"Die gedrukte Freiheit" : Oskar Panizza und die Zürcher Diskußjonen 3820402888

192 89 16MB

German Pages [388] Year 1988

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

"Die gedrukte Freiheit" : Oskar Panizza und die Zürcher Diskußjonen
 3820402888

Citation preview

Europäische Hochschulschriften Publications Universitaires Européennes European University Studies

Reihe I Deutsche Sprache und Literatur Série I

Sériés I

Langue et littérature allemandes German Language and Literature

Bd./Vol. 1098

PETER LANG Frankfurt am Main • Bern ■ New York ■ Paris

Rolf Düsterberg

»Die gedrukte Freiheit« Oskar Panizza und die Zürcher Diskußjonen

PETER LANG Frankfurt am Main ■ Bern • New York ■ Paris

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Düsterberg, Rolf:

"Die gedrukte Freiheit": Oskar Panizza u. d. Zürcher Diskussjonen / Rolf Düsterberg. - Frankfurt am Main ; Bern ; New York ; Paris : Lang, 1988 (Europäische Hochschulschriften : Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur; Bd. 1098) Zugl.: Osnabrück, Univ., Diss., 1988 ISBN 3-8204-0288-8

NE: Europäische Hochschulschriften / 01

D700 ISSN 0721-3301 ISBN 3-8204-0288-8

© Verlag Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main 1988 Alle Rechte Vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

INHALT AbkürzungsVerzeichnis

Zum Thema: Das "Einladungs-Zirkular" zu den "Litera­ rischen Diskußionsabenden in Zürich"...........9

I.

EINFÜHRUNG

1.1. Rezeption und Stand der Forschung............... 13 1.2. Probleme und Ziele.............................. 22

II.

VORAUSSETZUNGEN DER "ZÜRCHER DISKUSSIONEN": MOTIVE, THEMEN, POSITIONEN 2.1. Kunstverständnis, literarisches Selbstver­ ständnis, Schreibmotivation.................... 25

2.2. Literarische Themen 2.2.1. Heinrich Heine.......................... 32 2.2.2. Das "Volk”.............................. 36 2.2.3 Opposition gegendieetablierte Moral - Die Gestalt desNormbrechers........... 40 2.2.4. Das "Weib".............................. 45 2.2.5. Blasphemie.............................. 50 2.2.6. Christus................................ 55 2.2.7. Wilhelm II.............................. 60 2.3. Religionskritik, Religiosität und

Glaube...... 70

2.4. Politische und philosophische Positionen 2.4.1. Sozialdemokratie........................ 79 2.4.2. Anarchismus, Stirner-Apologetik und Isolation............................... 85

III.

PERSÖNLICHE SITUATION PANIZZAS, ENTSTEHUNG, PRODUKTION UND VERTRIEB DER "ZÜRCHER DISKUSSIONEN"

3.1. Persönliche Situation Panizzas 1895-1905 3.1.1. Zur Biographie 1895-1905............... 93 Zürich................................. 96 Paris................................. 106 3.1.2. Psychische Situation 3.1.2.1. Selbstzeugnisse............. 124 3.1.2.2. Ärztliche Gutachten......... 132 3.1.2.3. Versuch einer Diagnose...... 138

3.2. Panizzas journalistisch-literarische Tätigkeit bis zu den ZD 3.2.1. Zeitschriftenmitarbeit außerhalb der ZD.......... 147 3.2.2. Die "Gesellschaft für modernes Leben"................................ 153

3.3. Die Zeitschrift "Zürcher Diskußjonen" 3.3.1. Zielsetzungen und Entstehung......... 159 3.3.1.1. Das "fonetische Schreibsistem".............. 167 3.3.2. Verlag, Druck und Vertrieb............ 173-; 3.3.3. Redaktion............................. 184 3.3.4. Struktur und Aufmachung............... 188'" 3.3.5. Finanzielle Situation 1896-1905.......192/ 3.3.6. Der Mitherausgeber Otto Freiherr von Grote............................. 197 3.3.7. Zur Bestimmung des zeitlichen Erscheinens der ZD.................... 204

3.4. Panizza und die "Zürcher Diskußjonen"....... 211

IV.

KOMMENTAR: TEXTE UND AUTOREN DER ZD

4.1. Vom "Einladungs-Zirkular" bis zur ZD 28/32....................................... 219 4.2. Angekündigte, jedoch nicht erschienene Haupt­ artikel der ZD 4.2.1. Texte von Panizza..................... 272 4.2.2. Texte anderer Autoren................. 274 4.3. Projektierte, nicht angekündigte und nicht erschienene Texte der ZD 4.3.1. Texte von Panizza 4.3.1.1. Hauptartikel.................. 282 4.3.1.2. "Intra muros et extra"........ 292 4.3.2. Texte anderer Autoren 4.3.2.1. Hauptartikel................. 310 4.3.2.2. "Intra muros et extra"........ 313 4.4. Anzeigen des Verlages der ZD................. 314

V.

ANHANG 5.1. Biographische Skizze: Oskar Panizza............ 317 5.2. Übersetzung des Hauptartikels der ZD 3 (aus dem Französischen)........................ 325 5.3. Übersetzung des Hauptartikels der ZD 7 (aus dem Italienischen)....................... 338 5.4. Kurzinhalt der Hauptartikel der ZD 1 bis ZD 28/32................................... 347

5.5. Auflistung der angekündigten, jedoch nicht erschienenen Hauptartikel der ZD.............. 364 5.6. Verzeichnis der in den/für die ZD ver­ wandten Pseudonyme Panizzas................... 366

VI.

LITERATURVERZEICHNIS 6.1. Texte von Panizza 6.1.1. Ungedruckte Quellen................... 367 6.1.1.1. Notiz- und Tagebücher........367 6.1.1.2. Manuskripte der projektier­ ten Beiträge für die ZD..... 368 6.1.1.3. Weitere zitierte Manuskripte.................. 370 6.1.2. Buchveröffentlichungen und Beiträge in Anthologien........................ 370 6.1.3. Zeitschriften- und Zeitungsartikel (außer ZD)............................ 373 6.1.4. Buchrezensionen....................... 378 6.1.5. Übersetzungen......................... 381

6.2. Sekundärliteratur............................ 382

Nachwort

ABKÖRZUNGSVERZEICHNIS

A

=

B I B II

=

B III

=

=

Bl. D F Ges. H I H II

=

H III HA Hg. Hs. L M I

=

= = = = s=

=

= = =

M II M III M IV Ma MB MfL MGC

=

MS Nachl. NB NDR PZ Rez. TB W I W II WR Z I Z II Z III ZD

=

= = = = = =

= = = =

= = =

=

= = =

=

Amsterdam, Internationales Institut für Sozial­ geschichte Bamberg, Stadtarchiv Basel, öffentliche Bibliothek der Universität, HA Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbe­ sitz, HA Blatt Düsseldorf, Heinrich-Heine-Institut Frankfurt, Stadt- und Universitätsbibliothek, HA "Die Gesellschaft" Hamburg, Staatsarchiv Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, HA Heidelberg, Prinzhorn-Sammlung Handschriftenabteilung Herausgeber/herausgegeben Handschrift Ludwigshafen, Stadtarchiv München, Stadtbibliothek Monacensia-Abteilung, HA München, Staatsarchiv München, Stadtarchiv München, Bayerische Staatsbibliothek, HA Marbach, Deutsches Literaturarchiv "Moderne Blätter" "Das Magazin für Litteratur" Verzeichnisweise für den Nachlaß Michael Georg Conrads in M I Manuskript Nachlaß Notizbuch Oskar Panizzas "Neue Deutsche Rundschau" PublikationsZeitpunkt Rezension Tagebuch Oskar Panizzas Wien, Stadt- und Landesbibliothek, HA Wiesbaden, Hessische Landesbibliothek, HA "Wiener Rundschau" Zürich, Staatsarchiv Zürich, Zentralbibliothek, HA Zürich, Schweizerisches Sozialarchiv "Zürcher Diskußjonen"

Zur Zitierweise: Die in den Zitaten kursiv gedruckten Wör­ ter sind in den Handschriften unterstrichen, in den Origi­ naldrucktexten gesperrt oder auch kursiv gesetzt; alle üb­ rigen Kursiven sind Hervorhebungen des Verfassers. Wenn die angegebenen Seitenzahlen in Klammern () gesetzt sind, so ist der Originaltext nicht mit Seitenzahlen versehen.

9

Zum Thema:

Das "Einladungs-Zirkular" zu den "Literarischen Diskußionsabenden in Zürich"

Der nach Zürich emigrierte deutsche Schriftsteller Oskar Panizza richtete sich in seinem "Einladungs-Zirkular" zu den "Literarischen Diskußionsabenden" (aus denen später die Zeitschrift "Zürcher Diskußjonen” (ZD) hervorging) Ende April 1897 an die "der modernen literarischen Richtung angehörenden Poeten und Schriftsteller, Herrn und Damen" (S.(D), um im geschlossenen, geselligen Kreis von Gleich­ gesinnten, dessen Exklusivität durch eigens ergangene Einladungen gewahrt bleiben sollte (S.(6)) , künstlerische und "Tages-Fragen" in intensiver Aussprache zu diskutieren.

Abgesehen von der von Panizza selbst genannten Qualifizie­ rung des "Modernen" sind in diesen kurzen Äußerungen bereits wesentliche Attribute der literarischen Programma­ tik jener Zeit zu diagnostizieren. So weist die ausdrückli­ che Berücksichtigung der Frau als Künstlerin und kompetente Gesprächspartnerin sowohl auf aktuelle Themen der neuen Literatur hin als auch auf den heftig diskutierten Begriff des "Weibes", der "Femme fragile" und "Femme fatale". Diese Diskussion fand denn auch ihren bemerkenswerten Nieder­ schlag in den nachmaligen Ausgaben der Zeitschrift "Zürcher Diskußjonen", in der von insgesamt zehn Hauptartikeln frem­ der Autoren immerhin vier Aufsätze von drei Frauen verfaßt wurden.

Der Drang nach Geselligkeit im sicheren, exklusiven Zirkel gleich oder ähnlich denkender (gebildeter!) Menschen deutet auf die Vereinsamung des Dichters Panizza, der sich "anders (fühlte) als seine Umgebung"1, seine Abgelöstheit spürte und dieses mit den meisten seiner schreibenden Kollegen gemein hatte. Die zweite Form der Abgelöstheit, die der Dichter der Moderne in dem "Abgrund zwischen sich und der Gesellschaft"2 erfuhr, war die der Gesellschaftskritik, denn "jede Kunst, auch die scheinbar vom Tagesleben unbe­ rührte, (ist) angelante Kunst"3. Panizza beschrieb die moderne Bewegung als eine "Abzweigung der großen sozialen Umwälzung, die über das ganze Abendland geht" (S.(D), stellte somit die künstlerische Existenz und Tätigkeit in den übergeordneten Zusammenhang gesellschaftlichen Lebens: "Es soll [...] Alles und Jedes besprochen werden können und müßen" (S. (3)) . Es ist aber bezeichnend für die Literaten des Naturalismus und der Moderne, daß sie Assoziationen Gleichdenkender viel eher in einem politischen oder litera­ rischen Zirkel bildeten als sich etwa einer parteipoliti­ schen Gruppe anzuschließen. Jene intellektuellen Zirkel 1 Wilhelm Rosenhaupt, Die Kritik des Dichters an der bür­ gerlichen Gesellschaft. In: Victor ZmegaS (Hg.), Deutsche Literatur der Jahrhundertwende. Königstein /Ts. 1981, S. 65. 2 Ebd., S.64. 3 Panizza an Anna Croissant-Rust vom 23. Juli 1900, S.(3). L, Nachl. Croissant-Rust.

10

boten dem einzelnen "Schutz vor der Gesellschaft", halfen ihm aber ebensosehr, "seinen Anspruch an diese Gesellschaft zu vertreten."45

Panizza präsentierte in seinem "Einladungs-Zirkular" wei­ terhin seine Vorstellungen von der kritischen Aufarbeitung aktueller Themen; alle vorzüglich wissenschaftlichen Ge­ biete sollten zur Erforschung herangezogen werden; insbe­ sondere das, was man heute als tiefen- und sozialpsycholo­ gische Fragestellungen bezeichnet, sollte helfen, "die menschliche Seele” zu erforschen anhand der sezierenden Analyse einiger "der wertvollsten und hervorragendsten Exemplare" (S.(5)) menschlicher Originalcharaktere. Damit waren nun freilich entscheidende geistige Impulse der Epoche angesprochen : die Wissenschaft von der Seele und die besondere Würdigung außergewöhnlicher Menschen, denen im Gefolge der Renaissancerezeption eine "übermenschliche", geschichtemachende Bedeutung beigemessen wurde. Bis in die letzten Fibern der Psyche war einzudringen, Zusammenhänge sollten aufgedeckt werden insbesondere zwischen künstleri­ schem Schaffen und individual-seelischer Disposition. So waren der "Säuferwahnsinn Poe 's" und die "Rückenmarks­ schwindsucht Heine ’s" in Beziehung zu setzen zu deren Biographie und literarischem Werk. Die Frage lautete: "Wo ist das Tier? Wo ist der Instinkt? Wo ist der Zwangsge­ danke? Wo ist die verheimlichte Vererbung?" (S.(4)). Hier schlug Emile Zolas Gedanke vom modernen Dichter durch, der Gelehrter und Experimentator sein solle, dessen primäres Interesse auf Vererbung, Anlage und Umwelt sich richte, auf die "Bestie im Menschen" ("La bête humaine"), die allein nach den Gesetzen der Triebnatur existiere. Die Methode hatte sich dabei an der wissenschaftlichen Forderung des "Kausal-Nexus" (S. (3)) zu orientieren, denn nur dadurch sei die Totalität des Seins begreifbar:

"Jede Trennung der wissenschaftlichen Lehren und Er­ kenntnisse vom Leben, jeder Zwiespalt des Lebens mit der Allnatur stiftet Verwirrung und Unheil und ver­ fälscht die Maaßstäbe.

Panizza stand hier auf dem Boden und in der Tradition der Theorie des Naturalismus: Betonung des (natur-) wissen­ schaftlichen Vorgehens, Aufhellung von Kausalzusammenhän­ gen, Hervorhebung von Psychologismen, die aber in ihrer extraordinären Betonung auch schon die Überwindung der naturalistischen Position beinhalteten, wenngleich Fried­ rich Michael Fels schon 1891 festst^llte: "Naturalist ist, wer die Außenwelt mit all ihren De­

4 Helmut Scheuer, Zwischen Sozialismus und Individualismus - Zwischen Marx und Nietzsche. In: Ders. (Hg.), Natura­ lismus. Stuttgart 1974, S.151. 5 Michael Georg Conrad, Begleitwort. In: Panizza, Der teutsche Michel und der römische Papst (im folgenden zitiert: Teutscher Michel) (1894), S.II.

11

tails peinlichst sorgfältig nachzubilden sucht, indem er das ungeordnet Zufällige, Unwichtige und Zusammen­ hanglose streng beibehält; Naturalist ist, wer sich in die Innenwelt versenkt und mit ängstlichem Bemühen jeder kleinsten Nüanzierung seines Seelenlebens nach­ spürt"6 . Schon in einem der frühesten und bedeutendsten Dokumente des Naturalismus, in den "Zehn Thesen der Vereinigung 'Durch!'" (1886) wurde die Literatur als eine des Wende­ punktes zu gänzlich Neuem, die eigene Epoche als eine "eigenartige bedeutsame"7 begriffen, der sich die Literatur in besonderer Weise zu verpflichten habe. Der heutige Dichter solle alle Erscheinungen des zeitgenössischen Lebens von allen Seiten poetisch gestalten und in dieser Totalität eine Art Seher-Funktion ausüben. Vor allem einem nüchternen, vorurteilsfreien Wahrnehmungsverständnis sei zu folgen; der Mensch in seiner intellektuellen, seelischen und sexuellen Ganzheit sei mit allen zur Verfügung stehen­ den psychologischen Instrumentarien zu erforschen. Auch Panizza forderte die Säkularisierung aller Lebensbe­ reiche, die präzise Wirklichkeitsaneignung, den Mut, auch abstoßende und grausige Phänomene zur Sprache zu bringen, als unverzichtbare Prämissen zur Erforschung brennender Fragen der Zeit:

"Wir wollen also unsere Seelen nakt sehen und nicht ein ästetisches Modemagazin beschreiten" (S.(5)). Es dürfe keine Tabus geben, kein Standpunkt unausgesprochen bleiben; in freier Diskussion "ohne parlamentarische Aufsicht" (S. (2)) solle es möglich werden, mittels scharfer intellektueller Dispute, in der Ungeschicklichkeiten durch­ aus mit Spott zu belohnen seien, "auf die Höhe eines Collo­ quiums" (S.(3)) zu gelangen.

überhaupt war es ein Credo der Panizzaschen Weitsicht, daß es für einen Forscher gar keinen "skabrösen [nach frz.: scabreux, -se] Gegenstand" geben könne, wenn es um wissen­ schaftliche, um Wahrheitsfragen gehe8.

Weiterhin war es 1897 Panizzas Absicht, durch Herausforde­ rung, Provokation und Aufschreckung die Aufmerksamkeit des Publikums selbst um eines Skandales willen zu erregen, um "den neuen Geist" den "apatischen und gleichgültigen Mitbe­ wohnern [Zürichs] in Form eines Pfingst-Schreckens ein­ zuimpfen" (S.(2)). Dami^ war ein weiteres Motiv der Moderne angezeigt, nämlich Aufsehen zu erregen, Wirkung zu erzielen um (fast) jeden Preis.

6 Fels, Die Moderne (28. Oktober 1891). In: Gotthart Wunberg (Hg.), Die Wiener Moderne. Stuttgart 1982, S.194. 7 Zit. nach: Walter Schmähling (Hg.), Naturalismus. Stutt­ gart 1982, S.91 u.f. 8 TS 67, S.88 (ca. September 1901).

12

Die in Aussicht gestellten Themen gaben abschließend einen Eindruck von der intendierten Breite der Diskussionen: politisch-künstlerische Problemkreise (Schriftsteller des Vormärz; Revolutionäres bei Wagner etc.), die Verflechtung von Psyche und Kunst (E.A. Poe und H. Heine), RenaissanceRezeption, Frauenfrage u.v.m. Mit diesem Text legte Panizza die literarisch-programmatische Absichtserklärung eines "modernen" Autors vor. Die Entwicklung der Zeitschrift "Zürcher Diskußjonen" veranschaulichte die Umsetzung dieser Programmatik, die Panizzas gesamtes literarisches Schaffen betraf. In den Jahren von 1897 bis zum Ende seiner literarischen Tätigkeit außerhalb des Sanatoriums (1904) konzentrierte sich seine Arbeit zusehends auf sein tatsächliches oder beabsichtigtes (ab Ende 1902) publizistisches Wirken mittels seiner Zeit­ schrift.

13

I■

EINFÜHRUNG

1.1. REZEPTION UND STAND DER FORSCHUNG

Der Schriftsteller Oskar Panizza ist nie ganz vergessen worden. Noch während seiner letzten Lebensjahre im Sanato­ rium bemühten sich Freunde seines Werkes um Neuveröffentli­ chungen. So wurde bereits 1913 in München im Selbstverlag ein von Alfred Kubin illustrierter Privatdruck des "Liebes­ konzils" angefertigt, und ein Jahr später gab Hans Heinz Evers einen Sammelband Panizzascher Erzählungen unter dem Titel "Visionen der Dämmerung" heraus, der Texte aus den "Dämmrungsstücken" (1890), den "Visionen" (1893) und die 1891 erschienene Novelle "Das Verbrechen von TavistockSquare" enthält. Diese Ausgabe wurde 1923 und 1929 erneut aufgelegt; bis in die 30er Jahre hinein konnten über 7000 Bände verkauft werden9. 1926 veröffentlichten Friedrich Lippert und Horst Stobbe in ihrem literarischen Nachruf auf Panizza ("In memoriam Oskar Panizza") dessen "Selbstbiographie" und zwei Gedichte. Außerdem enthält die Publikation von Lippert zusammenge­ stellte Auszüge aus den Memoiren Mathilde Panizzas (ihren Sohn betreffend) und "Aussagen der Ärzte über Panizzas Geisteskrankheit" sowie die erste Bibliographie der Werke des Schriftstellers. Tucholsky schrieb von und über Panizza in fast einem Dutzend Beiträgen aus den Jahren 1913 bis 1932 für "Die Schaubühne" bzw. die spätere "Weltbühne". Die geplante Herausgabe der Werke des Dichters scheiterte an "einer alten bigotten Verwandten", der "diese Feuerströme in der Lavendelkommode" zu verbergen erlaubt sei10. Über den (in seinen Augen) Mißbrauch der Urheberrechte seitens eines Neffen Panizzas beklagte sich auch Emil Tuchmann11, der 1928 zusammen mit Abraham Horodisch12 und dem Amtsgerichts­ rat W. Michaelis in Berlin die "Panizza-Gesellschaft" ge­ gründet hatte. Unter diesem Namen hatten sich, wie die Satzung ausführt, Freunde des Panizzaschen Werkes zusammen­ geschlossen .

9 Michael Bauer, Oskar Panizza. Ein literarisches Porträt. München 1984, S.23 Anm.37. 10 Ignaz Wrobel [d.i. Kurt Tucholsky], "Panizza". In: Die Weltbühne 15 (1919) Nr.38, S.322. 11 Emil F. Tuchmann, "Die Erben Panizzas vereiteln die Herausgabe des Nachlasses". In: Die Literarische Welt 5 (1929) Nr.32 vom 9. August 1929, S.8. 12 Vgl.: Walter Benjamin, E.T.A Hoffmann und Oskar Panizza. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd.II,2. Frankfurt/M. 1977, S.644; und: A. Horodisch, Brief an M. Soceanu. In: Marion Soceanu, Oskar Panizza - Das Liebeskonzil. M.A.Arbeit. Unveröffentl. Typoskript. Regensburg 1979, S. 161; und: Bauer, a.a.O., S.24. Die Jahresangaben sind unterschiedlich, 1928 dürfte aber zutreffen.

14

"Zweck der Gesellschaft ist, das Lebenswerk Panizzas zu erhalten und der Nachwelt zu überliefern. Die Gesellschaft wird sich bemühen, die durchweg vergrif­ fenen Werke des Dichters zu sammeln, den bedeutenden ungedruckten Nachlaß an Dichtungen und Dokumenten zu sichten, zu bearbeiten und autorisiert herauszuge­ ben."13 Unter dem Titel "Aussprüche" veröffentlichte sie 1929 in Berlin ihre erste und einzige Publikation, ein schmales Heftchen mit Panizza-Sentenzen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Vereinigung aufgelöst.

Diese waren bereits 1927 auf den ehemaligen Juden- und Kirchengegner Panizza aufmerksam geworden und veröffent­ lichten dessen Erzählung "Der operirte Jud'" im "Völkischen Beobachter"14. "Am Unikum 'Panizza' findet sogar der Natio­ nalsozialismus einige genehme Brocken, die man zu einem Konvolut aus Panizzaschem Antisemitismus und 'Teutschtümelei' zurechtbiegt"15. Ein "Zurechtbiegen" war allerdings gar nicht notwendig, da es sich bei diesem Text des ehema­ ligen Judenhassers und Antisemiten Panizza ohnehin um ein hetzerisches Machwerk übelster Sorte handelt, sich somit der Nazi-Propaganda anbot.

Eine gewisse weltanschauliche Umfunktionierung erfuhr indes Panizzas Schrift "Der teutsche Michel und der römische Papst" (1894), die 1940 von einem der "fundiertesten Kenner des Werkes von Panizza"16, dem Nazi-Literaten und Kultur­ funktionär Kurt Eggers unter dem die ideologischen Inten­ tionen klar bezeichnenden Titel "Deutsche Thesen gegen den Papst und seine Dunkelmänner" herausgegeben und auch im "Völkischen Beobachter" nachgedruckt wurde17. Drei Jahre später publizierte Eggers noch sein Buch "Oskar Panizza. Aus Leben und Werk" (Berlin 1943), in dem Textaus­ züge verschiedener Schriften, insbesondere aus dem "Liebes­ konzil", als Panizza-Lesebuch zusammengefügt wurden18. In

13 Satzung der Panizza-Gesellschaft. Berlin: Aldus Druck o. J., §1. Eine Kopie des Textes stellte mir Michael Bauer, München, zur Verfügung. 14 In: Münchener Beobachter. Tägliches Beiblatt zum Völki­ schen Beobachter 40 (1927) Nr.259-264 vom 10.-16. Novem­ ber 1927; diese und auch die Erzählung "Das Wirtshaus zur Dreifaltigkeit" waren bereits 1919 in der "WeltLiteratur" Nr.19, S.1-5 bzw. 5-10 abgedruckt worden. 15 Willi Hendrichs, Oskar Panizzas Kreislauf. Interpreta­ tionen literarischer Krankenberichte. M.A.- Arbeit. Unveröffentl. Typoskript. Freiburg 1983, S.115, Anm.4. 16 Bauer, a.a.O., S.24. 17 Ebd., S.25. 18 Als Beispiel für die ideologisch motivierte Textverfäl­ schung sei die in diesem Buch zum erstenmal in Auszügen gedruckte Schrift "Mach' Mores Jud'!"angeführt. In die­ sem antisemitischen Pamphlet macht Panizza hinsichtlich des Juden Ludwig Börne eine Ausnahme (wie auch sonst

15

der Vorkriegszeit finden sich außerdem noch gelegentlich Abdrucke von einzelnen kurzen Texten in Zeitschriften, Zeitungen und Anthologien (1918-1927) 1 9 .

Erst 1960, nach einem Zeitraum von 17 Jahren, wurde erst­ mals wieder ein Panizzasches Werk aufgelegt, bemerkens­ werterweise als französische Übersetzung in Paris, versehen mit einem Vorwort von André Breton (erneut aufgelegt 1969 und 1983), Darauf aufmerksam geworden, ließ der Verleger Peter J. Petersen 1962 die erste deutsche Veröffentlichung nach dem Kriege drucken. "Das Liebeskonzil", um das es sich handelte und das in 300 Exemplaren vertrieben wurde, veran­ laßte die Flensburger Staatsanwaltschaft aufgrund einer Anzeige des Kieler Kultusministeriums (wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften), bei Petersen eine Hausdurchsuchung vorzunehmen. Das Verfahren wurde jedoch im November 1962 eingestellt. Bei aller an die faschistische Vergangenheit gemahnenden Peinlichkeit des Vorfalls kann man indes fest­ stellen, daß die "Polizeiaktion dazu beigetragen (hat), Panizza wieder bekanntzumachen."19 20 Zwei Jahre später ließ Petersen wiederum eine Auflage der "Himmels-Tragödie" fol­ gen, und ebenfalls 1964 druckte der Luchterhand-Verlag in der Herausgeberschaft Hans Preschers, der dem Text "Hin­ weise auf Leben und Werk Oskar Panizzas" hinzufügte, das Drama erneut. 1966 folgte dann eine Besonderheit. Der Laokoon-Verlag Mün­ chen publizierte in einer numerierten Auflage von 500 Exem­ plaren Panizzas seinerzeit für die ZD projektierten, aber nicht mehr zum Druck gelangten Aufsatz "Laokoon oder über die Grenzen der Mezgerei", und zwar als Faksimile des Manuskripts und in der Aufmachung der ehemaligen "Zürcher Diskußjonen". In den folgenden Jahren ließ das Interesse, ganze Werke neu aufzulegen, nach; lediglich Abdrucke kurzer Panizza-Texte in Zeitschriften, Zeitungen und Anthologien wurden seit 1966 gelegentlich veröffentlicht21.

Prescher gab dann (1976) im Fischer-Verlag das "Liebeskon­ zil" als Taschenbuch erneut heraus. Ein Jahr später star­ tete der Münchner Matthes & Seitz Verlag seine bis heute fortgeführte Publikationsreihe Panizzascher Werke mit "Aus dem Tagebuch eines Hundes" (1977); 1978 folgten "Die krimi­ nelle Psychose, genannt Psichopatia criminalis" und 1979 die "Dialoge im Geiste Huttens".

immer bei Heine) und charakterisiert diesen als "durch und durch sauber gearteten Mann" (Manuskript, S. (1). M I, Panizza L 1145). In der 1943er Ausgabe ist das Attri­ but "sauber" mit Anführungszeichen (S.142) versehen, wo­ durch die Aussage eine grundsätzlich veränderte, nämlich negativ-ironische Wendung erhält. 19 Vgl.: Literaturliste Bauer, a.a.O., S.298ff. 20 Dietrich Kuhlbrodt, Panizzas Gegenwart. In: Peter Berling (Hg.), Liebeskonzil Filmbuch. München 1982, S.154. Kuhlbrodt schildert den Vorfall ausführlich. 21 Vgl.: Literaturliste Bauer, a.a.O., S.298ff.

16

Im Renner-Verlag erschien in dem Jahr ebenfalls Panizzas "Handschlag" "Abschied von München" als Faksimile, 1981 bei Matthes der Band "Der Korsettenfritz. Gesammelte Erzählun­ gen" und 1982 bei Luchterhand wiederum eine Auflage des "Liebeskonzils" . 1984 publizierte Walter Rösler auch erstmals in der DDR ein Panizza-Buch: "Die Menschenfabrik und andere Erzählungen"; eine Ausgabe, die sich insbesondere durch ein kompetentes Nachwort auszeichnet.

1985 brachte der Klett-Cotta-Verlag die "Mondgeschichte" (aus: "Dämmrungsstücke", 1890) als Lizenzausgabe der o.g. Matthes-Anthologie von 1981 heraus. Es handelt sich dabei um die schlechteste Neuauflage überhaupt und kann als extremes Beispiel für den philologisch rücksichtslosen Umgang mit Panizzaschen Texten gelten. Schon in den Rezen­ sionen zur 1981er Ausgabe war auf die - dort noch wenigen - Editionsmängel hingewiesen worden. Diese Fehler potenzie­ ren sich bei Klett-Cotta. Verglichen mit der Erstausgabe von 1890 sind nahezu 100 (!) Abweichungen festzustellen, hinzu kommen nicht konsequent durchgehaltene Aktualisierun­ gen der Orthographie und Interpunktion. Besonders auf­ fallend aber ist die editorische Barbarei dort, wo sinnent­ stellte Wörter und Sätze sowie ganze Auslassungen die Text­ gestalt der Erstausgabe willkürlich verfälschen. Das muß insgesamt achtmal konstatiert werden, wobei fünfmal neue Wörter entstehen, dreimal werden eingeschobene Nebensätze bzw. Attribute unterschlagen22. Der "bewährte Außenseiter” und "Phantast" Panizza (so der Umschlagtext) bedarf offen­ bar einer ebensolchen 'phantastischen' Philologie. Das ist umso erstaunlicher, als es für den Verlag ein leichtes gewesen wäre, anhand der in der Münchner Stadtbibliothek noch vollständig vorhandenen Handschrift dieser Novelle einen gesicherten Text zu erstellen. Ein rechtes Gegenstück hinsichtlich der Editionsqualität ist die in der Herausgeberschaft Michael Bauers 1986 im Luchterhand-Verlag erschienene Anthologie Panizzascher Werke unter dem Titel "Neues aus dem Hexenkessel der Wahn­ sinns-Fanatiker". Der Herausgeber hat die darin enthaltenen Texte aus allen literarischen Gattungen des OEuvres sorg­ fältig ausgewählt: Zwei erstmals neugedruckte Erzählungen komplettieren das nun auf dem Büchermarkt vollständig beziehbare epische Werk; zwei Rezensionen zu Werken Ludwig Scharfs und Frank Wedekinds sowie ein Zeitschriftenartikel stellen den Journalisten Panizza vor; des weiteren enthält diese Neuausgabe je einen Brief des Schriftstellers an

22 Als Beispiel (pars pro toto) sei angeführt: In der Erst­ ausgabe heißt es S.251: "Jedes mit sich selbst beschäf­ tigt, - die Mondfrau vermutlich unten im Keller voll­ ständig unabkömmlich, - die Kinder unzurechnungsfähig, der Mondmann bei Klett-Cotta wird daraus (S.90); "Jedes mit sich selbst beschäftigt, - die Mondfrau unzu­ rechnungsfähig,- der Mondmann [...]". Man könnte beinahe von einer Parodie sprechen!

17

Michael Georg Conrad und Gustav Macasy, ein Gedicht aus der ersten Publikation Panizzas und die beiden letzten überlie­ ferten Notizen des mittlerweile entmündigten Dichters, geschrieben 1906 im Sanatorium. Die zentrale Stellung aber nehmen "Das Liebeskonzil" und die erstmals aus dem Manuskript gedruckte "Sittenstudie in 3 Akten", betitelt "Johann", ein. Schließlich verdient noch der ebenfalls aus dem Manuskript zum ersten Mal veröffentlichte "Dialog zwischen einem Geisteskranken und dem Gefängnisgeistlichen" von 1904/05 besonderes Interesse, da der promovierte Irren­ arzt Panizza hier psychiatrische Erkenntnisse gegen morali­ sche Positionen ausspielt, - ein Thema, das für seinen gesamten literarischen Diskurs bedeutsam ist. Michael Bauers Neuausgabe ist ein entscheidender Schritt voran in der Rezeption des Panizzaschen Werkes. Gesicherter Text, Respektierung der Panizza-eigenen Orthographie, ausführli­ che Erläuterungen zum Textnachweis und zur Textgenese sowie die Einordnung in das Gesamtschaffen und die Biographie des Autors belegen genaue Recherchen und erfüllen den Anspruch, den Bauer selbst und andere um den Dichter bemühte Kritiker immer wieder gefordert haben: den seriösen Umgang mit Persönlichkeit und Werk des immer noch verkannten Schrift­ stellers . Noch ein Wort zu Panizza-Texten im Ausland. Nach der französischen "Liebeskonzil"-Ausgabe, die für die deutsche Wiederentdeckung wohl den Ausschlag gegeben hatte, wurden 1972 Panizzas Werke "Die unbefleckte Empfängnis der Päpste" und 1981 "Aus dem Tagebuch eines Hundes" in französischer Sprache in Paris veröffentlicht. Panizzas berühmtes Drama wurde außerdem ins Englische (New York 1973) und Holländi­ sche (Amsterdam 1967) übertragen.

Die Uraufführung des "Liebeskonzils" fand ebenfalls im Ausland statt: 1969 im "Théâtre de Paris". Zwar berichtet Bauer von einer Lese-Aufführung Münchner Studenten im Dezember 196523, allein erst 1973 gelangte das Stück zum ersten Mal auf eine deutsche Bühne (Ernst-Deutsch-Theater, Hamburg). Dem vorausgegangen war eine Londoner Aufführung, die allerdings durch erhebliche Eingriffe (Text- und Perso­ nenreduzierung) gekennzeichnet war2425 . 1981 wurde die "Him­ melstragödie" am "Teatro Belli" in Rom aufgeführt, wobei Werner Schroeters Film selbigen Titels (1982 in deutschen Kinos) diese italienische Inszenierung im wesentlichen wiedergibt. Panizzas Drama wurde außerdem auch an mehreren kleinen Bühnen Deutschlands gespielt, z.B. im Stuttgarter Altstadttheater (1975)2’.

23 Bauer, a.a.O., S.178. 24 Vgl.: Gertrud Mander, "Der veruntreute Himmel". In: Stuttgarter Zeitung 26 (1970) Nr.202 vom 3. September 1970, S.30. 25 Vgl.: Ruprecht Skasa-Weiss, "Ein perverses Mysterien­ spiel". In: Stuttgarter Zeitung 31 (1975) Nr.49 vom 28. Februar 1975, S.34.

18

Nach einem Rundfunkbeitrag Walter Benjamins im Jahre 193026 wurden erst wieder seit 1962 Panizza gewidmete Sendungen (z.B. zu dessen 50. Todestag27) ausgestrahlt.

Im November 1986 veranstaltete das Kulturreferat der Stadt München erstmals "Panizza-Tage", und zwar unter dem Titel "In memoriam Oskar Panizza. Annäherungen, Lesungen, Filme", auf denen u.a. das schon genannte Drama "Johann" seine Leseuraufführung erlebte. Bei aller Vielfalt der Veranstal­ tungen und in Würdigung der honorigen Absichten der Organi­ satoren spricht es doch nicht für die Qualität des Unter­ nehmens, daß der einzige namhafte Panizza-Forscher, der ebenfalls in München ansässige Michael Bauer, nicht ein­ geladen war. Schließlich wurde im Mai 1987 im Ulmer Theater die Oper "Luzifer" des Salzburger Komponisten Franz Hummel uraufge­ führt. Das Libretto zu dieser Auftragskomposition schrieb Christian Fuchs. Gemäß dem Untertitel "Ein deutsches Lied in memoriam Oskar Panizza" entwerfen Komponist und Text­ dichter darin ein Psychogramm des Kindes, des Schriftstel­ lers, des Arztes und des Kranken Panizza. Daß der Blasphemiker Panizza "auch heute noch ins Schwarze" trifft, zeigte im Vorfeld der Aufführung eine Kampagne sittlich empörter Bürger, welche "die übliche Lokalposse von protestierendem Moralaposteltum in Gang" setzte und sowohl vom Intendanten als auch vom Oberbürgermeister "die Absetzung eines Stückes verlangte, das niemand gesehen hatte."2829Dennoch blieb der befürchtete Skandal aus, Publikum und Presse nahmen das Werk wohlwollend auf.

Die Neuauflagen einzelner Werke Panizzas wurden von der Presse und in einigen wissenschaftlichen Arbeiten aufmerk­ sam verfolgt und kritisch gewürdigt; prinzipiell begrüßte man darin die Wiederentdeckung und das Engagement für den extraordinären Autor. Die Prescher-Ausgabe des "Liebeskon­ zils" (1964) fand zunächst die Zustimmung der Kritik, insbesondere dessen Nachwort wurde als "gediegen" und vorbildlich bezeichnet28. Germanisten haben später aller­ dings zu Recht die Eingriffe Preschers in die eigenwillige Orthographie Panizzas beanstandet: "Der Herausgeber Prescher (hat) in der Neuauflage willkürliche Verbesserungen vorgenommen [...], die Sinnänderungen hervorrufen."30 Einig 26 Benjamin, a.a.O., S.641-648. 27 Vgl.: Karlheinz Kramberg, "Schach dem König". Rebellion und Höllensturz des Oskar Panizza. Eine Sendung zum 50. Todestag des Dichters. Bayerischer Rundfunk, 30. Septem­ ber 1971, 2. Programm, 21.30 Uhr. 28 Wolfgang Schreiber, "Suche nach Reibungswärme". In: Süd­ deutsche Zeitung vom 2. Juni 1987, Feuilleton. 29 Wolfgang Paulsen, "Panizza, Oskar: Das Liebeskonzil und andere Schriften". In: Germanistik 6 (1965) H.3 vom Juli 1965, S.681. 30 Marion Soceanu, "Oskar Panizzas Kampf um den Glauben". In: Colloquia Germanica 14 (1981) H.2, S.157; und: Dies., Oskar Panizza - Das Liebeskonzil. A.a.O., S.62f

19

war man sich allerdings, daß diese Ausgabe "als ein großer Schritt nach vorn gewertet werden"31 muß. Die seit 1977 veröffentlichten Panizza-Ausgaben des Matthes & Seitz Verlages fanden viel Anerkennung, aber auch eine Reihe kri­ tischer Infragestellungen. Insbesondere bei der Herausgabe der Satire "Aus dem Tagebuch eines Hundes" wurde die darin verwandte Montagetechnik mit Panizza-fremden Texten abge­ lehnt. Man wollte sich offenbar "die Mühe des reflektieren­ den und zitierenden Essays sparen"32, auch fehlten die "notwendigen sachlichen Erläuterungen"33. Die Neuauflage fast aller Erzählungen unter dem Titel "Der Korsettenfritz" (1981) verursachte ebenfalls Kritik in Hinsicht auf das "gute Dutzend von Transkriptionsfehlern" und das "Durchein­ ander von faksimilierten und neugesetzten Texten"34. Dennoch wurde das Bemühen des kleinen Verlages um Panizza grundsätzlich anerkannt. Es sei "außerordentlich verdienst­ voll"35, sich des Autors anzunehmen; die Neuauflagen des Hunde-Tagebuches und der "Psichopatia criminalis" "durch den Matthes & Seitz Verlag sind eine exakte und präzise Wiedergabe des ursprünglichen Panizza-Textes."36 Kuhlbrodt attestierte dem Verlag darüber hinaus das tiefere Verständ­ nis für den Schriftsteller: "Matthes & Seitz sind zu loben. Sie haben Panizza begriffen, seine anarchische Geste, seine Wirksamkeit für uns, seine Notwendigkeit."37

Schwerpunkte in der zeitlichen Folge der Neuauflagen wie auch der Rezeption im allgemeinen sind bis in die 70er Jahre nicht zu erkennen. Mit Ausnahme der fast zwei Jahr­ zehnte zwischen 1943 und 1962, während derer in Deutschland kein Werk erschien, ist Panizza gleichsam latent als Lite­ rat für Insider vorhanden gewesen. Erst seit Mitte des letzten Jahrzehnts ist ein langsames, aber kontinuierliches Anwachsen des Interesses beim Publikum festzustellen, das sich in den letzten Jahren zweifellos verstärkt hat.

u. 65. 31 Gunter Schäble, "Der kolossale Wüterich Oskar Panizza". In: Stuttgarter Zeitung 21 (1965) N.6 vom 9. Januar 1965, Feuilleton. 32 Jörg Drews, "Aus Anlaß von Oskar Panizza”. In: Süddeut­ sche Zeitung 34 (1978) Nr.249 vom 28./29. Oktober 1978, S.132. 33 Wilhelm Lukas Kristl, "Armer Panizza". In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe 35 (1979) Nr. 96 vom 30. November 1979, "Aus dem Antiqua­ riat", S.A437. 34 Harry Lachner, "Heiligenschein für Oskar Panizza". In: Stuttgarter Nachrichten (1981) Nr.129 vom 6. Juni 1981, S.32. 35 Hans. J. Fröhlich, "Der deftigste und genialischste Po­ lemiker deutscher Sprache". In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (1980) Nr.32 vom 7. Februar 1980, S.24. 36 Soceanu, Oskar Panizza - Das Liebeskonzil. A.a.O., S.52 Anm.135. 37 Kuhlbrodt, Panizzas Gegenwart. A.a.O., S.155.

20

Eine über den Rahmen eines Essays oder Zeitschriftenarti­ kels hinausreichende literarische oder gar wissenschaftli­ che Auseinandersetzung mit Oskar Panizza und dessen Werk gibt es vereinzelt erst seit 1969. Vorher beschränkte sich das Engagement für den Schriftsteller in literarischer Hin­ sicht z.B. auf den eine Neuauflage begleitenden Kommentar. Als Ausnahmen sind allerdings Kurt Tucholsky und die Initiatoren der "Panizza-Gesellschaft" zu würdigen. Die erste ausführliche und vor allem an Quellentexten (Tagebüchern) sich orientierende Lebensdarstellung des Schriftstellers wurde 1969 von dem Schweden Thomas Lindblad in zwar philologisch nicht exakter, dennoch schätzenswerter und informationsträchtiger Weise erarbeitet, jedoch nicht veröffentlicht38. Wiederum aus dem Ausland kam die erste große wissenschaft­ liche Arbeit über Panizza, die 1971 verfaßte und 1983 erneut vom Verlag Peter Lang, Bern, publizierte Disserta­ tion des Amerikaners Peter David Gilson Brown "Doghouse, Jailhouse, Madhouse: A Study of Oskar Panizza's Life and Literature". Der Verfasser versucht darin eine umfassende literarisch-biographische Gesamtdarstellung des Schrift­ stellers Panizza anhand des veröffentlichten Werkes, das Brown aber nur teilweise vorlag (vgl. Literaturliste). Darüber hinaus verzichtete Brown gänzlich auf das Studium von Tagebüchern, Briefen, Handschriften und anderen Quel­ len, so daß die Arbeit heute, spätestens seit Michael Bauers Dissertation überholt ist.

Nach einigen populären Schriften39 erschien erst 1973 ein nach strengen Methoden verfaßter deutscher Text, der sich mit psychoanalytischen Interpretationen einiger Erzählungen befaßt4 0.

Zu erwähnen sei auch der kurze Aufsatz von Hans Rudolf Vaget "Thomas Mann und Oskar Panizza" aus dem Jahre 197541, der aufgrund seines bisher in der Forschung unberücksich­ tigten Themas, nämlich der Berührung Thomas Manns mit Per­ sönlichkeit und Werk Panizzas, besonders interessant ist. In der DDR bemüht sich Walter Rösler um den Schriftsteller und dessen Werk. 1980 veröffentlichte er einen Aufsatz, der das Phänomen Panizza biographisch und literarisch in seinen

38 Oskar Panizzas Lebenslauf. Ein Versuch, sein Leben zu schildern mit Hilfe seiner Tagebücher. Unveröffentl. Typoskript. Stockholm 1969. 39 Z.B.: Heinz Galle, "Oskar Panizza". In: Anabis. Magazin für Utopie und Phantastik Nr.25 vom Dezember 1970, S. S.200-228. 48 Fritz Erik Hoevels, "Eine Fetischistennovelle von Oskar Panizza". In: Praxis der Psychotherapie 18 (1973), S.205-213 (H.5) und S.258-267 (H.6). 41 In: Germanisch-Romanische Monatsschrift (1975) 56/NF 25, S.231-237.

21

wesentlichen Attributen erläutert und interpretiert42.

Marion Soceanu befaßt sich in ihrer M.A.-Arbeit (1979) mit dem "Liebeskonzil" und leistet damit die längst fällige wissenschaftliche Rezeption des mittlerweile wiederentdeck­ ten Dramas; sie veröffentlichte 1981 noch eine Aufsatz zur Frage nach der Religiosität Panizzas. Willi Hendrichs folgt in seiner ungedruckten M.A.-Arbeit (1983) einem psychoanalytischen Interpretationsansatz und verbindet - ganz den Panizzaschen Intentionen folgend - des Autors Krankengeschichte mit dem literarischen Werk: "Oskar Panizzas Kreislauf. Interpretationen literarischer Kranken­ berichte" .

Ganz überragend und richtungweisend für die Forschung der kommenden Jahre ist Michael Bauers 1984 im Hanser-Verlag publizierte Dissertation "Oskar Panizza. Ein literarisches Porträt". In dieser mit außerordentlicher Detailtreue und genauestem Quellenstudium verfaßten Biographie verdeutlicht Bauer u.a., daß die bisherige Darstellung der Panizzaschen Geisteskrankheit einer gründlichen Revision bedarf, - und zwar insbesondere was die folgende Wertung seines literari­ schen Schaffens angeht. Letztlich muß auch die ganz erheb­ lich erweiterte Bibliographie, die Bauer seinem Buch hin­ zugefügt hat, hier gewürdigt werden. Diese Arbeit dürfte zu einem Standard- und Nachschlagewerk der Panizza-Forschung werden. Schließlich veröffentlichte der Verfasser der vorliegenden Untersuchung 1986 in Kärnten einen Aufsatz über die Autorin des Hauptartikels der ZD 12, Fina Zacharias, und deren Verhältnis zu Panizza43.

42 "Ein bißchen Gefängnis und ein bißchen Irrenhaus. Der Fall Oskar Panizza". In: Sinn und Form. Beiträge zur Li­ teratur 32 (1980) H.4, S.840-855. 43 Rolf Düsterberg, "Fina Zacharias (=Josepha Kraigher-Porges) und Oskar Panizza". In: Carinthia I. Zeitschrift für geschichtliche Landeskunde von Kärnten 176 (1986), S.253-268.

22

1.2. PROBLEME UND ZIELE In der ersten nach dem Zweiten Weltkrieg kommentierten Neu­ auflage eines Panizzaschen Werkes (1964) urteilt der um den Schriftsteller verdiente Hans Prescher über die Zeitschrift "Zürcher Diskußjonen", daß Panizza und seine Mitautoren darin "die absonderlichsten Themen" bearbeitet hätten: "Zwar hatte er auch vorher schon in Zeitschriftenbei­ trägen die allerverschiedensten Gegenstände behan­ delt, doch im Laufe der Zeit wurden seine Themen und Ansichten immer abstruser. Schwerpunkte und klare In­ tentionen lassen sich in den 'Zürcher Diskussionen' nicht mehr erkennen. Es will scheinen, als hätte die­ ser Geist, da er überfordert war, zu zerfließen begonnen."4 4 Dieses Urteil über den Schriftsteller und seine Zeitschrift ist symptomatisch für die Panizza-Rezeption bis in die jüngste Zeit. Es schien so klar belegt und daher unumstöß­ lich, daß die Panizza-Forschung sich gar nicht oder nur marginal mit der Zeitschrift befaßte, die den Dichter immerhin während der letzten sieben Jahre seines Schaffens in Freiheit (1897-1904) zeitlich und literarisch zunächst wesentlich, später hauptsächlich in Anspruch nahm. So wid­ met Brown in seiner Dissertation den ZD lediglich eine Seite (von über 200) und charakterisiert sie als "curious journal" mit "bizarre articles"45. Erst Michael Bauer berücksichtigt die Zeitschrift in seriöser Weise und gibt zahlreiche weiterführende Hinweise, erspart sich allerdings eine genaue Analyse, was angesichts der Thematik seines Buches auch verständlich ist. Oberhaupt ist Bauers Disser­ tation die erste größere solide wissenschaftliche Arbeit, die dem Autor Panizza gerecht wird, indem sie über die Bio­ graphie Entstehung und Intentionen des Werkes zu erklären versucht. Ansonsten ist der Schriftsteller für Germanisten kein wirkliches Thema gewesen, lediglich die Novellen und das "Liebeskonzil" waren von Interesse, das letztere frei­ lich nicht als ästhetisches Produkt unter literarischen Gesichtspunkten, sondern rezeptionsgeschichtlich als schokkierendes Drama. Wenn davon auszugehen ist, daß Panizzas Werk von literarischer Bedeutung ist, so muß eine Neubewer­ tung des Autors vorgenommen werden, die nicht nur Teil­ bereiche des Phänomens erfaßt (also gleichsam Blütenlese betreibt), sondern es als ganzes berücksichtigt.

Aufgrund der erweiterten, alle nicht veröffentlichten Texte einbeziehenden Betrachtung, wird der Versuch unternommen werden, im eingegrenzten Teilbereich zwischen 1894 und 1905 die notwendige Neubewertung des Schriftstellers vorzuneh­ men, was in der Kombination von Biographie, Werk und Wir-* 43

44 Hans Prescher, Nachwort. In: Panizza, Das Liebeskonzil und andere Schriften (1964), S.254. 43 Peter David Gilson Brown, Oskar Panizza. His Life and Works. Bern/Fankfurt/New York 1983, S.54.

23

kung (bzw. Nichtwirkung) erreicht werden soll. Hinsichtlich verschiedener Phasen im Gesamtwerk Panizzas wird sich die Untersuchung mit einzelnen Bereichen auseinandersetzen und des Autors Entwicklung zum Programmschriftsteller des 20. Jahrhunderts aufzeigen, der mit seiner Zeitschrift "Zürcher Diskußjonen" diese Programmatik zu konkretisieren beabsich­ tigte.

Dabei wird ersichtlich werden, daß die Zeitschrift im Gesamtbild des Schriftstellers Oskar Panizza von zentraler Bedeutung ist. Das wurde bisher nicht erkannt. Dazu wird der biographische Hintergrund zur Zeit der Tätigkeit Pa­ nizzas an den ZD erheblich stärker erhellt werden, als es bis dato geschehen ist. Es konnten neue Erkenntnisse gewon­ nen werden, die des Autors Einbindung in sozialdemokrati­ sche und anarchistische Kreise Zürichs belegen und die 1898 erfolgte Ausweisung aus der Schweiz auch als das Ergebnis einer von Panizza selbst intendierten Provokation darstel­ len. Zudem sind das Phänomen der Panizzaschen Geisteskrank­ heit zu erörtern und die entsprechenden Zeugnisse einer Analyse zu unterziehen. Schließlich müssen Panizzas Schaf­ fensmotive, literarische Themen und politische, philosophi­ sche und religiöse Positionen bestimmt werden. Alle diese Faktoren fanden ihren Ausdruck in der Zeitschrift. Diese werk- und persönlichkeitsvermittelnde Genese ist die Vor­ aussetzung, um einen fundierten und daher ihrer Bedeutung angemessenen Zugang zu den "Zürcher Diskußjonen" zu gewin­ nen.

Aufgrund dieser umfassenden Verfahrensweise wird sich ein neues Bild der Dichterpersönlichkeit Panizza herauskristal­ lisieren, in dem das journalistische Wirken eine - bisher wohl unterschätzte - große Bedeutung hatte. Es soll in der vorliegenden Untersuchung des Schriftstellers Entwicklung vom exponierten Parteigänger seiner Klasse zum gleichsam Fundamentaloppositionellen dargestellt werden, der gleich­ wohl gewisse Vorurteile und Einstellungen nicht überwinden konnte. Das ist im Zusammenhang mit seiner Geisteskrankheit zu sehen, die erst Michael Bauer problematisiert hat, der auf die Frage nach der tatsächlichen oder nur unterstellten Paranoia aber keine eindeutige Antwort geben mag. Dieser Frage soll hier nachgegangen werden, wobei sie in bezug zu setzen ist zu der Behauptung, wonach die ZD das Produkt eines kranken Hirns wären. Weiterhin soll dem bisherigen Panizza-Bild entgegen aufge­ zeigt werden, daß der Schriftsteller nicht nur das bekla­ genswerte Opfer der brutalen Staatsgewalt war, sondern daß er sein Opfer auch selbst provozierte, ja wollte und seine Zeitschrift auch in diesem Sinne als Organ der Provokation auffaßte. Darüber hinaus wird ersichtlich werden, daß er aufgrund seiner philosophisch begründeten moralischen In­ differenz, in der Täter und Opfer austauschbar waren, an dem Widerspruch zwischen subjektiv-emotionaler Befindlich­ keit und theoretischem Denken scheiterte. Der auch daraus resultierenden inneren Isolation setzte Panizza die öffent­ lich-publizistische Tätigkeit als Autor und Herausgeber

24

seiner Zeitschrift entgegen. Daher wird auch seine Persön­ lichkeitsentwicklung aus den Inhalten der für die ZD geschriebenen, aber nicht mehr publizierten Texte - die bisher von der Forschung nahezu gänzlich unberücksichtigt geblieben sind - nachvollziehbar. Ein ausführlicher Kommentar zu den einzelnen Ausgaben der Zeitschrift (einschließlich der nicht veröffentlichten Texte) wird deren Entstehungsgeschichte und Einbindung in das Gesamtwerk darstellen sowie - bei Texten anderer Auto­ ren - Informationen zu den Verfassern und deren Beziehung zum Herausgeber Panizza geben.

Aufgrund der genannten Faktoren wird daher wie folgt vorge­ gangen werden:

1. Darstellung der Motive, Themen und Positionen des Au­ tors, deren Einbindung in zeithistorische Standards; poli­ tische, philosophische und religiöse Positionsbestimmung; Einfluß dieser Positionen auf die Zeitschrift ZD. Es sollen die Weltanschauung, die Intentionen und deren literarische Umsetzung im Werk und insbesondere in den ZD deutlich konturiert werden. 2. Detaillierte Darstellung und Erörterung der biographi­ schen und psychischen Situation, in der die ZD entstanden sind. 3. Material- und Inhaltsanalyse der Zeitschrift Diskußjonen" einschließlich eines Kommentars.

"Zürcher

25

II.

VORAUSSETZUNGEN DER "ZÜRCHER DISKUSSJONEN": MOTIVE. THEMEN, POSITIONEN

2.1. KUNSTVERSTÄNDNIS, LITERARISCHES SELBSTVERSTÄNDNIS, SCHREIBMOTIVATION Oskar Panizza war ein politischer Schriftsteller. Seine Auffassung vom Wesen und von der Funktion der Kunst waren entschieden geprägt von dem Willen zum verändernden, inno­ vativen Eingreifen und von der Überzeugung, daß eine solche Absicht auch Wirkung zeitigt. Dennoch war er kein literarpolitischer Akteur, der seinem Tun die Funktion gesell­ schaftlicher Aufklärung und daraus resultierend die Auffor­ derung zum Widerstand zumaß. Der Künstler hatte für Panizza nämlich vor allem die Fähigkeit visionären Schauens in eine von der Wirklichkeit abgehobene, transzendente Sphäre. Der Künstler als Ausnahmemensch, als Aristokrat des Geistes, der - besonders sensitiv - an seiner Zeit, an dem Wider­ spruch zwischen Realität und (bei Panizza nicht konkreti­ sierter) Utopie existentiell leidet, dieses Leiden und dessen Ursachen mit seinen Mitteln zum Ausdruck bringt: das war Panizzas Position. Sie ging aus von der apriorischen Existenz aller Bewußtseinsformen; eine grundsätzlich idea­ listische, keine materialistische Sichtweise. Selbstver­ ständlich zeigt sich hier eine Entwicklung: So war der spätere Panizza gegenüber dem frühen entschieden deutlicher in der politischen Aussage, in seinem Selbstverständnis als Oppositioneller.

Prinzipiell maß Panizza dem Dichter, Künstler und Gelehrten in der moralischen ( ! ) Rangordnung der Gesellschaft die höchste Position zu, da dieser "ohne vom Staat abhängig zu sein, rein ideale Werte schäft"1, wobei ihm bei zunehmendem Leiden unter seiner Aufgabe auch zunehmend idealistische Integrität zugesprochen werden müsse. Mit jener Unabhängig­ keit meinte er hier - 1896 - aber nicht einen außerhalb des gesellschaftlichen Kontextes stehenden Intellekt, sondern das Befreitsein von unmittelbaren Zwängen, in denen sich Arbeiter, Beamte, Unternehmer und sonstige Alltagsmenschen befinden. Aufgabe des Künstlers war für ihn vielmehr, dem Machtanspruch des Staates konkurrierende Forderungen entge­ genzusetzen, denn "ohne die Denker und Dichter hätte der Staat längst die Menschenrechte des Einzelnen annullirt und sie zu Parias hinuntergedrükt"2.

Panizza selbst fühlte sich der Moderne zugehörig, die er als Bewegung der Neuen, der Aufgeklärten, der Antipoden gegen die etablierten Autoritäten begriff. Indem er sich in diese sehr heterogene Gruppe einbezog ("Wir Modernen”), verriet er auch seinen Wunsch nach Gemeinsamkeit und Unter1 TB 61, S.213 (Anfang Januar 1896). 2 Ebd. , S.242 (Februar 1896).

26

Stützung, denn "der Terminus 'Moderne' [...] (drückte) gerade in den beiden Jahrzehnten nach 1890 über alle Unter­ schiede hinaus eine gewisse Solidarität und Identität der jungen Literatur und Kunst" aus3 . Panizza klassifizierte die zeitgenössische deutsche Literatur in drei Richtungen:

1.

"Die Alten und ihr Gefolge" (u.a. Ganghofer, Greif, Heyse, Reder, Wildenbruch, Wolzogen);

2.

"moderne Klaßiker (Formkünstler)" (u.a. Bierbaum, Croissant-Rust, Halbe, Hartleben, Henckell, Liliencron);

3.

"verzweifelte Bahnbrecher (Exaltados) " (u.a. Bahr, Hauptmann, Holz, Scharf, Wedekind), zu denen er sich selbst ebenfalls zählte4.

Unter dem Begriff "Moderne" faßte er die beiden letztge­ nannten Gruppen. Sie waren für ihn die "Socialdemokraten des Geistes"5, deren Unmoral der "Moral des Staatsanwal­ tes"6 gegenüberstand, eine Bewegung, die "auf die feinsten Fühlfäden in der menschlichen Natur spekuliert"7. Die neue Literatur charakterisierte er als

"Absint: Man glaubt kaum, daß es ein so gemeines Ge­ tränk gebe. Noch weniger begreift man, daß daran Leute Freude, Genuß und Erholung finden. Diejenigen aber, die derartiges Getränk fabriziren, die hält man wahrhaftig der größten Gemeinheit fähig"8.

Habe man das Getränk aber erst einmal probiert, man sich daran, und zuletzt schmecke es sogar.

so gewöhne

Diese Sicht vom aufschreckenden, provozierenden und um Tabulosigkeit bemühten Künstler bildete sich bei Panizza aber erst in den 1890er Jahren heraus, nachdem er sehr traditio­ nell verhaftete, romantisierende Vorstellungen überwunden hatte. 1886 noch schrieb er in sein Tagebuch, daß die Kunst "ganz auf Empfundenem, auf vom Himel Eingegebenem, imagina­ tiv Angeschauten" beruhe9. Wer in seinem Werk wesentlich mit Verstandeskräften arbeite, deduktiv und reflektierend schaffe, sei kein echter Künstler, sondern leide unter einem "Mangel" an Visionen, denn der "wahre Dichter muß Visionär" sein10.

Obwohl Panizza einige Jahre später bereits sehr 'modern' argumentierte, daß sich "Kunst und Litteratur [...] von den

3ViktorXmegaÖ, Zum literaturhistorischen Begriff der Jahrhundertwende (um 1900). In: Ders., a.a.O., S.XIII. 4 TB 62, S.75f (Juni 1896). 5 Panizza, "Münchner Brief" (Januar 1894), S.98. 6 Panizza, "Kunst und Polizei" (1894), S.309. 7 Panizza, Abschied von München (1896), S.13. 8 TB 61, S.149 (31. Mai 1896). 9 TB 27, S.81 (Oktober 1886). 10 Ebd., S.208 (13. April 1887).

27

geistigen Kämpfen einer Epoche nicht trennen lassen"'1, sah er 1894 darin noch längst nicht eine etwaige Verbindung zwischen künstlerischer und politischer Aktivität, da "ein echter Dichter in erster Linie - nicht Sozialdemokrat oder Konservativer - sondern Dichter sein muß"11 12.

Der entscheidende Impuls für seine neugefundene und klar formulierte Position war offenbar die Amberger Haft, während der sich auch seine theoretischen Aufzeichnungen zum Kunstbegriff häuften. Deutlich wird der Zwiespalt zwischen seinen traditionellen Auffassungen und seiner faktischen Künstlerexistenz in einer Tagebuchnotiz vom Mai 1896. Der Künstler sei seinem innersten Wesen nach Aristo­ krat, ein Tyrann. "Und er muß, wo er kann, mit dem Fürsten gehn". Wie dieser unterscheide er sich von der Masse und bezwinge sie mit seiner Kunst. Das sei aber heute nicht mehr möglich, denn "unsere Zeit ist spezifisch demokra­ tisch, antifürstlich. Und so darf heute der Künstler kein Hofmann sein."13

Jene sich von der politisch-gesellschaffliehen Wirklichkeit distanzierende Künstlerauffassung - aus der Tradition einer Zwei-Reiche-Lehre der katholischen Romantik hergeleitet und in deren biedermeierlichem Gefolge zum Credo bürgerlich­ affirmativen Kunstverständnisses avanciert - modifizierte Panizza in den Jahren nach 1896 gänzlich. Bis hin zu den "Parisjana", die an politischer Anklage hinsichtlich "Gedankenfolge und Ausdrucksform an Schärfe bis zur äußer­ sten ästhetisch zuläßigen Grenze"14 zu wünschen nichts übrig ließen, ist eine deutliche Politisierung seines Werkes festzustellen. In diesem Kontext war er von der Wirkung der "Parisjana" nachgerade erstaunt: "Ich hätte nie geglaubt, daß Verse in dieser Weise fremde Konstituzjonen erschüttern könten."15 Aber dennoch reduzierte sich Panizza selbst in diesem, seinem politisch skandalösesten Werk nicht auf den engagierten Sehriftstellertypus , sondern betonte auch hier wieder die Besonderheit, das Abgelöst­ sein, die Auserwähltheit des Dichters: Dieser habe den Himmel “in Pacht", er habe "die Sprache" gemacht; ihn erlöse nur "der Harfenschlag”, "die Strofe, die ihm aus dem Herzen quilt" und das "stille Wunderzeichen, / das Gott" (!) ihm "in die Seele" werfe16. Dies waren aber nicht die epigonal-idealistischen Töne der 'offiziellen' Kunstideolo­ gie des Wilhelminischen Reiches, deren Ziel es war,

"der Realität der Versklavung nur den 'schönen Schein' als Trost gegenüberzustellen, gesellschaftliPanizza, "Münchner Brief" (Januar 1894), S.98. Panizza, Rez. Henckell (1894), S.686. TB 61, S.120. Panizza, Selbstbiographie. In: Friedrich Lippert und Horst Stobbe (Hg.), In memoriam Oskar Panizza. München 1926, S.17. 15 Panizza an Anna Croissant-Rust vom 10. März 1900, S.(l). L, Nachl. Croissant-Rust. 16 Panizza, Parisjana (1899), S.75, 132, 72f.

11 12 13 14

MiX

28

ehe Gegensätze nicht erkennbar und damit aufhebbar zu machen, sondern sie zuzudecken und zu übertünchen."17 Ähnelt Panizzas Wortwahl an solchen Stellen seines Werkes auch jenen Äußerungen, so erfuhren sie doch bei ihm ein ka­ tegoriale Umdeutung. Zweifellos sind sowohl sein künstlerisches Selbstverständ­ nis als auch seine Auffassung von der Aufgabe der Kunst als Ausnahmepositionen im Kreise der Münchner Modernen (auch schon vor seiner Haft) zu würdigen. 1894 reagierte Bierbaum auf Panizzas "Münchner Brief" - in dem dieser sich unmiß­ verständlich politisch artikulierte und die moderne Kunst (am Beispiel Gerhart Hauptmanns) unter anderem als Reflex sozialen Elends interpretierte - im Nachsatz ablehnend und äußerte die fragende Hoffnung: "Werden wir denn nie dazu­ kommen, rein künstlerisch zu empfinden?"18 Bei allen Rudi­ menten traditioneller Kunstauffassung war Panizza eine solche ästhetizistische Position wohl allzusehr in der verdächtigen Nähe zum L'art pour l'art, einem Prinzip für "Vasallen" und ganz "im Sinn der Herscher"19.

Neben dieser auch heute noch aktuellen Sicht der stabili­ sierenden Funktion ästhetizistischer Kunstauffassung be­ gründete sich diese ablehnende Haltung aber auch aus seiner Persönlichkeit selbst. In diesem Zusammenhang sei Max Halbe zitiert, der Panizzas literarisches Tun u.a. folgendermaßen qualifizierte: "Denn in Panizzas Schaffen und Dichten war nichts von dem göttlichen Licht, das dem Schöpfungsprozeß innewohnt, nichts Befreiendes, Erhebendes, Erleuchtendes, Erlösendes."20 Solche pathetischen Worte hätten Panizza in der Tat schlecht angestanden, ihnen haftet allzu sehr der Geruch der Anpassung und Flucht in die Innerlichkeit an und waren ihm, der die Repressalien des Wilhelminischen Staates am eigenen Leibe mit physischer und psychischer Gewalt erleiden mußte und/oder zu erleiden glaubte (was dann eines ist), gleichsam a priori suspekt. Sicherlich hatte für ihn die Kunst auch einen hohen, von allen praktischen Zielset­ zungen enthobenen Selbstzweck. Das war aber nur eine ihrer Ingredienzien; darüber hinaus war sie ihm auch ein Mittel zum Zweck, das unter seinen Händen zu einer "fürchterlichen Waffe", zu einer "Brandfakel" werden sollte und mit der er seine Nebenmenschen, die wie Wachs formbar seien, umbilden wollte21. Panizza selbst faßte die Entwicklung und nunmehr unmißverständliche Position zu seinem Kunst- und Künstler-

17 Gerhard Schulz, Naturalismus und Zensur. In: Scheuer, a. a.0., S.108. 18 Panizza, "Münchner Brief" (1894). Nachbemerkung von Bierbaum. In: Neue Deutsche Rundschau 5 (1894) H.l vom Januar 1894, S.98. 19 Panizza, Parisjana (1899), S.68. 20 Max Halbe, Jahrhundertwende. Geschichte meines Lebens 1893-1914. Danzig 1935, S.73. 21 Panizza an Croissant-Rust vom 29. Januar 1897, S.(2f). L, Nachl. Croissant-Rust.

29

Verständnis gegenüber Anna Croissant-Rust im Juli 1900 wie folgt zusammen: "Sie meinen: die ganze Politik geht Sie gar nichts an. Sie sind Künstlerin u.s.w. Ja, das glaubte ich längere Zeit auch. Auch ich glaubte, es gebe so etwas wie die reine Kunst. Aber, wenn Sie näher zusehen, werden Sie erkennen [...], daß in unserem untersten Herzensgrund Haß und Liebe gegen die Tagesfiguren, die die Gewalt in der Hand haben, schlummert. Sie werden eines Tages bekennen müßen, daß Sie entweder die dikste Freundin des Großen Wilhelm [des Kaisers] [...] oder daß Sie ihm in's Gesicht spuken."22

Bei der Frage nach den Ursachen, die Panizza zu seiner künstlerischen Tätigkeit veranlaßten, ist eine vielschich­ tige Motivationslage, deren einzelne Faktoren interdepen­ dent waren, zu konstatieren. Bereits der Jugendliche glühte vor brennendem Ehrgeiz, von dem Bewußtsein, ein außerge­ wöhnlicher Mensch zu sein oder zu werden. Außerdem war es die persönliche Betroffenheit, die den von enormem Tätigkeits- und Erkenntnisdrang getriebenen politischen Schrift­ steller immer wieder in die Konfrontation mit seinen Mitmenschen und vor allem mit dem Staate katapultierte.' Seine Widerspruchslust wurde aber durch die auf ihn zielen­ den Sanktionen eher gereizt als beschwichtigt, sein Kampf "gegen öffentliche Kalamitäten, Reichskatastrofen [...], schmuziges Intrigantentum u. drgl." dadurch mitveranlaßt23. Schließlich und vor allem aber waren es das Gefühl zwang­ haften Müssens und der Drang nach Kompensation, die ihn gleichsam überfielen und Phänomene für ihn darstellten, die rational nicht faßbar waren. Schon zu Beginn seiner litera­ rischen Laufbahn, im Frühjahr 1887, vermerkte er in seinem Tagebuch, daß er niemals Ergrübeltes niederschreibe, sondern nur Phantasiebilder und Gedanken, die ihm durch den Kopf schössen2425 . Diese Eigenart galt für die gesamte Zeit seines Schaffens, was er auch noch 1903 gegenüber Gustav Macasy präzisiert fomulierte:

"Schreiben tu ich nur, wenn mir Etwas einfält. Und dann ist es lediglich Abschreiben eines wisjonären Zustandes. Bis auf die einzelnen Worte und Ausdrüke muß mir Alles, wie einem Kinde, auf die Zunge gelegt werden, sonst weigere ich mich zu arbeiten. Aber dann ist es ein Hui! Wie gesagt, die reinste KopistenArbeit."2 5 Max Halbe verglich Panizza mit Faust, dem Typus des beses­ senen und alle Hemmnisse und Skrupel überwindenden For-

22 Panizza an Croissant-Rust vom 23. Juli 1900, S.(2f). L, Nachl. Croissant-Rust. 23 TB 65, S.288 (Anfang Juni 1900). 24 TB 27, S.185 (März/April 1887). 25 Panizza an Macasy vom 20. Mai 1903. In: Panizza, Neues aus dem Hexenkessel der Wahnsinns-Fanatiker (1986), S. 209f.

30

schers26. Er traf damit genau den Punkt: Es ging dem Verfasser so vieler skandalträchtiger Werke nicht (mehr?) um die Ruhe seines Daseins, um ein bequemes Sich-Einrichten; er setzte im Verlauf eines sukzessiven Prozesses endlich alles aufs Spiel, um seine Ziele zu erreichen, zu denen auch das des künstlerischen Ruhms zählte. Die Frage nach dem Warum und Wofür im Sinne rationalen Abwägens als Vorstufe einer freien Entscheidung dürfte für ihn wohl nur noch sekundär, vielleicht sogar irrelevant gewesen sein. Wie seine Aussagen glauben machen, mußte er so schreiben, konnte er nicht anders und wollte es auch nicht. So begrün­ dete er seine angebliche Gleichgültigkeit gegen Kritik damit, daß "ich selbst beim besten Willen an mir und meinen Produkten nichts ändern kann. Gehe es wie es gehe. Ich selbst bin grinsender Zuschauer"27. Der Begriff des "Dämon" beinhaltete für Panizza diesen Zwang, "jenes Tier, welches [...] uns Alles befiehlt [...], auch gegen unsren Wil­ len"28, und der im Sinne eines "schaffenden, wirksamen, eingebenden, vordrängenden Prinzips"29 zu verstehen sei. Mit dem Dämon vereint, dürfe man "diese blöde, dumme Welt herausfordern"30. Dieser Dämon könne unter gewissen Voraus­ setzungen das Individuum zu Halluzinationen führen und/oder gar dessen Persönlichkeitszerstörung bewirken31, wobei die Grundüberzeugung hinzukam, "dass diese Welt nur eine Halluzinazion ist"32. Bauer folgert daraus zu Recht die These, daß Panizza "in literarischer Tätigkeit eine Form von Selbsttherapie gesucht" habe33, zumal beinahe alle Texte erhebliche autobiographische Bezüge aufweisen. Panizza selbst leugnete das auch gar nicht; er schrieb, daß bereits 1885 das Verfassen der "Düstren Lieder" ihm "Entlastung" gewährt und ihn "wesentlich gehoben und erfrischt" habe34. Er bekräftigte das auch für seine schriftstellerische Tätigkeit im allgemeinen: Die Produkte seines Schaffens waren "für den Pazjenten [...] nicht der Ausdruck einer Laune oder einer Willkür, sondern absolute Notwendigkeit behufs Entlastung des Gehirns."35 1897 vermerkte er dazu in seinem Tagebuch: "Ich bin kein Künstler, ich bin Psichopat, und benuze nur hie und da die künstlerische Form, um mich zum Ausdruk zu bringen. Mir ist es durchaus nicht um ein Spiel von Form und Farbe zu tun, oder, daß sich das Publikum amüsirt, oder, daß es es gruselt - ich will

26 Halbe, Jahrhundertwende. A.a.O., S.73. 27 Panizza an Croissant-Rust vom 23. Juli 1900, S.(l). L, Nachl. Croissant-Rust. 28 Panizza, Aus dem Tagebuch eines Hundes (1977), S.238. 29 Panizza, Der Illusionismus und Die Rettung der Persön­ lichkeit (im folgenden: Illusionismus) (1895), S.25. 30 Ebd., S.34. 31 TB 63, S.186 und 188 (Ende 1897). 32 Panizza, Illusionismus (1895), S.52. 33 Bauer, a.a.O., S.51. 34 Panizza, Selbstbiographie. A.a.O., S.ll. 35 Ebd., S.22

31

nur meine Seele offenbaren, dieses welches nach Hilfe schreit.-"36

jammernde

Tier,

Das Leiden veranlaßte den Menschen Panizza, sich mit dem Mittel der Kunst psychisch zu helfen. Er entwickelte daraus eine ganze Theorie, die die Krankheit, sei sie körperlich oder/und psychisch, zum Schaffensgrund erhob. Untersuchte man die Biographien bedeutender Persönlichkeiten der Hi­ storie, so stünde man "vor einer großen Krankengeschichte", behauptete er schon 1891 und zog im Anschluß daran Heinrich Heine als Gewährsmann heran, der die Krankheit als eigent­ lichen Grund des ganzen Schöpfungsdranges bezeichnet habe37. Mit dieser Sicht stand er ganz im Banne des von ihm eifrig rezipierten Psychiaters Cesare Lombroso, der die Auffassung vertrat,

"daß beim Genie die Reizbarkeit der Nerven bis zum Krankhaften gesteigert sein könne, und daß eine Psy­ chose, bzw. eine Neurose die künstlerische Produktion durchaus begünstigen könne."38 Panizza sah dabei auch die Bezähmung oder gar Unterdrückung des Sexualtriebes als eine Quelle künstlerischer Inspira­ tion an und setzte damit u.a. eine Diskussion in Gang, die in seiner Zeitschrift mit einem Artikel Léon Bazalgettes (ZD 3) fortgeführt wurde. Schon 1886 stand es für ihn fest, daß es unmöglich sei, gleichzeitig zu genießen und zu produzieren. Fühlst du dich wohl, so erlischt aller Drang nach "Production Deines Herzens [...]. Werde beleidigt, gekränkt, zurükgestoßen - und Du produzirst Dein Herz aus Verzweiflung, (um Dich vor Schlimerem zu retten) und Andere genießen es, - oft nach 50 Jahren, als die köstlichste Herzensfrucht.-"39

36 TB 63, S.101 (Anfang Juli 1897). 37 Panizza, Genie und Wahnsinn (1891), S.32. 38 Jens Malte Fischer, Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche. München 1978, S.75. 39 TB 25, S.3 (Ende Mai 1886).

32

2.2. LITERARISCHE THEMEN 2.2.1. Heinrich Heine

Panizzas Vorliebe galt zeitlebens Heinrich Heine. Zahlrei­ che Zitate und Würdigungen kennzeichnen sein Schreiben und Denken und belegen die wesensgemäße Affinität zwischen beiden Autoren; selbst in seinen vom Antisemitismus über­ schatteten Jahren verstand Panizza bei Heine durchaus eine Ausnahme zu machen. Sehr häufig äußerte er sich in seinen frühen literarischen Publikationen verächtlich über Juden, er schrieb z.B. die Erzählung "Der operirte Jud'" (in: "Visionen", 1890), in der die letztlich vergeblichen Bemühungen des Itzig Faitel Stern geschildert werden, sich mittels operativer und anderer Künste zu 'germanisieren'. In den ZD stellt sich diese Position allerdings als gänz­ lich überwunden dar; in der ZD 1 nannte er die Antisemiten "kulturfeindliche Schreier" (S.(4)), und engagierte jüdi­ sche Intellektuelle schrieben bzw. sollten in seiner Zeit­ schrift schreiben: David H. Farbstein, Nachman Syrkin und Max Kaufmann. Bemerkenswerterweise war auch seine intimste Brieffreundin, nämlich Anna Croissant-Rust, Jüdin40. Sein Verhältnis zu Heine scheint in den Jahren bis ca. 1894 gleichsam zwiespältig gewesen zu sein, seine Äußerungen über ihn waren in den früheren Publikationen sehr zurück­ haltend, um Distanz bemüht, eher deskriptiv41. Zwar fehlten eindeutige negative Qualifizierungen, aber bei dem hohen Grad intentionaler Übereinstimmung beider Autoren (die Panizza auch hervorhob, aber eben nur beschreibend, nicht

40 Anna Croissant-Rust (geboren 1860 in Bad Dürkheim, ge­ storben 1943 in München) kam 1886 als Privatlehrerin nach München und heiratete dort 1888 den Ingenieur Her­ mann Croissant. Dieser war Mitglied des Münchner Natura­ listenkreises, in dem sie mit den führenden Literaten der Szene in engen Kontakt trat; sie stand u.a. mit Con­ rad, Bierbaum, Panizza und Scharf jahrzehntelang in re­ ger Korrespondenz. 1895 ging sie mit ihrem Mann nach Ludwigshafen, kehrte aber 1904 wieder nach München zu­ rück. Sie schrieb naturalistische Dramen, Erzählungen Romane. Die gut drei Dutzend erhaltenen Briefe Panizzas an Croissant-Rust (der erste datiert vom 27. November 1891, der letzte vom 5. Februar 1903) sind von besonderer Ver­ traulichkeit gekennzeichnet. Panizza hielt sie für eine "große Künstlerin" (Rez. Croissant-Rust (1893), S.933) und hatte ihr bereits in seiner Erzählung "Das Wirtshaus zur Dreifaltigkeit" (in: Visionen, 1893) ein "verulken­ des" literarisches Denkmal gesetzt: die "weibliche Per­ son" darin trägt, "soweit ich es überblicken kann, Ihre Gesichtszüge" (Panizza an Croissant-Rust vom 21. Oktober 1892, S. (3) . L, Nachl. Croissant-Rust). 41 Vgl.: Panizza, Rez. Wedekind (1892), S.652; und: Ders., Rez. Henckell (1894), S.686.

33

wertend), ist seine Haltung doch merkwürdig, zumal Panizza sehr häufig zu enthusiastischen Formulierungen über be­ stimmte Personen neigte42. Offenbar befand er sich im Zwie­ spalt zwischen seiner unverkennbaren Geistesverwandschft zu Heine und seinem zu dieser Zeit noch voll ausgeprägten Antisemitismus, der ihn gehindert haben mochte, sich ein­ deutig zu dem Jungdeutschen zu bekennen. Neben den bereits erwähnten Einflüssen Heines auf Panizzas frühe Lyrik betonte dieser in seinem Werk sehr häufig die ihn mit Heine verbindenden Themen und Anschauungen. 1892 stellte er fest, daß die ganze Literatur von Hrotsvith von Gandersheim bis Heine "eine Kette von Sinnlichkeit" 43 sei: literarisch sublimierte Sexualität als gemeinsames Sujet. Und bereits 1894, zu einer Zeit, da er sich noch in der Veröffentlichung vulgär-antijüdischer Tiraden gegen "jü­ disch-deutsche Verlagsbuchhändler"44 gefiel, zitierte er Heines Gedicht "Heinrich" in seinem deutschnationalen, radikal antikatholischen Werk "Der teutsche Michel und der römische Papst"45 als literarischen Beleg für den Kampf eines deutschen Kaisers gegen den "wälschen” Papst. Der antisemitische, deutschtümelnde Panizza wählte zur Unter­ stützung seiner Thesen den Juden Heinrich Heine! Zwei Jahre später ging er noch weiter: "Alles in Allem: er [Heine] war deutsch, urdeutsch."46

Was beide außer Kirchenkritik und Sinnlichkeit weiterhin verband, war die Abneigung gegen das klerikale München, die Panizza 1894 in der Zitierung eines Heine-Gedichtes47 und in seinem Aufsatz "Das Fronleichnamsfest"4849verarbeitete. Aber schließlich konnte er ab ca. 1896 auch gewissen, von ihm so begriffenen jüdischen Charaktereigenschaften die Anerkennung nicht versagen: .

"Heine [...] gab uns [...] jene unvergleichliche Mischung von germanischer Grübelei und jüdischem Witz, die uns alle mit fortriß."48

Es scheint, daß er um diese Zeit mit seiner eher distanzie­ renden Würdigung Heines brechen und seine besondere Zunei­ gung und biographische wie literarische Verwandtschaft nicht länger zurückhalten wollte. In den Publikationen der folgenden Jahre betonte Panizza immer wieder die extraor­ dinäre Bedeutung Heines, was aber nicht heißt, daß er zu diesem Zeitpunkt seinen Antisemitismus modifiziert oder gar

42 43 44 45 46 47 48 49

Z.B. bei Luther. Panizza, Die Unsittlickeits-Entrüstung... (1892), S.20 Panizza, "Die 'unsittlichen' Gebrüder Grimm..." (1894). S.292. TB 61, S.261 (Februar 1896). Panizza, "Kunst und Künstlerisches..." (1894), S.66. 1896, S.1071. Panizza, "Le Magazine International", (1895), S.281.

34

überwunden hatte. Dieser Prozess läßt sich anhand seiner Veröffentlichungen erst ab 1896 nachweisen50. Der von Zensurmaßnahmen und Staatsanwaltschaft permanent verfolgte Autor berief sich mit Heine außerdem auf legitime Freiheitsbestrebungen in der Literatur; denn in Deutsch­ land, das "heute geknechtet ist"51, habe der Staatsanwalt mittlerweile die Möglichkeit, schon bei vermuteter hinter­ listiger Absicht des Schriftstellers, diesem "den Haftbe­ fehl" zu überreichen:

"Wollte man Heines 'Wintermärchen’ mit dem dolus eventualis untersuchen, es käme, glaube ich, ein gan­ zes Jahrtausend von Gefängnis heraus."5253 55 54 Ebenfalls 1896 äußerte sich Panizza beeindruckt über Heine, von "seiner riesigen Eleganz und seinen verblüffenden Stößen, seinen bis aufs Nicht-mehr-wieder-Erkennen echt nachgemachten Empfindungen und seinen berühmten Traumsituationen."5 3

Die Bemühung um sprachliche Eleganz, gegossen in satirische Form (vgl. "Psichopatia criminalis"), die visionär-trauma­ tischen Inhalte seiner Erzählungen (vgl. "Die Kirche von Zinsblech") und halluziniertes Geschehen als Verarbeitung eigener Erfahrungen (vgl. "Die gelbe Kroete") verdeutlichen hier die Parallelen. Panizzas Sympathie entwickelte sich schließlich dergestalt, daß er sich veranlaßt sah, den wie er schrieb - von Stöcker und Treitschke so betitelten Judenjungen'" Heine gegen deren "großdeutsches Maulhel­ dentum"5,1 in Schutz zu nehmen, wie er es seitdem noch häu­ figer tat5 5 . In den ZD waren es immerhin zwei von insgesamt 20 Hauptar­ tikeln, deren einer sich mit Heine ausschließlich, der andere mit dessen Verhältnis zu August Graf von Platen befaßte. Bezeichnenderweise eröffnete Panizza seine Zeit­ schrift mit einer "Die Krankheit Heine's" (ZD 1) betitelten Ausgabe. Er wandte sich in diesem Text gegen die Rezeption des biedermeierlichen Publikums, das sich nach dem Tode des Dichters in verfälschender Interpretation mittels eines Konglomerats aus Sentimentalität und Spätromantik einen Heine mit "Märtirer-Pose" und "Grabgeruch" geschaffen habe (S.(2)); "daß er teils tief-schmerzliche, teils zerrißen­ frivole Dichtungen produzirte [...], das kümmert das Publi­ kum nicht" (ebd.). Denn das Werk des "verlästertste[n] Deutsche[n] in den 30er bis 50er Jahren" (ebd.) stehe 50 Mit dem Aufsatz "Der Klassizismus und das Eindringen des Variété". 51 Panizza, Rez. Conrad (1896), S.405. 52 Ebd., S.406,1. 53 Panizza, Rez. Bierbaum (1896), S.540. 54 Panizza, "Der Klassizismus ..." (1896), S.1256. 55 Z.B.: "Der Fall Miss Vaughan" (1897), S.150.

35

durchaus im Zusammenhang mit dessen Geschlechtserkrankung, die "wie intensive Geistestätigkeit in einer von Haus aus gegebenen höheren Reizbarkeit und Empfänglichkeit des Gehirns ihren Grund" finde (S. (4)). Krankheit und Werk ent­ sprängen derselben Quelle: Je kränker Heine gewesen sei, desto qualitätsvoller seien auch seine literarischen Arbei­ ten geworden (S. (5)) ; die Krankheit sei aber bedingt gewe­ sen durch eine gleichsam prädeterminierte psychische Konstitution. Die autibiographischen Bezüge zu Panizza sind evident: Der geächtete 'Kriminelle', der ein Jahr wegen gotteslästerli­ cher "Stöße" inhaftiert war, der sich ebenso schmerzhaft­ zerrissen begriff, ebenfalls in frühen Jahren sich infizierte (Lues) und unaufhörlich mit dem Problem des Wahnsinns befaßte, deckte im Lebensweg Heines Parallelen zur eigenen Biographie auf.

Die hervorstechende Dominanz sinnlich-sexueller Bezüge in Panizzas Werk findet hier auch ihre Entsprechung: "Bei der Veranlagung des Jungen [Heine] wurde Alles in’s erotische Gebiet gezogen." Die "biologisch-psichische Daseinsform" des unsittlichen Heine "war Zerstörung, genjale Zerstö­ rung"’6. Das Prinzip der Zerstörung, des Tabu-Brechens indiziert ebenfalls eine Konstitutivum im Selbstverständnis Panizzas. Der zweite Aufsatz in den ZD "Heine und Platen eine Revision ihrer literarischen Prozeßakten" (ZD 16/17) von Max Kaufmann (mit Einschaltungen von Panizza) behandelte das gespannte Verhältnis beider Dichter zueinander. Angeregt durch die Homosexualität Platens, die Heine in seinen "Reisebildern" ("Die Bäder von Lucca") öffentlich bloßstellte, reflektierte Panizza in dem von ihm stammenden Teil dieses Textes u.a. das Problem der "Konträr-Sexualen", deren gesellschaftliche Stellung, den Begriff des "Natürli­ chen" in diesem Kontext u.v.m.

Panizza hielt Heine für einen "der größten Deutschen"’7, seine Bedeutung für ihn ist kaum zu überschätzen. Das verdeutlicht noch ein zwar äußerliches, aber vielsagendes Faktum: In Panizzas Bibliothek war "Heine mit etwa neunzig Nummern vertreten"’8.

86 ZD 1, S. (7) . 87 TB 64, S.196 (Anfang Juni 1899). 88 Günther Hildebrand, "Oskar Panizza als Bibliophile". In: Die Bücherstube 1 (1920) H.3/4, S.93.

36

2.2.2. Das "Volk" Was das "Liebeskonzil" an zeittypischen literarischen Ten­ denzen mit einigen weiteren dramatischen Werken Panizzas gemein hat, ist der naturalistische Impetus, das Volk, den einfachen Menschen in den Vordergrund des Interesses zu rücken, ihn zumindest aber in besonderer Weise zu berück­ sichtigen”. "Das Volk wird im Gegensatz zu Staat und Staatlichem bejaht als die triebhafte Gemeinschaft der Unterdrückten und Leidenden, auch der Beharrenden und Treuen"6 0. In "Der heilige Staatsanwalt" (1894) ist es die "Wollust" (Prostituierte), die sich gegen die verlogen-heuchlerischen Moralvertreter des "ewig Wahren, Guten und Schönen" trotz schlagender Gründe nur schwerlich vor dem Staatsanwalt behaupten kann. Erst der persönlich intervenierende Luther (!) führt durch seine gleichsam naturrechtliche Argumenta­ tion die entscheidende Wende im Verfahren herbei: "Gott und die Natur sprechen sie [die Wollust] frei. Menschensatzungen haben sie verurtheilt. Die Menschen selbst haben sie abwechselnd verflucht und hochge­ priesen, beschimpft und besungen."* 61 60 Die Moral, die sich als eine der Herrschenden für die Beherrschten hier entlarvt, hat ihre entscheidende Funktion in der politischen Unterdrückung, die hineinreicht bis in die Wertsysteme der sozialen Kleingruppen (Familie) und dort ihre zerstörerische Wirkung entfaltet. So wird der schwärmerische, melancholische, künstlerische Sohn einer von dessen Bruder beherrschten, labilen und kaum reflektie­ renden Mutter das zum Selbstmord getriebene Opfer ökonomi­ scher, um den materiellen Vorteil und Aufstieg besorgter Interessen, welche die persönlichen Beziehungen in dem Ein­ akter "Ein guter Kerl" (1896) kennzeichnen. Die Aufdeckung sozialer Mißstände sowie das Verständnis für Randgruppen und gesellschaftlich Verachtete sind intentionale Attribute des Naturalismus und konstitutiv für Panizzas Werk.

Katholische Kirche und Staat als Unterdrückungsgewalten, die permanente Abrechnung mit den Philistern, die Auseinan­ dersetzung mit Fragen der Geisteskrankheit, der Prostitu­ tion, der Homosexualität etc. betonen den grundsätzlichen ” Marion Soceanu erblickt hinter den "revolutionären Ver­ sen" der Zueignung zur zweiten Auflage des "Liebeskon­ zils" (1896) den Naturalisten Panizza, "dem es darauf ankommt, nicht die Meinung der Großen [...], sondern auch die der Durchschnittsmenschen zu Worte kommen zu lassen". In: Oskar Panizza - Das Liebeskonzil. A.a.O., S.147. 60 Albrecht Buerkle, Die Zeitschrift "Freie Bühne" und ihr Verhältnis zur literarischen Bewegung des deutschen Na­ turalismus. Diss. phil. Heidelberg 1945, S.4. 61 Panizza, Der heilige Staatsanwalt (1894), S.29.

37

Zwiespalt zwischen natürlichem Lebensanspruch und der die Realisierung dieses Anspruchs verhindernden Macht des Staa­ tes, der Kirche, der etablierten Gewalten. Panizza gelang dabei eine differenzierte, die Wechselbeziehungen und Umschichtungen der sozialen Klassen einbeziehende und die Konflikte anschaulich dramatisierende Darstellung, die den geschärften Blick des politisch sich emanzipierenden Dichters dokumentiert. Seine 1895/96 verfaßte "Sittenstudie in 3 Akten", betitelt "Johann", führt die Insuffizienz und Hohlheit einer reichsdeutschen Offiziersfamilie vor, deren Mitglieder ausnahmslos zu Schuldnern ihres Dieners Johann werden. Die traditionell den herrschenden Kreisen Angehö­ renden werden im Zeitalter des Umbruchs, der sukzessive alle Lebensbereiche erobernden Kapitalideologie, selbst zum Opfer der gesellschaftlichen Zwänge, die es um jeden Preis erforderlich machen, den verschuldeten "Haushalt auf dem­ selben, oder doch scheinbar demselben, Fuß"62 weiterzufüh­ ren, wie die Frau Majorin ihren Gatten beschwört. Panizza zeigt damit, daß sich die eigentlichen Drahtzieher der Macht nicht mehr aus den Feudal-, sondern den Kapitaleliten rekrutieren. In der Gestalt des Dieners Johann wird der neue Typus des aus dem Volke stammenden, (noch) unterprivi­ legierten Bürgers vorgeführt, der sich emanzipiert und mit pragmatischen Mitteln seine Rechte geltend macht. Panizzas Werk ist damit eine adäquate literarisch-naturalistische Widerspiegelung seiner in sich kranken Gesellschaft, die hinter dem "schönen Schein" pathetisch-hehrer Freund­ schafts- und Vaterlandsphrasen eine brutale Konkurrenzma­ schinerie und geistige Leere verdeckt und die sich damit selbst den ideologischen Boden unter den Füßen, die geistige Grundlage entzieht. Am Ende des Dramas steht der Zusammenbruch der Familie, weil Johann, der Mann aus dem Volke, sein Geld fordert...

In dem bodenständigen Empfinden des einfachen Volkes glaubte Panizza die Kraft echten, unverfälschten Lebens zu erkennen. Soweit allerdings Meinungen über Themen berührt wurden, die beim Volke diskriminiert waren (Prostitution, Homosexualität etc.), stand er durchaus im Gegensatz zum 'Volk'. So forderte Panizza beispielsweise 1901 die Abschaffung des § 175 RSTGB, da der "nüchterne Menschenver­ stand" die Gleichbehandlung von Hetero- und Homosexualität verlange63. In seiner zuerst als Aufsatz erschienenen Studie "Die Haberfeldtreiben im bayrischen Gebirge" (1894) stellte Panizza insbesondere die traditionelle Form der Volksjustiz heraus: "Hier zeigt sich, dass die 'Haberfeldtreiber’ in ihrer Moral, in ihrer Gerechtigkeit, in ihrem rück­ sichtslosen Mut, thurmhoch über 'Staat' wie 'Kirche' stehn", denn die "Gebirgler haben ein fast noch si-

62 Panizza, Johann. In: Ders., Neues aus dem der Wahnsinns-Fanatiker (1986), S.146. 63 TB 67, S.142 (Oktober 1901).

Hexenkessel

38

chereres Sitten- und Rechtsbewusstsein unabhängig vom Strafgesetzbuch."6 *

Die beiden Mächte Kirche und Staat, auf deren "rücksichts­ lose Gewalt" dieser "biedere Volksstamm"65 traf, waren sowohl des Volkes wie auch Panizzas Gegner. Welche Bedeutung die Beschäftigung mit dem Thema "Volk" für Panizza hatte, zeigt zudem, daß dieser Aufsatz nicht nur das Ergebnis eines punktuellen Interesses war, vielmehr folgten 1897 ein zweiter Artikel "Haberfeldtreiben. Ueber einen internationalen heidnisch-christlichen Kern in den 'Haberfeldtreiben '" und das umfangreiche Werk "Die Haber­ feldtreiben im bairischen Gebirge", das mit wissenschaftli­ chen Methoden erarbeitet und aufgrund seines Detailreich­ tums Panizzas besonderes Engagement verrät. Nicht nur die Widerstandsfähigkeit dieser "autochtonen Sittenrichter" mit dem "Charakter altdeutscher Biederkeit und Rechtlichkeit"66 gegen staatlichen Druck, Verfolgung, Denunziation und Bestrafung, sondern auch deren Funktion als volksverwurzel­ tes Korrektiv gegenüber dem Moralmonopol der katholischen Kirche, als mächtiges "Kampfmittel gegen das PriesterZölibat"67, beeindruckten den Schriftsteller. Diese Sympa­ thie erklärt sich aus seiner Auffassung, daß das ganze Christentum den abendländischen Völkern aufoktroyiert worden sei, obwohl Kelten, Germanen und Slawen "zum Humor, zur optimistischen und freudigen Naturauffassung" veranlagt seien und ihnen daher diese Religion "schnurstraks" zuwi­ derlaufe6 8 .

Darüber hinaus empfand Panizza eine besondere Vorliebe für die künstlerisch-gestaltenden Fähigkeiten des 'Volkes', was er in einer Reihe von Publikationen schon zu Beginn der 1890er Jahre zum Ausdruck brachte. In "Der Teufel im Oberammergauer Passionsspiel" (1890) lobte er diese Auffüh­ rungen, die hinsichtlich der Großartigkeit der Darstellung und des "Eindruck [s] auf das Gemüt, so ziemlich über alles das hinaus (gehen), was unsre Hoftheater, was Wagner­ theater [...] uns vorzuführen imstande sind.-"69

Der Aufsatz "Theater-Koups und Machinationes" (1891) würdigte vor allem die Authentizität der Mysterienbühne, die ganz dem geistigen Horizont des Mittelalters entspre­ che. Die heutigen Aufführungen seien immer noch "ein flam­ mender Protest gegen unsere italienische Guckkasten­

64 S.44 bzw.56. 65 Panizza, Die Haberfeldtreiben im bairischen (1897), S.VI. 6 6 Ebd., S.44 u.45. 67 Ebd., S.54. 66 Kalypso [d.i. Panizza], "Pariser Brief" (1900), lage . 69 S.1021.

Gebirge

1. Bei­

39

Bühne"70. Die Einbeziehung einer z.T. immens hohen Anzahl Mitwirkender, die Teilnahme eines ganzen Dorfes und die Nutzung der umliegenden Landschaft beim Spielgeschehen ließen das schwäbische Bauernspiel "Andreas Hofer", das außerdem die Geschichte des VolksaufStandes gegen Napoleon dramatisiere, die Oberammergauer an Authentizität noch übertreffen71 .

So ist auch das "Liebeskonzil" auf diesem Hintergrund zu verstehen; Panizza selbst bezeichnete seine "HimmelsTragödie" als "in Form eines mittelalterlichen Misterjums unter moderner Beleuchtung"72 konzipiert. Die vorgebrachten Positionen dürfen aber nicht zu der Schlußfolgerung verleiten, der Schriftsteller wäre ein sich persönlich solidarisierender Anwalt der Interessen des Seine eher von Nietzsches 'gemeinen Mannes gewesen. Herrenmoral und Stirners Individualismus gekennzeichnete aus einer Haltung war die des Überlegenen, der sich rationalen Sicht heraus - den vorzugsweise von ihren Instinkten geführten Massen wohlwollend näherte, doch dabei niemals vergaß, den kategorialen Unterschied zwischen sich selbst und jenen zu betonen. Sie waren für ihn sicherlich auch Objekte punktuellen Mitleids, hinsichtlich ihrer Spon­ taneität, angeblichen Naturnähe und unverbogenen Kraft sogar der Bewunderung; aber niemals anerkannte er sie als gleichrangig oder als Menschen geistiger - und somit akzeptabler - Qualität: "In der Regel aber ist die fetteste Lüge, die koloßalste Fälschung, die grandioseste Verdrehung für die Maße das Beste, denn sie will mit ihrer Imaginazjon 'etwas leisten'. Und ihre stärkste Leistung wird immer dann sich vollziehen, wenn sie die objek­ tive Wahrheit auslöscht und statt deßen ein vollstän­ diges Fantasie-Gebäude errichtet"73.

Besonders empfindlich reagierte er bei allem, was seine Kunst betraf, dort kannte seine Verachtung keine Grenzen. Mit Worten, die einem preußischen Junker wohl angestanden hätten, sprach er dem Durchschnittsmenschen jede Urteils­ kompetenz ab: "Denn von der Kritik des gemeinen Volkes laße ich mich nicht beschmuzen."7475Seine ambivalente Haltung war aber keineswegs eine individuell entwickelte, sondern eine typische für die naturalistischen, modernen Schriftsteller. Die "Verachtung der zuvor gesuchten und mikroskopisch genau beobachteten Massen der Arbeiter und die Ablehnung des Gleichheitsprinzips unter Menschen''7 5 galten als common sense.

70 71 72 73 74 75

S.829. Vgl. Panizza, "Andreas Hofer” (1891). Panizza, Selbstbiographie. A.a.O., S.14. TB 72, S.295 (April 1903). TB 64, S.272 (zwischen 14. und 19. Juli 1899). Dieter Pforte, Die deutsche Sozialdemokratie und die Na­ turalisten. In: Scheuer, a.a.O., S.197.

40

2.2.3. Opposition gegen die etablierte Moral - Die Gestalt des Normbrechers

Die moderne literarische Bewegung verstand sich als Opposi­ tionsliteratur, der Dichter selbst war "meist der Ketzer der Gesellschaft"76. Man empfand einen unüberbrückbaren Abgrund zwischen dem eigenen Lebensgefühl und der offiziel­ len, durch den Kaiser repräsentierten, bürgerlichen Welt, die gekennzeichnet war durch ihren ökonomischen Fort­ schrittsglauben einerseits, künstlerisch-geistige Regres­ sion andererseits. Den naturalistischen und in deren Gefolge wirkenden Schriftstellern kam es darauf an, "die geistige Leere der Bürgerwelt und ihre Verlogenheit aufzu­ zeigen". Die "Verachtung für den Herdenmenschen", für das "Bürgertum ohne Lebenskraft, vertrocknet in einer lebens­ feindlichen christlichen Moralität"77, die Rosenhaupt bei Halbe, Hauptmann, Wedekind u.a. feststellt, galt exakt auch für Panizza. Der Außenseiter, der Unkonventionelle, der Tabuverletzer erheischten das besondere Interesse seines literarischen Diskurses. Er ist der Gegenspieler des konformen und die Macht in Händen haltenden Bourgeois, dessen übermächtige Präsenz und Herrschaft Panizza als das Leben erstarren lassend entlarvte. Die Prüderie und falsche Moralität des Kaiserreiches waren des Schriftstellers bevorzugte Objekte, deren funktionalen Charakter er aus darwinistischer Sicht beurteilte: "Geht man die großen, entscheidenden Episoden der Geschichte durch, die heiteren und die traurigen, die gewaltigen und die lächerlichen, so sieht man, daß für das, was wir moralische und etische Impulse nennen, in Wirklichkeit kein Plaz ist, und, wie sehr sie auch betont und in den Vordergrund geschoben werden, sie in Wahrheit nur ein äußerlich um unsere Seele geworfenes Gewand bilden, hinter denen die frevelhaft nakten und begerlichen Triebe des menschlichen Herzens ihr Recht geltend machen."76 Als moralisch bemäntelten Darwinismus charakterisierte Panizza hier den Zustand des bourgeoisen Staates. Er hinge­ gen, der selbst das Leben als instinkt- und nicht vernunft­ gesteuert auffaßte, wünschte eine Art 'entmoralisierten' Naturzustand, der den Individuen das Ausleben und die Ent­ faltung ihrer Triebe, Eigenschaften und Interessen ermög­ licht. Das Problem der Schranken der Individualität behan­ delte er jedoch nicht. Aber die Differenz zwischen der offiziellen, der "Staatsmoral", der "Kirchenmoral"76 und seiner subjektiven Befindlichkeit, die naturgemäß mit der

76 Hans Schwerte, "Deutsche Literatur im Wilhelminischen Zeitalter". In: Wirkendes Wort 14 (1964), S.270. 77 Rosenhaupt, a.a.O., S.68 bzw.65. 76 TB 65, S.4 (30. August 1899). 76 Vgl.: Panizza, "Kirchenmoral und Staatsmoral" (1891).

41

gesellschaftlichen Organisation verbunden war, erschien ihm ungeheuer: "Die Eide der Kön'ge, die Lügen des Staats"80, die "christliche Moral-Doktrin"81 waren es, die "die ge­ sunde Menschennatur vergiftet"82 hätten. Immer wieder rückten daher das gegen die Moral Verstoßende, das Verbrechen und der Verbrecher selbst in das Zentrum seines Interesses und wurden von ihm zum Gegenstand litera­ rischer Betrachtungen herangezogen. So war für Panizza "das Verbrecher- bezw. Sündertum [...] im Grunde ja doch nur ein Produkt von Tradition und Milieu."83 Schon 1887 dokumen­ tierte er im "Altenglischen Diebslied"84 Sympathie und Verständnis für den Normbrecher, und er selbst mußte schließlich kriminalisiert - für seine das gesetzlich erlaubte Maß an Kritik überschreitenden Texte lange Zeit im Gefängnis verbringen. In den Jahren 1901/02 fertigte er zahlreiche Skizzen unterschiedlichen Umfangs zu einem geplanten Text mit dem Titel "Der Verbrecher, eine kpoteose" an8 5 .

Grundlage seiner Sympathie für den Normverstoß war die Nichtübereinstimmung mit dem und das Kritikbedürfnis am gesellschaftlichen Verhaltenskodex. Insofern erblickte Panizza in seiner eigenen Haltung eine deutliche Affinität zum Außenseiter, zum Verbrecher, der willentlich oder aus innerem Zwang in punktuellen Situationen oder generell den Konsens verletzt. In zahlreichen Werken stellte Panizza den Außenseiter-Typus in den Mittelpunkt und verhehlte dabei auch niemals seine Verbundenheit mit ihm, sei es die perso­ nifizierte Wollust im "Heiligen Staatsanwalt", der Teufel im "Liebeskonzil" oder der Zwitter in "Ein scandalöser Fall" (in "Visionen”, 1893). Das Thema war für ihn auch Anlaß zu theoretischer Reflexion. Die Künstler, insbeson­ dere die Dichter, stellten deshalb so oft und so vorzüglich Verbrecher - vor allem solche aus "Leidenschaft" - dar, weil sie die geistige Verwandtschaft mit ihnen fühlten88. Diese Verwandtschaft empfand Panizza auch für den gemeinen Kriminellen, der sich allein durch sein Sosein von der satten Mittelmäßigkeit unterscheide: "So sehr bin ich geneigt, den der Kirche, dem Staat, den Gesezen Opponirenden für den Höherstehenden, für die Blüte des Menschengeschlechtes zu halten, daß ich diese Klaßifizirung selbst auf [...] den gewöhnlichen malfaiteur ausdehne, und fest überzeugt bin, daß gegenüber denen, die hinter den Gerichtsschranken

8 0 8 1

8 2 8 3 8 4 8 3

8 6

Panizza, Londoner Lieder (1887 ) , S.28. Panizza, "Prostitution' ' (1892) , S.1181. Panizza, "Der Klassiszismus .. ." (1896), S.1260. Panizza, "Kirchenmoral und Staatsmoral" (1891), S.5 In: Londoner Lieder, S.,54ff. Vgl.: TB 68, S.83-93, 94-99, 108f, 130 (Juni 1901) 71, S.83-■89 (September 1902) . TB 63, S. 195 (ca. März 1898) .

42

sich niedergelaßen, auf der Anklagebank höhere Intelligenz Plaz genommen hat"87.

immer

die

Das Verbrechen selbst war für ihn dabei keine krankhafte, sondern eine dem Wesen des Menschen inhärente Erscheinung. 1899 vermerkte er in seinem Tagebuch, daß die abstrakten Forderungen unserer Vernunft mit den Instinkten der Seele kollidierten, wobei jene, nicht der Instinkt, Ausfluß einer pathologischen Verfassung seien. Wie der Nahrungs-, Ge­ schlechts- und Glückstrieb und weitere Konstituenzien des Eigennutzes angeborene Qualitäten seien, so müsse man auch das Verbrechen als Auflehnung gegen die übermächtige Ratio und somit als "Urfänomen" begreifen. Zwar sei es verständ­ lich, daß eine organisierte Gesellschaft mit legislativen Mitteln dieses Urphänomen in seiner Wirksamkeit zu be­ schränken suche, allein es als pathologische Erscheinung zu bewerten, sei falsch88. Durch diese Zeilen leuchtet unverkennbar Stirnersches Gedankengut. Dieser hatte schon 1844 jene ethische Indiffe­ renz verkündet, welche die positive oder negative Wertung einer auf die Maximierung des Eigennutzes gerichteten Hand­ lung lediglich von deren Erfolg abhängig macht: "Gelingt ihm sein Unternehmen, so geschieht ihm Recht, und gelingt's nicht, so geschieht ihm gleichfalls Recht."89 Prinzipiell waren für Stirner alle Menschen Verbrecher; die sich auf dem legalen Rechtsboden befindenden beurteilte er dabei aber sogar negativ, weil sie die Gesetze für ihre Verbre­ chen schüfen, aber sich ihres Verbrechertums nicht bewußt seien und es daher auch nicht zu schätzen verstünden90.

Panizza fühlte sich daher zu seinem Kampf mit den staatli­ chen und ihn bedrohenden Mächten nicht nur berechtigt, sondern geradezu herausgefordert: "Ich hatte Anfangs große Bedenken, meine Verrüktheiten in Druk zu geben. Als ich aber sah, daß um mich her weit größere u. schlimmere Verrüktheiten begangen wurden, und von Menschen, deren Tätigkeit und Stel­ lung einen weit schlimmeren Einfluß ausübten, als ich sah, daß die Natur selbst in ihren großen und koloßalen Elementar-Ereignißen uns die groteskesten und perversesten Sprünge vormache, da sagte ich mir: Nur zu! Mit dieser Welt und mit dieser Menschheit keine Schonung! Schließlich bin ich selbst ein Stük Natur mit bestirnten Kräften ausgestattet. Erschlage ich nicht, werde ich erschlagen."91

87 Ebd., S.243 (Ende Juni 1898). 88 TB 64, S.242 (8. Juli 1899). 89 Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum. 1981, S.213. 90 Ebd., S.309. 91 TB 63, S.203 (Ende Februar/Anfang März 1898).

Stuttgart

43

Auch diese Aussage ist eine paraphrasierte Stirner-Position, der kategorisch erklärte: "Wer deinen Willen brechen will, der hat's mit Dir zu tun und ist dein Feind. 2 Stets fanden Persönlichkeiten, die für ihre Überzeugung ggf. selbst gewaltsam eintraten, die ungeteilte Bewunderung Panizzas, und sie forderten auch den Schriftsteller. Karl Ludwig Sand widmete er einen Aufsatz in der ZD 13/15. 1895 nannte er Sand als beispielhaften politischen Kämpfer: "Wer sein Leben für eine Idee hingiebt, ist immer ein Heili­ ger"92 93. Das ist auch im Zusammenhang mit Panizzas Gedanken zum Tyrannenmord zu sehen, wo er bedauernd konstatierte, daß Deutschland die Lehre vom Tyrannenmord zwar "hübsch ausgebildet", selbst aber "nie einen Tirannen ermordet"94 habe.

Schon in der ZD 5 wird Sand als strahlendes Beispiel des für seine Idee zu sterben bereiten Einzeltäters beschrieben (S.7); der o.g. Aufsatz hingegen bemüht sich um eine "biografisch-psichologische Darstellung" (S.l). Nach ein­ leitenden Ausführungen über die Burschenschaftsbewegung der Restaurationszeit, die Vita Sands, das politische Wirken und Intrigantentum Kotzebues, skizziert Panizza die biogra­ phisch-psychologische Entwicklung der Persönlichkeit des Titelhelden, die dann schließlich zu Entschluß und Tat, der Ermordung des Staatsrates Kotzebue, führt. Panizza ergreift darauf die Gelegenheit zur Erörterung der Frage nach der sittlichen Erlaubtheit des politischen und des Selbstmordes: ein idealistischer Selbstmord muß verstanden werden als Anklage gegen die Gesellschaft, erzeugt durch den Anarchismus (S.20). Die Verunglimpfungen Sands durch die Burschenschaften in neuerer Zeit, indem man ihn nämlich als geistesgestört darstellt, wertet Panizza als die Bemühung um Assimilierung dieser Bewegung an das politische Establishment. Er prognostiziert jedoch, daß die Burschenschaf­ ten in Zukunft wieder für ihre Ideen kämpfen werden, "wenn nötig ohne die Dinastieen und gegen die Dinastieen" (S.24). Nach Panizzas Auffassung mußte die Moral einer Gesell­ schaft, in der die Werte für die Herrschenden austauschbar und somit unverbindlich waren und die lediglich bestand "aus einer Summe von Individuen, die sich nur noch als Herdentiere zu praktischen Zwecken" vergesellschafteten95, abgelehnt, entwertet und auf ihren funktionalen Punkt gebracht werden. Der aus einem offiziösen Wertesystem destillierte moralische Anspruch und dessen normatives Gefüge stützen immer nur den oder die Organisation, die diese Normen und diese Moral etabliert. Sie wirken also systemimmanent und absorbieren - je nach Intensität und Rigorosität ihrer diesbezüglichen Sanktionen - oppositio­ nelle Tendenzen und zwingen zur Affirmation. Das kann - wie im Falle Panizza - bis hin zur Disziplinierungsmaßnahme

92 93 94 95

Stirner, a.a.O., S.215f. Panizza, Illusionismus (1895), S.60. Panizza, Dialoge im Geiste Hutten's (1897), S.24. Rosenhaupt, a.a.O., S.72.

44

Gefängnis oder noch weiter führen (man vergleiche auch die Kriminalisierung der Arbeiterbewegung im Kaiserreich) . Exakt diese Faktizität gesellschaftlich-politischer Wirk­ lichkeit diffamierte Panizza in seiner Satire "Psichopatia criminalis":

"Wer auf Grund und unter Berufung auf irgend eine Idee [...] zu der Schlussfolgerung von einer Ein­ schränkung [...] oder gar Entbehrlichkeit, der [...] deutschen Monarchieen [...] komt, der ist a priori krank er ist [...] zum Verbrecher geworden."96

Aber nicht nur die unmißverständliche politische Aussage sondern das "Neue" schlechthin (und damit auch in der Kunst) habe grundsätzlich mit dem Widerstand der Vertreter des Althergebrachten zu rechnen; es wirke "unwillkürlich revoluzionär und verbrecherisch"97, wie es Panizza am Beispiel eines Staatsanwaltschaftlich konfiszierten Buches konkretisierte. Es sei die Bedrohung des Status quo, die von dem Neuen, Unbekannten, Anderen ausgehe; ihre Schöpfer und Verkünder aber, "Vagabunden [...], Landstreicher [...], Schauspieler, Künstler [...], Dichter, Denker" seien es, "die den angeblich bewegungslosen Staat vorwärtstreiben.”98

96 (1898), S.39. 97 Panizza an Croissant-Rust vom L, Nachl. Croissant-Rust. 98 TB 61, S.241 (Februar 1896).

19. Februar 1896, S.(3).

45

2.2.4. Das "Weib" Die die Moderne u.a. kennzeichnende Diskussion um das "Weib" nimmt auch im Werk Panizzas einen breiten Raum ein. Die ZD waren diesem Thema besonders verpflichtet, mehrere Aufsätze wurden von Frauen verfaßt, Panizza selbst schrieb einige über Frauen und Frauenthemen reflektierende Bei­ träge .

Zunächst ist festzustellen, daß sich der Schriftsteller in die seinerzeit vieldiskutierte Frage um die Ehe einschal­ tete und Position bezog. Er betrachtete die Ehe von ihrer sozialen und psychischen Funktion her99, um davon ausgehend dem Problem der moralischen Wertung kanalisierter Trieb­ befriedigung sowie der Unterscheidung zwischen der staat­ lich und gesellschaftlich legitimierten Form sexueller Ver­ gesellschaftung und der Prostitution nachzugehen. In seinem 1892 veröffentlichten Aufsatz "Prostitution. Eine Gegenwartsstudie" schilderte Panizza den von ihm so gese­ henen Zusammenhang zwischen Ehe und staatlicher Ordnung: "Für Staat, Gesellschaft und Civilisation ist die Ehe unentbehrlich", da sie als Disziplinierungsinstrument "die Naturtriebe in eine Institution" zwinge100. In der hier erörterten Frage nach der Legitimität der Prostitution erschien es ihm ebenso bedauerlich wie bezeichnend, daß gerade die schärfsten Verfechter der gänzlichen Abschaffung der Prostitution "meist über die Jahre sexueller Erregung hinaus sind". Er forderte die generelle Anerkennung und Gleichberechtigung dieser ins Abseits gedrängten Subgruppe, zumal der "Unterschied zwischen der Ehefrau und dem Freudenmäd­ chen [...] im Lichte einer geläuterten Naturbetrachtung Null ist"101 .

Diese vom "humanen Standpunkt" aus gesehene Gleichstellung von Prostituierter und bürgerlicher Gattin begründete Pa­ nizza schon 1886 in seinem Tagebuch. Beide benützten den Geschlechtstrieb des männlichen Sexualpartners, um sich materielle Vorteile zu verschaffen, sei es Ehe, Jahresge­ halt oder einmalige Bezahlung102.

Immer wieder zog Panizza den von ihm verehrten Martin Luther als Gewährsmann seiner Thesen hinsichtlich der Ehe,

99 Dieses Thema war auch im Kreis der Münchner Modernen um diese Zeit virulent. Vgl. dazu: Conrad, "Aus dem Fra­ gensack der Zeit". In: Die Gesellschaft 10 (1894) H.l vom Januar 1894, S.152: "Ist die staatliche Zwangsehe den Ärger und die Entwürdigung wert, die sie uns ko­ stet?" 100 Panizza, "Prostitution" (1892), S.1180. 101 Ebd., S.1181 bzw.1178. 102 TB 27, S.25 (Ende September 1886).

46

der Sittlichkeit, der Sexualität und Kirche heran103. Die Ehelosigkeit, - in umgekehrter Funktion - als Zwangsmittel zur Absicherung klerikal-hierarchischer Macht innerhalb der katholischen Kirche mißbraucht, diskutierte Panizza ebenfalls in der Beschreibung des Lutherischen Kampfes gegen den Zölibat104 . In der Erklärung zu seiner Ausweisung aus Zürich zitierte er die in England geltende Auffassung, "daß jeder Mensch, also auch jedes Mädchen [...], nach dem Eintreten der Reife mit seinem Körper anfangen könne, was es wolle"1 0 5 .

Diese damals ohne Zweifel sehr unkonventionelle Auffassung von der Ehe, in die Panizza das Sich-Prostituieren einbe­ zog, kontrastiert zuweilen aber erheblich zu anderen Äuße­ rungen zum Wesen des "Weibes". So konturierte er 1892 "die ästhetisch-moralische Seite des Weibes, welche die Natur angewiesen hat, stets zu locken, zu verführen", wobei er ihm eine recht hausbackene Motivation unterschob. Wie schon 1886, so hieß es auch hier, das Weib locke "nicht, um dem sexuellen Trieb zu genügen, sondern um versorgt zu wer­ den."106107 Aber er anerkannte auch die Grenzen männlicher Fähigkeiten, indem er zugestand, daß in der literarischen Gestaltung "nur das Weib das Weib zu schildern vermöge"'01 .

Panizza sah seine Zeitschrift auch als Forum der Auseinan­ dersetzung um dieses zeittypische Thema und legte großen Wert auf diesbezügliche Beiträge literarisch engagierter, streitbarer Frauen. Er folgte damit einem Impuls, der gleichsam 'in der Luft' lag, denn in "den neunziger Jahren (trat) eine Reihe von literarisch debütierenden Frauen an die Öffentlichkeit, denen die naturalistische Bewegung die Schreibhemmung genommen und Publikationsmöglichkeiten ver­ schafft hatte."108* Das durch das Christentum zur Kreatur des Teufels ernied­ rigte Weib108 fand in Franziska Gräfin zu Reventlow eine glänzende Vertreterin der Emanzipationsbestrebungen, die Panizza noch in seiner letzten Ausgabe der ZD (28/32) in­ ständig bat, den Platz wieder einzunehmen, der ihr unter den deutschen Schriftstellern gebühre, und auch weiter für ihn zu schreiben (S.36). Der erste Beitrag Reventlows wurde in der ZD 6 (Mai 1898) veröffentlicht: "Das Männerphantom der Frau"; er diskutierte das traditionelle Frauenbild, die gesellschaftliche Moral hinsichtlich der Ehe, außereheli­ cher Kinder und der Prostitution; darüber hinaus äußerte sich Reventlow grundsätzlich zu den geistigen und eroti­ schen Anlagen der Frau.

103 Vgl.: "Luther und die Ehe" (1893); Der heilige Staats­ anwalt (1894) . 104 Panizza, "Luther und die Ehe" (1893), S.361f. 103 In: ZD 12, S.7. 106 Panizza, "Prostitution" (1892), S.1180 bzw.1179. 107 Panizza, Rez. Croissant-Rust (1893), S.933. 108 Fischer, a.a.O., S.64. 108 Vgl.: Panizza, "Haberfeldtreiben" (1897), S.267.

47

Ihr zweiter Aufsatz "Viragines oder Hetären?" (ZD 22, vermutlich Oktober 1900) berichtete über die Frauenbewe­ gung, die "kämpfende Frau", den prinzipiellen Unterschied der Geschlechter, die sozialen Anerkennungsbestrebungen der Frauen mittels Bildung und Leistung sowie über Fragen der natürlichen sexuellen Befriedigung versus gesellschaftliche Zwänge. Die zweite Autorin der Zeitschrift war Ria SchmujlowClaaßen, die über "Das Frauenphantom des Mannes" (ZD 4, Januar/Februar 1898) schrieb, das sich nach Ansicht der Verfasserin in drei Erscheinungen offenbare: 1. das Phantom des Sündenfall-Weibes, 2. das Phantom des Weibes als Jung­ frau-Mutter und 3. das Phantom des nurgeschlechtlichen Weibes.

Fina Zacharias war die dritte und letzte Autorin der ZD. Im Nachsatz zu ihrem Artikel ("Tolstoi's Moral", ZD 12, Juni 1899), der anhand der Tolstojschen Auffassung die christli­ che Moral (insbesondere hinsichtlich der Ehe und Geschlechterrolle) kritisch untersuchte, begründete Panizza den Lesern sein besonderes Engagement in Fragen der weiblichen Emanzipation: Dieser Aufsatz sei gedruckt worden zur "Kenn­ zeichnung der Stimmung, wie sie gegenwärtig in gebildeten Frauenkreisen herscht"; und mit "Himmels-Musik darf man diesen Kreisen, für die Frau Zacharias hier das Wort genom­ men, nicht kommen" (S.6). Zum Thema 'Frau' publizierte Panizza selbst vier Texte in seinem Journal. Der erste mit dem Titel "Die Kleidung der Frau ein erotisches Problem" (ZD 8, September 1898) befaßte sich mit sexuell-erotischen, geschlechtsspezifischen, historischen und anatomischen Zusammenhängen zwischen Klei­ dung und weiblichem Geschlecht. Das Motiv der "MenschenUeberzüge" (S.l) war schon lange ein von Panizza problema­ tisiertes, hatte er diese doch schon 1892 als das "alter ego"110 bezeichnet; in der Novelle "Der Corsetten-Fritz" (in "Visionen", 1893) wird das weibliche Korsett zum Fetisch111, und in der Erzählung "Ein Kapitel aus der Pastoral-Medizin" (in "Visionen", 1893), hält Professor Süpfli, Benediktinerpater, Haus-Prälat Pius IX., Ordinarius für Pastoral-Medizin eine Vorlesung über die wünschenswerte Möglichkeit, "d'Mänsche in Chlider gehöre werda z'lasse" (S.296).

Das Thema der literarisch verarbeiteten Sinnlichkeit, das schon in den Ausführungen zu Heinrich Heine genannt worden ist, gestaltete Panizza erneut in seinem Text "Agnes Blannbekin eine östreichische Schwärmerin aus dem 13. Jahrhun­ dert" (ZD 10/11, Dezember 1898). Durch religiöse Normen unterdrückte Sexualität ventiliert sich hier in literari­ scher Aktivität und muß auch in bezug gesetzt werden zu Panizzas Vorstellungen von der "sexuellen Belastung der

110 Panizza, Aus dem Tagebuch eines Hundes (1977), S.191. 111 Vgl.: Hoevels, a.a.O.

48

Psyche als Quelle künstlerischer Inspiration"112, denen Léon Bazalgette in der ZD 3 (Dezember 1897) mit seinem Text "L'abstinence sexuelle comme principe créateur en art" heftig widersprach. Panizza schrieb dazu:

"Auch ist es unbestritten, dass schrankenlose Befrie­ digung des Geschlechtstriebes beim Menschen die gei­ stigen Kräfte eher erschlaffen lässt, jedenfalls nicht steigert.”113114 *

Die "Venus" war für Panizza der gleichsam archaische Frauentypus, dem das Heidnische, Unverdorbene, Naturgemäße11’ im Gegensatz zur christlichen Verklemmung und Verkümmerung der Frau (im Prototyp der Maria) anhaftet, So wurde auch die Gräfin Reventlow von ihm als ""Schleswig­ Holstein'sehe Venus" betitelt110, gewiß eine Auszeichnung. (1885) besang er "Frau Schon in den "Düstren Liedern" Venus", bei der "all Dein Leid" schwinde (S.92); ein Motiv, das sich noch häufig im Werk finden läßt116, In der Erzählung "Vreneli’s Gärtli" (ZD 18/19, Dezember 1899) wird der Wunsch nach ursprünglicher, naturnaher Sinnlichkeit im Reiche der brünstigen Venus literarisch formuliert. Gleich­ zeitig schwingt aber auch die Furcht vor der majestätisch üppigen "Femme fatale" in den Panizzaschen Frauendarstel­ lungen mit, dem neben der "Femme fragile" dominierenden Frauentypus in der Literatur der Jahrhundertwende; es ist die Bedrohung durch das urwüchsige "Weib”, das "in den Armen des Mannes liegt, der schließlich, ausgesogen bis aufs Mark, gestehen muß, daß er diesem 'Dämon der Liebe' nicht gewachsen ist."117 Der vierte und letzte Aufsatz zum Thema 'Frau' aus Panizzas Feder ist der Artikel "Juliane Dery und was sie gemordet" (ZD 20/21, Januar/Februar 1900). Er war mit der Schauspie­ lerin und Schriftstellerin, die sich das Leben nahm, persönlich gut bekannt; er nannte sie eine "moderne Circe", ein "zarte[s] Gebilde aus Duft und Konfektmasse" und urteilte über ihre Dichtung: "Moral treibt die Dery über­ haupt nicht. Sie zaubert bloß."11®

Panizza stand also inmitten der Diskussion um das Phänomen "Weib", sein Frauenbild präsentiert sich in seinem Werk als ein ambivalentes, es kennt "Dornröschen und Dirnen"119; eine moralische Wertung lehnte er allerdings dabei katego­ risch ab, da sie "immer zu falschen Resultaten"120 führe. 112 So der Titel eines Panizzaschen Aufsatzes von 1897. 113 Panizza, "Die sexuelle Belastung der Psyche als Quelle künstlerischer Inspiration" (1897), S.352. 114 Vgl.: Panizza, "Haberfeldtreiben" (1897), S.266. 110 ZD 28/32, S.35. 116 Z.B.: "Über das Küssen" (1898), S.131f; und: Parisjana (1899), S.113. KjJ. Fischer, a.a.O., S.61. 118 Panizza, Rez. Dery (1896), S.274ff. 119 Bauer, a.a.O., S.95. 120 TB 65, S.99 (Ende November 1901).

49

Aber durch seine Frauendarstellungen leuchtet auch die von ihnen ausgehende Bedrohung, die Angst vor dem den Mann verschlingenden mysteriösen Geschöpf, die Panizza schon 1886 in seinem Tagebuch bei dem unter dem Rock einer Pro­ stituierten verschwindenden Freier in aller Ausführlichkeit gestaltete121 . Darüber hinaus begriff er das "Weib" als die eigentliche Herrscherin, die "das Szepter des Weltregiments in ihrer Hand" hält122; ein Thema, das ihn noch 1903 längere Zeit beschäftigte und das er unter dem Titel "Die Stellung der Frau" als Hauptartikel für die ZD auszuarbei­ ten gedachte. Furcht provoziert den Wunsch nach eigener Überlegenheit und sucht Abgrenzungen. Panizzas Furcht vor der Frau äußerte sich in der Disqualifizierung ihrer rationalen Fähigkeiten, wobei er sich durchaus unoriginell im Bereich stereotyper Urteile bewegte: Sie sei "unfähig für die abstrakte Gedan­ kenbildung."123124Dennoch (oder deshalb?) verehrte er das "Weib" als "das entzükendste Geschöpf das die Natur geschaffen.-”1 2 4

121 122 123 124

TB TB TB TB

27, 72, 71, 61,

S.70-75 (Anfang Oktober 1886). S.248 (Mitte Februar 1903). S.150 (zwischen 19. und 22. Juni 1903). S.180 (Ende Dezember 1895).

50

2.2.5. Blasphemie

Panizza bediente sich in seinem Werk bewußt und gezielt des literarischen Mittels der Blasphemie, des unmißverständli­ chen Schockierens eines trägen, "an stummem Rom-Gehor­ sam"123 gewohnten Publikums (deutschen Volkes). 1897 äußerte er über eine satirische, Geistliche sexuell kari­ kierende französische Bibel durchaus anerkennend:

"Das [...] Werk ist die stärkste Blasphemie, die ich kenne. Nur Jemand, der jenseits von Gut und Böse fest auf seinen Füssen steht, wird es geniessen können"12 * 6 . Das korrespondiert mit Panizzas, ihm nicht nur von Halbe unterschobenen127, sondern auch von ihm selbst zugestan­ denem, bedrängendem literarischen Ehrgeiz und Verlangen nach künstlerischem Ruhm. Bereits 1873, im Alter von 20 Jahren, wurde es ihm plötzlich "zur festest. Gewißheit, daß ich zu einem großen Mann geschaffen sei"128.

Das besondere Erfolgsstreben war aber ohnehin ein für viele Moderne zutreffendes Kennzeichen. Smegai erkennt bei Her­ mann Bahr beispielsweise das Bedürfnis,

"das Kunstwerk als eigenständig und einmalig, d.h. originell, zu präsentieren, es mit ästhetischen Merk­ malen zu versehen, die beim Publikum Aufmerksamkeit erwecken, sei es auch negativer Art, etwa in Form eines nicht weniger wirksamen Kunstskandals."129 Einmaligkeit, Schockeffekt und Skandal sind Begriffe, die das "Liebeskonzil" in seiner Absicht und Wirkung bezeich­ nen, allerdings nicht das Publikum entrüsteten (das Buch wurde schnellstens konfisziert), sondern den Staatsanwalt. Dieses sich im weiteren Verlauf der Ereignisse für Panizza äußerst negativ auswirkende Resultat kam dem 'dreisten' Schriftsteller aber durchaus nicht ungelegen. So war es für ihn keine Frage, etwa vor der Verurteilung wegen seines Schauspiels zu fliehen. Im Gegenteil sah er in dem Prozeß die willkommene Chance, sich öffentlich im 'staatsoffiziellen' Rahmen zu produzieren: "Aber die kennen einen deutschen Schriftsteller von heute nicht, die meinen, der ließe sich die Gelegen­ heit zu einer - Rede vor den Aßisen entgehen"130,

Panizza, Rez. Janssen (1894), S.395. Panizza, "Leo Taxil und seine Puppen" (1897), S.743. Halbe, Jahrhundertwende. A.a.O., S.72 und 75. Briefkopie Panizzas vom 27. November 1873. Copirbuch I, S.23. B III, Ms.germ.qu.1837. 129 imegai, a.a.O., S.XX. 130 Panizza an Halbe vom 15. Februar 1895. M I, Nachl. Hal124 126 127 128

51

schrieb er Max Halbe einige Wochen vor seiner Verhandlung. Als er dann außerordentlich hart bestraft wurde, kehrte er den schweren gesellschaftlichen Makel eines Kriminalgefan­ genen in eine persönliche Tugend um, indem er auf seine Briefköpfe als Adresse "z.Zt. Gefangenenanstalt Amberg" drucken ließ. Denn Panizza wollte das Martyrium, war sogar der Auffas­ sung, der Weg über das Gefängnis sei ein Weg zum Parnaß; glaubte, "daß eine erlittene Gefängnisstrafe für eine ideel verteidigte Sache fast der Garantieschein für Popularität in der Masse ist."* 131 Denn ein Wesenszug des Massenmenschen sei sein Durst nach Blut, nach dem Opfer des Außenseiters. Panizza sah das grausame Leiden des schöpferischen Indivi­ dualmenschen dabei als conditio sine qua non an: "Wer in seinem Leben nicht kujonirt worden ist [...], dem gebe ich wenig Hoffnung auf lange Unsterblichkeit."132 Diese während der Haft aufgezeichneten Gedanken waren sicherlich auch Ausdruck der Sublimation, die eine psychisch und gesell­ schaftlich nur schwerlich ertragbare Situation als das Resultat nahezu metaphysischer Konstellationen zu erklären suchte, mit denen der besondere Einzeltypus Panizza in Beziehung zu stehen glaubte. Auch war Panizzas diesbezügliche Haltung von Eitelkeiten nicht frei. Seine starke Gehbehinderung verbrämte er als Folge einer "nietzscheanische[n] Syphilisinfektion"133, obwohl sie 'nur' von einem Unterschenkelbruch im Kindesal­ ter herrührte; zudem unterstrich sie seine von ihm im Münchner Kreis leidenschaftlich gespielte Rolle des "Mephisto" .

Sein Wille, beachtet zu werden, zu Ruhm zu gelangen, fand seinen Niederschlag auch in der Wahl der literarischen Form. Zunächst versuchte sich Panizza als Lyriker, hatte jedoch nicht den gewünschten Erfolg; daraufhin verlegte er sich auf das Schreiben von Erzählungen und Novellen, die zwar von einigen kompetenten Personen geschätzt, aber keine wirklichen Bucherfolge wurden. Dennoch war er zu dieser Zeit (ca. 1893/94) kein unbekannter Mann mehr; zwar nicht berühmt (und das war wohl sein Maßstab) , galt er doch immerhin als "etablierte[r] Schriftsteller und Dichter, wie O.E. Hartleben, [...], J. Schaumberger, L. Scharf", wie Thomas Mann bezeugte134. Parallel dazu produzierte er sich seit 1890 als Verfasser journalistischer Beiträge, von Rezensionen, Essays, Theaterkritiken, kleinen Erzählungen und Artikeln zu Tagesfragen. Einen literarischen Schwer­ punkt legte er dann ab 1897 auf seine Zeitschrift, die aber ebenfalls nicht die Beachtung fand, die er gewünscht und erwartet hatte. Gleichzeitig begab er sich in seiner

131 132 133 134

be. Panizza, "Dr. Sigl ..." (1894), S.703. TB 61, S.223 (Anfang Januar 1896). Bauer, a.a.O., S.95. Mann, Lebensabriss. In: Ders., Reden und Aufsätze I. Frankfurt/M. 1965, S.524.

52

schriftstellerischen Tätigkeit außerhalb der ZD nahezu völ­ lig auf das Gebiet der politischen Satire, wo er bis hin zu den "Parisjana" (1899) einen immer hemmungsloseren, wüten­ deren Ton wählte, und was die Vermutung provoziert, er habe u.a. durch die außergewöhnliche Schärfe seiner Polemik den Publikumserfolg erzwingen wollen.

Panizza verstand sich in seinem Kampf als Fanatiker, der unbeirrt, zäh und mit allen ihm zur Vefügung stehenden Mitteln seine Sache verteidigt. Dieser Fanatismus - von dem er wußte, daß er letztlich jeden Gegner überwinde - ensteht nach Panizzas Auffassung aus dem Konflikt des an überirdi­ sche Mächte Glaubenden mit den anmaßenden Inhabern der irdischen Gewalt, mit den politisch Herrschenden. Die daraus resultierende "verzweiflungsvolle Seelenstimmung"135 des Fanatikers prädestiniere ihn zum Opfer und Sieger (denn beides gehöre zusammen): "Selbst wenn ich fortwährend verliere, ist mir doch nicht bange für die Zukunft. Ich glaube doch, daß man einen derartigen verbohrten Spieler, der, obwol er fortwährend verliert, immer noch weiter spielt, ein­ mal beachten wird. Ich fürchte also nicht für meinen Plaz in der Literaturgeschichte. Wenn die Herrn nicht für ihren Plaz in der politischen Geschichte fürch­ ten, ich fürchte nicht für meinen Plaz weder in der Literatur- noch in der politischen Geschichte."136137

Auch aus diesen Zeilen wird zwingend ersichtlich, daß sich die Interpretation des "Liebeskonzils" und der anderen um diese Zeit und später entstandenen Werke Panizzas - neben der Berücksichtigung der genannten erfolgsorientierten und um Originalität bemühten Motivationen - nicht auf den ausschließlich religionskritischen Aspekt reduzieren darf, sondern darüber hinaus auf die politische Dimension zu erstrecken hat. So reagierte der Staat in Gestalt der Staatsanwaltschaft nicht nur als ein die Interessen und Rechte der Kirche besonders schützendes Organ auf die Veröffentlichung der "Himmels-Tragödie", vielmehr wurde sofort erkannt, daß diese radikale Schrift doch auch und wesentlich auf die Macht als solche zielte, die sich in Staat und Kirche (und insbesondere in der Liaison beider) konkretisierte. Walter Mehring hat das unmißverständlich ausgesprochen: "Ja, gerade die in ihrem religiösen Empfinden empör­ ten Richter des kaiserlichen Deutschland fühlten sich getroffen; sie wußten, sie meinte der Gekreuzigte im Prolog"13 7.

135 TB 72, S.185 (zwischen 12. und 19. November 1902); vgl. auch: TB 63, S.77 (Mai 1897). 136 TB 64, S.226 (27. Juni 1899). 137 Walter Mehring, Die verlorene Bibliothek. Hamburg 1952, S.57. Zwar hat das "Liebeskonzil" (1894) gar keinen Prolog, und die Textstelle, auf die sich Mehring bebezieht, steht im ersten Aufzug, fünfte Szene (1894, S.

, '

"

53

Richter und Staatsanwälte als Repräsentanten und Exekutoren der staatlichen Herrschaft handhabten die Lästerung des 'Allerhöchsten' eben auch dazu, dem politisch unbequemen, modernen und radikalen Kritiker Panizza den Garaus zu bereiten. Blasphemie als strafrechtlicher Begriff ist in ihrer Bewer­ tung von der jeweiligen historischen, religiösen und gesellschaftlichen Situation abhängig. Die Lästerung Gottes ist von dem Empfinden derjenigen bestimmt, die mit Gott eine gewisse Vorstellung verbinden. Es konnte Panizza nicht darum gegangen sein, irgendeinen abstrakten Gott mit seinem beißenden Spott zu treffen, gleichsam Blasphemie als Selbstzweck zu betreiben. In seiner Verteidigungsrede vor Gericht verdeutlichte Panizza auch genau diesen Punkt. Sein Angriff auf das Göttliche meinte nicht den im Herzen jedes Menschen beschlossenen "überirdischen Funken", sondern die zur Fratze verzerrte Form des Göttlichen, die Alexander VI. zu verantworten habe136. Seine Kritik zielte also auf eine bestimmte Auffassung von Gott und vor allem: auf die Inter­ dependenz zwischen dieser Auffassung und den Mächten der Gesellschaft, mit dem Staat schlechthin. Blasphemie ist niemals ein absoluter Begriff; es ging um die Funktion einer Gottesvorstellung und religiösen Praxis in ihren Auswirkungen hinsichtlich der Unterdrückung und Eliminie­ rung von freien Gedanken. Insofern war er bewußt Blasphemiker, wenngleich er den Begriff wohl zu differenzieren wußte:

"Unsere Vorstellungen [...] über das Göttliche sind ja in unserem Denken beschlossen"* 139140 138 , und Gotteslä­ sterungen bestehen "nur in den Köpfen von Theologen und Juristen [...]. Des Künstlers Herz ist frei davon.1,14 0 Der rechtspositive (Straf-)Tatbestand der Blasphemie ist immer der, den die Gesellschaft und/oder der Staat dafür halten, definiert in den Gesetzen. Wenn man den Begriff der Blasphemie akzeptiert, so muß Panizza als Blasphemiker bezeichnet werden. Er selbst bestätigte das sogar offiziell im Verhör mit dem Untersuchungsrichter. "Objektiv" seien im "Liebeskonzil" "unbestreitbar" Gotteslästerungen enthalten, etwa in der Darstellung des gebrechlichen Greises Gott Vater; allein habe ihm "subjektiv" eine Beschimpfung der Religion ferngelegen141 . Gegenüber Anna Croissant-Rust äußerte er zudem noch 1897, daß er es als seine "Pflicht" ansehe, sein Opfer innerhalb und außerhalb der Kirche zu würgen, bis es bezwungen sei; "auf ein Sakrileg komt es mir

2), seine Aussage trifft deshalb aber nicht weniger zu. 138 Panizza, Meine Verteidigung in Sachen "Das Liebeskon­ zil" (1895), S.20. 139 Ebd., S.19. 140 Panizza, Rez. Dehmel (1894), S.152. 141 Verhör mit Dr. Oskar Panizza vom 12. Januar 1895, S. (3) bzw.(5). M II, StAnw. 7120.

54

dabei nicht an."142 Noch im Hauptartikel der letzten publi­ zierten ZD (28/32, S.33f) bediente sich Panizza blasphe­ misch-satirischer Verfremdungen, um seine Kritik am katho­ lischen Osterkult zu artikulieren. Dort ist es ein "ro­ siges, enorm gemästetes Schweinchen" - unschwer als Prie­ ster zu identifizieren -, das vor den selig verzückten Gläubigen die Auferstehung des Herrn deklamiert: "Das war die Auferstehung des Schweins in München."

142 Panizza an Croissant-Rust L, Nachl. Croissant-Rust.

vom

29. Januar 1897, S.(2).

55

2.2.6. Christus

Lea Ritter-Santini weist auf den Zusammenhang hin zwischen der Themen- und Personenwahl im "Liebeskonzil" (in der Gestalt des Rodrigo Borgia, alias Papst Alexander VI., sowie der Zeit um 1500 überhaupt) und der Neuauflage der Renaissance in der 'offiziellen' wilhelminischen Kunst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, wo jene Epoche auch zu einem Leitbegriff der bürgerlichen Parvenüs und reaktio­ nären Oberschicht avancierte. Die Wilhelminische Ära war gekennzeichnet durch die "Hinwendung zur Kunst und Ge­ schichte der Vergangenheit"; es war eine Haltung, "die nicht mehr mit der zeitgenössischen Geschichte überein­ stimmt [e] "* 4 3 . Der Vortäuschungs- und Irreführungseffekt der so rezipierten Renaissance, die Absicht des Verdeckens der sozio-ökonomischen Faktizitäten durch künstlerische Mittel wird hier evident. Der Pomp einer angeblich glanz­ vollen Vergangenheit, das Pathos der Größe, die Geste des Erhabenen, das epigonale Nachempfinden einer verzuckerten historischen Epoche hatten mit den tatsächlichen gesell­ schaftlichen und Lebensverhältnissen aber auch gar nichts mehr gemein. Die Kleinkariertheit des prosaischen bürgerli­ chen Daseins, das Elend der proletarischen Massenexisten­ zen, die bürokratisch-enge Regelung des gesellschaftlichen Verkehrs, die Nüchternheit des rasant sich entwickelnden Industriestaates und die daraus resultierenden sozialen Spannungen standen in krassem Gegensatz zur staatlichen Selbstdarstellung, die der Kunst eine besondere, eine affirmative Rolle zuwies:

"Die Kunst soll mithelfen, erzieherisch auf das Volk einzuwirken, sie soll auch den unteren Ständen nach harter Mühe und Arbeit die Möglichkeit geben, sich an den Idealen wieder aufzurichten [...], und zu diesen Idealen gehört, daß wir den arbeitenden, sich abmü­ henden Klassen die Möglichkeit geben, sich an dem Schönen zu erheben und sich aus ihren sonstigen Gedankenkreisen heraus- und emporzuarbeiten.”143 144

Indem Panizza sich eines Themas bediente, das mit dem Leitbegriff (gewünschten) bürgerlichen Lebensgefühls zusam­ menhing, denselben seiner idealischen Makulatur entblößte und dahinter nur Korruption, Heuchelei und Immoralität einer durch scheinbare Moral sich legitimierenden Institu­ tion zum Vorschein kamen, meinte seine Kritik im "Liebes­ konzil" vor allem die Gesellschaft seiner Gegenwart, die sich ja mit der von ihr entsprechend rezipierten Renais­ sance identifizierte. "Die Herrscher des italienischen sechzehnten Jahrhunderts [...] (wurden) anziehende Identi143 Lea Ritter-Santini, Maniera Grande. Über italienische Renaissance und deutsche Jahrhundertwende. In: ämegaö, a.a.O., S.245. 144 Wilhelm II., Die wahre Kunst. Rede vom 18. Dezember 1901. In: Ernst Johann (Hg.), Reden des Kaisers. Mün­ chen 1966, S.102.

56

fikationsgestalten, Sicherheit bietende Beispiele" für den erfolgreichen Bürger der Wilhelminischen Gesellschaft, der "die Legitimation einer Sonderstellung (brauchte), die ihm die Privilegien der erkauften Macht einrahmen und in feier­ licher Dekoration zur Repräsentation seiner Größe dienen sollte."i 4 5 Die Zeit um 1500 zeigt aber auch die Wende zu einer neuen Epoche, zur beginnenden Reformation, zur Neuzeit an, zum teilweise radikalen Bruch mit dem Katholizismus und dessen zurückgebliebenem Weltbild. Es liegt daher nahe, auch hier den Bezug zur Gegenwart des beginnenden 20. Jahrhunderts herzustellen: als erhoffte Zeitenwende mit der Ablösung der alten, insuffizienten Gesellschaft.

Panizzas Geschichtsauffassung von der einsamen, verändern­ den Tat des Einzelmenschen, der seinem Dämon zwingend folgen muß, rücksichtslos in das Geschehen der Welt ein­ greift und damit Innovation zeitigt, stand durchaus unter dem Einfluß der allgemeinen Renaissancerezeption seiner Zeit, wenngleich in einer gegenüber dem bürgerlichen Verständnis recht verschiedenen Ausprägung. Diente sie dem Staat auch als Legitimationsideologem seines Herrschaftsan­ spruchs, so kehrte Panizza diese Auffassung in seinem Sinne um: "Gegen Übermaas der staatlichen Maxime muß Übermaas des rohen, unbarmherzigen Denkens, muß zerflei­ schende, blutig aufschlizende Gedanken-Tat des Ein­ zelnen die einzige Wehr sein. Nur sie imponirt.46

Es waren vor allem Martin Luther und Christus (auf K.L. Sand ist schon hingewiesen worden) , die für ihn diese hervorragenden Willensmenschen repräsentierten und die im gesamten Werk des Schriftstellers zu finden sind. Der "große Lehrer und Märtirer"145 147 146 Christus, der "sanfte Mann"148, der von seiner Mutter für geisteskrank gehalten wurde149, beschäftigte Panizza permanent in Hinsicht auf dessen mit Genialität korrespondierender und/oder von den Mitmenschen behaupteter Geisteskrankheit, eine Verbindung, die der Autor bei allen außergewöhnlichen Persönlichkeiten konstruierte. Denn ihnen sei die Fähigkeit visionärer Ein­ gebungen eigen, die nur aus einer prädisponierten, von der normalen geistigen und psychischen Beschaffenheit des Mas­ senmenschen kategorial verschiedenen Anlage sich gründe. So müsse es jedem, der Luthers Lebensgeschichte kennt, klar sein, daß dieser "halluzinirte, in entscheidenden Lebens­ stunden halluzinirte"150.

145 146 147 148 149 150

Ritter-Santini, a.a.O., S.245f. TB 63, S.277 (12. September 1898). Panizza, Teutscher Michel (1894), S.17. Panizza, Düstre Lieder (1885), S.12. TB 63, S.47 (April/Mai 1897). TB 61, S.294 (ca. März/Mai 1896).

57

Grundsätzlich für die Charakterisierung solcher Persönlichkeiten ist nach Panizzas Ansicht das SpannungsVerhältnis zwischen Genialität und Wahnsinn, in dem sich derartige Schon in seinem 1891 geschriebenen Menschen befänden. Vortrag "Genie und Wahnsinn" richtete er das zentrale Interesse auf das Genie in der Art seiner seelischen Verfassung und Verwandtschaft zu den Seelenerkrankungen, in seinem zwanghaften Handeln-Müssen, wobei man vom Genie ver­ lange, "daß es in dem, was Geniales in ihm steckt ohne An­ knüpfungspunkte mit seinen Zeitgenossen oder Vorgängern sei."151 Diese Sicht einer vollkommen autonomen Persönlich­ keit verband Panizza mit der Vorstellung einer möglichen Identität bestimmter Zustände beim Genie mit halluzinatori­ schem Irrsinn; beim Ingenium folge der Verstand den Imagi­ nationsfaktoren nach dem Beginn erregter Tätigkeit, wobei ein geniales Kunstwerk, immer ein Unikat, als Resultat entstehe. Im Gegensatz zum eigentlich Geisteskranken werde sich das Genie seiner Sinnestäuschungen (Halluzinationen) bewußt und könne sie in der Regel gestaltend verarbeiten. Der Nur-Halluzinant hingegen unterliege der Sinnestäuschung ohne die Fähigkeit zu Gestaltung (S.23ff).

Schon der Titel seines Aufsatzes in der ZD 5: "Christus in psicho-patologischer Beleuchtung" verrät die auf diesem Hintergrund zu verstehende Absicht Panizzas, das histori­ sche Phänomen, den "Uebermenschen" (S.3), als genialen, in das Weltgeschehen eingreifenden Einzeltäter in Verbindung zur geistigen Erkrankung zu erfassen. Der paranoide, hallu­ zinierende (S.l) Christus sei eines "jener psichischen UrFänomene £...], wie sie zwar nicht selten sind, aber doch selten in so befruchtender Weise in die Geistesgeschichte von Völkern eingreifen und deren Gemütslage bestimmen" (S.2). Dabei sei die "Originärität der Anlage" gegenüber dem "ortodoxe[n] Wesen oder transzendentale [n] Hoffen" eines Volkes der entscheidende Faktor, wie es auch bei Luther, Muhamed und der Jungfrau von Orléans beispielsweise der Fall gewesen sei (S.2). Den zwanghaft seinen "innersten Herzensregungen" (S.3) folgenden Christus, dessen neue Lehre - Ergebnis seiner Halluzinationen - naturgemäß mit den staatlichen Mächten kollidieren mußte, begriff Panizza als Revolutionär, der der historischen Situation neue Impulse gab: "Es gibt eben Zeiten, da sind Halluzinanten nicht mit Gold aufzuwiegen, und sie, ihre weichen mit wunderba­ rer Gestaltungskraft begabten Naturen, die einzige Möglichkeit, die in ihres Herzens Härte und Schädels Dike vollständig steril gewordenen Maßen mit neuem Geist zu erfüllen" (S.5).

Wäre allerdings zur Zeit Christi die Psychiatrie schon auf dem heutigen Stand gewesen, so hätten die über ihn richten­ den Behörden ohne Umstände sich die Zustimmung des Polizei­ arztes geholt, um den psychotischen Aufwiegler unter Kura­ tel zu stellen. Dann wäre dem Abendland ein "2000jähriger

151 Panizza, Genie und Wahnsinn (1891), S.16.

58

Spuk von Angst und Convulsionen [...] erspart geblie­ ben"1’2, der durch die zur politisch brauchbaren Religion umgedeuteten Christus-Historie in der Evangelienlegendisierung möglich geworden war.

Panizza fühlte sich Christus natürlich außerordentlich verbunden, war es doch selbst sein Bemühen, ein "großer Mann" zu werden. Auch er hatte mit seinem Dämon zu kämpfen, und Halluzinationen als Symptome seiner psychischen Dispo­ sition waren nicht nur seine literarischen Themen, sondern bedrängten ihn auch selbst in zunehmendem Maße. In Analogie zur eigenen Biographie konstatierte Panizza, Christus sei nach dem "Aufruhr-Paragraf[en]" verurteilt worden, und nahm ihn für die Dichter in Anspruch: "Herr Jesus, er gehört zu uns"1’3. Er differenzierte dabei sehr wohl zwischen dem klerikal vereinnahmten Gott und dem ganz unvergleichlichen Geistesmenschen, dem "selbst der Ateist, der Psichologe"1’4 die Hochachtung nicht verweigern könne. Die Bedeutung der Person Christus für den Literaten und Herausgeber der Zeitschrift unterstreicht auch Panizzas Nachbemerkung (NB!) in der ZD 4, wonach ihm das Thema des folgenden Christus-Aufsatzes "sehr am Herzen" (S.8) gelegen habe und in der er betonte, daß er sich der Eigenwilligkeit seiner dem offiziellen Bild widersprechenden Interpretation der historischen Gestalt durchaus bewußt sei. Denn er wolle nun von der "Nr.V eine extra kleine Zahl abziehen laßen [...], nur für Jene bestirnt, die sich fähig und stark fühlen, auch die lezten Höllenkreise des Gedankens mit uns furchtlos zu durchmeßen." Panizzas Christusdarstellung zielte wesentlich auf die unrechtmäßige Inanspruchnahme dieses "reinen" Charakters durch die herrschenden Mächte, die sich ihren Gott und ihre Philosophie/Theologie zur Stabilisierung des Status quo zurechtgezimmert hätten, aufbauend auf dem durch die Evangelienschreiber vollzogenen "Prozeß der Legendisirung an diesem wunderbaren Anarchisten bis zur Uebersüßung und Rührseligkeit"1’’. Tucholsky sah in einer späten Rezension zum Aufsatz der ZD 5 die Absicht Panizzas, die romantische Makulatur des kirchen- und staatsoffiziellen Christusbildes zu entfernen, um den Schöpfer der neuen Lehre, der "auch weiterhin einem ungeheuren Verein als Firmenschild, Plakat und Reklamezeichen" diene, "als Vorbild an Mut und Reinheit des Charakters"1’6 zu präsentieren. TB 61, S.9f (ca. September 1895). Panizza, Parisjana (1899), S.87 bzw.86. ZD 5, S.8. ZD 5, S.7. Panizza karikierte diese Auffassung, indem er Christus z.B. im "Liebeskonzil" und in der Erzählung "Das Wirtshaus zur Dreifaltigkeit" (in "Visionen", 1893) als schwindsüchtigen, mutterbeherrschten und apa­ thischen Träumer darstellte. 156 Ignaz Wrobel [d.i. Tucholsky], "Sprechstunde am Kreuz". In: Die Weltbühne 24 (1928) Nr.50 vom 11. Dezember 1928, S.885.

152 153 154 >”

59

Neben dieser moralischen Wertung der Panizzaschen ChristusDarstellung bleibt darüber hinaus festzustellen, daß der Schriftsteller sich hier wie auch z.B. in der Charakteri­ sierung des korrupten Machtmenschen Alexander VI. der Renaissancerezeption, die von der 'offiziellen' Gesell­ schaft geleistet wurde, widersetzte. Bei aller Entmytholo­ gisierung und Entlarvung der herrschaftsstabilisierenden Funktion einer solchen Reaktivierung vergangener 'Größe' blieb jedoch die Struktur der Auffassung historischen Geschehens und die Verehrung für den "großen Menschen", für das Genie, bei Panizza die gleiche; lediglich die Inhalte waren grundsätzlich verschieden. Die Verbindungen zur Herrenmoral Nietzsches, basierend auf Instinkt, Trieb und Machtstreben, sind evident. Auch anhand des Christus-Textes in den ZD läßt sich fest­ halten, daß Panizza den Schwerpunkt seiner literarischen Auseinandersetzung von der religiösen auf die eher politi­ sche Dimension verlegte. Ging es ihm in den ersten Jahren wohl primär um die Entlarvung in seinen Augen falscher Religiosität, so gewann zunehmend die politische Relevanz religiöser Ideologie an Raum innerhalb seines Werkes. Mit dem "Liebeskonzil" zielte Panizza, wie gezeigt wurde, auf Kirche und Staat, wobei für ihn das keine voneinander unab­ hängige Institutionen, sondern wechselwirksam verbundene Unterdrückungsmächte waren.

Zusammenfassend kann ein Themenwechsel innerhalb des Panizzaschen Werkes konstatiert und folgendermaßen in sei­ ner Entwicklung beschrieben werden: Neben Religionskritik im umfassendsten Sinne (inbegriffen verdrängte Sexualität, "Wälschtum", Verdummung der Massen etc.) griff die opposi­ tionelle Haltung dem Staat und der Gesellschaft gegenüber weiter um sich, stand z.Zt. des Verfassens des "Liebeskon­ zils" etwa gleichrangig neben Religionskritik, verdrängte diese schließlich nahezu völlig und beherrschte letztlich neben der Mythologie und Sittengeschichte - das Schreiben des Autors. War also sein Hauptinteresse anfangs primär auf klerikale Themen gerichtet, so galt nach der Gefängniszeit sein Engagement immer stärker dem Widerstand gegen den Wilhelminischen Staat und konzentrierte sich, wie im fol­ genden gezeigt werden wird, auf dessen Leitund Symbolgestalt, den Kaiser Wilhelm II.

60

2.2.7. Wilhelm II. Ähnliche Kritikpunkte, die Panizza in seiner Auseinander­ setzung mit der katholischen Kirche und ihrem päpstlichen Oberhaupt formulierte, betrafen auch den höchsten Repräsen­ tanten des Wilhelminischen Staates, den Kaiser. Ihn attakkierte Panizza nach seinem verblassenden Interesse an den klerikalen Institutionen in zunehmender Schärfe und mit erweiterter Stoßrichtung. Außerdem kam ein gänzlich neues Moment hinzu: der Schriftsteller sah sich persönlich von Wilhelm II. und dessen "Agenten" verfolgt, ihn machte er verantwortlich für die Widrigkeiten seines Emigrantenlebens und die systematische Zerstörung seines psychischen Gleich­ gewichts .

Bis ca. 1895 war der Kaiser kein Thema für ihn; es gibt sogar positive marginale Äußerungen über jenen, wo es bei­ spielsweise heißt, man habe den Eindruck, "einem geschei­ ten, weltklugen, weitblickenden Manne gegenüberzuste­ hen"157. Nun war Wilhelm II. ja erst seit 1888 im Amt und anfangs auch von vielen Modernen durchaus hoffnungsvoll begrüßt worden; Conrad schwärmte gar vom "jungen, genialen" deutschen Kaiser, der "von seinem höchsten sozialen Berufe durchdrungen ist, wie keiner vor ihm."'58 Tatsächlich hatte sich Wilhelm kurz nach seiner Thronbesteigung der unteren Stände angenommen und soziale Reformen angeregt, die auf der "Arbeiterschutzkonferenz" von 1890 beraten werden soll­ ten. Seine Vorschläge - gar in Form eines Erlasses vorge­ legt - umfaßten die Schaffung staatlicher Musterbetriebe hinsichtlich der Fürsorge bis hin zu Mitbestimmungsrechten für die Arbeiterschaft158* . Unter dem Schlagwort des "Sozia­ len Kaisertums" wurde diese Initiative euphorisch begrüßt, Wilhelm als "Arbeiterkaiser" gerühmt. Wie man es von ihm gewohnt war, ließ er auch an Deutlichkeit zu wünschen nichts übrig: die Unternehmer hätten "die Arbeiter ausge­ preßt wie Zitronen und sie dann auf dem Miste verfaulen lassen."160 Seinem Selbst- und Staatsverständnis entspre­ chend, gründete sich sein Engagement auf dem Wunsch nach einer harmonischen, alle sozialen Antagonismen überwinden­ den 'Volksgemeinschaft', die er als von Gott eingesetzter Herrscher väterlich zu führen gedachte. Denn trotz aller Sympathie für die arbeitenden Massen war ihm doch deren organisierte Interessenvertretung widerwärtig, galten ihm die Sozialdemokraten als Reichs- und Vaterlandsfeinde. 157 Panizza, "Kunst und Künstlerisches aus München" (1894), S.67. 158 Conrad, "Das soziale Kaisertum". In: Die Gesellschaft 6 (1890) H.4 vom April 1890, S.481 bzw.474. 158 Erlaß Wilhelms II. an die Minister der öffentlichen Ar­ beiten und für Handel und Gewerbe vom 4. Februar 1890. In: Gerhard A. Ritter (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich 1871-1914. Ein historisches Lesebuch. Göttingen 1981, S.264f . 160 Zit. nach: Emil Ludwig, Wilhelm der Zweite. Gütersloh o.J. (Nachdruck der Ausgabe von 1925), S.66.

61

Nachdem seine Reformversuche nicht die sozial beruhigenden Resultate gezeitigt hatten, die Arbeiterschaft sich viel­ mehr ermutigt sah, weitergehende Forderungen zu stellen, erlahmte des Monarchen Sympathie sehr rasch und schlug um in erbitterte Enttäuschung. Von 1890 bis zum "offenen so­ zialreaktionären Kurs seit 1893/94 entfaltete er keinerlei sozialpolitische Initiative, sondern begnügte sich, im eng­ sten Zusammenspiel mit der Schwerindustrie, mit kurzatmiger Effekthascherei."161

So wurden auch die Hoffnungen der Naturalisten auf eine Änderung der Sozialpolitik, wie sie u.a. Conrad Alberti 1888 in seinem anonym erschienenen Aufsatz "Was erwartet die deutsche Kunst von Kaiser Wilhelm II." formuliert hatte162163 , enttäuscht. Zudem regte sich ihr Widerstand gegen den "cäsaro-papistischen Charakter1,163 seiner Auffassung vom Gottesgnadentum, das ihm erlaubte, das Wesen der Kunst verbindlich zu definieren: "Eine Kunst, die sich über die von Mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr, sie ist Fabrikarbeit"164165 . Damit waren natürlich die Naturalisten gemeint, die nur "Rinnsteinkunst" produzierten und die ihm schon in seinen ersten Regierungsjähren ein Dorn im Auge waren. Man ver­ suchte mittels gesellschaftlicher Repressionen und der offiziell nicht existierenden Zensur die moderne literari­ sche Bewegung zu disziplinieren. Selbst vergleichsweise harmlose Sozialkritik wollte man systematisch unterbinden. So erklärte der Berliner Polizeipräsident v. Richthofen anläßlich der amtlichen Verhandlungen um die Uraufführung von Sudermanns "Sodoms Ende" 1890 kategorisch: "Die janze Richtung paßt uns nicht!1,165 Der Kaiser selbst tat ein übriges, u.a. verweigerte er Ludwig Fulda und Gerhart Hauptmann den Schillerpreis. Dieser hatte durch sein Schauspiel "Die Weber" (1894) den Zorn des Monarchen auf sich gezogen, und jener hatte 1892 in seinem "Talisman" vor dem Cäsarenwahnsinn gewarnt - eine deutliche Anspielung auf Wilhelm166 .

161 Hans Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918. In: Deutsche Geschichte, Bd.3. Göttingen 1985, S.316. 162 Vgl.: Scheuer, a.a.O., S.161. 163 Wehler, a.a.O., S.298. 164 Wilhelm II., Die wahre Kunst. Rede vom 18. Dezember 1901. In: Johann, a.a.O., S.102. 165 Zit. nach: Schwerte, a.a.O., S.258. 166 Vgl.: Ludwig, a.a.O., S.218. Der Schillerpreis wurde als preußischer Staatspreis für das innerhalb von drei Jahren erschienene beste Drama vergeben. Er wurde 1859 anläßlich des 100. Geburtstages Schillers vom damaligen Prinzregenten Wilhelm gestiftet. Ober die dreijährige Vergabe entschied eine Kommission, der zeitweise u.a. Freytag, Heyse und Treitschke angehörten. Zu deren Vor­ schlag mußte der König seine Zustimmung geben.

62

So erkannte auch Panizza den Herrscher als Widersacher, der seinen literarischen und politischen Interessen entgegen­ wirkte : "Die Herrn da droben werden sich schön täuschen, wenn sie glauben, sie können Literatur und Kunst wie Artillerie-Rohre einfach komandiren und richten. Der gute Willy wird eines Tages vor einem schönen Blachfeld stehen.6 7



Die oppositionelle Haltung dem Staat und seiner Führung gegenüber war also keine Panizza besonders kennzeichnende Position. Wenngleich die überwiegende Mehrzahl der bedeu­ tenden Autoren sich trotz Unbehagens und Kritik nicht poli­ tisch organisiert und damit wirksam zu äußern vermochte167 168, so gab es doch häufig Formen individuellen literarischen Protestes. Ein markantes Ereignis war beispielsweise die Verurteilung Ludwig Quiddes (des nachmaligen Friedensnobel­ preisträgers von 1927) zu Gefängnisstrafe wegen Majestäts­ beleidigung aufgrund seines 1894 erschienenen Aufsatzes "Caligula. Eine Studie über den römischen Cäsarenwahnsinn". Darin karikierte er das von Wilhelm außerordentlich betonte Gottesgnadentum, parallelisierte die politische Konstella­ tion des Reiches seit dem Tode Wilhelms I. mit der Zeit des römischen Imperators Caligula und fand es erstaunlich, "wenn ein so absoluter Monarch bei gesunden Sinnen bleibt.69

Auch bei Panizza war es zunächst das Thema der Majestätsbe­ leidigung, das in seinem Werk um 1895 virulent wurde. Einige Jahre zuvor war bereits sein Kollege Hanns von Gumppenberg zu Festungshaft wegen dieses Vergehens verur­ teilt worden. Ausführliche Gedanken über die "MajestätsKrankheit"170 formulierte Panizza erstmals während seiner Haft in Amberg, als er die Härte des bayerischen Strafvoll­ zugs am eigenen Leibe erfuhr. In satirischer Manier stellte er fest, daß in Deutschland, "im Land der Gedankennichtver­ lautbarung", selbst "das Atmen über die bereits begangene Majestätsbeleidigung" ins Gefängnis führe171. Gelinge es der Staatsmacht nicht, sich eines unbequemen Kritikers mit Hilfe des Gotteslästerungsparagraphen zu entledigen, so konstruiere man das Delikt der Majestätsbeleidigung, wobei Panizza allerdings eingestand, daß er eben beides "nicht laßen"172 könne. Denn

167 Panizza an Croissant-Rust vom 9. Januar 1900, S.(lf). L, Nachl. Croissant-Rust. 168 Vgl.: imegai, a.a.O., S.XLIf. 168 In: Die Gesellschaft 10 (1894) H.4 vom April 1894, S. 418 . 170 Panizza, "Neues aus dem Hexenkessel der Wahnsinns-Fana­ tiker" (1896), S.942. 171 Panizza, Tagebuch aus Amberg. In: Ders., Das Liebeskon­ zil und andere Schriften (1964), S.173. 172 Panizza, "Mefisto" (1896), S.3.

63

"wer sich mit Gott tut alliiren und mit dem Fürsten, gute Leute, kann Eid und Meineid kek probiren, denn götlich sind sie alle Beide -"i”. In ihrer Berufung auf die jenseitige Autorität stellten sich die Kirche und die sich noch zu Anfang des 20. Jahr­ hunderts damit legitimierenden Fürsten als zwei verschie­ dene Arme der letztlich gleichen Machtinteressen dar, die durch ein antiquiertes, rückwärtsgewandtes Weltbild mit den Realitäten und Nöten der Zeit nichts mehr gemein hatten. Wilhelm II. erklärte dazu in seinem ihm eigenen patheti­ schen Sprachstil:

"Wie einst der erste König ex me mea nata corona sagte und sein großer Sohn seine Autorität als einen rocher de bronze stabilisierte, so vertrete auch Ich gleich Meinem Kaiserlichen Großvater das Königtum aus Gottes Gnaden."173 174 Panizzas säkularisierter Staatsbegriff, der die gesell­ schaftliche Organisation auf das Durchsetzen von Interessen reduzierte, entkleidete die moralischen Forderungen und Argumente bis hin auf deren systemimmanente Funktion zur Machterhaltung. Denn wenn der König, und nur er, mit dem besonderen Auftrag Gottes eingesetzt ist, ist er auch nur ihm verantwortlich. Die Untertanen sind allenfalls aufgeru­ fen, den König in der Erfüllung seines Auftrags zu stützen. Ihre Freiheit besteht somit nur im Gehorsam, denn der unmittelbare Zugang zu Gott - und damit auch zur 'höheren Einsicht' ist ihnen ja (anders als dem König) verwehrt175. Als Stirner-Apologet räumte Panizza darüber hinaus dem Staat und dessen Vertretern keine moralische Qualität ein, denn der Staat sei lediglich ein "UtilitätsPrinzip"176, beuge das Recht und verfahre grundsätzlich nach der Macchiavelli-Devise: Recht ist, was dem Staate nützt. In seiner Analyse bewertete Panizza diese von ihm so gesehenen Prinzipien des gesellschaftlichen Lebens als determiniert und unabänderbar, begriff gar Unvernunft und Instinkt als Grundlagen des Zusammenlebens177. Dennoch enthielt er sich nicht der permanenten Anklage und machte das obrigkeitshörige Verhalten der Deutschen mitverantwort­ lich für die politisch fatale Situation. Das deutsche Volk eigne sich "fisisch [...] vortrefflich zum Unterjocht-Werden"178. Man zwinge gegenwärtig die Deutschen zum "Anbeten des 'grossen Tier's'” [Wilhelm II.], was denn auch gänzlich gelinge, denn "das Wesen der deutschen Seele ist - Seele zu bleiben und niemals Tat zu werden."179 173 Panizza, Parisjana (1899), S.127f. 174 Wilhelm II., Rede vom 6. September 1894 in Königsberg. Zit. nach: Ritter, a.a.O., S.287. 175 TB 68, S.223ff (Juli 1901). 176 TB 61, S.211 (ca. Dezember 1895/Januar 1896). 177 TB 63, S.124 (ca. Ende August 1897). 178 Panizza, Dialoge im Geiste Hutten's (1897), S.39. 179 Panizza, Psichopatia criminalis (1898), S.38 bzw.17.

64

Panizza nannte seinen Text "Psichopatia criminalis" eine "patriotische Schrift" in "starksatirischer Form", eine "Studie über das heutige Deutschland"180, attackierte mit ihm die politischen Mißstände in seinem Land, wo die Menschen für das Militär bis zum letzten Blutstropfen aus­ gesogen würden und einer "brutalen Soldateska" ausgeliefert seien181 ; er wollte ihn ursprünglich dem Kaiser widmen: "Dem Großen Megalomanen / In tiefster Ehrfurcht dargebracht/Der Psichjater.82

Es waren wohl die Anmaßung, die von Größenwahn gekennzeich­ nete Auffassung seiner Herrscherrolle und der 'Maulhelden'Charakter Wilhelms II., die Panizza einen Kristallisations­ punkt seiner kritischen Haltung boten. Denn bei nüchterner Betrachtung der politischen Szene hätte ihm klar werden müssen, daß nicht der "Paradekaiser", sondern die traditio­ nellen Oligarchien die Reichspolitik im wesentlichen be­ stimmten1 8 3 , er somit nicht gegen den Hauptfeind kämpfte. Aber der für Skandale und maßlose Auftritte immer bereite Hohenzoller war offenbar - wie zuvor der Papst - eine zu schillernde Erscheinung, zu sehr im öffentlichen Bewußt­ sein, als daß Panizza der Versuchung hätte widerstehen können, es mit dem prominentesten und lautstarksten Vertre­ ter der 'anderen Seite' aufzunehmen. Dieser hatte sein königliches Selbstbewußtsein schon 1891 in einer alle Welt brüskierenden und für ihn typischen Weise öffentlich klargestellt, indem er in der Hauptstadt des den Preußen nicht sonderlich wohlgesonnenen Bayern anläßlich seines dortigen Besuches in das Gedenkbuch der Bürgerschaft die Worte eintrug: "regis voluntas suprema lex"184. Panizza nahm diesen allgemeine Empörung auslösen­ den Vorfall ebenfalls mißbilligend zur Kenntnis185. Obwohl Wilhelm für sich absolute Herrschergewalt bean­ spruchte, häufig die Grenzen der Verfassung überschritt und sich um Minister und Parlament (das er "Schwatzbude" beti­ telte) oftmals nicht scherte, war er jedoch "außerstande, monokratisch das Reich zu regieren."186 Sein anachronisti­ scher Semiabsolutismus187 war Ausdruck der eigenen Unfähig­ keit zu überlegtem politischen Handeln und differenzierter Analyse. Er, der im Gardeleutnant die höchste Verkörperung abendländischer Kultur erblickte (was Panizza in der ZD 28/32, S.36 karikierte), liebte es, sich in Allurteilen zu ergehen und Probleme mit dem Schwarz-Weiß-Schema zu lösen. So kannte er nur zwei Parteien im Reich, "die für Mich und

180 Panizza, Verlagsanzeige in: Parisjana (1899). 181 Panizza, Psichopatia criminalis (1898), S.17. 182 Manuskript "Psichopatia criminalis", S.II. M I, Panizza L 1141. 183 Vgl.: Hehler, a.a.O., S.256. 184 Ludwig, a.a.O., S.99. 185 Panizza, "Kunst und Künstlerisches aus München” (1894), S.67. 186 Hehler, a.a.O., S.254. 187 Ebd., S.248.

65

die gegen Mich sind"188; seiner Meinung nach sollten sämt­ liche Republikaner "erschossen" werden188. Die Labilität seiner Nerven drückte sich zudem in seiner permanenten Angst vor Revolten aus* 180, die Wilhelm mit Hilfe seiner unzähligen Reisen und Reden zu anästhesieren suchte. Der geschwätzigste Monarch, der je auf deutschem Thron geses­ sen, hielt in 17 Jahren 577 öffentliche Reden, d.h. alle elf Tage wurden die Untertanen mit kaiserlichen Worten beglückt181 .

Solche Eigenschaften provozierten den Spötter und Opposi­ tionellen Oskar Panizza. Sein 1898 veröffentlichtes Drama "Nero" zielte ebenfalls auf den Kaiser, zahlreiche Text­ stellen korrespondieren mit Aussagen des Kaisers selbst bzw. über ihn. Der mit absoluter Machtfülle ausgestattete Nero ist von der göttlichen Herkunft seines Herrscheramtes überzeugt: "Haben nicht die Götter durch Mich gehan­ delt?"182* , während Wilhelm betont, "daß ich Meine ganze Stellung und Meine Aufgabe als eine Mir von Himmel gesetzte auffasse und daß Ich im Auftrag eines Höheren [...] berufen bin"193. Desgleichen möchte Nero die Römer "glüklich und froh machen"184185 , der deutsche Kaiser indes ruft seinem Volk hoffnungsvoll zu: "Zu Großem sind wir noch bestimmt, und herrlichen Tagen führe Ich euch noch entgegen”199 . Den für das Wohl seines Volkes sich aufopfernd fühlenden Pater patriae bedrängt die "eifrigste Sorge" für das "Heil des römischen Staates [...] Tag und Nacht”186* , derweil der 188 Hohenzoller öffentlich erklärt, "daß kein Abend und kein Morgen vergeht ohne ein Gebet für Mein Volk"197 . Der im Verlauf des Dramas sich als rücksichtsloser Verfolger seiner tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner produzie­ rende Nero findet seine gegenwartsbezogene Entsprechung in Wilhelm II., der seine Widersacher bedroht: "Diejenigen jedoch, welche sich Mir [...] entgegenstellen, zerschmet­ tere Ich. 1,1 8 8

188 188 180 181 182 193 184 185 186 197 188

Zit. nach: Ludwig, a.a.O., S.118. Ebd., S.122. Ebd., S.114f. Ebd-, S.207. Zur weiteren Charakterisierung des Kaisers sowie zur karikierenden Darstellung Wilhelms bei Pa­ nizza siehe Kommentar zur ZD 28/32 (20.4.). Panizza, Nero (1898), S.61. Wilhelm II., Rede bei dem Brandenburgischen Provinzial­ landtage vom 20. Februar 1891. In: Johann, a.a.O., S. 55. Panizza, Nero (1898), S.61. Wilhelm II., Rede beim Festmahl des Brandenburgischen Provinziallandtages vom 24. Februar 1891. In: Johann, a.a.O., S.58 . Panizza, Nero (1898), S.54. Wilhelm II., Rede bei dem Brandenburgischen Provinzial­ landtage vom 20. Februar 1891. In: Johann, a.a.O., S. 55. Wilhelm II., Rede beim Festmahl des Brandenburgischen Provinziallandtages vom 5. März 1890. In: Johann, a.a. 0., S.50.

66

Die Analogien ließen sich fortsetzen, mögen aber hier als Beispiele für die nicht nur auf Panizzas "Nero" bezogene literarische Verarbeitung der später bis zum Haß anwachsen­ den Kritik und persönlich empfundenen Abneigung dem Herr­ scher gegenüber in diesem Zusammenhang genügen. Darüber hinaus betitelte Panizza den Kaiser gelegentlich (z.B. in Briefen199) auch als Nero.

Die Auseinandersetzung mit Wilhelm gewann zusehends an Raum im Werk des Schriftstellers und avancierte schließlich zu einer überragenden Bedeutung. In den "Parisjana" erklärte er den Kaiser "zum öffentlichen Feind der Menschheit und ihrer Kultur"2 0 0 ; er sei der eigentliche "Feind des deut­ schen Vaterlandes", der sich selbst zum Gott erhebe und in Wahrheit nur ein "dummer Junge" und geisteskranker Stier sei201. Daß dies Beleidigungen waren, gab Panizza vor dem Untersuchungsrichter 1901 freimütig zu202. Panizzas in Paris 1903/04 entstandenes Werk "Imperjalja", das nur im Manuskript vorliegt, enthält ein "Aufzählung von Schwerverbrechen aller Art, die der deutsche Kaiser selbst oder durch Mittelsmänner begangen und zu verantworten habe."203 Daß der Kampf gegen Wilhelm für ihn zum lebensbe­ herrschenden und sein Schreiben zuletzt erheblich in Anspruch nehmenden Motiv wurde, verdeutlicht auch eine seiner letzten datierten Aufzeichnungen (schon aus dem Sanatorium):

"Am 4ten September 1906 wurden Seine Majestät Wilhelm II, König von Preußen, und Ihre Kaiserliche Hoheit, Charlotte, Erprinzeßin von Meiningen, durch Erhängen vom Leben zum Tote befördert [...]; sie biß und schrie bis zum lezten Augenblik: Sau-Panizza, SauPanizza, Sau-Panizza! Du Sau-Panizzai Verrek Du SauPanizza ! "2 0 4 Der in Deutschland ständig mit den Behörden kämpfende Schriftsteller, dessen literarische Arbeiten zu einem großen Teil unmittelbar nach deren Erscheinen konfisziert wurden, der sich zur Emigration gezwungen sah, dort als unerwünschte Person des Landes verwiesen wurde, nach Paris ging und dem dann noch die finanzielle Lebensgrundlage entzogen wurde, erblickte in Wilhelm II. den eigentlichen Drahtzieher seiner persönlichen Verfolgung und den Verant­ wortlichen für das an ihm begangene Unrecht.

In der ZD 12, unmittelbar nach seiner Ausweisung in Paris verfaßt, forderte er den "großen Unbekanten, der mich in

199 Vgl.: Panizza an Reventlow vom 4. September 1901, S. (2). M I, Nachl. Reventlow. 2 0 0 Panizza, Selbstbiographie . A.a.O., S .17. 2 0 1 Panizza, Parisjana (1899) , S. 70, 21 u.62. 2 0 2 Beschuldigten-Vernehmung mit Oskar Panizza vom 13 April 1901, S. (3 u.10) . M II, StAnw. 7122. 2 0 3 Bauer, a.a.O., S.274 Anm. 134. 2 0 4 M I, Panizza L 1484.

67

Wirklichkeit aus Zürich ausgewiesen hat, auf, sich zu nennen" (S.ll). Finden sich in seiner Zeitschrift anfangs nur gelegentliche Seitenhiebe auf den Kaiser, wie etwa in der ZD 7, wo er den "deutsche[n] Genius, der vielleicht gerade zwischen der Havel und Ostsee auf- und abspaziert" (S.6) und über das Majestätsdogma grübelnd sich vorstellte, so häuften sich dort die Auseinandersetzungen mit dem persönlichen Feind zunehmend: Deutschland sei ein Staat, "wo die Fürsten sich für Gott erklären, und das Volk für Drek halten"205. In der letzten Ausgabe seiner Zeitschrift (ZD 28/32) entwarf Panizza einen Verhaltenskatalog, anhand dessen "sich fürstliche Persönlichkeiten am besten vor anarchistischen Angriffen zu schüzen vermögen" (S.37). Insbesondere müßten die Potentaten ihr Augenmerk auf den Eindruck der göttlichen Qualität ihrer Person bei den Untertanen richten; daher sei vom Kaffeegenuß abzuraten, denn dieser verleite zu "desordinirtem Begehren", wobei "die fürstlichen Hoheiten [...] nach ihren Mätreßen (ver­ langen), und da die Staatsmätreßen und Hofdamen [...] noch schlafen, so komt es zu Abgängen und effluxiones, die ihre Spuren in den Nachtgewändern [...] zurüklaßen, wo sie der Kammerdiener findet, und dann meint, es handle sich um einen Menschen" (S.37). Panizzas weitere für die ZD in den Jahren 1903/04 geschrie­ benen, aber nicht mehr publizierten Texte betreffen zum großen Teil den Kaiser. In dem als Hauptartikel projektier­ ten Aufsatz "Laokoon oder über die Grenzen der Mezgerei”, an dem Panizza noch im Juni 1904 arbeitete, wird der deutsche Kaiser als Lustmörder mit krankhaftem Mordin­ stinkte "schlechthin zum Weltübel erklärt"206. Die Konzen­ tration der verbrecherischen übel der Welt auf eine Person zeigt in krasser Form den starken Drang Panizzas, anhand von Identifikationsfiguren seiner schließlich vom Haß geprägten Kritik eine klare Richtung zu geben. Identifika­ tionsgestalten benötigte er eigentlich immer, positive wie negative. Standen Christus, Luther, Sand u.a. als Beispiele des dämonischen, mutigen Einzeltäters, deren Schicksale er durchaus zum eigenen Leben parallelisierte, so waren es zunächst der Papst, später der deutsche Kaiser, die als scharf konturierte Feindpersönlichkeiten sein Schaffen wohl nicht nur mitinspirierten, sondern zumindest im Fall Wil­ helms II. auch ein Maß an Emotionalität erreichten, die seinem diesebezüglichen Werk eine Mißverständnisse provo­ zierende, irreale Pointierung verliehen.

In einer Tagebucheintragung von 1902 erläuterte Panizza den ursächlichen Zusammenhang zwischen der seiner Auffassung nach brutalen Triebnatur des Herrschers und der von diesem auch symbolisierten bürgerlichen Wohlanständigkeit, inter­ pretierte Ideologie und Moral als Ausdruck der Triebkompen­ sation, würdigte aber auch - und dies ist ein neues Moment

205 ZD 20/21, S.14. 206 Kristl, Nachwort. In: Panizza, Laokoon oder über die Grenzen der Mezgerei. Faksimiledruck des Manuskripts. München 1966, S.14.

68

in seiner Bewertung - diese in der Persönlichkeit beschlos­ senen Ambivalenzen als typische Eigenart "bei gros angeleg­ ten Naturen":

"Wilhelm II, eine 'tragische' Figur. Wenn, wie es jezt keinem Zweifel mehr begegnen kann, Wilhelm II nicht nur eine Reihe jener gewalttätigen Handlungen begangen hat [...], sondern mehrfacher Mörder aus Geschlechtsperwersität und Mordlust, inweterirter Be­ trüger und Fälscher [...] ist, dann wird es klar, daß der ganze hipertrofische Idealismus in der öffent­ lichen Auffaßung seiner Herscher-Rolle [...] nicht etwa schlechthin Heuchelei, sondern der Versuch der Konstrukzjon eines Gegengewichts gegen die von ihm wol erkante Lasterhaftigkeit und Unverbeßerlichkeit seiner Trieb-Natur ist."207 Bemerkenswert und überaus aufschlußreich sind in diesem Kontext einige Hinweise in Panizzas Schriften, die auf eine zumindest punktuelle Identifikation seiner selbst mit dem Kaiser schließen lassen. Deutlich wird das in den Fällen, wo sich aufgestauter Zorn ungefiltert schriftlich nieder­ schlug. Während er einerseits von "Wilhelm dem Zerschmetterer" (in Anlehnung an die Kaiserrede) sprach, wütete er andererseits mit gleichen Worten gegen die, die ihm sein Leben erschwerten: "Ich werde Alles zerschmettern"208. Aber es sind nicht nur die gleiche Wortwahl und die gelegentlich rücksichtslose Haltung, die eine ihm durchaus bewußte Affinität zum Kaiser vermuten lassen, sondern auch zwei Texte aus dem Jahre 1903. In seinem Gedicht "Zum Nordpol" * rät Panizza einem "Andree", zum Nordpol zu reisen, weil man ihn hier, "in uns'rer Näh'", nicht mehr ertragen könne. In der letzten Strophe dieses für die ZD projektierten Gedichtes wird dann klar, wer mit diesem Namen gemeint ist: "Kaiser, reise". Nun benutzte Panizza selbst sehr häufig das Pseudonym "Louis Andrée" (auch in den ZD) ; hier vermi­ schen sich also schon beide Identitäten. Vollends offen­ sichtlich wird dieses Phänomen dann in dem Text "Profezeihungen für das Jahr 1904" (als ZD-Text geplant), wo es in der 36. Weissagung heißt:

"Die Leiche Andrée's wird auf dem Nowaja Semija aufgefunden. In einer Notiz, die sich glüklicherweise in einer Brieftasche von Seehundleder befand, weshalb sie von den Seehunden nicht angegriffen wurde, teilt er mit, er sei unter dem 76ten Breitengrad in den Lüften von Adlern zerrißen worden, weil sie ihn für den deutschen Kaiser gehalten hätten."208 Panizza alias Andrée alias Wilhelm war also 'tatsächlich' zum Nordpol gereist, weil man ihn "hier" nicht mehr ertra­ gen konnte. Diese Identifikation mit dem Feind erklärt sich 207 TB 72, S.185f (19. November 1902). 208 TB 64, S.272 (zwischen 14. und 19. Juli 1899). 208 Zum Nachweis der beiden zitierten Texte siehe Kap. 4.3. 1.2./31 bzw.29.

69

möglicherweise daraus, daß der machtlose Schriftsteller den mächtigen Herrscher beneidete, der seine "Trieb-Natur" ungehindert ausleben konnte (wie Panizza meinte), während er selbst an der freien Entäußerung seiner seelischen und geistigen Impulse gehindert wurde und zu werden glaubte. Denn ebenso wie den Kaiser sah er auch sich als "gros ange­ legte Natur", die brutalen Instinkt und idealisches Streben (das er für sich in Anspruch nahm) in sich vereine. Die Überwindung des Feindes Wilhelm, das 'Abschieben' zum Nord­ pol mit der Folge eines jämmerlichen Todes bedeutete für Panizza auch die erhoffte Überwindung der eigenen Wider­ sprüchlichkeiten. Für Wilhelm konstatierte er, daß jener durch die "Idealität des schrankenlosen Herschertums" seine lasterhafte Triebnatur zu retten versuche, aber daran scheitere, weil das Volk solchen Absolutismus als "Verbre­ chen an der Freiheit" erachte210. Analog dazu versuchte Panizza mit der Stirnerschen Philosophie eines schrankenlo­ sen, sich an den Interessen seiner Mitmenschen nicht keh­ renden Individual-Anarchismus' und Egoismus' (s.u.) seine Triebinteressen zu legitimieren, scheiterte jedoch an der seinem Wesen inhärenten moralischen Anlage, die er nie aus seinem Leben und Schaffen zu eliminieren vermochte, da sie die Grundlage seiner Anklagen war: Oskar Panizza, eine "tragische" Figur.

2

1 o

TB 72, S.186f (19. November 1902).

70

2.3. RELIGIONSKRITIK, RELIGIOSITÄT UND GLAUBE Religion und Sexualität stellen die Hauptthemenkomplexe des Panizzaschen Werkes bis in die Mitte der 1890er Jahre dar, ''unter die sich alle anderen Themen nahezu ausschließlich subsumieren lassen. Sie stehen aber nicht als isolierte Blöcke nebeneinander, sondern sind interdependent miteinan­ der verbunden und auch permanent von dem an späterer Stelle der vorliegenden Untersuchung noch genauer zu erörternden Problem der Geisteskrankheit überschattet.

Seine Kritik an der katholischen Kirche - die sich später auf das Christentum schlechthin ausweiten sollte - entzün­ dete sich zunächst aus seiner deutschnationalen Haltung der Zeit bis ca. 1895/96; wie gezeigt werden wird, schwand seine teilweise wütende Kritik an religiösen Institutionen parallel mit seiner chauvinistischen Deutschtümelei. Er stand damit zunächst ganz im Banne der preußisch-protestan­ tischen Politik des Bismarckschen Kulturkampfes, der zwar 1887 offiziell beigelegt worden, aber keinesfalls überwun­ den war. Der Kanzler und die Nationalliberalen erblickten im deutschen Katholizismus, deren politische Vertretung die Zentrumspartei war, einen Hauptgegner des kleindeutschen Reiches und des protestantischen Kaisertums. Zudem erregte die Verkündung des Dogmas von der päpstlichen Unfehlbarkeit auf dem I. Vatikanischen Konzil 1870 das Mißtrauen jener politischen Kreise, die zukünftige Loyalitätskonflikte deutscher Katholiken zwischen staatlichen und kirchlichen Ansprüchen befürchteten. In einer Eingabe des preußischen Staatsministeriums an Wilhelm I. vom 30. Juni 1871 hieß es, daß die ultramontane Partei gezeigt habe, "daß die Herrschaft des unfehlbaren Papstes und des blind gehorchenden Klerus ihr entschiedenes Ziel ist, daß sie die Regierung bekämpft [...], daß sie das Deutsche Reich unter einem evangelischen Kaiser als eine Institution ansieht, zu deren Bekämpfung das Bündnis mit den revolutionären Elementen nicht zu verschmähen ist."1

Neben Juden, Sozialdemokraten und anderen Gruppen wurde daher auch der politische Katholizismus durch Bismarck in aller Schärfe zum "Reichsfeind" erklärt2. Panizza betrachtete den Einfluß des seiner Meinung nach vom Ausland (Rom, Italien) her geprägten Katholizismus samt dessen süßlichen, orientalischen Verzuckerungen als der moralischen Tiefe des deutschen Charakters nicht wesensge­ mäß3 . .

1 In: Ritter, a.a.O., S.195. 2 Wehler, a.a.O., S.279. 3 Vgl.: Panizza, Teutscher Michel (1894); 139f.

insbesondere S.

71

Er kennzeichnete das Wesen der katholischen "DreschflegelReligion"4 aus der "römischen Kloake"5, mit Zölibat, Beichte ("Narrenwerk”6), beschwörenden "Hocuspocusformen” 7 und "ihrer Haarbüschelverehrung"8 als "innerlich durch und durch faul"9. Insbesondere über die Marienverehrung ergoß sich sein beißender Spott: die Gottesmutter als Sexualsymbol, in deren "Menstruazionsblut"10 und "mariologische[m] Dreck"11 die Katholiken wühlten. Diesen Zusammen­ hang zwischen Sexualität und Religion formulierte Panizza immer wieder: "Wenn man in eine katolische Kirche tritt, so riecht es nach Genitaljen"12.

Aber den Protagonisten seiner Angriffe erblickte Panizza in der Person/Institution des obersten Funktionärs der katho­ lischen Kirche, des Papstes, der aus Gott einen "italieni­ schen Herrgott voll Prunk und Firlefanz"13 gemacht habe. Das "gemeinschaftliche Hirn der teutschen Katoliken"14 war für ihn lediglich ein "hodentragender, mit Gold umhängter Italiener", eine "lateranensische Kreuzspinne"15. Grund­ sätzlich konstatierte er eine Überlegenheit der Protestan­ ten den Katholiken gegenüber. Diese wiesen "eine tiefer stehende Entwiklungsstufe der Gattung Mensch" auf, die dem nordländischen, blondgelockten Protestanten nicht gewachsen sei. Denn nur seine dümmliche, einfältige Natur ermögliche es dem Katholiken, trotz jahrhundertelanger Beschimpfungen unbeeindruckt am Althergebrachten festzuhalten16. Panizzas extrem kritische Haltung der katholischen Kirche gegenüber erfaßte sukzessive auch seine Auffassung des Protestantismus' und kulminierte schließlich in der gänzli­ chen Ablehnung des Christentums. Diese Entwicklung wurde gewiß auch durch seine Enttäuschung über das sich abzeich­ nende tatsächliche Ende des Kulturkampfes und vor allem durch die Rolle des Protestantismus verursacht, die dieser dabei spielte. War zwar die lutherische Kirche im Kaiser­ reich .ohnehin "eine Kirche der Besitzenden und Herrschen­ den"1 7 , so schützten nun gar der protestantische Staat und seine klerikale Institution die sich anpassenden Katholi­ ken: "Gerade um sich an Loyalität nicht überbieten zu lassen, wurde der Katholik ein ebenso gefügiger, vorsichti-

i i i

1 3

1 4 1 5 1 6 1 T

Panizza, "Die Wallfahrt nach Andechs" (1894), S.553. Panizza, Abschied von München (1896), S.12. Panizza, Teutscher Michel (1894), S.113. S.775. Panizza, "Katholische Irrenbehandlung" (1895) Panizza, "Lieben Freunde!" (1896), S.3. Panizza, "Luther und die Ehe" (1893), S.362. Panizza, Teutscher Michel (1894), S.27 Anm.4. Panizza, Rez. Die Greuel der Jesuiten (1896), S.llll. TB 63, S.242 (27. Juni 1898); vgl. auch: "Haberfeldtrei­ ben" (1894), S.38; "Die Wallfahrt nach Andechs" (1894), S.544f; Teutscher Michel (1894), S.42f, 101, 139. Panizza, "Luther und die Ehe" (1893), S.361. Panizza, Teutscher Michel (1894), S.90. Ebd., S.219 bzw.203. TB 63, S.30 (ca. März/Mai 1897). Wehler, a.a.O., S.299.

72

ger Untertan der monarchischen Staatsgewalt wie sein lutherischer Nachbar."18 Es ging also, so mußte Panizza erkennen, nicht wirklich um eine ideologische Auseinander­ setzung, sondern um eine bloße politische Herrschaftsfrage, in der Staat und Staatskirche ihre jeweils aktuelle Posi­ tionsbestimmung aus kaltem Machtkalkül gewannen. 1899 lehnte Panizza die Anfrage Conrads ab, eine zweite Auflage des "Teutschen Michel" herauszubringen, und zwar mit der Begründung, das Buch sei eine Verteidigung des Protestan­ tismus, und die könne er "heute nicht zu Wege bringen. Denn Protestantismus ist auch heute Reakzion."19

Parallel zu diesem Abnabelungsprozeß würdigte er zunehmend das seiner Meinung nach unbeschwerte, der Natur des Men­ schen eher angemessene Heidentum. Seine schon genannten wissenschaftlichen Untersuchungen zum Haberfeldtreiben belegen nicht nur durch ihre akribisch exakten Forschungen das besondere Interesse des Autors an diesem aus heidnisch­ germanischen Wurzeln entstandenen Volksbrauch, sie zeugen darüber hinaus auch von dem Stellenwert, den Panizza solchen Traditionen zumaß. "Ueberall finden wir im alten Heidenthum eine heiter-naive Verehrung des Zeugungs- und Fruchtbarkeitsprincips" , die mit dem "Einzug des Christenthums", der "Verdammung aller reinen Freuden am Natürli­ chen" und der "Stigmatisirung der sinnlichen Lust als sündigen Geschehens"20 zurückgedrängt und endlich fast völlig eliminiert worden sei. Fragen der Sittengeschichte und Mythologie sollten später in seiner Zeitschrift ZD einen besonderen Stellenwert erhalten. Panizza hielt das Christentum "für die große Masse definitiv verloren", zumal heute keiner mehr daran glaube21. Zunehmend verdeutlichte Panizza auch den Zusammenhang zwischen Religion und politi­ scher Macht: "In Berlin (werden) massenhaft Kirchen gebaut [...], 'um dem Volke die Religion zu erhalten', um es blind gegen die Sozialdemokratie zu machen."22* Ober diesen Zusammenhang hatte Panizza schon bei Stirner gelesen, der von der allgemeinen "Dressur" sprach, mittels derer "die große Masse zur Religion abgerichtet" werde25* . 28 Nach Panizzas Amberger Haft, spätestens jedoch ab 1897, läßt sich eine Wende in der thematischen Schwerpunktsetzung 18 Ebd., S.301. 19 Panizza an Conrad vom 11. Juni 1899, S.(3). M I, Panizza III/4. 20 Panizza, ''Haberfeldtreiben" (1897), S.266. 21 Panizza, Rez. Du Prel (1893), S.515f. 22 Panizza, Rez. Die Greuel der Jesuiten (1896), S.llll. Dieser Kirchenbauboom wurde veranlaßt durch die streng pietistische Kaiserin, "die in und bei Berlin in zehn Jahren zweiundvierzig Kirchen, also durchschnittlich al­ le drei Monate eine, errichten ließ" (Ludwig, a.a.O., S. 113) . 28 Stirner, a.a.O., S.365.

73

feststellen, die schon im "Liebeskonzil" - wie noch zu zei­ gen sein wird - eingeleitet wurde. 1897 bereits war die Auseinandersetzung mit dem Katholizismus für Panizza sekun­ där, nahezu uninteressant geworden24, bedingt u.a. durch sein erstarkendes literarisches Engagement auf politisch­ gesellschaftlichem Gebiet. Die Übergänge sind fließend, das "Liebeskonzil" weist in seiner Kritik bereits beide Stoßrichtungen auf. 1899 nahm Panizza in seinem Text "Der Papst" dann einen sehr abgeklärten, sachlichen, fast wohlwollenden Standpunkt dem Papsttum gegenüber ein. Dieses sei "heute eine vergei­ stigte Institution geworden", "ein höchst interessantes Gebilde" der abendländische Geschichte, das man nun diffe­ renziert zu betrachten habe. Es gebe eben auch Züge des Papsttums, die "in der Geschichte stets als hoch und achtunggebietend dastehen" würden. Freilich sei die Insti­ tution früher eine "fürchterliche Macht" gewesen, gegen die Widerstand zu leisten Lebensgefahr bedeutet habe; daher erkläre sich auch die "Masslosigkeit" der Angriffe auf das Papsttum, "die uns heute in Schrecken versetzt"(!)2’.

Das waren nun freilich sehr distanzierte Töne. Indem Panizza die Angriffe u.a. auch Luthers als "masslos", aber historisch begreifbar und auch berechtigt qualifizierte, stellte er seine eigene Position der früheren Jahre in Frage und begab sich auf eine gleichsam 'ausgewogene' Posi­ tion, die dem Papsttum durchaus positive Seiten abgewinnen konnte. Aus der Machtinstitution mit ihren Verkündigungen ex cathedra sei heute eine wirtschaftliche Einrichtung ge­ worden, die - wenn überhaupt - nur noch scheinbar gefähr­ lich werden könne. Dieser Artikel scheint den klar artikulierten Schlußpunkt der Streitsache 'Panizza contra Kirche' zu markieren; das katholische Papsttum war seiner Meinung nach nunmehr nur noch Gegenstand des Interesses von "Culturfahrer[n] [...], Psychologen und Naturforscherin]". Entsprechend war auch Panizzas weitere, anhaltende Beschäftigung mit Fragen der Religion eher sachlich-wissenschaftlichen Charakters und immer seltener ideologisch wertend. Insbesondere die Über­ schneidung und der Grenzbereich von Religion und Mythologie fesselten seine intellektuelle und literarische Tätigkeit in zunehmendem Maße, so daß dieser Bereich schließlich zu einem seiner bevorzugten Themen avancierte. So schrieb er beispielsweise über die christliche Gottesmutter Maria in ihrer mythologischen Beziehung zu Sonnenmythen, zur germa­ nischen Freia, griechischen Athene und anderen Erdenmüt­ tern26. Diese Entwicklung fand auch ihren Niederschlag in den ZD, deren letzte Ausgabe das religionsmythologische Symbol des Ebers thematisierte. Zwar erlaubte sich Panizza 24 Vgl. Panizza, "Leo Taxil und seine Puppen" (1897), S. 748. 25 Panizza, "Der Papst" (1899), S.253ff. 26 TB 71, S.149f und 168f (ca. Juni/Juli 1903). Vgl. dazu auch den Kommentar zur ZD 28/32.

74

auch weiterhin auf jenem Gebiet gelegentlich ironische Seitenhiebe, die aber den Charakter fanatisch-kämpferi­ scher, von persönlicher Betroffenheit gekennzeichneter Intentionen zugunsten intellektuellen Spotts eingetauscht hatten. Im Zusammenhang mit Panizzas Religionskritik der 1890er Jahre nennt Marion Soceanu den Schriftsteller einen ’'Radi­ kalaufklärer [...], der mit den ihm eigenen Mitteln und Methoden um ideelle Werte kämpfte, dem es um etwas anderes ging denn als Blasphemiker vor die Öffentlichkeit zu treten."27 An dieser Qualifizierung sind zwei Aussagen problematisch, über die zu diskutieren aber zum Verständnis des Schriftstellers und seines Werkes wichtig ist. Der recht summarische Begriff der "ideellen Werte" impli­ ziert ein mehr oder minder klar konturiertes Welt- und Wertesystem, anhand dessen ein Individuum oder eine Gemein­ schaft das eigene Leben begreifbar zu machen, zu organisie­ ren und erklären versuchen. Diese Werte sind also mit bestimmten Denkinhalten belastet, die in der konkreten Situation Handlungsanweisungen hervorbringen (sollen) und vor allem eine wie auch immmer geartete Vorstellung von einer der Realität konkurrierenden Alternative oder Utopie voraussetzen. Das war aber bei Panizza nicht in dem Maße der Fall, als daß man bei ihm von "ideellen Werten" sprechen kann - was nicht heißen soll, daß er keine die Wirklichkeit kontrastierende Vorstellungen hatte. Aber diese Ideen einer womöglich anderen, besseren Welt hat er überhaupt niemals ernsthaft formuliert, sie waren für ihn kein literarisches Thema. Sein Thema lautete: Offenlegen der realen Negativismen, das Konterkarieren der offiziellen Welt, gewissermaßen ein Verneinen - mit seinen Worten: "Zerstören" - aus Prinzip. Er sei ein Mann, "der nichts glaubt, dem aber das Opponiren, das Negiren, das Droßeln im Blute liegt", erkärte er Anna Croissant-Rust28 und recht­ fertigte diese Haltung aus folgender anthropologischen Grundposition: "Ich halte die Menschheit nicht für wertvoll genug, um an ihr irgend 'was zu schonen, ihr irgend ein Sistem, eine Religion z.B. zu laßen, weil sie durch Zerstörung derselben etwa enttäuscht würde, unglüklicher würde u. drgl. Die Menschheit ist nach der Rich­ tung lediglich mein Experiment"29.

Auch hier spricht wieder der Apologet Stirnerschen Individual-Anarchismus', in dem der Nebenmensch nicht als Indivi­ duum gesehen wird, dem auf der Ebene moralischer Normen zu begegnen ist, sondern als Gegenstand, der je nach persönli27 Soceanu, "Oskar Panizzas Kampf um den Glauben". A.a.O., S.142. 28 Panizza an Croissant-Rust vom 29. Januar 1897, S.(2). L, Nachl. Croissant-Rust. 29 TB 62, S.112 (Juli 1896).

75

eher Interessenlage als brauchbares Objekt zu behandeln ist30.

oder

unbrauchbares

Sicherlich ist nicht zu bestreiten, daß Panizza im "Teutschen Michel" von 1894 tendenziell eine Position der gewünschten Reinigung des Glaubens "von menschlichem Beiwerk" einnahm31 (aber nicht als Purist). Indessen greift eine fast ausschließlich auf Religionskritik bezogene Interpretation, die Soceanu für das "Liebeskonzil" anbie­ tet, wesentlich zu kurz, denn gerade hier ist der entschei­ dende Wendepunkt in der kritischen Stoßrichtung deutlich angezeigt. Der christliche Glaube an einen personalen Gott und seine in der gesellschaftlichen und historischen Wirk­ lichkeit erkannte Verbindung zur politischen Herrschaft ("Thron und Altar") war der Punkt, an dem sich des Autors Widerstand entzündete.

Zweifellos sah sich Panizza zunächst als lutherischer Protestant und betonte das auch häufig32; seine Bewunderung für Luther war immer ausgesprochen emphatisch. Ihn beein­ druckte vorzüglich die "revolutionäre Grundlage" des Protestantismus33, der ihm inhärente emanzipatorische Anspruch.

Aber auch hier scheint sich mit dem "Liebeskonzil", also ab etwa 1893/94, eine entscheidende Wende abgezeichnet zu haben. 1895 äußerte er zur Frage nach seinem Glauben kategorisch: "Ich erkläre, daß ich Atheist bin"34; er nannte die Atheisten "moderne Geister"35, und bereits 1894 empfahl er den Kritikern der Modernen, den "Schöngeistern", eine Institution, die für ihn selbst nicht (mehr) zuständig war: "Wendet Euch an den Herrgott mit Euren Beschwerden. Ihr glaubt ja an ihn!"36, denn "Gott und alle andern Götter/sind heute für uns abgetan."37 Seine Tagebuchaufzeich­ nungen aus dem Jahre 1896 sind ebenso deutlich wie aufschlußreich: "Ich glaube an keinen persönlichen Gott irgend wel­ cher Art, noch an persönliche Intelligenzen, welche, ohne Menschen von Fleisch und Blut zu sein, fähig wären, auf unsere sinliche Existenz irgendwann oder irgendwoher einzuwirken [...] Der lezte Grund unserer

30 Stirner, a.a.O., S. 349. 31 Soceanu, "Oskar Panizzas Kampf um den Glauben". A.a.O., S.142. 32 Vgl.: Panizza, Aus dem Tagebuch eines Hundes (1977), S. 206; und: Teutscher Michel (1894), S.180. 33 Panizza, Tagebuch aus Amberg (1895). In: Ders., Das Lie­ beskonzil und andere Schriften (1964), S.183. 34 Protokoll der Schwurgerichtssitzung b. dem kgl. Landge­ richte München I vom 30. April 1895, S.5. M II, StAnw. 7119. 35 Panizza, Rez. Die Greuel der Jesuiten (1896), S.llll. 36 Panizza, "Die Frühjahrs-Ausstellung der Münchner Sezes­ sion" (1894), S.792. 37 Panizza, Dialoge im Geiste Hutten's (1897), Zueignung.

76

Daseinsform als einer denkenden und sich bewußt wer­ denden ist uns verschloßen.-"38 Traditioneller Gottesglaube war für Panizza nach diesem, von ihm selbst so genannten "Glaubensbekentnis" nicht mehr akzeptabel; aber der der menschlichen Erkenntnisfähigkeit nicht zugängliche letzte Wesensgrund weist dennoch nicht auf den Atheisten, vielmehr auf seinem Denken zugrunde liegende idealistische Vorstellungen im Sinne apriorischer Kategorien. An Brupbacher schrieb er 1899:

"Ich stehe durchaus auf dem Standpunkt von Kant's Transzendentaler Anschauung von der Priorität von Raum und Zeit (d.i. aller Bewußtseinsformen) vor der Materie. Sie sind schlankweg Materjalist."39

So erklärt sich auch der scheinbare Widerspruch in Panizzas Eigencharakteristik, in der er sich selbst als "Protestant, i als Hugenott, der nichts glaubt"40 , konturierte. Protestanti war er insofern, als daß er sich in der geistigen Tradition kritisch-rationalen Denkens sah; allein der Glaubensaspekts spielte für ihn keine Rolle mehr. Weiterhin erhellend ist hier sein Zeitschriftenartikel "Neues aus dem Hexenkessel der Wahnsinns-Fanatiker" von 1896. Dort heißt es: "Wir aber [...] die wir Philosophen [...] sein wol­ len, [...] müssen, wie Hegel, eine höhere geistige Einheit zu gewinnen suchen, und sagen: Ihr alle mit euren Religionen und Tagesmeinungen, mit euren Theorieen und kurzsichtigen Geisteskrankheits-Erklärun­ gen, ihr habt alle recht, und keines von euch hat recht. Eure Schwankungen [...] beweisen uns nur, daß es eine geistige Potenz in uns allen giebt [...], die uns alle beseelt"; es müsse uns gelingen, "den 'Systemen' gegenüber, an die Tausende glauben, den richtigen Standpunkt einzunehmen" (S.943). Das entscheidende Wort hier ist "System". Es drückt das grundsätzliche Mißtrauen gegenüber allen Deutungsmustern im Sinne einer auf eine monokausale Ursächlichkeit reduzierten Erklärung der Weltexistenz, gegenüber jeder Ideologie aus und impliziert ebenso einen religiösen wie ethischen Rela­ tivismus: "Wer lieben kann, der liebe. Wer hassen muß, der hasse" (ebd.).

Neben dieser sich auf die Erkenntnis des Dämons berufende Position, die jenseits der kategorialen Begriffe des "Gut" und "Böse” zu fassen ist, scheint hier auch eine gleichsam mythologisch-tiefenpsychologische Deutung angebracht. Die 38 TB 62, S.99 (ca. Anfang Juli 1896). 39 Panizza ,an Brupbacher vom 5. April 1899. A, Nachl. Brupbacher/VIII.F. 40 Panizza an Croissant-Rust vom 29. Januar 1897, S.(2). L, Nachl. Croissant-Rust.

77

Erfahrung der Fülle des Lebens, der harmonischen Überein­ stimmung des Menschen mit sich selbst, setzt das bedin­ gungslose Akzeptieren der eigenen ambivalenten Existenz voraus, das Annehmen und Nicht-Verdrängen der eigenen Schattenseiten, wie es z.B. die Projektion von negativen Erscheinungen auf entsprechende Identifikationsfiguren (gesellschaftliche Minderheiten, der Teufel etc.) bedeutet. Es lag offenbar im Falle Panizzas der emanzipatorische Versuch vor, die Widersprüche der Existenz durch die Hin­ nahme der archetypischen Konstituenzien der Psyche zu vereinen, oder, in der Terminologie C.G. Jungs41 formu­ liert, das "Selbst" in das Bewußtsein zu heben als Gesamt­ heit der Psyche, die Gutes wie Böses in sich trägt. Dazu gehört auch der Widerstand gegen das Böse, der aber nur erfolgreich sein kann, indem das Individuum sich der ambi­ valenten Vielfalt des "Selbst", dessen Teil das "Ich" lediglich ist, bewußt wird. Aus dieser Sicht wird jede Projektion der Negativismen des Lebens auf z.B. den Satan als Verkürzung empfunden, so wie auch Panizza im "Liebes­ konzil" diese traditionellen Rollenzuweisungen von Gut und Böse aufhob.

Der Schriftsteller benutzte im o.g. Aufsatz expressis verbis den Begriff "Paradoxien” in diesem Zusammenhang,' (scheinbare) Widersprüchlichkeiten also, "an die nur ein­ zelne, die ’Geisteskranken", oder die "Genies" glauben"42. Dieser Satz sagt eigentlich alles: Wer den "Systemen" die Gefolgschaft verweigert, muß nolens volens in der bürgerli­ chen, zumal christlich beherrschten, schizoiden Gesell­ schaft, auf deren notwendig gespaltenes Menschen- und Gesellschaftsbild seit Max Weber die ganze Kritische Philo­ sophie hingewiesen hat, absorbiert werden.

In der Gestalt des Teufels im "Liebeskonzil” wird diese Interdependenz der als positiv und negativ gemeinhin bewer­ teten Phänomene aufgezeigt: Es ist just der Teufel, auf den der Himmel zur Erhaltung seiner Macht angewiesen ist.

So ist Panizza im religiösen Sinne weder als gläubiger, noch als atheistischer Mensch zu sehen; ihn als Puristen zu bezeichnen43, schlägt indes völlig fehl, wenngleich der "Teutsche Michel" auf den ersten Blick einen solchen Ein­ druck hervorrufen kann. Seine Intentionen waren nicht die, zu einer geläuterten christlichen Religion zu kommen; das setzt den Glauben an ein reines Christentum voraus, den Panizza eben nicht hatte; er war nicht der Vetreter einer reinen Lehre, denn gerade die "Systeme" waren es ja, die er ablehnte.

41 Carl Gustav Jung, Bewußtes und Unbewußtes. Beiträge zur Psychologie. Frankfurt/M. 1979; insbesondere S.11-53. 42 Panizza, "Neues aus dem Hexenkessel der Wahnsinns-Fana­ tiker" (1896), S.943. 43 Wie Soceanu in: Oskar Panizza - Das Liebeskonzil. A.a. 0., S.44.

78

Eher scheint der Begriff des Agnostikers, des um sein Nichtwissen Wissenden, auf Panizza anwendbar, aber nicht im Sinne des "Gottessuchers"44, denn dieser Begriff ist zu sehr mit religiösen Attributen konnotiert, die für Panizza erledigt waren. Dennoch war für ihn der transzendente letzte Urgrund eine conditio sine qua non für sein künstle­ risches Selbstverständnis: "Der wahre Dichter wird immer Metafisiker sein, denn mit umso größerer Gewalt es ihn überkomt, mit um so größerer Sicherheit wird er sich auf seine 'Inspirazion' berufen; mit umso größerer Notwendigkeit wird er aber dann auch die Quelle seiner Begeisterung jenseits der eigenen irdischen Sfäre verlegen."45

Diesen metaphysischen Bereich nannte er in einer späteren Tagebuchnotiz das "Geisterreich", an das er glaube und das ihm überhaupt erst den Kampf gegen die Inhaber irdischer Gewalt ermögliche, da in diesem Glauben der Konflikt zwi­ schen Utopie und Realität begründet liege46. Ein solcher Glaube ist kategorial verschieden gegenüber dem in Dogmen, in "Systemen" kanonisierten. Der Religion maß Panizza nur noch eine psychologische Funktion zu, die insbesondere in Situationen existenzieller emotionaler Belastung oder Schwäche in Erscheinung tritt und dann auch ihre Berechti­ gung hat. Als sein innigst geliebter Hund Puzi 1897 starb, schrieb er Anna Croissant-Rust erschüttert, daß man "den Menschen für solch' furchtbare Momente die Religion laßen" müsse47. Wer aber die Religion als Medizin für die Psyche begreift, sie aus dem Blickwinkel der Utilität betrachtet, der glaubt nicht im eigentlichen Sinne, sondern anerkennt nur deren Funktion, nicht deren von ihr selbst geforderten Wert an sich.

44 45 46 47

Ebd., S.42. TB 63, S.230 (ca. Juni/Juli 1898). TB 72, S.185 (November 1902). Panizza an Croissant-Rust vom 7. Marz 1897, S.(1). Nachl. Croissant-Rust.

L,

79

2.4. POLITISCHE UND PHILOSOPHISCHE POSITIONEN

In den vorangegangenen Kapiteln ist bereits einiges über Panizzas Weitsicht gesagt worden; es ist vor allem hin­ sichtlich des deutschen Kaisers politisch auch im engeren Sinne. Grundsätzlich kann bei ihm eine anhaltende, inten­ sive und detaillierte Auseinandersetzung mit politisch­ gesellschaftlichen Fragen insbesondere ab 1895 festgestellt werden. Das betrifft auch politische Tagesfragen. Legion sind seine zum größten Teil wertenden Aufzeichnungen in den Tagebüchern über Staat, Regierung, politische Ideologien und Parteien, über einzelne politische Persönlichkeiten, die Anwendung von Gewalt im politischen Kampf sowie über Revolution und Anarchismus. Es läßt sich daraus ein klares Bild der politisch-philosophischen Kontur des Schriftstel­ lers gewinnen. Unmißverständlich waren seine Bemerkungen zu den politi­ schen Parteien im Reich, wobei allerdings die Sozialdemo­ kraten ausgenommen und einer differenzierten Betrachtung unterworfen wurden. Der ultramontanen Zentrumspartei, der "päpstliche[n] Kohorte" in Deutschland48, unterstellte er, sie wolle "das deutsche Vaterland zu Grunde richten"49* . Die 51 Liberalen nannte er "die Feigsten unter den Feigen", die als Opportunisten sogar bereit wären, um ökonomischer Vorteile willen "an Gott zu glauben"30 . Er unterschied allerdings zwischen den Wirtschaftsliberalen und den die Freizügigkeit des gesellschaftlichen Lebens postulierenden "Linksliberalen"’1, die er zu der Gruppe der von der "parálisis cerebri" Befallenen, "dem Staat Oposizion" lei­ stenden Leute zählte’2. 2.4.1. Sozialdemokratie

Panizzas Verhältnis zur Sozialdemokratie verdient hier besondere Beachtung, nicht nur weil er den Sozialismus für eine wichtige, "heute alles andere überragende" Bewegung’3 hielt, sondern vor allem aufgrund der besonderen Intensi­ tät, mit der er sich jahrelang mit diesem Phänomen befaßte. Mit realistischem Spürsinn erkannte Panizza die sozialdemo­ kratische Bewegung als eine von historischem Rang, die "das Credo für unsere heutige Lebens- und Weltanschauung angege­ ben hat"’4; seine Wertungen waren dabei gelegentlich widersprüchlich und belegen seine ambivalente Position. Einerseits mißfiel ihm der seiner Meinung nach zu stark auf die Durchsetzung ökonomischer Interessen ausgeprägte Impe-

48 49 ” 51 ’2 33 ’4

Panizza, Teutscher Michel (1894), S.216. Panizza, Dialoge im Geiste Hutten's (1897), S.46. Ebd., S.47. Panizza, Psichopatia criminalis (1898), S.ll. Ebd. Panizza, Rez. Stegmann (1894), S.134. Panizza, "Leo Taxil und seine Puppen" (1897), S.749.

80

tus dieser "Idealisten des Magens"55; für einen aus den begüterten Schichten des Bildungsbürgertums stammenden, fast niemals für seinen Lebensunterhalt selbst sorgenden Literaten nicht gerade eine verblüffende Haltung. Anderer­ seits brachte er dennoch Verständnis für die unterdrückten Massen auf, die "ihren lezten Blutstropfen für Militärforderungen hergeben müssen" und einer "avancement­ hungrigen Justiz ausgeliefert sind."56 Die "drohend erho­ bene Faust der Sozialdemokratie" 5 7 war ihm aber zugleich suspekt, denn auch sie wolle - zwar "nur bedingt", aber im­ merhin - das "Vaterland zu Grunde richten"58. Im Mai 1897, dem Monat der Konkretisierung seiner Zeit­ schriftenpläne, notierte er inmitten zahlreicher, Konzep­ tion und Inhalt seines künftigen Journals betreffender Skizzen in sein Tagebuch: "Alle Tugend, alle Nobleße, alle Selbstaufopferung, aller Edelmut, alle Größe, alle Hoheit der Gesinnung ist jezt auf Seite der Niedrigen, der Armen, der Besizlosen, der Sozialdemokraten - und auf der andern Seite ist nichts als ein Bischen Dogma, ein Bischen Mittelalter, ein Bischen Hundetreue."59

Solch hohe, mit für Panizza ungewöhnlich hehren Worten aus­ geschmückte Meinung fand auch ihren Ausdruck in den ZD, die eine zumindest partielle Verbundenheit mit den Zielen und dem Kampf der organisierten Arbeiterbewegung erkennen las­ sen. Allein drei Gedichte beredten Titels seines Freundes Ludwig Scharf (der Verbindungen zur Sozialdemokratie pflegte60) publizierte er in seiner Zeitschrift: "ProletenWeisheit", "Stoßseufzer des Proleten" und "Proleta sum". Darüber hinaus waren einige z.T. auch als Verfasser der ZD angekündigte bzw. als solche tatsächlich wirkende Personen selbst Sozialisten oder standen dem Sozialismus nahe. Das "Einladungs-Zirkular" sprach außerdem von einem "sozial­ demokratischen Beispiel" (S.(l)) der Koalition als Vorbild für die moderne literarische Richtung. Panizza anerkannte dabei die Vorreiterfunktion dieser politischen Partei, die ihre Wirkung auf die deutsche Literatur nicht verfehle: "Wir haben heute [...] eine Kunst, die das ist, was sein soll: den Menschen, ohne Rüksicht auf Partei, Fürst, Monarchie, Religion, Katechismus, Strafgesez, über sich hinauszuheben", um dadurch "sein eigenstes Wesen, seinen Dämon und Genius, kennenzulernen. Den Mut zu dieser Kunst verdanken wir der Sozialdemokra­ tie."61 5 5 s 6

5 T

3 e

5 9 6 0

6 1

Panizza, "Prostitution" (1892), S.1168. Panizza, Psichopatia criminalis (1898), S.17. (1893), Panizza, "Prolegomena zum Preisausschreiben. S.288. Panizza, Dialoge im Geiste Hutten's (1897), S 46 TB 63, S.74 (Mitte/Ende Mai 1897). TB 62, S.183 (August 1896). TB 62, S.50 (Juni 1896).

81

Grundsätzlich gab es also zahlreiche Anknüpfungspunkte, die einen Anschluß Panizzas an die SPD hätten ermöglichen können; Affinitäten, die er selbst erkannte und auch sogar betonte. So bekämpften beide Staat und Kirche, die ihrer­ seits wiederum sowohl ihn als auch die organisierte Arbei­ terschaft gemeinsam befehdeten. Anläßlich der bedrohlich werdenden Wahlerfolge der Sozialdemokraten zwischen 1887 und 1898 (SAP 1887: 10,1%; SPD 1898: 27,2%6 2 ) sicherten sich Staats- und Kirchenführung zur Abwendung der Gefahr gegenseitige Unterstützung zu. Kardinal Georg Kopp, Fürst­ bischof von Breslau, war mit dem Reichskanzler Fürst Hohen­ lohe vollkommen einer Meinung, daß es "in jedem Falle eine tatsächliche Verleugnung positiv christlicher Grundsätze (wäre), eine sozialdemokratische Wahl direkt oder indirekt zu unterstützen."62 63 Die als "Reichsfeinde" und "vater­ landslose Gesellen" gebrandmarkten Sozialdemokraten erfreu­ ten sich vergleichbarer Achtung wie die "Rinnsteinkünst­ ler", deren "janze Richtung" den wilhelminischen Funktio­ nären ebenfalls nicht paßte. Wie man gegen die Kunst mit den Mitteln der illegalen Zensur, der gesellschaftlichen Ächtung, der Strafprozessordnung u.ä. vorging, so wurde auch von höchsten Stellen zum "Kampf gegen die Sozialdemo­ kratie" öffentlich aufgerufen64, der auch mit allen Mitteln der staatlichen Repression durchgeführt wurde.

Aber auch hier zeigte sich Panizzas Position als die des Verneiners, dem es nicht primär um Alternativen ging. Seine Opposition blieb zwar nicht nur Geste, das belegt seine Biographie hinlänglich; er vermochte es aber nie, sie in politisches Handeln umzusetzen. Bei der politischen Kon­ stellation im Kaiserreich hätte er nur dann Chancen gehabt, politisch effizient wirksam zu werden, wenn er sich einer Gruppe wie den Sozialdemokraten angeschlossen hätte. Aber neben anderen, noch zu erörternden Faktoren muß es ihm seine außerordentliche Emotionalität (Tucholsky: "Er hat noch hassen können"65) unmöglich gemacht haben, sich einem politisch-programmatischen Konzept zu unterwerfen. Bierbaum traf den Kern der Sache, als er schrieb, daß der am Umsturz mithantierende Panizza "absolut nicht in die Partei des Umsturzes, unter die Socialdemokraten (paßt). Dazu ist er zu fein und zu zügellos."66 Des weiteren mochte ihn seine großbürgerliche Herkunft gehindert haben, sich mit den proletarischen Massen genossenschaftlich zu solidarisieren, wenngleich die geistigen und politischen Führer der Arbei­ terbewegung "größtenteils den 'gebildeten Ständen' ent62 Gerd Hohorst u.a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II. Materialien zur Statistik des Kaiserreiches 1870-1914. München 19782, S.174f. 63 Kardinal Georg Kopp an Reichskanzler von Hohenlohe vom 21. Juni 1898. In: Ritter, a.a.O., S.116. 64 Reichskanzler Georg Graf von Caprivi vor dem Reichstag am 27. Februar 1891. In: Ritter, a.a.O., S.102. 65 Ignaz Wrobel [d.i. Tucholsy], "Panizza”. In: Die Welt­ bühne 15 (1919) Nr.38 vom 11. September 1919, S.323. 66 Bierbaum, "Zürcher Discussionen". In: Die Zeit (1898) Nr.218 vom 3. Dezember 1898, S.157.

82

stammten"6 U. Panizzas Opposition war aber nicht primär ökonomisch begründet - wie er es für die Sozialdemokraten konstatierte sondern wurde provoziert durch die Be­ schränkung der Geistesfreiheit. Das beides wechselwirksam verbunden war und naturgemäß auch immer sein muß, war ihm sicherlich bewußt, veranlaßte ihn aber nicht zu weiterrei­ chenden Konsequenzen.

Aber die entscheidenden Ursachen für die Unmöglichkeit, mit der Sozialdemokratie zusammenzugehen, lagen in tieferen Schichten der Panizzaschen Weitsicht und auch begründet in dem damaligen kulturellen 'Zustand' der SPD. Was für alle unterprivilegierten, von Handarbeit lebenden Bevölkerungsgruppen mit erheblichem Bildungsdefizit immer gilt: Skepsis gegenüber Intellektuellen, die bis hin zur Feindseligkeit sich steigern kann, galt auch für die sozialdemokratische Partei zu Panizzas Zeit. Das wirkte sich insbesondere in moralischen Fragen aus, wo häufig eine kleinbürgerlich prüde Haltung zum Konsens erhoben und somit verbindlich wurde. Auf diese Weise ergab sich nicht selten die groteske Situation, daß in der Bewertung von Kunst und Literatur - die ja allzuoft "unmoralisch" sich gerierte Staat und oppositionelle Arbeiterschaft auf einer Linie standen67 68* . Einen ridikülen Höhepunkt erreichte die inner­ parteiliche Auseinandersetzung um die Kunst in der "Gothaer Literaturdebatte" von 1896, die den Charakter eines Tribu­ nals hinsichtlich der Frage, was Kunst sei und was sie dürfe, entwickelte. So empörten sich die Vertreter einer sittlichen Kunst gegen "'eine Art des Naturalismus, die im Schmutze watet, das sexuell Gemeinste, das psychiatrisch Kränkste schildert'"68. Man vermeint hier, Wilhelm II. als Festredner des Tages sprechen zu hören.

In dieser geistigen Atmosphäre hätte der universal gebil­ dete Gotteslästerer Panizza, der für Prostitution, Homo­ sexualität, Geisteskrankheit und andere diskriminierte Erscheinungen nicht nur verständnisvolles Interesse, son­ dern gar Sympathie bezeugte und sie auch vorrangig in seinem Werk thematisierte, keine Chance gehabt. Franz Mehring, der in seiner Analyse immerhin etwas scharfsinni­ ger vorging, indem er feststellte, daß der Naturalismus die bürgerliche Gesellschaft nicht kritisiere, um sie zu ver­ nichten, sondern um sie zu reinigen70, verfiel aber just in den von ihm selbst aufgezeigten Fehler, als er verkündete, daß das Proletariat "in der Kunst nicht Schmutz und Staub" sehen wolle, sondern "festlichen Kerzenglanz"71. Das Herausheben der Kunst aus dem Alltag in die Sphäre des Erhabenen aber hat genau die systemstützende Funktion und

67 Klaus Vondung (Hg.), Das wilhelminische Bildungsbürger­ tum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen. Göttingen 1976, S.28. 68 Vgl.: Schulz, a.a.O., S.lllf. 68 Pforte, a.a.O., S.185. 70 Ebd., S.191. 71 Zit. nach: ebd.

83

Wirkung, die den klassischen Epigonen und Kaisertreuen Heyse, Wildenbruch, Lauff u.a. vorgeworfen wurde. Diese grundsätzlichen Probleme, die auf autoritäre Restrik­ tionen hinsichtlich ästhetischer Fragen hinauszulaufen drohten, veranlaßten Otto Erich Hartleben schon 1893 in seiner Komödie "Hanna Jagert", einen die Sozialdemokratie ablehnenden Standpunkt zu beziehen, indem er die Titelge­ stalt die SPD verlassen ließ, "weil sie in ihr nur den Ersatz eines alten Zwanges durch einen neuen sah"72. Panizzas Kritik setzte ebenfalls an diesem Punkt an. Die Tendenz zur Reglementierung, zur Ordnung in gesellschaftli­ chen und geistigen Bereichen empfand er als Einengung, die ihm die gewünschte Gedankenfreiheit nicht ermöglichen konnte: "Für den deutschen Sistematiker, den Pedanten und Doktrinär, war die Sozialdemokratie [...] eine trefliche Gelegenheit zur Übung seines Verstandes, zur Erprobung seiner Gewißenhaftigkeit, zur Geltendma­ chung seines Organisazionstalents und seiner Vereins­ meierei . "7 3 Der unorthodoxe Schriftsteller verlor daher auch wohl zusehends die Sympathien seiner schweizer sozialdemokrati­ schen Freunde, so daß die Zürcher Parteipresse anläßlich seiner Ausweisung sogar öffentlich ihm ihre unmißverständ­ liche Aversion zeigte74. Brupbacher behauptete später, Panizza sei als "großer Antiklerikaler" eben auch deshalb "Feind der Sozialdemokratie" gewesen75. Grundsätzlich mußten die deutschen modernen, naturalistischen Schrift­ steller ein allgemeines Desinteresse oder gar Ablehnung in der SPD hinsichtlich ihres künstlerischen Anliegens zur Kenntnis nehmen, die einer bürgerlichen, der Kunst keine wirklich politische Relevanz einräumenden Haltung ent­ sprang. Kurt Martens beklagte in seiner Rückschau auf diese Zeit, daß "mehr als ein paar wohlwollende Redensarten [...] auch die Sozialdemokratie für die intellektuellen Arbeiter nicht übrig" hatte76. Die Literaten suchten daher eher eine andere Bindung als die an eine philiströse SPD; die "Gesellschaft für modernes Leben" in München war dafür ein Beispiel. So auch Panizza, der mit seinem Zürcher Diskus­ sionszirkel einen solchen Kreis Gleich- oder Ähnlichdenken­ der um sich scharen wollte, dabei aber durchaus Kontakt zu Sozialisten - die aber gleichfalls Intellektuelle waren herzustellen bemüht war.

Schulz, a.a.O., S.112. TB 61, S.237 (ca. Februar 1896). Vgl.: ZD 12, S.10. Fritz Brupbacher, 60 Jahre Ketzer. Selbstbiographie. Zü­ rich 1973, S.72. 76 Kurt Martens, Schonungslose Lebenschronik 1870-1900. München 1921, S.176. 72 73 74 75

84

Überhaupt distanzierten sich im Laufe der 1890er Jahre fast alle Naturalisten vom Sozialismus77, was auch wohl - mar­ xistisch gesprochen - in der unterschiedlichen Klassenlage der Künstler vorwiegend bürgerlicher oder großbürgerlicher Herkunft begründet lag. Auch hier ist Kurt Martens lakoni­ sche Bemerkung ebenso einfach wie vielsagend: "Da ich kein Handarbeiter, geschweige denn Proletarier war, so hatte es auch keinen Sinn für mich, Sozialdemokrat zu werden”78, obwohl auch er sich als Gegner der herrschenden Mächte begriff. Abgesehen vom abstoßenden 'Schweiß des Volkes' waren es aber auch der seinerzeit in Künstlerkreisen außerordentlich stark verbreitete Nietzscheanismus und der Individualanar­ chismus Max Stirners, die eine dauerhafte Solidarität zwischen Literaten und Sozialdemokraten unmöglich machten. So betonte Panizza unablässig die auserwählte Mission des Dichters, der als geistiger Aristokrat einen besonderen Zugang zu metaphysischen Sphären habe und sich kategorial vom rohen Massenmenschen unterscheide. Bei allem Verständ­ nis und intellektuellem Nachvollzug für Kampf und Ziele der Arbeiterbewegung hielt Panizza doch das ganze Programm für originär falsch. Die Forderungen des (Marx-Engelschen) "Kommunistischen Manifests", dessen Inhalte - so Panizza heute das Programm der SPD ausmachten, seien ohne Zweifel der "Ausdruk der höchsten menschlichen Vernunft", gegen die sich rational nichts einwenden lasse. "Aber, wann hätte jemals die Vernunft die Welt regiert? - Niemals!" Denn die Welt und daher jede Gesellschaft seien auf Unvernunft gegründet, seien nur ein Produkt der Instinkte und könnten es auch nur sein79.

Wer ein solches deterministisches, jeden rationalen und moralischen Fortschritt leugnendes Weltbild vertritt, kann natürlich nicht Parteigänger einer politischen Bewegung werden, bei der die progressive Geschichtsauffassung ein Axiom ist. Im Gegensatz zum Sozialismus, der als Doktrin in der Idee verharre und sich nicht realisieren lasse, defi­ nierte Panizza seinen Anarchismus nicht als Denksystem, nicht als "Plan zur Weltordnung"80, sondern als indivi­ duelle Haltung, als Korrektiv zum staatlichen Herrschafts­ anspruch, als Ventil gegen die politische "Hochdrukspannung"81. Es standen sich demnach zwei ideologisch nicht synthetisierbare Positionen gegenüber, wenngleich sie zahl­ reiche Berührungspunkte gemein hatten. Panizzas Position war in dieser Frage paradigmatisch für die Naturalisten, die aus einer bürgerlich-liberalen und revolutionären Hal­ tung heraus opponierten und die im Gegensatz zum mar­ xistisch-materialistischen Weltbild der Arbeiter- und so­ zialdemokratischen Bewegung stand.

77 78 79 80 81

Scheuer, a.a.O., S.156. Martens, a.a.O., S.175. TB 63, S.124 (Ende August 1897). TB 61, S.237 (ca. Februar 1896). Ebd., S.238.

85

2.4.2. Anarchismus, Stirner-Apologetik und Isolation Grundsätzlich läßt sich feststellen, daß Panizzas Sympathie für die politisch fortschrittlichen Kräfte kontinuierlich wuchs, da er zahlreiche Affinitäten in seiner radikal­ kritischen Bewertung gesellschaftlicher Probleme mit ihnen ausmachen konnte. Aber ihn interessierten weniger die Möglichkeiten politischen Handelns innerhalb der legalen oder halblegalen und parteipolitischen Spielräume, sondern weit eher die Frage nach der revolutionären, gewaltsamen Änderung der bestehenden Verhältnisse, allerdings ohne ein programmatisches Konzept. In einem ebenso amüsanten wie brutalen Vers der "Parisjana" ließ er hinsichtlich der Mittel keine Zweifel offen:

"Pak Deinen Feind nur flott beim Kragen, und reiß' ihm dann die Hoden aus!" (S.109) Bis zu den Jahren 1893/94 äußerte Panizza sich in seinem Werk und in privaten Aufzeichnungen nur vereinzelt zu politischen Fragen82; erst in der Folgezeit verstärkte sich sein Engagement und fand schließlich seinen besonderen Ausdruck in der Bejahung des Anarchismus'. Schon 1894 bezeichnete er die Modernen als Anarchisten83, und kurze Zeit später definierte er diesen Begriff als "gesteigerte‘[n], potenzierte[n] Idealismus"84. Entgegen den harmonistischen Appellen einer in Gott, Kaiser und Vaterland geeinten (sprich: unterdrückten) Nation empfahl Panizza ein anarchistisches Mittel: "Einigung ist Fürstengewalt, ist Tirannenherrschaft. Zwietracht ist Volksgewalt, ist Freiheit."8 5*

Panizza selbst fühlte sich vom deutschen "Militärstaat"88 bedroht, in dem jemandem, der "einen freien Gedanken aus­ spricht, [...] nur drei Wege (bleiben): Irrenhaus, Gefäng­ nis oder die Flucht."87 Zusehends bemächtigten sich seiner "Gedanken des Umsturzes"88; es waren "das ganze Elend unserer deutschen Misere, die Kasernen-Manieren [...], der Zuchthaus-Ton", die ihn in seine "zornige Stimmung geraten" ließen89. Schon in den "Dialogen im Geiste Hutten's" findet sich eine außerordentlich bemerkenswerte Stelle, die in fast prophetischer Sicht die zwanzig Jahre später aus­ brechende russische Revolution vorhersagt: im Gegesatz zu den Deutschen, die viel denken, aber wenig handeln, werde Rußland "eines Tages fürchterlich hervorbrechen, und das

« 2

Z.B. in: Teutscher Michel (1894), S.201 Anm.l, zur mili­ tärischen Rüstung des Reiches. Panizza, "Münchner Brief (Januar 1894), S.98. Panizza, Illusionismus (1895), S.60. Panizza, Dialoge im Geiste Hutten's (1897), S.25. Panizza, Die Haberfeldtreiben ... (1897), S.70. Panizza, Dialoge im Geiste Hutten's (1897), S.19. Panizza, Psichopatia criminalis (1898), S.2. Panizza, ZD 18/19, S.8.

86

Volk der Bakunine und Dostojewski 's wird sich seine Frei­ heit erköpfen.”90 Die "Parisjana" durchzieht wie ein Orientierungsfaden der Ruf nach dem Umsturz91 . In Reminiszenz an die Französische Revolution zitiert Panizza einzelne Sentenzen der Marseil­ laise. Er fragt: "Wann wird's in Deutschland krachen?" und tröstet sich und seine Landsleute mit der Hoffnung auf die Erfüllung der Freiheitssehnsucht:

>

"Doch bald Ihr Freunde, bald Ihr Lieben, hört Ihr der Marseillaise Schall. * Vorwärts Ihr Kinder von der Gaße, Allons enfants de la patriel-"92

Panizzas Freund Gustav Morgenstern sah als Ursachen für dessen Entwicklung zum revolutionären Gesellschaftskritiker die Verurteilung von 1895 und die Ausweisung aus der Schweiz an. Der Sozialdemokrat charakterisierte die "Paris­ jana" als ein Gemisch von Schwung und Plattheit, elender Ungeschicklichkeit und schmutziger Seichtigkeit: "Zur revolutionären Größe reichts an allen Ecken und Enden nicht aus. Das bayerische Schwurgericht und die Schweizer Polizei haben was schönes angerichtet, daß sie den Man in ein Lager hinübergejagt haben, wo er nichts zu suchen hat."93

Panizza erlag zweifelsohne und völlig dem modischen Individual-Anarchismus seiner Zeit. Mit der Wiederentdeckung Max Stirners, die insbesondere durch John-Henry Mackays Roman "Die Anarchisten" (1891) vorangetrieben wurde, entwickelte sich eine außerordentlich breite Rezeption vor allem in Künstlerkreisen, die durch den Neudruck des 1844 zuerst erschienenen Hauptwerkes des Philosophen "Der Einzige und sein Eigentum" im Jahre 1893 einen ersten Höhepunkt erlebte. Panizza, der seine philosophische Schrift "Der Illusionismus und Die Rettung der Persönlichkeit" (1895) Stirner widmete, wurde rasch zum Apologeten dieser solipsi­ stischen Weltanschauung, die das Individuum zum einzig Realen erhob und die den Wert eines Gegenstandes aus­ schließlich nach dem Nutzen für das Ich beurteilte. Galt der Staat dem Schriftsteller Panizza nur als Prinzip der reinen Zweckerfüllung, der daher auch keinen moralischen Anspruch erheben könne (zumal er immer "auf der Basis

90 Panizza, Dialoge im Geiste Huttens's (1897), S.24. 91 Conrad qualifizierte den Gedichtband als einen das ge­ samte anarchistische und sozialistische Schrifttum über­ treffenden Text. In: "Panizzas Parisiana". In: Die Ge­ sellschaft 16 (1900) H.5 vom März 1900, S.273. 92 Panizza, Parisjana (1899), S.59 bzw.92; vgl. auch: S.7, 36f, 88. 93 Morgenstern an Croissant-Rust vom 25. Januar 1900, S. (2). L, Nachl. Croissant-Rust.

87

unvermeidlicher Gaunerei"94 stehe), so hat der Staat nach Stirners Auffassung ebenfalls nur den Zweck, "den Einzelnen zu beschränken, zu bändigen, zu subordinieren"95. Panizza räumte dem Einzelnen das prinzipielle Recht zur gewaltsamen Befreiung aus den ihn fesselnden gesellschaftlichen/staatlichen Zwängen ein. Im Anarchismus, den er einen "umge­ kehrte [n] Macchiavellismus" nannte, sei dem Individuum alles erlaubt, "was zum Sturze der Herschaft führen kann."96 Die Maxime lautete: Recht ist, was dir nützt (bei Macchiavelli hieß es hingegen: Recht ist, was dem Staate nützt). Zu der Zeit, als Panizza diese Zeilen nieder­ schrieb, war er gerade in der Lektüre jenes Stirnerschen Hauptwerkes vertieft9798 , wo er die gleichen Grundsätze fand. Auch Stirner wußte, daß man "mit einer Hand voll Gewalt" weiter kommt, als "mit einem Sack voll Recht"99; die Legitimation für ihre Anwendung ergebe sich dabei aus ihrer bloßen Faktizität: "Deine Gewalt, deine Macht gibt Dir das Recht"99.';- • “■* Panizza bezeichnete sich selbst konsequenterweise als Anar­ chisten:

"Ich vertrete als Künstler und Denker das Prinzip, daß es in der menschlichen Natur Impulse gibt, die gegenüber den sozialen und staatenbildenden Fähigkei­ ten, die man als Heerden-Instinkte bezeichnen mag, die [...] das Wesen des Menschen eigentlich begrün­ denden sind, und daß ihr Hervorbrechen in Form von individualistischer Gewalt, Verschwörung, Umsturz, Mord dann nötig erscheint und von selbst ausgelöst wird, wenn die sozjal-organisatorischen sich abgenuzt haben"10 0.

Der Anarchismus ist demnach ein zur Sicherung des Fort­ schritts notwendiges Zerstörungsprinzip, eine "immanente Negazjon”, wobei Panizza das Wesen der Natur (und damit des Menschen) in dem in ihr beschlossenen, inhärenten Entwick­ lungsmoment erblickte. Dieses Axiom definiert die Natur als "Zerstörerin zum Fortschritt", und zwar ganz wörtlich gemeint auch in der Vernichtung von Menschen und Kulturgü­ tern. Unter diesem Aspekt habe beispielsweise auch die Verbrennung der Alexandrinischen Bibliothek ihr Gutes ge­ habt101 . Panizza blieb aber sehr ungenau und allgemein, wo es um die die Frage nach dem Telos, nach der konkreten Bestimmung des Begriffs "Fortschritt" ging, den er summa­ risch als "Werden" und "Aufbau" bezeichnete. Zwar zog er denkmethodische Parallelen zu Schelling und Hegel, indes 'Fortschritt1 im klassisch-idealistischen Sinne einer Ent­ 94 95 96 97 98 99 100 101

TB 61, S.212 (ca. Anfang Januar 1896). Stirner, a.a.O., S.249. TB 61, S.238 (ca. Februar 1896). TB 61, S 82ff (Lektüre und Exzerpte). Stirner, a.a.O., S.184. Ebd., S.206. TB 65, S.2f (29. August 1899). TB 66, S.lOOff (1. August 1900).

88

Wicklung der Vernunft meinte er allerdings nicht. Er blieb in der Rolle des Verneiners auch theoretisch stecken. Er definierte seine Position nicht aus der Sicht eines utopi­ schen Gesellschaftsideals, von einer "Teorie über die Art des Völkerlebens" her, sondern aus der Bestandsaufnahme der von ihm so gesehenen realen Welt des "bellum omnium contra omnes". Er verfuhr also grundsätzlich immanent, das fak­ tisch Gegebene zunächst anerkennend, indem er aus dieser Anerkenntnis heraus seine Rolle als Verneiner, als Vetreter des ”Prinzipis] der Negazjon"102 gewann. Panizzas Auffassung von der Vernunft, seine Charakteristik des Volkes, seine Sicht von der Natur des Menschen: diese Aussagen bezeichnen bei aller oppositionellen Schärfe eine in ihren Konsequenzen restaurative, ja reaktionäre Posi­ tion. Die nach Blut dürstende Masse, für die die größte, "koloßalste Lüge" genau das richtige wäre: das sind nicht nur Beschreibungen der eigenen Erfahrung mit dem "Volke", sondern auch das Ergebnis theoretischer Überlegungen. Panizzas Welt war geleitet von Instinkten, das Leben schlechthin sei Instinkt und daher jede die Ratio einbezie­ hende Ideologie oder politische Utopie sui generis falsch. Er ging sogar noch darüber hinaus, indem er die Vernunft als Gefahr für die Existenz bezeichnete, sie zerstöre die Basis des Daseins, nämlich die instinktiven Impulse103. Es war eine Weltanschauung bar jeder moralischen Utopie und daher in ihrem Kern bürgerlich: die Welt galt als Tummel­ platz egoistischer Interessen, in der Gesinnungen, Ideale und daraus resultierende Ideologien, wenn überhaupt, dann nur eine bedrohliche Rolle spielten. Kein Freiheitsgedanke im Sinne einer Entwicklung der menschlichen Individuen hinsichtlich persönlicher Autonomie wurde anerkannt, das Leben war nur Kampf. Mit dieser darwinistischen Position befand sich Panizza obzwar seine Intentionen andere waren - in der Nähe reak­ tionären Denkens seines Jahrhunderts, dessen starre Klas­ senvorstellung sich u.a. dadurch begründete, daß der Mensch der Masse zur vernünftigen Regelung der Gesellschaft auf­ grund seiner natürlichen Beschaffenheit nicht fähig sei. Ebenso wie bei Panizza die "Natur des Menschen" eine bestimmte anthropologische Sicht des Kampfes, der Amorali­ tät, des Instinktiven meinte, so war auch diese Sichtweise ein entscheidender Bestandteil der Gegenrevolution im frühen 19. Jahrhundert. Herbert Marcuse beschreibt sie folgendermaßen:

"Es ist ein von Haß und Verachtung, aber auch von Weltklugheit und Macht gezeichnetes Bild des Men­ schen: der [...] Mensch als ein böses, feiges, plumpes, halbblindes Tier, das, auf sich selbst ge­ stellt, nur Schmutz und Unordnung zustande bringt, das im Grunde nur beherrscht und geleitet sein will

102 Ebd. , S.101 (Februar 1899). 103 TB 64, S.242ff (8. Juli 1899).

89

und für das totale Abhängigkeit schließlich noch'das Beste ist."104

Die Parallelen zu Panizzas Weitsicht und die daraus folgen­ den politischen Konsequenzen sind nur allzu deutlich. Nutzte die politisch-ökonomische Macht die Entwertung der Ratio zur Begründung weltlicher Autoritäten (nachdem die geistlichen zerstört waren), so nutzte sie der Künstler und Ausnahmemensch Panizza zur Legitimierung des eigenen An­ spruchs auf Auserwähltheit. Es sei hier auch der kurze Hin­ weis erlaubt, daß es deshalb sicherlich kein Zufall oder eine geistige Vergewaltigung war, wenn sich die Nazis des Autoren annahmen: Er erfuhr keine generelle Umfunktionie­ rung, sondern bot sich ihnen in mancher Hinsicht an. Panizza begriff die Spezies 'Mensch' und deren Einzelexem­ plare als gesetzte, sich nicht entwickelnde Wesen. Der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Kampfes aller gegen alle entnahm er seine Wesensbestimmung des Menschen. Wie Marx schon bei Stirner kritisierte, setzte auch Panizza Wesen und jeweils gegenwärtige Existenz des Menschen gleich. Es war der Fehler, den Marx der Nationalökonomie attestierte, daß sie nämlich "eine bestimmte geschichtliche Faktizität in die starre und 'ewige' Gesetzmäßigkeit angeb­ licher 'Wesensverhalte'" umdeute105. Anstatt die Pervertie­ rung des menschlichen Wesens in der gegenwärtigen Realität kritisch zu untersuchen, verinnerlichte Panizza die Prinzi­ pien der ökonomisch-gesellschaftlichen Ordnung seiner Zeit. Panizza blieb also grundsätzlich den geistigen Kategorien seiner Klasse verhaftet. Wenngleich er deren Maximen konse­ quent zu Ende dachte, die brutalen Mechanismen kapitalisti­ scher Ideologie - deren pathetisch-moralisierendes Feigen­ blatt er zerriß -, nämlich das Unterwerfen des gesell­ schaftlichen Lebens unter das Wettbewerbs- und Konkurrenz­ prinzip, erkannte und beklagte, so gelang es ihm dennoch nicht, sich von diesem Denken zu lösen. Im Gegenteil über­ nahm der es in einer jeder Einschränkung baren Intensität: Schlage Deinem Feind den Schädel ein!106 Dies ist in der Tat die letzte Konsequenz aus Stirners Philosophie, deren kategorischer Imperativ lauten könnte: "Werdet Tiere!"107. Bei Panizza hieß dieser Satz: "Friß, Raube, sei glüklich.”108

Es ist bekannt, daß Panizza nicht glücklich wurde; er scheiterte vielmehr auch an seiner individual-anarchisti­ schen Position, weil ein solcher Anarchismus nicht lebbar 104 Herbert Marcuse, Studie über Autorität und Familie. In: Ders., Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesell­ schaft. Frankfurt/M. 1978, S.116.105 Marcuse, Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus. In: Ders., a.a.O., S.33. 106 TB 63, S.19 (17. oder 18. März 1897). Von ihm "Lebens­ regel" genannt. 107 Ahlrich Meyer, Nachwort. In: Stirner, a.a.O., S.449. 108 TB 62, S.204 (23. Oktober 1896).

90

ist. Panizza gelang es niemals, seine eigene Ideologie psychisch zu verkraften, es finden sich häufig genug Äuße­ rungen - parallel zu darwinistischen Bekenntnissen -, in denen er sich bitter enttäuscht, ja zutiefst verletzt von seinen Mitmenschen zeigt, wobei dann manchmal auch ein ideales (Wunsch-) Bild menschlichen Umgangs durchschimmert. Nach der Vermögensbeschlagnahme schrieb er seinem Kollegen Ostermaier tief betroffen, daß die Polizei als frivole Institution jede Ethik (!) zerstöre:

"Familje, Freundschaft, Liebe jeder Art, ruhen auf etischer Basis und haben nichts mit fisischen Macht­ mitteln zu tun"109.

In den entscheidenden Momenten, nämlich denen der extremen seelischen Belastung, versagte seine Philosophie, konnte ihm nicht den Halt geben, den er erwartete. Seine letzten Lebensjahre in Freiheit waren wie ein einziger Schrei des Protests gegen die Gewalt des Staates, des Kaisers, gegen die Repressalien seiner Familie, die Mißachtung seiner Kollegen. Sein Protest schloß aber gleichzeitig die Aner­ kenntnis der ihn bedrohenden Gewalten ein. Diese Ambivalenz muß ihm in gewissen Situationen klar geworden sein, zumin­ dest erahnte er sie. Beleg dafür ist die Identifikation seines Pseudonyms "Andrée" mit Wilhelm II. Die Rollen des Täters und des Opfers wurden hier austauschbar, auch Wilhelm war ja nur - wie offenbar alle Menschen - das Opfer seiner Triebnatur. Ein solches Weltbild, das einerseits in sich widersprüchlich und daher brüchig, andererseits anzie­ hend einfach ist und scheinbar durch zahllose Einzelereig­ nisse alltäglicher Erfahrung bestätigt wird, muß einen unter seinen Lebensverhältnissen leidenden Menschen zur Verzweiflung treiben. Bestimmten tatsächlich nur die rohen Instinkte die menschlichen Beziehungen, ja, bedrohten Ver­ nunft und rationales Handeln gar das Gleichgewicht des Daseins, so müßte der diese vermeintlichen Lebensgesetze erkennende Panizza in der Lage gewesen sein, sich zu seinem Vorteil zu verhalten. Aber ganz offensichtlich existieren auch moralische, durch rationales Erkennen kultivierbare Impulse, die für die Zufriedenheit eines Individuums von entscheidender Bedeutung sind. Der sonst so scharfsinnige Panizza war in dieser Frage bemerkenswert undifferenziert. Denn die Grundlage seines Schaffens, die seines Selbstge­ fühls überhaupt, war das Beklagen und Anklagen der von ihm als negativ bewerteten Phänomene. Er stellte nicht fest, er berichtete nicht, sondern er klagte an und nannte immer auch gleich den Schuldigen. Anklage und Schuld aber sind moralische Begriffe, die sich aus der Bestandsaufnahme dessen ergeben, was eigentlich so nicht sein dürfte, wie es ist. Wer aber weiß, was nicht sein darf, der muß auch wissen, was dagegen steht. Denn die Anklage impliziert die Möglichkeit wirklichen moralischen Handelns. Vor dieser Konsequenz wich Panizza sein Leben lang aus, nämlich vor der Formulierung einer Utopie. Das hätte Bindung bedeutet. 109 Panizza an Ostermaier II, StAnw. 7122.

vom

19. Oktober 1900, S. (2) .

M

91

- und die wollte er nicht. Es war wohl nicht nur Bequem­ lichkeit, die ihn hier versagen ließ, sondern auch die Illusion, eine Existenz der gleichsam "freischwebenden Intelligenz", des Beobachters führen zu können. Als er erkannte, daß ihm das nicht möglich war (dafür war er persönlich zu betroffen), als er der Kunst eine politische Funktion einzuräumen begann, gelang es ihm jedoch nicht, diese Erkenntnis auch auf seine philosophische Position anzuwenden, sie kritisch zu überprüfen. Panizzas Schaffensgrundlage war eine moralische und eben nicht nur eine instinktive. Seine Kritik suchte auch nach dem Allgemeinen, d.h. nach einer übergeordneten, die Interessen des Individuums transzendierenden Ebene, obwohl sie sicherlich von der Basis persönlicher Befindlichkeit ausging. Sein Stirnerscher Anarchismus war nur eine gewünschte Position, die der moralische Dichter Oskar Panizza nicht durchhalten konnte, der aber dennoch - zu seinem Schaden - an ihr festhielt. Die Stirnerschen Postulate konnten nicht einlösen, was sie Panizza zu versprechen schienen: weder von Lust noch von Glück war sein späteres Leben gekennzeichnet. Panizza wurde auch ein Opfer dieser selbstzerstörerischen Philosophie.

93

III. PERSÖNLICHE SITUATION PAWIZZAS, ENTSTEHUNG, PRODUKTION UND VERTRIEB DER "ZÜRCHER DISSKUSSJONEN" 3.1. PERSÖNLICHE SITUATION PANIZZAS 1895-1905 3.1.1. Zur Biographie 1895-1905 Die folgenden Ausführungen sollen es ermöglichen, ein eben­ so detailliertes wie vielschichtiges Bild des Lebens Oskar Panizzas im genannten Zeitraum zu entwerfen. Sie zeigen die biographische Situation, aus der heraus der Schriftsteller nach seiner Haft in den Exilorten Zürich und Paris weiter­ hin literarisch arbeitete. Dieser Lebensausschnitt ist natürlich in den Kontext der gesamten Biographie Panizzas einzuordnen; daher sei hier auf Michael Bauers ausführ­ liches "literarisches Porträt" verwiesen1 .

Mit der Herausgabe des "Liebeskonzils" wurde ein Prozeß in Gang gesetzt, der Panizza Veränderungen seiner Lebenssitua­ tion von außerordentlicher Tragweite aufzwang. Für die biographische, literarische, thematische und publizistische' Einordnung der "Zürcher Diskußjonen" muß daher dieses Datum als markanter Einschnitt gewertet werden, dessen Folgen in ursächlichem Zusammenhang mit Panizzas weiterer künstleri­ scher und psychischer Entwicklung standen. Im Oktober 1894 erschien bei Schabelitz in Zürich das im Frühjahr des Vorjahres verfaßte "Liebeskonzil"2, von dem der Autor selbst sofort 300 Exemplare erhielt und die er unverzüglich weiterversandte, damit sie die Polizei bei ihm nicht finden konnte3. Nachdem in München die Staatsanwalt­ schaft auf das Werk aufmerksam geworden war, eröffnete sie am 8. Januar 1895 die Voruntersuchung gegen den Verfasser und beschloß gleichzeitig die Beschlagnahme des Buches we­ gen Religionsvergehens4. Panizza wußte sehr genau, was er von der so herausgeforderten Staatsgewalt zu erwarten hatte. Bereits Mitte Februar schrieb er Max Halbe, daß er mit einjähriger Gefängnisstrafe und sofortiger Verhaftung rechne5. Aber er sei es seinem künstlerischen Gewissen schuldig, nicht zu fliehen, zumal er auch nichts zu bereuen habe: "Hier size ich, ich kann nicht anders"6 . Nach einem Jahr Gefängnis beurteilte er die Dinge jedoch erheblich nüchterner, obzwar er zur selben Schlußfolgerung gelangte: 1

2

3 4 5 6

Um einen knappen Überblick zu ermöglichen, ist der vor­ liegenden Untersuchung eine biographische Skizze im Anhang beigefügt. S.(2 Verhör mit Dr. Oskar Panizza vom 12. Januar 1895, u.3). M II, StAnw. 7120. Panizza an Schabelitz vom 18. November 1894, S.(1). B II. Bauer, a.a.O., S.151. Panizza an Halbe vom 15. Februar 1895. M I, Nachl. Halbe. Panizza an Croissant-Rust vom 17. Juli 1896, S.(2). L, Nachl. Croissant-Rust.'

94

"Jezt sehe ich es immer mehr ein: Es war Dummheit, nicht vor Beginn des oberbairischen Schwurgerichts fortgegangen zu sein [...]. Das nächste mal werde ich nicht klüger handeln. In gewißen Momenten entscheidet eben unser Blut, und nicht unser Verstand und unsere Klugheit."7

Nachdem der Staatsanwalt Freiherr von Sartor in aller Eile nach einem Kläger gesucht hatte, der sich durch das Werk in seinem religiösen Empfinden verletzt fühlte, gelang es ihm schließlich, zwei Leipziger Polizeibeamte in diesem Sinne instruieren zu lassen. Die sittliche Empörung der beiden war nämlich ganz offensichtlich eine angeordnete, unter­ zeichnete doch der Folizeirat Müller seinen Brief an die Staatsanwaltschaft München mit dem Zusatz "i.A."8* . In der am 30. April folgenden nichtöffentlichen Schwurgerichtsver­ handlung wurde Panizza unmittelbar nach der Urteilsverkün­ dung in Haft genommen’ und in die Münchner Fronfeste am Anger eingeliefert; er sollte dort bleiben, bis das Leipzi­ ger Reichsgericht über die Revision und damit endgültig entschied10. Panizza, der sich noch am Tage vor der Verhandlung unbeeindruckt gab und in Halbes "Intimem Theater" abends soufflierte11, wurde nach Hinterlegung einer Kaution in Höhe von 80000 Mark durch seine Mutter vom Staatsanwalt persönlich am 20. Mai vorübergehend aus der Haft entlassen12. Einige Tage später nahm er wiederum an einer Aufführung des "Intimen Theaters" teil, außerdem besuchte er einen Kongreß des Deutschen FreidenkerBundes1 3 .

Am 8. August mußte Panizza nach dem endgültigen ablehnenden Revisionsbescheid des Reichsgerichts seine einjährige Ge­ fängnishaft in Amberg antreten. Er konnte sich dort geistig ungehindert bewegen, wurde aber mit Publikationsverbot belegt, weshalb er sich bei seinen Veröffentlichungen innerhalb dieses Zeitraums verschiedener Pseudonyme bediente14* . Noch während seiner Haft, am 11. Oktober 1895, wurde sein Einakter "Ein guter Kerl" in Leipzig (ohne ihn) uraufgeführt13, gedruckt erschien das Werk erst im folgen­ den Jahr.

7 Panizza an Grote vom Oktober 1896, S.(l). M I, Panizza III/2. 8 Bauer, a.a.O., S.154. ’ Protokoll der Schwurgerichtssitzung vom 30. April 1895, S.ll. M II, StAnw. 7199. 10 Bauer, a.a.O., S.185. 11 Panizza an Croissant-Rust vom 17. Juli 1896, S.(2). L, Nachl. Croissant-Rust. 12 Panizza an Conrad vom 22. Mai 1895. M I, Panizza 1/6. 13 Bauer, a.a.O., S.146f. 14 Panizza an Merian vom 30. Januar 1895 [1896!]. M IV, Pa­ nizza Cod. germ. 6793/16. Bei der Datierung des Briefes versah sich Panizza in der Jahreszahl. 13 Bauer, a.a.O., S.78, Anm.118.

95

Panizza verfaßte umfangreiche Aufzeichnungen über seine Eindrücke, Erfahrungen und Stimmungen in der Haft, die er später unter dem Titel "Ein Jahr Gefängnis - Mein Tagebuch aus Amberg" veröffentlichen wollte. Diese teilweise nur fragmentarisch erhaltenen Texte zeigen "eine deutliche Po­ litisierung des Gefangenen", die sich "insbesondere am bayerischen Strafvollzug" entzündete und geben zu erkennen, daß die "Isolation [...] aus dem geselligen Bohemien der frühen neunziger Jahre einen verschlossenen, menschen­ scheuen und mißtrauischen Mann" hatte werden lassen16.

Zwar schrieb er in Briefen an Freunde gelegentlich davon, er befände sich recht wohl17, vermerkte auch in seinem Ta­ gebuch, daß er nach fast zwölf Monaten Gefängnis das Gefühl hätte, erst 1/4 Jahr dort zu sein18, in Wahrheit aber hoffte er stets, daß seine Eingaben um Haftverkürzung be­ willigt würden: "Ich warte hier - ein paar Monate hinauf oder hinunter - auf Begnadigung"19 . Seine selbst vom An­ staltsleiter mit besten Empfehlungen versehenen Gnadengesu­ che20 wurden trotz tadelloser Führung abgelehnt, was selbst Mathilde Panizza als Unrecht empfand und wofür sie politi­ sche Motive vermutete: "Er mußte für seine Freunde 'die Modernen' mitbüßen"21. Es sollte offenbar ein Präzedenzfall geschaffen werden, der den oppositionellen Literaten die unnachgiebige Härte des Staates vor Augen führte, um somit abschreckende Wirkung zu erzielen. Aber über dieses Motiv hinaus mochten auch direkt auf den Delinquenten bezogene Ursachen die starre Haltung seiner Richter provoziert haben. Zum einen, so wußte es Panizza selbst, wollte man ihm, "diesem Hund", "keine Minute nachgeben", weil er "unsere Götter in den Staub gestoßen" hatte22; zum anderen wirkte sich vermutlich auch die Veröffentlichung seiner Verteidigungsrede vor Gericht (noch im Jahre 1895) ungün­ stig auf seine Situation aus. Denn darin stellte Panizza dem intellektuellen Publikum - unterstützt vom Gutachten M.G. Conrads - die Problematik und eigentliche Unmöglich­ keit dar, über Kunstwerke vor Gericht zu verhandeln, womit er gleichzeitig Richtern und Staatsanwälten Autorität und Kompetenz in diesen Fragen absprach. Exakt nach einem Jahr,

16 Ebd., S.189 u.l91f. 17 Panizza an Merian vom 30. Januar 1895 [1896!]. M IV, Pa­ nizza Cod. germ. 6793/16. 18 TB 62, S.87 (30. Juni 1896). 19 TB 61, S.178 (21. Dezember 1895); und: Panizza an Conrad vom 11. Juni 1899, S. (2) . M I, Panizza III/4; Panizza an Croissant-Rust vom 23. Juni 1896, S. (1) . L, Nachl. Croissant-Rust. 20 Bauer, a.a.O., S.190. 21 Notizen aus den "Memoiren" von Frau Mathilde Panizza geb. Speeth über den Lebenslauf ihres Sohnes des Schriftstellers Dr. Oskar Panizza (im folgenden: Notizen Memoiren Math. Panizza), S.19. M I, Mathilde Panizza/ III. 22 Panizza an Croissant-Rust vom 23. Juni 1896, S.(1). L, Nachl. Croissant-Rust.

96

am 8. August 1896, entließ man Oskar Panizza aus der Amber­ ger Strafanstalt; zwei Tage später war er in München23. Zürich. Erste Überlegungen, nach Zürich zu gehen, beschäftigten Panizza bereits während seiner Haft. Im August 1895 fiel ihm ein Zeitungsinserat auf, in dem eine Zürcher Villa zum Verkauf angeboten wurde24; sieben Wochen vor seiner Entlas­ sung plante er, zwecks Wohnungssuche dorthin zu fahren25. Die "definitive Entscheidung hinsichtlich Übersiedlung nach Zürich" fiel jedoch erst "in Folge Unterredung mit Scharf" am Samstag, dem 22. August 189626. Möglicherweise zog Panizza auch damals schon Paris als Flucht- und Wohnort in Erwägung, da sich in seinem Tagebuch ein Eintrag vom ca. Juni d.J., "Vorwort zu einem Buch von Paris aus", findet27.

'Die Gründe .für seine Emigration und für die Wahl des neuen Wohnortes waren vielschichtig. Zunächst war es für Panizza ein unbedingtes Bedürfnis, sich an denen zu rächen, deren jDummheit, Borniertheit, deren "Mezger-Mentalität" und Bi­ gotterie jede geistige Bewegung ersticke und jeden geistig Tätigen für verrückt erkläre und/oder kriminalisiere: an den Münchnern. In seinem Ende 1896 erschienenen, noch während der Haft verfaßten28 Pamphlet "Abschied von Mün­ chen. Ein Handschlag" schleuderte er seinen Mitbürgern Schmähungen in schärfster Tonlage entgegen; das Werk wurde sofort verboten und beschlagnahmt und gegen den Autor eine steckbriefliche Fahndung eingeleitet28. Seiner Freundin Anna Croissant-Rust gegenüber rechtfertigte Panizza seine Streitschrift: "Wenn Sie in meiner Seele lesen könten, und die Motive kanten, die mich in den lezten Tagen in Mün­ chen herumtrieben, dann wüßten sie: daß es die ein­ zige Metode war, auf der ich zum Ziel kommen konte; [...]; die einzige Violin-Saite, auf der ich meine Rache-Arie vorheulen konte — [...] Denken Sie sich nur in meine Lage! Soll ich das Gefängnis verlaßen und stumm wie ein Hund bleiben, mit eingezogenem Schwanz mich in's Ausland drüken [...]?"3° Um Rache zu üben, aber doch vor Strafverfolgung sicher zu sein, mußte Panizza demnach vor dem Erscheinen seiner 23 TB 62, S.175. 2 4 L, Panizza an Croissant-Rust vom 17. Juli 1896, S. (2) Nachl. Croissant-Rust. 3 9 L, Panizza an Croissant-Rust vom 23. Juni 1896, S. (2) Nachl. Croissant-Rust. 2 6 TB 62, S.183. 2 7 Ebd., S.73. z e Bauer, a.a.O., S.191. i 9 Panizza, Selbstbiographie. A.a.O., S.15. 30 Panizza an Croissant-Rust vom 29. Januar 1897, S.(l) und (3). L, Nachl. Croissant-Rust.

97

Schrift das Deutsche Reich verlassen. Es war also nicht nur die Furcht vor der "Unsicherheit und Vorsicht [...], mit der man ihm als Ex-Häftling möglicherweise begegnen könnte"31, sondern darüber hinaus auch der Versuch, sich literarisch publikumswirksam in Szene zu setzen, jetzt wie­ der alles so schreiben zu können, wie er es wünschte: "Indem ich nach Abbüßung meiner Strafe in's Ausland ging, und das freie und radikale Zürich wählte, wußte Jedermann: aha, der Kerl wird zu krakehlen anfangen. Und diesen Eindruk wolte ich wirklich hervorrufen"32.

Er zog Zürich dabei auch deshalb Paris vor, weil ihm seine Familie im anderen Falle eventuell Schwierigkeiten gemacht hätte, da man diese Stadt mit Amüsement gleichsetzte: "Indem ich also nach Zürich ging, stieg ich bedeutend in der Skala des Anstandes"33. Vor allem aber hoffte er, in der Schweiz "frei empfinden" und sich "literarisch gehen laßen" zu können34. Nachdem er am 14. Oktober Abschied von seiner Mutter genom­ men hatte30, verließ er zwei Tage später München mit dem Reiseziel Zürich36, zehn Tage später wurde er auf eigenen Antrag aus dem bayerischen Staatsverband entlassen37. Zunächst wollte er sich dort erst einmal für ein Jahr auf­ halten36, später schrieb er sogar, daß er von Beginn seiner Emigration an darüber gegrübelt habe, wie er "es anfangen müße, fortzukommen"36. Verbindungen nach Zürich hatte Panizza bereits seit 1892 über Schabelitz, der ihm dann auch bei der Übersiedlung helfen sollte: "Habe an Schabe­ litz geschrieben, mir eine Südwohnung [...] zu suchen"; Panizza dachte da an ein ruhiges "Landsitzchen"4° . Er bezog schließlich eine Wohnung in Zürich-Unterstraß, Turnerstraße 32, die ganz seinen Wünschen entsprach41. Bei allem Drang, 3 1 3 Z

3 3

3 9

< 0

« 1

Bauer, a.a.O., S.191. Panizza an Croissant-Rust vom 27. Februar 1899, S.(2) L, Nachl. Croissant-Rust. Ebd., S.(3) . Panizza an Grote vom Oktober 1896, S. (2). M I, Panizza III/2. Notizen Memoiren Math. Panizza, S.20. M I, Mathilde Pa­ nizza/III. TB 62, S.204. Gutachten Ungemach vom 25. August 1901, S. (1) . M ll StAnw. 7122. Panizza an Croissant-Rust vom 17. Juli 1896, S.(2). L, Nachl. Croissant-Rust. Panizza an Croissant-Rust vom 27. Februar 1899, S.(2). Li, Nachl. Croissant-Rust, Dementgegen behauptete er in seiner Selbstbiographie (a.a.O., S.15), er sei in die Schweiz gegangen, um dort nach zwei Jahren das Bürgerrecht zu erwerben. Panizza an Croissant-Rust vom 27. August 1896. L, Nachl. Croissant-Rust. Panizza an Croissant-Rust vom 29. Januar 1897, S.(5). L, Nachl. Croissant-Rust.

98

München zu verlassen, war für ihn der Wechsel nach Zürich dennoch sehr schmerzhaft, aber er wußte, daß "ein großer Teil dieses Wehleids Münchner Verzweiflung war"42. Er fühlte sich nun keineswegs nur unbeschwert in der doppelt neugewonnenen Freiheit. Vielmehr traten qualvolle plötzli­ che Stimmungsumschwünge auf, denen er sich hilflos ausge­ setzt sah und die

"wie ein Hauch über mich kommen und Alles, meine Ver­ gangenheit, meinen Wert vor mir, vor anderen, meine Lebens- und Kampfeslust auslöschen und mich tief er­ niedrigen, als ein Nichts, als ein wertloses Menschen-Objekt, erscheinen laßen.-"43 Es sprach hier bereits der im Selbstwertgefühl, in seinen sozialen und psychischen Qualitäten tief verunsicherte ehemalige Häftling. Diese Stimmungswechsel brachten aber auch Zeiten des psychischen Hochgefühls, so daß Panizza im Januar 1897 der Freundin Croissant schreiben konnte, er fühle sich "äußerst behaglich"44. Gemeinsam mit ihr überlegte er, eventuell mit Frau Dr. Schwann, getrennt lebende Ehefrau des Dichterkollegen Matthieu Schwann und in Zürich wohnend, zusammenzuziehen; sie könne dann den Haushalt führen4’ . Zwar wurde nichts daraus, aber Panizza pflegte in seinem neuen Wohnort von Beginn an regen Kontakt zu ihr. Wenngleich sie ein "Luder" sei und ihn wie einen Lehrjungen und Lausbuben behandle, darüber hinaus in seine, Panizzas, Wohnung größere Gesell­ schaften einlade, so gab sich der Schriftsteller dennoch gelassen: "Was will ich machen? Sie ist die einzige Deutsche, mit der ich verkehre."46

Panizza war während der ersten Monate in Zürich vorrangig mit organisatorischen und administrativen Problemen befaßt, vor allem nahm ihn die Einrichtung seiner umfangreichen Privatbibliothek in Anspruch: "Mein Umzug mit Allem drum und dran erforderte 1/4 Jahr. Ich kam zu gar nichts mehr."47 Noch im Spätherbst 1896 erschien sein Buch "Die Haberfeldtreiben im bairischen Gebirge", nachdem der Verle­ ger S. Fischer Schwierigkeiten gemacht und alle die den Staatsanwalt möglicherweise unsittlich oder staatsgefähr­ lich dankenden Passagen/Worte prophylaktisch durch Punkte hatte ersetzen lassen43. Im Oktober erschien auch noch

42 Ebd., S. (7). 43 TB 62, S.211 (23. November 1896). 44 Panizza an Croissant-Rust vom 29. Januar 1897, S.(7). L, Nachl. Croissant-Rust. 48 Panizza an Croissant-Rust vom 17. Juli 1896. L, Nachl. Croissant-Rust. 46 Panizza an Croissant-Rust vom 29. Januar 1897, S.(6), vom 24. Juli und vom 9. August 1897. L, Nachl. Croissant-Rust. 47 Panizza an Croissant-Rust vom 29. Januar 1897, S. (6) . L, Nachl. Croissant-Rust. 46 Panizza an Halbe vom 29. Oktober 1896. M I, Nachl. Hal-

99

seine bereits im Juni 1894 geschriebene Novelle "Die gelbe Kroete". Wenngleich Panizza Zürich als frei und radikal bezeichnete, so waren damit wohl eher die potentiellen Möglichkeiten einer individuellen, von der staatlichen Repression weitge­ hend unbehelligten Lebensführung gemeint als die Beschrei­ bung einer tatsächlichen allgemeinen Atmosphäre. Denn schon frühzeitig mußte er jenen Eindruck relativieren und auch dort erfahren, daß ungewöhnliche Äußerungen und Verhaltens­ weisen auch befremdliche Reaktionen hervorrufen. "Die hie­ sige Gesellschaft ist natürlich armselig, hausbaken, her­ zensgut aber banaus", schrieb er im Januar 189749. Gleich in den ersten Zürcher Wochen las er ein von Gustav Morgen­ stern übersetztes und später in der ZD 2 erschienenes Kapitel aus Hans Jägers "Christianiabohéme" vor, " - die flotte Skizze über Prostituzion - ”, was bei den Zuhörern peinliche Verlegenheit "mit roten, verwilderten Köpfen" verursachte. "Wenn man hier meine Meinung über hier er­ fährt, habe ich hier Feuer am Dach."50

Im allgemeinen jedoch fühlte er sich zunächst in seinem Exilort ausgesprochen wohl51, er lernte schnell eine Reihe interessanter, politisch und literarisch engagierter Per­ sönlichkeiten kennen, mit denen er bald in regem Kontakt stand und die zusammen mit den sich ebenfalls dort aufhal­ tenden deutschen Freunden Albert Langen52, Frank Wedekind, Gustav Morgenstern, Max Halbe u.a.53 einen recht großen Bekanntenkreis bildeten. Im "Wiener Café" am Bahnhofsplatz trafen sich der kleine Zirkel der Zürcher "Intelligenz": Studenten, Anarchisten, Sozialisten, Flüchtlinge aus dem Mailänder Aufstand (1898) und - Oskar Panizza54. Er stieß dort u.a. auf den notorischen Anarchisten Alfred Sanftleben (der später für die ZD schreiben sollte), den exponierten schweizer Sozialisten, Anarchisten und Arzt Fritz Brupbacher, der ebenfalls in den "Diskußjonen" publizieren sollte, und auf ein "Rudel mehr oder weniger studierender Jungfrauen"55, bei denen es sich um russische Emigrantinnen handelte56. Unter diesen war offenbar auch die Frau Otto

4 9

9 0 9 1

9 2

9 3

9 4

9 9

9 3

be. Panizza an Croissant-Rust vom 29. Januar 1897, S.(5). L, Nachl. Croissant-Rust. Ebd. Vgl.: Panizza an Halbe vom 19. August 1898. M I, Nachl. Halbe/12. Vgl.: Grote an Conrad vom 26. Januar 1899, S.(4) . M I, MGC. Vgl.: Wedekind an Beate Heine vom 19. April 1898. In: Ders., Gesammelte Werke, Bd.I. München 1924, S.301. Karl Lang, Kritiker, Ketzer, Kämpfer, Das Leben des Arbeiterarztes Fritz Brupbacher. Zürich 1983, S.34 Das Ehefest und andere Novellen Otto Erich Hartleben, Berlin o.J., S.7. Bauer, a.a.O., S.196; vgl. auch: Panizza an CroissantRust vom 29. Januar 1897, S.(5). L, Nachl. CroissantRust.

100

Langs, "eine gewesene rußische Studentin"’7, durch die Panizza wahrscheinlich nicht nur ihren Mann, sondern auch weitere führende Sozialdemokraten Zürichs kennenlernte. Die Brüder Otto und Richard Lang waren Juristen, dieser Rechtsanwalt, jener Bezirksrichter, und betrieben zeitweise gemeinsam eine Anwaltskanzlei’8; im späteren Prozess gegen den Nachfolger Schabelitzens (s.u.) vertrat Dr. jur. Richard Lang, der - wie Panizza schrieb - "mich kent in al­ len meinen Verhältnißen", seine Interessen’9.

Otto Lang, der seinerzeit bereits eine bedeutende Persön­ lichkeit Zürichs war, kannte offenbar alle Welt. Wahrscheinlich durch ihn gewann Panizza mehrere neue Bekannte über die ohnehin schon gemeinsamen hinaus. So korresponzu dieser Zeit u.a. mit Karl dierte Lang vor bzw. Hartleben61, Ria Schmujlow-Claaßen62, Henckell* 60, 59 O.E. Frank Wedekind63. Auch einige der weiteren tatsächlichen oder potentiellen Autoren der ZD waren ihm bekannt: Gustav Farbstein64 und Paul Pflüger, die beide - ebenso wie er der Leitung der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) angehörten; während Lang als Vertreter des orthodox­ marxistischen Flügels der Partei galt, war Pflüger der "Führer der Grütlianer", der gemäßigt-reformerischen Rich­ tung6’. Kontakte bestanden zudem zwischen Lang und Sanftle­ ben66, Sanftleben und Farbstein67 und natürlich (über die SPS) zwischen Lang, Pflüger, Farbstein und Brupbacher. Zudem verwandte sich Panizza für den Sozialdemokraten und Präsidenten des Kassationsgerichts im Kanton Zürich Georg Sulzer bei Conrad, indem er diesen bat, eine Arbeit Sulzers in der "Gesellschaft" zu besprechen68.

” Panizza an Croissant-Rust vom 29. Januar 1897, S.(5). L, Nachl. Croissant-Rust. 38 Siehe: Otto Lang an R. Seidel vom 17. September 1896, Briefkopf. Z II, Nachl. Seidel/108.35/. 59 TB 66, S.184 (Dezember 1900); und: Panizza an Ostermaier vom 8. Oktober 1900. M II, StAnw. 7122. 60 Henckell an Lang vom 9. November 1893 und vom 14. Dezem­ ber 1896. Z III, Nachl. Otto Lang, Ar.102./2. 61 Hartleben an Lang vom 13. Dezember 1893. Z III, Nachl. Otto Lang, Ar.102./2. 62 Claaßen an Lang vom 28. Juni 1898. Z III, Nachl. Otto Lang, Ar.102./2. 63 Visitenkarte Wedekinds mit Gruß und Unterschrift o.D. Z III, Nachl. Otto Lang, Ar.102./3. 64 Farbstein an Lang vom 28. Oktober 1896. Z III, Nachl. Otto Lang, Ar.102./2. 65 Karl Lang, a.a.O., S.48. 66 Sanftleben an Seidel vom 6. Juli [18]97. Z II, Nachl. Seidel/118.3. 87 Farbstein an Brupbacher vom 20. Juli und 27. August 1900. Z III, Nachl. Brupbacher, Ar.101.30.4. 66 Panizza an Conrad vom 11. Oktober 1898. M I, Panizza 1/12.

101

Diese Persönlichkeiten der 'progessiven' schweizer Szene waren die Teilnehmer der Panizzaschen "literarischen Diskußionsabende". Brupbacher bestätigte das in seinen Memoi­ ren: Panizza hatte um sich "eine ganze Gemeinde intellektu­ eller Revoluzzer gesammelt. Er gab mit ihnen zusammen 'Zürcher Diskussionen, Flugblätter aus dem Gesamtgebiet des modernen Lebens', heraus."69 Daß Panizza in Zürich Mitglied der von Brupbacher gegründe­ ten "Schweizerischen Antireaktionären Gesellschaft" (zu der auch Sanftleben gehörte) war70, ist falsch. Erst 1899, nachdem Panizza die Schweiz bereits verlassen hatte, veröf­ fentlichte Brupbacher in seiner Zeitschrift "Die Junge Schweiz"71 einen eigenen Vorschlag zu einem Programm dieser Gesellschaft. Danach sollten durch aufklärerische Propa­ ganda auf allen religiösen, politischen, ethischen und sexuellen Gebieten mit den Methoden und Inhalten der Wis­ senschaften die das Zusammenleben der Menschen bedrohenden Vorurteile jeglicher Art zerstört werden. Angestrebt wurde ferner die absolute Gleichstellung der Frau. Zielgruppe war die Jugend, da der Mensch in diesem Alter durch Erziehung im o.g. Sinne "produzierbar" sei; Grundlage dieser Erzie­ hung sollte das "wissenschaftlich Feste” sein. Durch lite­ rarische Zirkel in den Schulen, entsprechende Lehrerausbil­ dung, Pressearbeit und den direkten Kontakt zur Jugend sollten diese Ziele - organisiert von einem "Agitationsko­ mitee" - realisiert werden72.

Panizza erfuhr definitiv erst Ende Januar 1900 davon, daß Brupbacher diese Zeitschrift herausgab73, und im März d.J. schrieb er ihm, daß er zwei Ausgaben der "Jungen Schweiz" erhalten hatte: "Das ist etwas ganz Neues für Zürich! Ich begrüße diese neue Stimme aus vollem Herzen". Ebenso neu war ihm die "Antireaktionäre Gesellschaft", deren Artikel ihm in der "Jungen Schweiz" besonders gefiel74. Für Brupba­ cher war Panizza ein "Antispießer großen Formats"75, dessen Werk die Qualitäten eines "satyrischen, geistvollen Dich­ ters"76 bezeuge.

Wahrscheinlich über Farbstein lernte Panizza auch Nachman Syrkin, den mehrfach in den ZD genannten Autor eines ange­

69 Brupbacher, Ketzer. A.a.O., S.71. 70 Ebd. 71 No.l (1899), S.19ff. Die Zeitschrift erschien 1899 und 1900 unregelmäßig mit insgesamt vier Ausgaben von je ca. 50 Seiten Umfang; sie war die "Agitationszeitschrift der antireaktionären Gesellschaft" (Karl Lang, a.a.0.,S.38). 72 Vgl.: "Schweizerische Antireaktionäre Gesellschaft". In: Die Junge Schweiz (1899) No.l, S.19-22. 73 Panizza an Brupbacher vom 24. Januar 1900. A, Nachl. Brupbacher/VIII.F. 74 Panizza an Brupbacher vom 22. März 1900. A, Nachl. Brupbacher/VIII.F. 75 Brupbacher, Ketzer. A.a.O., S.72. 76 Brupbacher, "Oskar Panizza, Parisjana". In: Die Junge Schweiz (1900) No.2, S.106.

102

kündigten, aber nie erschienenen Artikels, kennen. Farb­ stein wie Syrkin waren in den frühen 1890er Jahren in Berlin Mitglieder des prozionistischen "Russisch-jüdischen wissenschaftlichen Vereins" gewesen77. Mit dem Redakteur der "Zürcher Post", Reinhold Rugg, stand Panizza ebenso in Kontakt78 wie mit einem "Freund Paasch"79. Beide dürften ebenfalls zu den Teilnehmern der Diskussionsabende gehört haben, wie auch der Privatdozent Dr. phil. Friedrich Carstanjen80 ; Verbindungen gab es auch noch zu der Anarchi­ stin Fanny Imle81 , bis sie im Sommer 1898 die Stadt verließ. Daß Panizza sich in Zürich bereits von der Welt zurückzog, kann demnach nicht behauptet werden; im Gegenteil stand er ;in mannigfaltigen Beziehungen zur linken Szene der Stadt, er hielt Vorträge82, gründete Verlag und Zeitschrift und hatte schon aus den daraus resultierenden organisatorischen Aufgaben heraus intensiven Umgang mit Menschen. Fast zwei Jahre nach seiner Emigration schrieb er an Max Halbe:

"Zürich im Sommer, das laß' ich mir schon gefallen: die prächtigen Bad-Einrichtungen [...] - dazwischen Hartleben als Stimmungsmacher, Khaynach als Ziniker 'n par Majestätsbeleidigungen....so geht es schon."83 Von einer Vereinsamung im vordergründigen Sinne kann nicht gesprochen werden. Seine Vereinsamung war eine innere, denn

77 Farbstein, Aus meinem Leben. In: Festschrift zum 50jäh­ rigen Bestehen des Schweizerischen Israelitischen Ge­ meindebundes (1954), S.198. 78 TB 62, S.204 (Oktober 1896). 79 Emil Uellenberg an Panizza vom 12. Oktober 1903. M I, Panizza 1/1. Es handelte sich wahrscheinlich um den Kaufmann Karl Ludwig Paasch (1848-1915), der im April 1896 von Leipzig nach Zürich zog. Er wurde (1893) in Deutschland wegen Beleidigung zu 13 Monaten Gefängnis verurteilt, entzog sich jedoch der Vollstreckung durch die Flucht ins Ausland (Brief des Stadtarchivs Zürich an den Verf. vom 13. November 1985; die Angaben entstammen den Akten der Fremdenpolizei). 80 Auf der Rückseite 4a des Manuskripts des "EinladungsZirkulars" (M I, Panizza L 1147a) wurde von Panizza fol­ gender Versandhinweis handschriftlich vermerkt: "Zirku­ lar an Frau Ria Schmujlow-claassen, Herrn Privatdozent Dr. F. Carstanjen und Herrn Bezirksrichter Otto Lang". Friedrich Wilhelm Carstanjen (1864-1925) wurde in Zü­ rich promoviert und habilitierte sich dort 1896; bis 1899 war er dann Dozent an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich (Briefe an den Verf. vom Staats­ archiv des Kantons Zürich vom 28. Oktober 1985 und vom Stadtarchiv Zürich vom 13. November 1985). 81 TB 63, S.269 (7. August 1898). 82 U.a. über heidnische Elemente im deutschen Weihnachts­ fest (TB 64, S.118, ca. März 1899). 83 Panizza an Halbe vom 19. August 1898. M I, Nachl.Halbe/ 12.

103

bei allen vielfältigen und wohl auch häufigen Kontakten; fehlte ihm eine nahe- und real zur Verfügung stehende'Person, eine intime Beziehung. Zwar war er in Zürich noch; oft mit den Freunden aus dem Kreise der Modernen zusammen und korrespondierte auch rege, dennoch hatte er sich; innerlich erheblich von ihnen entfernt - und sie sich von ihm. Seine zunehmende Radikalität in der politisch-litera-! rischen Aussage und sein Mut, Konventionen zu mißachten, erregten neben Mißtrauen und heimlichem Neid vielleicht auch die Furcht, im Falle der Verfolgung als ’Spießgesel­ len' Panizzas mitgerissen zu werden. Ober seinen "Abschied von München" reagierten, wie Panizza schrieb, die Münchner Freunde, "der intimste Kreis", mit "äußerste[r] Entrü­ stung"84* . Noch während der Haft, im Juni 1896, vermerkte Panizza aufschlußreiche Sätze über die prinzipiellen Posi­ tionen seiner selbst wie seiner Freunde und analysierte unmißverständlich die Ursachen ihrer Entfremdung: "Ich weiß, Sie sind mir zum Teil Alle nicht recht gut. Ich weiß es. Sie mögen mich nicht. Ich weiß es teils aus Ihren Gesichtern, teils von den Lippen Jener, die, was sie sonst auch gegen mich haben, in einem Punkte, dem des Neides, mir gegenüber frei sind [...]. Ich weiß. Sie neiden mir die Freiheit des Aus­ sprechens, die Kühnheit des rüksichtslosen freien Worts, das Aufgegebenhaben der lezten Schranke. Sie [...] sehen mich als das gesprenkelte, fletschende Raubtier draußen in der Freiheit bei frischem bluten­ dem Opferschmaus, bei meinem Raub, den ich mir ge­ wählt, eben gefält habe. Und doch kanten Sie das Alles selbst haben! Wenn Sie nur wolten. Wenn Sie nur die dumme Vaterlands-Schranke aufgeben wolten, die Ihr Kerker ist. Sie nennen mich mit Vorliebe 'Teu­ fel', aus Einsicht und Mismut, daß Sie nicht Teufel sein können."89

Ein weiteres Indiz für die innere Isolation und das Fehlen; wirklich enger freundschaftlicher Beziehungen’ ist die ganz.j unerhörte Erschütterung, die den 44jährigen Schriftsteller; durch den Tod seines Hundes Puzi am 19. Februar 1897 traf. Seitenlange Reflexionen über Religion, Literatur, Tod und Lebenssinn - veranlaßt durch den und in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Verlust Puzis86 - verdeutlichen, daß mit diesem Ereignis Panizzas "Bestes, Wertvollstes, Lie­ benswürdigstes"8 7 verlorengegangen war. "In meiner hier noch stärkeren Isolirung als in München war sie mein Kamerad"88, "mein einziger Lebensgefährte"89, der "mit

84 Panizza an Croissant-Rust vom 29. Januar 1897, S.(4). L, Nachl. Croissant-Rust. 83 TB 62, S.73f. 88 Vgl.: TB 62, S.263-277. 87 Panizza an Croissant-Rust vom 7. März 1897, S. (1). L, Nachl. Croissant-Rust. 88 Ebd., S.(2). 89 TB 62, S.270 (20. Februar 1897).

104

allen meinen schriftstellerischen Werken vermählt (ist)"90. "Ich habe heute geweint, wie ich seit meinen Jugendjähren nicht mehr geweint habe", schrieb er angesichts des toten Tieres. Es regte sich in ihm die Angst vor einer einsamen Zukunft, daß er "ein Isolirter [...] im Sterben wie im Leben" sein werde91, eine Ahnung, die sich in ungleich tra­ gischerer Weise bewahrheiten sollte.

Schmerzlich für ihn war es ebenfalls, daß sich auch sozial­ demokratische Freunde von ihm abwandten. Anläßlich seiner Ausweisung aus Zürich äußerte sich die von Otto Lang 'inspirierte' sozialdemokratische Presse sehr negativ über Panizza: er habe eine "'absonderliche, krankhafte Auffas­ sung der Weit'". Die Partei hätte es, so Panizza, wohl nie verwinden können, daß er nicht Genosse geworden wäre92 . Im eigenen Verlage publizierte er seit Juni 1897 zunächst die "Dialoge im Geiste Hutten's". Bei Schabelitz erschien ebenfalls noch 1897 die dritte Auflage des "Liebeskonzils"; zwischen Ende April desselben Jahres und November 1898 kamen zudem die ersten zehn Ausgaben seiner Zeitschrift heraus. Oberhaupt war Panizza sehr beschäftigt und hatte "allerlei Verlags- und Diskuß-Arbeit unter der Hand"93.

"Am Donnerstag den 27 Okt. 1898 [...] wurde ich von Zürich ausgewiesen; angeblich, weil ich mit einer Prostituirten in meiner Wohnung verkehrt hatte; in Wirklichkeit aber dürften politische Gründe maasge­ bend gewesen sein."94 Nicht nur in seinem Tagebuch, sondern auch öffentlich sah sich Panizza dazu veranlaßt, Rechenschaft über Umstände und Hintergründe des Falles abzulegen; ausführlich berichtete er darüber in der ZD 12. Offiziell war ihm wegen "einer höchst verwerflichen Rolle, welche Panizza im Kuppeleipro­ zesse gegen die Eheleute Rumpf gespielt hatte, [...] die Aufenthaltsbewilligung für Zürich auf 1. Decbr. 1898 entzo­ gen" worden9’. Der Schriftsteller hatte sich mit der 15jährigen, ihm wesentlich älter erscheinenden Prostituier­ ten Olga Rumpf eingelassen und Aktphotos von ihr angefer­ tigt. Für eine Ausweisung dürfte das allerdings nicht ausschlaggebend gewesen sein, vielmehr sind, wie Panizza wußte, politische Hintergründe als eigentliche Ursache zu konstatieren96.

90 91 93 93

Ebd., S.263 (19. Februar 1897). Ebd., S.263f. ZD 12, S.10. Panizza an Croissant-Rust vom 18. Juni 1898. L, Nachl. Croissant-Rust. 94 TB 64, S.24. 90 Schreiben der Stadtpolizei Zürich an den Untersuchungs­ richter B am kgl. Landgericht München vom 13. März 1900. M II, StAnw. 7122. 96 Vgl.: Bauer, a.a.O., S.199ff. Eine Aktaufnahme ist übri­ gens noch vorhanden im TB 63, S.187.

105

Das Genfer Attentat auf die österreichische Kaiserin Elisa—i beth (10. September 1898) durch den italienischen Anarchi-j sten Luigi Luccheni veranlaßte die schweizer Behörden, verschärft gegen politisch verdächtige Personen und insbe-; sondere Ausländer aus den Kreisen der Sozialisten, Anarchi-( sten und Literaten vorzugehen. Panizza, der den Fallt Luccheni sehr genau verfolgte, solidarisierte sich in sei-] nem Tagebuch mit dem Attentäter:

"Dieser Anarchist, der vorgestern die Kaiserin Elisa­ beth erdolchte, ist unser Freund, ohne daß er es weiß, ist unser Helfer, ohne daß wir es wißen."97* Er begründete diese Beziehung mit dem Recht des einzelnen zu blutiger Tat gegen das Übermaß der staatlichen Gewalt, so wie auch die Künstler als Gedankentäter sich zur Wehr setzten. Ob er diese Ansichten auch öffentlich vertrat, kann nur gemutmaßt werden; zuzutrauen war es ihm sicher­ lich. Jedenfalls hatte "man plözlich entdekt, daß ich Anar­ chist bin. Anarchist des Gedankens", schrieb er Conrad unmittelbar nach seiner Ausreise90. Bekannt waren sicher­ lich seine Kontakte zu Sozialisten und zu Alfred Sanftle­ ben. Dieser hatte Verbindungen zu österreichischen, ungari­ schen und italienischen Anarchisten, wurde jahrelang obser­ viert und galt bei der Polizei selbst als führender Anar­ chist99. Daß Panizza als aufrührerischer Literat bekannt war, bezeugt zudem eine Pressemeldung anläßlich seiner Ausweisung: zu dieser Maßnahme habe u.a. sein Vortrag "über 'die moderne Frauenbewegung' beigetragen", der im Sommer 1898 "namentlich in Studentenkreisen" bedeutendes Aufsehen erregt haben soll100.

Panizza selbst glaubte, die Veröffentlichung seiner Satire "Psichopatia criminalis" hätte die Ausweisung provoziert. Auf Initiative des durch diese Schrift zum Einschreiten veranlaßten deutschen Kaisers101 sei die Schweiz zu diesem Schritt bewogen worden102. Es lag hierin allerdings auch ein gewisses Maß an absichtsvoller, zielgerichteter Provo­ kation vor, die Panizza nicht nur im Lichte des wehrlosen und völlig überraschten Opfers darstellt: er gedachte nämlich bewußt den behördlichen Toleranzspielraum zu erpro­

97 TB 63, S.277 (12. September 1898). 90 Panizza an Conrad vom 22. November 1898. M I, Panizza 1/13. 99 Schreiben der Schweizerischen Bundesanwaltschaft an die Justiz- und Polizeidirektion des Kts. Zürich vom 15. April 1899. Z I, Sozialisten, Nihilisten, Anarchisten. P.239.6.(882). 100 "Zur Ausweisung Panizzas". In: Tagesanzeiger für Stadt und Kanton Zürich vom 7. November 1898. Zit. nach: Bau­ er, a.a.0., S.199. 101 Beschuldigten-Vernehmung mit Oskar Panizza vom 13. April 1901, S.(10). M II, StAnw. 7122. 102 Vgl. auch: TB 68, S.140 (ca. Ende Juni 1901) und S.276 (ca. August 1901).

106

ben und für seine Zwecke zu manipulieren. Da er von Beginn an auf die Mittel sann, wie er aus Zürich wieder fortkommen könnte, war ihm das zwangsweise Verlassen vielleicht auch eine willkommene Abnahme der eigenen Entscheidung. Sehr aufschlußreich ist in diesem Kontext Panizzas Brief an die Freundin Croissant-Rust, der deshalb hier ausführlich zi­ tiert werden soll:

"Aber kaum unter den Zürcher Trunkenbolden angelangt, begann ich unbewußt, auf's Fortkommen hinzuarbeiten. Ich hofte immer, Willy der Größere-als-Alle-dieAndern [Wilhelm II.] würde erschlagen werden und eine neue Ära in Deutschland heraufkommen. Als dies nicht geschah und auch meine 'Dialoge im Geiste Hutten’s’ sang- und klang-los begraben waren, faßte ich, nach einjähriger Anwesenheit [...] eines Abends [...] die Idee zu meiner 'psichopatia criminalis'.[... ] Wenn etwas mich fortbringt, sagte ich mir, so ist es dieses Buch, denn das läßt sich kein Mensch gefallen; Ich hatte aber keine Ahnung, wie das Fortkommen nun sich bewerkstelligen werde."103 (Wenngleich ihn Zeitpunkt, Art und Weise schmerzlich trafen, [zur 'Persona ingrata' erklärt zu werden, so muß doch zumin­ dest eine innere Bereitschaft, ein geheimer Wunsch Panizzas ifestgestellt werden, aus der Schweiz ausgewiesen zu werden. Es zeigte sich hier vielleicht die ambivalente, noch unent­ schlossene Haltung des sich im Emanzipationsprozeß befind­ lichen Schriftstellers, der noch zwischen den letzten Fäden bürgerlicher Reputation einerseits, künstlerisch-politi­ scher Autonomie andererseits schwankte.

Niedergeschlagen und mit den 10000 Büchern seiner Biblio­ thek104105 , verpackt in ca. 60 Kisten109, kam Panizza am 21. * November 1898 in Paris an101. Paris.

Die ersten Tage in der französichen Hauptstadt konnte er bei seinem ihm schon aus Münchner Zeiten bekannten Kollegen Léon Bazalgette unterkommen. Dieser, "mein bester Freund hier (der auch seit Jahren gute Beziehungen spezjell mit Münchener Literaturkreisen unterhält)"107* , war der Verfas­ ser des Hauptartikels der ZD 3, die noch in Zürich erschie­ nen war. Auf seiner am Tage nach der Abfahrt aus der

103 Panizza an Croissant-Rust vom 27. Februar 1899, S.(3f). L, Nachl. Croissant-Rust. 104 Ebd., S.(2). 105 Gutachten von Dr. Fritz Ungemach über den Geisteszu­ stand des Schriftstellers Oskar Panizza vom 25. August 1901 (im folgenden: Gutachten Ungemach), S.(13). M II, StAnw. 7122. 100 TB 65, S.91; und: TB 64, S.31. 107 Panizza an Ostermaier vom 27. Oktober 1900. M II, StAnw. 7122.

107

Schweiz geschriebenen Postkarte an Conrad gab Panizza des Freundes Adresse als Absendeort an108. Im Dezember 1898 oder im folgenden Monat bezog er dann eine eigene Wohnung in der Rue des Abbesses 13109. Auch in Paris fand er sich im Kreis alter Bekannter wieder;! er genoß in "dieser wunderbaren Stadt" die künstlerische! Atmosphäre, das Flair der traditionsreichen Kulturmetro-( pole: "Alles ist hier von eigentümlicher, bestrikender Größe und Intimität. [...] Der Wechsel von Zürich hierher ist geradezu unbemeßbar. - Wedekind ist hier, Dauthendey mit Frau [...], Meier-Gräfe mit einem gan­ zen Atelje, der junge Werckmeister komt von Berlin [...]"*10 •

Frank Wedekind und Fritz Brupbacher (der zu dieser Zeit ebenfalls in Paris lebte) sah Panizza in den ersten Wochen dort häufiger111. Auch Frieda Strindberg-Uhl, die Frau des schwedischen Schriftstellers August Strindberg und seit einigen Jahren mit Wedekind liiert112, besuchte .ihn zu dieser Zeit ebenso wie Wolfgang Warnieck aus Wien und der Freund von Panizzas ehemaliger Italienisch-Lehrerin Signorina Luccioli, ein Münchner Maler113 . Der schon genannte Karl Werckmeister kam noch einmal im Januar 1900114; Panizza kannte den Schauspieler und Regisseur noch aus der Zeit der "Gesellschaft für modernes Leben", auf deren 5. öffentlichen Abend Werckmeister aufgetreten war11’. Die Beziehung zu Wedekind schwächte sich im übrigen rasch ab. Im Juni 1899 berichtete Panizza Conrad, daß er "ihn seit Monaten nicht mehr geseh'n" habe, "wir waren zu weit auseinander"116* 118 . Aber trotz der Faszination der Stadt, 108 Panizza an Conrad vom 22. November 1898. M I, Panizza 1/13. 108 Panizza an Grote vom 20. Januar 1899, Absender-Angabe. M I, MGC 723/76. 110 Panizza an Croissant-Rust vom 27. Februar 1899, S.(4). L, Nachl.Croissant-Rust. 111 Vgl.: Panizza an Grote vom 20. Januar 1899. M I, MGC 723/76; Grote an Conrad vom 23. Januar 1899, S.(2): "Wdk. scheint ja nun auch ein täglicher Gast dort [bei Panizza] zu sein!"; und vom 9. Februar 1899. M I, MGC; Brupbacher, Ketzer. A.a.O, S.72; TB 64, S.226; TB 65, S.295. 112 Martens, a.a.O., S.186f. 113 TB 64, S.226 (29. Juni 1899) und TB 65, S.295 (17. Juni 1900). 114 Panizza an Croissant-Rust vom 9. Januar 1900, S.(2). L, Nachl. Croissant-Rust. 113 Rainer Hartl, Aufbruch zur Moderne. Teil I. Naturali­ stisches Theater in München. München 1976, S.46. 118 Panizza an Conrad vom 11. Juni 1899, S.(4). M I, Pa­ nizza III/4. Das Verhältnis Panizzas zu seinen Freunden galt damals als ein ausgezeichnetes. So schrieb Grote, er habe erfahren, daß Panizza und Genossen "wie die

108

geselliger Begegnungen und obwohl er an Halbe schrieb, er sei in Paris glücklich* 117, bildeten doch schwere psychische Belastungen den Hintergrund der ersten Monate. Am 25. Januar 1899 ~ drei Tage vor jener Postkarte an Halbe - ver­ merkte er in seinem Tagebuch: "Heute [...], nach zweimonatigem Aufenthalt, zum er­ stenmal um 1/2 9 Uhr aufgestanden (statt 11 Uhr) . Also zum erstenmal Erholung der Nerven. Troz pein­ lich-sorgfältigem Lebenswandel"118. Zu Julius Meier-Gräfe, Kunsthändler und Herausgeber der Zeitschrift "Dekorative Kunst", und seiner Frau pflegte Pa­ nizza zunächst ebenfalls eine freundschaftliche Beziehung. Zwar ging er selten dorthin, aber "Meier-Gräfes sind die liebenswürdigsten Leute, die mir vorgekommen sind"119. Im Juli d.J. lud ihn Anna Croissant-Rust zu sich ein; er mußte jedoch absagen, weil er Schwierigkeiten mit den "Zürcher Diskußjonen" hatte120121 .

Aber auch in Paris übermannte ihn frühzeitig und immer wie­ der tiefe Verzweiflung bis hin zu ohnmächtiger Wut über seine Situation. Er fühlte sich zu Unrecht in seiner Inte­ grität angezweifelt und einer unqualifizierten Kritik aus­ gesetzt : "Das und Dies, habe ich jüngst gehört, hat Jemand über mich gesagt. Ich laße mir das nicht gefallen. [...] Ich werde Alles zusammenschlagen, Alles krumm und klein hauen, was in den Bereich meiner Klauen komt. Was glaubt man denn? Ich bin Ich, und nicht der nächste beste Prügelknabe. Warum hat man keinen Re­ spekt vor mir, da ich ihn jeden Tag fordere? [...] Ich werde Alles zerschmettern: Bordellwirte und Profeßoren, Offiziere [...], Schurnalisten [...], Mi­ nister [...], Fürsten und Schauspieler [...]. Was will man eigentlich von mir? Ich werde nie von meiner Art laßen."l 2 1

'Offenbar setzten ihm auch Freunde mit Kritik an seinem Ver­ halten, an seiner Schriftstellerei zu und versuchten, ihn von seiner kompromißlosen Haltung in politischen, literari­ schen und künstlerischen Fragen abzubringen und auf eine ¡moderate Linie einzustimmen. So schrieb beispielsweise 'Wedekind an Richard Weinhöppel, Panizza vervollkommne sich

117 118 119

120 121

Kletten" zusammenhielten (an Conrad vom 1. Februar 1899, S. (4) . M I, MGC). Panizza an Halbe vom 28. Januar 1899. M I, Nachl. Halbe/2. TB 64, S.83. Panizza an Bierbaum vom 29. Juni 1899, S.(6). M I, Nachl. Bierbaum. Panizza an Croissant-Rust vom 19. Juli 1899. L, Nachl. Croissant-Rust. TB 64, S.272f (zwischen 14. und 19. Juli 1899).

109

mehr und mehr in seiner Verrücktheit122.

Panizzas literarische Tätigkeit blieb in Paris bis zui seiner endgültigen Rückkehr nach Deutschland im Juni/Juli, 1904 ungebrochen. Seine Zeitschrift führte er von dort aus| weiter, wenngleich in den folgenden vier Jahren (bis 1902); nur noch zehn weitere Ausgaben erschienen. Er verfaßte aber insgesamt noch fast 60 Beiträge für die ZD. Die Arbeit an der Zeitschrift und das Schreiben von Artikeln für diese nahmen im Laufe der Pariser Jahre die zentrale Stellung seines Schaffens überhaupt ein. Außerdem dachte Pariizza daran, jeweils eine zweite Auflage des "Teutschen Michels" für das Jahr 1899 und der "Psichopatia criminalis" für 1902123 in Angriff zu nehmen. Schließlich sollten noch zwei weitere fertiggestellte Bücher publiziert werden; diese Vorhaben zerschlugen sich jedoch. Es handelte sich bei dem einen um die Sammlung von ca. 50-60 Gedichten aus den Tage­ büchern, die um 1900/01 entstanden waren. Er hatte das Manuskript zu "Zwischen Montmartre und Madelaine" (so der Titel) am 20. Januar 1901 an Drugulin zum Druck abge­ sandt124, mußte es offensichtlich umarbeiten, so daß er später schreiben konnte: "Das Buch war März 1901 fertiggestelt, als der Verfaßer in Folge seiner unabwendbar gewor­ denen Selbstauslieferung nach Deutschland den weiteren Vertrieb des Werkes einstellen laßen mußte."125 Das zweite nicht zur Herausgabe gelangte Manuskript, betitelt "Imperjalja" und den deutschen Kaiser betreffend, bearbeitete Panizza noch Ende April 1904* 2 6 . Ende Dezember 1899 erschienen im eigenen Verlage die "Parisjana. Deutsche Verse aus Paris", deren Folgen für Panizzas weiteres Leben von einschneidender Bedeutung werden sollten. Die darin enthaltenen Beleidigungen des deutschen Kaisers waren als solche von Panizza intendiert und das Werk insgesamt gedacht als Rache für die - nach seiner Ansicht - durch Wilhelm veranlaßte Ausweiung aus der Schweiz127. Er wollte damit den oppositionellen Kräften das Rückgrat stärken128 und es als "Antwort auf eine gemeine und grundlose Verdächtigung und Beschimpfung meiner Person" verstanden wissen129. Später äußerte Panizza darüber hinaus noch einen weiteren Grund: Um sich in Frankreich einbürgern 122 Wedekind an Weinhöppel vom 24. Februar 1899. In: Ders., Gesammelte Briefe Bd.I. A.a.O., S.335. 123 Panizza an Conrad vom 11. Juni 1899, S. (3). M I, PaPanizza III/4; bzw. TB 70, S.242 (ca. Juni 1902). 124 TB 67, S.20. 125 TB 68, S.6 (April 1901). 128 Letztes Datum des 183 Seiten starken Textes: 29. April 1904. B III, Ms.germ.qu.1838. 127 Beschuldigten-Vernehmung mit Oskar Panizza vom 13. April 1901, S.(3,10,11). M II, StAnw. 7122. 128 Ebd., S.(4). 129 Panizza an die kgl. Staatsanwaltschaft München I vom 3. Juli 1900, S.(9f). M II, StAnw. 7122. Gemeint waren wohl die Tatsache und die Umstände seiner Ausweisung aus der Schweiz.

110

zu lassen, bedurfte es eines 10jährigen Aufenthaltes dort. In Ausnahmefällen jedoch - z.B. bei außergewöhnlichen Lei­ stungen um das Land - konnte die Bestimmung außer Kraft gesetzt werden. Mit den "Parisjana" glaubte Panizza, eventuell ein solches Verdienst für sich in Anspruch nehmen zu können und somit schneller die französische Staatsbür­ gerschaft zu erwerben130. Conrad, dem das Werk zugeeignet war, reagierte als erster öffentlich und - empört, indem er die Widmung zurück­ wies131. Es sei "ein Verbrechen an der Zivilisation, sol­ cherlei Litteratur zu fabrizieren und zu verbreiten"132. Conrad, den Panizza am 12. Januar bat, ihn in Schutz zu nehmen, "wenn es zu schlimm über mich hergeht"133, fürch­ tete - wie auch Panizza vermutete134 -, als Revolutionär verdächtigt zu werden. An Jacobowski schrieb er, daß mit Panizza nunmehr "sauber aufgeräumt werden" müsse135. Er, der die Dedikation des Werkes - wie Panizza es formulierte "aus patrjotischen Gründen öffentlich"1 33 ablehnte, beeilte sich vielmehr, im Akademisch-Dramatischen Verein in München am 9. Februar einen sich von Werk und Autor distan­ zierenden Vortrag zu halten137* . Nicht nur Panizza, sondern auch Brupbacher wertete dieses Verhalten als Feigheit: Conrad habe Panizza "öffentlich verraten"130. Am 27. Januar verständigte die Münchner Polizeidirektion die Staatsanwaltschaft über das Erscheinen des Buches zwei der Beschluß zur Tage später wurde Anklage erhoben, Beschlagnahme angefertigt (30. Januar) und am 2. Februar Panizza internationaler Steckbrief wegen ein gegen Majestätsbeleidigung erlassen139. Am 10. März wurde das Vermögen des Schriftstellers in Höhe von 185000 Mark wegen "Fluchtgefahr" beschlagnahmt140. Panizza selbst erhielt erst am 12. Mai einen diesbezüglichen Brief seines Münchner

130 Gutachten Ungemach vom 25. August 1901, S.(20f). M II, StAnw. 7122. 131 Conrad, "Parisiana". In: Die Gesellschaft 16 (1900) H.2 vom 15. Januar 1900, S.127f. 132 Conrad, "Panizzas Parisiana". In: Die Gesellschaft 16 (1900) H.5 vom 1. März 1900, S.275. 133 Panizza an Conrad vom 12. Januar 1900, S.(4). M I, Pa­ nizza 1/11. 134 Panizza an Croissant-Rust vom 9. Januar 1900. L, Nachl. Croissant-Rust. 135 Conrad an Jacobowski vom 4. Februar 1900. W II, Hs. 396 (882) . 130 Panizza an Brupbacher vom 31. Januar 1900. A, Nachl. Brupbacher/VIIl.F. 137 Notizen Memoiren Math. Panizza, S.20f. M I, Mathilde Panizza/III. 130 Brupbacher, Ketzer. A.a.O., S.72f. 139 Bauer, a.a.O., S.208. 140 Panizza an die kgl. Staatsanwaltschaft vom 3. Juli 1900, S.(l); und: Akt vom 17. Mai 1900 betr. Vermögens­ beschlagnahme. M II, StAnw. 7122; und: Deutscher Reichsanzeiger Nr.70 v. 20. März 1900. II. Beilage S.4.

Ill

Notars141. Er glaubte zunächst, daß nur sein HypothekenAnteil auf das Hotel "Russischer Hof" in Bad Kissingen (100000 Mark) konfisziert worden sei; seinen 17000 MarkAnteil an einer weiteren Hypothek auf ein Haus am Münchner Odeonsplatz, das er zu gleichen Teilen mit den Geschwistern Ida und Felix besaß, hätten - wie er meinte - die bayeri­ schen Behörden absichtlich übersehen, um ihm "ein leztes refugium zu ermöglichen"142, was er auf die antipreußische Tendenz seiner "Parisjana" zurückführte. Panizza, der sei­ nen ehemaligen Studienkollegen Dr. Ostermaier in mehreren Briefen geradezu flehentlich um Hilfe bat, ihm Generalvoll­ macht über sein in Deutschland befindliches Restvermögen ausstellen wollte, damit dieser ihm die 17000 Mark flüssig machen konnte143 (wodurch sein Lebensunterhalt bis auf weiteres gesichert gewesen wäre) , sah sich aber darin getäuscht. Das Vermögenszeugnis der kgl. Polizei-Direktion vom April 1901 führt neben dem 135000 Mark-Anteil ( ! ) auf das Kissinger Hotel auch den 1/3 Anteil auf das Münchner Haus an144* . Allerdings beläuft sich der Betrag in diesem Dokument auf 51000 Mark allein für Panizza, somit ergibt sich für die Beschlagnahme als Gesamtsumme 186000 Mark143. Möglicherweise hatte Ostermaier, der überhaupt in dieser Affäre eine außerordentlich schäbige Rolle spielte, die Staatsanwaltschaft darauf aufmerksam gemacht; auch Panizzas Mutter und/oder sein Bruder hätten dahingehend wirken können. Panizza selbst glaubte, seine Familie stecke bei der Konfiskation mit der Polizei unter einer Decke: "Die Rolle, die meine Familie bei dieser Gelegenheit gespielt hat, [...] (ist) nicht weit von der von Polizeispizeln" entfernt146. Staatliche und familiäre Interessen stimmten nach Panizzas Ansicht - hier in dem Willen überein, den ge­ fährlichen Querulanten durch den Entzug seiner finanziellen Lebensgrundlage zu disziplinieren und mundtot zu machen. Überhaupt war es Panizza klar, daß die Beschlagnahme "rein­ politischen Charakter" trug147, eine Vermutung, die durch die juristisch zweifelhaften Fakten nur bestätigt wird. Aufgrund von "Fluchtgefahr" war das Vermögen des im Ausland lebenden Autors offiziell konfisziert worden, ein Wider­ spruch, der den Tatbestand der Rechtsbeugung offensichtlich werden läßt; zumindest aber erscheint diese Begründung

141 Panizza an das kgl. Landgericht München I vom 13. Mai 1900. M II, StAnw. 7122. 142 Panizza an Ostermaier vom 20. September 1900, S.(2) . M II, StAnw. 7122. 143 Panizza an Ostermaier vom 8. Oktober 1900. M I, StAnw. 7122. 144 Vermögens-Zeugniß für Panizza Oskar vom 26. April 1901. M II, StAnw. 7122. 143 Diese Summe stimmt ungefähr auch mit Panizzas Angabe in dem Schreiben an das kgl. Landgericht vom 3. Juli 1900 überein. M II, StAnw.7122. 146 Panizza an Ostermaier vom 20. September 1900, S.(l). M II, StAnw. 7122; vgl. auch: Grote an Conrad vom 31. Mai 1900. M I, MGC. 147 Panizza an Ostermaier vom 25. September 1900. M II, StAnw. 7122.

112

konstruiert. In seinem Gesuch um Aufhebung der Beschlag­ nahme fragte Panizza den Staatsanwalt: "Wohin solte ich denn fliehen, oder von wo?"; ob man ernstlich annehme, er "möchte von Paris oder Zürich 'fliehen'. Es bestünde doch weit eher für mich der Grund, in Paris, resp. Zürich zu bleiben"14 8 . Panizzas Befürchtungen, in Kürze finanziell ruiniert zu sein149, bewahrheiteten sich nur zu bald. Fast "ein volles Jahr" lebte er in Paris "in der bittersten Not"* 130. Zwei­ fellos hatte er mit solchen schwerwiegenden und rechtlich zweifelhaften Aktionen der deutschen Behörden nicht wirk­ lich gerechnet. Ein ähnliches Werk wie die "Parisjana", das er als Resultat "schwerer Seelenkrisen"131 bezeichnete, sollte nach dem Willen des sich nun nach "Ruhe und Frieden" sehnenden Autors "für alle Zeiten ausgeschloßen" sein132.

Eine weitere Folge der Veröffentlichung dieses Werkes war, wie er Anna Croissant-Rust mitteilte, daß sich nahezu alle Freunde mit ihm überwarfen. Dennoch sei er recht glücklich in Paris und wolle auch dort bleiben133. Während seiner beginnenden Auseinandersetzung um die Vermögensbeschlag­ nahme, in den Monaten März und April, häuften sich seine Einsamkeitsempfindungen:

"So hast Du wirklich keine Freunde, und Alle, Alle sind sie fort?-"134* Panizza, der sich immer mehr Anfeindungen öffentlich und privat ausgesetzt sah133, zog sich zusehends in eine innere Abgeschiedenheit zurück. Von einer ausgesprochenen Isola­ tion kann aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Rede sein. Gelegentlich erhielt er Besuche; so kam im Juni 1900 Hermann Croissant136, und einen Monat darauf war Fina Zacharias, die Autorin des Hauptartikels der ZD 12, für zwei Wochen bei ihm137. Ende August reiste Panizza mit Genehmigung der schweizer Behörden über Basel und Olten nach Zürich, um dort seine

148 Panizza an die kgl. Staatsanwaltschaft München I vom 3. Juli 1900, S.(5f). M II, StAnw. 7122. 149 Ebd., S. (7). 130 TB 68, S.31 (16. Mai 1901). 131 Panizza an Reventlow vom 4. September 1901, S.(4). M I, Nachl. Reventlow. 132 Panizza an Ostermaier vom 28. September 1900, S.(2). M II, StAnw. 7122. 133 Panizza an Croissant-Rust vom 10. März 1900, S. (2) . L, Nachl. Croissant-Rust. 134 TB 65, S.251 (14. April 1900); vgl.: S. 243 (2. April 1900) . 133 Panizza an Freiherrn Marschalk von Ostheim vom 18. April 1900. B I, Nachl. Marschalk von Ostheim. 136 TB 65, S.295 (17. Juni 1900). 137 Panizza an Croissant-Rust vom 23. Juli 1900, S.(4). L, Nachl. Croissant-Rust.

113

Verlagsgeschäfte zu ändern. Er verlegte seinen "Verlag der; Zürcher Diskußjonen" nach Paris, da er Probleme mit seiner bisherigen Verlagsfirma Schabelitz hatte. Mitte September nach Frankreich zurückgekehrt, hatte er die Aufregung um die Konfiskation, die ablehnende Haltung der Familie noch nicht überwunden. Die Enttäuschung und die Angst vor einer in vieler Hinsicht ungewissen Zukunft riefen bei ihm den Gedanken hervor, freiwillig seinem Leben ein Ende zu setzen. An Ostermaier schrieb er: "Denn ich kann Sie versichern, daß diese Beschlag­ nahme und die plözliche, unerwartet feindselige Hal­ tung der eigenen Geschwister, der eigenen Mutter, mir den Selbstmord als leztes und anständigstes refugium wiederholt vor die Seele gezaubert hat."1’8

Im folgenden halben Jahr bis zu seiner Selbstauslieferung an die Münchner Staatsanwaltschaft im April 1901 schien Panizza sich psychisch ein wenig erholt zu haben. Er hatte wieder des öfteren Kontakt zu alten Freunden; Bierbaum traf er zusammen mit Bazalgette und Meier-Gräfe im Oktober, im November wollte ihn Marcus Behmer, ein ihm von Anna Crois­ sant-Rust empfohlener Illustrator, besuchen; Panizza war jedoch nicht zu Hause1’8. Und im Dezember berichtete er Croissant-Rust:

"Hier ist z.Z. eine ziemlich starke, internazjonale Verbrecher-Kolonie, hätte ich beinahe gesagt Schriftsteller-Gesellschaft beinander: Maeterlinck, Gunar Heiberg, Björnson, Albert Langen mit Frau, der norweg. Liriker Vogt mit Schwester, Scharf will nach Weihnachten kommen"* 160. Maya Vogt, die in Paris einen literarisch-künstlerischen Salon führte161162 , wurde in den letzten Jahren bis 1904 Panizzas primäre Kontaktperson, wie einschlägige Tagebuch­ notizen zeigen. Sie war offenbar der einzige Mensch, an den sich der Schriftsteller schließlich noch emotional gebunden und von dem er sich verstanden fühlte. Am 8. Januar 1904 schrieb er die folgenden lyrischen Zeilen: "Wenn die Tulpen wieder glühn, [...] werd' auch ich zu Maya kommen werde ich zu Maya ziehn wieder heil sind unsre Wunden, [. . . ] "i 6 2 .

188 Panizza an Ostermaier vom 20. September 1900, S.(2). M II, StAnw. 7122. >” TB 66, S.152 (5. November 1900). 160 Panizza an Croissant-Rust vom 12. Dezember 1900. L, Nachl. Croissant-Rust. 161 Heiner Reitberger, Mut zum Träumen. Max Dauthendey, Gertraud Rostowsky, Oskar Panizza. In: Wolfgang Buhl (Hg.), Poetisches Franken. Würzburg 1971, S.281. 162 TB 73, S.33.

114

Die Spekulation der Münchner Staatsanwaltschaft, Panizza in Paris 'auszuhungern' und ihn dadurch zur Rückkehr zu zwin­ gen, hatte Erfolg. In München kulminierten zu dieser Zeit die Vermutungen über Panizza und dessen Zustand in dem Gerücht, er habe sich erschossen163 . Weil sein "Geld zu Ende" ging, entschloß er sich "schweren Herzens zur Abreise"164 und bestieg am 12. April 1901 den Zug16’, um sich tags darauf den deutschen Behörden auszuliefern. Er wurde sofort verhaftet und in das Landgerichtsgefängnis München I eingeliefert166. Noch am selben Tag legte Panizza Beschwerde gegen den Haftbefehl ein und beantragte die Auf­ hebung der Vermögensbeschlagnahme167, die auch am 15. April erfolgte168. Die folgenden zehn Wochen verbrachte er in Untersuchungshaft; verglichen mit seinem Leben in Paris, empfand er keinen so großen Unterschied, da er hier wie dort den ganzen Tag las und schrieb, nur der abendliche Spaziergang fehlte ihm169. Panizza, an dessen psychischer Gesundheit schon im Prozeß von 1895 Zweifel geäußert worden waren170, erfuhr am 11. Juni, daß Landgerichtsarzt Prof. Dr. Hoffmann die Einweisung des Schriftstellers in die Kreisirrenanstalt München zur Beobachtung beantragt hatte171. Nachdem die Strafkammer den Beschluß zur Einwei­ sung gefaßt hatte, wurde Panizza dies am 21. Juni offiziell mitgeteilt; er wollte dagegen keine Beschwerde einlegen, "damit endlich einmal die Sache zu Ende komt"172. Für sechs Wochen, vom 22. Juni bis zum 3. August 1901, befand sich der Schriftsteller als Patient in der Münchner Kreisirrenanstalt173, in der er selbst in den Jahren 18821884 als Psychiater tätig gewesen war. Schlecht genährt und vorzeitig gealtert wirkend174, argwöhnte er, aus politi­ schen Gründen dort eingeliefert worden zu sein: Anstalts­ leiter Vocke versuche ihm im Gespräch immer wieder zu verdeutlichen, die "Parisjana" seien "vielleicht auf Grund falscher Voraussezungen geschrieben" worden, Panizza zum Zeitpunkte des Verfassens möglicherweise "psichisch alterirt" gewesen17’, um ihn somit zum Widerruf seines Werkes* 16 3

154

161

16 6 16 7

16 6 l 6 9

17 0

17 1

1 7 Z

17 3 17 4

1 7 5

Charlotte Nisle-Klein an Conrad vom 15. April 1901, S. (6). M I, MGC. Panizza an Reventlow vom 4. September 1901, S. (3) . M I, Nachl. Reventlow. TB 66, S.266. TB 68, Einband und S.l. Beschuldigten-Vernehmung mit Oskar Panizza vom 13. April 1901, S.(13). M II, StAnw. 7122. Bauer, a.a.O., S.213. TB 68, S.32 (16. Mai 1901). Bauer, a.a.O., S.186 u.214. TB 68, S.107; und: Gutachten Ungemach vom 25. Oktober 1901, S.(9). M II, StAnw. 7122. TB 68, S.132 bzw.126. Ebd., Einband ; S.133; S.273. Gutachten Ungemach vom 25. August 1901, S. (9) . M II, StAnw. 7122. TB 68, S.274 (4. August 1901).

115

zu veranlassen, überhaupt hielt Panizza die Einweisung in die psychiatrische Klinik für eine Finte der Polizei, für eine Komödie, die alle Personen in der Anstalt - Pflegeper­ sonal wie Patienten - auf Weisung der Staatsanwaltschaft spielten1’6. Auch Dr. Ungemach ließe ihm gegenüber nicht "den geringsten Zweifel, daß meine Einbringung in die Anstalt und Untersuchung [...] wie die ganze Verfolgung meiner Person und Konfiskazjon [...] nur eine Färse sei’’1”. Panizza, der keinen Besuch empfangen wollte170, wurde jedoch sehr zuvorkommend behandelt, nahm bei guter Kost zu und empfand die Wochen dort in toto als "außeror­ dentliche Erholung"179. Wieder in die Haftanstalt zurückgekehrt, erfuhr er am 28. August um 18 Uhr ohne Angabe von Gründen von der Aufhebung seines Haftbefehls* 100. Aufgrund des Gutachtens Dr. Unge­ machs, wonach Panizza sich bei der Begehung der Majestäts­ beleidigung "in einem Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit" befunden hatte, durch ’’welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war"101, wurde "der Angeschuldigte [...] außer Verfolgung gesetzt"102. Knapp zwei Stunden später, um 19.55 Uhr, saß der Schriftsteller bereits im Zug nach Paris103, weil er glaubte, man wiese ihn aus, falls er sich in München zeige104105 . Tags darauf kam er mittags in Paris an100. Die psychische Zerrüttung Panizzas wurde offenbar durch die Vermögensbeschlagnahme und den daraus resultierenden Folgen erheblich beschleunigt; Haft und Irrenhaus taten dann noch ein übriges. Vom Oktober 1901 an begannen und häuften sich die entsprechenden Zeugnisse Panizzas in Tagebüchern und Briefen. Freunde äußerten schon zuvor ihre Vermutungen darüber, daß die psychische Insuffizienz des Schriftstel­ lers fortschreite. Léon Bazalgette schrieb im Juni d.J. an Ruederer:

"Car j'ai bien peur qu'il ne devienne tout a fait fou dans cette maison de santé et qu'il ne finisse pas se croire Jésus-christ ou le prétendant au trône de France .... Si je savais son adresse, je lui écrirais un mot. Mais il croisait peut-être que [...] je veux

176 Ebd., S.278 (Anfang August 1901) u. S.134f (Ende Juni 1901). 177 Ebd., S.278f. 170 Ebd., S.138f (26. Juni 1901) u. 281 (August 1901). 179 Ebd., S.281. 100 TB 70, S.20f. 101 Gutachten Ungemach vom 25. August 1901, S. (70) . M II, StAnw. 7122. 102 Beschluß der Strafkammer vom 28. August 1901, S.4. M II, StAnw. 7122. 103 TB 70, S.21 (29. August 1901). 134 Panizza an Reventlow vom 4. September 1901, S.(5). M I, Nachl. Reventlow. 105 TB 70, S.21.

116

lui arracher des secrets pour le perdre. II n'y a rien ä faire avec des honunes comme lui . ,."186. Charlotte Nisle-Klein berichtete Conrad ähnliches: "Panizza soll (?) Verfolgungswahnzeichen haben. Er ist ein armer Kerl. Scharf erzählte mir schon sehr eigene Sachen, die er in Paris mit ihm erlebt hat."187 Damit war Panizzas Über­ zeugung, Agenten des deutschen Kaisers verfolgten ihn188 und der Hinauswurf Scharfs durch Panizza aus seiner Woh­ nung in Paris gemeint. Er glaubte, der Freund wäre ein bezahlter Polizeispitzel geworden, der ihn täuschen und aushorchen189 wollte.

Das folgende Jahr bis zum Oktober 1902 zeigte sich als eine Zeit einschneidender körperlicher und seelischer Beein­ trächtigungen. Im Oktober 1901 litt er zwei Wochen unter schweren Magenkrämpfen190, schloß sich rigoros von der Außenwelt ab, da er jedem mißtraute und sowohl von Freunden wie von der Familie zutiefst enttäuscht war. Besuch komme nur, um ihn auszuforschen, und wie mit Scharf, so halte er es schon seit zwei (!) Jahren: wenn er merke, sie wollten ihn täuschen, werfe er sie hinaus. "Ich bin offenbar anders als Andere organisirt, weil ich angesichts der Machinaz jonen, die seit bald 2 Jahren um mich spielen, nicht lachen kann"191,

schrieb er an die Gräfin Reventlow im Dezember 1901. Begon­ nen hatten diese "Machinazjonen" und deren psychische Aus­ wirkungen demnach Anfang 1900, also wahrscheinlich mit dem Zeitpunkt der Beschlagnahme seines Vermögens. Führte Panizza in den ersten 1 1/2 Jahren in Paris ein noch halb­ wegs geselliges, 'normales' Leben, so beeindruckten ihn jene folgenden Ereignisse existenziell und waren Auslöser für die weitere Persönlichkeitsentwicklung. Mißtrauen gegen die Umwelt und das Gefühl des völligen Alleinseins192

186 Bazalgette an Ruederer vom 10. Juni 1901, S.(4). M I, Archiv Ruederer, Br.e. 24.3. Dt.: "Denn ich habe wirklich Angst, daß er in jener Heilanstalt ganz verrückt wird und daß er am Ende meint, er sei Jesus Christus oder der Thronprätendent von Frankreich .... Wenn ich seine Adresse wüßte, würde ich ihm ein Briefchen schreiben, aber er würde viel­ leicht glauben, daß [...] ich ihm Geheimnisse entlocken will, um ihn ins Verderben zu stürzen. Solchen Menschen wie ihm kann man nicht helfen ...". 18 7 Nisle-Klein an Conrad vom 27. Juli 1901, S.(2) . M I, MGC. 18 8 Nisle-Klein an Conrad vom 30. Juli 1901, S.(1) . M I, MGC. 18 9 Panizza an Reventlow vom 17. Dezember 1901, S. (3) . M I, Nachl. Reventlow. 19 0 TB 66, S.293 (21. Oktober 1901). 1 9 1 Panizza an Reventlow vom 17. Dezember 1901, S. (4) . M I, Nachl. Reventlow. 192 TB 71, S.4 (4. April 1902).

117

bestimmten sein Leben. Hilflos standen auch seine Freunde dem gegenüber:

"Notre ami Panizza, qui est rentré en Paris, est je crois, dans les mêmes dispositions soupçonneuses à l'égard de tous ses amis et de l'humanité en général. Je ne l’ai pas vu depuis son retour [...]"193.

Immer wieder war es auch die Familie, Mutter und Geschwi­ ster, von der sich Panizza mißverstanden, zu einem ange­ paßten Verhalten gezwungen, in seiner Individualität nicht aktzeptiert fühlte. Dabei zeigte sein Verhältnis zu ihr durchaus ambivalente Züge: Rücksichtnahme gegenüber den Erwartungen kontrastierten zu kompromißlosen Haltungen, wenngleich ein zunehmendes Aufbegehren festzustellen ist. Aber dieses Sich-Loslösen war kein Prozess mit befreiender Wirkung, vielmehr bestimmten Trauer, Empörung und Verbitte­ rung diesen Weg. Während seiner Amberger Haft schrieb er Croissant-Rust, die Familie sei im Prozess geschlossen ge­ gen ihn gewesen, sein Bruder habe gar davon gesprochen, er, Panizza, habe milde Richter gehabt, zwei Jahre Haft wären eigentlich angemessen gewesen. Panizzas Versicherung aber, er fühle die Nabelschnur zu Mutter und Verwandten nun "mit einem Ruk abgeschnitten"194, war eher ein Wunsch als der Ausdruck einer dauerhaften und nicht nur punktuellen Gefühlssituation. Vielmehr bedrängten ihn zunehmend emotio­ nale, intellektuelle und faktische Auseinandersetzungen mit der Familie. Nicht nur finanziell stellte sie sich immmer feindseliger gegen den unbequemen Sohn und Bruder195, sondern sie versuchte auch, auf sein literarisches Schaffen Einfluß zu nehmen. Panizza, der seiner Familie jede morali­ sche Voraussetzung zur Beurteilung seines Werkes ab­ sprach196, mußte nach der Veröffentlichung der "Parisjana", die bei Mathilde Panizza einen schweren Gelbsuchtsanfall auslöste197* , massiven Widerstand erfahren: "Mutter und Geschwister haben, seit langem in ihrem behaglichen Dasein durch die kritisch-scharfe Bespre­ chung meiner Schriften unangenehm berührt, sich mit vollem Haß auf mich geworfen"199.

193 Bazalgette an Ruederer vom 2. Januar 1902, S.3. M I, Archiv Ruederer, Br.e. 24.6. Dt.: "Unser Freund Panizza, der nach Paris zurückgekom­ men ist, ist, wie ich glaube, in derselben mißtraui­ schen Verfassung gegenüber allen seinen Freunden sowie der Menschheit allgemein. Ich habe ihn seit seiner Rückkehr nicht wiedergesehen 194 Panizza an Croissant-Rust vom 23. Juni 1896, S.(2). L, Nachl. Croissant-Rust. 195 Panizza an Croissant-Rust vom 29. Januar 1897, S. (7) . L, Nachl. Croissant-Rust. 196 Panizza an die kgl. Staatsanwaltschaft vom 3. Juli 1900, S.(8). M II, StAnw. 7122. 197 Panizza an Croissant-Rust vom 9. Januar 1900, S. (3) . L, Nachl. Croissant-Rust. 199 Panizza an die kgl. Staatsanwaltschaft vom 3. Juli

118

Die Familie habe die Beschlagnahme des Vermögens dazu benutzt, ihn finanziell und gesellschaftlich zu erledi­ gen1 9 9 . Sie habe sich aber erst von da an hemmungslos gegen ihn gestellt, als Regierung und Polizei aufgrund der "Parisjana" einschritten* 200. 1901 schrieb Panizza endlich, 199 das Verhältnis zu Mutter und Geschwistern sei "für immer" vernichtet201. Dennoch wandte er sich immer wieder an sie, zuletzt noch unmittelbar vor seiner endgültigen Abreise nach Deutschland (1904) in zwei verzweiflungsvollen Briefen an die Mutter. Im März 1902 vermerkte Panizza in seinem Tagebuch, daß er unter Angstzuständen, Übelkeit, Brechreiz (Nausea-Anfällen) und verschärftem gastritischem Zustand leide202; hinzu kam im folgenden Monat das erstmalige Auftreten des "Luftsingen[s], echten Halluzinazjonen"203. Offenbar um der körper­ lichen und seelischen Erkrankung entgegenzuwirken, hielt er eine mehrmonatige strenge Diät, in deren Verlauf er bis auf 62 kg Körpergewicht abnahm204. Panizza, der die Ausweisung aus der Schweiz als einen absichtsvollen Anschlag auf sei­ nen seelischen Zustand auffaßte und auch in den folgenden Jahren nicht darüber hinwegkam20’, lebte während seiner Pariser Zeit in der permanenten Furcht, erneut des Landes verwiesen zu werden. Schon in den ersten Wochen nach seiner Ankunft in Frankreich sprach er Halbe gegenüber die Hoff­ nung aus: "Wenn ich nur hier bleiben darf!"206; auch Croissant-Rust schrieb er von seiner Angst, wiederum ausge­ wiesen zu werden207. Wenngleich er zeitweise glaubte, die Gefahr einer solchen Maßnahme sei gebannt208, so hatte er dennoch bis Oktober 1901 seine Bibliothek nicht aus den Umzugskisten ausgepackt, um für den Fall einer erneuten Ausweisung unverzüglich reisefertig zu sein209. Ab September 1902 besserte sich sein Zustand. Er besuchte nach sechsmonatiger Diät erstmals wieder ein Restaurant210;

1900, S. (7f). M II, StAnw. 7122. 199 Panizza an Ostermaier vom 20. September 1900, S.(2). M II, StAnw. 7122. 200 Panizza an Ostermaier vom 4. Oktober 1900. M II,-StAnw. 7122. 201 Panizza an Reventlow vom 17. Dezember 1901, S. (3) . M I, Nachl. Reventlow. 202 TB 70, S.75-79 (18. März 1902). 203 TB 71, S.22 (26. Mai 1902). 204 Ebd., S.82 (18. September 1902). 203 Ebd., S.38 (Anfang Juli 1902). 206 Panizza an Halbe vom 28. Januar 1899. M I, Nachl. Halbe/2. 207 Panizza an Croissant-Rust vom 19. Juli 1899. L, Nachl. Croissant-Rust. 208 Panizza an Brupbacher vom 31. Januar 1900, S.(2). A, Nachl. Brupbacher/VIII.F. 209 Gutachten Ungemach vom 25. August 1901, S. (13 u.20). M II, StAnw. 7122. 210 TB 71, S.82 (18. September 1902).

119

das "Luftsingen" hatte sich zwar nur wenig abgeschwächt, insgesamt aber fühlte er sich erheblich wohler211 . Auch pflegte er wieder Umgang mit Freunden; so traf er mit Dauthendey Anfang November 1902 zusammen212, und Maya Vogt sah er nun des öfteren213. Im folgenden Jahr erholte er sich offenbar in vieler Hinsicht, er ging oft ins Theater oder Konzert214 und nahm bis April 1903 um 10 kg Körperge­ wicht zu. Dennoch wurde er weiterhin von - jetzt auch - Ge­ ruchshalluzinationen geplagt215. Über Tagesablauf und Befindlichkeit berichtete er Gustav Macasy im Mai d.J.: "Aber ich habe doch nur 6-8 Stunden Arbeits-Zeit täglich, dann verlangt der Körper Erholung, Luft und Spaziergang, und die Schurnale und Revuen wollen doch auch gelesen werden [...]. Alles, Nahrungsaufnahme, Spaziergang, Baden, Schlaf, Zeitungslektüre, Studjum und Nachschlage-Arbeit , Morgenlektüre im Bett, Aben­ derholung im Orgel-Konzert u.s.w. ist abgezirkelt wie bei einem Handschuhzuschneider. [...] Durch die jahrelange Vereinsamung, hier und in Zürich, hat sich dieses Verhältnis so herangebildet. [...] Es ist wol möglich, daß ich noch einmal verrükt werde. Denn die Konzentrazjon ist zu stark und zu lange dauernd."216

Im Sommer beabsichtigte Panizza, bei Paris eine Villa zu erwerben. Die dazu nötigen Kapitalien erbat er sich teil­ weise von der Schwester Ida, die jedoch, unterstützt vom Rat der Mutter, ablehnte217. Verbesserter Gesundheitszu­ stand, das Nachlassen der Halluzinationen und erneut aufge­ nommene Kontakte ließen den Schriftsteller auch wieder Pläne entwerfen. Im November hatte sich das "Luftsingen", das "entscheidende Fänomen", so sehr abgeschwächt, daß er es kaum noch merkte218; Gustav Macasy schickte ihm eine Manuskriptsendung für die ZD, die Panizza auch drucken lassen wollte.

Anfang 1904 jedoch nahm sein seelischer Zustand eine drama­ tisch beschleunigte negative Wendung. Er fühlte sich in

211 TB 72, S.154f (21. Oktober 1902). 212 Ebd., S.172. 213 Vgl.: TB 72, S.156 (25. Oktober 1902); S.175 (Anf. No­ vember 1902); S.283f (April 1903); und: Panizza an Croissant-Rust vom 20. Januar 1903. L, Nachl. Crois­ sant-Rust. 214 So z.B. am 7. Januar 1903 (TB 72, S.234), 19. Februar 1903 (TB 72, S.250), Ende Februar 1903 (TB 72, S.254f), 1. März 1903 (TB 72, S.256), 8. März 1903 (TB 72, S. S.259) . 215 TB 72, S.245f (7. Februar 1903) bzw. S.283 (14. April 1903). 216 Panizza an Macasy vom 20. Mai 1903. In: Ders., Neues aus dem Hexenkessel der Wahnsinns-Fanatiker (1986), S. 209f. 217 Notizen Memoiren Math. Panizza, S.22. M I, Mathilde Panizza/III. 218 TB 71, S.286.

120

Paris imitier noch nicht akklimatisiert, fror ständig, so daß er sogar in der Wohnung Handschuhe trug. "Und bei diesem meinem miserablen Gesundheitszustand will man mich in eine Ehe treiben! Ich bin froh, wenn sich kein Mensch um mich kümmert, mich definitiv in Ruhe läßt, mich nicht kujonirt und mich in meine Tücher und Schals einwikeln läßt. Ich bin krank."219 Wer Panizza mit wem verheiraten wollte, geht aus seinen Aufzeichnungen nicht hervor. Jedoch wurden die Ehepläne im Kreise der (ehemaligen) Freunde allgemein bekannt. Er sei trotz seiner "Schrullen” zu klug, "auf ein Ehebett herein­ zufallen", wußte man Croissant-Rust zu berichten220. Die Halluzinationen verstärkten sich erheblich, er war nunmehr nie ganz frei von "subjektiven, zischenden, rauschenden, wispernden Lauten"221. Am 25. Mai erreichte die Verzweif­ lung einen Höhepunkt. Er schrieb der Mutter einen Brief mit der Bitte um Hilfe, da er verfolgt würde; Mathilde Panizza riet ihm daraufhin, eine Nervenheilanstalt aufzusuchen222. Über seinen Zustand an diesem Tage gibt sein Diarium Aus­ kunft: "Man hat durch monatelang fortgesezte Peinigung und sistematisches Experimentiren mein Sensorjum so ge­ fälscht, daß, als heute Abend ein par Schwalben, im Fluge, mit ihrem bekanten surrend-schwirrenden Laut, an meinem offenen Fenster vorübersausten, ich er­ schrak, und eine der infamen, mich verhöhnenden Imitazjonen zu vernehmen glaubte, denen ich stundenlang ausgesezt bin”223.

Einen Tag später quälten ihn scheußliche Geruchshalluzina­ tionen224 , und vier Tage nach dem ersten schrieb Panizza einen zweiten Hilferuf an die Mutter. Mathilde Panizza, die zudem glaubte, ihr Sohn befinde sich in Geldnot, schickte ihre Enkelin Mathilde Collard nach Paris, um Oskar nach Deutschland zu holen. Panizza ließ sie aber nicht in die Wohnung, so daß sie allein wieder zurückreiste225226 .

Um den Halluzinationen und Verfolgungen zu entgehen, stieg Panizza schließlich am 23. Juni in den Zug nach Lausanne2 2 6 . Acht Tage blieb er am Genfer See, wurde aber

219 TB 73, S.84 (ca. Februar 1904). 220 Wotan [d.i.(?) Heinrich von Reder] an Croissant-Rust vom 2. Januar 1904, S.(2). L, Nachl. Croissant-Rust. 221 TB 73, S.107 (10. April 1904) u. S.99f. 222 Notizen Memoiren Math. Panizza, S.22. M I, Mathilde Panizza/III. 223 TB 73, S.208 (25. Mai 1904). 224 Ebd., S.209 (26. Mai 1904). 225 Notizen Memoiren Math. Panizza, S.22. M I, Mathilde Panizza/III. 226 Panizza, Selbstbiographie. A.a.O., S.22. Sein letzter Eintrag im Tagebuch (TB 73, S.249) trägt ebenfalls die­ ses Datum (Notizen zum Sonnenauf- und -Untergang).

121

auch dort von den "Pfeifereien" verfolgt227. Er fuhr nach München und - da "hier ebenfalls die Molestirungen began­ nen'*228 - ersuchte um die Aufnahme in die Kreisirrenan­ stalt. Direktor Vocke verwies ihn wegen Überfüllung an die Privatirrenanstalt Neu-Friedenheim, wo er vom 3. Juli an für zehn Tage blieb2 2 9 . Weil er sich dort schikaniert fühlte und überdies mit Direktor Dr. Rehm in eine scharfe Auseinandersetzung geriet, wurde Panizza aufgefordert, die Anstalt zu verlassen230. Ab dem 20. Juli bewohnte er in der Feilitzschstraße 19 in München-Schwabing bis Oktober ein kleines Zimmer231, vermied nach Möglichkeit Kontakte, ging häufig im Englischen Garten spazieren und besuchte bei schlechtem Wetter morgens die Universitätsbibliothek. Doch die Halluzinationen verschärften sich derart, daß "auch Nachts schwere Belästigungen durch weittragende Pfeifen und Flöten metallischen Charakters"232 ihn quälten, denen er sich endlich am 9. Oktober durch Selbstmord entziehen wollte, was er jedoch aufgrund von "Mutlosigkeit" im letz­ ten Moment nicht in die Tat umsetzte233. Während dieser Monate in München versuchte Panizza wieder­ holt, den Kontakt zu seiner Familie wiederaufzunehmen. Nachdem ihm seine beiden Briefe vom Mai an die Mutter nicht die gewünschte Hilfe gebracht hatten, ließ er Mathilde Panizza durch deren Schwester Maria Feez (die er besucht hatte) wissen, daß er sie sprechen wolle. Seine Mutter aber, die ihren Sohn seit Jahren nicht gesehen hatte, lehnte ab: sie fürchtete, "es könne mich vor Aufregung bei diesem Wiedersehen der Schlag treffen"234. Der auch während dieser drei Monate in München literarisch arbeitende Panizza233 traf während dieser Zeit noch einmal mit Scharf zusammen. Obwohl Panizza dessen Entwurf zu einer neuen Buchpublikation gelesen und ausführlich beurteilt hatte236.

Ebd., S. 22f. Ebd., S. 23. 2 2 9 Bauer, a .a.O., S.217. 2 3 0 Panizza, Selbstbiographie. A.a.O., S.23. 2 3 1 Bauer, a .a.O., S.217. 2 3 2 Panizza, Selbstbiographie. A.a.O., S.24. 2 3 3 Ebd. 2 3 < Notizen Memoiren Math. Panizza, S.23 u.22. M I, Mathilde Panizza/III. 2 3 S Panizza, Selbstbiographie. A.a.O., S.24. Es ist allerdings nicht festzustellen, um welche Texte es sich hier handelte. Die literarischen Arbeiten, die in M I aufbe­ wahrt werden, zeigen folgende Chronologie: als letzte in Paris verfaßte Texte sind "Laokoon oder über die Grenzen der Mezgerei” (vgl. Kap. 4.3.1.1./15) und das Gedicht "Franz von Lenbach +" (vgl. Kap. 4.3.1.2./46) vom 1. Juni 1904 anzusehen. Der nächste bekannte lite­ rarische Text datiert erst wieder vom 26. November 1904 ("An den Grafen Pückler” (Gedicht). M I, Nachl. Reventlow (im Konvolut der Briefe Panizzas an Reventlow)). 336 Scharf an Halbe vom 13. August 1904, S.(4). M I, Nachl. Halbe. (Es handelte sich um die "Tschandala-Lieder", die 1905 publiziert wurden.) 2 2 7

2 2 B

122

gab er seinem Vermieter die Anweisung, den Freund und Kollegen zukünftig nicht mehr vorzulassen237. Lediglich die Gräfin Reventlow empfing er noch zu einem Besuch238; anson­ sten verweigerte er selbst die Annahme der Korrespon­ denz2 3 9 . Schließlich kompromittierte sich Panizza - der sich inzwischen sogar von Passanten und Restaurantbesuchern schikaniert fühlte240 - selbst, indem er am 19. Oktober nachmittags um 5 Uhr "nur mit dem Hemd bekleidet im Lauf­ schritt durch die Strassen rannte". Angehalten und von einem Schutzmann befragt, gab er an, er hieße Ludwig Froh­ mann und lebe in der Irrenanstalt241. Den beabsichtigten Zweck dieses Manövers, nämlich auf seinen Geisteszustand untersucht zu werden, um sich und anderen den Beweis zu liefern, daß er nicht halluziniere242, erreichte er nur teilweise. Er wurde am gleichen Tag in die psychiatrische Klinik eingewiesen und fühlte sich zunächst geborgen243. Mathilde Panizza wurde gleichzeitig aufgefordert, für ihren Sohn einen Vormund zu bestellen; sie wählte dazu den Rechtsanwalt Josef Popp244. Panizza, der im November auf Wunsch der Ärzte seine "Selbstbiographie" verfaßte, sah sich selbst noch in der Anstalt von den Freunden im Stich gelassen und nurmehr als Verursacher außergewöhnlicher Neuigkeiten von Interesse. An Max Halbe schrieb er Anfang Januar 1905: "Die Gräfin zu Reventlow sagte mir gestern, sie hat­ ten eine Notiz in den Berliner 'Tag' gesant, die meine Stellung unter Vormundschaft meldete. [...] Es scheint, die Grausamkeit ist noch das einzige Motiv, unter dem es gelingt, die Welt für uns zu intereßiren. Und auch unsre Freunde, die uns helfen wollen, und mit uns gemeinschaftlichen Zielen nachjagen, scheinen es nur noch unter der Form tun zu können, daß man prinzipiell auf jede Art von Barmherzigkeit unter einander verzichtet."245 Am 1. Februar 1905 teilte Rechtsanwalt Popp Mathilde Panizza mit, Oskar könne nicht länger in der psychiatri­ schen Klinik in München bleiben; er solle nach Herzogshöhe bei Bayreuth, was besser für ihn und zudem - billiger sei246. Ober Panizzas Reaktion darauf berichtete Mathilde Panizza: 2 3?

2 3 3 2 3 9 2 4 0 2 4 1 2 4 2

2 4 3

2 4 4

2 4 3

2 4 6

Gutachten Prof, von Guddens über den Geisteszustand des Dr. Oskar Panizza vom 2. Februar 1905 (im folgenden: Gutachten Gudden), S.12. M II, AG 21561. Ebd., S.13. Ebd., S.12. Ebd., S.10 u.12. Ebd., S.lOf. Bauer, a.a.O., S.218. Notizen Memoiren Math. Panizza, S.23. M I, Mathilde Panizza/III. Ebd. Panizza an Halbe vom 9. Januar 1905. M I, Nachl. Halbe/ 13. Notizen Memoiren Math. Panizza, S.23. M I, Mathilde Pa-

123

"Oskar möchte zwar lieber nach Frankreich zurück, wen dies aber nicht anginge, wäre ihm der Ort einer­ lei."* 247

Daß es sich gerade so nicht verhielt, belegt sie selbst in einem acht Jahre später verfaßten Brief an Dekan Lippert. Dort schilderte sie die Umstände der Einweisung folgender­ maßen:

"So kam er nach Bayreuth. Trostlos war Oskar' s Ge­ schick für ihn er wollte sterben u. nahm deshalb nichts zu sich da bekam er einen schweren Magenkrampf u. verlangte auf dem Boden liegend in seinem Schmerz eine heiße Boullion. Da war das sich aushungern wol­ len gehoben, aber nicht sein Starrsih u. sein ganz unzugängliches Wesen"248.

Ganz offensichtlich trat Panizza, der mit einer fairen und kompetenten Untersuchung seines Geisteszustandes rechnete und darauf hoffte, wieder nach Frankreich zurückkehren zu können, angesichts der Maßnahmen, die ihn für den Rest seines Lebens in Anstalten sperren sollten, als letzte ihm verbliebene Protestmöglichkeit in Hungerstreik. Aber ebenso wenig wie die Mutter beeindruckte dies die anderen Betei­ ligten an seinem 'Fall': Oskar Panizza, der sich in St. Gilgenberg und später in Herzogshöhe wohl mit Patienten, aber nicht mit den Ärzten unterhielt, Schach spielte, spazieren ging und auch mit sich selbst (aber nur in Fran­ zösisch) sprach249, wurde am 28. März 1905 gegen seinen Willen entmündigt250.

247 248 249 250

nizza/III. Tatsächlich kam er zunächst in die Heilan­ stalt St. Gilgenberg. Ebd. Mathilde Panizza an Lippert vom 18. Februar 1913, S. (5f). M I, Mathilde Panizza, Konvolut,18/. Die Ortho­ graphie ist authentisch. Notizen Memoiren Math. Panizza, S.24. M I, Mathilde Panizza/III. Bauer, a.a.O., S.219.

124

3.1.2. Psychische Situation 3.1.2.1. Selbstzeugnisse

Die Furcht vor der Geisteskrankheit und die intensive Aus­ einandersetzung mit ihr begleiteten von Beginn an Panizzas literarisches Schaffen. Bereits 1885 formulierte er in den "Düstren Liedern" seine Angst vor dem "rothen Haus" (S.10), der Irrenanstalt. Dem voraus gingen seine Erfahrungen als Assistenzarzt in Prof. Guddens psychiatrischer Klinik (1882-1884); er selbst berichtete, daß dieser Gedichtband entstanden sei "teils unter Nachwirkung einer in der Irren­ anstalt aufgetretenen gemütischen Depression, die fast ein Jahr anhielt"1 . Über den realen autobiographischen Hinter­ grund des "rothen Hauses" vermerkte der Schriftsteller 1886 in seinem Tagebuch während eines England-Aufenthaltes, daß er Gefahr laufe, zu Hause in Deutschland wegen der zahlrei­ chen Irrenhäuser zu Grunde zu gehen, "die Verführung ist zu Groß", und es sei "nicht absolut ausgeschloßen, daß ich dort [in die Irrenanstalt] unversehens hineintappe"2 . Auch die im selben Gedichtband enthaltene Ballade "Der Firm,ling", in der während der Firmungsfeier ein Knabe durch krankhaft gesteigerte religiöse Schuldgefühle stirbt, be­ zieht sich auf eigene Kindheitserfahrungen: als 12jähriger erlitt Panizza während einer Masernerkrankung eine Art somnambulen Anfall, wobei er "bei Tag in unbewußtem Zustand das Bett (verließ), [...] und [...] schließlich betend vor seinem Bette kniend gefunden und aus seinem Trans gerettet (wurde)."3

Etwa um die gleiche Zeit, als Panizza jene Angst vor dem Irrenhaus in seinem Tagebuch aufzeichnete (1885/86), be­ faßte er sich intensiv mit dem Schicksal des bayrischen Königs Ludwig II., der am 13. Juni 1886 unter bis heute un­ geklärten Umständen zusammen mit seinem Arzt, Panizzas ehemaligem Chef Bernhard von Gudden, im Starnberger See den Tod fand. Aus diesem Anlaß reflektierte Panizza in seinen Tagebüchern die Ludwig unterstellte Geisteskrankheit und dessen Verhältnis zu seinem Leibarzt, der auch der medizi­ nisch Verantwortliche für die den König betreffende Erklä­ rung der Unzurechnungsfähigkeit war. Panizza identifizierte sich in hohem Grade mit dem "wahnsihigen jungen Menschen", der sich "in den Händen von Viehtreibern, Schlößern u. Metzgern" befinde, "die wegen ihrer Stieranlagen zu Irren­ haus Wärtern" bestellt worden seien4. Panizza sammelte zahlreiche Detailinformationen über den Geisteszustand des Königs, die er teilweise selbst recherchierte5, und stellte die Diagnose "Verfolgungswahn"; Ludwig habe sich von den Sozialisten und der deutschen Kaiserfamilie in Amt und 1 2 3 4 5

Panizza, Selbstbiographie. A.a.O., S.ll. TB 26, S.239f (ca. August/September 1886). Panizza, Selbstbiographie. A.a.O., S.10. TB 25, S.97 (ca. Juni 1886). Ebd., S.131.

125

Leben bedroht gefühlt6. Begründet war die monatelange Beschäftigung des Schriftstellers und Psychiaters primär durch die seelischen Affinitäten, die ihn mit Charakter und Gefühlslage des Monarchen verbanden: "Armer junger König, wie bedaure ich Dich, - ich vielleicht aus geheimer Sympathie mehr den jeder an­ dere, - den ich steke ja, junger König, in einer nicht viel beßeren geistigen Haut als Du, - und ich rede Dich per Du an, weil ich Dein geistiger Bruder sein könnte; - auch mir nagts imer an der Seele, u. tolle Gedanken schlagen oft Lärm in meinem Kopfe"7.

Die Parallelen zu Panizzas späterem Schicksal sind frappie­ rend; ebenso erstaunlich ist die nahezu prophetische Gabe, mit welcher der 33jährige seinen künftigen Lebensweg erahnte. Auch Panizza sah sich von der "Mezgermentalität" seiner Mitmenschen gequält, glaubte sich vom deutschen Kaiser persönlich verfolgt und als Opfer der sich durch ihn bedroht fühlenden politischen Macht, ebenso wie Ludwig die Krone aus Gründen der "Staatsraison"8 genommen worden war. Auch Ludwigs Mißtrauen gegen seine persönliche Umgebung, das sich in Gewalttätigkeiten gegenüber Untergebenen äußerte9, fand seine Entsprechung in Panizzas ebenfalls zu physischer Gewalt neigenden Verdächtigungen, daß selbst Freunde ihn im Auftrage der Polizei bespitzeln wollten.

Es ist im Zusammenhang mit der Frage nach Panizzas psychi­ scher Verfassung von besonderer Bedeutung, seine eigene Auffassung des Begriffs der Geisteskrankheit, der für ihn keineswegs negativ konnotiert war, zu erörtern. Er konsta­ tierte eine ursächliche Kausalität zwischen "höhere[r] Reizbarkeit und Empfänglichkeit des Gehirns"1'’, die sich bis hin zu einer pathologischen mentalen Disposition stei­ gern könne, und der Qualität literarisch-künstlerischen Schaffens: Eine ungewöhnlich empfindsame Psyche könne zur Erkrankung führen, was wiederum die Voraussetzung künstle­ rischer Produktion sei, nämlich "als das beste Ableitungs­ mittel für allerlei psichopatische Anwandlungen"11. Seine These lautete: Je schärfer eine solche Disposition ausge­ prägt ist, desto besser fällt die Qualität des Werkes aus12. Es muß also auch - bezogen auf ihn selbst - eine gewisse innere Bereitschaft zur Akzeptierung pathologischer mentaler Tendenzen festgestellt werden, die auf die Ent­ wicklung seiner Psyche ihre Wirkung nicht verfehlt haben dürfte. Panizza, für den die Auseinandersetzung um diese Fragen jahrzehntelang ein zentrales Thema wissenschaftlicher und 6 7 8 9 10 11 12

Ebd. und S.157. Ebd., S.99 (ca. Juni 1886). Ebd., S.97. Ebd., S.131 (ca. Juni/Juli 1886). ZD 1, S.(4). Panizza, Selbstbiographie. A.a.O., S.12. ZD 1, S.(5) .

126

persönlicher Art war (seine Tagebücher sind angefüllt mit Exzerpten und Reflexionen zu diesem Bereich), schrieb im Juni 1896, also noch lange vor den dokumentierten psychi­ schen "Molestirungen", daß es ein Glück sei. Geisteskranke zu haben13. Denn diese impulsiven Menschen handelten spon­ tan aus einem unbändigen, undisziplinierten, unangepaßten Willen heraus, um dadurch ihr Inneres zum Ausdruck zu bringen. Sie täten dies ohne alle Rücksicht auf ihre gesellschaftliche, politische oder künstlerische Reputation und seien in ihrer korrigierenden und entlarvenden Funktion besonders anzuerkennen, da sie das zu sagen wagten, "was wir mit unseren gesunden, vorsichtigen Sinnen [...] zu reden, zu tun" uns versagten (S.65). Menschen, bei denen dieser spontane Impuls einen unwiderstehlichen Zwangscha­ rakter annehme, bezeichne der Psychiater als geisteskrank, da deren freier Wille eingeschränkt sei. Nach Panizzas Auf­ fassung bedeutet diese Qualifizierung jedoch eine "voll­ ständige Verkennung des psichologischen Vorgangs [...], denn der trokenste [...] Filister handelt genauso nach Impulsen und Motiven, wie der krankhaft Impulsive" (ebd.), lediglich die Größenordnung und die Intensität dieser Antriebe unterscheide beide voneinander. Der Grad der jeweiligen Anpassungsfähigkeit an herrschende Verhaltens­ normen, abweichendes Verhalten in auffälliger Weise, das keine Rücksicht nimmt oder nehmen kann auf die Folgen dieses Verhaltens für die eigene Person im sozialen Umfeld, ist demnach der Gradmesser für eine 'gesunde' resp. 'kranke' Existenz. Wer sich aber unter einem Zwang zum impulsiven Handeln sieht, sich von seinem "Dämon” geführt glaubt und dann soziale wie strafrechtliche Sanktionen als Folgen des eigenen Verhaltens gewärtigen muß, d.h. die angepaßte sozialdisziplinierte Rolle nicht mehr zu spielen vermag, ist nach dieser, von Panizza als gesellschaftlich gültig festgestellter Definition geisteskrank. Es liegen hier also zwei Verständnisebenen vor: Geisteskrankheit als Terminus der Psychiatrie und Panizzas eigene Begrifflichkeit, die das, was nach damals gängiger Definition damit gemeint ist, lediglich als ein das 'normale' Maß überstei­ gendes Verhalten ansieht.

Der Schriftsteller traf hier - sich dessen wohl noch nicht ganz bewußt, da er das "Wir" den Geisteskranken gegenüber­ stellte - die Autodiagnose der späteren Jahre. Seine Krite­ rien bezeichneten exakt die eigene, sich bereits abzeich­ nende spätere Situation. Im Juni 1896 saß er noch wegen des "Liebeskonzils", des verbotenen Werkes, mit dem er sich kritische Äußerungen erlaubt hatte, die das übliche Maß des Wagemuts überschritten hatten, im Gefängnis; auch nach der Haft veröffentlichte er fast ausschließlich Texte, die verboten wurden, wagte also, sich "unbändig" und "unange­ paßt" zum Ausdruck zu bringen. Und auch den Zwangscharakter seines Handels bestätigt Panizza in einer Tagebuchaufzeich­ nung aus dem Jahre 1897, wonach er als "Psichopate" in seinem künstlerischen Schaffen seine um Hilfe schreiende

13 TB 62, S.65 (im folgenden im Text zitiert).

127

Seele offenbare* 14* 13 . Tatsächlich traten in den nächsten Jah­ ren die Folgen, die provoziert werden, wenn man ohne "Rüksicht auf Leben und Gesundheit"13 alles zu sagen sich erlaubt, bei Panizza selbst sukzessive ein.

Seit seiner Ausweisung aus Zürich sah sich der Autor direkt von den deutschen Behörden im Auftrage Wilhelms II. verfolgt. "Kaiserliche Spizel"16 trieben mit ihm eine "bei­ spiellose Menschenheze"17, die sich äußere in Schikanen "wie Auslöschen des Herdfeuers, Verstopfung des Kamins, Abschneiden des Wassers, Beschädigung der Wohnungsschlös­ ser" und "in rafinirten, auf peinlichste Verletzung des Nervensistems berechneten Pfeifereien"1 8 , die ihn überall quälten. Selbst während seiner Haft im Frühjahr/Sommer 1901, die er ja für eine Komödie der Behörden hielt, glaubte er sich bespitzelt. Den Besuch eines Buchhändlers namens Rupprecht, der von ihm eine Empfehlung für Mathilde Panizza erbat, hielt der Häftling für eine Polizeifinte19. Er vermutete als Koordinierungsinstitution eine "Zentral­ stelle [...], die mich seit über Jahresfrist hänselt, kujonirt und an der Nase herumführt"20 und auch Verbindungen zum Ausland unterhalte. So lehnte Panizza im Jahre 1900 das - nach seinen Worten - ihm "sub rosa" mitgeteilte Angebot der Zürcher Polizei ab, in die Schweiz zurückzukehren, weil er glaubte, "daß hier wieder Berliner Fäden mit im Spiele" wären21 .

Nun war der Verdacht, polizeilich auch im Ausland überwacht zu werden, zwar in der hier unterstellten Art und Intensi­ tät unrealistisch, aber prinzipiell nicht ohne reale Hin­ tergründe. Es war seinerzeit bekannt, daß die preußische Polizei über ein einflußreiches und wohlausgebautes Spit­ zelsystem verfügte, das im In- und Ausland operierte und über das sogar im Reichstag debattiert wurde. In einer Rede vor dem Parlament erklärte der SPD-Abgeordnete Paul Singer im Jahre 1888, man verfüge über Material, welches beweise, "daß das Berliner Polizeipräsidium der Mittelpunkt einer internationalen Spitzelgesellschaft ist"; man werde den Nachweis führen, "daß von Berlin aus die Fäden über die ganze Welt sich spannen, [...] um Leute zu Verbrechen anzu­ reizen"22. Interessanterweise begann Singer seine Ausfüh­ rungen mit dem Beispiel eines in Zürich (!) tätigen, von der Berliner Polizei ausgebildeten und bezahlten Agenten. ” 13 16 17

18 19 20 21 22

TB 63, S.101 (ca. Juli 1897). TB 62, S.65 (Juni 1896) . TB 65, S.231 (26. März 1901). Panizza an das Münchner Amtsgericht vom 15. November 1904. In: Gutachten Gudden vom 2. Februar 1905, S.29. M II, Ag 21561. Panizza, Selbstbiographie. A.a.O., S.19. TB 68, S.24 (13. Mai 1901). Panizza an Reventlow vom 4. September 1901, S.(6). M I, Nachl. Reventlow. Panizza an Ostermaier vom 8. Oktober 1900, S.(2). M II, StAnw. 7122. Zitiert nach: Ritter, a.a.O., S.238.

128

Auch Panizzas permanente Furcht, durch entsprechende Inter­ ventionen der deutschen Behörden aus Frankreich ebenfalls ausgewiesen zu werden, entbehrte nicht realer Grundlagen. Der Freiherr Otto von Grote, zeitweise Financier der "Zürcher Diskußjonen" und langjähriger Briefpartner Pa­ nizzas, fürchtete, der Schriftsteller wolle ihn erpressen. Dieser verfügte über einige von Grote selbst geschriebene und diesen selbst kompromittierende Briefe, so daß Grote wie er glaubte - bei einer eventuellen Veröffentlichung der Korrespondenz durch Panizza Gefahr liefe, "mit dem Staats­ anwalt in Berührung" zu kommen23. Er beabsichtigte daher, ihm eine "Notiz über Briefgeheimnis [...] über die deutsche Gesandtschaft [in Paris] zukommen" zu lassen24. Schon ein Jahr zuvor hatte der Baron erwogen, Mittel in Bewegung zu setzen, um Panizza ausweisen zu lassen; er brauchte nur "dem mir bekannten Botschafter Grfn. Münster [...] einige Zeilen zusenden [...], welche zweifellos die Ausweisung zur Folge hätten"25. Er erkundigte sich aber gleichzeitig bei Conrad, ob Panizza einem erneuten Hinauswurf gewachsen sei, womöglich könne man ihn zuvor warnen, damit er sich mäßige. Weiterhin fragte er Conrad, ob jener einen Umzug nach London finanzieren könne26.

Nimmt man zur Beurteilung der Situation noch hinzu, daß Panizzas nach Deutschland adressierte Briefe möglicherweise amtlich geöffnet wurden - was zumindest in einem Falle verbürgt ist27 -, so wird deutlich, daß sich der ohnehin psychisch überreizte und hochsensible Schriftsteller einer Art Kesseltreiben ausgesetzt sah, das paranoide Tendenzen erheblich verstärkt haben dürfte. Auch Panizzas Mißtrauen gegenüber seiner Familie, die er in gemeinsamer Sache mit der Staatsanwaltschaft vermutete, war nicht unbegründet. Der Staat wirkte negativ sanktionierend auf ihn und sein literarisches Schaffen ein; Panizza fühlte sich gedrängt, seinem Schreiben eine Zensur aufzuerlegen, - dem kam er freilich nicht nach. Er begriff und erfuhr Staatsgewalt als Disziplinierungsmacht, die ihn auf die Bahn des Angepaßten, des Bürgerlichen zwingen wollte. Desgleichen erlebte er seine Familie: mit der forcierten staatlichen Verfolgung wuchs auch der Druck seitens der Mutter und der Geschwister (vgl. die Reaktionen auf die "Paris jana") . Die Briefe Pa­ nizzas an Ostermaier belegen seine Angst, die Mutter wolle ihn mittellos machen, um damit sein schriftstellerisches Schaffen zu unterbinden20. Hier deckte sich staatliches Interesse mit dem der Mutter, und es klingt in diesem Lichte äußerst plausibel, wenn Panizza schrieb: "Denn meine Mutter ist die Polizei, oder die Staatsgewalt"29. Mathilde 2 3 2 « 2 3

2 6 2 7

2 3

2 9

Grote an Conrad vom 8. März 1900, S. (2) . M I, MGC. Grote an Conrad vom 8. Januar 1900, S.(2) . M I, MGC. Grote an Conrad vom 5. Februar 1899, S.(5).•MI, MGC. Grote an Conrad vom 11 . Februar 1899, S.(2)'.MI, MGC Vgl.: Notizen Memoiren Mathilde Panizza, S.22. M I, Math. Panizza/Ill. Vgl.: Panizza an Ostermaier vom 20. und 28. September 1900. M II, StAnw. 7122. Panizza an Ostermaier vom 1. November 1900, S.(l). M II,

129

Panizza und die Behörden verfolgten in der Tat ähnliche Ziele: den politisch-gefährlichen bzw. die bürgerliche Reputation bedrohenden Literaten mundtot zu machen.

Im Frühjahr 1902 traten erstmals von Panizza selbst als solche bezeichnete Halluzinationen in deutlicher Intensität auf. Er vermerkte dazu am 26. Mai in seinem Tagebuch: "Seit ca. 1 Monat leide ich an Luftsingen, echten Halluzinazjonen, das vielleicht mit dem Befolgen eines rigorosen diätetischen Verfahrens, das ich seit 2 Monaten anwende (Enthalten von Fleisch und Alkoho­ lika) zusammenhängt. [...] Wenn ich zum Fenster hinausseh [...], klingt es oft täuschend wie das Zwitschern von Vögeln [...]. Und ich erinnere mich, daß ich schon einmal in München i.J. 1895 [...] mich wunderte, daß Nachts um 4 Uhr soviel Vögel sangen, während tatsächlich nur eine Amsel schlug. Jezt weis ich, daß das 'Gezwitscher' damals echte Halluzinazjo­ nen waren."30

Im März desselben Jahres berichtete er zudem über das Auf­ treten völlig unmotivierter Furchtzustände, die bis hin zu Todesangst sich steigerten31. Das mochte Zusammenhängen mit den Nachwirkungen der schweizer Ausweisung, die er nie ganz verwandt. Selbst dreieinhalb Jahre in Paris hatten nicht vermocht, "mich gänzlich über jenen Schlag, der mich in Zürich [...] traf, und der mich von da an die äußeren Geschehniße der Welt als nebensächlich, Larifari, Marjonettentäuscherei, zu betrachten, und nur noch nach Innen zu horchen, hinwegzusezen", schrieb er im Juli 19 0 232. Einige Monate später hatte er sich an das "Luftsingen", das an Intensität bis dahin nicht zugenommen hatte, gewöhnt und erklärte es sich als Abstinenzerscheinung33. Neu aufgetre­ ten waren jedoch in diesen Wochen nächtliche Halluzinatio­ nen, in denen er im Traum "eine mir vollständig fremde Stimme von tiefem timbre aus dem Magen kommen und einige ganz fremde Laute und Wortformen aussprechen'' hörte34* . Außerdem trat mit dem "Luftsingen" sehr häufig ein "Ohrenklingen" auf: "Selbstverständlich ist auch dieses 'Ohrenklingen', welches Jedermann kent, eine echte Halluzinazjon."3 5 Panizza diagnostizierte und dokumentierte seine von ihm selbst so genannte "Krankengeschichte" nicht nur, sondern verfaßte zudem zahlreiche theoretische Texte und auch Definitionen zu psychiatrischen Problemen und Begriffen,

StAnw. 7122. TB 71, S.22f 3 1 TB 70, S.77 (18. März 1902) 3 2 TB 71, S.38. Das Zitat ist in dieser syntaktischen Form authentisch. 33 Ebd., S.82 (18. September 1902). 34 Ebd., S.80f. 30 TB 72, S.154f (21. Oktober 1902). 3 0

130

die durch die eigene Betroffenheit veranlaßt wurden. Sie sind daher in Beziehung zu setzen zu Panizzas eigenen psychischen Problemen und ermöglichen darüber hinaus, des Autors eigene Diagnose und Wertung daraus herzuleiten. So bezeichnete er Halluzinationen, Stimmungsanomalien und Wahnbildungen als Symptome von Geisteskrankheit, wobei er allerdings diesen Begriff in Abhängigkeit der jeweiligen historischen Situation faßte, also nur eine relative, keine absolute Definition zuließ: "Geisteskrankheit ist nur eine Verschiebung und Ver­ lagerung des geistigen Schwerpunkts zu Gunsten oder Ungunsten der geistigen Gesamtkräfte, gemeßen an der jeweiligen Kulturhöhe und dem milieu der Sitten und Gebräuche."3 6

So galt z.B. ein halluzinierender Gläubiger im 15. Jahrhun­ dert als Sprachrohr Gottes; hingegen sei heute nur der Halluzinant als geisteskrank zu bezeichnen, der diese Täu­ schungen in ihrem "krankhaften Karakter verkent" und bei dem dieselben "auf Kosten seiner Gesamtgeisteskräfte die Herschaft an sich reißen"36 37. Panizza war sich in der An­ fangsphase seiner psychischen "Molestirungen" durchaus noch der Krankhaftigkeit seiner Halluzinationen bewußt; endlich sah er sich aber von diesen Erscheinungen nahezu völlig beherrscht und suchte auch zunehmend deren Ursachen außer­ halb der eigenen Psyche. Er, der sich schließlich nie ganz frei von "subjektiven Lauten" fühlte, Mißtrauen gegen jeden hegte, Freunde als Spitzel verdächtigte und sogar von den Franzosen glaubte, sie wollten ihn strafen38, der weiterhin meinte, er werde "sistematisch einer selischen Tortur unterworfen"39, war häufig nicht mehr in der Lage, den pathologischen Charakter seiner Halluzinationen zu erken­ nen, wurde demnach - gemäß seiner eigenen Definition - gei­ steskrank. Offenbar vermochte er tatsächliche Geräusche, die er auf sich bezog, und halluzinierte nicht mehr immer voneinander zu unterscheiden. Wichtig ist es aber in diesem Zusammenhang zu bemerken, daß hier nicht von einem perma­ nenten, gleichsam hermetisch geschlossenen, krankhaften Zustand gesprochen werden kann, sondern offensichtlich nur von dem punktuellen, sich freilich verdichtenden und schließlich vorherrschenden Auftreten von Phänomenen, die als Symptome von Geisteskrankheit bezeichnet werden müssen. Als Beispiel für Panizzas Vermögen, auch noch in den Phasen schwersten Sich-verfolgt-Fühlens von der persönlichen Si­ tuation zu abstrahieren und eine sachliche Auseinanderset­ zung mit dem eigenen Problem - wenn auch gleichsam ver­ kappt - zu leisten, kann an dieser Stelle sein Text "Rousseau's Verfolgungswahn” vom Juni 190340 angeführt werden, in dem eine kurze Genese der Paranoia des berühm­ ten Philosophen zu konstruieren versucht wird. Diesem 36 37 38 39