmen erzeugen. Außenwirtschaftliche Einflüsse können die Geldpolitik umso mehr disziplinieren, je schwächer die Währung eines Landes ist. Diese Gefahr bestand nicht für die D-Mark und besteht nicht für den Euro. Ein struktureller Leistungsbilanzüberschuss, den Deutschland sich über Jahre hinweg leistet, erzeugt Beschäftigungsprobleme in anderen Ländern, denen ein Leistungsbilanzdefizit zugemutet wird. Bis in die jüngste Zeit werden politische Appelle an die Bevölkerung gerichtet, »dass wir über unserer Verhältnisse gelebt hätten und unseren Gürtel enger schnallen müssten«. Tatsächlich lebt die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland unter ihren Verhältnissen. Bei mindestens einem Drittel klafft eine Lücke zwischen den materiellen Gütern, die sie haben, und denen, die sie

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sich wünschen. Aber auch diejenigen, deren materielle Güterausstattung halbwegs ausreicht, haben zahlreiche »vitale« Bedürfnisse, die nicht befriedigt sind – ein eigenständiges Leben zu führen in gelingenden Partnerschaften auch mit Kindern, im Einklang mit der natürlichen Umwelt zu leben, souverän über die eigene Zeit zu verfügen, wie viel der Erwerbsarbeit gewidmet wird und wie viel der Privatsphäre reserviert bleibt. Neben den privaten, nicht befriedigten vitalen Bedürfnissen gibt es eine Menge unerledigter öffentlicher Aufgaben. Derzeit verfallen öffentliche Einrichtungen, weil angeblich die Finanzmittel fehlen, sie zu unterhalten. Bibliotheken, Schwimmbäder, Straßen, die Infrastruktur der Kanalisation verrotten. Kinderfreundliche Städte bleiben ein Wunschtraum von Architekten und Stadtplanern. Gleichzeitig wird das Arbeitsvermögen, die kostbarste Ressource einer Wirtschaft, verschlissen, statt es zu kultivieren und zu veredeln. Um den Lebensstandard und die Lebensqualität der Menschen zu erhöhen, sind eine Steigerung der Wertschöpfung und ein Mehr an Erwerbsarbeit nötig. Die Zukunft der Arbeit ist nicht ihr Ende bzw. ihre Ablösung durch ein Grundeinkommen. Auf absehbare Zeit bleibt die gesellschaftlich organisierte Arbeit für alle, die erwerbstätig sein wollen und können, der Schlüssel gesellschaftlicher Integration. Reife Industrieländer werden zusätzliche Märkte und Beschäftigungsfelder durch einen ehrgeizigen ökologischen Umbau der Wirtschaft, insbesondere der herkömmlichen Verkehrssysteme und der Energiegewinnung, erschließen. Aber an der Schwelle zum »Zeitalter des Arbeitsvermögens« kommen verstärkt die »Arbeiten an den Menschen«, also personennahe Dienste in den Blick. Diese haben unverwechselbare, mit den Industriegütern nicht vergleichbare Merkmale: Diejenigen, die sie in Anspruch nehmen, und diejenigen, die sie anbieten, müssen kooperieren und voneinander lernen. Nur so lassen sich die Ergebnisse personennaher Dienste, etwa ein aufrechter Gang, eine eigenständige Lebensführung oder eine Änderung des Lebensstils erreichen. Die Wertschöpfung personennaher Dienste ist von der Kaufkraft derer, die sie nachfragen, von einem gesellschaftlich festgestellten Bedarf oder von der Kompetenz derer, die sie anbieten, abhängig. Die politisch Verantwortlichen sollten den wachsenden gesellschaftlichen Stellenwert personennaher Diens-

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te »honorieren« und die notwendigen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen dafür schaffen, diese Dienste zu professionalisieren sowie angemessen in den Wertschöpfungskreislauf zu integrieren. Während in der industriellen Konsumgesellschaft die Kompetenzen des »Wiegens, Zählens, Messens« gefragt waren, werden in der kulturellen Dienstleistungsgesellschaft die Kompetenzen des »Helfens, Heilens, Pflegens, Beratens, Begleitens und Spielens« vorrangig. Die Beteiligung an der Erwerbsarbeit ist jedoch nicht der einzige Schlüssel gesellschaftlicher Integration und auch nicht die einzige beschäftigungspolitische Zielmarke. Neben der Erwerbsarbeit sind die private Beziehungsarbeit und das zivilgesellschaftliche Engagement gleich wichtig und gleichrangig. Die ausschließliche Fixierung der Gesellschaft auf die Erwerbsarbeit ist krankhaft. Da Frauen gleichgestellte und autonome Lebensund Erwerbschancen für sich beanspruchen, ist es angemessen, dass Männer die überdehnte Identifizierung mit der Erwerbsarbeit relativieren und den ihnen zukommenden Teil an privater Erziehungsarbeit übernehmen. Darin könnten sie einen Gewinn an Lebensqualität entdecken. Folglich ist die öffentliche Debatte über die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Kindererziehung, die ausschließlich an die Frauen adressiert wird, ohne dass die Männer sich davon berühren lassen, fehlgeleitet. Die drei gleich notwendigen und nützlichen Arbeitsformen – die Erwerbsarbeit, die private Betreuungsarbeit und das zivilgesellschaftliches Engagement – sollten fair auf die beiden Geschlechter verteilt werden. Die finanzielle Absicherung könnte zum einen durch Arbeitsund Kapitaleinkommen, zum andern durch Transfereinkommen erfolgen. Gesellschaftliche Anerkennung bedarf nämlich einer monetären Ausdrucksform oder der Garantie eines zusätzlichen Gewinns an frei verfügbarer Zeit. Eltern sollte ein Recht auf eine Ganztagsbetreuung der Kinder, die das erste Lebensjahr erreicht haben, eingeräumt werden. Sie sollten auch das Recht auf Teilzeitarbeit haben – ohne drastische Einkommensverluste. Und Väter sollten verpflichtet werden, einen angemessenen Anteil an Elternzeit, die nicht auf die Frau übertragbar ist, in Anspruch zu nehmen. Gute Arbeit ist weder unter finanzkapitalistischen noch unter patriarchalen Verhältnissen vorstellbar. Anderseits ist die

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demokratische Aneignung des Finanzkapitalismus auch mit einer rigorosen Trennung vom patriarchalen Kapitalismus verbunden. Die sozialen Initiativen, die sich für »gute Arbeit« einsetzen, stehen zeitweilig unter dem Verdacht, sie würden mit Appellen an die Gesinnung wirtschaftlicher und politischer Eliten eine Wertedebatte anstoßen. Eine solche Vermutung trifft jedoch wohl nur dann zu, wenn hinter dem Leitbild gelingender Arbeit die zwei Dimensionen eines allgemeinen Grundrechts auf gute Arbeit und einer Aufhebung finanzkapitalistischer Machtverhältnisse verblassen würde. Es bleibt zu hoffen, dass eine solche Blickverengung nicht der Fall ist.

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Talkrunde 5 Clara Schlichtenberger

Teilnehmer: Kai Dröge, Friedhelm Hengsbach, Helmut Schäfer Dröge eröffnete die fünfte Talkrunde mit zwei Fragen an Hengsbach:wie Hengsbach sich eine demokratische Aneignung des Finanzkapitalismus vorstelle und – auch wenn eine leistungsgerechte Entlohnung ein großer Mythos sei – so schnell darauf verzichtet werden solle, diese einzufordern. Hengsbach erwiderte, schon bei Thomas von Aquin hätte es die Vorstellung gegeben, dass der Markt ganz unabhängig von der Arbeitsleistung den Preis bestimme. Die Arbeitsrechtler heute sprächen von einer Richtigkeitsgewähr, wenn unter paritätischen Bedingungen, also auf gleicher Augenhöhe über Lohn und Arbeitsverhältnisse verhandelt werde und schließlich ein Abschluss zustande käme. Je stärker flächendeckende Tarifverträge wirksam waren, umso eher war die Einkommens- und Vermögensverteilung tendenziell ausgewogen. Dies beträfe aber lediglich das Verhältnis von Lohn- und Kapitalanteilen. Die Anteile der gesellschaftlichen Vorleistungen, die das Unternehmen in Anspruch nimmt – also der unentgeltlichen Familien- und Hausarbeitsanteile – würden dabei nicht berücksichtigt. Die herkömmliche Definition von Leistung sei konventions- oder machtbestimmt. Dröge fragte nach dem Verbleib der normativen Ressourcen, wenn wir die Frage stellten, wie wir arbeiten wollen. Die Fragmentierung und Globalisierung der Arbeitswelt habe die Gesellschaft

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C L ARA S CHLICHTENBERGER

so verändert, dass »Gegenmacht«-Instrumente wie Gewerkschaften nicht mehr genügen würden. Hengsbach erwiderte, dass die Betriebsräte Unterstützung bräuchten, z.B. durch Verbraucherschutzorganisationen. Die hätten entsprechende Macht, indem sie das Konsumentenverhalten beeinflussten. Auch wäre »Attac« ein gutes Beispiel für eine »Gegenmacht«, da die Organisation, obwohl sie zwischenzeitlich als ein wenig müde gelte, großen Anteil an der monetären Alphabetisierung der Bevölkerung geleistet und die Finanzkrise intellektuell vorweg genommen hätte. Schäfer erinnerte an Rudolf Hilferdings Analysen zum Verhältnis von Staat und Unternehmen und den auch von Hengsbach angeführten Rheinischen Kapitalismus, der Unternehmen beschreibt, die für ihre Produkte da sind und sich nicht als Appendix eines großen Finanzsystems verstehen. Auf Dröges Hinweis, dass es sich ebenfalls um einen Mythos handele, Arbeit als identitätskonstitutiv darzustellen, erwiderte Schäfer, dass es bei der Frage »wie wollen wir arbeiten« gefährlich sei, Arbeit mit einem Freiheits- wie Individuationsprinzip zu überfrachten. Das, was mit dem Begriff »Individuum« benannt würde, wäre eine Krisengeburt des 18. Jahrhunderts, die aus den ungeheueren Gegensatz von Feudalismus und der darunter liegenden Realität entstanden wäre. Das »Subjekt« wäre dadurch überfrachtet worden. Er plädiere für eine Entkopplung der Begriffe Arbeit und Freiheit bei dem derzeitigen Ist-Zustand der Gesellschaft. Die Verkopplung wäre nur sinnvoll in Zusammenhang mit mehr (finanzierter) freier Zeit.

Lebhafte Diskussionen in den szenografierten Räumen der DASA (hier: Energiehalle)

Strategische Personalentwicklung und demographischer Wandel 1 Ursula M. Staudinger

Das Thema der Entwicklungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer wird in der betrieblichen Diskussion bis heute weitgehend ausgeklammert. Modelle, die sich mit den Anforderungen des demographischen Wandels auseinandersetzen, sind selten zu finden. Der vorliegende Beitrag stellt einen wertschöpfenden strategischen Ansatz zur Personalentwicklung vor, der darauf ausgerichtet ist, bei der Entwicklung des Humanvermögens das gesamte Führungspersonal eines Unternehmens einzubeziehen.

H INTERGRUND Die demographische Entwicklung in den westlichen Ländern ist geprägt durch eine stark erhöhte durchschnittliche Lebenserwartung und verringerte Geburtenraten: Immer mehr Menschen werden immer älter, gleichzeitig werden immer weniger Menschen geboren. Diese demographischen Entwicklungen bedeuten Veränderungen für den Einzelnen, den Staat und die Unternehmen. Die in Deutschland verfügbare Arbeitnehmerschaft wird sich verringern und ihr Durchschnittsalter wird sich erhöhen. Der berufliche Nachwuchs, vor allem der qualifizierte, wird zunehmend 1 | Erstmals erschienen in: Jahrbuch Personalentwicklung 2008. Ausbildung, Weiterbildung, Management Development. Köln 2007.

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ausbleiben. Im Jahr 2020 werden fast vierzig Prozent der arbeitenden Bevölkerung zwischen 50 und mindestens 65 Jahren alt sein.2 Viele Firmen spüren bereits den Mangel an jungen, qualifizierten Fachkräften, und dieses Problem wird sich in Zukunft noch verschärfen. Die demographische Entwicklung ist aber nur ein Aspekt. Wir leben gleichzeitig in einer Wissensgesellschaft, die durch eine immer schnellere Erneuerung des Wissens gekennzeichnet ist. Die Halbwertzeit von Wissen wird immer kürzer bei einer immer älter werdenden Arbeitnehmerschaft. In der Folge wird das Thema des lebenslangen Lernens für Unternehmen zunehmend wichtiger. Trotz dieser Faktenlage ist es gegenwärtig so, dass nach neuesten OECD-Daten von 2006 die Beschäftigungsquote der 55bis 64jährigen in Deutschland nur bei 45 Prozent liegt, wohingegen in Ländern, die wesentlich weniger Probleme mit der Bevölkerungsschrumpfung haben, wie etwa Schweden, die Schweiz und Dänemark, die Quoten zwischen 60 und 70 Prozent liegen. In einer interessanten Modellrechnung ist man der Frage nachgegangen, wie viel Wertschöpfung der deutschen Volkswirtschaft durch die geringe Beteiligung der 55- bis 64jährigen entgeht. Geht man davon aus, dass nur 25 Prozent der 55- bis 64jährigen mit nur halber Produktivität wieder erwerbstätig würden, so entspräche dies einer Steigerung des Brutto-Inland-Produktes von einem Prozent.3 Seitens der OECD wurde für Deutschland auch ein klares Risikomuster identifiziert, das dieser niedrigen Erwerbsbeteiligung zugrunde zu liegen scheint: 1. das Senioritätsprinzip in der Gehaltsstruktur (r = -.62), 2. die niedrige Trainingspartizipation Älterer: Gegenwärtig liegt Deutschland im hinteren Mittelfeld der EU, wenn es um die

2 | Vgl. IAB Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Projektion des Arbeitskäftebedarfs bis 2020. IAB Kurzbericht, 12, 2004. 3 | Vgl. Funk, L./Seyda, S.: Beschäftigungschancen für ältere Arbeitnehmer - Ein Ländervergleich. In: Prager, J.U./ Schleiter, A.: Länger leben, arbeiten und sich engagieren. Gütersloh 2006, S. 15-50.

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Beteiligung an Qualifizierungsprozessen im Arbeitsleben geht 4 , 3. die Ausgestaltung des Rentenbezugs und der Arbeitslosenunterstützung. Vor diesem Hintergrund scheint es an der Zeit, sich auch in deutschen Betrieben ausführlicher und konsequenter als bisher mit dem sog. Aging-Workforce-Management zu beschäftigen,5 um für das Unternehmen im Zuge des demographischen Wandels Wettbewerbsvorteile zu sichern.6

W ECHSELWIRKUNGEN Z WISCHEN I NDIVIDUUM UND I NSTITUTION Bevor jedoch auf eine diese Fragen behandelnde strategische Personalentwicklung eingegangen wird, ist es notwendig, sich mit dem systemischen Entwicklungsmodell vertraut zu machen, das sich mit der wechselseitigen Beeinflussung der Entwicklung von Individuum und Institution beschäftigt (vgl. Abb. 1). In dessen Zentrum steht der einzelne, sich entwickelnde und lernende Mensch. Schon für den Umgang mit dem Individuum müssen jedoch zumindest zwei Untersysteme berücksichtigt werden: • der Mensch als biologisches Wesen, • der Mensch als psychisches Wesen (Denken, Fühlen, Wollen).

4 | Vgl. Schömann, K./Siarov, L.: Lifelong learning redefined. Benchmarking Working Europe, 4, 2006, S. 66-77. 5 | Vgl. Leibold, M./Voelpel, S.: Managing the aging workforce: Challenges and solutions. New York: Wiley 2006. 6 | Vgl. Voelpel, S./Streb, C.: Wettbewerbsfähigkeit im Demographischen Wandel: Vom Risiko zur Chance. Personalwirtschaft, 33, 8, 2006, S. 24-27; Han, Z./Voelpel, S: Knowledge sharing in China: Reflection about Siemens’ experiences with ShareNet. Journal of Asian Business, 23(1), 2007, S. 123-143.

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Abbildung 1: Ein systemischer Blick auf lebenslange Entwicklung und Lernen

Des Weiteren ist dieses Individuum eingebettet in eine Reihe von anderen wichtigen Einflusssystemen, die einbezogen werden müssen, wenn Lernen und Entwicklung erfolgreich sein sollen. Diese Systeme sind: • • • • •

Bildung, Beruf/Unternehmen, Familie, Freizeit, gesellschaftliche Rahmenbedingungen.7

Aufgrund dieses systemischen Ansatzes ist es für die Umsetzung der strategischen Personalentwicklung zunächst zentral, sich mit den neuesten Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie und der Neurowissenschaften hinsichtlich der Stärken und Schwächen Älterer vertraut zu machen. Deren Erkenntnisse lassen keinen Zweifel daran, dass der

7 | Vgl. Staudinger, U. M./Kühler, L.: Das Ende der geistigen Frührente. Personalwirtschaft, 2, 2006, S. 10-13.

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Mensch, wenn er nicht ausgeprägten pathologischen Prozessen unterworfen ist, bis ins hohe Alter hinein lernen kann.8

W AS KÖNNEN ÄLTERE B ESCHÄF TIGTE ? In der geistigen Entwicklung lassen sich zwei Komponenten unterscheiden, zum einen die Mechanik und zum anderen die Pragmatik: • Die Mechanik umfasst geistige Leistungen, die in engem Zusammenhang stehen mit der Grundarchitektur des Gehirns und stark biologisch bedingt sind, wie etwa die Schnelligkeit der Verarbeitung neuer Informationen oder die Kontrolle des Ablaufs von Verarbeitungsprozessen von neuer Information. Sie zeigt einen abfallenden Verlauf schon ab etwa 25 Jahren. • Die Pragmatik dagegen, die das im Laufe des Lebens erworbene Wissen umfasst, zeigt einen ansteigenden Verlauf bis etwa 55 oder 60 Jahre und danach Stabilität. Nur im sehr hohen Alter, also etwa ab 85 Jahren können auch hier Abbauprozesse beobachtet werden. Mechanik und Pragmatik stehen in einer kompensatorischen Beziehung zueinander, so dass die Abbauprozesse in der Mechanik im normalen Alltagsgeschehen bis ins junge Alter kaum in Erscheinung treten. Allerdings verändern sich die Lernprozesse mit dem Alter, sie werden langsamer und die Motivation für die Aufnahme der neuen Information muss stark ausgeprägt sein. Gleichzeitig muss man sich darüber im Klaren sein, dass das chronologische Alter mit wachsendem Alter immer weniger hilfreich ist, wenn es um die Vorhersage der geistigen Leistungsfähigkeit

8 | Baltes, P.B./Lindenberger, U./Staudinger, U.M.: Lifespan theory in developmental psychology. In: R.M. Lerner (Hg.), Handbook of Child Psychology. 6. Auflage, Nr. 1, 2006.

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einer Person geht9; schließlich zeigt die geistige Entwicklung eine enorme Plastizität. Die kognitive Trainingsforschung hat vielfach nachgewiesen, dass die Verluste in der Mechanik des Geistes durch entsprechende Trainingsprogramme ausgeglichen werden können.10 Dies ist ein wichtiger Hinweis für die Gestaltung von Arbeitsplätzen: Je mehr Arbeitsanforderungen uns immer wieder mit neuen kognitiven Aufgaben konfrontieren und aus der Routine herausholen, umso besser sind sie geeignet, dem Abbau in der Mechanik entgegenzuwirken. Neueste Befunde zeigen, dass die Erhöhung von aerobischer Fitness in Zusammenhang mit einer Verbesserung der Leistungen in der Mechanik des Geistes steht.11 Mit anderen Worten: Ausdauersport hilft nicht nur beim Stressabbau, sondern auch dem Denken auf die Sprünge.12

B EDEUTUNG KONTE X TUELLER A NREIZSYSTEME Was die Entwicklung der Motivlagen angeht, so zeigt die Forschung, dass unsere Strebungen auch immer Spiegelungen ge-

9 | Staudinger, U.M./Baumert, J.: Bildung und Lernen jenseits der 50: Realität und Plastizität. In: Max Planck Gesellschaft (Hg.), Die Zukunft des Alters. München 2007. S. 240-257. 10 | Baltes, P.B./Kliegl. R.: Further testing of limits of cognitive plasticity: Negative age differences in a mnemonic skill are robust. In: Developmental Psychology, 28, 1992, S. 121-125. 11 | Vgl. Colcombe, S.J./Kramer, A.F.: Fitness effects on the cognitive function of older adults: a meta-analytic study. Psychological Science, 14(2), 2003. S. 30-125. 12 | Vgl. Voelcker-Rehage, C./Godde, B.: Dem Geist auf die Sprünge helfen (Body and mind). Personalwirtschaft, 2, 2006, S. 25-27; Voelcker-Rehage, C./Godde, B./Staudinger, U.M.: Bewegung, körperliche und geistige Mobilität im Alter. Bundesgesundheitsblatt, 6, 2006, S. 558-566.

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sellschaftlicher und anderer kontextueller Anreizsysteme sind.13 Gegenwärtig beispielsweise kommt der Beruf bei den 55- bis 65jährigen in den ersten vier Bereichen des Investments von Energie nicht vor.14 Dies ist aber nicht der Fall, weil es naturgesetzlich so ist, sondern weil beispielsweise seit den späten 1970er Jahren die Frühruhestandsregelung gesetzlich gefördert wurde. Ebenso stellt man bei den älteren Kohorten fest, dass die Offenheit für neue Erfahrungen und auch die Flexibilität zurückgehen.15 Auch hier liegt die Vermutung nahe, dass dies in Zusammenhang mit der gegenwärtigen Strukturierung des Lebenslaufs zu sehen ist: Wir sind mit zunehmendem Alter immer weniger gefordert, uns in neue Kontexte zu begeben und zeigen auch immer weniger spontane Tendenz dies zu tun. Es ist allerdings unklar, wie sich die Persönlichkeitsentwicklung verändern würde, wenn wir auch im mittleren und höheren Alter noch gefordert wären, uns regelmäßig mit neuen Kontexten auseinanderzusetzen. Es gibt erste Hinweise aus einer interventiven Längsschnittstudie, die dafür sprechen, dass die Offenheit für Neues nicht nur keinen Abbau, sondern sogar Zuwachs zeigen könnte.16

B ILDUNG FÜR ÄLTERE M ITARBEITER Die Betrachtung der Stärken und Schwächen älterer Beschäftigter ist nur ein Aspekt, der auf die Entwicklung Einfluss nimmt. Hinzukommen muss die entsprechende Qualität der Bildungs-

13 | Vgl. z.B. Staudinger, U.M.: Weisheit, Lebens- und Selbsteinsicht. In: Weber, H./ Rammseyer, T. (Hg.): Handbuch der Psychologie. Göttingen 2005. S. 342-349. 14 | Vgl. Staudinger, U.M./Schindler, I.: Produktivität im Alter. In: R. Oerter/L. Montada (Hg.), Entwicklungspsychologie. 5. Aufl. Weinheim 2002. S. 982-995. 15 | Vgl. z.B. Staudinger 2005. 16 | Vgl. z.B. Mühlig-Versen, A./Staudinger, U.M.: Personality change in later adulthood: The role of learning and activitation. 2007.

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einrichtungen für Erwachsene. Hier ist es nicht allein mit Geld getan.17 Vier Aufgaben sind zentral: 1. Es muss ein flächendeckendes Modell der Qualitätskontrolle in der Erwachsenenbildungetabliert werden. 2. Es muss eine übersichtlichere Form der Organisation und des Zugangs zu Angeboten an Weiterbildung gefunden werden. 3. Es muss ein Modell zur Finanzierung des erhöhten Bedarfes an Weiterbildung entwickelt werden. Dazu hat 2004 eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung eingesetzte Expertenkommission einen Abschlussbericht vorgelegt, der sehr praktikable Vorschläge unterbreitet.18 4. Die Erwachsenenbildung muss wissenschaftlich besser erschlossen werden. Es fehlt an systematischem und empirisch abgesichertem Wissen über adäquate altersdifferenzierte Didaktik. Das Berufsbild des Erwachsenenbildners muss weiter professionalisiert werden. Die Lösung dieser vier Aufgaben hängt großenteils davon ab, ob passende politische Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dennoch stehen Unternehmen schon heute Lösungsansätze zur Verfügung, deren konsequente Umsetzung den Ertrag aus Investitionen in die Weiterbildung Älterer deutlich steigern kann. Von grundlegender Bedeutung ist die sorgfältige Entwicklung von Anreizstrukturen für Weiterbildung und Qualifizierung aller Altersgruppen von Beschäftigten. Hier spielt das Unternehmensklima eine zentrale Rolle. Ängste vor Lernversagen können durch den Einsatz adäquater Lernformen und den Abbau des negativen Altersstereotyps bei den Betroffenen behoben werden.19 Die Befun17 | Vgl. Faulstich, P.: Ressourcen der allgemeinen Weiterbildung in Deutschland. Bielefeld 2004. 18 | Expertenkommission Finanzierung lebenslangen Lernens. Schlussbericht. Bielefeld 2004. 19 | Vgl. Staudinger, U.M.: Die Zukunft des Alterns und das Bildungssystem. In: S. Pohlmann (Hg.), Der demografische Imperativ. Von der Internationalen Sozialpolitik zu einem nationalen Aktionsplan. Hannover 2003. S. 65-81.

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de verweisen aber auch darauf, dass wir in der Grundausbildung darauf achten müssen, dass die nachwachsenden Kohorten mit dem Verständnis aufwachsen, dass das Lernen nicht mit dem ersten Bildungsabschluss ad acta gelegt werden kann, sondern uns ein Leben lang begleitet.

S TR ATEGISCHER A NSAT Z ZUR P ERSONALENT WICKLUNG Am Jacobs Center wurde ein wertschöpfender strategischer Ansatz zur Personalentwicklung konzipiert20, der darauf ausgerichtet ist, Fragen der Entwicklung des Humanvermögens eines Unternehmens nicht primär auf die jeweilige Personalabteilung begrenzt zu sehen, sondern das gesamte Führungspersonal eines Unternehmens einzubeziehen. In dem Maße, in dem der einzelne Mitarbeiter aufgrund eines schrumpfenden Arbeitsmarktes noch wertvoller wird, und gleichzeitig der bisher klassische Verlauf, das gesamte Berufsleben in einem Tätigkeitsbereich zu verbringen, sich immer weiter marginalisiert, wird es nötig, sich auf die Entwicklungsmöglichkeiten aller Mitarbeiter und nicht nur des so genannten Führungsnachwuchses zu konzentrieren. Abbildung 2: Die fünf zentralen Komponenten der strategischen Personalentwicklung

20 | Vgl. Staudinger, U.M.: Konsequenzen des demographischen Wandels für betriebliche Handlungsfelder: Eine interdisziplinäre Perspektive. Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (Zfbf), 58, 2006, S. 537-560.

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Dieser Ansatz einer strategischen Personalentwicklung umfasst fünf zentrale Komponenten (vgl. Abb. 2), die im Folgenden ausführlicher dargestellt werden.

K OMPE TENZMANAGEMENT Das Kompetenzmanagement ist das Herzstück der strategischen Personalentwicklung und auch des Umgehens mit alternden Belegschaften. Es besteht selbst wiederum aus vier verschiedenen Aspekten: 1. Kompetenzentwicklung und Weiterbildung, 2. regelmäßige Diagnostik, 3. Abstimmung von Kompetenz- und Arbeitsplatzprofilen, 4. Flexibilisierung von Karrieren. Die Neuerung liegt hier in der Dynamisierung: Nicht nur bei der Einstellung eines Mitarbeiters lohnt es sich, Aufwand in Form von Assessment-Center etc. zu treiben und dann die Person der Stelle zuzuordnen in dem Glauben, dass sich beides statisch verhält. Das Gegenteil ist der Fall. Sowohl der neue Mitarbeiter als auch die Stelle verändern sich, sind also dynamisch. Es ist deshalb im Interesse der Produktivitätsoptimierung des Unternehmens unerlässlich, sich in regelmäßigen Abständen systematisch und nicht über den Weg des Selbst- oder Vorgesetztenberichts der Kompetenzen von Mitarbeitern zu versichern21 und sich auch immer wieder Klarheit über die aktuellen Anforderungsprofile des jeweiligen Arbeitsplatzes zu verschaffen. Beim Mitarbeiter können neue Kompetenzen hinzugekommen, genauso wie einmal vorhandene Kompetenzen verblasst oder veraltet sein. Diese Dynamisierung sollte sich auch in regelmäßigen Laufbahngesprächen mit Mitarbeitern niederschlagen, die von vorneherein die körperlichen und psychischen Belastungen des jeweiligen Arbeitsplatzes in Rechnung stellen und deshalb begrenzte 21 | Vgl. z.B. Rosenstiel, L.v./Pieler, D./Glas, P.: Strategisches Kompetenzmanagement. Wiesbaden 2004.

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Verweildauern vorsehen.22 Lateraler Stellenwechsel kann hier eine Lösung sein, wenn durch Qualifizierungsmaßnahmen rechtzeitig auf den Wechsel vorbereitet wird. Auf diese Weise ist der Gesundheitsschutz des Mitarbeiters verbessert und die Arbeitskraft bleibt dem Unternehmen in optimaler Weise erhalten.

G ESTALTUNG DER W EITERBILDUNG Für die konkrete Gestaltung des lebenslangen Lernens ist eine unternehmensinterne Bestandsaufnahme essenziell.23 Ihr Ziel ist die Abstimmung der Weiterbildung auf die Bildungserfordernisse unterschiedlicher Altersgruppen. Dabei bestimmen sich die Bildungserfordernisse nicht allein anhand von Arbeitsanforderungen, sondern auch an der Lernkompetenz unterschiedlicher Altersgruppen. Erhöhte Zielgruppenausrichtung senkt die Streuverluste und erhöht die Kosteneffizienz. Umgekehrt trägt eine Weiterbildung, die an der Zielgruppe vorbeigeht, kaum zur Produktivitätssteigerung bei. Hinzukommt, dass steigender Weiterbildungsdruck bei gleich bleibendem Weiterbildungsangebot als Zurücksetzung erlebt werden kann – mit all den negativen Folgen, die dies für Arbeitsmotivation und Produktivität hat. In nicht wenigen Fällen kommt es zur Erhöhung der Fehltage. Kernelemente einer Bestandsaufnahme sind die Erfassung von Lern- und Altersklima sowie der Lernkompetenzprofile der Beschäftigten. Auf dieser Basis lassen sich verschiedene Lerntypen ermitteln, die – analog dem Konzept der »Jobfamilies« – in angemessenen Lernzielgruppen zusammengebracht werden können. Transparent werden die Ursachen geringer Lernmotivation, die sich an der Oberfläche in vergleichbaren Symptomen zeigen, aber unterschiedlicher Wege der Förderung bedürfen. Zugleich wird die Lernförderlichkeit des Unternehmensklimas messbar

22 | Vgl. Schömann, K.: Renaissance des Mitarbeitergesprächs. Personalwirtschaft, 2, 2006, S. 22-24. 23 | Vgl. Roßnagel, C./Voelpel, S.: Qualifizierung älterer Mitarbeiter: Keine Einheitsweiterbildung. Persorama, 31, 2007. S. 24-29.

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und es lassen sich Strategien ableiten, Defizite in dieser Hinsicht abzubauen. Bei der formalen Gestaltung der Weiterbildung sollte berücksichtigt werden, dass Ältere nicht auf Vorrat lernen. Dementsprechend sollten Handlungs- und Praxisorientierung des Wissens im Vordergrund stehen. Selbstgesteuertes Lernen eignet sich für Ältere oft besser als organisationsgeleitetes Lernen, beide Lernformen sollten deswegen angeboten und durch entsprechende Lernressourcen (Fachbibiliothek, computerbasierte Trainings etc.) unterstützt werden. Als besonders ergiebig erweisen sich in diesem Zusammenhang inhaltsübergreifende Veranstaltungen zum Thema »Lernen lernen«, die sich gut für altersgemischte Gruppen eignen und wegen ihrer »Inhaltsfreiheit« Berührungsängste vor bestimmten Lernstoffen, sowie vor dem Lernen zusammen mit Jüngeren abbauen. Ein integriertes Kompetenzmanagement identifiziert die für das Unternehmen notwendigen Kompetenzen, entwickelt diese, hält sie für das Unternehmen verfügbar oder beschafft sie von außen. Ein altersgerechtes Kompetenzmanagement berücksichtigt zudem das Alter und den aktuellen Wissensstand der Mitarbeiter und kalkuliert langfristig planend die sich durch den demographischen Wandel für das Unternehmen verändernden Rahmenbedingungen. Ein integriertes altersgerechtes Kompetenzmanagement wird dabei aufgrund seiner Komplexität mit moderner Informationstechnologie bewerkstelligt, die ihrerseits im Anwenderbereich altersgerecht gestaltet sein sollte.24

A LTER ALS D IMENSION DES D IVERSIT Y M ANAGEMENT Diversity Management ist seit geraumer Zeit eine wichtige Komponente in der Managementstrategie von Unternehmen.25 Bisher hat sich die Aufmerksamkeit dabei auf Geschlecht und Volkszuge24 | Vgl. Voelpel, S./Arnold, H.: Jedes Alter hat seine Kompetenz. Personalwirtschaft, 33, 1, 2006, S. 14-17. 25 | Vgl. z.B. Aretz, H.-J.: Diversity und Diversity Management im Unternehmen: eine Analyse aus systemtheoretischer Sicht, Münster 2001.

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hörigkeit konzentriert. Das hier vorgestellte Konzept von Diversity Management schlägt nun vor, auch die Diversität der Mitarbeiter hinsichtlich des Alters ernst zu nehmen und für die Optimierung der Produktivität des Unternehmens einzusetzen. Ein wichtiges Tool ist hier die Altershetero- oder -homogenität von Arbeitsgruppen. Es gibt auf diesem Gebiet leider noch zu wenige systematische Studien26, aber erste empirische Befunde deuten darauf hin, dass alt-jung gemischte Teams dann gut funktionieren, wenn die Aufgabe beiden Altersgruppen die Möglichkeit zum Einsatz ihrer speziellen Expertisen gibt oder wenn die junge von der älteren Person lernen kann.27 Hingegen werden altersgemischte Teams eher weniger erfolgreich sein bei Aufgaben, die durchgängig nur die Stärken der einen Gruppe erfordern. Der Erfolg und das Überleben von Unternehmen hängen zentral von der Steigerung der Produktivität ab, und diese beruht wiederum maßgeblich auf dem Grad der Innovationskraft eines Unternehmens. Nach landläufiger Vorstellung ist sie mit alternder Mitarbeiterschaft gefährdet. Es ist also von Interesse, die Beziehung zwischen Innovationskraft und Durchschnittsalter der Mitarbeiter besser zu verstehen.28 Einen Beitrag hierzu soll das am Jacobs Center durchgeführte Projekt »The Effects of the Aging Workforce on the Innovation Process: A Large-Scale Study of Technology Intensive Companies« geben.29 Dabei wird insbesondere die Auswirkung der Altersheterogenität oder -homogenität von Arbeitsgruppen auf die Generierung von Ideen und Entwicklungen, sowie die Umset26 | Vgl. Mannix, E./Neale, M. A.: What differences make a difference? Psychological Science in the Public Interest, 6(2), 2005, S. 31-55. 27 | Vgl. z.B. Kessler, E.-M./Staudinger, U. M.: Intergenerational potential: Effects of social interaction between older adults and adolescents. Psychology and Aging. Im Druck. 28 | Vgl. Voelpel/Leibold 2006. 29 | Vgl. Voelpel, S./Van der Vegt, G.: The Effects of the Aging Workforce on the Innovation Process: A Large-Scale Study of Technology Intensive Companies, VolkswagenStiftungsantrag bewilligt im Programm »Gesellschaftliche und kulturelle Herausforderungen Innovationsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft«. 2006.

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zung solcher Innovationen untersucht. Besonderes Augenmerk wird auf die differenzierte Betrachtung der Zusammenhänge von Team-Altersprofil und verschiedener Arten von Innovation (z.B. radikal vs. inkrementell) gelegt.

E RFAHRUNGS - UND W ISSENSMANAGEMENT Vielfach herrscht bei Personalvorständen und Arbeitsdirektoren die Meinung vor, wir bräuchten uns wegen des bewährten Instruments des Frühruhestandes um alternde Belegschaften keine Sorgen zu machen. Nicht selten erleben solche Firmen dann, dass sie durch diese viel gelobte Regelung die Erfahrungsbestände ganzer Generationen verloren haben. Auch nicht selten führt dies dann zu mehr oder weniger erfolgreichen Rückholaktionen früherer Mitarbeiter. Zu solchem Erfahrungswissen gehören auch persönliche Netzwerke und Wissen über Arbeits- und Entscheidungsprozesse. Für die betroffenen Unternehmen stellt dies eine echte Bedrohung ihrer Produktivität dar. Besonders mittelständische Unternehmen sind von dieser Entwicklung betroffen. Mögliche Methoden für Wissenserhalt und Erfahrungstransfer, die auch schon praktiziert werden, sind beispielsweise: • Job-Rotation, • Tandembildung zwischen älteren und jüngeren Arbeitnehmern, • phasenweiser Übergang in den Ruhestand, • Bildung von Alumni-Netzwerken anstelle des »Rentnerkaffeekreises«. Ein bei Siemens entwickeltes Wissensmanagement-Instrument ist das Leaving Expert Debriefing (LXD), mit dessen Hilfe nach dem Austritt oder Arbeitsplatzwechsel eines Experten Effektivität und Ergebnisqualität in seinem Arbeitsumfeld gesichert werden sollen.30 30 | Vgl. Voelpel, S./Leibold, M./Früchtenicht, J.-D.: Herausforderung 50 plus: Konzepte zum Management der Aging Workforce: Die Antwort

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G ESUNDHEITSMANAGEMENT Modernes Gesundheitsmanagement setzt am Individuum genauso wie am Arbeitskontext an. Es geht darum, dem Einzelnen die Bedeutung und die Konsequenzen eines gesunden Lebensstils zu vermitteln und diesen auch im Unternehmen zu exerzieren (z.B. gesunde Ernährung in der Kantine, Anregung zu Bewegung und Entspannung). Jahrzehntelange Forschung im Bereich der Gesundheitspsychologie hat gezeigt, dass sowohl die Entstehung als aber auch genauso das Aufrechterhalten von Gesundheitsverhalten hohe Komplexität aufweisen.31 Auf Seiten der Entstehung von Gesundheitsverhalten hat sich gezeigt, dass die persönliche Risikowahrnehmung eine wichtige Rolle spielt, und seitens der Aufrechterhaltung ist die Antizipation von Schwierigkeiten und das Vorhalten von Alternativen bei der Umsetzung von Gesundheitsverhalten eine wichtige Einflussgröße. Ebenso zählen aber auch Maßnahmen wie Arbeitsplatzgestaltung und Job-Rotation zu einem erfolgreichen und nachhaltigen Gesundheitsmanagement. In Abstimmung mit dem Kompetenzmanagement gilt es, die langfristig gesundheitsschädlichen Effekte bestimmter Arbeitsplätze zu minimieren oder ganz zu vermeiden. Es gibt viele »weiche« und »harte« Gründe, als Unternehmen Gesundheitsprävention zu betreiben, wie beispielsweise die Reduktion von Krankheitstagen. Neueste Befunde zeigen zudem eine enge Beziehung zwischen Ausdauertraining wie Nordic Walking, Fahrradfahren oder Schwimmen und kognitiver Leistungsfähigkeit. Wenn ältere Personen drei Monate lang an einer solchen Ausdauerintervention teilnehmen, haben sie große Zugewinne in verschiedensten Aspekten der kognitiven Leistungs-

auf das demographische Dilemma. Erlangen, New York 2007. S. 127168. 31 | Vgl. Renner, B./Schwarzer, R.: Social-cognitive factors in health behavior change. In: J. Suls/K. Wallston (Hg.): Social psychological foundations of health and illness. Oxford 2003, S. 169-196.

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fähigkeit.32 Der letzte Aufschluss über die vermittelnden Prozesse steht noch aus, man kann aber davon ausgehen, dass es sich nicht nur um Effekte aufgrund erhöhter Gehirndurchblutung handelt, sondern es auch zur Neubildung von Neuronen und Verknüpfungen kommt. In den letzten fünf Jahren wurde sehr viel in das Gesundheitsmanagement investiert und es können inzwischen eine ganze Reihe von Unternehmen auf Best Practices verweisen.33 Solche Best Practices werden beispielsweise im WISE Demographie Netzwerk des Jacobs Centers zwischen den Partnerunternehmen ausgetauscht und so einer breiteren Implementierung zugeführt.

U NTERNEHMENSKLIMA Als letzte Komponente eines dynamischen Personalmanagements kann die Bedeutung des Unternehmensklimas in Bereichen wie Lernen, Altersbild, Kommunikation oder Gesundheit gar nicht hoch genug angesetzt werden.34 Ältere Arbeitnehmer dürfen in einem Unternehmen nicht als Belastung angesehen, vielmehr muss ihnen zugetraut werden, weiterzulernen und auch innovationsfähig zu sein.35 In einer ersten Studie mit Unternehmen konnte man am Jacobs Center feststellen, dass ältere Mitarbeiter in Unternehmen, in denen ein eher negatives Altersbild vorherrscht, signifikant niedrigere Produktivität und weniger Selbstregulation berichten als ältere Mitarbeiter aus Unternehmen mit weniger negativem

32 | Vgl. Kramer, A.F./Hahn, S./Cohen, N.J./Banich, M.T./McAuley, E./ Harrison, C. R., et al.: Aging, fitness and neurocognitive function. Nature, 400, 1999, S. 418-419. 33 | Vgl. z.B. Voelpel u.a., Herausforderung 50 plus, 2007. 34 | Vgl. z.B. Schein, E.H.: Culture: The missing concept in organization studies. Administrative Science Quarterly, 41, 1996, S. 229-240. 35 | Vgl. Butler, R.N.: Ageism: Another form of bigotry. Gerontologist, 9, 1969, S. 243-252.

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»Altersklima«.36 Neben dem »Altersklima« spielt auch die Lernkultur eine zentrale Rolle.37 Wenn Fehlermachen zum Erfolg dazugehört und dadurch auch das Lernen, um nicht den gleichen Fehler zweimal zu machen, dann hat lebenslanges Lernen eine Chance. Ebenso spielt es eine Rolle, mit welchem Gesundheitsklima ein Unternehmen ausgestattet ist. Die positive Wahrnehmung des Gesundheitsklimas beeinflusst beispielsweise das Gesundheitsverhalten der Beschäftigten sowie die Arbeitszufriedenheit signifikant positiv.38 Schließlich spielt auch das Kommunikationsklima eine wichtige Rolle. Wenn in einem Unternehmen der Austausch von Wissen und Erfahrung nicht selbstverständlich ist, sondern jeder sorgsam sein Wissen hütet, weil Wissen ja Macht ist, dann erzeugt dies »unsichtbare« Probleme beim Wissensund Erfahrungsmanagement. Um ganzheitliche Lösungen und Instrumente der strategischen Personalentwicklung zu generieren, führt das Jacobs Center gegenwärtig das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt »Auswirkungen von Passung/Nichtpassung zwischen Aspekten des Human- und Sozialvermögens, der Unternehmensstrategie und der Arbeitsorganisation auf die körperliche und psychische Gesundheit von Arbeitnehmern« durch.39 In dieser Studie werden gemeinsam mit mehreren Partnerunternehmen die Komponenten des strategischen Personalma36 | Vgl. Staudinger, U M./Godde, B., Kunzmann, U./Renner, B./Rossnagel, C./Schömann, K., et al.: Auswirkungen von Passung/Nichtpassung zwischen Aspekten des Human- und Sozialvermögens, der Untermehmensstrategie und der Arbeitsorganisation auf körperliche und psychische Gesundheit am Arbeitsplatz. Forschungsantrag an das BMBF. Bremen: Jacobs University 2006. 37 | Vgl. z.B. Sonntag, K./Stegmaier, R./Schaper, N./Friebe, J.: Dem Lernen auf der Spur: Operationalisierung von Lernkultur. Zeitschrift für Unterrichtswissenschaft, 32, 2004, S. 104-127. 38 | Vgl. Ribisi, K. M./Reischl, T.: Measuring the climate for health at organizations. Journal of Occupational Medicine, 35, 1993, S. 812-824. 39 | Vgl. Staudinger u.a., Auswirkungen von Passunf/Nichtpassung, 2006.

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nagements weiter ausdifferenziert und auf Praktikabilität geprüft. Neue Erkenntnisse sind insbesondere auch aufgrund der ausgeprägten Interdisziplinärität der Arbeitsgruppe zu erwarten. Die Arbeitsgruppe umfasst ganz im Sinne des systemischen Zugangs des Jacobs Centers (vgl. Abb. 1) die • • • • •

Neuro- und Bewegungswissenschaft, Erwachsenenentwicklung, Gesundheits- und Persönlichkeitspsychologie, Soziologie und Ökonomie, Betriebswirtschaftslehre.

A USBLICK Für den erfolgreichen Umgang mit dem demographischen Wandel im betrieblichen Kontext müssen wir sukzessive Abschied nehmen von dem überholten Lebenszeitstrukturmodell, das davon ausgeht, dass der Mensch am Anfang des Lebens lernt, dann arbeitet und am Ende des Lebens primär Freizeit hat. Denn Bilder, die in unseren Köpfen über das Alter bestehen, stimmen keineswegs mit dem überein, was heute Realität ist. Zum Teil liegt das an den demographischen Veränderungen, mit denen wir kaum Schritt halten können. In den letzten 100 Jahren ist unsere durchschnittliche Lebenserwartung kontinuierlich um etwa 30 Jahre angestiegen.40 Diese Veränderung erfolgte jedoch so graduell, dass sie weder beim Einzelnen noch in der Gesellschaft schon zu den nötigen Umorientierungen geführt hat. Unsere Lebenszeitstruktur ist immer noch die alte: Für die ersten 30 Jahre des Lebens haben wir sehr differenzierte Auffassungen, durch welche Tätigkeiten wir produktive Mitglieder der Gemeinschaft sind bzw. erst dazu werden. Dann folgen 30 Jahre, die – simplifizierend – mit dem Beitrag zum Bruttosozialprodukt verbracht werden. Hingegen gibt es für die letzten 30 Jahre, die

40 | Vgl. Baltes, P. B./Lindenberger, U./Staudinger, U.M.: Lifespan theory in developmental psychology, 2006.

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wir dazu gewonnen haben, keine klaren gesellschaftlichen Vorgaben außer dem Ruhestand.41 Wollen wir die Produktivität alternder Gesellschaften erhalten und noch steigern, müssen wir daher versuchen, die Lebenszeitstruktur zu parallelisieren, das heißt Lernen, Arbeit und Freizeit begleiten uns ein Leben lang. Die relative Gewichtung verschiebt sich für verschiedene Altersgruppen, aber auch individuell gibt es Unterschiede. Der Einzelne sollte in die Lage versetzt werden, immer wieder neu über sich nachzudenken, über seinen beruflichen und persönlichen Werdegang.

L ITER ATUR Aretz, H.-J.: Diversity und Diversity Management im Unternehmen: eine Analyse aus systemtheoretischer Sicht, Münster 2001. Baltes, P.B./Kliegl, R.: Further testing of limits of cognitive plasticity: Negative age differences in a mnemonic skill are robust. In: Developmental Psychology, 28, 1992, S. 121-125. Baltes, P. B./Lindenberger, U./Staudinger, U.M.: Lifespan theory in developmental psychology. In: R.M. Lerner (Hg.), Handbook of Child Psychology (6. Auflage, Nr. 1), San Francisco 2006. Butler, R.N.: Ageism: Another form of bigotry. Gerontologist, 9, 1969, 243-252. Buttler, F./Tessaring, M.: Humankapital als Standortfaktor. Argumente zur Bildungsdiskussion aus arbeitsmarktpolitischer Sicht. MittAB, 26(4), 1993, S. 467-476. Colcombe, S.J./Kramer, A.F.: Fitness effects on the cognitive function of older adults: a meta-analytic study. Psychological Science, 14(2), 2003. S. 30-125.

41 | Vgl. Riley, M.W./Riley, J.W.: Individuelles und gesellschaftliches Potential des Alterns. In: P.B. Baltes/J. Mittelstraß/U.M. Staudinger (Hg.), Alter und Altern: Ein interdisziplinärer Studientext zur Gerontologie. Berlin 1994. S. 437-460.

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Expertenkommission Finanzierung lebenslangen Lernens: Schlussbericht. Bielefeld 2004. Faulstich, P.: Ressourcen der allgemeinen Weiterbildung in Deutschland. Bielefeld 2004. IAB Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Projektion des Arbeitskäftebedarfs bis 2020. IAB Kurzbericht, 12, 2004. Funk, L./Seyda, S.: Beschäftigungschancen für ältere Arbeitnehmer - Ein Ländervergleich. In: Prager, J.U./ Schleiter, A.: Länger leben, arbeiten und sich engagieren. Gütersloh 2006, S. 15-50. Han, Z./Voelpel, S: Knowledge sharing in China: Reflection about Siemens’ experiences with ShareNet. Journal of Asian Business, 23(1), 2007, S. 123-143. Kessler, E.-M./Staudinger, U.M.: Intergenerational potential: Effects of social interaction between older adults and adolescents. In: Psychology and Aging, 22(4), S. 690-704. Kramer, A.F./Hahn, S./Cohen, N.J./Banich, M.T./McAuley, E./ Harrison, C.R., et al.: Aging, fitness and neurocognitive function. Nature, 400, 1999, S. 418-419. Leibold, M./Voelpel, S.: Managing the aging workforce: Challenges and solutions. New York: Wiley 2006. Mannix, E./Neale, M.A.: What differences make a difference? Psychological Science in the Public Interest, 6(2), 2005, S. 31-55. Mühlig-Versen, A./Staudinger, U.M.: Personality change in later adulthood: The role of learning and activitation. 2007. Renner, B./Schwarzer, R.: Social-cognitive factors in health behavior change. In: J. Suls/K. Wallston (Hg.): Social psychological foundations of health and illness. Oxford 2003, S. 169-196. Ribisi, K.M./Reischl, T.: Measuring the climate for health at organizations. Journal of Occupational Medicine, 35, 1993, S. 812-824. Riley, M.W./Riley, J.W.: Individuelles und gesellschaftliches Potential des Alterns. In: P.B. Baltes/J. Mittelstraß/U.M. Staudinger (Hg.), Alter und Altern: Ein interdisziplinärer Studientext zur Gerontologie. Berlin 1994, S. 437-460. Rosenstiel, L.v./Pieler, D./Glas, P.: Strategisches Kompetenzmanagement. Wiesbaden 2004.

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Roßnagel, C./Voelpel, S.: Qualifizierung älterer Mitarbeiter: Keine Einheitsweiterbildung. Persorama, 31, 2007, S. 24-29. Stamov Roßnagel, C./Baron S./Kudielka B.M./Schömann K.: A competence perspective on lifelong workplace learning. In: F. Columbus (Hg.), Lifelong Learning. New York: Nova. Im Druck. Schein, E.H.: Culture: The missing concept in organization studies. Administrative Science Quarterly, 41, 1996, S. 229-240. Schömann, K./Siarov, L.: Lifelong learning redefined. Benchmarking Working Europe, 4, 2006, S. 66-77. Schömann, K.: Renaissance des Mitarbeitergesprächs. Personalwirtschaft, 2, 2006, S. 22-24. Sonntag, K./Stegmaier, R./Schaper, N./Friebe, J.: Dem Lernen auf der Spur: Operationalisierung von Lernkultur. Zeitschrift für Unterrichtswissenschaft, 32, 2004, S. 104-127. Staudinger, U.M.: Psychologische Produktivität und Selbstentfaltung im Alter. In: M.M. Baltes/L. Montada (Hg.), Produktivität und Altern. Hamburg 1996. S. 344-373. Staudinger, U.M.: Eine Expertise zum Thema »lebenslanges Lernen« aus der Sicht der Lebensspannen-Psychologie. In: F. Achtenhagen/W. Lempert (Hg.), Lebenslanges Lernen im Beruf: Seine Grundlegung im Kindes- und Jugendalter. Bd. III, S. 90-110. Wiesbaden 2000. Staudinger, U.M.: Die Zukunft des Alterns und das Bildungssystem. In: S. Pohlmann (Hg.), Der demografische Imperativ. Von der Internationalen Sozialpolitik zu einem nationalen Aktionsplan. Hannover 2003. S. 65-81. Staudinger, U.M.: Weisheit, Lebens- und Selbsteinsicht. In: Weber, H./ Rammseyer, T. (Hg.): Handbuch der Psychologie. Göttingen 2005. S. 342-349. Staudinger, U.M.: Konsequenzen des demographischen Wandels für betriebliche Handlungsfelder: Eine interdisziplinäre Perspektive. Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (Zfbf), 58, 2006, S. 537-560. Staudinger, U.M./Baumert, J.: Bildung und Lernen jenseits der 50: Realität und Plastizität. In: Max Planck Gesellschaft (Hg.), Die Zukunft des Alters. München 2007. S. 240-257.

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Talkrunde 6 Clara Schlichtenberger

Teilnehmer: Eva-Senghaas-Knobloch, Ursula M. Staudinger Die selbst in beruflichen Risikobiographien um zehn Jahre gestiegene Lebenserwartung, dies hatte Staudinger im vorausgegangenen Vortrag konstatiert, bedürfe, so Senghaas-Knobloch, einer »haltenden« beruflichen Umgebung. Staudinger führte aus, dass, wie aus den von ihr zitierten Forschungsergebnissen ersichtlich, die niedrigqualifizierten Berufsgruppen immer noch bei beruflichen Weiterqualifizierungen zu kurz kämen. Man müsse sich aber generell im Zuge der sich verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen, sowohl als Individuum wie als Unternehmen, von der Vorstellung verabschieden, dass es weiterhin »Normarbeitsbiographien« gäbe. Das wäre auch in vielerlei Hinsicht nicht wünschenswert, da von einer Flexibilisierung beide Dimensionen, die individuelle wie die unternehmerische, profitieren würden. Durch den demographischen Wandel würde allerdings der Druck auf die Unternehmen wachsen, sich dem Problem zu stellen. In diesem Zusammenhang müsse auch darüber nachgedacht werden, was unsere Bildungsinstitutionen vor dem Eintritt in die Arbeitswelt an Inhalten und Strukturen bieten würden. Derzeit wäre ersichtlich, dass sie eher Ungleichheiten verstärke. Frühkindliche Bildungskonzepte und Ganztagsschulen würden aber in die richtige Richtung zielen.

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Senghaas-Knobloch wies darauf hin, dass unter den sich derzeit neu generierenden Arbeitsverhältnissen der Arbeitsschutz eher in den Hintergrund träte bzw. nicht mehr umgesetzt würde, z.B. in Bezug auf die Arbeitszeiten. Eine »haltende Umgebung« wie oben erwähnt, müsste eine Balance zwischen Qualifikation und Arbeitsschutz bzw. Qualifikation und Gesundheit bieten. Staudinger erwiderte, dass sich in jeder Geburtskohorte die Zahl derjenigen erhöhen müsse, die sich qualifizierten und Kompetenzen erwerben müssten, die es ihnen erlaubten, dieses länger gewordene Berufsleben erfüllt zu gestalten. Staudinger fuhr fort: So wie im letzten Jahrhundert sich die Berufsgenossenschaften sich im Fall der Unfallprävention und des Arbeitsschutzes generell sehr verdient gemacht hätten, so könnte die Zukunft der Berufgenossenschaften darin liegen, zusammen mit Arbeitsmedizinern Produktivitätsverläufe zu etablieren und unterschiedliche Typen von Arbeitsplätzen zu generieren. Weiterbildung oder Wechsel der Position in einem Unternehmen käme der sich im Rahmen einer Berufsbiographie ändernden Kompetenzen, Fähigkeiten und Bedürfnissen zu beiderseitigem Nutzen entgegen. Diese Flexibilität widerspräche nicht dem Erfahrungsoder Senioritätsprinzip. Aus der Erfahrung Älterer würde weiterhin wertgeschöpft.

»Decent Work« – eine weltweite Programmatik und Gestaltungsaufgabe für Forschung und Politik Eva Senghaas-Knobloch

E INLEITUNG Globale Wirtschaftsprozesse und -strukturen markieren die unausweichlichen Rahmenbedingungen für die Arbeitswelt hierzulande und weltweit: Internationale Wettbewerbsfähigkeit ist ein allgegenwärtiges Stichwort. Angesichts der Krise politisch und technisch ermöglichter, deregulierter Finanzmärkte und ihrer destruktiven sozialen Folgen in den verschiedenen Teilen der Welt ist es sinnvoll, an Einsichten zu erinnern, die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewonnen wurden und in der Folge des Ersten Weltkriegs konkrete Gestalt angenommen hatten: Unter dem Eindruck der zivilisatorischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs bildete sich, zunächst vor allem unter den Industriestaaten, ein – wenn auch fragiler – Konsens heraus, dass es darauf ankommt, der Gefahr sozialer Destruktivität aufgrund eines hemmungslosen internationalen Wettbewerbs mithilfe organisierter Kooperation innerhalb und zwischen den Staaten entgegenzuwirken. Der Grundstein, auf dem das erste Gebäude der zwischenstaatlichen Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf errichtet wurde, trägt daher die Inschrift: »Si vis pacem, cole justitiam«: Wenn Du den Frieden willst, sorge für Gerechtigkeit! Die seit circa drei

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Jahrzehnten stattfindenden politischen Auseinandersetzungen über einen sich »globalisierenden« Wettbewerb um Wirtschaftstandorte verweist im Prinzip auf ein altes Problem: die Gefahr eines Verdrängungswettbewerbs – fair oder unfair – in der Folge sich über nationale Grenzen hinaus öffnender Volkswirtschaften. Dieser Problematik verdankt die ILO, 1919 gegründet, ihre Existenz. Vielen dürfte die ILO unbekannt sein – ganz anders als vermutlich die Welthandelsorganisation (WTO, Nachfolgerin des GATT) und die Weltbank, jene zwei mächtigen internationalen Institutionen, die den grenzüberschreitenden Verkehr mit ihren auf Deregulierung ausgerichteten neoliberalen Konzepten seit Jahrzehnten geprägt haben. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde immer deutlicher, dass die konkrete soziale Lage von Milliarden Menschen die liberalen Versprechungen weltweiter Ausbreitung von Wohlstand allein durch freien Welthandel Lügen straft. In der Präambel zur Verfassung der Internationalen Organisation von 1919, die im Rahmen der Friedensverhandlungen von Versailles gegründet wurde, heißt es: »Der Weltfrieden kann auf die Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden. Nun bestehen aber Arbeitsbedingungen, die für eine große Anzahl von Menschen mit soviel Ungerechtigkeit, Elend und Entbehrungen verbunden sind, dass eine Unzufriedenheit entsteht, die den Weltfrieden und die Welteintracht gefährdet. Eine Verbesserung dieser Bedingungen ist dringend erforderlich. […] Auch würde die Nichteinführung wirklich menschenwürdiger Arbeitsbedingungen durch eine Nation die Bemühungen anderer Nationen um Verbesserung des Loses der Arbeitnehmer in ihren Ländern hemmen.«1 Diese Grundüberlegungen sind während des Zweiten Weltkriegs in der Erklärung von Philadelphia, 1998 in der »Erklärung über die Prinzipien und Rechte bei der Arbeit« und in 2008, also fast neunzig Jahre nach der Gründung in der ILO, in der »Erklärung über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globali-

1 | Internationales Arbeitsamt: Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation, Genf 1997, S. 7.

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sierung« bestätigt worden.2 Und schon 1999 stellte der Generaldirektor Juan Somavía in seinem Jahresbericht an die Mitglieder der Internationalen Arbeitskonferenz als Antwort auf die neuen politischen, ökonomischen und technologischen Herausforderungen der Globalisierung die neue Agenda für »Decent Work« bzw. »menschenwürdige Arbeit« vor.3 Der Kern dieser Agenda hat inzwischen auch Eingang in die sogenannten Milleniumsziele der UNO gefunden. Bei dieser Agenda für weltweit menschenwürdige Arbeit geht um vier strategische Ziele: Förderung der Rechte bei der Arbeit, Beschäftigung, Sozialschutz und Sozialdialog. Die Globalisierung verlangt also nicht nur die Aufmerksamkeit für die vielbeschworene internationale Wettbewerbsfähigkeit – dies wäre eine ökonomistisch verengte Sicht –, sondern auch eine Aufmerksamkeit für die soziale Situation in den verschiedenen Teilen der Welt, für die Gefahren sozialer Destruktivität, aber auch für die Möglichkeiten kooperativer Gestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Zur Erläuterung der Decent Work Agenda will ich im Folgenden in einem ersten Schritt kurz auf den Gründungsauftrag und die Arbeitsweise der ILO eingehen. In einem zweiten Schritt skizziere ich die heute beobachtbaren grundlegenden Veränderungen in der Welt der Arbeit. Im dritten Schritt diskutiere ich die sich daraus ergebenden neuen Probleme und Aufgaben, die im Rahmen der neuen Agenda für Decent Work besser bewältigt werden sollen. Und im vierten Schritt versuche ich abschließend, einige Herausforderungen für die Umsetzung der vier strategischen Agendakomponenten im sozioökonomischen Kontext der bundesdeutschen Arbeitswirklichkeit zu nennen – wohlwissend, dass in anderen Teilen der Welt andere Akzente zu setzen sind.

2 | International Labour Conference 97th Session: ILO Declaration on Social Justice for a Fair Globalization, Genf 2008. 3 | Zum politischen Organisationslernen der ILO als Antwort auf die Globalisierung siehe Senghaas-Knobloch, Eva/Dirks, Jan/Liese, Andrea: Internationale Arbeitsregulierung in Zeiten der Globalisierung. Münster 2003, sowie Senghaas-Knobloch, Eva (Hg.): Weltweit geltende Arbeitsstandards trotz Globalisierung, Münster 2005.

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1. A UF TR AG UND A RBEITSWEISE DER ILO Der Gründungsidee der zwischenstaatlichen ILO lag die Erkenntnis zugrunde, dass Werte und Prinzipien nur handlungsmächtig werden können, wenn sie sich mit Interessen verbinden können. Diese Erkenntnis spiegelt sich in der einzigartigen, dreigliedrigen Mitgliedschaftsstruktur der ILO wider: Jedes Land ist – einzigartig für internationale Institutionen – neben den Regierungsvertretern auch durch Vertreter der wichtigsten Gewerkschaften und Arbeitgeber repräsentiert. Ihren Auftrag nimmt die ILO hauptsächlich in drei Tätigkeitsformen wahr: Erstens: Seit 1919 werden von der ILO internationale geltende Arbeits- und Sozialstandards in Gestalt von Übereinkommen und Empfehlungen formuliert. Die Übereinkommen müssen von den Mitgliedsländern ratifiziert werden, damit sie für diese völkerrechtlich verbindlich werden, so dass das sehr elaborierte Aufsichts- und Überwachungssystem der ILO zum Einsatz kommen kann. Seit 1919 hat die ILO über 187 Übereinkommen zu Arbeits- und Sozialstandards angenommen, von denen gegenwärtig 76 als aktuell eingestuft wurden. Sie umfassen die gesamte Palette der Themen, die schon in der Präambel zur Gründungsverfassung als regulierungsbedürftig benannt wurden: grundlegende Rechte (wie z.B. Vereinigungsfreiheit); Beschäftigungsbedingungen (wie z.B. die Begrenzung der Arbeitszeit, ausreichende Entlohnung und Arbeitsschutz am Arbeitsplatz) sowie soziale Sicherungen in Lebensumständen, die kein Arbeitseinkommen ermöglichen. Die ILO leistet, zweitens, technische Hilfe und Kooperation zur Umsetzung der Arbeits- und Sozialstandards (capacity building). Sie entwickelt, drittens, durch ihren Verwaltungsstab, d.h. das Internationale Arbeitsamt und die dazugehörige unabhängige Forschungseinrichtung, ständig eine Wissensbasis weiter, auf der sie ihre Initiativen, Beschlüsse und Aktionen gründet. Welches sind nun die aktuellen Herausforderungen und grundlegenden Veränderungen in der Welt der Arbeit, auf die die ILO mit ihrer Agenda für weltweit menschenwürdige Arbeit eine Antwort geben will?

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2. G RUNDLEGENDE V ER ÄNDERUNGEN IN DER W ELT DER A RBEIT Zur Zeit ihrer Gründung war die ILO von der Mitgliedschaft der Industrieländer, besonders der europäischen, geprägt. Die Welt der Arbeit wurde in normativ-kultureller und in materiell-sozioökonomischer Hinsicht aus der Perspektive der Metropolen der Weltwirtschaft wahrgenommen. In kultureller Hinsicht bzw. in Hinsicht auf Normen und Werte war zur Zeit der Gründung der ILO das kolonialistische Regime noch ungebrochen. Das bedeutete, dass die Kolonialregime direkt oder indirekt über die Arbeitskraft der kolonialisierten Menschen verfügten; von dem Recht auf einen freien Arbeitsvertrag für alle in Produktion und Warentausch eingesetzten Arbeitskräfte war noch nicht die Rede. Im Gegenteil: In den Kolonialgebieten war Zwangsarbeit bzw. Sklaverei an der Tagesordnung. Zudem war das in den Industrieländern bestehende Arbeits- und Sozialrecht zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch das vorherrschende Familienmodell geprägt. Frauenrechte waren in den Industrieländern nur höchst eingeschränkt rechtlich akzeptiert. Der Arbeitsschutz war patriarchal geprägt (Nachtarbeit für Frauen war in Fabriken verboten, nicht aber in Gaststätten und Krankenhäusern). Selbst die Einführung politischer Rechte wie des aktiven und passiven Wahlrechts für Frauen (z.B. in Deutschland mit der republikanischen Verfassung 1919, in Frankreich erst in den 1940er Jahren) implizierte keineswegs die rechtliche Gleichberechtigung im Familien- und Arbeitsrecht. In normativkultureller Hinsicht haben seitdem erhebliche Veränderungen stattgefunden: Die Charta der Vereinten Nationen von 1945 und wenig später die Erklärung der Menschenrechte von 1948 sowie die beiden Menschenrechtspakte von 1966 schufen eine neue Normenbasis, derzufolge allen Menschen angesichts ihrer unveräußerlichen Menschenwürde individuelle Rechte zugesprochen wurden – in bürgerrechtlicher, politischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht. In materieller Hinsicht kam es im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer historisch beispiellosen technischen und wirtschaftlichen Entwicklungsdynamik, in deren Verlauf alte imperiale

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Machtstrukturen zerfielen und neue entstanden. Industrieländer (USA und Staaten Westeuropas) mit hohen Produktivitätsprofilen und die im Wesentlichen von ihnen aufgebauten und gesteuerten internationalen Institutionen setzten nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich eine allgemeine Agenda für tendenziell uneingeschränkten freien Welthandel durch, von dem die Zentren der Weltwirtschaft besonders profitierten, nachdem sie ihrerseits allerdings selbst in der Regel jahrzehntelang die eigene Entwicklung mit Hilfe von Schutzzollschranken und sog. nicht-tarifären Handelshemmnissen befördert hatten (wofür im Übrigen entwicklungspolitisch kluge Wirtschaftstheoretiker wie Friedrich List einst gute Gründe anführen konnten). Die neue Form der Globalisierung der Wirtschaft nahm in den 1970er Jahren ihren Ausgangspunkt darin, dass multi- und transnational agierende Konzerne – ergänzend zum Abbau von Rohstoffen und zur Produktion landwirtschaftlicher Güter – anderenorts weltweit neue Produktionsstätten für industrielle Güter zur Markterschließung oder mit dem Ziel von Kostensenkung aufbauten. Zur gleichen Zeit bewirkten die Mikroelektronik und die Informations- und Kommunikationstechnologie als neue Schlüsselindustrien revolutionäre Veränderungen in der Produktion, der Verwaltung, dem Handel und in der Logistik. In der Folge dieser Entwicklungen wurde auch die bis dahin von der Struktur des Kolonialhandels (d.h. Rohstoffe gegen Fertigwaren) bestimmte, traditionelle internationale Arbeitsteilung verändert: Industrielle Produktionsstätten und Dienstleistungen werden jetzt nach strategischen Gesichtspunkten der Konzerne weltweit aufgebaut, d.h. keineswegs überall, sondern kapitalverwertungsbedingt auf bestimmte Regionen konzentriert – geleitet von Kalkülen weltweiter Investitionsprospektierung. Eine Optimierung volkswirtschaftlicher Entwicklung ist dabei nicht im Blick. Solche (produzentengetriebenen) dezentralen Konzernstrukturen und auch die (konsumentengetriebene) Bildung langer Ketten von Zulieferern und Unterzulieferern befördern Beschäftigungsformen, die hierzulande aus vor- und frühindustrieller Zeit bekannt sind: in Entwicklungsländern z.B. das generelle Fehlen von Arbeitsverträgen, ebenso in vielen chinesischen Zulieferfabriken

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für große IT-Konzerne,4 in denen vor allem Wanderarbeiterinnen aus den ländlichen Regionen arbeiten; in Industrieländern die Zunahme von Alleinselbständigen, die auf Basis von Werk- oder Honorarverträgen tätig sind, und von nur befristeten Arbeitsverträgen. Die damit verbundene liberale Wirtschaftsideologie, d.h. eine marktradikale Ordnungsvorstellung, setzte sich weltweit durch: in den internationalen Finanzinstitutionen, aber auch in den meisten nationalen Regierungen, vor allem in den USA und Großbritannien, und gewann nachholend in Kontinentaleuropa, aber auch in anderen Kontinenten an Gewicht. Warum sind diese normativen und materiellen Veränderungen von so grundlegendem Charakter, dass sie eine neue Agenda für weltweit menschenwürdige Arbeit erforderlich machen? In normativer Hinsicht geht es bei Beachtung aller Verschiedenheit heute weit mehr als früher um die Inklusion aller Menschen unter das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. In materieller Hinsicht sind die aufgezeigten Veränderungen grundlegend, weil die sozioökonomischen Voraussetzungen für die Erfüllung des Auftrags der ILO – nämlich die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen weltweit – ganz andere geworden sind als noch vor wenigen Jahrzehnten. Das soll im Folgenden im Zusammenhang mit den vier strategischen Bestandteilen der Agenda für Decent Work: Rechte, Beschäftigung, Sozialschutz und Sozialdialog gezeigt werden.

4 | Nach Auskunft von May Wong, Aktivistin aus China, siehe Weltwirtschaft Ökologie und Entwicklung e.V. (WEED e.V.): High-Tech-Sweatshops in China. Arbeitsrechte im internationalen Standortwettbewerb und die Perspektiven Corporate Social Responsibility. Berlin 2007. S. 33.

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3. D IE VIER K OMPONENTEN DER A GENDA FÜR WELT WEIT MENSCHENWÜRDIGE A RBEIT ANGESICHTS DER G LOBALISIERUNG 1. Die Rechte bei der Arbeit beziehen sich laut Agenda für menschenwürdige Arbeit nicht mehr allein auf Menschen in formalen, abhängigen Beschäftigungsverhältnissen, also nicht mehr nur auf Arbeitnehmer im klassischen Sinn. Vielmehr heißt es jetzt: »Alle, die arbeiten, haben Rechte bei der Arbeit.«5 Die Gründe für die jetzt explizite Einbeziehung von Alleinselbständigen, von Arbeitenden in der Rolle mithelfender Familienangehöriger und von informeller Arbeit liegen auf der Hand: Die meisten Menschen auf der Welt arbeiten – anders als noch vor fünfzig Jahren prognostiziert – auch heute keineswegs innerhalb formal geregelter Beschäftigungsverhältnisse. (Allein schon die Anerkennung dieser weltweit relevanten sozialen Tatsache kann dazu beitragen, die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen und die krasser werdenden Unterschiede in den Lebensverhältnissen der Menschen in den verschiedenen Regionen der Welt ins Licht zu rücken.) Zwar hatte die Internationale Arbeitsorganisation schon seit ihrer Gründung die universale Geltung ihrer Normen angestrebt, doch erst die Formulierung der Menschenrechte – später akzentuiert durch die sich entwickelnde Globalisierung – schuf den Rahmen und die Zugzwänge für ein neues, inklusives Verständnis von sozialer Gerechtigkeit. Diese Reorientierung wurde überdies durch den Kampf gegen Kolonialismus, die neue Frauenbewegung und gegenwärtig die neue internationale Sozialbewegung in ihren verschiedenen Ausprägungen gefördert. Da das Arbeitsrecht rechtssystematisch nicht zum öffentlichen Recht gezählt wird, gab es lange Zeit wenig Verbindungen zwischen arbeitsrechtlichen und menschenrechtlichen Diskursen, obwohl sich zahlreiche Menschenrechte auf Arbeitsrechte beziehen und auch in der erwähnten ILO-Erklärung von Philadelphia aus dem Jahre 1944 eine an Rechten orientierte Sprache ge5 | Internationales Arbeitsamt: Menschenwürdige Arbeit. Bericht des Generaldirektors. Internationale Arbeitskonferenz, 87.Tagung, Genf 1999. S. 4.

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wählt wurde. Ein entschlossener Schritt, wenigstens bestimmten, grundlegenden Rechten bei der Arbeit eine weltweite Geltung zu verschaffen, wurde jedoch 1998 getan, als die Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation auf Basis der schon beim Weltsozialgipfel in Kopenhagen 1995 festgelegten, nicht unterschreitbaren Schutzrechte die »Erklärung über die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit« angenommen hatten. Dazu gehören: 1. das Recht auf Vereinigungsfreiheit und auf kollektive Tarifverhandlungen, 2. das Verbot der Zwangsarbeit, 3. das Verbot nicht akzeptabler Kinderarbeit und 4. das Verbot der Diskriminierung. Diesen vier Rechten entsprechen sogenannte Kernarbeitsnormen oder Kernsozialstandards, die in acht Übereinkommen der ILO geregelt sind. Die grundlegenden Prinzipien und Rechte werden manchmal als »Spielregeln« für die internationale Wirtschaft apostrophiert. Man könnte sie aber auch im Sinne von Martha Nussbaum und Amartya Sen als »Ermöglichungsrechte zur Existenzerhaltung und -entfaltung« beschreiben.6 Es sind liberale Ermöglichungsrechte, denn – im Unterschied zu der Vielzahl der Regelungsgebiete im Arbeits- und Sozialrecht – schaffen sie noch keinen substantiellen Schutz; sie garantieren z.B. weder ausreichenden Lebensunterhalt, noch gesunde Arbeitsbedingungen. Zur Förderung der Menschenwürde bei der Arbeit sind sie daher unabdingbar, aber unzureichend. Schon die universal verbindliche Geltungskraft nur dieser vier Rechte, die in acht Übereinkommen (zur Vereinigungsfreiheit Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98, zur Zwangsarbeit Übereinkommen Nr. 29 und Nr. 105, zur Kinderarbeit Übereinkommen Nr. 138 und Nr. 182 sowie zur Diskriminierung Übereinkommen 6 | Vgl. Sturma, Dieter: Universalismus und Neuaristotelismus. Amartya Sen und Martha Nussbaum über Ethik und soziale Gerechtigkeit. In: Wolfgang Kersting (Hg.): Politische Philosophie des Sozialstaates. Velbrück, Weilerswist 2000. S. 257-292.

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Nr. 100 und Nr. 111) niedergelegt sind, wirft allerdings in der Praxis große Probleme auf: Gerade in den neuen wichtigen Ländern der Weltwirtschaft, China und Indien, sind nur einige der entsprechenden Übereinkommen ratifiziert. Indien hat die beiden Übereinkommen zur Kinderarbeit nicht ratifiziert; China hat u.a. die beiden Übereinkommen zur Vereinigungsfreiheit bzw. zum Recht auf Kollektivverhandlungen nicht ratifiziert. Die USA als klassisches Industrieland hat von den acht Kernarbeitsnormen nur eines der beiden Übereinkommen zur Nichtdiskriminierung und eines der Übereinkommen zur Kinderarbeit ratifiziert, also keines zu Zwangsarbeit und Vereinigungsfreiheit. Es ist äußerst bedenklich, dass von allen grundlegenden Kernarbeitsrechten die Übereinkommen zur Vereinigungsfreiheit weltweit am wenigsten ratifiziert wurden¸ d.h., dass die Welt der Staaten gerade bei diesem sozio-politischen Grundrecht wenig bereit ist, Verpflichtungen einzugehen. Dies in Verbindung mit der weltweit sichtbaren Ausdehnung von informeller Ökonomie, d.h. nicht registrierter und ungeschützter Beschäftigung in selbständiger und unselbständiger Form, wirft die Frage auf, wie den arbeitenden Menschen zu ihren grundlegenden Rechten bei der Arbeit verholfen werden kann. Anders als propagiert, hat auch die Ausdehnung weltweiter Geschäftsaktivitäten die Vereinigungsfreiheit nicht vorangebracht, eher im Gegenteil: Ausländische Investoren werden insbesondere von wenig entwickelten Ländern mit der Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen angelockt, in denen das oftmals ohnehin brüchige geltende nationale Arbeitsrecht, insbesondere aber Gewerkschaftsrechte, außer Kraft gesetzt oder nicht umgesetzt werden. Die Ratifikationsquote anderer ILO-Übereinkommen als der Kernarbeitsübereinkommen ist noch sehr viel geringer. Zudem sagt eine Ratifikation noch nichts über ihre Umsetzung in nationales Recht und ihre faktische Befolgung im Arbeitsleben eines Staates. Genau auf die Beachtung der Rechte innerhalb der Gemeinwesen und auf Akteure, die kontrollieren und einklagen, kommt es jedoch an. In Afrika findet sich zwar eine erstaunlich hohe Ratifikationsquote der ILO-Kernarbeitsübereinkommen. Aber der Mangel an staatlichen Strukturen und Institutionen so-

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wie die überwiegende Informalität der Wirtschaft und der Arbeitstätigkeiten führen zu großen Implementationslücken7. 2. Als zweite Komponente enthält die Agenda für weltweit menschenwürdige Arbeit die Förderung von Beschäftigung, bzw. produktiver Arbeit. Auch die Förderung von Beschäftigung spielte schon kurz nach Gründung der ILO und seit der Weltwirtschaftskrise in den klassischen Industrieländern eine wichtige Rolle. Seit der angestrebten Universalisierung der staatlichen Mitgliedschaft in der Internationalen Arbeitsorganisation im Zuge der Dekolonisierung musste sich die ILO zudem spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs damit auseinandersetzen, dass in vielen Ländern der Dritten Welt keineswegs – anders als in manchen Modernisierungsstrategien angenommen – eine breitenwirksame Entwicklung stattfand, sondern eine Marginalisierung bäuerlicher Existenzen, ohne dass diese Menschen in einer aufkommenden Industrie in Lohn kamen. In den schnell wachsenden urbanen Zentren entwickelten sich prekäre Wirtschaftsformen, die durch einen Mangel an Ressourcen sowie an Recht und Schutz gekennzeichnet waren. Insgesamt bildeten sie einen »marginaler Pol«8 dramatischen Ausmaßes. Mit ihrem Weltbeschäftigungsprogramm hatte die ILO daher erstmals in den 1960er Jahren die Arena der Entwicklungspolitik betreten, und zwar gegen die damals und auch heute oft herrschende Auffassung, derzufolge Wirtschaftswachstum mit Entwicklung einfach gleichgesetzt wurde. Es gelang der ILO aber bisher nicht, den Entwicklungsdiskurs maßgeblich zu beeinflussen. Die ILO selbst hat jedoch verstanden, dass es unabdingbar darauf ankommt, die verschiedenen sozioökonomischen und politischen Kontexte bei allen Aktivitäten zu berücksichtigen. Auf Basis der Decent-Work-Agenda sind daher Landesprogramme und Kontinentalprogramme, wie z.B. für Afrika entwickelt worden. Das 7 | Zur Situation weltweit siehe Böhning, Roger W.: Labour Rights in Crisis. Measuring the Achievement of Human Rights in the World of Work, Houndsmills et al. 2005. 8 | So die Begrifflichkeit des peruanischen Wissenschaftlers Aníbal Quijano.

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Hauptaugenmerk liegt auf der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen in der informellen Ökonomie, gefördert durch politische Mitsprache und Produktivitätserhöhung (wie z.B. in Ghana, Marokko), denn nur ca. 10 Prozent aller Erwerbstätigen im städtischen und ländlichen Raum gehören der formellen Ökonomie an.9 3. Der dritte Bestandteil der Agenda für menschenwürdige Arbeit weltweit besteht im Sozialschutz. Durch die neue Aufmerksamkeit für Beschäftigte in unregelmäßiger, informeller Arbeit und Heimarbeit werden neue große Aufgaben für Sozialschutz und Sozialsicherung in den verschiedenen sozioökonomischen und sozialpolitischen Kontexten sichtbar. In den meisten klassischen Industrieländern waren und sind herkömmlicherweise erhebliche Teile der sozialen Sicherung an ein formales Beschäftigungsverhältnisses gebunden. Für Arbeitende in anderen Beschäftigungsformen besteht hier ein Mangel. Im Kontext vieler Transformationsländer haben Arbeitslosigkeit und mangelnder Sozialschutz stark zugenommen. Besonders dringlich ist die Frage, wie die Vielzahl der Menschen in den Entwicklungsländern, in denen formale Beschäftigungsverhältnisse nur den geringsten Teil ausmachen, vor jenen Gefährdungen geschützt werden können, die entstehen, wenn Menschen durch mangelnde Erwerbsarbeit, arbeitsbedingte Krankheit und Alter oder Fürsorgeverpflichtungen nicht vom Ertrag eigener Arbeit leben können. Die IAO hat in Modellrechnungen und Feldstudien dargelegt, wie ein Basisschutz für Gesundheit, Alter und Schulbesuch auch in armen Ländern aufgebracht werden kann.10 4. Die vierte strategische Komponente der ILO-Agenda besteht im Sozialdialog: Bei Entscheidungen zu Arbeitsbedingungen und 9 | International Labour Office: The Decent Work Agenda in Africa 2007-2015. Report of the Director-General, Eleventh African Regional Meeting, Addis Ababa 2007. 10 | siehe Cichon, Michael/Hegemejer, Krzystof: Changing the Development Policy Paradigm. Investing in a Social Security Floor for All, in: International Social Security Review, 60/2007. S. 169-196.

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Sozialschutz sollen national und international neben den Regierungen von Anfang an die Betroffenen vermittels der Vertreter beschäftigter Personen (Gewerkschaften) und der Arbeitgeber einbezogen werden. Traditionell baut der Sozialdialog – entsprechend der Entwicklung in Europa – auf repräsentativen Arbeitnehmerund Arbeitgebervertretungen auf. Prinzip und Ziel des Sozialdialogs sind auf die Umsetzung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit als einem grundlegenden Recht zur Förderung und zum Schutz kollektiver Interessen bei der Arbeit angewiesen. Angesichts der veränderten Wirtschaftsstrukturen steht der Sozialdialog jedoch vor erheblichen Schwierigkeiten, nämlich durch: • globale Wirtschaftsaktivitäten von Unternehmen, deren strategische Entscheidungen nicht dort getroffen werden, wo Betroffene verhandeln wollten, • flexible Beschäftigungsformen und verringerte Gewerkschaftsdichte in den klassischen Industrieländern und in den Transformationsländern, • generellen Mangel an Repräsentation der Arbeitenden in der informellen Ökonomie sowie • Repression gegenüber freien gewerkschaftlichen Vereinigungen in vielen Entwicklungsländern und in zunehmendem Maße auch anderenorts. Darüber hinaus ergeben sich neue Herausforderungen durch neue regionale Rechtsräume wie z.B. die EU. Diese beschriebenen neuen Entwicklungen und Herausforderungen für die vier strategischen Komponenten der Agenda für weltweit menschenwürdige Arbeit stellen sich in den diversen politisch-ökonomischen Länderkontexten verschieden dar, sind aber auch in verschiedenen Branchenkontexten zu konkretisieren. Hier lassen sich grob zwei Gruppen zu unterscheiden: jene Branchen, in denen sich Kapitalinvestitionen zu anderen Orten bewegen (»global sourcing«), und jene Branchen, in denen sich vor allem die Arbeitsuchenden bewegen (Migration). Zu einigen Branchen möchte ich knappe Anmerkungen machen. In der Handelsschifffahrt finden wir die beiden Bewegungen (von Seiten des Kapitals und von Seiten der Arbeitsuchen-

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den) vereint. Hier gibt es nicht nur stark dezentralisierte Unternehmensstrukturen, die mit den klassischen Reedereien nur noch die starke Konzentration des Eigentums gemein haben: Die Auftragserteilung und der Bau von Schiffen, die Klassifizierung und Zertifizierung der Schiffe, die Entscheidung über Handelsrouten, die Auswahl der Schiffsbesatzungen, die Entscheidung über Handelsgüter etc. liegen in der Verantwortung verschiedener Unternehmen, die über die Welt verstreut sind. Hier ist auch der Arbeitsmarkt für Seeleute tendenziell global. Das besondere Charakteristikum besteht nun darin, dass für Seeleute der Arbeits- und Lebensort auf Schiffen identisch ist. Welche Qualität er allerdings aufweist, hängt u.a. von der Flagge ab, unter der das Schiff fährt und von der Art und dem Umfang bestimmter einzuhaltender Arbeits- und Sozialstandards für die Besatzung. Die gegenwärtige Situation, dass ein Teil der für die Besatzung an Bord geltenden Regeln für alle gleichermaßen gültig ist und ein anderer Teil (besonders der für Sozialschutz) je nach Nationalität der Besatzungsmitglieder verschieden, macht Schiffe ordnungspolitisch zu einem Ort, der rechtspolitische Probleme aufwirft. In dieser Branche kämpft die Internationale Transportarbeitergewerkschaft (ITF) seit Jahrzehnten mehr oder minder erfolgreich für den Abschluss von Tarifverträgen für Seeleute. Die Stärke der ITF liegt in ihrer Organisationskraft in den Häfen. Denn hier kann sie mit Blick auf Lade- und Entladeaktivitäten leidlich verlässlichen Druck auf die Schiffseigentümer ausüben. Die Tarifabschlüsse helfen den Seeleuten aus Entwicklungs- und Transformationsländern; für europäische Seeleute haben sie aber ein zu geringes Niveau, um damit an Land ein Auskommen zu finden, es sei denn, die Seeleute verfügen über besondere Qualifikationen und Patente. Das verschafft Seefahrern aus Industrieländern nur auf Basis besonders erforderlicher Qualifikationen eine Chance, an Bord zu bleiben, insbesondere dann, wenn das Fahren unter einer Flagge auch mit der staatlichen Auflage verbunden ist, dass Kapitän und Schiffsingenieure Angehörige der Flaggennationalität sein müssen. Die ILO hat 2006 auf diese Situation mit der Annahme eines neuen Übereinkommens geantwortet, in dem neben den sog. Flaggenstaaten jetzt auch die sog. Hafenstaaten, also die Staaten,

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deren Häfen angelaufen werden, für die Umsetzung verantwortlich gemacht werden. Gegenwärtig werden dreigliedrige Dialoge in verschiedenen Regionen veranstaltet, um die Ratifikation und Umsetzung des konsolidierten maritimen Übereinkommens bis zum Beginn des nächsten Jahrzehnts voranzubringen. Die Situation in dieser Branche ist deutlich von der Arbeitsmarktsituation in Branchen wie der IT-Industrie zu unterscheiden, in der, angetrieben durch globale Investitionen großer – in der Regel westlicher – Konzerne, arbeitsteilig an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gearbeitet werden kann, wenn gewünscht: 24 Stunden lang an 365 Tagen im Jahr. Die Einzelteile eines PCs kommen oft aus mehr als zehn verschiedenen Ländern. Da viele nachgefragte IT-Qualifikationen inzwischen von Menschen auch in sozioökonomischen Kontexten außerhalb der klassischen Industrieländer erworben werden, besonders in Asien, geraten auch Hochqualifizierte, wie z.B. Ingenieurinnen und Ingenieure, in den OECD-Ländern unter Druck. Tendenziell globale Arbeitsmarktstrukturen finden sich neben bestimmten Segmenten im »Hightech-Bereich« auch im »Hightouch-Bereich«. In diesem Bereich vermarktbarer Fähigkeiten bewegen sich aber vor allem die Erwerb suchenden Personen über die Landesgrenzen hinweg. Es geht hier um den Einsatz von in der Regel weiblichen Haushaltshilfen und um Pflegetätigkeiten von Frauen – sowohl in Pflege- und Krankeneinrichtungen als auch in Privathaushalten. Die tendenziell globalen Pflegeketten (»care chains«) weisen meist verdichtete Verbindungen zwischen Pflegepersonen aus bestimmten Herkunfts- und Einsatzländern auf, ähnlich der Migration im Allgemeinen. Finden sich in den USA und in den Golfstaaten besonders häufig Frauen aus den Philippinen und anderen asiatischen Ländern, die die Aufgaben in den dortigen Haushalten übernehmen, so gibt es ähnliche Beziehungen zwischen Italien11 und Nordafrika und zwischen Deutschland und Polen. »Ketten« bilden sich dann, wenn die not11 | Siehe u.a. Schilderungen bei Sarti, Raffaella: »Die meisten von uns haben sogar eine höhere Bildung…«. Neue DienstbotInnen in Südeuropa im Zeitalter der Globalisierung, in: L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, 17, 2/2006. S. 107-117.

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wendige Tätigkeit in der eigenen Familie der migrierten Arbeitskräfte im jeweiligen Heimatland von Personen getan wird, die ihrerseits bezahlt werden und vielleicht wiederum ihre Aufgaben weiterdelegieren. Dass hilfsbedürftige Angehörige und Kinder auch verwaist zurückgelassen werden, ist in allen Herkunftsländern, neuerdings auch in Polen, publik. Dieser boomende, stark informalisierte Beschäftigungssektor macht im Übrigen deutlich, dass die vorherrschende – Fürsorge vergessende – Ökonomie blind für Fragen der sozialen Reproduktion und des sozialen Zusammenhalts ist. Welche Probleme werfen diese Entwicklungen in Deutschland auf?

4. D IE H ER AUSFORDERUNG DER SKIZ ZIERTEN TIEFGREIFENDEN V ER ÄNDERUNGEN FÜR DIE BUNDESDEUTSCHE A RBEITSWELT UND A RBEITSFORSCHUNG Schon 1919 war die eingangs zitierte Mahnung formuliert worden: »Auch würde die Nichteinführung wirklich menschenwürdiger Arbeitsbedingungen durch eine Nation die Bemühungen anderer Nationen um Verbesserung des Loses der Arbeitnehmer in ihren Ländern hemmen«. Heute wirkt die Globalisierung auf die Arbeitswelt in ihren Ursprungsländern in der OECD-Welt zurück: • Der globale Warenaustausch findet zu einem großen Teil innerhalb der wenigen großen globalen Konzerne statt. Im globalen Wettbewerb stehen daher weniger Güter und Dienstleistungen aus verschiedenen Ländern als vielmehr »Standorte« ein und desselben Konzerns oder auch konkurrierender Konzerne der gleichen Branche. • Die Welt der Finanzaktivitäten hat sich – wie jüngst dramatisch auch in den Zentren der Wirtschaftswelt erfahrbar – von der Welt der realen Wertschöpfung entfernt. Auch Standorte mit guten Gewinnaussichten können daher durch Fehlspekulation von Schließung bedroht sein, oder wenn sich eine Finanzanlage an anderer Stelle oder in anderen Wirtschaftsfeldern noch besser zu rentieren scheint.

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• Die Zahl der Menschen, die in der Weltökonomie auf den Arbeitsmärkten tätig sind und branchenweit tendenziell miteinander konkurrieren, hat sich im letzten Jahrzehnt fast verdoppelt. Waren es 1995 etwa 1.5 Milliarden Menschen, so sind es gegenwärtig annähernd 3 Milliarden, darunter viele mit vergleichsweise niedrigem Verdienst, aber keineswegs niedriger Qualifikation. • Längst überwunden geglaubte Probleme, wie die Zunahme der Zwangsarbeit, tauchen überall auf der Welt, so auch in der Bundesrepublik Deutschland, wieder auf, z.B. in Gestalt von Menschenhandel und Zwangsprostitution. • In den europäischen Ländern hat die staatliche Bereitschaft zu sozialer Schutzverantwortung tendenziell abgenommen. Der erklärte edle Wettbewerb nicht nur um »mehr«, sondern auch um »bessere Arbeitsplätze«, wie in der Beschäftigungsstrategie der EU seit der Jahrhundertwende formuliert, wird durch neuere Urteile des EUGH ausgebremst, in denen die ökonomisch relevante Niederlassungsfreiheit vor das politische Grundrecht auf Vereinigungsfreiheit und entsprechende Aktivitäten gestellt wird. In einem Urteil vom Dezember 2007 heißt es, »dass die Ausübung der Grundrechte, nämlich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Menschenwürde […] mit den Erfordernissen hinsichtlich der durch den Vertrag geschützten Rechte (insbesondere der Niederlassungsfreiheit von Unternehmen) in Einklang gebracht werden und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen muss.«12 Und die EU-Kommission klagte in diesem Sommer erfolgreich gegen luxemburgisches Arbeitsrecht auf Basis der Entsenderichtlinie.13 Mit Blick auf Beschäftigung ist zu konstatieren, dass die durchschnittliche Summe sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung nach einem vorangegangenen Abbau im Jahre 2007 mit etwa 27,7 12 | Joerges, Christian/Rödl, Florian: Von der Entformalisierung europäischer Politik und dem Formalismus europäischer Rechtsprechung im Umgang mit dem »sozialen Defizit« des Integrationsprojekts, Universität Bremen, Zerp-Diskussionspapier 2/2008. S. 15. 13 | Einblick, Gewerkschaftlicher Infoservice Berlin, 13/2008. S. 5.

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Millionen in etwa wieder auf der Höhe von 2003 ist. Dabei ist jedoch die Zahl der Vollzeitbeschäftigten etwas gesunken, die der Teilzeitbeschäftigten stark gestiegen. Daneben ist ein starker Anstieg von nicht sozialversicherungspflichtiger, also ungeschützter Beschäftigung zu verzeichnen, sei es in Gestalt der Alleinselbständigkeit, sei es in Gestalt sogenannter Mini- und Midijobs. (Im Jahre 2007 belief sich die Zahl der Mini-Jobber bei ca 5.7 Millionen Personen, davon 4.9 Millionen, die ausschließlich diesen Job haben; IAB-Kurzbericht Nr. 5, 2007, 2). Zudem muss nach wie vor von einem erheblichen Anteil nichtregistrierter, also informeller Beschäftigung ausgegangen werden. Diese Heterogenität der Beschäftigungsformen tangiert auch die Rechte bei der Arbeit. Die klassischen Rechte bei der Arbeit gelten allermeist nur in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Diese stellt hierzulande zwar noch bei weitem den größten Teil aller Beschäftigung dar, aber nicht den wachsenden: Der dynamische Anstieg findet sich bei Alleinselbständigen. Für diese gelten aber weder das Arbeitsrecht noch viele Teile des Sozialschutzes. Ähnliches trifft für die Beschäftigten in Mini- und Midijobs zu. Diese Heterogenität – verbunden mit deutlichen Lücken bei der Umsetzung geltenden Rechts, vor allem mit Blick auf die Einhaltung der gesetzlichen Arbeitszeitregelung sowie Arbeitsschutzvorkehrungen und Gesundheitsförderung im Arbeitsleben – erschwert die Herausbildung eines allgemein geltenden kulturellen Sozialstandards, der dem Gerechtigkeitsempfinden Rechnung trägt. Statt über die Auflösung der Künstlersozialkasse sollte über die Ausdehnung ihrer Prinzipien auf andere Alleinselbständige gesprochen werden, denn eine bedeutende Zukunftsaufgabe der Arbeitsforschung liegt m.E. darin, solche Ansätze für die Inklusion in Beschäftigung zu identifizieren und auszugestalten, die auch Arbeits- und Sozialschutz gewährleisten. Der Sozialschutz ist heute bis zu einem gewissen Grad entpatriarchalisiert, indem er jetzt auch in Deutschland tendenziell von einer Vorstellung von Familie im Sinne des Adult-Worker-Modells geprägt wird: Männer und Frauen sollen möglichst umfassend dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Strategien der Gleichstellung weisen dabei m.E. eher den Charakter von Angleichung an das vormals männliche Modell als den Respekt vor nicht-öko-

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nomischen Bedürfnissen auf. Ehedem unbezahlte Fürsorgetätigkeiten werden verberuflicht und damit als gesellschaftlich notwendig anerkannt. Wie sie aber auf Dauer praktisch gewährleistet werden können, bleibt die Aufgabe einer breiten gesellschaftsund arbeitspolitischen Debatte. Über diese Problem- und Aufgabenkreise hinaus wirft die auch hierzulande größer werdende Umsetzungslücke der geltenden Rechtsansprüche einen weiteren Problemkomplex auf. Wir wissen, dass auch hierzulande Massen- und Luxusartikel, die von Kinderhand gefertigt wurden, auf dem Markt sind. In den letzten Jahren werden – ganz auf der Linie des liberalen Mainstreams – freiwillige und private Unternehmensinitiativen für Sozialstandards gepriesen, nicht nur im Rahmen des Globalen UN-Pakts, den der frühere Generalsekretär Kofi Annan in Davos ins Leben rief, sondern auch im Rahmen der EU. Nun kommt es tatsächlich darauf an, die global agierenden Unternehmen schon wegen ihrer Handlungsmächtigkeit an die Ziele von internationalen Sozialstandards zu binden. Und müsste ihnen nicht im eigenen wohlverstandenen Interesse daran gelegen sein – so lässt sich argumentieren – die soziale Basis für ihre Geschäftstätigkeit in Europa zu erhalten und anderenorts zu befördern: Rechtssicherheit, gute Infrastruktur, gut ausgebildete, vielseitig interessierte Arbeitskräfte und eine breite Kaufkraft?! Eine solche Betrachtung setzt allerdings eine weit ausgreifende Zeitperspektive voraus, die im gegenwärtigen Finanzkapitalismus – wie wir wissen – nicht ohne weiteres unterstellt werden kann. Dass hier eine Problematik vorliegt, zeigt auch die immer noch geringe Zahl von im Jahre 2008 nur 62 sogenannten Rahmenabkommen14 , die bisher zwischen transnationalen Unternehmen (TNU) und globalen Gewerkschaftsbünden zur Einhaltung einiger grundlegender Rechte an allen Produktionsstätten abgeschlossen wurden, und dies bei einer Gesamtzahl von weltweit ca. 60.000 TNU. Ebenso bedeutsam ist, dass die Europäische Handelskammer offenbar auch bei 14 | Siehe Müller, Torsten/Platzer, Hans-Wolfgang/Rüb, Stefan: Internationale Rahmenvereinbarungen – Chancen und Grenzen eines neuen Instruments globaler Gewerkschaftspolitik, Friedrich Ebert Stiftung, Internationale Gewerkschaftskooperation, Kurzbericht 8/2008.

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der Novellierung des chinesischen Arbeitsrechts im letzten Jahr ausgerechnet bezüglich Vereinigungsfreiheit zu bremsen gesucht hat.15 Stattdessen hatte sich der Chef der Europäischen Handelskammer für Flexibilität der Beschäftigungsverhältnisse und eine Ausbildung in sog. Corporate Social Responsibility (CSR) ausgesprochen. Dabei zeigen Befunde von Branchen- und Länderstudien, dass anwaltschaftliche Nichtregierungsorganisationen, die bei Überwachung freiwilliger Selbstverpflichtungen der Unternehmen bei CSR typischerweise an die Stelle von Gewerkschaften als gewählten Interessenvertretern treten, keinen nachhaltigen Erfolg haben, wenn es nicht zu Selbstorganisation und neuen Kräfteverhältnissen vor Ort kommt. Mir scheint es nicht zufällig, dass in der Perspektive für langfristige und nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung eine Gemeinsamkeit der Decent Work Agenda mit dem in den 1970 Jahren aufgestellten innovativen Programm zur Humanisierung des Arbeitslebens (Hans Matthöfer 1974) sichtbar wird, dem es damals um eine gleichzeitige Modernisierung und Schutzverbesserung für Arbeitnehmer ging, von dem aber seit Ende der 1990er Jahre in der Arbeitsforschung und Arbeitspolitik bis vor kurzem kaum noch die Rede war. Es kommt aber m.E. heute darauf an, die konkrete Gestalt einer menschenwürdigen Arbeit unter den veränderten globalen Ausgangsbedingungen auch in Deutschland neu zu bestimmen. Dazu gehören damals wie heute die Beteiligung und Mitsprache der Menschen, die ihre Arbeitskraft in den gesellschaftlichen Leistungsaustausch einbringen wollen. Dazu gehören das Erproben gemeinsamer Interessenbildung und neuer Formen der Selbstorganisation genossenschaftlicher und gewerkschaftlicher Art. Und dazu gehört auch die gesellschaftspolitische Aufgabe, eine neue Balance zu finden und zu stützen zwischen beruflichen Tätigkeiten, die in den ökonomischen Leistungstausch eingebunden sind, und nichtbezahlten, nichtberuflichen Tätigkeiten, die aber für die Lebensqualität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt unabdingbar sind und an die uns nicht zuletzt die

15 | Konkrete Hinweise in: Informationsbrief Weltwirtschaft und Entwicklung, 1/2008. S. 6.

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demographische Entwicklung und die Defizite der Fürsorge für alte und Kinder hierzulande erinnern.16

L ITER ATUR Böhning, Roger W.: Labour Rights in Crisis. Measuring the Achievement of Human Rights in the World of Work, Houndsmills et al. 2005. Cichon, Michael/Hegemejer, Krzystof: Changing the Development Policy Paradigm. Investing in a Social Security Floor for All, in: International Social Security Review, 60/2007, S. 169196. Einblick, Gewerkschaftlicher Infoservice Berlin, 13/2008. S. 5. Informationsbrief Weltwirtschaft und Entwicklung, 1/2008. International Labour Conference 97th Session: ILO Declaration on Social Justice for a Fair Globalization, Genf 2008. International Labour Office: The Decent Work Agenda in Africa 2007-2015. Report of the Director-General, Eleventh African Regional Meeting, Addis Ababa 2007. Internationales Arbeitsamt: Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation, Genf 1997. Internationales Arbeitsamt: Menschenwürdige Arbeit. Bericht des Generaldirektors. Internationale Arbeitskonferenz, 87.Tagung, Genf 1999. Joerges, Christian/Rödl, Florian:Von der Entformalisierung europäischer Politik und dem Formalismus europäischer Rechtsprechung im Umgang mit dem »sozialen Defizit« des Integrationsprojekts, Universität Bremen, Zerp-Diskussionspapier 2/2008. Müller, Torsten/Platzer, Hans-Wolfgang/Rüb, Stefan: Internatio16 | Die Aktion Decent Work/Decent Life, die vom Internationalen und vom Europäischen Gewerkschaftsbund sowie von einer Reihe von Nichtregierungsorganisationen, z.B. Social Alert, getragen wird, kann vielleicht das geeignete Forum zur Verfolgung dieser Aufgaben darstellen. Siehe auch Senghaas-Knobloch, Eva: Wohin driftet die Arbeitswelt? Wiesbaden 2008.

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nale Rahmenvereinbarungen – Chancen und Grenzen eines neuen Instruments globaler Gewerkschaftspolitik, Friedrich Ebert Stiftung, Internationale Gewerkschaftskooperation, Kurzbericht 8/2008. Sarti, Raffaella: »Die meisten von uns haben sogar eine höhere Bildung…«. Neue DienstbotInnen in Südeuropa im Zeitalter der Globalisierung, in: L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, 17, 2/2006, S. 107-117. Senghaas-Knobloch, Eva/Dirks, Jan/Liese, Andrea: Internationale Arbeitsregulierung in Zeiten der Globalisierung. Münster 2003. Senghaas-Knobloch, Eva (Hg.): Weltweit geltende Arbeitsstandards trotz Globalisierung, Münster 2005. Senghaas-Knobloch, Eva: Wohin driftet die Arbeitswelt? Wiesbaden 2008. Sturma, Dieter: Universalismus und Neuaristotelismus. Amartya Sen und Martha Nussbaum über Ethik und soziale Gerechtigkeit. In: Wolfgang Kersting (Hg.): Politische Philosophie des Sozialstaates. Velbrück, Weilerswist 2000. S. 257-292.

Liebe macht glücklich! Was ist mit der Arbeit? Sozialpsychologische Aspekte von Lebens- und Arbeitszufriedenheit Petia Genkova

Die Psychologie hat sich wenig mit dem Wohlbefinden beschäftigt, vielmehr mit dem Unglück.1 Vielleicht ist die Ursache dafür der größere Bedarf an kausalen Erklärungen von negativen Prozessen als von positiven.2 Was unterscheidet das Wohlbefinden als psychologisches Konstrukt von den anderen Wohlbefindenskonstrukten?3 Diener4 und Diener & Diener5 bieten eine der am häufigsten zitierten sozialpsychologischen Definitionen an, da sie auch Vorreiter dieser Forschungstendenz u.a. mit zahlreichen Kulturvergleichen sind. Somit ist Wohlbefinden als »people evaluations of 1 | Vgl. Diener, E.: Subjective Well-Being, Psychology Bulletin, 95, 1984, S. 542-575. 2 | Vgl. Bohner, G., Bless, H., Schwarz, N. & Strack, F.: What triggers causal attributions? The impact of valence and subjective probability, In: European Journal of Social Psychology, 18, 1988, S. 335-345. 3 | Genkova, P.: »Nicht nur die Liebe zählt…« Lebenszufriedenheit und kultureller Kontext, Lengerich: Pabst Publishers: 2009. 4 | Diener, Subjective Well-Being, 1984. 5 | Diener, E. & Diener, C.: Most people are happy. In: Psychological Science, 7, 1996, S. 181-185.

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their lives« zu verstehen. Ihr Konstrukt besteht aus drei Aspekten: (1) Lebenserfahrung der Person; (2) positives Ausmaß und (3) globale Beurteilungen aller Aspekte des persönlichen Lebens. Später definierten Diener & Diener6 das Konstrukt als bewertende Reaktion auf das eigene Leben mit Hilfe der Begriffe der Lebenszufriedenheit (kognitiv) oder des Wohlbefindens (affektiv/emotional). Diener7 zufolge hat das subjektive Wohlbefinden drei Dimensionen: die Frequenz von positiven Affekten, die Intensität von erfahrenen Emotionen und die Lebenszufriedenheit als kognitive Evaluation des eigenen Lebens. Dabei werden die Begriffe Lebenszufriedenheit, Wohlbefinden und Glück als Synonyme gebraucht.

1. W IE ENTSTEHT W OHLBEFINDEN ? A NSÄT ZE ÜBER DIE Ä TIOLOGIE DES W OHLBEFINDENS Um dies eingehender zu erklären, werden mehrere theoretische Ansätze herangezogen. Wohlbefinden entsteht durch den Vergleich der tatsächlich erreichten Bedürfnisbefriedigung mit einer Bezugsnorm (relative Befriedigung), welche den Ist-Zustand in positivem Licht darstellt (kognitivistischer Zugang, was auch in Vergleichsniveautheorien festgehalten wurde8). 6 | Diener, E., Diener, M. & Diener, C.: Factors predicting the subjective well-being of nations. In: Journal of Personality and Social Psychology, 69, 1995, S. 851-864. 7 | Diener, E.: Assessing subjective well-being: Progress and opportunities. In: Social Indicators Research, 31, 1994, S. 103-157. 8 | Vgl. Becker, P.: Theoretische Grundlagen. In: A. Abele & P. Becker (Hg.) Wohlbefinden. Theorie – Empirie – Diagnostik (2. Aufl.), Weinheim: Juventa 1994, S. 13-49; Perrig-Chiello, P.: Wohlbefinden im Alter: Körperliche, psychische und soziale Determinanten und Ressourcen, Weinheim: Juventa 1997; Veenhoven, R.: Questions on happiness: classical topics, modern answers, blind spots. In: F. Strack, M. Argyle & N. Schwarz (Hg.) Subjective well-being: An interdisciplinary perspective, Oxford: Pergamon Press 1991c, S. 7-26; Frey, D. & Gaska, A.: Die

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Wohlbefinden entsteht durch ein individuelles Anspruchsniveau, welches mit hoher Wahrscheinlichkeit erreichbar ist. Dieser Vergleich bezieht sich nicht auf die Befriedigung, sondern auf die Befriedigungswahrscheinlichkeit. Dies ist ein kognitivistischer Zugang zur Analyse des Wohlbefindens mittels Anspruchsniveautheorien.9 Das Anspruchsniveau stellt einen persönlichen Standard dar, der als Kriterium in den Bewertungsprozess eingeht. Die Höhe solcher Standards wird von eigenen Erfahrungen und sozialen Vergleichen beeinflusst. Das hohe Anspruchsniveau ist für die Person zwar motivierend und herausfordernd, kann sich aber auch als belastend und wohlbefindensbeeinträchtigend herausstellen.10 Die Bedeutung der Festsetzung des Anspruchsniveaus für die Zufriedenheit kann durch das Modell von Bruggemann et al.11 veranschaulicht werden, der in seiner Untersuchung querschnittsgelähmte Personen mit Lottogewinnern verglichen hat. Die Ergebnisse zeigen, dass nach kürzester Zeit die Zufriedenheit der Lottogewinner sinkt und sogar unter das Niveau der querschnittsgelähmten Personen fällt. In diesem Modell kann sich eine diffuse Unzufriedenheit nach der Senkung des Anspruchsniveaus zu einer resignativen (Arbeits-)Zufriedenheit ausformen, während eine Beibehaltung des Anspruchsniveaus je nach Situationswahrnehmung und Problemlösungsversuchen zu einer Pseudo-(Arbeits-)Zufriedenheit bzw. zu einer fixierten oder konstruktiven (Arbeits-)Zufriedenheit

Theorie der kognitiven Dissonanz. In: D. Frey & M. Irle (Hg.) Theorien der Sozialpsychologie, Bd. 1, (2. Aufl.), Bern: Huber 1993, S. 275-325. 9 | Vgl. Hofstätter, P.R.: Bedingungen der Zufriedenheit, Zürich: Edition Interform 1986; Michalos, A.C.: Satisfaction and happiness. In: Social Indicators Research, 8, 1980, S. 347-413; Becker, Theoretische Grundlagen, 1994; Perrig-Chiello, Wohlbefinden im Alter, 1997. 10 | Bongartz, N.: Wohlbefinden als Gesundheitsparameter. Theorie und treatmentorientierte Diagnostik, Landau: Verlag Empirische Pädagogik 2000. 11 | Bruggemann, A., Groskurth, P. & Ulich, E.: Arbeitszufriedenheit, Bern: Huber 1975.

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führen kann.12 Das Anspruchsniveau stellt sich als ein wichtiger Ansatzpunkt für Veränderungen in der Zufriedenheit heraus. Das Zufriedenheitserleben wird durch unsere Neigung beeinflusst, unsere Wahrnehmungen, Einstellungen, Erwartungen und unser Verhalten in Einklang zu halten, d.h. Dissonanzen zwischen den kognitiven Elementen zu vermeiden (interne Konsistenz). Wir nehmen Konsistenz kognitiv und emotional als angenehm wahr, während Dissonanz als eher unangenehm erlebt wird.13 Das Streben nach interner Konsistenz steht vermutlich in einem engen Zusammenhang mit dem Erleben von Zufriedenheit und Unzufriedenheit. Die Lebenszufriedenheit ist das Erleben, welches durch einen kognitiven Prozess begründet wird, in dem die Bewertung des eigenen Lebens im Mittelpunkt steht. Die Bewertung erfolgt z.B. im Vergleich eines subjektiv erlebten Ist-Zustands mit einem subjektiv festgesetzten Soll-Zustand auf der Grundlage ausgewählter, potentiell relevanter Informationen bezüglich des eigenen Lebens. Der subjektiv festgesetzte Soll-Zustand wird durch Erwartungen, Bedürfnisse, Ziele, Idealisierungen sowie durch soziokulturelle Normen und Werte einer Person beeinflusst. Der subjektiv erlebte Ist-Zustand ist die Wahrnehmung vergangener, gegenwärtiger und/oder zukünftig erwarteter Ereignisse. Bei der subjektiven Einschätzung14 handelt es sich um das Abwägen hervorgehender Gefühle der Dissonanz oder Kongruenz bzw. um das harmonische Verhältnis zwischen Person und Umwelt .15 Die Re12 | Vgl. Ebd. und Semmer, N. & Udris, I.: Bedeutung und Wirkung von Arbeit. In: H. Schuler (Hg.) Lehrbuch Organisationspsychologie (2. Aufl.), Bern: Huber 1995, S. 133-165. 13 | Vgl. Frey & Gaska, Die Theorie der kognitiven Dissonanz, 1993 und Weber, H.: Veränderungen gesundheitsbezogener Kognitionen. In: P. Schwenkmezger & L.R. Schmidt (Hg.) Lehrbuch der Gesundheitspsychologie, Stuttgart: Enke 1994, S. 188-206. 14 | Mayring, P.: Psychologie des Glücks, Stuttgart: Kohlhammer 1991. 15 | Argyle, M. & Martin, M.: The psychological causes of happiness. In: F. Strack, M. Argyle & N. Schwarz (Hg.) Subjective well-being: An interdisciplinary perspective, Oxford: Pergamon Press 1991, S. 77-100; Ferring, D., Filipp, S.-H. & Schmidt, K.: Die »Skala zur Lebensbewertung«:

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lativitätsposition betont die Bedeutung der subjektiven Wahl des Standards der Sollgröße für das Ausmaß der selbstberichteten Lebenszufriedenheit.16 Je höher dieser Standard liegt, desto eher wird eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen der Soll- und der Ist-Größe erlebt, welche die Lebenszufriedenheit beeinträchtigt – wobei hier, wie oben erwähnt, die Beliebigkeit des kognitiven Erlebens eine persönliche und subjektive Dimension der Lebenszufriedenheit darstellt. Nach Michalos17 ist die Zufriedenheit höher, wenn die Leistungen näher an den Ansprüchen sind. Erwartungen und Anforderungen basieren auf Vergleichen mit anderen Menschen und deren vergangenen Erfahrungen. Die persönliche Lebenszufriedenheit verändert sich in eine positive Richtung infolge des Grades der persönlichen Erfahrung oder Erwartung angenehmer sozialer Interaktionen und Veränderungen oder in eine negative Richtung infolge physischer und psychischer Symptome. Wohlbefinden ist eng mit der kognitiven Konsistenz verknüpft, da das Individuum seine Motivverwirklichungen und damit auch sein Wohlbefinden maximieren möchte.18 Beides zusammen ist aber häufig auf Grund der Umweltbedingungen nicht erfüllbar. Empirische Skalenkonstruktion und erste Befunde zu Reliabilität, Stabilität und Validität. In: Zeitschrift für Differentielle und Diagnostische Psychologie, 17 (3), 1996, S. 141-153; Ferring & Filipp 1997; Veenhoven, R.: Ist Glück relativ? Überlegungen zu Glück, Stimmung und Zufriedenheit aus psychologischer Sicht. In: Report Psychologie, 16, 1991b, S. 14-20; Veenhoven, Questions on happiness, 1991c; Grob, A., Lüthi, R., Kaiser, F.G., Flammer, A., Mackinnon, A. & Wearing, A.J.: Berner Fragebogen zum Wohlbefinden Jugendlicher (BFW). In: Diagnostica, 37, 1991, S. 66-75. 16 | Standard-Theorie-Multipler Diskrepanz; Michalos, Satisfaction and happiness, 1980; Michalos, A.C.: Multiple discrepancies theory (MDT). In: Social Indicators Research, 16, 1980, S. 347-413. 17 | Michalos, Multiple discrepancis theory, 1985. 18 | Mosler, H.J.: Bedürfnisse und Wohlbefinden. Eine empirische Analyse von Daten des Fragebogens zu Lebenszielen und zur Lebenszufriedenheit (FLL), Frankfurt a.M.: Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung 1992.

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Deswegen ist zu vermuten, dass das Wohlbefinden von den Motivverwirklichungen beeinflusst wird, damit es bei Frustration nicht vermindert wird. Das bedeutet, dass das Individuum seine Verwirklichung der Motive entsprechend seinem Wohlbefinden bewertet, ordnet und arrangiert. Eine Maximierung der Motivverwirklichung ist aber nur dann gegeben, wenn das Individuum die wahrgenommenen Verwirklichungsmöglichkeiten ausschöpft. Das Wohlbefinden wird dann maximiert, wenn das Individuum eine Übereinstimmung (Konsistenz) zwischen der realisierten Verwirklichung und den Verwirklichungsmöglichkeiten eines Motivs wahrnimmt. Dies erfolgt nach dem Motto »Ich fühle mich dann wohl, wenn ich denke, dass ich habe, was ich bekommen kann.« Außer den bereits erwähnten Ansprüchen spielt auch die Anpassung eine wichtige Rolle. Das Wohlbefinden entsteht durch Gewöhnung bzw. Anpassung, was auch mit dem Immer-WiederZurückkehren (set point) zu einem vorigen Zustand nach schwierigen Lebensereignissen und Lebensbedingungen19 verbunden ist. Sie wurden schon in Bezug auf Wohlstand angesprochen. Darüber hinaus spielen sie auch eine wichtige Rolle bei der Adaption und den passungstheoretischen Ansätzen (die »optimale Passung zwischen Person und Umwelt«20). Eine weitere, übergreifende Theorie besagt, dass Glück zyklisch ist; glücklichere Perioden wechseln sich mit unglücklicheren ab und umgekehrt. Empirische Untersuchungen über längere Zeiträume, die sich mit Stimmungen und Lebenszufriedenheit beschäftigen, weisen kein zyklisches Muster auf.21 Dabei wird der Zeroism, ein Nullzustand ohne schlechte und gute Ereignisse und Erlebnisse, als Glückszustand nicht unterstützt. 19 | kognitivistischer Zugang mittels Adaptationsniveautheorien, vgl. Brickman, P., Coates, D. & Janoff-Bulman, R.:: Lottery winners and accident victims: Is happiness relative?, Journal of Personality and Social Psychology, 36, 1978, S. 917-927; Becker, Theoretische Grundlagen, 1994; Perrig Chiello, Wohlbefinden im Alter, 1997. 20 | Vgl. Becker, Theoretische Grundlagen, 1994. 21 | z.B. Fordyce, M.W.: Happiness, its daily variation and its relation to values, California: United States International University 1972.

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Alle Lebensereignisse werden von Umweltfaktoren beeinflusst. Die empirisch ermittelte Rangfolge von relevanten Umweltfaktoren für Glück ist folgende: (1) soziale Bedingungen (Ehe, Partnerschaft, Familie, Freundschaft, soziale Unterstützung), (2) allgemeiner Lebensstandard und (3) Arbeitsbedingungen.22 Diese gelten kulturübergreifend. Darüber hinaus sind die kulturellen Normen und Regeln wichtig.23 Die sozialen Vergleiche stimulieren das subjektive Wohlbefinden auf der individuellen Ebene, wenn wir feststellen, dass wir glücklicher als andere sind. Dieses gilt allerdings nicht für die kulturelle Ebene. Die Bewertungsprozesse sind über die Lebensspanne einer Person unterschiedlich. Im Durchschnitt neigen die Menschen dazu der Bedeutung der äußeren Umstände (z.B. Einkommen) größere Bedeutung beizumessen, als diese real für das Wohlbefinden haben.24

2. M ACHT G ELD GLÜCKLICH ? In Bezug von Wohlbefinden werden verschiedene Zusammenhangsvariablen betrachtet. Während Persönlichkeitsdispositionen von der Persönlichkeits- und Gesundheitspsychologie betrachtet und die physischen Aspekte eher von der Biopsychologie analysiert werden, beschäftigt sich die Sozialpsychologe verstärkt mit den Umweltfaktoren.25

22 | Campbell, A.: The sense of well-being in America: Recent patterns and trends, New York: McGraw-Hill 1981; Freedman, J.L.: Happy people, New York: Harcourt Brace Jovanovich 1978; Glatzer, W. & Zapf, W. (Hg.): Lebensqualität in der Bundesrepublik: Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden, Frankfurt a.M.: Campus 1984. 23 | Vgl. Becker, Theoretische Grundlagen, 1994, Becker 1990. 24 | Takakiewicz 1984; Kammann, R./Campbell, K.: Illusory Correlation in Popular. Beliefs about the Causes of Happiness. In: New Zealand Journal of Psychology, 11, 1982, S. 52-63; nach Becker, Theoretische Grundlagen, 1994. 25 | Vgl. Genkova, »Nicht nur die Liebe zählt...«, 2009.

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Als eine wichtige Zusammenhangsvariable des Wohlbefindens ist der Wohlstand zu betrachten – macht Geld glücklich? Wohlstand wird objektiv als bestimmbare materielle Ressource zur Befriedigung von Bedürfnissen (z.B. Einkommen, Vermögen) aufgefasst. Ein Grund für eine nicht-lineare Transformation zwischen Wohlstand und Wohlbefinden besteht vermutlich in der Adaption der Ansprüche an das jeweilige Wohlstandsniveau.26 Beim Vergleich der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit in verschiedenen europäischen Ländern im Rahmen der Eurobarometer-Befragungen zeigte sich die Tendenz, dass je höher der Wohlstand eines Landes ist, desto größer auch der Anteil der Zufriedenen ist.27 Diener et al.28 untersuchten Zusammenhänge zwischen dem durchschnittlichen Einkommen und dem mittleren Niveau des selbstberichteten Wohlbefindens von 55 Nationen. Sie stellten für diese aggregierte Ebene fest, dass das Einkommen eine positive Prädiktorvariable für das selbstberichtete Wohlbefinden ist und somit Wohlbefinden schafft. Sicherheit und viele Handlungs- und Nutzungsmöglichkeiten sind mit der Einkommenshöhe verbunden. Das Einkommen tilgt viele Stressoren und dient der Stressbewältigung. Einerseits erhöht Demokratie das subjektive Wohlbefinden, andererseits führt das subjektive Wohlbefinden auch zu Stabilität und Demokratie. Das subjektive Wohlbefinden ist also zugleich Ursache und Folge von Demokra-

26 | Vgl. Brandstätter, H.: Glück und Wohlbefinden [Happiness and subjective well-being]. In A. Schorr (Hg .): Handwör terbuch der Angewandten Psychologie. Bonn 1993, S. 308-312; Brandstätter, H.: Alltagsereignisse und Wohlbefinden. In: A. Abele & P. Becker (Hg.) Wohlbefinden. Theorie – Empirie – Diagnostik (2. Aufl.), Weinheim: Juventa 1994, S. 191-225. Brickmann et al., Lottery winners and accident victims, 1978; Veenhoven, R.: Is happiness relative? In: Social Indicators Research, 24, 1991a, S. 1-34; Veenhoven, Ist Glück relativ?, 1991b. 27 | Vgl. Noll, H.H.: Lebensbedingungen und Wohlfahrtsdisparitäten in der Europäischen Gemeinschaft. In: W. Glatzer (Hg.) Einstellungen und Lebensbedingungen in Europa, Frankfurt a.M.: Campus 1993; Brandstätter 1993. 28 | Ciener et al. 1995.

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tie und politischer Stabilität.29 Obwohl viele Studien signifikant nachweisen, dass Unterschiede in Einkommen, Ausbildung, Beschäftigung, Geschlecht, Familienstand auch das Wohlbefinden beeinflussen, unterscheiden sich − anders als erwartet − die besser Verdienenden nicht wesentlich von den schlechter Verdienenden im subjektiven Wohlbefinden. Solche demographischen Merkmale wie Ausbildung, Beschäftigung, Alter, Geschlecht und Religiosität erklären die Varianz des Wohlbefindens wenig.30 Die Korrelation zwischen Demokratie und well-being liegt dagegen bei ca. .78. Diese Ergebnisse werden durch sogenannte Anpassung der Erwartungshaltung und set-point-Modelle erklärt, die Folgendes postulieren: 1. Aktuelle Veränderungen, wie die Beförderung in einem Job oder der Verlust eines solchen, haben einen großen Einfluss auf das individuelle Wohlbefinden, da deren Level an Aspirationen verändert wurde. Nach einem Jahr berichten die Personen aber ähnliche Werte im Wohlbefinden wie vor den Veränderungen, da sie zu ihrem set-points zurückgekehrt sind. 2. Unterschiedliche Individuen haben unterschiedliche set-points. Einige Menschen weisen öfter höhere Werte im Wohlbefinden auf als andere.31

29 | Inglehart, R. & Klingemann, H.-D.: Genes, Culture, Democracy, and Happiness. In: E. Diener & E. M. Suh (Hg.) Culture and Subjective Wellbeing, Cambridge: Bradford Book 2000, S. 165-184. 30 | Andrews, F.M. & Withey, S.B.: Social indicators of well-being. American’s perception of life quality, New York: Plenum 1976; Inglehart, R.: Culture Shift in Advanced Industrial Society, Princeton: Princeton University Press 1990; Myers, D.G. & Diener, E.: Who is happy? In: Psychological Science, 6, 1995, S. 10-19; vgl. Veenhoven 1991. 31 | Costa, P.T., McCrae, R.R. & Zonderman, A.B.: Environmental and dispositional influences on well-being: Longitudinal follow-up of an American national sample. In: British Journal of Psychology, 78,1987, S. 299-306.

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In einer Längsschnittstudie zwischen Kulturen und innerhalb von Kulturen haben Diener & Oishi32 zwei Ergebnisse, die auch als intuitiv gelten können, festgestellt: 1. Wohlhabende Nationen sind glücklicher als arme. 2. Das subjektive Wohlbefinden steigt in den reichen Nationen über die letzten Jahre aber sehr wenig an, während die Wohlfahrt dort sehr angestiegen ist. Laut Veenhoven33 steigt das subjektive Wohlbefinden nur, wenn die Menschen ihre angeborenen Bedürfnisse befriedigen können. Deshalb hat das Einkommen in ärmeren Nationen einen größeren Einfluss auf das Wohlbefinden als in reicheren Ländern. Parducci34 formuliert in seiner Range-Frequenz-Theorie, dass Personen auf aktuelle Ergebnisse mit Bezug auf das in der Vergangenheit Geschehene reagieren, womit dieser Zusammenhang zu erklären wäre. Diesbezüglich wurden in einer Metaanalyse die Ergebnisse von 286 empirischen Studien ausgewertet.35 Man untersuchte die Zusammenhänge des sozioökonomischen Status (SES), der sozialen Netzwerke und der sozialen Kompetenz mit dem subjektiven Wohlbefinden. Dabei stellte sich heraus, dass das Einkommen stärker mit dem subjektiven Wohlbefinden als mit der Ausbildung 32 | Diener, E. & Oishi, S.: Money and Happiness: Income and Subjective Well-Being Across Nations. In: E. Diener & E. M. Suh (Hg.) Culture and Subjective Well-being, Cambridge: Bradford Book 2000, S. 185218. 33 | Veenhoven, Questions on happiness, 1991c; Veenhoven, R. (in association with J. Ehrhardt): The cross-national pattern of happiness: Test of predictions implied in three theories of happiness. In: Social Indicators Research, 34, 1995, S. 33-68. 34 | Parducci, A.: Happiness, Pleasure, and Judgment. The Contextual Theory and Its Applications, Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum 1995. 35 | Wilz, G., Adler, C., Gunzelmann, T. & Brähler, E.: Auswirkungen chronischer Belastungen auf die physische und psychische Befindlichkeit. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 32 (4), 1999, S. 255265.

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korreliert. Die Qualität der sozialen Kontakte stellt stärkere Assoziationen mit dem subjektiven Wohlbefinden dar als die Quantität der sozialen Kontakte. Kontakte mit Freunden hängen stärker mit dem subjektiven Wohlbefinden zusammen als mit dem Kontakt mit erwachsenen Kindern. Dabei hat die Qualität der Kontakte mit erwachsenen Kindern höhere Werte im Vergleich zur Qualität der Kontakte mit Freunden. Der sozioökonomische Status, die sozialen Netzwerke und die soziale Kompetenz moderieren das subjektive Wohlbefinden in Bezug auf Geschlecht und Alter. In Bezug auf den sozioökonomischen Status und das subjektive Wohlbefinden existiert bei Männern ein stärker ausgeprägter Zusammenhang als bei Frauen. Die Korrelationen von Einkommen und Ausbildung mit Lebenszufriedenheit und Glück sind bei Männern ebenfalls höher als bei Frauen.36 Dies hängt vom unterschiedlichen Sozialisationsprozess und der differierenden Selbstwahrnehmung ab, was durch den Zusammenhang gestützt wird, dass dies bei älteren Männern und Frauen noch stärker zum Ausdruck kommt als bei jüngeren. Dabei hat das soziale Netzwerk auf das subjektive Wohlbefinden von Frauen einen stärkeren Einfluss als von Männern, wie bereits die Ergebnisse der Einzelstudien zeigten.37 Veenhoven38 hat neun der reichsten und neun der ärmsten Nationen verglichen. Ouweenel & Veenhoven39 stellen die Korrelation des Durchschnittseinkommens in 28 Nationen mit einem Durchschnitt des subjektiven Wohlbefindens von .62, während es bei Diener et al.40 noch .59 war. Hier werden folgende Ergebnisse als ausschlaggebend ermittelt: Je größer die Gleichheit des Wohl-

36 | Ebd. 37 | Ebd. 38 | Veenhoven 1991. 39 | Ouweenel, P. & Veenhoven, R.: Cross-national differences in happiness: Cultural bias or societal quality? In: N. Bleichrodt and P. J. D. Drenth (Hg.) Contemporary Issues in Cross-Cultural Psychology, Amsterdam: Swets and Zeitlinger 1991, S. 168-184. 40 | Diener et al., Factors predicting the subjective well-being of nations, 1995.

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standes, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von subjektivem Wohlbefinden. Dass die ökonomische Freiheit im Durchschnitt das subjektive Wohlbefinden in den Nationen fördert, wurde belegt. Die Antwort auf die Frage, ob mit mehr Freiheit, einschließlich politischer und persönlicher Freiheit, die subjektive Lebenszufriedenheit steigt, zeigt Unterschiede auf: in den wohlhabenden Nationen wird die oben genannte Wechselwirkung beobachtet, nicht aber in den armen.41 Daher stellt sich die Frage, ob Personen, die berichten, dass sie ein höheres Einkommen haben, glücklicher sind. Obwohl westliche Gesellschaften über ein höheres Einkommen verfügen, kann trotzdem keine signifikante Zunahme des Wohlbefindens festgestellt werden. Personen aus ärmeren Gesellschaften sind sogar durch eine höhere Lebenszufriedenheit gekennzeichnet, da in den reicheren die Ansprüche und Erwartungen gestiegen sind, was die Gewinne des Wohlstands für das Wohlbefinden reduziert hat.42 Nicht nur ökonomischer Wohlstand setzt Wohlbefinden voraus43, sondern auch soziales Kapital, demokratische und menschliche Rechte, positive, soziale Beziehungen, Unterstützung und Netzwerke. In Bezug auf die Arbeitszufriedenheit verhält es sich anders. Nur gute Bezahlung führt nicht unbedingt zu hoher Arbeitszufriedenheit, die mit höherer Lebenszufriedenheit zusammenhängt. Man stellt auch fest, dass glückliche Mitarbeiter besser und effizienter arbeiten. Außerdem verfügen glückliche Menschen auch über bessere soziale Kontakte. Dieser Zusammenhang gilt auch in Bezug auf Gesundheit und Einsam-

41 | Veenhoven, R.: Freedom and Happiness: A Comparative Study in Forty-four Nations in the Early 1990s. In: E. Diener & E. M. Suh (Hg.) Culture and Subjective Well-being, Cambridge: Bradford Book 2000, S. 257-288. World Database of Happiness. http://www.eur.nl/fsw/re search/happiness, download 2005. 42 | Diener, E. & Seligman, M.E.P.: Beyond Money. Toward an Economy of Well-Being. In: Psychological Science in the Public Interest, 5 (1), 2004, S. 1-31. 43 | Ebd.

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keit: Glückliche Menschen sind gesünder und fühlen sich nicht einsam. Befinden wir uns dann nicht in einem Teufelskreis, wenn glückliche Menschen bereits über alle Determinanten des Glücks verfügen müssen, um überhaupt glücklich zu werden?44 Was sollen dann Unglückliche tun, um sich besser zu fühlen? Macht Liebe oder Geld die Leute glücklicher? Diese Frage ist Gegenstand vieler Gespräche im Alltag und in den Medien. Eindeutige psychologische Erkenntnisse fehlen. Dennoch haben Diener & Oishi45 in einer Studie mit Studenten festgestellt, dass Personen, die mehr Geld haben, eindeutig weniger glücklich sind, als diejenigen, die mehr Liebe bekommen. Ähnliche Ergebnisse haben Ryan et al.46 und Kasser47 gewonnen und eine kulturübergreifende Gültigkeit dieses Zusammenhangs nachgewiesen.

3. A RBEITSZUFRIEDENHEIT UND G LÜCK Da Geld und Liebe allein nicht glücklich machen, stellt sich die Frage, ob eine erfüllende Arbeit und Karriere dazu beitragen kann. Lebenszufriedenheit und Arbeitszufriedenheit hängen eng zusammen. Diese These ist sowohl Forschungsobjekt der Sozial- als auch der Arbeits- und Organisationspsychologie.48 In einer Arbeitssituation zählen nicht nur Bedürfnisse, die mit dieser zusammenhängen. Arbeitszufriedenheit wird als ein angenehmer

44 | Ebd. 45 | Diener & Oishi, Money and Happiness, 2000. 46 | Ryan, R.M., Sheldon, K., Kasser, T. & Deci, E.L.: All goals are not created equal. In: P. M. Gollwitzer and J. A. Bargh (Hg.) The Psychology of Action: Linking Cognition and Motivation to Behavior, New York: Guilfold 1996, S. 7-26. 47 | Kasser, T.: Two versions of the American dream: Which goals and values make for a high quality of life. In:E. Diener & D. R. Rahtz (Hg.) Advances in Quality of Life Theory and Research, Dordrecht: Kluwer Academic 2000, S. 3-12. 48 | Vgl. auch Diener, Assessing subjective well-being, 1994.

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oder positiver emotionaler Zustand definiert, der sich aus der Bewertung des eigenen Jobs oder der Joberfahrungen ergibt. Zufriedenheit resultiert aus der Erfüllung unserer Bedürfnisse oder aber aus der Antizipation dieser Erfüllung. Unzufriedenheit ist entsprechend eine Folge der realen oder antizipierten Frustration. Es liegt folgende Wechselbeziehung zwischen Arbeitszufriedenheit und Wohlbefinden vor: Erstens beeinflussen Arbeitsbedingungen das Wohlbefinden: Die Anforderungen der Tätigkeit verlangen bestimmte fachliche und soziale Kompetenzen. Der verdiente und so anerkannte Erfolg bereitet der Person auch eine gesellschaftliche Bewertung (durch andere). Zweitens wirkt sich das Wohlbefinden auf die Arbeitssituation aus: Ein gutes Selbstwertgefühl, soziale Kompetenzen, Interessen und Wertvorstellungen führen zu mehr Erfolg in der Arbeit.49 Diener50 legt dar, dass die Korrelation zwischen Arbeitszufriedenheit und allgemeiner Lebenszufriedenheit so hoch ist, dass man Arbeitszufriedenheit als die kognitive Komponente des Wohlbefindens betrachten könne. Weiterhin ist die relative Stabilität der Lebenszufriedenheit über die Lebensspanne hinweg zu berücksichtigen, wohingegen die Arbeitszufriedenheit stark von den konkreten Arbeitsbedingungen abhängt.51 Eine weitere Unterscheidung ergibt sich zwischen Arbeits- und Berufszufriedenheit, wobei sich eine hohe Zufriedenheit mit einem Berufswunsch und einer Berufswahl einstellen, aber dennoch eine aktuell niedrige Arbeitszufriedenheit aufgrund konkreter Arbeitsbedingungen, Belastungen und Beanspruchungen, fehlender An49 | Vgl. Becker, Theoretische Grundlagen, 1994; Diener, Subjective well-being, 1984; Diener & Oishi, Money and Happiness, 2000; Diener, E. & Suh, E.M. (Hg.): Culture and Subjective Well-being, Cambridge: Bradford Book 2000a; Diener, E. & Suh, E.M.: Measuring Subjective Well-being to Compare the Quality of Life of Cultures. In: E. Diener & E. M. Suh (Hg.) Culture and Subjective Well-being, Cambridge: Bradford Book 2000b, S. 3-12; Zapf, D.: Arbeit und Wohlbefinden. In: A. Abele & P. Becker (Hg.) Wohlbefinden. Theorie – Empirie – Diagnostik, Weinheim: Juventa 1991, S. 227-244. 50 | Diener, Subjective Well-Being, 1984. 51 | Genkova, »Nicht nur die Liebe zählt…«, 2009.

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erkennung und fehlender sozialer Unterstützung zum Ausdruck kommen kann. Mehrere Untersuchungen beweisen, dass Personen mit erfolgreicher Karriere ohne intime soziale Unterstützung unglücklich sind. Ohne beruflichen Erfolg kommt es aber häufig zu einer resignativen Zufriedenheit. In Bezug auf die Berufstätigkeit hat man z.B. festgestellt, dass sich halbe Stellen negativer als ganze Stellen oder gar keine Erwerbstätigkeit auf das Wohlbefinden auswirken.52 Trotzdem ist dies weiterhin das vorherrschende Verhaltensmuster bei vielen berufstätigen Frauen. Letzte Ergebnisse weisen nach, dass die Work-Life-Balance sogar höher ist, wenn die Personen Kinder und Familie haben. Das ist ein Verweis auf die doppelte Belastung, trotzdem kommt es dadurch selten zur Fixierung oder Überbewertung eines der Bereiche (Familie und Beruf) oder der Probleme, die dort auftreten. Arbeitszufriedenheit charakterisiert nicht das Arbeitsverhältnis, sondern ergibt sich aus einem Zusammenspiel zwischen Person und Situation. Sie ist nicht der Indikator für die Qualität des Arbeitslebens, sondern ein Indikator, der die subjektive Stellungnahme wiedergibt53, die sich je nach Situation wieder verändern kann. Die Arbeitszufriedenheit ist kein Merkmal der Person, das für die längere Zeit konstant ist, sondern sie ist an die Motivbefriedigung gekoppelt und verläuft somit phasisch, was bei der Lebenszufriedenheit nicht der Fall ist.54 Stellt aber die »sanfte Karriere« den idealen Weg zu Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden dar? Bei der Erlanger Längsschnittstudie BELA-E55 wurden die Faktoren ermittelt, die die Work-LifeBalance regulieren. Vorstellungen zur Art der Berufsausübung 52 | Vgl. auch Diener et al. 2000; Abele, A. & Becker, P. (Hg.): Wohlbefinden. Theorie – Empirie – Diagnostik (2. Aufl.), Weinheim: Juventa 1994 u.a. 53 | Vgl. Neuberger, O. & Kompa, A.: Wir, die Firma. Der Kult um die Unternehmenskultur, Weinheim: Beltz 1987. 54 | Vgl. Rosenstiel, L.v.: Grundlagen der Organisationspsychologie. Basiswissen und Anwendungshinweise, Stuttgart: Poeschel 1980. 55 | Abele, A.: Die Prognose des Berufserfolgs von Hochschulabsolventinnen und -absolventen. Befunde zur ersten und zweiten Erhebung

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lassen sich z.B. über Berufstypen beschreiben, bei denen die zeitliche und inhaltliche Prioritätensetzung von beruflichen und privaten Belangen variiert. Dem Karrieretyp, bei dem die gesamte Lebensplanung auf den beruflichen Aufstieg hin orientiert ist, steht u.a. der sanfte Karrieretyp gegenüber, bei dem eine Balance zwischen beruflichen und privaten Zielsetzungen angestrebt wird.56 Es wurden ca. 2.000 Hochschulabsolventinnen und -absolventen sämtlicher Fachrichtungen zum ersten Mal kurz nach ihrem Examen zu ihren beruflichen und privaten Lebensvorstellungen befragt und dann regelmäßig wieder kontaktiert, um etwas über Berufsverlauf, Lebenssituation und eine Vielzahl psychologischer Parameter in Zusammenhang zu bringen. Die Längsschnittstudie läuft seit neun Jahren. Bisher wurden vier Befragungen durchgeführt. U.a. wurden die Teilnehmer in ihrer Berufsanfangsphase zu Berufstypen interviewt und mehrere Jahre später wurde analysiert, inwiefern diese in der beruflich-privaten Lebensführung umgesetzt wurden. Die Befunde der Erlanger Längsschnittstudie BELA-E57 zeigen, dass ein häufig genanntes Ziel junger Studierenden und Absolventen der berufliche Erfolg ist. Inwieweit Erfolg im Beruf jedoch zu späterer Lebenszufriedenheit führt, ist bisher unklar. Untersuchungen dazu kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Dies liegt u.a. an unterschiedlichen Operationalisierungen von Berufserfolg, einerseits über äußere Kennzahlen wie Gehalt, Hierarchiestufe und Vorgesetztenstatus (»objektive« Maßstäbe), andererseits über persönliche Einschätzungen und Laufbahnzufriedenheit (»subjektive« Maßstäbe). Offensichtlich hängt das Wohlbefinden mit Karriere zusammen, ähnlich wie das Wohlbefinden mit Einkommen. Die Ansprüche und Erwartungen, und ob diese erfüllt werden, sind für die individuelle Lebenszufriedenheit ausschlaggebend.

der Erlanger Längsschnittstudie BELA-E. In: Zeitschrift für Arbeits- und Organisation-spsychologie, 48 (1), 2004, S. 4-16. 56 | Ebd. 57 | Dette et al. 2004; nach Abele, Die Prognose des Berufserfolgs von Hochschulabsolventinnen und -absolventen, 2004.

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Die Ressourcenebene des Wohlbefindens58 ist dabei auch zu berücksichtigen. Demzufolge sind Ressourcen alle dem Individuum objektiv zur Verfügung stehenden bzw. von ihm wahrgenommenen intrapersonellen und extrapersonellen Bedingungen, die ihm potentiell zur Lebensbewältigung und zur Aufrechterhaltung des Wohlbefindens bereitstehen.59 Die Nutzung der Umweltressourcen für das Wohlbefinden einer Person setzt in der Regel bestimmte Handlungsressourcen bei dieser Person voraus.60 Durch die seelische Gesundheit wird ein wichtiger Aspekt der psychischen Wohlbefindensressourcen unzureichend abgedeckt, nämlich »die generalisierte Selbstwirksamkeitserwartung«.61 Hierbei handelt es sich um Formen des Metawissens mit kognitiven und emotionalen Anteilen. Letztere dienen auch als Voraussetzungen für das Entstehen vom Wohlbefinden.

4. Z USAMMENFASSUNG Das Forschungskonstrukt »Wohlbefinden in der Psychologie« ist zu komplex und bezieht mehrere Bereiche ein. Inwieweit diese Komplexität reduziert werden muss, um empirisch eindeutige Ergebnisse, mehr Genauigkeit und Präzision zu erzielen und 58 | Bongartz, Wohlbefinden als Gesundheitsparameter, 2000. 59 | Perrig-Chiello, Wohlbefinden im Alter, 1997. 60 | Vgl. Hornung, R. & Gutscher, H.: Gesundheitspsychologie: Die sozialpsychologische Perspektive. In: P. Schwenkmezger & L.R. Schmidt (Hg.) Lehrbuch der Gesundheitspsychologie, Stuttgart: Enke 1994, S. 65-87. 61 | Vgl. dazu Schwarzer, R. (Hg.): Self-efficacy: thought control of action, Washington, DC: Hemisphere 1992; Schwarzer, R.: Optimistische Kompetenzerwartung: Zur Erfassung einer personellen Bewältigungsressource, Diagnostica, 40, 1994, S. 105-123; Schwarzer, R.: Psychologie des Gesundheitsverhaltens (Reihe Gesundheitspsychologie, Bd. 1) (2. Aufl.), Göttingen: Hogrefe 1996; Schwarzer, R. & Born, A.: Optimistic self-beliefs: Assessment of general perceived self-efficacy in thirteen cultures. In: World Psychology, 3, 1997, S. 177-190.

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inwieweit dies den einzig richtigen Weg darstellt, stellt ein weiteres theoretisches und empirisches Problem dar. Natürlich sind einige »Rezepte«, wie man glücklich wird, die übliche Anforderung, die man an die Psychologie stellt. Dennoch reagiert man mit Abwertung, wenn diese wegen zu globaler Aussagen nicht »funktionieren«, da sie die Gefahr von Oberflächlichkeiten mit sich bringen.62 Im Alltag wird dies durch die Psychologisierung der Gesellschaft deutlich: Es wird häufig reflektiert, wie man sich selbst wahrnimmt oder von anderen wahrgenommen wird und immer diskutiert, wie man sich fühlt. Eine Vielfalt ironischer Witze aus dem alltäglichen Leben spiegelt das wider. Diese beinhalten auch die subjektiven Theorien der Menschen. Dennoch bieten die subjektiven Theorien der Menschen eine alltagsbezogene handlungsorientierte Perspektive an, wie man das eigene und fremde Wohlbefinden steigern kann. Zudem sind sie permanent Gegenstand in den Medien: »Wie bleibe ich gesund?«, »Wie kann ich meine Karriere ankurbeln?«, »Wie finde ich meinen Traumpartner?«, »Welches sind die d’s und don’ts?«. Die Gesellschaft hat sich davon befreit, sich von Psychologen, Ärzten oder anderen Autoritäten einreden zu lassen, dass man mit nur einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur glücklich werden kann. Das stellt auch eine Art Befreiung dar von der Urteilsperspektive, wer und was neurotisch und negativ zu bewerten ist, wie man sich fühlen und wann man glücklich sein soll. Jede Person ist emanzipiert genug, das selbst zu beurteilen und zu gestalten. Auch die Ausgangsperspektive der Sozialpsychologie ist so ausgerichtet: Fördern von Wohlbefinden, Ätiologie und Erforschung von Einflussvariablen und nicht die Reduktion des Leidensdrucks. Trotzdem steuern die Massenmedien durch die Globalisierung diesem Prozess entgegen, da ein Bild der glücklichen Person nach der nordamerikanischen Happy-People-Vorstellung unterstützt wird. Eine erfüllende Arbeit allein macht nicht glücklich, ist aber ein sicherer Weg dahin.

62 | Genkova, »Nicht nur die Liebe zählt…«, 2009.

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Veenhoven, R.: Freedom and Happiness: A Comparative Study in Forty-four Nations in the Early 1990s. In: E. Diener & E.M. Suh (Hg.) Culture and Subjective Well-being, Cambridge: Bradford Book 2000, S. 257-288. World Database of Happiness. http://www.eur.nl/fsw/research/ happiness, download 2005. Weber, H.: Veränderungen gesundheitsbezogener Kognitionen. In: P. Schwenkmezger & L.R. Schmidt (Hg.) Lehrbuch der Gesundheitspsychologie, Stuttgart: Enke 1994, S. 188-206. Wilz, G., Adler, C., Gunzelmann, T. & Brähler, E.: Auswirkungen chronischer Belastungen auf die physische und psychische Befindlichkeit. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 32 (4), 1999, S. 255-265. Zapf, D.: Arbeit und Wohlbefinden. In: A. Abele & P. Becker (Hg.) Wohlbefinden. Theorie – Empirie – Diagnostik, Weinheim: Juventa 1991, S. 227-244.

Von Artisanen, Cyberteams und Prekariern Visionen vom zukünftigen Arbeiten Karlheinz Steinmüller

Die Zukunft der Arbeit bietet seit langem viel Raum für Spekulationen, für Horrorvisionen wie auch für utopische Zukunftsbilder. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – dem Höhepunkt des Industriezeitalters – schilderten futurologische Sachbücher, SF-Romane und Filme eine normierte, durch und durch taylorisierte Fließband-Arbeitswelt, in der die Menschen selbst zu Rädchen einer großen Maschine geworden sind – und letztlich durch Roboter ersetzt werden. Der Weg führte von »Modern Times« über »Metropolis« hin zu menschenleeren Fabrikhallen. Nach dem zweiten Weltkrieg knüpften sich große Hoffnungen an ein »postindustrielles« Zeitalter, das den Menschen von schwerer und entfremdeter Routinearbeit befreien sollte. Statt Maloche Freizeit und Kreativität. Aus Filmen und SF-Büchern verschwanden die Fabriken; in der Satire machten sie Platz für den Aberwitz eines vernetzten Büroalltags. Telearbeiter und Hacker bestimmten die Zukunftsbilder. Doch wo stehen wir heute? Welche Visionen für die Zukunft der Arbeit lassen sich heute ausmachen?

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A USGANGSPUNK TE Wir haben den tief greifenden Wandel von der Industrie- zur postindustriellen Gesellschaft erlebt. Folgt nun auf die Informationsgesellschaft die »postinformationelle«? Mit neuen Begriffen tastet man sich vorsichtig an diese heran: Dienstleistungsgesellschaft, knowledge economy, networking society. Und es ist auch klar, dass das neue Zeitalter seine eigenen wirtschaftlichen Rationalitäten, eigene Arbeitsmodelle, eigene soziale Beziehungen mit sich bringen wird. Wissen, so viel steht fest, wird zur herausragenden Produktivkraft. Dies lässt sich an der Anzahl der Beschäftigten in den Wirtschaftssektoren ablesen. Während Anfang des letzten Jahrhunderts noch acht von zehn Beschäftigten in Landwirtschaft und Produktion tätig waren, sind es heute grob gerechnet noch vier. Und in Zukunft wird sich das Verhältnis weiter zugunsten des Dienstleistungssektors – speziell der wissensbasierten Services – verschieben. Um 2020 könnten sich acht von zehn Beschäftigten mit Dienstleistungen im weiteren Sinne befassen, und viele von ihnen wären Wissensarbeiter: Schul- und Hochschullehrer, Forscher und Entwickler, Berater und Informationsdienstleister, Manager, Coachs, Fachleute für Unternehmensorganisation und Wissenstransfer, Medienleute, Designer, Künstler und Kreative jeglicher Art. In Zukunft werden weniger Bergarbeiter und Programmierer benötigt, weniger gering qualifizierte Handarbeiter und weniger Call-Center-Agenten. Parallel wächst der Bedarf an Pflegekräften und persönlichen Beratern, an hoch qualifizierten und spezialisierten Hand- und Kopfarbeitern, auch an völlig neuen Berufen wie Bio-Ingenieuren. Womöglich aber führt das alte Wort »Beruf« uns hier in die Irre, denn die klassischen Berufsbilder lösen sich auf, und immer weniger Menschen werden auf Lebenszeit in ein und derselben Profession bleiben. Der Weg führt von dem einmal erlernten und dann über Jahrzehnte ausgeübten Beruf hin zu einem individuell erworbenen Kompetenzprofil, das man – im Sinne des viel beschworenen »lebenslangen Lernens« – erweitert, ausbaut, an neue Herausforderungen anpasst. Herausforderungen aber, die die neuen Arbeitsformen prä-

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gen, kommen von allen Seiten auf uns zu. Demografische Alterung, ständig neue Wellen technologischer Innovationen, Globalisierungsprozesse und die Anforderungen einer nachhaltigen Entwicklung wirken auf die Arbeitswelt der Zukunft. Wie aber lässt sich diese charakterisieren? Was unterscheidet sie von der des Industriezeitalters? Vielleicht hilft uns der Begriff der Entgrenzung hier ein Stück weiter: Arbeit wird zeitlich, räumlich und inhaltlich »entgrenzt«. Zuerst einmal werden die alten, festen Demarkationslinien zwischen Arbeitszeit und Freizeit porös – für viele, wenn auch nicht für alle. Doch gerade die Repräsentanten des neuen Arbeitsmodells, die »Wissensarbeiter« und Kreativen, sind längst mobile Telearbeiter. Gleich ob unterwegs oder zu Haus, sie sind erreichbar, und oft genug bietet erst die angebliche Freizeit Gelegenheit, einmal ungestört schwierigere Aufgaben abzuarbeiten. Denn die eigentliche Arbeitszeit wird immer mehr fragmentiert, durch Kommunikation unterbrochen, durch ein Termin-Stakkato strukturiert. Aber was heißt Arbeitszeit? Der feste Rahmen schrumpft auf Kernzeiten, Beginn und Ende sind flexibel, was wiederum zu Abstimmungsproblemen, Problemen mit der zeitlichen Synchronisation führt – vor allem für Familien. Aber auch aus der Perspektive eines menschlichen Lebens lösen sich die Grenzen auf: Die alte Trias Lehre – Arbeit – Ruhestand ist durch den Wechsel von Lernphasen, oft genug neben der eigentlichen Arbeit, freiwilligen und unfreiwilligen Auszeiten, Perioden der Neuorientierung und extrem verdichteten Arbeitsphasen abgelöst worden. Und mit Altersteilzeit, Zuverdiensten und verstärktem gesellschaftlichen Engagement im Rentenalter verwischt auch die Grenze zum Ruhestand. Betrachtet man neben Erwerbsarbeit und Bildungsarbeit auch die Eigenarbeit und gesellschaftliche Aktivitäten (»Gemeinsinnsarbeit«), wird das Bild noch komplexer.

D IE P REK ARIER Sie leben am Rande des Existenzminimums. Vollzeitjob, feste Anstellung – das war einmal. In der globalisierten Arbeitswelt mit Druck von allen Seiten muss man sehen, wie man über die

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Runden kommt. Also schlagen sie sich mit wechselnden Jobs durch, oft mehreren gleichzeitig, ergänzt durch kleine Aufträge. Sie springen hier als Leiharbeiter ein, helfen dort aus, informieren sich regelmäßig in Internet-Jobbörsen, immer auf der Suche nach einem etwas festeren Punkt bei ihren täglichen Balanceakten. Sicherheit gibt es nicht, und bei der Absicherung von Risiken – Krankheit, längere Joblosigkeit – sind sie auf sich selbst angewiesen, oder sie fallen wieder einmal zurück in Hartz IV. Wohl oder übel sind die Prekarier ihre eigenen Arbeitgeber und zugleich ihre eigenen Angestellten. Wer kann, investiert in sich selbst, belegt Kurse, erwirbt Qualifikationen, die vielleicht einmal nützlich sein können, steigert so seine »Employability«. Aber die Höherqualifizierten sind schon die Elite der Prekarier. Eine ausreichende Rente können auch sie nicht erwarten, wohl aber die Aussicht darauf, auch im Altern noch stets nach einem kleinen Zubrot Ausschau zu halten. Das Bild der Prekarier entspricht den verbreiteten Zukunftsängsten. Bei Umfragen zur Zukunft der Arbeit dominieren stets eher negative Erwartungen: Verlängerung der Arbeitszeit, wachsende Unsicherheiten aufgrund von Arbeitsplatzabbau und Verlagerungen ins Ausland, wachsende Anforderungen und wachsender Stress im Beruf, die auch das Privatleben in Mitleidenschaft ziehen. Entlastungen oder Arbeitzeitverkürzung erhofft sich nur eine kleine Minderheit. Eine klare Mehrheit vermutet dagegen, dass in ein, zwei Jahrzehnten die meisten Beschäftigten aus rein wirtschaftlichen Gründen gezwungen sein werden, neben ihrer Hauptarbeit einem Zweit- oder Nebenjob nachzugehen – und das bis lange über das 67. Lebensjahr hinaus. Hintergrund dieser Ängste ist die schleichende Erosion des Normalarbeitsverhältnisses. Neue Selbstständigkeit, mobile Telearbeit, Teilzeitarbeit – bisweilen auf mehreren Stellen parallel – und Leiharbeit deuten an, wohin der Weg der Flexibilisierung führen kann. Zugleich führt der wachsende Kostendruck zu einer zunehmenden Privatisierung aller Formen von sozialer Unsicherheit. Da unsere organisatorischen und rechtlichen Arbeitsmodelle noch größtenteils dem Industriezeitalter – mit VollzeitFestanstellungen – verpflichtet sind, fehlen vielfach Konzepte für die neuen »prekären« Arbeitsverhältnisse, angefangen von einer

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angemessenen sozialen Absicherung für Geringbeschäftigte bis hin zu einer angemessenen Interessenvertretung für die neuen Selbstständigen. Politik und Gewerkschaften müssen über den langen Schatten des Industriezeitalters springen und sich auf die neue Arbeitswirklichkeit einstellen. Der Sozialstaat – und nicht nur dieser! – muss neu erfunden werden. Im Bild der Prekarier spiegelt sich eine fatal aufklaffende Schere: Mehr leisten für weniger! Hohe Mobilität und Anpassungsfähigkeit sind gefordert, einschließlich der Bereitschaft, den Wohnort häufiger zu wechseln. Wer Chancen ergreifen will, muss eben flexibel sein und ständig dazulernen. Dem aber stehen steigende Kosten, etwa für Energie, Gesundheit, Weiterbildung gegenüber. – Die Prekarier sind die Tagelöhner des postindustriellen Zeitalters.

C YBERTE AMS Sie sind Multi-Spezialisten. Sie verfügen nicht nur über ausgezeichnete fachliche, sondern auch über ausgeprägte soziale und kommunikative Kompetenzen. Team-Work ist für sie einfach eine Selbstverständlichkeit, wobei die meisten Team-Treffen irgendwo im Web stattfinden und in der Regel auf Englisch, bisweilen jedoch auch zweisprachig ablaufen. Das Unternehmen, die eigene Firma oder der Auftraggeber ist global aufgestellt, man arbeitet über die Kontinente hinweg, und wichtiger als die kleinen kulturellen Unterschiede sind oft die Zeitzonen-Unterschiede. Aber wer zwei, drei Jahre in wechselnden Projektteams gearbeitet hat, weiß mit solchen Problemen umzugehen – und man entwickelt auch ein gutes Gefühl dafür, auf wen Verlass ist, wann eine Projektorganisation glatt läuft und wann nicht. Da die Organisationsstrukturen mit Auftragnehmern und Unterauftragnehmern und zugeordneten Freien reichlich komplex sind und sich öfter als gewünscht während der Projektlaufzeit die Interessenlagen und Ziele verschieben, kommt es doch bisweilen zu Friktionen. Dann muss man besonders flexibel sein. Wichtig ist, dass alle konstruktiv mitspielen, jeder vollen Einsatz zeigt und keiner mit seinem Wissen hinter dem Berg hält. Denn

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Mehrwert entsteht aus Wissensteilung, nicht aus tayloristischer Arbeitsteilung. Cyberteams entsprechen geradezu perfekt dem Leitbild des fließenden, selbst lernenden, vernetzten Unternehmens. Wer will, kann auf sie auch das Modewort des »social swarming« anwenden, das ein neues, quasi biologisches Organisationsmodell bezeichnen soll. Vogelschwärme oder auch Bienenvölker sind fähig, ungeheuer intelligent zu reagieren, obwohl doch jeder Vogel, jede Biene nur über ein begrenztes Repertoire an Verhaltensmustern verfügt. Ohne alle Befehle weiß ein jedes Schwarm-Mitglied, wie es sich in einer bestimmten Situation verhalten muss. Es stimmt sich mit seinen Nachbarn ab – und in der Summe reagiert der gesamte Schwarm auf eine äußerst intelligente Weise. Beispiel »smart mobs« oder »flash mobs«: Junge Leute organisieren sich spontan per SMS und fallen plötzlich in einer interessanten Location ein, ohne dass irgendein Boss oder eine Zentrale sie dorthin beordert hätte. Nun kann man in Frage stellen, ob für Selbstorganisation wirklich ein neues Modewort benötigt wird. Die Prozesse, die »social swarming« beschreibt, sind aber durchaus auch in der Arbeitswelt zu beobachten. Überzählige Hierarchiestufen werden abgebaut, Mitarbeiter übernehmen mehr Verantwortung, an die Stelle von Routineaufgaben treten Projekte und die starre Abteilungsstruktur wird durch zeitlich befristete Projektteams abgelöst oder doch zumindest überlagert. Die neuen Strukturen setzen voraus, dass die Mitarbeiter sich rasch in Teams einfügen, ein hohes Maß an Eigenverantwortung mitbringen und fähig sind, sich untereinander gut abzustimmen. Steuerung und Zielführung solcher Teams erfolgen nicht durch beständige Anweisungen »von oben«, sondern durch ein gemeinsames Leitbild, das allen Orientierung gibt. In mancher Beziehung kann man das Web 2.0 – »soziale Medien« – als Einübung von Cyberteam-Verhalten betrachten. Im Web 2.0 übernimmt der Internet-»User« neue Rollen. Er schafft, in der Regel vernetzt mit anderen, neue Inhalte, Beispiel Wikipedia. Der Medien-Konsument wird zum »Prosumenten«, zum Konsumenten, der auch produziert, zum Produzenten, der auch konsumiert. Oft steuert der Einzelne nur winzige Arbeits-

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päckchen bei, in der Summe aber entsteht Beachtliches. Manche Unternehmen nutzen schon heute die Chancen, die sich durch Microwork und Netzwerkeffekt ergeben, sie betreiben »Crowdsourcing« – »Outsourcing«, Arbeitsverlagerung, an die »Crowd«, die Menge der Internet-Nutzer. Selbstredend funktioniert dies primär für digitale Inhalte. Deren Spanne aber reicht von Games und YouTube-Clips bis hin zu Konstruktionsunterlagen für neue Produkte. Open-Source-Softwareprodukte geben hier das Modell vor. Bei diesen Programmen wird der Quellcode (source code) nicht geheim gehalten. Wer dazu fähig ist, kann Verbesserungen vorschlagen oder Erweiterungen entwickeln. Der Nutzer verwandelt sich in einen Mit-Innovator. Aus organisatorischer Perspektive werden damit die Unternehmensgrenzen durchlässig. Mit Konzepten wie »open innovation« – Einbindung von Kunden in Innovationsprozesse – bewegen wir uns jedoch noch im Bereich der Gegenwart. Welche Überraschungen bei CyberteamKooperationen könnte die Zukunft bringen? Viele, vor allem jüngere Menschen üben heute beinahe alltäglich Cyberspace-typische Kooperationsformen ein – insbesondere bei Games. In Mehrpersonenspielen werden Kooperationsmuster, strategische und taktische Verhaltensweisen trainiert, wobei die Komplexität der simulierten Welten steigt und nicht allein von der Grafik her der Realismus zunimmt. World of Warcraft und Second Life sind die bekanntesten, aber nicht die einzigen Beispiele für derartige virtuelle Welten. Der Medienrummel über Second Life mag mittlerweile abgeklungen und nicht alle Internet-Nutzer werden, wie manche Marktforschungsinstitute behaupten, in den nächsten Jahren mit eigenen Avataren (virtuellen Stellvertretern) in Second Life und anderen virtuellen Welten präsent sein. Doch die Entwicklung ist auf dem Weg, die virtuellen Welten werden immer besser ausgestattet – bis hin zu eigenen Währungen und der Chance, im Virtuellen ganz real durch Arbeit Geld zu verdienen. Könnte es nicht sein, dass in absehbarer Zukunft im Cyberspace die Grenze von Arbeit und Spiel verwischt? Indizien dafür kann man darin sehen, dass Gaming mehr und mehr zu Bildungs- und Trainingszwecken eingesetzt wird, dass kollektive Entwicklungs- und Designprozesse mehr und mehr in den Cyber-

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space verlagert werden, dass Unternehmensabläufe bis ins kleinste Detail in einem »virtuellen Unternehmen« nachgebildet und simuliert werden, so dass schließlich Unternehmensprozesse in der virtuellen Welt geplant und aus ihr heraus gesteuert werden (Konzept des »real time enterprise«). Wo wir heute im Internet einkaufen können, Unternehmen über eProcurement-Plattformen miteinander kooperieren und über die Kontinente verteilte Arbeitsgruppen sich zu Web-Meetings treffen, könnte morgen ein Großteil aller Wertschöpfung auf eine spielerische Weise im Cyberspace stattfinden. Doch damit nicht genug. Vielleicht wird man künftig bei seinem Gegenüber, dem Avatar des Kooperationspartners, nicht mehr unterscheiden können, ob dieser einen Menschen oder eine hochwertige Künstliche Intelligenz vertritt. Zugestanden, das Gebiet der KI-Forschung hat sich in der Vergangenheit immer wieder als überaus schwierig erwiesen und Prognosen waren in der Regel viel zu optimistisch. Aber das inzwischen erreichte Leistungsniveau lässt für die Zukunft einiges erwarten: Beispielsweise gelingt es immer besser, menschliche Emotionen zu erkennen und zu imitieren. Damit aber würden die Künstlichen Intelligenzwesen über eine wesentliche Voraussetzung für die zwischenmenschliche Kommunikation verfügen. Stellen wir uns also die Cyberteams der ferneren Zukunft als gemischte Teams von Menschen und Software-Agenten vor.

D IE A RTISANEN Sie sind die Produzenten der Zukunft, hoch spezialisierte Kleinsthersteller, die all das hervorbringen, was nicht uniform in Millionen Exemplaren benötigt wird. Mit ihren »Produziersalons« bevölkern sie die Fußgängerzonen der Innenstädte. Einrichtungsgegenstände und Haushaltgeräte, Spielzeuge und Sportartikel, Ersatzteile für fast jedes Gerät, medizinische Implantate, Kleidungsstücke – es gibt mit Ausnahme von Großgeräten fast nichts, das sie nicht herstellen können, ganz individuell und einmalig, auf Kundenwunsch und praktisch im Handumdrehen. Möglich macht dies die neue Technologie des »Fabbing«, des

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persönlichen Fabrizierens. Die Entwicklung dahin hat bereits in den 1990ern eingesetzt, als die ersten Maschinen für das Rapid Prototyping – die schnelle Herstellung von Prototypen – auf den Markt kamen. Heute spricht man von »3-D-Druckern«, Geräten, ähnlich den Computerdruckern, die dreidimensionale Objekte per Lasersintern oder Schichtlaminattechnik erzeugen. Aber erst die Nanotechnologie wird wirklichen PF (personal fabricators) zum Durchbruch verhelfen. Während fast jeder anspruchslose Kleinobjekte mit der geeigneten Software und den entsprechenden Nanopulvern zu Haus fabrizieren kann, bleiben auch in Zukunft aufwändigere Objekte den Artisanen vorbehalten, die – um im Bild zu bleiben – die künftigen 3-D-Copyshops betreiben. Mit dem Unterschied, dass kaum eines der Objekte, die sie herstellen, eine bloße Kopie ist. Unikate sind gefragt, für die Wohnungseinrichtung wie für Mode. Bei den Artisanen – der Begriff leitet sich vom französischen Ausdruck für (Kunst-)Handwerker ab – verwischen tatsächlich die Grenzen zwischen Kunst und Handwerk. Einmaligkeit ist Trumpf, aber auch Kreativität, Qualität und Authentizität, genaueste Kenntnis der Wünsche der Klienten, die nicht mehr bloße Konsumenten sind, sondern Auftraggeber mit eigenen Ideen und Vorstellungen. Viele Artisanen sind selbstständige Kleinunternehmer, viele haben sich aber auch Genossenschaften oder Netzwerken angeschlossen. Mit ihren Einzelprodukten und Spezialdienstleistungen bedienen sie die fragmentierten und individualisierten Märkte der Zukunft. Man kann sich gut vorstellen, dass die Artisanen auch die Träger einer künftigen Suffizienzwirtschaft sein werden, in der die meisten Produkte regional erzeugt, regional konsumiert und regional rezykliert werden. Als entfernte Nachfahren des traditionellen Handwerks und ähnlich kleinteilig aufgestellt, sind die Artisanen in regionale Wertschöpfungsnetze eingebunden und kooperieren mit den Anbietern erneuerbarer Energie, den Biowirtschaftlern (die die Landwirte von vordem abgelöst haben), in einer gut funktionierenden Kreislaufwirtschaft.

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E IN VORL ÄUFIGES F A ZIT Prekarier, Cyberteams und Artisanen stellen sehr unterschiedliche Visionen davon dar, wie Arbeit in der Zukunft beschaffen sein könnte. Visionen wie diese sind keine Prognosen, sondern lediglich Abbilder unserer Erwartungen. Es kann auch anders kommen. Interessanterweise haben die drei Visionen einige Gemeinsamkeiten. Alle drei stellen hohe Anforderungen an die Menschen in punkto Wissen und Lernfähigkeit, sozialer und kommunikativer Kompetenzen, auch hinsichtlich Mobilität und Flexibilität. Im Prinzip handelt es sich bei Prekariern, Mitgliedern von Cyberteams und Artisanen um gut vernetzte Menschen, die oft genug als Einzelkämpfer agieren und bereit sind, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Sie alle benötigen ein gut Teil unternehmerisches Denken in Bezug auf die eigene Person, und das impliziert gute Managementqualitäten, Risiko- und Entscheidungsbereitschaft – durchweg also Qualitäten, die im Industriezeitalter eine viel geringere Rolle spielten. Die Transformation der Arbeitswelt geht tief: bis hinein in die Werthaltungen, in das Selbstbild. Die alten Arbeitsmodelle lösen sich auf, neue treten an ihre Stelle. Ihre Konturen lassen sich heute bestenfalls erahnen. Ungewissheiten aber erzeugen Ängste, die sich vor allem in der Vision eines künftigen Prekariats verdichten. Gerade die emotionsgeladenen Angstvisionen sollten uns aber verdächtig sein: zu sehr entsprechen sie altehrwürdigen Klischeevorstellungen. Aber auch die Hoffnungsbilder von spielerisch-leichter Arbeit im Cyberteam oder von selbstbestimmten Artisanen sind alles andere als frei von Klischees. Möglicherweise kommen die größeren Gefahren, die größeren Chancen aus völlig anderer Richtung? Denken wir an eine globale Zwangswirtschaft, hervorgerufen durch Rohstoffmangel, oder an eine wirkliche globale Nachhaltigkeitsrevolution. Und jeweils sähe die Zukunft der Arbeit anders aus. Die Zukunft ist ungewiss, voller Überraschungen. Aber wie schrieb Antoine de Saint-Exupéry: Unsere Aufgabe ist es nicht, die Zukunft vorherzusehen, sondern sie zu ermöglichen.

Talkrunde 7 und Schlussrunde Clara Schlichtenberger

Teilnehmer: Petia Genkova, Gerhard Kilger, Eva Senghaas-Knobloch, Karlheinz Steinmüller Die letzte Talkrunde, die fließend in die Schlussrunde des Symposiums führte, widmete sich nach der breitgefächerten Diskussion wiederum der das Symposium dominierenden Frage »Wie wollen wir arbeiten?«. Nach den vorausgegangenen Beträgen von Senghaas-Knobloch und Steinmüller wurde von Genkova erneut die Frage nach der Gerechtigkeit, dieses mal aus organisationspsychologischer Sicht, aufgeworfen. Die Psychologie unterscheide zwischen zwei Gerechtigkeitskonzepten: dem prozeduralen, bei dem für alle die gleichen Regeln gelten und das sich deswegen großer Akzeptanz erfreuen würde, und dem distributiven Gerechtigkeitskonzept, das auf einem Austausch von Leistung und Belohnung beruhe. Die besten Maßnahmen auf Organisationsebene würden ohne Akzeptanz nichts erwirken, daher sei das primäre Steuerungselement die Schaffung einer Akzeptanz. Die sei allerdings nicht nur durch mehr oder weniger einfache »Tricks« zu erreichen, denn wenn sie als solche entlarvt würden, führe dies zu einer »negativen Akzeptanz«: Resignation oder schlimmstenfalls Depression. Kilger führte an, dass sich der Arbeitsschutz vor hundert Jahren tatsächlich primär mit Schutzkleidung und anderen zur Unfallvermeidung beitragenden Themen beschäftigte. Inzwischen habe der Arbeitsschutz andere Aufgaben, wie man auch an den in

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der DASA erlebnisnah dargestellten Ausstellungsschwerpunkten sehen würde. Die tatsächlichen derzeitigen Belastungen wären psychomentaler Art, das Herzkreislaufsystem betreffende Erkrankungen und toxischer Art. Insbesondere Depressionen und Phänomene wie »Mobbing« würden die Arbeitswelt mehr beschäftigen als z.B. die Ende des letzten Jahrhunderts gern gestellten Fragen nach der Mitarbeitermotivation. Steinmüller führte an, dass die »Wunschzukünfte« ganz unterschiedlicher Natur seien und es fraglich sei, ob man einen gemeinsamen Nenner finden würde. Die Grundrechte würden wohl den Minimalkonsens darstellen. Was »Gerechtigkeit« oder Fairness anginge, so sei das nur im Konsens zu regeln, z.B. durch die Vereinbarung, dass die größte Spreizung der Gehälter zwischen Management und einfachen Angestellte nicht mehr als den Faktor 50 betragen solle. Senghaas-Knobloch rekurrierte auf den Vortrag von Staudinger und forderte, die berufliche Weiterentwicklung betreffend, die Stärkung wechselseitiger Erwartung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. In ihren Studien zur Gruppenarbeit in der Industrie zeigte sich das belebendste Element in Form der Entwicklung neuer Bilder des Gegenübers im beruflichen Alltag. In der Diskussion über die Zukunft und Gestaltbarkeit der Arbeitswelt würden Räume für einen Diskurs fehlen, der über den Arbeitskontext hinausginge. Mit der interdisziplinären Struktur des DASA-Symposiums, das Folgeveranstaltungen haben soll, sei der Anfang zur Schaffung solcher Denkräume gemacht.

Teilnehmer am DASA Symposium (in der ersten Reihe von links nach rechts Isabel Rothe, Gerhard Kilger, Karin Kaudelka)

Referenten und Diskutanten

Dr. Wilhelm Bauer Studium der Arbeitswissenschaft und Datenverarbeitung und des Industrial Engineering an der Universität Stuttgart. Institutsdirektor am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) und Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement (IAT) Stuttgart

Prof. Dr. Christoph Butterwegge Leiter der Abteilung Politikwissenschaften am Seminar für Sozialwissenschaften der Universität zu Köln Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien

Dr. Martin Dietz Referent des Vizedirektors und Leiter der Arbeitsgruppe »Kombilohn« im Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg

Kai Dröge M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M.

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Prof. Wolfgang Engler Kultursoziologe, Rektor der Hochschule für Schauspielkunst an der Schauspielschule »Ernst Busch« in Berlin

PD Dr. Petia Genkova Sozial- und Organisationspsychologin, Universität Passau

Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach SJ Theologe und Wirtschaftswissenschaftler, Professor für christliche Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen

R EFERENTEN UND D ISKUTANTEN

Ingrid Hohenleitner Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl »Internationale Wirtschaftsbeziehungen« an der Universität Hamburg und im Kompetenzbereich Wirtschaftliche Trends am Weltwirtschaftsinstitut Hamburg

Dr. Karin Kaudelka Studium der Geschichtswissenschaften und der Germanistik, Leitung der DASA Programmkoordination

Prof. Dr. Peter Kern Mitglied der Institutsleitung am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO), Lehrbeauftragter an der Universität Stuttgart und Honorarprofessor an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste

Dir. und Prof. Dr. Gerhard Kilger Studium der Physik und Philosophie, Leiter der DASA

Ulrich Pfeiffer Diplom-Volkswirt und Ministerialdirektor a.D. Gesellschafter und Aufsichtsratsvorsitzender der empirica ag in Berlin, Sprecher des Managerkreises der Friedrich-Ebert-Stiftung

Isabel Rothe Studium der Arbeits – und Organisationspsychologie an der Technischen Universität Berlin, Geschäftsführerin der Jenapharm GmbH & Co. KG. Seit 2007 Präsidentin der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin

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Dr. Clara Schlichtenberger Studium der Ethnologie Fachberaterin des DASA-Symposium »Constructing the future of work – wie wollen wir leben und arbeiten« Projekte unter: www. idee-museum.de

PD Dr. Hilmar Schneider Studium der Sozialwissenschaften und Volkswirtschaftslehre. Seit 2001 Direktor für Arbeitsmarktpolitik am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn

Dr. Klaus Schönberger Kulturwissenschaftler und wissenschaftlicher Koordinator des Forschungskollegs »Kulturwissenschaftliche Technikforschung« am Institut für Volkskunde der Universität Hamburg

Dr. Karin Schulze Buschoff Studium der Politikwissenschaft Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)

Prof. Dr. Eva Senghaas-Knobloch Professorin für Arbeitswissenschaft im Fachbereich Humanund Gesundheitswissenschaften an der Universität Bremen und im fachbereichsübergreifenden Forschungszentrum Nachhaltigkeit (artec)

R EFERENTEN UND D ISKUTANTEN

Prof. Dr. Ursula M. Staudinger Psychologin und Vizepräsidentin der Jacobs Universität Bremen Professorin am Jacobs Center on Lifelong Learning and Institutional Development

Dr. Karlheinz Steinmüller Diplomphysiker und Science-Fiction-Autor Gesellschafter von Z_punkt. The Foresight Company

Dr. Ulrich Walwei Studium der Volkswirtschaft Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg

Dr. Ursula Weidenfeld Chefredakteurin des Wirtschaftsmagazins »Impulse« in Köln.

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Jakob von Weizsäcker Research Fellow, Bruegel (Brussels European and Global Economic Laboratory) in Brüssel

Prof. Götz W. Werner Gründer und Vorsitzender der Geschäftsführung des dm-drogerie marktes in Karlsruhe Leiter des Interfakultativen Instituts für Entrepreneurship an der Technischen Hochschule der Universität Karlsruhe

Sozialtheorie Ulrich Bröckling, Robert Feustel (Hg.) Das Politische denken Zeitgenössische Positionen Januar 2010, 340 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1160-1

Anina Engelhardt, Laura Kajetzke (Hg.) Handbuch Wissensgesellschaft Theorien, Themen und Probleme Oktober 2010, 378 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1324-7

Markus Gamper, Linda Reschke (Hg.) Knoten und Kanten Soziale Netzwerkanalyse in Wirtschaftsund Migrationsforschung Oktober 2010, 428 Seiten, kart., zahlr. z.T. farbige Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1311-7

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Sozialtheorie Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze Dezember 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5

Elisabeth Mixa Body & Soul Wellness: von heilsamer Lustbarkeit und Postsexualität Januar 2011, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1154-0

Stephan Moebius, Sophia Prinz (Hg.) Das Design der Gesellschaft Zur Kultursoziologie des Designs Oktober 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1483-1

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Sozialtheorie Roswitha Breckner Sozialtheorie des Bildes Zur interpretativen Analyse von Bildern und Fotografien Dezember 2010, ca. 386 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1282-0

Hannelore Bublitz Im Beichtstuhl der Medien Die Produktion des Selbst im öffentlichen Bekenntnis März 2010, 240 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1371-1

Michael Busch, Jan Jeskow, Rüdiger Stutz (Hg.) Zwischen Prekarisierung und Protest Die Lebenslagen und Generationsbilder von Jugendlichen in Ost und West

Carolin Kollewe, Elmar Schenkel (Hg.) Alter: unbekannt Über die Vielfalt des Älterwerdens. Internationale Perspektiven Januar 2011, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1506-7

Thomas Lenz Konsum und Modernisierung Die Debatte um das Warenhaus als Diskurs um die Moderne Dezember 2010, ca. 218 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1382-7

Stephan Lorenz (Hg.) TafelGesellschaft Zum neuen Umgang mit Überfluss und Ausgrenzung

Januar 2010, 496 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1203-5

August 2010, 240 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1504-3

Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft

Herfried Münkler, Matthias Bohlender, Sabine Meurer (Hg.) Sicherheit und Risiko Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert

Dezember 2010, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5

März 2010, 266 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1229-5

Jürgen Howaldt, Michael Schwarz »Soziale Innovation« im Fokus Skizze eines gesellschaftstheoretisch inspirierten Forschungskonzepts

Herfried Münkler, Matthias Bohlender, Sabine Meurer (Hg.) Handeln unter Risiko Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge

August 2010, 152 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1535-7

Juli 2010, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1228-8

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