Oskar Panizza : Ein literarisches Porträt 3446140557

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Oskar Panizza : Ein literarisches Porträt
 3446140557

Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Anmerkungen
Verzeichnis der benutzten Archive
Bibliographie Oskar Panizza
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Nachbemerkungen
Namen-, Begriffs- und Werkregister

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Michael Bauer

Oskar Panizza

Ein literarisches Porträt Ha nser

Literatur als Kunst Eine Schriftenreihe, herausgegeben von Walter Hollerer

Michael Bauer

OSKAR PANIZZA Ein literarisches Porträt

Carl Hanser Verlag

ISBN 3-446-1)981-8 Ln. ISBN )-446-i40j$-7 Br. Alle Rechte vorbehalten © 1984 Carl Hanser Verlag München Wien Umschlag: Klaus Detjen Foto: Oskar Panizza Mit freundlicher Genehmigung von Rainer Wirth Herstellung: Pustet, Regensburg Printed in Germany

Inhalt Einleitung 7

»Der Fall Oskar Panizza* »Das Liebeskonzil« als literarische Provokation 15 Die »Legendisirung« eines Gotteslästerers 18 Panizza - zwischen Martin Bormann und Walter Mehring 24 »In memoriam Oskar Panizza«. Neue Aspekte zu einem Standardwerk 27 Der Streit um das (literarische) Erbe des Entmündigten 28 Der »Illusionismus* und Panizzas Rettung seiner Persönlichkeit Normalität, Genie und Wahnsinn. Panizzas Realitätsempfinden 39 Die politische Dimension des Begriffes »anormal« 44 »Dämon«, individuelle Not und künstlerische Inspiration 48 Zur Funktion literarischen Schaffens für Oskar Panizza 51

Erziehung und literarische Thematik Bigotterie und Lebenslust: Das Kissinger Elternhaus 59 Der Streit um die religiöse Erziehung der Kinder 65 Oskars Erziehung zum Geistlichen 70 »Die gelbe Kroete«. Panizzas literarische Auseinandersetzung mit seiner Kindheit 73 Exkurs: Der unverstandene Sohn, »Ein guter Kerl« 78 Die Vision vom »Tier« und ihre sprachliche Gestaltung 81 Vom Zögling zum Dichter Gymnasium, Bankvolontariat und Musikstudien 87 Der Medizinstudent, Pathologe und Psychiater Panizza 94 Exkurs: »Ein scandalöser Fall«. Die Verwirrungen der Alexina B. 101

Oskar Panizza und die Münchner Moderne Die literarische »Moderne« 107 Die Politik und Position Michael Georg Conrads innerhalb der Münchner Boheme 112

»Die Gesellschaft für modernes Leben«. Programm und Vereinspolitik 116 Oskar Panizzas Beitrag zu moderner Publizistik und zeitgenössischen Anthologien 123 Behördliche Repression als Konsens der Münchner Moderne 135 »Freie Bühne« und »Intimes Theater« 141

Religion und Sexualität. Zentrale Themen der Moderne im Werk Panizzas »Das Liebeskonzil«. Ein Literaturskandal und sein politischer Hintergrund 151 Literarische Einflüsse auf Panizzas »Himmels-Tragödie« 138 Der Himmel - eine Projektion irdischer Religiosität 166 Religion und Sexualität in Panizzas Prosa 179 »Ein bischen Gefängnis und ein bischen Irrenhaus*. Panizzas Flucht aus dem Wilhelminischen Deutschland Die Haft Oskar Panizzas und ihre literarischen wie persönlichen Folgen 185 Emigration und Ausweisung aus Zürich 193 »Ein >deutscher< Dichter in Paris« 204 Die Internierung Oskar Panizzas im »rothen Haus« 217 Anmerkungen 225 Verzeichnis der benutzten Archive 281

Bibliographie Oskar Panizza Einleitung und Gliederung 283 Primärliteratur 284 Sekundärliteratur 307

Nachbemerkungen 332 Register 333

Einleitung In seiner Einleitung »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« schrieb Karl Marx über den Reformator Martin Luther, er habe den Glauben an die Autorität gebrochen, da er die Autorität des Glau­ bens restauriert habe. »Er hat den Menschen von der äußern Religio­ sität befreit, weil er die Religiosität zum innem Menschen gemacht hat.« Dieses Bild vom Wirken Martin Luthers entsprach dem, das sich der heute nahezu vergessene Arzt und Schriftsteller Oskar Panizza gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts zum Vorbild nahm. Anfang der neunziger Jahre bekannte der protestantische Schriftsteller, er halte Luther für den »größten deutschen Geisteshel­ den«. Es waren das kämpferische Bekennertum, aber auch die psy­ chischen Nöte und die Teufelsvision des Reformators, die Panizza persönlich wie in seinen Schriften immer wieder beschäftigten. Gleich Luther wollte auch er in seinem Frühwerk die Autorität des Glaubens wiederherstellen, indem er allzu naive Gottesvorstellungen der Lächerlichkeit preisgab. Im Geiste der Reformatoren wollte Panizza den Menschen von Reliquienschreinen und vergoldeten Marienstatuen loslösen, um ihn seinem »Dämon«, seiner inneren Stimme, folgen zu lassen. Oskar Panizza verstand sich als Zeuge einer Zeit des Umbruchs. Politik, Wissenschaft, Religion und Moral sah er in einem tiefgreifen­ den Wandel begriffen. Was Religion und Wissenschaft betraf, so wollte der frühere Pietistenzögling und Psychiater eine aufgeklärte Religiosität (»Lu­ ther ist der Rousseau der Religion«) auf einer von positivistischem Denken und »materialistischem« Experiment befreiten Psychologie begründen und diese der Extravertiertheit des Wilhelminischen Deutschland entgegensetzen. Geschäftsleben und Handel der Gründerjahre blieben dem Kissin­ ger Hoteliersohn und kurzzeitigen Bankvolontär fremd. Bis zu den Verboten und der Beschlagnahme nahezu aller seiner Bücher, bis zu seinem Konflikt mit den Behörden des Deutschen Kaiserreichs, lebte Oskar Panizza einer Welt der Phantasie, wie sie ihm durch die Werke der deutschen Romantik vertraut geworden war. Wörtlich übernahm er Anfang der neunziger Jahre aus Novalis’ »Blütenstaub«-Fragment

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den Begriff »Außenwelt«, um damit die ihn umgebende Realität zu bezeichnen. Auch Panizzas Abkehr von der Naturwissenschaft und der Beginn seines literarischen Schaffens lassen sich mit Friedrich von Hardenberg wiedergeben: »Wir träumen von Reisen durch das Welt­ all: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht. - Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg.« An diesem geheimnisvollen Weg lag für Oskar Panizza das »rothe Haus« - ein Bild, mit dem er in seinem literarischen Erstlingswerk »Düstre Lieder« das Irrenhaus als Stätte gesellschaftlicher Isolation, aber auch völliger geistiger Freiheit umschrieb. Sowohl in der Märchenwelt seiner frühen Gedichte als auch mit der Phantastik seiner beiden Erzählbände überschritt Oskar Panizza die Grenzen der im Bewußtsein des Lesers als »normal« geltenden Wirklichkeit. Nur so glaubte er, die letzten Beweggründe, die Trieb­ struktur des Menschen, verstehen zu lernen. Er wollte, wie es Friedrich Schlegel in seinem »Gespräch über die Poesie« ausgedrückt hatte, »die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft« aufheben, um »das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur« offenzulegen - um literarisch zu ergründen, was ihm als Gehirnanatom verborgen geblieben war. Doch nicht nur das allgemein zunehmende Interesse an psycholo­ gischen Fragestellungen und eine, wie es ihm schien, veränderte Einstellung zu religiösen Fragen verstand Panizza als Zeichen einer neuen Zeit. Im weitverbreiteten Bewußtsein, in eine Epoche des Aufbruchs geboren zu sein, stand er als Schriftsteller zwischen protestantischem Nationalismus und anarchistischem Individualis­ mus Stirnerscher Prägung. Antisemitischen und gegen den »wel­ schen Erbfeind« gerichteten Aussagen stehen frankophile und Adolf Stöckers Judenhaß verurteilende Stellungnahmen gegenüber; der Bohemien sympathisierte mit der zwölf Jahre lang kriminalisierten Arbeiterbewegung und wollte sich dennoch nicht die rote »Schärpe« der Partei umbinden. Besonders die künstlerische Avantgarde Europas begann sich in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts nicht nur über nationale Grenzen hinwegzusetzen. Modern sein hieß, den Menschen in seinen sozialen Beziehungen und ökonomischen Ab­ hängigkeiten zu erforschen, modern sein hieß aber auch, ohne Rücksicht auf bestehende Tabus und Zensur das Triebleben des Menschen, besonders in seinen sogenannten Abnormitäten zum Gegenstand von Kunst zu erklären. Zumindest in Proklamationen 8

setzte man sich über tradierte Formen hinweg und betonte die Freiheit des Künstlers, sein Ich ohne Einschränkungen zum Aus­ druck bringen zu dürfen, um so zu einer »wahren«, modernen Kunst beizutragen. Die Moderne wurde zur facettenreichen Mode, wobei die verkündete Freiheit des einzelnen Künstlers gruppenspezifischer Programmatik und Stilbildung entgegenstand. Gerade die Vielfalt an Stilrichtungen wurde zum Charakteristikum der Kunst des Fin de siècle. Leben und Werk Oskar Panizzas sind, wie dieser selbst immer wieder betonte, untrennbar miteinander verbunden. Schreibend wollte er sich der bedrückenden Erinnerungen an Kindheit und Jugend entzie­ hen, die von einem aufsehenerregenden Rechtsstreit seiner Mutter um die protestantische Erziehung ihrer Kinder sowie von den Erlebnissen in einer pietistischen Erziehungsanstalt geprägt waren. Mit Lord Byron argumentierte Panizza, nur eigenes Erleben lasse wahrhafte Dichtung reifen; er selbst sei kein Künstler im herkömmlichen Sinne, sondern ein Psychopath, der lediglich seine Seele offenbaren wolle. In einem Vortrag zum Thema »Genie und Wahnsinn« hatte er bereits in den frühen neunziger Jahren die Nähe des Künstlers zum Geisteskran­ ken betont. Panizza fürchtete zeit seines Lebens, wahnsinnig zu werden. Literatur wurde ihm auch zu einem »Ableitungsmittel« für Depressionen. Wiederholt zitierte Panizza aus Heines »Schöpfungs­ liedern« die Verse »Erschaffend konnte ich genesen/Erschaffend wurde ich gesund«. Dennoch war Panizza kein dichtender Psycho­ path, sondern ein von äußerster Sensibilität gekennzeichneter Schriftsteller, der mit »überfeinen Nerven« auf seine Zeit reagierte. Im Kreise der Münchner »Moderne« setzte sich Panizza vor allem für neue Bühnenformen ein. Er schrieb in zahlreichen Artikeln und Essays aber nicht nur über Theater und Variété, für das er noch vor Otto Julius Bierbaum öffentlich eintrat, sondern griff auch bis dahin als tabu geltende Themen auf. Mit seinem Schauspiel »Das Liebes­ konzil« forderte der vierzigjährige Schriftsteller die Behörden des Wilhelminischen Deutschland heraus. Schon zwei Jahre zuvor war er als Reservist und Mitglied der »Gesellschaft für modernes Leben« unehrenhaft aus dem Militär entlassen worden. Ein Jahr Einzelhaft wegen Gotteslästerung ließen den Verurteilten das Verhältnis zwi­ schen Einzelnem und den Mächten der »Außenwelt« neu überden­ ken, was literarisch Pamphlete und politische Gedichte zur Folge hatte. 9

Wie der Prozeß um »Das Liebeskonzil« vor dem Hintergrund der öffentlichen Diskussion über die sogenannte Umsturzvorlage (1894/ 95) zu sehen ist, so läßt sich auch Panizzas Ausweisung aus der Schweiz nicht losgelöst vom Genfer Attentat auf Kaiserin Elisa­ beth I. von Österreich (1898) betrachten. Die exemplarische Strenge des Münchner Urteils wie die Ausweisung aus dem Kanton Zürich und Panizzas Verfahren wegen Majestätsbeleidigung wurden für den Schriftsteller zu biographischen wie literarischen Zäsuren. Aus dem Münchner Bohemien wurde ein mißtrauischer Einzelgänger, aus dem protestantischen »Teutschen« ein »Anarchist der Feder«. Lite­ rarische Arbeiten bedingten einzelne Lebensabschnitte, deren Bruchstellen wiederum Panizzas Schriften nachhaltig beeinflußten. Bestanden die drei frühen Gedichtbände Oskar Panizzas mit wenigen Ausnahmen aus mühsam zu Balladen geformten Märchen­ stoffen, Legenden und autobiographischen Erlebnissen, so gelang ihrem Verfasser in den hierauf veröffentlichten Prosabänden »Dämmrungsstücke« (1890) und »Visionen« (1893) ^*e Anreiche­ rung phantastischer Erzählungen im Stile Edgar Allan Poes und E.T.A. Hoffmanns mit psychologischen Erkenntnissen des ausge­ henden neunzehnten Jahrhunderts. Das geschilderte Erleben des Ich-Erzählers wurde dabei zur Schnittfläche zweier Wirklichkeits­ ebenen, so daß der Leser von Panizzas Grotesken und phantastischen Erzählungen sich zwischen das Bewußtsein und das Unterbewußt­ sein des Erzählers, vor allem aber zwischen die geschilderte Realität und die eigene Wirklichkeitserfahrung gestellt sieht. Mit der Minu­ tiosität naturalistischer Schilderung führte Panizza seinen Leser in eine »Innenwelt«, die sich dem »Realismus« der Zeit entzog, der durch naturwissenschaftliches Experimentieren nicht beizukommen war und zu der Panizza literarisch Zugang suchte, noch bevor psychoanalytische Theorien diese »Innenwelt« zu erschließen be­ müht waren. Auch in seinen dramatischen Texten und theaterhistorischen Es­ says interessierte Oskar Panizza die Frage nach Wirklichkeit und Scheinwirklichkeit. War die Welt auf der Bühne nicht ebenso »real« wie das Gespräch im Foyer? Während die zeitgenössische Theater­ avantgarde Arbeiter, Prostituierte, Trinker und Lustmörder als dramatis personae unzensiert auf die Bühne bringen wollte, griff Panizza auf die Antike und das Geistliche Spiel zurück, um Götterwelt und Teufel über die sündige Menschheit sprechen zu lassen. Mit revuehaften Szenen und surrealen Szenenwechseln wies Panizzas dramati­ 10

sches Hauptwerk »Das Liebeskonzil« weit über naturalistische Dra­ matik hinaus. Aufgrund ungeklärter Quellenlage konnte ein unver­ öffentlichtes Theatermanuskript mit dem Titel »Johann. Eine drama­ tische Sittenstudie« leider nicht für die vorliegende Untersuchung herangezogen werden. Panizza bewies mit dieser Sozialsatire auf die moralische Verkommenheit einer Bürgerfamilie, daß er naturalisti­ sche Dialogführung und Dramaturgie souverän beherrschte und mit seinen Szenenfolgen »Der heilige Staatsanwalt« und »Nero« bewußt nach neuen Möglichkeiten für das Theater suchte, indem er überlie­ ferte Formen der »Moderne« neu erschließen wollte. Auch innerhalb der literarischen Avantgarde dieser Zeit blieb Oskar Panizza Außenseiter, als er auf Ulrich von Huttens lehrstückhafte Dialoge zurückgriff oder literarische Streitschrift und politische Satire in die zeitgenössische Literatur integrieren wollte. Panizzas psychologische Phantastik, das Groteske seiner Schrif­ ten, sein Bemühen um ein »modernes« Theater, der Subjektivismus seiner publizistischen Arbeiten und das politische Engagement seines Spätwerks ließen ihn zu einem bis heute nur ungenügend beachteten Schriftsteller zwischen Naturalismus und Expressionismus, dem Ästhetizismus und der Literatur der zwanziger Jahre werden.

Die ausschließlich mit Oskar Panizza befaßte wissenschaftliche Lite­ ratur blieb bisher auf eine vor dreizehn Jahren unter dem Titel »Doghouse, Jailhouse, Madhouse« veröffentlichte Dissertation so­ wie auf Magisterarbeiten und einige kurze Zeitschriftenaufsätze be­ schränkt. Sie stützte sich ausschließlich auf gedruckte Schriften. Lediglich in Peter Jelavichs breit angelegter kulturhistorischer Dis­ sertation zu den sozialgeschichtlichen Ursprüngen des Münchner Theaters zwischen 1890 und 1914 wurden auch für das Kapitel über Oskar Panizza umfangreiche Quellenstudien geleistet. Speziell in Hinblick auf das literarische Schaffen Oskar Panizzas wurde für die vorliegende Arbeit erstmals dessen gesamter, in Mün­ chen befindlicher Nachlaß eingesehen. Ebenfalls erstmalig wurden die handschriftlichen Memoiren von Panizzas Mutter herangezogen. Der Nachlaß seines Vormunds Dekan Friedrich Lippert wurde ebenso ausgewertet wie zahlreiche bisher unbekannte Briefe und Quellen zu seiner Biographie, die in etwa zwanzig Archiven und Handschriftenabteilungen der Bundesrepublik, Österreichs und der Schweiz erschlossen werden konnten. Da nahezu das gesamte Wis­ sen über das Leben Panizzas auf eine durch Friedrich Lippert überlie­ ii

ferte »Selbstbiographie« seines Mündels und die Lebenserinnerun­ gen von dessen Mutter zurückgeht, Lippert jedoch den von ihm mitherausgegebenen Band »In memoriam Oskar Panizza« weitge­ hend aus eigens für ihn angefertigten Abschriften aus den Memoiren Mathilde Panizzas zusammenstellte, wurde es zu einer wesentlichen Aufgabe, auf der Grundlage umfangreicher Archivalien in der vorlie­ genden Untersuchung, auch die Vita Oskar Panizzas neu zu schrei­ ben. Gerade die außergewöhnliche Rezeptionsgeschichte seines Werkes, die von Gustav Landauer, Martin Bormann bis zu Heiner Müller reicht, begünstigte eine Legendenbildung um den Dichter, die zum festen Bestandteil auch der gesamten wissenschaftlichen Literatur wurde. Bereits der Titel von Peter D. G. Browns Doktor­ arbeit »Doghouse, Jailhouse, Madhouse« repräsentiert durch den letzten der drei Begriffe einen Teil der Legende um Oskar Panizza, der weder in einem »Irrenhaus« starb noch, wie Brown behauptet, ab 1895 geisteskrank war oder gar an Syphilis litt.

Es ist an der Zeit, Oskar Panizza vom Mythos des genialverrückten Syphilitikers zu befreien. Seine literarische Bedeutung als Verfasser phantastischer Prosa ist bis heute ebenso unterschätzt wie seine Rolle als radikalster Neuerer innerhalb der sogenannten »Münchner Mo­ derne«. Seine Satire »Psichopatia criminalis« und sein Pamphlet »Abschied von München« sind in der deutschen Literatur der Jahr­ hundertwende in ihrer Schärfe und Aggressivität einzigartig. Scheinbare Widersprüche im Werk Oskar Panizzas lassen sich anhand ihres biographischen Hintergrunds klären. »Oskar der Gei­ ferer«, wie ihn Otto Julius Bierbaum nannte, erfuhr durch das Verbot der meisten seiner Bücher, durch Prozesse, Haft und Aus­ weisung eine Radikalisierung, die avantgardistische Kunstauffassun­ gen und anarchistisch-revolutionäres Gedankengut mit dem prote­ stantischen Nationalismus des Arztes und jungen Schriftstellers ver­ schmolz. Walter Benjamin vermochte es, die gesamten literarischen Antagonismen Panizzas in drei Worte zu fassen: »Ein häretischer Heiligenbildmaler, das ist die kürzeste Formel für Oskar Panizza.« Der Dramatiker, Lyriker, Erzähler und Essayist Panizza schrieb intuitiv, ohne einen Text vorzustrukturieren und ohne ihn anschlie­ ßend zu überarbeiten. Wer auch seine Seele offenbaren will, um »modern« zu schreiben, lehnt spätere Korrekturen ab. Selten gehen in den erhaltenen Manuskripten Panizzas Umarbeitungen über ein­ zelne Worte oder Sätze hinaus. Da seine Handschrift zum Teil 12

schwer lesbar ist und Panizza ab 1893/94 zudem eine eigene phoneti­ sche, keineswegs aber konsequent durchgeführte Orthographie ver­ wandt hat, argumentiert diese Untersuchung mit ausführlichen Zita­ ten. Sämtliche Zitate werden unkorrigiert wiedergegeben, um der Eigenwilligkeit von Panizzas literarischem Schaffen auch in diesem Punkt nichts zu nehmen.

»Der Fall Oskar Panizza«

»Das Liebeskonzil« als literarische Provokation

Als Oskar Panizza im Frühjahr 1893 (1) »Das Liebeskonzil« zu schreiben begann, war es auch literarischer Ehrgeiz, der den noch nahezu unbekannten, knapp vierzigjährigen Schriftsteller als Stoff seiner »Himmels-Tragödie« die Entstehung der Syphilis als Gottes­ strafe wählen ließ. Zwar war Panizza durch gut ein halbes Dutzend Buchpublikationen, durch Aufsätze und Rezensionen in der »Gesell­ schaft« und durch mehrere Beiträge in Anthologien als Autor aus dem Kreis der »Münchner Moderne« (2), einer kleinen Gruppe an avantgardistischer Literatur interessierter Leser bekannt, doch ver­ langte Panizzas »Genie«-Denken von dem seit 1884 als »freier Schriftsteller« lebenden ehemaligen Arzt den literarischen Durch­ bruch: »Dies stolze, verschlossene Herz dürstete nach Lob, nach Beifall, Ruhm, wie der Verschmachtende nach dem rettenden Trunk. Und noch immer und immer wollten sie sich nicht einstellen, Beifall und Ruhm. Der vierzigjährige Mann sah das mit verbissener Leidenschaft erstrebte Ziel seines Lebens ferner und ferner entweichen. Er mußte hinter ihm her, sei es auf dichteri­ schem Pfade, sei es auf dem des Streiters, des Bekenners entgegen den feindlichen Gewalten der Zeit.« (3)

Auch wenn der früh vom Ruhm seiner »Jugend« zehrende Max Halbe den Streiter und Bekenner Panizza nicht verstehen konnte, so verband beide Anfang der neunziger Jahre doch eine nähere Bekannt­ schaft. Wie Halbe verbrachte Oskar Panizza bis 1895 einen Teil der wärmeren Jahreszeit am Tegernsee. Dort entstand auch die erste Niederschrift des »Liebeskonzils«. Sehr genau schien sich Max Halbe später an Auseinandersetzungen mit Panizza über religiöse Fragen, vor allem aber an dessen schrift­ stellerische Ambitionen zu erinnern: »Schon in jenen Rottacher Frühlingstagen des Jahres 1893 gewann ich den Eindruck, daß Panizza entschlossen war, für die Verwirklichung seiner ehrgeizigen dichterischen Träume jeden menschlichen Preis zu zahlen - sei es 15

auch den der Märtyrerkrone. Ich schloß aus seinen Andeutungen, daß er es mehr und mehr aufgab, auf einem normalen, üblichen Wege das Ziel seiner Wünsche, den erträumten Dichterruhm, zu erreichen.« (4)

Die Protokolle von Panizzas Verhören sowie seine Verteidigungsre­ de während des Prozesses bestätigen Max Halbes Eindruck vom »Liebeskonzil« als einer gezielten literarischen Provokation. Auch wenn Oskar Panizza niemals am »normalen, üblichen Wege« zum Dichterruhm interessiert war, so war es doch gerade in den Jahren 1893/94 für mehrere seiner Zeitgenossen auffallend, wie direkt er besonders in seinen drei zum Teil stark antikatholischen Schriften »Die unbefleckte Empfängnis der Päpste« (1893), »Der teutsche Michel und der römische Papst« (1894) und »Das Liebeskonzil« (1894) die Konfrontation mit der Staatsanwaltschaft suchte. Karl Kraus schrieb in diesem Zusammenhang Anfang Dezember 1894 über Panizza: »Zu den wenigen Echten, denen Begabung und Ehrlichkeit, ich meine - die ehrliche, zugesprochen werden darf, ist auch Oscar Panizza zu zählen. Einer der abenteuerlichsten Kampfhähne, der geradeaus auf das Confisciertwerden auszugehen scheint, hat er es in der letzten Zeit namentlich auf die Päpste abgesehen.« (5)

Als die Münchner Staatsanwaltschaft nach der Lektüre eines Artikels in der sozialdemokratischen »Münchner Post« (6) am 4. Januar 1895 gegen Oskar Panizza Anklage erhob und vier Tage später die Vorun­ tersuchung gegen den Angeklagten eröffnet wurde (7), konnte Oskar Panizza sicher sein, durch ein Aufsehen erregendes Gerichtsverfah­ ren die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen und den Kunstcharakter seiner »Himmels-Tragödie« coram publico darlegen zu können. Die Anklageschrift vom 1. März 1895 lautete auf »Vergehen wi­ der die Religion verübt durch die Presse« (§ 166, Reichsstrafgesetz­ buch). (8) Oskar Panizza hatte nicht ahnen können, daß seine Satire auf heuch­ lerische Frömmigkeit und die Rache Gottes sich zum größten Litera­ turskandal der 1890er Jahre ausweiten würde und daß er selbst von einem Schwurgericht zu einem J ahr Einzelhaft und nicht wie seine Dichterkollegen Frank Wedekind oder Hanns von Gumppenberg zu kurzfristiger Festungshaft verurteilt würde. (9) »Der Fall Panizza« ging durch die deutsche Presse. Nur wenige 16

liberale oder sozialdemokratische Blätter verurteilten die außeror­ dentliche Härte, mit der das Landgericht München I gegen Panizza vorgegangen war.

Oskar Panizza hatte in seinem Prozeß am 30. April 1895 im Lichte der Öffentlichkeit anhand seines »Liebeskonzils« zum Vorkämpfer für die Freiheit der »modernen« Literatur werden wollen. Entgegen dem Anraten seiner Münchner Bekannten, wie etwa Max Halbe, hatte er es für seine Pflicht als Dichter gehalten, sich dem Gericht zu stellen und dort sein »Liebeskonzil« zu verteidigen: »Nein, vor Menschen soll man nicht davonlaufen, solang man als Künstler ein reines Gewissen hat.« (10) Oskar Panizzas literarhistorisch und kunstgeschichtlich angelegter Verteidigungsrede vor den Münchner Geschworenen lag sowohl ein gewisser Hang zum Märtyrertum als auch die Unfähigkeit zugrunde, Situationen in ihrer Tragweite für sich selbst zu erfassen. Nachdem die Justiz achtundzwanzig Geschworene geringer Bildung zur Aus­ losung geladen hatte, suchte Panizza Richter, Beisitzer und die verbliebenen zwölf Geschworenen anhand sorgsam ausgewählter Beispiele von den Grundwerten künstlerischer Freiheit zu überzeu­ gen. Die einzige Chance zu einem Freispruch, das Leugnen seiner Absicht, das in Zürich verlegte »Liebeskonzil« auch im Deutschen Reich vertreiben zu lassen, wies Panizza mit den gleichen Gründen von sich wie den Gedanken an Flucht. Sein Bekenntnis, als deutscher Schriftsteller selbstverständlich auch den Verkauf seines jüngsten Buches in Deutschland zu befürworten und sein zu Beginn der Verhandlung geäußerter Satz: »Ich erkläre, daß ich Atheist bin« (11), hatte das Urteil der Geschworenen lange vor Ende der Verhandlung kalkulierbar gemacht und den »Fall Panizza« initiiert. Selbst der seit 1890 Oskar Panizza nahestehende fränkische Protestant und Mentor der »Münchner Moderne« Michael Georg Conrad stand 1895 als vorgeladener Sachverständiger fassungslos dem Verhalten des Ange­ schuldigten gegenüber und schien um die geistige Gesundheit Paniz­ zas zu fürchten. Dies geht aus dem Brief eines obskuren Förderers und Mäzens von Oskar Panizza, des Rittergutsbesitzers Otto von Grote, an Michael Georg Conrad hervor: »Es ist tragisch, denn, wie Sie befürchten, wird Panizza wohl [...] in’s Irrenhaus übersiedeln! - Durch seine Haltung vor Gericht wird Alles aufgeklärt! Seine Naivität und Verbissenheit hinsichtlich seines Kampfes

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gegen die gesetzlichen Windmühlenflügel; seine Blindheit gegenüber den Gefahren u.s.w.« (12)

Auch die konservative Presse erklärte Oskar Panizza aufgrund seines »Liebeskonzils« und seines leidenschaftlichen, von der Idee der künstlerischen Freiheit »besessenen« Verhaltens vor Gericht wieder­ holt für verrückt - ein Umstand, der einerseits den »Fall Panizza« vorübergehend populär machte, andererseits aber bei Panizzas Ent­ mündigungsverfahren im Jahre 190$ eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte.

Wenige Wochen nach seiner Verurteilung, als Panizza sich bis zur endgültigen Entscheidung des Reichsgerichts in Leipzig gegen eine Kaution von 80 000 Mark auf freiem Fuß befand, veröffentlichte der durch seinen Skandal berüchtigt gewordene Verfasser des »Liebes­ konzils« in Zürich die Schrift »Meine Verteidigung in Sachen das >LiebeskonzilGotteslästerung< und künstlerische Dinge vor Schwurgerichten«. Verfasser dieser Broschüre war Theodor Lessing. Die »Krokodile« um Otto Julius Bierbaum, ein literarischer Stammtisch, der sich zu jener Zeit in einem scherzhaft »Dichteiei« genannten Lokal in der Türkenstraße traf, hatten den noch nahezu unbekannten Theodor Lessing zu der in wenigen Tagen vergriffenen Stellungnahme für Panizza veranlaßt: »Und so in derselben Nacht, trunken von Wein, Ehrgeiz und Zorn, setzte

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ich mich nieder und schrieb in wildem Furioso eine Verteidigungsschrift, ohne das verurteilte Stück überhaupt zu kennen. (Ich kenne es bis heute nicht.)« (14)

In bezug auf den Skandal um Oskar Panizza dokumentieren Theodor Lessings Lebenserinnerungen einerseits den ehrlich empörten, je­ doch auch stets auf Selbstdarstellung ausgerichteten Enthusiasmus der Schwabinger Boheme um die Jahrhundertwende, andererseits zeigt Lessings Autobiographie auch, welche Folgen es hatte, sich im Frühjahr 1895 für Panizza öffentlich einzusetzen. Theodor Lessings Wohnung wurde durchsucht, Gedichte wurden von der Polizei konfisziert, »und ich stand unter geheimer Aufsicht als des Atheismus oder Kommunis­ mus oder sonst eines -ismus verdächtig. Aber dank dieses Ereignisses kamen nun Anerbieten und Anfragen und ohne das gewollt und bedacht zu haben, schwamm ich plötzlich im frischen Wasser der Literatur. Ade Studium und Medizin!« (15)

Während kleinere Reibereien mit der Zensurbehörde im Schwabing der neunziger Jahre als schick galten, hatte sich der »Fall Panizza« zu einer politisch motivierten Hetzkampagne gegen die »Moderne« ausgeweitet. Konservative Politiker und »ultramontane« Kreise ver­ muteten hinter den Münchner »Jüngstdeutschen« eine politische Opposition, wie sie sich aus der Schwabinger Boheme erst etwa fünfzehn Jahre später entwickeln sollte. Um die literarische Publizi­ tät, die Theodor Lessing durch den Skandal zuteil wurde und die ihn den Entschluß fassen ließ, sich der Literatur zuzuwenden, wußte Oskar Panizza vor Abfassen seines »Liebeskonzils« allerdings sehr wohl. Er schrieb im Oktober 1892 an die Schriftstellerin Anna Croissant-Rust über ein Manuskript und seine Verwertbarkeit: »Es liegt in Schwabing. Ist für den >Almanach< [»Moderner Musen-Almanach auf das Jahr 1893«] bestimmt. Es ist aber zweifelhaft, ob es abgedruckt wird, weil Bierbaum und Löbell, beide, wenn Sie ’was unternehmen, Diaree bekommen und den Staats-Anwalt im Hintern haben. Was ist mit Ihnen? Schreiben Sie nicht wieder bald ’was Confiscirbares? [...] Bringen Sie Ihre kostbare Naivität auf den Markt, und laßen Sie sich ruhig einsperren, wenn der Staatsanwalt meint, die Früchte seien vergiftet gewesen. So mach ist es auch.« (16)

Fünf Monate vor Veröffentlichung seines »Liebeskonzils« schrieb Panizza in der »Gesellschaft« über »Volkspsychologie«, »daß eine 19

erlittene Gefängnisstrafe für eine ideell verteidigte Sache fast der Garantieschein für Popularität in der Masse« sei. (17) Der »abenteuerliche Kampfhahn« hatte mit seiner »HimmelsTragödie« etwas »Confiscirbares« geschaffen, das dem Vierzigjähri­ gen durch glanzvollen Freispruch oder aber durch Gefängnisstrafe Popularität versprach. Nach dreiwöchiger Haft im Mai trat Panizza am 8. August die einjährige Einzelhaft in Amberg an. Seine Aufzeichnungen aus dem Gefängnis zeigen, wie aus literarischer Provokation und Überzeu­ gung von der nicht zu brechenden Macht des geschriebenen Wortes während Panizzas Haft tiefe Demütigung, aber auch Entschlossen­ heit zur Fortführung der begonnenen Auseinandersetzung mittels Literatur erwuchsen.

Während das allgemeine Interesse am »Fall Panizza« mit den letzten Pressemeldungen abflaute, war Oskar Panizza in literarisch interes­ sierten Kreisen zumindest dem Namen nach bekannt geworden. Bezeichnenderweise war es Theodor Fontane, der im Alter von fünfundsiebzig Jahren, nur drei Monate nach dem Münchner Pro­ zeß, an Maximilian Harden schrieb: »Ich habe da vor ein paar Tagen das Buch von Oskar Panizza gelesen >Das Liebeskonzil«, worauf hin er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde. Lesen Sie’s und wenn Sie können, schreiben Sie darüber; es ist sehr schwer (polizeischwierig) aber sehr lohnend. Es ist ein ganz bedeutendes Buch und >ein Jahr Gefängnis« sagt gar nichts. Entweder müßte ihm ein Scheiterhaufen oder ein Denkmal errichtet werden. Unser Publikum müßte endlich lernen, daß der Unglauben auch seine Helden und Märtyrer hat.« (18)

Obwohl Theodor Fontanes Verständnis des »Liebeskonzils« unter den bis heute bekannten zeitgenössischen Urteilen als das differenzierteste zu gelten hat, griff »Die Zukunft« Fontanes Anregung nicht auf. Die angedeuteten Schwierigkeiten mögen ein Grund hierfür gewesen sein. Dafür veröffentlichte die Zeitschrift »Das Zwanzigste Jahrhun­ dert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt« die Kritik eines noch wenigen Lesern bekannten und offensichtlich um Profilierung im »Fall Panizza« bemühten Rezensenten. Die Gerichte hätten, so erklärte der Bruder des Herausgebers kategorisch, andere Interessen als künstlerische zu vertreten. Es ginge nicht nur darum, Gottesläste­ rungen zu ahnden, sondern auch um die Verteidigung goutierbarer Kunst: 20

»Kann man dann nicht auch vom künstlerischen Standpunkt aus mit der Verurtheilung einverstanden sein? Oder sind wirklich die Leute, die in der Kunst ein bischen guten Geschmack noch immer verlangen, nichts als zurückgebliebene Banausen?« (19)

Es ist interessant, daß Thomas Mann, der mit diesen Worten seinen Artikel beschließt, von Oskar Panizzas Verteidigungsschrift und nicht von dessen Buchveröffentlichung ausgegangen ist. Da er mit keinem Satz inhaltlich auf das »Liebeskonzil« zu sprechen kam, ist anzunehmen, daß Thomas Mann den »Fall Panizza« aufgriff, ohne den wenige Wochen nach Erscheinen beschlagnahmten Text zu kennen. Thomas Mann schien 1895 in seiner Polemik gegen die »voll und ganz Modernen des Landes« von Mitteilungen der Tagespresse, von Erzählungen und von Gerüchten auszugehen. Hierauf deutet auch die vage Ironie, die seinen Artikel einleitet: »Man weiß, daß neulich Herr Dr. Oskar Panizza bei Gelegenheit seiner sogenannten Himmelstragödie >Das Liebeskonzil*, die nur so ungefähr neun­ zig kleine Gotteslästerungen aufzuweisen hatte, vom Königlichen Land­ gericht München I zu einem Jahre Gefängniß verurtheilt worden ist [. . .].« (19)

Thomas Mann, der die »voll und ganz Modernen« Münchens, Otto Erich Hartleben, Oskar Panizza, Julius Schaumberger, Ludwig Scharf und den »Alt-Modernen« Heinrich von Reder, während seiner Studienzeit über den »Akademisch-dramatischen Verein« per­ sönlich kennengelernt hatte (20), befürwortete 1895 im Gegensatz zu Theodor Lessing die Verfolgung blasphemischer Literatur durch die Justiz. Anders als Theodor Fontane äußerten sich weder Thomas Mann noch Theodor Lessing zum Gegenstand der Zensur und des Prozesses. Letzterer gab dabei immerhin öffentlich zu, das »Liebes­ konzil« nicht gelesen zu haben. Damit setzte bereits wenige Monate nach Oskar Panizzas Verurteilung die »Legendisirung« des Gotteslä­ sterers ein.

Schon von seinen Zeitgenossen wurde Oskar Panizza gerne als Sonderling, als »eigenartigste« (21) und »merkwürdigste Erschei­ nung« (22) der Münchner Moderne, als Mephisto-Figur oder, wie in Hanns von Gumppenbergs nahezu unbekannten Schlüsselroman »Der fünfte Prophet«, als »mephistophelisch-lustiger Sonderlings­ kopf« (23) geschildert. Oskar A. H. Schmitz mystifizierte Panizza in »Dämon Welt« als »Alchimist oder Zauberer«. (24) Während der für 21

viele mysteriöse Verfasser des »Liebeskonzils« in den wirren Memoi­ ren eines Hermann Uhde-Bernays zum gefährlichen revolutionären Umstürzler stilisiert wurde (25), konnte in Josef Ruederers früher München-Satire »Höllischer Spuk« eine Sympathie bekundende Er­ wähnung des »Falles Panizza« nicht fehlen. (26) Oskar Panizza War durch den Skandal um sein »Liebeskonzil« bereits vor der Jahrhundertwende zur umstrittensten Figur der Schwabinger Boheme geworden. Wie viele Gerüchte um Panizza kreisten und wie bald sich eine Legende um den ab 1896 in Zürich und später in Paris lebenden Schriftsteller zu verdichten begann, zeigt auch ein »Versuch« Victor Goldschmidts über »Das Liebeskon­ zil« und seinen Dichter: »Als vor einigen Jahren [der gescheiterte »Versuch« Goldschmidts erschien 1912] die Zeitungen berichteten, der Dichter Oscar Panizza sei im Irrenhause verschieden [er starb 1921], da wußten wir, die im dritten Lebensjahrzehnt stehen, kaum, wer das eigentlich gewesen sei. Die Älteren erzählten, im Anfang der neunziger Jahre sei dieser Mann berühmt gewesen als der skrupelloseste Pamphletist des katholischen Gottesgedankens, als genialer Satiriker, als Dichter des Liebeskonzils. Für dieses Werk habe man ihn in München zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Viel mehr wußte niemand von ihm zu sagen.« (27)

Auch ein von Hanns Heinz Ewers edierter »Führer durch die moderne Literatur« sagte Panizza um zwölf Jahre zu früh tot. (28) Daß jener noch lebe, erfuhr Hanns Heinz Ewers spätestens, als er 1914 einen Teil von dessen Erzählungen in »gereinigter« Fassung unter dem Titel »Visionen der Dämmerung« herausgab. Sechs Jahre später, 1926, hatte Ewers dann allerdings wieder die Schreibweise von Panizzas Familiennamen vergessen. (29) So wenig man von dem im Bayreuther Luxussanatorium »Mainschloß« internierten Dichter wußte, so bekannt war er als »Fall«. Sigmund Freud nannte Panizzas »Liebeskonzil« »ein stark revolutionäres Bühnenstück«. (30) Und mehrere Monate nachdem Alfred Kubin für die »Gesell­ schaft der Münchner Bibliophilen« (u. a. Franz Blei, KarlWolfskehl, Erich Mühsam, Will Vesper und die Verleger Georg Müller und Heinrich F. S. Bachmair) einen Privatdruck des »Liebeskonzils« illustriert hatte (31), baten Hugo Ball und Kiabund unter anderem Heinrich F. S. Bachmair Ende Mai 1914 um Material für die im Verlag Georg Müller geplante Lyrik-Anthologie »Die Konfiszier­ ten«. (32) Obwohl die Zahl der für das Projekt vorgesehenen Auto­ ren noch einmal erweitert wurde, stand von Anfang an der Abdruck 22

eines Gedichtes von Oskar Panizza fest. Franz Pfemfert berichtete in der »Aktion«: »in München werden, von Hugo Ball und Kiabund aufgerufen, Dichter wie Blei, Dehtnel, Kerr, Przybyszewski, Panizza, Schnitzler, Sternheim, Scher, Schmidtbonn, Thoma, Unruh, Wedekind in einer >Anthologie der Konfis­ zierten« gegen die Tyrannei des Zensors demonstrieren. Ausschließlich »beschlagnahmte« Autoren werden vereint sein.« (33)

Auch nach dem ersten Weltkrieg lebte der »Fall Panizza« in der Zensur- und Geistesgeschichte Münchens fort: »Kaspar Pröckl [eine Romanfigur mit Zügen Bertolt Brechts] hatte, seitdem er um die Internierung des Malers Landholzer wußte, ab und zu an weit verbreitete Schauergeschichten denken müssen, die davon erzählten, wie Leute aller Art bei völliger Gesundheit von Interessierten in Irrenhäusern festgehalten würden. Insbesondere war er nicht losgekommen von einem in München hartnäckig kolportierten Gerücht, daß der antiklerikale, im Irren­ haus verstorbene Schriftsteller Panizza, ein sehr begabter, dem offiziellen Bayern mißliebiger Dichter, zu Unrecht interniert gewesen sei.« (34)

Die Vermutungen, der im »offiziellen Bayern« mißliebige Oskar Panizza sei trotz völliger geistiger Gesundheit in ein Irrenhaus abgeschoben worden, dürften unter anderem auf Frank Wedekind zurückgehen. Von ihm wußte Thomas Mann, daß Panizza im Jahr 1904 seine Einweisung in eine Heilanstalt bewußt provoziert hat­ te (35), und Max Krell legt in seinen Lebenserinnerungen Frank Wedekind den Satz in den Mund: »Ich habe gestern Panizza besucht. Es geht ihm ausgezeichnet. Er ist der vernünftigste Mensch auf dieser Erde. Und er arbeitet!« (36)

Gerüchte, Todesmeldungen und die tatsächlich interessante Frage nach der Rolle von Panizzas Familie und dessen Vormündern bei der Entmündigung und Unterbringung des Schriftstellers als Internierter in einem Privatsanatorium bei Bayreuth schmückten die Legende um den Verfasser des »Liebeskonzils« aus. Sicherlich auch beeinflußt von dieser Legende hielt das Interesse an den Schriften von Oskar Panizza während der zwanziger Jahre an. Neben Bibliophilen, die für Panizzas Erstdrucke Höchstpreise zahl­ ten, wurden von dessen Erzählungen in der Fassung von Hanns Heinz Ewers bis Mitte der dreißiger Jahre mehr als 7000 Bände verkauft. (37)

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Panizza - zwischen Martin Bormann und Walter Mehring

Nachdem seit dem ersten Weltkrieg nahezu ausschließlich Linksin­ tellektuelle den »Fall Panizza« aufgegriffen hatten (38), veröffent­ lichte der »Münchener Beobachter«, ein Beiblatt zum »Völkischen Beobachter«, Ende 1927 eine nationalsozialistische Variante der Legende um Oskar Panizza: »Da erschien 1895 seine >Himmelstragödie< in fünf Aufzügen: >Das Liebeskonzik, die seinen Namen schlagartig in ganz Deutschland bekannt machte, weil das Buch wegen Gotteslästerung beschlagnahmt wurde. Der Dichter flüchtete ins Ausland, kehrte aber schließlich, von Heimweh gepackt, doch wieder nach Deutschland zurück und stellte sich selbst den Gerichten [•■■]■« (39)

Als Einleitung zum Abdruck von Panizzas Erzählung »Der operirte Jud’« hatte der »Münchner Beobachter« aus Gerüchten um den verstorbenen Schriftsteller eine nationalsozialistische Version des »Falles Panizza« publiziert. Tatsächlich hatte Oskar Panizza erst 1896 - nach Verbüßung seiner Haftstrafe für »Das Liebeskonzil« Deutschland verlassen. Voller Verachtung für seine Heimat gab er die bayerische Staatsbürgerschaft auf. Nachdem Panizza 1899 von Paris aus in Gedichten (40) den deutschen Kaiser beleidigt hatte, beschlagnahmte die deutsche Justiz sein gesamtes Vermögen. Diesund nicht »Heimweh« - veranlaßte seine Rückkehr nach Deutsch­ land. Während im Sommer 1933 der jüdische Vorsitzende einer 1928 gegründeten »Panizza-Gesellschaft« ins Pariser Exil gehen mußte (41), bereitete wenige Jahre später der nationalsozialistische Literat und Kulturfunktionär Kurt Eggers zwei Ausgaben von ideologisch verwertbaren Textpassagen aus Panizzas Schriften vor. Abgesehen von Hans Prescher, dem späteren Herausgeber Panizzas, muß Eg­ gers allerdings bis heute als einer der fundiertesten Kenner des Werkes von Panizza gelten. Auf der Grundlage auch unveröffent­ lichter Texte fälschte Kurt Eggers durch Selektion und neuen Kon­ text biographische Fakten und literarische Aussagen auf geschickte Weise. Eggers negierte an Panizza den Bohemien wie den Anarchi­ sten. Er hob den Willensmenschen Oskar Panizza hervor, der nie­ mals »Sklave« seiner »Sinne und Triebe« gewesen sei, dafür aber um so mehr Juden, Engländer und Franzosen abgelehnt habe. (42)

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Es wäre unergiebig, näher auf die ideologischen »Glättungen« der Schriften Panizzas durch Kurt Eggers einzugehen. Als exemplarisch für diese Form des Umgangs mit Literatur sei lediglich auf die Umformulierung von Panizzas Buchtitel »Der teutsche Michel und der römische Papst« in »Deutsche Thesen gegen den Papst und seine Dunkelmänner« hingewiesen. Kurt Eggers veröffentlichte seine Fassung des 1894 erschienenen Originals im Jahre 1940. Mit dieser Buchausgabe war Oskar Panizza in seiner zunächst rein antikatholischen Haltung der frühen neunzi­ ger Jahre postum zum nationalsozialistischen Schriftsteller gewor­ den, für den Reichsleiter Martin Bormann persönlich warb. An den Oberbürgermeister der »Hauptstadt der Bewegung« schrieb Bor­ mann am 16. April 1941 bezüglich der »Deutschen Thesen«: »Das Buch ist für Sie persönlich bestimmt. Sein Inhalt zeigt, mit welcher Unerbittlichkeit bereits am Ende des vorigen Jahrhunderts um die Überwin­ dung der konfessionellen Zersetzungserscheinungen gerungen wurde; in seiner vernichtenden Sachlichkeit ist das Buch auch für unsere Zeit von großer Bedeutung. Panizzas Buch soll einem möglichst weiten Kreis von Paneigenossen, in erster Linie von Politischen Leitern und Gliederungsführern übersandt werden, und zwar nicht durch Einschaltung von Dienststellen der Panei, sondern direkt durch den Verlag.« (43)

Mit einwöchiger Verspätung leitete Karl Fiehler Reichsleiter Martin Bormann die geforderten »1000 bis 1500« Adressen der von ihm als Empfänger der »Deutschen Thesen« vorgeschlagenen Parteigenos­ sen zu und bat um hundert Exemplare für das Münchner Rathaus. (44). Ziel dieser Direktive zur Verbreitung des Buches an die Elite der nationalsozialistischen Funktionäre war offensichtlich, eine Diskus­ sion über konfessionelle Fragen innerhalb der Parteibasis in Gang zu setzen. Durch den Nachdruck im »Völkischen Beobachter«, durch die innerparteiliche Propagandaaktion Martin Bormanns und durch die beiden Buchpublikationen Kurt Eggers’ war die Legende um den Gotteslästerer Oskar Panizza um eine nationalsozialistische Kompo­ nente erweitert worden. Sechs Jahre nach Kriegsende erschien in den USA Walter Mehrings »The Lost Library«. Ein Kapitel darin war dem »Liebeskonzil« und seinem Verfasser gewidmet. (45) Neben einigen lesenswerten Be­ 25

trachtungen zur »Himmels-Tragödie« wurde Oskar Panizza durch Mehrings 19 ja auch in Deutschland erschienene »Verlorene Biblio­ thek« endgültig zu einer legendären Gestalt erhoben. Wie bereits 1927 der »Völkische Beobachter« ließ Walter Mehring Panizza direkt nach dessen Prozeß in die Schweiz fliehen. Er ergänz­ te Panizzas Urteil um »Verbreitung unzüchtiger Schriften« und verschärfte dessen Strafe auf »Zuchthaus«. (46) Um den »Fall Paniz­ za« skandalträchtig in die deutschen Nachkriegsjahre zu retten, ließ Mehring auch den von Hanns Heinz Ewers überarbeiteten Erzäh­ lungsband »Visionen der Dämmerung« nachträglich konfiszieren. Postum machte er Oskar Panizza mit Heinrich Lautensack bekannt und erschuf Panizza unter Berufung auf dessen Vilshofener »Cafe­ hauskollegen« und Frank Wedekind einen »Jesuitenonkel«. Als »Sadistisch-Hoffmannischer Horrornovellist« und als Verfasser des »Liebeskonzils« konnte Panizza der Sympathie Walter Mehrings gewiß sein. Bis heute gerne zitiert blieb die »story« von Mehrings gescheitertem Besuch in der Bayreuther Irrenanstalt«: »(Niemand durfte ihn [Panizza] besuchen; ich habe es vergeblich auch ver­ sucht ...)« (46) Angesichts der Vorliebe des alternden Mehring für Anekdoten und phantasievolle Ausschmückungen dürfte die Ge­ schichte vom gescheiterten Besuch in Bayreuth ebenso frei erfunden sein wie der von Mehring genannte Essay Panizzas »Transvestitentum und Effeminismus im Messiaskult«. (47) Aufgrund der Tatsache, daß in Mehrings »Verlorener Bibliothek« Titel Panizzas umformuliert bzw. ergänzt wiedergegeben werden und selbst dessen Todesjahr falsch angegeben ist, sollte diese »Quel­ le« künftig nicht mehr kritiklos zitiert werden. Weniger die Person und das Werk als »Der Fall Panizza« interessierten Walter Mehring angesichts einer sich Anfang der fünfziger Jahre neuerlich abzeich­ nenden restriktiven deutschen Kulturpolitik. Mit Mehrings Kapitel aus der »Autobiographie einer Kultur«, so der Untertitel seines Buches »Die verlorene Bibliothek«, überdauerte die Legende vom syphilisinfizierten Dichter, der als ehemaliger Psychiater schizophren in einer »Irrenanstalt« endete (48), den zwei­ ten Weltkrieg.

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»In memoriam Oskar Panizza«. Neue Aspekte zu einem Standardwerk

Wer sich seither näher über Oskar Panizza informieren wollte, der griff auf eine 1926 publizierte Schrift zurück: »In memoriam Oskar Panizza«. (49) Auch eine kritische Rezension in der »Literarischen Welt« rief keinerlei Skepsis hervor. (50) Wie bereits 1943 Kurt Eggers (51), so gehen bis heute sämtliche Herausgeber, Übersetzer, mit Panizza befaßten Wissenschaftler, Dramaturgen, Journalisten, Vor­ wort-, Nachwort- und Drehbuchautoren direkt oder indirekt von jenem Privatdruck des Münchner Antiquars Horst Stobbe aus. Zwar sichtete Anfang der sechziger Jahre Hans Prescher als Heraus­ geber eines Sammelbandes Teile des in München befindlichen Nach­ lasses von Oskar Panizza, doch ging auch er in seinem Nachwort bezüglich Panizzas Lebensgeschichte von dem in Stobbes Privat­ druck wiedergegebenen biographischen Angaben Dekan Lipperts aus. (52) Die Bereitwilligkeit, mit der selbst in wissenschaftlichen Abhandlungen ohne grundlegende Bedenken »In memoriam Oskar Panizza« den Aussagen zur Biographie des Schriftstellers zugrunde gelegt wird (53), läßt sich bestenfalls durch den Mangel an ähnlich umfangreichen, gedruckten Quellen erklären. Auch mag die ein­ drucksvoll wirkende Gliederung des Bandes zur Kritiklosigkeit ver­ führt haben. »In memoriam Oskar Panizza« besteht aus zwei Hauptteilen, »Dr. Oskar Panizzas Lebensgang 1853-1921« (Dekan Friedrich Lippert) und »Oskar Panizzas literarische Tätigkeit« (Horst Stobbe). Wäh­ rend der bibliographische Teil bereits 1925 von Stobbe als Privat­ druck veröffentlicht worden war (54), sollte Dekan Lippert auf Bitten Stobbes lediglich für dessen Zeitschrift »Die Bücherstube« Erinnerungen an Oskar Panizza zu Papier bringen. (55) Da Lipperts Erinnerungen an Panizza offensichtlich kein Bild von diesem mehr ergaben, wandte sich der Dekan an die Familie des Verstorbenen und sandte an Stobbe ein Konvolut unterschiedlichen Materials. Dieses bestand aus Lipperts Abschrift einer von Panizza 1904 in der Münch­ ner Kreisirrenanstalt auf Drängen der Ärzte verfaßten »Selbstbiogra­ phie«, aus Abschriften von ärztlichen Aussagen über den Geisteszu­ stand Panizzas, aus Abschriften, die für Lippert aus den Memoiren von Panizzas Mutter angefertigt worden waren, und aus Abschrif­ 27

ten, die Dekan Lippert von zwei späten Gedichten Panizzas verfer­ tigt hatte. ($6) Lippert selbst kannte 1921 nicht einmal die Lebensdaten seines Mündels näher! (57) Da Stobbe dieses Material für einen Zeitschriften-Artikel zu umfangreich erschien, entschloß sich der Antiquar, einen neuen Privatdruck herauszugeben, in dem Biographisches und Bibliographie gemeinsam veröffentlicht werden sollten. Die so ent­ standene Schrift »In memoriam Oskar Panizza« dient zu einer ersten Information über den Schriftsteller; als Quelle zur Beantwortung weitergehender Fragestellungen kann jedoch auch die hier nachzule­ sende »Selbstbiographie« Panizzas lediglich bedingt dort verwandt werden, wo sie durch verifizierbare Quellen gestützt wird oder diese in ihrer Aussage ergänzt.

Gerade, da nahezu das gesamte heutige Wissen über Oskar Panizza auf jenen Privatdruck aus dem Jahre 1926 zurückgeht, scheint es mir an der Zeit zu sein, den von einem Dekan tradierten »Lebensgang« eines Gotteslästerers, der zudem als Mündel dem Geistlichen ausge­ liefert war, kritischer Betrachtung zu öffnen. Um die Legende vom Poeten im »Madhouse« (58) des Legendären zu entledigen, vor allem aber auch, um den vielzitierten Gedächtnisband des Geistlichen Friedrich Lippert und des Bibliophilen Horst Stobbe anhand bisher unberücksichtigter oder verschwiegener Tatsachen zu beurteilen, ist es notwendig, die Beziehungen zwischen den Angehörigen Oskar Panizzas, seiner Vormundschaft und seinen Ärzten zu untersuchen.

Der Streit um das (literarische) Erbe des Entmündigten Gerüchte um Oskar Panizza hatten den fränkischen Schriftsteller und späteren Zentrumsabgeordneten Leo Weismantel 1918 dazu bewogen, sich bei Michael Georg Conrad nach Panizza zu erkundi­ gen. Auf einen Brief Conrads hin erwiderte Weismantel im Novem­ ber 1918: »Ich habe sogleich [...] an den Rechtsanwalt Josef Popp, den Vertreter [Vormund] Panizzas geschrieben. Vom Irrenhaus aus Bayreuth erhielt ich die Nachricht, daß Panizza sich nicht dort befinde.« ($9)

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Weismantel wollte zumindest die Adresse der Angehörigen Panizzas erfahren. Vielleicht ließe sich im Falle des für viele auf mysteriöse Weise verschwundenen Oskar Panizza »noch manches retten und manche Sünde noch gut machen«. (60) Da Conrad seinem jüngeren Landsmann wenig aktuelle Informa­ tionen geben konnte und somit dessen Plan einer literarischen Wür­ digung Oskar Panizzas selbst nur ungenügend unterstützen konnte, sandte er Weismantel einen Brief von Hermann Croissant. (61) Auf Conrads Frage nach Panizza schrieb darin der Ehemann der Schrift­ stellerin Anna Croissant-Rust: »Ich habe schon einmal auf Veranlaßung Gustav Landauers u. eines Schrift­ stellers Tucholsky (Kurt) Nachforschungen gepflogen und bin bei dem Vormunde Panizzas, dem Rechtsanwälte Joseph Popp in München [...] gewesen.«

Im Auftrag Landauers (62) und des noch nahezu unbekannten Verfassers von »Rheinsberg« hatte sich Croissant bei Justizrat Popp unter anderem nach den Rechten für Panizzas Werk erkundigt. Popp hatte zwar die Existenz eines Testaments nicht geleugnet, dafür aber jede Auskunft über den Inhalt dieses Dokuments verweigert und schon zu diesem Zeitpunkt den Widerspruch der Familie gegen das Testament angekündigt. Während er als Vormund prinzipiell nichts gegen Neuauflagen von Panizzas Schriften einzuwenden habe, sei die Familie, der er sich loyal verpflichtet fühle (63), allerdings bestenfalls zur Freigabe der Rechte an einzelnen Schriften zu bewegen. Der Vormund Panizzas dürfte diese Auskünfte im Frühjahr 1914, etwa zur Zeit des Vertragsabschlusses mit Georg Müller, gegeben haben. Vor Erscheinen der von Hanns Heinz Ewers in diesem Verlag herausgegebenen »Visionen der Dämmerung« hatte Kurt Tucholsky an den »Simplicissimus«-Dichter Hans Erich Blaich (»Dr. Owlglass«) bezüglich Panizzas geschrieben: »(Wissen Sie übrigens etwas über ihn? Bitte, bitte!)« (64) Blaich antwortete am 1. März seinem jungen Kollegen: »Über Panizza kan ich Ihnen leider nicht mehr sagen, als was Sie von meinen Freunden Croissant in Pasing schon erfahren haben werden; ich kant* ihn nur ganz oberflächlich; aber natürlich gehört er zu meinen Schwärmen.« (65)

Da Gustav Landauer das Ehepaar Croissant über Hedwig Lachmann kannte (66), Tucholsky aber die Pasinger Adresse von Blaich erhalten haben dürfte, ist anzunehmen, daß beide Initiativen zur Wiederver­ öffentlichung der Schriften von Oskar Panizza zunächst von zwei 29

verschiedenen Seiten an Hermann Croissant herangetragen worden waren.

Sowohl in zwei Artikeln aus den Jahren 1919 und 1920 als auch in einem »Weltbühnen«-Artikel von 1932 (67) wies Kurt Tucholsky empört darauf hin, daß Panizzas Erben eine freie Auswahl aus dem gedruckten Werk wie auch die Veröffentlichung ungedruckter Handschriften kategorisch untersagten. (68) »Die Erben Panizzas vereiteln die Herausgabe des Nachlasses« unter diesem Titel veröffentlichte »Die Literarische Welt« 1929 eine Zuschrift von Emil Tuchmann, der sich bei Panizzas Erben im Namen der von ihm gegründeten »Panizza-Gesellschaft« um eine Teilveröffentlichung des Nachlasses bemüht hatte. (69) Tuchmann hob in seinem Schreiben hervor, mit welcher Vehemenz sich die Erbengemeinschaft unter Vorsitz des Hamburger Juristen Adolf Freydag gegen die Bezeichnung ihres verstorbenen Angehörigen als »Dichter« gewandt habe. Auch bestätigte Tuchmann 1929 Kurt Tucholskys Behauptung von einem umfangreichen, sich in Händen der Familie befindlichen literarischen Nachlaß, welcher durch ein Urheberrecht geschützt sei, das, so Tucholsky 1919, »einer alten bigotten Verwandten gestattet, diese Feuerströme in der Lavendel­ kommode zu halten«. (70) Ähnlich wie Kurt Tucholsky äußerte sich acht Jahre später auch Walter Mehring: »Noch 25 Jahre besitzen irgendwelche Urschen das Urheberrecht«, den Urheber des >Liebeskonzils«, den Verfasser der Gespräche im Geiste Hut­ tens« und der >Zürcher Diskusjonen« am rechtzeitigen Freiwerden und Publiziertwerden zu hindern [...].« (71)

Die Behauptungen, die Erbengemeinschaft halte einen umfangrei­ chen Teil des Nachlasses von Oskar Panizza zurück oder habe Schriften des unliebsamen Familienangehörigen vernichtet, bestätigt nach mehr als fünf Jahrzehnten ein Zettel im Nachlaß von Friedrich Lippert: »Außerdem pflegte Panizza in der Irrenanstalt dahier mir der ich sein Vormund war, seine Diarien zu übergeben, die ich jedoch mit vielen Schriften seinen Erben in Kiel in der Inflationszeit zusandte. Ich besitze davon nur die ersten 2 Jahre seiner Internierung 1904-1906.« (72)

Dekan Lippert bezieht sich in dieser Notiz auf ein Schreiben des von den Erben Panizzas bevollmächtigten Hamburger Juristen (und



Teilerben) Dr. Adolf Freydag. Dieser sandte Lippert am 16. Juni 1923 die Vollmachten der Erbengemeinschaft (73) und forderte:

»Da somit sämtliche von Eurer Hochwürden gestellten Bedingungen erfüllt sind (in meinem Brief v. 14. konnte ich die 4ooooMk auch bewilligen) sehe ich nunmehr der umgehenden Zusendung der Manuskripte entgegen.« (74) Es läßt sich nicht mehr ermitteln, wofür Friedrich Lippert von der Familie der Betrag von 40 000 Mark bewilligt wurde, bei den »umge­ hend« zuzusendenden Manuskripten dürfte es sich jedoch nicht nur um die inzwischen verschollenen »Diarien« aus Panizzas letzten Lebensjahren, sondern auch um frühere literarische Arbeiten, insbe­ sondere um weitere ungedruckte Erzählungen handeln. Justizrat Josef Popp hatte nach Panizzas Einweisung in die Münchner Kreisir­ renanstalt im Herbst 1904 die Bibliothek seines Mündels von Paris in eine Scheune bei Bad Kissingen schaffen lassen. Zusammen mit dieser rund 10000 Bände umfassenden Bibliothek (75) gelangte eine große Zahl unveröffentlichter Manuskripte (76) in den Besitz der Familie. Diese müssen heute mit wenigen Ausnahmen als verschollen gelten. (77> Im Frühjahr 1914, etwa zu der Zeit, als sich Gustav Landauer und Kurt Tucholsky vergeblich um die Herausgabe der Werke Panizzas bemühten, sandte Josef Popp dem Gegenvormund seines Mündels, Dekan Lippert, »ungedruckte Novellen«, damit der Geistliche prü­ fe, ob diese Manuskripte für den von Hanns Heinz Ewers projektier­ ten Erzählungsband »Visionen der Dämmerung« geeignet seien:

»Gelesen habe ich die Manuscripte nicht und muß es deshalb Ihrer Beurtei­ lung überlassen, ob sie publiciert werden können.« (78)

Da noch im gleichen Jahr bei Georg Müller dieser Sammelband als stilistisch »gereinigte« Auswahl lediglich bereits gedruckter Erzäh­ lungen erschien (79), ist davon auszugehen, daß entweder ein Vor­ mund Panizzas oder aber dessen Familie Manuskripte des Entmün­ digten vernichtet hat. Zwei Zetteln aus Dekan Lipperts Nachlaß im Landeskirchlichen Archiv Nürnberg (80) ist zu entnehmen, daß dieser etwa drei Dutzend heute als verschollen geltender Manuskrip­ te besaß. Offensichtlich ein schlechtes Gewissen befiel Lippert, nachdem er im Sommer 1919 die gesamte Bibliothek seines Mündels auf Drängen von dessen Familie an den Münchner Antiquar Horst Stobbe ver­ kauft hatte. (81) Das Geschäft mit der auf 73 000 Mark geschätzten Bibliothek (82) kam gegen den Willen des Mündels zustande (83), so 3i

daß der Justizrat den beunruhigten Geistlichen nach Panizzas Tod vertraulich beschwichtigen mußte: »Aus der Veräußerung der Bibliothek wird uns niemand eine Haftung aufbürden können: denn sie würde preiswert veräußert und konnte nicht mehr erhalten werden, weil sie zu hohe Spesen verursachte [...].« (84)

Dieses bereits von Panizzas Mutter in zahlreichen Briefen vorge­ brachte Argument der hohen Kosten durch die Bibliothek (85) wirkt angesichts von Panizzas Vermögen in Höhe von rund 150000 Mark (im Jahre 1906) absurd. (86) Nicht nur das immense Vermögen Panizzas, sondern sein gesam­ ter literarischer Nachlaß lag seit dessen Entmündigung am 28. März 1905 (87) letztlich völlig in der Hand seiner Angehörigen. Rechtsan­ walt Josef Popp als amtlicher Vormund, der Bruder des Mündels Felix Panizza und dessen Nachfolger in der Gegenvormundschaft Dekan Friedrich Lippert (88) waren von Mathilde Panizza, der Mutter des zu Entmündigenden, vorgeschlagen worden.

Frau Panizza hatte, nachdem ihr Sohn am 19. Oktober 1904 seine Einweisung in eine psychiatrische Klinik absichtlich provoziert hat­ te, seinen Ärzten mitgeteilt, sie werde weder eine Kaution für den halbnackt Aufgegriffenen hinterlegen noch Kleidung für ihren Sohn ins Krankenhaus bringen. (89) Als weitere Direktiven an Panizzas Psychiater schrieb die mit ihrem Sohn seit mehreren Jahren (90) zerstrittene Mutter: »Man solle meinen Sohn in eine Irrenanstalt thun und zwar höhere Klasse. Er beziehe im Jahr eine Rente von 6000 Mk [...]. Ich ersuche einen Herrn quasi Vormund für Dr. O. Panizza aufzustellen. Ich garantiere für alle Ausgaben.« (91)

Obwohl die behandelnden Ärzte Frau Mathilde Panizza mitteilten, ihr Sohn sei nur geistesgestört, nicht aber geisteskrank, wurde der »Patient« am 8. November 1904 (92) in die Psychiatrische Klinik überwiesen. Auf Anraten ihrer Enkelin Mathilde Collard benannte Frau Panizza damals Josef Popp als Vormund. Ida Panizza, die einzige Vertraute innerhalb der Familie, wehrte sich erfolglos gegen diesen Vormund für ihren Bruder und versuchte vergeblich, die Schwester ihrer Mutter, Frau Maria Feez, gegen den geldgierigen »Winkeladvokaten« aufzubringen. Als ehemaliger Psychiater ahnte Oskar Panizza, was ein einstweiliger Vormund für ihn bedeutete: 32

»Als sich Popp bei Oskar vorstellte, sei er höchst überrascht, ärgerlich gewesen, daß man diesen einen Anwalt, gleich Vormund stelle, wegen einen Exzeß;« (93)

Der Mutter Panizzas erklärte Popp bald darauf, er habe die Bedenken seines künftigen Mündels zerstreuen können. In welcher tatsächlichen Beziehung der von Panizzas Mutter benannte einstweilige Vormund zu seinem künftigen Mündel stand, dokumentiert ein Artikel, der als Reaktion auf Panizzas »Liebeskon­ zil« 1895 in der »AugsburgerPostzeitung« zu lesen war. Popp schloß darin seine Polemik gegen den Verfasser des »Liebeskonzils« mit den Worten: »Panizza ist mit seinem dämonischen Gotteshaß und seinem wohllüstigen Graben im Schmutz ein furchtbares >Menetekel«. [...]- Nur eine Sündflut kann den Sündenwust solcher Literatur hinwegschwemmen und zu neuem Leben eine neue Erde schaffen.« (94)

Als Schriftsteller war Panizza für Popp bereits 1895 geisteskrank: »ein Faun der widerlichsten Sorte: cynisch frech, voll Raserei und Sucht nach Orgien, ohne Scheu vor Sitte und Religion, überfließend von Hohn, das Opfer einer ungeheuerlichen Phantasie. Uns ist der Mann eine krankhafte Erscheinung; wir stimmen jenem Arzte bei, der nach der Lecture des >Liebesconcil< gesagt: >Panizza gehört in eine Beobachtungsanstalt; sein Buch hat nur pathologischen Werth«.« (95)

Neun Jahre später war Josef Popp als vorläufiger Vormund anwe­ send, als Oskar Panizza am 6. Dezember 1904 in der Münchner Psychiatrie an der Nußbaumstraße von den Sachverständigen Dr. Ungemach und Dr. Gudden zu seiner bevorstehenden Entmündi­ gung, die der Vernommene zu diesem Zeitpunkt vorerst nur ahnen konnte, zur Rede gestellt wurde. (96) Aufgefordert, seinen in der Kreisirrenanstalt auf Weisung der Ärzte schriftlich abgefaßten Le­ benslauf zu wiederholen, entgegnete der zu Entmündigende: »Ich weigere mich, die Geschichte nochmals zu erzählen. Lesen Sie den Akt!« (97) Die von Oskar Panizza gewählte Rolle des geständigen Geistesgestörten, der schon in seinem »curriculum vitae« über sich als ehemaliger Psychiater in der dritten Person mit dem Vokabular seiner Ärzte zu berichten wußte, hatte für Panizza die Gefahr, entmündigt zu werden, nicht vermindert. Panizzas neunzehn Tage vor dieser Anhörung verfaßtes »curriculum vitae« hatte seinen Zweck nicht erfüllt. Da heute dieses Schriftstück in der Entmündi­ gungsakte des Amtsgerichts fehlt, kann Dekan Lipperts handschrift-

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liehe Kopie nicht mehr am Original seines späteren Mündels verifi­ ziert werden. Zieht man in Betracht, daß Panizzas »Curriculum vitae« auf Drän­ gen seiner Arzte und im Beisein eines von der eigenen Mutter Benannten Vormunds verfaßt wurde, daß aber zudem jeder Satz von den Psychiatern zur Entmündigung des Autors verwandt werden konnte, so ist diese »Selbstbiographie« (98) als Quelle zu Panizzas Leben Punkt für Punkt kritisch zu untersuchen und anhand weiterer Quellen zu überprüfen und zu ergänzen. Zusammen mit den von Dekan Lippert montierten Aussagen der beiden Sachverständigen in Panizzas Entmündigungsverfahren Dr. Ungemach und Dr. Gudden umfaßt die »Selbstbiographie« mehr als die Hälfte des Beitrages von Friedrich Lippert zu »In memoriam Oskar Panizza«. Die übrigen Seiten füllt die Druckfassung einer Abschrift, die von einer Abschrift aus dem Memoiren von Panizzas Mutter Mathilde für Dekan Lippert angefertigt worden war. Die Auswahl hierfür traf die Erbengemein­ schaft des entmündigt Verstorbenen. Selbst ohne weitere Fehlerquel­ len und Möglichkeiten der Einflußnahme sollte man schon bei Mathilde Panizzas Lebenserinnerungen die Kluft zwischen dem Denken der Mutter und dem Denken ihres Sohnes berücksichtigen. Hinzu kommt, daß Dekan Lippert, für den die Erben jene Abschrift aus den Memoiren von Mathilde Panizza anfertigen ließen, schon seit mehreren Jahren eine besondere Funktion für die Familie seines Mündels hatte. Während es in den Augen der Mutter Justizrat Popps Aufgabe war, als Vormund das Vermögen des Entmündigten für dessen Erben zusammenzuhalten (99), sollte Friedrich Lippert nach Meinung der Greisin ihrem »armen Oskar« »Wegmeister« sein (100) und ihn von seinen durch anarchistisches Denken herbeigerufenen Dämonen (101) und Teufeln befreien: »2 Naturen sind in ihm: ein Engel und ein Teufel. Wenn Gott der Herr den letzteren auszufahren gebietet - wird Oskar ein frommer Mann sein.« (102)

Beide Vormünder wurden nach Mathilde Panizzas Willen mit Zinsen aus dem Vermögen ihres Sohnes bezahlt, wobei der Dekan als Zusatzverdienst von der Mutter seines Mündels über Jahre das Dreiund Vierfache dessen bekam, was Mathilde Panizza ihren Dienst­ mädchen bezahlte. (103) Nur wenige ihrer Briefe an den Dekan verbinden nicht religiöse Gedanken mit pekuniären Angeboten. Jeder »Freundschaftsdienst« des Geistlichen, die etwa alle vierzehn 34

Tage stattfindenden Besuche in Herzoghöhe, die Geschenke und die von der Mutter des Internierten angeordneten Gottesdienste wurden mit dem Geld des Mündels bezahlt. Die Mutter des Entmündigten dankte dabei ihrem Gott, daß er ihren Sohn für dessen weltlichen Hochmut und anarchistisches Denken mit Wahnsinn geschlagen habe - Lippert war in ihren Augen dazu ausersehen, den Gottlosen auf den rechten Weg zurückzuführen. (104) Friedrich Lippert nahm Geld (105) und Ermahnungen an. Im Auftrag von Mathilde Panizza überbrachte er Weihnachten 1912 seinem Mündel das »Geistige Testament« von dessen Mutter. Frau Mathilde Panizza, die unter dem Pseudonym Siona mehrere religiöse Erbauungsschriften veröffentlicht hatte, nahm ihr »Geistiges Testa­ ment« an die Nachkommen und besonders auch an ihren von Gott gestraften Sohn ernst. Um so enttäuschter reagierte Frau Panizza, als ihr Sohn Oskar, entgegen den Berichten von Dekan Lippert, nicht zum Glauben zurückgekehrt war, sondern empört den missionari­ schen Eifer seiner Mutter zurückwies und sich im Februar 1913 weigerte, den Geistlichen weiterhin zu empfangen. (106) Bisher verschwiegene Kontroversen gab es nicht nur zwischen Oskar Panizza und dem im Auftrag von seiner Mutter handelnden, jedoch aus der Tasche des Mündels bezahlten Gegenvormund, sondern auch zwischen Oskar Panizza und dem von Mathilde Panizza aufgestell­ ten Vormund Josef Popp. Dieser Rechtsanwalt war es, der als Vertrauter der Familie Panizza im Privatsanatorium »Kurhaus Main­ schloß« nahe Bayreuth unterbringen ließ. (107) Wie aus einem Brief seiner Mutter hervorgeht, wollte sich Panizza aus diesem Grunde 1905 das Leben nehmen. (108) Als es acht Jahre später, nach dem Streit des Entmündigten mit seiner Vormundschaft, in Bayreuth zu einem Treffen zwischen diesen kam, scheint das in der Literatur häufig betonte Freund­ schaftsverhältnis zwischen Panizza und Lippert (109) weiter Schaden genommen zu haben. Dekan Lippert dürfte Initiator dieser Begeg­ nung gewesen sein, und so vermutete die Mutter des Mündels: »ich glaube das hat letzteren [Panizza] verstimt den er will von Popp durchaus nichts wissen, dem er aber anfangs sehr vertrauensvoll entgegen kam, aber als er ihn nach Herzoghöhe zwang war seine Freundschaft vorbei.« (no)

Es bleibt fraglich, ob es der Mutter gelang, zwischen ihrem entmün­ 35

digten Sohn und dessen Vormündern zu vermitteln, (ui) Ohne Zweifel war jedoch das Vertrauen zwischen Panizza und Dekan Lippert 1913 tief erschüttert. Seit der Geistliche den Gotteslästerer 1895/96 in Amberg kennengelernt hatte, handelte der spätere Bio­ graph Panizzas im Interesse von dessen Familie. Dennoch bleibt anzuerkennen, daß Lippert, abgesehen von jenen familiären und pekuniären Interessen, für den Häftling wie für den Entmündigten als Gesprächspartner eine menschlich bedeutsame Funktion erfüllte. Daß von einer Freundschaft zwischen Mündel und Gegenvormund allerdings keine Rede sein kann, zeigt die Skrupellosigkeit Lipperts im Umgang mit Panizzas im »Mainschloß« verfaßten Diarien und Manuskripten: Sie waren für ihn nicht Dokumente eines leidenden Freundes, sondern literarisch wertlose Aufzeichnungen, denen »die gesunde Weltanschauung« (112) fehlte. Ein charakteristisches Resümee der Beziehung zwischen Familie, Vormundschaft und entmündigtem Schriftsteller sind folgende An­ weisungen von Mathilde Panizza an Vormund Friedrich Lippert: »[.. .]dan kamen Sie HerrDekan-u. siehe da der liebe Gott half den Armen [Sohn Oskar] obwohl noch krank zur Ruhe. Ich meine die Herausgabe seiner Bücher auch weh sich ein Buchhändler dazu verstünde (113) sollte man ruhen laßen - doch was Gott der Herr will wird schon geschehen.« (114)

Bei weitem resoluter ordnete Mathilde Panizza ein Jahr später eine Vorzensur von Texten ihres Sohnes durch dessen Vormünder an: »Ich dachte heute Nacht darüber nach: daß in Oskars Schriften viel Unreines - wohl auch Gotteslästerliches enthalten sei; u. ich möchte Sie bitten mit Herrn R. A. Popp die Sache [Freigabe der Rechte für den Erzählungsband »Visionen der Dämmerung«] ganz genau zu besprechen und nichts zuzula­ ßen was anstößig sei. Besser diese Schriftstellerei komt in’s Feuer als, daß Unheil für eine Seele gestiftet werde.« (115)

Oskar Panizza, der wohl vermögendste Schriftsteller der Münchner Moderne, hatte mit seinen literarischen Attacken nicht nur Zensur­ behörden, sondern auch seine eigene Familie gegen sich aufgebracht. Die Sorge um die eigene Reputation und das Wissen um das Vermö­ gen des familiären Außenseiters veranlaßte das Familienoberhaupt, ihrem durch künstlerische Erfolglosigkeit und politische Repressio­ nen psychisch zerrütteten Sohn Oskar zwei Vormünder ihrer Wahl zu oktroyieren. Justizrat Josef Popp, ein entfernter Verwandter der Familie Col­ 36

lard-Panizza, als Vormund, und Dekan Friedrich Lippert als Gegen­ vormund bereicherten sich nicht nur an dieser Nebentätigkeit, son­ dern vernichteten Manuskripte und gaben verschiedene Texte ihres Mündels lediglich in einer ihrer puritanisch-protestantischen Auf­ traggeberin gefälligen Fassung zum Neudruck frei. Panizzas letzte Buchpublikation »Parisjana. Deutsche Verse aus Paris« (1899), vor allem aber die hierauf folgende steckbriefliche Fahndung nach dem in Zürich lebenden Verfasser und die Konfiska­ tion seines in Deutschland befindlichen Vermögens hatten endgültig zum Bruch zwischen Oskar Panizza und seiner Familie geführt. Panizza fühlte sich in den ersten Monaten des neuen Jahrhunderts psychisch »zernichtet«: »[...] ich kann Sie versichern, daß diese Beschlagnahme und die plözliche, unerwartet feindselige Haltung der eigenen Geschwister, der eigenen Mut­ ter, mir den Selbstmord als leztes und anständigstes refugium wiederholt vor die Seele gezaubert hat.« (116)

Bereits im September 1900 formulierte Panizza einem Freund gegen­ über unmißverständlich die Pläne seiner Mutter: »Die Regierung hat wol keine Ahnung, wie meine Mutter, und von ihr beeinflußt, die ganze Familie die Beschlagnahmstatsache benüzt hat, um mich zu Boden zu ringen. Meine Mutter beabsichtigt, weil ich ihr protestan­ tisches Ideal, den deutschen Kaiser, angegriffen, nichts Geringeres, als mich in’s Irrenhaus zu bringen ü............ « (117)

Nicht zuletzt literarischer Ehrgeiz hatte Oskar Panizza zu einem der vehementesten Zeitkritiker in der deutschen Literatur der Jahrhun­ dertwende werden lassen. Wo Zensur, Beschlagnahme und Einzel­ haft nur Trotz und Depressionen, nicht aber die intendierte Anpas­ sung des Dichters bewirkt hatten, mußte konsequenterweise gericht­ liche Entmündigung und Internierung den Ruf der Familie wie der literarisch attackierten Institutionen wahren. Oskar Panizza blieb für seine Familie wie für die Behörden unintegrierbar: »Ich weigere mich rundweg, ein erwägliches Objekt der Münchener Polizei, der bairischen Staatsraison, oder wie man es nennen mag, abzugeben. [...] Diese Hem von der Polizei und von der Regierung haben jezt soviel erreicht, daß eine Familie, die seit einem halben Jahrhundert, troz aller Meinungsver­ schiedenheiten, in idealen Verhältnißen lebte, in ihrem etischen Verband zerstört ist. Die Hem werden noch mehr zerstören. Ich kann es nicht ändern. Mit Grus Ihr Panizza« (118)

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Der »Illusionismus« und Panizzas Rettung seiner Persönlichkeit Normalität, Genie und Wahnsinn. Panizzas Realitätsempfinden Sieben Jahre nachdem Oskar Panizza seinen Beruf als Psychiater aufgegeben hatte, hielt er am 20. März 1891 vor Gästen und Mitglie­ dern der Münchner »Gesellschaft für modernes Leben« einen Vor­ trag unter dem Titel »Genie und Wahnsinn«. Das Referat zu Beginn des dritten öffentlichen Vortragsabends fand im gut besuchten Ballsaal der »Central-Säle« großen Anklang (1) und wurde aus diesem Grund als Doppelnummer der Schriften­ reihe »Münchener Flugschriften« (2) den Freunden des literarisch oppositionellen Schriftstellerkreises um Michael Georg Conrad in Druck vorgelegt. Panizza hatte an jenem Freitagabend ein »modernes« Thema zur Sprache gebracht, das ihn selbst seit langem beschäftigte und das ihn über seine endgültige Internierung im »Kurhaus Mainschloß« hinaus beschäftigen sollte. Der frühere Nervenarzt stellte sich mit seinem Vortrag in Opposi­ tion zur positivistisch ausgerichteten Lehrmeinung der Psychiatrie seiner Zeit. Noch dominierten anatomische und pathologische Un­ tersuchungen die universitären Bewahranstalten für Geisteskranke, doch zeichnete sich ein Umdenken ab. Fortschrittliche Anstaltsleiter ließen ihren Patienten die Ketten abnehmen, Friedrich Scholz ent­ warf das Modell eines liberaleren Anstaltssystems und Sigmund Freud entwickelte mit seiner Psychoanalyse eine beinahe seit ihrer Entstehung ebenso populäre wie umstrittene Theorie, die bis in die Gegenwart hinein einen Kontrapunkt zu »materjalistischen« Schulen der Seelenheilkunde darstellt. Eine neu einsetzende Geniediskussion und die künstlerische wie wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sexualität, die von einer als gegeben angenommenen Norm abwich, gaben den Anstoß zu neuen Theorien. Themen wie »Das Genieproblem« (3), »Genie und Gesundheit« (4) oder »Genie, Irrsinn und Ruhm«, ein immer wieder von neuem aufgelegter Sachbuchtitel des zwanzigsten Jahrhunderts (5), gehen

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auf das zurückliegende Fin de siècle (6) zurück. Die vierte Auflage von Cesare Lombrosos »Genio e Follia« (7) wurde bereits 1887 ins Deutsche übertragen und von Reclam in die »Universal-Bibliothek« aufgenommen. (8) Oskar Panizza ersetzte bei Lombrosos »Genie und Irrsinn« das zweite Substantiv durch das Synonym »Wahnsinn« und trug mit seinem Vortrag die Diskussion über Psychopathologie und geistige Normalität in die Münchner Moderne. Es war selbstver­ ständlich, daß Panizza den italienischen Kollegen in seinem Referat erwähnte. Allerdings übte er an Lombroso in erster Linie Kritik. Diese betraf nicht etwa dessen Theorem absoluter Vererbbarkeit, sondern richtete sich gegen Lombrosos Verfahren der Reihung von exemplarischen Fällen (9), die Panizza dann selbst jedoch bis hin zu einzelnen Beispielen übernahm. (10) Neben Anna Croissant-Rust griff aus dem Kreis der Münchner Moderne besonders Hanns von Gumppenberg den neuen Themen­ kreis der Psychologie und des halluzinatorisch erleuchteten Genies (11) auf. Gumppenberg ergänzte dieses »moderne« Thema um Ok­ kultismus und Spiritismus, wobei sich der Verfasser von »Das dritte Testament« (12) selbst nicht nur als Genie, sondern als »Der fünfte Prophet« (13) verstand. Trotz zahlreicher früherer Beispiele auf psychologische Momente ausgerichteter Literatur, von denen Karl Philipp Moritz’ »Anton Reiser« heute wohl zu den meist zitierten zählt, gilt es als unumstrit­ ten, in literarhistorischen Überblicken Psychologie und Psychopa­ thologie als markante Charakteristika wilhelminischer Literatur zu bezeichnen. (14) Die unbeschadete Seele war am Ausgang des neun­ zehnten Jahrhunderts Gegenstand der etablierten Dichtung einer nach Reichsgründung und Reparationszahlungen zu Wohlstand ge­ langten Leserschaft. Im Gegensatz hierzu kennzeichneten die Dar­ stellung gesellschaftlicher Randgruppen und ab 1890 zunehmend das Aufzeigen von »Anomalien« des Individuums die Literatur der Avantgarde, wobei sexuell Anstößiges und Psychopathologisches für die literarische Boheme von besonderem Interesse waren. Mit äußerster Konsequenz negierte innerhalb der Münchner Moderne Oskar Panizza jede Definition dessen, was als »normal« zu gelten habe: »>Patologisch< - das ist ein empirischer, auch zunächst eher verwirrender, als aufklärender Begriff [...]. Wer sagt mir denn, was patologisch ist? Der Kreisfisikus?« (15)



Die Radikalität dieser Fragestellung, niedergeschrieben im Frühjahr 1896, läßt sich heute nach Michel Foucault, Franco Basaglia, Ronald D. Laing, Thomas S. Szasz und Giovanni Jervis nur mehr schwer ermessen. »Deutschlands erster Antipsychiater« (16) - dieser salopp formu­ lierte Teil einer Schlagzeile zu Oskar Panizza gewänne im Kontext folgender Notizen des »Antipsychiaters« an Aussagekraft: »Wir sind unfähig Geisteszustände objektiv zu beurteilen.« »Wir sprechen von >Geisteskrankheit< wenn wir sehen, daß Jemand gar keine raison annehmen will und sich fest auf seinen Instinkt verläßt -[...] aber wir können ja objektiv überhaupt keine Geistesäußerungen abschäzen, wir können von den Geisteszuständen unserer Nebenmenschen nur sagen: daß sie anders sind als unsere, und daß sie mit dem sozialen und Kulturleben unsrer Zeit sich nicht vertragen.« (17)

Ein derart radikaler Gedankengang aus dem Jahre 1897 (18) konnte durch die Ansichten von Heinar Kipphardts fiktivem Psychiater Dr. Kofler 1976 lediglich ergänzt werden: »Ob jemand als ein Geisteskranker angesehen wird, das hängt auch von den sozialen Gegebenheiten seiner Zeit ab, von der daraus abgeleiteten herr­ schenden Moral. Die psychiatrische Freiheitsberaubung war zu allen Zeiten gebräuchlich und ist es noch heute.« (19)

Oskar Panizza gab seiner Satire »Psichopatia criminalis« den Unter­ titel »Anleitung um die vom Gericht für notwendig erkanten Geistes­ krankheiten psichjatrisch zu eruiren und wissenschaftlich festzustel­ len. Für Ärzte, Laien, Juristen, Vormünder, Verwaltungsbeamte, Minister etc.«. Er lehnte nicht nur das Konstrukt einer objektiven Normalität ab, sondern erkannte auch die historische und kulturelle Bedingtheit dessen, was unter »Wahnsinn« zu verstehen sei, und entwickelte als Satire den Terminus »Psychopathia criminalis«, um in Anlehnung an Richard von Krafft-Ebings Erfolgstitel »Psychopathia sexualis« (20) Justiz und Psychiatrie eine wissenschaftliche Handha­ be zu geben, die »psychiatrische Freiheitsberaubung« an politisch Andersdenkenden vorzunehmen. (21) Daß Panizzas Satire sechs Jahre später von seinen Gutachtern herangezogen wurde, um den Verfasser der »Psichopatia criminalis« auch aus politischen Gründen gerichtlich zu entmündigen, ist der absurde Höhepunkt in der Verzahnung von Oskar Panizzas Vita mit dessen literarischem Schaffen. Dr. Fritz Ungemach stellte in seinem

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Gerichtsgutachten fest, es bestehe bei Panizza deshalb »entschieden Verdacht auf geistige Störung«, da er in seinem Buch »Psichopatia criminalis« nicht nur Adel und Beamtentum attackiert, sondern sich zudem gegen den Stand gewendet habe, dem er als Psychiater einst selbst angehört habe. (22) Die Aktualität zahlreicher Schriften Oskar Panizzas beruht nicht zuletzt auf dessen radikaler Ablehnung gesellschaftlich vorgegebener Normen für das Denken und Empfinden des einzelnen. Geistesgeschichtlich betrachtet stand er unter dem direkten Ein­ fluß Kaspar Schmidts, der unter dem Pseudonym Max Stirner beson­ ders durch sein Hauptwerk »Der Einzige und sein Eigenthum« (1844) (23) auf die Literatur der Jahrhundertwende gewirkt hatte. Im Zentrum der Stirner-Rezeption jener Zeit stand zweifellos John Henry Mackay, der als »Friedrichshagener« seine Begeisterung für Stirner in erster Linie der anarchistisch orientierten Boheme Berlins vermitteln konnte. (24) Nach einer wohl eher flüchtigen Auseinan­ dersetzung mit den Schriften von Ferdinand Lassalle und Karl Marx galt das Interesse der jungen Schriftstellergeneration ab dem letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts vorwiegend dem Werk Friedrich Nietzsches, aber auch dem Individualismus Stirnerscher Prägung. Wie so vieles, was Panizza mit Literatur verband (25), war auch seine Neigung zu Stirner biographisch bedingt. Panizza, der unter Prof. Gudden Gehirnmasse zu sezieren, zu wiegen und zu kategorisieren hatte, schrieb im Vorwort zu seinem philosophischen Traktat »Der Illusionismus und Die Rettung der Persönlichkeit. Skizze einer Weltanschauung«: »— da las ich Stirner; Stirner, diesen Lazarus unter den Filosofen, der plözlich wieder auferstanden ist, und uns gezeigt hat, dass Denken unter Umständen mehr ist, als Mikroskopiren, Schädelmessen, GehirneWiegen und experimentelle Psichologie-Treiben [...]. - Ihm ver­ danke ich vor Allem die Aufmunterung zu der vorliegenden Schrift. Und deswegen habe ich in Dankbarkeit seinen Namen dem Werkchen vorgesezt.« (26)

In labyrinthhaften Gedankengängen erklärte Oskar Panizza kurz vor Antritt seiner einjährigen Haftstrafe die Welt als »Halluzinazion«. (27) Diese These, die für das Verständnis nahezu aller Werke Paniz­ zas, einschließlich des »Liebeskonzils«, grundlegend ist, gehört bis heute zu den heftigsten zeitgenössischen Angriffen gegen das vom 42

naturwissenschaftlichen Experiment geprägte Denken der 1880er und 1890er Jahre, gegen Positivismus und Monismus. »Wer nichts in sich besizt, als die trostlose Eigenschaft, das Miliö Miliö sein zu laßen, Menschen Menschen, Tatsachen Tatsachen, diese sog. Objekti­ vem, sie besizen von dieser originären Seelenkraft [dem »Dämon«] Nichts, oder fast Nichts. Keine Täuschung treibt sie, Aber auch keine Idee erhebt sie.« (28)

»Materialisten« wie Ludwig Büchner waren für Panizza »verstandes­ kühle Nörgler«. (29) Die »Subjektiven«, die »Seelenstarken« und »Innerlich-Gequälten« (30) aber »konstruiren« auf Drängen ihres »Dämons« die sinnlich wahrnehmbare Welt. Ein »transzenden­ taler Grund«, eine »transzendentale Ursache« (31), eben jene als »Dämon« bezeichnete »originäre Seelenkraft« machte es für Panizza unmöglich, eine objektive Eingrenzung des geistig Norma­ len anzuerkennen. »Leugnung der Aussenwelt!« (32), der Welt des »Materjalismus«, mit dieser Parole bekannte sich Panizza bewußt zur gedanklichen Spekulation: »Was wir verlangen, ist nicht Wissen - denn wissen wir selbst etwas? - nur Glauben an das Schema, Bild, Figur, und Vertrauen in die Ehrlichkeit unserer Absicht.« - »Man wird sich nach diesem nicht wundern, wenn auch wir etwas Glauben erwarten, nur konsequenteren.« (33)

Der Zweifel an tradiertem Wissen und das Hoffen auf einen »konse­ quenteren«, aufgeklärteren Glauben drückt einen Grundkonflikt Oskar Panizzas aus - den Zwiespalt zwischen protestantisch-pietisti­ scher Erziehung und naturwissenschaftlichen Studien. Einen der markantesten Widersprüche in Panizzas »Illusionismus«-Theorie, deren eigenwillige Grundzüge hier bewußt auch in Originalzitaten wiedergegeben werden, verdeutlicht die Feststel­ lung, man könne die »Außenwelt als Halluzinazion unserer geistigen Potenz« erfassen, indem man Metaphysisches durch Empirisches zu begreifen suche. (34) Während der ehemalige Korntaler Zögling in Panizza das Metaphysische liebte, suchte es der ehemalige Gehirn­ anatom empirisch zu beweisen, beides wurde als Paradoxon zum Grundkonflikt des Schriftstellers Oskar Panizza, den dieser durch Schreiben für sich zu lösen versuchte. Seine »materjalistischen« Gegner reagierten auf dessen »Skizze einer Weltanschauung« umge­ hend. Am heftigsten wohl Josef Steinmayer, der im Septemberheft der »Gesellschaft« 1895 von einem neuen »Hinterweltler« sprach:

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»Panizzas Weltanschauung ist eine Philosophie des Gemütes; das Gemüt aber ist, mit Feuerbach zu reden, das kranke Herz ...« (35) Steinmayer deckte zwar mehrere logische Widersprüche im »Illu­ sionismus «-Traktat auf, doch verstand er dessen Grundgedanken falsch: Oskar Panizzas »Illusionismus«, »Spiritualismus«, »Dämonismus« oder »Psichismus« war mehr als eine Philosophie des kran­ ken Herzens, er setzte sich weitgehend aus Gedanken des metaphysi­ schen Idealismus’ zusammen. Panizzas Weltbild ergab sich aus der Konfrontation einer als unzulänglich erkannten Faktizität oder »Au­ ßenwelt« mit der Macht von Ideen. Menschheitsgeschichtlich be­ stimmend waren für ihn dabei diejenigen Ideen, deren Träger »Beses­ sene« waren. Durch Essays, Artikel, Rezensionen, Notizen und Briefe, aber auch durch einen Großteil von Panizzas fiktivem literari­ schen Werk zieht sich deshalb eine Reihe von Namen, deren Träger für Panizza Repräsentanten unerschrockenen Eintretens für eine Idee waren. (36) Die transzendentale Kraft, die Macht des »Dämons«, jener Ideen­ träger bestimmte die historische Wirklichkeit der von ihr kreierten, »konstruirten Außenwelt«. Ausdruck jener Kraft war die »Halluzinazion« des einzelnen. Der lebensbejahende Philister, dessen Proto­ typ für Panizza zeit seines Lebens Johann Wolfgang von Goethe war, genoß die Anerkennung der »Außenwelt«, das leidende Genie aber, das für ihn besonders Christus und Luther repräsentierten, gestaltete die sinnlich wahrnehmbare Welt, die »Außenwelt«, zumindest po­ stum, nach seiner Idee.

Die politische Dimension des Begriffs »anormal« Oskar Panizza lehnte eine strikte Grenzziehung zwischen dem von einer Idee besessenen Genie und dem von einer sogenannten Wahn­ idee getriebenen Psychopathen durch Kritik an angeblich objektiven Normen ab: »Psiche. Wir müßen versuchen, das was in Detenzionsanstalten in sog. >Irrenhäusem< produzirt wird, und das was in der freien Welt, im Frei-Haus produzirt wird, unter einem Gesichtspunkt unter eine Idee unterzubringen, [...] unbekümmert um das, was der Plebs oder administrative Beamte, von

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ihrem bürokratischen Gesichtspunkt aus für >gesund< oder für >krankErscheinungErscheinungsweltsiehst Geister«.« (42)

Panizza umschrieb diesen Gedanken im zweiten Abschnitt seines »Glaubensbekenntnisses« (43) mit den Worten: »Ich glaube, daß unsere sinliche Existenz und die uns umgebende Außenwelt nur insofern den Anspruch auf Realität haben, als sie das Resultat unserer Sinne sind. Für unser Denken, welches eine höhere Wesensform gegenüber unserer sinlichen Perzepzion und der auf diesem Wege gewonnenen Außen­ welt darstelt, ist die Gesamtsumme unserer sinlichen Erfahrung Illusion.« (44)

Damit war der Individualismus Max Stirners ad absolutum geführt und die Psyche des einzelnen, der »Dämon« des Individuums durch Stirners Adepten Panizza zum Maß aller Dinge erhoben. Für die »Erscheinungswelt« aber galt, so Panizza, nur der von einer Idee Besessene; lediglich der Verrückte oder das Genie konnte Menschheitsgeschichte mitgestalten. (45) Panizzas »Skizze einer Weltanschauung« endet mit der Maxime: »Handle, wie Dir Dein Dämon vorschreibt. Schrekst Du vor den Konse­ quenzen in der Welt der Erscheinungen [!] zurük, dann ist sie stärker wie Du. Sezt Du Dich durch, dann bist Du Obsiegender. Du gehst vielleicht zu

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Grund. Aber zu Grunde zu gehn in der Welt der Erscheinungen, ist ja das Lös von uns Allen.« (46)

Während Oskar Panizza zu keiner Zeit von dieser Verabsolutierung des »Dämon«, des »An-Sich-Sein des Selbst« abwich, modifizierte er seinen metaphysischen Idealismus in der Amberger Einzelhaft da­ hingehend, daß er die »fisische Welt« nicht mehr als reine Halluzina­ tion betrachtete, sondern sie, einem Gedanken Max Stirners folgend, seinen »Dämon« entgegenstellte: »Das Gedachte i s t so gut als das Nicht-Gedachte, der Stein auf der Straße i s t und meine Vorstellung von ihm ist auch« (Max Stirner). (47)

Dies verdeutlichen auch die im Frühjahr 1897 erschienenen »Dialoge im Geiste Hutten’s« (48), die noch im Amberger Gefängnis von Panizza verfaßt worden waren. Das Gespräch »Ueber das Unsicht­ bare zwischen einem Materjalisten und einem Spiritualisten«, der zweite Dialog des Bändchens, gipfelt im Bekenntnis des »Spirituali­ sten«: »Wenn ich nicht an das Unsichtbare glaubte - an einen ursächlichen Zusam­ menhang des rein Psichichischen, des Nicht-Verlautbar-Werdenden, des Hinuntergeschlukten mit der fisischen Welt des Schlagens und GeschlagenWerdens, des Ringens und Kämpfens, wenn ich nicht wüßte, das das, was wir in den lezten zehn Jahren heimlich gelitten haben, irgend wo aufgeschrieben ist, und in irgend einer Form umgemodelt in dieser unsichtbaren Welt wieder als Kampf und Rache zum Vorschein komt, dann hielte ich das Leben nicht mehr für lebenswert und müßte verzweifeln an Deutschland.« (49)

Neu war in diesem Text eine transzendentale Instanz, die erlittenes Unrecht notiert und als materiell gewordene Idee wieder in die »fisische Welt« sendet. Dieser naiv wirkende Glaube an eine ausglei­ chende Gerechtigkeit bot dem Inhaftierten Halt. Das »Unsichtbare« schützte vor Verzweiflung und bot als Prinzip Hoffnung auf die Veränderbarkeit der gegenwärtigen Situation. Glaube an die rächen­ de Kraft eines alttestamentarischen Gottes verband sich dabei mit dem Vertrauen des Erneuerers auf eine umzugestaltende Zukunft. Oskar Panizzas »Illusionismus« war ein kaum beachteter Angriff auf das positivistische Denken des ausgehenden neunzehnten Jahr­ hunderts. Der »Dämon« des einzelnen war, auf Stirners Individualis­ mus aufbauend, zur historisch bestimmenden Kraft geworden, deren Gegenkräfte in der vom einzelnen »kreierten« »Außenwelt« in Pa­ nizzas »Illusionismus«-Theorie allerdings widersprüchlich darge­ stellt werden. Insgesamt ist nach der Haftentlassung eine Tendenz

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dahingehend festzustellen, daß »Dämon« und »Unsichtbares« zum Überleben in einer »fisischen Welt des Schlagens und GeschlagenWerdens« notwendig und für den einzelnen der letzte Halt sind.

»Dämon«, individuelle Not und künstlerische Inspiration

Oskar Panizza betrachtete die »Welt der Erscheinungen« als ein Produkt »induktiv«, das heißt »genial« denkender Menschen. (50) In einer Zeit, von der er meinte, ein »Funke Gemüts« gelte wieder mehr »als die beste Verstandes-Teorie« (51), verkündete Panizza die Macht der Imagination, des »Dämons«: »Das Stärkste, was der Mensch besizt, ist seine Fähigkeit, krumm grad zu machen, schwarz weiß, Alles was ihm vorkomt einer bestirnten Idee unter­ zuordnen, Nicht-Paßendes bei Seite liegen zu laßen. Diese Kraft ist es, die Berge versezen kann.« (52)

Exemplarisch dafür, daß die Welt »nach unserer Idee, nach unserem primär in uns vorhandenen Bild, nach unserem Dämon, nach unse­ rem Spuk« (53) konstruiert sei, war für Oskar Panizza Don Quichot­ te: »Er reitet in die Welt hinaus und sieht, was in ihm ist, nicht was in der Welt ist.« (54) Die transzendentale Ursache für den Prozeß des Schaffens von »Außenwelt« nannte Panizza »Dämon«, den Prozeß selbst »Halluzinazion«. Die Psyche generierte dabei sinnlich Wahr­ nehmbares, so daß ihr eine aktive, nicht aber eine passiv verarbeiten­ de Funktion zukam (55) - ein Panizzasches Axiom, das seinen Kritikern breite Angriffsfläche bot. »Das Liebeskonzil« mit seinen immer wieder konstatierten drei Handlungsebenen (Himmel, Erde und Hölle), wie auch Panizzas Erzählungen mit ihren beiden Wirklichkeitsebenen der tatsächlichen und der visionären Realität sind nach eingehender Analyse des »Illusionismus« neu zu untersuchen: Oskar Panizzas Denken von der Welt als Summe individueller Psyche führte ihn zu der Behauptung, Kobolde und Gespenster, aber auch die Gottesgestalten aller Religionen seien als Schöpfungen der menschlichen Seele ebenso real wie unsere Mitmenschen, nur »von

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geringerer materjeller Intensität«. (56) Somit aber agiert die Maria des »Liebeskonzils« auf derselben Wirklichkeitsebene wie Lucretia Bor­ gia oder Salome. Himmel und Hölle sind als Produkte menschlicher »Einbildungskraft« (57) ebenso real wie Rom. Auch Panizzas Er­ zählungen sind, wie exemplarisch zu zeigen sein wird, ein literari­ sches Spiel mit Realität und Vision, Normalität und traumhaftem Ver-rücktsein. »Wirklich ist es a priori einerlei, was wir glauben. Es ist einerlei, ob wir glauben, daß der Mond aus Gold bestehe, oder daß der Eichenbaum Eichhörnchen gebäre, gegenüber der viel wichtigeren Frage, ob es Alle, oder die übergrose Mehrzahl glaubt.« (58)

Sich und seinen Lesern wollte der Schriftsteller Oskar Panizza das Reale um das Surreale bereichern, die Grenzen der Normalität öffnen und den Mond aus Gold oder Käse sein lassen.

»Der wahre Dichter muß Visionär sein« (59), das hieß für Oskar Panizza, er mußte »aus der Seele arbeiten« und nicht »Ergrübeltes« (60) zu Papier bringen. Welche Vorstellungen Panizza mit Dichten als Seelenarbeit verband, läßt sich auch anhand seiner Rezensionen zeigen, die im bibliographischen Teil dieser Arbeit um einzelne Besprechungen sowie um ein Pseudonym aus dem Jahr 1896 ergänzt wurden. (61) In zwei Rezensionen unterschied Panizza beispielswei­ se zwischen einer »echten, plötzlichen, überkommenden lyrischen Stimmung«, deren Verse rasch oder gar nicht zustande kämen (62), und einem »modernen« Rezept für die »Novelle«: »Laß den Gegenstand, der in den Bereich Deiner Inspiration [!] gerückt ist, durch alle Deine Sinne gleiten, schaue, höre, rieche und empfinde, analysiere dann Deine Seele [!], und gieb Deine Empfindungen, Stück für Stück, ohne direktes Ziel, zunächst der Wahrheit zu genügen, und - laß Dir Zeit!« (63)

Schnell oder mit Bedacht formuliert, Dichten hieß für Panizza Inspiration, Empfindung, Selbstanalyse. Immer mußte das Herz des Dichters »voll« sein, damit sein Leser etwas »zu trinken« bekäme. (64) Der Dichter mußte Herzensblut geben und seine Seele offenba­ ren - besonders, wenn er sich, wie Panizza selbst, nicht zu den fröhlichen, überschäumenden Menschen zählte und zu denen gehör­ te, die wie der »Ritter von der traurigen Gestalt, schwarze Störche, die tief im Wald, nur von der düsteren Gesponsin begleitet, die einsamste Stelle aufsuchen; wäh­ 49

rend fröhliches Geklapper auf dem Dach des Nachbarhauses von den Familien-Freuden des weißen Storches erzählt.« (65)

Als »schwarzer Storch« hatte der Dichter auf seinen »Dämon«, den Inbegriff eines »schaffenden, wirksamen, eingebenden, vordrängenden Prinzips« (66) zu hören. Halluzinationen als »autochtone Äußerungen« der Psyche (67) sorgten, so Panizza, nach diesem schöpferischen Akt im Augenblick der Inspiration für die »Befördrung nach Ausen«. (68) Hierbei war die Halluzination der Geisteskranken »nur ein Spezialfall für die Art überhaupt, in der unsere Psiche Außenwelt kreirt«. (69) Jener Schaffensprozeß, das geniale, induktive Denken, war für Panizza abhängig von der psychi­ schen Verfassung des Dichters. Seine Halluzinationen seien Sympto­ me einer »belasteten« Psyche, die sich damit ein Ventil schaffe. (70) In seinem Vortrag »Genie und Wahnsinn« verglich Oskar Panizza die Melancholie als »Gedankenbringer« des Genies mit dem West­ wind als »Regenbringer«. Schon 1886, ein Jahr nach seiner ersten Buchveröffentlichung, schrieb er in sein Notizbuch: »Soviel ist sicher: Genießen u. Produciren gleichzeitig ist unausführbar. Genieße - und Du wünscht alle Production Deines Herzens zu allen Teufeln. Werde beleidigt, gekränkt, zurükgestoßen - und Du produzirst Dein Herz aus Verzweiflung (um Dich vor Schlimerem zu retten) und Andere genie­ ßen es - oft nach 50 Jahren, als die köstlichste Herzensfrucht [!]. -« (71)

Auch während der Untersuchungshaft, die Panizza 1901 wegen Majestätsbeleidigung ins Münchner Landgerichtsgefängnis am An­ ger zwang, wiederholte er sein Verständnis vom Leid des Künstlers als Voraussetzung für geniales Schaffen: »Und die Legende vom hungernden Dichter« hat ihre Berechtigung. Ein gut genährter, sorgenloser Mensch wird kaum ein Gedicht machen. Reich ist nur die arme Psiche, das hungernde Gehirn. Krank mag die Askese machen, aber sie fült die geistigen Kornkammern mit neuer Frucht.« (72)

Drei Jahre später antwortete der nach Paris Zurückgekehrte auf die Frage der Würzburger Malerin Gertraud Rostosky, warum er sich denn kein Personal halte, um ungestört arbeiten zu können: »>Nein, nein, nur so in der Einsamkeit fange ich die feinsten geistigen Mücken.«« (73) Zwar suchte Panizza in Paris bewußt die Askese, doch hatte schon der Dreißigjährige nach menschlichen Enttäu­ schungen aus Verzweiflung zu schreiben begonnen. Panizzas bereits zitierter Eintrag zu Beginn seines 25. Notizbuches spricht von litera­ rischer Arbeit aufgrund psychischer Niedergeschlagenheit, um sich

»vor Schlimerem zu retten«. (74) Dieses Schlimmere, vor dem sich Panizza mittels Literatur zu retten versuchte, war die »Dissozjazjon der Gedanken« (75), die »Spaltung der Persönlichkeit« (75) - die Geisteskrankheit. Für Panizza war der »Dämon«, die »innere Stimme«, ein »rein psichisches Fänomen* (76), dessen Ursachen nicht in der »Außen­ welt« zu finden seien. Bei »stark innerlich angelegten Naturen« konnte dieser »Dämon« je nach Intensität und politisch-historischem Kontext zu Halluzinationen, aber auch zum »Untergang der Persön­ lichkeit« (77) führen. Bestätigt sich im folgenden die These, Oskar Panizza habe in literarischer Tätigkeit eine Form von Selbsttherapie gesucht, so sind sowohl seine Ablehnung einer klar definierten Grenze zwischen Normalität, Genie und Wahnsinn als auch seine literarischen Experi­ mente mit mehreren Realitätsebenen, wie sie sich durch Panizzas Gedichte, Erzählungen und dramatischen Texte ziehen, auch unter Aspekten seiner Biographie zu untersuchen.

Zur Funktion literarischen Schaffens für Oskar Panizza

»Krankheit ist wohl der letzte Grund Des ganzen Schöpferdrangs gewesen; Erschaffend konnte ich genesen, Erschaffend wurde ich gesund.« Heinrich Heine

Mit diesen Versen aus Heinrich Heines »Schöpfungsliedern« (78) beendete Oskar Panizza nicht nur seinen Vortrag »Genie und Wahn­ sinn« (79), er zitierte sie auch in einer Rezension (80), um damit den aus Depressionen heraus schreibenden Typus Dichter, dem er sich zugehörig fühlte, zu charakterisieren. Den lebensfrohen, optimisti­ schen Schriftstellern standen in dieser psychologisch orientierten Dichter-Typologie die depressiven und pessimistisch empfindenden, aber in »geistiger Ascendenz« (81) befindlichen Dichter gegenüber: »Rabelais, Demokrit, Epikur« kontra Panizza, »Schopenhauer, By­ ron, Leopardi«. (81) Überleitend zu Heines Versen hatte Panizza als

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Rezensent dargelegt, warum ein Dichter seines Typus’ kaum zu naturalistischer Schreibweise und »realistischer« Weitsicht neige: »Es ist ein schwerer Druck auf dem Gemüt, ein tiefes, geistiges Leiden, welches Menschen mit diesem natürlichen Anblick der Welt nicht zufrieden, stets Warum? fragen, und sie aus der mystischen Tiefe ihres gequälten Gemüts eine neue fabelhafte Welt gestalten läßt.« (82)

»Fabelhaftes« gestaltend, ließ sich für Panizza die »Dissozjazjon der Gedanken«, jene beängstigende Flut als fremd empfundener Gedan­ ken, »ableiten«. Im Frühsommer 1886 schrieb Panizza während seiner Arbeit an den »Londoner Liedern« tiefbewegt durch den Tod Ludwigs II. in sein Notizbuch: »Armer junger König, wie bedaure ich Dich - ich vielleicht aus geheimer Sympathie mehr den jeder andere, - den ich steke ja, junger König, in einer nicht viel beßeren geistigen Haut als Du, - und ich rede Dich per Du an, weil ich Dein geistiger Bruder sein könnte; - auch mir nagts imer an der Seele, u. tolle Gedanken schlagen oft Lärm in meinem Kopfe; - wilde Ergüße, - ich weiß nicht woher, aus einem fernen Land und 1000 Jahr alte, überschatten oft mein Herz - [...]. Solche egyptische (83) und indische Ergüße, junger König, körnen über mich u. was soll ich den damit thun, was soll ich den mit diesen Gedanken anfangen?« (84)

Noch immer in London, wo sich der von ägyptischen »Ergüßen« Heimgesuchte direkt am British Museum in der Montague Street eine Wohnung gemietet hatte, bekannte dieser mit einer für ihn damals bezeichnenden Larmoyanz im August 1886 seinem Notizbuch: »Meine Gedichte habe ich gemacht aus inerem Drang und weil es mir Vergnügen machte - druken aber ließ ich sie aus Verzweiflung.« (85) Finden sich aus der Zeit seines Londoner Aufenthalts Ausstellungs­ stücke des British Museum wie etwa die Mumien der »Londoner Lieder« im Werk wieder, so sind es in den folgenden Perioden seiner literarischen Tätigkeit stets zurückliegende oder aber aktuelle Erleb­ nisse Panizzas, die seinen Werken stark autobiographische Züge verleihen und auf die er häufig selbst hinwies, »- denn was anderes als Sich bringt man auf der Bühne, im Salon zum Vortrag, im Buch zum Druk?« (85) Diese Äußerung ist weniger Bekenntnis als vielmehr Ausdruck von Panizzas Literaturverständnis, wie er es aus seinem persönlichen Zugang zu Literatur entwickelt hatte und anhand des­ sen er auch in Notizen, Briefen und Rezensionen die Literatur anderer beurteilte. Für Panizza versprach in erster Linie das »gequäi52

te Gemüt« des Dichters, das »Herzblut«, mit dem dieser schrieb, dem Leser ehrliche und damit »moderne« Literatur. Besonders psychisches Offenbaren und damit Aufrichtigkeit des Künstlers sprachen Panizza und andere der Münchner Moderne etablierten Schriftstellern, besonders aber der noch lebenden älteren Dichtergeneration, ab, von der es sich zu unterscheiden galt. (86) Panizza selbst bekannte sich wiederholt zu Orten und Personen, die ihm vertraut waren und die dadurch unbewußt, wie er gerne betonte, in seine Schriften Eingang gefunden hatten. (87) Er schildert diesen Vorgang unreflektierter Einflußnahme realer Vorlagen auf seine literarischen Arbeiten mit besonderer Deutlichkeit in einem Brief an die ihm befreundete Schriftstellerin Anna Croissant-Rust: »Ich habe nämlich - wie wohl andere auch - die Manier, in Allem was ich schreibe, und das den Charakter der künstlerischen Erfindung trägt, den Schauplatz an irgend eine mir bekannte Gegend zu localisiren, und ebenso die Charaktere auf irgend mir bekannte Persönlichkeiten zu übertragen. Dieser ganze Prozeß geschieht ohne mein Hinzuthun, und meist auch unbewußt, d. h. ich merke erst, wenn’s fertig ist, daß ich die und die Gegend, die und die Gesichts-Züge, oft nur einen einzigen Kehllaut einer Person, eine Schlenker­ bewegung des Arms u.s. w. benützt habe. - Nun schrieb ich vor ca 2/, Jahren [Frühjahr 1891], also knapp nachdem ich Sie kannte [...] ein Dämmrungsstück >Gasthaus zur Dreifaltigkeit« [»Das Wirthshaus zur Dreifaltigkeit«, erschienen in dem Band »Visionen. Skizzen und Erzählungen«. Leipzig (1893)], in der eine weibliche Person, soweit ich es überblicken kann, Ihre Gesichtszüge trägt; auch etwas von der Figur.« (88)

Markantes Beispiel geographischer Vorlagen für Oskar Panizzas literarisch gestaltete »neue fabelhafte Welt« (89) ist der noch heute »Stationsberg« benannte Kalvarienberg Bad Kissingens. Diese zum Teil steile Erhebung am Rande der Kurstadt lag direkt Panizzas Geburtshaus, dem ehemaligen Luxushotel »Russischer Hof« gegen­ über. So konnte der bis heute amtlicherseits nicht gerade beliebte Sohn der unterfränkischen Kurstadt (90) bequem vom Fenster aus den damals noch geringer bewaldeten Kalvarienberg beobachten. Während der Vorarbeiten zu seiner Erzählung »Der Stationsberg« erinnerte sich Oskar Panizza 1886 in einer »Memoirenstelle« seines Notizbuchs an eine nächtliche Prozession, die großen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Noch stark in den Banden seiner streng protestan­ tisch-pietistischen Erziehung, schilderte der gut Dreißigjährige so­ wohl in »Der Stationsberg« als auch in zwei Notizbüchern (91) jene Kissinger Prozession; im Schimmer von Kerzen und Fackeln wurden

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in seiner Vorstellung dabei auch die steinernen Stationen lebendig. Wie Jahre später in seiner ebenfalls autobiographisch beeinflußten Erzählung »Die Wallfahrt nach Andechs« (92) empörte sich Panizza besonders über die Monotonie der ihm verhaßten katholischen Lita­ neien: »roh u. denkfaul - katholisch geplärrt.« (93) Nicht nur der geographische Ort von Kissingens Kalvarienberg, sondern die gesamte Problematik von Panizzas religiöser Erziehung bestimmten somit Aussage und Erzählweise des »Stationsbergs« wie nahezu des gesamten übrigen Werks von Oskar Panizza. Dies er­ kannte auch dessen Mutter Mathilde, die in ihren Memoiren (94) bezüglich des ersten Gedichtbandes ihres Sohnes feststellte: »- fast alle [Gedichte] zeugten von Erlebnissen u. eignen Seeleneindrükken.« (95) Nicht aus mangelnder Phantasie, sondern vielmehr gerade aus einem Übermaß an »Visionen«, wie er es selbst nannte, trug Panizzas literarischer Erstling »Düstre Lieder« (96) und die Mehr­ zahl seiner späteren Bücher unverkennbar autobiographische Züge. Der Grund hierfür beruht, wie schon bezüglich der »Illusionismus«Theorie behauptet, in Oskar Panizzas Angst vor der Internierung in einer Irrenanstalt. Literarischer Ausdruck jener Angst ist auf exem­ plarische Weise das Gedicht »Das rothe Haus« zu Anfang der »Düstren Lieder«. (97) Das lyrische Ich begibt sich darin um Mitternacht auf den Heim­ weg. Vollmond erleuchtet die folgenden Ereignisse der sommerlich warmen Nacht. Große Müdigkeit läßt den Heimkehrenden trotz innerer Abscheu den kürzesten Weg hinaus aus der Stadt wählen. An diesem Weg aber liegt das »rothe Haus«, vor dem allgemein gewarnt wird. »Zimmer an Zimmer sei besetzt Mit sonderbaren Tröpfen, So hört’ ich, - gefüllt bis unter das Dach Mit geistesverwirrten Köpfen;

[■■•]. Es sei die Geschichte von jenem Baum, Von dem verboten zu essen, Die Frucht sei wunderbar und süss, Doch die Folgen nicht zu bemessen.« (98)

Zunächst bleibt alles ruhig um das »rothe Haus«. Seine Insassen scheinen im Schlaf von »ihren Wahnsinnsschmerzen« auszuruhen. Trotz dieser scheinbaren Ruhe empfindet der Vorübergehende Mit­ leid und Angst:

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»Mir ward bei diesem Anblick so weh’. Ich dacht’ an die Qualen, die meinen, An das böse Gezänk in der eigenen Brust, Ich musste bitterlich weinen.

Ich dacht’ an den goldenen Jugendtraum, Ich dacht an die Mutter, die gute, An eingestürztes Lebensglück. Mir ward so schmerzlich zu Muthe. -« (99)

Plötzlich beginnt es sich hinter den Fenstern des »rothen Hauses« zu regen. Der nun von merkwürdigen, halbnackten Gestalten Ange­ starrte erkennt manches ihm vertraute Gesicht und wird vom »Direc­ tor« gebeten, doch einzutreten. Was der ordenbehangene Direktor der staatlichen Anstalt zu bieten hat, ist eine »geist’ge Freistatt« mit »Riegeln erster Classe« bei freier Kost und Logis. (100) Während der Anstaltsleiter sich noch einen weiteren Orden holt, bedrängen die Insassen des »rothen Hauses«, deren degenerierte Körper unter der Last ihrer Köpfe zusammenzubrechen drohen, den erschrockenen Passanten: »»Komm her zu uns, Du passt zu uns, Auch Deine Gedanken stürmen; Hier bist Du völlig gedankenfrei, Wir werden Dich schützen und schirmen. [...] Entflieh der Welt und ihrem Zwang, Dem geistigen Chikaniren, Hier bade Dich im Ideenrausch, Wir wollen Dich dann sefiren.

[...] Komm’ zu uns; - ein glänzendes Avancement! Du wirst Kaiser, Obergott, Rector Totius mundi, - und bist Du gescheid, So machen wir Dich zum Director!« -« (101)

Trotz dieses Versprechens völliger geistiger Freiheit widersteht der nächtliche Wanderer den märchenhaft anmutenden Lockungen des »rothen Hauses« in den deutlich abgesetzten drei letzten Strophen: »Doch dacht* ich mir, noch bist Du gesund, Die wollen Dich nur betrügen, Noch bist Du gesund, noch bist Du gescheid, Und lässt das Haus links liegen!

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Noch hast Du unendlich lieb die Welt Mit all’ ihren Schmerzen und Jammer, Und lieber verbluten, als leben hier In dieser rothen Kammer!

Noch hast Du die Liebe, - sie ist gewiss Das mächtigste der Gefühle, Sie rettet Dich vor dem rothen Haus Und vor dem schmutz’gen Gewühle.« (102)

Glaube an die Macht der Liebe rettet den nächtlichen Heimkehrer, der bereits hinter der noch still im Mondschein ruhenden Irrenanstalt von der Liebe enttäuschte Menschen (»getäuschte Lippen, einst geküsst, / Und tief gekränkte Herzen«) vermutet hat. Liebe bewahrt in Panizzas Gedicht »Das rothe Haus« vor einer Existenz, die einerseits als schmutziges Gewühl bezeichnet wird, andererseits aber auch völlige Gedankenfreiheit verspricht. Die Fama von jenem blutfarbenen Haus vergleicht diese Existenz sowohl mit dem Baum der Erkenntnis als auch mit den Martyrien von Prome­ theus und Christus, die der Menschheit das Feuer, die Kultur und das Gebot der Nächstenliebe brachten und nach erduldetem Leid zum Gegenstand religiöser Verehrung durch den Menschen wurden. Nur ein »Besessener« läßt sich für seine Idee in Ketten schlagen oder kreuzigen. Der moderne Felsen aber und das moderne Kreuz waren in Panizzas Augen die Irrenanstalt unter einem feisten, ordenbehan­ genen Direktor. (103) Die Fähigkeit zu lieben schützt vor der Einsamkeit des Fanatikers. Erst die enttäuschte Sehnsucht nach Glück und Liebe macht reif für jenes Martyrium, an dessen Ende, folgt man der Fama, Anerkennung und Nachruhm stehen. Doch weder die Gerüchte um das »rothe Haus« noch die Verlockungen seiner Insassen können denjenigen zum Eintritt bewegen, der noch »gesund«, das heißt in der Lage ist, Liebe zu empfinden. Dieses an Motive frühromantischer Kunstmärchen erinnernde »Dämmrungsstück« (104) Panizzas suchte in Chevy-Chase-Strophen die Angst ihres Verfassers, als Patient in einer Irrenanstalt zu enden, für diesen selbst erträglicher zu machen. Wie sehr hier literarische Fiktion hinter persönlichen Ängsten zurückgetreten ist, zeigt ein Notiz­ bucheintrag, den Panizza im Jahr der Veröffentlichung von »Das rothe Haus« in London niederschrieb: »Soviel ist sicher, zu Hause gehe ich zu Grunde, draußen wache ich auf u. bereichere mich; - zu Hause in Deutschland gehe ich sicher zu Grund, es

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sind zu viel Irrenhäuser dort; - die Verführung ist zu Groß; - draußen in der Welt u. in England sehe ich diese Etablißements nicht, sie liegen abseits der großen Reiserouten; - die Welt erscheint gesund, voll grüner Bäume, Narren scheinen nicht zu existiren, und wie ein aus der Anstalt versuchsweise Entlaßener laufe ich prahlend mit meiner Gesundheit durchs Land, amüsire mich, küße die Menschen u. bin glücklich [...].« (105)

In dieser Notiz wurden die Verlockungen gespensterhafter Narren aus dem Gedicht sachlich zu »Verführungen«, denen sich Oskar Panizza in seiner Heimat unterlegen gefühlt hatte. Enthusiastisch schilderte er in England sein Zugehen auf Menschen, das ihn, analog jenem Gedicht, seine Angst vor Internierung vergessen ließ. »Das rothe Haus« als eines der frühen Gedichte Panizzas ist somit ein Beweis nicht nur für die enge Verknüpfung von Panizzas Biographie und Werk, sondern auch für dessen Motivation zu schreiben. Aus­ drücklich wies Oskar Panizza wiederholt auf den Zusammenhang zwischen seiner psychischen Verfassung und seiner literarischen Tätigkeit hin. Für ein literarisches Lexikon schrieb er bezüglich seines ersten Gedichtbandes »Düstre Lieder«, dieser sei »Ausdruk einer ausgesprochen melancholischen Stimmung« gewesen. (106) Ähnlich äußerte sich Oskar Panizza in der auf Drängen seiner Münchner Psychiater im November 1904 verfaßten, jedoch lediglich durch Dekan Friedrich Lippert überlieferten »Selbstbiographie«: »Teils unter Nachwirkung einer in der Irrenanstalt aufgetretenen gemütischen Depression, die fast ein Jahr anhielt, entstand das lirische Gedichtbuch >Düstre Lieder« [...]. Durch diese literarische Entlastung wesentlich geho­ ben und erfrischt, besuchte er [Panizza, in der dritten Person über sich selbst] noch im gleichen Jahre England [• • •]•« (107)

Neben literarischer Tätigkeit befaßte sich Panizza zunächst mit englischer, später auch mit italienischer Sprache und Literatur »da intensive Beschäftigung mit fremden Sprachen und literarischer Produktzjon als das beste Ableitungsmittel für allerlei psichopatische Anwand­ lungen sich herausstellte«. (108)

Vor seinen Ärzten wiederholte Panizza damit 1904 nochmals, was er bereits neun Jahre zuvor für Franz Brümmers Literaturlexikon (109) geäußert hatte: Schreiben war für ihn im Sinne von Heinrich Heines »Schöpfungsliedern« der Versuch einer Selbsttherapie. »Und sollten selbst die Produkte dieses literarischen Schaffens vom Publi­ kum und Kritik geringst angeschlagen werden, für den Pazjenten [Panizza

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über sich] sind sie nicht der Ausdruck einer Laune oder einer Willkür, sondern absolute Notwendigkeit behufs Entlastung des Gehirns.« (uo)

Noch einen Schritt weiter in der Formulierung seiner Motivation zu schreiben ging Oskar Panizza 1897 mit seinem Bekenntnis: »/cA bin kein Künstler^ ich bin Psichopate, und benuze nur hie und da die künstlerische Form, um mich zum Ausdruk zu bringen. Mir ist es durchaus nicht um ein Spiel von Form und Farbe zu tun, oder, daß sich das Publikum amüsirt, oder, daß es es gruselt - ich will nur meine Seele offenbaren, dieses jammernde Tier, welches nach Hilfe schreit. -« (111)

Trägt aber Literatur autobiographische Züge, ist sie psychisches Ableitungsmittel, und geht es dem Autor ausdrücklich um Offenba­ rung seiner eigenen psychischen Probleme, so legt dies ein Befassen mit dessen Biographie nicht nur nahe, sondern setzt in Hinblick auf die Interpretation des literarischen Werks die Kenntnis der Vita voraus. Es bedarf nicht des Beispiels der Dichtung von Friedrich Hölderlin, um zu verdeutlichen, daß durch das Aufzeigen biographi­ scher Hintergründe eines Werkes die literarische Qualität der Dich­ tung selbst in keiner Weise in Frage gestellt, das Werk nicht »privati­ siert« wird.

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Erziehung und literarische Thematik

Bigotterie und Lebenslust: Das Kissinger Elternhaus

Literarische Tätigkeit als »Ableitungsmittel« war für Oskar Panizza, wie er selbst wiederholt betont hatte, von existentieller Bedeutung. Unschön, doch verständnisvoll und zutreffend formulierte deshalb der Regisseur Werner Schroeter: »Panizzas Literatur ist für mich eher ein persönlicher Befreiungsakt als ein globaler; die Konsequen­ zen sind limitiert.« (i) Literatur als Ergebnis eines persönlichen Befreiungsaktes läßt einerseits nach den Erfahrungen fragen, von denen sich ein Autor befreien will, vor allem stellt sich jedoch die Frage nach den Einflüssen jener Erfahrungen auf das literarische Werk des betreffenden Schriftstellers. Von einem engen Zusammenhang zwischen Leben und Literatur Oskar Panizzas ging 1971 auch Peter D. G. Brown aus, der seiner Dissertation zwar weder Briefe noch Notizbucheintragungen noch ungedruckte Archivalien oder Teile des umfassenden literarischen Nachlasses zugrunde legte, der aber dennoch selbst aufgrund des gedruckten Werks zu der Überzeugung kam: »With a writer such as Panizza, it would be undesirable to seperate the man’s life from his works, even if this were possible.« (2) Und schon in einer Rezension des Jahres 1893 hieß es: »Panizza ist [.. .Jeine seltsame Mischung von Poesie und Unpoesie. Er ist ein Klotz, von der Eiszeit zurückgelassen, und doch blühen auf demselben neben stachlichen Disteln auch farbenzarte Enziane und glühender Almen­ rausch. Kurz ein Mensch voller Widersprüche, wenigstens für jeden, wel­ cher ihm nicht ganz nahe steht.« (3)

Tatsächlich läßt sich eine Reihe angeblicher Widersprüche in Paniz­ zas Schriften aus dessen Biographie herleiten. Jede Phase seines Lebensweges fand, und sei es Jahre später, ihren literarischen Nie­ derschlag. Oskar Panizza selbst machte hieraus, wie bereits dargelegt wurde, keinen Hehl. Ein Postulat der Moderne, das Ich des Künst­ lers, sein Wissen und Empfinden mit rückhaltloser Offenheit litera­ risch zu gestalten, kam ihm dabei entgegen. 59

»Oskar Panizza Schriftsteller, geb. 12. XI 1853 in Bad Kissingen stammt aus belasteter Familie.« (4) Mit diesem Satz beginnen jene durch Friedrich Lippert überlieferten Aufzeichnungen, die der ehe­ malige Arzt und Psychiater Panizza auf Veranlassung seiner Münch­ ner Ärzte im November 1904 niedergeschrieben hat. Einerseits kämpfte er als Verfasser der »Selbstbiographie« (5) dagegen, entmün­ digt zu werden, andererseits hatte er kurz zuvor seine Einweisung in die Psychiatrie provoziert, um bei ehemaligen Kollegen Hilfe zu finden. Als Patient wählte er die Rolle des Gutachters, der über den »Pazjenten« Panizza schreibt und damit sowohl »dessen« Krank­ heitssymptome als auch die »eigene« Distanz hierzu darlegt. >Werso objektiv sein Leiden zu schildern vermag, der ist gerichtlich nicht zu entmündigen und erscheint heilbare - derartige Überlegungen der über ihn befindenden Gutachter dürfte Oskar Panizza durch die Form seines »curriculum vitae« beabsichtigt haben. Das Bild, das er in der dritten Person von sich abgab, war das eines erblich belasteten Melancholikers und Träumers. Daß er beispiels­ weise als Schüler keineswegs »der Dumme« war, als der sich Panizza in seiner »Selbstbiographie« ausgab (7), beweisen seine Schulnoten aus der Schweinfurter Gymnasialzeit. Die Umstände, unter denen Panizzas autobiographische Notizen verfaßt worden waren, potenzierten das von Lebenserinnerungen gewohnte Maß an »Färbung« und Subjektivität. Sie waren ein in seiner Wirkung erwogenes Manifest und keineswegs das letzte Do­ kument eines geisteskranken Dichters. Auch Mathilde Panizza-Speeth, die Mutter des 1905 entmündigten Schriftstellers, war in ihren auf dessen Anregung hin verfaßten Memoiren eine beredt fabulierende Chronistin. Weitere Gemein­ samkeiten zwischen der Mutter, die unter dem Pseudonym Siona protestantische Erbauungsschriften in Druck gegeben hatte, und dem Sohn, aus dessen Feder Titel wie »Die unbefleckte Empfängnis der Päpste« oder »Christus in psicho-patologischer Beleuchtung« stammten, formulierte Oskar Panizza 1904: »In der ganzen Familie besteht prävalierende Geistestätigkeit mit Neigung zur Diskussion religiöser Fragen. Mutter und Patient schriftstellern.« (9)

Mit ihm gemeinsam war damit geschickt auch das dreiundachtzigjäh­ rige Familienoberhaupt indirekt zum Untersuchungsgegenstand sei­ ner Gutachter geworden. Erbliche Belastung, der Hauch des Genia­ len dichterischer Tätigkeit und religiöse Thematik waren, so der 60

»Pazjent«, nicht mehr nur Spezifika seiner Persönlichkeit, sondern ebenso auf seine Mutter zutreffend. Diese jedoch war in den Augen der Arzte über jeden Verdacht auf Geisteskrankheit erhaben. Die Memoiren der Mutter sind in ihrer möglichen Wirkung auf den Leser nicht minder reflektiert als die »Selbstbiographie« des Sohnes: Am Beispiel ihres Lebens wollte Mathilde Panizza ihren Nachkommen den Willen Gottes nahebringen. Ihre weit über tausend Seiten umfassenden Schilderungen sollten sensibel machen für die Zeichen des Himmels, aus denen der Mensch Gottes Willen ersehen könne. Es gab für Mathilde Panizza keine Zufälle. Gott sprach zu ihr durch Losentscheidungen, in Träumen und Visionen. Ihr Gott war ein Gott der Rache, der mit Krankheit, Tod oder Geschäftsrückgang strafte. Eines von zahllosen Beispielen war für Panizzas Mutter der frühe Tod sowohl ihres Vaters als auch ihres Mannes. Beide hatten als Katholiken Protestantinnen geheira­ tet, ihnen die evangelische Erziehung der Kinder versprochen und ihr Wort gebrochen, (io) Als Carl Panizza (n), der Vater ihrer fünf Kinder, hochverschuldet 1855 an Typhus starb, war dies für die Witwe die Strafe Gottes für ein in ihren Augen verwerfliches Leben. Vom Kellner hatte sich Carl Panizza zum Pächter und schließlich Besitzer führender Gastronomiebetriebe in Bad Kreuznach (1843), Wilhelmsbad (1847) und Bad Kissingen (1840/1850) hochgearbeitet. Oskar Panizza erinnert sich seines Vaters als: »leidenschaftlich, ausschweifend, jähzornig«, als schlechten »Haushalter«, doch um so gewandteren »Weltmann«. (12) Er betonte in späteren Jahren gern das südländische Temperament seines Vaters, von dem auch die Mutter zumindest zu Beginn ihrer Ehe nicht abgestoßen zu sein schien. Sie schätzte die stattliche Erscheinung ihres Mannes (13), mochte sein feuriges Wesen und seine Musikalität. Immerhin war Mathilde Panizza, durch einen Traum vorbereitet, nach fünf Tagen zur Verlobung mit dem lebenslustigen Katholiken bereit. Am 6. Ja­ nuar 1844 hatte er Mathilde während eines Konzerts angesprochen, sich dann als rheinischer Gutsbesitzer und Bekannten des verstorbe­ nen Familienoberhaupts bei ihrer Mutter melden lassen und am 11. Januar um die Hand der Tochter angehalten. Konfessionellen Einwänden seiner künftigen Schwiegermutter war er mit dem Ver­ sprechen, die Kinder evangelisch erziehen zu lassen, entgegengetre­ ten. Dies allerdings brachte ihn wiederum in Streit mit seiner streng katholischen Schwester Marie, deren finanzieller Hilfe er für die Pacht des Hotels in Bad Kreuznach dringend bedurfte. (14) Die 61

Verlobung war gefährdet, bis sich Carl Panizza mit Ferdinand Speeth, dem Bruder seiner Braut (15), geeinigt hatte, die Kinder je nach Geschlecht des ersten Kindes im Glauben der Mutter bzw. in der Konfession des Vaters erziehen zu lassen. Nachdem die Hoch­ zeitsgäste bereits geladen waren, stellte Carl Panizza der finanziellen Unterstützung durch seine Schwester wegen die Braut vor die Ent­ scheidung zwischen sofortiger Trennung oder aber Einwilligung in die katholische Erziehung künftiger Kinder. Mathilde Speeth erkun­ dete durch Losentscheid den Willen Gottes und unterschrieb einen Ehevertrag, so daß das Paar die bevorstehende Pfändung des 70Zimmer-Gasthofes in Bad Kreuznach mit Geldern sowohl von Marie Panizza als auch von der Brautmutter verhindern konnte. Wie diesen Familienstreit, so bestimmten die gesamten Lebens­ erinnerungen von Mathilde Panizza Geldangelegenheiten, verwoben mit religiösen Sentenzen und Familiengeschichte. Breiten Raum nimmt dabei der Streit um die religiöse Erziehung ihrer Kinder ein. Dieser Erziehungsstreit war nicht nur über Jahre hinweg ein von der Presse immer wieder aufgegriffener Skandal, der bis zum Hofe König Maximilians II. ausgetragen wurde, er war auch das für Oskar Panizza und sein literarisches Werk bestimmende Kindheitserlebnis. Schon kurz nach der Hochzeit griff Mathilde Panizza in die Geschäfte ihres Mannes ein, kümmerte sich um die Rückzahlungen der Schulden und führte die Verhandlungen mit den Gläubigern des Hotelierehepaares. Zu behaupten, die jahrelange Abhängigkeit der Eltern von jüdischen Geschäftsleuten und Bankiers habe Panizza später zum Antisemiten werden lassen, wäre Spekulation, daß Er­ zählungen wie »Der Goldregen« oder »Der operirte Jud’« sowie die Schundschrift »Mach’ Mores Jud’!« (16) jedoch auch von Äußerun­ gen der Mutter über die auf ihren berechtigten Forderungen beste­ henden jüdischen Gläubiger mitbestimmt worden sind (17), steht außer Zweifel. (18) Durch die Behandlung ihres Personals erwarb sich Mathilde Panizza noch zu Lebzeiten ihres Mannes den Ruf unnachgiebiger Härte. (19) Ihr Sohn umriß den Charakter seiner Mutter 1904 mit den Worten »jähzornig, energisch, starke Willens­ person, fast männliche Intelligenz«. (20) Den Ehe- und Berufsalltag vor der Geburt ihres Sohnes Oskar und dem Tod ihres Mannes beschrieb Frau Panizza mit dem Satz: »So vergingen die Jahre gleichförmig mit Schulden, Prozessen, Lotterie­ spielen und Reisen.« (21) Zwar profitierte die Gastronomie großer Kurstädte von lokalen 62

Spielkasinos, Carl Panizzas Schulden und Prozesse hatten jedoch gerade in der sommerlichen Spielleidenschaft (22) und der winterli­ chen Reiselust des Hoteliers ihre Ursache. Am 12. November 1853 kam Oskar als viertes von fünf Kindern (23) des Kissinger Wirtsehepaares Panizza zur Welt. Er wurde im Beisein dreier Geistlicher auf den Namen Leopold Hermann Oskar getauft und in die katholische Kirche aufgenommen. (24) Mehrere Dienstmädchen standen zur Erziehung Oskars und seiner Geschwi­ ster (25) im Kurhotel »Russischer Hof« zur Verfügung. Folgt man den Lebenserinnerungen seiner Mutter, so galt die Liebe des Klein­ kindes allerdings ganz der Mutter, keinesfalls jedoch dem barock­ katholischen Vater. (26) Oskar Panizzas erste Lebensjahre dominierte ein Ehestreit seiner Eltern, der durch das Eingreifen der Gläubigerin Marie Panizza (27) in die Erziehung ihrer Nichten und Neffen auf die Spitze getrieben wurde. Zwischen dem Ehepaar herrschte »Hofton« (28), als Carl Panizza sich während einer Typhusepidemie infizierte und seiner Frau, nach deren Aussage, auf dem Sterbebett versprach, sie dürfe die Kinder in ihrem Glauben erziehen. Auch Mathilde Panizza selbst war katholisch getauft und erzogen worden, bis ihr Vater todkrank seiner protestantischen Ehefrau gestattete, alle sieben Geschwister entsprechend der hugenottischen Abstammung ihrer Mutter zu er­ ziehen. (29) Erstaunlich und merkwürdig erscheint neben der Parallelität zwi­ schen Mathilde Panizzas Erziehung und der ihrer Kinder eine Aussa­ ge in den Memoiren: »Sehr ungern trat ich aus der katholischen Kirche.« (30) Einerseits betrachtete es Frau Panizza als göttliche Fügung, daß ihr Vater Johannes Nepomuk Speeth noch vor ihrer Erstkommunion verstorben war, andererseits hatte sie sich als Kind ebenso gegen den Austritt aus der katholischen Kirche gewehrt, wie Jahre später ihr ältester Sohn Felix. Auch ihre hastige Verehelichung mit dem Katholiken Carl Panizza spricht dafür, daß Mathilde Speeth erst im Laufe ihrer Ehe zu einer religiösen Fanatikerin wurde, deren Glaube sich mehr und mehr auf einen strafenden Gott konzentrierte, einen Gott, der zwischen dem Unglauben seiner katholischen Chri­ sten und dem Glauben seiner protestantischen Vorkämpfer auf Er­ den zu unterscheiden wußte. Friedrich Lippert, der »Kronzeuge« der bisherigen Panizza-Forschung, schilderte den für sein Mündel Oskar bestimmenden elterli63

chen Streit nach den ihm 1925 übergebenen Abschriften aus den Memoiren von Mathilde Panizza. Lipperts Darstellung zeigt, wie fern der Biograph des leichtfüßigen Atheisten (31) Oskar Panizza auch nur des Anspruches auf Objektivität war: »Die Ehe seiner Eltern enthielt die denkbar größten Gegensätze: der Vater bigott römisch katholisch - die Mutter streng biblisch pietistisch evangelisch; der Vater leichtsinnig und ausschweifend - die Mutter streng gewissenhaft, häuslich, keusch und züchtig; der Vater ein schlechter Ge­ schäftsmann und kalter Egoist - die Mutter voll aufopfernder Pflichttreue und Liebe, eine gute Geschäftsfrau; der Vater ein Genußmensch ohne Sinn für Höheres, ein listiger, verschlagener Weltmann - die Mutter mit einem Herzen, reich an Poesie und Romantik ihrer Zeit und stets im Streben nach Wahrheit und Ausbreitung des Reiches Gottes, ein ausgesprochenes Gottes­ kind.« (32)

Der »Weltmann« des »Gotteskindes« war für Lippert ein »Tauge­ nichts«, »im innersten Herzen bigott katholisch und verschlagen, sonst hätte er nicht seiner Braut das römische Joch auferlegt, das der >Hugenottin< die Ehe von vornherein zur steten Qual machte«. (33) Der Geistliche, der sich für Geld des verurteilten Gotteslästerers angenommen hatte, schrieb über die Kindheit seines Mündels: »Oskar und Ida waren katholisch getauft und hatten beide den schwersten Lebensweg.« »Frühzeitig, am 26. Nov. 1855, starb Oskars Vater, der Quälgeist der Familie. Der 2jährige Oskar hatte ihm nie auch nur ein Händchen geben wollen.« (34)

Religiöse Tendenzen der Memoiren von Mathilde Panizza verdichte­ ten sich in der Version Lipperts beinahe zur religiösen Kampfschrift, die aus der katholischen Taufe der Kinder Oskars Geisteskrankheit und Idas Erblinden abzuleiten suchte und die den Zweijährigen aus Glaubensgründen die Hand des Vaters verweigern ließ. Die Kindheit Oskar Panizzas war von Ehestreitigkeiten seiner Eltern, dem frühen Tod des Vaters, der Zuneigung oder Lieblosig­ keit von Kindermädchen und dem 1856 ausbrechenden Streit seiner Mutter um die protestantische Erziehung ihrer Kinder bestimmt. Der Streit um die Konfessionszugehörigkeit von Oskar Panizza und dessen vier Geschwistern drehte sich um die Frage, ob der todkranke Carl Panizza bei seiner schriftlichen Einwilligung in die evangelische Erziehung der Kinder geistig noch zurechnungsfähig war und inwieweit Staat und Kirche in das Erziehungsrecht einer Witwe eingreifen durften. 64

Der Streit um die konfessionelle Erziehung der Kinder Der sich bis zum Skandal ausweitende Streit um die Konfession der Panizzaschen Kinder in Bad Kissingen begann damit, daß deren Mutter Mathilde drei Monate nach dem Tod ihres Mannes dem katholischen Geistlichen Anton Gutbrod mitteilte, es sei der Wille des Verstorbenen, seine Kinder evangelisch erziehen zu lassen. Ein Schriftstück befände sich in den Händen des protestantischen Pfarr­ vikars Rothgangel. Vier Tage später, am 18. Februar 1856 (35), übergab Pfarrer Gutbrod die Angelegenheit dem Landgericht Kissin­ gen. Dem Bischöflichen Ordinariat in Würzburg hatte er den Sach­ verhalt dargelegt und um Instruktionen gebeten. (36) Der Streit eskalierte während der folgenden fünf Jahre und be­ schäftigte auf Regierungsseite das Landgericht Bad Kissingen, das Innenministerium der Regierung von Unterfranken und Aschaffen­ burg, das bayerische Innenministerium für Kirchen- und Schulange­ legenheiten in München sowie König Maximilian II. und dessen Staatsrat. Auf kirchlicher Seite stritten neben den beiden Kissinger Pfarrämtern das Distriktdekanat in Schweinfurt, das Bayreuther Konsistorium, das Oberkonsistorium in München und als oberste katholische Kirchenbehörde das Bischöfliche Ordinariat Würzburg. Pfarrer Gutbrod gab dem Ordinariat gegenüber an, Carl Panizza habe ihn zehn Tage vor seinem Tod ersucht, einen möglichen Kon­ fessionswechsel seiner Kinder auf Betreiben ihrer einst ebenfalls katholischen Mutter zu verhindern. (37) Daraufhin entschied das Landgericht Bad Kissingen am 3. August 1856, sämtliche Kinder des Wirtsehepaares Panizza seien auch nach dem Tod des Vaters katho­ lisch zu erziehen. Für das Gericht könne Carl Panizzas zweiter Vertrag über die Konfession seiner Kinder nicht mehr anerkannt werden. Der Sterbende sei zwei Tage vor seinem Tod, als er am 24. November 1855 das fragliche Schriftstück unterschrieb, geistig nicht mehr voll zurechnungsfähig gewesen. (38) Das Landgericht bestätigte mit dieser Entscheidung seine richterliche Anweisung an Mathilde Panizza vom März 1856. (39) Dieses Urteil wurde am 5. Mai 1857 durch die Kammer des Innern der Regierung von Unterfranken und Aschaffenburg (40) sowie am 21. Februar 1858 in München durch das bayerische Innenministerium für Kirchen- und Schulangelegenheiten (41) bestätigt. Nachdem die resolute Hotelieu-

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se bereits Ende Februar 1856 ihre beiden schulpflichtigen Kinder Maria (42) und Felix (43) vor dem Zugriff der Behörden in Sicherheit gebracht hatte (44) und sich nun entschieden weigerte, auferlegte Geldstrafen zu bezahlen (45) oder die drei jüngeren Kinder (46) in ihrem früheren Glauben zu unterweisen, verlor der katholische Geistliche An ton Gutbrod die Raison. (47) Bezüglich des zornigen Priesters beschwerte sich das Kissinger Landgericht wegen seiner »durchaus ungeziemenden ahndungswürdigen Schreibart« über das bayerische Justizministerium beim Innenministerium für Kirchenund Schulangelegenheiten. (48) Anton Gutbrod mußte auf dem Dienstweg gerügt werden, obwohl er die Interessen des Ordinariats mit größtem Einsatz verfocht. (49) Auch hatte es die katholische Seite wohl Pfarrer Gutbrod zu verdanken, daß er die »Katholische Wo­ chenschrift« sowie die »Augsburger Postzeitung« bereits Ende März 1856 für »seine« Sache gewinnen konnte. Wiederholt verwendete die deutsche Presse Meldungen der »Postzeitung«, wenn es darum ging, wieder einmal über den Kissinger Streit der Hotelierswitwe zu berichten. »Zur Warnung für leichtsinnige Katholiken«, so lautete die Schlagzeile in der katholischen Presse (50), die den Erziehungs­ streit in Kissingen aufgriff, um den knapp zwanzig Jahre zurücklie­ genden Kölner Kirchenstreit und die Diskussion um die Problematik sogenannter Mischehen erneut ins Gespräch zu bringen. Während die protestantischen Kirchenbehörden in Bayreuth und München noch rechtliche Schritte gegen die Artikel der »Augsburger Postzeitung« erwogen (51), war die Affäre um jene von der Mutter zum protestantischen Glauben gezwungenen fünf Kinder aus Kissin­ gen längst über Unterfranken hinaus publik geworden. Die »Katho­ lische Wochenschrift« schrieb: »Da die Sache bereits in weiterem Kreis bekannt ist und vielfach besprochen wird, so hielten wir es für unnütz, Orts- und Personen-Namen verschweigen zu wollen.«

Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts beschäftigte somit ein erster »Fall Panizza« die Öffentlichkeit. In Bad Kissingen bemühte man sich im Frühjahr und Sommer 1856 vergeblich, durch Gutachten, Krankengeschichten und eine Vielzahl von Zeugenaussagen mit Sicherheit festzustellen, ob Carl Panizza zwei Tage vor seinem Tod noch geistig zurechnungsfähig war. Da sich seine Witwe weigerte, den Aufenthaltsort ihrer schulpflichtigen 66

Kinder bekanntzugeben oder gar diese in eine katholische Schule zu schicken, blieben die Behörden trotz richterlicher Entscheidungen gegen die Gültigkeit von Carl Panizzas schriftlicher Einwilligung in die evangelische Erziehung seiner Kinder gegenüber der Witwe machtlos. Zum ersten Jahrestag des Streits wandte sich deshalb das Bischöfliche Ordinariat an die Regierung Unterfrankens und mahnte diese zum Handeln. Für die »oberhirtliche Stelle« in Würzburg wurde es immer offen­ barer, »wie die Panizza’schen Kinder im zartesten Alter protestantische ReligionsGrundsätze einsaugen, die für das ganze Leben halten, und zuletzt - bei noch längerer Zögerung - zur Confirmation geführt werden, wodurch sie für die katholische Kirche für imer verloren sind [. . .]«. (52)

Von München aus unter Druck gesetzt, erklärte auch die zum Rapport ermahnte Regierung Unterfrankens, die Konfessionszuge­ hörigkeit der Panizzaschen Kinder sei zu »einer brennenden Frage des Tages erwachsen«. (53) Gegen die Bestätigung des Landgerichtsurteils vom 3. August 1856 durch die Regierung Unterfrankens am 5. Mai 1857 legte Mat­ hilde Panizza ebenso Beschwerde ein, wie gegen die Bekräftigung jenes Urteils durch das Innenministerium für Kirchen- und Schul­ angelegenheiten in München. Einen Monat nach dessen Urteil wand­ te sich die inzwischen von ihrer göttlichen Mission überzeugte Hotelbesitzerin an den bayerischen Staatsrat. Mathilde Panizza war siegesgewiß: Ihr Hotel florierte, die Schuldenlast schwand, und das Ministerium in München mußte den Status quo ihrer Erziehung bis zur endgültigen Entscheidung durch den König aufrechterhalten. (54) Am 9. November 1858 verwarf König Maximilian II. entgegen den Erwartungen der Witwe den Einspruch Mathilde Panizzas gegen das Urteil seines Innenministers für Kirchen- und Schulangelegen­ heiten. (55) Mit dieser königlichen Entscheidung wurden sämtliche vorangegangenen Urteile gegen die evangelische Erziehung Oskar Panizzas und seiner Geschwister rechtskräftig. Überzeugt vom bei­ spielgebenden Charakter ihrer Mission, dachte Mathilde Panizza nicht daran aufzugeben. Allerdings versuchte sie nach dem überra­ schenden Entscheid des Königs, ohne ihren Kissinger Besitz aufzu­ geben, Bayern zu verlassen und von Sachsen-Meiningen aus ihr Hotel weiterzuführen. Grund des Auswanderungsantrages war die konfessionelle Erziehung ihrer Kinder. (56) Als Besitzerin des »Rus67

sischen Hofes« in Kissingen bedurfte Mathilde Panizza des bayeri­ schen Indigenats; damit aber unterlag sie laut Regierungsanweisung auch allen Pflichten eines bayerischen Bürgers, so daß eine Auswan­ derung nach Sachsen-Meiningen ihr keinerlei Vorteile gebracht hät­ te, und sie nach wie vor auf Druck bayerischer Behörden zur ka­ tholischen Erziehung ihrer Kinder gezwungen werden konnte. (57)

Während über das Auswanderungsgesuch der Witwe noch nicht endgültig entschieden war, erwog die katholische Kirche auf Vor­ schlag des Kissinger Landgerichts, einen »Vertrauensmann« für die Halbwaisen einzusetzen. (58) Ende Januar 1859 erhielt der Kissinger Schneidermeister Andreas Reuß vom Landgericht offiziell den Auftrag, die Kinder des verstor­ benen Hoteliers Carl Panizza nach Kissingen zu schaffen, wo sie im Glauben ihres Vaters erzogen werden sollten. (59) Der Auftrag an den »Vertrauensmann« war, wie sich bald zeigen sollte, jedoch weder einfach noch juristisch unanfechtbar. Während des mehrjährigen Erziehungsstreits hielt Mathilde Panizza ihre vier ältesten Kinder zumindest vorübergehend in der pietistischen Brüdergemeinde Kornthal, in der halboffiziellen Privatschule von Dr. Johann Wil­ helm Schmidt (60) oder bei Verwandten und Bekannten in München, Mindelheim, Bad Boll oder Hanau versteckt. (61) Vom Scheitern der Suchaktion des Kissinger Schneidermeisters Reuß berichtete am 17. Februar 1859 die katholische »Augsburger Postzeitung«: Felix sei acht Tage vor Ankunft des »Vertrauensmannes« von seiner Mutter aus dem Schmittschen »Knaben-Erziehungs-Institute« in Frankfurt abgeholt worden und auch die ältere Schwester von Felix habe der Kissinger Schneidermeister trotz einer nächtlichen Polizei­ aktion gegen Pfarrer Gottfried Feez in München nicht einer katholi­ schen Erziehung zuführen können. (62) Die nächtliche Durchsu­ chung im Hause von Pfarrer Feez, einem Schwager der Hotelierswit­ we, brachte den »Fall Panizza« neuerlich in die Öffentlichkeit (63) und gab dem Kissinger Erziehungsstreit eine neue Wendung. Noch am 11. Februar 1859 gestattete die Regierung von Unterfran­ ken und Aschaffenburg dem Landgericht Kissingen alle Mittel zur Durchsetzung der gerichtlichen Urteile gegen Mathilde Panizza. Auch Pfarrer Feez könne der Mithilfe angeklagt und bestraft werden. (64) Schon im Laufe der folgenden Tage aber warnte das Innenmini­ sterium für Kirchen- und Schulangelegenheiten sowohl die Münch68

ner Polizeidirektion als auch die Regierung von Unterfranken und das Landgericht Kissingen vor weiteren Eingriffen in die Privatsphä­ re von Mathilde Panizza und den Erziehern ihrer Kinder. (65) Umgehend distanzierte sich die Regierung von Unterfranken und Aschaffenburg von der Entsendung eines »Vertrauensmannes«. (66) Ende Februar wurde das Landgericht in Bad Kissingen aus Würz­ burg über den Willen des Innenministeriums für Kirchen- und Schulangelegenheiten in München unterrichtet. In dem Schreiben hieß es, Frau Panizza habe das Recht, als Mutter Aufenthaltsort und Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen, eine »Vormundschaft« für die Kinder sei ebenso gesetzeswidrig wie die Entsendung eines »Vertrau­ ensmannes« oder gar eine nächtliche Hausdurchsuchung. Falls ohne Eingriff in das Privatleben die katholische Erziehung der Panizzaschen Kinder nicht durchzusetzen sei, so müsse man sich trotz der ergangenen Urteile mit der evangelischen Erziehung der fünf Kinder abfinden. (67) Mit dieser Entscheidung hatte Mathilde Panizza de facto ihren Willen durchgesetzt und, wie sie es sah, dem Willen Gottes zum Siege verholfen. Anlaß zu der ministeriellen Order, der Witwe die Erziehung ihrer Kinder selbst zu überlassen, war eine Weisung des Bayerischen Königs, der seinen Minister im »Fall Panizza« ausdrücklich vor Eingriffen in das Familienrecht gewarnt hatte, ohne damit jedoch einen Richterspruch aufzuheben. (68) Vom Bischöflichen Ordinariat in Würzburg über die Wendung im »Fall Panizza« in Kenntnis gesetzt, gab Pfarrer Gutbrod dennoch nicht auf. Durch die nach wie vor gültigen Gerichtsurteile fühlte sich der katholische Geistliche in seiner Haltung bestärkt und wies 1860 bereits im voraus das zuständige Landgericht auf die Schulpflicht Oskar Panizzas hin. Die Bemühungen des Priesters und der Lokal­ schulkommission blieben allerdings vergeblich; Anton Gutbrod ge­ lang es nicht, den sechsjährigen Oskar zum Schulbesuch zu zwingen (69) und seiner Mutter den Privatunterricht für ihren Sohn zu untersagen. Im Herbst 1860 begann Pfarrer Gutbrod zu resignieren: »Zwar wird gehorsamst Unterzeichneter nicht aufhören, darauf zu dringen, daß die Kinder der Frau Panizza katholisch erzogen werden, allein der Vollzug wird nicht stattfinden, so lange Frau Panizza nicht aufgibt [...].« (70)

Mathilde Panizza gab nicht auf. Ungeübt in der Tugend christlicher Bescheidenheit, hielt sie mäßigenden Verwandten entgegen: »wenn 69

die Märtyrer, wenn Luther auch so gedacht hätten, so wäre wohl nie die christliche Kirche entstanden!« (71) Im Frühjahr 1861 faßte der katholische (und damit in den Augen seiner Kontrahentin beinahe heidnische) Geistliche Anton Gutbrod Taktik und Erfolg der prote­ stantischen Streiterin zusammen: »Frau Panizza ward mehrmals mit Geld bestraft, rekurrirte aber immer wieder von Neuem und war ein Instanzenzug durch, so begann sie das Manöver von neuem, so daß es am 18. Februar bereits 5 Jahre werden, daß sie ihre Kinder widerrechtlich protestantisch erziehen läßt. Geht die Angelegen­ heit in dieser Weise fort, so wird Frau Panizza wohl noch manchmal bestraft, die Kinder aber bleiben protestantisch. Während also einerseits den gehor­ samst Unterzeichneten der Vorwurf unablässiger Schikane trifft, wird Frau Panizza immer hartnäckiger ermuthigt durch den Erfolg seit fünf Jahren.« (72)

Abgesehen von einzelnen noch eintreffenden Geldstrafen und be­ hördlichen Schikanen (73) hatte Mathilde Panizza 1861, ohne formal im Recht zu sein, die evangelische Erziehung ihrer Kinder durchge­ setzt - Pfarrer Gutbrod erbat von seinen Vorgesetzten in Würzburg eine letzte Verhaltensmaßregel im »Fall Panizza«: »Was also ist zu thun, um diese peinliche Sache endlich zu Ende zu bringen?« (74)

Oskars Erziehung zum Geistlichen Von verschiedenen Lehrern und Verwandten erhielt der seit erstem Mai 1860 schulpflichtige Oskar Panizza Privatunterricht. (75) Seine Mutter hatte bereits den Sechsjährigen zum Pfarrer ausersehen, da dieser als Knabe einmal artiger und mit größerem Interesse als sein Bruder Karl der Schilderung seiner Mutter vom Wirken des Refor­ mators Martin Luther gefolgt war. (76) Zwar favorisierte Mathilde Panizza als Geschäftsfrau den Beruf des Kaufmanns, doch sollte einer ihrer drei Söhne Geistlicher werden. Ihre Wahl fiel auf den damals sechsjährigen Oskar, der ihr von Gott hierfür ausersehen schien. Schon früh fiel seiner Mutter dessen »kindlich ruhiges We­ sen« auf. (77) Sie hielt ihren Jüngsten für einen Spätentwickler und freute sich über die Kreuze, mit denen er beim Spiel mit dem Baukasten die Spitzen der Dächer enden ließ. (77) Zwei Pole bestimmten nach dem frühen Tod seines Vaters die

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Erziehung Oskar Panizzas: der Umgang mit den meist katholischen, »einfachen« Kindermädchen und die puritanische Strenge seiner Mutter: »Wenn meine Zeit es erlaubte, widmete ich mich ihnen imer. Ich suchte sie nützlich zu beschäftigen, sie durften auch von den Spielsachen nichts verder­ ben, sich nicht beschmutzen. In den Dämrungsstunden erzählte ich ihnen allerlei Geschichten: Mährlein, welche ich noch möglichst ausschmückte, aber imer das Edle u. Gottesvertrauen in denselben ins hellste Licht stellte. Als ich merkte, wie die Kleinen lauschten u. ihr Verständnis geschärft wurde, erzählte ich ihnen biblische Geschichten.« (78)

Was der Knabe aufgrund »nützlicher« Beschäftigung und reinlicher Kleidung als Junge unter Gleichaltrigen nicht ausleben durfte, konn­ te ihm im Reiche der Phantasie niemand verbieten. Die pädagogi­ schen Intentionen untergeordneten »Mährlein« der Mutter regten nicht nur die Phantasie des Knaben an, sie schulten auch sein Gedächtnis, das Jahrzehnte später immer wieder von Zeitgenossen und Freunden lobend hervorgehoben wurde. (79) Nicht um Oskar, wie seine älteren Geschwister, vor dem Zugriff der Kissinger Behörden zu schützen, sondern um die strengreligiöse Erziehung des Zehnjährigen in Hinblick auf seinen künftigen Beruf als Geistlicher fortzusetzen, brachte Mathilde Panizza ihren Sohn am 10. April 1863 nach Kornthal. (80) Als es noch darum ging, die älteste Schwester Oskars vor den Kissinger Behörden zu verstecken, begleiteten zwei Geschwister von Mathilde Panizza ihre Nichte zu Pfarrer Johann Christoph Blumhardt nach Bad Boll. Dieser hielt wenig von erbittert geführten konfessionellen Streitigkeiten, doch riet er, sich an die pietistische Brüdergemeinde in Kornthal zu wenden. (81) Dort predigte seit 1843 sein Schwager Heinrich Staudt (82), der wie kein anderer seiner Amtsbrüder »der Brüdergemeinde das Gepräge gegeben und tiefe Segensspuren in ihr hinterlassen« hat. (83) Oskar Panizza wurde in das private, der Brüdergemeinde assoziierte (84) »Knabeninstitut« von Dr. Gottlob Pfleiderer eingeschult. Pfleiderers religiös ausgerichtete Privatschule genoß internationa­ les Ansehen und wurde von zahlreichen Kindern aus dem europäi­ schen und überseeischen Ausland besucht. Nach Auskunft der Kornthaler Brüdergemeinde gibt es heute keinerlei Unterlagen mehr über den Kissinger Zögling Oskar Panizza. (85) Auch wenn sich wenig Konkretes über Oskar Panizzas fünfjähri­ gen Aufenthalt in Kornthal eruieren läßt, so steht fest, daß die 7i

Erziehung in der württembergischen Pietistenenklave äußerst streng war. (86) Wichtigstes Erziehungsziel war es nach dem auch von Panizza in späteren Jahren verschiedentlich erwähnten Pfarrer Kapff, »Christen in dem Herren zu verklären, Sein Leben, Seine Lehre, Sein Werk und Seinen Geist den Seelen einzubilden und so dem geistli­ chen Ich zur Herrschaft über das Fleischliche zu helfen«. (87) Die Wegbereiter des deutschen Pietismus verband neben missiona­ rischem Ehrgeiz ihre Fähigkeit zur Ausformung theoretischer, be­ sonders auch pädagogischer Modelle. Gemeinsam waren August Hermann Francke (88), Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und Jo­ hann Albrecht Bengel dabei auch das Ringen um den Sieg des »geistlichen Ich« über das »Fleischliche«. Eine wichtige Bezugsperson für Oskar Panizza war während dessen Kornthaler Zöglingsjahren ein Freund namens Albert. Dieser habe ihm, so schrieb Panizza 1873 an den einstigen Schulkameraden, manches leichter ertragen helfen. (89) Dennoch habe er sich in der Brüdergemeinde niemals auf die Ferien freuen können - die Angst vor dem darauffolgenden Schulbeginn überwog. (89) Friedrich Lip­ pert überlieferte der Nachwelt das Gegenteil: »Die Erziehungsme­ thode [in Kornthal] war gut und herzlich, und Oskar erinnerte sich nicht ungern [!] an jene Zeit.« (90) Oskar bestritt rückblickend nicht nur die Herzlichkeit seiner Erziehung. Beinahe wehmütig wirkt die Briefstelle an seine Schwester Ida, die ebenfalls nach Kornthal ge­ schickt worden war: »- daß wir aber thatsächlich von unserer Mutter wie in Kornthal mit Religion übersättigt wurden, ist die Meinung aller der dadurch Appetitlosgeworde­ nen.« (91)

Die Strenge seiner Erziehung, die Isolation und die während der Pubertät erwachende Neugier auf das unter Stoffen, Stangen und Schnüren verborgene andere Geschlecht (92) gestaltete Oskar Paniz­ za in einer seiner gelungensten Erzählungen »Der Corsetten-Fritz«. (93) Neben der häufig wiederholten Betonung seiner schwachen Gesundheit (94) hob der Erwachsene in späteren Jahren auf seine Kindheit zurückblickend besonders seine militant-protestantische Erziehung hervor: »Ich bin 1853 am 12. Nov. zu Bad Kißingen in Unterfranken (Baiern) aus einer Hugenottenfamilie geboren und wurde unter dem Gesichtspunkt einer spezifischen Tradizion streng religiös erzogen. Nach einem weiteren 5-jähri­ gen Aufenthalt zu Erziehungszweken im gleichen Sinne in der Brüderge­

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meinde Komthal (Würtemberg) bezog ich mit 16 Jahren das heimatliche Gymnasium in Schweinfurt [...].« (95)

Oskar Panizzas antikatholischen Schriften der frühen neunziger Jahre, seine Religionssatire »Das Liebeskonzil« nicht ausgenommen, sind vor dem biographischen Hintergrund seiner strengreligiösen Erziehung, besonders des religiösen Fanatismus seiner Mutter, zu sehen. »Die gelbe Kroete«, ein siebenseitiger Prosatext, ist literarisch die wohl eindrucksvollste Auseinandersetzung Oskar Panizzas mit dem religiösen Drill seiner Kindheit und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Erwachsenen.

»Die gelbe Kroete«. Panizzas literarische Auseinandersetzung mit seiner Kindheit Demütigungen der Kindheit und hieraus resultierende »seelische Wunden« des erwachsenen Menschen wurden kurz vor Beginn des ersten Weltkriegs für Panizzas jüngeren Landsmann Leonhard Frank zum zentralen Thema seines Werkes. Während Frank jedoch persön­ lich distanziert, durch frühen literarischen Erfolg bestätigt, zahlrei­ che seiner Figuren individuellen Katastrophen wie Wahn (»Der Bürger«), Freitod (»Der Beamte«) oder Totschlag (»Die Ursache«) zuführte, zeichnete sich für Oskar Panizza gerade durch seine litera­ rische Erfolglosigkeit 1894 die eigene Katastrophe bereits ab. An seine Vertraute Anna Croissant-Rust schrieb der Vierzigjährige be­ züglich seiner Erzählung »Die gelbe Kroete« (96): »Diese verrükten Konstrukzionen sind, ich fühle das, das Beste, was ich machen kann. Aber Eingang beim Publikum damit zu finden, ist aussichts­ los.« (97)

Was Panizza seinem Publikum vermitteln und sich durch »Die gelbe Kroete« von der Seele schreiben wollte, war der psychische Konflikt zwischen dem Wollen des Erwachsenen und den Geboten seiner einstigen religiösen Erziehung. Panizza nannte »Die gelbe Kroete« ein »Dämmrungsstük«. (98) Die von ihm gerne für Erzählungen verwandten Begriffe »Vision« oder »Dämmerungsstück« waren Panizza aus seiner pietistischen

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Erziehung her vertraut. Während das Wort »Vision« zu den Lieb­ lingswörtern seiner Mutter gehörte, meinte der Begriff »Dämme­ rung« im deutschen Pietismus »einen Zwischenzustand der Seele zwischen Gott und Welt, Licht und Finsternis«. (99) Panizza be­ zeichnete damit die Grenzbereiche des menschlichen Bewußtseins, in die sich der Ich-Erzähler vieler seiner Geschichten durch eine plötzlich eintretende Begebenheit hineinversetzt fühlt. Die »verrükten Konstrukzionen« in Panizzas erzählender Prosa beruhen auf der Konfrontation einer allgemein sinnlich wahrnehmbaren Realität, einer »Außenwelt«-Realität, mit einer vom Ich-Erzähler halluzinier­ ten Wirklichkeit. Da für Panizza theoretisch gerade zur Zeit der Entstehung seiner »gelben Kroete« die sinnlich wahrnehmbare, »ma­ terialistische« Welt nur Halluzination, psychisches Konstrukt des einzelnen, war (100), ist aus der Sicht des Verfassers jene halluzinierte Wirklichkeit der »Außenwelt«-Realität gleichwertig. Durch die Ver­ flechtung einer dem Leser vertrauten Realität mit einer ihm durch den Ich-Erzähler vermittelten neuen Wirklichkeitserfahrung wollte Panizza verdeutlichen, daß jeder Mensch, je nach Veranlagung und psychischer Disposition, seine individuelle Realität schaffe und es somit weder eine Objektivität noch eine Normalität des Empfindens und Erlebens geben könne.

Die Ende Mai, Anfang Juni 1894 (101) entstandene Erzählung »Die gelbe Kroete« beschreibt auf einer ersten Realitätsebene den Ausflug eines Deutschen, der durch eine Themsefahrt die sonntägliche Mo­ notonie Londons zu vergessen sucht. Der Vergnügungsdampfer passiert Greenwich, Woolwich und Gravesend; das Schiff fährt aufs offene Meer hinaus und läuft Clacton on Sea an. Dort verläßt der Ausländer den Dampfer, um mit dem Abendzug nach London zurückzukehren. Dieser allgemein erfahrbaren Realitätsebene setzt Oskar Panizza, wie schon in früheren seiner »verrükten Konstrukzionen«, die Wirk­ lichkeitserfahrung seines Ich-Erzählers gegenüber. Ihren erzähleri­ schen Höhepunkt erreichen die Geschichten Panizzas in der völligen Divergenz zwischen »Außenwelt«-Realität und Erzähler-Realität, so in der »gelben Kroete« durch das Auseinanderklaffen der schläfri­ gen Ruhe auf dem Sonnendeck des Vergnügungsdampfers und dem aufgewühlten Selbstzerwürfnis des Fremden. Nur kurze Zeit deckt sich die Wirklichkeitserfahrung des Ausflüg­ lers mit jener der übrigen Passagiere und der Besatzung des Schiffes: 74

Bei herrlichem Wetter besteigt man an einem Sonntagmorgen ge­ meinsam einen Dampfer, um langsam themseabwärts die Großstadt hinter sich zu lassen. Der Fremde wollte an diesem Sonntag »nicht thun, was die Andern thun« (102) und ging frühmorgens, vorbei an Kirchen und Gotteshäusern, durch die leeren Straßen der Londoner City zur Themse hinab. »— Und um mich dem Pietismus zu entzie­ hen, fuhr ich hinaus auf’s Meer.« (103) Meer, das war für Panizza, wie Natur überhaupt, das »Abendmahl der Geistesgefolterten«. (104) Weniger die Angst vor Seekrankheit, als vielmehr ein aufkommen­ des Schuldgefühl beschäftigen den Ausländer am Heck des Vergnü­ gungsdampfers und verwickeln ihn in einen inneren Dialog zwischen dem einstigen Pietistenzögling und dem erwachsenen »Freigeist«: »Du hättest doch in die Kirche gehen sollen! sagte ich mir. - Du glaubst ja doch nicht an Gott! - Nein, aber man geht doch in die Kirche! -« (105) Aufgrund seiner Skrupel beschließt der Ich-Erzähler, Fremder am Rande einer Gruppe sich fremder Passagiere, in Gravesend das Schiff zu verlassen und nach London zurückzukehren. Er entscheidet sich zum verspäteten Kirchgang, obwohl er sich andererseits vorhält, lediglich die rhythmischen Bewegungen des Dampfers hätten ihm die »Galle in’s Moralische getrieben«, so daß er nun ein »theistisches Balkenwerk« konstruiere, um seine »seekränkelnde Seele zu stüt­ zen. —« (106) In Einschüben schildert Panizza immer wieder die Landschaft der Themseufer oder das Füttern der um Nahrung bettelnden Möwen. Während sich an Deck, in der »Außenwelt«-Realität, erholsame Schläfrigkeit ausbreitet, beobachtet der Fremde unruhig eine »dritte Bewegung« des Schiffsrumpfes, die immer wieder die Monotonie des Auf-und-Ab durchbricht. In der »Außenwelt« zeigt naturwissen­ schaftlich exaktes Beobachten des Schiffsrumpfes dem Ich-Erzähler die Entsprechung zu einer »dritten Bewegung« seiner Psyche. Das monotone Auf-und-Ab des Dampfers entspricht der Monotonie der Psalmen und Bittgesänge, derentwegen er dem Londoner Sonntag entflohen ist. Aufkommende Schuldgefühle und Angst lassen den Fremden die Vergnügungsfahrt anders als die übrigen Passagiere empfinden. Zwischen seiner wiederholten Frage »Wann kommt Gravesend? -« erlebt der Ich-Erzähler eine langsam ins Bewußtsein tretende andere Wirklichkeit: »Ich stand noch immer am Hinterdeck und stierte auf das Wasser. - Wenn

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wir von einer Summe gleicher Geräusche affiziert und von einer Menge stets sich wiederholender optischer Eindrücke erregt werden, so dauert es einige Zeit, dann werden die äußeren Sinne stumpf, und es hebt sich aus unserm Innern eine Art »Krystall-Sehen,« eine autochthone Macht, eine dritte Bewe­ gung, die wir nicht mehr kommandieren können, die sich als >freier Wille« selbst auf den Schauplatz stellt, uns verspottet, und wobei der ganze Fluch und Segen unserer Vererbung, dessen, was unsere Ahnen gedacht, mit unerbittlichem Zwang auf uns einwirkt und das unsichtbare Tier in uns seine großen Forderungen stellt.« (107)

Mit wachsender Beklemmung sieht sich der Ich-Erzähler jenem »unsichtbaren Tier«, jener »dritten Kraft« in sich ebenso ausgeliefert, wie er in der »Außenwelt«-Realität das Schiff den herandrängenden Wellen ausgeliefert sieht. (107) Gravesend ist nicht in Sicht. Ängste versperren dem Fremden endgültig den Zugang zur Empfindungswelt seiner Mitreisenden; selbst die Frage an das Schiffspersonal, wann denn Gravesend ange­ laufen werde, geht ihm in der Sprache seines Gastlandes nur mehr mit Mühe über die Lippen. Versunken in seine Kindheit und ihre Mah­ nungen zu Gottesdienst, Gebet und frommem Gesang blickt der Erzähler in Richtung London und, ohne es zu wissen, auch längst in Richtung Gravesend. Als er sich vom Heck abwendet, blickt er in die offene See. Zwei Wirklichkeiten kollidieren: »Hier die Natur mit ihrem unerhörten Enthusiasmus und dort die gebändig­ te, gezähmte, lippenstarre Frömmigkeit mit ihrem lähmenden Einfluß auf Herz und Gemüt.« (108)

Die suggestive Kraft der Wellenbewegungen hat die Suggestion der Psalmen von einst ersetzt; eine seitliche Bewegung des Schiffsrump­ fes entspricht einer unkontrollierbaren Angst des Erzählers. »Au­ ßenwelt«- und Erzähler-Realität sind nicht mehr zur Deckung zu bringen. »Außenwelt«, das ist ein »gutes Schiff, eine tadellose Ma­ schine, prächtiges Wetter, regelmäßige See, günstige Brise, ein Tag so herrlich, wie ihn Gott nur geschaffen« - »Innenwelt«, das ist die »dritte Bewegung«, das unsichtbare Tier, ein »unkontrollierbares Etwas. Eine bis zum Erbrechen angefüllte Psyche. Eine zum Explo­ dieren reife innere, geistige Produktion! - Und dabei krank! Äch, innerlich tief krank!« (109) Diese Dissoziation von Ich-Empfinden und Umwelt-Empfinden setzt explosionsartig ein geistiges Produkt frei: »Und plötzlich kam’s! Plötzlich, mitten aus der klaren Luft, die wie blaue Tücher um uns herumfegte, mitten aus dem krystallklaren, azurnen Meer

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erschien plötzlich - ein Schiff« (uo)-ein »Halluzinations-Dampfer.« (in)

Diese Vision entspricht jenem Schaffensprozeß, den Oskar Panizza 1891 in seinem Vortrag »Genie und Wahnsinn« als einen dem Künstler wie dem Geisteskranken gemeinsamen genialen Schöp­ fungsakt bezeichnete. Nur innere Kämpfe, nur psychisches Leid, können eine geistige Energie freisetzen, die den Erzähler der »gelben Kroete« ein einzig ihm reales gelbes Schiff schildern läßt. Der IchErzähler befindet sich während der Vision auf dem Höhepunkt seiner psychischen Anspannung: »Mir kam der verfolgungssüchtige [!] Gedanke, daß das Alles meinetwegen da sei. « (112) Er fühlt sich persönlich bedroht und will dennoch zunächst nicht an eine Halluzination glauben. (113) Erst als der Fremde auf dem unsichtbar gesteuerten gelben Dampfer sein »altes, armes Mütterlein« entdeckt, weiß er, daß die übrigen Passagiere seines Vergnügungsdampfers die »gelbe Kroete«, jenen für ihn realen »Halluzinations-Dampfer«, nicht wahrnehmen können. Was Oskar Panizza kurze Zeit später in seinem Traktat »Der Illusionismus und Die Rettung der Persönlich­ keit« in Anlehnung an Max Stirner theoretisch formulierte, hatte er bereits 1894 seiner Erzählung »Die gelbe Kroete« zugrunde gelegt: »Und ist denn ein so großer Unterschied zwischen einem halluzinierten Dampfer und einem veritablen Dampfer? Stecken nicht beide in unserem Kopf? Und gerade der, dieser eine, vielleicht halluzinierte, Dampfer geht mich allein und speziell an! Ist der Ausdruck meiner Sinne, einer unbekann­ ten Kraft in mir, die mir auf andere Weise nicht zur Wahrnehmung kommt.« ("4)

Diese unbekannte Kraft, später von Panizza als Dämon bezeichnet, schafft Geniales und macht den Schriftsteller »zum wahren Dichter«, zum »Visionär«. (115) Die Vision des Fremden von einem gelben Schiff, dessen Bauweise ihn eine warzenübersäte Kröte assoziieren läßt, ist der erzählerische Höhepunkt des Textes. »Die gelbe Kroete« ist die Vision gewordene Jugend des Ich-Erzählers, seine religiöse Erziehung: »Das ganze Elend [im Ms. ursprünglich: »Miserabilität«] meiner Jugend kam mir jetzt plötzlich wie eine gelbe, schmutzige Flut in’s Gemüt gestürzt. - Die ganze Drehorgelei der ewigen sittlichen Ermahnungen, Bibelsprüche, pieti­ stischer Selbstprüfungen und Katechismus-Aengsteleien, mit denen ich Tag für Tag gequält und gemartet wurde, rührte sich jetzt und fing zu pfeifen an:

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>Das sechste Gebot! - Du sollst nicht ehebrechen! - Was ist das? - Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir keusch und züchtig leben in Worten und Werken........ < Gott, o Gott, ist denn unser Gemüt ein Leierkasten, der unerbittlich das wieder giebt, was man einmal in ihn hineingeschrieen? Und dieses alte Mütterchen war es, das immer in mich hineingeschrieen hat.« (116)

Nur spärlich vermag Oskar Panizza an dieser Stelle einen autobiogra­ phischen Aufschrei mit einem romantischen Märchenmotiv als litera­ rische Fiktion zu verkleiden: Die wohlhabende Mutter in Bad Kissingen wird zum »armen, alten Mütterchen«, das nur noch in der Erinnerung seines in der Fremde wohnenden Sohnes fortlebt. Die Vorwürfe, die Panizza als literarische Fiktion seiner eigenen Mutter entgegenhält, passen allerdings nicht zum »alten, kreuzbraven Müt­ terlein« auf der »gelben Kroete«: »Und nun saß sie dort drüben und zählte Geld und blinzelte zu mir herüber. Und so saß sie immer dort und zählte mir die Sechser ab, wenn ich fort in die Fremde fuhr. Und ganze Raketen von Ermahnungen und Belehrungen überfluteten mich dann. Feines Gelispel! Unerträglich auf die Dauer: Sei fleißig! Mach deiner Mutter Freude! Das viele Geld, das du kostest!« (117)

Prägnanter läßt sich die Haltung Mathilde Panizzas gegenüber ihrem Sohn Oskar kaum zusammenfassen. Briefe und Passagen aus ihren Memoiren drücken nur wortreicher die Strenge, das Unverständnis, den Geiz und den Ehrgeiz dieser Frau aus. Etwa zur gleichen Zeit wie »Die gelbe Kroete« entstand Oskar Panizzas naturalistischer Einakter »Ein guter Kerl«. (118) Exkurs: Der unverstandene Sohn, »Ein guter Kerl* Oskar Panizzas Vierpersonenstück »Ein guter Kerl« ist durch zwei stumme Rollen auf einen Dialog zwischen der verwitweten Ge­ schäftsfrau Soltenbank und ihrem ältesten Sohn Gustav reduziert. Das Gespräch dreht sich um einen Erbstreit materieller wie »geneti­ scher« Natur. Frei von Haßgefühlen schildert Panizza in der durch lange naturalistische Bühnenanweisungen eingeleiteten Szene die völlig verschiedene Denk- und Empfindungswelt innerhalb einer Familie. Der Streit um eine Waffensammlung, aus der, kurz vor ihrem Verkauf, zwei Pistolen verschwunden sind, zeigt das Unver­ ständnis, mit dem Frau Soltenbank und ihr Sohn Gustav dessen

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jüngerem Bruder Hermann begegnen. Während die Mutter im Ge­ spräch ihren jüngeren Sohn voll mitleidvoller Herablassung als »gu­ ten Kerl« bezeichnet, will ihm Gustav mit Einwilligung der Mutter endgültig die materielle Basis seiner Forschungsarbeit wie seiner Träume entziehen. Gustav, ein skrupelloser Geschäftsmann (119), will nicht länger die Studien seines Bruders Hermann (120) mitfinan­ zieren: »Frau Soltenhank (sehr milde): Aber ich bitte Dich - es muß doch auch spekulative Köpfe geben .... Gustav (einspringend): Ja - aber die eliminirt man - wenn sie Einen nichts angehen! - Der (auf Hermann’s Zimmer deutend) kann von mir aus auf den Mond hinaufsteigen - aber nicht von meinem Geld - und auch nicht von seinem, wenn es einen integrirenden Bestandtheil der Familie bildet.« (121)

Gustavs Feststellung, Geld sei das Band, das die in ihm und seinem Bruder Hermann fortlebenden, unterschiedlichen Erbanlagen des verstorbenen Vaters und seiner Witwe (122) Zusammenhalte, unter­ wirft das Empfinden Hermanns den Maximen des mütterlichen Erbes. Hermanns Vater hatte sich das Leben genommen. Seinem Sohn Gustav, dem Repräsentanten des »starken« mütterlichen Erb­ teils, ist der Idealismus seines Bruders Hermann, des Geistesmen­ schen mit den »kranken Spekulazionen« (123), widerwärtig. Mutter und Sohn stimmen darin überein, Hermann den familiären Ge­ schäftsinteressen unterzuordnen. Während Gustav seiner Mutter einen brieflich bereits in die Wege geleiteten Plan erläutert, erschießt sich Hermann nach Lektüre dieses Briefes im Nebenzimmer mit einer der angeblich gestohlenen Pistolen. Mutterliebe und Bruderlie­ be konnten die erbliche Verschiedenheit der Charaktere nicht über­ winden. Phantasie und Idealismus scheitern in »Ein guter Kerl« an Geschäftssinn und Materialismus.

Das Publikum in Leipzig war von der Uraufführung des Einakters enttäuscht. (124) Vom inhaftierten Verfasser des »Liebeskonzils« hatte man mehr erwartet, als eine sprachlich wie inhaltlich ganz dem außer Mode geratenden Naturalismus verbundene »tragische Sze­ ne«. Oskar Panizza selbst lag viel an dem Einakter. Er hatte versucht, bei weitgehender Unterordnung unter einen Bühnenstil, ein persön­ liches Anliegen zum Ausdruck zu bringen. Während er mit Spektral­ analyse (125), Vererbungslehre und Darwinismus aus naturwissen­ schaftlichen Quellen des deutschen Naturalismus schöpfte, spielte er 79

wiederholt auf den autobiographischen Hintergrund seines Bühnen­ stücks an. Die geschäftstüchtige Witwe aus »Ein guter Kerl« hatte wie Ma­ thilde Panizza nach zwölfjähriger Ehe (126) einen ihr charakterlich konträren Gatten zu beerdigen. Auch Carl Panizza hatte 1855 an Freitod gedacht. (127) Naturalistisch war der genetisch bedingte Schuß im Nebenzimmer, autobiographisch war dagegen der unüber­ brückbare Kontrast zwischen familiärem Geschäftssinn und grüble­ rischer Bohemeexistenz eines »Schwarzen Schafes« dieser Familie. Die Figur Gustav Soltenbank entsprach Oskar Panizzas älterem Bruder Felix, der wie die Bühnenfigur 18 81 an der Seite seiner Mutter mit seinen jüngeren Geschwistern um das ebenfalls als Gütergemein­ schaft festgelegte Familienerbe stritt. (128) Auch Felix Panizza wollte in Hinblick auf seine Ehe mit Julia das Budget der Familie nicht durch weitere Unterstützung der Studien seines jüngeren Bruders belastet wissen. 1873 wurde Oskar von seiner Mutter zu einem Bankvolontariat bei Bloch & Co. gezwungen, Hermann Soltenbank hat als Bühnenfigur Panizzas nach den Plänen seiner Familie eine Stelle im Bankhaus »Boch & Co« (129) anzunehmen. Die Mahnungen des »kreuzbraven Mütterleins« aus »Die gelbe Kroete« wie auch das verständnislose Mitleid von Mutter Soltenbank aus »Ein guter Kerl« sind literarischer Ausdruck von Oskar Panizzas Ringen um das Verständnis und die Zuneigung seiner Mutter, deren Weitsicht und Vorstellungswelt er sich jedoch nicht zu eigen machen konnte. Diesen Konflikt bereits des Zwanzigjährigen dokumentiert beson­ ders anschaulich ein Brief an einen früheren Kornthaler Schulfreund. Schwärmerisch schildert Oskar Panizza darin die Welt der Musik, des Theaters und der Literatur, in der er lebe und die ihn das Hotelgewerbe und den Geschäftssinn seiner Mutter verachten lasse. (130) Zwanzig Jahre später schrieb der Vierzigjährige, wie wenig es ihm trotz aller inneren Auflehnung gelungen sei, seine Erziehung mit all ihren Qualen zu vergessen.

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Die Vision vom »Tier« und ihre sprachliche Gestaltung

»Die gelbe Kroete« ist in Oskar Panizzas gleichnamiger Erzählung die Strenge seiner Mutter, ihre sittlichen Ermahnungen, die Jahre als Kornthaler Zögling und die Körperfeindlichkeit einer pietistischen Erziehung: »Dort drüben saß ein Stück meiner Vergangenheit, mit dem ich absolut nichts mehr zu thun haben wollte, und das ich doch nicht verleugnen konnte!« (131)

Die Vision von der Kröte zerrinnt, der »Anfall« (132) ist vorüber. Erschöpft beginnt der Ich-Erzähler Panizzas, die Welt wieder mit den Augen der übrigen Passagiere zu sehen. Seine Realität und die Wirklichkeit seiner Mitmenschen kommen endgültig zur Deckung, als ihn der Kapitän des Ausflugsdampfers mit einer britischen Rede­ wendung auf das schöne Wetter aufmerksam macht. In Clacton on Sea geht der Fremde von Bord. Unweit der Landungsstelle trifft er auf eine Gruppe Gläubiger, die sich unter freiem Himmel zu einem Gottesdienst versammelt haben. »Und ich war noch so krank und widerstandslos, daß ich den Hut herunternahm und mich dazu stellte.« (133) Es gibt für den Erwachsenen keine Möglichkeit, sich der Traumata seiner Kindheit zu entziehen: »Freigeistig zieh’n wir an einem Sonntag hinaus, hinaus auf’s Meer, um dem monotonen, faden Psalmodieren der Kirche zu entfliehen, und draußen draußen auf dem Meer holt uns ein rächendes Gespenst ein, baut sich auf aus unserer eigenen unsichtbaren Seele, stopft sich voll mit dem Geplärr unserer Kindertage und rudert daher [...], pflanzt sich hin vor uns, narrt uns und zwingt uns, zu paktieren.« (134)

Mit dem Verschwinden des rächenden Gespenstes, der Vision, gleicht sich das Wirklichkeitsempfinden des einzelnen der »Außenwelt«-Realität an - er fühlt sich wieder eins mit der »sicheren, gesunden Außenwelt«. (135) Das Manuskript Oskar Panizzas endet mit dem Bericht des Erzählers von der Wiederholung seiner Vision auch »in der steinernen Großstadt«: »[...] dann wird mir Angst, der gelbe Jammer komt über mich, ich rieche die bitteren, pietistischen Erinnerungen meiner Jugend-« (136) 81

Als Oskar Panizza in sein Notizbuch schrieb, er sei kein Künstler, sondern Psychopath, fuhr er fort, es ginge ihm darum, seine Seele zu offenbaren, jenes »jammernde Tier« (137), welches nach Hilfe schreie. Auch die »gelbe Kroete« sind Kindheitstraumata des IchErzählers, der diese als Vision von einem »gelben, nackten Unge­ tüm«, einem »fressenden Ungeheuer«, von einem »widerwärtigen Tier«, einem »riesigen, giftigen Amphib«, als Vision von einem »heftigen«, von einem »lechzenden« und von einem »unsichtbaren« Tier (138) wiedergibt. Schon das Ezechiel-Motto der Erzählung verweist auf ein bildhaft gemeintes Tier. In Oskar Panizzas Gedicht­ zyklus vom heiligen Antonius (139) fleht der Eremit seinen Gott an, ihn von der schlimmsten aller Bestien zu befreien: »Jedoch das Thier, - Du weisst, das Thier Das zwischen Tageshelle, Das zwischen Tag und Dämmerung Bei mir steht auf der Schwelle, >Das Thier mit seinem Blick, - Du weisst, Anglotzend unverrückt mich, Dem aus dem Mund der Schwefel rinnt, Das Thier macht noch verrückt mich!

>Ich starr’ es an! Es starrt mich an! Ohn’ Weichen und ohn’ Wanken; Ich find’ kein Won, doch drinn’ im Kopf Röstet’s mir die Gedanken.

>Das grosse Biest, - Ezechiels Thier Darf sich nicht mit vergleichen, Schaff’ mir es fort! - Send’ Ratt’ und Schlang’ Und Frösch’ mit grünen Bäuchen.« (140)

Panizzas Antonius wurde vom Teufel nicht durch ein Mädchen, sondern durch Depressionen auf die Probe gestellt. (141) So meint »Tier« auch in »Die gelbe Kroete« einen bedrohlichen Seelenzustand, der durch das Farbadjektiv »gelb« noch gesteigert wird: Gelb ist für Panizza die Farbe der Lüge, der Täuschung - »die Farbe gemeiner Widerwärtigkeit«. (142) In Panizzas Antonius-Zy­ klus ist Gelb auch die Farbe des Teufels, der während der Dämme­ rung dem Eremiten als gelbe Bestie erscheint - ihm zur unerträgli­ chen psychischen Pein wird. »Der wahre Dichter muß Visionär sein« (143); er muß, in der Sprache des ehemaligen Psychiaters Panizza, Halluzinant sein. Be82

dingung für den Prozeß des Halluzinierens ist für Panizza seelisches Leid; der künstlerische Prozeß der literarischen Gestaltung einer Vision setzt Genie voraus und hat sprachlich-stilistische Konsequen­ zen. Intellekt (144), Logik, stilistische Feinarbeit hat wenig mit einem »Dämmrungsstück« zu tun, wo es gilt, Seele zu offenbaren und den Leser in einen Strudel psychischen Miterlebens zu reißen. »Modem« schreiben hieß für Panizza expressiv und mitreißend zu schreiben, den Zolaschen Blick auf das Milieu, auf die Psyche zu richten. Da es Panizza nicht um die »Außenwelt« ging und er in Lyrik und Prosa bestenfalls Stilmittel des Naturalismus zur Schilderung von »Innenwelt« verwandte, war es gleichgültig, ob die Vision qualvoller Kindheitsjahre und ihres religiösen Drills die Form eines gelben Raddampfers oder, neunzehn Zeilen weiter, eines »gelben Seglers« annahm. (14$) Angesichts des sprechenden Namens war es bedeu­ tungslos, ob Gravesend geographisch tatsächlich die Mündung der Themse ins Meer markierte (146) und ob ein Dampfer von Green­ wich nach Woolwich eine halbe Stunde lang unterwegs war. (147) Panizza lag am »Krystall-Sehen« (148); diesen Blick nach Innen schilderte der ehemalige Naturwissenschaftler allerdings, theoreti­ schen Forderungen des Naturalismus gemäß, mit größtmöglicher »Objektivität«. So wird die »dritte Bewegung« - des Vergnügungs­ dampfers wie der »seekränkelnden Seele« (149) - vom Erzähler sich selbst an einem »theoretischen Schiff« verdeutlicht. Das romantische (150) »Krystall-Sehen« entstehe, so doziert der Erzähler in »Die gelbe Kroete«, durch Affektion des Menschen mit akustischen und optischen Repetitionen. Auch durch Hinweise auf Milieutheorie und Vererbungslehre sucht Panizza seinem sonst emotional-expressiven Sprachfluß »Wissenschaftlichkeit« zu verleihen. Das oft gegen den Kontext vorgenommene Einsetzen wissenschaftlicher, meist medizi­ nischer Termini sowie den Naturwissenschaften entnommene Ver­ gleiche (151) gehört zu den Stilmerkmalen Oskar Panizzas. Ein sprachliches Charakteristikum in seiner Erzählung »Die gelbe Kroete« ist die Knappheit, mit der »Außenwelt«-Informationen gegeben werden: »Wir waren eine kleine, unregelmässige Gesellschaft. Ein Vergnügungs­ dampfer sollte es sein. Das Wetter war hell und schön. Wir waren im Juni. Die Fahrpreise billig.« (15z)

Die »Außenwelt« kontrastierenden Eindrücke und Empfindungen 83

des Ich-Erzählers, wie beispielsweise der Londoner Sonntag, werden im Gegensatz hierzu in langen, oft willkürlich verknüpft wirkenden Satzkonstruktionen wiedergegeben. Bezeichnend für die Gewich­ tung der »Innenwelt« gegenüber der »Außenwelt« ist auch die Exposition der Erzählung. Der kurzen Bemerkung »Ich fuhr auf einem großen Schiff. -« folgt ein langer Absatz, in dem der IchErzähler seine Motive für die Flucht aus dem sonntäglich-pietisti ­ schen London darlegt. (153) Kurze, unvollständige Sätze führen als Aufschreie des Erzählers den Leser an den Kulminationspunkt des Textes, das Überschreiten der dem Lesenden vertrauten Realität durch eine Halluzination, heran. Retardierende Momente sind-der »Außenwelt«-Realität zugehörig - die Fragen des Fremden an die Schiffsmannschaft, wann man Gravesend anlaufe. Panizzas bildreiche Sprache gerät in Gefahr, sich in enthusiastischer Wortwahl zu verlieren, sobald es dem Verfasser darum geht, den Gegenstand psychisch bedeutungsvollen Erlebens zu beschreiben: »Unsagbar«, »unerhört«, »prachtvoll«, »fantastisch«, »rasend«, »riesig«, »furchtbar« und immer wieder »kollossal«, das sind einige der Adjektive und Adverbien, mit denen Panizza seinem Leser die Eindrücke des Ich-Erzählers nahezubringen sucht. Als »Visionär« schreibend, war Oskar Panizza in der Wahl seiner Bilder spontan, unreflektiert und unkonventionell. Gelungenes kam neben Unschlüssigem zu stehen. Mädchen in der Kirche haben »klirrende Frömmigkeit auf den schmalen Lippen« (154), während ein Dampfer von einer violetten Masse »wie flüssiges blaues Eisen« umgeben ist. (155) Besonders Bilder aus der christlichen Vorstel­ lungswelt überraschen den Leser der »gelben Kroete«, wenn dieser sich beispielsweise Möwen in »Heiliger-Geist-Stellung« vorzustellen hat, wenn der Gottesdienst zum »spirituellen Knochen« wird, an dem der Gläubige den Rest des Tages noch herumzunagen hat, oder wenn die »ganze Drehorgelei der ewigen sittlichen Ermahnungen«, die »Katechismus-Aengsteleien« dem Ich-Erzähler wie eine »gelbe, schmutzige Flut in’s Gemüt« stürzen. Das Manuskript der »gelben Kroete« zeigt kaum Korrekturen. Der Text scheint in kurzer Zeit intuitiv abgefaßt worden zu sein. »Die gelbe Kroete« gehört zu Oskar Panizzas autobiographisch geprägten Seelenoffenbarungen. Sie geht auf ein Erlebnis des Autors im Jahre 1886 zurück. Panizza lebte damals in London. Er war, wie 84

er schrieb, dorthin geflohen, da er gefürchtet hatte, in Deutschland den Verstand zu verlieren und in ein »rothes Haus« eingeliefert zu werden. (156) Auf einem Schiff war ihm 1886 vor der englischen Küste die »gelbe Kröte« erschienen. Erst Jahre später erinnerte er sich in einer ähnlichen Situation wieder an dieses Erlebnis. (157) Als Panizza am 29. Mai 1894 in der Abendsonne auf einem Schiff nach Dießen fuhr, beschloß er, die Vision von der »gelben Kröte« nieder­ zuschreiben. Da er von Dießen aus damals zu Studienzwecken in einer Gruppe Gläubiger nach Andechs wallfahrtete (158), galt sein ganzes Interesse in jenen Wochen den Einflüssen christlicher Tradi­ tionen auf die Psyche. Aus strenger religiöser Erziehung resultierende Depressionen neh­ men in »Die gelbe Kroete« als Vision die Gestalt eines Höllentieres an. Die Farbe dieses Tieres ist gelb und damit eine Farbe, die bei Oskar Panizza für Täuschung, Lüge und das Teuflische steht. Be­ zeichnend für die Literatur der Jahrhundertwende ist hierbei eine Mischung aus tradierten Vorstellungen und neuer wissenschaftlicher Erkenntnis. »Die gelbe Kroete«, im neunzehnten Jahrhundert ver­ faßt, ist eine Synthese aus Pietismus des achtzehnten Jahrhunderts und Psychiatrie des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts. Literarisch ist die Erzählung ein Beleg für die Kontinuität zwi­ schen der Literatur der neunziger Jahre und der als Expressionismus definierten Epoche. Das Stakkato von Oskar Panizzas expressiv­ aufschreienden Teilsätzen, seine Schilderung der »kochenden« Großstadt London und des an der Welt leidenden Menschen leiten über zur Literatur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Panizzas Beschreibung der »gelben Kröte« läßt den Leser die Literatur Franz Kafkas assoziieren: »- Das ganze Deck drüben auf dem fremden Schiff war glatt, wie rasiert. Ich sah die schmalen Holzdielen mit ihren geteerten Fugen. Nirgends ein Kapitän. Nirgends ein Steuermann. Alles unterirdisch, vom Heizraum aus geleitet. -« (159)

Durch ihre sprachliche Expressivität und das stark autobiographi­ sche, im Falle Oskar Panizzas auch als »autotherapeutisch« zu bezeichnende Element ist »Die gelbe Kroete« ein markantes Beispiel für die durch äußersten Individualismus gekennzeichnete Literatur der Jahrhundertwende, die unter dem Sammelbegriff »Moderne« in Berlin, vor allem aber in Wien und München zur literarischen Vielfalt eines zunehmend nonverbalen Jahrhunderts überleitete. «5

Vom Zögling zum Dichter

Gymnasium, Bankvolontariat und Musikstudien Sechs Jahre pietistisches Erziehungsinstitut wurden für Oskar Paniz­ zas späteres Denken und Empfinden von ausschlaggebender Bedeu­ tung. Dem Gutachten seines Amberger Gefängnisarztes ist ein Er­ lebnis des früheren Kornthaler Zöglings zu entnehmen: »In seinem 12’Jahr machte er [Panizza] die Masern durch, in deren Verlauf einigemal eine Art somnambuler Zustand auftrat, indem er aus dem Bette herausstieg, sich vor daßelbe hinkniete u. betete, was übrigens die in Komthal vorgeschriebene Art des Betens war.« (1)

Panizza selbst war dieses Erlebnis so wichtig, daß er es 1904, geringfügig modifiziert, auch in seiner »Selbstbiographie« festhielt. (2) Als er 1868 nach seiner Konfirmation die Kornthaler Brüderge­ meinde verließ, begann Oskar Panizzas Ringen mit der »gelben Kroete«. In seinem Gedicht »Der Firmling« schilderte er Jahre später die Qual seines Konfirmationsgottesdienstes. (3) Nach der Lektüre bestätigte seine Mutter (4), daß dieses Gedicht die Angst ihres Sohnes ausdrückte, er sei zu sündig, um in die Gemeinde der Gläubigen aufgenommen werden zu können. - Panizzas »Firmling« stirbt während des Gottesdienstes aus Furcht, den an ihn gestellten Erwar­ tungen nicht gerecht werden zu können. So wie die Memoiren seiner Mutter Seite für Seite Gottesfurcht predigen, der Begriff christlicher Nächstenliebe jedoch in keinem Satz auch nur umschrieben wird, so hatte die religiöse Erziehung Oskar Panizzas das Kind wie den Zögling Furcht, keinesfalls aber Liebe oder Vertrauen gelehrt: Leben war ihm als eine bedingungslose Unterwerfung unter eine Summe strenger Gebote und Verbote erklärt worden, und trotzig entschloß sich der Heranwachsende, die anerzogenen »Katechismus-Aengsteleien« zu überwinden. (5) In seinem als »Selbstbiographie« edierten Gutachten über den »Pazjenten« Oskar Panizza schreibt dieser über die Jahre nach seiner Entlas­ sung aus der pietistischen Brüdergemeinde in Kornthal, er sei als Heranwachsender aufgrund »furchtloser, üppiger Phantasie und steter In-sich-Versunkenheit« unfähig gewesen, die »Notwendigkeit 87

einer geregelten, systematischen Vorbereitung für einen Lebensberuf zu begreifen.« (6) Vorübergehend hätte er sich der Musik zuge­ wandt, dann aber habe er den Ernst des Lebens begriffen und sich ln kürzester Zeit zum Koassistenten des bekannten Pathologen Prof. Hugo von Ziemssen emporgearbeitet. Auch seine Mutter schrieb rückblickend: »In das Jahr 1868 fiel auch die Konfirmation Oskar’s. Er wurde in Komthal zum Eintritt in’s Gymnasium vorbereitet. Das Studium machte ihm Mühe. Einestheils sind ja nach dem Eindruck von Fachgelehrten >Bretter zu bohren< und anderntheils war er eben noch ziemlich lange ein träumender Knabe der Ernst des fleißigen Lernens lag ihm ferne, er dachte an dessen Tragweite nicht.« (7)

Im Herbst 1868 ließ die Mutter ihren »träumenden Knaben« eine Aufnahmeprüfung für das renommierte Schweinfurter Gymnasium unter Studienrektor Franz Oelschläger absolvieren (8). Fünfund­ zwanzig Gulden im Monat veranschlagte sie, um ihren jüngsten Sohn bei dem Schweinfurter Buchhändler Heinrich Adam Giegler in Logis zu geben. (9) In der stark autobiographisch geprägten Erzählung »Der Corsetten-Fritz« beschreibt Oskar Panizza seine Erziehung im Hause Giegler: »Später, als es Zeit war, in die Lateinschule einzutreten, kam ich in ein kleines Provinzstädtchen; zu Leuten, die mich ebenso streng von allem, was man Welt nennt, abschlossen, wie mein Vater; und die mir ebenso unermüd­ lich wie meine Eltern eintrichterten: Zweck meines Daseins sei, Doctor der Theologie zu werden [...]. Dieses Programm war mir vollkommen geläufig; ich hatte mich auch vollständig mit ihm ausgesöhnt; aber, was meine Seele dazu sagen werden, jenes Wanderthier [!], welches auf eigene Faust auf Eroberungen ausging, und jeder Clausur jedem Stubenarrest spottete, das wußte ich natürlich nicht, -« (10)

Um seinem »Wanderthier« Raum zu schaffen und sich noch mehr als bisher der Musik widmen zu können, entschied sich Oskar Panizza, nach München zu ziehen. Sein Interesse an der Schweinfurter Latein­ schule und ihren Lehrinhalten ließ weiter nach: »Herr Giegler mußte ihn von da an imer antreiben, auch sein Klavierunter­ richt bedurfte eines besseren Lehrers. Oskar bat mich, er möchte gerne nach München auf’s Gymnasium, wenn er im Jahr 70 die Lateinklasse hinter sich habe.« (11)

Zucht und Gottesfurcht als Erziehungsinhalte garantierten Mathilde 88

Panizza in der Residenzstadt ihr Schwager, Pfarrer Gottfried Feez, ein Onkel des Siebzehnjährigen, sowie die Großmutter des Schülers. Das »Wanderthier« und einsetzender pubertärer Trotz trieben Oskar Panizza von nun an zur Auflehnung gegen seine Erziehung. Durch Leistungsverweigerung in der Schule ließ er seine Mutter den Plan aufgeben, ihn zum Pfarrberuf zu zwingen. War der fünfzehnjährige Schweinfurter Lateinschüler sowohl im Schuljahr 1868/69 als auch im darauffolgenden Jahr noch überdurchschnittlich gut benotet wor­ den (12), so betonte er als Zwanzigjähriger im Brief an einen ehemali­ gen Kornthaler Mitschüler sein Aufbegehren während der Münchner Gymnasialzeit. (13) Empört notierte Mathilde Panizza in ihre Me­ moiren, was ihr damals zugetragen worden war: »Karl hatte mir eines Tags mitgetheilt: Oskar habe zu ihm gesagt: >Wenn meine Mama durchaus will, daß ich studire - so thue ich eben nichts und bumle in München herum< [...].« (14)

Den Lebenserinnerungen von Mathilde Panizza ist zu entnehmen, daß ihr jüngster Sohn im Winter 1871/72 plötzlich darauf drängte, Kaufmann zu werden. (15) Dies war der Versuch des Achtzehnjähri­ gen, einerseits dem Pfarrberuf zu entgehen und sich andererseits, ohne die Mutter völlig zu brüskieren, als Handelsschüler ungestörter seinen musischen Interessen widmen zu können. Musik war für Oskar Panizza zum Refugium geworden, das »Gymnasium Neben­ sache sein ließ«. (16) Panizza wechselte kurzzeitig in die Handelsschule über, verließ diese aber bald wieder und nahm 1872 Privatstunden in Franzö­ sisch und verschiedenen kaufmännischen Unterrichtsfächern. Sein Wunsch, Kaufmann zu werden, hatte, so ist anzunehmen, lediglich den Grund, die begonnene Gesangsausbildung fortsetzen zu kön­ nen. Immerhin setzte Panizza im Herbst 1872 zunächst durch, neben dem kaufmännischen Privatunterricht auch das Konservatorium be­ suchen zu dürfen: »Auch Musik trieb er mit Eifer - er wollte sich als Sänger ausbilden und besuchte das Conservatorium. Eine Singstunde bei Hey kostete fl. 3 — aber es wurde nichts daraus und er gab es auf. Er mußte sich jetzt auch auf das Einjähriges-Examen vorbereiten.« (17)

Mathilde Panizza, die, wie ihre Memoiren zeigen, mit vier ihrer fünf Kinder große Erziehungsprobleme hatte, begann, ihren Sohn als Versager zu betrachten und zwang ihn im April 1873, sie von München aus, wo sie den Winter verbracht hatte, nach Bad Kissingen 89

zu begleiten und sich dort in das Hotelgewerbe einzuarbeiten, bis er im Herbst 1873 seinen Militärdienst ableisten müsse. (18) Dieser mütterliche Befehl mußte zwangsläufig zum Bruch zwi­ schen dem Neunzehnjährigen und seiner Mutter führen. Oskar Panizza hatte im Oktober des Vorjahres die Gewißheit erlangt, er sei zu Höherem berufen. Schwärmerisch schrieb er im November 1873 an Albert, seinen früheren Mitzögling aus Kornthal: »[...] plötzlich, es war im Oktober also gerade etwa vor ei[nem] Jahr verfiel ich in einen ungeheuren Tiefsinn; es überkamen mich unaussprechliche Gefühle die ich früher nie empfunden u. von denen ich aus keines Men­ schfen] Mund je etwas erfahren hatte; mit einem mal wurde es mir zur festestfen] Gewißheit, daß ich zu einem großen Mann geschaffen sei.» (19)

Frühere Faulheit sei, so beteuerte Panizza in seinem Brief, zu beinahe gesundheitsgefährdender Energie geworden. Neben Komposition und musikalischen Aufsätzen entstanden Skizzen von Dramen und Epen, größere Gedichte »ohne striktes Versmaß und festen Reim«, Gedichte, »in der freiesten Art meiner mich überwältigenden Gefüh­ le«. (19) Enthusiasmus und Glücksgefühl wechselten mit Depressio­ nen aufgrund der eigenen »Nichtswürdigkeit«. Auch literarische Studien halfen, wie Panizza in seinem Brief schrieb, den »aufgewühl­ ten Geist« zu zähmen. Sein »Weltgefühl« ließ sich nunmehr aller­ dings immer weniger mit dem seiner Mutter in Einklang bringen. Nicht ohne Stolz bekannte Panizza dem früheren Mitzögling, er sei zur Erkenntnis gelangt, Vernunft, nicht Glaube, sei das Wesentliche. (20) Oskar Panizza hatte nicht, wie bisher angenommen, Mitte der achtziger Jahre, sondern bereits kurz nach der Reichsgründung damit begonnen, sich mittels Literatur psychisch zu »entlasten«. Parallel zu seiner finanziellen Unabhängigkeit wandte er sich aller­ dings erst Ende 1884 ganz der Schriftstellerei zu. Zwar hatte Panizza im Frühjahr 1873 seiner Mutter nach Bad Kissingen zu folgen, dort aber ging er von der bis dahin angewandten Leistungsverweigerung zum offenen Affront gegen seine Mutter über: »Die Saison ließ sich ganz normal an; - aber Oskar’s Benehmen wurde alle Tage unaus­ stehlicher: er hatte keine rechte Beschäftigung und war mit sich selbst zerfallen.« (21) Mathilde Panizza war vom Auftreten ihres Sohnes Oskar entsetzt. Großstädtisch salopp gekleidet flanierte dieser durch den Kurort; auch begleitete er die Familie nicht zum Kirchgang. Als ihre Tochter Ida die verärgerte Mutter wissen ließ, ihr Bruder habe

ihr ins Gesicht gesagt, er hasse seine Mutter, sie sei ihm widerwärtig, war Anfang 1873 die Toleranz der Hotelbesitzerin erschöpft: »Als ich mich gesamelt hatte, stand mein Entschluß fest: der Junge mußte weg, mußte in ein thätiges Leben - er war 19 Jahre vorüber.« (22) Drei Tage später, am 12. Mai, fuhr Oskar Panizza auf Weisung seiner Mutter nach Nürnberg, um dort im Bankhaus Bloch bis zum Antritt seines Militärdienstes als Volontär zu arbeiten. Der »unfrei­ willige Kaufmann« (23) hatte Gelegenheit, »in die schmutzigen Geldwühlereien u. Spekulationen namentlich der Juden Einblick zu thun«. (24) Die Lenkung des »Goldregens«, so der Titel einer späteren Erzählung Panizzas, interessierte ihn jedoch ebenso wenig wie das Hotelgewerbe. Sein von der Mutter geschildertes Benehmen bei Bloch erinnert an den jungen Brecht: »Oskar benahm sich höchst unpassend bei Bloch. Wie mir Karl später erzählte: sei er mit der Mütze auf dem Kopf oft auch eine Cigarre im Mund ohne Gruß ins Comptoir getreten, daß die jungen Leute sich darüber aufgehalten und Herr Bloch ihm dieses Benehmen verboten habe. Er war so viel ich mich erinnere nur ganz kurze Zeit dort: die Zahlen und nichts als Zahlen brachten ihn außer sich - auch in der Kleidung ließ er sich ziemlich gehen, so daß Karl mir darüber schrieb.« (25)

Nach drei Monaten kehrte Panizza nach München zurück, um seine Musikstudien, seinen »heiligen Dienst« (26), wiederaufzunehmen, (v) Mit dem Militärdienst gaben neue Zwänge Panizzas Leben eine »sehr unliebsame Wende«. Zwar war seine Dienstzeit als »Einjähri­ ger« um zwei Jahre reduziert und konnte bei sofortigem Antritt in München abgeleistet werden, doch war das Soldatenleben, wie er seinem Jugendfreund schrieb, für einen »ideal angelegten jungen Mann« unerträglich. Panizza entschloß sich zum passiven Wider­ stand, achtete seine »innere Pflicht« als republikanisch gesinnter Künstler höher als militärische Befehle und wurde deshalb schon in den ersten Wochen wiederholt mit Arrest bestraft. Diese Diszipli­ narstrafen konnten Panizza »aber in keiner Weise was das Gemüthsleben betrifft niederschlagen«, vielmehr nutzte er sie für literarische Arbeiten. (28) Häufiges Kranksein führte der Rekrut Panizza im Brief an seinen einstigen Mitschüler auf psychosomatische Ursachen zurück und betrachtete es als Folge seines »vor einem solchen Leben schreckenden Gemüthes«. (29) Sein »Wanderthier« bäumte sich auf und nur mit Mühe war der »Einjährige« der 7. Kompanie des 2. bayerischen Infanterieregiments von einer illegalen Verkürzung 9i

seiner Dienstzeit abzuhalten. (30) Widerwillig erduldete er Uniform und Kaserne. Zudem infizierte sich Oskar Panizza gegen Ende seiner Dienstzeit im Verlaufe einer in München kursierenden Choleraepi­ demie. Physisch wie psychisch geschwächt, bekräftigte er trotzdem der Mutter gegenüber im Herbst 1874 seinen Entschluß, Musiker zu werden. Mathilde Panizza resignierte: »Ich ließ Oskar ja nur deshalb studiren, weil ich wünschte, einer meiner Söhne sollte Geistlicher werden; da nun dieser Plan wie es schien scheiterte, mußte er sich selbst eine Existenz schaffen. Er kehrte bald nach München zurück, wo er das Conservatorium besuchte; er machte sehr gute Fortschrit­ te und bekam von Herrn v. Perfall ausgezeichnete Noten.« (31)

Bereits kurz vor der Entlassung aus dem Militärdienst hatte Oskar Panizza sein erstes Notizbuch angelegt, das Auskunft über seine Lektüre von Oktober 1873 bis Januar 1874 gibt. Danach befaßte sich Panizza mit Shakespeare; er las die »Gartenlaube«, »Das Leben Jesu« von David Friedrich Strauß und historische Abhandlungen über die Antike und die Französische Revolution. Die Anatomie menschli­ cher Geschlechtsorgane interessierte den »unfreiwilligen Kaufmann« und »Einjährigen« ebenso wie eine Publikation Michael Georg Con­ rads über Freimaurerei, religiöse Periodika oder Charles Darwins »Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zucht­ wahl«. (32) Überraschend an Panizzas damaligem Lesestoff, der sich auch in den kommenden Monaten und Jahren in seiner Zusammensetzung nicht grundsätzlich änderte, waren weniger die einzelnen zeittypisehen Titel und Interessengebiete als vielmehr die Vielfalt der The­ men, die sich der Zwanzigjährige durch Literatur zu erschließen suchte. Oskar Panizza komponierte, sang, entwarf Bleistiftskizzen (33), las, schrieb und schuf so eine künstlerische Gegenwelt zum geschäftsorientierten Pragmatismus seiner Mutter und der jenseits­ orientierten Erziehung der Jahre in Kornthal. Oskar Panizza wurde, wie er nicht ohne Stolz schrieb, zum Einzelgänger, der keine Zeit damit vertrödeln wollte, sich über das Angelesene mit anderen Menschen zu unterhalten. (34) Er fand »teuflischen« Gefallen daran, von Mitmenschen aufgrund seines Äußeren mit Mephistopheles verglichen zu werden. Was später zu einem seiner Pseudonyme werden sollte, »Mephisto«, war das Ima­ ge, das sich Panizza ab Mitte der siebzigerJahre nicht nur äußerlich geben wollte. Seine Verachtung galt »gefälliger u. modegescheitelter Frisur«, und in der Einsamkeit des Teufels aus seinem 1893/94 92

entstandenen »Liebeskonzil« verstand sich Panizza mehr und mehr als Gegenpol zu der ihm anerzogenen Gottesfurcht, zum Guten, Wahren und Schönen. Die Mutter hatte er bereits vor Antritt seines Militärdienstes um Verständnis für sich gebeten: ■*— nur soviel weiß ich, daß ich weggetrieben von der mir in meiner Erziehung vorgeschriebenen u. von den meisten Menschen betretenen Bahn, in der Ungewißheit schweifend die mich überwältigenden Gefühle mit dem zu den letzteren als nichts erscheinenden Verstände - zurechtzulegen suche, was auch hier geschehen. -« (35)

Bezüglich seiner neugewonnenen Einstellung zur Kirche schrieb er der Mutter, einem Blinden könne man Farben eben nicht vermitteln. (36) Oskar Panizzas »Atheismus« jener Zeit war Opposition gegen die am eigenen Leib erfahrene Körperfeindlichkeit des Pietismus und Protestantismus. Es gehört jedoch zu den für Panizza bezeichnenden Widersprüchen, daß er in späteren Jahren einerseits in einem Essay Martin Luthers Triebleben abhandelte (3 7), andererseits aber wieder­ holt die Sinnlichkeit und Lebensfreude katholischer Gebräuche und Traditionen als verwerflich bezeichnete. Wie sehr der Zwanzigjähri­ ge mit seiner religiösen Erziehung rang und wie stark er unter dem Zwiespalt zwischen dem Gefühl eigener Genialität einerseits und schwerster Depressionen andererseits litt, zeigt das Vorwort zu seinem zweiten Briefkopierbuch. 1875, auf dem Höhepunkt jener Krise, las »Mephisto« die »Garten­ laube« und besuchte als Gast Vorlesungen der Philosophischen Fakultät. Inmitten der wohlhabenden Besucher einer Sportveranstal­ tung vor den Toren Münchens entschied sich Oskar Panizza zu einem wissenschaftlichen Studium: »Ich erinnere mich, daß es auf einem Pferderennen bei München im Frühjahr 1875 war, als ich plötzlich den Entschluß faßte, auf das Gymnasium zurükzukehren, das Musikstudium aufzugeben, und mir so den Weg zum akade­ mischen Studium zu bahnen. Noch am gleichen Tag schrieb ich die Briefe, die von meinen Verwanten ungläubig aufgenommen wurden. Ich trat mitten im Semester aus der Musikschule aus, nahm während weniger Monate von 3-4 Leuten Privatstunden (38) und im Herbst machte und bestand ich die Prüfung in die Oberklaße. Ein Jahr später absolvirte ich.« (39)

Zur freudigen Überraschung seiner Mutter hatte sich Oskar Panizza ein Ziel gesetzt und lernte, wie sie sich ausdrückte, »mit eisernem 93

Fleiß«. (40) Vor die Wahl gestellt zwischen Jura und Medizin, entschied sich der Dreiundzwanzigjährige auf Anraten seiner Mutter und deren Schwager Feez in München für letzteres. Im Winterseme­ ster 1876/77 immatrikulierte er sich an der Münchner LudwigMaximilians-Universität. (41)

Der Medizinstudent, Pathologe und Psychiater Panizza

Während seines Studiums, das Oskar Panizza mit äußerstem Fleiß vorantrieb, trat der Konflikt zwischen Mathilde Panizza und ihrem Sohn weitgehend in den Hintergrund. Wiederholt spielte der Medi­ zinstudent nun gegenüber der asiatischen Braut seines Bruders Felix sowie gegenüber seiner jüngeren Schwester Ida den Erzieher, der über die Moral der künftigen Schwägerin und der in Frankfurt lebenden Musikstudentin wachte. Aus Ida als Adressatin einst »übungshalber« verfaßter Liebesbriefe (42) war während der ersten Semester in München die Leidtragende in die gemeinsame Wohnung mitgebrachter Leichenteile geworden, die von dem jungen Mediziner dort seziert wurden. Schwierigkeiten hatte Oskar Panizza mit seiner Mutter und mit seiner jüngeren Schwester, ganz allgemein war ihm jedoch nicht nur die »Kleidung der Frau« (43) ein Problem. Zu den naiv-schwärmeri­ schen Sehnsüchten des Zwanzigjährigen (44) kamen die Phantasien eines Anatomiestudenten. Zwei Seiten eines frühen Notizbuches dokumentieren mehr als Panizzas große zeichnerischen Fähigkeiten; so zeigt ein Blatt eine »edle u. schöne Frauengestalt« (45), die sich nackt auf einen Schild stützt. Diesen Schild ziert ein erigierter Phallus. Die blumenge­ schmückte Märchenfee sucht Schutz hinter dem Symbol männlicher Potenz. (46) Eine zweite Abbildung zeigt den sorgfältig kolorierten Unterleib einer Prostituierten, die mit weit geöffneten Beinen als Frau ohne Oberleib auf einem Bett ruht. Ihre Schamgegend zeigt Sachcharakter wie das Bettgestell, das sie umgibt, oder ihre Stiefelet­ ten. Dennoch ist in Panizzas frühen Gedichten der Mann dem

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Freudenmädchen wie der Fee ausgeliefert. Das Märchenwesen um­ garnt die Phantasie seines Opfers, die Hure zieht Geistliche wie Tonsetzer ins Verderben. Panizzas Frauenbild kannte Dornröschen und Dirnen. Freundin­ nen wie Anna Croissant-Rust oder Franziska zu Reventlow dürften hiervon nicht völlig ausgenommen worden sein. »Viragines oder Hetären« (47) - das war mehr als eine männliche Typisierung, es waren neben »Mutter« und »Schwester« wohl die einzigen Begriffe, in die Oskar Panizza Frauen zu fassen vermochte. Um sich von seinen medizinischen Studien zu erholen, reiste Panizza in den Semesterferien des Frühjahres 1878 nach Italien. Auf Anwei­ sung seiner Mutter notierte er exakt die von ihr finanzierten Reiseko­ sten. Nach einer längeren Rundreise durch Norditalien, von wo seine Vorfahren väterlicherseits stammten, fuhr der Student bis Neapel. Es entstanden, wie es für deutsche Bürgersöhne auf Italienreise Sitte war, Zeichnungen, die sich, Anatomiestudie oder Akt, besonders mit dem weiblichen Körper befaßten. Zu jener Zeit infizierte sich Panizza, wie er später wiederholt behauptete, mit Syphilis. Oskar Panizza, der sich nicht ungern von Mitmenschen als mephi­ stophelische Erscheinung bezeichnen ließ, war stark körperbehin­ dert. Was Zeitgenossen wohl einen Bockfuß assoziieren ließ, war ein sichelartig nach innen gekrümmtes rechtes Bein. (48) Gegenüber Landgerichtsarzt Dr. Hofmann gab der Hinkende im Mai 1895 als Erklärung seiner Behinderung an, »von Geschlechtskrankheiten »die sogenanten Kinderkrankheiten*, worunter er leichte Affektionen verstand, durchgemacht zu haben«. (49) Vor seinen Münchner Psychiatern wurde neun Jahre später aus den »Kinderkrankheiten« eine nietzscheanische Syphilisinfektion. Die noch immer »manife­ ste« (50) Lues des »Pazjenten« sollte Oskar Panizza 1904 vor der zu befürchtenden Entmündigung bewahren. Sie wurde inzwischen fe­ ster Bestandteil von Panizzas Biographie. (51) Tatsächlich aber war Panizza als Kind von einem einrädrigen Hochrad gefallen. (52) Sein Amberger Arzt attestierte dem Häftling, die »gemma« (53) an der tibia dextra sei kein Gumma am rechten Schienbein, sondern eine chronische Entzündung »in Folge eines vor vielen Jahren erlittenen Bruches, der nicht gehörig geschient wurde« ($4), so daß der rechte Unterschenkel des Inhaftierten stark ge­ krümmt sei. (55) Da davon ausgegangen werden kann, daß ein Arzt des späten neunzehnten Jahrhunderts eine Syphilisinfektion zu dia-

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gnostizieren imstande war, ist daraus zu folgern, daß Panizza eine eventuelle Geschlechtskrankheit aus Studienzeiten längst auskuriert hatte, als eine Haftbeschwerde 1895 ein orthopädisches Gerät er­ wähnte, das Panizza am rechten Bein trüge und das durch einen neuen »Apparat« der hierauf spezialisierten Firma Hehsing ausge­ tauscht werden müsse. (56)

Eine äußerst disziplinierte, von »eisernem Fleiß« bestimmte Lebens­ führung des Medizinstudenten Oskar Panizza läßt sich aus dessen eigenen Angaben gegenüber dem Gefängnisarzt in Amberg schlie­ ßen. In jenem Gutachten heißt es, Panizza habe keiner studentischen Verbindung angehört, sei mäßig in Alkohol- und Nikotinkonsum gewesen und habe seine knapp bemessene Zeit zum Teil mit Kolle­ gen, häufiger aber noch im Theater verbracht. »Er verkehrte«, so notierte sein Gutachter, »auch viel mit Damen der besseren Gesell­ schaft, geschlechtlichen Umgang pflog er nur mit Maßen.« (57) Auch aus einem freundschaftlich vertraut wirkenden Brief Paniz­ zas an Engelbert Humperdinck spricht die Zeitökonomie des Münchner Medizinstudenten, der sich, wie er an Humperdinck schrieb, die von jenem bewunderte politische Bildung auf der Toilet­ te angeeignet habe, um so auch an diesem Ort zwei Tätigkeiten koordinieren zu können. (58) Trotz dieses überlegten Umgangs mit Zeit wurde Oskar Panizza nicht nach sechs (59), sondern nach acht Semestern im Herbst 1880 promoviert. Das Thema seiner Disserta­ tion lautete »Uber Myelin, Pigment, Epithelien und Micrococcen im Sputum«. (60) Stolz berichtete der durch das Studium mit seiner Mutter wieder versöhnte Doktor der Medizin, er sei am 12. Oktober 1880 per Handschlag promoviert worden: »Ich bin der allereinzige von allen hiesigen Medizinern (ca. 60-80), der als Dr. ins’s Staats­ examen geht!» (61) Prof. Hugo von Ziemssen, Pathologe und Direk­ tor der Städtischen Klink links der Isar, bezeichnete Panizzas Arbeit als mustergültig. Er wollte sie mit dem Reissinger-Preis prämieren lassen, dieser war für das Jahr 1880 jedoch bereits vergeben. (62) Ziemssen, dessen Koassistent Oskar Panizza schon vor seiner Pro­ motion war (63), machte die Dissertation seines Schülers im ersten Band der von ihm mitherausgegebenen Schriftenreihe »Arbeiten aus dem medicinisch-klinischen Institute der k. Ludwig-MaximiliansUniversität zu München« einem breiteren Fachpublikum zugäng­ lich. (64) Nach bestandenem Staatsexamen beendete Panizza seine Assistententätigkeit im Laboratorium von Prof. Ziemssen. Am 96

8. Februar erhielt er seine Approbation als Arzt (65) und reiste Anfang Mai 1881 (66) nach Frankreich: »Ein halbjähriger Aufenthalt in Paris, wo ich einige Spitäler besuchte, mehr aber noch Teater und Literatur mit Intereße verfolgte, zeigte mir, daß ich weit weniger für praktische Berufstätigkeit, als für inneres, geistiges Studium geschaffen sei. In dem völkerreichen Paris verfiel ich, weit entfernt in den Zerstreuungen aller Art unterzugehen, in tiefsinnige Grübelei und verein­ samte sozusagen mit mir selbst.« (67)

Noch vor seiner Abreise hatte Panizza geplant, künftig während des Winters in San Remo zu praktizieren, im Sommer dagegen in Kissingen als Badearzt tätig zu werden. (68) »Inneres, geistiges Studium« und »tiefsinnige Grübelei« hatten Panizza 1881 die Pläne einer bürgerlichen, mit »praktischer Berufstätigkeit« verbundenen Exi­ stenz aufgeben lassen. Probleme bei der Finanzierung seiner Abkehr vom Berufsleben, das er nur flüchtig kennengelernt hatte, ergaben sich durch einen zweiten großen Streit mit seiner Mutter.

Der »Russische Hof« sollte Anfang der achtziger Jahre von Mathilde Panizza übergeben werden. 1880 führte ihr Sohn Karl das Unterneh­ men zusammen mit seinem Schwager Gustav Collard. Im folgenden Jahr löste Felix nach seiner Rückkehr aus Hongkong den Bruder in der Geschäftsführung ab. Während Oskar Panizza in Paris sich abermals mehr und mehr musischer Betätigung zuwandte, erläuterte seine Mutter in Bad Kissingen der Familie ihre Vorstellungen über die weitere Führung des Hotelbetriebs. Es schien Übereinstimmung darüber zu herrschen, das Hotel für 600000 Reichsmark Felix Panizza und dessen Schwager Gustav Collard zu überlassen. Die 120 ooo-Mark-Anteile von Karl, Oskar und Ida sollten als Jahresrente in Höhe von 6000 Mark ausgezahlt werden. (69) Als Oskar Panizza im Herbst 1881 aus Paris zurückkehrte, forderte er, nicht sein Schwager, sondern sein Zweitältester Bruder Karl solle zusam­ men mit Felix das Hotel leiten. Ein erbittert geführter Familienstreit brach aus. Mathilde Panizza setzte als Familienoberhaupt im Verlau­ fe dieses Streites ihre Pläne rigoros durch. Sie sperrte Oskar und seinem Bruder Karl kurzerhand die monatlichen Wechsel. (70) Mög­ licherweise nach einer kurzzeitigen weiteren Assistenz bei Prof. Ziemssen (7i)nahm Oskar Panizza deshalb am 1. März i882 (72)die Stelle eines vierten Assistenzarztes an der Oberbayerischen Kreisir­ renanstalt unter Prof. Bernhard von Gudden an. Wie Ziemssen, so galt auch Gudden als Kapazität. Als Leibarzt König Ludwigs II. kam 97

er vier Jahre später allerdings zusammen mit seinem prominentesten Patienten auf bis heute ungeklärte Weise ums Leben. Durch sein Gehalt als Arzt finanziell abgesichert, lenkte Panizza bezüglich des elterlichen Hotels in Bad Kissingen ein, hielt aber in einem Brief seiner Mutter die religiöse Erziehung ihrer Kinder vor: »Eine Auslassung jedoch, die Oskar darlegte u. worin er die Thatsache besprach: daß ich meine Kinder durch so viel Mühe u. Verfolgung der evangelischen Kirche zugeführt hätte, betrübte mich. Denn er erkannte diese Thatsache nicht nur nicht an sondern er betonte, dies sei eine ganz unnöthige, jeden Werthes baare Handlung gewesen!« (73)

Für Mathilde Panizza machte diese Feststellung ihres Sohnes diesen zu einem Instrument des Teufels, Karl dagegen konnte als Opfer seines Versuchers ihres künftigen Wohlwollens gewiß sein: »Aber er [Karl] war doch jetzt wenigstens befreit von des Versuchers Einflüs­ sen: gegen seine Mutter vorzugehen. Das that die erbarmende Liebe Gottes.« (74) Der Streit um die Leitung des Kissinger Grandhotels und der dazugehörigen Dependance hatte die Familie gespalten. Auch zwi­ schen den Brüdern Karl und Oskar kam es darüber zum Bruch. (75) Von 1881 bis 1884 war Oskar Panizza wegen der Kosten seines Studiums von der Jahresrente seiner Geschwister ausgenommen. Dies schützte ihn allerdings nicht vor familiärer Mißgunst. Offen­ sichtlich dem Neid seines Bruders Karl hielt Oskar Panizza in einem Brief entgegen, als Arzt keineswegs ein Traumziel erreicht, sondern einen Brotberuf ergriffen zu haben: »Übrigens erwartete mich im Irrenhaus ein ärztliches Gebiet und eine geistige Sparte, die mir so gut wie fremd war. Weh ich nun in geistiger Vorbereitung zu einer neuen Stelle einem an sich wenig verlokenden Theil der Medizin [...] Interesse abgewihe, in 3 Teufelsnamen, das ist doch meine Sache.« (76)

Da Panizza durch den neuerlichen Streit mit seiner Mutter auf eigenes Einkommen angewiesen war, fügte er sich in seine Tätigkeit als »Irrenarzt«. An seine Schwester Ida schrieb er, jedesmal, wenn er eine Wagner-Oper höre, bereue er seinen Entschluß, Arzt geworden zu sein. Er spüre in sich die »alte Unsicherheit, das alte Schwanken, was eigentlich beginen, auf welchem Feld arbeiten«. (77) Trotz dieses Hangs zu musischer Beschäftigung sei er, wie Panizza seiner Schwe­ ster versicherte, mit seinem neuen Beruf zufrieden. 170 von insge­ samt 650 Patienten habe er als verantwortlicher Stationsarzt zu 98

betreuen. Zwei Stunden am Tag genügten jedoch für die Visite, den Rest der Zeit arbeitete der Ziemssen-Schüler in der Forschung, was zu jener Zeit in der Psychiatrie das »Herausschneiden bestirnter Hirntheile« bedeutete. (78) Ein Grund, warum sich Panizza in der Kreisirrenanstalt zunächst wohl fühlte, waren zweifellos berufliche Freiheiten unter Gudden: »Ich betheilige mich nur theilweise, d. h. bestirnte Tageszeit mit diesen Untersuchungen, die übrige Zeit arbeite ich für mich selbst, meist selbststän­ dige litterarische Arbeiten. -« (78)

Gegenüber seinem Amberger Gefängnisarzt gab Oskar Panizza zwei Gründe dafür an, warum er 1884 seine Stellung als Assistenzarzt unter Gudden aufgegeben hatte. Zum einen habe ihm das Sezieren von Gehirnen auf Dauer nicht zugesagt, zum anderen habe er befürchtet, psychisch an seinem Beruf als Psychiater Schaden zu nehmen: »der Umgang mit Geisteskranken; die Behandlung derselben interessirte ihn zwar sehr, er fühlte aber, daß sein Nervensystem auf die Dauer den steten Umgang mit Geisteskranken nicht ertragen köne.« (79)

Unaufhaltsam wuchs während seiner Tätigkeit an der Oberbayeri­ schen Kreisirrenanstalt die Angst, selbst geisteskrank zu werden. Nachdem Panizza am 20. April 1884 seine Mutter für die zweiein­ halb Jahre zurückliegende Kritik an ihrer Geschäftsübergabe um Entschuldigung gebeten hatte, starb wenige Tage danach deren Bruder Ferdinand als Patient der psychiatrischen Abteilung des Würzburger Juliusspitals. (80) Oskar Panizza war als Psychiater, und, wie er anzunehmen begann, »erblich Belasteter« vom Tod seines Onkels in einem »Irrenhaus« tief betroffen. Umgehend be­ mühte er sich um die Erlaubnis, an der Obduktion Ferdinand Speeths teilnehmen zu dürfen und erstellte aus dessen Akten eine umfangrei­ che Krankengeschichte. (81) Bereits 1882 hatte der junge Psychiater geglaubt, seiner Mutter den Rat geben zu müssen, sie solle ihre Tochter Ida nach deren geschei­ tertem Selbstmordversuch psychiatrisch behandeln lassen. Nachdem nun der Bruder seiner Mutter im religiösen Wahn gestorben war, erfaßte Oskar Panizza eine panische Angst, selbst geisteskrank zu werden. Aus Ablehnung weiterer gehirnpathologischer Forschungsarbeit und aus Angst, unter Geisteskranken selbst dem Schicksal seines Onkels folgen zu müssen, kündigte Oskar Panizza 1884 seine Assi­ 99

stentenstelle bei Gudden und ließ sich als praktischer Arzt nieder. Als er ab Herbst jenes Jahres ebenso wie seine Geschwister eine Jahresrente von 6000 Mark ausbezahlt bekam, gab er seinen Arztbe­ ruf endgültig auf und hoffte, mittels Literatur Heilung von seinen in der Kreisirrenanstalt aufgetretenen Depressionen finden zu können: »Teils unter Nachwirkung einer in der Irrenanstalt aufgetretenen gemütische Depression, die fast ein Jahr anhielt, entstand das lirische Gedichtbuch >Düstre Lieden (Leipzig 1885), das unter Heineschem Einfluß steht. Durch diese literarische Entlastung [!] wesentlich gehoben und erfrischt, besuchte er noch im gleichen Jahr England.« (82)

Den Memoiren von Panizzas Mutter (83), vor allem aber einem Brief des Arztes Oskar Panizza an die Cotta’sche Verlagsbuchhandlung (84) ist zu entnehmen, daß eine Vielzahl der »Düstren Lieder« bereits 1883 fertiggestellt war (85), jedoch erst im Herbst 1885 - und nicht, wie bisher allgemein behauptet, im folgenden Jahr - bei Unflad in Leipzig erschienen ist. Oskar Panizza war am 1. Oktober 1885, kurz vor Erscheinen seines ersten Gedichtbandes, nach England geflohen, um in Deutsch­ land nicht der Versuchung »rother Häuser« zu erliegen. Das Manu­ skript des Lyrikbandes hatte er vor Drucklegung dem Münchner Hochschullehrer und Landtagsabgeordneten Prof. Johann Nepo­ muk Sepp vorgelegt. Dieser teilte der erschrockenen Mutter des literarischen Neulings mit, »ein junger Mann, der solche Gedichte schreibesei krank [...]«. (86) Damit trug bereits die erste Buchveröf­ fentlichung Oskar Panizzas das Stigma vermeintlicher Geisteskrank­ heit ihres Verfassers. Dennoch ließ sich Panizza durch das verständ­ nislose, diffamierende Urteil Sepps nicht von der Veröffentlichung seines literarischen Befreiungsversuches abhalten. Fieberhaft suchte er im British Museum nach Stoff für seinen zweiten Gedichtband, der unter dem Titel »Londoner Lieder« 1887 erschien. (87) Nach seinem einjährigen Aufenthalt in London kehrte Panizza am 5. Oktober 1886 über Berlin nach München zurück. Dort entstanden Gedichte für Panizzas dritten Lyrikband »Legendäres und Fabelhaftes«, aber auch Erzählungen. (88) Nach wie vor arbeitete Oskar Panizza nach literarischen Vorlagen sowie unter dem Eindruck persönlicher Erleb­ nisse und Erinnerungen. Exemplarisch für diese Arbeitsweise ist das Entstehen des Gedichts »Die Leichenfahrt«, das Panizza nach dem Tod eines Nachbarn am 18. März 1887 verfaßt hat. (89) Anfang Oktober 1888 zog der bisher kaum gelesene Schriftsteller 100

in die Münchner Krankenhausstraße, die spätere Nußbaumstraße. (9°) Die Wandlung des Arztes aus dem Münchner Klinikviertel zum Schriftsteller schildert Geza Szilagyi, ein Bekannter Panizzas, im Jahr von dessen Internierung in einem Sanatorium nahe Bayreuth: »Er meinte sterben zu müssen, wenn er nicht alles beschämend eingestehen würde. Die Feder, die bisher die Dosis des beruhigenden Bromkalium auf den Rezeptblock geschrieben hatte, schrieb nunmehr nicht beruhigende, sondern fanatisch aufwieglerische und verzweiflungsvoll lärmende Bücher.« (9i)

Immer weiter entfernte sich Panizza dabei von seiner Erziehung: »Die Schule der Bigotterie hatte, wie sich im Laufe der Jahre heraus­ stellte, den Jungen zum glaubenslosen Fanatiker erzogen.« (92) Was blieb, war Oskar Panizzas Interesse an religiösen, psychologischen und medizinischen Fragestellungen. Literarisch führte dieses Inter­ esse zu Panizzas Erzählung »Ein scandalöser Fall«.

Exkurs: »Ein scandalöser Fall*. Die Verwirrungen der Alexina B.

In seinem Erzählungsband »Visionen« veröffentlichte Oskar Panizza 1893 den »Fall« eines jungen Menschen, der als Zögling eines Klosterinternats seine Sexualität entdeckt. Zu Verwirrungen unter den Zöglingen kommt es, als eines Mor­ gens die Schülerinnen Alexina Besnard und Henriette de Bujac eng umschlungen in Alexinas Bett entdeckt werden. Dreizehn Jahre vor Robert Musils »Törleß« ging es Oskar Panizza dabei auch um jene »besonderen Verhältnisse«, denen sich Heranwachsende hinter »grauen Mauern« ausgesetzt sehen: »Dort, wo die jungen aufdrängenden Kräfte hinter grauen Mauern festgehal­ ten wurden, stauten sie die Phantasie voll wahllos wohllüstiger Bilder, die manchem die Besinnung raubten.« (93)

Während Musil jedoch das Interesse des Lesers auf das Gefühlsleben einzelner Zöglinge sowie die Machtstrukturen unter den Internierten lenkte, ging es Panizza um die literarische Ausformung eines authen­ tischen Falles, den Michel Foucault zusammen mit der hierauf aufbauenden Erzählung Oskar Panizzas 1980 erneut publizierte. (94) 101

Weit mehr als Homosexualität hinter Klostermauem interessierte Panizza als Arzt und ehemaligen Internatsschüler in der Erzählung »Ein scandalöser Fall« der Identitätskonflikt eines Hermaphroditen, der hinter »grauen Mauern« seiner Liebe lebt und nach Bekanntwerden seiner leidenschaftlichen Zuneigung zu einer Mitschülerin so­ wohl innerhalb des Klosters als auch im nahe gelegenen Dorf, dem der »Skandal« zugetragen worden ist, zur Inkarnation des Bösen wird. Im authentischen Fall der Adélaide Herculine Barbin, auch Alexina Barbin genannt, endete der Verlust an physischer und psy­ chischer Identität nach schriftlicher Fixierung des Erlebten im Frei­ tod. Foucault wies bereits darauf hin, daß Panizza dem durch einen französischen Arzt überlieferten Fall in erster Linie den Vornamen der Hauptperson, ihre soziale Herkunft, die Schilderung einer ärztli­ chen Untersuchung und deren Resultat entnahm. (95) Interessanterweise schilderte Oskar Panizza den »scandalösen Fall« nicht in der sonst nahezu ausnahmslos (96) von ihm bevorzug­ ten Form der Ich-Erzählung. Schätzte er als Verfasser stark autobio­ graphisch geprägter Prosa den tatsächlichen oder beim Leser zu evozierenden Bekenntnis-Charakter dieser Erzählweise, so versuch­ te er in »Ein scandalöser Fall« den von ihm literarisch neugestalteten Stoff in auktorialer Erzählweise wiederzugeben. Panizza trat als Dramaturg neben den Leser, den er wiederholt direkt ansprach: »Nur ein ganz kurzes Personenverzeichniß noch vorher, eines Stückes, welches der Leser am Schluß muthmaßlich als Tragikomödie bezeichnen dürfte [. . .].«

Und an anderer Stelle: »Hiermit, - noch eine Anzahl, Mägde, Zöglinge, weißgekleideter Schwe­ stern mit Scapulier hinzugedacht, - sind wir mit unserem Personen-Verzeichniß fertig; und nun mag der 20. Juni 1831 beginnen, welchen Tag sich die Klostermauern von Douay gemerkt haben [. . .].« (97)

Als dramatisch geschulter Chronist entwickelte Panizza für seine Leser eine Kette von Ereignissen, die er aus der »Abnormität« eines Zöglings entwickelte, um daran den »Hexen-Breughel eines KlosterInterieurs« vorzuführen: »Aber wir können dem Leser keine Zeit zu einer Pause geben. Er muß die ganze Skandal-Affaire, so wie sie stattgefunden, in ein paar Stunden des Nachmittags mit uns durchhetzen. Er muß diesen Hexen-Breughel eines Kloster-Interieurs wie im Flug mit uns durchsausen.« (98)

Mit »Hexen-Breughel« war die Simultaneität von Ereignissen ge­ 102

meint, die sich auf allen Ebenen der Klosterhierarchie abspielen: in den Räumen von Madame la Supérieure, der Herrin des Internats und Tante der Geliebten Alexinas, vor den Buchschränken des Abbé, der lediglich formal la Supérieure übergeordnet ist, und in den Gängen des Erziehungsinstitutes, in denen die Schülerinnen, ange­ spornt durch den Ehrgeiz einer intriganten Ordensschwester, zu Denunziantinnen werden. Alexina Besnard und seine Geliebte werden zu Gehetzten. Wäh­ rend jedoch die als faul geltende Adelstochter Henriette de Bujac Zuflucht bei ihrer Tante findet, trifft das genial veranlagte Bauern­ kind Alexina der Haß der Klosterinsassen wie der Dorfbewohner, die Alexina exorziert oder tot wissen wollen. Während ein Chor von Klosterschülerinnen erynnienhaft Rufe wie »Ah, tenez le diable!«, »Le diable! Le diable!« oder »le diable et sa fiançée!« anstimmt (99), droht vor dem Kloster eine bewaffnete Menge mit Gewalt das Internat zu stürmen, um Alexina als Inkubus des Teufels zu lynchen. Nur mit Mühe kann la Supérieure durchsetzen, daß Alexina zunächst vom herbeigerufenen Arzt untersucht und sie erst dann dem zum Exorzieren bereiten Dorfpfarrer übergeben wird. Für die ranghöch­ ste Ordensschwester des Klosters ist es nicht einfach, die aufgebrach­ ten Schülerinnen und die von ihrer Konkurrentin in religiöse Hyste­ rie versetzten Dorfbewohner ruhig zu halten. Rouen ist nicht fern und sorgsam führt der protestantische Erzähler die Geschichte jenes »scandalösen Falles« ihrem »dramatischen« Höhepunkt zu - der breit geschilderten ärztlichen Untersuchung des Zwitters Alexina Besnard. Als Arzt war Oskar Panizza auf den Fall des Hermaphrodi­ ten Adélaide Herculine Barbin aufmerksam geworden; als solcher schildert er, durch medizinische Fachausdrücke auch stilistisch vom übrigen Text abgesetzt, ausführlich Vorgehen und Diagnose des Arztes. Im Gesamtzusammenhang seiner Erzählung »Ein scandalöser Fall« ist jedoch weniger die Anomalie der Genitalien Alexinas, als vielmehr die Reaktionen seiner klösterlichen Umgebung auf die Abnormität eines Zöglings von Bedeutung. Der ehemalige Pietisten­ schüler analysierte in dieser Erzählung die Machtstrukturen eines Internats vom Neid und der Sensationsgier der Schülerinnen über den skrupellosen Ehrgeiz einer Ordensschwester bis hin zur geistli­ chen Leitung des Instituts, die die Lektüre von Unterhaltungslitera­ tur, von moraltheologischen und erotischen Klassikern der Morgen­ andacht und damit ihrer Pflicht als Leiter einer Klosterschule vorzie­

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hen. Der Skandal um Alexina ist zum Anlaß für einen Machtkampf geworden, an dessen Ende, im Schlußsatz der Erzählung, la Supé­ rieure ihrer Stellvertreterin zu weichen hat. Henriette, die begüterte Nichte der abberufenen Schwester Oberin, muß lediglich kurze Zeit die Schule verlassen, während Alexina endgültig in sein Heimatdorf zurückzukehren hat. Dennoch nimmt sich Panizzas Alexina B. nicht das Leben. Oskar Panizza interessierte weniger die physische Ab­ normität, als die Hexenjagd auf einen Zögling, der aus Liebe und keineswegs nur aus sexueller Begier sein Keuschheitsgelübde gebro­ chen hatte. Gefühlvoll-enthusiastische Liebesbriefe, die den biblio­ philen Internatsleiter nicht nur stilistisch in ihren Bann schlagen, bewahren Alexina nicht davor, in den Augen der übrigen Klosterin­ sassen zur Inkarnation des Bösen zu werden. Alexina Besnard spricht selbst nur aus den bei Henriette gefundenen Liebesbriefen. Das Bild, das der Erzähler von Alexina gibt, setzt sich aus Gerüchten, Ver­ leumdungen, sexuellen Phantasien, Ängsten und projizierten Wün­ schen der Mitmenschen zusammen, die über sie der Anstaltsleitung Bericht erstatten: »Panizza présents her only in the fleeting profiles which the others see. This boy-girl, this never eternal masculine-feminine, is nothing tnore than what passes at night in the dreams, the desires, and the fears of everyone.« (ioo)

Liebe, Phantasie und Intelligenz scheitern in Oskar Panizzas Erzäh­ lung »Ein scandalöser Fall« an den »grauen Mauern« einer Kloster­ schule. Die Erziehung innerhalb der Mauern, an denen Alexinas Begabungen scheitern, stellt Oskar Panizza zu Beginn seiner Schilde­ rung in historisch-politischen Zusammenhang: Als Konzession an Adel und Kirche wurde das zunächst säkularisierte Kloster Douay, Schauplatz des ein Jahr später Aufsehen erregenden Vorfalls, im Jahr 1830 als Mädcheninternat für den Adel unter geistlicher Leitung wieder in Gebrauch genommen. Die Kirche erhielt damit neben materiellen Gütern auch pädagogischen Einfluß zurück, während dem »damals noch gekränkten französischen Adel« (101), fern der Bastille, die Möglichkeit neuer politischer Einflußnahme eingeräumt wurde. Das Klosterinternat in der Normandie sollte so zu einem Ort geistiger Erneuerung werden. Kirche und Adel hatten sich auf die Erziehung der Schülerinnen, die »den ersten Familien des Landes« angehörten, geeinigt: »Also Gelübde wurden abgelegt. Von den bekannten Drei war das der Armuth natürlich nicht von jungen Aristocratinnen zu verlangen, deren

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Eltern sonntäglich zwei- und vierspännig von ihren Gütern herüberkamen, und den Kindern ein reiches Extra-Taschengeld für Obst- und Zuckersachen daließen. Dagegen wurde das Gelübde des Gehorsams streng gefordert und geleistet, und ebenso - die Mädchen waren alle zwischen 14 und 18 - das der Keuschheit. Wir kommen auf den letzteren Punkt später zurück.« (102)

Der Knappheit und gezielten Polemik, mit der Panizza die Hinter­ gründe der Internatsgründung und der Erziehungsgrundsätze um­ reißt, stehen ausführliche Charakteristiken derjenigen gegenüber, die der Klosterschule vorstehen. Es sind weder Unmenschen noch eine anonyme Institution, die bei Panizza die Leidenschaft eines jungen Menschen zum Skandal werden lassen, um Gehorsam und Keuschheit als Tugenden und Erziehungsgrundsätze aufrechtzuer­ halten. Was die Zöglinge in Zaum halten soll, wird von den Erziehen­ den selbst nur zum Schein befolgt. Sowohl la Supérieure als auch der Abbé kompensieren den Verzicht auf Körperlichkeit und Liebe durch die Lektüre von Liebesromanen und erotischer Literatur. Was den Gehorsam betrifft, so ordnet sich die ehrgeizige Stellvertreterin von Madame la Supérieure zwar den Befehlen ihrer Vorgesetzten unter, dieser formale Gehorsam hindert sie jedoch in keiner Weise daran, mit allen Mitteln die Macht der ihr übergeordneten Ordens­ schwester durch Intrigen und eine geschickte Hauspolitik zu unter­ minieren. Zwar gipfelt die chronique scandaleuse von Oskar Panizzas No­ velle »Ein scandalöser Fall« in der ärztlichen Untersuchung des Hermaphroditen Alexina Besnard, dennoch galt das Interesse des ehemaligen Zöglings und früheren Arztes weit mehr dem »HexenBreughel eines Kloster-Interieurs« als dem klinischen Fall um Alexi­ na Barbin, auf den er durch ein medizinisches Journal aufmerksam geworden war.

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Oskar Panizza und die Münchner Moderne Die literarische »Moderne« »Man hat manchmal die Empfindung, als hätten uns unsere Väter [...] nur zwei Dinge hinterlassen: hübsche Möbel und überfeine Nerven. Die Poesie dieser Möbel erscheint uns als das Vergangene, das Spiel dieser Nerven als das Gegenwärtige. [...] Ja alle unsere Schönheits- und Glücksgedanken liefen fort von uns, fort aus dem Alltag, und halten Haus mit den schöneren Geschöpfen eines künstlichen Daseins [...]. Bei uns aber ist nichts zurück­ geblieben, als frierendes Leben, schale, öde Wirklichkeit, flügellahme Entsa­ gung. Wir haben nichts als ein sentimentales Gedächtniß, einen gelähmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung. Wir schauen unserem Leben zu; wir leeren den Pokal vorzeitig und bleiben doch unend­ lich durstig; denn, wie neulich Bourget schön und traurig gesagt hat, der Becher, den uns das Leben hinhält, hat einen Sprung, und während uns der volle Trunk vielleicht berauscht hätte, muß ewig fehlen, was während des Trinkens unten rieselnd verloren geht; so empfinden wir im Besitz den Verlust, im Erleben das stete Versäumen. Wir haben gleichsam keine Wur­ zeln im Leben und streichen, hellsichtige und doch tagblinde Schatten, zwischen den Kindern des Lebens umher. [...] Was von Periode zu Periode in diesem geistigen Sinn >modern< ist, läßt sich leichter fühlen als definiren; erst aus der Perspective des Nachlebenden ergibt sich das Grundmotiv der verworrenen Bestrebungen.« (i)

Konsens bezüglich der deutschsprachigen Literatur um 1900 besteht aus der Perspektive der »Nachlebenden« in der beinahe schon obliga­ torischen Erwähnung von Hofmannsthals 1893 publiziertem Artikel zu Gabriele d’Annunzio. Abgesehen von dieser in verschiedener Hinsicht zweifellos zitierenswerten Illustration zur Literatur des ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhun­ derts ist sich die Literaturwissenschaft allerdings nur in wenigen Punkten einig. Unbestritten ist der außerdeutsche Einfluß auf die Literatur des Wilhelminismus. Einig ist man sich bis hin auf ein halbes Dutzend kanonisierter Zitate über die literarische Ausstrahlung Friedrich Nietzsches; auch erwähnen selbst Gegner sozialhistorisch orientier­ ter Literaturbetrachtung global die auf dieser Ebene nicht mehr zu

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diskutierende Industrialisierung sowie die hieraus resultierende so­ ziale Umstrukturierung innerhalb des Deutschen Kaiserreichs. Nicht eine mehr oder minder ausgeprägte Kontinuität zwischen den literarhistorisch als tragend anerkannten Säulen von Naturalismus und Expressionismus gilt als umstritten, die Auseinandersetzung dreht sich um Verständnis und Zuordnung von Werken, die zum Teil vor 1895 und zum Teil nach 1910 erschienen sind. Eine Vielfalt ideenreich formulierter termini technici dokumentiert das Unbeha­ gen an einer von unleugbaren Gegensätzen gekennzeichneten Zwi­ schenepoche: Dekadenzliteratur, Impressionismus, Jugendstil, Na­ turlyrismus, Neoromantik, Neuklassizismus, Psychologismus oder Symbolismus. Die Problematik literaturwissenschaftlicher Erforschung der jüngst zurückliegenden Jahrhundertwende spiegelt sich im gemein­ samen Nenner aller Forschungsansätze - dem Erkennen eines »Stil­ pluralismus« in Kunst und Literatur um 1900. Ein wesentlicher Grund für diesen Stilpluralismus ist im Ringen einer großen Zahl junger, »moderner« Schriftsteller zu sehen, die um literarische Anerkennung und Auflagenhöhe konkurrierten. Durch die stilistische Vielfalt dieses künstlerischen Konkurrenz­ kampfes verunsichert, scheuten literarhistorische Kreise schließlich weder vor anachronistischen Normierungen noch vor fragwürdigen Werturteilen zurück. (2) Der zunächst rein kalendarische Begriff »Jahrhundertwende« wird heute allgemein für die Literatur um 1900 ebenso verwandt, wie der darin bereits zum Ausdruck kommende Terminus des »Fin de siede« oder »Aufbruch der Moderne«. Als inhaltliche Konnotationen stehen Endzeitstimmung, Déca­ dence und Todesmetaphorik künstlerischem Aktivismus, Vitalismus und individueller Experimentierfreude gegenüber. Gemeinsam war allen literarischen Tendenzen der Zeit lediglich eine Hinwendung zum Schönen. Waren der Prolet und das Freudenmädchen auch nicht mehr aus der Literatur zu verbannen, so machte man sie nun durch neuen Kontext, einen prachtvollen Bucheinband und eine hübsche Vignette salonfähig. Ergänzend zur stilistisch anspruchslosen Unterhaltungsliteratur der Zeit, zur politisch engagierten Arbeiterliteratur und der konträr ausgerichteten reaktionären »Heimatkunst«-Bewegung wird im fol­ genden die Literatur »von ein paar tausend Menschen, in den großen europäischen Städten« (3) als »Ästhetizismus« der Jahrhundertwen­ de bezeichnet werden. Mit diesem bereits 1896 hierfür verwendeten 108

Begriff soll jene Übergangsepoche bezeichnet werden, die, gekenn­ zeichnet von der simultanen Vielfalt verschiedener literarischer Stile, vor 1895 einsetzte und durch die literarische Zäsur des Jahres 1910 lediglich in den Hintergrund gedrängt wurde. Wie der vorhergehen­ de Naturalismus und der nachfolgende Expressionismus, so gehört auch der Ästhetizismus zur literarischen »Moderne«.

Mit der oft zitierten und in ihrer epochalen Bedeutung meist über­ schätzten Arentschen Anthologie »Moderne Dichter-Charaktere« knüpfte die jüngstdeutsche Literatur bewußt an Heinrich Laube und das Junge Deutschland an. Wie erstmals Fritz Martini richtiggestellt hat, ging die bewußt programmatische Substantivierung von »mo­ dern« nicht auf Hermann Bahrs »Studien zur Kritik der Moderne« (1894), sondern auf den Berliner Verein »Durch!« zurück. (4) Dort hatte Eugen Wolff Ende 1886 in zehn Thesen festgestellt: »Unser höchstes Kunstideal ist nicht mehr die Antike, sondern die Moderne« (These 6). »Durch!«, mit dieser Parole sagte man in Berlin dem Überkommenen den Kampf an. Da aus jener literarischen Vereini­ gung nach dem Vorbild von Antoines Pariser »Théâtre libre« 1889 die »Freie Bühne« hervorging und hieraus indirekt wiederum die »Freie Volksbühne« sowie die »Neue Freie Volksbühne« entstanden (6), wurde der Verein »Durch!« zum Ausgangspunkt der Berliner Moderne. Charakteristisch angesichts bestehender Zensurparagra­ phen, aber auch in Hinblick auf die soziale Herkunft der Mitglieder, war Eugen Wolffs Distanzierung von tages- und parteipolitischen Fragestellungen - dies, obwohl er ausdrücklich »sociale, nationale, religiös-philosophische und litterarische Kämpfe« (7) als Themen moderner Dichtung proklamierte. Wolff verlangte von der literarischen Moderne »unerbittliche Wahrheit«, wobei der Individualismus des einzelnen Modernen betont wurde und Wolff jede Cliquenbildung entschieden ablehnte. Nach seinen Vorstellungen sollte die Moderne eine Phalanx bilden, die vor allem auch mit der Waffe der Kunstkritik gegen »Epigonenclassicität, gegen das sich spreizende Raffinement und gegen den blaustrumpfartigen Dilettantismus« zu Felde ziehen sollte. Eugen Wolffs Thesen waren auch in ihrer Wortwahl eine Kampf­ ansage an den zeitgenössischen Kultürbetrieb. Der Vereinsname, mit dem man die Front etablierter Dichter und kultureller Institutionen angreifen wollte, wurde zur Parole: »Durch!« Diese zunächst pro­ grammatische und nur langsam und in wenigen Fällen durch litera109

risch umgesetzte »Frontstellung« gegen Bestehendes definiert den Begriff »Moderne«, wie er im folgenden verwendet wird. Ulrich Klein unterscheidet vier, die Moderne des ausgehenden neun­ zehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts bestimmende Konfrontationsebenen: »i. die politische Frontstellung, 2. die religiöse Frontstellung, 3. die experimentelle Frontstellung, 4. die sprachskeptische Front­ stellung. « Was die Münchner Moderne und damit das soziale und literarische Umfeld Oskar Panizzas betrifft, so grenzte man sich an der Isar verbal weniger militant als in Berlin gegenüber dem Überkommenen ab. Dennoch markieren jene vier »Frontstellungen« - mit anderer Gewichtung - auch in München die Auseinandersetzung der dort lebenden modernen Schriftsteller und Journalisten mit der Öffent­ lichkeit. Während die politische Konfrontation der Münchner Mo­ derne von Seiten der Behörden wie der konservativen und ultramon­ tanen Presse von Anfang an aufgezwungen worden war, provozier­ ten die bayerischenjüngstdeutschen den »Münchener Dichterkreis« literarisch durchaus bewußt. (9) Eine »religiöse Frontstellung« erwuchs in München aus den Schriften der beiden fränkischen Protestanten Michael Georg Con­ rad und Oskar Panizza, aber auch aus verschiedenen Arbeiten Hanns von Gumppenbergs und seiner Begeisterung für Okkultismus und Spiritualismus. Wie Peter Jelavich in seiner auf breiter Quellenbasis beruhenden kulturhistorischen Dissertation über das Münchner Theater der Jahre 1890-1914 (10) nachweist, hob sich die Münchner Moderne um Conrad vom Münchener Dichterkreis um Heyse litera­ risch nur bedingt ab. Vier Almanache und Anthologien, die aus dem Kreis der Münchner Moderne (11) zwischen 1891 und 1894 her­ vorgingen, zeigen einerseits den in Berlin, Wien und München feststellbaren »Stilpluralismus«, andererseits dokumentieren sie auch literarischen Dilettantismus und die Unfähigkeit, sich stilistisch eindrucksvoll von der öffentlich angefeindeten Münchener Dichter­ schule abzuheben. Der Beginn der literarischen Moderne in Mün­ chen war gekennzeichnet durch ein Sichöffnen gegenüber neuen Themenkreisen, keinesfalls aber durch theoretische Programmatik oder das gemeinsame Bemühen um eine neue Ästhetik. Mit Jacques Barzun stellt Peter Jelavich für die europäische Moderne 110

fest, eine bestimmte Epoche definiere sich nicht durch die Summe individueller Ansichten zu Themen der Zeit, sondern durch die Fragen der Zeit selbst, auf die nach Antworten gerungen würde. Bezüglich der in Europa in den siebziger Jahren einsetzenden Moder­ ne (12) formulierte Jelavich als zentrale Fragestellungen die Frage nach Wesen und Möglichkeiten der Kunst selbst, die Frage nach gesellschaftlichen Strukturen und den Möglichkeiten, diese zu verän­ dern, sowie die Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis zwischen Kultur und Politik. (13) Reflexion und Kritik der Moderne standen in Europa jene für das Deutsche Kaiserreich durch den Reichsadler symbolisierten Interessen- und Machtgruppen gegenüber.

Sowohl im Sinne einer Moderne-Definition anhand von »Frontstel­ lungen« als auch dem Moderne-Begriff Jelavichs folgend, stand Oskar Panizza im Zentrum der frühen Moderne. Ohne sich der Sozialdemokratie als politischer Opposition anschließen zu können, attackierte Panizza die geistige und damit auch politische Uniformi­ tät des Wilhelminischen Reiches. Zensur nahezu aller seiner Bücher, Beschlagnahmung seines Vermögens und ein Verfahren wegen Maje­ stätsbeleidigung waren die Folgen. Fanatisch griff Panizza sowohl die katholische Kirchenlehre als auch die Sexualmoral seiner Zeit an. Ein Jahr Gefängnis wegen Gotteslästerung sowie die Zensur von Büchern und Beiträgen in Anthologien waren die Folge. Seinem »Dämon« folgend suchte Oskar Panizza schreibend zeitgenössische Normen zu sprengen. Formal ging dies bis zu einer eigenwilligen Reform der Orthographie. (14) Peter Jelavich kommt zu dem Schluß: »Panizza was anomalous even within the context of the Munich naturalists, who lacked cohesion as a group. Aside from Panizza, none of them made any significant contributions to modernism.« (15) Dieses Urteil gewinnt durch Jelavichs ausführliche Kapitel über das Theater Frank Wedekinds sowie über die Anfänge des Kabaretts an Gewicht. Da die »Front« der Münchner Moderne wie in anderen zeitgenös­ sischen Kulturmetropolen, außerhalb der Bohemecafes, durch litera­ rische Gesellschaften, Zeitschriften, neue Verlage und ungewohnte Kulturinitiativen gekennzeichnet war, läßt sich Panizzas Rolle im Rahmen der Münchner Moderne am deutlichsten anhand seiner Aktivitäten innerhalb der »Gesellschaft für modernes Leben«, an­ hand seiner journalistischen und editorischen Tätigkeit, aber auch am Beispiel seiner Bemühungen um die Reform des Theaters darstellen. in

Die Politik und Position Michael Georg Conrads innerhalb der Münchner Boheme

»Aber noch kannte er diese »Modernen« nur aus ihren Reden am Wirthstisch, noch wußte er von ihren Geisteskindern, über welche sie mit Wichtigkeit und Leidenschaft sprachen, so viel wie nichts. [...] Andererseits wußten auch die »Modernem von ihm nichts weiter, als daß er ein Unzufriedener und ein Ueberläufer von den »Alten« sei. Heute Abend bot sich Gelegenheit, mit der Ausfüllung dieser beiderseiti­ gen Lücke zu beginnen. Tags vorher hatte man sich über die feierlichen akademischen Veranstaltungen der »Alten« lustig gemacht, und dabei hatte Doktor Martini, der Humorist des Kreises, den Antrag gestellt, am Wirths­ tisch in der »Fränkischen« einmal moderne »Akademie« abzuhalten, zu welcher ein Jeder lyrische »Primawahre«, wie er sich ausdrückte, mitbringen sollte.« (16)

In seinem autobiographischen Schlüsselroman »Der fünfte Prophet« gelang Hanns von Gumppenberg 1895 die treffendste zeitgenössi­ sche Schilderung des Verhältnisses zwischen »Alten« und »Moder­ nen«. (17) »Doktor Martini, der Humorist des Kreises«, stand in Gumppenbergs »psychologischem Roman« dabei für Oskar Pa­ nizza. Zwei Kennzeichen der Münchner Moderne hob der ironische »fünfte Prophet« besonders hervor: Das aus Franken stammende Triumvirat von Reder, Conrad und Panizza sowie die durch Spott allein nicht zu realisierende literarische Eigenständigkeit der Mo­ derne. Der Franke Heinrich von Reder stand als hochdekorierter Oberst der Bayerischen Armee dem »Krokodil« um Paul Heyse und Her­ mann Lingg nahe. Er war aber auch der älteste unter den Modernen (18) und wurde von ihnen 1894 anläßlich seines 70. Geburtstages nach altem Brauch durch eine Festschrift geehrt. (19) Ebenfalls aus Franken stammte der 1846 geborene Michael Georg Conrad. Er genoß als Nietzscheaner, Zola-Schüler, Buchautor und Begründer der »Gesellschaft« innerhalb der Avantgarde bereits einen gewissen Ruhm. (20) Der Wahlbayer Otto Julius Bierbaum, die Journalisten Julius Schaumberger (21) und Georg Schaumberg (22) sowie der schreibende Ex-Page und Privatier Hanns von Gumppenberg berie­ fen bereits während der Gründungsversammlung zur »Gesellschaft für modernes Leben« nicht zuletzt wegen des zu erwartenden Re112

nommees Michael Georg Conrad und Detlev von Liliencron in die Vorstandschaft der Künstlervereinigung. (23) Diese Berufungen wurden später durch die Mitglieder des Vereins bestätigt. Schon bald nach Gründung der »Gesellschaft für modernes Leben« trat auch Oskar Panizza den Modernen bei. Der starke Einfluß Conrads und seiner beiden Landsleute führte zu der von Gumppenberg amüsant ironisierten fränkischen Vormachtstellung innerhalb der Münchner Moderne. (24) Keinem der drei Franken lag etwas an einer direkten Zusammenar­ beit mit der bayerischen Sozialdemokratie unter Georg von Vollmar, wie dies wiederholt behauptet wurde. Zwar begrüßte die sozialde­ mokratische »Münchner Post« die Gründung der »Gesellschaft für modernes Leben« (25), doch war durch den starken persönlichen Einfluß Michael Georg Conrads bereits zum Zeitpunkt der ersten öffentlichen Versammlung am 29. Januar 1891 (26) die Chance verge­ ben, trotz starker behördlicher Repressionen die Arbeiterschaft als Publikum zu gewinnen, den Verdacht »Sozialdemokratenthum im Frack« zu vertreten, auf sich zu nehmen und den neuen Verein demokratisch zu organisieren. Eine starke, gesunde Kunst sollte hingegen nach Conrads Vorstellungen soziale Mißstände beheben und zur nationalen Einheit führen. (27) Die Großstadt mit ihrem Kulturangebot, ihren sozialen Problemen und ihrem Laster wirkte auf den fränkischen Bauernsohn aus einem kleinen Dorf bei Ochsen­ furt ebenso anziehend wie abstoßend. Dies hatte er mit vielen Berliner Naturalisten gemein; ein Bündnis mit der sozialdemokrati­ schen Arbeiterbewegung stand für Michael Georg Conrad jedoch niemals ernsthaft zur Diskussion. Bezeichnend für die Rolle Michael Georg Conrads innerhalb der Münchner Moderne ist dessen Rück­ tritt als Vorsitzender der »Gesellschaft für modernes Leben«. Nach wiederholten Auseinandersetzungen mit den übrigen Vor­ standsmitgliedern trat Conrad im Dezember 1891 als Vorsitzender des Vereins zurück. Anlaß war zum einen der Streit um ein öffentli­ ches Bekenntnis zum Protestantismus, durch das sich die übrige Vorstandschaft konfessionell festgelegt sah (28), zum anderen Kritik an Conrads autoritärem Auftreten innerhalb der Moderne. Michael Georg Conrad sah zu Recht die Einheit der Vorstandschaft gefährdet und erklärte in einem Brief vom 9. Dezember 1891, er stehe »mit der Mehrzahl der Vorstandsmitglieder nicht auf dem nämlichen Boden der Welt- und Gesellschaftsanschauung«. (29) Nach dem Rücktritt

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seines Landsmanns verließ auch Oskar Panizza die Vorstandschaft der »Gesellschaft für modernes Leben«. Er begründete seinen Schritt mit dem immensen Prestigeverlust des Vereins ohne die bedeutende Persönlichkeit Conrads. (30) Beide blieben auch weiterhin Mitglie­ der der »Gesellschaft für modernes Leben«. (31) Vor seinem Rücktritt wandte sich Conrad, wie bereits schon einmal, an die königlich-bayerische Polizeidirektion, um sich vom angeblich sozialistischen Denken seiner Kollegen zu distanzieren. Waren es die ersten Male religiöse Fragen oder Gedichte Karl Hen­ ckells, so war es diesmal die »ganze Richtung« der Moderne, von der sich Conrad distanzierte. Peter Jelavich faßt Conrads Verhalten in einem Satz zusammen: »The man who, ten months before, had protested the Fremdenblatt’s attempts >to denounce me to the state’s security apparatus< was himself quite eager to alert the police to the >radical< nature of his colleagues.« (32) Der zweite Punkt, den Hanns von Gumppenberg in seinem pseudo­ fiktiven Roman ironisch zur Sprache gebracht hat, sind die oft sehr zaghaften Versuche der Münchner Moderne, über bloßes Parodieren des »Alten« hinauszugelangen. Der spätere »Scharfrichter« Gump­ penberg war ein Meister der Parodie. Schon am ersten öffentlichen Abend der »Gesellschaft für modernes Leben« glänzte Gumppen­ berg nicht durch Neues, sondern durch Verspottung des Alten. Seine Persiflagen des Münchener Dichterkreises riefen jedoch beim Publi­ kum zum Teil heftigen Protest hervor. (33) Zwei Monate später ließ Gumppenberg der »Lyrik von gestern« auf dem dritten öffentlichen Abend der »Gesellschaft« Gedichte des Modernen Karl Henckell folgen. Gumppenberg scheute sich nicht, auch sozialkritische Verse Henckells vorzutragen. Am folgenden Tag distanzierte sich Conrad in der Münchener Tagespresse für die »Gesellschaft für modernes Leben« von deren Vorstandsmitglied Hanns von Gumppenberg und erklärte öffentlich, der Verein vertrete keinerlei politischen Stand­ punkt und wolle zu derartigen Fragen auch nicht Stellung beziehen. (34) Gumppenberg wurde exemplarisch für die »Gesellschaft für modernes Leben« wegen der Rezitation von Henckells Gedichten zu zwei Monaten Festungshaft verurteilt und erklärte 1891 in der vierten Nummer der Vereinszeitschrift, sein Verhalten habe die »Gesell­ schaft für modernes Leben« in der Öffentlichkeit in ein falsches Licht gerückt, so daß er aus der Vorstandschaft der Künstlervereinigung zurücktrete. In Nr. 8 der »Modernen Blätter« wurde bekanntgege114

ben, Oskar Panizza habe Gumppenbergs Funktion in der Vorstand­ schaft übernommen. (35) Max Halbe erinnerte sich in einem »Nach­ ruf« auf den nahe Bayreuth internierten Panizza 1905: »Die Polizei wachte mit verdoppelter Sorgfalt, daß das entfachte Literatur­ feuer nicht etwa gar auf das altehrwürdige Staatsgebäude übergreife. In dieser fiebernden Athmosphäre fühlte sich Panizza wie in seinem Element. Kaum in den Kreis der sog. >Modernen< eingetreten, begann er auch schon eine führende Rolle zu spielen.« (36)

Rückblickend schilderte Hanns von Gumppenberg seinen Nachfol­ ger in der Vorstandschaft der »Gesellschaft für modernes Leben« Jahre später als »eine kuriose Mischung aus altfränkischer Treuher­ zigkeit, theologischer, philologischer, medizinischer und naturwis­ senschaftlicher Gelehrsamkeit, schrullenhafter Poeten-Phantastik, beissender Satire und kecker Ausgelassenheit«. (37) Ein ähnliches Bild zeichnete auch Otto Julius Bierbaum von seinem Schriftsteller­ kollegen, als er Panizza 1893 prophezeite: »Ich halte es für zweifellos, daß er bald zu den besprochensten modernen Autoren in Deutschland gehören wird, - freilich auch zu den berüchtigsten. Denn: Er ermangelt des Feigenblattes, das wir haben sollen. Und: Er nimmt sich auch vors Maul kein Blatt. Und: Er hat ein böses Maul.« (38)

Oskar der Wunderliche, wie ihn Bierbaum nannte (39), war - auch Bohemien. In nahezu allen Punkten läßt sich der von Helmut Kreuzer erarbeitete Begriff der Boheme (40) am Beispiel der Münch­ ner Moderne illustrieren. Regelmäßig trafen sich die Münchner Jüngstdeutschen in be­ stimmten Lokalen. (41) So fanden auch die Vorgespräche zur Grün­ dung der »Gesellschaft für modernes Leben« im »Parzival«, einem Lokal in der Münchner Herrenstraße, statt. (42) Im Mittelpunkt der Münchner Moderne stand als Führergestalt Michael Georg Conrad. Auch hatte der Kreis um diesen Franken eine »unbürgerliche« Ein­ stellung zum Geld, so daß Oskar Panizza als Mäzen eine besondere Rolle (43) zukam, aus der heraus er beispielsweise dem bis zu seiner Verheiratung mittellosen Ludwig Scharf den Druck seines ersten Gedichtbandes finanzierte. (44) Die von Kreuzer als weiteres Charakteristikum eines BohemeKreises bezeichnete »geringe Zeitökonomie« traf auf die Münchner Moderne ebenso zu, wie jener »Individualismus, der sich ohne Scheu vor provokatorischer Wirkung (oft mit Lust an ihr) von Konventio­ nen sittlicher, ästhetischer oder politischer Art emanzipiert«. (45) Es

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sei in diesem Zusammenhang nur an Oskar Panizzas Freude erinnert, mit der er sein durch äußere Körpermerkmale und Gebrechen her­ vorgerufenes Image als Mephistopheles pflegte. »Oskar der Geife­ rer« (46) war gerade auch im Kreise der Münchner Moderne auf eine Außenseiterrolle bedacht: »Er war entschieden ein glänzender Geist von großem Wissen und satirischer Begabung, wie nur wenige. Jeder, der Panizza gekannt hat, wird des merkwürdigen Mannes, den man fast immer in Begleitung eines kleinen strubbeihaarigen Hündchens [Puzzi] sah - der Vergleich zwischen Goethes Mephisto und demet was [!] Hinkenden lag nahe - gedenken [...].« (47)

Die »Gesellschaft für modernes Leben«. Programm und Vereinspolitik Kennzeichnend sowohl für den Schriftsteller Oskar Panizza als auch für die gesamte Münchner Moderne war eine unüberbrückbare Kluft zwischen bewußter Provokation des »Alten« und vorsichtigem Tak­ tieren im Umgang mit Behörden und öffentlicher Meinung. Erst während der Amberger Haft hatte sich für Oskar Panizza dieser Antagonismus endgültig aufgehoben. Kein brisantes Thema und keine geistige Mode schien der Münch­ ner Moderne zu abgeschmackt, um sich zumindest in Proklamatio­ nen ihrer nicht zu bedienen. Als Vorsitzender der »Gesellschaft für modernes Leben« eröffnete Michael Georg Conrad den ersten öf­ fentlichen Vortragsabend des Vereins mit einem Grundsatzreferat »Die Moderne«. (48) Als Nummer 1 der »Münchener Flugschriften« erschien Conrads Vortrag über die »Ziele der »Gesellschaft für modernes Leben