Der Maulwurf kennt kein System: Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge 9783899422733

Seit über 30 Jahren setzen Oskar Negt und Alexander Kluge die Kritische Theorie fort. Ihre im Abstand von etwa zehn Jahr

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German Pages 271 [272] Year 2005

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Der Maulwurf kennt kein System: Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge
 9783899422733

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Der Maulwurf kennt kein System

Christian Schulte, Rainer Stollmann

Der Maulwurf kennt kein System Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Projektmanagement: Andreas Hüllinghorst, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-273-2

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Inhalt

Christian Schulte, Rainer Stollmann Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Gespräche Der Maulwurf kennt kein System. Oskar Negt im Gespräch mit Rainer Stollmann und Christian Schulte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Das Marxsche Wertgesetz ist in der Natur verankert. Ein Gespräch zwischen Rainer Stollmann und Alexander Kluge . . .

42

Wozu Theorie? Dirk Baecker und Rainer Stollmann über Kritische und Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Aufsätze Hans-Peter Burmeister Zwei Stimmen aus Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Markus Bauer On the road – Zu den Gesprächen zwischen Alexander Kluge und Oskar Negt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Barbara Hahn »Gemeinsame Philosophie«. Ein Projekt von Oskar Negt und Alexander Kluge . . . . . . . . . . . . . . . 103 Wolfgang Bock Exemplarische Reflexionen einer Dekade. »Maßverhältnisse des Politischen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Herbert Holl Die Gewalt des Zusammenhangs. Kortex und Oberschenkelhalsknochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

Christian Jäger Eigensinn, Eigentlichkeit und Eigentum. Zu Funktion und Genealogie einer Zentralkategorie bei Alexander Kluge und Oskar Negt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

153

Harald Kerber Verdinglichung und emanzipatives Bewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Corinna Mieth Die utopische Dimension von Anthropologie und Geschichte bei Oskar Negt und Alexander Kluge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

Winfried Siebers Weltkasten mit Digressionen. Spuren der Aufklärung in Oskar Negts und Alexander Kluges gemeinsamer Philosophie . . 201 Christian Schulte Cross-Mapping. Aspekte des Komischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Rainer Stollmann Vernunft ist ein Gefühl für Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

Kolumne rechts | 7

Vorwort

Im Oktober 2001 erschien von Oskar Negt und Alexander Kluge »Der unterschätzte Mensch«, zwei Bände Fortsetzung der Kritischen Theorie, anknüpfend dort, wo sie bei Adornos Tod 1969 aufhörte. Fortgesetzt werden darin aber nicht Stoffe oder Themen, auch nicht politische Positionen im engeren Sinn, sondern die Haltung. Wenn man sich einen Moment Adorno und Horkheimer vorstellte, wie sie, wären sie nicht beladen mit dem Schicksal der Vertreibung, im Kontakt mit der Protestbewegung Ende der Sechziger, grundsätzliche Annahmen noch einmal überdenken und neu formulieren, dann entstünde nicht das Kapitel über Kulturindustrie, sondern »Öffentlichkeit und Erfahrung«, und statt der Negativen Dialektik die »Maßverhältnisse des Politischen«. Das Vertrauen, das die Kritische Theorie ursprünglich gewonnen hat, ist darin erweitert um das Bedürfnis, sie auch in den Realitätsverhältnissen nach 1945 stärker zu verankern. Schon der Ausdruck »Frankfurter Schule« enthält eine Verengung. Kluge und Negt reden nicht in Diskursen, sondern zur Sache. Diese nichtakademische Unmittelbarkeit, in der die Tradition der großen Philosophie aufgehoben ist, ist das authentischste und faszinierendste Charakteristikum der Kritischen Theorie (Adorno: »Denken ist unwissenschaftlich«). Was Habermas als totalisierende Vernunftkritik Adornos beiseite legt, wird in »Geschichte und Eigensinn« ausbuchstabiert. Es ist die in Natur und Geschichte vorhandene Ökonomie aller Arbeitsvermögen, die an die Stelle dessen rückt, was in der Philosophie gewöhnlich Vernunft genannt wird. Die in diesem Band versammelten Aufsätze und Gespräche sind gerade nicht aus einer Schule, d.h. in Methoden, Begriffsapparaten und Theorieannahmen einig, und etwa dabei, ein neues Gelände zu besetzen. Vielmehr einigt die Wanderer oder Spaziergänger eine Liebe für dieses Gelände, aber sie kommen aus verschiedenen Himmelsrichtungen und schauen sich auf ihre eigene Art um. Christian Schulte und Rainer Stollmann

Gespräche

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Der Maulwurf kennt kein System. Oskar Negt im Gespräch mit Rainer Stollmann und Christian Schulte

Vom Eigenleben der Titel und Begriffe Stollmann: Du und Alexander Kluge, ihr habt etwa im Abstand von jeweils zehn Jahren drei Bücher zusammen geschrieben und sie 2001 unter dem Titel »Der unterschätzte Mensch« wieder herausgebracht. Gab es andere Titelvorschläge? Negt: Die Titelfrage war eine der schwierigsten, darüber haben wir oft telefoniert. »Philosophie zum Festpreis« sollte ein Titel sein, ich habe »Der überschätzte Mensch« vorgeschlagen, weil doch die Allmachtsphantasien der Menschen ein ungeheures Problem für die Zivilisationen sind, wie etwa Freuds Ausdruck vom Menschen als »Prothesengott« nahelegt. Ein Titel wie »Der Mensch als Prothesengott«, das ist aber irgendwie zu klotzig, zu gewaltig, so daß wir dann am Ende auf diese Idee gekommen sind, das war ein Vorschlag gemeinsam von Kluge und dem Verlagslektor von Zweitausendeins. »Der unterschätzte Mensch« betont die Unterseite der menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten, deutet also eine Art Programm an und hebt die optimistische Seite unseres gemeinsamen Denkens hervor: Es zeigt sich auch in historisch scheinbar verzweifelten Situationen, daß es doch Auswege gibt. Solche Titel können ja ein sonderbares Eigenleben entfalten, auch wenn sie nur bestimmte Gewichtungen und nicht eine Gesamttendenz der Arbeit bezeichnen, »Die Antiquiertheit des Menschen« von Günter Anders (vgl. Anders 1956), oder …

12 | Oskar Negt, Rainer Stollmann, Christian Schulte Stollmann: … das »Prinzip Hoffnung« (vgl. Bloch 1959). Negt: … Ja. Die Titel wandern durch die Köpfe der Menschen und wenn man sagt »Prinzip Verantwortung« von Hans Jonas,1 dann wird etwas immer wieder, oft zu ausschließlich, ins Zentrum gerückt und mit dem Autor identifiziert. Titel mit dem Wort »Mensch« sind immer etwas riskant, weil ein einziges Merkmal, ein geschichtliches Charaktermerkmal totalisiert wird. Stollmann: Es klingt sehr anthropologisch, d.h. fast überhistorisch oder ahistorisch. Negt: Es klingt auch vieles andere bei uns anthropologisch. Wenn man sagt, jeder Mensch braucht Unterhaltung, jeder Mensch muß sich ernähren, braucht die Produktion seines Lebenszusammenhangs, dann ist natürlich auch immer eine gattungsgeschichtliche Seite der Ausstattung und der Bedürfnisse des Menschen neben der historischen bezeichnet. Stollmann: Ein Titel wie »Der überschätzte Mensch« hätte eher an den ökologischen Diskurs angeknüpft. Negt: Ja, richtig. In »Geschichte und Eigensinn« suchen wir immer die verdeckte Seite, das was unter der Oberfläche wühlt, weshalb unser Lieblingstier eben der Maulwurf ist, der sous terre arbeitet, wie Hegel sagt. Da sind eben doch verdeckte, verschüttete, verdrehte Eigenschaften beim Menschen, die wir in unseren Schriften zurecht zu rücken versuchen, also Protestenergien, aber auch bestimmte Bedürfnisse, die haltbarer sind als Beton. Wenn man so ein Bedürfnis wie Freizügigkeit nimmt, das ist viel härter als gesellschaftliche Strukturen, Systeme, Diktaturen. Wenn ein solches Moment im Menschen nicht befriedigt wird, dann kann es wirklich Systeme zerbrechen wie 1989, als die DDR-Bevölkerung zunächst einmal nur frei reisen wollte. Diese geschichtlich-anthropologischen Grundbedürfnisse, die zeitweise, auch für längere Zeiten in die Verdeckung gehen können, die haben wir eigentlich immer im Auge. Stollmann: 1972 in dem ersten Buch »Öffentlichkeit und Erfahrung« wäre eine solche Formulierung, eine solche anthropologische Perspektive nicht denkbar. 1 | Vgl. Jonas 1984. (Ein neuer Typ von Imperativ: »Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.«)

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Negt: Nein. Stollmann: Da heißt es im Untertitel »Proletarische Öffentlichkeit«. Das habt ihr für die Neuausgabe nicht geändert. Habt ihr das erwogen? Negt: Darüber hat es Diskussionen gegeben, aber wir haben diesen Begriff »proletarisch« immer im Sinne unterdrückter und enteigneter Eigenschaften verstanden und nie im engen Zusammenhang der Klassentheorie. Wir benutzen »das Proletariat« nicht als Substanzbegriff, sondern wir verwenden Eigenschaftsbestimmungen und Eigenschaftsbegriffe. Insofern ist für uns »Enteignung«, oder, was dasselbe ist, »Permanenz ursprünglicher Akkumulation«, auf einzelne oder mehrere menschliche Eigenschaften bezogen, nicht auf ganze Menschen. Bestimmte erworbene, auch Kollektiveigenschaften sind durch Enteignung bedroht, können der Unterdrückung und Abkopplung anheim fallen, das ist für uns ein Signum von Proletarisierung. Das erzeugt eigene Widerstandspotentiale aus sich heraus. Insofern ist jedes Moment von Unterdrückung und Enteignung mit einer Art Protestenergie verknüpft und das nennen wir »proletarisch«. Stollmann: Hättest Du es als opportunistisch empfunden, diesen Begriff zu vermeiden? Negt: Ja, ich hätte da ein ganz übles Gefühl eines Konvertiten gehabt, der jetzt anfängt die Begriffe zu sortieren, nach dem was so gang und gäbe ist und was nicht mehr erlaubt ist. Kluge und ich, wir denken immer auch ein bißchen gegen die wechselnden Zeitströmungen. Manches erledigt sich durch Abwarten. Mir scheint, daß so die Postmoderne dazugehört. Nach einer bestimmten Zeit werden die Maßverhältnisse wieder zurecht gerückt sein. Schulte: Gibt es für Euch keine Anschlußstellen in der Postmoderne und ihren verschiedenen Diskursen? Negt: Bei Kluge mehr als bei mir. Wir haben Derrida und einige der postmodernen Denker wahrgenommen und auch einiges davon verarbeitet im Sinne unserer Kritik eines verengten Modernitätsbegriffs, in dem Modernisierungsprozesse so gesehen werden, als wären sie geschichtlich eindeutige Entwicklungsmuster. Wir beziehen den Begriff der Modernisierung nicht auf irgendwelche technologischen Entwicklungen. Autonomie, Freiheitsfähigkeit, Rückwendung zu Kant, Ausgang aus selbstverschuldeter und aus unverschuldeter Unmündigkeit, das ist eng verbunden mit der Kritik an der Moderne, soweit sie auf einer Logik von Verabschiedungen beruht. Gegen

14 | Oskar Negt, Rainer Stollmann, Christian Schulte die Vorstellung, daß immer das Nachkommende, das Fortschreiten eine Entwertung des geschichtlich Vergangenen sein müsse – wie das Baudelaire und andere proklamieren –, dagegen läuft ja »Geschichte und Eigensinn« Sturm. Wir nehmen Bestände höchst ungleichzeitiger Art wieder auf. Insofern ist es sehr merkwürdig, daß zum Beispiel Habermas gesagt hat, als er unser Buch sah, das sei ein surrealistisches und postmodernes Gebilde. Schulte: »Geschichte und Eigensinn«? Negt: Ja, in einem Gespräch auf einem Hegel-Kongreß, als gerade das Buch heraus war, da sagte er, ein schönes, surrealistisches, man kann sogar sagen, irgendwie postmodernes Gebilde ist das. Ihr zerhackt die Texte, das ist Dekonstruktion, die Derrida´sche Dekonstruktion der Texte. Wir nehmen ja in der Tat nicht nur geschlossene Texte, sondern kombinieren sie ganz anders. Für manche Historiker, die uns politisch nahe stehen, war »Geschichte und Eigensinn«, als es 1981 erschien, im Unterschied zu der freundlichkritischen Beurteilung durch Habermas, ein Horrorgebilde. Wir haben uns da Verachtung zugezogen, das hat zu Brüchen geführt, es gab in Einzelfällen nicht das geringste Verständnis für diese Form des Umgangs mit der Geschichte, bis heute nicht. Stollmann: Ihr nennt »Geschichte und Eigensinn« ein philosophisches Buch. Andererseits hat Marx die Philosophie verabschiedet. Liegen solche Schwierigkeiten, wie Du sie gerade benennst, darin, daß es sich dabei weder um Wissenschaft noch um Philosophie handelt, sondern daß man eigentlich nur freies Denken dazu sagen kann? Negt: Philosophieren sollte man dazu sagen. Wir nehmen bewußt den Begriff des Philosophierens im sokratischen Duktus auf, Philosophieren als Umgang mit Vorurteilen in den Köpfen der Menschen mit der Absicht der Überwindung dieser Vorurteile. Philosophie in diesem ursprünglichen Sinn versucht, die Menschen zu bilden in Richtung darauf, daß sie gute Staatsbürger werden. In der Apologie von Plato ist das sehr deutlich. Sokrates verteidigt sich da und sagt, ich mache doch nur Untersuchungen. Ich untersuche, ich verführe nicht die Menschen, ich rede ihnen nicht etwas ein, sondern überprüfe den Wahrheitsgehalt dessen, was sie denken und wie sie leben. Die Richter sollen sich bloß nicht einbilden, daß ich, wenn ich im Hades bin, das unterlassen würde. Philosophieren in dieser Wendung, als bohrendes Denken, das ist für uns ein authentischer Begriff, das ist Nachdenken unabhängig von Schulbildungen. Es richtet sich gegen Schulen und Schulbildung, auch gegen die

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Frankfurter Schule als Schule. Insofern ist das eine Linie der Weiterentwicklung der Frankfurter Schule, in der gerade das, was als philosophisches Lernen im ursprünglichen Frankfurter Denken steckt, weitergetragen und auf andere Gegenstände angewendet wird. Ich betrachte mich selbstverständlich als ein Produkt dieser Frankfurter Schule, schon in meinem ersten Buch ist das Frankfurter Denken enthalten, aber auf einen ganz anderen Gegenstand bezogen. Das ist natürlich für die orthodoxen Frankfurter ein Sakrileg, das ist Nichtphilosophie, das nehmen die gar nicht zur Kenntnis. Dagegen, d.h. gegen Beschränkungen, die durch Disziplinen, Schulbildungen, unreflektierte Tradition oder Imitation entstehen, rebelliert unser Denken mit dem Weltbegriff der Philosophie, wie es bei Kant heißt, der einen Weltbegriff der Philosophie vom Schulbegriff der Philosophie unterscheidet. Im Zusammenhang eines Schulbegriffs der Philosophie lernt man die Logik, da lernt man Texte oder auch Gedanken auswendig, betreibt Geschichte der Philosophie usw. Aber der Weltbegriff der Philosophie ist darauf gerichtet, immer neue Gegenstände der Auseinandersetzung zu suchen. Insofern bezeichnet der Titel unserer letzten Zusammenarbeit, der Fernsehdialoge, die unter der Überschrift »Suchbegriffe« im »Unterschätzten Menschen« abgedruckt sind, die Struktur unseres Denkens, das – sagen wir einmal – nicht auf die Wiederholung von philosophischen Texten gerichtet ist und schon gar nicht darauf, jetzt die Texte der Frankfurter Schule, die Texte Adornos hin und her zu wälzen. Obwohl wir beide, glaube ich, alles von ihm kennen, würde uns nie einfallen, ein Adorno-Buch zu schreiben. Ich habe vor, meine 24 Vorlesungen, die ich vor zwei, drei Jahren in Hannover gehalten habe – über den politischen Erfahrungsgehalt der Frankfurter Schule – irgendwie einmal herauszubringen, aufgeschrieben sind sie schon. Unser Denken ist entzündet durch Horkheimer und Adorno und wir nehmen vieles auf, was hier gedacht wurde, aber verstehen uns nicht als orthodoxe Schulanhänger, weil es ganz andere Gegenstände sind, mit denen wir uns beschäftigen. Adorno hat sich nicht mit Arbeiterbildung befaßt, das mußte er auch nicht, mit Bildung und Moderne hat er sich allerdings sehr intensiv beschäftigt. Stollmann: Das Fortleben der Frankfurter Schule hat man ja manchmal oft nur an dem Duktus des Schreibens, am Stil gespürt… Negt: … Sprachgestus, Argumentationsgestus, ja. Stollmann: Den Ihr ja nun gar nicht übernommen habt. Hat dieser Gestus nicht auch stark mit der Zeit zu tun? Horkheimer und Adorno sitzen ziemlich alleine als Exilanten in den USA und kämpfen gewissermaßen geistig

16 | Oskar Negt, Rainer Stollmann, Christian Schulte gegen den Rest der Welt, gegen amerikanische Kulturindustrie, gegen Hollywood, gegen den Faschismus natürlich, und den Stalinismus. Dadurch entsteht meinem Gefühl nach eine Sprache, die einen Gestus, sagen wir: der Unbedingtheit hat… Negt: … auch etwas Hermetisches … Stollmann: … das einem, der in der Bundesrepublik lebt und nicht vom Faschismus vertrieben wurde, eigentlich auch gar nicht zusteht. Negt: Ja, das ist absolut richtig. Kluge und ich gehören zu einer verschonten Generation. Wir sind zwar noch im Krieg geboren und haben ein bißchen was erlebt, ich habe zwei Fluchten durchgemacht, aber gemessen an der Generation, die nur zehn Jahre älter war, von denen 90 Prozent auf den Schlachtfeldern geblieben sind, ist das belanglos. Auch die Nachkriegszeit, das war karg, wie wir lebten, aber wir lebten in einer doch von Ängsten größeren Ausmaßes, Existenzängsten, Kriegsängsten befreiten Zeit, und insofern konnten wir uns auch öffnen. Den Hintergrund für diese Öffnung hat natürlich die Protestbewegung geschaffen. Das gilt für Kluge, was die Filmpolitik anbetrifft, das sind ja Kleinorganisationen, der Neue Deutsche Film, das ist keine große Bewegung, sondern das sind vier, fünf Leute gewesen, die das initiiert haben. Ähnlich war es mit der Konzeption einer völlig veränderten Bildungsarbeit in den Gewerkschaften, das sind zunächst zwei, drei Leute gewesen. Ich habe in Oberursel die DGB-Schule in Stellvertretung als Student geleitet, ich bin aufgefordert worden vom Leiter der DGB-Bundesschule, als Assistent zu arbeiten für 250 Mark im Monat und freie Kost. Ich muß sagen, ich habe viel Glück gehabt in meinem Leben – darüber können wir vielleicht auch noch reden.

Geglückte Anfänge Stollmann: Wie kam es zu einer solchen Aufforderung? Negt: Ich lebte von einem Stipendium von 145 Mark, vom sog. Lastenausgleich. Der Leiter der Schule reiste im Auftrag des DGB durch den afrikanischen Kontinent, um dort bei der Organisation von Gewerkschaften zu helfen, so daß ich faktisch die DGB-Schule in Oberursel leitete. Hans Matthöfer,2 später mehrfach Bundesminister, weilte in der Zeit in den USA, um 2 | Matthöfer, Hans Hermann, *25. September 1925 in Bochum, seit 1950

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(ich glaube im Auftrag Otto Brenners3) Rationalisierungsprojekte zu studieren und Kontakt zur Dachorganisation der amerikanischen Gewerkschaften AFL/CIO4 zu halten. Als er zurückkam und einen Lehrgang für Betriebsräte in Oberursel besuchte, fragte er mich, da er jetzt eine Bildungsabteilung der IG Metall aufbauen sollte, ob ich sein Assistent werden wolle. Daß ich noch kein Examen hätte, sei kein Problem. Die sogenannte Bildungsabteilung bestand damals aus einer Sekretärin, Matthöfer und Rudolf Müller,5 der für Bildungsmaterialien zuständig war, die eineinhalb Räume zur Verfügung hatten. Naja, dachte ich, das ist ein kleiner Anfang. Ich fing also an, über Bildung nachzudenken und schreibe dann in den nächsten zwei, drei Jahren an diesem Buch (vgl. Negt 1968) und will eigentlich Lehrer werden in einer Gewerkschaftsschule. Matthöfer stellt mich dann eines Tages dem stellvertretenden IG-Metall-Vorsitzenden Alois Wöhrle vor und sagt, hier ist ein Kollege, der ist dabei das Studium abzuschließen, ein Soziologe, der will in Lohr, der Gewerkschaftsschule der IG-Metall, Lehrer werden. Da ist zunächst einmal alles still. Dann sagt Alois Wöhrle: Aber Hans, Soziologen brauchen wir nicht in der Gewerkschaft. Wir beide waren ein bißchen verdutzt und gingen raus. Matthöfer sagt, Wöhrle hat das nicht so gemeint, also das wollen wir mal sehen. Für mich war aber klar, der hat das genau so gemeint, wie er es gesagt hat, hier werde ich nichts, jedenfalls nicht, so lange der verantwortlich ist für die Bildungsarbeit. Zwei Monate später, nachdem ich das Diplom in Soziologie gemacht habe, kommt Habermas auf mich zu, der mich praktisch nicht kannte, sondern nur durch ein Marx-Referat auf mich aufmerksam geworden war, das er im Auftrag Adornos etwas korrigierte, und sagte, wollen Sie nicht Assistent werden bei mir? Nun waren wir damals alle ein bißchen größenwahnsinnig und ich antworte: Herr Habermas, ich finde das sehr ordentlich, daß Sie mir das anbieten, aber ich brauche vier Wochen Bedenkzeit. Nach vier

Mitglied der SPD, bis 1957 im Vorstand der IG-Metall, 1978 bis 1982 Bundesminister der Finanzen. 3 | Otto Brenner (08.11.1907 – 15.04.1972), 1945 einer der »Männer der ersten Stunde«. Mitbegründer der SPD und der Gewerkschaft 4 | AFL/CIO (American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations), Dachverband autonomer Gewerkschaften in den USA, gebildet im Dezember 1955 durch den Zusammenschluss der American Federation of Labor (gegründet im Dezember 1886 in Columbus Ohio) und dem Congress of Industrial Organizations (gegründet 1935 unter der Führung von John L. Lewis). 5 | Rudolf Müller, 1962-1996 Angestellter des IG Metall-Hauptvorstandes in Frankfurt.

18 | Oskar Negt, Rainer Stollmann, Christian Schulte Wochen kam er wieder, er hatte tatsächlich gewartet, dann bin ich zu ihm nach Heidelberg gegangen. Ich hatte im Februar das Diplom gemacht in Soziologie und war durch die Volkswirtschaftsprüfung gefallen, die ich also nachholen mußte. Habermas hatte Friedeburg6 informiert als Beisitzer, er solle, wenn Negt jetzt das zweite Mal durchfallen sollte, Otto Veit,7 dem Prüfer, sagen, Negt sei schon Assistent, und ob er das nicht mit berücksichtigen könne. Naja – ich will das abkürzen. Stollmann: Bist Du denn wieder durchgefallen? Negt: Nein, aber beinahe. Dieser gemeine Kerl, der Otto Veit, hatte mich bei der ersten Prüfung gefragt: womit haben Sie sich befaßt? Ich antworte, Grenznutzenlehre und noch so einiges andere, vor allem Gossensche Gesetze. Da sagt der, dann wissen Sie darüber ja Bescheid und fragt ein ganz anderes Gebiet ab. Das war eine richtige Gemeinheit. Das zweite Mal habe ich ihn übertölpelt, er hatte nämlich ein großes Buch über Währungspolitik geschrieben und war sehr stolz darauf. Ich dachte, es wäre von Vorteil, wenn ich mir das wirklich gründlich aneigne. Er stellt wieder diese Frage, womit ich mich beschäftigt habe, aber ich antworte: Ich habe mich nicht spezialisiert. Er: Dann wissen Sie ja alles. Nein, sage ich, das will ich nicht sagen. Und dann prüft er mich über sein Buch. Stollmann: Mußtest du als Assistent nicht promoviert sein? Negt: Nun, also das ist dann aber die letzte Anekdote aus meinem akademischen Leben. Habermas hat mit Adorno über meine Diplomarbeit gesprochen, sie sehr gelobt und angedeutet, daß er mich in Heidelberg promovieren wollte. Adorno wurde jetzt ein bißchen eifersüchtig, daß Habermas mich da entführen wollte, setzte sich hin und hat an einem Tag meine Diplomarbeit annotiert. Seine Sekretärin hat das dechiffriert, weil keiner Adornos Handschrift lesen konnte, und mir mit Verbesserungsvorschlägen zugeschickt. Ich bin dann innerhalb von zwei Monaten mit dieser Diplomarbeit promoviert worden bei Adorno. Da kann man nur sagen, das sind glückliche Konstellationen. 6 | Ludwig von Friedeburg, Sohn des Admirals von Friedeburg, der 1945 für die Marine die Kapitulation unterschrieben hatte und dann Selbstmord beging. Ludwig leitete über viele Jahre die empirischen Forschungsprojekte des Instituts für Sozialforschung und stand bei Horkheimer in hohem Ansehen. 7 | Otto Veit, vor seiner Lehrtätigkeit an der Frankfurter Universität, Chef der Hessischen Landeszentralbank.

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Schulte: Das ist wahrscheinlich die schnellste Promotion nach 1945. Negt: Sehr schnell. Am 1. August, meinem 28. Geburtstag, als ich dann den Dienst antrat in Heidelberg, war ich schon promoviert, nur wenige Monate nach meiner wiederholten Prüfung in Volkswirtschaft. Schulte: Kanntest Du zu dieser Zeit Kluge schon? Negt: Nein, das war 1962. Kluge habe ich wahrgenommen im Hintergrund, wenn er zusammen mit Adorno zu Vorlesungen marschierte. Der erste Kontakt war tatsächlich 1968, im Juridicum, wo ich mein großes Kolloquium abhielt und noch einmal alle versammelt waren aus der Protestbewegung. Da kam auch Kluge, da kamen auch Rechtsgelehrte, es war für mich eine ganz neue Erfahrung, daß praktisch die Patrizier Frankfurts in meine Veranstaltungen kamen, vor allem die Ehefrauen und Töchter von bekannten Leuten. Stollmann: Kluges erstes literarisches Buch, die »Lebensläufe« waren aber schon erschienen. Negt: Ja, das hat aber auch erst durch die Protestbewegung einen Schub bekommen. Es sind kleine Verhältnisse gewesen, in denen wir vorher gearbeitet haben, auch die Seminare waren klein. In Frankfurt explodierte das ab 1967. 1965, als ich aus Heidelberg kam, waren 15 Leute in meinem Seminar, und dann 1967 waren es 800 Leute in einem Marx-Seminar. Stollmann: Wir haben jetzt mehrfach den Namen Habermas erwähnt. Gibt es Diskussionen unter Euch? Du hast gesagt, er hat sich kurz über »Geschichte und Eigensinn« geäußert, aber Ihr zitiert euch wenig. Negt: Also er zitiert mich noch weniger als ich ihn. Stollmann: Das kann man sagen. Negt: Es ist ein richtiges freundschaftliches Verhältnis, persönlich. Aber irgendwie sind die Denkrichtungen verschieden. Ich bin sehr lange Assistent bei ihm gewesen, von 1962 bis 1970, also acht Jahre, habe ich so an der Habilitationsschrift laboriert, über Fichte wollte ich schreiben, aber ich kriegte irgendwie keinen richtigen Ansatz und am Ende ist er sehr ungeduldig gewesen und wollte dann, egal was ich schreibe, ich sollte nur habilitiert werden. Habermas ist ein ungeheuer dialogischer Mensch. Wir haben in diesen acht Jahren vielleicht 150 Nächte durchdiskutiert und uns gestrit-

20 | Oskar Negt, Rainer Stollmann, Christian Schulte ten, eigentlich über alles, nicht nur über Marx und Hegel, Philosophie und Politik. Es ist ein sehr intensiver Dialog gewesen, an dessen Ende eigentlich immer stand, daß wir irgendwie unterschiedlich denken – aber auch nicht völlig verschieden, es gibt natürlich sehr viele Berührungspunkte.

Lernen und Politik Stollmann: Du weist in Deinem letzten Buch auf die gleiche Wurzel der Begriffe »Kritik« und »Krise« hin, beides kommt von krino, »scheiden«, »trennen«, »Ur-Teilungsvermögen« (vgl. Negt 2001: 119). Ist Kritik möglichst große Nähe zur wirklich krisenhaften Bewegung? Negt: Die eigentliche Kraft der Wende der Not, also die Notwendigkeit, liegt in den Mikrozellen der Verhältnisse. Die Bewegungsart ist bei uns nie eine der synthetischen Zwischenebene, da gibt es wenig oder nur Scheinbewegung, während diese mikrologische Analyse, so wie Foucault das schon beschreibt, diese Mikrophysik der Zeit und der Räume, darin steckt die eigentliche Bewegung, da sitzt die Verbindung von Kritik und Krise. Kritik besteht darin, die Sachen so zu wenden, daß die besseren Möglichkeiten öffentlich werden können. Deshalb ist Öffentlichkeit auch nicht zuerst eine Frage der institutionellen Verankerungen, sondern dort, wo wirklich Dynamik, Bewegung und Änderung zum Besseren vorhanden ist, ist das Bedürfnis nach Öffentlichkeit immer präsent. Praktisch kann man sagen, die menschliche Lebensweise erfordert so etwas wie ein Öffentlichmachen dessen, was im Privaten verkapselt ist, was in privaten Monaden eingeschlossen ist und dort, wo es sich wirklich entfaltet, nimmt es auch eine Öffentlichkeitsform an. Stollmann: Das zweite Moment der »Kritischen Theorie«, die ja den Begriff der Kritik im Namen führt, wäre doch die Beziehung zum Ganzen? Negt: Das ist richtig. Es gibt eigentlich in der »Kritischen Theorie« zwei Elemente, die sie von der traditionellen Theorie unterscheidet, so wie Horkheimer das in seinem großartigen Aufsatz sagt (Horkheimer 1936: 162-216) – wobei solche frühen Aufsätze häufig deutlicher machen, wo die Richtung einer theoretischen Entwicklung hingeht, als die späteren Analysen. Hier spielen in der »Kritischen Theorie« zwei Elemente eine Rolle, die wir beide, Kluge und ich, übernehmen; das eine ist in der Tat, die wirkliche Bewegung vollzieht sich im Ganzen und in der Mikrostruktur, die Mikrostrukturen und das Ganze sind aufeinander bezogen. Offizielle Politik ist eine synthetische Zwischenebene, in der bewegt sich am wenigsten, das

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meiste ist Scheinbewegung. Lernen, Erziehung, aber auch Zeitorganisation der Menschen, das sind die substantiellen Felder, in denen sich etwas bewegt. Wenn man die nicht erfaßt, dann begreift man eigentlich von diesem gesellschaftlichen Ganzen nichts. Die eine Blickrichtung geht also nach oben zum Ganzen, zur konkreten Totalität, würde Adorno sagen, und die zweite geht auf Veränderung. Der Begriff der »Kritischen Theorie« läßt sich überhaupt nicht trennen von dem Bewußtsein der Veränderbarkeit der Verhältnisse und der Notwendigkeit der Veränderung. Bei Adorno heißt es einmal, »wer nicht sieht, was über die Tatbestände hinaus geht, begreift auch die Tatbestände nicht.« Dieses utopische oder vorausgreifende Phantasieelement bestimmt auch die Form des Begreifens der Verhältnisse selbst. Diese beiden Elemente halte ich für unabdingbar für das, was »Kritische Theorie« ist: der Blick auf Veränderung, auf das Ganze – aber der eigentliche bohrende Eigensinn liegt in den Zellen. So ähnlich wie Marx mit dem Kapital anfängt, da sagt er, »das Kapital erscheint wie eine riesige Warensammlung«, ein riesiger Kolonialwarenladen ist die Gesellschaft und »die einzelne Ware ist ihre Zellenform.« Nun fragt er, was ist der Widerspruch in dieser Zellenform, also Gebrauchswert und Tauschwert. Und entwickelt praktisch aus dieser Zelle die Totalität der Gesellschaft. Daran halten wir uns methodisch. Stollmann: Und was bei Marx die Ware, ist in »Geschichte und Eigensinn« die einzelne Arbeitskraft? Aus Arbeitsvermögen kann man in Ergänzung zu Marx die Gesellschaft rekonstruieren? Negt: Ja, aber wie die Arbeitskraft sich zusammensetzt, das ist noch sehr komplex. Ich habe ja nun große Nähe zur Arbeiterbewegung und damit auch zum Arbeitsbegriff, ein ganzer Umkreis von Fragestellungen ist bei mir um Arbeit organisiert. Bei Kluge ist der Tätigkeitsbegriff stärker im Vordergrund, wenn man die »Lebensläufe« nimmt oder auch den Krieg in der »Schlachtbeschreibung«, wie geht ein General, wie geht ein Feldwebel vor, wie sehen die Tätigkeitsfelder aus, Tätigkeitsbeschreibungen sind das auch bei Kluge. Schulte: Im Widerstreit mit der Leideform gewissermaßen. Mit dem Modus, in dem die Geschichte den einzelnen trifft. Negt: Natürlich. Und auch zerstört, zerstückelt. Ich lese gerade zum zweiten Mal Tolstois »Krieg und Frieden«. Darin gibt es eine wunderbare Beschreibung der völlig auseinanderweisenden Tätigkeitsformen der Generale und der einfachen Soldaten. Tolstoi schildert die Schlacht bei Borodino.

22 | Oskar Negt, Rainer Stollmann, Christian Schulte Napoleons Planungen sind bis in die letzten Facetten klar, Befehle, alles durchdacht und zurechtgelegt – aber die Leute marschieren in eine ganz andere Richtung. Die Schlachtordnung hält sich überhaupt nicht an die Befehle, sondern organisiert sich anders. Auf der russischen Seite der General Kutusow ebenso, alles geplant und ausgedacht, aber die Truppenbewegungen verlaufen nach ganz anderen Maßstäben, nämlich nach den Maßen der Selbsterfahrung der einzelnen Truppenteile – auf wen stoßen wir, wo müssen wir ausweichen, wie müssen wir uns zurückziehen, müssen wir also einen schrägen Flankengriff machen oder direkt konfrontieren, wann nehmen wir eine Schlacht an? Das beschreibt Tolstoi ganz wunderbar im Klugeschen Sinne, diesen Parallelverlauf. Tolstoi räumt dann mit den Legenden der Führung auf, genauso wie Kluge im Stalingradbuch. Wenn in den Geschichtsbüchern steht: hätte Napoleon nicht Schnupfen gehabt am Tag der Schlacht bei Borodino, wäre sie ganz anders verlaufen, so entgegnet Tolstoi: das ist unsinnig, Napoleon hätte auch tot sein können und die Schlacht wäre genauso verlaufen. Ähnliches gibt es in vielen Kafka-Geschichten, in denen die Absurdität der materiellen Verwicklungen auftritt und viele Dinge sich so drehen, wie es keiner beabsichtigt hat. So eine Art von Ironie, auch das Zutrauen zu Poesie und Literatur ist ein wesentliches Element in unseren gemeinsamen Arbeiten. Das haben wir in gewisser Weise auch immer genossen, die Verhältnisse so zu drehen, daß sie Seiten zeigen, die gerade in den akademischen Zitatkartellen völlig fehlen. Schulte: Das scheint ein grundlegender Unterschied auch in der Denkform selbst zu sein. »Geschichte und Eigensinn« organisiert sich ja auch ganz anders, eben durch eine Vielzahl an Materialien aus den unterschiedlichsten Diskursen, Traditionen… Negt: Ja, und es liegt natürlich quer zu den Disziplinen. Schulte: Aber die Zitate sind niemals reiner Beleg, sondern der Gedanke organisiert sich selbst weiter im zitierten Material. Negt: Ja, das ist richtig. Schulte: Das hat auch eine dialogische Seite, man könnte fast sagen, die Materialien selber sprechen miteinander. Negt: Ja, das hat viel mit Selbstregulierung und vorgreifender Phantasie als Rohstoff des Denkens zu tun. Wir gehen davon aus, daß sich in den Köpfen der Menschen Phantasierohstoff bildet, der selber schon vororganisiert,

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nicht einfach diffus ist. Die authentische Produktionsweise der Erfahrung ist Phantasie. Schließt man die Assoziationskraft willkürlich aus, dann wird das eben ein recht enges, ängstliches, akademisches Denken. Die Akzeptanz dieses Rohstoffes in der Schule ist ein wichtiges Moment des Glocksee-Versuchs8, wo Kinder eben nach eigener Motivation den Inhalt des Unterrichts frei wählen dürfen. Damit haben wir erstaunliche Erfolge erzielt. Schulte: Das ist die stärkste Kritik des Lehrplans. Negt: Natürlich. Wenn die Phantasie-Areale der Kinder in einer Richtung und die Angebote der Lehrer in eine andere laufen, wird Lernen sehr schwer. Das kann man sogar in der Pisa-Studie nachlesen. Das ist nun so ein Teil der insgesamt nichtakademischen Zugangsweise zu dieser Welt, der wir uns auch als Schüler Adornos verschrieben haben. Wir fallen in der Tat aus den gängigen Zuschreibungen heraus. Bei Kluge ist das nicht so schlimm, weil er als Literat gilt. Aber ich falle durch alle Disziplinen hindurch, ich bin weder zu Hause bei der Psychologie, noch bei der Soziologie, noch bei der Philosophie. Das stört mich nicht besonders, weil es mir reicht, wenn ich eine gewisse öffentliche Resonanz habe. Aber für einen, der das nicht hätte, wäre das eine tödliche akademische Karriere, durch diese Disziplinen zu fallen. Mein China-Buch (Negt 1988) wäre doch für Sinologen, Historiker, Soziologen, Philosophen nützlich, aber keins dieser Departments habe ich sehr intensiv zitiert und so etwas fällt dann irgendwie durch die Raster. Schulte: Waren die beleidigt? Negt: Manche fanden das sehr interessant, wie ich das so entwickle, aber es fehlt ihnen natürlich an Gründlichkeit, ich bin ja kein Sinologe. Es ging mir um die Zugangsweise eines Soziologen zu einer fremden Kultur, so etwas wird doch immer dringender. Man muß doch nicht Arabisch lernen, um heute etwas Vernünftiges über den Islam zu wissen, es gibt viele gute Übersetzungen. Als Nichtsinologe setzt man sich auseinander mit einem Gegen8 | Ein vor ca. 30 Jahren entwickeltes Schulkonzept, welches sich an der antiautoritären Erziehung zur Selbständigkeit orientiert. Unter der Maxime des »befreiten Lernens« wird exemplarisch und projektorientiert gearbeitet. Es gibt an der Glockseeschule keine Schulklingeln und auch keine Unterrichtsfächer, sondern lediglich vier Fächerbereiche: Natur, Sprachen, Gesellschaft und Ästhetik. Die Kinder werden nicht beurteilt, sondern schreiben am Jahresende einen Bericht über ihre Aktivitäten.

24 | Oskar Negt, Rainer Stollmann, Christian Schulte stand, den die Fachleute imperial besetzt halten. Aber wenn da einer kommt, der diese Grenzen lockert, der wird als Eindringling betrachtet und entsprechend ausgegrenzt. Schulte: Das könnte die Spielregeln auch verändern. Negt: Und es könnte etwas Richtiges dran sein, daß die wichtigen Fragen auf den Grenzlinien der Disziplinen liegen und nicht in den Disziplinen, das behaupten doch nicht nur wir, sondern viele Leute. Stollmann: Du schreibst ja durchaus gelegentlich polemisch, aber Kluge eigentlich nicht. Negt: Er hält Polemiken für nutzlos und für unwirksam, glaube ich. Stollmann: Aber zum Beispiel Habermas hat den Historiker-Streit gewonnen, kann man sagen. Ohne seine öffentliche Streitbarkeit wäre Nolte9, der dem Dritten Reich eine Art Putativ-Notwehr gegenüber der Sowjetunion attestiert hat, als Berater Kohls ins Kanzleramt eingezogen und hätte die deutsche Außenpolitik beeinflussen können. Negt: So ist es. Aber zwischen Kluge und mir gibt es eben solche Unterschiede. Ich bin groß geworden in einem sozialdemokratischen Kleinbauernhaushalt, daraus ergeben sich gewisse Neigungen. Zum Beispiel meine häufig gar nicht mehr verständliche Loyalität gegenüber den Gewerkschaften, der Bundeskanzler versteht die zum Beispiel nicht. Aber das versteht auch Kluge nicht. Nun muß er das auch nicht. Ich sage, gut, es gibt immer Krisensituationen in solchen Großorganisationen, aber man stelle sich einmal eine kapitalistische Welt ohne Gewerkschaften vor, dann wird man erst sehen, was auch die bürokratischen Organisationen noch bedeuten als faktische Organisationen eines möglichen Widerstandes. Auch habe ich, nach der politischen Sozialisation im SDS die politische Taktik, Querabsprachen, Fäden ziehen usw. genießen können. Das ist Kluge fremd. Ich glaube, das liegt an verschiedenen Erfahrungszusammenhängen. Kluges Durchsetzungskapazität zielt auf einen anderen Bereich. Die Eroberung 9 | Vgl. Nolte 1987. Nolte hatte in der Vernichtung der europäischen Juden die verzerrte Kopie des Stalinschen Gulag gesehen. Den kommunistischen Verbrechen kam nach dieser Deutung nicht nur ein zeitliches prius zu; es gab vielmehr einen »kausalen Nexus« zwischen Klassen- und Rassenmord. Folgte man Nolte, dann war Hitlers »asiatische Tat« aus einem Gefühl existentieller Bedrohung erwachsen – ein Fall von Putativnotwehr also.

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dieses Fenster-Fernsehens auf den Privatkanälen – er hat ja wirklich als einziger Autoren-Filmer Rastplätze der Reflektion erobert – das halte ich für einen ungeheuren politischen Erfolg, hätte mich aber selbst dafür nicht stark machen können. Insofern ist er Politiker auf einer anderen Ebene und da sehr erfolgreich, viel erfolgreicher als ich, denn der Einfluß auf bestimmte gewerkschaftliche und politische Linien ist viel weniger greifbar. Er würde das als Politik im Sinne des bewußten, strategisch kalkulierten Veränderungspotentials der Gesellschaft sehen – und mit Recht. Stollmann: (lachend): Dafür hast du Einfluß auf den Bundeskanzler. Negt: Also … den hätte ich gerne. Schulte: Bist Du noch sein Berater? Negt: Wir sehen uns ziemlich regelmäßig. Ich wiederhole dann immer etwas Ähnliches mit neuen Worten, er ist ein guter Zuhörer, aber ich glaube, daß er auch gut weghören kann. Die ganze Frage der Arbeits- und Erwerbsgesellschaft wird von dieser Koalition sträflich vernachlässigt, man beschränkt sich nur auf ökonomische Wetterlagen, auf das, was bei der nächsten Wahl entscheidend sein kann. Das ist zum Beispiel ein stark kontroverser Punkt zwischen Schröder und mir bei diesen Treffen mit Dichtern und Schriftstellern. Stollmann: Aber man hat nicht den Eindruck, daß der Bundeskanzler solche Treffen nur aus Public-Relation-Gründen veranstaltet. Negt: Macht er nicht, nein, es ist auch keine Presse da, wir sind ja bei diesen Treffen eigentlich… Stollmann: Nun kann man schon darüber lesen, im »Spiegel« z.B. Negt: Ja, aber man könnte aus PR-Gründen viel mehr daraus machen. Wenn wir uns da im Bundeskanzleramt treffen, gibt es eine Belagerung von 20 Fernsehteams. Das ist ein ungeheurer Druck, unter dem die Politiker stehen, es ist eine unglaubliche Konzentration von Presse und Agenturen. Aber wir treffen uns in unregelmäßigen Abständen auch im privaten Kreise – da sind keine Medien dabei.

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Was ist »Produktionsöffentlichkeit«? Stollmann: In »Geschichte und Eigensinn« heißt es, die Kulturindustrie sei die handwerkliche Phase der Bewußtseinsindustrie, die Bewußtseinsindustrie ist dann sozusagen die kapitalistische Phase. Den Begriff Produktionsöffentlichkeit versteht man zunächst so, daß von großindustriell organisierter Produktion, also in erster Linie von Medienkonzernen Öffentlichkeit produziert wird. Ihr sprecht aber in »Geschichte und Eigensinn« dann auch von der »Produktionsöffentlichkeit Deutschland«. Negt: Der Begriff Produktionsöffentlichkeit ist in »Öffentlichkeit und Erfahrung« im engeren Sinne bezogen auf den Medienbereich. Beim Schreiben von »Geschichte und Eigensinn« haben wir bemerkt, daß das eigentlich ein viel zu eingeschränkter Begriff ist und daß er im Grunde die veröffentlichten Strukturen einer Gesellschaft umfaßt. Zum Beispiel im Dritten Reich erfährt Öffentlichkeit so etwas wie einen Produktionsaufbruch, der in allen ihren Momenten, nicht nur der Kriegsproduktion, sondern auch der Familienstruktur etwas aufnimmt, was aus der klassischen bürgerlichen Öffentlichkeit als privat ausgegliedert war. Die klassische bürgerliche Öffentlichkeit, von der wir ausgegangen sind, enthält Elemente, die mit dem gesellschaftlichen Verkehr zu tun haben, mit Parlamenten, also dem, was im strengen Sinne nicht privat ist. Nicht einbezogen sind der Betrieb und die Privatverhältnisse. Die proletarische Öffentlichkeit ist gewissermaßen angelegt darauf, das Ganze der Gesellschaft zu umfassen, die Arbeitswelt und die privaten Bedürfnisse gleichermaßen. Deshalb glaubten wir, daß die proletarische Öffentlichkeit eigentlich die zentrale Kategorie einer sich emanzipierenden Gesellschaft ist. Und jetzt gibt es eine dritte Dimension von Gesamtöffentlichkeit, weder bürgerliche Öffentlichkeit noch proletarische Öffentlichkeit, aber es ist eine Öffentlichkeit. Die Produktionsöffentlichkeit des Dritten Reiches bezieht all das ein, was die bürgerliche Öffentlichkeit ausgeklammert hat. Die Familie ist praktisch im Dritten Reich so etwas wie eine öffentliche Institution, eine öffentliche Aufgabe, es werden z.B. Mutterkreuze für eine bestimmte Anzahl von Kindern verliehen, praktisch dringen hoheitliche Befugnisse in das Private ein. Der Betriebsführer hat eine Stellung in der Hierarchie, und es wird alles, was von uns unter Emanzipationsgesichtspunkten als proletarische Öffentlichkeit begriffen wurde, in diese Produktionsöffentlichkeit des Dritten Reichs einbezogen. Insofern sind es eigentlich drei Öffentlichkeitsbegriffe, die wir haben. Aufgegangen ist uns das bei der Darstellung der politischen Ökonomie der Arbeitskraft. Bezogen auf die Gegenwart, kann man durchaus sagen, daß

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heute der Begriff der Produktionsöffentlichkeit dann Realität gewinnen würde, wenn zum Beispiel solche Leute wie Berlusconi, Murdoch oder Kirch – das wußten wir ja 1980 noch nicht, daß das Kirch-Imperium zusammenbricht – über die partikulare Produktionsöffentlichkeit Medien die übrigen gesellschaftlichen Teile sich aneignen – was ja nicht völlig auszuschließen ist. »Produktionsöffentlichkeit« ist für uns ein nicht emanzipatorischer Begriff von Öffentlichkeit, unterschieden von proletarischer und gleichzeitig bürgerlicher Öffentlichkeit. Darin steckt eine Tendenz, die sich im Faschismus, aber heute auch mitten in der Demokratie immer deutlicher bemerkbar macht. Stollmann: In dem Buch der kanadischen Journalistin Naomi Klein, »No Logo« (vgl. Klein 2002) wird etwas Ähnliches untersucht, nämlich die Macht der Marken. Da ist von Markenkultur oder Markenöffentlichkeit die Rede. Große Markenkonzerne wie Nike verkaufen eigentlich keine Gebrauchswerte mehr, sondern etwas Spirituelles, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Imagewelt, die auf der Konsumebene Identitätsbewußtsein vermarktet. Der Kapitalismus beginnt sich auch dort, wo er ursprünglich einfache Gebrauchswerte wie Turnschuhe, Zigaretten oder Kleidung herstellte, von der dinglichen Produktion zu trennen, quasi zu vergeistigen. Nike produziert keine Turnschuhe mehr, sondern kauft Kontingente aus der Dritten Welt, wo sie am billigsten sind und klebt denen bloß noch das eigene Markenzeichen an. Negt: Ja, ja, sehr interessant. Ein großer Teil der Tätigkeit von Kirch bestand in etwas Ähnlichem, eben nicht in der Eigenproduktion, sondern im Handel mit Rechten. Das ist sicher, könnte man sagen, »ein weites Feld«, aber es hat substantiell mit dem Koordinatensystem dieser drei Öffentlichkeiten zu tun.

»Ungeborene« statt »verspätete« Nation. Europa Schulte: Bei Plessner gibt es den später vielzitierten Begriff der »verspäteten Nation« (vgl. Plessner 1988). Gegenüber den andern westlichen Nationen, meint Plessner, sei Deutschlands Nationenbildung später oder zu spät erfolgt. Ihr sagt aber dagegen, präziser sei der Begriff der »ungeborenen Nation«. Negt: Verspätete Nationenbildung, nun ja, das ist eigentlich ein zu fader Begriff. Was 1870/71 entstanden ist, die Reichsgründung, ist im genauen

28 | Oskar Negt, Rainer Stollmann, Christian Schulte Sinne keine Nationenbildung, sondern ein verfassungsrechtlicher Konstitutionsakt, Subsumierung von föderativen Strukturen unter eine Zentralgewalt. Was Herder als eine föderative Struktur bezeichnet, ist geblieben und hat auch in Deutschland einen ganz eigenen Charakter behalten. Wir nehmen dieses Plessner-Wort von der verspäteten Nation zum Anlaß darüber nachzudenken, daß jedes Land einen eigenen konstitutiven Prozeß der Nationenbildung hat. Und der ist in Deutschland einfach anders gelaufen, nicht verspätet, sondern anders als in Frankreich und in England, das kann man nicht nur am 19. Jahrhundert messen. Schulte: Ein Akzent liegt darauf, daß der einzelne keine Erfahrung mit dem Begriff der Nation, mit dem Land als Ganzem verbindet, daß es eigentlich ein Fremdheitsverhältnis ist. Negt: So ist es. Es wäre uns im 20. Jahrhundert viel erspart geblieben, wenn es die Nationenbildungen auf der Ebene der föderativen Länder gegeben hätte. Möglicherweise wären Kleinkriege, etwa zwischen Preußen und Bayern entstanden, aber was Pufendorf »Monstrosität« (vgl. Pufendorf 1667) nannte, dieses Monstrum in Mitteleuropa unter einen Zentralstaat zu subsumieren, das hat etwas ungeheuer Gewalttätiges an sich gehabt. Die großen Intellektuellen wie Goethe oder Herder haben es doch nie für möglich gehalten, daß daraus etwas anderes werden kann als eine durch Sprache, Literatur und Philosophie geprägte Kulturnation. Was Herder als Kulturnation bezeichnet, ist der spezifische Konstitutionalisierungsprozeß in Deutschland. Man könnte das nie auf Frankreich oder England in der gleichen Weise beziehen, der Kulturbegriff selber ist konstitutiv für das, was in Deutschland Nation ist, gewesen ist. Stollmann: Und das nehmt Ihr ernst? Kulturnation ist nicht nur ein Mangel an Politik? Negt: Nein. Das ist ein spezifischer Prozeß, auch ein Emanzipationsprozeß, der nicht am Maßstab des Einholens oder Überholens zu messen ist. Durchgängig ist in »Geschichte und Eigensinn« der Versuch, zu zeigen, daß die ursprüngliche Akkumulation, die Permanenz der ursprünglichen Akkumulation in Deutschland ganz anders läuft und deshalb auch eine ganz andere Gesellschaft entstanden ist als in Frankreich und England. Schulte: Das ist ein Abrücken von der schematischen Marx-Nachfolge, als ob man in Frankreich nur die Politik, in England die Ökonomie und in Deutschland die Kultur oder Philosophie studieren müsse. »Niemals ist es die Negation der Negation, sondern eine ganz andere Position, die in

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emanzipatorische Positivität umschlägt«, heißt es in »Geschichte und Eigensinn« einmal. Negt: Wir sprechen lieber von geschichtlichen Gravitationsverhältnissen, die wie Dinge aufeinander stoßen. Diese Gravitationsverhältnisse kann man sehr gut an der deutschen Geschichte studieren, in der fast nie durch bloße Negation die Wirkung eintritt, die man beabsichtigt, sondern gravitative Beugungen und Abweichungen die wirklichen Prozesse besser beschreiben als diese mechanische Metapher, diese klappernde Dialektik. Schulte: Entsprechend sagt Ihr im Hinblick auf Eure Methode, »die Methode liest gleichsam durch Nachahmung aus der Wirklichkeit«, verhält sich also in hohem Grade mimetisch. Wenn man das jetzt auf den 11. September anwenden würde, was würde das bedeuten? Wie sehen da die Gravitationsverhältnisse aus? Negt: Das Selbstverständnis des mächtigsten Gesellschaftssystems wurde an einem Punkt getroffen, der zwar in tausenden von Bildern vorher schon oft imaginiert wurde, aber jetzt durch Realität eingeholt wird, so daß auch so etwas wie Schuldgefühle entstehen bei den Menschen. Sie haben das eigentlich immer irgendwie für möglich gehalten, geträumt. Und jetzt bestätigt die Realität einen solchen Eingriff in ihre Identitätsmuster auf einer Ebene, die ja äußerst primitiv ist. Die Waffen sind keine Atombomben, keine entwickelten Waffen, das sind Messer. Zweitens hat die daran sich anknüpfende Terrorismusverfolgung eine Dimension, in der der Clausewitzsche Begriff des Krieges10 in Frage gestellt ist, wenn man den Kriegsgegner erst suchen muß. So etwas hat es in den Nato-Definitionen natürlich nie gegeben, daß man den Kriegsgegner polizeilich suchen muß. Das führt zu den Schwierigkeiten, die wir heute haben – wer ist eigentlich der Gegner? Es führt auch dazu, daß Techniken der Privatisierung des Krieges immer größere Bedeutung annehmen. Irgendeine anonyme Organisation maßt sich an, gleichsam für das Elend der Welt repräsentativ, sich und viele andere zu opfern und dem Öffentlichen Ausdruck zu verschaffen. Es bringt uns in die Verlegenheit, bei jedem Flugzeugabsturz ein Attentat zu vermu10 | Nach Clausewitz (vgl. Clausewitz 1973), der nach wie vor an allen Militärschulen der Welt klassische Pflichtlektüre ist, ist der Krieg »ein erweiterter Zweikampf«, in dem es darauf ankommt, dem Gegner »den Willen« zu brechen. Die »Politik« muß bei der Kriegsführung Priorität haben, dh. vor allem, man muß einen künftigen Friedensschluß anvisieren. Im sog. »asymmetrischen Krieg« seit dem 11.9. 2001 fehlen sowohl Gegner, Kriegsziel und Möglichkeit von Friedensschluß.

30 | Oskar Negt, Rainer Stollmann, Christian Schulte ten. Es ist eine auf paranoide Strukturen gestützte Klimaveränderung. Darin sehe ich die große Gefahr und die Wirkung dieses Attentats, es wird so etwas wie ein Klima des Mißtrauens unter den Menschen erzeugt. Wenn man jetzt diese drei Öffentlichkeitsformen nimmt, ist das möglicherweise eine gravierende Veränderung in dem, was Produktionsöffentlichkeit heute sein kann. Der Raketenschirm, den Bush jetzt wieder propagiert, schützt ja vor den Globalwaffen und vor den großen Waffen, sonst vor überhaupt nichts. Ich glaube, jetzt könnte eine Phase beginnen, in der die Tatsache, daß man mit relativ kleinen Mitteln eine gewaltige Öffentlichkeit herstellen kann, große Folgen hat, gerade weil das imperiale System der USA so mächtig erscheint. Ganz wie Habermas das fordert, ist es eigentlich nötig, daß sich so etwas wie eine europäische Sicherheitsantwort herausbildet, eine europäische Position, was Globalisierung, auch Sozialrechte betrifft. Die Bundesregierung versucht das ja im Ansatz. Der amerikanische Weg des Abbaus des Sozialstaates, soweit er vorhanden war, ist nicht kopierbar und nicht durchsetzbar in Europa. Man sieht das in Italien, diese gewaltige Streikbewegung (2002-2003) zeigt, so einfach geht das nicht mit Gesetzesveränderungen. In Deutschland wird das nicht anders sein, in Frankreich auch nicht. Aber bisher redet Europa mit fünf, sechs verschiedene Stimmen. Wir haben es noch mit den Nationen zu tun, und es sieht so aus, als ob lediglich der Euro, die abstrakteste Ebene, das kälteste Medium, funktioniert. Sobald eben die Nähe-Verhältnisse zunehmen, die kulturellen Differenzen sichtbar werden, dann macht England in einer zweiseitigen Kooperation mit den Vereinigten Staaten eine ganz eigene Politik. Das wäre so ein wichtiges politisches Projekt, ich denke darüber im Zusammenhang eines neuen Buches nach.

Ist systematisches Denken ängstlich? Stollmann: Wir haben eben über Phantasie und Denken, über das Einsperren des Denkens in Disziplinen, also über seine Disziplinierung gesprochen. In euren Büchern, in »Maßverhältnisse des Politischen«, auch in »Geschichte und Eigensinn« gibt es Kapitel über das Denken und dessen materielle Bedürfnisgrundlage. Descartes’ Satz »Ich denke, also bin ich«11

11 | Descartes 1641. (Wenn ich zweifle, so kann ich nicht daran zweifeln, daß ich zweifle, d.h. ich denke, ich bin bewußt. Der erste unbezweifelbare Satz heißt also: ich bin bewußt »cogito«. Ich darf daraus schließen, daß ich, der ich ein Bewußtsein habe, eine denkende Substanz »res cogitans« bin – also: ich BIN. So heißt der

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gilt allgemein als revolutionäre Befreiung des abendländischen Denkens, des Denkens als Zweifel an der Welt. Er hat aber diese Eingebung, während er sich in einen warmen bayrischen Backofen verkriecht, und draußen tobt der 30jährige Krieg (vgl. dazu Grünbein 2003). Rabelais, der nur 50 Jahre früher, in einer glücklicheren Zeit schreibt, hätte einen solchen Satz nie gesagt, sondern sich darüber lustig gemacht.12 Rabelais ist vergessen, unverstanden, Descartes gilt als Vater der westlichen Philosophie. Ist dem avancierten westlichen Denken vom Ursprung her Angst beigemischt? Negt: Naja, … Not macht erfinderisch, heißt es ja auch. Nietzsche meint, daß der Mensch, wenn er nicht in dieser Endlichkeit und Not und in dieser anthropologischen Eingespanntheit und Reduziertheit existierte, von sich aus die Lust am Denken nicht entwickeln würde. Ich glaube, daß da etwas Richtiges dran ist. Aber ich halte es für möglich, daß Denken als Herstellen von Zusammenhang in den Maßen kultureller Geschütztheit sich zu einem Bedürfnis entwickelt, das lustbetont ist. Wie soll ich das sagen? Descartes’ Wendung ist, abgesehen von den Turbulenzen im 30jährigen Krieg, auch eine Reaktion auf den Verankerungsverlust der Weltorientierung – terra non est in centro mundi, heißt es bei Kopernikus. Wenn man jetzt die Kriegsbesessenheit dieser Zeit nimmt, wo eigentlich alle Verhältnisse umgestoßen werden und dieser methodische Zweifel von Descartes sich allmählich als etwas durchsetzt, das auch auf Existenzbeweise geht, dann kann man doch verstehen, daß der alte zerstörte Kosmos eigentlich nur aufgebaut werden kann, wenn man von unten wieder neu anfängt, das heißt, das Subjekt zum Zentrum des Neuaufbaus des Kosmos macht. Der ganze deutsche Idealismus besteht eigentlich darin, daß alles, was es in der Welt gibt, noch einmal durch das Subjekt muß, zum Existenzbeweis, daß es das gibt. Die subjektive Konstitution der Welt durch das Denken wird eigentlich zu einem Existential des modernen Menschen und insofern kannst du sagen, daß hier auch die Angst, zerstreut zu werden im

erste fundamentale Satz der Philosophie nach Descartes: ich denke also bin ich – cogito ergo sum). 12 | François Rabelais (1494-1553), gilt vielen als größter Dichter Frankreichs. Für die französische Sprache hatte er etwa die Bedeutung wie Luther für die deutsche. Rabelais verbindet in seinem Roman »Gargantua und Pantagruel«, dem »angstfreiesten Buch der Weltliteratur« (M. Bachtin) die karnevalistische Volkskultur des Mittelalters mit dem freien humanistischen Geist der Renaissance. Vor allem wegen des Untergangs der »Lachkultur« in der Vernunftaufklärung seit dem 17. Jahrhundert ist sein Werk heute schwer zugänglich.

32 | Oskar Negt, Rainer Stollmann, Christian Schulte Weltall, eine Rolle spielt. Statt dessen stützt man sich auf das Nächste, auf das Minimum, auf den minimalen Besitz, daß ich eben denke und bin, und jetzt fängt der eigentliche Arbeitsprozeß an, die Welt noch einmal zu produzieren. Stollmann: Vielleicht ist das Systematische daran das, was ich meine. Adorno und Horkheimer schreiben darüber in dem Kant-Kapitel in der »Dialektik der Aufklärung«. Das Systematische fängt doch mit Descartes an. Die Gefühle, die Phantasie, die Triebe gehen in die res extensa und das Denken bleibt als rationales Denken für den Geist übrig. Negt: Ich glaube schon, daß das System Produkt von Angst ist. In der »Dialektik der Aufklärung« ist die Wiederkehr des Mythos, des modernen Mythos, auch auf die Angst bezogen, daß eigentlich nichts draußen, nichts unbegriffen bleiben darf, weil das Unbegriffene das Bedrohliche ist. Und in der Tat, die Systemproduktion als identifizierendes Denken, wie Adorno das bezeichnet, die Angst vor dem Augenblick, in dem ich etwas unbenennbar, ohne Namen lasse, ist gleichsam archaische Natur, oder jedenfalls irgend etwas, was meine Identität bedroht. Das heißt, Identität produzierendes philosophisches Denken wäre ein angstbesetztes Denken, das kann man sagen. Die Unterwelt der Fußnoten, die sich in akademischen Schulen sehr ausbreitet, ja nichts zu vergessen oder draußen zu lassen, weil man nicht weiß, was das aus sich heraus produziert und wie es mich bedroht, das scheint mir in der Tat Zeichen von Angst zu sein. Das Freilassen des Denkens vom Systemzwang, die Herstellung von Selbstbewußtsein, das nicht mehr Angst hat vor bedrohlichen Identitätszerstörungen, das würde ich auch in der Tat für einen zentralen Gesichtspunkt zum Beispiel für Kindererziehung halten. Das lustbetonte Schwadronieren von Gedanken und Gefühlen hat ein Eigenrecht, bevor es Strukturen gewinnt.

Marx, Benjamin Stollmann: Bei Marx gibt es den Begriff »authentische Isolation«. Würdet Ihr das für Euch in irgendeiner Weise in Anspruch nehmen? Negt: Nein. Man muß sich für eine bestimmte Zeit abkoppeln von den schwankenden politischen und geistigen Bewegungen der Zeit, um überhaupt produktiv sein zu können. Das ist für uns immer aktuell gewesen, wenn wir uns zurückgezogen haben, an einem Buch saßen. Wir haben zum

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Beispiel Neuerscheinungen nicht wahrgenommen oder Ereignisse, die wirklich sehr dringend der Interpretation bedurften, nicht einbezogen. Authentische Isolation, wie Marx und Engels das verstanden hatten, war aber eine notwendige Abkopplung von den ständigen Erwartungen, daß sich im kontinentalen Europa die Revolution entwickelt und bezieht sich auf das typische Emigrantenklima, in dem sie lebten. Sie weigerten sich anzunehmen, daß irgendwelche Bewegungen auf dem Kontinent zum Ausbruch der Revolution führten und isolierten sich von den Emigrantencliquen, die ständig etwas abforderten, z.B. aktuelle politische Erklärungen abzugeben. Für uns ist authentische Isolation nichts anderes als Konzentrationsprozeß, in dem wir an einer bestimmten Sache arbeiten und in konzentrischen Kreisen die Gedanken erweitern. Stollmann: Die Rezeption von Marx ist im wesentlichen eine Geschichte des Mißbrauchs. Mich interessiert die Frage, ob sich Denken gegen Mißbrauch schützen kann. Auch wenn man gar nicht auf die ’MeisterdenkerLinie’ hinauswill, interessiert mich, ob der Angriffspunkt für Mißbrauch bei Marx das Systematische ist. Und ob zum Beispiel Horkheimer und besonders Adorno auch deshalb so schreiben wie sie schreiben, nämlich unsystematisch. Negt: In dem Augenblick, wo man vergangene Denkgebilde, die offenkundig offen sind wie das Marxsche – z.B. ist »Das Kapital« ja ein großes Fragment –, zu einem geschlossenen System macht, heften sich Orthodoxien daran. Ich glaube, daß das Marxsche System in einer schicksalhaften Verbindung zur Oktoberrevolution steht. In dem Maße wie die Oktoberrevolution nicht das erfüllt, was Marx unter einer proletarischen Revolution versteht, wird das Denken von Marx und Engels zu einem Legitimationssystem zusammengeschlossen. Sobald ein System Legitimationsvorräte schaffen soll, wird es mißbraucht. Denn gerade das Marxsche System ist nicht zufällig ein System der Kritik – »Kritik der politischen Ökonomie« heißt es im Anschluß an Kants Kritikbegriff. Die Marxsche Theorie verliert aber ihren kritischen Impuls gegenüber der Wirklichkeit, wenn sie Wirklichkeit nur noch legitimieren soll, indem sie gleichsam die revolutionären Potenzen, die im Marxschen Denken stecken, als institutionalisierte Ergebnisse darstellbar macht. Insofern kann man sagen, das Marxsche Denken wird im Leninismus und Stalinismus zu einem Zitatkartell degeneriert. Diese degenerierte Theorie wird heute dadurch, daß sich dieser Staat auflöst, zu einem Denken depotenziert, das geschichtlich Unrecht hat, so als ob der Stalinismus das legitime Erbe des Marxschen Denkens angetreten hätte. Für viele linke Leu-

34 | Oskar Negt, Rainer Stollmann, Christian Schulte te, die vorher immer gesagt haben, die Sowjetunion ist nicht Sozialismus, ist doch so etwas wie eine Realität zerbrochen, die sie jetzt auch mit dem Marxschen Denken verknüpfen. Wir haben immer wieder gesagt, nicht der ganze Marx ist zu übernehmen und zu interpretieren, sondern die Zugangsweise, die Forschungsweise anstelle der Darstellungsweise. Wie, mit welchen Kategorien begreift Marx die Wirklichkeit seiner Zeit und was können wir daraus gewinnen im Umgang und im Zugang zur Wirklichkeit unserer Zeit, das macht für uns die Grundlage des Umgangs mit dem Marxschen Denken aus. Insofern sprengen wir auch den systematischen Verdacht immer auf. Und das bringt uns wiederum in die Klemme gegenüber jenen Marxisten, die das nicht mehr für Marxsches Denken halten, also z.B. sagen, wenn man aus dem Marxschen Werk den tendenziellen Fall der Profitrate herausnimmt, dann ist nichts mehr von der Werttheorie übrig. Während wir davon ausgehen, daß die Mehrwertlehre und vor allen Dingen die Warenproduktion und die Warenanalyse nach wie vor für ein aktuelles Begreifen des Kapitalismus notwendig sind, denn es besteht immer noch ein warenproduzierender Kapitalismus mit einer bestimmten Logik des Marktes und des Kapitals. Wir verhalten uns zu Hegel und Kant genauso. Wir brechen diese Systemblöcke auf und nehmen eigentlich Forschungsweisen, Umgangsweisen und Begriffe auf wie Werkzeuge, wir sammeln das in einem Werkzeugkasten, mit dem man arbeitet, die Realität analysiert. Insofern sind wir beide nicht in Gefahr gewesen, irgendwelche orthodoxe Linien durchzuziehen. Wir sind allerdings der Auffassung, daß vieles von dem, was in den großen Philosophien aufbewahrt ist, unausgestanden, oder wie Bloch sagen würde, unabgegolten ist. Insofern greifen wir immer wieder auf die großen Denker zurück, eher als auf die Essayisten. Natürlich machen viele Essayisten des Übergangs eindrucksvolle Formulierungen zu speziellen Problemen, wie der Aphoristiker Nietzsche und andere … Stollmann: … Montaigne … Negt: …den lieben wir beide. Wir könnten oft ein Montaigne-Zitat hinzufügen, nur um zu zeigen, daß wir das kennen, aber wir haben mit Montaigne nicht gearbeitet. Wir haben mit Aristoteles, Plato, Kant, Hegel, Freud gearbeitet, insofern erweckt das den Eindruck, als ob wir nur die Systematiker für wichtig halten. Nun, die Vorratslager an Begriffen und Werkzeugen der großen Systematiker sind eben erheblich größer. Stollmann: Hat man Euch den Vorwurf des Eklektizismus gemacht?

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Negt: Man hat uns vorgeworfen, wir hätten unsere Zettelkästen ausgeschüttet und jetzt einfach aufgesammelt … Stollmann: Bei »Geschichte und Eigensinn«? Negt: Ja. Wir haben aber nie mit Zettelkästen gearbeitet, sondern wir hatten die Bücher alle vor uns. Wir haben eigentlich nie irgendwas rausgeschrieben. Kluge reißt manchmal einfach die Seite raus, die er braucht, wenn das Buch zu dick ist. Es ist ja auch wirklich nicht alles im gegebenen Umfang sinnvoll. Schulte: Nun ist ja auch die Form eurer Texte selbst, das Bildmaterial in »Geschichte und Eigensinn« eine Kritik systematischen Denkens. Negt: Sicher, das kann man sagen. Andererseits treibt das systematische Denken bei Kant und Hegel und Marx natürlich auch einen Arbeitsprozeß des ernsthaften Umgangs mit den Dingen voran. Die Ernsthaftigkeit, die da drin steckt, hat uns immer fasziniert und sie fordert uns auch immer wieder auf da nachzuschlagen, wenn wir ein Problem behandeln wollen. Was hat Freud dazu gesagt, was hat Marx dazu gesagt, das ist eine gewisse Achtung, die wir vor der Mühe und der Ernsthaftigkeit der systematischen Denker haben. Die haben nicht einfach einen Einfall, den sie hinschreiben. Dieser Respekt hat uns ein bißchen die Lust genommen, uns an Einfallsphilosophen, Aphoristikern zu orientieren. Zu sagen, gucken wir mal bei Nietzsche nach, das liegt uns eher fern. Jeder von uns hat ein paar Nietzsche-Zitate im Kopf, Nietzsche ist in der Frankfurter Schule von Adorno sehr geschätzt worden. Schulte: Könnte man vielleicht sagen, ihr rettet Hegel als Aphoristiker, Ihr macht ihn gewissermaßen zum Aphoristiker? Negt: Ja, ja, Kluge hat den Vorschlag gemacht zu überlegen, ob man nicht Hegel-Texte einfach in Gestalt von Opern und Gesängen vortragen kann. Dem habe ich widersprochen. Schulte: Du hast eben die Einfallsphilosophie genannt. Benjamin kritisiert das Schöpferische sogar als Hybris, es gehe nicht darum, selbst etwas hervorzubringen oder sich gar selbst in der Materie zu verwirklichen. Negt: Ja, das, glaube ich, spielt eine Rolle. Wir schätzen beide Walter Benjamin, der kein aphoristischer Denker ist und trotzdem an den Grenzen immer wieder die Front aufreißt. Die Methode des Drehens und Wendens

36 | Oskar Negt, Rainer Stollmann, Christian Schulte ist eigentlich eine Benjaminsche Methode. Und so einen methodischen oder theoretischen Grundgedanken haben wir vielleicht auch. Wir beziehen uns eigentlich immer auf die Geschichte, auf die Vergangenheit und versuchen die produktive Seite dessen, was vergangen ist, in die Gegenwart mit einzubeziehen. Das betrifft etwa das Problem des Zitierens, wenn wir zitieren, dann nicht, um irgend etwas zu legitimieren, sondern um einen bestimmten Prozeß benennbar zu machen. Schulte: Eine Perspektive zu ändern oder eine Proportion … Negt: …ja, den Begriff zu erweitern. Das Problem der Erweiterung ist uns sehr wichtig. Wir verengen nicht den Arbeitsbegriff, sondern wir erweitern ihn, was zu vielfacher Kritik gegenüber »Geschichte und Eigensinn« geführt hat. Aber auch jetzt wieder, gegenüber »Arbeit und menschliche Würde«, wenn alle Leute sagen, Arbeit – das hört doch auf, das wird doch immer weniger, dann betone ich, daß diese Verengungen auch herrschaftsbedingte Verengungen sind. Was macht denn die immer wachsende Zahl von Menschen, wenn sie nicht arbeiten? Soll man jetzt wie Dahrendorf statt von einer Arbeitsgesellschaft von einer »Tätigkeitsgesellschaft« sprechen?13 Gegen die Lösung von Widersprüchen und Konflikten auf der Ebene von terminologischen Änderungen haben wir uns immer gewehrt. Zunächst einmal haben wir solche Begriffe in ihrem Ursprungsgehalt festgehalten und dann eher erweitert als verengt. Schulte: Das ist aber auch eine Affinität zu Benjamin, dem es nicht darum geht, Neologismen, neue Begriffe zu bilden, sondern die bestehenden gewissermaßen neu zu justieren. Negt: Ja. Solche klassischen Begriffe sind ja nicht einfach Erfindungen. Man nehme einmal den Begriff Arbeit und den Begriff Menschenrechte, oder man nehme das Bild vom Menschen. Das sind geprägte Zusammenhänge, von denen Nietzsche mit Recht sagt, alle historisch komplexen Begriffe lassen sich nicht definieren. Deshalb ist mit Neudefinitionen nichts gewonnen, sondern man kann das nur entfalten. »Geschichte und Eigensinn« ist die Entwicklung des komplexen Begriffs »Arbeit«. Deshalb gibt es Beziehungsarbeit und auch, was sehr angefochten wurde, Kriegsarbeit. Aber was machen denn Panzerbesatzungen? Das sind kompetente Handwerker, die müssen bestimmte technische und organisatorische Kompetenzen ha13 | Vgl. Dahrendorf 2002. Dahrendorf verurteilt die Tendenz, daß der »Dritte Sektor« – auch Bürger- bzw. Zivilgesellschaft genannt – zu stark vom Staat vereinnahmt wird. Er plädiert für eine »Staatsferne Tätigkeitsgesellschaft«.

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ben, die verändern auch etwas, indem sie etwas zerstören, also auch das Produktionsziel ist vergleichbar. Sie sind stolz, wenn das Resultat entsprechend ist, auf ihr Produkt. Insofern ist das eine Form der Arbeit. Aber das stößt natürlich auf sehr heftige Kritik. Man bemerkt doch heute, daß die sog. Dienstleistungsgesellschaft so eine grundlegende Änderung nicht ist, wenn Menschen Tag und Nacht darüber nachdenken, wie sie ihren Arbeitsplatz sichern können. Die Arbeitslosenforschung zeigt, was das bedeutet, wenn man keinen Arbeitsplatz hat. Stollmann: Nun kennt Marx aber auch Arbeit, die überflüssig ist, die abgeschafft werden soll. Sie ist bei ihm kein Medium der Selbstverwirklichung. Und man kann manchmal das Gefühl haben, daß Ihr doch die Währung der Arbeit für die einzig maßgebliche haltet. Negt: Ja, ja. Das ist auch gar nicht so falsch. Wir leben nicht in einer Mußegesellschaft, sondern in einer Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft, in der merkwürdigerweise die Produktion von vielem, was nicht mehr nötig wäre, geradezu künstlich aufrechterhalten wird, um das Klima einer Arbeitsgesellschaft zu erhalten. Das heißt, wir gehen von einem kulturellen Klima aus, in dem diese Kategorien noch ihre zentrale Bedeutung haben, wehren uns allerdings dagegen, das zu anthropologisieren. Wir gehen beide davon aus, daß der kulturelle Horizont, in dem Arbeit in einer Subjekt-Objekt-Dialektik zur Identitätsbildung der Menschen beiträgt, noch besteht. Wir haben den Horizont noch nicht überschritten, in dem Identitätsbildungen wesentlich mit etwas anderem zu tun haben, auch wenn ich mir sehr wohl eine Gesellschaft vorstellen kann, in der die auf Warenproduktion gerichtete Arbeit ein Minimum ausmacht und dann so etwas wie eben künstlerische Tätigkeit, Disputation, Kreativität, wie in einer bestimmten Zeit des perikleischen Umkreises, zu den bestimmenden Lebenszielen gemacht werden. Selbst in der Diskursethik sind diese Lebensziele alle nicht deutlich formuliert, sie sprengen überhaupt nicht unseren Lebenszusammenhang, in dem es nach wie vor eigentlich Tag und Nacht darum geht, wie Erwerbsarbeit zu organisieren ist. Mit dieser postmodernen Verabschiedung einer Gesellschaftsordnung im bloßen Denken können wir uns nicht anfreunden. Die Proklamation des Rechts auf Faulheit ist zwar verständlich, aber in keiner Weise zureichend. Man kann aus einer Gesellschaft nicht einfach »aussteigen«. In einem von uns als noch immanent festgestellten kulturellen Zusammenhang behandeln wir das, was Arbeit ist. Darin ist Arbeitszeitverkürzung ein wesentliches Lebenselement, auch wenn man, wie die Gewerkschaften es teilweise tun, nicht eine bloße Arbeitszeitverkürzungspolitik betreiben kann. Dabei verändert sich grundlegend nichts, möglicherweise

38 | Oskar Negt, Rainer Stollmann, Christian Schulte noch nicht einmal für die, die von der Arbeitszeitverkürzung profitieren, weil die sekundären Formen der Ausbeutung, wie die Menschen dann in ihrer Freizeit organisiert werden, davon nicht zu trennen sind. Arbeitszeitreduzierung müßte dazu führen, daß die notwendige Erwerbsarbeit neu verteilt wird.

Sammeln ist revolutionär Stollmann: Darf ich mal ein bißchen springen? Negt: Du darfst immer springen, das ist ja unsere Methode. Stollmann: In der Mitte von »Geschichte und Eigensinn« habt ihr an zentraler Stelle ein Luxemburg-Zitat: »Die Revolution sagt von sich, ich war, ich bin, ich werde sein. Dies sind ihre letzten Worte.« Das ist für jemand, der katholisch erzogen worden ist wie ich und der diesen Satz nur von Jesus kennt, etwas schwer mitzuvollziehen. Negt: Der Revolutionsbegriff ist auf eine menschliche Dimension fortwährender Veränderung zu beziehen. Die Organausstattung des Menschen, dieses nackten Affen, ist minimal, er kann nicht so laufen wie ein Tiger oder sehen wie ein Adler, viele Dinge müssen durch Organergänzungen selbst produziert werden, er ist eigentlich überfordert, für sich alleine zu leben. Er braucht die Gesellschaftlichkeit, er braucht die staatliche Organisation, um anständig zu überleben. Was Rosa Luxemburg, glaube ich, im Auge hatte und was wir jedenfalls mit diesem Zitat verbinden, ist eine Permanenz der Revolution, die dabei nötig ist. Es geht nicht einfach um einen staatlichen Umsturz, sondern um so etwas wie eine Veränderung und Selbstveränderung als ein Wesensmerkmal lebendiger Menschen. Luxemburg nimmt diesen Begriff der Revolution heraus aus dem engen Spektrum von politischer Revolution, und sagt, das gehört zur Wesensausstattung des Menschen, daß er sich revolutionär verhält, daß er verkantete und vertrocknete und lebensfeindliche Strukturen aufbricht und vieles von dem macht, was in der modernen Gesellschaft eben mit Demokratie verknüpft ist. Sie hat einen eigenen Begriff von Spontaneität und Organisation. Keine Organisation, sagt sie, auch keine politische Organisation, kann ohne diese kritische Dimension von Spontaneität leben. Und wenn die Spontaneität der Massen verlorengeht, dann ist es egal, mit welchem System wir es zu tun haben, denn das würde bedeuten, daß der revolutionäre Funke aus den Menschen verschwunden ist. So würde ich das deuten. Also Revolution – ich werde sein, ich bin, ich

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war, ich bin, ich werde sein – als ein permanenter revolutionärer Prozeß der Selbstreflexion und des Anerkennungskampfes auch mit dem Andersdenkenden. Der Respekt, die Achtung des Andersdenkenden mit einbezogen in eine Veränderungsdynamik, in der der Mensch erst Mensch wird, wenn er sich die Objektwelt, die ihn einschränkt und unterdrückt, aneignet. In den Briefen aus dem Gefängnis gibt es unter anderem solche Tendenzen bei ihr, die den Revolutionsbegriff viel weiter fassen als das, was Trotzki unter permanenter Revolution versteht, aber was durchaus im Begriff der Kulturrevolution mit gesetzt ist – Revolution nicht als ein Umsturzgehabe von politischen Machtverhältnissen und Machtstrukturen, sondern auch der Kampf gegen sich selbst und gegen die retardierenden Elemente in einem selbst. Stollmann: Bei Benjamin gibt es auch grundsätzliche Gedanken zum Revolutionsbegriff, wenn er ihn nicht als Lokomotive des Fortschritts verstanden wissen will, sondern als Griff nach der Notbremse. Negt: Ähnlich ist das insofern, als Benjamin einen Fortschrittsbegriff der Arbeiterbewegung kritisiert, in dem es Stück für Stück immer besser werden soll. Revolution ist nichts, was nach vorne geht, sondern Revolution besteht nach Benjamin in der Aufarbeitung der liegengebliebenen Probleme der Vergangenheit. Das ist auch unser Ansatz. Man muß aufsammeln – deshalb auch unsere große Neigung zur Enzyklopädie. Die Metaphern vom »Schuß auf die Uhr« und dem »Anhalten der Zeit«, der »Kritik der Beschleunigung«, des »Innehaltens« (Benjamin 1940: 691ff.) – das verweist bei Benjamin auf ein methodisches Element. Also »Innewerden« und »Innehalten« dessen, womit wir es in der Vergangenheit zu tun haben, das sprengt die Zukunft auf. Natürlich das Kleesche Bild vom Engel – wir verwenden das nicht sehr, aber es ist uns gegenwärtig, methodisch ist uns das sehr nahe. Schulte: Hat sich aus diesem Selbstverständnis auch die fragmentarische Form ergeben? Negt: Wenn du sammelst, wirst du ja wahnsinnig, wenn du das Gesammelte so verzahnen willst, daß es ein System ergibt. Dann bist du kein richtiger Sammler mehr. Wenn du systematisch sammelst, sagen wir mal, du sammelst nur eine bestimmte Pflanzenart, dann hast du ja einen beschränkten Blick. Schulte: Dann fängt man an auch zu klassifizieren.

40 | Oskar Negt, Rainer Stollmann, Christian Schulte Negt: Dann siehst du keine andere Pflanze mehr. Das Wesen des Sammlers besteht eigentlich darin, auch was daneben liegt, nicht dazu gehört, zur Kenntnis zu nehmen. Das macht das »Passagenwerk« von Benjamin. Die Sammelergebnisse dann zu systematisieren, würde bedeuten, sie gewaltsam zu behandeln. Schulte: Ich fand erstaunlich, daß es noch eine Korrespondenz gibt, nämlich eine theologische Denkfigur. Die Apokatastasis, die Heimholung aller taucht im »Passagenwerk« an prominenter Stelle auf, im Konvolut »Erkenntnistheorie«. Sie wird als unendliche Zerteilung, dh. eigentlich als Produktion von Unterscheidungsvermögen, beschrieben. Man muß jeden Gegenstand so lange zerteilen, daß er neben der positiven eine negative Seite zu erkennen gibt usw., bis ins Unendliche. Bei Euch gibt es einen ähnlichen Akzent, wenn Ihr von Wiederherstellung der lebendigen Arbeit sprecht, sogar bis hin zur Wiederauferstehung der Toten. Das ist doch sehr verwandt. Negt: Ja.

Literatur Anders, Günther (1956): Die Antiquiertheit des Menschen, München. Benjamin, Walter (1940): »Über den Begriff der Geschichte«. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M. Bloch, Ernst (1959): Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. Descartes, René (1641): Meditationes de prima philosophia, Paris Dahrendorf, Ralf (2002): »Liberale Ordnung. Ein Plädoyer für Tätigkeit«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.04.2002. Grünbein, Durs (2003): Vom Schnee oder Descartes in Deutschland, Frankfurt/M. Horkheimer, Max (1936): »Traditionelle und Kritische Theorie«. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 4 (1936-1941), Frankfurt/M. Jonas, Hans (1984): Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt/M. Klein, Naomi (2002): No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht, Gütersloh. Negt, Oskar (1968): Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen, Frankfurt/M. Negt, Oskar (1988): Modernisierung im Zeichen des Drachen. China und der europäische Mythos der Moderne, Frankfurt/M. Negt, Oskar (2001): Arbeit und menschliche Würde, Göttingen.

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Nolte, Ernst (1987): Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945, Frankfurt/M. Plessner, Hellmuth (1988): Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Frankfurt/M. Pufendorf, Samuel (1667): De statu Imperii Germanici ad Laelium fratrem (Unter dem Pseudonym Severini de Monzambano erschienen), Genevae. von Clausewitz, Carl (1973): Vom Kriege, herausgegeben und überarbeitet von Werner Hallweg, Bonn.

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Das Marxsche Wertgesetz ist in der Natur verankert. Ein Gespräch zwischen Rainer Stollmann und Alexander Kluge 1

»Ich liebe den Tausch. Dort blitzen Federn Von Rufen strömt ein Regen ganz naiv.« Ossip Mandelstam

Was ist Wahrheit? »Das gesamte Bruttosozialprodukt hat für sich allein genommen keine große Bedeutung. Was soll das heißen? Das physische Produkt. Was heißt physisches Produkt? Millionen Bauern produzieren ihr Produkt. Fünf Millionen Fabrikarbeiter arbeiten. Das Produkt der Fabrikarbeiter mag klein erscheinen gegenüber dem massiven Produkt der Bauern, da diese aber einen großen Teil ihres Produkts sofort selber verbrauchen, führt ihr Produkt kaum zu Mehrwert oder militärischer Kraft.

1 | Der vorliegende Text ist, leicht verändert, entnommen dem Buch von R. Stollmann: Die Entstehung des Schönheitssinns aus dem Eis, Kulturverlag Kadmos: Berlin 2005.

Das Marxsche Wertgesetz ist in der Natur verankert | 43 Und 17 Börsenhändler? Führen zu überhaupt keinem Produkt. Und wozu braucht man Mehrwert und militärische Kraft? Das kann ich Ihnen so nicht beschreiben. Sie sind Mitglied der Royal Society. Wenn Sie es nicht wissen, wer soll so etwas wissen? Ich will mich nicht darauf hinausreden, daß es kompliziert wäre. Es ist im Grunde einfach. Pro Stunde Arbeitskraft, in Milliarden Stunden und Menschen hochgerechnet, entsteht ein Produkt. Daran ändert sich in der Betrachtung seit Adam Smith nichts. Aber wie in der Weltgemeinschaft über den Wert des Produkts entschieden wird (und da kann ich Ihnen nicht als Oberrichter sagen, wer über diese Einschätzung entscheidet, es ist aber bestimmt kein Mächtiger, der entscheidet), das wissen wir nur ungefähr. Letztlich entscheidet das die Börse. Und die ist untrüglich? Nicht untrüglich, aber unbeeinflußbar. Was ist dann aber falsch an der These: »Alle Entwicklung entscheidet sich in der Produktion« (Karl Marx)? Möglicherweise ist überhaupt nichts falsch an dieser These, aber sie erweist sich nicht in der Realität. Was ist dann an der Realität real? Das müssen Sie mich nicht fragen. Das weiß ich nicht.« (Kluge 2003: 866f.)

Stollmann: Der zentrale Gedanke in Marx’ Kapital ist das Wertgesetz. Diese Geschichte legt nahe, daß das Wertgesetz, und damit der reale Kern unserer Gesellschaft, etwas Fiktives geworden ist. Kluge: Die Frage, was ist Wahrheit, läßt sich weder auf eineinhalb, noch auf siebentausend Seiten linear, also direkt beantworten. Eine andere Frage ist aber beantwortbar, nämlich, was ist wirklich, wenn das Wertgesetz nicht gilt? Und das scheint mir eine sehr aktuelle und wichtige Frage zu sein – wenn der Kapitalismus an sein eigenes Gesetz nicht gebunden ist, was ist der Kapitalismus dann? Das wird aber erst richtig interessant, wenn wir nicht uns nicht nur über die betrügerischen, ausbeuterischen Konzerne empören, sondern wenn wir die Subjektive Seite des Wertgesetzes betrachten. Denn es muß ja massenhafte Zustimmung sich historisch herausgebildet haben, damit die-

44 | Rainer Stollmann, Alexander Kluge ses Wertgesetz dauerhaft angewendet werden kann und historische Prozesse bestimmt. Auch wenn ich das nicht in einer Geschichte alles fassen kann, kann man doch sagen, daß der Kapitalismus sozusagen seine Lebensflamme aus dem Warenfetisch bezieht. Der Warenfetisch ist aber in dem Herz eines jeden religiösen Menschen im sechzehnten oder fünfzehnten Jahrhundert entzündet worden mit dem Funken: Ich glaube nicht an diese Welt. Und um in eine andere zugelangen, entwickle ich Fleiß, Sparsamkeit und Hingabefähigkeit, also alle Tugenden, die zu einer Industrie gehören, die ich noch gar nicht kenne. Dadurch komme ich aus dem bäurischen Denken heraus und entwickle einen neuen Menschen. Das ist der einzige Fall, den ich kenne, wo so etwas vor unseren Augen abläuft. Und dies geschieht mit einer kleinen Flamme im Herzen, die das Jenseits wünscht, sie ist eine sehr prekäre Flamme, denn sie läßt sich vom Lebenstrieb genauso nähren wie vom Todestrieb. Diese kleine Flamme, die dort entsteht, bringt bei den Puritanern beispielsweise auch Glutöfen an Vernichtungskraft hervor, mit der man Schlachten gewinnt, Eroberungen macht, die Dampfmaschine erfindet, Kolonialreiche sichert. Das sind gewaltige Seelenkräfte und die einzigen, die aufspaltbar sind und die in der Aufspaltung noch Kräfte hinzugewinnen, so beschreibt das Marx. Zu diesen Kräften gibt es jetzt ein Gleichgewicht, sozusagen das Ideal von Ricardo und Adam Smith, daß nämlich ein Wertgesetz damit sich gerade noch verträgt. Ich kann es als Geiz und als abstrakte Genußsucht analysieren, so tut es Marx, also zwei Eigenschaften die ich brauche, um kaufen und verkaufen zu können. Ich kann mich selbst verkaufen und das Liebste was ich habe verkaufen bis hin zur Ich-AG, aber ich habe dann immer noch etwas Lieberes, also z.B. meine Familie oder Gott, wofür ich das Ganze tue. Das ist das Gleichgewichtssystem in der inneren Balance-Ökonomie des modernen Menschen. Das ist im bürgerlichen Charakter zu einem ganz prekären und sehr radikalen und sehr »fruchtbaren« Trieb eines Systems geworden, eine Art Motor, ein gesellschaftliches Wesen. Das nimmt in imperialen Mächten der 30er Jahre im 20. Jahrhundert unterschiedliche Gestalten an, also bei Chiang Kai-shek andere Gestalt als in Italien unter Mussolini oder bei Hitler. Aber auch bei Roosevelt entsteht sozusagen ein Bild der Vorstoßmöglichkeiten des menschlichen Gemeinwesens, das neu ist. Das alles muß untersucht werden, das haben wir alles noch gar nicht richtig begriffen. Inzwischen haben aber auf der Seite der Geisterwelt der objektiven Tatsachen innere Entwicklungen den Kapitalismus quasi überholt, er hat selber Anker verloren. Stollmann: So wie das z.B. Naomi Klein empirisch beschreibt (vgl. Klein 2002) – wenn ein Paar Turnschuhe in den Freihandelszonen der Dritten

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Welt mit 2 $ bezahlt, aber in Manhattan für 200 $ verkauft werden, dann ist das Wertgesetz, daß nämlich Arbeit zu ihrem Wert bezahlt wird, Makulatur. Kluge: Man muß aber im Kopf haben, was das Wertgesetz ist, das ist ein sehr kompliziertes poetisches Gebilde, möchte ich sagen. Stollmann: Der Grundsatz ist, Waren verkaufen sich zu ihrem Wert, auch die Ware Arbeitskraft verkauft sich zu ihrem Wert. Kluge: Und der letzte Wert ist die Stunde Arbeit, die Stunde Lebenszeit, die eingeht in ein Produkt, die Grundnorm, da ändert sich die Qualität der Minuten nicht, ob ich nun ein Kaiser oder ein Bettler bin. Wenn ich etwa einen Stein umgerückt habe, einen Eimer voll geschippt habe, eine Schraube befestigt habe, dann ist das alles konkrete Lebenszeit, zwischen Geburt und Tod, also die Zeit, in der ich auch liebe oder hasse. Eine Stunde Lebenszeit ist gleich einer Stunde Lebenszeit, auf dieses Wertgesetz fällt alles nach einer Weile wieder zurück. Zwischendurch sind da Einbildungen, daß einer Milliardär wäre, oder daß einer, wie Goethe das so schön bezeichnet, die Kräfte von 60 Pferden hätte, was ja physisch, für bestimmte Autos zutrifft – er beherrscht das auf Zeit. Aber es ist letztlich doch wieder nur die Stunde, die er anwendet. Das ist etwas, was jeder Theologe genauso erklären könnte: Gott hat den Menschen eine Lebenszeit anvertraut und die kann man anwenden auf Arbeit. Dem sind jetzt Ihre Turnschuhe so weit entronnen, daß man sagen kann, es mag das Wertgesetz gelten, aber es zeigt sich nicht mehr in der Wirklichkeit. Meine Meinung ist aber im Grunde, daß das Wertgesetz nach wie vor gilt, das kann man gar nicht ändern, denn letztlich würden Sie in einer völlig gesponnenen, fiktionalen Welt Menschen nicht mehr zur Arbeit veranlassen können. Stollmann: Zum Beispiel? Kluge: Wenn Sie an den Goldrush in San Francisco denken, dann ist auf eine bestimmte Zeit von Wochen, Monaten, Halbjahren das Wertgesetz aufgehoben. Denn ich kann schneller aufbrechen, andere Goldsucher ermorden und mir ihr Gold aneignen, oder selbst etwas finden, als ich irgendwie in irgendwelcher Summe von Stunden irgend etwas erarbeiten kann. Einen Moment lang, wie Brecht das beschreibt in Mahagonny, scheint das Wertgesetz außer Kraft gesetzt zu sein. Das legt sich nach einem halben Jahr wieder, und es würde sich auch legen, wenn permanent Gold gefunden würde, dann würde ja der Wert des Goldes irgendwann niedersinken.

46 | Rainer Stollmann, Alexander Kluge Stollmann: Was wären Beispiele aus einer garantiert nichtfiktionalen Welt? Kluge: Ein Gegenbeispiel sind die erotischen Dinge oder z.B. die Schwangerschaft, d.h. das Wertgesetz ist als Zeitmaß für Entwicklung in der Natur verankert. Eine Schwangerschaft dauert unabänderlich neun Monate, und gegenseitige Liebe läßt sich nicht auf Befehl herstellen, sondern braucht ihre Zeit. Das können Sie nie ändern. Ich habe hier eine Szene beschrieben, wie der große Mann Napoleon von seinen Karten abgerufen wird, in ein Nebenkabinett geführt wird, wo schon eine Frau für ihn vorbereitet ist und er versucht sie jetzt zu penetrieren.2 Er kann das auch, er ist ein sehr potenter Mann, er hat eine sehr schnelle Phantasie. Aber er verletzt die Frau, die Natur braucht eine lange Zeit, um zärtlich zu werden, um sozusagen Säfte abzusondern. Stollmann: Das wäre wie eine Art Taylorismus in der Liebe, unter dem selbst Mächtige stehen? Kluge: Der Zeitdruck liegt auch auf dem Mächtigen. Die Macht, Kapitaloder politische Macht, versucht immer wieder, für Menschen dieses eben auch in der Natur verankerte Wertgesetz außer Kraft zu setzen. Man kann aber mehr als menschliche Kräfte in einer Stunde machen können, dem Menschen nicht ernsthaft auf Dauer abverlangen, mindestens geht die Kommunikation dabei zugrunde und schlimmstenfalls entstünde irgendwann ein Monstrum. Diese natürliche Begrenzung, d.h. die Realisierung des Wertgesetzes, gilt nur, wenn Menschen und ökonomische Verhältnisse, in diesem Beispiel von Napoleon die Ökonomie der Liebe, miteinander interagieren. Je weniger das geschieht, desto größer die reale Unwirklichkeit, die Geisterwelt der Fakten. *** Stollmann: Arbeit ist keine primäre menschliche Eigenschaft (Kluge 2003: 732). Ich frage mich, ob Engels das unterschreiben würde. Kluge: Das weiß ich nicht. Daß Marx in einer Diskussion, also außerhalb seiner Verbände, den Unterschied zwischen allen Elementen der Arbeitskraft und der Arbeitskraft selbst sehr genau betonen und das bestätigen würde, da bin ich mir ganz sicher. Man muß den forschenden Marx und den rhetorischen Marx unterscheiden.

2 | Kluge 2003: 500. »Ein neuer Gentyp der Theorie«; hier S. 502, Anm. 23.

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Stollmann: Engels spricht vom Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. Da hält er sie doch anthropologisch für etwas Primäres. Kluge: Die Theorie stimmt ja nun gar nicht. Die Gegentheorie der Darwinisten besagt, daß sich das Junge libidinös, in die Halskrause, das Nakkenhaar der Mutter einkrallt und dort festhält, während es auf dem Rücken getragen wird. Dieses Tastsensorium, die Nähe der Mutter, das ist das erste, was ein Motiv der Ausbildung der Hand und damit der Arbeit auslöst. Aus diesem Motiv heraus entstehen jetzt alle weiteren Eigenschaften. Stollmann: Engels faßt den Arbeitsbegriff zu instrumentell? Kluge: Ja. Das Fingerspitzengefühl ist zunächst zärtlich und erst später auf Arbeit gerichtet. Ich habe kürzlich einen amerikanischen Zoologen, einen Darwinisten von Harvard interviewt, William Tecumseh Sherman Fitch III. Das ist ein junger Forscher, ein »Bio-Akustiker«, der an allen möglichen Spezies die Lautbildung und akustische Verständigung erforscht und entdeckt hat, daß zunächst einmal immer Laute entstehen, die auf Geselligkeit gerichtet sind. Die menschliche Sprache, sagt er, sei auf einmal entstanden und nicht durch Lernen von Worten. Sie ist als Struktur entstanden. Erst entstehen in der Natur Lebewesen, die aus Geselligkeits- und erotischen Gründen, aus Gründen der Rangklassifizierung, der Revierverteidigung und manch anderen Gründen eine differenzierte Folge von Tönen entwickeln, die zunächst wie Musik sind. Sie sind ohne Bedeutung, aber voll Ausdruck. Auf diesem Ausdrucksvermögen, das ganz anderen, nämlich geselligen Zwecken dient, setzt sich parasitär als eine zweite Evolution die Bedeutung. Jetzt entstehen Strategien, Zwecke, kommunikative Kompetenz im Sinne von: ich verstehe, was du verstehst, ich verstehe, was du willst, im voraus, ich stelle dir eine Falle, ich setze eine List. Erst kommt sozusagen die Musik, dann die Worte. Mit der Arbeit muß es ähnlich sein. Der Kerngedanke von Engels, sozusagen die Arbeit als Motor der Evolution zu fordern, ist funktionalistisch. Daß es Betätigungen gibt und daraus nützliche Tätigkeiten herausgefiltert werden und daß einfache Gesellschaften so auch funktionieren, bestreitet niemand. Das geht aber nicht hinaus über das, was auch intelligente Tiere tun. Die disziplinierte Arbeit aber, die man an- und abstellen kann – und nur von der rede ich –, ist eine historisch ganz neue Errungenschaft. In Urgesellschaften oder in Gesellschaften, die Lévy-Strauss untersucht, würde eine Arbeit, die keine Bedürfnisse befriedigt oder die keinen Spaß macht, sofort eingestellt. Das Ganze ist in einem sozialen Rhythmus aufgehoben, der sowieso keine Übertreibungen zuläßt. Und daß man auf Vorrat arbeitet

48 | Rainer Stollmann, Alexander Kluge von sieben Uhr morgens bis acht Uhr abends, und zwar gleichförmig, das gibt es in keinen einfachen Gesellschaften je. Stollmann: In der Rittergeschichte, der dritten unter der Überschrift »Arbeit ist keine primäre Eigenschaft«, da stellen Sie die Frage, ob Liebe nicht durch »Introjektion des Aggressors« entstehe. Kluge: Ein sehr unheimlicher Gedanke. Stollmann: Er stammt von Freud und bezieht sich da auf den Sohn und den Vater, das Über-Ich, das Gewissen des Sohnes wird so gebildet. Kluge: Das scheint mir eine sehr gewalttätige, übrigens der »ursprünglichen Akkumulation« von Marx sehr ähnliche Struktur zu sein, in der bestimmte zivilisatorische Formen der Liebe und des Gehorsams und der Besessenheiten, der Obsession, entstehen können. Die Steuerbarkeit solcher Liebe, die der Introjektion folgt, könnte zweifelhaft sein, es könnte aber auch sein, daß zur Hälfte eine besonders sensible Steuerung, zur anderen Hälfte eine zerstörerische Kraft entsteht. Ich kann es Ihnen auch nicht wirklich sagen, was da stimmt. Aber der Beobachtung entspricht es, daß es so etwas gibt. Ein Einzelkind, geliebt von den Eltern, verhätschelt. Jetzt kommt nach zwei Jahren ein Geschwisterkind. Dann entsteht eine scharfe Aggression des Erstgeborenen gegen diesen Usurpator. Die Eltern unterdrücken das. Und nun ist die Introjektion dasjenige, was später zu einer geradezu intensiven Geschwisterbeziehung führen kann. Dieses Beispiel ist von der Sexualität gelöst, seitlich gesetzt. In dieser Mischung von Grausamkeit, äußerem Einfluß und libidinösen Kräften, die sich arrangieren, kooperativ verhalten können, kann gefügeartige Arbeit entstehen. Da die Libido blind ist, merkt sie gar nicht, daß sie jetzt etwas anderes tut als ursprünglich. Wenn Freuds Beobachtung in der Hinsicht zutrifft, dann sollten wir nicht moralischer Vorurteile wegen denken, das könne es gar nicht geben. Wenn Sie von Brecht das berühmte Lied über »SurabayaJohnny« nehmen – »Nimm doch die Pfeife aus dem Maul, du Hund«, das sind ganz ähnliche Beobachtungen. Davon gibt es in der Literatur mehr als eine. Stollmann: Anna Karenina. Kluge: Zum Beispiel. Und wenn das der Fall ist, dann ist das eine der kritischsten Fragen, die man an die Liebesbeziehung stellen kann. Denn es kann ja sein, daß Sie intensiv lieben, aber die Steuerung verlieren. Medea

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hat den Aggressor Jason lieben gelernt, ihren Bruder zerstückelt, um die gemeinsame Flucht zu ermöglichen. Sie gebiert Jason Kinder und wird dann betrogen. Jetzt tötet sie in einer für moderne Verhältnisse unverhältnismäßigen Reaktion ihre eigenen Kinder und reist auf einem Drachen zum Vater zurück. Das kann eine solche steuerungslose Obsession sein, die auf der Introjektion des Aggressors beruht. Es kann aber genauso umgekehrt sein, daß von Natur aus Menschen ihre Leidenschaften gar nicht steuern können, und wenn sie aus ihrem Land, ihrer Umgebung versetzt werden, die Steuerung verlieren. Oder es kann so sein, daß gerade die Introjektion des Aggressors eine Sensibilität in der Steuerung erzeugt, das weiß ich nicht, das müssen wir untersuchen, das ist eine lebenswichtige Frage. Denn Unterdrückung in intimen Beziehungen, in Liebesbeziehungen verbraucht schon mehr als 60 Prozent der vorhandenen Libido. Und wir haben kaum Erfahrung, was der Gegenpol ist. Keineswegs hören etwa mit antiautoritärer Erziehung die Introjektion des Aggressors und die Aggression auf. Das wissen wir gar nicht, was wir da tun. Wir müssen das untersuchen. Denn das sind die Öfchen, Kernkraftwerke, in denen entweder Haß oder Friedensschluß als Rohstoff entstehen. Stollmann: In »Geschichte und Eigensinn« sprechen Oskar Negt und Sie von einem »Produktionsprinzip« und einem »Abstraktionsprinzip«, die verbunden sind mit der konkreten Erscheinungsform von Genitalität. Das Abstraktionsprinzip ist das Aggressive. Kluge: Das sind hochsynthetisierte Zusammensetzungen, die man auf ihre Elemente überprüfen muß. Originär davon kann gar nichts sein. Auch die Genitalität, wir haben zwar so ein Glied als Männer, ein weiblichen Körper weicht davon ab, aber daraus auf feste Eigenschaften zu schließen ist vollkommen verquer. Man muß die Elemente auseinanderlegen. Grundsätzlich ist alles androgyn, das ist das Wirkliche. Daraus kommen die männlichen und weiblichen Phänotypen erst zustande samt allen Rollen und kulturellen Zutaten. Stollmann: So daß der Verbrauch der Libido zu falschen, aggressiven Zwecken, weil in falsch Zusammengebautem hausend, der Grund dafür ist, wenn Sie in »Geschichte und Eigensinn« das Kriegskapitel und das Beziehungskapitel in einem Teil behandeln, Krieg und Liebe zusammen thematisieren? Kluge: Wie es Freud sagt. Eine Geschichte aus dem Kapitel »Anfänge der Revolution« (vgl. Kluge 2003, Kap. 9.1) beschreibt, wie 1917 Freud auf dem

50 | Rainer Stollmann, Alexander Kluge Psychoanalytiker-Kongreß in Budapest erklärt, daß die Wunden, die man auf den Schlachtfeldern der Liebe erleiden kann, unverhältnismäßig schwerer wiegen als die Verletzungen, die man im Kriege erleidet. Stollmann: Das ist sehr merkwürdig, daß die Psychoanalyse Kriegsneurosen heilen kann, indem sie sie als Symptome von Kindheitstraumata behandelt. Kluge: Das sind alles Fragen, die wir wie auf einem Atlas niederlegen müssen, und zu dem Atlas des Narrativen gehört, daß man erst später wissen wird, was davon sich in der Erfahrung bewährt und was widerlegt wird. Aber wir müssen zunächst einmal diese Karten der Erfahrung aufzeichnen durch Erzählungen, Landkarten anlegen, wie sich Menschen überhaupt verhalten auf dieser eigentümlichen Schatzsuche, die wir entweder Arbeit oder gesellschaftlichen Prozeß oder Krieg oder Beziehungsarbeit oder wie auch immer nennen. Das sind immer nur Ausschnitte eines ganzen Zusammenhangs.

Stichwort: Gefügeartige Arbeit Die einzige große, nachhaltige Revolutionierung, ein enormer Umbau der menschlichen Natur ist der bürgerliche Mensch. Bolschewisten sind eigentlich immer nur eine Verkleidung, eine Maskerade, jeder Sozialist, die integren, die bürokratischen in gleicher Weise, läßt sich immer auf die Tugenden eines bürgerlichen Menschen um 1600 zurückführen, das ist nur anders entfaltet. Dieser bürgerliche Mensch entsteht nicht dadurch, daß sich menschliche Eigenschaften verändern, sondern daß ein neues Gefäß entsteht, in dem sich menschliche Eigenschaften vom Boden getrennt organisieren, von den objektiven Begrenzungen, »Borniertheiten« (Marx) der Bodenwirtschaft entgrenzen können. Es ist so etwas wie ein entterritorialisierter Geist, der kraft Eigentum sich quasi wie auf einem anderen Planeten in dem Gewerbebetrieb, in der städtischen Wohnung, in der Werkstatt und später als Fabriksbesitzer usw., entfalten kann. Nun braucht dieser bürgerliche Mensch im Zweifel Gehilfen, obwohl auch einzelne in der Lage sind, geschützt durchs Eigentumsverhältnis, von der agrarischen Wirtschaft getrennte Großprozesse einzuleiten. Das ist nicht zwingend mit dem Kapitalbegriff verbunden. Ein Bürokrat des 17. und 18. Jahrhunderts, also der Kameralist, der Universitäten baut, Plantagen baut, durchaus im Auftrag seines Herrn, aber der Herr kann ihm das gar nicht erst befehlen. Leibniz ist ein typischer Charakter dieser Art, den würde man nicht nach Kapitalmaßstäben definieren. Er ist immer in gleicher

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Weise bedürftig, muß Leute anpumpen usw., aber er ist der Autor eines Beziehungsnetzes, das nicht agrarisch funktioniert. Eigentlich ist er auf dem Wege, China einzunehmen. Diese Richtung des neuen Menschen, die hat zwei Linien, homo compensator, ein faszinierendes Phänomen, und hoAbbildung 1: Lessi Smith ergriff in »unerhörter Geistesgegenwart« den Fallschirm seines Sergeanten

Quelle: Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt, Frankfurt/Main 2003, S. 727

52 | Rainer Stollmann, Alexander Kluge mo sapiens oder homo oeconomicus und das sind zum Teil sehr unangenehme Erscheinungen (vgl. hierzu Vogl 2003). Bei der gefügeartigen Arbeit gilt das alles nicht, sondern es entsteht noch etwas zweites, das Ernst Jünger genau beschrieben hat. Warum kommt er auf die Idee, die Gestalt des Arbeiters zu beschreiben? Weil er versteht, es gibt neben dem bürgerlichen Charakter, der kraft eines neuen Gefäßes entsteht, einen zweiten Charakter, der auch einen neuen Menschen darstellt, der aber nicht entsteht aufgrund des Eigentumsgefäßes. So daß sich die Eigenschaften komplexer zusammenfassend organisieren und auf etwas Umfassenderes, Globaleres richten können. Er hat eine Bindung an unmittelbare Maschinerie, Objekte, Situationen und die Zuarbeit anderer. Bei der gefügeartigen Arbeit muß ein Mensch auf den anderen reagieren und auf Maschinerie, die aber einen Eigenwillen zuläßt – das hat mit Fließband nichts zu tun. In dieser Form der lebendigen Arbeit im Gefüge mit anderen und mit Maschinerie entsteht ein anderer Prototyp eines neuen Menschen, der übrigens im Blitzkrieg den Helden macht, Vorkämpfer ist, der in allen Pionierangelegenheiten, wo eine Neuentwicklung durchgesetzt wird, einschließlich des Civil Corps von Kennedy, mit dem die Welt erneuert werden soll, auf kurze Zeiten eine Existenz hat und oft mit dem sozialistischen Menschen verwechselt wird. Denn dieser Typ geht gar nicht auf Gemeinwillen, Teilung oder Abschaffung des Eigentums, sondern er geht auf ein völlig anderes Ziel, nämlich das Gelingen, das Glück einer Arbeit. So wie die Libelle, ohne daß sie die ganze Umgebung durchdenken kann in ihrer Fluggeschwindigkeit, taktil mit der Umgebung zu tun hat, so verkehrt und bewegt sich dieser Mensch ohne Einmischen einer Zentrale. Das ist das Neue. Diesen Menschentyp haben wir bis jetzt nicht erforschen können. Es gibt gewisse Gesellschaften, von Roosevelt über die Nationalsozialisten bis zu den Anfängen des Sozialismus in Rußland, wo Ahnungen von Organisatoren da Anleihen gemacht haben. Er ist dasjenige Element, das in der Revolution von 1905 so verblüffende Effekte erzeugt, die Rosa Luxemburg beobachtet hat, daß Nachrichten schneller als die Telegraphen sich verbreiten, daß sie quasi über Ahnung vermittelt werden. Das ist das, was in Notsituationen diese exzessive Extraanstrengung von Menschen, dieses Wunder an Hilfsbereitschaft oder Wunder an Auswegen, auslöst. Er spielt in der Protestbewegung eine Rolle, seltsamerweise bei Speer, bei der Rüstung nach 1942, hat dort kurzzeitig Erfolge und verschwindet dann wieder. Und die Beobachtung, daß hundert Arbeiter in einer Stunde mehr arbeiten als ein Arbeiter in hundert Stunden, ein Mehrwert, den Marx als Resultat von animal spirits bezeichnet und der ökonomisch, d.h. aus der kapitalistischen Ökonomie, überhaupt nicht zu erklären ist, die ist damit verknüpft. Aber einen Begriff davon gibt es überhaupt nicht, das kann man aus-

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schließen. Diese Seite des neuen Menschen, die gilt es zu erforschen und zwar unabhängig von doktrinären Gesichtspunkten wie Herleitung aus einer ökonomischen Struktur, Bewertung des Motivs (zielt das auf Gerechtigkeit?) o.ä.. Diese neue Haltung kommt nicht aus der ökonomischen Auflehnung gegen Unterdrückungsverhältnisse, sondern aus der Schatzsuche. Der Schatz liegt darin, daß etwas, das gelingt, schon an und für sich, als Spielerisches Lust macht. Es geht nicht darum, Gegentheorien zu Marx oder zur Kritischen Theorie zu entwickeln. Ich kenne nur kein einziges Beispiel eines auf längere Frist gültigen sozialistischen Verhaltens. Offenkundig ist das Gefäß dafür noch nicht gefunden. Wenn aber der bürgerliche Mensch nicht eine neue Eigenschaft ist, sondern die Summe aller vorangegangenen Eigenschaften in einem neuen Gefäß, dann ist der Arbeiter in der gefügeartigen Arbeit, der spontane Arbeiter, ebenfalls ein mit dem Bürger überhaupt nicht zu verwechselnder Charakter. Ihm fehlt das Akkumulative, er ist viel stärker im Moment, im glücklichen Versuch zu Hause, also durchaus ein im Lusthaushalt stärker befestigter Charaktertyp, das ist das Neue an ihm. *** Karl Korsch sagt den Nationalsozialismus voraus. Eine Beobachtung aus Anlaß des britischen Generalstreiks vom Mai 1926 Bei der Beobachtung der besonderen Disziplin, mit der britische Gewerkschaften während des Generalstreiks von 1926 den hundertjährig geschützten Raum des Streikrechts zu wahren suchten und sich die konservative Regierung, lüstern, den Generalstreik zu behindern, dennoch bezähmte und den Anschein erweckte, sie handle neutral, fiel Korsch ein Umstand auf, von dem er meinte, daß Karl Marx ihn in seiner Analyse nicht ausreichend untersucht hätte. In der deutschen (und kontinentalen) Tradition verkauft der Arbeiter seine Arbeit, und der Unternehmer streckt ihm hierfür die Lebenskosten vor. In England dagegen gilt seit etwa 1820 die Fiktion des Warentauschs: Der Arbeiter bietet sein von ihm gefertigtes Arbeitsprodukt feil, hierfür zahlt der Unternehmer den niedrigstmöglichen Preis. Auf diesem Hintergrund sind die Begriffe ENTFREMDUNG und VERRAT, und somit die Kategorien des Klassenkampfes, schreibt Karl Korsch, in England unverständlich. Ein Generalstreik wird mit einem Arrangement enden. Ganz anders in Deutschland, wenn jetzt die Rücknahme der Errungenschaften von 1918 versucht wird. Ein Generalstreik führt wegen der größeren Essentialität, um die es bei dem Tausch geht, zum Bürgerkrieg. Im Grunde, sagt Korsch, werde auf dem Kontinent gar nicht getauscht, da die Lebenskosten stets etwas Eigenes und die verkaufte Arbeitskraft ebenfalls etwas Eigenes blieben. Beides werde im ERNSTFALL nicht zurückgefordert, sondern »es fällt zurück«. (Kluge 2003: 729f.)

54 | Rainer Stollmann, Alexander Kluge Stollmann: Hier gibt es eine Geschichte über den großen Theoretiker Karl Korsch (1886-1961), die auf einen grundlegenden Unterschied des Arbeitsbegriffs in England und in Deutschland hinweist. Es ist auffällig, daß in England Verträge in der Politik eine große Rolle spielen, z.B. die Magna Charta. Wogegen es sich in Deutschland anders verhält, wie uns Eulenspiegel berichtet. Kluge: Können Sie das mal erzählen? Stollmann: Das ist eine Bremer Geschichte. Bremen ist eine bürgerliche Stadt, die von Kaufleuten, einem Handelspatriziat regiert wurde. Sie regelten ihr Zusammenleben und die städtische Politik vertraglich, ganz ähnlich wie die Magna Charta, bloß in kleinerem Ausmaß. Da findet bis heute jedes Jahr ein sogenanntes Brudermahl statt, dessen Vorbereitung und Durchführung ebenfalls in einem Vertrag festgehalten sind. Eulenspiegel ist nun auch Bremer Kaufmann und muß dieses Brudermahl gestalten. Er läßt die ankommenden Gäste sehen, wie er die warme Butter durch seine Hinternritze auf den schönen Braten rinnen läßt. Von diesem Braten wollen die andern natürlich nicht mehr essen. Aber selbst dafür ist in dem Vertrag zwischen den Kaufleuten noch ein Paragraph vorgesehen, der besagt, wenn einer nicht am Brudermahl teilnimmt, dann muß er bezahlen. So bekommt Eulenspiegel beides, nämlich seinen Braten, vor dem er sich selber nicht ekelt, und zweitens die Geldbuße aller anderen. Das heißt, er hat den Vertrag als Instrument des gesellschaftlichen Zusammenlebens ad absurdum geführt. Kluge: Genutzt. Er hat ihn, wie man in bezug auf die DDR zu sagen pflegte, »korrekt und vollständig ausgefüllt«. Stollmann: Die Kaufleute müssen deswegen in Zweifel geraten über den Wert von Verträgen. Das ist, glaube ich, doch eine deutsche Tradition… Kluge: … auf Treu und Glauben. Ein Stück Leben ist und bleibt unveräußerlich. Das ist der Kernpunkt. Während in Großbritannien eigentlich alles Gegenstand eines Handels sein kann. Stollmann: Daraus müssen sich doch verschiedene Haltungen, verschiedene Formen von Vernunft entwickeln. Kluge: Wie eine gesellschaftliche Fabrik produziert so etwas über zweitausend Jahre spezifische Eigenschaften. Dabei interessiert mich die Entwicklung in Mitteleuropa besonders, die zunächst eine relativ freie Bahn kennt,

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dann einen Feudalismus, der die Bauern enteignet, dann einen verlorengegangenen Bauernkrieg, die Jacquerie in Frankreich, in Deutschland die Bauernkriege. Hierauf eine Enttäuschung des Bürgertums, Tillmann Riemenschneider werden die Hände abgeschlagen, das ist sein Arbeitswerkzeug, das ihm genommen wird, nur weil er einen Moment lang verbündet war mit den Bauern. Das sind ganz bestimmte Stauungen von Erwartungen. Bei jedem Unglück dieser Art entsteht auf der anderen Seite die Hoffnung, daß es sich wendet. Wird das Unglück sehr groß, wächst auch die Hoffnung – daß nämlich aus dem Morgenland plötzlich Kaiser wiederkehren, aus dem Kyffhäuser heraustreten und die Schlacht von Frankenhausen nachträglich anders entscheiden. Oder 1945, wenn der Gauamtsleiter in Aachen sagt, jetzt hilft gegen die Alliierten und die Bomberflotten nur noch, daß Barbarossa aus dem Kyffhäuser hervorkommt und sie wegfegt. Dann entsteht eine Phantasmagorie, die aber etwas Reales ist für das Gefühl. Irgend etwas bei mir, weil ich immer ungerecht behandelt wurde samt meinen Vorfahren, bleibt unverkäuflich. Ich trete nicht in den Handel, weil ich an den gerechten Handel überhaupt nicht glaube. Stollmann: Es gibt im Deutschen die Redensart »Wer tauschen will, will betrügen.« Kluge: Ich kann die Arbeitskraft nicht mit Kompromissen verkaufen, ich kann sie letztlich gar nicht verkaufen. Wer mein Vertrauen enttäuscht, dem nehme ich es weg. Das kann durch Geld allein nicht ausgeglichen werden. So wird auf dem Kontinent alles etwas radikaler als in England. Das ist im Grunde die Haltung in Deutschland, so daß Arbeitskämpfe nie nur um Geld gehen, sondern immer um moralische Attribute, um Vertrauensverhältnisse. Damit können zum Beispiel nach dem Ersten Weltkrieg die Bergarbeiter befriedet werden, indem ihnen eine Stunde gewährt wird, in der sie sich umziehen zum Beginn der Arbeit und sich wieder umziehen am Ende der Schicht. Dafür haben sie über Jahrzehnte gekämpft. Obwohl der Geldwert davon ganz gering ist und sie zu diesem Zeitpunkt mit Generalstreik alles erreichen könnten, kann sie das befrieden. Umgekehrt können sie durch Geld nicht befriedet werden, wenn es um Unrecht geht. Daher ist die Auffassung, was in Wahrheit getauscht wird bei Arbeit gegen Lohn, auf dem Kontinent etwas anders als in Großbritannien – übrigens in Deutschland anders als in Frankreich, aber ähnlicher als in England, wo alles dem Handel unterliegt und damit auch gefährliche Arbeitskämpfe sehr viel mehr Rationalität vertragen. Daher auch in Steiksituationen Rücksichtnahme bei den Konservativen, die dort durchaus rücksichts-

56 | Rainer Stollmann, Alexander Kluge loser sind, als unsere Konservativen in Mitteleuropa je waren. Das gelingt aber, weil der Verkauf der Arbeitskraft eigentlich ein Geschäft, ein Tausch von Ware gegen Ware ist. So wie Marx das auch beschreibt, das hat er den englischen Verhältnissen abgelesen. Das war es weder bei den Webern noch bei den Industriearbeitern, vor allen Dingen nie bei den Facharbeitern in Mitteleuropa. Stollmann: Kann man von unterschiedlichen Kulturen sprechen? Kluge: Ökonomie ist die präzisere Bezeichnung. Es gibt diese Binnenökonomie im Menschen, wann er etwas von sich weg gibt. Ein Bauer wird seine Frau und seine Kuh nicht verkaufen. Der Arbeiter gibt im Grunde bestimmte Fähigkeiten von sich nur hin, wenn er eine Führung hat und an einem Produkt arbeitet, an dem er hängt. Dann kann man ihn ökonomisch knechten wie man will, er wird das lange Zeit mitmachen. Die Arbeitsbereitschaft, die Hingabebereitschaft im Dritten Reich ist nur so zu erklären, in der Rüstungswirtschaft beispielsweise. Stollmann: Können Sie einmal den letzten Satz der Geschichte erläutern? Was heißt: »Es fällt zurück«? Kluge: Wenn ich eigentlich einen Handel gar nicht gemacht habe, sondern ich habe gewissermaßen den Arbeitgeber belehnt mit meiner Arbeit und er hat mich belehnt oder abhängig gehalten, indem er meine Lebenskosten bezahlt, dann ist das ein provisorisches Verhältnis. Eigentlich sind wir nach wie vor wie im 12. Jahrhundert Gleiche. Die tägliche Fabrikarbeit ist ein Provisorium, an das ich nicht recht glaube. Real wäre, wenn ein Ernstfall eintritt. Die Fabrikarbeit mag mich quälen, aber sie ist am Wochenende durch einen Unterhaltungsabend auflösbar. Daher kann man sagen, daß die Revolution, die in Mitteleuropa nicht stattgefunden hat, gerade deshalb permanent, latent immer vorhanden ist, denn keine Arbeitskraft, kein Michael Kohlhaas und kein Fabrikarbeiter hat je sich endgültig verkauft. Das ist jetzt in Wirklichkeit natürlich weit differenzierter, wenn Sie z.B. polnische Arbeiter im Ruhrgebiet nehmen, dann kann ich nicht behaupten, daß es sich genauso verhält; es ist typisiert, es ist der reichsdeutsche Arbeiter, der Facharbeiter. Stollmann: Und was heißt jetzt: »fällt zurück«? Kluge: Das heißt, in dem Moment gehöre ich als Arbeitskraft mir selbst und bin eigentlich in der Lage, die Fabrik selbst zu leiten, der Kapitalist soll sehen, wo er bleibt. »Fällt zurück« heißt, ich habe mich gar nicht ernsthaft

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in eine Vertragsbeziehung begeben. Ein englischer Arbeiter würde sagen, ich schulde etwas, ich habe einen Lohn empfangen und muß daher noch das Produkt abliefern, also bis 19 Uhr bleibe ich. Aber ein deutscher Facharbeiter von 1944 empfindet nicht so stark, daß er bleiben muß und glaubt eher, daß die Geräte, die er bedient, viel mehr ihm gehören. Das ist der Facharbeiter, der die Geräte heimlich in die Wälder bringt, wenn die Alliierten sie beschlagnahmen wollen. Er verbindet eine exzessive Hingabebereitschaft mit einem jederzeitigen grundlegenden Kündigungsrecht, unerachtet dessen, ob er die Lebenskosten erhalten hat oder nicht. Stollmann: Müßte es etwas von dieser Haltung nicht auch auf der Unternehmerseite geben? Kluge: Das ist das patronale System, das bei allen großen Unternehmen wie Schlieker, Borgward, bei Siemens, Bertelsmann, eine nicht nur phraseologische, sondern eine reale Bedeutung hat. Stollmann: Krupp … Kluge: Der für die Wohnflächen der Arbeiter wirklich sorgt und ihre Versicherung wirklich abdeckt, das hat diesen Charakter. Wenn die Latifundien in Mecklenburg und Ostpreußen patronal geführt werden und jeder Arbeiter auch sein kleines Deputat hat, dann hätten Sie diese Mischform. Ich würde das nicht unterschätzen. Es würden einige Leistungen in der kontinentalen Wirtschaft anders nicht funktioniert haben. Stollmann: Noch Kirch ist ein patronaler Unternehmer? Kluge: Absolut. Stollmann: Er hat viel zu viele Arbeiter, Angestellte beschäftigt im Vergleich mit einem rational geführten Betrieb? Kluge: Und zwar aus diesen patronalen Traditionen, wenn Sie so wollen, einem gefühlsmäßigen Grund. Stollmann: So daß für den europäischen Kontinent in besonderem Maße Marx’ Einsicht zutrifft, daß Feudalismus und Kapitalismus »eine Epoche« sind. Kluge: Das ist der Punkt von Michelet. Jules Michelet ist der große Meister und Historiker, der diese Beobachtung macht, daß das Grunderlebnis, aus

58 | Rainer Stollmann, Alexander Kluge dem Gemeinwesen gegründet werden, der Tausch Treue gegen Treue ist. Das ist im frühen Mittelalter, im Vormittelalter, nach Rom, der Grundrohstoff, aus dem Gemeinwesen entstehen. In Rom war das nicht erforderlich. In der Völkerwanderung entstehen Freikorps, das sind neue Gesellschaften, in denen der Liebesbegriff, der Arbeitsbegriff und der Vertragsbegriff neu gebildet werden. Wenn im Römischen Reich ein Vertrag gebrochen wird, wandert der Rechtsbrecher in den Schuldturm und ist Sklave. Das ist noch immer die Grundlage des Handels und in England beispielsweise typisch. Im Sachsenspiegel finden sie Treu und Glauben und eine Menge von Treuepflichten gegeneinander, aber bei deren Verletzung gilt kein formelles Recht. Deshalb muß es für die Bauern entsetzlich gewesen sein, wenn dann plötzlich Römisch-Rechtler, also Regierungsbeamte von oben nach unten in keltischen Gemeinwesen italienisches Recht durchsetzen. Bisher galt Treue um Treue und das gesprochene Wort, und plötzlich heißt es, es gilt das gebrochene Wort, irgendeine spitzfindige Auslegung von niedergeschriebenen Texten, die sowieso kaum einer lesen kann. Stollmann: Ist Treue um Treue denn etwas anderes als das, was man in Familienbeziehungen übt? Kluge: Genau dasselbe, es ist in der Intimität überprüfbar, daß es Treue und Untreue gibt. Die Stiefmutter, die Hänsel und Gretel in den Wald treibt, den Mann verführt usw., die ist untreu. In der Familie kann ich das ganz genau unterscheiden, wo ist der Verrat, dem ich dann nicht gehorchen muß, und wo gilt das Vertrauen, dem ich dann blindlings folgen muß.

Literatur Klein, Naomi (2002): No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht, Gütersloh. Kluge, Alexander (2003): Die Lücke, die der Teufel läßt. Frankfurt/M. Vogl, Joseph (2003): Kalkül und Leidenschaft. München.

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Wozu Theorie? Dirk Baecker und Rainer Stollmann über Kritische und Systemtheorie

Theorie in gespenstischer Wirklichkeit Stollmann: »Theorie ist, wenn man alles weiß und nichts klappt, Praxis ist, wenn alles klappt und keiner weiß warum« (Negt/Kluge 1981: 1162). Das steht in »Geschichte und Eigensinn«, ein Volksmundwitz. Baecker: Aber von Alexander Kluge meiner Meinung nach sehr ernst gemeint. Die Unabhängigkeit des theoretischen Verhaltens von der Praxis betont Adorno genauso stark wie Luhmann. Kluge bewundert die Systemtheorie. Sie sei aber etwas für Autobahnfahrer, für Leute, die freie Strecke haben und dann aufs Gaspedal drücken können, während seine Theorie, eine mit Praxissinn aufgeladene spätmarxistische Theorie, eher etwas für den Sumpf und die Orientierung in unübersichtlichem Gelände sei. Ich muß sagen, daß ich darauf bisher keine wirklich überzeugende Antwort gefunden habe. Der höhere Konkretisierungsgrad eines aufgeklärten Marxismus ist Problemen angemessen, die man hat, wenn man sich in Sümpfen oder im Dschungel zurechtfinden soll. Auch die Betonung der im System der Gesellschaft nicht aufgehenden Dimensionen des Menschlichen, des Menschen mit Haut und Haar, ist ein überzeugendes Moment des aufgeklärten Spätmarxismus. Andererseits muß ich sagen, daß all das, was in den letzten 20, 30 Jahren an Theorien entwickelt worden ist, nicht nur in der Systemtheorie, sondern auch in der Netzwerktheorie oder in der Evolutionstheorie, in zunehmendem Maße die Pointe der Einsicht in das eigene Nichtwissen hat. Die

60 | Dirk Baecker, Rainer Stollmann Theorie sieht inzwischen ein, daß sie von der Autobahn herunterkommen und sich für den Sumpf fit machen muß. Ein Grundgedanke in der Systemtheorie ist, daß sich jedes System mit einer Umwelt auseinandersetzen muß. Diese Umwelt ist aber zu komplex, das heißt, undurchschaubar für das System und muß daher auf irgendeine Art vom System erfunden werden, um mit ihr umgehen zu können. Das ist ein epistemologischer Korrekturgedanke, der an das System herangetragen wird, zu sagen: »Vorsicht, paß auf! Gleich wirst du anfangen zu stolpern, denn du hast die Umwelt nicht im Griff, selbst wenn du glaubst, dich selbst im Griff zu haben.« Stollmann: Luhmann schreibt in »Soziale Systeme«, Theorie finde über den Wolken statt, Benjamin fordert eine Theoriebildung im Handgemenge. Das ähnelt Autobahn und Dschungel. Baecker: In der Systemtheorie – nicht nur bei Luhmann, sondern auch bei anderen, und ich würde mich da einschließen – gibt es eine gewisse Scheu vor dem Handgemenge. Nicht daß man nicht mit theoretischen Interventionen, kritischen Beschreibungen, pointierten Formulierungen usw. schon bei der Sache sein möchte, aber der Respekt vor dem anderen und der Art und Weise, wie er sich verhält und seine Welt zurecht bastelt, ist so groß, daß man nicht mit ihm ins Handgemenge gehen möchte. Stollmann: Blättert man in Kluges Büchern, so kann man einen plastischen Eindruck von Dickicht oder Handgemenge gewinnen. Könnte das der Grund sein, daß z.B. »Geschichte und Eigensinn« zwar inzwischen 60.000mal verkauft wurde, aber in der akademischen Welt nicht zur Kenntnis genommen wird? Baecker: Das ist ein merkwürdiges Phänomen. Ich fürchte, die Beantwortung dieser Frage muß näher auf die akademische Welt eingehen. Mit ihr hat das mehr als mit dem Buch zu tun. Akademiker brauchen, wenn sie Bücher verwenden sollen, Duftmarken, die ihnen eine Zuordnung erlauben, welche Theorie, welche Methode und welches Thema mit welcher konsequent entfalteten Argumentation entwickelt wird. Diese Duftmarken verweigern Kluge und Negt nicht, sondern sie liefern zu viele von ihnen. Klassische Philosophie, viele zeitgenössische Denker, gleichgültig in welchem geistigen Lager sie beheimatet sind, die Selbstorganisationstheorie, d.h. eine bestimmte neurophysiologische Konzeption, psychologische Theorien, sogar Quantentheorie ist ebenso darin zu finden, wie eine außerordentlich lebendige, aber immer den Punkt verweigernde kritische Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Man müßte den Unterschätzten Menschen, be-

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sonders »Geschichte und Eigensinn« noch einmal gegen den Strich lesen, um sich anzuschauen, was aus dem Marxismus wird, wenn man das Buch ernst nimmt. Man denkt immer, Habermas sei der letzte Marxist, mit dem man die politische Dogmengeschichte lesen und gegenlesen könne, aber wahrscheinlich wären da Negt und Kluge mindestens genauso aufschlußreich. Das ist das eine, und das andere ist, daß man als Akademiker sehr schwer kontrollieren kann, worin der jeweilige thematische Zugriff beim Unterschätzten Menschen besteht. Es werden Geschichten erzählt, es wird die Geschichte als solche herangezogen, um bestimmte Logiken der Entwicklung menschlicher Gesellschaft zu behaupten, es werden singuläre menschliche Aktionen beschrieben, die wieder quer laufen gegenüber dem, was als Geschichte oder als Geschichten gerade eben gezeigt worden ist. Ein Philosoph, ein Soziologe oder ein Historiker muß verzweifeln, wenn er so etwas liest. Es sei denn, er ist Intellektueller und in der Lage, mit dem Buch aus seinem Fach herauszuschauen und kritisch auf es zurückzuschauen und das zu tun, was die Stärke des Buches ausmacht – zu blättern und zu entscheiden, welche einzelnen Theoreme oder Geschichten man aufgreift, um einen Sachverhalt zu betrachten, der besonders interessiert und der bei Kluge vielleicht noch nicht vorkommt. Dieses ›Patchworking‹, dieses Verwenden eines Buches als Steinbruch, regelrecht als Praxisleitfaden für das eigene Denken, als Klugheitslehre, das ist an diesem Buch intellektuell so interessant. Aber so zu lesen, ist typischerweise keine akademische Geste. Stollmann: Die Autoren bezeichnen »Geschichte und Eigensinn« als »philosophisches Buch«. Wie verhalten sich eigentlich diese beiden Begriffe, Philosophie und Theorie? Baecker: Hier wie in vielen anderen Fällen ist es nützlich, Philosophie wieder ins Deutsche zu übersetzen: Liebe zum Wissen. Und dabei darf man nicht, was dem akademischen Trend entsprechen würde, die Systematizität des Wissens betonen, also die Möglichkeit, das wahre vom falschen Wissen zu unterscheiden, sondern die Liebe zum Wissen. Was können wir wissen und was macht uns Spaß daran? Warum sind wir verliebt oder vernarrt in das Wissen über bestimmte Gegenstände? Das macht Philosophie zum Thema. Ein Philosoph ist jemand, der wie Schopenhauer Spaß daran hat, ein Wissen zu entwickeln, das ihn zur Verzweiflung über die Welt bringt. Es gibt aber die dazu passende andere Geste des Philosophen, die das Wissen schätzt, was ihn dazu bringt, an Details, an großen Zügen, an kleinen Geschichten oder an großen Entwicklungen die Liebe zu dem, wovon das Wissen handelt, neu zu finden. Philosophie ist etwas für die langen Nächte, nachdem man die Tagesar-

62 | Dirk Baecker, Rainer Stollmann beit hinter sich hat und fragt, was soll das eigentlich alles? Man frischt die Motive auf, sich auf Gegenstände wieder einzulassen, sie sich noch ein weiteres Mal anzusehen. Wie hat Kant den kategorischen Imperativ gemeint? Warum hat Plato so sehr gegen das Geld gewettert? Wieso kam Montaigne auf die Idee, Essays zu schreiben? Es müssen Fragen sein, die das eigene Denken wieder zum Leben erwecken, wenn man dann am nächsten Tag auch als Tagesarbeit daran Spaß haben soll. Das leistet die Philosophie viel mehr als die Theorie. Stollmann: Nun ist die Ausgangsfrage dieses Buches (»Geschichte und Eigensinn«) sehr präzise: Es reicht nicht aus, wie Marx den Kapitalismus, die Zwangsnormierung über dem Leben zu beschreiben, sondern der Kapitalismus greift zurück auf eine viel größere Gesamtgeschichte, die vorher abgelaufen ist: Naturgeschichte und Kulturgeschichte, die sich in die lebendigen Arbeitsvermögen eingeschrieben haben. Damit muß jede historische Ökonomie umgehen, ob sie will oder nicht. Die Stichworte sind: Ökonomie und Arbeit, d.h. die Bewegungsgesetze und Maßverhältnisse lebendiger Arbeitseigenschaften, also praktisch die Unterseite des Kapitals zu beschreiben. Die leitende Frage der theoretischen Philosophie seit ihrem Ursprung auf dem Marktplatz von Athen ist, wie erkennen wir etwas, wie kommt es zu verläßlicher Erkenntnis? Marx antwortet darauf: diese Frage ist verkürzt, es geht nicht nur ums Denken als eine sehr spezifische Arbeitseigenschaft, sondern die Erkenntnis der Wirklichkeit ist die gesamte Arbeit des Menschen – das ist die philosophische Wende bei Marx. »Das, was in der Wirklichkeit denkt«, heißt es in »Geschichte und Eigensinn«, »ist die Arbeit.« Baecker: Dem kann ich schwer folgen, weil da von Marx bis zu Negt und Kluge eine Ebenendifferenz getroffen wird, und zwar die Ebenendifferenz zwischen Basis und Überbau, zwischen Arbeit und Kapital oder zwischen Leben und Abstraktion. Eine solche Ebenendifferenz wirft meines Erachtens die Frage auf, wozu sie selbst gehört. Ist die Unterscheidung zwischen Kapital und Arbeit Teil des Kapitals oder Teil der Arbeit? Und wenn weder noch, wozu gehört sie dann? Außerdem hätte ich die Tendenz, die jeweiligen Wertungen gegen den Strich zu lesen und vom Leben des Kapitals, von der Arbeit des Überbaus zu sprechen. Aber das tun Marx und Kluge natürlich auch. Ich würde von der Praxis des Kapitalisten sprechen und von der Ideologie der Arbeit und mir würden auf diese Art und Weise die marxistischen Ausgangsdifferenzen zwischen den Fingern zerrinnen. Es bleibt dann, aber dafür ist nicht zuletzt Alexander Kluge wieder maßgebend, nur noch die Möglichkeit, von der Kunst der Unterscheidung und von der Kunst des Wechsels der Unterscheidung zu reden.

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Stollmann: Können Sie mir den Ausdruck »das konkret Lebendige des Kapitals« erläutern? Marx schreibt an einer Stelle, daß Kapital im Grunde nichts anderes sei als die Fähigkeit, Arbeitskraft zu konzentrieren. Baecker: Ich denke an einen Kapitalisten, der sich mit seinem Vermögensberater seine verschiedenen Geldanlagen ansieht. Er prüft, wie groß sein Vermögen ist, zu welcher Rendite es aktuell angelegt ist, zu welchen Risiken es wo angelegt ist, in Schatzpapieren, in Aktien, in Rentenpapieren, auf dem Sparkonto, wie auch immer. Der Kapitalist praktiziert tagtäglich jene bekümmerte Sorge, von der Goethe gesprochen hat, um herauszufinden, ob sein Vermögen adäquat angelegt ist oder nicht. Wie lange kann man das Geld, das man in argentinische Firmen investiert hat, noch dort lassen, wenn man hört, daß Argentinien große Schwierigkeiten im Umgang mit der Staatsverschuldung hat? Wie sehr ist die Möglichkeit, in russische Firmen zu investieren, die im vergangenen Jahr profitabel war, noch eine verläßliche Absicht für das kommende Jahr? Das sind konkrete Fragen, die entschieden werden müssen, Tag für Tag, von Minute zu Minute, je nachdem wie unruhig man ist. Mit Blick auf solche Sorgen spreche ich vom Leben des Kapitals, denn ohne diese Sorgen müßte es nicht von der einen Anlage in die andere wechseln, müßte nicht hier eine Produktentwicklung anstoßen, um dort schon wieder mit einer interessanteren Möglichkeit zu spielen. Es werden ständig neue Wirklichkeiten geschaffen, es gibt Ingenieurbüros, die an der Taylorisierung von Arbeitszusammenhängen arbeiten, es gibt Arbeiter, die an den taylorisierten Produktionsverfahren teilnehmen müssen, also am Fließband stehen – es gibt neue Wirklichkeiten in Hülle und Fülle. Und wenn man sich anschaut, daß ausgerechnet diese Wirklichkeiten bloß als Abstraktion oder als Realabstraktion betrachtet werden, dann kommt man auf die Idee, daß die Wirklichkeit, die von den Marxisten als konkrete Gebrauchswirklichkeit beschrieben ist, die handwerkliche und bäuerliche Wirklichkeit des 18. und 17. oder noch früherer Jahrhunderte ist, die aus humanistisch betrauerten Zeiten stammt. Stollmann: Wie verhält sich die Systemtheorie zu diesem Komplex Wirklichkeit, Unwirklichkeit, Abstraktion, Konkretion? Baecker: Man könnte den Gedanken der Abstraktion übersetzen in einen systemnäheren Gedanken und sagen, daß jeder Akt der Abstraktion gleichgesetzt werden kann mit dem Akt der Ausgrenzung eines Systems aus seiner Umwelt. Ein System besteht darin zu sagen, dies ist für mich wichtig und alles andere ist für mich nicht wichtig. Dann läßt sich sagen, daß durch

64 | Dirk Baecker, Rainer Stollmann ein System Unterscheidungen in die Wirklichkeit getragen werden, die vorher dort nicht existierten. Negt und Kluges Ausdruck der realitätslosen Realpolitik kann das sehr schön zeigen, weil das Argument der Realpolitik es möglich macht, daraus politische Entscheidungen abzuleiten, die für die Beobachter der politischen Entscheidung problematisch sind. Wer von Realpolitik spricht, nimmt damit eine ganze Reihe von Ausgrenzungen vor, z.B. soziale Rücksichtnahmen, die Möglichkeit der Förderung von wirtschaftlichen Zusammenhängen, der Versuch des Einbaus einer adversen politischen Tendenz in die eigene Politik, um an deren Stelle seine eigene interessengeleitete oder religiös motivierte oder dann doch verabsolutierte Entscheidung für eine bestimmte Politik zu setzen. Realpolitik abstrahiert zugunsten bestimmter enger Optionen von vielem anderen, grenzt ihr System aus allem anderen aus und agiert dann. Von außen kann man sehen, daß eine in vielen Hinsichten merkwürdig blinde Aktion aus dem Argument der Realpolitik abgeleitet wird. Stollmann: Können Sie dafür ein Beispiel bringen? Baecker: Vermutlich haben wir ja gerade eines vor Augen, wenn wir uns Bushs Kriegsstrategie gegen den Irak anschauen. Es mangelt nicht an Motiven diesen Krieg zu führen. Ob man auf das Öl, das es zu sichern gilt, schaut oder ob man auf die Absicht schaut, einen möglicherweise gefährlichen Einzeltäter aus einer politisch einflußreichen Position zu entfernen, das sind ja Motive, die einen Krieg zu rechtfertigen vermögen, von denen man sagen kann, daß die »Bush-Junta« (vgl. Le Carré 2003), wie das John Le Carré ausgedrückt hat, dieses Ziel mit einer beeindruckenden Konsequenz einer immer intelligenteren Einbettung in die weltpolitischen Verhältnisse zu verfolgen vermag. Trotzdem sieht man, daß das Ziel um den Preis von möglichen anderen politischen Maßnahmen durchgeführt wird und zumindest in der strategischen Formulierung der Amerikaner eine langfristige Befriedung der Region, ein langfristiger Ausgleich mit islamischen Positionen der Weltpolitik nicht vorkommt. Die US-Regierung macht deutlich, wer der Herr im Hause bzw. auf dem Globus ist und wer sich damit abzufinden hat. Da wird sichtbar, daß hochgradige »realistische« Politik gleichzeitig eine realitätslose, weil für längerfristige zukünftige Entwicklungen blinde Politik ist. Andererseits sieht man daran auch, daß es eine solche Realpolitik als isolierte Politik eines bestimmten Regimes gar nicht gibt, sondern daß diese Realpolitik dazu führt, daß viele andere Politiker und die Bevölkerung der jeweils betroffenen Länder Gegenpositionen beziehen. Auch die Gegner, also Länder, die sich auf seiten des Irak verorten, sehen, daß der westliche Gegner

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nicht etwa als Block auftritt, dem ein einziges religiös unterfüttertes oder ideologisch aufgeladenes Motiv unterstellt werden kann, sondern daß »der Westen« eine intern differenzierte Gegenposition ist, an deren Beschreibung, Sortierung und Adressierung die islamische Seite Ansatzpunkte für ihre eigenen internen Differenzierungen festmachen kann. Stollmann: Ist Realpolitik mit ihrem gespenstischen Realismus gewaltnah? Baecker: Sie ist zumindest in einem wesentlich geringeren Ausmaß durch den Einsatz von Gewalt beunruhigt als eine Politik, die mit einer größeren gesellschaftlichen Sensibilität ausgestattet ist. Vielleicht kann man sagen, daß genau darin das »Reale« der Realpolitik besteht: Sie ist prinzipiell damit einverstanden, daß die Macht der Politik nicht nur in der Androhung, sondern auch in der Ausübung von Gewalt besteht.

Theorie als kulturelle Sinnentätigkeit zwischen Systemen Stollmann: Es gibt von Marx den Gedanken, die Sinne seien unmittelbar in der Praxis selbst Theoretiker. Darauf beharren Negt/Kluge stark. Mir scheint, das ist auch ein Grund, warum ihre Bücher so fragmentarisch aussehen. Es denken darin kleine Sinne, kleine Geister. Es wird nicht ein großer Gedanke gewissermaßen imperialistisch durchgezogen, sondern es handelt sich um eine große Sammlung konkreter kleiner Geister, Beobachtungen, Gedanken, Analysen. Die Abschnitte bleiben überschaubar, die Brüche werden kenntlich gemacht. Ist das denn eine Konstruktion von Theorie, die irgendeinen Bezug zur Systemtheorie hätte? Baecker: Die Systemtheorie hat einen eigenen Hang zum Kleinen und Konkreten, der sich darin zeigt, daß sie immer wieder den Versuch macht, Komplexität auf Operationen hin zu dekomponieren, wie man so schön sagt. Sie zielt zwar letztlich auf die Synthese, das heißt auf die Beschreibung von Operationen, die ein System generieren, es hervorbringen können. Aber um dieser Synthese auf die Spur zu kommen, interessiert sie sich für oft minimale Vorgänge, die stockende Kommunikation, den überraschenden Rollenwechsel, die Pflege von Ambivalenz an scheinbar nebensächlichen Gegenständen, an denen sich die soziale Dynamik eines Gesprächs, einer Organisation, einer politischen Strategie oft verläßlicher entschlüsseln lassen als im Zuge eines Interesses an den großen gesellschaftlichen Funktionen. – Bei Negt und Kluge beeindrucken mich die neurophysiologisch informierten theoretischen Optionen. Mit Neurophysiologie meine ich, daß

66 | Dirk Baecker, Rainer Stollmann ein Plädoyer für die kleinen Sinne darauf Rücksicht zu nehmen versucht, daß der Mensch in diesem merkwürdigen Singular soziale, psychische, organische Fähigkeiten gleichermaßen hat. In der Systemtheorie, die ich kenne, hat man es immer mit der ungünstigen Situation zu tun, daß der soziologische Systemtheoretiker über soziale Zusammenhänge nachdenkt, der biologische Systemtheoretiker den Organismus beschreibt und die wenigen Psychologen, die es in der Systemtheorie gibt, die psychischen Fragen beschreiben. Einzig Talcott Parsons, der Begründer der soziologischen Systemtheorie, war noch in der Lage zu sehen, daß diese Dinge aufeinander bezogen werden müssen. Wie kann jemand an seinem Gedanken, z.B. der Bewältigung der Kantschen Aporien der Vernunft, festhalten, während er Hunger hat? Wie kann jemand an passionierte Liebe glauben, wenn er gerade betrogen wird? Wie kann ein Manager seine harten Personalentscheidungen durchhalten, während er weiß, daß er ein sattes Magengeschwür entwickelt? Stollmann: Beispiele solcher Art finden sich zuhauf in Kluges Geschichten: Je mehr davon zusammenkommt, desto konkreter beschreibe ich die Wirklichkeit. Baecker: Dieser Typ von Fragen, das Organische, Soziale und Psychische wieder aufeinander zu beziehen, ist keine Rückkehr zu irgendeiner Art von Humanismus, das würden auch Negt/Kluge nicht sagen, sondern das ist ein Motiv, das nach vorne weist, in ein neuartiges Ernstnehmen der sogenannten Kognitionswissenschaften, die im wesentlichen den Gedanken verfolgen, daß Kognition, also Erkennen von und Machen von Wirklichkeit auf der psychischen, sozialen und organischen Ebene gleichermaßen passiert, wobei die organische Ebene nicht etwa eine Kompaktebene ist, sondern die Niere produziert ihre Realität, die Leber, das Herz, der Magen mit seinen Geschwüren ebenfalls usw. Es gibt unverstandene Zusammenhänge zwischen diesen Ebenen, nicht etwa eine Kompakteinheit Mensch, wie das der Schöpfungsgedanke in eine wunderbare, in sich stimmige Ordnung gebracht hat, sondern ein tendenzielles Auseinanderfallen des Menschen in die verschiedenen kognitiven Ebenen, aus denen er besteht. Stollmann: Sie schreiben in Ihrem Buch über Kultur, daß die Systemtheorie die gesamte Realität in Systeme schön gegliedert hat, aber der notwendig übrig bleibende Rest, der ist dann die Kultur, von der Luhmann sagt, das sei ein schlimmer Begriff. Sie versuchen jetzt nicht, Kultur doch als System zu begreifen, sondern belassen Kultur im Zustand der losen Koppelung, des ›Kitts‹ zwischen den Systemen. Nun sagt Kluge von »Geschichte und Eigensinn«, die leitende Frage sei eigentlich gewesen: was ist Kultur?

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Baecker: Das ist interessant! Ich glaube, daß diese leitende Frage immer wieder aufgegriffen werden muß und nicht beantwortet werden kann, weil es seit dem 18. oder 19. Jahrhundert, vielleicht seit Herder, ein Motiv im Kulturgedanken gibt, den jeweiligen Antworten, die man auf diese Frage gibt, nicht über den Weg zu trauen. Schon die Antwort ist ein Motiv dafür, die Frage noch einmal zu stellen und die Antwort aus einer anderen Richtung zu erwarten. Vielleicht darf ich noch einmal den Bogen etwas anders spannen, ich würde nicht sagen, daß der Systemtheoretiker die Welt in Systeme gliedert, nach dem Motto, alles hat dann sein Töpfchen, und wir wissen, wohin es gehört. Die Systemtheoretiker beobachten, wie die Welt sich selbst in System-Umwelt-Unterscheidungen reproduziert, die Umwelt also Teil der Welt ist, wie er selbst als Systemtheoretiker auch nicht anders kann, als diese Unterscheidung zu treffen, und wie er dann, unabhängig von der Systemtheorie, unabhängig von den einzelnen Systemen so etwas sieht wie eine Beobachtungsinstanz Kultur, die immer wieder mahnend oder fasziniert, erschrocken oder begeistert den Finger hebt und sagt: »Vorsicht mit dieser Unterscheidung!« Wenn ihr so stark zwischen Politik und Wirtschaft unterscheidet, dann fällt kulturell der Zusammenhang der politischen Ökonomie durch das Raster und ihr habt keine Ahnung davon, wie man in politischen Unternehmungen, d.h. mit Gerechtigkeitsgedanken Herrschaftsverhältnisse aufrechterhalten kann. Oder wie man umgekehrt mit dem in Familien gewonnenen Gedanken der Liebe Politiker beobachten kann, die liebescodiert oder liebesmotiviert agieren. Der kulturelle Gedanke trägt den getroffenen Unterscheidungen den Gedanken nach, daß jede getroffene Unterscheidung etwas unterscheidet, was nicht objektiv unterschieden werden muß, weil die Unterscheidung ja die eines Beobachters ist, der auch anders unterscheiden könnte. Und der Beobachter, der die Unterscheidung trifft, der muß sich fragen lassen, wo er steht, wenn er seine Unterscheidung trifft. Kultur oder der kulturelle Gedanke ist diese Rückfrage an den Beobachter: »Was für eine Unterscheidung triffst du? Bitte versuche zur Korrektur auch das Unterschiedene als nicht unterschieden dir vorzustellen – das Wirtschaftliche der Politik, das Politische der Wirtschaft, das Menschliche der Gesellschaft, das Gesellschaftliche des Menschen, das Libidinöse der Kommunikation und das Kommunizieren des Unbewußten usw.« Das bedeutet nicht, daß man seine Systemtheorie angesichts der kulturellen Frage an den Nagel hängt. Denn selbstverständlich muß man auch für diese Möglichkeit der kulturellen Frage nach einer Systemreferenz fragen, im Hinblick auf die sie gestellt werden kann. Die Systemreferenz der Kultur ist die Gesellschaft. Die Kultur ist das Gedächtnis der Gesellschaft, eine Form ihrer Selbstthematisierung, die mit Erinnern und Vergessen gleichermaßen arbeitet.

68 | Dirk Baecker, Rainer Stollmann Stollmann: Der Trick der Systemtheorie ist die Beobachtung des Beobachters des Beobachters usw., da entsteht doch ein Theorie-Praxis-Verhältnis. Ich mache, indem ich der Beobachter des Beobachters werde, dessen Theorie zur Praxis usw. Wenn ich dies ins Unendliche fortsetze (bei dreien kann ich mir das noch vorstellen, bis fünf kann ich Ihnen schon nicht mehr folgen), würde das auf den Begriff der Kultur hinauslaufen, unendliche Beobachtung in Permanenz, der unendliche Zweifel, der unendliche Fortgang des Theorie-Praxis-Verhältnisses? Stollmann: Zum einen sicherlich, der Unendlichkeitsgedanke ist heuristisch sinnvoll, um die Unabschließbarkeit solcher Beobachtungsverhältnisse und damit auch der Verhältnisse der Konstruktion von Wirklichkeit im Kopf zu behalten. Aber andererseits besteht die Kultur dann mindestens aus zwei Seiten, nämlich aus dem Unendlichkeitsgedanken – höre nie auf immer weiterzudenken oder dir vorzustellen, daß du weiterdenken kannst –, aber eben andererseits und in direkter Ergänzung dazu gehört auch zur Kultur die Fähigkeit irgendwo anzuhalten, zu sagen, der vierte Beobachter interessiert mich noch, der fünfte interessiert mich nicht mehr. Hier fange ich jetzt an zu arbeiten, ein Produkt herzustellen, ein Projekt zu realisieren und bedenke dabei nicht, daß ich dann viele andere Produkte und Projekte nicht realisieren kann. Der kulturelle Gedanke besteht darin, im Hinblick darauf, daß das Motiv prekär ist, sich ein Motiv geben zu können, etwas zu tun, obwohl man weiß, daß man auch etwas anderes tun könnte, und das dann erst einmal für richtig zu halten. Stollmann: Wäre das eine politische Entscheidung? Baecker: Das ist dann politisch, wenn man sich fragt, wer ist davon betroffen, wer könnte eventuell Einspruch erheben, und wie gehe ich mit diesem Einspruch ohne oder mit Rekurs auf die Androhung von Gewalt um. Stollmann: Muß das nicht notwendig eine politische Entscheidung sein? Wenn auch vielleicht nicht in Universitätsseminaren … Baecker: Nein, d.h. je nachdem, wie man Politik definiert. Wenn man Politik bestimmt, wie man es bei Luhmann lesen kann, als Bewältigung des Problems des Dritten: bei allem, was ich tue, kann ich mir immer vorstellen, daß ein Dritter es ablehnt oder dem zustimmt. Wenn ich diesen Dritten mitführe als Kontrollgedanken meines eigenen Tuns und wenn ich mich frage, wie halte ich mir diesen Dritten vom Leibe, wie schaffe ich es, die Steuer nicht zu bezahlen bei dem Einkommen, das ich gerade generiere,

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oder wie begründe ich vor mir selbst den guten Sinn dieser Steuern, dann ist das ein politischer Gedanke. Nur dann, wenn dieser Dritte und die Frage des Umgangs mit dem Dritten stellvertretend für das, was man früher Kollektiv genannt hätte, mitgeführt wird, wäre ich bereit von Politik zu reden, sonst wird es ein zu großformatiger Begriff. Stollmann: Ich möchte noch einmal zurückkommen auf die Marxsche Formulierung, die Sinne sind »in der Praxis Theoretiker«. Enthält sie nicht im Prinzip einen ähnlichen Unendlichkeits-, Unabschließbarkeitsgedanken wie die Systemtheorie? Das Fliegenauge ist eine Theorie über die Welt und das Menschenauge ebenfalls. Gleichzeitig ist, was sie tun, vollkommen natürlich ins Praxisfeld von Fliege und Mensch eingebunden. Baecker: Der Organisationsforscher Karl E. Weick hat festgestellt, Theorie bestehe darin, unwahrscheinliche Erwartung zu bilden und sich dann anzuschauen, ob diese Erwartung scheitert oder nicht (vgl. Weick 1995). Theorie ist die Selbstbeobachtung einer Erwartung im Hinblick darauf, ob das, was man erwartet, eintrifft oder nicht. Wenn man das so formulieren kann, muß jeder Sinn, auch jeder körperliche Sinn mit einem theoretischen Moment ausgestattet sein, einmal um sich mit anderen Dingen zu koordinieren, zweitens aber, um zumindest nachträglich immer in der Lage zu sein, dem eigenen Augenschein, dem eigenen optischen Eindruck, dem eigenen Geruchssinn auch zu mißtrauen. Wir wissen aus der Neurophysiologie, daß es keinem Sinn in die Wiege gelegt ist, daß wir sehen, was wir sehen, und kein Mensch in der Lage ist, das was er gerade sieht, im Moment des Sehens von einer Täuschung zu unterscheiden. Weder akustische noch optische noch olfaktorische noch taktile Illusionen werden von den Sinnen als Illusionen erkannt, sondern sie werden identisch gesetzt mit Wirklichkeit. Nur im Verhältnis der Sinne zueinander und in einer gewissen reflexiven Schleife jedes einzelnen Sinnes auf sich selbst kommt es zu der Möglichkeit, daß man dem eigenen Augeneindruck nicht traut, wenn man einmal genau hinblickt. Und das ist ein theoretisches Moment, das in der Lage ist zu erkennen, hier wurde gerade gestolpert, das ist aber kein Grund auszusteigen, sondern es ist ein Grund, die eigene Erwartung zu schärfen, noch einmal hinzusehen und zu überlegen, mit welchen Erwartungen man geschaut hat und was davon stimmt und was nicht. Theorie als virtuoses Umgehen mit Erwartungen wird nicht aus der Kritik der reinen Vernunft, sondern aus der Kritik der reinen Erwartung geboren – wie bei Kant, vermutlich. Das Vorbereitetsein der Sinne, Bestimmtes wahrzunehmen, zu erkennen – das ist das theoretische Moment bei Marx wie in der Neurophysiologie. Die Neurophysiologen

70 | Dirk Baecker, Rainer Stollmann sind nicht sehr weit in der Beschreibung dieses immanent theoretischen Sinnes bei jedem Sinneseindruck. Da wäre vielleicht noch etwas vom Sozialwissenschaftler und Philosophen zu lernen. Stollmann: Im Unterschied zu anderen neurophysiologischen Ansätzen die meiner Beobachtung nach im wesentlichen doch immer noch daran interessiert sind, bestimmte Areale des Gehirns bestimmten Funktionen zuzuschreiben, argumentiert Hellmuth Benesch, daß eigentlich in der Dualität von Zelle und Synapse das ganze Problem aufgehoben sei (vgl. Benesch 1980). Die Zelle funktioniert nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip, die Synapse stellt einen Bruch dar, d.h. sie konstruiert über eine Unterbrechung Zusammenhang. Beide Elemente zusammen produzieren Figuration und Rhythmus, mal mehr das eine, mal mehr das andere. Benesch entwickelt daraus ein mehrstufiges Modell, das die Linien Gedanke – Figuration und Rhythmus – Gefühl nachzeichnet. So daß dann die zwei wesentlichen Funktionsweisen des Gehirns an allen Prozessen beteiligt sind und im Grunde in sich den ganzen Geist oder die ganze Seele enthalten. Baecker: Das greift einen sehr frühen, einige Jahrzehnte in Vergessenheit geratenen Gedanken von Warren McCulloch auf, daß die Neurophysiologie des Gehirns als eine einheitliche Differenz von digitaler Verschaltung und analoger Modulation der Verschaltung begriffen werden muß (vgl. McCulloch 1965). Dabei spielt die Art und Weise, wie der Nervenimpuls den Bruch der Synapse überspringt, und wie das beeinflußt werden kann durch das chemikalische Milieu, das das Gehirn in den jeweiligen Zuständen produziert, eine Rolle. Die Qualität des chemischen Milieus beeinflußt die Art und Weise, wie die Impulse übertragen werden von Nerv zu Nerv. Diese chemischen Milieus sind von hormonellen und sonstigen Prozessen abhängig, die hormonellen Prozesse sind wiederum von Emotionen, Kognitionen und sonstigen Stimmungen des Gehirns im Verhältnis zum Körper und im Verhältnis zum Bewußtsein abhängig, so daß ein ständiger Modulationsprozeß des Organismus im Hinblick auf die Gedanken stattfindet, die die Wahrscheinlichkeit haben, sich durchzusetzen, auf bewußter und unbewußter Ebene. Daher muß mindestens diese Zweiheit beschrieben werden. Dieser Typ von Neurophysiologie verweist meines Erachtens darauf, daß es keine kausalen Eindeutigkeiten zwischen den verschiedenen Bereichen (Systemen) des Organismus gibt, sondern ein Verhältnis loser Kopplung. Die Modulation und die digitale Verarbeitung sind Dinge, die so und so verlaufen, solche und solche Pfade einschlagen können.

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Stollmann: Was mich am meisten fasziniert hat, war, daß bei dieser Perspektive der Bruch zwischen Körper und Geist entfällt. Körper und Geist werden zu zwei verschiedene Betrachtungsweisen und sind nicht zwei verschiedene Substanzen. Das scheint mir immer noch das große Problem nicht nur der Physiologie und der Neurophysiologie zu sein, den Geist körperlich verorten zu wollen oder zu müssen. Baecker: Er muß ja irgendwo vorkommen, er muß auf Operationen bezogen werden können. Die von der Neurophysiologie ungelöste Frage ist, wie aus den elektrophysikalischen Impulsen des Gehirns ein Gedanke entsteht. Die Vermutung von Neurobiologen wie Maturana oder Varela ist, daß schon die Frage falsch gestellt ist (vgl. Maturana/Varela 1987). Man kann nicht sagen, »der Gedanke entsteht aus …« und dann die Hoffnung zu haben, einen kausalen Mechanismus, sozusagen einen unter dem Mikroskop sichtbaren Mechanismus erkennen zu können, sondern man muß den Mut haben zu sagen, der Gedanke entsteht aus Gedanken und aus sonst gar nichts. Stollmann: Das ist im Grunde etwas Einfaches, denn zwischen Huhn und Ei, obwohl engstens verbunden, kann man auch keine Kausalbeziehung knüpfen, sondern es ist ein Kreislauf, ein System … Baecker: Man muß das Ei legen … Stollmann: Die kritische Theorie hat ihr Gravitationszentrum an der Erfahrung des Faschismus – ganz deutlich bei Adorno, Horkheimer, und übertragen auf die nächste Generation, auch noch ganz deutlich bei Habermas, Kluge, Negt, die alle auch noch als Jugendliche und Kinder davon gezeichnet sind. Bei Adorno ist völlig klar, alles Denken, das nicht die Intention hat, Konzentrationslager zu verhindern und dies ständig zu reflektieren, ist nichtswürdig, solche Theorien brauchen wir eigentlich nicht. Die Systemtheorie kommt aus Amerika, das dieses Problem überhaupt nicht hat. Ein Amerikaner hat viel mehr Recht und Erfahrung darin, seine Gesellschaft so zu betrachten, wie es dann die Systemtheorie tut, als funktionales System. Marxisten konzentrieren sich auf Macht und Herrschaft, die Systemtheoretiker halten das für nicht so wichtig. Unser westliches Leben funktioniert gesellschaftlich im großen und ganzen recht gut, es gab auf dem Gebiet der USA keinen Krieg seit dem Bürgerkrieg (1861-1865), wir müssen darauf aufpassen, daß es weiterhin so gut funktioniert. Es stecken zwei historische Erfahrungen zweier Völker hinter diesen zwei Theorierichtungen. Den politisch in Deutschland wirkungsvollen Satz von Horkheimer,

72 | Dirk Baecker, Rainer Stollmann »wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen«, kann ein Amerikaner mit keiner Erfahrung verbinden. Baecker: Was die Unterscheidung von Systemtheorie und kritischer Theorie betrifft, glaube ich nicht, daß die Beschreibung, die Sie gerade gegeben haben, den Kern trifft. Ich glaube nicht, daß die Systemtheorie aus Amerika kommt, sondern sie ist in Amerika von Europäern gemacht worden: John von Neumann, ein Ungar, Morgenstern, ein Deutscher, Ashby, ein Engländer, Warren McCulloch ist in zweiter und dritter Generation Amerikaner, fast der einzige Amerikaner, Heinz von Foerster ist Österreicher. Stollmann: Parsons? Baecker: … ist Amerikaner, hat aber die 20er und 30er Jahre in Deutschland verbracht und hat seine Theorie aus der Lektüre von Durkheim, Simmel und Weber entwickelt. Die Systemtheorie ist viel stärker eine Reaktion auf die Erschütterung Europas durch den Nationalsozialismus, als man denkt. All die Leute, die ich gerade genannt habe, sind erschüttert durch den Nationalsozialismus, aber schalten nun nicht um auf Vernunftemphase oder Vernunftpädagogik, wie das Habermas tut, oder eben auf Moralismus, wie es Adorno und Horkheimer tun – bei aller gelungenen Form in der sie das tun. Die Systemtheorie schaltet um auf eine Werbung für den Gedanken einer Komplexität: Laßt mehr an Differenz zu, als ihr euch normalerweise in eurem politischen selbstbeschränkten Horizont vorstellen könnt, das ist meines Erachtens eine der großen Botschaften der Systemtheorie. Die Systemtheorie hatte zwei Fragen zugleich: 1) wie kann es dazu kommen, daß ein solches System wie das nationalsozialistische sich in derartiger Weise verselbständigt, Kriterien selbst setzt und dabei alle Arten von humanistischen Kriterien über Bord wirft, und auch noch erfolgreich kurz davor steht, ganz Europa zu erobern? 2) Welchen politischen Gedanken und welchen ökonomischen Gedanken muß man in einem funktionierenden demokratischen, marktwirtschaftlichen System stark machen, um solche Möglichkeiten auf Abstand zu halten? Gerade aus dem deutschen Blickwinkel heraus ist es kein Zufall, daß sowohl Habermas als auch Luhmann den Begriff der Kommunikation ins Zentrum ihrer Überlegungen rücken. Das sind zwar wahrhaftig zwei verschiedene Theoriewelten, aber es ist kein Zufall, daß es Kommunikation ist, die von Habermas in Richtung Verständigung und die von Luhmann in Richtung Differenz gedacht wird. Und der Gedanke der Differenz ist ja auch ein Gedanke der Verständigung. Wenn ich weiß, ich kommuniziere mit jemand anderem und habe nicht die Möglichkeit, ihn komplett zu verstehen oder durch ihn komplett verstanden zu werden, dann ist das ja ein

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Gedanke, der auf Verständigung, die Unwahrscheinlichkeit der Verständigung, das überraschende Moment der Verständigung Rekurs nimmt, nur von der empirischen Warte her und nicht von der normativen Warte wie Habermas. Deswegen sehe ich beide als Vertreter der 80er Jahre, die versuchen, aus dem Moralismus von Adorno und Horkheimer auszusteigen und theoretische Positionen zum deutschen Problem herzustellen. Stollmann: Wieso ist für die Systemtheoretiker und auch für Habermas die Gesellschaft auf Kommunikation gebaut und nicht auf Arbeit? Was unterscheidet Kommunikation von Arbeit? Baecker: Kommunikation ist der allgemeinere Begriff … Stollmann: Nein: Fließbandarbeit als Kommunikation? Baecker: Vielleicht doch, ich denke erstens, daß es möglich ist, all das, was bisher unter Arbeit beschrieben ist – produktive Arbeit, konsumtive Arbeit, Beziehungsarbeit, Familienarbeit, Erinnerungsarbeit … Stollmann: … Traumarbeit, Witzarbeit. Baecker: … Kulturarbeit, Erholungsarbeit – unter dem Gedanken des Sich-Einlassens auf bestimmte kommunikative Beziehungen noch einmal anders zu beschreiben. Und daß man dann zweitens durchaus im pädagogisch-didaktischen Sinne von Habermas und Luhmann bei dem Gedanken der Kommunikation viel stärker das Konditioniertsein durch etwas anderes mitdenken muß als bei der Arbeit. Die Arbeit tut immer so, als hätte sie einen Gegenstand und würde ihn dann bearbeiten. In den aufgeklärten Varianten – Marcuse, Alfred Schmidt, Negt/Kluge – kann sie dann so etwas denken wie das Informiertsein des Arbeiters durch den zu bearbeitenden Gegenstand. Aber wenn ich so weit gehe zu formulieren, der Arbeiter ist informiert durch den zu bearbeitenden Gegenstand, dann kann ich auch direkt von Kommunikation reden, nämlich nach dem Verhältnis dieser Information fragen, nach der Fähigkeit des Arbeitsgegenstandes, zu sprechen, und nach der Fähigkeit des Arbeiters zu hören, was der Gegenstand sagt. Dann bin ich bei dem allgemeineren Kommunikationsbegriff. Stollmann: Kommunikation ist ein Kunstwort, Arbeit stammt aus der Alltagssprache. Baecker: Kommunikation ist aber auch ein theologisches Wort, communicatio, communio, Kommunikation im Herrn.

74 | Dirk Baecker, Rainer Stollmann Stollmann: In der Alltagssprache ist Arbeit weiter als Kommunikation … Baecker: Kommunikation heißt da nur: reden. Ich würde »Kommunikation« da einsetzen, wo Nietzsche noch von »Ästhetik« gesprochen hat. Der frühe Nietzsche hat Physiologie gelesen und hat eine Kritik des Kausalitätsbegriffs vorgelegt, z.B. in dem berühmten Essay von der Wahrheit und der Lüge im außermoralischen Sinne. Gerade um das Verhältnis von Gedanke, Körper und Sprache zu beschreiben, kann man nach Nietzsche nicht von Kausalität, vom Entstehen von Gedanken aus körperlichen Zuständen und umgekehrt ausgehen, sondern muß von Ästhetik ausgehen. Der Gedanke arbeitet an dem Versuch zu erfahren, in welchen Zuständen der Körper ist, während der Körper arbeitet, und umgekehrt hat der Körper ein ästhetisches Verhältnis zum Gedanken, z.B. im Magengeschwür, das kommentiert, ob ihm gefällt, wie der Manager kommunikativ mit anderen Figuren seines Betriebs umgeht oder nicht. An der Stelle, wo Nietzsche von Kausalität auf Ästhetik umschaltet, hat das 20. Jahrhundert mit Bateson und Shannon und anderen von Kausalität auf Kommunikation umgeschaltet – weil es ein Kunstwort ist, weil mit diesem Kunstwort ein komplett neues Paradigma theoretischen Denkens markiert werden konnte.

Was ist Selbstregulierung? Stollmann: Selbstregulierung und Selbstorganisation, macht das einen Unterschied? Baecker: Der Kybernetiker spricht von Selbstregulierung, um auf positive und negative Rückkopplungen aufmerksam zu machen, der Systemtheoretiker von Selbstorganisation, um festzuhalten, daß Ordnungszustände auch dann erreichbar sind, wenn es keine Ziele gibt, von denen Abweichungen positiv oder negativ festgestellt werden können. Es gab einmal die Hoffnung, daß man Selbstregulation als eigenen Mechanismus in selbstorganisierten Systemen unterscheiden könnte, so daß man die Regulation modifizieren und auf die Beeinflussung des Systems verzichten könnte. Keynesianische Politik oder bestimmte behavioristische Psychotherapien u.a. versuchen die Selbstregulation zu fassen und das System gewissermaßen von seiner Rückseite her zu beeinflussen. Heinz von Foerster und viele andere haben aber festgestellt, daß die Selbstregulation von der Selbstorganisation nicht zu trennen ist. Das System selbst ist der Mechanismus, der die Abweichung kontrolliert. Eine Steuerung, die nur auf die Regulation Einfluß nimmt, ist ausgeschlossen. Damit waren die großen Hoffnungen der Technokraten in dieser Systemtheorie in den 70er Jahren ad absurdum geführt.

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Stollmann: Wie verhält sich ein Begriff wie Autonomie dazu? Baecker: Zunächst als Differenz. Der Autonomiebegriff behauptet, daß sich etwas Gesetze selbst geben kann, autos nomos. Das ist mit der Systemtheorie vereinbar, wenn man den Zielbegriff als nomos formuliert. Nomos heißt ursprünglich soviel wie Brauch, Sitte, da gibt sich ein System seine eigene Sitte und formuliert z.B. den Brauch oder Gedanken, bestimmte Ziele zu verfolgen, zum Beispiel ein Unternehmen als System. Aber der Autonomiebegriff tut so, als sei auf der Ebene der nomoi zwischen dem jeweiligen System und seiner Umwelt dann doch ein Verhältnis herzustellen, als gäbe es sozusagen eine Art Haushalt der nomoi. Parsons hat genauso gedacht. So daß das System, wenn es sich ein Ziel, also einen nomos gibt, auf eine prästabilierte Art und Weise mit dem vom Kosmos oder von der Kultur vorgehaltenen nomoi abgestimmt ist. Das ist eine Konnotation, die der Autonomiebegriff zuweilen hat und die der Systemtheoretiker kritisieren würde. Das System kann sich Gesetze geben, wie es will, immer in Abhängigkeit von einer selbstdefinierten Umwelt, aber nichts garantiert, daß dieser selbstgegebene nomos kompatibel mit oder gar freundlich ist gegenüber all dem, was als Umwelt gedacht werden kann. Stollmann: In der Systemtheorie gibt es die Idee der doppelten Geschlossenheit. Nur wenn sich etwas vollkommen, doppelt schließt, kann es wirklich Beziehungen herstellen zur Umwelt? Baecker: Richtig. Der Gedanke der doppelten Schließung bedeutet, daß ein System sich auf der Ebene einer ersten Schließung reproduziert, wenn es seine Operationen reproduziert. Es denkt, lebt oder handelt vor sich hin. Die zweite Schließung ist der regulative Systembezug des Systems auf das System im Unterschied zu dem, was wir eben als Selbstregulation beschrieben haben. Das ist kein Mechanismus, sondern ein Reflexionszusammenhang. Diese Regulation des Systems durch das System kann dann Bezug nehmen auf seine Wahrnehmung der Umwelt. Stollmann: Bei Kluge und Negt ist der Gedanke der Selbstregulation auch wichtig, »Geschichte und Eigensinn« fängt ja praktisch damit an. Es beginnt mit: »die gesellschaftlichen Sinne, Selbstregulierung und Kommandogewalt, wenn die unten nicht mehr wollen und die oben nicht mehr können, das zänkische Gehirn, Ungehorsam und Brüderlichkeit«, dann zwei Abschnitte »Eindringgesetze des Wassers, Erinnerungsvermögen bei Computern und Gehirnen, Fingerspitzengefühl, Trennschärfe, Selbstregulierung von Synthesen, Selbsteregulierung als Geschichte« – es geht chaotisch durch Stoffgebiete. So würde ein Systemtheoretiker nie denken, oder?

76 | Dirk Baecker, Rainer Stollmann Baecker: Er würde nicht so schreiben, ich glaube denken würde er auch so. In dieser Schreibweise, und vor allem in dem Gedanken dahinter, steckt eines der fruchtbarsten marxistischen Motive von Negt und Kluge. Der Gedanke der Selbstregulation, der hier gefaßt wird, läuft im wesentlichen darauf hinaus, den Irrtum des deutschen Idealismus zu korrigieren, daß es nur eine Form von Subjekten gibt – daß nur der Mensch Subjekt sei, das ist ja eine grandiose Selbstüberschätzung. Stollmann: Die Persönlichkeit ist eine Erfindung des 18. Jahrhunderts. Baecker: Ja, und Marx, aber auch schon Herder und Goethe waren in der Lage zu sagen, der Subjektgedanke muß auch für vieles, was in der sogenannten Natur seinen eigenen Sinn, seine Autonomie, seinen Eigensinn hat, fruchtbar angewendet werden. Gemeint ist hier der kantsche Subjektgedanke in der Form des Sich-selbst-Zugrundeliegens und nicht Auf-anderes-Bezug-nehmen-Müssens, um sich legitimieren oder sonstwie reproduzieren zu müssen, und der Subjektgedanke in der Form der Reflexionsfähigkeit. Wenn man Subjektphilosophie marxistisch in die Richtung des Selbstregulationsgedankens weiter treibt, muß man auch den Gedanken denken können – so Bateson –, inwieweit der Ozean ein Subjekt ist, und zwar das einzige Subjekt, das in der Lage ist, die Meeresströmungen zu berechnen. Dieser Gedanke der Multiplizierung des Subjekts nicht in seine eigene Unendlichkeit hinein, sondern wie Sie gesagt haben, in die vielen Stoffgebiete hinein, das ist ein extrem systemtheoretisch brauchbarer Gedanke. Aber das heißt eben, daß man auch die Systemtheorie wieder in den Marxismus importieren könnte oder die marxistische Theorie in die Systemtheorie importieren könnte. Denn die Systemtheorie ist seit ihrer Begründung bei Leuten wie Warren McCulloch, Bateson und Heinz von Foerster oder Gotthard Günther damit beschäftigt, auch die Hegelschen Motive der Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung von Subjekten einzuführen in die Beschreibung von Radarsystemen und Wirtschaftssystemen und Immunsystemen usw. Dafür hat sie eine ganze Reihe von allgemein brauchbaren, also generalisierten Konzepten entwickelt – der Gedanke der Verzögerungsfunktion, der Beobachtung, der wechselseitigen Beobachtung, der Interaktion, der Gedanke der Grenzziehung, des blinden Flecks, der Gedanke der Paradoxie und ihrer Funktion usw. Damit kann der Marxist weiterarbeiten, Kapitaltheorie treiben. Stollmann: Luhmann gibt dem Marxismus nur eine marginale Funktion, wo es in der funktionalen Gesellschaft noch um soziale Fragen gehen sollte, da läßt er ihm ein Arbeitsfeld. Wir haben jetzt Selbstregulierung, Selbstor-

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ganisation, doppelte Geschlossenheit als einen Verbindungspunkt favorisiert. Baecker: Das ist ein wichtiger Verbindungspunkt. Ein anderer besteht darin, die Subjekt/Objekt-Unterscheidung als solche aufzuheben oder stark zu variabilisieren. Denn das, was wir gerade gesagt haben, läuft darauf hinaus, jedes Objekt als Subjekt zu behandeln. Ohne die Fähigkeit des Mikrophons, das hier auf dem Tisch steht, für sich Mikrophon zu sein und dieses Fürsich von einem An-sich-Sein zu unterscheiden, also zu funktionieren, wäre das Mikrophon kein Mikrophon. Ein Techniker oder jemand, der über das Design von Mikrophonen nachdenkt, ist auf der praktischen Ebene immer in der Lage, das Objekt als Subjekt zu behandeln, also dem Mikrophon, das er baut, ein stimmiges Verhältnis zu sich selbst zu ermöglichen und so lange daran herumzubasteln, bis dieses stimmige Verhältnis sich einstellt. Selbst wenn er dann hinterher wieder sagt, er hätte es gebaut. In Wirklichkeit hat er die Materie und seine eigenen Hände solange manipuliert, bis die Konstruktion von sich sagte, ich funktioniere. Umgekehrt natürlich, und das ist erst recht marxistisch, kann man diese Aufhebung des strikten Unterschieds zwischen Subjekt und Objekt in die Richtung denken, daß Subjekte eben tiefere Objekte sein können. Nur deswegen, weil das Subjekt Subjekt ist, kann es sich zum Subjekt für andere machen, sich trivialisieren, wie Heinz von Foerster sagt, obwohl es eine nichttriviale Maschine ist. Die nichttriviale Maschine hat unter ihren Verhaltensoptionen die Selbsttrivialisierung. Und eben das ist es, was man als Soziologe genauso wie als Marxist bedauert: gesellschaftlich-menschliche Substanz, die mit sich machen läßt, was sich bestimmte Akteure ausdenken. Stollmann: Sollte man sich beim Denken eine gewisse Freiheit von großen Theorien bewahren? Baecker: Das ist eine wesentliche Voraussetzung, man sollte immer mindestens zwei sich widersprechende Theoretiker im Hinterkopf haben. Stollmann: Aber dann muß man die ziemlich gut kennen, und man darf sich nicht bevormunden lassen von der Wucht der Gedanken und der Brillanz der Formulierungen. Baecker: Es hilft sehr Montaigne zu lesen, der gesagt hat, jedesmal wenn ich einen Klassiker in die Hände nehme, bin ich überzeugt davon, was er sagt. Wenn ich den nächsten in die Hand nehme, bin ich überzeugt von dem, was dieser sagt, obwohl es das Gegenteil ist, von dem was der andere

78 | Dirk Baecker, Rainer Stollmann gesagt hat. Als Student soll man sich zwei, drei Theoretiker intensiv vornehmen, wenn man die wirklich mal ein ganzes Jahr lang Schrift für Schrift gelesen hat, dann fängt man an, Macharten, Einsichten, Reichweiten von Theorien einschätzen zu können. Man kann vergleichen und gewinnt wie immer aus dem Vergleich Unabhängigkeit.

Denken und Gefühle Stollmann: Die aufgeklärte Tradition ist eine Tradition des Denkens und tendiert dazu, Gefühle beiseite zu schieben. Vernünftiges Denken wird von Descartes über Kant bis Habermas als das Medium der Emanzipation betrachtet. Meinem Eindruck nach weichen Negt/Kluge, ohne dies nun herauszuposaunen, aber doch hartnäckig davon ab. Wenn Aufklärung die Gefühle nicht einbezieht, und zwar prinzipiell, d.h. nicht zunächst ausschließen und später irgendwo ein Türchen öffnen, dann wird sie scheitern. Der Grund, warum Negt/Kluge gegen alle Mode und aktuelle Sprachregelung den Begriff des Proletarischen beibehalten, hat damit zu tun: das Proletarische, d.h. seiner eigenen Ausdrucksmöglichkeiten enteignete, das aber alle Arbeit im Leben leistet, das sind die Gefühle. Baecker: Ja, das ist eine grandiose Leistung. Mir scheint, daß die Systemtheorie und die Soziologie noch lange nicht soweit sind, die Problematik des Gefühls so scharf zu denken wie das Kluge vorschlägt. Wir bemühen uns darum, nicht zuletzt deswegen, weil Kluge uns dazu auffordert. Wir sind auch als Soziologen in einem gewissen Zugzwang, weil es genügend Gruppendynamiker und Psychotherapeuten gibt, die Luhmann den blinden Fleck der Gefühle zuschreiben und glauben, sie könnten Alternativtheorien dazu anbieten. Das stimmt und stimmt nicht, bei Luhmann gibt es eine kleine, aber wichtige Stelle … Stollmann: Er hat ein ganzes Buch über Liebe geschrieben. Baecker: … über Liebe, aber nicht als Gefühl sondern als Kodierung von Intimität. Es gibt eine Stelle in den Sozialen Systemen, wo er sagt, die Autopoiesis des Bewußtsein springt immer dann auf Gefühle um, wenn sie anders nicht weiterkommt. Das hat einen gewissen Charme, weil es Luhmanns sehr persönliche Einschätzung dieses Themas wiedergibt, reicht andererseits natürlich nicht aus. Stollmann: Aber das paßt eher in die Linie einer ›Denkaufklärung‹, die ich eben angedeutet habe.

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Baecker: Absolut, aber wenn man bedenkt, daß er das Verhältnis von psychischem System und sozialem System ins Zentrum der Theoriekonstruktion gesetzt hat, dann kommt man um das Thema der Gefühle nicht mehr herum. So ähnlich wie ein Gehirn zu modulieren vermag, welche digitalen Vernetzungen informationsverarbeitender Art im Gehirn zustande kommen, so kann man auch das Gefühl als Modulation von kommunikativen Möglichkeiten betrachten. Damit ist zunächst einmal die Kantsche Tradition fortgesetzt. Modulieren heißt ja zunächst, keine dominierende Stellung zu haben. Aber ein Kommunikationsprozeß kann nicht beschrieben werden, wenn man nicht die über Emotionen abgestimmte Einpassung der Teilnehmer an dieser Kommunikation mit berücksichtigt. Andererseits sieht man natürlich bei manchen Leuten, wie umgekehrt das Kognitive mit Mühe und Not zu modulieren versucht, wie mit Emotionen umgegangen wird. Stollmann: Freud. Baecker: Ja Freud z.B. Es kommt darauf an, ein lose gekoppeltes Verhältnis zu beschreiben, und dazu liefern Negt und Kluge viel Material. Welche Formierung von Gefühlen ermöglicht an welchen Stellen welche Kommunikationsprozesse oder erschwert sie, reichert sie an? Ich kann mir keine Kommunikation in Intimverhältnissen vorstellen, die nicht durch den Gedanken eines Verliebtseins, also eines Gefühls reibungslos gemacht wird, darin ihren Gegenstand und ihren Motor hat. Stollmann: Nach Negt/Kluge lernen Kinder eigentlich nur aus Liebe, sei es zu den Eltern, sei es zum Lehrer. Weil ich meine Mutter liebe und die will, daß ich lerne, akzeptiere ich auch jede Menge unsympathische Lehrer, das kann bis zum Doktorhut halten. Baecker: Da schlägt meines Erachtens doch noch ein gewisser Humanismus durch, es geht nämlich im wesentlichen um positive Gefühle. Selbst wenn der Soldat in den Krieg zieht, wird über bestimmte positive Gefühle im Umgang der Lösung logistischer Probleme nachgedacht – wie kriege ich Verpflegung an die Front, um solche Themen geht es in Kluges Kriegsgeschichten. Stollmann: Alle Gefühle wollen einen guten Ausgang, heißt es bei ihm. Ich vermute, Kluge würde sich zur Erklärung negativer Gefühle wie Aggressivität, Ressentiment, Geiz, Haß an Sokrates halten: kein Mensch tut ohne Not etwas Böses. Oder an Montaigne: das Böse ist das vergangene Gute. Die Gefühlsgrundlage wird nicht moralisch beurteilt, sondern als das eigentlich

80 | Dirk Baecker, Rainer Stollmann Produktive betrachtet. Geschichtliche Krisenlagen zeigen das. Die in der deutschen Politik im 20. Jahrhundert sich ausdrückende Tendenz zur Selbstzerstörung – Konzepte aus der Reichskanzlei, den Krieg 1918 weiterzuführen oder das selbstzerstörerische Verhalten in Stalingrad – ist ohne die Erfahrung des Bauernkrieges nicht zu erklären. Alle Verträge, die die kämpfenden Bauern mit adligen Herren und Städtern abschließen, werden gebrochen. Es hat danach keinen Sinn mehr, mit einem Feind Frieden zu schließen. Das Gespräch fand am 22. Januar 2003 in der Universität Witten-Herdecke statt.

Literatur Benesch, Hellmuth (1980): Der Ursprung des Geistes, München. Le Carré, John (2003): The United States of Amerika has gone mad. Zugänglich unter: http://www.timesonline.co.uk/article/0,,1072-543296,00. html. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. Maturana, Humberto/Varela, Francisco J. (1987): Der Baum der Erkenntnis, München. McCulloch, Warren (1965): Embodiments of Mind, Cambridge. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1981): Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/ M. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (2001): Der unterschätzte Mensch, Frankfurt/ M. Weick, Karl E. (1995): Der Prozeß des Organisierens, Frankfurt/M.

Aufsätze

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Zwei Stimmen aus Deutschland Hans-Peter Burmeister

»Wir arbeiten ja zusammen, nehme ich an, weil wir Gegensätze sind, man könnte sogar sagen, unvereinbare Gegensätze.« Oskar Negt/Alexander Kluge

Die Zweistimmigkeit von Oskar Negt und Alexander Kluge, aufgehoben in den gemeinsam geschriebenen Werken, ist ein Glücksfall. Zwei Stimmen, die sehr unterschiedlich klingen, die ganz andersartige Resonanzräume füllen. Im steten Gegeneinander versichern sie sich einer gemeinsamen Richtung – was bei fehlender Einstimmigkeit fortlaufender Abstimmung bedarf. Für den Hörer bilden die Stimmen von Oskar Negt und Alexander Kluge einen ersten sinnlichen Widerspruch, der zur Widerrede auffordert. Während die eine volltönende Stimme die Dinge zusammenzuhalten scheint und Solidität und Prägnanz, aber auch Mühe und Verantwortungsgefühl verströmt, scheint die andere Stimme ständig die Ordnung der Gartenwege zu verlassen und schnell, rastlos, leise und von der eigenen Begeisterung getragen, die sich auf die Gegenstände der Betrachtung legt, alles neu mischen und so gegeneinander halten zu wollen, daß es zum geistigen Funkenregen kommt. Während die eine Stimme möglichst viele Erkenntnisse und Erfahrungen mittels eigener Gedankenarbeit übersichtlich zu versammeln sucht, um schließlich die Kernprobleme zur Sprache zu bringen, bringt die andere Stimme mit Lust am Eigensinn das Ganze durcheinander und gibt dem Durcheinander einen eigenen Sinn. Politische Rede und literarischer Kommentar. Verantwortung und Neugier. Gedankliche Strenge und Poesie. Zwei Stimmen.

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1. »Erst wenn wir Rationalität, Modernisierung, Globalisierung wieder in den Horizont alternativer Vorstellungen von einem gesellschaftlichen Ganzen zurückholen, können neue soziale Bewegungen an Boden gewinnen« (Negt 2001: 677).

Die Stimme Negts ist kräftig und artikuliert. Sie ist zumeist ruhig, entwirft Hintergründe, sammelt Gründe, um sie zu Argumenten zu verdichten. Man sieht die Arbeit der Gedankenformung, wenn Oskar Negt am Katheder steht oder im Versammlungsraum die Positionen der anderen, die im Streit liegen, aufnimmt, um sie prüfend gegeneinander zu halten und zum Material seiner eigenen Argumentation macht, die das Ganze als Hintergrund wie in der Voraussicht im Blick behält. Negts Rhetorik ist niemals glatt oder geschliffen. Man spürt die Bauarbeit nach, eine gewisse Schwere, Anstrengung, mit Vorsicht gepaart, das Aufgenommene nicht wieder fallen zu lassen, seine Anschlüsse zu den anderen Argumenten nicht zu übersehen. Er spitzt auch zu, aber selten scharf, eher preßt er die Formulierungen zusammen. Er eröffnet Zusammenhänge, die das angesprochene Problemfeld in seiner Tiefendimension verdeutlichen. Ausflüchte nimmt er zur Kenntnis, ohne ihnen allzuweit zu folgen. Konsequent holt er in der Diskussion durch Replik oder Intervention auch die längsten Leinen wieder ein, um auf den Kern der Fragestellung zurückzukommen, angereichert durch das neu Gehörte und neu Durchdachte. Das Zuhören aktiviert das Magnetfeld der gedanklichen Operationen, die sich immer wieder auf die in sich verschiedenen Ausprägungen der gesamten theoretischen Tradition als Instrumente der Bearbeitung von Erfahrung beziehen. Kein Wanderer zwischen den Welten, sondern ein bodenständiger Anhänger des Ganzen Hauses ist am Werk – aber nicht der Konstrukteur eines totalitären Systems, eher ein Suchender, der die Fugen des angenommenen Hauses untersucht, die verborgenen Keller, die missachteten Ecken und Winkel, die Eigenart der Stockwerke, der seinen Respekt nicht verhehlt vor denen, die die Wände und Türstürze errichteten, der diese Leistung geordneter Beheimatung der Erde achtet und in ihrer Arbeit einen Großteil ihrer Würde erblickt. Er erblickt sie nicht nur in Anerkennung der einzelnen geleisteten Arbeit, sondern auch in Anerkennung des Zusammenhangs dieser einzeln geleisteten Arbeit mit der Arbeit anderer, ja mit den kollektiven Anstrengungen produktiver Tätigkeit überhaupt. Negt ringt um die Idee eines gesellschaftlichen Ganzen, dessen Widersprüche seine theoretische Arbeit anspornen. Auch diese, aufmerksam gegenüber Erschütterungen, Verwerfungen, Veränderungen, geht von der Tradition der ganzen Theorie aus: als einer reichhaltigen geistigen Instrumenten- und Werkzeugsammlung zur Aufdeckung von Strukturen, Erhellung von Phänomenen und Interpretation von Motiven

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des Agierens. Es ist ein Denken gegen den Erinnerungsverlust, gegen die Resignation, ein Denken, das sich der Verantwortung auch gegenüber jenen verdankt, die in der Menschheitsgeschichte für die Befreiung des Menschen aus Unmündigkeit, Knechtschaft und Erniedrigung gekämpft haben. Nichts liegt ihm ferner als leichtfertige Eleganz der Redeweise oder modisches Umräumen des intellektuellen Mobiliars und allzu rasches Umhängen der Großbegriffe. Negt ist ein verantwortungsvoller Erbe der Aufklärung – und hartnäckig dazu. In den letzten Jahren warnte er eindrücklich vor einem Denken, das sich bestimmter Begriffe wie Modernisierung, Globalisierung oder Weltgesellschaft bedient, ohne dabei den Skandal ausreichend zu thematisieren, daß trotz wachsender Produktivität große Teile der Weltbevölkerung im Elend gelassen werden. Wenn auch der Hochschullehrer Oskar Negt gewohnt war, vom Katheder aus zu reden oder vom Tisch des Gewerkschaftshauses, zuweilen spricht er auch von der Kanzel – was ihn durchaus in Verlegenheit bringt, weil ihm die dadurch gegebene Erhöhung mißfällt. Dennoch paßt seine Stimme auch in diese Traditionslinie. Denn die christlichen Kirchen, selber Objekt wie Subjekt der Aufklärung, halten an jenem Versprechen der Gerechtigkeit fest, von dem nicht nur die Predigten des Neuen Testaments künden, sondern auch die Propheten des Alten Testaments. In die prophetische Rolle eines Jesaja oder Amos, der biblischen Mahner und Erinnerer, kann Negt auch deshalb schlüpfen, ohne sich zu verleugnen, weil in Zeiten neo-liberalistischer Utopie jene Werte in Vergessenheit zu geraten drohen, die einst auch die sozialistische Bewegung inspiriert hatten: die Menschenwürde, die Solidarität und das Aufrechterhalten der Idee der Gerechtigkeit. Ein Prophet der Weissagungen indes ist Negt keinesfalls. Aber er arbeitet ausdrücklich daran, Perspektiven offen zu halten und Möglichkeiten aufzudecken, wo das offene und versteckte (sowie in Floskeln unausgesprochene) von den Menschen verantwortete gesellschaftliche und menschliche Elend abgewendet werden könnte. Der philosophisch-sozialwissenschaftliche Kontext, in dem sich das Denken Negts herausgebildet hat, ist jener der Frankfurter Schule. Aber Negt war schon in den 60er Jahren jemand, der, geschult an den Klassikern der kritischen Philosophie Kant und Marx, am Aufbrechen erstarrter Denkformen und zugleich an den realen gesellschaftlichen Prozessen interessiert war. Deren Bewegungsprozesse galt seine Aufmerksamkeit und deren praktischem Handeln galten die theoretischen Überlegungen: Gewerkschaftliche Bildungsarbeit, Analyse der Studentenbewegung, Aufgreifen ihrer kritischen Impulse und die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland waren jahrzehntelang die Themen seiner öffentlichen Vorträge. Die theoretische Arbeit war damit niemals nur ein Abbilden. Sie hatte ihre vornehmste Aufgabe darin, der Praxis eine Orientierung zu verschaf-

86 | Hans-Peter Burmeister fen, ein Bewußtsein ihres eigenen Tuns. Die theoretische Arbeit wird als in Bewußtsein eingreifendes Bewußtsein verstanden – als eine Notwendigkeit für jede aufgeklärte Praxis. Der Kern seines Wirkens läßt sich auch nur vermittelt aus den hinter Buchdeckeln verschlossenen Schriften des Autors Oskar Negt erschließen. Negt ist in erster Linie ein Redner. Die Öffentlichkeit ist nicht nur eine zentrale Kategorie seiner politischen Theorie, sie ist auch der Raum, in dem sich seine Stimme buchstäblich am besten zur Geltung bringt. Hier trägt er nichts Vorgefertigtes vor (als Vorlage dienen ihm zumeist einige Zettel mit Stichworten), sondern sammelt die Argumente, prüft sie öffentlich und erwägt deren Bedeutung für eine Gesellschaft, die ein Bewußtsein ihrer selbst benötigt. Der lebendige Geist bekommt darin Stimme, die buchstäblich und gegenwärtig den Raum erfüllt, und zugleich im Mitvollzug des Gesagten bei den Zuhörern zu Widerspruch und Fortsetzung einlädt, zur offenen Diskussion, zur gemeinsamen Abwägung und Orientierung. In den (Fernseh-)Gesprächen zwischen Oskar Negt und Alexander Kluge, die ihr gemeinsames Werk »Der unterschätzte Mensch« einleiten, wird auch das spezifische Temperament Negts deutlich. Er insistiert nicht wie Kluge, sondern formuliert mit Bedacht, wenn nicht gar bedächtig, kennzeichnet Herkunft und Zusammenhang der Suchbegriffe, und formuliert präzise und konzentriert, als diktiere er die schriftliche Fassung einer noch zu haltenden Rede. Geht Kluge forsch voran, verlangsamt Negt das Tempo, holt sich Rüstzeug und überprüft den Kompaß für die Expedition. Sein letztes großes Werk über »Arbeit und menschliche Würde« (2001) versammelt nicht nur zentrale Themen seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung, es beruht auch in großen Teilen auf den Abschriften von Tonbandaufzeichnungen zumeist frei gehaltener Vorträge. Und in einem Kapitel dieses Buchs greift er auf die antiken Bestimmungen der öffentlichen Rede zurück, wie sie von Aristoteles und Cicero überliefert sind, um die Gattung der beratenden Rede, als deren Meister man Negt selber bezeichnen kann, in ihrer politischen Bedeutung zu betonen. Er kennzeichnet sie als die eigentliche politische Rede, der es um Zuraten und Abraten zu tun ist und um das Abwägen von Gütern und Übeln. Es geht dabei um Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten, um Bestimmungen des Zukünftigen. Dies beschreibt er als Produktionsprozeß, als Bereicherung um eine neue Sichtweise. Der damit verbundene Übersetzungsprozeß ist zugleich Arbeit an einem Akt der Freisetzung, der Emanzipation. Die Wege müssen nicht nur beschritten, sie müssen auch entdeckt und gefunden werden. Ein Sachverhalt werde in eine verständige Sprache übersetzt. So entstünden Argumente. Und »die eigentliche Kunst des beratschlagenden Redners ist es, an einer Sache die Glaubwürdigkeit zu erhöhen, Verdecktes oder Verborgenes

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an ihr sichtbar zu machen und damit den öffentlichen Raum mit Argumenten anzureichern« (ebd.: 537).

2. »Draußen ist es kalt, drinnen ist es warm.« Eine elementare Erfahrung, existenzbestimmend. Draußen – das bedeutet kosmische Kälte, bedeutet Ausgeschlossensein vom Wärmestrom, Vereinzelung und Erstarrung. Drinnen: das ist die Utopie unserer Herkunft, bevor wir, das heißt: jeder Einzelne, zum Einzelnen durch die Geburt wurde, fortwährend darum bemüht, den aufrechten Gang und die Selbständigkeit einzuüben, aber auch, Zusammenhang herzustellen mit dem, was das fragile Einzelne, das wir Ich nennen, schützen, wärmen und sichern könnte. Drinnen ist es warm: das ist Wunsch und Erfahrung zugleich, eine Erfahrung, die oft illusionär erscheint, weil es die Welt nicht gut meint mit uns. Draußen und Drinnen, Kälte und Wärme, Abstraktion und Konkretion, variiert Alexander Kluge in vielerlei Weise, als Perspektive von unten und oben wie in der Montage von Bild (draußen) und Musik (drinnen). Er folgt dem Kältepol als Autor literarischer Texte, die zuweilen nur Skelette von Geschichten enthalten und gleichsam strategische Entwürfe einer allgemeinen Kriegssituation zwischen Einzelschicksal und Gattungsgeschichte entfalten. Aus der kollektiven Geschichte können wir nicht heraus. Und dennoch sucht die Geschichte des Einzelnen nach Auswegen. Diese Spannung zwischen Geschichte als gewalttätigem kollektiven Prozeß und Geschichten des Widerstehens und Flüchtens bildet ein Grundmuster, in das der Erzähler Kluge Akzente setzt und Verschiebungen vornimmt – als Sammler von Erfahrungen, als Lebensforscher, Geschichtsinterpret, auf der Suche nach Gefühlen und deren Antrieben. Der Hunger nach Sinn treibt die Menschen voran wie die Rache für das entzogene Leben. In der Starrheit ihres Lebensprogramms liegt ihr Scheitern beschlossen, auch wenn sich daraus die Konsequenz ihres Handelns bestimmt. Dem nichtgelebten Leben von Lebensläufen ist Kluge auf der Spur. Blockhaft erstarrte Realität und einzelkämpferische Entziehungsversuche greifen darin ineinander. Die große Geschichte überwältigt die kleine Geschichte. Aber in der kleinen Geschichte steckt auch die große Geschichte als mögliche andere Geschichte. Kluges Texte bleiben sperrig. Suggestion wird vermieden, jedes Anzeichen von sprachlicher Sogkraft und bildreicher Verführung. Sie sind knapp, nüchtern. Als Leser fühlt man sich an den Duktus von Gerichtsprotokollen erinnert, an technische Beschreibungen, an Berichte von Polizeivernehmungen und Versicherungsgesellschaften, sparsam versetzt mit Alltagssprache und analytischer Prosa. Ein Erzählstrom, wenn er denn in Gang

88 | Hans-Peter Burmeister kommt, wird unterbrochen: durch neue Blickwinkel und Formenwechsel (narrativer Text, Interview). Auch die Fußnote, als Knecht des Haupttextes, bekommt Gewicht – als Leseunterbrechung, in der manchmal Hauptsachen verraten werden. Überschriften wirken wie Prägungen zum Realtext von Lebensläufen. In ihnen wird ein Hauptmotiv oder die Übermacht dessen, was sich am Einzelleben vollzieht, verdeutlicht, als etwas, was sich dem Einzelnen gleichsam eingeschrieben hat. Aber das darin ausgesprochene Motiv kann auch als Instrument der Selbstbehauptung dienen. Mit dem Entwurf des eigenen Lebens, wie es die Überschrift signalisiert, wird in einer undurchschaubaren Welt mit dem eigenen Weg durch sie auch die Welt konzipiert, in der man ihn finden will. In seiner literarischen Sprache scheint Alexander Kluge die Zwänge nachzuahmen, die den Lauf des Lebens strukturieren und in Bahnen leitet, die nicht gewollt, gedacht und gewünscht waren und sich dennoch in der Sprache schon verräterisch ankündigen. Gefühle gehören ausdrücklich zu den wichtigen Themen. Aber er läßt sie im geschriebenen Text kaum zu Wort kommen. Es geht eher um Zusammenstöße, Unfälle, Verletzungen, List und Verrat. Das Ungeheuer der menschlichen Geschichte wird aufs Korn genommen. Kluge läßt die Gewalt des Objektiven als Übermacht nicht aus den Augen. Er macht die Figuren seiner Erzählungen zumeist selber zu Objekten, denen etwas zustößt selbst dann, wenn sie als Herr und Meister ihres Schicksals das Leben in die Hand nehmen wollen. Als Vereinzelte unterliegen sie der Selbstverblendung ihrer Subjektivität. Und in all ihrer Alltäglichkeit und Zeitgebundenheit spricht sich darin auch eine Weltsicht aus, die unmittelbar an die Schreckensszenarien antiker Mythen und Konstellationen antiker Tragödien erinnert. Diese werden selber auch immer wieder Thema, neu erzählt bzw. akzentuiert und von Kluge damit immer wieder in den Zusammenhang seines eigenen Erzählens gerückt. Dies geschieht nicht zufällig. Kluges Erzählen, so sehr es dem scheinbar Nebensächlichem, Unspektakulärem, dem Normalfall oder den diversen Unfällen des Lebens folgt, bleibt sehr bewußt in der Spur dessen, was an bleibenden Konflikten der Gattungsgeschichte in den großen Erzählungen des literarischen Erbes aufbewahrt wird – von Gilgamesch über die Odyssee und die Bibel bis hin zu Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« und Musils »Mann ohne Eigenschaften«. Die scheinbare Zerstreutheit der Klugeschen Ansätze und Gesichtspunkte und die anspruchslose Form mancher Geschichten darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier ein Autor schreibt, der keineswegs das Ende der großen Erzählungen gekommen sieht. Alexander Kluges Erzählen korrespondiert bewußt mit seinen kleinen Formaten mit dem gesamten literarischen Erbe – für Kluge ein verpflichtender Anspruch zur Erinnerung und zum Eingedenken, daß wir selber es sind, die das Gat-

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tungssubjekt vertreten und mit Respekt uns all den Quellen gegenüber verhalten sollten, in denen der Erfahrungsschatz der Gattung, der in uns lebt, aufbewahrt ist. Der Verrücktheit des Einzelnen gegenüber einer übermächtigen Realität gilt Kluges Interesse, sie wird weder ausgemalt noch denunziert. Er beschreibt sie als Rationalität des Protests, der zumeist die guten Geister (der Kooperation, der Bündnisfähigkeit, des Zeitschenkens [Liebe]) ausgetrieben sind und die allein irrational wird in der konsequenten und häufig allzu eiligen Verfolgung einfacher menschlicher Motive. Seine Helden sind Helden des Alltags, das zu besiegende Ungeheuer ist die gewöhnliche Welt. Die trockene Lakonie des Klugeschen Stils verzichtet auf melancholische Zwischentöne. Zum robusten Stil seines Erzählens gehört nicht nur die strikte Benennung, sondern auch das fast gewaltsam erscheinende Weglassen und der manchmal sogar grausam und gefühllos erscheinende Zugriff auf die inhärente Logik dessen, was sich verhängnisvoll vollzieht. Das Zarte, das Nachfühlbare, der Schmerz und auch das Glück werden in seinen Texten nicht auf eine Weise zur Sprache gebracht, daß die Worte es durchschimmern ließen und nachfühlbar machten. Dies gilt aber nur für die geschriebenen Texte. Sie sind gleichsam Draußen – sie bilden die Kälte des objektiven Funktionierens ab, erscheinen als Teil der Machtapparate, die uns beherrschen, und einer Welt, die es ganz offenbar nicht gut mit uns meint. Dieser Härte weicht Kluge nicht aus. Er verherrlicht sie nicht, er verschweigt sie nicht, er verdrängt sie nicht. Er beschreibt sie. Und in der kühlen Beschreibung hält er an ihrer Temperatur fest. Anders verhält es sich mit dem mündlichen Erzähler, mit Kluges hörbarer Stimme. Sie ist nicht nur etwas von außen Hinzukommendes oder Transportmittel. Sie ist das eigentliche Herz. Im Kern ist Kluge ein mündlicher Erzähler, auch wenn Bücher für Kluge, selbst in der Zeit, in der er Filme drehte, »das eigentliche Medium, das eigentliche Gehäuse gewesen« sind (vgl. Kluge 2003: 79). Bücher bewahren die Komplexität des Menschen auf – auch nach der Erzählzeit des mündlichen Erzählers hüten sie einen Schatz an Lebenserfahrungen – und korrespondieren mit dem reichen Buch, das wir lebenslänglich mit uns tragen als – unverstandenen – genetischen Code, für Kluge »ein wunderbares Gemeinwesen, das wir mit uns tragen, eine Mitgift« (ebd.: 80). Mit nur bemerkenswert geringen Unterschieden ziehen sich die Grundformen des Klugeschen Stils durch die theoretischen Werke, die literarische Arbeit und die Filme hindurch. Die Genres verknüpfen sich wie zum Teppichgewebe eines Gesamtessays – ein mythisches Bild, das Kluge gefallen könnte, denn das Spinnen und Weben war einst jenes mythische Handwerk, das für die Textur des Lebens stand und Ausdruck der Kontinui-

90 | Hans-Peter Burmeister tät von Lebensentwürfen war, um dem Abgrund des drohenden Chaos etwas Erkennbares und Haltbares entgegensetzen zu können, ein Netz zum Auffangen, um Raum zu schaffen und eine Struktur für einen Faden, der durch das Labyrinth der Zeit führt, mithin eine Textur, aus der sich erst Geschichte ›ab-lesen‹ und ›er-zählen‹ läßt. Diese mehrfachen Anknüpfungen gehen auch über die üblichen Sparten von Philosophie, Literatur, Film, Kunst und Medienwelt weit hinaus und erwecken einen breiten Resonanzraum mit vielen offenen Zugängen. Die eine Form wirkt dabei wie ein Kommentar zur andern, alle Kommentare wiederum als Exkurse zu dem einen Thema, das gleich bleibt und doch aus Verschiedenstem besteht. Die verschiedenen Sprachen (Wort, Bild, Ton) innerhalb seines Werks decken auf, wie vielfältig zusammenhängend und getrennt sie verknüpft sind. Und sie verstehen sich zugleich als Verknüpfung mit dem gesamten kulturellen Erbe und als Akzente setzender Kommentar zu überlieferten klassischen Texten, die für Kluge aktuell bleibendes Vermächtnis und Verpflichtung sind. Er nimmt gleichsam den Gesprächsfaden der Weltliteratur (zu der für Kluge auch die Gesamtkunstwerke der Oper und des Films gehören, die Enzyklopädie und mit ihr Naturwissenschaft und Technik) auf und gibt seinen Kommentar dazu. Die Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts als Projekt der französischen Aufklärer ist dabei Kluges kaum verschlüsselter Anknüpfungspunkt, was Motiv und Richtung betrifft – das Verantwortungsbewußtsein eines Diderot gegenüber der menschlichen Gattung, das literarische Projekt der zusammengeführten Erinnerung und das Motiv des Sammelns und Darstellens zum Zweck der Sicherung gewonnener Erfahrung sowie die Einladung zum produktiven Gebrauch. Wenn man Kluge bei Filmvorführungen oder Lesungen erlebt, vor allem aber als Gesprächspartner während seiner Fernsehsendungen, dann spürt man, welches Genre ihm am liebsten zu sein scheint: es ist der Kommentar. Es ist das spontan Vorgebrachte, das vermittelt, was schon gesagt wurde oder Verschiedenes ins Verhältnis setzt und zugleich den Faden weiterspinnt, neue Geschichten, auch Ideen-Geschichten entwickeln läßt. In seinen Gesprächen, die er für das Fernsehen seit vielen Jahren mit Zeitgenossen unterschiedlichster Herkunft und Profession führt, ist der Erzähler nur scheinbar in den Hintergrund gerückt. Die Fernsehaufnahme gilt dem Gegenüber: aber der Herauslockende, Fortsetzende, neue Inspiration gebende, Insistierende, ja die eigentliche Muse dessen, was dem Gegenüber an Erzählung entlockt wird, ist Alexander Kluge. Und es ist immer noch seine Stimme mit ihrem unverwechselbaren Klang, die den Ton ausmacht. Sie ist es, die den Wärmestrom der Erzählzeit in Gang hält. Draußen ist es kalt, drinnen ist es warm. Es ist Kluges Stimme, die das in einem seiner frühen Filme sagt. Der mündliche Erzähler hält darin die verschie-

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densten Dinge zusammen. Seine Stimme schlüpft vor allem in die Rolle dessen, der den Zusammenhang repräsentiert und dies tut als menschliche Stimme, als Sinneseindruck und intellektuelles Angebot. Die Stimme, die das Auseinanderliegende durch kommentierende Worte verbindet, ist Agent des Erzählens. Sie spricht und läßt sprechen. Sie bringt die Erzählung als kollektives Unternehmen voran. Sie lockt durch Nachfragen und Weitererzählen etwas Gemeinsames und Verbindendes hervor. Und in ihrem eindringlichen Klang (dem Gegenteil von zudringlich) ruft sie die Wärme des Vertrauens hervor, eine elementare menschliche Solidarität in der Anerkennung einer auf Zuspruch angewiesenen menschlichen Situation in der Welt und der Verfolgung gemeinsamer Vorhaben. Die Vertrauen erweckenden Impulse gehen von Kluges Stimme selber aus. Sie läßt die Unerschrockenheit und kindliche Freude nachspüren, von der die Menschen ein Leben lang zehren müssen, die notwendige Illusion des Menschen, daß die Welt es auch gut mit ihnen meinen könnte. Es ist natürlich auch die Stimme des Märchenerzählers aus Kindertagen, der Geschichten erzählt von der Niederringung furchteinflößender Drachen und dem glücklichen Ende nach der Vertreibung des Bösen. Die MärchenerzählerStimme suggeriert das Einweben in eine gemeinsame Geschichte, die den Ton und das aufs Erwachen gerichtete Gefühl der Kindertage aufleuchten läßt und zugleich anschließbar ist an alle möglichen intellektuellen Operationen, mit denen das gereifte Hirn sich die Welt in aufgeklärter Weise zurechtlegt und neu vermißt. Die Abgründe und Kältezonen bleiben als Drohung präsent, aber sie sind der Deutung ausgesetzt und ansprechbar, weil die Sprache Brücken baut und verbindlichen Zusammenhang auch dort in Aussicht stellt, wo ohne sie die Flucht die erste Reaktion wäre. Kluges Stimme stiftet dazu an, sich auf einen gemeinsamen Erkundungsweg zu machen. Sie übernimmt gleichsam die Rolle Vergils im Durchwandern des Hades in Dantes Göttlicher Komödie. Sie ermutigt durch den Sinn des gesprochenen Wortes, das immer ein Gegenüber voraussetzt, wie durch den Klang der Anteilnahme – weil sie die menschliche Phantasie zustimmungsfähig macht. Und sie enthält auch das Geheimnis seiner Poesie: »Wenn das Poetische ein Einsammelvorgang ist wie die Beeren- und Kräutersuche, dann zeigt sich die Qualität des Poetischen in der Zähigkeit, Vollständigkeit, Hartnäckigkeit und Leidenschaft der Suche« (vgl. Kluge 2000).

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Literatur Burmeister, Hans-Peter (Hg.), Maßverhältnisse des Politischen. Öffentlichkeit und Erfahrung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Dokumentation einer Tagung mit Alexander Kluge und Oskar Negt, Loccumer Protokolle 01-02, Rehburg, Loccum. Kluge, Alexander (2000): Chronik der Gefühle, Frankfurt/M. Negt, Oskar (2001): Arbeit und menschliche Würde, Göttingen. Negt, Oskar/Kluge Alexander (2001): Der unterschätze Mensch, Frankfurt/M.

On the road – Zu den Gesprächen zwischen Kluge und Negt | 93

On the road. Zu den Gesprächen zwischen Alexander Kluge und Oskar Negt Markus Bauer

»Ein Gespräch beginnt damit: ich weiß die Antwort nicht. Es kann nicht so bleiben. Vielleicht weißt du die Antwort? Irgendeine Antwort gibt es immer.« Alexander Kluge

Veröffentlichte Dialoge folgen der Logik der Utopie. Als Buch verräumlichen sie im Satzspiegel die zeitlichen Momente, lassen Ausdruckskraft und -willen erkalten in der Anordnung von Zeichen unsinnlicher Ähnlichkeit, produzieren ein Labyrinth als Topographie des Leseraumes, stellen geglückte Kommunikation nach außen dar und bilden damit einen Nukleus aller politischen und ästhetischen Erwartungen eines in die Zukunft gerichteten Denkens. Es mag auch dieser Zusammenhang der eigentliche Grund für Alexander Kluges umfangreiches Projekt der Gespräche gewesen sein, die er seit Jahren mit unterschiedlichen Partnern im Fernsehen geführt hat. Läßt auf ihre Druckfassung sich die Wahrnehmung ihres utopischen Charakters beziehen, so handelt es sich bei den in »Der unterschätzte Mensch« abgedruckten Gesprächen zwischen Oskar Negt und Alexander Kluge nicht eigentlich um die Buchform dessen, was im Fernsehen gesagt wurde, sondern um Textfassungen von TV-Sendungen, die vor allem aus Gesprächen bestanden, aber durchaus akustische und visuelle Inszenierungen enthielten, welche sich wiederum in der Buchfassung als Abbildungen, Zwischentitel und Beschreibungen, ähnlich den Regieanmerkungen bei Dramentexten, wiederfinden. Zwischen linearem Text und dessen theatraler Inszenierung bewegen sich diese Textdarstellungen.

94 | Markus Bauer Im übrigen weist diese formale Spannung auf die durchaus polar zu nennenden Denkweisen von Negt und Kluge hin und auf eine Grundstruktur, die sich wohl dialektisch aufheben soll in Form und autosubstitutiver Vollendung der Gespräche. Die Konfrontation des Sozialphilosophen Oskar Negt – neben eher standesgemäßen, klassischen Themen – mit der Welt der Oper verweist auf diese experimentelle Absicht. Wo Kluge eher das nicht Philosophierbare, die Ausnahme, das Unbestimmbare, das ganz Andere zum Ausgangspunkt der Überlegungen nimmt, folgt der Akademiker Negt den Anregungen der in Maximen, Aussagesätzen oder Theorien scheinbar fixierten Gewißheiten der europäischen Denktraditionen, in denen ihm allerdings noch genügend schwarze Löcher Anlaß zum Symphilosophieren bieten. Der Gegensatz zwischen den Gesprächspartnern, ihr Oxymoron, verdeckt jedoch nicht, daß ihre gemeinsame Rhetorik zurückgeht auf eine Ur-Szene, die sie, wie Kluge im Vorwort bemerkt, seit 28 Jahren immer wieder zum Gespräch veranlaßt und die Reichweite ihrer rhetorischen Anstrengungen vorgibt: der Aufbruch der linken Studentenbewegung der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Nur dort – so Kluge – fand sich »[…] eine der großen Errungenschaften […] in der Haltung, in der geduldigen hingebenden Erörterung, in der Einigung darüber, daß jeder Sprechende mit jedem Unbehagen und jedem gegensätzlichen Interesse zugelassen wird. Das, was wir links nennen in der antiautoritären Bewegung, enthält also eine Verringerung des Ausgrenzungsmechanismus, der für alle Zivilisationen ubiquitär ist. […] Die Eigentümerhaltung […] und die abstrakte Rechtsbehauptung sind in der neuen Sensibilität, dem wichtigsten Prinzip der antiautoritären Linken, stark und gruppendynamisch reduziert« (Negt/Kluge 2001: 9f.).

Darin habe die geradezu epochale Überzeugungskraft der Studentenrevolte gelegen, da sie fusionierende Gruppen begünstigte, wie sie »in Notzeiten, zu Beginn von Revolutionen und in solidarischem Kontext« spezifisch sind. Es war ein rhetorisches Muster, das den historischen Erfolg anbahnte: »gegenseitiges Vertrauen und eine Verringerung der Angst vor fließender Bewegung.« Und »das funktioniert bisher nur mündlich, persönlich« (vgl. ebd.: 10). Somit stellen der aus Ostpreußen geflüchtete, in Norddeutschland als Sohn eines Bauern aufgewachsene, »gewerkschaftlich orientierte« Professor für Sozialphilosophie und der aus Ostdeutschland nach Westen geflohene Filmemacher, Autor und Fernsehproduzent ein besonderes Beispiel für die Integrationskraft der ›68er‹ in der BRD dar; andere sind der aus der DDR geflohene Rudi Dutschke, oder der aus erzkonservativem Milieu stammende Hans-Jürgen Krahl. Alle brillante Redner, auf Kommunikation auch mit dem in »gesellschaftlichen Schranken« befangenen Andersdenkenden an-

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gelegt, dessen Wissenspotential sie zum Tragen bringen wollten. Die Außenseiterposition innerhalb der gesellschaftlich an den Rand gedrängten politisierten Studierenden war klar: »NEGT: Meine Eltern kommen vom Land, mein Vater war Sozialdemokrat und aktiver Gewerkschafter, Bauer. Ich gehörte im SDS in Frankfurt/Main mit zwei, drei anderen Leuten zu der recht schmalen Arbeiter-Bauern-Fraktion, mein Freund und Philosophie-Kollege Alfred Schmidt repräsentierte die Arbeiter, ich die Bauern. Wir waren ungefähr die einzigen, die aus diesen Schichten kamen« (ebd.: 112).

Worum es den an diesen Universitäten nicht heimischen Studierenden als Inhalt ihres Aufbegehrens ging, darüber konnte kein Zweifel aufkommen; Negt bezeichnet ausdrücklich die Protestform des Sit-In als »Aufhebung des Fremden« (ebd.) an der Universität. Das jahrzehntelange produktive Gespräch zwischen Oskar Negt und Alexander Kluge (drei voluminöse, gemeinsam geschriebene Bücher, 26 gedruckte TV-Gespräche) hat also Anteil an einer umfassenderen vereinheitlichenden Diskussion, die als Element gesellschaftlicher Öffentlichkeit dient. Anschaulich schildert Negt eine entscheidende Realisierung dieses Konzepts, die zugleich eine utopische Spur in der Praxis studentischer Gegenuniversität erkennen läßt, als das »geglückte Experiment« (ebd.: 99) der Frankfurter »Politischen Universität« an die Grenzen der physischen Kapazität der Studierenden rührte. »Man kann nicht Tag und Nacht studieren. […] Kluge: Man muß auch Texte lesen, man muß in die Bibliothek. Negt: Das Studium hat eine andere Zeitstruktur als eine Versammlungszeitstruktur« (ebd.: 99). Die utopische Aktion gerät in ein Dilemma, wenn »[…] bis übermorgen vierzehn Uhr die Wissenschaft gewendet werden [muß]. […] Das Problem steckt in der Verschiedenartigkeit von Aktionszeit und Reflexionszeit. Die Aktionszeit ist dichter, ist zugespitzt, während die Reflexionszeit voraussetzt, ein Buch über lange Zeit zu lesen, so daß viele Veranstaltungen dabei auch stören« (ebd.: 100).

In diesem Dilemma fallen die Pädagogen auf ein Hilfsmittel, das die beiden Geschwindigkeiten einander angleichen soll: Das Lesen »rein von den Buchstaben her« (ebd.) erfordert mehr Zeit als das Denken (Kluge: »Ich kann also in fernen Galaxien in Minutenschnelle ankommen, muß aber notfalls die Sätze lesen« [ebd.]). Und so erfuhr ein neues Konzept seine Geburt, indem »viele Lehrer später mit Memoranden, mit sogenannten Papieren, statt mit Büchern gearbeitet haben, mit Fragmenten von Büchern, um das zu beschleunigen« (ebd.). Die Parallele dieser Medieninvention zum Kern der Utopie in deren

96 | Markus Bauer Stadtanlagen ist unübersehbar, wenn z.B. in Campanellas »Sonnenstaat« und Johann Valentin Andreaes »Christianopolis« Darstellungen naturwissenschaftlicher Probleme zur zeitsparenden Didaxe auf Gebäudemauern zu lesen sind (vgl. jüngst Neuber 2003: 14 u. 16). »Wehre es nicht ein köstlich Ding, daß du also lesen kündtest in einem Buch, daß du zugleich alles, was in allen Büchern, die jemals gewesen, noch seyn oder kommen und außgehen werden, zu finden gewesen, noch gefunden wird und jemals mag gefunden werden, lesen, verstehen und behalten möchtest?« (Andreae 1619).1

Dieser Ausruf in der »Christianopolis« von 1619 möchte sich leicht als Kern des bildungsutopischen Programms der Neuzeit erkennen lassen, das bis hin zur scheinbar ubiquitär verfügbaren elektronischen Bibliothek des Internet der Gegenwart reicht. Vom Beginn in der frühen Neuzeit stellte auf dem Weg bis zu dem studentischen Verlangen nach »schneller Lernen« das vorrevolutionäre »Projekt Enzyklopädie« einen entscheidenden Markstein dar, in dem es nach dem Philosophen und Mit-Initiator Diderot darum geht, »[…] die auf der Erdoberfläche verstreuten Kenntnisse zu sammeln, das allgemeine System dieser Kenntnisse den Menschen darzulegen, mit denen wir zusammenleben, und es den nach uns kommenden Menschen zu überliefern, damit die Arbeit der vergangenen Jahrhunderte nicht nutzlos für die kommenden Jahrhunderte gewesen sei; damit unsere Enkel nicht nur gebildet, sondern gleichzeitig auch tugendhafter und glücklicher werden, und damit wir nicht sterben, ohne uns um die Menschen verdient gemacht zu haben« (Negt/Kluge 2001: 79).

Diese Brücke zwischen den Generationen wölbt sich in die Höhe, um »die Kenntnisse auf möglichst engem Raum zusammenzufassen«, wie Kluge d’Alembert zitiert (vgl. ebd.). Von oben übersieht der Philosoph das Labyrinth des Wissens, er soll, nach d’Alembert, »die Objekte seiner Spekulationen und die möglichen Operationen an diesen Objekten mit einem Blick [überschauen]« (ebd.: 79f.). Dieser Blick auf eine »Art Weltkarte« (ebd.: 80) verknüpft für Negt »großflächige Orientierungen […] für einen, der sich nicht verlieren soll im einzelnen« (ebd.), d.h. vor allem, daß er/sie die Folgen der Anwendungen seiner Forschung heute nach im weitesten Sinne ›politischen‹ (moralischen) Kriterien bedenkt und ausrichtet. Hier scheint eine dystopische 1 | Zit. nach Steinbrink 1978: 139; dort S. 144 auch der Hinweis auf die Form »des von ihm [Andreae] sonst so geschätzten pädagogischen Dialoges.«

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Überlegung auf, die auf die realen Anwendungen des utopischen Wissensidealismus reagiert, um in einer Art Korrektur die stattgehabten z.T. katastrophalen Anwendungen der Aufklärungswissenschaften in Spannung zum utopischen Ansatz zu bringen. Anders formuliert: Der Melancholieausschluß der klassischen Utopie wird für eine unumgängliche Konfrontation mit neuen Entwicklungen ein Stück weit gelockert, um nach deren Einschluß wieder als einheitlicher Ort der Rhetorik der utopischen Aufklärung zu funktionieren. Dennoch verschwindet der melancholisch-anomische Impuls bei Negt/ Kluge nicht, vielmehr läßt sich durch die Gespräche jener Faden aufspüren, der in das Zentrum des Labyrinths führt. Dort lauert das Monster, eine schreckliche Urerfahrung, die seinerseits den utopischen Gedanken als Kritik des Bestehenden erst zur Reife gelangen ließ: der Krieg. Die basalen Gemeinsamkeiten der Gesprächspartner rühren aus der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, ihre für eine ganze Generation spezifische Gesellschaftskritik stellt eine rigoros vollzogene Abwendung dar von dem, was es auf keinen Fall mehr geben darf. Von ähnlicher Bedeutung wie Kants Imperativ des aufgeklärten Sozialverhaltens wird die der eigenen Geschichte entnommene Anleitung in der Verallgemeinerung von Adornos Diktum verstanden, »als das, was nicht wiederkehren darf« (ebd.: 124). Das Wissen um Massenmord, Vertreibung, kämpfende Heere, Zerstörung der Städte hat beide Diskutanten geprägt und darüber hinaus auch die historische Herkunft der Studentenrevolte abgegeben, von der sich das neue politische Verhalten radikal abheben sollte. Die von den ›68ern‹ propagierte Öffentlichkeit ruhte auf dem nicht in Frage zu stellenden Konsens, gegen jede mangelnde Abgrenzung vom Geschehen des Zweiten Weltkrieges und seinen Ursachen in entschiedener und, aus der Sicht des herrschenden Demokratieverständnisses, radikaler Weise vorzugehen. Auf der theoretischen Ebene ergibt sich die Orientierung der ›68er‹ am exilierten Marxismus der deutschen Vorkriegsintelligenz wie von selbst, bot dieser doch eine quasi historisch verbürgte natürliche Opposition zum kriegsauslösenden Regime. Aber diese eher abstrakte Gewißheit, die richtige antifaschistische Seite zu wählen, ruhte, wie die Biographien der Protagonisten erkennen lassen, in viel tieferen Schichten eigener früher Erfahrungen. Es ist jene Durchbrechung des wie nach dem Ersten Weltkrieg die Elterngeneration umgebenden Schweigekordons, die die Herstellung einer neuen Öffentlichkeit zu jenem emphatischen Projekt werden ließ, das auch Negt und Kluge noch Jahrzehnte nach seinem Ursprung gesprächshalber beschäftigt. Ein anthropologischer Zug machte sich geltend im Nichtvergessenkönnen und -wollen gegenüber dem Nichtartikulierenkönnen und -wollen, da sich die Erfahrung des Krieges zu tief im Gewebe aus Gedächtnis und Psyche eingenistet hatte und nach Ausdruck und Reflexion verlangte. Es ist nicht

98 | Markus Bauer zu übersehen, daß im Zusammenhang mit den verschiedensten Themen beide Redner immer wieder auf die Funktionen von Krieg und Gewalt in der historischen aber auch individuellen Entwicklung zurückkommen.2 Für den Umgang der beiden im Gespräch bezeichnend ist die Wende, die Kluge dem quasi fundamental eingeschriebenen Gewaltdiskurs gibt, indem er die Funktion der »große[n], zweihundert Jahre dauernde[n] Periode der Gewalt« (ebd.: 304), in der, nach Marx, die »ursprüngliche Akkumulation« als »Enteignung von Menschen« (ebd.: 303) statthatte, dahingehend interpretiert, daß nur »die schöpferische Zerstörung von Lebensverhältnissen den Menschen auf neue Ideen bringt«, d.h. der Mensch »im Kern träge und veränderungsunfähig [bleibt], wenn nicht die Gewalt objektiver Verhältnisse ihn vorwärtstreibt« (ebd.: 304).3 Interessant bleibt für beide Diskutanten daran der »proletarische« Aspekt, wonach bis zur Ausbeutung im Arbeitsprozeß erst einmal eine Reihe von Stadien der »Vermenschlichung«, d.h. der Aufziehung, der Sozialisation in Nahverhältnissen durchlaufen werden müssen, wie sie die Kultivierung erforderlich macht. Interessanterweise gehen beide an dieser Stelle auf das handwerklich-agrarische Element aller (auch intellektueller!) Produktion ein, das zum Begriff »proletarisch« gehöre. »NEGT: […] Man kann im Grunde sagen, daß der Handwerker in uns oder der Bauer in uns eine bestimmte Produktionsform umfaßt, die aus der Erfahrung des Leids, der Unterdrückung und der Überwindung dieser Unterdrückung … KLUGE: … der Heimkehr. NEGT: … lebt: der Vertreibung und der Wiederkehr oder der Enteignung und der Wiederherstellung auf einem neuen Niveau. Wenn man ›proletarisch‹ so begreift, ist es ein konstitutives Element unserer Lebensverhältnisse: Wiederaneignung des Enteigneten« (ebd.: 305).

Gesellschaftlich bedeutete dies in der Zeit der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts auf die BRD bezogen einen »entscheidenden Faktor für das ökonomische Aufblühen des zerstörten Landes: Kluge: […] Diese Vertriebenen bilden in der Adenauerschen Bundesrepublik ein Integrationspotential, ohne das möglicherweise, sagen einige Ökonomen, das Wirtschaftswunder nicht stattgefunden hätte« (ebd.: 282).

2 | Am Beispiel der Oper »Macht des Schicksals« von Verdi spricht Negt vom »Punkt, an dem eine Gewaltgeste, eine Gewaltandrohung über eine Szene hereinbricht« (Negt/Kluge 2001: 227) oder daß »die Gewalt aber jede andere Lösungsmöglichkeit [zerbricht]« (ebd.: 228). 3 | Vgl. auch das Gespräch »Macht Unglück produktiv? Über den Begriff der ursprünglichen Akkumulation« (ebd.: 281-287).

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Negt weist an dieser Stelle auf die eigenen Biographien hin (»Daß ich aus Ostpreußen komme und du aus Sachsen-Anhalt, ist in sozialen Schichtungen überhaupt nicht mehr greifbar« [ebd.: 283]), um aber den ›proletarischen‹ Aspekt zu betonen: »Vertreibung [kann] nur dann wiedergutgemacht werden, wenn die Vertriebenen in Produktionszusammenhänge gesellschaftlicher Art aufgenommen werden, so daß die Anerkennungsfrage nicht nur von den Gastländern, sondern von ihnen selbst auch gelöst werden kann – daß sie sich anerkannt fühlen durch das, was sie mitbringen und was sie machen« (ebd.).

Diese Einsicht in die Aufhebung der Folgen von Gewalt stellt eher eine Meta-Erkenntnis dar, eine Ebene, die in Zeiten des aktiven Engagements der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts nur von wenigen eingenommen werden konnte. Damals herrschte vielmehr eine funktionalistische Vorstellung von der Gewalt vor: sie könne zur Befreiung dienen und sei auch unter den (»noch«) demokratischen Bedingungen der damaligen BRD unter bestimmten Voraussetzungen gegen »Sachen« erlaubt. Der utopische Impuls der »Bewegung« lebte gerade vom kontrollierten Einsatz der Grenzüberschreitungen – freilich immer mit dem Risiko, daß damit auch die historisch jungen und wenig gefestigten Errungenschaften der westdeutschen Demokratie aufs Spiel gesetzt wurden. Dieser sehr stark rational kalkulierte, chirurgische Einsatz von Gewalt gegen »Sachen« oder als Gegengewalt wider das Monopol des Staates nährte dennoch bei einigen Protagonisten die Vorstellung vom revolutionären Kampf4 und führte damit in jenen Zirkel von auf die Beendigung von Gewaltstrukturen abzielender Gewalt, der das Dilemma des Insurgenten ausmacht (vgl. Münkler 2003: 139). Dieser Aporie einer »Erziehung abzüglich Erzieher« (Münkler) durch die Führung eines revolutionären Kampfes, in dem »der Erzieher selbst erzogen muß« (Marx), stellen Negt und Kluge sich deshalb nicht anheim, weil sie diese Dialektik des Partisanenkampfes in der Erziehung selbst aufsuchen. Das längste der Gespräche hat zum Thema »Kindheit und Lernen in einer Welt des Umbruchs«, und beschäftigt sich vor allem mit Negts Studie zur Situation der Erziehung an der Jahrtausendwende.5 Zurückgehend auf die Metaphern von der Tätigkeit des Pädagogen in Bezug auf die Arbeit am Kinde seit John Locke nähern sich die Sprecher dem, was die moderne bürgerliche Erziehung als ihre Aufgabe ansieht: »durch Erziehung die 4 | Zur zeitgenössischen Diskussion von Walter Benjamins Aufsatz »Zur Kritik der Gewalt« vgl. Negt/Kluge 2001: 97. 5 | Negt war Mitbegründer und ist weiterhin engagiert an einem der wenigen innovativen Schulmodelle nach 1968.

100 | Markus Bauer Menschen, die Welt zu verbessern« (Negt). Wie wirkmächtig diese Metaphern von dem sind, was das Kind angeblich ausmacht, zeigen die Diskussion von Lockes Vorstellung der tabula rasa der kindlichen Seele, jenem weißen Papier, das der Pädagoge und Lehrer mit den Erkenntnissen des Lebens voll schreibt sowie Leibniz’ Variation dieser Metapher in das Bild des Marmors, das zeige, daß es bereits vorgegebene Strukturen (»Neigungen, Anlagen, Fertigkeiten«, [ebd.: 166]) gibt, die der Erzieher herausarbeiten muß, so wie ein Gärtner der Natur vertraut. Daß es sich hierbei um einen stufenweisen Prozeß handelt, hat Piaget dann im 20. Jahrhundert behauptet, ihm war der »Mensch immer reicher, als er selber weiß. Es sind seine ganzen Vergangenheiten, die er wie in einem Tornister mit sich trägt« (ebd.: 170). Die Schwierigkeit der gegenwärtigen Pädagogik erkennen beide Sprecher darin, daß der Haushalt von Machivellis necessità und fortuna, also Realismus und Freiheit wieder einmal auseinandergebrochen sei und viele sich vor die Forderung gestellt sähen, das eigene Leben umzugestalten. »NEGT: Bildungsideen werden häufig dann umformuliert, wenn eine Zeit ein großes Unglück, eine gesellschaftliche Katastrophe erfahren hat; dann werden die auseinandergerissenen, gespaltenen Dinge wieder zusammengefügt« (ebd.: 173). Für die Gegenwart sieht Negt die Kombination von Autonomie und Sozialität gestört; die Jugendlichen, die einen zerstörerischen Haß auf ›fremde‹ Menschen entwickeln, erfüllen ein Muster des sich nach außen stülpenden Selbsthasses, der wiederum zur Ausgrenzung führt. Hier müsse Bildung ansetzen, Aggressionen in neuen Äußerungsformen zu sublimieren, »ohne sich in wilder Form auszuleben« (ebd.: 177). »NEGT: Natürlich. Es muß Formen der Symbolbildung, sprachliche Formen der Bewältigung geben. Bildungsprozesse werden eindeutig behindert, wenn Aggressionen fortwährend blockiert werden, wenn die Menschen keine Erfahrungen mit Aggression machen können. Sie bleiben auf demselben Stand der Unterdrückung von Aggressionen« (ebd.).

Es sind innere Kolonisierungsprozesse, die sich nach außen artikulieren und nur durch Kommunikation in andere Formen denn wilde Aggression gelenkt werden können. Der Anschluß an die utopischen Absichten der ›68er‹, bei denen die Gespräche ihren Ausgang nahmen, stellt sich quasi von selbst her: »KLUGE: Das entspricht der Theorie vom begrenzten Konflikt, den man annehmen muß; oder einer Konfliktkultur, wenn man eine Phrase gebrauchen will, die in der Protestbewegung diskutiert wurde. Das ist nach wie vor im Bildungsprozeß nötig« (ebd.). Als solche konstituiert sich Gesellschaft dann aus einem Widerstands-

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potential der Einzelnen »gegen die Macht des Faktischen, gegen die bloße Anpassung« (ebd.: 175), indem sie jeweils auch die Meinungen des Anderen antizipieren. »NEGT: […] Mut entsteht dadurch, daß der Horizont, der Möglichkeitshorizont des Kindes oder des Erwachsenen erweitert wird. Und Angst kommt von Enge« (ebd.: 178). Noch einmal wird das Fundament der Studentenbewegung beschworen zur Überwindung jener Passivität der neuen bundesrepublikanischen Gesellschaft, in der nach dem »Ende der Utopie« die gesellschaftlichen Veränderungspotentiale im Strom eines deregulierten und globalisierten Politikverständnisses verschwunden schienen. Der in vielen Gesprächen geäußerte Pessimismus und die Betrachtung der Geschichte als Tragödienstoff spiegelt sich letztlich in der positiven Möglichkeit des Einzelnen sich nicht monadisch zu verhalten bzw. das in der Monade in nuce enthaltene Bild der reichen Anlagen zur Entwicklung zu bringen. Entfalten zu können, was möglich ist, macht jene fortuna aus, die das vielleicht trügerische Bild einer aufgeklärten Gesellschaft reflektiert, dessen eigentlich utopischer Gehalt nur im Gespräch zu realisieren ist.

Literatur Andreaes, Johann Valentin (1619): Christianopolis, Straßburg. Campanella, Tommaso (1623): Der Sonnenstaat, Frankfurt/M. Münkler, Herfried (2003): Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, 2. Aufl. Weilerswist. Negt, Oskar (1997): Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche. Plädoyer für einen neuen Generationenvertrag, Göttingen. Negt, Oskar/ Kluge, Alexander (2001): Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden. Band 1. Frankfurt/M. Neuber, Wolfgang (2003): »Sichtbare Unterwerfung. Zu den herrschaftsstrategischen Raumvorstellungen in frühneuzeitlichen Idealstadtentwürfen und Utopien«. In: Cornelia Jöchner (Hg.), Politische Räume. Stadt und Land in der Frühneuzeit, Berlin, S. 1-22. Steinbrink, Bernd (1978): »Die Hochzeit von Himmel und Erde. Die Rosenkreuzer-Schriften und die Sozialutopie Johann Valentin Andreaes’«. In: Gert Ueding (Hg.), Literatur ist Utopie, Frankfurt/M.

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»Gemeinsame Philosophie«. Ein Projekt von Oskar Negt und Alexander Kluge Barbara Hahn

»Der unterschätzte Mensch«. Mit diesem Titel ist die »gemeinsame Philosophie« – so der Untertitel – von Oskar Negt und Alexander Kluge überschrieben. Zwei dicke Bände, die drei gemeinsam verfaßte Bücher sowie Transkriptionen von Fernsehsendungen versammeln.1 Texte, entstanden in einem Zeitraum von dreißig Jahren. Sie wurden in diesen Bänden nicht einfach nachgedruckt, sondern zu etwas Neuem arrangiert. Ganz am Ende des ersten Bandes, nach bibliographischer Notiz, Inhaltsverzeichnis und Nachbemerkung findet sich ein undatiertes Foto, von dem wir sofort wissen, wann es entstand. Wir sehen eine Frau in enganliegendem Kleid und Perlenkette, ein Bild, das damals um die Welt ging. Die Bildunterschrift lautet: »›Der unterschätzte Mensch‹. Brokerin in N.Y. Vom Staub übertüncht, wie in Herkulanum und Pompeij.« Diese Referenz auf den Titel des Projekts bedeutet zugleich dessen Datierung. Der 11. September 2001 – Bücher werden heute schnell produziert, bereits einen Monat später erschienen die Bände – rahmt ein Unternehmen, das seinen Ausgang von einem ganz anderen 11. September nahm. Das älteste aufgenommene Buch der beiden Autoren, »Öffentlichkeit und Erfahrung« von 1971, trägt folgende, recht ungewöhnliche Widmung: »Th.W.Adorno, * 11. September 1903, + 6. August 1969«. Die Zeit, die sich zwischen diesen beiden Daten spannt, folgt einer anderen Ordnung als der der Chronologie, was sich bereits am Druckort dieser Daten ablesen läßt. Denn der erste Band beginnt nicht mit diesem Text, sondern mit einer undatierten Geburtstagsgabe Alexander Kluges für Oskar Negt, gefolgt von einem gemeinsamen 1 | Nachweise aus diesen Bänden erfolgen direkt im Text.

104 | Barbara Hahn Vorwort, verfaßt im Oktober 2001. Danach lesen wir die beiden Autoren im Gespräch über sechsundzwanzig »Suchbegriffe«: »In den Suchbegriffen suchen wir selbst. Wir tun das, was wir auch früher gemacht haben, bevor wir etwas niederschrieben, wir sprechen darüber.… Diese Suchbegriffe kommen dem am nächsten, was uns unmittelbar, aktuell, jetzt zu Beginn des 21. Jahrhunderts interessiert« (Negt/Kluge 2001: 20).

Ein weiterer Einschub, das »Zwischenstück 1«, zeigt den »Weg des Odysseus« auf einer Karte, Heinrich und Ulrike von Kleist mit Immanuel Kant im Gepäck auf der Reise nach Frankreich sowie den »Raketentelemetriespezialisten« A. I. Suslow. Nach einer Serie von kommentierten Abbildungen dann »Öffentlichkeit und Erfahrung«, das erste Buch, das Negt und Kluge gemeinsam schrieben. Zu »Beginn des 21. Jahrhunderts« soll dieser Text offenbar anders gelesen werden als damals, als er zum ersten Mal erschien. Sein besonderer Status im vorliegenden Arrangement von Texten wird im Buch nicht nur durch diese Aufschübe herausgestrichen. Assymetrien in der Anordnung sowie »Zutaten« zum Text zeigen, daß der Lektüre hier eine neue Aufgabe zukommt. Beim Blättern im Band entdeckt man, daß dieser wie eine Art Tryptichon strukturiert ist, wobei auch die »Scharniere« zwischen den Flügeln dargestellt wurden. Es sind die lichtgrauen Blätter der beiden »Zwischenstücke«, von optisch und graphisch herausgestellten Seiten, wobei beim ersten nur die Bilder grau unterlegt sind, beim zweiten dagegen Text und Bilder. Diese »Zwischenstücke« sind graphisch so arrangiert, daß sie von beiden Seiten aus lesbar sind, wobei jede Regelmäßigkeit gleich wieder aufgebrochen wird. Das erste Scharnier endet mit einem Bild: Lucretia mit dem Messer in der Hand. Wir sehen sie wie durch das Auge einer Kamera. Ihr Blick geht nach rechts, hin zum Titelblatt von »Öffentlichkeit und Erfahrung«. Die Bildunterschrift, »Lukrezia, die sich ersticht, weil sie vom Königssohn vergewaltigt wurde. Öffentlichkeit als Bild stürzt Könige«, sagt nicht, was auf dem Bild zu sehen ist. Ein Bild zeigt kein »weil«. Ein Bild kann den Bruch zwischen Präsenz und Präteritum nicht einfach darstellen. Der Satz ist vielmehr eine Art Leseanleitung für das Kommende. Wobei ein weiterer kleiner Aufschub noch einmal verdeutlicht, welchem Problem sich das Lesen wird stellen müssen. Denn unter dem Titel des Buches findet sich ein Text, den die Erstausgabe nicht kennt. Er ist kursiviert, gehört also nicht zum Titel, der in recte gesetzt ist, und auch nicht zum folgenden Blatt, das das verwackelte und leicht verwischte Foto einer Börse zeigt. Unterschrift: »Die Uhren der Börse: eine Öffentlichkeit, die schneller ist als sie selbst. Die großen Börsen der Welt, Hongkong, Frankfurt, London, New York, Chicago, verzehren eine neue Information in einem Zeitraum zwi-

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schen drei und elf Sekunden. Danach ist die Nachricht in die Börsenkurse eingegangen und als Neuigkeit ›verschwunden‹«. Unten auf diesem, gegen die graphische Ordnung des Buches auf einem grauen Blatt gedruckten Foto, dann die bereits zitierte Widmung an Adorno. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird also gleich mehrfach auf die Zeit gezogen. Das nun folgende Buch, dreißig Jahre alt, nach dem Tempo der Börse also in grauer Vorzeit entstanden und drei Jahre nach Adornos Tod erschienen, erinnert nun, 2001, an Zeiten, die durch das Lesen betreten, erschlossen werden können. Diese Zeiten werden nicht in Sekunden, »zwischen drei und elf« gemessen, auch nicht in Minuten, Stunden, Tagen, Wochen, Monaten, Jahren. Sie entfalten sich vielmehr in Begegnungen von Ereignissen (»11. September 1903«, drei und elf also ganz anders arrangiert) und Gesprächen. Das Buch, das nun beginnt, ist als »Neuigkeit« gerade nicht »verschwunden«, vielmehr kann es im Moment des Lesens immer neu entstehen. Das zweite »Zwischenstück« zeigt eine andere Ordnung. Es nimmt in seinem Titel bereits auf, worum es im letzten Teil dieses Bandes gehen wird: »Öffentlichkeit/Maßverhältnisse«. Ihm folgt – wieder entgegen der Chronologie – das letzte gemeinsam verfaßte Buch der Autoren, die »Maßverhältnisse des Politischen« von 1992. Anders als bei »Öffentlichkeit und Erfahrung« sind die einzelnen Teile namentlich gezeichnet. Oder genauer gesagt: im Erstdruck waren alle einem Verfasser zugeordnet. Hier, in der »Gemeinsamen Philosophie«, finden sich wieder kleine Unregelmäßigkeiten. Die zu lesen, hilft wie bei den »Zwischenstücken«, Konturen des Projekts der beiden Autoren freizulegen. Verändert wurde zum Beispiel das neunte Kapitel, das in der Ausgabe von 1992 mit »Sich einlesen« überschrieben und von Alexander Kluge gezeichnet ist. Nun heißt es – erheblich erweitert – »Kein Mensch ist von Natur aus politisch«; wer es geschrieben hat, bleibt offen. Verändert wurden die »Maßverhältnisse des Politischen« auch dadurch, daß der Text im Unterschied zur Erstausgabe »bebildert« ist. Und zwar genau nach dem Bauprinzip, das bereits »Geschichte und Eigensinn« von 1981 zeigte. Dieses Buch war immer schon eine Collage aus Text und Bild, wobei die Bilder mit eigenen kleinen Texten versehen wurden, die diese nicht beschreiben oder erläutern, sondern in einem anderen Medium weiterschreiben. Indem dieses Verfahren nun das gesamte Projekt des Unterschätzten Menschen durchzieht – auf die »Zwischenstücke« wurde bereits hingewiesen –, wird nicht nur eine Brücke zum zweiten Band der Gemeinsamen Philosophie geschlagen, der »Geschichte und Eigensinn« unverändert mitteilt.2 Viel mehr ist damit getan. Am Beginn des 21. Jahrhunderts 2 | Nicht ganz. Die Ausgabe von 1981, gedruckt auf dem rosafarbenen Papier

106 | Barbara Hahn kann die Arbeit am Unterschätzten Menschen kein »nur« sprachliches Projekt sein. Jedes Nachdenken über Öffentlichkeit und Erfahrung muß sich damit auseinandersetzen, daß wir in einer Bilderwelt leben. Damit tritt das Projekt von Alexander Kluge und Oskar Negt aus gegebenen Räumen intellektueller Arbeit heraus. Es zeigt deren Enge und Borniertheit, und seien sie noch so »interdisziplinär« vernetzt. »Man muß die Lücken mitlesen«, so heißt es in der »Nachbemerkung« (ebd.: 1245). Die Bilder, so könnte man sagen, reißen diese Lücken weiter auf. Sie stellen an die Leser die Aufforderung, noch einmal lesen zu lernen. Und noch einmal.

Literatur Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1973): Öffentlichkeit und Erfahrung, Frankfurt/M. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1981): Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/ M. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1992): Maßverhältnisse des Politischen, 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Frankfurt/M. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (2001): Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden, Frankfurt/M.

der Financial Times, endet anders, wenn der Umschlag mitgelesen wird. Auf der Innenseite des hinteren Deckels findet sich hier ein Textfragment über Hieroglyphenschrift: »Ausserdem gibt es viele Varianten, welche theils Spielarten derselben Hieroglyphen, theils sinnverwandte Zeichen sind, welche den gleichen Lautwert haben, wie z.B.« – weiter läßt sich das Fragment schlecht zitieren, weil dafür die Zeichensätze der handelsüblichen Textverarbeitungsprogramme nicht ausreichen. Hieroglyphen sind hier nicht vorgesehen. Und so endet das Buch, wenn wir diese Schrift nicht als Dekoration lesen, mit »Göttlichkeit, Thränen der Isis«, worauf zwei Zeichen folgen, die ein Auge und einen Fisch zeigen. Warum aber weint sie?

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Exemplarische Reflexionen einer Dekade. »Maßverhältnisse des Politischen« Wolfgang Bock

»Die jüngste Vergangenheit erscheint wie durch Katastrophen vernichtet.« Theordor W. Adorno »Geschichte ist Chock zwischen Tradition und der politischen Organisation.« Walter Benjamin »History teaches nothing.« Sting

Oskar Negt und Alexander Kluge finden sich Ende der 1980er Jahre für ein Buch zusammen. »Maßverhältnisse des Politischen« erscheint 1992 und ist nach »Öffentlichkeit und Erfahrung« (1972) und »Geschichte und Eigensinn« (1981) ihr drittes gemeinsames Projekt. Jeweils werden die Veränderungen und Tendenzen der zurückliegenden Dekade im Übergang zur nächsten durchgemustert und in Hinblick auf ihre liegengebliebenen und unabgegoltenen Reste hin beurteilt. Zu reflektieren und zu aktualisieren gibt es in dieser Hinsicht um 1990 einiges: die Erosion der Protestbewegung und der deutschen Linken einschließlich der Etablierung der Grünen als bürgerliche Partei, die Lehren aus dem Reaktorunglück von Tschernobyl, den ersten Golfkrieg, die Jugoslawienkrise, den Mauerfall und die friedlichen Revolutionen im Osten, die zunehmende gesellschaftliche Übersichtlichkeit und Unübersichtlichkeit zugleich, die Wahrnehmungsveränderungen durch die Postmoderne. Diesen und anderen Vorgängen rücken Negt und Kluge mit fünfzehn einzeln

108 | Wolfgang Bock und zusammen verfaßten Montagen, Analysen, Exkursen und Kommentaren zuleibe, die die Veränderungen der Substanz des Politischen und der politischen Sprache zum Gegenstand haben.

Aktualisierungen einer Tradition Die Form der kleinen Texte hat sich bereits in den früheren Büchern bewährt und wird auch in den Maßverhältnissen beibehalten. Negt und Kluge setzen an dem an, was sie Elementarerfahrungen des Politischen nennen – an den Möglichkeiten der Menschen, sich Gestaltung, Einsicht und Übersicht ihres eigenen Lebens zu verschaffen (vgl. Negt/Kluge 1992). Die einzelnen Erfahrungen bleiben nach diesem Modell zunächst bei sich, sie gewinnen aber, wenn sie sich zusammen tun und gemeinsam agieren, »neue Intensitätsgrade«, »Verdichtungszustände« und »Handlungsqualitäten« (vgl. ebd.). So klingt es beinahe nach einer naturwissenschaftlichen Beschreibung, wenn die Autoren ihr Anliegen ankündigen: »Die politischen Energien und Qualitäten brauchen Zeit, erkennbare Orte, Autonomiefähigkeit der Subjekte, einschließlich einer glücklichen Verbindung von Spontaneität und Dauer, ein gegenständliches Gegenüber (Reibungsfläche), den freien Wechsel zwischen Rückzug (Schlaf, Pause, Entlastung) und der Konzentration der Kräfte (Solidarität, Schutz, Wachheit) u.a. m. Die Parameter (Formen) vereinigen sich zum Politischen in emanzipatorischer Richtung dann, wenn sie ein Maß zueinander finden: Dies sind die Maßverhältnisse des Politischen« (ebd.: 10).

Das mikrophysiologische Modell, das hier zur Anwendung kommt, versteht sich soziologisch. Tatsächlich aber besitzt es neben Wurzeln in der kritischen Theorie der Frankfurter Schule und einer Nähe zu den Theorien von Michel Foucault (»Mikrophysik der Macht«) und Gilles Deleuze (»Rhizome; Plateaus«) insbesondere in der Sprache eine Affinität zu den frühbürgerlichen Naturlehren. Eine Genealogie dieser Denkform im engeren Sinne auszumachen geriete zu einem eigenen Unterfangen.1 1 | Dennoch lassen sich einige Umrißlinien markieren. Oskar Negt ist Soziologe und Philosoph und bearbeitet auch psychologische und arbeitswissenschaftliche Fragestellungen; Alexander Kluge ist Jurist und Filmemacher, dabei Schriftsteller, Militärhistoriker und Medienpolitiker. Beide verdanken zunächst ihrer preußischen Herkunft (Negt, Jahrgang 1934, flieht aus Kapkeim bei Königsberg; Kluge, Jahrgang 1932, stammt aus einer Halberstädter Arztfamilie mit Militärs), ihren Erfahrungen als Kriegskinder und »Davongekommene«, dann aber auch der Reflektion im Horizont von Horkheimer und Adorno und der studentischen Protestbewegung

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Wir können festhalten, daß Negt und Kluge in der ihnen eigenen Sprache, die aus Anlehnungen und Verfremdungen verschiedener Diskurse entsteht, ein Feld aus soziologischen, philosophischen, juristischen, strategischen, ästhetischen und naturwissenschaftlichen Begriffen bespielen. Dieses Feld erzeugt dann wiederum eine eigene Welt von Referenzbegriffen und fordert den Leser zu immer neuer Interpretation, Aneignung und Abgrenzung innerhalb und außerhalb dieser Terminologie auf. Die Autoren verfolgen damit insofern das Projekt eines polyvalenten Weiterdenkens kritischer Theorie, indem sie keine positiven Modelle anbieten, sondern eine Kritik formulieren, der man sich mimetisch gegenüber verhalten kann, aber nicht muß.

Von Rohstoffen und Zutaten – Naturbilder als Gesellschaftsbilder Im Zentrum des Augenmerks der Autoren stehen die Übergänge und Friktionen privater politischer Rohstoffe zu neuen öffentlichen Assoziationsformen: »Bleibt etwas im Alltag verborgen, vereinzelt und passiv? Gelangt eine Konstellation alltäglicher Gefühle zu einem öffentlichen politischen Ausdruck, bildet etwas eine gemeinsame Bewegung? Hat dieses Politische Dauer, d.h. beginnt es zu arbeiten, erzeugt es einen produktiven Prozeß, der seinen Eigenwillen behauptet? Diese drei Kriterien lassen sich unterscheiden, auch wenn die Intensitätsgrade der Gefühle nicht auf sie zurückführbar sind. Sie durchlaufen Metamorphosen, sind in ständiger Bewegung und können alle möglichen Gestalten annehmen. Das ist der Rohstoff des Politischen. […] Die Formen und Maßverhältnisse, die diese Rohstoffe zu einer Öffentlichkeit machen, unterscheiden sich grundlegend. Auf der Ebene des Rohstoffs gibt es selber noch kein faßbares Maßverhältnis. Es gilt dort eine tödliche Maßlosigkeit, abwechselnd mit dem viel. Anders aber als die Habermasianische Linie der neueren Frankfurter Schule besitzen beide Autoren sowohl eine größere Nähe zur französischen poststrukturalen Theorie, der Habermas mit anderen Vorbehalten gegenübersteht, als auch einen stärker medienästhetisch geprägten Zugang zu gesellschaftlichen Phänomenen. Diese Tätigkeiten und Zusammenhänge fließen bei Negt und Kluge in ein sprachliches Kontinuum, in dem eine interdisziplinäre Reflektion der politischen und historischen Lage erfolgt. Dieses ist nicht allein typisch, sondern wirkt in der kulturpolitischen Landschaft Westdeutschlands seit den 1960er Jahren ebenso auch typenbildend: Im Jahre 2004 ist Kluge der Grandseigneur einer kritischen deutschen Medienpolitik und Oskar Negt unter anderem als Berater von Bundeskanzlers Gerhard Schröder tätig.

110 | Wolfgang Bock Rückfall in (von Balanceenergie aufrechterhaltener) Passivität. Wenn wir von dem Politischen im materiellen Sinne sprechen, gehen wir von diesem Rohstoffcharakter und von der Unvollständigkeit des Politischen aus« (ebd.: 46/47).

Abbildung 1: Kompost Mineralisierung und Humifizierung

Quelle: Dietrich Schroeder, Bodenkunde in Stichworten, Kiel 1969.

Die Autoren verstehen ihre Begriffe selbst als regulative Ideen im Kantschen Sinne, also als Aufforderung an den Leser, eine systematische Einheit der theoretischen Überlegungen erst herzustellen. Vielleicht wirkt hier aber auch ein anderer Hintergrund. Denn es geht bei ihnen zuweilen so zu, wie in einem ordentlichen Komposthaufen: Auf den Zerlegungsprozeß der Ausgangsmaterialien folgt in einem zweiten Schritt die Neuzusammensetzung der so elementarisierten Stoffe zu einer neuen, nachhaltigen und fruchtbaren Verbindung. Oder, um ein weiteres Bild einer benachbarten Sphäre zu bemühen: Wie zwei Köche legen sich nun die Autoren ihre Zutaten bereit, um daraus ein neues politisches Gericht herzustellen.2 2 | So fern mag das erste Bild eines Stoffkreislaufes aus der terrestrischen Ökologie der politischen Elementarstofflehre der Autoren nicht sein. Was sie sich unter »Nachhaltigkeit des politischen Gemeinwesens« und »Treuhänderschaft« der in

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Anders gesagt, es handelt sich bei dem Vorhaben der Autoren, Naturbilder zur Beschreibung von politischen Verhältnissen zu verwenden, um eine Art säkularer politischer Alchemie: Ihr Denken unterwirft die Wirklichkeit einem Röntgenblick, der auf die politische Öffentlichkeit als einer Retorte fällt, in der ein neuer Mensch geschaffen werden soll. Doch dieser neue Mensch ist kein abstrakter und magischer Homunkulus, sondern gleicht eher dem Nietzschenischen Übermenschen, von dem es bei Walter Benjamin heißt: »Der Übermensch ist der ohne Umkehr angelangte, der Abbildung 2: Alchemische Darstellung des Homunkulus

Quelle: Allchemie des Alltags, Gießen 1987, S. 46.

der Öffentlichkeit Tätigen denken, entspricht durchaus den Übertragungen bestimmter politischer Ideen, die Charles Darwin 1881 in seinem Buch über die »Tätigkeit der Regenwürmer« vornimmt. An diesen nämlich lobt er ihren stillen Beitrag zur nachhaltigen Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit der Erde als Grundlage allen Lebens (vgl. Darwin 1983: bes. 100-129). In diesem Sinne zitieren die Autoren Karl Marx unter dem Stichwort »Souveränität hat ihren Sitz nicht allein in der Gegenwart«: »Sie hat, als Verfassung im materiellen Sinne, eine Beziehung zu den vorangegangenen Generationen und deren Kontinuität. Sie hat ihren autonomen Ort in den künftigen Generationen, denen das Land übergeben werden muß« (Negt/Kluge 1992: 29-30. Vgl. Marx 1957: 826). Und auch das zweite Sprachbild der politischen Köche, die am Herdfeuer der Öffentlichkeit eine neue Suppe kochen, mag einer Chemie der Mischungsverhältnisse nahe kommen, wie sie sich noch Goethe und Hegel mit dem Chemiker Bergmann als Wahlverwandtschaften dachten

112 | Wolfgang Bock durch den Himmel durchwachsne, historische Mensch« (vgl. Benjamin 1985).3

Ein dunkler geschichtsphilosophischer Horizont Weitere strukturelle Elemente dieser Theorie sind aus den früheren Büchern der Autoren bekannt. In deren Titel stehen sich subjektive und objektive Erfahrungen polar gegenüber, wobei nicht von einem Primat der einen oder anderen Sphäre ausgegangen werden kann: »Öffentlichkeit und Erfahrung«, »Geschichte und Eigensinn« sind solche programmatischen Formeln und Miniaturmodelle der Theorie Negt und Kluges. Auf ähnliche Weise ist auch »Maßverhältnisse des Politischen« zu verstehen. Das sprachliche Subjekt des Titels bildet das Politische als Form. Dabei wird auf den Spannungsbogen einer modernen deutschen und europäischen Geschichte seit der Französischen Revolution gesetzt. Diese läßt sich nicht von den Erfahrungen der jeweiligen Akteure abtrennen – machen die Menschen keine Erfahrungen, handeln sie blind oder gar nicht, dann verflacht auch die Intensität des Politischen und wird reduziert auf die arbeitsteilige Sphäre der Sachpolitik von Berufspolitikern. Subjektivität wird, wie Rudolf zur Lippe sagt, zu einem objektiven Faktor. Berufspolitik ist in den Augen der Autoren zwar notwenig, stellt aber so etwas wie ein Minimalprogramm des Politischen dar, wenn sie sich verselbständigt und keine Unterfütterung in einer lebendigen öffentlichen Sphäre besitzt. Danach leben wir seit den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts trotz verschiedener Auf- und Umbrüche immer noch in einer Periode der Restauration – wie in einer astronomischen Phase des verfinsterten utopischen und emphatischen politischen Horizonts. Diese Umwertungen finden in der politischen Sprache ihren Niederschlag: »Wie nie zuvor in der Geschichte dieses Jahrhunderts findet eine merkwürdige Umverteilung in der politischen Sprache statt; vieles von dem, was man in den letzten Jahrzehnten der Vergangenheit zuzuschlagen entschlossen und bereit war, erlebt plötzlich eine gewaltige Aufwertung und einen geradezu erdrückenden Realitätszuwachs: Staat, Nation, Kapital, Religion und Geld assoziieren sich nun in einer Weise mit Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie, als hätte es die Blutlinie dieser Begriffe im 20. Jahrhundert nie gegeben. Dem Bedeutungs- und Erklärungsgewinn dieser Worte der herrschenden Gruppen entspricht die Entleerung von Begriffen wie Solidarität, Gemeinwesen, Gemeinwirtschaft, vernünftige gesellschaftliche Organisa3 | An anderer Stelle heißt es bei Benjamin: »Meine Definition von Politik: die Erfüllung der ungesteigerten Menschenhaftigkeit« (»Welt und Zeit«, in ebd.: 99).

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Abbildung 3: Sphärenmusik

Quelle: Gafurius, Practica Musice, 1496; nach Edgar Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt/M. 1987, S. 340.4 4 | »Wir müssen das Grandiose dieser Idee anerkennen – eine Idee, die notwendig ist. Nämlich das System der himmlischen Sphären ist ein System, worin

114 | Wolfgang Bock tion. Daß die Sieger in diesem gigantischen gesellschaftlichen Sprachspiel so gut mit ihrem Besetzungswillen vorankommen, ist nicht zuletzt darin begründet, daß die Linke ihre Begriffe zu wenig als Griffe zur Veränderung der Verhältnisse gebraucht hat, sie vielmehr als leblose Substanzformeln aufbewahrt. Je hohler die Orthodoxie der politischen Begrifflichkeit war, desto rabiater wird sie jetzt von denen verabschiedet, die ihre Zitatkartelle zu geistigen Selbstimmunisierungsbastionen ausgebaut hatten« (Negt/Kluge 1992: 62/63).

Maße und Masse Das Hauptaugenmerk der Autoren gilt den Übergängen der von ihnen bestimmten politischen Elementarkräfte aus den abgeschlossenen Sphären der Arbeit, der Familie und der Freizeit in die Öffentlichkeit, gleichsam ihrer ursprünglichen Akkumulation und öffentlichen Aneignung. Das war bereits Thema des Projekts »Geschichte und Eigensinn«. Dafür verwenden Negt und Kluge in ihrem folgenden Buch nun einen zentralen und zugleich weitgehend unbekannt gebliebenen Begriff Hegels. Als Knotenlinien der Maßverhältnisse adaptieren sie dessen Metapher einer Überführung von zunächst singulär bleibenden Erscheinungen in ihr Wesen und ihren Begriff, also einer Passage von Einzelphänomenen in das System. Bei diesem Übergang entwickelten die zuvor unbestimmten Phänomene danach nun ein Proportionsverhältnis und damit ein Maß: »Die Erscheinungen können zum Wesentlichen nur gelangen über Maßverhältnisse« (ebd.: 18). Hier wirke nicht ein aristotelisches Maß der Mitte und des gegenseitigen Ausgleichs, sondern vielmehr eine antinomische und dialektische Vermittlung als Aus-

alles in Zahlenverhältnissen bestimmt ist, die unter sich Notwendigkeit haben und als Notwendigkeit zu begreifen sind – und ein System von Verhältnissen, das im Hörbaren, in der Musik ebenso die Basis und das Wesen ausmachen muß. Es ist hier der Gedanke eines Systems des Weltgebäudes – des Sonnensystems – gefaßt; nur dies ist für uns vernünftig – die anderen Sterne haben dagegen keine Würde. […] Das Tönen können wir weglassen, die Musik der Sphären ist eine große Vorstellung der Phantasie – für uns ohne wahres Interesse. Die Idee aber, die Bewegung als Maß, notwendiges System von Zahlen und Zahlenverhältnissen darzustellen, ist notwendig. Denn der Unterschied, das Verhältnis ist hier allein als Zahl, Größe bestimmt – dies die Weise der Existenz; denn die Bestimmungen sind in diesem idealen Elemente der Zeit und des Raumes. Der Gedanke ist, daß sie in notwendigen Verhältnissen stehen und diese harmonisch sind, als vernünftig; es ist aber bis auf den heutigen Tag nichts weiter geschehen« (Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Leipzig 1982, Bd. 1, S. 213-214).

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druck einer Verbindung der Extreme, erläutern die Autoren (vgl. Hegel 1841: 390).5 Nun mag es dahingestellt sein, was Hegel sich tatsächlich unter dem Begriff der Maßverhältnisse dachte.6 Auch mag in der Bewertung solcher Elementarlehre die Frage ausgespart bleiben, ob sich tatsächlich ein Aufbau von politischen Einzelzellen zu einem Gesamtorganismus vollzieht, der gleichsam wie der Organisations-Übergang eines »Volvox-Organismus«7 gedacht wird. Negt und Kluge übernehmen jedenfalls das Maß von Hegel als eine ihnen verwandt erscheinende Bezeichnung für die Übergänge privater Erfahrungen in öffentlich politische. Diese Metaphorisierung besitzt durchaus einige erhellende Nebenbedeutungen. So will sich die Beschreibung des Übertrittes der einzelnen politischen Elementarkräfte zu solchen der Masse auch schon vor der Rechtschreibreform sich nicht recht vom Übergang zu einem Maße unterschieden lassen. In der Sache machte eine Ersetzung des einen Begriffs durch den anderen nur einen geringen Unterschied aus. Ja, man kann sagen, daß jene mangelnde Differenz gerade das Produktive des Ansatzes von Negt und Kluge abgibt; es unterscheidet diesen von elitären und konservativen Gesellschaftsmodellen und setzt auf eine nicht abwertende Weise auf die »Masse als Matrix aller neuerer Politik« (vgl. Benjamin 1977). Auch darin folgen die Autoren Walter Benjamin.

Hin und wieder zurück Die Überlegungen von Negt und Kluge schließen das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderen ein. In industriellen Gesellschaften herrsche auch eine Illusion der gemeinsamen lebendigen Arbeit, die im kindlichen Omnipotenzgefühl wurzelt, das sich jetzt über die ganze Gesellschaft verteile. Eine scheinbare Bestätigung dieser Omnipotenz-Ideale der Kollektive liefert die Kraft der Kooperation (Marx: »animal spirits«), die tatsächlich dafür sorgt, daß hundert Arbeiter in einer Stunde mehr Arbeit erledigen als ein 5 | Bei Hegel heißt es: »Es liegt in dem Maße bereits die Idee des Wesens […]«. Zum Stichwort Knotenlinien vgl. dort insbesondere S. 435-445. 6 | In Hegels Parteinahme für das Maß und das System fließt seine Hochschätzung des Sonnensystems und der Maßzahlen der Planetenabstände mit ein. Als Tonreihung und harmonisches Maß der Abstände in der Musik sieht er darin etwas Sinnhaftes vorgebildet, das die Wissenschaft erst noch einzuholen habe (vgl. Hegel 1986). 7 | Der Karikaturist Grandville denkt sich den Volvox beispielsweise als ein Ungeheuer.

116 | Wolfgang Bock Abbildung 4: Grandville, Volvox 1: Der Volvox im Garten der Tiere

Quelle: Grandville, Les Animaux (1842), in: Die Phantasien des Grandville, Darmstadt 1976, S. 32.

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Arbeiter in hundert Stunden. Dieser Eindruck einer Steigerung der lebendigen Arbeit gilt Negt und Kluge als »Faustregel für kooperatives Gelingen: Solche Kooperation täuscht darüber hinweg, dass sich das Lebendige nicht steigern und nicht stapeln lässt« (Negt/Kluge 1992: 39). Die Unterscheidung zwischen stapelbar/steigerbar und nichstapel- bzw. steigerbar ist politisch entscheidend. Der Anschein der Steigerungsfähigkeit der Arbeitsvermögen hat seinen realen Grund im Hinzutreten bisher unausgeschöpfter gattungsgeschichtlicher Eigenschaften; lebendige Arbeitsvermögen an sich sind keineswegs über ihr eigenes Maß hinaus steigerungsfähig. Daher besitzt der Begriff des Maßes (und der Masse) bei den Autoren immer auch die humanistische Nebenbedeutung eines menschlichen Maßes, durchaus mit Anklängen an die Maß- und Raumverhältnisse der Renaissance-Architekten und -Theoretiker. Menschliches Maß heißt dann in diesem Falle die Umwandlung der gesellschaftlichen Geschwindigkeiten und der Sachlogiken der politischen Strukturen in solche, die den Erfahrungen der einzelnen Menschen wieder zugänglich werden, aus denen sie entspringen. Man kann hier, wenn man erneut in einem Naturbild bleiben will, von einer Wiederaneignung, einer Verflüssigung von verfestigten, aber umgekehrt auch von verflüchtigten Elementen in eine dem Menschen zugängliche Aggregatform sprechen, die dem Politischen als einer öffentlichen Handlungssphäre entspricht.8 Damit korrespondiert ebenfalls die Wiederaufnahme einer arbeitswissenschaftlichen Formulierung der Autoren aus ihrem Buch »Geschichte und Eigensinn«, nämlich des Übergangs von den gesellschaftlichen Grobgriffen zu den individuellen Feingriffen, den sie auch als physiologischen Vorgang der Unterscheidung von großen politisch-öffentlichen und privaten, intimen Verhältnissen, bestimmen.

8 | Die Nähe dieser Theorie zu einer vormodernen naturwissenschaftlichen Aggregatenlehre ist durchaus nicht zufällig. Negt und Kluge übernehmen hier auch wesentliche Teile von Leibnitz, wenn es heißt: »Doch alle Bilder der Veränderung durch Verneinung des Bestehenden sind so lange in der Art von Monaden, die nach Leibniz bekanntlich keine Fenster haben, verkapselt, wie noch der objektive Schein der Regierungsfähigkeit der Oberschichten wirkt. Erst in dem Augenblick, da für die Massen fühlbar und am Ende auch erkennbar wird, daß die Herrschenden mit ihren Knebelungsapparaten, mit Polizei, Gerichten und Militär nichts mehr auszurichten vermögen, schließen sich die vereinzelten Motive, die individuellen Utopien vom anderen und besseren Leben, die Interessen und Bedürfnisse der Menschen zu einem wirksamen Protest zusammen« (Negt/Kluge 1992: 84).

118 | Wolfgang Bock

Ausgrabungen zwischen der ersten und zweiten Natur In solchen Zusammenhängen der geschichtsphilosophischen Naturbilder, der Maßverhältnisse, der Elementarkräfte und der Unterscheidungsvermögen des Politischen präsentieren die Autoren ihre fünfzehn Reflexionen und Maximen als Exkurse soziologischer Phantasie. Die wichtigsten ÜberAbbildung 5: Krystallisationen9

9 | »Die menschliche Intelligenz weiß den Erdball ihrem Willen zu unterwerfen; indem sie die Natur copierte, stellte sie sich ihr gleich und verlieh ihr Farbe und Form. Die Architektur entwickelte sich ganz aus den verschiedenen Krystallisationen, Petresakten, Stalactiten. Die egyptischen Pyramiden, die griechischen Säulenordnungen und die gothischen Spitzen haben keinen anderen Ursprung. Der Mensch schöpfte seine sinnreichsten und anmuthigsten Erfindungen aus den Launen der Natur; er hat ihr Alles abgeborgt, von der Baukunst bis zu den Schmucksachen, von den Palästen bis zu den Telegraphen, von den Ordenskreuzen bis zu den Lichtauslöschern, von den Zuckerhüten bis zu den Pfundebroden, den Würfeln, den Dominosteinen u.s.w.« (Grandville, Eine andere Welt [1844], Zürich 1979, S. 137).

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legungen gelten den Veränderungen des Begriffs des Politischen und der Bedeutungsdrift in der politischen Sprache in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, die heute bereits derartig naturalisiert vorliegen, daß ihre Rekonstruktion wie eine »archäologische Ausgrabung im Zwischenbereich der ersten und zweiten Natur« anmutet.10 Abbildung 6: Seepflanzen11

10 | Dazu sind Grandvilles Phantasien aus der Anderen Welt exemplarisch (vgl. Grandville 1977). 11 | »Wir haben eben gesehen, wie der Mensch von der Natur das Geheimniß der Künste borgte; jetzt überraschen wir die Natur, wie sie von dem Menschen Vorbilder entlehnt. Was sind denn die Seepflanzen anderes als eine genaue Reproduction von Spitzen, Schnüren, Würsten, Schirmen, Epauletten, Pompons, Federbüschen, Toupets, Kämmen und dergleichen mehr?« (Grandville, Eine andere Welt, a.a.O., S. 138).

120 | Wolfgang Bock In dem programmatischen ersten Abschnitt entwickeln Negt und Kluge ihre pointierte Kritik an der Reduzierung des Politischen auf eine systemimmanente Realpolitik. Unter der Überschrift: »Was ist am Politischen politisch?« – fragen sie nach den spezifischen Bedingungen des Politischen und seinen Möglichkeiten. Die Autoren suchen mit ihrem elementarisierenden Röntgenblick nach dem Gebrauchswert des Politischen als einer Bilanz des Politischen seit der französischen Revolution. Diese Politik beginnt mit Voltaires Kritik gegen die Kirche; sie richtet sich heute gegen eine andere Definitionsmacht der Realität: »Die durch staatliche Macht gestützte hoheitliche Politik erscheint als die wichtigste Ausdrucksform dieses Vorsitzes, mit dem sich das Realitätsprinzip, das den inneren Aufbau der einzelnen Menschen lebensgeschichtlich durchdringt, im kollektiven Ganzen eine zweite starke Zitadelle geschaffen hat. Diese Betonwelt der Realität – samt den Gespenstern und Geistern, die eine sinnlich unfaßbare, aber allgegenwärtige Bedrohung erzeugen – enthüllt sich als eine quasireligiöse Gewalt. Angesichts dieser Gewalt ist Unglaube, skeptischer Widerwille, der erste Akt von Aufklärung« (Negt/Kluge 1992: 15).

Der Unglauben an die eindimensionale Realität als Wirkmacht des Faktischen bleibt danach bis heute die erste Leistung eines kritischen Denkens. Negt und Kluge stellen sich auf diese Weise in die Tradition der Aufklärung. Sie fragen nach den Kosten und dem Unvermögen einer traditionellen hoheitlichen Politik, die den Ersten Weltkrieg und den Niedergang der Weimarer Republik zum Faschismus nicht verhindert, sondern diesen vielmehr unterstützt haben. Solche Formationen drohen auch einer heutigen, am Möglichen orientierten Realpolitik: »Realpolitik hat gegenüber Interessen, die am Gemeinwesen orientiert waren und sich selber als politisch verstanden, stets den abwertenden Gesichtspunkt des bloß Utopischen geltend gemacht und so zur Mystifizierung der Realitätsmacht des Gegebenen beigetragen. Was wir an dieser »Realpolitik« kritisieren, ist nicht ihr Moment des Realistischen, sondern, daß sie imaginär, realitätslos ist. Deshalb ist sie ihrem Kontrahenten, dem entschieden und skrupellos irrationalen Politiker, nicht gewachsen« (ebd.: 17).12

12 | Allerdings bleibt fraglich, ob die Autoren auch in der gegenwärtigen Situation ihre Sätze so scharf formulierten.

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Exkurse und Stichworte Diesen Ansatz übertragen die Autoren auf eine Reihe weiterer Stichworte, die unter der Fragestellung der Souveränität – »Wem schreiben wir die Macht zu, über uns zu bestimmen?« – durchdekliniert werden. Dabei geht es um die Selbstbestimmung der Subjekte über die eigene Zeit (»Zeitsouveränität«), um unreine Äußerungen von Volkswillen (»In der Verfassung nicht vorgesehene Plebiszite«), um Verantwortung für die kommenden Generationen (»Souveränität hat ihren Sitz nicht allein in der Gegenwart«) ebenso wie um die Sprachen des Wahlkampfes, das notwendige Verdrängen katastrophaler Situationen wie Tschernobyl oder um die Frage: »War der Mauerfall eine Revolution?«. Von einer geradezu aufschreckenden Aktualität ist insbesondere die Kritik der Autoren zum Stichwort: »Politik ist, was die Berufspolitiker machen«. Hier würdigen sie zunächst die Politik als professionellen arbeitsteiligen und sachbezogenen Bereich und als Verbindung von Amt und Mehrheitsinteressen. Dazu gehen sie auf Max Webers Text »Politik als Beruf« von 1918/19 zurück.13 Anschließend heißt es: »Heute hat sich das emphatisch Politische in einen Verwaltungszweig verwandelt: Das Parlament, die Parteien, die zentralen Chefs (zum Beispiel Kanzler, Ministerpräsidenten) verhalten sich wie Verwaltungsbehörden mit besonderen Aufgaben. Diese Verschiebung folgt einer dem Rechtsstaat eigentümlichen Logik. Sie ist in der Bundesrepublik zusätzlich bestärkt durch die schlechten Erfahrungen, die mit charismatischen Führern in den dreißiger Jahren gemacht wurden. Die »Verwaltung des Politischen« ist nun verknüpft mit einer ausgebauten Öffentlichkeitsarbeit, in der die von Max Weber beschriebenen Führungseigenschaften – wie auf einer Bühne – separat zum tatsächlichen Arbeitsalltag vorgeführt werden« (ebd.: 44).

Was hier anklingt, ist bereits die elektronische Bühne der Medienrepublik, die sich auf die mediale Vermittlung der Politik stützt – ein Vorgang, der sich in den letzten Jahren trotz Phoenix und Kluges DCTP-Fernsehen rapide beschleunigt hat. Solche Analysen reißen die heutigen Leser aus ihrem bequemen Abstand gegenüber Beschreibungen von Sachverhalten, die fast zwanzig Jahre zurückliegen. Diese Distanz, die einem vermeintlichen Fort-

13 | Vgl. hierzu: Weber 1921. Weber beschreibt bekanntlich den Politiker als Beamten oder Führer mit Machtinteressen, der eine charismatische Ausstrahlung, Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, und Augenmaß besitzt: »Die Politik bedeutet ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.«

122 | Wolfgang Bock schritt geschuldet ist, könnte zusammenbrechen und zu einem heilsamen Chock führen.

Sprachkritik. Zum Verlust analytischer Begriffe In ihrer Kritik schließen sich die Autoren einer noch weiter zurückgreifenden Analyse des jungen Max Horkheimer an. Dieser führt den neuzeitlichen Zuwachs in der Beherrschung der äußeren Natur durch die Naturwissenschaften mit der Kolonialisierung der inneren Natur des Menschen durch Machiavellis psychologische Politik eng. Hier sehen Negt und Kluge mit Recht eine Quelle der reduzierten »Politik als Kunst des Möglichen«, mit der wir es heute weitgehend zu tun haben und für den gilt: »Dieser Prozeß hat kein Maß« (ebd.: 53).14 Aus Horkheimers Perspektive schildern die Autoren in ihrem zweiten Abschnitt, was dieser in den 1920er und 1930er Jahren als Entehrung der Begriffe beschreibt: »Ein angesehener Gelehrter, der mit dem Sozialismus sympathisiert, hörte bei einem wissenschaftlichen Tischgespräch einen unbefangenen Teilnehmer von Menschlichkeit sprechen. Er erglühte sogleich in edlem Zorn und wies den Ahnungslosen zurecht: Der Begriff der Menschlichkeit, der ›Humanität‹, sei durch die übelste kapitalistische Praxis, die ihn durch Jahrzehnte als Deckmantel benützte, entehrt und inhaltslos geworden. Anständige Menschen könnten ihn nicht mehr ernsthaft gebrauchen, sie hätten aufgehört, das Wort in den Mund zu nehmen. Ich dachte: Ein radikaler Gelehrter! Nur – welcher Bezeichnungen für das, was gut ist, sollen wir uns dann noch bedienen dürfen? Sind sie nicht alle durch einen die schlechte Praxis verschleiernden Gebrauch ebenso entehrt wie der Ausdruck ›Humanität‹? – Einige Wochen später erschien ein Buch von diesem Gelehrten über die Wirklichkeit des Christentums. Zuerst war ich überrascht, dann fand ich: ›er hatte gar nicht das Wort, sondern die Sache verworfen‹« (ebd.: 63).15

Nun gibt es sicherlich auch andere legitime Haltungen zu einer Kritik des Humanismus, wie insbesondere eine französische Theorie in der Nachfolge Nietzsches zeigt. Dennoch verfolgen die Autoren mit Recht jene von Horkheimer so genannte Entehrung der Begriffe mit einer fast körperlich zu nen14 | »Die Kernstelle von Machiavellis Entwurf, der später alle Theorien von der Politik als der ›Kunst des Möglichen‹ folgen, hat mythischen Charakter. Fatalismus steckt in dieser Konstruktion, so als ob das Eintreten von vernichtenden Fehlern programmiert sei« (ebd.). Vgl. Horkheimer 1987: 197-270. 15 | Vgl. Horkheimer 1988: 315.

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nenden Leidenschaft. Diese gemahnt selbst wieder an die Epoche des Barock, aus der dieser Begriff der Ehre stammt. Es geht ihnen um eine Analyse der Abwertung kritischer materialistischer Begriffe, die mit dem Kontext der Menschenrechte verbunden ist. Und tatsächlich beschreiben sie damit für die späten 1980er und frühen 1990er Jahre etwas, das für uns bereits so sehr zur Selbstverständlichkeit geworden ist, daß es kaum noch angesprochen wird: Die apriorische Unterstellung subjektivistischer und egoistischer Motive bei Engagierten, zumal der Linken oder was immer von dieser noch übrig sein mag. Ein solcher Vorgang bedeutet zugleich eine Veränderung im Bereich der Zensur. Diese driftet von Mechanismen der Obrigkeit, die etwas verbietet, hin zur Selbstzensur in den Köpfen der Subjekte, die damit etwas vorwegnehmen, das vielleicht objektiv gar keine Entsprechung besitzt. Es ist jenes Moment, das Jean Baudrillard als die »Kamera im Kopf« (vgl. Baudrillard 1994) oder Gilles Deleuze etwa zur selben Zeit mit der Metapher einer »elektronischen Fußfessel« (vgl. Deleuze 1990) faßt.

Dunkles Vorausleuchten ins 21. Jahrhundert Weitere Überlegungen Negt und Kluges gelten dem Auftreten der Politik als unabwendbarem Schicksalszusammenhang, den Schädelstätten des Sozialismus, dem Verhältnis von Waren- und Kapitalfetisch, der chinesischen Entwicklung nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, dem ersten Golfkrieg oder der Frage nach mögliche Lehren aus der Geschichte. Trotz des zeitlichen Abstands erscheinen viele dieser Erwägungen aktuell. Das mag mit der genannten Methode der Autoren zu tun haben, einen Katalog von historisch falsch aufgegriffenen und daher politisch unabgegolten vorliegenden Fragen zu erstellen. So enthält beispielsweise Oskar Negts Kommentar zum ersten Golfkrieg den Hinweis auf die damaligen Waffentests am lebenden Objekt ebenso wie jenen, wonach das Urbild des Krieges mit Massenvernichtungsmitteln die Konzentrationslager und das Inferno von Hiroshima darstellen. Der daraus zu ziehende Schluß gilt bis heute: »Und die Heucheleien und Lügen über diesen Krieg, die Unterschlagungen seiner Wirklichkeit, nehmen kein Ende« (vgl. Bock: 1998). Etwas anders liegen die Dinge bei Negts Anmerkungen zur Beschreibung der deutschen Wiedervereinigung unter den Stichworten »Geschwindigkeit als Politik«: »Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik ist ein der Größenordnung der Wiedervereinigung vergleichbares Ereignis in einer derart verarmten politischen Sprache

124 | Wolfgang Bock erwogen und gedeutet worden. Von abgefahrenen Zügen ist die Rede; unentwegt werden Fahrpläne entwickelt; Autobahn und Schnellzüge liefern Politikern beider deutscher Staaten Kurzformeln für das, was die knauserige Zeitökonomie, die den Begriff des Politischen prägt, für den Alltagsverstand offenbar plausibel macht« (Negt/Kluge 1992: 306).16

Hier kritisiert Negt zu Recht eine Verarmung der politischen Sprache und ihre Ersetzung durch verkehrstechnische Begriffe. Aber darin zeigt sich zugleich die Anschlußfähigkeit solcher Kritik. Denn nimmt man diese verkehrstechnische Sprache ernst, dann kann man mit Paul Virilio und Heiner Müller von der Wiedervereinigung als einer Geschwindigkeitsangleichung der Gesellschaften in Ost und West reden. Man hätte dann in den Verkehrstoten und -verletzten ein reales und nüchternes Maß dafür, was diese Vereinigung gekostet hat und immer noch kostet. Solche Ziffern bilden eine sachliche Handhabe gegenüber dem offiziellen nationalen ›Einheitsgedusel‹. Der öffentliche Verkehrsraum in Ostdeutschland bleibt bis heute reflektorisch undurchdrungen. Verheerende Verkehrstote und Verletzte gibt es hier nach wie vor, die Zahlen liegen hier bis um den Faktor fünf höher als in den Stadtstaaten Westdeutschlands. Ein Grund dafür mag eben in der von Negt und Kluge diagnostizierten mangelnden Fähigkeit der Menschen im Osten zur Unterscheidung, zur Differenz von Fein- und Grobgriffen im physikalischen Raum des Verkehrs liegen. Oder anders gesagt, es handelt sich um das Aneinanderstoßen im Rahmen einer öffentlichen politischen Kinetik, die noch zu sehr von Knoten als von Linien bestimmt ist. Es fehlt hier nach wie vor jenes Maß.

Intelligente Trümmerlandschaften Gegenüber solchen Zyklen und Epikzyklen der Außen- und Innenpolitik als Wiederholungen und Schicksalszwängen der Geschichte setzen Negt und Kluge auf ein »Innehalten« und ein »Eingedenken«, das auf den ersten Blick mit Hegels Maß kompatibel zu sein scheint: »Wäre es da aber nicht angebracht, jedenfalls für die Kritiker des Fortschritts, auch diesem Fortschritt mit Mißtrauen zu begegnen? Das allerdings setzte einen Begriff des Politischen voraus, der sich nicht auf die Flucht der Ereignisse verläßt, sondern 16 | Das hat auch Wolfgang Pohrt schon früher mit seinem Buchtiteln Einbahnstraße, Kreisverkehr, Sackgasse kritisch beschrieben (vgl. z.B. ders. 1984: Kreisverkehr, Wendepunkt. Über die Wechseljahre der Nation und die Linke im Widerstreit der Gefühle, Berlin).

Exemplarische Reflexionen einer Dekade | 125 auf ihre Unterbrechung: auf Innehalten und Eingedenken. Solche Politik nähme sich Zeit, um sie den Menschen und ihrer Entwicklung einzuräumen, und sie schlüge Wurzeln in der Erfahrung, ja, sie wäre selber ein Geschöpf der (geschichtlichen) Erfahrung. Sie hätte Platz für Vergangenheit und für Zukunft« (ebd.: 308f.).

Was hier aber ebenfalls wiederum deutlich anklingt, sind Lehren, die die Autoren aus Walter Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte« gezogen haben. Benjamin bestimmt darin bekanntlich die Allegorie eines traurigen Engels der Geschichte, der, vom Wind des Fortschritts getrieben, auf die menschliche Geschichte blickt. Diese erscheint ihm als eine Anhäufung von Abfall, Unrat, Gerümpel und Trümmern, die sich ähnlich unabgegolten und ungelesen vor ihm anhäufen, wie die Gegenstände der Fragen und Exkurse der Autoren. Negt und Kluge wollen nun solchen Fortschrittswind aufhalten, um die umgekehrte Richtung des Eingedenkens einnehmen zu können. Sie können sich bei diesem Vorgehen auf Benjamin selbst berufen.17 Es gibt bei diesem aber nicht allein die Notbremse im Zug des Fortschritts, sondern auch ein Moment des Raschen, der weiteren Beschleunigung und des Umschlags der geheimen Botschaften, die in den Trümmern verkapselt vorliegen.18 Es gehört nun zu den paradoxen Eigenschaften der Benjaminschen Sprachbilder wie auch seiner Geschichtsphilosophie, daß die Wahl beider Vorgehensweisen der Bremsung und der gleichzeitigen Beschleunigung sich gegenseitig auszuschließen scheinen. Denn Benjamins Engel kann die Flügel eben nicht schließen und den Geschichtslauf anhalten, sondern muß auf eine andere Weise zu seinem Recht kommen. Benjamin setzt dafür auf einen Umschlag der traurigen Trümmer in eine andere hellere Welt. Solchem Umschwung aber liegt in dem zweiten Blick, den wir 17 | Vgl. Benjamin 1974. Der Engel der Geschichte findet sich in der These IX, GS I, 2, 697-698. In den Materialien zum Begriff der Geschichte heißt es bekanntlich: »Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse« (Benjamin 1974: II, 1232). Und in Benjamins Kafkaessay heißt es über das Eingedenken: »Denn es ist ja ein Sturm, der aus dem Vergessen herweht. Und das Studium [ist] ein Ritt, der dagegen angeht. […] Umkehr ist die Richtung des Studiums, die das Dasein in Schrift verwandelt« (ebd.: II, 436f.). 18 | Es heißt bei Benjamin aber auch: »Das dialektische Bild ist ein Kugelblitz, der über den ganzen Horizont des Vergangnen läuft« (ebd.: II, 1233). Darin kommt eine Beschleunigungstendenz zum Ausdruck. Und auch der Chockbegriff bei Benjamin besitzt jene Doppelbödigkeit, die sich in der Werbung für Hustenbonbons folgendermaßen ausdrückt: »Sind sie zu stark, bist Du zu schwach!«

126 | Wolfgang Bock Abbildung 7: Engel und Trümmer. Figur vor dem zerstörten Dresden

Quelle: Photo ADN-ZB; aus: Peter Rautmann/Nicolas Schalz, Passagen. Kreuz- und Quergänge durch die Moderne, Regensburg 1998, S. 819.

jetzt darauf werfen, ein anderes Modell zugrunde, als das in Hegels Maßverhältnissen zur Anwendung gelangt.19 Für Benjamin ist gerade der Ver19 | Benjamin und Adorno diskutieren diese Frage im Briefwechsel zu Benjamins Passagenwerk. Benjamin lehnt Adornos Weise der »Durchdialektisierung«, die dem hegelschen Umgang mit den Phänomenen nahe kommt, bereits in seiner Vorrede des Trauerspielbuches ab und setzt dagegen den Begriff des Ursprungs: »Ursprung, wiewohl durchaus historische Kategorie, hat mit Entstehung dennoch nichts gemein. Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint. […] Das Hegelsche ›Desto schlimmer für die Tatsachen‹ ist bekannt. Im Grunde will es besagen: die Einsichten in die Wesenszusammenhänge bleiben, was sie sind, auch wenn sie sich in der Welt der Fakten rein nicht ausprägen. Diese echt idealistische Haltung erkauft ihre Sicherheit, indem sie das Kernstück der Ursprungsidee preisgibt. Denn jeder Ursprungsnachweis muß vorbereitet auf die Frage nach der Echtheit des Aufgewiesenen sein« (ebd:

Exemplarische Reflexionen einer Dekade | 127

fall der Trümmer das Unterpfand einer Dialektik, die in ihren Extremen ohne Vermittlung und jäh eintrifft. So ein Eingriff korrespondiert bei ihm damit, daß die Bruchstücke selbst mit einer monadischen Kraft begabt scheinen, die ebenfalls zu jenem Umschwung drängt; sie sind gleichsam intelligent, aber träumend. Erst ein Erwachen aus solchen Träumen synthetisierte alle an diesem Prozeß beteiligten Komponenten – des Verfallenen, des Eingreifens von Oben, des Innehaltens und der Stillstellung ebenso wie des Eingedenkens und der politischen Aktion. Es ist nach einem solchen Modell fraglich, ob in Benjamins Umschlagen der Extreme sich nicht eine andere Vorstellung der Dialektik ausdrückt, Abbildung 8: Trümmerlandschaft. Traurige Trümmer

Quelle: Lon Davent, Romulus und Remus, Paris, Bibliothque National; nach Jean Starobinski, Melancholie im Spiegel, München, Wien 1992, S. 66-67.

als in Hegels Überführung der Einzeldinge in die Proportionen des Systems. Es bleibt aus diesem Grunde ungewiß, ob das, was Negt und Kluge in ihrem Buch an Hegels Knotenlinien aufzeigen wollen, überhaupt unter solcher Bezeichnung sinnvoll zusammen gedacht werden kann. Allein auf einen dritten Blick mag man vielleicht in der Korrespondenz der Kraft, auf 226). Vgl. zu diesem Zusammenhang genauer Benjamin 2000: 56-77 und 87-92 sowie ders. 2004.

128 | Wolfgang Bock die sich Benjamin in seiner messianischen Logik einläßt, und Hegels Beharren auf einer Sinnkategorie des Maßes ein tertium comparationis ausmachen. Doch solche Synthese ist dann bereits wiederum so abstrakt, daß sie den Intentionen des Buches selbst wohl mit einigem Recht zuwiderliefe. Halten wir also fest: Negt und Kluges Blick ist ein janusköpfiger Blick auf der Schwelle, der sowohl nach vorn als auch nach hinten sieht. Ähnlich wie Benjamins Engel registriert er die Wiederkehr der Geschichte in immer neuen Konstellationen. Sie aktualisieren an Max Weber, Carl Schmitt und an Carl von Clausewitz geschulte Machtreflektionen, die der Frage folgen: »Was ist politisch wichtig, was ist unwichtig?« Die Autoren wollen kein gemütliches Nachdenken im Designersessel am Ofen, sondern sie wollen Unterscheidung treffen, wie sie im Augenblicke der Gefahr auftreten. Das Innehalten und Reflektion ist dabei nur eine Seite der Medaille, deren andere ein Dezisionismus und ein rascher Zugriff darstellt. Auch das ist ein Erbe der Benjaminschen Theorie, das auf den Moment des unmittelbaren Umschlags hinweist. Mit der Einordnung solcher Ereignisse in Hegels systemisches Maß, dem jene bei Benjamin doch gerade entspringen sollen, aber verwenden die Autoren Begrifflichkeiten, die nicht zueinander passen wollen. Das mag marginal sein; es tut der politischen Kraft ihrer Analysen keinen Abbruch.

Ein chronistisches Buch aus einer fernen Nähe »Maßverhältnisse des Politischen« erscheint uns heute wie ein Buch aus einer anderen Zeit. Und doch ist es erst zwölf Jahre alt. Inzwischen ist der Begriff der Realpolitik noch stärker synonym mit Politik überhaupt geworden. Inzwischen erscheinen aber die Scharfmacher von gestern – Heiner Geisler als damaliger Generalsekretär der CDU oder der ehemalige BildChefredakteur Peter Boehnisch – deren Sprachattacken Negt und Kluge noch rapportieren, im Fernsehen als weise alte Männer, die ebenfalls zum Einhalten und zum Umdenken mahnen. Die Welt hat sich verschoben. Hat sie sich gebessert? Wohl kaum. Negt und Kluge verfassen in ihrem Buch keine abstrakte Enzyklopädie des Jahrzehnts. Sie liefern vielmehr Akzentuierungen seiner Lesbarkeit unter den Vorzeichen einer kollektiven Aneignung der Geschichte durch deren Subjekte. Anders als die massenhaften Produkte der Kulturindustrie, die auf CD-Roms Chroniken der Jahrzehnte und Jahrhunderte bereitstellen wollen, die aus unkommentierten Informationen auf Zeitleisten bestehen, erstellen die Autoren eine Chronik der ungesagten Bedingungen solcher Informationen. Diese ist Zeugnis eines Nachdenkens, wie es gleichsam von Inseln innerhalb des Feuermeeres von Information aus durchgeführt wird.

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Negt und Kluge haben etwas von Tolkiens Hobbits Frodo und Samweis Gamdschi, die am Ende des dritten Films »Der Herr der Ringe« von Peter Jackson am Schicksalsberg auf einer Felseninsel sitzend, die Erde um sich herum davonschwimmen sehen. Aber die Begriffs-Inseln der Autoren sind nicht fest; sie schwimmen gleichsam mit und gegen die Informationen. Durch diese Beweglichkeit und Zähigkeit der Begriffe benötigt ihr Modell keine Hilfe von außen wie sie im Tolkienschen Kunstepos durch die Adler aus der Luft als Rettung kommt. Im wirklichen Leben kommt auch kein rettender Gott aus der Maschine. Eher rückt schon die andere, vielleicht nicht weniger paradoxe Hilfe durch jenen Griff in den Bereich des Möglichen, mit dem ein Münchhausen sich an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen vermag. Solche ebenfalls phantasmagorische Lösung hätte immerhin den Vorteil, daß sie eine menschliche Lösung antizipierte, die wohl vertraut, aber Abbildung 9: Die Hobbits Frodo und Sam am Fuße des Schicksalsberges

Quelle: Peter Jackson, Die Rückkehr des Königs, Neuseeland 2003; www.lordofthe rings.com

nicht auf einen Gott und auch nicht auf kosmische Maßzahlen, sondern auf den Menschen als Kollektivsubjekt, das einzig so solchen Griffen fähig wäre.

Literatur Baudrillard, Jean (1994): Die Illusion und die Virtualität, Bern. Benjamin, Walter (1974): Gesammelte Schriften, Frankfurt/M. Benjamin, Walter (1977): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M.

130 | Wolfgang Bock Benjamin, Walter (1985): Kapitalismus als Religion, gesammelte Schriften, Frankfurt/M. Bock, Wolfgang (Hg.) (1998): Unruhe in unruhigen Zeiten. Über die Freundlichkeit. Festschrift für Johannes Beck, Bremen. Bock, Wolfgang (2000): Die Rettung der Nacht, Bielefeld. Bock, Wolfgang (2004): »Zwischen zwei Sternen. Eingedenken als philosophische Form«. In: Karl Clausberg/Elise Bisanz (Hg.), Ausdruck – Ausstrahlung – Aura, Hamburg. Darwin, Charles (1983): Die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer mit Beobachtung über deren Lebensweise, Berlin. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: (1974): Kapitalismus und Schizophrenie, Frankfurt/M. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix (1977): Rhizom, Berlin. Deleuze, Gilles (1990): »Das elektronische Halsband. Innenansicht der kontrollierten Gesellschaft«. In: Neue Rundschau. Heft 3/1990. Foucault, Michel (1976): Mikrophysik der Macht: über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin. Freud, Sigmund (1970): Vom Unbehagen in der Kultur, Frankfurt/M. Grandville, Jean Ignace Isidore (1977): Eine Andere Welt, Zürich. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1841): Wissenschaft der Logik I, Werke, Band 5, Berlin. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): »Philosophische Erörterung über die Planetenbahnen«. In: Wolfgang Neuser (Hg.), Schriften zur Naturphilosophie, Weinheim. Horkheimer, Max (1947): Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/M. Horkheimer, Max (1987): Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Gesammelte Schriften, Band 2, Frankfurt/M. Horkheimer, Max (1988): Egoismus und Freiheitsbewegung, Gesammelte Schriften, Band 4, Frankfurt/M. Marx, Karl (1957): Das Kapital, Bd. III, Berlin Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1992): Maßverhältnisse des Politischen, 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Frankfurt/M. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1973): Öffentlichkeit und Erfahrung, Frankfurt/M. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1981): Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. Simmel, Georg (1919): »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«. In ders.: Philosophische Kultur, Leibzig. Weber, Max (1921): Gesammelte politische Schriften, München.

Die Gewalt des Zusammenhangs | 131

Die Gewalt des Zusammenhangs. Kortex und Oberschenkelhalsknochen Herbert Holl

Prolog Schon in der Inhaltsangabe von »Geschichte und Eigensinn« (1981), dem zweiten gemeinsamen Buch von Oskar Negt und Alexander Kluge, erscheint unter der Ankündigung von Kommentar 4, »Über dialektische Gravitationsverhältnisse in der deutschen Geschichte«, auf der Schwelle zur Ankündigung des 3. Teils, »Gewalt des Zusammenhangs«, das negativschwarze Röntgenfotogramm eines Oberschenkelhalsknochens, gleichsam als dunkelstes fraktales Küstengebiet, dessen Ränder einzig beleuchtet sind, umgeben von einem grauen Ozean mit seinen Meerengen, Isthmen und Inselchen: See und Erde. Die Beschriftung lautet: »Oberschenkelhalsknochen. Die Schwachstelle. Einer weiß, daß es kommen wird, kann aber gegen den Fall nichts tun. ›Gewalt des Zusammenhangs‹« (Negt/Kluge 1981: 11).1 »Gewalt des Zusammenhangs«: bei Umkehrung des geläufigen Begriffs von Zusammenhang bevölkert diese vielsinnige Formel mit ihren hier nur durch es, durch das, was der Fall ist, gemeinten Brüchen und Lücken das ganze Gebrauchsbuch der beiden eigensinnigen Forscher (vgl. Stollmann 1985: 84). Aber der Machtbereich dieses Einen, Irgendeines und zugleich des Einzigen, hat bereits auf das von Alexander Kluge allein unterzeichnete, zum Teil gleichzeitig mit »Geschichte und Eigensinn« entstandene Buch »Unheimlichkeit der Zeit« übergegriffen, über die literarischen 1 | Erweiterte Neufassung unseres Aufsatzes in französischer Sprache, vgl. Holl 1977.

132 | Herbert Holl Gattungsgrenzen hinaus die Kraft des Zusammenhangs dokumentierend. Gewalt: mit ihren zwei semantischen Schwerpunkten: Einsetzen der Verfügungsfähigkeit und violentia, als entfaltetes Spektrum der Übersetzungsmöglichkeiten: imperium, sceptrum, maiestas, tyrannis, auctoritas, ius, bracchium, potestas, potentia, licentia, vis, virtus, fortitudo, violentia!2 »Zusammenhang«: nach Kant Anziehungskraft, »so fern sie bloß als in der Berührung gedacht wird«, cohäsio, Korrelation von Grund und Folge, Ursache und Wirkung.3 Für Negt und Kluge aber bildet, jenseits des in sich selbst bestimmten Allgemeinen Hegels, der Zusammenhang nicht mehr das immerdar künstlich geschlossene Gesamte der Teile, sondern das Ganze der Dauer- und Zeitbestimmungen.4 Nach Wilhelm Dilthey meint jede Aussage über die geschichtliche Welt vom Lebenslauf des Einzelnen bis zum Lebenslauf der Menschheit »eine bestimmte Art von Zusammenhang in irgend einer Abgrenzung« (Dilthey 1962: 197). Jenseits der formalen Kategorie des Verhältnisses von Teil und Ganzem würde der Zusammenhang jedoch jenen »eigenen Sinn« bergen, kraft dessen ein eigener Bezug alle Teile verbindet. Daher erfüllt sich jegliche Gegenwart mit Vergangenheit, der Bildsamkeit von Zukunft zu, wie etwa in Goethes »Dichtung und Wahrheit«: »Jedes Leben hat einen eigenen Sinn. Er liegt in einem Bedeutungszusammenhang, in welchem jede erinnerbare Gegenwart einen Eigenwert besitzt, doch zugleich im Zusammenhang der Erinnerung eine Beziehung zu einem Sinn des Ganzen hat« (ebd.: 199).

Diese Lebenssingularität im Zusammenhang wird sich bei Negt und Kluge in Eigensinn verwachsen, dessen Lebenszusammenhang immer schon von den Geschichtszyklen überschwemmt ist (Negt/Kluge 1981: 253-257). Wenn die nach Heidegger den Zusammenhang konstituierende Erstrecktheit eines Lebenslaufs zwischen Geburt und Sterben den sich nicht schließenden 2 | So die Jung-Wissenschaftler, die an der Tagung mit dem Thema »Gibt es die Gewaltwelle« teilnehmen, s. »Wie verhält sich der höhere Vollzugsbeamte in der öffentlichen Diskussion über die Gewaltfrage« (Kluge 1977: 559-565, hier S. 561). 3 | Anders als die Gravitation ist für Kant der Zusammenhang als Flächenkraft bloß »disjunktiv«, so z.B. bei einem Spiegelglase, »wo es einen Riß hat, […] [es] den Grad der Anziehung nicht mehr verstattet, den es von seiner Erstarrung nach dem Flusse her hatte« (Kant 1977: 87). 4 | Vgl. Hegel 1969: 145. Die Religionsphilosophie scheint überhaupt der Ort zu sein, wo sich für Hegel Zusammenhang entscheidet (vgl. Deleuze 1984: 20 f.). Zur »Kategorie« des Zusammenhangs bei Oskar Negt und (vor allem) bei Alexander Kluge s. Vogt 1983; Roberts 1982; Kersting: 1989: 136-152; Schulte 2000.

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Kreislauf des individuellen Lebenslaufs erprobt hat (ebd.: 253), verstrickt sie sich in den Knoten einer Unendlichkeit von chaotischen Kräften (vgl. Heidegger 1977: 373). Nun hätte der Zusammenhang der politischen Ökonomie der Arbeitskraft, in deren Kritik sich Marx geübt hat, die Gattungsgeschichte der Leiber samt ihren riesigen Reserven an Virtualität vergessen. Die in »Geschichte und Eigensinn« von Negt und Kluge erprobte Kritik der politischen Ökonomie der lebendigen Arbeitskraft versucht, diesen leibhaften Zusammenhang zu retten, der bisher von der Physiologie, der Biologie, der Neurologie funktionalisiert wurde. Sie bringt zwei Zeitlichkeiten an den Tag, die ständig auseinander streben: das menschliche Gehirn, das sich in großen revolutionären Schritten zu offenen Monaden entwickeln würde, und das scheinbar unbewegte Knochenwesen. Das Hirn, das fähig ist, »zeitliche und räumliche Erfahrungen untereinanderzulegen«, erzeugt die symbolischen Formen eines Zusammenhangs, der aus den »subjektiven und objektiven Momenten der Entwicklung« besteht (Negt/Kluge 1981: 284). Solches ist kaum mit dem Zusammenhang des Knochengerüstes kommensurabel, das auf den Oberschenkeln beruhend als potentielle Ruine überlebt, an der Natur und Geschichte sich überwuchern. Der Hauptknochen des Körpers bildet durch seine Masse den Ort der Spannung zwischen Aufbau und Zerstörung, die harte Lebenslinie mortifiziert die Leibesrundungen, der Zusammenhang begibt sich als Bruch in Gefahr, der Bruch kommt als Zusammenhang um. So verläuft die gezackte Linie des Trümmer-Knochens als memento mori (vgl. Böhme 1989: 128f.).5 Dem entsprechen Schreibarten der zerklüfteten Zusammenhänge von Intrikationen, Perkolationen und Kollisionen, der Saillanz des Oberschenkels gleich, bevor er bei Verlust jeglicher Prägnanz fällt und bricht.6 Wo mechanischer, kriegerischer Zusammenhang stattfindet, treffen nach Clausewitz die Analogien des Schwerpunktes zu (vgl. von Clausewitz 1973: 809f.). Als ein halsstarriges »Barisches«, das nach Wielands Knie in der »Patriotin« (vgl. Hegel 1986: 439) nichts anderes ist als eingeschicktes, »eingedicktes Licht«, wird der Knochen einen Kriegsschauplatz verteidigen, der mit dem fatalen Bruch zusammenbricht (Negt/Kluge 1981: 271, 252). Obwohl es nach Hegel Übergehen und nicht Übergegangensein ist (vgl. Hegel 1986: 439), wird dieses »Turngerät«, »dessen Akrobat der Leib ist«, 5 | Die ganze Beugung des memento mori durchläuft in »Schwachstellenforschung nach Dr. sc. nat. Beate G.« der Wissenschaftler Meier: Sind für seine Untergebene und gelegentliche Geliebte Beate die Knochen eine Schwachstelle, die sie ausheben muß (vgl. Kluge 1977: 210), so ist es bei ihm die Schädelstätte, die er befühlt oder phantasiert, bis er nur das Schädeldach übrig behalten könnte (ebd.: 214). 6 | Zu diesen beiden, hier modifizierten Begriffen der Katastrophentheorie, vgl. Thom 1988.

134 | Herbert Holl mit dem Rückgrat brechen, um den Tod in sich selbst zu reflektieren als unbeständige Erweiterung und Reduktion der Osteogenese (vgl. Goethe 1868: 196f.). Hätte sich der Knochen bei Anblick des Menschen, wie für Novalis’ Lehrling zu Saïs die Natur, beim Anblick des Menschen versteinert (vgl. Novalis 1978: 224)? »En vérité, ce que nous voulons être, c’est de l’os, rien que de l’os« (Lançon 1996: 4). Mit den entferntesten Sternen, den Dunkelsterne genannten schwarzen Löchern in »Unheimlichkeit der Zeit« (Kluge 1977: 208), bildet der Knochen, als steinernes Wesen dem »Menschenfremdesten« verwandt, für Negt und Kluge einen ausgezeichneten Gegenstand der Erforschung von rettenden Schwachstellen, gefährdeten Durchgangszonen und Wechselstätten der Lebensläufe und Lernprozesse (vgl. Böhme 1989: 136f.).7 Für Gartmann, den Nazi der Wissenschaft, ist das Universum als cerveau-monde ein Gehirnlaboratorium, in dessen großer Neurose der von Gilles Deleuze evozierte Zusammenhang schaltet und waltet: »Das Gehirn befiehlt dem Körper, der bloß ein Auswuchs von ihm ist, jedoch befiehlt der Körper dem Gehirn, das bloß ein Teil von ihm ist« (Deleuze 1984: 267). Gartmanns Not nimmt in einem hochempfindlichen Homunculus Gestalt an, dessen somatotopisches Schema einen riesigen Mund mit Zunge zergliedert oder ein Gesicht mit weit ausgestreckter Zunge fingiert: »Das schreiende menschliche Wesen«, »Somatotopische Gliederung des Gyrus postcentralis« (Kluge 1977: 601f.). Gartmann entwendet eine Zeichnung W. Penfields und T. Rasmussens aus dem Jahre 1957, ein Diagramm des Gehirns auf der Höhe des Vorderkortex, mit dem Kluge eine Vierteldrehung vornimmt (vgl. Jeannerod 1983: 86): Statt im vertikalen Schnitt zum Himmel schreit nun der Mund zu irgendeinem tauben unwahrscheinlichen Gott, indem er den Schrei der gemarterten Kreatur, des gedoppelten »Froschkönigs« (Kluge 1977: Abb. S. 540) ausstößt (ebd.: 601, 398). Ebenso bleiben bei einem Hirnquerschnitt trotz der rettenden Berufung aufs Wünschen im Grimmschen »Froschkönig« die Körperteile des gevierteilten Froschkönigs inkommensurabel mit der implizierten Kortexfläche (ebd.: 395). Das Hirn saugt in gewaltsamem Zusammenhang alle Körperteile auf: die rechte und die linke Hälfte des Großhirns spiegeln sich gegenseitig samt Knie, Achsel, Handgelenk, Hand, Finger, Daumen, Gesicht, Lippen, Kiefer, Zehen – ein riesiges Gehirn mit kleinen, aber »kräftig angezogenen« Schenkeln. In seinem grotesk Inkongruentes vereinenden notwissenschaftlichen Berufstelos und -ethos (ebd.: 398) bindet Gartmann das einsa7 | Die Neue Geschichte »Schwachstellenforschung nach Dr. sc. nat. Beate G.« (Kluge 1977: 207-216) erkundet die Intrikation von fernsten Sternen, gasumgebenen Elementarteilchen, hingeworfenen Schenkel- und befremdet befühlten Schädelknochen.

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me Herz um zwei Knochensplitter »wie Höhlenwände« (ebd.: 396), den »Froschkönig oder de[n] eiserne[n] Heinrich« mit seinem innigen, dreifach eisenbereiften Herz, und Andersens »Schneekönigin« mit dem glühenden Kristallherz des Mädchens. Den drei zusammenhängenden Märchen könnte jedoch das Gehirn als »Nachricht oder Geist« in Notlage (ebd.: 396) entwachsen sein; seine fantasmagorischen Zusammensplitterungen längs der Bruchlinien des Neowissenschaftlers deutet der »Altphilologe« F. Genscher als bouche à bouche zwischen Knochen und Gehirn aus: »Die toten Knochen dieser Wünsche schreien zum Himmel« (ebd.: 399). Hatte Goethe solche verzerrende Not bei Kröte und Frosch in morphologischer Einbildungskraft geahnt? »Die langen Beine des Frosches nötigen den Körper dieser Creatur in eine sehr kurze Form, und die ungestaltete Kröte ist nach eben diesem Gesetze in die Breite gezogen« (Goethe 1868: 189).

Kortex: Cervix Negt-Kluges »Geschichte und Eigensinn« nach entspricht das Gehirn einem der drei Momente der Regulierung – Eiszeit, menschlicher Körper, Hirn – deren innere Unterschiedenheit die Unruhe des Begriffs mitsamt seiner Not und Notwendigkeit erzeugt, die als einzige in Bewegung zu versetzen vermag. In Kluges »Unheimlichkeit der Zeit« hat Gartmann, der Gevierteilte, in drei Diagrammen eine wiederholte Spiegelung vorgenommen, bei der das Entfernte so verbunden wird, daß dadurch auf einen »unumkehrbaren historischen Prozeß« hingewiesen wird8: Die Karte der »Eiskappe« – der Eisverbreitung um den nördlichen Polarkreis läßt er sich »spiegelbildlich« umkehren zur Form des menschlichen Gehirns, das nach erneuter spiegelbildlicher Herumdrehung den »Kessel von Stalingrad« im Dezember und Januar 1943 ergibt – so daß mit dem Hirn zur »Mitte« Kessel und Kappe zur Deckung kommen (ebd.: 584-586). Der »unkonventionelle Gartmann« wird zum fragwürdigen Entwender eines Hanns Hörbiger, des Verfassers der Glazialkosmogonie, den er so in die Gewalt seiner eigentümlichen Zusammenhänge bringt (vgl. Phaut 1913; Hermand 1995: 90f.; Negt/Kluge 1981: 50-52). In »Geschichte und Eigensinn« tauchen die Kappe und Großhirn als Abbildung mit englischsprachiger Beschriftung auf; Gartmann »zitierend« werden sie jeweils der Textseite des zänkischen Gehirns und der »Eiszeit« gegenübergestellt, einen Text-Bild-Chiasmus bildend, bei dem man sich den Stalingradkessel allenfalls als »subkutan« denken mag (Negt/Kluge 1981: 50f.). Negt und Kluge bauen diese Einrichtung ein, um 8 | Zu Kluges Zytoarchitektonik vgl. Renner 1988: 301f.

136 | Herbert Holl den Unterschied zu bekräftigen zwischen einer Eiszeit, die sich für sich regelt nach »nichtmenschlichen, physikalischen Gesetzen« (ebd.: 50), und der spezifischen Selbstregulierung des Gehirns, des kompliziertesten Organs überhaupt, mit hoher Aktivität des »weißen Rauschens«. Das paradoxe Doppeldasein des Gehirns zwischen seinem Was und seinem Wie, als Chiffrenwelt der Vermittlung zwischen Natur und Natur, als »Selbsttätigkeit für sich«, führt die beiden dazu, es zur unmöglich-mitmöglichen, nichtidentischen hermetischen Monade, und zwar mit durchlässigem Fenster, zu ernennen (ebd.: 52). In aufsteigender Linie des Elementarwerdens strahlt die zerebrale Zytoarchitektur subjektive Spannung aus, erregt die Gefühle, belebt Gedanken und Arbeit in der elementaren Form der Kreisläufe der ganzen Gattungsgeschichte (ebd.: 238, 236). Als geistige Industrielandschaft sammelt sich der aus Megahirnen zusammenhängende Gesamtarbeiter als metallisch-mineralischer Raum, Stein um Stein, Balken um Balken umbauend, so wie das Gehirn mit dem Herzen in einem Gelaß, einem Gefäß eingeschlossen ist. »Falsch! Das Gehirn ist dunkel«, erwidert in »Unheimlichkeit der Zeit« Gartmann seinem Freund Alfred Schmidt, dem denkwürdigen Feuerbach-, Schopenhauer-, Marx- und Naturforscher, der ihn als »helle[n] Kopf« bezeichnet hatte (Kluge 1977: 395f.). Indem die alten, nahezu erschöpften Metaphern des Schiffes und des Hauses in ihm eingehen, wäre das Gehirn der gepflegte Gast einer »Summierung der Hautsicherheiten und Gehäuse der Wahrnehmung« (Negt/Kluge 1981: 712), die es beschützen, indem sie es verdunkeln. In solcher nicht unkomischen Düsternis kryptiert sich in Heft 8 des zweiten Teils von »Unheimlichkeit der Zeit« die Neue Geschichte »VizeAdmiral Dr. Cervix« (Kluge 1977: 268-270), ohne zwingenden Zusammenhang stehend zwischen den von Adornos Gehirn mitgeprägten »Tagen der politischen Universität« in Frankfurt am Main (ebd.: 260-268), dem »Nabel dieser Erde« (Hölderlin) und »Ein Mangel an theoretischem Vorstellungsvermögen« bei »Gar-nicht-Denken« des Gehirns (ebd.: 270 f.). Am 19. Juli 1936, wenige Tage nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Spanien, erleiden Schiff und Haus eine »Zerebration«, die sich als »Kohärer« vertextet, diese in den Anfangsjahren der drahtlosen Telegraphie benutzte, mit Eisenspänen gefüllte Glasröhren: beim Auftreffen elektrischer Wellen buken sie zusammen und lösten sich durch Anklopfen wieder. So wird der Mensch obsessionell »Instinkt und Rinde, zwischen Anschauung und Begriff, zwischen Farbe und Zahl« (Benn 1958: 760). Das Gehirn eines zerebralen Funambulisten setzt sich in der Un-Gestalt des frankistischen Vize-Admirals »Dr. Cervix«, eines Admiralstabschefs der spanischen Kriegsmarine, in Geschichtsintrige um. Suchen wir nach einem historischen Bezug zu diesem passiven Aktanten, so stoßen wir etwa auf González Francisco Javier Salas, dem 1871 in Madrid geborenen Vize-Admiral und Schriftsteller, der Leiter

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der Europäischen Marinekommission, Marineminister (1935), Gentilhombre de Camera des Königs Alphons XIII. und zentraler Stabschef der Armada gewesen ist. Das Doppelgesetz des negt-klugeschen Gehirns, gleichzeitig und gegenrhythmisch Monade und Fenster zu sein, diese Chiffrenwelt singularisiert sich nun zum Ereignis eines hyperzerebrierten hermetischen, sich ein einziges Mal der Natur öffnenden Gehirns als Spitzname, »Cervix genannt«. Dem Narrator nach hat Cervix sein Amtsgebäude – Knochengehäuse – nur ein Mal verlassen, um mit General Franco und den übrigen Verschworenen an Bord des Admiralschiffes zu komplottieren. Das kaum seemännische floating in being des aufständischen aber unbewegten Cervix und die »Arche See« der proletarischen Seeleute in ihrem hoch beweglichen, kantischen locus standi stehen einander gegenüber gleich dem defensiven Beute-Hirn und dem offensiven Prädatorgehirn des »verschrumpelten« Befehlshabers, dem die schützenden »Knochensplitter« Gartmanns blendende, blinde Höhlenwände geworden sind (Negt/Kluge 1981: 712, Kluge 1977: 396). So scheiden sich die Hälfte »Matrosen« und die Hälfte »Admiral«, zerreißen die Lateralitätszusammenhänge des Zentralnervensystems. Die Matrosenräte der spanischen Flotte, welche die aufständischen Offiziere an Bord töten, weil sie unentwegt die aufständischen Häfen anlaufen wollen, durchlaufen das Beutegehirn ihren eigenen Leib entlang, der Kopf-Schwanzachse des Rückenmarks nach, wo die Lebenskraft sitzt, deren das homerische Schlachten-aiôn teilhaftig ist (vgl. Beneviste 1937, Leibovich 1994: 100ff.). Cortex’ motorischer Kortex erhält davon schwache elektrische Impulse, durch die das Gehirn die verzerrten Konturen der gegenwärtigen Klassenkämpfe annimmt, dadurch zu einer weiteren, schmächtigen Spiegelung von Gehirn, Eiskappe, Kessel werdend. Der Unteroffizier Balbo, der wie General Franco, Botschaftsrat Völckers und Gesandter Woermann (Kluge 1977: 270) einen historisch bezeugten Eigennamen trägt, fing, fängt in »Unheimlichkeit der Zeit« die Nachrichtenverbindungen zwischen dem Marinestab und den Aufständischen ab. Dr. Cervix ungleich intensivieren die Matrosen ihren »Panzer virtuellen Schmerzes« (René Thom) durch Selbstbewegung in den Schiffsleibern, bleiben dabei für die kortikale Ziffernwelt des Cervix unübersetzbar. Das Seegehirn ortet das Körperbild, der Homunculus der unermeßlichen Somatotopie des Froschkönigs vermißt sich nach der Weltraumzeit. Die weiße Substanz des Rückenmarks nährt ein réseuil (Lucien Sfez), das zugleich réseau und seuil, Vernetzung und Schwelle sei. Nun ist Cervix’ Raubhirn in einem Encephal verschanzt, dessen schmächtige neuralgische Verlängerungen mit Müh und Not den Umriß eines Zusammenhangs von Flotte und Heer skizzieren (ebd.: 268), ohne eine Innenbewegung auf hoher See deuten zu können, die er nicht als Kometenschweif seines Gehirns wahrnehmen könnte. Dessen Ruhen wird als punktuell einfacher Attraktor die-

138 | Herbert Holl nen, der ihn seinem Tod zuführt. Doch solange die Flotte noch ruht, scheint ein zerebraler, textuell gesteigerter Solipsismus möglich: »Nach seinem Besuch in den Kanarischen Gewässern stellte der Admiral das Hirn ruhig, indem er in den Amtsräumen verblieb. Die Flotte lag mit ihren wesentlichen Teilen auf der Reede von Tanger, in ähnlicher Ruhe wie das Hirn ihres Lenkers, Abbild seines Kortex, nur im Inneren der Schiffe Nahrungssuche, Reparaturarbeiten, Hin und Her« (ebd.: 268).

So kehrt sich bei dem Vize-Admiral die Somatotopik des Froschkönigs um. Anstatt daß die unruhigen Teile des Körpers sich auf der Hirnrinde mit überdimensionierten Daumen- und Gesichtsmuskeln unheimlich abbilden, dupliziert sich der ruhende Kortex als scheinbar ruhender, in sich selbst bewegter, sich nicht selbst bewegender Leib, in dem jedoch ein Osteoklast wütet. Die Konjunktion »indem« erzeugt das innewohnende Stillleben durch die Satzknochensplitter aus Appositionen, die die Abbildung selber abbilden. So aber entstehen dem Knie der »Patriotin« nach die Knochen: »Sie wachsen appositionell, d.h. unbeirrbare Gefäße kleben wie die Maurer Substanz von außen an die Außenseite, während die egoistischen Osteoklasten, Freßzellen, von innen die Hohlräume erweitern« (Kluge 1979: 247).

Organlos, aber kein Körper ohne Organe im Sinne Gilles Deleuzes und Felix Guattaris, macht sich Cervix bereits zum »toten Ding« als unmittelbare Wirklichkeit des Geistes. In einem ihrer Momente erkennt Hegels »Beobachtende Vernunft«, daß das Sein des Geistes ein Knochen ist. »Gehirn und Rückenmark aber dürfen als die in sich bleibende – die nicht gegenständliche, die auch nicht hinausgehende, – unmittelbare Gegenwart des Selbstbewußtseins betrachtet werden« (vgl. Hegel 1970: 200, 189). Die Nachricht, daß Madrid am 19. Juli 1936 sich erhoben hat, erregt den Cervix nicht, sondern ohne Vermehrung noch Verminderung, ohne Übergang von Weiß in Schwarz, ohne Kinesis von einem Ort zum andern, ohne Entstehen noch Schwinden vollbringt das Gehirn eine metanoia durch antethermodynamische Transkodierung der Flottenleiber, »ohne Dampf aufzumachen«. Das Ferntätige eines mikroenergetischen Worts beschreibt den ikonisch-alliterierenden Parallelismus elektrischer Impulse, die keine mögliche Bewegung anzuerkennen scheinen, bloß »mit Hilfe von Ferngesprächen und Funksprüchen«. Dadurch soll das Wesen der Flotte so verändert werden, daß ihr intakter Name, »Armada«, gelichtet wird, der auf dem Hirnesgrunde gelegen haben mag. Der Name des Vize-Admirals aber ist dreifach gespalten. Zuerst reimt sich das lateinische vix als Genitiv des Stellvertreters, vicis, in dissonanter Weise mit dem vix des Cervix. Dann

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zerbricht zwischen dem alten lateinischen Wort cervix und dem deutschen Gehirn, das eine figure de rhétorique mixte aus Synekdoche und Metapher des Vize-Admirals bildet, der Unterteil des Halses mit dem Nacken, mit den cervices, die man einst erdrosselte. Schließlich entzweit sich »cervix« als Seeund Landzunge: Isthmos und Meerenge bei Streuung der Ortsnamen, Cádiz, Melilla, Cartagena, Ceuta … Es dringt der gewaltsame Zusammenhang durch den »Wechselhang« des Halspasses, des col du cou (Novalis 1978: 672) mit dem col de l’utérus, dem Gebärmutterhals als strategische Enge von Gibraltar. Anders als Cervix, ein Haupt ohne Mund, ein Gehirn ohne Haupt, eine Rinde ohne Gehirn, »münden« sich die republikanischen Matrosen durch blutig nationelle Blumen des Mundes an. Für Negt und Kluge bedeutet Mündigwerden nicht Ausgang aus der Unmündigkeit »an und für sich«, sondern die Herstellung einer Situation aus unvereinbaren, rhythmisch zum Zusammenhang gebrachten Zeiten »als Seitenwirkung vielseitiger Zuwendungen« durch Zuhören und Sprechen (Negt/Kluge 1981: 999f.). In dem Maße, als die Matrosenräte die aufständischen Offiziere hinrichten, streuen die Schiffsnamen in Bewegung den Namen des Vizeadmirals in alle Winde: Cervantes, Almirante, Cerveita, España, Jaime Primeiro, Schoruca, Almirante Valdez, Sánchez Barcáiztegui. Gonzalès Salas hatte eigenhirnig die Cervantes befehligt, welche zum emblematischen Schiff der republikanischen Matrosen wurde. Mit einem nachträglichen Telegramm, das den Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Gehirn herstellt, endet die Neue Geschichte in der tödlichen Textsenke, in welcher sich das hegelsche Verhältnis von Schädel als caput mortuum und Gehirn als lebendigem Kopf umkehrt9, indes ein negativer, postumer Zusammenhang mit dem Leib wiederhergestellt ist: »›Das Gehirn‹ lag zu diesem Zeitpunkt verscharrt in einem Blumengärtchen, das dem Kriegsministerium einverleibt war; nicht mehr von Blut durchflossen, hatte es alle Pläne ›vergessen‹« (Kluge 1977: 270). Keine Blume wurde enthirnt in der Zeitmulde einer Hauptentscheidung im Jahre 1936, als Gonzáles Francisco Salas im November in Parcuellos de Jarama von den Republikanern erschossen wurde. Vor der kriegerischen Einverleibung als locus amoenus hatte Cervix nicht mehr begriffen, daß es »im Körper nicht weniger Denken gibt als Schock und Gewalt im Gehirn« (Deleuze 1984: 267, vgl. Thom 1988). Im Mai 1977 aber mündet sich das von Polizisten zerschossene Kleinhirn Sonnenbergs, des RAF-Mitglieds, das in Süddeutschland gefangengenommen wird, mit dem hannoverschen, leibnizschen Hirn- und Knochenradar des erkälteten Bieske an: 9 | Vgl. Hegel 1970: 191: »Zunächst hat sich hier nur dieses bestimmt, daß wie das Gehirn der lebendige Kopf, der Schädel das caput mortuum ist.«

140 | Herbert Holl auf blumiger Frühlingswiese, die daran erinnert, daß Blumendasein und Acephalität verwandt sind (vgl. Gasché 1971: 16f.), versickert Sonnenbergs Hirnflüssigkeit unweit der Stelle bei Singen, von der aus 1524 die aufständischen Bauern bis Weingarten gelangten, ehe ihnen die Knochen gebrochen wurden (Kluge 1977: 407ff.). Erinnert dieses Geschehen daran, daß der Knochen der Erde, das Knochenmark und das Blut dem Meer entspricht (vgl. Thom 1988: 207)? Denkt man sich Gartmann als eine zerebrale Verlängerung des doppelten Froschkönigs bei Kluge und Negt, so finden diese im Gehirn selbst, was nicht nur auf Madlochs und Bieskes Nacken immer noch lastet: »Aera 47 anteilig: ›Bauernkriege‹« (Kluge 1977: 399). Im Mai 1968, während der »Tage der politischen Universität« in Frankfurt am Main, stellt sich neben Cervix’ Gehirn ein anders geartetes Fensterund Monadegehirn in einen Stand der Ruhe, »auf äußerste Rabattstellung« – das Welthirn Theodor Wiesengrund Adornos (ebd.: 295). Während einer Veranstaltung im großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks sitzt er im schädelknochenartigen »hohlen Ding« des Senderaums, einem »Behälter« der studentischen Denkungs- und Handlungshitze, er, der »Mittel einer permanenten Widerstandsgesinnung« ersinnend, ein letztes Werk über die Eiseskälte als Kategorie der gesellschaftlichen Totalität geplant haben soll. Zwischen seinem wiederum zänkischen Gehirn einerseits, der menschenhaft, gesellschaftlich erzeugten Kälte und der nichtmenschlichen Eiszeit andererseits, deren Kühlschrank-Kappe eines Tages sein Gehirn vor den Nazis des Nürnbergerparteitagsgeländes einmal bewahrt hatte (ebd.: 396), verdichtet sich in »Unheimlichkeit der Zeit« der Zusammenhang, welchen der Chiasmus von Gehirn/Polareiskappe/Eiszeit/cerebrum in Geschichte und Eigensinn (Negt/Kluge 1981: 50f.) herstellte: »Soviel innen wie möglich, so wenig außen wie nötig« (ebd.: 52, »Zelle«). Im »Gehirn der Metropole« schließlich, im cerebrum des besetzten, nazifizierten Prag, zwingt der RSHA-Arbeitszeitmesser Madloch seine Eiszeit der »Verschrottung durch Arbeit« dem Außenlager Langenstein-Zwieberge bei Halberstadt auf. Selbst ein Stück Schrottdiagramm, berührt er sich mit Gartmann, dem Erkunder einer Eiszytoarchitektur, die aus negentropischer Not entworfen wurde (vgl. Holl 1999). Dem Druck der Gehirnschale ausgesetzt widmen sich ihre Leiber dem brennenden Herzen des Eises: »Von wo kommt die nächste Eiszeit? Hat mit dem Wetter nichts zu tun. Aber: ›Etwas wird kommen. Man muß es erkennen‹. Das Zentralprinzip ›Kälte‹ mußte ja nicht aus Eis bestehen. Aber ohne sie leidet keiner« (Kluge 1977: 394).

Der Nazi des Messens Madloch verschrottet maßlos den »Druck der Ahnen auf sein Gehirn« – von den Schergen der Grafschaft Mansfeld wurden diese Bauern mit ausgerenkten Knochen und ausgestochenen Augen »auf die Ka-

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ten zurückgeschickt« – als animalisch zerebrales Zusammenschweißen des »Gegners« zu einem »unterirdischen Volk«, das das versagende »Herrenvolk« ablösen könnte: »Dazu wäre erforderlich, daß man magnetisch, d.h. nationalsozialistisch, ihre Hirne gewinnt und das Material pflegt« (ebd.: 390).

Vertigo: Oberschenkelhalsknochen Der Fall von Dr. Med. Ernst K. aus Halberstadt, der nie als Vater des Autors benannt wird, aber durch ein »wir« etwa mit ihm in Zusammenhang gebracht wird10, verknotet sich als vollendeter Unfall des Oberschenkelhalsknochens mit dem »Gehhirn oder GEHirn« (Gabi Teichert in Kluge 1979: 325), dies durch den »Zwischenschenkelhals« der articulatio genus (ebd.: 248), des Knies also. Der Erzähler erprobt 1977 in »Unheimlichkeit« der Zeit schon die Dromologie als »exakte Wissenschaft«, welche das Knie in der »Patriotin« zwei Jahre später scherzhaft befürwortet: statt instrumentalisierter Laufwerkzeuge geht es um gleichsam semiophysische, ontisch, narratologisch und filmisch vollwertige »Laufwesen, dromoi« (ebd.: 242). Auf der Buchseite gegenüber entspricht dem »Es« als Negativ des Oberschenkelhalsknochens in Negts und Kluges Gebrauchsbuch »Geschichte und Eigensinn« das »Ich, das Knie« als doppelte Zeichnung des geraden und gebeugten Knies in Kluges Filmbuch (ebd.: 243). Die Cytoarchitektonik des Gehirns und die Physiognomik des Knochenwesens verbinden sich zu einem verhalten autobiographischen Geschehen, das sich als Streuung von Neuen Geschichten zeitigt durch die tödliche gegenseitige Attraktion von rechter Hirnhälfte und Oberschenkel, dessen Körperseite ungenannt bleibt. Die Weltstrahlen, die im Sinne Maurice Merleau-Pontys (Le visible et l’invisible) Ernst K’s Bewegungen senden – nur einmal und spät werden seine Taten und Leiden als »Parkinson« benannt (Kluge 1977: 327) – gehen an der »tükkischen Krankheit« zugrunde (Tücke, mhd. tuc, bedeutete einst dem etymologischen Wörterbuch nach Stoß, rasche Bewegung11). Ernst K. ist an Gehirn und Knochen ausgesetzt. Gleich den übrigen Knochen entstand der Oberschenkel als Ruine (ebd.: 250), wie es das allegorische Knie hinterlistig behauptet, während es selber erst als zerstörter Rest seines gefallenen Herrn, Wieland, durch eine Art Osteodromologie erfahren haben will, »was Zusammenhang bedeutet« (ebd.: 245). »Oberschenkel« wäre dann ein Na10 | S. z.B. »[…] das Bett aus dem Salvator-Krankenhaus, das wir von den Schwestern entliehen haben […]« (Kluge 1977: 330, unsere Hervorhebung). 11 | S. Der Große Duden. Etymologie, Mannheim: Bibliographisches Institut, 1963, S. 724.

142 | Herbert Holl me der Zeit selbst als Spanne, als Femurmuskel, wie er sich in einem Gulli anspannte zwischen Heimat und Heimtücke, kurz bevor Gefreiter Wieland getötet wird (ebd.: 253). Ernst K’s letzte »Seinsblättchen« zerstreuen sich, vom verhängnisvollen Zusammenhang des Unverhältnisses von Glied und Gehirn verweht, der Knochenhals gerät zum schwarzen Loch der angenagten Knochen und locus niger der Gehirnsubstanz. Zur Statik verurteilt, die ihn bei der geringsten unvorhergesehenen Bewegung zu Fall bringen wird, hat Ernst K. die Fähigkeit des schwebenden Gleichgewichts eingebüßt. Die in Gefahr und höchste Not geratenen rechte Hirnhälfte und beiderseitigen Gliedmaßen – »Wäre die Haut nicht, würden sich die Knochen selbständig machen« (Kluge 2003: 499f.)12 – versucht die intakte linke Hälfte verzweifelt auszugleichen, wohl wissend, wie wenig wirksam der Transfer durch die zwischenhälftigen Gehirnwinkel, commissures, ist.13 Die Schwäche des Zusammenhangs wird bei dem halbkugeligen Hervorragen des Oberschenkelkopfes geleugnet, der sich sonst vollkommen im Inneren des Beckengehäuses dreht. Gleich vier Rhizomwerken oder drei Facetten eines Fliegenauges gehen vier Neue Geschichten in »Unheimlichkeit der Zeit« die Fernstenliebe des Zusammenhangs ein: »Reden wir vom Tod« (Kluge 1977: 125-127), »Erfahrenheit der Junifliegen« (ebd.: 245), »Jahrgang 1892« (ebd.: 317-331), »›Der Baum, der grünt, die Gipfel von Gezweigen …‹; glattmachen« (ebd.: 123-125, vgl. Holl 2001). Die »unganze« Dimensionen auslotende Erzählweise Alexander Kluges geht kaum der Entstehung und Entwicklung einer Krankheitsart, der parkinsonschen, nach, deren Erscheinungen sich unausweichlich verschlimmern. Der Sohn-Erzähler zeugt von seiner eigenen Trauer- und Balancearbeit durch eine Anatomie von Zeitbildern, bei der ein zum unsichtbaren Todeszeugen Gewordener (Roland Barthes, La Chambre claire), an Rembrandts Anatomie wiederanknüpfen würde, dort, wo ihn Jahrhunderte der Verarztung verjagt hatten, um die Bildfläche den körperlosen Organen und Knochenbildungen zu überlassen (vgl. Böhme 1992). Von der Gewalt des unumkehrbaren Erzählereignisses mitgerissen, ist »der alte Mann« noch von dem Willen belebt, die Stigmata eines Zusam12 | Zur Frage der Haut bei Alexander Kluge, s. Jean Lévêque, »Les figures de la défection dans l’œuvre d’Alexander Kluge« – erscheint demnächst in Le Grouillement bariolé des temps. Heiner Müller et Alexander Kluge arpenteurs de ruines, Paris, S. 227-245. 13 | Vgl. Smith-Churchland 1999: 244: »que l’HG [hémisphère gauche] était un processeur analytique, opérant de manière séquentielle et spécialisée dans le traitement des séquences temporelles, alors que l’HD [hémisphère droit] traiterait les informations de manière synthétique, gestaltiste et globale par un processus parallèle et non pas séquentiel«.

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menhangs kryptisch zu verbinden, in dessen Grundrissen das mit ihm Geschehende vorgebildet wäre (vgl. Renner 1988: 285). Seitlich von Krieg und Frieden übt sich der leidende Aktant der Bewegungskrankheit in den molekularen Abschied ein, indem er eine Infinitesimalrechnung der Bewegungsabläufe und eine Mikrophysik des Widerstandes entwickelt (vgl. Bürger 1982). Altwerden ist weiterhin Entfleischung, Aussetzung der entleibten Gliedmaßen, acharnement des décharnement: »November-Sonnabend. […] die Hose, die den früher stärker gefüllten Körper umschloß, schlottert um die Glieder« (Kluge 1977: 329; vgl. Andrieu 1993: 27). Das eigensinnige Beharren auf Autokinese, das auch Beharren des Erzählers auf der Eigenbewegung der Geschichte als »Stummfilm mit Ton« ist, wird ihn an seinem nicht kinematischen, stützenden Knochenwerk heimsuchen, dem Oberschenkel, der keine Unbestimmtheit des Zusammenhangs mehr erträgt (Kluge 1979: 247, »Über die Ich-Struktur von Knochen«): ungehemmte Bewegung ohne Beweglichkeit und ausweglose Erstarrung im Fallen kollidieren in der Komik und Trauer eines Stummfilms mit Worten; an der Grenze des Harzes werden die versteinerten Verhältnisse der DDR zum antirhythmischen Tanzen gezwungen. In der Schnelle der »Verkehrszeit« bei Stillstand der »Geschichtszeit« (vgl. Kaempfer 1991) erzeugt die Neue Geschichte »Erfahrenheit der Junifliegen« mit ihrem einzigen Absatz die Niederlage des Gehirns gegenüber dem facettenreichen Insektenauge: Es entscheidet sich der Zwist zwischen der vorschnellen Geste von Ernst K.’s zitternden Händen und der raschen Wahrnehmung, ein Stillleben mit Fliege, das jegliches Wissen von der Erfahrung des Bewußtseins auslöscht. In »Jahrgang 1892« kappt eine Reihe von Mutationen bei den steilen Granitstufen, die der kranke Arzt ersteigen muß, um in sein Haus zu gelangen, eine »schnellwachsende«, grünende Pappel nochmals, die seine Frau Alice einst glattmachen ließ (Kluge 1977: 123-125). Aus der Entfernung von Jahrzehnten hat das Kappen von Efeu die Verknappung der schwarzen Substanz in der Stätte des Gehirnrumpfs erörtert (ebd.: 127, 328). Der frühere Künstler der zweischenkeligen Zange bewegt sich im Eichhörnchenlauf auf dem stets antizipierten Hintergrund des Hirnrauschens, der zerbrechlichen Materie seines Knochens zu. Chronophotographisch scheint Dr. Parkinson auf, der Entdecker dieser Krankheit, die er regende Lähmung genannt hatte mit dem Hang, den Oberkörper nach vorn zu beugen, aus dem Gehen räumeerweiternd ins Laufen zu kommen, ohne Beinträchtigung der Sinne oder der geistigen Fähigkeiten (vgl. Peschanski 1989: 130): »Gisela heulte los. Warum heulst du? Weil sich dieser alte Mann so rasch durch die Räume bewegt hat« (ebd.: 125). So werden Zeittrampelpfade gebahnt gleich den räumlichen, die sich nach dem Bombenangriff im April 1945 durch die Trümmerhaufen Halberstadts schlängelten; Kluges Geschichte gönnt Dr. K. die Erfindung eines leibeige-

144 | Herbert Holl nen Metronoms, das dem mechanischen die Waage halten könnte, dem Gerät, das Wolfgang Enzensberger und Peter-Axel Fischer von der Klinik für Neurologie der Universität Frankfurt nach »nicht nur auf längeren Wegstrecken, etwa beim Überqueren von Straßen, sondern auch beim Zurücklegen kurzer Distanzen in der Wohnung« hilft.14 Der Erzähler würdigt ein solches Balancekunststück, das unaufhörliche Beschreiben einer unendlichen Beschleunigung der zwei Buchstabenschenkel, durch eine Differenz des Sems gleich: »Das Schnellerlaufen versuchte er durch Vorbeugen des Körpers und eine Kunst des Gleichgewichts auszugleichen« (Kluge 1977: 126). Für Gisela – eine Enkelin? – setzt sich das Leben in Klammern; lebend heißt es Tod, gestorben heißt es Leben. In der Ferne erzittert durch die hohen Räume verzerrte kantische Vorsicht. Solche neue Geschichte des Buchstabens erfuhr auf tragische Weise der französische Dramaturg Armand Gatti: Ihren Ursprung habe seine Parole errante in dem ersten Buchstaben seines Alphabets, als er im zweiten Weltkrieg fallschirmspringend unter dichten Beschuß geriet: »Es war entsetzlich. Als wir am Boden ankamen, habe ich nach meinem Freund, Ravenel, gesucht. Unauffindbar. Schließlich sah ich ihn: Es blieben nur noch seine beiden Unterschenkel, die im Erdboden steckten. Es war, sagen wir, in den Boden gepflanzt der erste Buchstabe meines Alphabets, der erste Buchstabe dessen, was ich schreiben würde.«15

Ernst K., dessen Sinne der ursprünglich feinsinnig ausgeübten Macht der Unterscheidung verlustig gingen, wird sich selbst »Hammer, Zange, Hebel«, Gewaltsamkeit als Arbeitseigenschaft (Negt/Kluge 1981: 20) wendet sich gegen die andersgeartete Anwendung von Gewalt durch Hebammenkunst, wo durch »Bracht« die Eigenbewegung des Kindes ausgelöst wird, damit es sich im Mutterleib dreht und bei der Geburt nicht erstickt (ebd.: 22). Den zu Lebzeiten nachgelassenen eigenen Sinn seines Lebenszusammenhangs verbraucht der alte Mann dazu, für zwei Jahreszeiten noch einen Granitstein zu umgehen, indem er die Orte durch eine zugleich fließende und versteinerte, unheimliche Bahn verbindet. Kluges Schreibart verzehrt die ausdrückliche Subsumierung aller Bewegungen unter einen Körper, der 14 | »Ein Metronom für Parkinson-Kranke«, FAZ, Nr. 12, 15. Januar 1997, S. N 2. 15 | Gespräch zwischen Armand Gatti und Frédéric Ferrer, in Mouvement, Januar/Februar 2004, S. 34: »C’était horrible. Quand on est arrivé au sol, j’ai cherché mon ami, Ravenel. Introuvable. Finalement je l’ai vu: il restait ses deux tibias plantés dans le sol. Disons que c’était, planté dans le sol, la première lettre de mon alphabet, la première lettre de ce que j’allais écrire« (Propos recueillis par Olivier Neveux).

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nicht mehr das wirkende Gesetz seiner eigenen Veränderungen ist, da sich die Körperteile einer nach dem andern entfalten. Zum rein galileischen Körper geworden zuckt sich Ernst K. nunmehr im Raum aus. So wird dem »Vater« gegeben, das Laufwesen einer Neuen Geschichte des »Sohnes« zu sein, das weiß, was kommen wird: »Denn Geschichten sind bei ihm [A. Kluge] nicht allein narrative und unwiederholbare Ereignisse, sondern ebenfalls Symptome eines Zusammenhangs; was in ihnen passiert, ist schon je vorgezeichnet« (Renner 1988: 286). Die enthemmende Gewalt der schwarzen Lücke des Zusammenhangs umwindet nun immer enger eine zweite Bewegung, die den Fall beschwört. Die einstigen Möglichkeiten des schwebenden Innehaltens verwandeln sich in verwegene Drehungen. Der Bösartigkeit einer Zeitfalle, in welcher der Nach-Fall dem Vor-Fall vorangeht, entspricht der Tanz der Fliege als Erinnerung an die ehrwürdige vollkommene Kreisbewegung. Ehe noch die Bedingung der rettenden Bewegung, der freie Fall, erfüllt ist, vollzieht sich deren Folge körperlich. Das unumkehrbare Taumelereignis des endzeitlichen Fallens verzerrt die Gestalt vom gewaltigen Kreislauf des Zusammenhangs. In »Reden wir vom Tod« (Kluge 1977: 125-127) machen die vier muskelbelebenden Runden, die Ernst K. um den Halberstädter Bismarckplatz läuft, sein Verhängnis dem Geschick des Schlachtschiffs »Bismarck« gleich, das »manövrierunfähig, auf einer bestimmten Meeresfläche Vollkreise« zieht, nachdem es von britischen Torpedos getroffen wurde (»Der Zeitrhythmus des Abschlachtens und der von Reparaturen – Eine nicht übermittelte Nachricht« [ebd.: 471-473, hier ebd.: 471]). Wie in Hitchcocks Vertigo wird die Iris des Auges zur Spirale, die sich durch die Tiefe des Feldes erweitert – Ernst K.’s Wirbel entwindet sich der dunklen, blinden Granittreppe im Schwindel der Drehung, dem Ziehen der Schraube, dem gewunden gelingenden Satz der Katze (ebd.: 126f.). Zwei Wegzeiten stoßen hier zusammen: »[…] einerseits die Zeit als Ganzes, als großer Spiralenkreis, der die gesamte Bewegung im Universum aufnimmt; andrerseits die Zeit als Dazwischen, das die kleinste Bewegungs- oder Handlungseinheit bezeichnet« (Deleuze 1984: 177).

Im Hitzejahr 1976 verliert »Jahrgang 1892« sein kalendarisches Zeitmaß, indem sogar die formelle Abwechslung der Jahreszeiten verlorengeht, Frühling, Sommer, Herbst (Kluge 1977: 201f.), um der Alternanz eines jeweiligen »Zuviel« Platz zu machen, »Tag für Tag zu kalt oder zu heiß« (ebd.: 327). Bei Ernst K. wird der Aufstieg zu den kinetischen bzw. thermischen Extremen, Lähmung und Agitation, Wärme und Kälte, unumkehrbar und neigt sich zur Unendlichkeit. Die letzte Grenze bildet dann der Harz, an dessen Rand Ernst K. zunächst wie »auf einem Schlachtschiff« wacht (ebd.: 328). An einem Samstag im November dann, vergilbte Blätter einsam-

146 | Herbert Holl melnd, um sie gleich wieder zu zerstreuen, läuft er sich selbst entgegen, findet sich aber nicht in den eigenen Zusammenhang, stolpert über »eine im Fußgängerweg hervorstehende Steinplatte« (ebd.: 329). Ohne Bruch des Unterarms, etwa die berüchtigte »fracture de Pouteau-Colles«, 2,5 cm über dem Handgelenk (vgl. Senikies 1987: 177), trägt er unwillig die linkisch verletzte Hand als gekapptes Zweigglied zum Katastrophenpunkt hin, wo er die übrige Zeit auch von seinem »Gefechtsstand« aus (Kluge 1977: 328, mit Abb.), nicht mehr an sich bringen kann. Kluges Sätze folgen hier der Spirale, der »Wirbel-Ästhetik, die einzig seiner Erzähl-Logik verpflichtet« ist (vgl. Kluge 2003: 240), oder sie beschreiben die eine Reihe aufeinanderliegender Winkel darstellende gezackte Linie.16 Der Oberschenkelhalsbruch ergibt sich aus einer ausgefallenen Lateralität, die als Ereignis und Symptom Kluges und Negts »Seitenansichten« und »Inversionen der Perspektiven« in »Geschichte und Eigensinn« entspricht.17 Die von einer einst rettenden Seitlichkeit gebrochene Linie zeugt von einer Verwundung des Kairos, des »Noch nicht/schon nicht mehr«. Epimetheus der Nachdenkliche, Prometheus der Vordenkende, treffen so aufeinander, daß der aiôn-Knochen bricht: »Während er noch vom Sessel aufstand, fiel er sogleich seitlich hin. Dieser zweite Fall des Abends vervollständigte den Unfall: Oberschenkelhalsbruch« (ebd: 329). Seine vergangene, gegenwärtige, zukünftige Lateralität wird von einem tödlich gewordenen Zeitstrahl getroffen: der Seitenblick, den er am anfänglichen teleion seines Lebenslaufs auf einer Fotografie mit »Frau, Hund, Kind« sendet, sein Seitenfall aus/in dem Sessel, und das künftige Landschaftsbild zur Seite des in seinem Bett Liegenden nach der Rückkehr aus der Klinik führen zur endlichen teleutè seines Lebens (ebd.: 330; vgl. Thom 1988: 154). Durch Kunst bekam er einen Resttag, an dem der tiefe Erinnerungspalimpsest seines Gehirns in seiner Ruhe weder von der Rückschau der Agonie noch von irgendeiner anderen Konvulsion gestört werden mochte (vgl. de Quincey 1990: 214f.).

Epilog »Der Bruch des Oberschenkelhalses ist für die Alten schon deswegen tödlich, weil er den Körper seiner Beweglichkeit beraubt, vor allem aber, weil er 16 | Vgl. Charles Baudelaire, »Projets de préface (notes)«, zit. von Jean-Claude Lebensztejn, »Notes«, in Vacarme Nr. 26, Winter 2004, S. 58. 17 | Vgl. »Die Geschichte der lebendigen Arbeitskraft«, eine Diskussion mit Oskar Negt und Alexander Kluge in Ästhetik und Kommunikation, Heft 48 (zit. Nr.), S. 79-109, hier S. 80; Rudolf Burger, ebda, zit. Artikel, S. 118.

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die Flüssigkeit der Bewegung vernichtet.«18 Ohne »Rücksicht« entkoppeln sich jetzt bei dem »kranken« Mann »die Muskeln, die Nerven und die Hirne, übrigens auch die Haut« (Negt/Kluge 1981: 20f.).19 Vom Fall zu jenem Unfall, den er, »seines letzten Sommers beraubt«, überleben wird (Kluge 1977: 327), wie einer im »Wechselhang«20 (Novalis) die Gewaltigen um »Nur einen Sommer« (Hölderlin) bittet, scheint Ernst K. sich diesem achten Tag der Schöpfung zu nähern, da Adam fiel. Nach Jacob Taubes enthält dieser apokryphe Bericht »alles, was der Fall war, was der Fall ist« (Taubes 1996: 348). Die harte Linie von Ernst K.’s Oberschenkel ragt dann als Maschine empor, beim Hals zu fassen, untersteht dem »Standrecht« einer Metastasis der Fälligkeit aus Kleists »Marionettentheater«.21 Die elliptische Handbewegung des montreurs hätte sich in die doppelte Hyperbel eingeschrieben, die dem Oberschenkelhalsknochen des Dr. Kluge, dem KortexGebärmutterhals des Dr. Cervix benachbart ist. Doch werden die unversehrten Hirnhälften des Vize-Admirals vom Körper vergessen, von Herz und Leib, welcher »Blut macht, das Leib macht, der Blut macht« (Valéry 1957: 924). Aus dem Oberschenkelhals wird keine Flöte aus Menschenknochen mit vier Löchern geschnitzt. Er gönnt sich auch nicht der »hypostatischen Vereinigung« Paul Claudels, »dieser ANDERE OBERSCHENKELKNOCHEN auf dem, wie die Apokalypse berichtet, geschrieben steht: König der Könige, Herr der Herren« (vgl. Claudel 1935: 58). Das eigensinnig wandelnde Knie des Gefreiten Wieland macht sich in der »Patriotin« über den Knochen lustig, der auf reines Sein reduziert als schwacher Punkt allen Gravitationsverhältnissen des »barischen« Zusammenhängens unterworfen sei, indes sich das Knie, das man nur in der Lücke des unbeschreibbaren Zusammenhanges von Ober- und Unterschenkel sieht22, durch den Hals der Paronomasie -bind-/bin als bewegtes Dazwischen des Verhältnisses – »da ich verbinde und nicht bin« (Kluge 1979: 248) – in der antigraven Nachbarschaft des lichtenden, abarischen Punktes wandelt, dazu bestimmt, mit dem 18 | Claude Bugeon, Brief von der île d’Yeu, 18. November 1996: »La brisure du col du fémur tue les vieillards parce qu’elle retire la mobilité du corps, mais surtout parce qu’elle tue la ›fluidité‹ du mouvement.« 19 | Es koppeln sich aber »Geschichte und Eigensinn« und »Unheimlichkeit der Zeit«, jedes auf das andere Rücksicht nehmend in gegenseitiger Selbstregulierung, der »ausgeführte[n] Dialektik von der Beziehung zwischen Kraft- und Feingriffen« (Negt/Kluge 1981: 21) gemäß. 20 | Vgl. von Hardenberg 1978: 672 [831]: »Vom Zusammenhang – Wechselhang etc. Theorie des Spaltens – Brechens etc.« 21 | Zum »Fall« von Kleists »Marionettentheater«, vgl. de Man 1988: 231f. 22 | Vgl. Thom 1988: 107, wo das Knie als Gliederungsfläche, als »homéomère unique de surface deux« bezeichnet wird.

148 | Herbert Holl Kernstück des Jüngsten Gerichts zur Apokatastasis pantôn zusammenzuklingen.23 Heimgeholt wird in der Neuen Geschichte »Der Zeitrhythmus des Abschlachtens« die in einer Luftblase des Schiffsrumpfes auf dem Meeresgrunde wörtlich immer noch überlebende Mannschaft, aber auch Ernst K., dessen unverwüstlicher Eigensinn der Krankheit zum Trotz Entronnensein zurauscht. In seinen »Réflexions simples sur le corps« löste Paul Valéry auf seine Art das »Problem der drei Körper«, das dem Mathematiker Henri Poincaré so sehr am Herzen lag: »Deine Bilder, deine Abstraktionen leiten sich nur aus den Eigenschaften und Erfahrungen deiner Drei Körper her. Aber der erste gönnt dir nur Augenblicke; der zweite etliche Visionen; und der dritte um den Preis schändlicher Akte und komplizierter Präparate eine Menge Figuren, die noch weniger entzifferbar sind als etruskische Texte. Dein Geist zerlegt, setzt zusammen, legt all dies aus; mag er auch durch Mißbrauch seines vertrauten Formulars diese berüchtigten Probleme daraus entnehmen – er vermag ihnen trotzdem den Hauch eines Sinns nur dadurch zu verleihen, daß er ohne es sich einzugestehen irgend eine Nichtexistenz voraussetzt, der mein Vierter Körper eine Art Inkarnation ist« (Valéry 1957: 931).24

Diese Leibwerdung stellt sich wiederum als »Idee Gottes« im menschlichen Gehirn dar, das zugleich Ort, Schauplatz und Verfasser der Unfälle ist, denen sich der Vierte Körper aussetzt.25 Bei Kluge bildete der erste Körper den schwindenden Raum der taumelnden Augenblicke Ernst K.’s, die abstrahierende Zeit der abgelegenen Nachrichtenlinien des Cervix. Der zweite Körper wäre der alte Mann auf einem Schnappschuß mit verschwindenden Schatten – der Mensch, der »sich nicht darein beistimmt, diese Ruine zu sein« (Paul Valéry), die Flotte des 23 | Zum Knie vgl. Kaes 1980: 50f; Nickenig 1996: 166f. 24 | Valéry 1957: 931: »Tes images, tes abstractions ne dérivent que des propriétés et des expériences de tes Trois corps. Mais le premier ne t’offre que des instants ; le second, quelques visions ; et le troisième, au prix d’actes affreux et de préparations compliquées, une quantité de figures plus indéchiffrables que des textes étrusques. Ton esprit, avec son langage, triture, compose, dispose tout ceci ; je veux bien qu’il en tire, par l’abus de son questionnaire familier, ces problèmes fameux ; mais sans se l’avouer, quelque Inexistence, dont mon Quatrième Corps est une manière d’incarnation« (Unsere Übersetzung). 25 | Valéry 1957: 580 (Cahier 13 1910): »La vraie Incarnation est ceci: l’idée de Dieu, la présence divine, par l’activité du sens et de l’organe du divin, s’expose dans le cerveau humain, se met à la merci des accidents innombrables dont ce cerveau est précisément le lieu, le théâtre, l’auteur approprié.«

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Vize-Admirals Cervix, in die sich sein Kortex wahnhaft entwirft. Der dritte Körper bestünde aus den zergliederten und ausgerechneten Gebärden Ernst K.’s, den durchgekreuzten, entbluteten strategischen Plänen des »Gehirns«. Der Vierte Körper schließlich, nach Valéry »realer«, »imaginärer Körper«, entspräche dann Alexander Kluges und Oskar Negts unsichtbarem Bild bei Beate G., der Schwachstellenforscherin. In »Geschichte und Eigensinn«, dem Buchgehirn, dem Gehirnbuch, pflanzen sich Negt und Kluge in wiederholten Spiegelungen ihres gegenseitigen Selbstverhältnisses als Oberund Unterschenkel fort. Ist solchen anatomistischen Geopolitikern vergönnt, mittels des Einen blinden Halses, des 1908 angeblich »durch die Erde durchgerutscht[en]« stecknadelgroßen Schwarzen Lochs (Kluge 1979: 212) aus der Ursprungsphase der Entstehung der Welt in diesen Vierten Körper einzugehen? »Einer weiß, daß es kommen wird …«26

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Die Gewalt des Zusammenhangs | 151

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Eigensinn, Eigentlichkeit und Eigentum. Zu Funktion und Genealogie einer Zentralkategorie bei Alexander Kluge und Oskar Negt Christian Jäger

»Wer ist da? Nur ich. O, das ist überflüssig genug.« Georg Christoph Lichtenberg Heiliger Spartacus, bitte für uns! Wenn doch mehr solche Schulmeister des Menschenverstandes aufträten! Johann Gottfried Seume

Zwei Zitate, die in die Zeit um 1800 weisen, die ein Gefälle von Subjektkritik und Revolutionssehnsucht aufmachen, das, wie ex negativo zu zeigen sein wird, in engster Verbindung steht. Zu diesem Zweck wird dem Begriff des Eigensinns im wohl folgenreichsten Werk von Alexander Kluge und Oskar Negt nachgegangen werden. Neben die Rekonstruktion des Funktionszusammenhangs in »Geschichte und Eigensinn« treten dabei Verweise auf die Genealogie des Begriffs. Diese Verweise wollen keine direkte Bezugnahme ausweisen, sondern lediglich an historischen Positionen deutlicher konturieren, was aus einer bestimmten Begriffverwendung folgt. Das Prinzip ähnelt ein Stück weit dem Verfahren des jungen Marx, der sich mit Szeliga alias Zychlin von Zychlinski einen Gegner wählt, an dem das Fatale Hegelscher Dialektik deutlicher zu zeigen ist als am Meister selbst (vgl. Marx/Engels 1957: 63). Mit anderen Worten ließe sich das – zugestande-

154 | Christian Jäger nermaßen gelegentlich polemische – Verfahren auf die Formel bringen: Zur Kenntlichkeit entstellen. Es sei also noch einmal nachgefragt: Wie verhält es sich mit dem Verhältnis von Geschichte und Eigensinn? Während uns die Geschichte als Begriff unproblematisch erscheint, selbst wenn sie einige Komplikation in ihrer kategorialen Fassung bei Negt/Kluge bereithält, so dünkt uns der Eigensinn bei aller alltagssprachlichen Zuhandenheit nicht ganz so leicht verständlich. Will man den Eigensinn verstehen, empfiehlt sich neben der genauen Lektüre des Werkes ein wenig historische Orientierung, ein Nachfragen, woher denn solche Wertschätzung stammt, die sich augenscheinlich mit dem Eigensinn verbindet, der als Widerständigkeit das Potential beinhaltet, Geschichte zu verändern. Die Akzentuierung des Eigenen entnehmen Negt/Kluge zunächst den Frühschriften von Marx, in denen sich in der Tat diese Betonung findet im Verbund mit den dortigen Ausführungen zur Selbstentfremdung (vgl. Marx 1971; Negt/Kluge 1981: 42-46). Bekanntlich gelten diese Schriften einigen Marx-Interpreten als vorwissenschaftliche Werke, in denen Marx noch nicht die Reflexionshöhe des späteren »wissenschaftlichen Sozialismus« erreicht hat (vgl. Althusser 1974). Dies Interesse am Eigenen führt auf einen Egoismus, der sich vergesellschaften will: Getragen von »Privatarbeitern am ursprünglichen Eigentum« (Negt/Kluge 1981: 54) soll eine selbstregulative Ordnung begründet werden. »Selbstregulierung nennen wir die vollständige Anerkennung der verschiedenen Bewegungsgesetze der in einem Menschen zusammenstoßenden Kräfte. Dies ist Selbstregulierung im weitesten Sinn. Ein darauf achtender Begriff ist materialistisch« (ebd.: 55).

Was wir nicht recht glauben können, denn woher käme der Anerkennung das Materialistische, ist sie doch Bestandteil der »Phänomenologie des Geistes« (Hegel 1986), der man schon eine recht gewaltsame Deutung zuteil werden lassen muß, um sie dem Materialismus halbwegs näher zu bringen.1 Schon bei Hegel entspringt die Anerkennung einer behilfsmäßigen Setzung, die sich keinerlei Ableitung verdankt, sondern postuliert wird als eine Art anthropologische Konstante, die sich auch in den möglichen Varianten der Vergesellschaftung erhalten wird. Und inhaltlich scheint es sich desgleichen um eine im profanen Sinn idealistische Begrifflichkeit zu halten, denn wer wollte oder könnte das leisten: die verschiedenen Bewegungsgesetze der in einem Menschen zusammenstoßen Kräfte vollständig anerkennen? Wer ist überhaupt in der Lage, sie zu erkennen? Und nun gar anzuerkennen, was ernstgenommen 1 | Vgl. für eine solche Deutung: Kojève 1975.

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denn doch mehr meinen muß als tolerieren? Ein hypertropher Anspruch, der der Selbstregulierung vorangetragen wird, die doch mit dem alten Ideal der fraternité einigermaßen gut bedient wäre. Einem Konzept des Einverständnisses mithin, das die Differenz des anderen willig in Kauf nimmt, des grundlegenden Wissens um Gemeinschaftlichkeit halber. Der Hegel-Verdacht erweist sich als begründet, liest man dessen Lob des Eigensinns in »Grundlinien der Philosophie des Rechts« oder in »Geschichte und Eigensinn« nach (vgl. Negt/Kluge 1981: 297). Und selbst die weitere Kontextuierung des Eigensinns im Reich der Arbeit weckt Zweifel an seiner materialistischen Konstruktion: »Vom Interesse des Lebendigseins aus gesehen, sind breite Teile der abstrakten Arbeit unwirklich; für das Verwertungsinteresse sind sie dagegen besonders harte Wirklichkeit. […] die Arbeitsvermögen unterscheiden sich äußerlich, je nachdem, ob sie funktionell, historisch oder analytisch nach der widersprüchlichen Zusammensetzung ihrer Grundeigenschaften untersucht werden. Diese in der empirischen Arbeit durch die Synthese verdeckten Grundelemente besitzen nämlich als einzelne Eigensinn. In einer antagonistischen Realität wechseln die Wirklichkeitscharaktere zwischen unwirklich, antiwirklich und wirklich« (Negt/Kluge 1981: 127f.).

Über die Realismus-Problematik ist andernorts schon genügend gehandelt worden (vgl. Jäger 2000: 110-114), so daß wir uns hier auf den Eigensinn der Arbeitsvermögen kaprizieren können, nicht ohne auf das recht eigensinnige »Interesse des Lebendigseins« eingegangen zu sein. Eine bemerkenswerte Kategorie, die einerseits meinen kann, daß das Lebendige als Seiendes ein Interesse besitzt, andererseits auf ein Interesse, lebendig zu sein, im Sinne einer qualitativen Steigerung der Existenzqualität verweisen kann. Da im Folgenden die Unterscheidung zwischen wirklichem und unwirklichem Leben getroffen wird (vgl. Negt/Kluge 1981: 129), liegt die Wahrheit wohl dazwischen: Es existiert ein, heideggerianisch gesprochen, wesendes Leben, das aus seiner Latenz nach Manifestation drängt. Ein Gutteil dieses Drängens liegt verborgen in der kollektiven, unter repressiven Bedingungen ausgeübten Arbeit, kann aber bei entsprechender Analyse entborgen werden, am einzelnen Arbeitsvermögen als Eigensinn ausgewiesen werden. Schon diese Bestimmung wirkt verdächtig, denn wer oder was könnte verbürgen, daß der am einzelnen Arbeitsvermögen aufgezeigte Eigensinn tatsächlich diesem latent immanent sei und nicht Resultat der analytischen Konstruktion des Gegenstandes wäre? Die Wahrnehmbarkeit solchen Eigensinns wird an einen anderen delegiert, der das, was in der Selbstvergessenheit konzentrierter Arbeit der Selbstwahrnehmung entgehe, reflektiert und damit wahrnehmbar macht (ebd.: 133f.). Was diesen anderen aber auszeichnen könnte, was ihn befähigt, das Verhalten seines Gegenüber

156 | Christian Jäger zu objektivieren und aus der selbstvergessenen Handlung ihr Vergessenes zu entbergen, wird an keiner Stelle deutlich. Der Zeuge bürgt hier für gar nichts außer für die Annahme, die Selbstvergessenheit sei erschließbar. Erschließbar ist jedoch nur die über das Werkzeug vermittelte Dialektik von Produzent und Produktionsgegenstand, alle weitere Mutmaßung über latente Arbeitsvermögen ist genau das: Mutmaßung. Was Negt und Kluge ja auch bereitwillig zugestehen: »Wir brechen also bei dieser Untersuchung der gesellschaftlichen Arbeit […] immer wieder aus dem Bereich der Realgeschichte aus, aber auch dies nützt nichts, weil Arbeitsvermögen, die sich nicht realisiert haben, zwar durchaus Spuren hinterlassen, als Protest oder Wandlungsenergien im geschichtlichen Arbeitsvermögen Induktionswirkung erzeugen, als selber bloß unrealistische Möglichkeit aber keine Formbestimmung haben, also ein Vermögen sind, das nichts Sicheres vermag« (ebd.: 138).

Damit aber wird die Rede vom Eigensinn – sei er nun als Protest oder Wandlungsenergie gefaßt – zu einer Rede ohne geschichtlichen Grund, die man doch im Kontext neueren Materialismus erwarten dürfte. Sie gerät ins Register geschichtsphilosophischer Konstruktionen unseligen Angedenkens. Halten wir die Auffassung des Eigensinns, doch neben einen in seiner Schlichtheit sehr deutlichen Denker des »eigentlichen Lebens«: »Gewiß nicht die beliebige Angelegenheit, […] sondern das, was an einer Angelegenheit bestimmte Menschen emotionell ergreift, d.h. worauf bestimmte Menschen aus Gründen ihres innersten Entwicklungslebens Bezug nehmen müssen: was also einen überindividuellen Funktionskomplex von Menschen in irgendeiner Anpassungsnot zutiefst angeht. Das eigentliche Leben hinter der Situation, woran ein Komplex von akzessorischen Erregungen erst zur Situation wird, dieses eigentliche Leben, dem das Bewußtsein nur als Orientierungsfunktion dient, unter großen und kleinen, ja kleinsten und banalsten Anlässen – das ist Inhalt eines Kunstwerkes, der Gegenstand der schöpferischen Tätigkeit eines Künstlers« (Kolbenheyer 1925: 306f.).

Auch hier findet sich etwas Eigenes, versteckt unterhalb des Bewußtseins und oberhalb des Individuums, eingelassen in eine Gefühlswelt, die nicht analytisch deskriptiv zu erfassen ist, sondern Wahrnehmbarkeit überhaupt erst erlangt in künstlerischer Produktion. Zugestandenermaßen gewagt wird damit die »theoretische« Arbeit Negt und Kluges der künstlerischen Produktion bei Erwin Guido Kolbenheyer gleichgesetzt. Um das, was diesen Vergleich doch als zulässig erscheinen läßt, zu bestimmen, sei noch mal nachgefragt, was die Aufgabe der künstlerischen Produktion nach Kolbenheyer darstellt:

Eigensinn, Eigentlichkeit und Eigentum | 157 »Es müssen durch die sekundären akzessorischen Mittel der Kunst und intuitiven Logik Erregungssysteme erfaßt werden können, die in jenen Menschen, auf die Kunst und Gedanke wirken sollen, bereits einen bestimmten, und noch nicht voll angepaßten Erregungszustand treibender Natur besitzen. Die Kunst des Künstlers und Denkers besteht eben darin, durch die sekundären Mittel den treibenden Kern dieser Erregungszustände zu erfassen und akzessorisch zu bewegen, dann aber für diesen spezifisch geformten Fall zur befriedigenden Anpassung zu bringen. Der Künstler und Denker hebt bestimmte Anpassungsnötigungen, die in den Menschen leben, durch seine Kunstmittel und logischen Mittel heraus und schafft damit einen überindividuellen Funktionskomplex, dessen aktive Anpassung er leitet und zu einer bildenden Abreaktion bringt« (ebd.: 307f.).

Beim Betrachten der materialen Buchgestalt von »Geschichte und Eigensinn« wird der Einsatz graphischer Mittel und des Bildmaterials mehr als offensichtlich, der sich auf textueller Ebene durch eingefügte Erzählungen, Märchen, Aphorismen – kurzum allerlei narratives Stückgut – zur Collage fügt, mithin mit künstlerischen Mitteln ein Theoriewerk erstellt, das auf der argumentationslogischen Ebene durchaus vor intuitiver Logik nicht zurückschreckt, wie mehrfach gezeigt. Die Zielsetzung des Werks ist desgleichen dem Kolbenheyerschen vergleichbar, denn auch hier gilt es den treibenden Kern zu erfassen, ihn gegebenenfalls anzustacheln, den in der Geschichte versteckten Eigensinn. Der Eigensinn ist allerdings bei Kolbenheyer anders gefaßt, nämlich als Eigentum und dieser Eigentumsbegriff weicht – oberflächlich betrachtet – vom besitzindividualistischen Eigentumsbegriff ab, versucht sich biomaterialistisch zu gründen in Form eines Plasmas, das dem Einzelnen als Eigenes zukomme, verfügt durch das Potential seiner Familie, seines Volkes und schließlich seiner Rasse. Diese stratifizierte und stratifizierende Kategorie, die Wertigkeiten gemäß inhärenter Potentiale verteilt – manche Rassen, Völker, Familien haben nur geringes Potential oder dies historische schon ausgeschöpft oder stehen noch davor, es auszuschöpfen etc. – findet sich so nicht bei Negt und Kluge, da sie nicht auf die Legitimation einer hierarchisch differenzierten Gesellschaft aus sind, andererseits findet sich eine strukturelle Analogie zur Gattungsgeschichte der Körper in »Geschichte und Eigensinn«: »Im Verhältnis zu den übrigen Kreisläufen bildet die Gattungsgeschichte der Körper im doppelten Sinn eine Reserve: die hier fundierten selbsttätigen Vermögen verhalten sich konservativ. Zugleich bilden sie eine Reserve, als Quelle aufgestauter Potentiale, die Defizite in den anderen Kreisläufen ausgleicht« (Negt/Kluge 1981: 267).

Damit findet sich auch hier eine biologisch gestützte Materialität, die Potentiale enthält und sich konservativ auswirkt. Darüber hinaus wird analog zu

158 | Christian Jäger Kolbenheyer als Ziel die »Vollständigkeit der Zusammenhänge« angegeben, die »etwas Natürliches« sei, da darin »die Materialität der Eigensteuerung aller Arbeitsvermögen« (vgl. ebd.: 273) enthalten sei. Diese Natur ist dann doch eher Theophanie als natürlich. Und der Parallelen nicht genug: Wie bei Kolbeneheyer wird auch bei Negt und Kluge eine Sprachskepsis artikuliert, die davon ausgeht, daß der Gegenstand nicht in Sprache zu fassen sei: »Wir betonen, daß das nicht als Sprache zu fassen ist« (ebd.: 368). Der Zweifel an der Zulänglichkeit von Sprache ruht auf der romantisch-idealistischen Sehnsucht, das Benannte in eine Unmittelbarkeit zu überführen, die Sprache als Medium nun mal konstitutiv abgeht. Das heißt aber nicht, daß etwas nicht in Sprache zu fassen sei, sondern lediglich, daß sein sprachliches Sein eben eine Darstellung, ein Abbild seines empirischen Seins ist. Diese Abstriche zugunsten der Mittelbarkeit in der Mitteilbarkeit sind letztlich banal und eben notwendig, so daß das Raunen um sprachliche Nichtfaßbarkeit reichlich deplaziert wirkt. Zumal die Autoren, wie sich angesichts der Kategorie Identität zeigen läßt, auch anders können, denn dort wird trotz eines unterstellten Wunsches nach Identität zum einen davon ausgegangen, daß diese nicht ohne weiteres vielmehr im Verbund mit hohen Kosten zu haben sei, und zum anderen pragmatisch die Nicht-Identität als Substanz des Identitätsbegriffs angenommen (vgl. ebd.: 376). Selbst wenn dabei – wie bei Lacan – ein auf dem Mangel gegründeter Identitätsbegriff entsteht, so ist die dabei eingebrachte Denkfigur immerhin komplexer als die zur (Un-)Bestimmung der Sprache verwandte. Kritisch bleibt aber der immer wiederkehrende Entfremdungsgedanke, der sich bei Marx lediglich in den Frühschriften findet und eine deutlich hegelianische Reminiszenz darstellt. Stets wird die Identität an einer imaginären Totalität gemessen – und nicht allein die Identität. So findet sich folgende Bestimmung der Intelligenzarbeit: »Intelligenzarbeit ist in dem Maße brauchbar, in welchem sie in allen Teilen der Gesellschaft angeeignet werden kann. […] Punktuelle Brauchbarkeit haben alle diese Formen der Intelligenzarbeit, praktische Brauchbarkeit im Sinne eines für jeden Menschen brauchbaren Lebensmittels hat keine. Um Lebensmittel zu sein, fehlt es jeder dieser Traditionen an dem, was sie, um ihre spezifische Arbeit zu verwirklichen, ausgrenzen muß. Sie alle veröffentlichen nur repräsentative Auszüge der wirklichen Verhältnisse« (ebd.: 430f.).

Die nicht allseitige Intelligenz als deformierte, depravierte erinnert wiederum an den vitalistischen Impetus, die unzureichend aufs Sachlich-Intelligible verkürzte Vernunft auszuweiten und ihr qua solcher Begriffe wie eben Leben, Eigentum etc. etwas aufzugeben, was notgedrungen nicht als funktionale Kategorie zu fassen ist, und notwendig immer Operator des

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Diffusen, des ahnungsvoll arkanischen Wissens um Ganzheit und Eigentlichkeit bleibt. Bei der Bestimmung dessen, was Erkenntnisarbeit zu leisten habe, rücken Negt und Kluge solchen Postulaten bedenklich nahe: »Es fehlt einer professionellen Erkenntnisarbeit […] der materialistische Instinkt, die Einheit- von Lebens- und Arbeitszusammenhang; eine solche Erkenntnistätigkeit erschrickt vor den Nähe-Dimensionen der Personalisierung, aber ebenso gegenüber der Fernwirkung der Phantasie, sie errichtet Sprachbarrieren, produziert eine spezifisch ausschließende Betriebsöffentlichkeit und hält bei jeder Blockierung von öffentlicher Erfahrung, die nicht von ihr ausgerichtet ist, inne« (ebd.: 434).

Leider muß das Materialistische des Instinktes auch hier wieder bestritten werden, denn wenn man sich historisch umschaut, wo denn diese Erkenntnisarbeit sich als Einheit darstelle, so kann man leichthin auf Goethe verfallen, wenn auch nicht die Realperson, sondern die Goethe-Konstruktion Wilhelm Diltheys, in der Goethe genau für diese totalitäre Einheit steht, und wo es über dessen Werk und Leben heißt: »Alles Substantiale ist aufgelöst in die Melodie des Lebens« (Dilthey 1985: 184). Da hat sich die trauliche Verbindung hergestellt – wenn auch nur in Diltheys Konstruktion, in der auch gern gilt, daß »das Leben in seiner Fülle und Harmonie aus ihm selber zu verstehen« (ebd.: 186) sei. Logisch, wenn es an anderer Stelle heißt: »Von dem Erforschbaren laufen die Linien ins Unerforschliche, denn nichts ist starr und abgeschnitten in diesem Geiste« (ebd.: 176). Gesetzt den Fall, besagter Geiste wäre unbewegter, liefen die Linien doch ins Unerforschliche, da das Leben selbst immer schon beweglich und vernetzt ist. Um die Beweglichkeit des Lebens und der Geschichte, die Dynamik von Prozessen bedarf es schlichterdings komplexerer Kategorien als solch kategorialer Nebelwerfer wie Leben, es braucht statt dessen Kategorien, die mitunter bioder polyfunktional sind, damit in der Lage Variation und Modifikation angemessener darzustellen, was man beispielsweise mustergültig an den von Deleuze/Guattari im »Anti-Ödipus« oder in »Tausend Plateaus« entwickelten Begriffen wie Wunschmaschine, Nomade, Immanenz- oder Konsistenzplan zeigen kann. Negt und Kluge kennen zumindest den erstgenannten Titel und verwehren sich explizit gegen dessen begriffliche Zumutungen und die anderer Autoren wie Leibniz, Kleist, Fließ oder Mumford, indem sie die Maschinenterminologie nicht in ihrer Funktionalität betrachten, sondern sie folgendermaßen interpretieren: »Die unsichtbare Maschine ist Menschheits- und Geschichtsmaschine, solange die Herrschaft des Produkts über die Produzenten besteht. Der Vorbehalt, daß nicht Mega-Leben gesagt werden kann, trifft das wirkliche Verhältnis. Die Begriffe beharren auf Einlösung« (Negt/Kluge 1981: 298).

160 | Christian Jäger Der Vorwurf, die Theorien drückten lediglich die entfremdete Wirklichkeit in entsprechenden Begriffen aus, impliziert die doppelte Fehlannahme, es gebe Entfremdung und es gebe ihre Aufhebung im Mega-Leben, was das gesamte Gefälle von Latenz und Manifestation einschließt, das die Konstruktion zusammenhält und zugleich ihr Problem darstellt. Nur weil es Latenz gibt, können dort Kräfte wie der Eigensinn vermutet werden, und nur weil der Eigensinn latent ist, gibt es das Problem seiner Herleitung. Wäre er evident oder manifest, würde sich das Problem nicht stellen. Deleuze/Guattari postulieren für ihr Denken radikalen Immanenzcharakter und suchen, die Konstruktion solch säkularer Transzendenz zu vermeiden, ohne deshalb den politischen Horizont aufzugeben. Sie schaffen eine eigenartige Synthese aus historischem Materialismus und Anleihen an den Vitalismus Nietzsches und Bergsons, der wesentlicher präziser Prozessuales kategorial umsetzt, als es Negt und Kluge mit ihrer eher ungewollten Affinität zu zweit- und drittklassigen Vitalisten wie Dilthey und Kolbenheyer gelingt, mit denen gemeinsam sie sich auch noch den Vorwurf der Intelligenzverachtung einhandeln. Denn nichts anderes stellen die oben zitierten Passagen zur Intelligenzarbeit dar, die mit ihrem diffusen Postulat nach der Einheit von Leben und Denken plus allseitiger Orientierung, eine Differenz einführen, die nur von einem eigenartigen idealistischen Standpunkt aus gegeben ist. Schließlich speist sich alles Denken aus dem Leben desjenigen, der denkt, gehen Affekte und Idiosynkrasien ebenso wie Erfahrungen und Schmerzen etc. in Denken ein, selbst wenn sich dies als objektiv zu behaupten sucht. Leben vermittelt sich eben im Denken, genauso wie sich bestimmte komplexe theoretische Produktionen über verschiedene Transmitter wie Hochschulen, Schulen, Sachbücher, populärwissenschaftliche Artikel und Sendungen der gesamten Gesellschaft zur Verfügung stellen. Diese Vermittlung ist keineswegs Zeugnis einer gesellschaftlichen Entfremdung der Intelligenzarbeit, sondern ist der Ausdruck einer sozialen Differenzierung, die Intelligenzarbeit in dieser Form überhaupt erst ermöglicht. Es wäre eine eigenartige Komplexitätsreduktion, spezialisierte und Grundlagenforschung preisgeben zu wollen zugunsten einer unmittelbar sozial verwertbaren Wissensproduktion, der sich dann natürlich Negt und Kluge gleichermaßen zu unterwerfen hätten. So wie sie ein Zwangsverhältnis der Zerrissenheit ausmachen, läßt sich auch ein Zwangsverhältnis der harmonischen Totalität identifizieren, das Ansprüche generiert, die zwar als natürlich behauptet werden, zugleich aber unmenschlich sind, da die harmonische die konstitutive Vielfältigkeit und Differenziertheit unterschlägt. Die Mannigfaltigkeit der Menschen und des Menschen wird immer Risse produzieren, die nicht in harmonischer Ganzheit aufzulösen sind. Abgesehen davon ist die Kausalität – aufgrund von Zerrissenheit, Bedürfnis nach und Drängen auf harmonische Einheit – nicht realistisch nachweisbar oder

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nachvollziehbar. Offenbar nimmt sich doch die Mehrzahl von Bürgern nicht als zerrissen war, sondern befindet sich im Einklang mit den Verhältnissen. Dagegen läßt sich leichthin einwenden, das sei genau Beleg der konstatierten Entfremdung, beschreibt aber lediglich den zirkulären Argumentationsmodus, der da in Anschlag gebracht wird. Keine Revolution fand je wegen Entfremdung oder Zerrissenheit statt und es steht auch nicht zu erwarten, daß dies jemals der Fall sein wird. Das kulturelle Unbehagen läßt sich wesentlich eher durch Faschismus oder Islamismus als Krisenformen des Kapitalismus mildern, als daß es einer strukturellen Umwälzung der Herrschaftsverhältnisse bedürfte. Revolutionen ereignen sich von Seiten der Handlungsträger, der revolutionären Subjekte, doch eher weil es eine sehr konkrete und existentielle Not gibt, die keine Alternative zur soziopolitischen Neuorganisation mehr offenläßt. Daß bei Negt und Kluge lediglich die Begriffe auf Einlösung beharren, ist verräterisch genug. Doch wird mit einiger Apodiktik das Beharren schließlich doch in Subjekte verlagert: »Vielmehr geht es um eine Umproduktion von nichtidentischen Verhältnissen in identische, vermöge der Selbstregulation von Erfahrung. Es besteht ja gar keine Wahl, wie es die Vorstellung eines Sollens fingiert. Menschliche Identität ist vielmehr mindestens im Verhältnis von gesellschaftlicher Nichtidentität und identischem Zusammenhang der Grundbedürfnisse des Menschen – dieser Zusammenhang hat ohne willentliches Zutun der Menschen seine Bedürfnisse und Tendenzen – eine Überlebensfrage, und zwar nicht in der abstrakten Gestalt, ob ich mich entschließe zu leben oder zu sterben, sondern dahingehend, ob das eine wie das andere eine Quälerei ist, ich also auch die Selbstbestimmung darüber, wie ich absterbe, gar nicht habe. Wir behaupten, das es gegen dieses Zwangsverhältnis eine natürliche Gegenwehr gibt, also nicht Naturtrieb, nicht ein Sollen, sondern ein Protestgefühl« (ebd.: 510).

Der Protest speist sich folglich aus einer harmonisch-identischen Natur der menschlichen Bedürfnisse, die gegen die Nichtidentität des Gesellschaftlichen ihren Protest erheben, damit die Gesellschaft wie das natürliche Grundbedürfnis der Individuen werde. Wiederum behaupten wir das Gegenteil und sagen, zum einen ist das Individuum samt seiner Bedürfnisse immer schon gesellschaftlich und zum anderen stehen diese Bedürfnisse nicht in einem identischen Zusammenhang; zumindest zweitgenanntes dürfte bei ein klein wenig Introspektion recht deutlich werden. Auch die unmittelbare sich anschließende Illustration vom Leben und Sterben wirkt wenig realitätsnah, denn man kann es sowohl in der Hand haben, wie man stirbt, als auch sich zu der Quälerei des Lebens verhalten, was dann gemeinhin politisches Handeln genannt wird, wobei historisch evident ist, daß es eine Selbstbestimmung im emphatischen Sinne weder über das eine noch das andere je geben kann, da das Selbst immer auf den gesellschaftli-

162 | Christian Jäger chen Stand der Entwicklung verwiesen ist. Kurzum, bei einigermaßen pragmatischem Überdenken der Postulate an Identität, Selbstbestimmung, Eigensinn kommt immer wieder das Kollektiv in den Blick, die Sozialität, die dem Individuum auferlegt, sich zu ihr und in ihr zu verhalten, nach genau den objektiven Maßgaben ihrer Konstitution, mithin im Heteronomen, in differenzierten Gemengelagen. Und nur aufgrund der Differentiation, der Vielzahl von Widersprüchen, Gegensätzen und Devianzen in Individuum und Gesellschaft kann man sich verhalten. Damit ist nichts über die Chancen und die Wirksamkeit des Verhaltens gesagt, die eine ganz andere Dimension berühren, rein die Möglichkeit ist damit ins Auge gefaßt. Die Frage der Funktionalität oder Effektivität des Verhaltens richtet sich nach den historischen Machtkonstellationen und den Möglichkeiten, den herrschenden Kräften eine gleichstarke oder stärkere Gegenkraft entgegenzusetzen bzw. sich dem Zugriff herrschender Kräfte zu entziehen. In jedem Fall erfordert Widerstand, wenn wir diese Bewegungen des Entgegensetzens bzw. sich Entziehens so bezeichnen, Preisgabe von Eigensinn zugunsten eines Gemeinsinns, womit kein Altruismus und keine Opfermentalität gemeint sind, die sich selbst zurücknimmt, um etwas Größeres zu erreichen, sondern eine Entscheidung aus dem Abwägen, welche Prioritäten das Ich umsetzen will, was ihm wichtiger ist, ein persönliches Glück in miserabler Gesellschaft oder persönliches Glück in einer besseren Gesellschaft. Kann Ich glücklich sein, umgeben vom Unglück anderer oder bedarf Ich, um glücklich zu sein, einer glücklicheren Umgebung, so lauten die schlichten Fragen, die jeder und jede für sich beantworten mag, wie er will und kann. Denn ohne solch Voluntarismus jenes historischen Bewußtseinszustandes, den wir hier Ich nennen – trotz aller Sympathie für die Unrettbarkeit des Begriffs der Macht – stellt sich für politische Pragmatik die Frage so und nicht anders. Es bedarf keiner Herleitung anthropologisch-historischer Konstanten, die den Widerstand gegen eine Gesellschaft notwendig machen oder begründen, es braucht die Antwort der einzelnen Bewußtseinszustände auf die angeführten Fragen, um zu einer realistischen Politik zu kommen, die niemanden im Namen menschlicher Natur oder Identität entmündigt. Schon Althusser hat das politische Grauen im theoretischen Humanismus verortet, und ebenso wie seiner Analyse wohl beizustimmen ist, so ist auch das folgerichtige Postulat, daß der Marxismus ein theoretischer Antihumanismus sein/werden müsse, zu bejahen. Eine Position die in der deutschen Tradition im Kontext der Kritischen Theorie durchaus anschlußfähig erscheinen müßte, gilt doch Adornos Jargon der Eigentlichkeit als große ideologiekritische Leistung, die das dunkle Geraune vom eigentlichen Wesen genau als solches ausweist. Dort findet sich eine Passage, die frappant die Destillation des Eigensinns zu beschreiben scheint:

Eigensinn, Eigentlichkeit und Eigentum | 163 »Der Mensch ist die Ideologie der Entmenschlichung. Aus jenen Kategorien, die an einigermaßen naturwüchsige gesellschaftliche Verhältnisse mahnen, wo die Institutionen des Tauschs noch nicht über die Beziehung der Menschen alle Macht haben sollen, wird herausgelesen, ihr Kern, der Mensch, sei in den zeitgenössischen Menschen unmittelbar gegenwärtig, sein Urbild zu realisieren. Vergangene vorarbeitsteilige Formen der Vergesellschaftung werden erschlichen als selbst ewige. Ihr Abglanz fällt auf Zustände, welche einmal Opfer fortschreitender Rationalisierung wurden und ihnen gegenüber die menschlicheren dünken« (Adorno 1964: 52).

In der Tat lag ja in den frühen Formen der Vergesellschaftung der Keim des Protests oder Eigensinns, der ewig sich widersetzt, und der zugleich eine andere ideologische Figur des Jargons wahrmacht, der zufolge »die Macht, vor der das Subjekt in seine Höhle flüchtet, […] nichts über es« (ebd.: 61) vermöge. Zwar vermag Macht etwas über die Subjekte bei Negt und Kluge, doch erreicht sie nicht jenen eigentlichen Kern des Widerstands, der in seiner latenten Omnipräsenz geschützt ist. Der Eigensinn erhält etwas vom unveräußerlichen Eigentum der Subjekte im Sinne der Unterworfenen, an dem sich der geschichtliche Gegenpol der Herrschaft identifizieren läßt und der zugleich permanenter Gegenstand von Machtausübung ist, die versuchen muß dieses Eigentum sich anzueignen, es zu deformieren, auf daß die herrschenden Verhältnisse selbst nicht gefährdet werden. Indem dem Eigensinn diese Qualität zugewiesen wird, ähnelt er dem Stirnerschen Eigentumsbegriff (vgl. Stirner 1981), der gleichermaßen nicht auf eine Materialität des Besitzes verwiesen ist, sondern sich als wiederum unveräußerliche Einzigkeit des Einzelnen darstellt, analog der Kolbenheyerschen Eigentümlichkeit. Während die Eigentumsbegriffe Kolbenheyers und Stirners jedoch an der entfalteten Individualität bildungsbürgerlicher Subjekte orientiert sind – ein Vorstellungshorizont, dem sich noch Adornos Idealsubjekt, das das Maß seiner Kritik liefert, zurechnen läßt –, soll das Subjekt bei Negt und Kluge ja klar das historische Subjekt Proletariat sein, um dessen Öffentlichkeit es in »Öffentlichkeit und Erfahrung« ging. Das Subjekt erhält ein befremdliches Vorbild in der Hauptfigur des Märchens vom eigensinnigen Kind: »Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen; und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und die Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht und das Ärmchen kam wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zu Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen,

164 | Christian Jäger und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde« (Negt/Kluge 1981: 369).2

Negt und Kluge mutmaßen nun, im Schicksal des Kindes seien Spuren einer kollektiven Revolte aufgezeichnet, Zeichen einer Erhebung und des Terrors ihrer Niederschlagung. Im Privaten, Individualgeschichtlichen erscheinen mithin Mitschriften des Kollektiven, die bei genügend spekulativem Geschick dem Interpreten verraten, was da eingeschrieben wurde. In diesem Fall setzt das Sprachspiel den Eigensinn des Kindes in das Eigentum an den fünf Sinnen um, die enteignet werden. Deren kollektive Enteignung aber nicht glückte, so daß zum einen das Kind überhaupt ›eigensinnig‹ sein kann, zum anderen aber die Strafe exerziert werden muß (vgl. ebd.: 766). Befremdlich mutet bei dieser Interpretation des Kindes als Impersonator geschichtlichen Eigensinns mindestens zweierlei an: Erstens, daß es um das Privateigentum an Sinnen geht, die stets – abgesehen von körperlichen Defekten – zuhanden sind, so daß der Streit, um die mit den Sinnen verknüpfte Bedeutungsproduktion verknüpft sein müßte, sich auf die Interpretationshoheit an den Sinnesdaten drehen müßte; zweitens, daß sich das historische Subjekt aufs Register Kind gesetzt findet, offenbar selbst noch unreif, in seiner Entwicklung parallel geführt mit der ontogenetischen Infantilität, was im Kontext behaupteter Autonomie des Kindes wenig Sinn macht, denn worum es im Märchen doch eher geht, ist eine Erziehungsproblematik: Die Mutter muß die Sanktion, die sie bei Lebzeiten nicht vollzog, nach dem Tod des Kindes vollziehen, da sie durch ihr Versäumnis, auf die soziale Integration des Kindes zu insistieren und diese durchzusetzen, letztlich das Ableben ebenso verschuldet hat wie die Unruhe des untoten Kindes. Erst ihr nachträglicher Tribut an den Gemeinsinn kann dem Kind den Seelenfrieden geben, den es das Laisser-faire seiner Mutter gekostet hat. So läuft die Kritik an Negt/Kluge über zwei Seiten der gleichen Medaille, denn die Überbetonung des (Privat-)Eigentums und die Vernachlässigung eines Kollektivsinns sind Kopf und Zahl eines Besitzindividualismus, der in der bürgerlichen Gesellschaft die Subjektkonzeptionen meist zum idealtypischen Ausdruck der ökonomischen Verhältnisse werden läßt (vgl. dazu Macpherson 1967). Um so fataler, wenn diese auch noch auf das Proletariat hochgerechnet wird, verbunden mit dem Diktum »es ist zur Zeit nichts Gemeinsames möglich« (Negt/Kluge 1981: 764). Auf diese Weise landet die kritisch intendierte Mission von Geschichte und Eigensinn schließlich in der Affirmation des Status quo, der zu ertragen ist dank des Trostes, der im latenten Eigensinn liegt – Hoffnung sieht anders aus. Gründe für das Scheitern der Kritik liegen also im unreflektierten Rekurs 2 | Vgl. auch die Abb. 720 und die Wiederholung des Märchens 765f.

Eigensinn, Eigentlichkeit und Eigentum | 165

auf lebensphilosophische Theoreme, idealistische Traditionen und einen sich zur gegebenen Gesellschaft affirmativ verhaltenden Subjektbegriff. Es fehlt an einem neuen wagemutigen Entwurf eines Kollektivsinns, eine Scheu vorm Einklagen eines Verzichtes auf Individualität, deren Preisgab zugunsten einer Gemeinschaft offenbar vorm Hintergrund faschistischer Entwürfe der Volksgemeinschaft perhorresziert wird. Wenn aber etwas die Tradition der Arbeiterbewegung kennzeichnete, dann dieses Moment der Solidarität, die das emphatische Selbst zurücknahm zugunsten der Durchsetzung kollektiver Ziele, die zugleich persönliche waren. Man kann vielleicht am ehesten überzeugender Kritiker der bestehenden Verhältnisse sein, wenn die künftigen nicht im Horizont abstrakter Gerechtigkeit oder eines unvermittelbaren Altruismus stehen, sondern Ausdruck eines egoistischen Wunsches ist: Eine andere Gesellschaft wollen, weil man die Hoffnung hegt, sich in ihr glücklicher zu fühlen. Dafür kann man auf die unnütze Profilierung von Individualität auch mal verzichten, zumal wenn man das alte Marxsche Skriptum ernst nimmt, daß Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit bedeute. Das ängstliche Beharren auf Eigentum, Eigentlichkeit oder Eigensinn hat mit dieser Freiheit so wenig zu tun wie mit einer neuen Politik, womit sich der Kreis zu den vorstehenden Zitaten schließt.

Literatur Adorno, Theodor Wiesengrund (1964): Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt/M. Althusser, Louis (1974): Für Marx, Frankfurt/M. Deleuze, Gilles/Guattari Félix (1974): Anti-Ödipus, Frankfurt/M. Deleuze, Gilles/Guattari Félix (1992): Tausend Plateaus, Berlin. Dilthey, Wilhelm (1985): Das Erlebnis und die Dichtung, Göttingen. Hegel, Georg Wilhem Friedrich (1986): »Phänomenologie des Geistes«. In: Ders., Werke, Band 3, Frankfurt/M. Jäger, Christian (2000): »Zonenrandgebiet. ›Zu Oskar Negts und Alexander Kluges Geschichte und Eigensinn‹«. In: Internationales Jahrbuch für Germanistik, 1/2000, 104-125. Kojève, Alexandre (1975): Hegel, Frankfurt/M. Kolbenheyer, Erwin Guido (1925): Die Bauhütte, München. Macpherson, Crawford B. (1967): Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt/M. Marx, Karl (1971): Nationalökonomie und Philosophie. In: Ders., Frühschriften, Stuttgart. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1957): Die heilige Familie. Zur Kritik der kritischen Kritik. MEW Bd. 2, Berlin.

166 | Christian Jäger Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1972): Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt/M. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1981): Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. Stirner, Max (1981): Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart.

Verdinglichung und emanzipatives Bewußtsein | 167

Verdinglichung und emanzipatives Bewußtsein Harald Kerber

Gewidmet Theodor W. Adorno, geb. 11. September 1903, gest. 6. August 1969

Im Oktober 2001 sind bei »Zweitausendeins« zwei Sammelbände mit dem Titel: »Der unterschätzte Mensch« von Oskar Negt und Alexander Kluge erschienen. Im Untertitel wird dieses Unternehmen als »Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden« charakterisiert. Der erste Band beginnt mit der Darstellung von »Momentaufnahmen aus unserer Zusammenarbeit«, geschrieben von Alexander Kluge zum fünfundsechzigsten Geburtstag von Oskar Negt (vgl. auch Lenk/Rumpf/Hieber 1999: 25-41). Entsprechend der Zusammenarbeit von Negt und Kluge finden sich in den beiden Bänden die Thematiken: »Suchbegriffe TV-Gespräche«, »Öffentlichkeit und Erfahrung« (Kluge 1972), »Maßverhältnisse des Politischen« (Bd. I) und »Geschichte und Eigensinn« (Bd. II). Im Vorspann zu »Öffentlichkeit und Erfahrung« wird vermerkt, daß die »wichtigsten, auch die größten Mengen an ERFAHRUNG […] die Menschen in der Intimität (Aufwachsen, Liebe, Verlust) und in der Arbeitswelt« machen. Beides sei »privat«, »ÖFFENTLICHKEIT und damit die Gemeinwesen« müßten mit den »restlichen Energien, […] die vom Lebenskampf übrig bleiben«, auskommen, was sie »anfällig« mache. Öffentlichkeit ist die »einzige« den Autoren »bekannte Produktionsform von gesellschaftlicher Erfahrung«. Ohne sie gibt es nach ihnen auch »keine konsistente private Erfahrung« (vgl. Negt/Kluge 2001). Durch diese programmatischen Sätze ist der Inhalt dieses Buches, das in der Erstausgabe 1972 erschienen ist, grob umrissen, wobei der Erfahrungsbegriff gegenüber vorgegebenen theoretischen Einstellungen zentral ist, sich für die Autoren Theorien aus Erfahrungen speisen und es für sie eine Art Gegenläufigkeit in der Erfahrung

168 | Harald Kerber von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, in etwa zusammenfaßbar unter dem Begriff der Verdinglichung und dem der Emanzipation, gibt. Unter dem Gesichtspunkt, daß, anders als z.B. in der Systemtheorie bei Luhmann, die bestehende Gesellschaft durch widersprüchliche Strukturen geprägt ist, in denen sich die Selbsterhaltung der Gesellschaft gegenüber den Möglichkeiten ihrer Veränderung ausdrückt, erfolgt mit Blick auf die Gesellschaft implizit und explizit ein ausdrücklicher Rekurs auf die Marxsche Theorie. Die heutige – damals westliche – Gesellschaft, verstanden als bürgerliche und kapitalistische, hat danach einen historisch-transitorischen Charakter. Im Gedanken des Unterschieds zwischen toter und lebendiger Arbeit und der Herrschaft der toten über die lebendige drückt sich für die Autoren entsprechend die gesellschaftliche Vermitteltheit des Widerspruchspotentials gesellschaftlicher Erfahrung aus, welches die gesamte Gesellschaft durchzieht, aber in den festgeronnenen Strukturen von Herrschaft und Unterdrückung eine je andere Valenz erhält, nämlich einerseits charakterisiert durch die Herrschaftssicherung des gesellschaftlichen Seins und Bewußtseins bürgerlicher Hegemonie und andererseits durch Ohnmachtserfahrungen und Emanzipationsprozesse im proletarischen Sein und Bewußtsein, das sich gegen die bürgerliche Öffentlichkeit als öffentliches und darin in nuce als emanzipatorisches zu artikulieren versucht. Lebendige Arbeit tritt hier gegen die tote an (vgl. auch Negt 2002), die in ihrer Verselbständigung nicht mehr als geronnener Vergegenständlichungsprozeß begriffen ist, sondern als autochthon. Man hört hier aus der Argumentation der Autoren einerseits das Herr-Knecht-Kapitel aus der »Phänomenologie des Geistes« von Hegel heraus, andererseits die Marxsche Kritik an Hegels Identifikation von Vergegenständlichung und Entfremdung und am absoluten Subjekt der Hegelschen Philosophie. In der Differenz von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit spiegelt sich danach, daß die bürgerliche Öffentlichkeit eine Art Scheinaufhebung widerstreitender Orientierungen beinhaltet und damit in sich Herrschaft impliziert, während im Gedanken der proletarischen Öffentlichkeit über Herrschaft die Aufhebung von Herrschaft mit einbegriffen ist. Der Erfahrungsbegriff, der in »Öffentlichkeit und Erfahrung« gemeint ist, ist also nicht identisch mit einem analytischen Erfahrungsbegriff, sondern verdankt sich eher hermeneutischen bzw. tiefenhermeneutischen Konnotationen. Er hat einen, bezogen auf das Proletariat, kollektiv-aufklärenden Charakter über die Widerspruchsstruktur der bürgerlichen Gesellschaft. Durch ihn werden Blockierungen zugunsten eines emanzipativen Handelns aufgelöst. Der Begriff des Proletarischen, der hier für die Autoren gegen die bürgerliche Öffentlichkeit eine Rolle spielt, meint die Form einer Produktionsöffentlichkeit als Selbstproduktion von Lebenszusammenhängen, die, aus der Objektrolle befreit, die gesamte prädominante

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Struktur der Gesellschaft über die interagierenden Individuen in deren eigene Handlungsorientierungen zurückholt und sie dadurch auflöst. Hier spielen, unter dem Signum lebendiger Arbeit gegen die tote, unterschiedliche Zeitorientierungen eine Rolle. In Verdinglichungszusammenhängen erfährt sich der Einzelne als vereinzelter Einzelner, in Lebenszusammenhängen, die im Verhältnis zur verdinglichten Struktur der Gesellschaft den Charakter des Protestes haben, entwickeln sich Kollektivität und Solidarität. Der Begriff der Verdinglichung, der nach Marx im Wertbegriff als einem automatischen Subjekt kulminiert, kennt im eigentlichen Sinne keine Zeitstrukturen. Gegenüber der Gebrauchswerteigenschaft der Dinge und der menschlichen Lernprozesse (vgl. Negt 1975) dominiert in der Warengesellschaft ihre Tauschwerteigenschaft, die zurückweist auf ihre Eigenschaft als Wert. Das ist konnotiert mit relativer Zeitlosigkeit. Die abstrakte Zeit durchdringt alle gesellschaftlichen Sphären als herrschende. Die Autoren kommen hier, vermittelt durch die Thematik der sog. – damaligen – antiautoritären Erziehung, auf das Phänomen der Selbstregulierung zu sprechen, das gegen solche Abstraktion nach ihnen quasi einen Damm bilden könnte, was sich aber jeweils und immer wieder neu an der Warenstruktur bricht bzw. brechen kann. Dagegen gilt, daß die »Zeitstruktur von Erfahrungen, die in realen Kampfsituationen gemacht werden«, die »zeitliche Kontinuität« aufsprengen, so »daß Verdinglichungen, Blockierungen des Bewußtseins und das Verhalten der Massen, wie sie unter normalen Bedingungen in jahrelanger Aufklärungs- und Erziehungsarbeit nicht überwunden werden könnten, ganz plötzlich wie Schalen abfallen«. »Solidarität […] stellt sich sozusagen selbstverständlich ein« (Negt/Kluge 2001: 614). Erkenntnis und Erfahrung hängen zusammen. Gesprochen wird von »Erkenntnistriebe[n]« (ebd.: 365), die im Zusammenhang mit Arbeit und der »Hemmung von Antrieben des primären Raubverhaltens« (ebd.) zustande kommen. Man denke an Hegels Begriff der Arbeit als gehemmte Begierde bzw., wie die Autoren, an Habermas und an den durch ihn dargestellten Zusammenhang von »Erkenntnis und Interesse«, dem technischen, praktischen und emanzipativen Interesse, wobei das technische mit Herrschaft verbunden sein kann. Jedenfalls erwachsen nach ihnen Theorien aus einem bestimmten Interessengrund, der auf einen bestimmten triebökonomischen Haushalt zurückreicht und wonach, je nach Stellung in der Gesellschaft, Legitimations- und Emanzipationstheorien entstehen können, wobei dann letztere in Hinsicht auf das Proletariat den Charakter annehmen, »die Blockierung seines [des Proletariats, H. K.] Lebenszusammenhanges zu durchbrechen« (ebd.: 369). Die Arbeiter müssen, wie es an anderer Stelle heißt, »den hochdifferenzierten Organisationsprozeß von gesellschaftlicher Erfahrung, der in den wenigen geglückten Formen von Gesellschaftstheorie akkumuliert ist, in den Formen ihrer besonderen Ausdrucks-

170 | Harald Kerber und Erfahrungsweise wiederholen«, was nur »im Rahmen einer proletarischen Öffentlichkeit« erfolgen könne. Damit ist für die Autoren das eingeholt, was Marx in dem Diktum festhält, daß sich nicht nur der Gedanke zur Wirklichkeit, sondern auch diese zum Gedanken drängen müsse. Es geht hierbei um eine Art Wechselwirkung von »unmittelbarer und vermittelter Erfahrung« als Verhältnis von »empirischer Arbeiteröffentlichkeit und der übergreifenden Kategorie der proletarischen Öffentlichkeit« als Form der Aufhebung einer »blockierten Erfahrung« (ebd.: 372). Die Aufhebung blockierter Erfahrung müßte, konsequent zu Ende gedacht, in der Weise als identisch mit dem Begriff der proletarischen Öffentlichkeit gesetzt werden, daß diese im Zuge ihrer Etablierung sich mit der Emanzipation der Gesellschaft von der Kapitalstruktur sukzessive selbst auflöst. Sie erweist sich innerhalb dieses Prozesses, bezogen auf die Nahtstelle zwischen kapitalistischer und nachkapitalistischer Gesellschaft, zunächst als eine – notwendige – theoretische Konstruktion. Und entsprechend vertreten die Autoren die These, daß die »Kategorie der proletarischen Öffentlichkeit […] auch dann entwickelt werden« müßte, »wenn ihr empirisch in der Lebenssituation der Proletarier nichts entspräche« (ebd.: 376). In Hinsicht auf den Prozeßcharakter der proletarischen Erfahrung und des proletarischen Bewußtseins reichert sich diese Öffentlichkeit – und sie muß es – als Ausdruck der Form einer widerständigen Realität gegen die bürgerliche selbst mit Realität an. Sie hat Prozeßcharakter und bezeichnet so »den jeweiligen Stand der Emanzipation der Arbeiterklasse« (ebd.: 377). Sie ist dabei in etwa auf das zu beziehen, was in der Marxschen Tradition unter Klassenkampf und Klassenbewußtsein verstanden wird. Die Autoren wenden sich aber gerade darin z.B. gegen die Klassenbewußtseinstheorie von Lukács, daß dieser sich nicht auf Erfahrungsprozesse beziehe, sondern den Begriff des Proletariats und des Arbeiters »aus dem zum Subjekt der historischen Veränderungen gemachten Proletariat[s]« (ebd.: 623) deduziere. Das identische Subjekt-Objekt, von dem Lukács dabei in Hinsicht auf das Proletariat als Klasse für sich, d.h. als Bewußtwerdung der Ware Arbeitskraft und darin der Bewußtwerdung über die kapitalistische Produktionsstruktur, ausgeht, ist einem Hegelianismus geschuldet, den die Autoren in dieser Weise nicht mitmachen, obwohl sie, ähnlich wie Lukács, von der Kategorie der Totalität in Hinsicht auf die bürgerliche Gesellschaft ausgehen. Sie wenden sich gegen die Vorstellung, als könne man »Klasse an sich und Klasse für sich voneinander trennen« (ebd.: 665), und es wird betont, daß »bei aller Bedeutung der subjektiven Elemente im realen Klassenkampf die Klassen prinzipiell auf Bewußtsein, Einstellungen usw. nicht gegründet werden können« (ebd.: 665). Verwiesen wird aber auf die subjektive Vermitteltheit objektiver Prozesse. Dergestalt tritt dann die proletarische Öffentlichkeit quasi an die Stelle

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eines Großsubjekts,1 wie es dem Hegelschen Denken abgeguckt ist. In der Öffentlichkeit werden die empirischen Subjekte nicht entmächtigt, obwohl sie, wie gezeigt wird, gegenüber dem empirischen Arbeiterbewußtsein, das quasi in der Objektrolle verharrt, einen Subjektcharakter und damit eine Art Identität beinhaltet. Im Unterschied zur proletarischen Öffentlichkeit bleibt die empirische Öffentlichkeit der Arbeiterklasse im Lagerdenken befangen. In solchem Lagerdenken – Proletariat versus Bourgeoisie – ist die Asymmetrie in der Struktur zwischen dem Produktionsmittelbesitz und Nichtbesitz relativ ausgeblendet. Die Lager erscheinen gleichsam als gleichrangige Positivitäten. Die proletarische Klasse ist aber vielmehr, so die Autoren, objektiv, vermittels ihrer Klassenlage, an der Veränderung der Gesellschaft orientiert. Es zeigt sich hierin dergestalt ein widersprüchliches Verhältnis von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, daß erstere die Arbeiterklasse nicht zu ihrer eigenen Interessenartikulation kommen läßt, und daß andererseits über die proletarische Öffentlichkeit die Machtstrukturen des bürgerlichen Staates umzufunktionieren sind. Es wird hierbei auf zwei Bewegungen der Arbeiterklasse Bezug genommen: »1. sich der Öffentlichkeit zu bemächtigen, […] um ihre Besetzung durch den Klassengegner zu verhindern; 2. eine Gegenöffentlichkeit der Arbeiterklasse aufzubauen« (Negt/Kluge 2001: 574). Die Bildung einer proletarischen Öffentlichkeit hat entsprechend nur über die Kontrolle der bürgerlichen Öffentlichkeit eine Chance auf Stabilität. Ansonsten, unter dem Gesichtspunkt des Lagerdenkens, dauern nur die Niederlagen der Arbeiterklasse an.2 Der proletarische Lebenszusammenhang wird, wie Negt und Kluge darstellen, vom Kapitalismus ständig erzeugt (vgl. ebd.: 671f.). Er ist er »zunächst negativ bestimmt«, als, wie schon angedeutet, »ein Blockierungszusammenhang« (ebd.: 672). Für die proletarischen Eigenschaften gilt hier unter »entfalteter kapitalistischer Herrschaft […]: Sie sind unter dem Gesichtspunkt der Nicht-Emanzipation etwas Zusammenhängendes, unter dem Gesichtspunkt der Emanzipation etwas Nichtzusammenhängendes« (ebd.: 673). Die proletarische Öffentlichkeit hat hier den Charakter, die im Kapitalismus unterdrückte Sinnlichkeit als Prozeß des Zu-sich-selbstKommens zu etablieren, verstanden als »zusammenhängende menschliche Sinnlichkeit« (ebd.: 674). Der proletarische Lebenszusammenhang bleibt dabei in sich selbst widersprüchlich. Eine faktisch lineare Stärkung der proletarischen Bewegung gibt es nicht. Die Etablierung einer Gegenöffentlichkeit zur herrschenden hat selbst eine widersprüchliche Struktur. An dieser Schnittstelle von negativer und emanzipativer Erfahrung ist auch die Thematik der Phantasie angesiedelt. Sie kann die Form einer mentalen Flucht 1 | Vgl. auch zum Begriff der Öffentlichkeit Habermas 1990. 2 | Vgl. ebd.: 376 zur Thematik der Nationalsozialismus.

172 | Harald Kerber aus unerträglich bleibenden gesellschaftlichen Verhältnissen annehmen, und es werden »Teile der Phantasie […] als Kitt zur Aufrechterhaltung der entfremdeten Arbeits- und Lebensverhältnisse, der Kultur, absorbiert« (ebd.: 382), sie kann aber auch die Form eines mentalen Vorlaufs der Veränderung solcher Verhältnisse haben. Auch sie erweist sich so als widersprüchlich. Die erste historische Stufe einer proletarischen Öffentlichkeit verstehen die Autoren dabei »als Notwehrorganisation der Arbeiterklasse, in der die proletarischen Eigenschaften der Individuen als verdinglichte zu proletarischen Charakteren zusammengefaßt werden« (ebd.: 411). Die proletarische Öffentlichkeit müsse über diese Stufe hinausgehen, um »zu einer das Ganze umfassenden proletarischen Öffentlichkeit« (ebd.: 413) zu gelangen. Der Staat erscheint dabei nicht als »selbständige Kraft« (ebd.: 419), sondern als »eine spezifische Ebene der Widersprüche der Gesellschaft« (ebd.: 418). Betont wird, daß im – damals von der Linken so genannten – Spätkapitalismus eine »Dezentrierung und Delegation des staatlichen Gewaltmonopols« vorliege, und zwar als »diejenige Form der Systemerhaltung, die den Widersprüchen der spätkapitalistischen Gesellschaftsordnung entspricht« (ebd.: 420). Hier könnten faktisch, so im Bildungs- und Wissenschaftsbereich, linke Inhalte einsickern. Der Staat zeige »die Tendenz, das Bildungsmonopol, das Teilstück seines Gewaltmonopols ist, sukzessive zu delegieren« (ebd.: 422). In Hinsicht auf die Wirtschaft wird entsprechend dargelegt, daß die einzelnen Teilkapitale nicht mehr in der Lage seien, »ihre Integration in einen gesamtwirtschaftlichen Prozeß oder ihren Zusammenhang im Rahmen der gesamtstaatlichen Politik aufeinander abzustimmen« (ebd.: 423). Der Zerfall staatlicher Legitimität und einer gesamtwirtschaftlichen Integration der Einzelunternehmen bedingen danach einander, woraus die Autoren einerseits auf wachsende »Schwierigkeiten des Verwertungsprozesses« (ebd.: 424) mit Bezug auf die wirtschaftliche Organisation unter dem Gesichtspunkt der Produktivkraftentwicklung schließen. Andererseits wird gesehen, daß dem staatlichen Gewaltmonopol auch immer wieder neue Aufgaben zuwachsen und die Konzentration der Wirtschaft zunimmt (vgl. ebd.: 425). Die gesellschaftlichen Widersprüche, so kann daraus wohl geschlossen werden, perennieren eher, als daß sie ihre Auflösung erfahren. Die bürgerliche Öffentlichkeit hat demgemäß den Charakter einer Scheinsynthese, verstanden als »Scheinöffentlichkeit« (ebd.: 428). Das bonum commune bleibt in der bürgerlichen Gesellschaft als einer Gesellschaft von Klassen weitgehend eine Fiktion (vgl. Negt 2002). Die Scheinöffentlichkeit wechselt ständig ihre Kostüme. Gegen eine solche Öffentlichkeit, so die Autoren, »helfen nur Gegenprodukte einer proletarischen Öffentlichkeit« (Negt/Kluge 2001: 433). Sie muß, wie schon dargelegt, dabei in den Erfahrungen der Massen und in der Geschichte verankert sein, und das

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auch darum, um nicht selbst die Tendenz zu Scheinöffentlichkeiten zu entwickeln (vgl. ebd.: 433). Die studentische Öffentlichkeit in der APO von 1968 markierte für Negt und Kluge eine Entwicklung, in welcher weltweit der Imperialismus zum Gegenstand der Kritik zugunsten einer Transformation der Gesellschaft im Namen der Arbeiterklasse wurde. In Hinsicht auf die Studentenbewegung wird auf die Politisierung der Intelligenz als Notwendigkeit für eine »Kooperation mit der Arbeiterklasse« (ebd.: 447) verwiesen. »Gegenöffentlichkeit« und der Verbund der Studenten mit der Arbeiterschaft erscheinen als »Vorform von proletarischer Öffentlichkeit«. Beide, so sahen es die Autoren damals, bilden sich im Verhältnis zur »zerfallenden bürgerlichen Öffentlichkeit«. Die Arbeiterklasse als »Träger der Produktion« ist dabei für sie im Unterschied zu den Studenten »nach wie vor […] das Subjekt einer neuen Gesellschaft« (ebd.: 448). Hier nun, wie auch sonst. scheint sich bei ihnen eine Position durchzusetzen, die eine Art Arbeiterbewegungsmarxismus vertritt.3 Die Arbeiterklasse ist ja selbst Produkt der kapitalistischen Gesellschaft. Sie kann nicht selbst Subjekt einer neuen Gesellschaft sein, und die Bestimmung des Subjekts der Revolution bleibt für die Kritische Theorie, so wie es der frühe Habermas gesehen hat,4 an gesellschaftswissenschaftliche Bedingungsanalysen gebunden (vgl. wiederum Negt 1972). Die Autoren setzen sich mit der Struktur und Funktion des öffentlichrechtlichen Fernsehens im Zusammenhang mit der Privatwirtschaft als »in konkrete Technik umgesetzte bürgerliche Öffentlichkeit« (Negt/Kluge 2001: 453-494) auseinander und sie kommen sodann generell auf die Struktur und Funktion der Bewußtseinsindustrie in Hinsicht auf »die Gesamtware ›Medienverbund‹« zu sprechen. Hier werden, wie gezeigt wird, »die einzelnen Waren Bildung, Unterhaltung, Information zu einem Gesamtkomplex« (ebd.: 496) zum Zwecke der Verwertung zusammengeschlossen. Die Menschen produzieren den Medienverbund, und dieser enteignet ihnen wieder infolge seiner privatwirtschaftlichen Struktur ihre »Produktionseigenschaft« (ebd.: 498). Der Begriff der Bewußtseinsindustrie bezieht sich auf das, was bei Horkheimer und Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« unter dem Titel »Kulturindustrie« figuriert (vgl. ebd.: 501). Der Ausdruck »Bewußtseinsindustrie« selbst findet sich bei Hans Magnus Enzensberger (vgl. Enzensberger 1964). Negt und Kluge gebrauchen diesen Begriff als Oberbegriff für die Öffentlichkeitsarbeit und für die Massenmedien (vgl. Negt/Kluge 2001). Von Wolfgang Fritz Haug übernehmen sie 3 | Vgl. zur Kritik solcher Positionen Kerber 1997; Kurz 1999; Postone 1993. 4 | Vgl. dazu Habermas 1980. Zum Begriff der »Menge« vgl. Hart/Negri 2000.

174 | Harald Kerber diesbezüglich den Begriff der »Illusionsindustrie« (ebd.; vgl. auch Haug 1972). Es lassen sich danach verschiedene Formen solcher Industrie unterscheiden: l. herkömmliche Medien wie z.B. Presse, Film, Volkshochschule, Rundfunk und öffentlich-rechtliches Fernsehen, und 2. werden privatwirtschaftlich organisierte Medien genannt (vgl. Negt/Kluge 2001: 501f.). Der größte Teil der klassischen Medien ist für sie nur formell unter das Kapital subsumiert (vgl. ebd.: 502). Der Mensch werde hier noch »als mündiger einbezogen […], obwohl er als mündiger gesellschaftlich erst hergestellt werden« müsse. Er bleibe faktisch »auf halbem Wege – als gesellschaftliches Halbprodukt – liegen« (ebd.: 504). Die neuen Massenmedien subsumieren für sie dagegen »Bereiche, die bisher eine Domäne der öffentlichrechtlichen Organisation waren, unter das private kurzfristige Kapitalinteresse« (ebd.: 505). Das zeigt sich für sie besonders gravierend im Bereich der Bildung. Der veränderten Form der Bewußtseinsindustrie entspricht danach »eine veränderte Wahrnehmung der Zuschauer«, die vom Produktionsprozeß selbst »vorbereitet« ist. Statt der verdinglichten Form spezialisierter Sinnesfunktionen, wie in Hinsicht auf die klassischen Medien, wäre nun eine Aufmerksamkeit gefordert, die »spezialisiert und ganzheitlich in einem« sei. Ihr synthetischer Charakter habe die Form von Scheinsynthesen (vgl. über diesen Begriff der Scheinsynthese schon oben). Die Verdinglichung ist hier demgemäß, bei zunehmender Undurchschaubarkeit der Verhältnisse, noch prädominanter, totaler. Die Individuen werden, so können die Autoren wohl interpretiert werden, unter diesen Bedingungen derart an die herrschende Produktionsstruktur gebunden, daß diese ihnen als nicht mehr überschreitbares Universum erscheint: zweite Natur als erste. Die permanente Form von Ersatzbefriedigungen als Suggestion einer wirklichen ebnet die Differenz zwischen Ideologie und Realität ein.5 Entsprechend organisiert der Medienverbund im Unterschied zur proletarischen Öffentlichkeit die Einheit der Bedürfnisse und der Sinne »über entfremdete Realität«. Er erweist sich für Negt und Kluge damit als »äußerste Gefährdung jeder Selbstorganisation menschlicher Erfahrungen in den Formen autonomer, proletarischer Öffentlichkeit« (Negt/Kluge 2001: 509). Gesprochen wird hier im Unterschied zur Funktion der klassischen Medien vom »Übergang von der formellen zur reellen Subsumtion« (ebd.: 531). Der Gedanke der Subsumtion wird hier in Erweiterung des Marxschen Gedankens über die Subsumtion des Arbeits- unter den Verwertungsprozeß auch auf die institutionellen Zusammenhänge bezogen. Durch die reelle Subsumtion fast aller Bereiche der Gesellschaft unter das Verwertungsin5 | Vgl. den Artikel Ideologie, in Institut für Sozialforschung (1956): Soziologische Exkurse, Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Frankfurt/M., S. 162-179; vgl. auch Adorno 1990.

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teresse des Kapitals ist erst in totaler Form der Systemzusammenhang der gesellschaftlichen Verhältnisse gegeben. Die Autoren sehen nun aber – und das durchzieht in einem gewissen Sinne die gesamte Arbeit – in der reellen Subsumtion auch der institutionellen, öffentlichen und der Lebenszusammenhänge eine neue Dialektik von formeller und reeller Subsumtion am Werke, wonach das Kapitalverhältnis hier »seine Widersprüche nicht mehr unter rein kapitalistischen Kriterien zu lösen« (ebd.: 533) vermag. Reell subsumierte Bereiche würden sich, so meinen sie, in bloß formell subsumierte verwandeln (vgl. ebd.). Das wird z.B. an der relativen Aufhebung der familialen Sozialisation durch eine mehr gesellschaftlich vollzogene demonstriert und an Tendenzen in der damaligen EWG in Hinsicht auf die Thematik von Zentralisation und Dezentralisierung, so mit Bezug auf das Gewaltmonopol des Staates.6 Es wird, so unter Rekurs auf Marx und auf Claus Offes Disparitätentheorem, auf das Verhältnis von primärer und sekundärer Ausbeutung Bezug genommen. Sekundäre Ausbeutung bezieht sich danach auf das Bewußtsein selbst. Sie ist für die Autoren dadurch bedingt, »daß im Rahmen der primären Ausbeutung ein gesellschaftlicher Reichtum auf Vorrat produziert sein muß, der sich gegenüber dem unmittelbaren Kapitalinteresse zu verselbständigen droht« (ebd.: 535). Solcher Reichtum wird nun nach ihnen sekundär für die Zwecke des Kapitals eingesetzt. Reichtum in seiner universellen Form wird unter Zwang und unter dem Gesichtspunkt zusätzlicher Profitmaximierung angeeignet. Der Zwang, unter welchem sich hier die Individuen bewegen, erscheint als Freiheit. Gesprochen wird aber auch, anders als in der »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und Adorno, von der Möglichkeit einer »gemeinnützigen Gebrauchswertproduktion« schon »innerhalb des Kapitalzusammenhanges«. Hierin sehen Negt und Kluge eine für den Einzelnen »erfahrbar gewordene praktische Kritik an der Selbstverständlichkeit und universellen Geltung des Privateigentumsprinzips« (ebd.: 536). Es geht hierbei vor allem auch um Bereiche, in welchen die Ware Arbeitskraft entsteht, also um »Bildung, Erziehung und Sozialisation« (ebd.: 536f.) und deren Vergesellschaftung. Zur damaligen Zeit entstanden die Gesamtschulen; vorschulische Erziehung wurde zum Thema, und es entwickelten sich Gesamthochschulen bzw. Reformuniversitäten mit ihren emanzipativ ausgerichteten Curricula. Hieran knüpfte sich die Hoffnung – und sie wurde auch teilweise realisiert –, daß, wie ja dann die Protestbewegung in den 1960er Jahren gezeigt hat, die »Massen von Studenten und Schülern Kommunikationsstrukturen ausbilden können, die sich langfristig möglicherweise gegen eine technokratisch abgesicherte Reform der 6 | Vgl. ebd. auch Kap. 2, Zur Dialektik von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, S. 403-457.

176 | Harald Kerber Institutionen wenden« (ebd.: 537). So auch gegenüber dem Medienverbund und der Reprivatisierung von Bildung. Im Weiteren erfolgt ein Eingehen auf die Thematik der Kulturrevolution. Kulturrevolution wird als »radikale Umwälzung der Produktions- und Denkformen, Gewohnheiten und Gefühle« verstanden, »in welchen sich die Lebensinteressen ausdrücken« (ebd.: 517).7 Das gilt für die kapitalistische Produktionsweise wie für proletarische Zusammenhänge. Beide Formen der Kulturrevolution sind dabei einander disparat. Unter Verweis auf das Buch von Wolfgang Fritz Haug: »Kritik der Warenästhetik« wird hier gezeigt, daß »die Energie, die sich in der Wirksamkeit der Illusionen des Warenzusammenhanges befriedigt, potentiell sozialistisch« sei. Formuliert wird, daß die Massen »ihre Erfahrungen« tatsächlich »am Phantasiegehalt der Warenzusammenhänge besser orientieren können als an einer Kunst, die ohne ihre Mitwirkung zustande kommt«. Das bezeichne »eine Aporie gerade auch authentischer Kunst«, könne aber »nicht gegen die Radikalität avancierter Kunstwerke gewendet werden«. Sie blieben »solange ›Statthalter‹ einer autonomen, gesellschaftlichen Erfahrungsgehalt fassenden Phantasierproduktion, wie die Phantasieproduktion der Massen nur in einem Blockierungszusammenhang, als marginalisiert oder vom Kapitalismus organisiert, stattfindet« (Negt/Kluge 2001: 528). Diese Argumentation scheint in etwa zwischen dem Kunstbegriff von Benjamin (vgl. Benjamin 1989) und dem von Adorno zu schwanken, wonach der Begriff der autonomen Kunst als Form negativer Erkenntnis über die Gesellschaft gegen die nichtauratische, die durch technische Reproduktionsverfahren gekennzeichnet ist, gewendet wird, wobei zwischen Autonomie und Aura zu unterscheiden ist. Für die Autoren selbst ist dabei die Statthalterschaft großer Kunstwerke solange gegeben, solange, wie sie sagen, »eine Organisation proletarischer Erfahrung in praktischer Öffentlichkeit gar nicht stattfindet« (Negt/Kluge 2001: 528). Für sie bilden die »authentischen künstlerischen und wissenschaftlichen Ausdrucksformen« einen »organisatorischen Vorsprung vor der Entwicklung der Erfahrung der Massen«, und sie transzendieren andererseits »auch den Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse«, wobei sie aber »weitgehend ohne Adressaten« (ebd.: 528f.) bleiben. Darauf sei also »keine gesamtgesellschaftliche Kooperation« (ebd.: 529) zu gründen. Diese Thematik bezieht sich z.T. auf das Diktum von Adorno, daß »Kunst Kritik von Praxis als Unfreiheit« (Adorno 1970: 172) sei. Andererseits steckt im Emanzipationsgedanken, anders als bei Adorno, wonach Kunst dem beschädigten Leben gegenübertritt und eine Praxis vertritt, die 7 | Vgl. zum Begriff totaler Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse mit Bezug auf den Kapitalismus auch Korsch 1972.

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nach den eigenen Kriterien der Kritischen Theorie noch aussteht, daß die Stellvertreterfunktion von Kunst durch die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse verschwindet und es hier zu einer Realisierung von Wahrheit kommt, nämlich der Versöhnung von Subjekt und Objekt, die in der Kunst im Medium des Scheins vorformuliert ist. Die Autonomie der Kunst bleibt danach, gegen Benjamins Vorstellung von einer Veränderung im Kunstbegriff, solange existent, solange die gesellschaftlichen Verhältnisse ein vor den Individuen vorrangiges Ganzes sind – »Das Ganze ist« nach Adorno »das Unwahre« (Adorno 1997: 57) –, und sie löst sich auf mit der Auflösung dieser Verhältnisse selbst. Authentische Kunstwerke hätten also quasi – etwa im Sinne von Ernst Bloch gesprochen – den Charakter eines Vorscheins für die Möglichkeit realer Emanzipationsschritte. Die Gedankengänge der Autoren über authentische, autonome und Massenkunst scheinen hier aber nicht wirklich ausdiskutiert zu sein. Die Bewußtseinsbzw. Kulturindustrie erzeugt jedenfalls im Unterschied zu gelungenen Kunstwerken eine Blockade im Bewußtsein der Massen. Sie führt zur Adaptation an die bestehenden Verhältnisse und wird, in den Worten von Horkheimer und Adorno, zum »Massenbetrug« (vgl. Horkheimer/Adorno 1947). Die Illusionsindustrie befrachtet das Bewußtsein mit Scheinbefriedigungen. Entsprechend gilt für Negt und Kluge, daß »die politische Linke die Phantasien erst organisieren« müsse, »um sie zur Selbstorganisation zu befähigen« (Negt/Kluge 2001: 530). Der Kapitalzusammenhang selbst, das wird insgesamt thematisiert, ist ein in sich abstrakter Zusammenhang. Wäre die Abstraktion total, dann würde es sich hierbei um »ein insgesamt tote(s) System« (ebd.: 541) handeln. Das System hat diese immanente Tendenz. Bei Adorno ist das mit den Worten ausgedrückt: »Wäre Selbstentfremdung radikal, sie wäre der Tod. Als von Menschen Angestiftetes ist sie auch Schein« (Adorno 1956: 73). Das Kapitalverhältnis drückt sich als ein widersprüchlicher Zusammenhang aus. Für die Autoren gilt hier, daß, gegen die Tendenz, »die bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu verewigen«, der Kapitalismus »sich am Menschen ›verunreinigen‹« muß. Diese Verhältnisse, die – im Sinne von Marx über die Realität des Scheincharakters – als zweite Natur erscheinen, sind wie alle gesellschaftlichen Verhältnisse von Menschen gemachte Verhältnisse und entsprechend auch durch diese aufhebbar. Das Identitätsprinzip, das Gegenstand der Kritik von Adorno ist, erweist sich gegenüber seiner Tendenz zur Totalität als partikular, wodurch Herrschaft ihre eigene mögliche Aufhebung impliziert. Das »Leben« reagiert dagegen, wie es Negt und Kluge sehen, »gewaltsam« (Negt/Kluge 2001: 542). Es muß sich gegen die Verdinglichungstendenzen der kapitalistischen Produktionsweise zum Zwecke der Emanzipation zunächst als proletarische Öffentlichkeit organisieren, um sodann auf die Veränderung der gesamten Gesellschaft hinzuzuwirken.

178 | Harald Kerber Diese Thematik, in der allerdings nicht mehr von einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft ausgegangen wird, wird heute unter dem Gesichtspunkt einer kommunikationstheoretischen Wende der Kritischen Theorie von Habermas mit Hilfe der Differenz von Lebenswelt und den Subsystemen zweckrationalen Handelns (Politik und Wirtschaft) diskutiert, sowie unter dem Gesichtspunkt der Gefahr der Kolonialisierung respektive Verdinglichung der lebensweltlichen Zusammenhänge durch die Systemimperative (Macht und Geld), worauf die lebensweltlichen Bezüge mit einer Art von rächender Gewalt reagieren (vgl. Brunkhorst 1983; Habermas 1981). Aus der damaligen Sicht von Negt und Kluge war das Proletariat potentiell noch Subjekt der Emanzipation. Das galt so schon nicht mehr für die ältere Kritische Theorie bei Adorno, und Habermas machte in den 1960er Jahren gegen die Klassenbewußtseinstheorie von Lukács, gegen die sich ja, wie gezeigt, auch die Autoren wenden (Negt/Kluge 2001: 622-624), einen Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Notwendigkeit für die emanzipatorische Praxis (vgl. wiederum Habermas 1980). Die Dimension, daß sich die Kritische Theorie, die Habermas damals als Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht und angesiedelt zwischen Philosophie und Wissenschaft verstand, die Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit emanzipatorischer Praxis durch empirisch-soziologisch gestützte Bedingungsanalysen vorgeben lassen muß (vgl. dazu schon oben), findet in »Öffentlichkeit und Erfahrung« eine indirekte Stütze (vgl. auch Negt 2002). und entsprechend auch, daß das »Subjekt des Emanzipationsprozesses von der Theorie nur empirisch im Rekurs auf bestimmte soziale Richtungen und Strömungen fingiert« (Kerber/Rolshausen 1991: 431) werden kann, ohne daß aber der Proletariatsbegriff selbst preisgegeben wird. Es bleibt noch nachzutragen, daß Habermas mit der »Theorie des kommunikativen Handelns« den geschichtsphilosophischen Horizont zugunsten eines nachmetaphysischen Denkens im Sinne des linguistic turn längst verlassen hat und hierdurch früher eingenommene Positionen mit kritisiert (vgl. dazu vor allem Habermas 1998). Das, was unter einer Kritischen Theorie von der Gesellschaft zu verstehen ist, welcher sich ja auch die Autoren verpflichtet fühlen, müßte sich heute wohl einer erneuten selbstkritischen Diskussion stellen.

Literatur Adorno, Theodor Wiesengrund (1956): Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, Stuttgart. Adorno, Theodor Wiesengrund (1970): Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt/M.

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Die utopische Dimension von Anthropologie und Geschichte bei Oskar Negt und Alexander Kluge Corinna Mieth

In diesem Beitrag möchte ich die utopische Dimension zweier zentraler Kategorien bei Oskar Negt und Alexander Kluge darstellen. Zunächst werde ich kurz klären, was unter der geschichtsteleologischen Perspektive der Utopie verstanden werden kann. Im Anschluß daran soll herausgearbeitet werden, inwiefern die Geschichte bei Negt und Kluge eine utopische Kategorie ist. Es zeigt sich, daß Negt und Kluge die Vorstellung von einem unentfremdeten Leben formulieren, welches die Bedingung des Beginns der menschlichen Geschichte wäre. In einem nächsten Schritt wird die bei Negt und Kluge zugrundeliegende Anthropologie als zweite (implizite) zentrale Kategorie rekonstruiert und auf ihr utopisches Potential hin überprüft. Dies ist notwendig, um die Frage zu beantworten, wie der defizitäre gesellschaftliche Zustand, den Negt und Kluge diagnostizieren, überwunden werden kann. Dabei stellt sich heraus, daß der unterschätzte Mensch eine ambivalente Vorstellung ist. Denn dieser hat einerseits das Potential, sich selbst zu zerstören und andererseits die Fähigkeit, die Gewaltgeschichte immer wieder durch Ausweichen, Anpassung oder Protest zu überleben. Dazu bedarf es vor allem der Lernfähigkeit und der Phantasie. Hier scheint eine Paradoxie im Konzept von Negt und Kluge vorzuliegen, da dem Leser einerseits politische Inhalte der gemeinsam verfaßten Gesellschaftstheorie vermittelt werden sollen, er andererseits aber zur Phantasietätigkeit und eigenen Produktion von Gedanken herausgefordert wird. Utopische Modelle bleiben, so meine These, wie in Theodor W. Adornos Ästhetische[r] Theorie, einer Sehnsuchtsstruktur verhaftet, die sich gesellschaftlich nicht umsetzen läßt. Am Ende steht nicht die Herstellung einer anderen Gesellschaftsordnung im

182 | Corinna Mieth Vordergrund, sondern die menschliche Sehnsucht wird zum literarischen Modell utopischer Phantasie.

Utopie I: Geschichtsteleologie Das Utopische nimmt im Denken von Negt und Kluge eine wichtige Stellung ein. Zunächst in Form einer Gesellschaftsutopie als Ziel einer politischen Entwicklung. Darauf werde ich in 2. und 3. näher eingehen. Um die Utopiekonzeption von Negt und Kluge genauer erfassen und einordnen zu können, gebe ich in diesem Abschnitt einen kurzen Überblick über die Geschichte der Utopie.1 Klassische Staats- oder Gesellschaftsutopien wie Platons »Politeia« oder Thomas Morus’ »Utopia« sind sogenannte Raumutopien, da sie die Vorstellung von einem abgeschlossenen idealen Gemeinwesen entwerfen. Davon zu unterscheiden sind Zeitutopien2, die in einer späteren geschichtlichen Etappe verwirklicht werden sollen. Man kann hier auch von teleologischen Utopien sprechen, wenn, wie im Marxismus, die Umsetzung der idealen Gesellschaftsordnung zum Ziel des Geschichtsverlaufs erklärt wird. Diese teleologischen Utopien kann man sehr gut am Muster von Francis Bacons »Novum Organon« und »Nova Atlantis« verdeutlicht sehen. Bacon geht davon aus, daß sich die Menschheitsgeschichte stetig weiterentwickelt. Er setzt darauf, daß Erfindungen wie Kompaß, Buchdruck und Schießpulver dazu beitragen, daß die Menschen weitere neue Erfindungen machen, die die Lebensqualität der Gattung verbessern. Bacon ist einer der Erfinder der Fortschrittsgeschichte. Technische Neuerungen sollen in Bacons Wissenschaftsutopie dem Nutzen der gesamten Menschheit dienen (vgl. Bacon 1999: 269). Dieser Nutzen kann aber der Gattung nur im Laufe der geschichtlichen Entwicklung zu Gute kommen. Erst wenn der technische Standard so hoch ist, daß z.B. Krankheiten heilbar sind, kann man das technische Wissen einsetzen, um allen Bedürftigen zu helfen. Bacons Wissenschaftsutopie hat v.a. durch die Konstruktion der Fortschrittsgeschichte den Grundstein für die Verwissenschaftlichung der Utopie im Saint-Simonismus und schließlich im Marxismus des 19. Jahrhunderts gelegt.3 1 | Eine ausführlichere Darstellung der Geschichte der Utopie findet sich in Mieth 2003: Teil I. 2 | Die Unterscheidung hat Wilhelm Vosskamp eingeführt: Vgl. Vosskamp (1996): 1032. 3 | »Die gewaltigen Fortschritte von Naturwissenschaft und Technik vor Augen, gingen nicht wenige Utopisten davon aus, daß in gleicher Weise, wie dies bei der auf induktiv-experimenteller Grundlage systematisch betriebenen Naturbeherr-

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Die in der Tradition der Zeitutopie stehenden Saint-Simonisten versuchen, die »Verwirklichung des utopischen Gemeinwesens geschichtsphilosophisch zu begründen« (Saage 1991: 226). Dabei unterscheiden sich die Saint-Simonisten von der Geschichtsphilosophie der Aufklärung, die zumeist mit Naturteleologie argumentiert, indem sie dem »geschichtsphilosophisch fundierten Fortschrittsglauben eine materialistische Wende« (ebd.: 228) geben. »Wie Saint-Simon, so konstatierte auch Fourier eine Diskrepanz zwischen unseren industriellen Mitteln und der niederen Stufe ihrer gesellschaftlichen Ausnützung. Aufzuheben sei dieses Missverhältnis und die aus ihm resultierenden Spannungen und Konflikte erst, wenn das Ziel der Geschichte, nämlich die weltweite genossenschaftliche Ordnung, verwirklicht ist« (ebd.: 229).

War schon bei Bacon die Wissenschaft an die Spitze des Staates getreten, so wird dieser Wissenschaftsglaube von Marx und Lenin im 19. Jahrhundert gegen den utopischen Sozialismus gewendet. Damit ist der Wechsel von der klassischen Staatsutopie im Sinne eines Gegenbildes zum Bestehenden, zur klassenlosen Gesellschaft im Sinne eines noch nicht eingetretenen, aber wenn auch jetzt nur vorläufig, so doch später einmal vollständig, mit wissenschaftlicher Genauigkeit berechenbaren, geschichtlichen Zieles vollzogen. Bei Marx steht der »wissenschaftliche Sozialismus« im Gegensatz zum »utopischen Sozialismus«, »der neue Hirngespinste dem Volk aufheften will, statt seine Wissenschaft auf die Erkenntnis der vom Volk selbst gemachten Bewegungen zu beschränken« (Marx/Engels 1972: 635, »Konspekt von Bakunins ›Staatlichkeit und Anarchie‹«). Der Marxismus versucht so, die Utopie in Wissenschaft, d.h. Machbarkeit und Berechenbarkeit aufzulösen. Daraus resultiert seine vermeintliche Utopiefeindlichkeit.4 Doch auch bei Lenin und Trotzki gab es »während und unmittelbar nach der Oktoberrevolution« durchaus »Vorstellungen des kommunistischen Endzustands« (Saage 1991: 235). Bei Marx fallen Staatsutopie und Geschichtsteleologie im Subjekt der Geschichte, dem Proletariat, zusammen. Die Einsetzung des Proletariats als Subjekt der Geschichte verdankt sich einer Verbindung der Baconschen Fortschrittsgeschichte, die den Menschen zum Schöpfer seiner Umstände erhebt, mit der Hegelschen Geschichtsphilososchung der Fall ist, auch der Aufbau ihrer utopischen Gemeinwesen machbar sei« (Saage 1991: 225). 4 | »Utopien sind Lenin zufolge das Gegenteil von dem, was machbar erscheint. […] Doch diese verbale Utopiefeindlichkeit täuscht: Sie ist nur vordergründig und kann nicht verdecken, dass der sogenannte ›wissenschaftliche Sozialismus‹ […] über ein erhebliches Utopiepotential verfügte« (Saage 1991: 235).

184 | Corinna Mieth phie, die das Ideal als Widerspruch zum Bestehenden in der geschichtlichen Verwirklichung aufhebt. Die Analyse der Wirklichkeit wird unter der Perspektive der möglichen Aufhebung der Widersprüche vorgenommen. »Insofern stellt die Methode der dialektisch-materialistischen Analyse der ökonomischen Verhältnisse selber eine direkte Funktion des dialektischmaterialistischen Utopie-Begriffs dar« (Becker 1970: 106). Denn Marx beschreibt den kommunistischen Endzustand wie folgt: »Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums, als menschlicher Selbstentfremdung, und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen, darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, das heißt menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus=Humanismus, als vollendeter Humanismus=Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streites zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung« (Marx/Engels 1972: 536, »Ökonomisch-philosophische Manuskripte 1844«).

Wir können also festhalten, daß der Marxismus durchaus über eine teleologische, geschichtsphilosophisch fundierte Gesellschaftsutopie verfügt. Anthropologie und Geschichte sind bei Marx utopische Perspektiven, sofern wirkliches Menschsein und der Beginn der Geschichte als Lösung des Entfremdungsrätsels in der kommunistischen Zukunft als utopischer Geschichtsvorstellung zusammenfallen. Nach diesem kurzen Überblick über die Entwicklung einer Geschichtsutopie im Marxismus können wir uns nun der utopischen Dimension der Geschichte bei Oskar Negt und Alexander Kluge zuwenden.

Geschichte Der Geschichtsbegriff und die Darstellung vor allem der deutschen Geschichte nehmen sowohl in den von Oskar Negt und Alexander Kluge gemeinsam verfaßten Theorieschriften als auch in Alexander Kluges literarischen Werken und Kinofilmen eine zentrale Stellung ein. Dabei wird in den Theorieschriften der 70er und frühen 80er Jahre, »Öffentlichkeit und Erfahrung« und »Geschichte und Eigensinn I-III« sowie in »Maßverhältnisse des Politischen« die (deutsche) Geschichte zunächst als Kriegs-, Krisen- und Katastrophengeschichte dargestellt. Hier folgen Negt und Kluge ihren gei-

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stigen Vätern Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die den Geschichtsverlauf in der »Dialektik der Aufklärung« ebenfalls als katastrophal beschrieben haben. Statt daß sich das Projekt der Aufklärung, unter dem Horkheimer und Adorno gesellschaftstheoretisch die »Idee des freien Zusammenlebens der Menschen« (Adorno 1997: 102, »Dialektik der Aufklärung«), die untereinander solidarisch sind, verstehen, verwirklicht, schlägt Aufklärung im Verlauf der Geschichte, v.a. des 20. Jahrhunderts, in die Barbarei der zwei Weltkriege und die Verbrechen der Nationalsozialisten um. Eine solche Sicht der Geschichte bricht nicht nur mit dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung, sondern auch mit der geschichtsteleologischen Sicht der Marxisten. Weder Horkheimer/Adorno noch Negt/Kluge gehen zunächst von einer positiven Bilanz der geschichtlichen Entwicklung für die Menschheit aus. Vielmehr emigriert die Gesellschaftsutopie bei Adorno schließlich in die Kunst, die zum Statthalter der Utopie wird. Gerade die Tatsache, daß sie sich durch ihre bloß immanente Zweckmäßigkeit gegen die Verwertbarkeit zu praktischen Zwecken sperrt, verleiht der Kunst nach Adorno durch ihre Opposition zum Bestehenden eine utopische Qualität. Gegen Philosophie und Theorie äußert sich Adorno dagegen skeptisch. »Nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins mit der Wirklichkeit oder stünde unmittelbar vor deren Herstellung, brach, ist sie genötigt, sich selber rücksichtslos zu kritisieren« (Adorno 1997: Bd. 6, 15). Diese Möglichkeit der Kritik sieht Adorno vor allem durch das Kunstwerk gegeben. »Kunst ist nicht nur Statthalter einer besseren Praxis als der bis heute herrschenden, sondern ebenso Kritik von Praxis als der Herrschaft brutaler Selbsterhaltung inmitten des Bestehenden um seinetwillen« (Adorno 1997: 26, »Ästhetische Theorie«). Das Kunstwerk kann, gerade weil es gegen das aus der Dialektik der Aufklärung hervor gegangene gesellschaftlich Bestehende opponiert, »zum Statthalter des integrierten revolutionären Subjekts« (Zima 1995: 168) werden. »So ist die revolutionäre Praxis bei Adorno im Ästhetischen aufgehoben« (ebd.). Negt und Kluge scheinen jedoch die Möglichkeit einer besseren Geschichte und das heißt auch einer anderen gesellschaftlichen Praxis durchaus als gegeben zu sehen. Die Verwirklichung dieser Möglichkeit würde die Realisierung der Gesellschaftsutopie des unentfremdeten Menschen bedeuten. Negt und Kluge versuchen in ihren gemeinsamen Werken vor allem zu zeigen, daß die Katastrophengeschichte von Menschen produziert wurde. Und was von Menschen gemacht wurde, ist prinzipiell auch von Menschen änderbar. Dies ist eine Vorstellung, die eher an Bertolt Brechts in Auseinandersetzung mit Karl Korsch entwickelte Vorstellung vom eingreifenden Denken erinnert als an Adorno. Die Möglichkeit einer anderen Geschichte setzt einen Lernprozeß voraus: zunächst müssen die Gründe für den fatalen

186 | Corinna Mieth Gewaltverlauf der Geschichte erkannt und erklärt werden. Denn erst dadurch werde es möglich, sich zur Geschichte zu verhalten. Hier treten Negt und Kluge als Aufklärer auf. Die Frage, die sich hier stellt ist, ob es ein richtiges Verhalten gibt, das den Geschichtsverlauf verändern kann und ob dieses Verhalten ein kollektives Verhalten ist bzw. wer das geschichtsträchtige Subjekt der Veränderung sein soll. Im Marxismus war das historisch wirkungsvolle Subjekt bekanntlich das Proletariat. Bei Negt/Kluge wird dieser Begriff von der Arbeiterklasse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf die Summe von unterdrückten Eigenschaften des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft übertragen. (Ich komme darauf im nächsten Abschnitt ausführlicher zurück.) Ziel der geschichtlichen Entwicklung sollte es nach Negt/Kluge sein, die Unterdrükkung und Entfremdung dieser Eigenschaften aufzuheben. Negt und Kluge denken durchaus noch in marxistischen Kategorien, wie es auch ihr Sprachgebrauch an vielen Stellen belegt. In dieser Perspektive wird nicht vom Individuum, sondern von der Gattung her gedacht. In der »Nachbemerkung« zu »Maßverhältnisse des Politischen« heißt es: »Die menschliche Geschichte beginnt an dem Punkt, an dem die Menschen das, was sie träumen, was sie wollen und denken, ohne Verzerrung und Brechungen durch die Gewaltmassen der Gesellschaft in Wirklichkeit umsetzen können« (Negt/Kluge 2001: 1019). Die Parallele zum Marxistischen Denken besteht erstens darin, daß der Beginn der »menschliche[n] Geschichte« noch aussteht und zweitens in der Annahme, daß die wirklichen Bedürfnisse der Menschen (»was sie wollen und denken«) schließlich in einem Zustand ohne staatlichen Zwang unentfremdet (»ohne Verzerrung und Brechungen durch die Gewaltmassen der Gesellschaft«) ausgelebt werden könnten. Im Marxismus wird mit dem Beginn der Menschheitsgeschichte auch der neue Mensch hervorgebracht, der erst als Selbstschöpfer in der Lage ist, die Utopie des Reiches der Freiheit zu leben. An dieser geschichtsphilosophischen Vorstellung des Marxismus wurde jedoch vielfach Kritik geübt. Einer der Haupteinwände bezieht sich darauf, daß das Individuum gegenüber dem Kollektiv und gegenüber der Gattung unterbewertet wird. Im Zuge von Revolutionen wurde das Leben von Individuen der Hervorbringung des geschichtlichen Fortschritts geopfert. Am Revolutionsparadigma des Marxismus hat z.B. auch Heiner Müller 1990 massive Kritik geübt. Er bilanziert nach dem Ende der DDR: »Ich würde sagen, das Wort Utopie ist im Moment schwer zu verwenden, weil klar ist, daß im Namen von Utopien immer die schlimmsten Terrorstrukturen entstanden sind. Denn wenn man ein Ziel setzt, muß man den Weg kontrollieren. Dann entstehen Weg-Kontrollmechanismen, und die machen sich selbständig und verheizen das Ziel. Deswegen würde ich lieber davon reden, daß da jetzt eine Leerstelle ist, ein Va-

Die utopische Dimension von Anthropologie und Geschichte | 187 kuum, ein weltweites. Es gibt die Vorstellung einer gerechten Gesellschaft, die ist nicht mehr wegzudenken« (Müller 1986-1994: 117f.).

Müller trennt hier zwischen der gewaltsamen Implementierung einer Gesellschaftsutopie und der »Vorstellung einer gerechten Gesellschaft«, die sich als Reaktion auf Ungerechtigkeiten ergibt. Auch Adorno geht von einer negativen Konvergenz der Systeme in Ost und West aus. Beide scheinen ihm Teil am katastrophalen Geschichtsverlauf zu haben, der die Möglichkeit der Realisierung der Utopie von einem menschenwürdigen Leben aller Individuen verstellt. Denn beide Systeme ordnen das Besondere, Individuelle dem Allgemeinen, dem Kollektiv, der Gesellschaft, dem Geschichtsprozeß unter. Diesen Denkfehler lokalisieren Horkheimer und Adorno schon in der Aufklärung, bei Kant, Hegel und im Anschluß daran auch im Marxismus. Die Grundkritik am identifizierenden Denken greifen Negt und Kluge auf. Auch ihnen geht es um das Besondere, Authentische, das oft vom vermeintlich Allgemeinen verdrängt wird. Wie bei Horkheimer und Adorno gibt es bei Negt und Kluge eine Kritik an der als falsch und fatal betrachteten geschichtlichen Entwicklung. Wünschenswert wäre für sie, daß sich das bloß Mögliche, Unverwirklichte und gerade deshalb Authentische gegen das Wirkliche durchsetzen könnte. Das hieße aber andersherum, daß jeder umgesetzte Wunsch seinen authentischen, utopischen Charakter verlöre. Negt und Kluge geraten mit dieser Vorstellung in ein ähnliches Problem wie Horkheimer und Adorno, die keine positive Gesellschaftsutopie, die sich geschichtlich verwirklichen ließe, mehr anbieten können. Denn erstens würde die geschichtliche Verwirklichung den spezifisch utopischen und authentischen Charakter der Utopie aufheben. Zweitens haben Negt und Kluge die Utopie, daß »Menschen das, was sie träumen, was sie wollen und denken, ohne Verzerrung und Brechungen […] umsetzen können« selbst als Gegenstand einer »Sehnsucht« bezeichnet (vgl. Negt/Kluge 2001: I, 1019). Die utopische Dimension der Geschichte weist eine spezifische Ambivalenz auf: Die »Sehnsucht« nach einer unentfremdeten Welt hat die Erfahrung einer entfremdeten Welt zur Bedingung. Die Utopie entsteht als Reaktion auf die Erfahrung einer Wirklichkeit, die als defizitär erlebt wird. So steht der Konzeption der Katastrophengeschichte bei Negt und Kluge die utopische Vorstellung vom Beginn der Geschichte entgegen, die alle Entfremdung aufheben würde. Sie würde denn Sprung aus der Katastrophengeschichte zum Anfang der »menschliche[n] Geschichte« verlangen. Es fragt sich jedoch, ob es überhaupt vorstellbar wäre, einen solchen Traum zu realisieren. Ist ein solch konfliktfreier Zustand, in dem jeder umsetzen kann, was er sich wünscht, überhaupt menschenmöglich? Und wenn er möglich wäre, wäre er dann wünschenswert? Gehören nicht zum menschlichen Leben Konflikte, Frustrationen und Lerneffekte, die einen besseren oder

188 | Corinna Mieth schlechteren Umgang mit dem Zusammenleben ermöglichen, aber keinen Zustand hervorbringen können, der die Probleme abschaffen könnte? Und ist es nicht zuviel vom Menschen verlangt, daß er eine Verwirklichung aller Träume gewährleisten soll? Wir er damit nicht maßlos überschätzt? Viele Autoren von Negativen Utopien wie Jewgenji Samjatin und Aldous Huxley haben die Kehrseite von konfliktfreiem Zusammenleben aufgezeigt: dieses wäre nur um den Preis eines Eingriffs in die menschliche Natur zu haben, der Mensch müßte, wie in Samjatins Roman »Wir« notfalls durch eine Gehirnoperation zu seinem eigenen Besten so verändert werden, daß er dem Ideal eines reibungslos ablaufenden Zusammenlebens der Menschen genügt. Um besser verstehen zu können, was Negt und Kluge mit ihrer »Nachbemerkung« anvisiert haben, scheint es nun hilfreich, einen Blick auf das von ihnen zugrunde gelegte Menschenbild zu werfen.

Anthropologische Voraussetzungen: Wer ist der unterschätzte Mensch? Zum Titel der Gesamtausgabe ihres gemeinsamen Hauptwerkes: »Der unterschätzte Mensch« gibt es von Negt und Kluge eine Illustration, das Bild einer »Brokerin in N.Y. Vom Staub übertüncht, wie in Herkulanum und Pompeji« (Negt/Kluge 2001: I, 1021). Hier wird die ganze Ambivalenz der Rede vom »unterschätzte[n] Mensche[n]« deutlich. Denn zunächst scheint es so, als ob es zwischen den Ereignissen im Umfeld des 11. September 2001 und den Naturkatastrophen in Herkulanum und Pompeji eine entscheidende Differenz gäbe: die eine Katastrophe wurde von Menschen verursacht, die andere, frühere, hatte einen natürlichen Ursprung. Mit der Aufnahme dieses so kommentierten Photos erweisen sich Negt und Kluge jedoch ein weiteres Mal als Weiterverwerter des Gedankenguts der »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und Adorno. Die Dialektik besteht darin, daß der Mensch, bzw. die Menschheit als Gattung durchaus in der Lage war, durch technische Verbesserungen und Neuerungen Naturkatastrophen einzudämmen oder zumindest zu prognostizieren und sich damit zu arrangieren. Doch Menschen sind mittlerweile, gerade wenn sie den technischen Fortschritt und seine Errungenschaften für ihre Zwecke benutzen, auch in der Lage, Katastrophen vom Ausmaß einer Naturkatastrophe selbst herbeizuführen, wie am 11.September. Insofern ist der Mensch, was sein Zerstörungspotential angeht, unterschätzt. Trotzdem scheint er für Negt und Kluge, was seinen Umgang mit zerstörerischen Tendenzen und seinen Möglichkeiten, die negativen Energien positiv zu wenden, angeht, auch unterschätzt. Wie kommt es, daß der Mensch einerseits ein so zerstörerisches Potential in sich hat und sich andererseits als so kompetent in der

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Weiterentfaltung des Wissens erwiesen hat, das zu so immensen Fortschritten in Wissenschaft und Kultur geführt hat? Negt und Kluge bieten für diesen Antagonismus eine theoretische Erklärung. Dabei gehen sie von der Gesellschaftsanalyse aus. Die kapitalistische Gesellschaft verfüge nur über eine »bürgerliche Öffentlichkeit«, in der die authentischen Bedürfnisse der an der Gesellschaft Beteiligten nicht adäquat geäußert werden könnten. Diese »bürgerliche Öffentlichkeit« sei ein ideologischer Begriff. Sie suggeriere eine Allgemeinheit, auch des politischen Bereiches, die realiter nicht gegeben sei. Negt und Kluge gehen davon aus, daß Menschen Eigenschaften haben, die von der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft unterdrückt werden. Diese unterdrückten Eigenschaften bezeichnen Negt und Kluge als proletarisch: »Der vom Kapitalismus bestimmte und zerstörte Lebenszusammenhang [wirkt] dahin, die Arbeiter zu Anhängseln der Warenproduktion, ihre Eigenschaften als Menschen zu unzusammenhängenden Eigenschaften zu machen. Proletarischer Lebenszusammenhang ist deshalb zunächst negativ bestimmt, als ein Blockierungszusammenhang, in dem Erfahrungen, Bedürfnisse, Wünsche, Hoffnungen zwar konkret entstehen, aber sich nicht als eigene entfalten können« (Negt/Kluge 2001: I, 672).

Der Mensch wird gleichsam zersplittert: manche Eigenschaften werden »vom Verwertungsprozess ergriffen«, z.B. »technische […] Intelligenz«, andere bleiben davon unberücksichtigt, wie z.B. »Freizeitinteressen«, »Hobbies, Ideale« und wieder andere »unterliegen […] unmittelbarer Unterdrükkung« wie Sexualität und Phantasie (vgl. ebd.). Für Negt und Kluge sind es gerade diese besonders unterdrückten Eigenschaften, denen ein subversives Potential gegen die herrschende Gesellschaftsordnung zukommt. Auf diesen Eigenschaften lastet großer »Druck«, sie sind »durch ihre, allerdings meist ohnmächtige, Konfrontation mit dem Herrschaftsinteresse bestimmt« (ebd.). Durch die Repression ändern diese Eigenschaften »ihre Gestalt«, sie werden deformiert, doch sie verlieren nicht ihre »Energie« (ebd.: I, 673). Gegenüber der Herrschaftsstruktur, in die sie als unterdrückte nicht mehr integrierbar sind, können sie eine »Protestenergie« entfalten. So tritt z.B. die Phantasie »zugleich als Glückssucher und als Kritiker unerträglicher Verhältnisse« auf, »sie sammelt ein und übertreibt, was glücklich macht, wendet sich ab und errichtet Schranken gegen das, was nach ihrer Auffassungsart unglücklich macht« (ebd.: II, 939). Wenn ein Mensch unter großem Druck steht, kann es zu Verhärtungen der Phantasie kommen, zu Verdrängungsmechanismen (vgl. ebd.) und zu Realitätsverlusten, z.B. wenn man sich in eine Traumwelt flüchtet. Negt und Kluge gehen davon aus, daß für solche Fälle ein gesellschaftliches Strukturproblem verantwortlich ist. Dieses besteht für Negt und Kluge vor allem in der Trennung zwischen öf-

190 | Corinna Mieth fentlicher und privater Sphäre, zwischen Arbeitswelt und Familie. Was im Bereich der Arbeit an Eigenschaften nicht gebraucht werde, oder um der Effizienz willen sogar verdrängt werden müsse, werde in den privaten Bereich verschoben und überlastet private Beziehungen. Beim Versuch der Selbstverwirklichung werde der Mensch zwischen seinen verschiedenen Lebenskontexten gleichsam zerrissen. »Rebellion und utopisches Bedürfnis sind vom Beziehungsverhältnis auf die Gesellschaft, von der Gesellschaft auf Beziehungsverhältnisse so vielfach hin- und herverschoben worden, haben fremde Energien angeeignet, daß sie ein besonderes Gewaltverhältnis bilden« (ebd.: II, 906). Gewaltverhältnisse sind für Negt und Kluge als Resultate von unterdrückten Energien erklärbar. So können einerseits in Beziehungen »Katastrophen« auftreten. Diese werden jedoch auf strukturelle gesellschaftliche Defizite zurückgeführt. Denn die im privaten Bereich angesiedelte »Beziehungsarbeit«, die die Grundlage für menschliches Leben und Zusammenleben bilde, erscheine unter ökonomischen Gesichtspunkten als »unproduktiv«.5 Doch für Negt und Kluge ist es gerade diese »lebendige Arbeit«, die die Grundsubstanz des menschlichen Lebenszusammenhanges hervorbringt.6 Allerdings ist der produzierte Lebenszusammenhang entfremdet, da die Menschen aufgrund der Gesellschaftsstruktur ihre Eigenschaften nicht positiv und produktiv in den gesamtgesellschaftlichen Prozeß einbringen können. Das Problem bei der Produktion des Lebenszusammenhanges, also des Selbstverständnisses eines Kollektivs, seiner Normen und Werte besteht nach Negt und Kluge darin, daß dieser Prozeß kein bewußter ist, sondern eben jene oben beschriebenen Unterdrückungsmechanismen von menschlichen Eigenschaften mitprodu5 | »In der kapitalistischen Gesellschaft wird der Realismus von Werten ökonomisch gelesen. Er wird daran gedeutet, ob dafür bezahlt wird, ob Mehrwert entsteht. Beziehungsarbeit wird in diesem zentralen Wertsystem in der Regel nicht berücksichtigt. Aufziehen von Kindern, Liebesbeziehungen, Trauerarbeit, Freude sind nach kapitalistischer Ökonomie ›unproduktive Arbeit‹« (Negt/Kluge 2001: II, 875). 6 | »Beziehungsverhältnisse bestehen aus Elementen der ursprünglichen Hausgemeinschaft, in ihren Formen erzeugen sich die neuen Generationen, binden sich an die Eltern und trennen sich, konstituieren sich die erotischen Bindungen und Trennungen. Während die Beziehungen hieran arbeiten, arbeiten sie zugleich an Normen, Verinnerlichungen, entwickeln kulturelle Produktionsinstrumente, deren Potential nicht im Sozialisationsbereich festzuhalten ist. Die überschießende Potentialität und die Macht der in diesem Beziehungsverhältnis kollektiv arbeitenden Instanzen entwickeln ein Zuprodukt zu eigentlich sämtlichen Krisen und Defiziten jeder anderen Produktionstätigkeit, konstruiert den wichtigsten Anteil am Realitätsprinzip selber. Der Lebenszusammenhang ist die primäre Produktion« (ebd.: II, 874).

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ziert. So kommt es zum katastrophalen Geschichtsverlauf, der, obwohl von Menschen produziert, den Einzelnen mit der Gewalt einer unaufhaltsamen Naturkatastrophe trifft. Negt und Kluge nennen als extremsten Fall der »Herrschaft des Produkts über die Produzenten« (ebd.: II, 862) den Krieg.7 Im Krieg als »Geschichtsresultat« werde die Entfremdung des Menschen besonders deutlich (vgl. ebd.). Es zeige sich »ein bisher vergeblicher Kampf des Produktionsprinzips um eine ihm entsprechende Form des Gemeinwesens« (ebd.). Da das »Geschichtsresultat« von Menschen hervorgebracht sei, sei es aber auch von Menschen änderbar. Sie müßten sich den Produktionsprozeß so aneignen, daß sie ihn in eine bessere Richtung lenken könnten. »Politik als Produktion« würde zunächst die Produktion von »Öffentlichkeitssinne[n]« (ebd.: II, 1169) voraussetzen. Die »antirealistischen Kräfte der Abwehr und des Ausweichens« müßten so umproduziert werden, daß sie »auf die Realität antworten« könnten (ebd.). Erst dann wäre davon zu sprechen, daß der Mensch seine Geschichte wirklich selbst hervorbringt und erst dann könnte man von einem unentfremdeten Menschen ausgehen, der aufgrund veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen die Möglichkeit hätte, alle seine Eigenschaften produktiv umzusetzen. Dies kann man als die utopische Dimension der Anthropologie bezeichnen. Sie bedarf aber der Geschichte als Medium. So wird der unentfremdete Mensch bei Negt und Kluge auch in der Anthropologie als noch herzustellender betrachtet. Negt und Kluge formulieren in diesem Sinn in »Öffentlichkeit und Erfahrung«: »Das ›menschliche Wesen‹ ist nicht eine Natursubstanz, zu der im Sinne Rousseaus eine Rückwendung möglich ist, dessen Wesen also nur durch den Kapitalismus verkehrt worden ist. Vielmehr entsteht das menschliche Individuum erst durch die vollständige Aneignung seiner Vorgeschichte, als ein Resultat« (ebd.: I, 674).

Die »Aneignung« dieser »Vorgeschichte« würde bedeuten, aus der Geschichte zu lernen, ihre Bewegungsmechanismen zu verstehen und sie zu 7 | »Es veröffentlicht sich im Kriege eine spezifische Eigenschaft der wirklichen Verhältnisse: die anarchische Aneignung des kollektiven Geschichtsprodukts. Ohne diese Zuarbeit des historisch immer und überall wirksamen Widerspruchs zwischen gesellschaftlicher Produktion der Geschichte und individueller Ohnmacht der Produzenten dieser Geschichte, ihrem Produkt, gegenüber hätte das im Abstraktionsprozeß steckende Vernichtungsprinzip nicht die Macht, sich um die nötige Zuarbeit des Produktionsprinzips anzureichern. Es ist die Anarchie in der Aneignung des Geschichtsprodukts, die heute den Krieg auslöst, selbst, wenn keine Abstraktionsprinzipien auf ihn hinarbeiten würde« (ebd.: II, 862).

192 | Corinna Mieth verändern mit dem Ziel, eine »zusammenhängende menschliche Sinnlichkeit« herzustellen.8 Insofern könnte man bei Negt und Kluge von einer teleologischen Utopie der zusammenhängenden Sinnlichkeit sprechen. Diese soll nicht nur im einzelnen Individuum, sondern, als Bedingung davon, vor allem zwischen den Individuen und ihren Bedürfnissen hergestellt werden. Es fragt sich jedoch, wie eine solche kollektive Aneignung gelingen soll. Sie widerspricht nicht zuletzt dem von Negt und Kluge entworfenen Konzept eines kritischen Lesers. Hier tritt eine Spannung im Werk von Negt und Kluge auf: einerseits wollen sie, wie es im Vorwort zu »Geschichte und Eigensinn« heißt, dem »Leser« die »Chance« geben, »sich selbständig zu verhalten« (ebd.: I, 6). Der Leser wird als Individuum mit besonderen Erfahrungen betrachtet, das bei der Lektüre »Eigeninteresse« mitbringt und »sich die Passagen und Kapitel heraussucht, die mit seinem Leben zu tun haben.«9 Dies legt nahe, daß es für jeden Leser eine besondere Rezeption der Bücher Negts und Kluges gibt, die, abhängig von den Interessen des jeweiligen Lesers, zu verschiedenen Folgerungen führen kann. Ziel wäre dann nicht primär eine Vermittlung bestimmter Inhalte der Schriften, sondern die Herstellung einer »selbständigen Haltung« beim Leser. Dies wäre eine Sicht, die an die Grundgedanken der Aufklärung anknüpft. Der Mensch soll aus seiner »selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant) heraustreten und sich selbständig verhalten, bzw. die politischen Verhältnisse bewerten. Er soll lernen und sich weiterbilden. So wird über das Verhalten von Individuen, die voneinander und aus der Geschichte lernen, schließlich die Lebensqualität der Gattung verbessert. Dann ginge es aber nicht um eine inhaltliche Utopie, um ein perfektes Gemeinwesen, das zwischen den Individuen eine vollständige Harmonie herstellt, sondern das Utopische bestünde in der besseren Möglichkeit der Konfliktlösung. So ist für Negt und Kluge an anderer Stelle »gerade« der »Konflikt und die Organisierung der von ihm ausgehenden Erfahrung als Integrationsmechanismus einer alle Gesellschaftsmitglieder umfassenden, aufhebenden und niemals ausgrenzenden Öffentlichkeit zu verstehen« (ebd.: I, 352). Dabei scheint eine 8 | »Es sind die einzelnen Eigenschaften und einzelnen Sinne, so wie sie von der geschichtlichen Entwicklung als zerstreute hergestellt werden, der proletarische Rohstoff, der den Inhalt proletarischer Öffentlichkeit ausmacht. Proletarische Öffentlichkeit ist hier die Summe der Situationen, in denen in einem Prozeß miteinander verknüpfter Subjekt-Objekt-Beziehungen diese unterdrückte und im Kapitalverhältnis verdreht entfaltete menschliche Sinnlichkeit zu sich selbst kommt. Proletarische Öffentlichkeit ist der Name für einen gesellschaftlichen kollektiven Produktionsprozeß, dessen Gegenstand zusammenhängende menschliche Sinnlichkeit ist« (ebd.). 9 | Ebd. Hervorhebung dort. Vgl. ebd.: I, 1022.

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menschliche Fähigkeit zentral, die Alexander Kluge in dem für Oskar Negt verfaßten Text »Momentaufnahmen aus unserer Zusammenarbeit« betont: »das-sich-aufeinander-einlassen« (ebd.: I, 6). Hier scheint ein Unterschied zwischen Oskar Negt und Alexander Kluge zu bestehen. Denn Kluges Rede von einem »langen Marsch des Urvertrauens« (vgl. Kluge 2000: 921-1010) und sein Optimismus gegenüber Individuen, die Lösungen in schwierigen Situationen finden, scheint nicht wie in den mit Negt verfaßten Schriften auf eine gesamtgesellschaftliche Änderung als Voraussetzung für bessere Konfliktlösungen hinauszulaufen. Dem aus dem Marxismus übernommenen Geschichtsparadigma in den gemeinsamen Theorieschriften, das die Menschheit als Kollektivsubjekt entwirft, das schließlich zum Schöpfer seiner Umstände wird, widerspricht nicht zuletzt das von Kluge in seinen eigenen Theorieschriften immer wieder neu entworfene Konzept eines aufgeklärten Rezipienten, der sein Eigeninteresse in die Lektüre der Bücher, Kinofilme oder Fernsehsendungen einbringen soll. Hier scheint eine ganz andere Dimension des Utopischen ins Spiel zu kommen, die nicht von der Geschichtsphilosophie, sondern von der Phantasie her gedacht wird. Ich werde diese zweite Linie der Utopie im nächsten Abschnitt kurz erläutern.

Utopie II: Phantasietätigkeit Neben den politischen, staatsphilosophischen oder geschichtsteleologischen Utopien, die bei der Veränderung der Gesellschaft ansetzen, gibt es auch literarische Utopien, die ihr utopisches Potential nicht aus der gesellschaftstheoretisch, wissenschaftlich fundierten Umsetzungsmöglichkeit von Vorstellungen der optimalen Gesellschaftsform gewinnen, sondern sich als phantasievolle Gegenproduktion zum Bestehenden begreifen. Von dort aus gesehen ist die »utopische Methode […] zunächst nichts weiter als ein Experimentieren mit Möglichkeiten (auch geschichtlichen). Sie beginnt mit der kritischen Analyse einer wirklichen von einer möglichen Welt aus. Dieses Experimentelle, Spielerische trifft das Wesen des Utopischen genauer, als wenn man die Wunschfabrikate der Utopisten ernst nimmt und an ihnen den Begriff des Utopischen festmacht« (Münz-Koenen 1993: 14f.).10 10 | Die Definition der »utopische[n] Methode« als »geistiges Experimentieren mit Möglichkeiten« geht auf Raymond Ruyer (Ruyer 1968: 339) zurück: »Die utopische Methode gehört ihrer Natur gemäß zum Bereich der Theorie und der Spekulation. Aber anders als die Theorie im herkömmlichen Sinne such sie nicht die Kenntnis dessen, was ist, vielmehr ist sie ein Übung oder ein Spiel mit den mögli-

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Dabei ist vor allem das kritische Moment zu betonen: indem die literarische Utopie das Bild einer besseren Gesellschaft darstellt, ist sie zugleich auch ein Gegenbild. An dieser Gegenbildlichkeit wird der »ästhetische Ursprung utopischen Erzählens« (ebd.: 15) deutlich. Die Kontrafaktizität des Utopischen findet ihr Äquivalent in der Möglichkeit des Ästhetischen, fiktive Bilder und Vorgänge zu entwerfen. Mit Wilhelm Voßkamp lassen sich Utopien »als fiktionale, anschaulich gemachte Entwürfe von Gegenbildern charakterisieren, die sich implizit oder explizit kritisch auf eine historische Wirklichkeit beziehen, in der sie entstanden sind« (Voßkamp 1996: 1931). Dabei kann sich die »experimentelle Methode« je nach der historischen Wirklichkeit, auf die sich eine literarische Utopie bezieht, verschieden auswirken. Hier können wir zwischen positiven und negativen Utopien unterscheiden. Waren die literarischen Utopieentwürfe des 18. und 19. Jahrhunderts vorwiegend positiv, so sind seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert die Warnutopien verbreitet. Dort kehrt sich – nach den Erfahrungen mit der versuchten Umsetzung utopischer Inhalte –, z.B. nach der Russischen Revolution, die Frage nach dem glücklichen Leben von den Kriterien der klassischen Staatsutopie ab, die etwa in Jewgenji Samjatins »Wir« (1920) oder in Aldous Huxleys »Brave New World« (1932) und in Orwells »1984« (1949) als menschenfeindlich beschrieben werden. Der Wendepunkt von den positiven zu den negativen Utopien ist auch vor dem Hintergrund des marxistischen Konzepts der Auflösung der Utopie in Geschichtsteleologie zu sehen. Denn die zuvor entstandenen vielfältigen positiven literarischen Utopieentwürfe, v.a. der Saint-Simonisten, werden nicht aufgrund ihrer Inhalte, sondern aufgrund ihres nichtwissenschaftlichen, fiktiven, schwärmerischen Charakters abgelehnt. Sie bleiben abstrakt, d.h. sie leisten keinen Beitrag zur wissenschaftlichen Erkenntnis der Klassengegensätze der bestehenden Gesellschaft.11 In seinen Ausführungen zum Verhältnis von Ideologie und Utopie hat Paul Ricœur die Bezogenheit der Utopie auf die Gesellschaft darin gesehen, daß sie imaginative Variationen zu bestehenden Institutionen einzuführen chen Erweiterungen der Realität«. Dieses »Spiel« bleibt jedoch auf die Realität bezogen, indem es deren besseres Verständnis ermöglicht: »Ein Faktum oder Ereignis verstehen heißt, es durch dringen, ohne sich darin zu verlieren, ohne es für absolut und unveränderlich zu nehmen. Es heißt, die Alternativ-Möglichkeiten […] mitsehen. Man versteht eine Sache nur, wenn man die ganze Skala der ihr verwandten Möglichkeiten mitdenkt« (ebd.: 339f.). Die Bedingung dieses »Spiels« besteht jedoch darin, daß der Abstand der Utopischen Entwürfe zur Realität gewahrt bleibt. 11 | Diese Kritik an den Frühsozialisten äußert Friedrich Engels 1882 in: »Der Sozialismus: von der Utopie zur Wissenschaft«. In: Marx/Engels 1972: 189-228.

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vermag. Er versteht die Utopie von ihrer Funktion her: »utopia introduces imaginative variations on the topics of society, power, government, family, religion. The kind of neutralization that constitutes imagination as fiction is at work in utopia« (Ricœur 1986: 16). Damit ist das Zusammenwirken von Phantasie, Fiktion und Utopie charakterisiert. Denn die Phantasie, die Utopien entstehen läßt, schafft eine Distanz zum kulturellen System, dessen Defizite über die literarische Vermittlung eines Außerhalb erst sichtbar werden. Phantasie und Utopie laufen hier gerade in ihrer Kontrafaktizität zusammen. Gilt es im Marxismus als Mangel der Utopie, daß sie der teleologischen Geschichtsauffassung und damit ihrer Integration in die Verwirklichung der klassenlosen Gesellschaft zuwider läuft, so sieht Ricœur gerade darin ihr kritisches Potential. Dabei führt Ricœur die Funktion der Utopie auf einen credibility gap zurück, der bei der Legitimation aller politischen Systeme bestehe. Die Phantasie kann einen Standpunkt außerhalb des Systems imaginieren, der über die Fiktionalität der Utopie vermittelt ist und sich mit ihr im Außerhalb, dem point of nowhere trifft. Aus dieser Beobachtung ergibt sich allerdings gleichzeitig eine Grenze aller Utopien: bezeichnen diese nämlich analog zur Phantasie die Möglichkeit eines fiktiven Standortes, so löst sich dieser auf, sobald er Teil der Wirklichkeit wird. Diese Beobachtung führt uns aber auf die Verbindung des Fiktiven mit dem Utopischen zurück: beide laufen in der Phantasie zusammen, die sich zwar am Gegebenen entfacht, aber dieses notwendig auch immer transzendieren muß. Mit dieser funktionalen Bestimmung der Utopie geht allerdings ihre inhaltliche Unbestimmtheit einher. Unter Utopie lassen sich nun alle Arten von progressiven oder rückwärts gewandten literarischen oder imaginären Vorstellungen fassen. Die anthropologische Funktion des Utopischen und die des Ästhetischen treffen sich in der Phantasie als genuin menschlicher Eigenschaft. Auch Jörn Rüsen arbeitet den, wie Negt und Kluge es nennen würden, »Antirealismus« des utopischen Bewußtseins heraus, das sich immer kritisch zum Bestehenden verhält: »Utopisches Bewußtsein basiert auf einem Überschuß von Bedürfnissen über die jeweils gegebenen Mittel zu ihrer Befriedigung. Es hat die lebensweltliche Funktion, menschliches Dasein an Vorstellungen seiner selbst und seiner Welt zu orientieren, die grundsätzlich über das hinaus sind, was mit ihm selbst und seiner Welt empirisch der Fall ist« (Rüsen 1982: 358). Das heißt aber, daß es, wenn das utopische Bewußtsein erhalten bleiben soll, grundsätzlich keine Gesellschaftsform gibt, in der alle Bedürfnisse befriedigt wären und das Utopische gleichsam zur Ruhe käme. In dieser Definition bezeichnet das Utopische immer eine Sehnsucht, ein »es soll anders werden«, einen Überschuß. Hier wird ein strukturelles Problem des Utopischen Bewußtseins nochmals deutlich: Als mit der geschichtlichen Realität Unvermitteltes kann dieses »unmittelbar in

196 | Corinna Mieth Praxis übersetzt, zerstörerisch wirken und die intendierte Freiheit von Restriktionen der Wunscherfüllung in den institutionalisierten Zwang verordneter Wunscherfüllung umschlagen lassen« (ebd.: 359).

5. Schlußbemerkung Diese Gefahr der geschichtsphilosophisch-teleologischen Utopien wird letztlich auch von Negt und Kluge registriert. Sie sehen die Authentizität revolutionärer Bewegungen vor der Revolution besonders hoch: »Solange gegen das alte Herrschaftssystem oder gegen Fremdherrschaft gekämpft wird, existiert indes ein deutlich erkennbares, an jeden Ort, an dem Grund zur Empörung besteht, transferierbares Muster des Widerstandes, des Erfahrungsaustauschs, der Solidarität« (Negt/Kluge 2001: II, 799). Doch diese Solidarität, das sozialistische »Attribut« (ebd.) kann nicht positiv gewendet werden. »Geht man davon aus, daß nach der Revolution eine alternative Gesellschaft errichtet werden soll, so scheint es sich um etwas Leeres zu handeln. In einer Metapher gesprochen: Es verhält sich so, als würden fortwährend Fabriken errichtet, die über den Zeitpunkt des Richtfestes nicht hinauskommen. Es entstehen Ruinen« (ebd.). Andererseits halten Negt und Kluge trotz dieser Beobachtung der Umsetzungsschwäche von Utopien an der Notwendigkeit utopischer Protestenergie fest. Diese wird vor allem dadurch bestimmt, daß sie sich gegen massive Ungerechtigkeiten richtet. Trotz des Scheiterns vieler Versuche, den Sozialismus zu etablieren, ist es für Negt und Kluge »offensichtlich, daß die Bedürfnisse nach Veränderung (auch gegen Staatssozialismus gerichtet, aber insgesamt unspezifisch gegen Barbarei, Unterdrückung, Krieg, Ungerechtigkeit) selber ununterdrückbar bleiben. Die den Revolutionen zugrundeliegenden Kräfte sind etwas Reales und üben beständigen Druck aus« (ebd.). Ziel der Werke von Negt und Kluge ist es, solche Protestenergien zu wecken und freizusetzen. Doch das bedeutet auch, daß sie nicht steuerbar und damit nicht politisch verwertbar sind. Wenn das Politische mit dem Strategischen gleichgesetzt wird, dann sind Protestenergie und Phantasie nur schlecht politisch verwertbar. Dies führt Negt und Kluge zu einer grundsätzlichen Kritik an der Politik als »Kunst des Möglichen« (ebd.: I, 726). »Realpolitik hat gegenüber Interessen, die am Gemeinwesen orientiert waren und sich selber als politisch verstanden, stets den abwertenden Gesichtspunkt des bloß Utopischen geltend gemacht und so zur Mystifizierung der Realitätsmacht des Gegebenen beigetragen« (ebd.: I, 696). Die Verdrängung von Hoffnungen und Wünschen sei für das gemeinsame Handeln langfristig schädlich. »Ohne […] Träume würden die Menschen zugrundegehen; denn mit ihrer Verhinderung würde ein lebenswichtiger Quell von Handlungsmotivationen aus-

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trocknen« (Rüsen 1982: 359). Das utopische Bewußtsein stellt, ebenso wie die Phantasie, eine Grundbedingung menschlicher Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit dar: »Weil menschliches Handeln ohne den Intentionalitätsüberschuß seiner Subjekte über die gegebenen Bedingungen und Umstände ihres Handelns gar nicht gedacht werden kann, muß man wohl sagen, daß es nichts Unrealistischeres gibt, als eine anti-utopische Beschränkung menschlicher Lebensabsichten auf die Realität« (ebd.). So kann man von einer sozialen Relevanz der Phantasie (vgl. Tappenbeck 1999)12 sprechen. Weil Negt und Kluge die Widersprüche in der sozialen Realität beschreiben und erklären, kann der Leser sie erkennen und kritisieren. Doch eine Vermittlung der Widersprüche der geschichtlichen Entwicklung mit der utopischen Phantasie des Lesers ist schwierig. »Das Geschichtsbewußtsein bringt in den Orientierungsrahmen der menschlichen Praxis die Erfahrung ein, die das utopische Denken um der Kraft der Hoffnung willen überspringt und außer Kraft setzt« (Rüsen 1982: 359). Ziel von Negt und Kluge ist es jedoch gerade, das von Rüsen beschriebene Geschichtsbewußtsein und utopisches Bewußtsein für den Leser aufeinander beziehbar zu machen. Grundlegend ist dabei die bei Adorno ausformulierte Skepsis gegenüber der Katastrophengeschichte. Angesichts der katastrophalen geschichtlichen Entwicklung in Ost und West muß die Utopie in ihrer Gegenbildlichkeit wieder aus der Auflösung in Wissenschaft herausgelöst werden. »Der mythische wissenschaftliche Respekt der Völker vor dem Gegebenen, das sie doch immerzu schaffen, wird schließlich selbst zur positiven Tatsache, zur Zwingburg, der gegenüber noch die revolutionäre Phantasie sich als Utopismus vor sich selber schämt und zum fügsamen Vertrauen auf die objektive Tendenz der Geschichte entartet« (Adorno 1997: 59. »Dialektik der Aufklärung«).

Der utopische Standpunkt ergibt sich nicht als gleichsam verlängerte Tendenz der Fortschrittsgeschichte von der Zukunft her, sondern er richtet sich auf das Unerlöste der Vergangenheit, zu dem das Handeln in der Gegenwart stets neu in Bezug zu setzen wäre. Der Vorschlag von Jörn Rüsen, die Literatur solle diejenigen geschichtlichen Momente gestalterisch aufgreifen, in denen utopisches und geschichtliches Bewußtsein aufeinandertreffen, wie etwa bei der Deklaration der Menschenrechte13, wird in Alexander 12 | Tappenbeck erklärt soziale Phantasie zur Existenzbedingung jeder Gesellschaft. 13 | »Ein historiographisches Erzählen, das die Zeiterfahrung eines Kairos vergegenwärtigte, vereinigte historische Alterität und geschichtstranszendierende Utopie in sich. […] Geschichten, die solche Augenblicke als kairos-artig hervorheben

198 | Corinna Mieth Kluges literarischem Werk weniger auf die Eckdaten der politischen Entwicklung angewendet als vielmehr auf individuelle Situationen, in denen sich Menschen befinden. In den letzten Jahren ist der Begriff des »Urvertrauens« für Kluge immer wichtiger geworden. Dieses »[…] ist die Mitgift eines jeden Lebewesens, vom Menschen bewußt empfindbar, das den positiven Schub zu neuen Taten (›gut oder böse‹) über die Generationen, ja über die Gesamtentwicklung des blauen Planenten umfaßt. An ein PRINZIP HOFFNUNG glaube ich (als Gefolgsmann Adornos) nicht, aber ich bin sicher, daß es eine seelische UNTERGRUND-ARMEE gibt, die von hoffnungsvollen Annahmen ausgeht. ›Wer immer hofft, stirbt singend‹« (Kluge 2002: 1014).

Dieses Urvertrauen stellt für Kluge die Bedingung des Fortbestandes der Gattung dar, es ist etwas, »ohne das wir nicht überlebt hätten« (ebd.: 923). Hier scheint es allerdings nicht, wie in den mit Oskar Negt verfaßten Theorieschriften um das gute und unentfremdete Leben, sondern um das bloße Überleben der Gattung zu gehen. Die Beobachtung, daß manche Individuen die gefährlichsten Situationen oder Verletzungen überleben14, scheint kaum als politische Programmatik verwendbar. Wenn der Mensch nur darin unterschätzt sein sollte, daß er manchmal Glück hat15, dann wäre er sicherlich überschätzt, wenn man von ihm erwarten könnte, daß er dieses Glück-gehabt-haben bewußt zur Produktion seiner Lebensumstände erheben könnte, denn er könnte immer nur nachträglich feststellen, daß er wieder Glück hatte. Entgegen dem Blochschen Konzept des Vor-Scheins wird aber auch an vielen Stellen in Kluges literarischem Werk an Adornos Konzeption der und erinnern, gibt es: all die Geschichten, die das Inkrafttreten von Lebensordnungen und -regeln schildern, die noch gegenwärtiges Handeln zur Veränderung der Bedingungen anleitet, in die sie in restringierter Form eingegangen sind. Als bestes Beispiel dafür könnte ich mir eine Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte denken. Geschichten, die an einen Kairos erinnern, sind Geschichten, die erzählen, wie viele Anerkennungsleistungen vollbracht worden sind, die sich als nicht mehr hintergehbar herausgestellt haben und die zugleich normative Übergriffe in die Zukunftsperspektive der gegenwärtigen Praxis enthalten, deren Verpflichtung sich niemand mit guten Gründen entziehen kann« (Rüsen 1982: 373). 14 | So dargestellt in der Geschichte »Wer immer hofft, stirbt singend«, in: Kluge 2002: 928. 15 | So eine weitere Darstellung des »unterschätzte[n] Menschen«, der aus einem Flugzeug fällt »[n]ach Sturz aus 300 Meter Höhe am Leben« bleibt, in Negt/ Kluge 2001: 689.

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verpaßten Chancen festgehalten: Gerade die nicht eingelösten Möglichkeiten der Geschichte werden aufgezeigt. Dennoch bleibt in dieser Konzeption das Utopische erhalten; es hat seine Verbindung mit der geschichtlichen Tendenz bzw. mit der teleologischen Konzeption der Fortschrittsgeschichte aufgegeben. Der Leser kann das Katastrophale der Geschichte erkennen und kritisieren oder selbst Gegenbilder dazu entwerfen. Dabei ist die Protesthaltung, die er einnimmt, insofern utopisch, als sie das Gegebene in Frage stellt. Doch eine positive politische Utopie, die den Anfang der Menschheitsgeschichte bedeuten würde, scheint damit gerade nicht vermittelbar. Vielleicht ist hier gegenüber dem großen Anspruch der gemeinsam mit Oskar Negt verfaßten Theorieschriften im Verhältnis zu Kluges Kunstproduktion doch ein kleiner Zweifel angebracht: wird der Mensch als Schöpfer der Gattungsgeschichte nicht eigentlich immer noch überschätzt? Oder es ist kein Zufall, daß die »Nachbemerkung« zu »Maßverhältnisse des Politischen«, die zunächst die marxistische Geschichtsutopie aufruft, dem gemeinsamen Diktum folgt, daß »alles wirklich Brauchbare in Aushilfen […] besteht« (Negt/Kluge 2001: II, 1245) und mit einem Gedicht von Karl Kraus endet: »›Und ist einmal die böse Zeit, – lang wie ein Eis –, gebrochen dann wird davon gesprochen und einen Strohmann bauen die Kinder auf der Heide, zu brennen Lust aus Leide –‹« (ebd.: I, 1019).

Es scheint, als bliebe nicht nur bei Adorno, sondern auch bei Negt und Kluge die Utopie als »Sehnsucht« ein Gegenstand der (literarischen) Phantasie.

Literatur Adorno, Theodor Wiesengrund (1997): Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden, Frankfurt/M. Bacon, Francis (1999): Neues Organon: lateinisch-deutsch, Hamburg. Becker, Werner (1970): Idealistische und materialistische Dialektik. Das Verhältnis von ›Herrschaft und Knechtschaft‹ bei Hegel und Marx, Stuttgart. Kluge, Alexander (2000): Chronik der Gefühle, Frankfurt/M. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1972): Werke, Berlin. Mieth, Corinna (2003): Das Utopische in Literatur und Philosophie. Zur Ästhetik Heiner Müllers und Alexander Kluges, Tübingen. Müller, Heiner (1986-1994): Gesammelte Irrtümer. Texte und Gespräche, Frankfurt/M.

200 | Corinna Mieth Münz-Koenen, Inge (1993): »Ende der Utopien = Ende der Geschichte? Der Ort des Sozialismus in den Modernisierungsprozessen«. In: Peter Engelmann (Hg.), Weimarer Beiträge, 39 (1/1993), S. 14-22. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (2001): Der unterschätzte Mensch, Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden, Frankfurt/M. Ricœur, Paul (1986): Lectures on Ideology and Utopia, New York. Rüsen, Jörn (1982): »Utopie und Geschichte«. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.), Utopieforschung: interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Stuttgart, S. 356-374. Ruyer, Raymond (1968): »Die utopische Methode«. In: Arnhelm Neusüss (Hg.), Utopie, Neuwied und Berlin, S. 339-360. Saage, Richard (1991): Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt. Tappenbeck, Inka (1999): Phantasie und Gesellschaft: zur soziologischen Relevanz der Einbildungskraft, Würzburg. Vosskamp, Wilhelm (1996): »Utopie«. In: Ulfert Rickfels (Hg.), Das Fischer Lexikon Literatur, Frankfurt/M. Zima, Peter V. (1995): Literarische Ästhetik: Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft, Tübingen.

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Weltkasten mit Digressionen. Spuren der Aufklärung in Oskar Negts und Alexander Kluges gemeinsamer Philosophie Winfried Siebers

»Dialektik der Aufklärung«, »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft«, »Strukturwandel der Öffentlichkeit« – betrachtet man die Titel einiger sozialphilosophischer Werke der Kritischen Theorie, so scheint es unmittelbar einsichtig zu sein, daß die ihr zugehörenden Denker sich auf die Tradition der historischen Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts berufen; denn die Begriffe »Kritik«, »Vernunft«, »Öffentlichkeit« sowie derjenige der »Aufklärung« selbst gehören zu den Programm- und Basisideen dieser geistigen und gesellschaftlichen Reformbewegung. Von Philosophie- und Kulturhistorikern sind allerdings Zweifel an der Triftigkeit der geschichtsphilosophischen Einordnung des Aufklärungsprozesses selbst und davon abgeleiteter Funktionselemente geübt worden: So wurde über die »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und Adorno bemerkt, daß, wenn man »den Text heute etwas distanziert« lese, »er eigentlich gar nicht über Aufklärung handelt« (Schneiders in Zimmermann 1996: 140); ebenso wurde an der »Rationalitätskritik Horkheimers in den vierziger Jahren« beobachtet, daß sie »gelegentlich schon den kulturkonservativen Anstrich einer Verfallsgeschichte« annehme (Hesse 1984: 138); und Jürgen Habermas’ idealtypische Modellierung eines aufklärerischen Öffentlichkeitstypus diente in ihren kritikwürdigen historischen Passagen vorwiegend als normative Leitlinie für die demokratietheoretische Ausrichtung seiner Argumentation, die auf institutionelle Defizite im politischen System der frühen Bundesrepublik zielte (vgl. Schiewe 2004: 253-266). In einem eigentümlichen Kontrast hierzu scheint dagegen das von Horkheimer und Adorno noch in den 1940er Jah-

202 | Winfried Siebers ren geplante, jedoch nie ausgeführte Buchprojekt einer »Rettung der Aufklärung« zu stehen (Horkheimer/Adorno 1985: 593-605).1 Es liegt auf der Hand, daß in diesen Äußerungen von verschiedenen Aufklärungsbegriffen die Rede ist, wobei drei Bedeutungsebenen unterschieden werden können: Einmal wird Aufklärung als »Selbstbezeichnung« der von einer spezifischen Intellektuellenschicht des 18. Jahrhunderts geprägten Denk- und Reformbewegung einschließlich ihres emanzipativen Identifikationspotentials verstanden, zum andern als »transhistorischer Universalbegriff« im Sinne einer wissensrevolutionierenden Entmythisierung der Lebenswelt seit der Antike, schließlich als historischer »Epochenbegriff« mit einem definierbaren Text- und Quellenkorpus sowie einer plausiblen inneren Periodisierung (Zelle 1997: 160f.). Wie nun steht es mit dem Aufklärungsbezug in den politisch-philosophischen Schriften von Oskar Negt und Alexander Kluge, Autoren der zweiten Generation der Frankfurter Schule, »zu der wir uns zählen« (Negt/Kluge 2001: I, 991)? An den Titelschlagworten ihrer gemeinsamen Arbeiten ist ein solcher ausdrücklicher Rückgriff allenfalls in »Öffentlichkeit und Erfahrung« (1972) faßbar, weniger in »Geschichte und Eigensinn« (1981) oder in »Maßverhältnisse des Politischen« (1992). Es zeigt sich jedoch schnell, daß sowohl der Öffentlichkeits- als auch der Erfahrungsbegriff aus der Zeit der Aufklärung mit den Verwendungsweisen bei Negt und Kluge wenig gemein haben: Wird ersterer aus der Auseinandersetzung mit Habermas’ Analyse gewonnen, so verweist letzterer im Verständnis der historischen Epoche auf die Integration von Beobachtung, Experiment, Tatsachenwissen und Reisebericht in die erkenntniskritische philosophisch-anthropologische Reflexion (vgl. Holzhey 1995), während er vor dem Hintergrund einer entfalteten kapitalistischen Produktionsweise zu Beginn der 70er Jahre in gegenwartskritischer Absicht anhand der kollektiven »gesellschaftlichen Erfahrung« im Horizont des »proletarischen Lebenszusammenhangs« entwickelt wird (Negt/Kluge 2001: I, 343 u. 346). Nur am Rande sei mit Blick auf »Geschichte und Eigensinn« vermerkt, daß der Terminus Geschichte ebenfalls ein Produkt der Aufklärung ist, denn erst seit etwa 1770 wird die bis dahin nur im Plural gängige Bezeichnung zu einem Kollektivsingular verdichtet und gleichzeitig einer nunmehr erst entstehenden Philosophie der Geschichte – die Bezeichnung stammt von Voltaire – ein neuer Reflexionsraum eröffnet (Koselleck 1979: 50-57). Daß die Autoren selbst einen neuen Fachausdruck folgenreich und stilbildend prägen können, zeigt der Begriff »Eigensinn«, der im Jahre 2002 als »geschichtstheoretischer Terminus« in ein Lexikon mit den hundert wichtigsten 1 | Vgl. auch Horkheimers philosophiehistorische Vorlesungen zur Aufklärung von 1927 (Horkheimer 1987) und 1959/60 (Horkheimer 1989).

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geschichtswissenschaftlichen Grundbegriffen aufgenommen wurde (vgl. Lüdtke 2002).2 Eine Annäherung an die Aufklärungsrezeption bei Negt und Kluge kann also nicht über die zentralen Begriffe oder über eine geschlossene Spezialabhandlung des Themas im Argumentationsverlauf ihrer Arbeiten geschehen, wie das etwa bei den Schriften der ersten Generation der Kritischen Theorie durchaus möglich wäre; vielmehr muß sie sich zum einen auf die punktuellen inhaltlichen und personellen Bezugnahmen im Rahmen einer materialgesättigten Geschichts- und Politikanalyse sowie zum anderen auf deren Darstellungsform und Wissensorganisation richten. Bereits im Vorwort von »Geschichte und Eigensinn« wird ein Denkmotiv der Aufklärung aufgegriffen – und zwar im Sinne einer Selbstaufklärung der Autoren über unausgesprochene, verdeckte und unentwickelte Elemente ihres eigenen Projektes: »Ursprünglich wollten wir einige dunkle Stellen in unserem Buch Öffentlichkeit und Erfahrung aufhellen« (Negt/Kluge 2001: II, 5). Die Metaphorik der Ausdrucksweise ist dem meteorologischen Bedeutungsfeld entlehnt, aus der sich auch die historische Aufklärung programmatisch bediente: der Aufhellung oder Aufklärung eines bedeckten oder verdunkelten Himmels. Dies verweist auf den einen, von Leibniz und Christian Wolff hergeleiteten Strang der deutschen Aufklärung, der am »Helldenken«, an der Richtigkeit, Klarheit und Deutlichkeit der Begriffe in allen Sachbereichen interessiert war. Gleichzeitig verwenden Negt und Kluge in ihrem Vorwort eine Denkfigur, die einen zweiten, auf Christian Thomasius zurückgehenden Zweig der Aufklärung thematisiert, dessen Ideal das »Selbstdenken«, die Unabhängigkeit von Autorität und Vorurteil war, in dem sie formulieren: »Mehr als die Chance, sich selbständig zu verhalten, gibt kein Buch« (ebd.: 5).3 Der in beiden Äußerungen angedeutete Prozeßcharakter der Theoriearbeit wird noch durch die Kennzeichnung des Werks als »Gebrauchsbuch« unterstrichen, in dem Materialien bereitstellt, Entwürfe geliefert, Erprobungen von Denkansätzen durchführt, mitunter ebenso die Schwierigkeiten und Divergenzen der gemeinsamen Diskussion und ihrer Darstellbarkeit angesprochen werden: »[Quälerei mit dem Stoff] Während wir uns beim Schreiben – und schon in der Vordiskussion – hinsichtlich der recht umfangreichen Untersuchung zur politischen Ökonomie der Arbeitskraft sowie zur sog. ursprünglichen Akkumulation in Deutschland rasch verständigen, so daß, wie bei Öffentlichkeit und Erfahrung, wir uns bis in die Halbsätze ergänzen, quälen wir uns an dem Stoff Deutschland zähflüssig ab. Wir manövrieren auseinander« (Negt/Kluge 2001: II, 389). 2 | Zum Begriff »Eigensinn« vgl. Negt/Kluge 2001: II, 767f.; zum Titel von »Geschichte und Eigensinn« vgl. Stollmann 1998: 109f. 3 | Zum »Hell- und Selbstdenken« vgl. Schneiders 1974: 191-195.

204 | Winfried Siebers Hier zeigt sich die Auffassung der Autoren, »Theorien als eine Art Werkzeugangebot« zu verstehen, das sich – nach einer Bemerkung Oskar Negts – »an gegenständlichen Erkenntnismaterialien reibt und darin bewährt«. Seine eigene »Denkabhängigkeit« von der Tradition der Frankfurter Schule versteht Negt deshalb nicht in einer historischen Rekonstruktion von deren philosophischem Gehalt, sondern vielmehr »als eine Aufforderung, mit der Kritischen Theorie zu arbeiten« (Negt 2003: 85). Neben diesen indirekten Anleihen setzen sich Negt und Kluge jedoch auch ausdrücklich mit programmatischen Ideen und Projekten der Aufklärung auseinander. Das kann an den unterschiedlichen Rückbezügen auf Kants berühmte Definition der Aufklärung »als Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« (Kant 1981: 452) gezeigt werden. Am ausführlichsten geschieht das in einem Zusatz zum Kapitel über »Beziehungsarbeit in Privatverhältnissen« in »Geschichte und Eigensinn«. Nachdem Kant mit den wichtigsten Passagen seines Aufsatzes zu Wort gekommen ist, versuchen die Autoren, den Begriff der Aufklärung auf die privaten menschlichen Beziehungsverhältnisse zu übertragen. Zunächst zeigen sie dessen Grenzen auf, die in dieser Hinsicht mit einem gewissen ideologischen Überschuß aus dem 18. Jahrhundert fortgeschleppt wurden und einer praktischen Aufklärungsarbeit als »Haltung« entgegenstehen: die »konservative und affirmative« Einbettung, die »Erhaltung von Sittlichkeit«, die »Befestigung traditionelle Bindungen«, die »unbrauchbare Perspektive«, von einer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu sprechen, die »Leere«, die ein unreflektierter »öffentlicher Gebrauch der Vernunft« erzeuge (Negt/Kluge 2001: II, 987 u. 995). Stattdessen plädieren Negt und Kluge einerseits für eine »Zärtlichkeit der Vernunft«, die sich um einen »zärtlichen Keim« gruppiere, wo Lebenserfahrung und Gattungsgeschichte zusammengeführt werden können, und andererseits für den Modus der »Umkehrung« von Kantschen Begriffen, indem die dort ausgeschlossenen »abgesperrten Leidenschaften« als produktives menschliches Vermögen wahrzunehmen seien: »Die Umkehrung von Faulheit heißt Industrie (Fleiß). Die Umkehrung von Feigheit ist Solidarität« (ebd.: 995-999). Der »Prozeß der Zuwendung« sei als »die Urzelle von Aufklärung« (ebd.: 1000) zu begreifen, die ganz praktisch auf die Maxime zulaufe: »Mündig ist der Mensch, wenn er Ausgang hat« (ebd.: 995). Diese Aufwertung des »Anderen der Vernunft« – wie es die Gebrüder Böhme wenige Jahre nach Negt und Kluge schlagwortartig zusammengefaßt haben (vgl. Böhme/Böhme 1983) – hat Kluge später im Materialienbuch zu seinem Film »Die Macht der Gefühle« in Anspielung auf Kant noch einmal verschärft: »Sapere aude! Sei neugierig, bediene dich aller eigenen Kräfte, habe Mut dich deiner eigenen Gefühle, deiner Vorfahren, der Geschichte, des Moments (und damit

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des Zufalls oder Neuen) kräftig zu bedienen; […]« (Kluge 1984: 590).4 Inwieweit die Kantsche Version des Aufklärungsdenkens dessen inhaltliche Gestalt jedoch vollständig wiedergibt, ist eine andere Frage, denn die Verknüpfung von Naturzwängen und Vernunftgesetzen in Verbindung mit einer umfassenden »Rehabilitation der Sinnlichkeit« war ein Grundanliegen der Aufklärungsphilosophie (Kondylis 1981: 637-643). In den Stellungnahmen von Negt und Kluge zur Aufklärung geht es immer wieder um deren Prozeßcharakter, der, einmal in Gang gesetzt, unabschließbar ist, nicht unterdrückt werden darf und an dem die verschiedenen menschlichen Eigenschaften mitwirken. Das führen die Autoren in einem Fernsehgespräch aus, das ebenfalls die Kantsche Schrift zum Gegenstand hat. Oskar Negt formuliert darin, daß zum Wissensdrang, zum Verstandesvermögen ein »Moment des Gefühls« und der »Ermutigung« hinzutreten müsse, um einen lebendigen und nachhaltigen Lernprozeß hervorzurufen. Kant fundiere diesen individuellen und gesellschaftlichen Lernprozeß anthropologisch und rechtsphilosophisch: »Aufklärung ist nicht stillzustellen, auch nicht durch nachträglichen Beschluß aller abzubrechen. Kant propagiert, und das ist ein ganz großer Gedanke, eine Art Naturrecht auf die Neugierde des Menschen, auf seine Fähigkeit und sein Bedürfnis, in der Aufklärung fortzuschreiten. Es gibt keine Legitimation dafür, die Menschen in der Aufklärung zu behindern, […]« (Negt/Kluge 2001: I, 64f.).

Daran schließen sich Überlegungen zu einer Art ökologischem Generationenvertrag und zu den Gefahren der Atom- und Gentechnologie an. Negt und Kluge geht es somit nicht darum, sich bloß auf die Resultate und Postulate der Aufklärungstradition zu berufen, ihr Ziel ist es vielmehr, deren Erkenntnispotential für die Analyse aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen zu nutzen. Ein solches Verfahren bedingt, daß sie sich fallweise auf die je verschiedenen Bedeutungsgehalte des Terminus Aufklärung als Selbstbezeichnung, Universalbegriff und Epochenbegriff beziehen. Die Kantsche Aufklärungsdefinition haben sich die Autoren schließlich noch in einer anderen Variante zu eigen gemacht. Bei der Erläuterung des Titel ihres Gemeinschaftswerks »Der unterschätzte Mensch« bezeichnet Oskar Negt als »Leitgedanke« der gemeinsamen Arbeiten mit Alexander Kluge, »den Menschen Hilfen anzubieten, ihren eigenen Weg aus der selbstverschuldeten oder auch fremdverschuldeten Unmündigkeit zu suchen« (Negt 2003: 80). Eine Aktualisierung erfährt auch der Enzyklopädiegedanke der Aufklä-

4 | Eine ähnliche Äußerung findet sich in einem ausschließlich der Aufklärungsschrift Kants gewidmeten Interview, vgl. Kluge/Hoffmeister 2003.

206 | Winfried Siebers rung. Bereits in »Geschichte und Eigensinn« wird ein solches Unternehmen ins Auge gefaßt, denn es sei »eine einfache Arbeit, Leute zu fragen, d.h. weltweit die selbstversorgende Intelligenz- und Erfahrungspraxis zu versammeln; und es wäre vorstellbar, daraus Enzyklopädien von außerordentlicher Aktualität zu gestalten. Man müßte nur hingehen und fragen« (Negt/Kluge 2001: II, 443f.). Aufgenommen wird der Gedanke in einem Fernsehgespräch zum »Projekt Enzyklopädie«, wo ein Bogen von der französischen »Encyclopédie« Denis Diderots und Jean le Rond d’Alemberts, dem Grundwerk der europäischen Aufklärung, bis zu einer »Enzyklopädie des 20. Jahrhunderts« geschlagen wird, die noch zu schreiben wäre. Der Problemhorizont eines solchen Unternehmens für den Zeitraum 1901 bis 1911 wird im Vergleich mit dem aufklärerischen Projekt entwickelt: dort ein materialistisch fundiertes und an einem »substantiellen Vernunftbegriff« orientiertes Weltbild, hier eine »Verweltanschaulichung« des Wissens in nationaler Perspektive, dort ein methodisches Sachwörterbuch ohne eine ausgrenzende »Berufsspezialisierung«, hier eine »Abtrennung der naturwissenschaftlichen Aufklärung von allen Formen möglicher gesellschaftlicher, moralischer Aufklärung«, dort eine Verknüpfung des Wissens mit den »Verhaltensimperativen« der Moral, hier eine experimentelle Naturwissenschaft ohne Verbindung zu ethischen Fragestellungen (Negt/Kluge 2001: I, 69-80). Eine neue Enzyklopädie hätte vor allen Dingen die Stichworte Krieg, Eigentum und Fortschritt neu zu bearbeiten, da sich die negative Zerstörungsenergie und das Gefahrenpotential dieser sozialen und ideologischen Sphären im Rahmen der Weltgesellschaft vervielfacht habe. Für das Stichwort Krieg hat Kluge selbst eine Neudefinition vorgenommen, indem er einen entsprechenden Eintrag für eine modellhafte Fortschreibung der »Encyclopédie« verfaßte, in der Artikel aus der Originalausgabe mit neugeschriebenen Beiträgen verschiedener Gegenwartsautoren ergänzt wurden (vgl. Kluge 2001). Fortgeführt werden die Überlegungen anläßlich einer mehrtägigen Veranstaltung zur Präsentation von »Der unterschätzte Mensch« im Januar 2002. Die Idee der Enzyklopädie, so Kluge, bedürfe einer »Formänderung«, die »mehrsprachig« sein müsse in dem Sinne, daß sie für »alle Gesellschaftsschichten« verstehbar sei. Es gehe darum, »Stück für Stück Unterscheidungsvermögen auf[zu]sammeln« und mit einer derartigen »Sammelaktion Enzyklopädie« eine »Wiederaufnahme der Moderne« und eine »Reinschrift der Aufklärung unter Einbeziehung der Dialektik der Aufklärung« zu betreiben (Burmeister 2003: 158f.). Mit der Idee zu einem derartigen Sammelwerk zeigt sich Kluge als derjenige Projektemacher, als den Jürgen Habermas ihn in einer Fernsehsendung anläßlich seines 70. Geburtstages charakterisiert hat:

Weltkasten mit Digressionen | 207 »Projektemacher ist jemand, der aus eigener Kraft eine vollkommen neue Idee, von dem andere denken, das ist ein Spinner, das ist eine spinnerte Idee, der eine eigene Idee sozusagen im Ein-Mann-Unternehmen, indem er auch andere dafür interessiert, zu einem Ende bringt, das (a) nützlich ist im Sinne der Aufklärung und (b) dann auf diese Weise – dass es Gebrauchswerte schafft, auch sich Anerkennung erwirbt. Das ist ein Projektemacher! Und in diesem, von mir ja uneingeschränkt positiv gesehenen Sinne, ist Kluge vielleicht der einzige Projektemacher wirklich großen Formats, den wir haben heute« (Habermas 2002).

Damit stimmt überein, daß Negt und Kluge kürzlich in einem Handbuchartikel als politische Theoretiker bezeichnet wurden, die »bewusst in einer deutschen Tradition der Sinnierer und Tüftler« stünden (Brumlik 2004: 338). Die Autoren selbst weisen darauf hin, daß die Intelligenz als »Stand der ›Einsichtler‹« bezeichnet werden könne, es seien »aber Erkennende, Sammler, Sortierer, Boten, Experimentatoren, Erfinder, Bücherfreunde, Unterhalter, Baumeister, Konstrukteure – eine Fülle von Tätigkeiten, die das Wort Intelligenz nicht wiedergibt« (Negt/Kluge 2001: I, 443). Eine Pointe gewinnen diese Beschreibungen dadurch, daß die Sozialfigur des Projektemachers ein typisches Produkt der Aufklärung war und etwa Daniel Defoe sein Zeitalter gar eine »Projektenperiode« nannte (Stanitzek 2004: 29).5 Dem Typus des Projektemachers, der auf eine unsichere Umbruchsituation mit zeitlich begrenzten und überschaubaren Problemlösungen reagiert, schlägt seit jeher Skepsis entgegen, denn die Möglichkeit des Scheiterns, des Aufgebens oder des Unfertigen ist in der Idee des Projekts beschlossen. Die Aufklärer diskutieren den Vorbehalt, indem sie schlicht alle Menschen zu Projektemachern erklären und die Projekte selbst als notwendig bezeichnen, da jene aufgrund rascher gesellschaftlicher Veränderungen kein absehbares Ende haben werden, da die Macher selbst wegen ihres oft randständigen Status auf äußerst nützliche Einfälle kommen könnten und dieselben schließlich aufgrund ihrer möglichen Mißerfolgserfahrungen, indem sie utopieresistent geworden sind, auch in anderen Lebensbereichen ihren Mann stehen könnten. Einige Momente dieser Argumentationslinie lassen sich unschwer mit Denkanlässen und -motiven aus Negt und Kluges gemeinsamer Theoriearbeit assoziieren; denn sie handeln über Selbsttätigkeit und lebendige Arbeit, sie reagieren mit ihren Büchern von 1972, 1981, 1992 und 2001 auf jeweilige gesellschaftspolitische Umbrüche, sie machen sich Gedanken über die Arbeitsweise der Intelligenz und sie analysieren die produktiven Arbeitsvermögen der privaten Beziehungsverhältnissen als übertragbare Grundeigenschaft aller Arbeitsprozesse. 5 | Das Folgende nach Stanitzek 2004; zu Kluge als Projektemacher vgl. auch Kaube 2004.

208 | Winfried Siebers Rainer Stollmann hat mit Blick auf die unterschiedlichen, ja oft gegensätzlichen Theorietraditionen, auf die sich Negt und Kluge in »Der unterschätzte Mensch« beziehen, bemerkt, daß einem dazu »das Wort ›Eklektizismus‹ einfallen« könne, daß es sich hier jedoch »nicht um das unterschiedslose, widersprüchliche Einsammeln von irgendwie guten Dingen handelt, sondern da darin die Idee der Enzyklopädisten steckt, die große Sammlungen angelegt und auf das Ganze, auf Vollständigkeit gezielt haben« (Stollmann 2003: 16). Die distanzierenden Anführungsstriche beim Begriff »Eklektizismus« mögen dem heutigen Leser einen Vorbehalt gegenüber dieser nur noch negativ wahrgenommenen philosophischen Arbeitsweise andeuten, haftet dem damit bezeichneten Verfahren doch der Ruch des Unoriginellen, Phantasielosen und Epigonenhaften an. Sie sind aber nicht nötig, wenn man auf die antike Tradition der Eklektiker verweist, die Theorie als freien und zukunftsoffenen Forschungsprozeß konzipierten, der an je unterschiedlichen Sachbezügen orientiert war. Von Philosophen der Frühaufklärung seit Thomasius wurde die Bezeichnung aufgegriffen und programmatisch verwendet. Eklektik – als deutsche Version des Empirismus – und Rationalismus werden von der heutigen Aufklärungsforschung als die bestimmenden Hauptrichtungen der deutschen Philosophie vor Kant angesehen (vgl. Schmidt-Biggemann 1988: 7-57, 203-222; Albrecht 1995). Das philosophische Konzept der Eklektik inspirierte eine große Zahl von Gelehrten, die in umfangreichen bio-bibliographischen und wissenschaftsgeschichtlichen Kompendien, sog. Literärgeschichten, das Wissen der Zeit zusammentrugen. Nicht zuletzt Johann Heinrich Zedlers »Universal-Lexikon« (1732-1754), mit seinen 68 Bänden immer noch die größte zu Ende geführte deutsche Enzyklopädie, beruht auf der methodischen Grundlegung der aufklärerischen Variante der eklektischen Philosophie. Denis Diderot, der diese vor allem in Deutschland gepflegte Arbeitsweise sehr genau kannte, hat in seinem »Encyclopédie«-Artikel über »Éclectisme« aus dem Jahr 1755 den Eklektiker als Vorreiter des Enzyklopädisten beschrieben: »Der Eklektiker ist ein Philosoph, der das Vorurteil, die Überlieferung, alles Althergebrachte, die allgemeine Zustimmung, die Autorität, ja alles, was die meisten Köpfe unterjocht, mit Füßen tritt & daher wagt, selbständig zu denken, auf die klarsten allgemeinen Prinzipien zurückzugehen, sie zu prüfen & zu erörtern, kein Ding anzuerkennen ohne das Zeugnis seiner Erfahrung & Vernunft, & aus allen Philosophien, die er rücksichtslos & unvoreingenommen untersucht hat, eine besondere, ihm eigentümliche Hausphilosophie zu bilden. Ich sage ›eine besondere Hausphilosophie‹, weil das Bestreben des Eklektikers dahin geht, weniger der Erzieher der Menschheit zu sein als ihr Schüler, weniger die anderen zu bessern als sich selbst, weniger die

Weltkasten mit Digressionen | 209 Wahrheit zu lehren, als sie zu erkennen. Er ist kein Mensch, der pflanzt & sät; er ist ein Mensch, der sammelt & siebt« (Diderot 2001: 53).6

Die Formulierungen Diderots scheinen mir eine gültige Beschreibung dessen zu sein, was Negt und Kluge in ihren gemeinsamen Arbeiten betreiben: Sie prüfen das Theorieangebot von Kant, Hegel, Marx, Freud7 – und manchen anderen – daraufhin, was es zu aktuellen Gegenwartsfragen beizutragen hat, sie betrachten die Menschheit nicht abstrakt sondern in ihren konkreten Lebensvollzügen und Arbeitsvermögen, sie verstehen ihre Reflexionen als eine Art Hilfe zur Selbsthilfe für den interessierten Leser, sie haben keine fertigen Wahrheiten oder Systeme anzubieten sondern beharren auf dem Prozeßcharakter von Erkenntnis, Erfahrung und Theoriearbeit, sie sammeln Belegstücke aus einem umfassenden geschichtlichen und politischen Materialfundus, um daraus die für eine kritische Orientierung in der Gegenwart wichtigen Bestimmungsgrößen und Praxisfelder zu sieben. Ihre Hausphilosophie ist die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit den ästhetischen Verfahren der Moderne – und den wissensorganisierenden der Aufklärung. Kein Zweifel wird daran bestehen, das dialogische Moment der Zusammenarbeit in den Schriften von Negt und Kluge als grundlegend, ja als konstitutiv anzusehen. Das beginnt bei dem berühmt geworden Photo auf dem vorderen Einbandinnendeckel der Erstausgabe von »Geschichte und Eigensinn«, wo die beiden Autoren, sich gegenübersitzend und umringt von Bücherstapeln und Teetassen, einen Manuskriptentwurf redigieren. Es setzt sich fort in der »Nachbemerkung«, wo gesagt wird, daß ihre Arbeitsweise darin bestehe, »die Texte Satz für Satz zu diskutieren und gemeinsam zu schreiben« (Negt/Kluge 2001: II, 1245). Es wird fortgeführt in den inzwischen über vierzig Fernsehgesprächen, von denen 26 in »Der unterschätzte Mensch« abgedruckt sind. Es wird von beiden Autoren in autobiographischen Skizzen ihrer Zusammenarbeit teilweise ausführlich beschrieben (Kluge in Negt/Kluge 2001: I, 5-16; Negt in Burmeister 2003: 193-196). Diese Hinweise auf die Dialogform betreffen die Produktionsweise der Autoren, es gibt jedoch mancherlei Anzeichen dafür, daß in den Texten eine ständige Beziehung zum Leser gesucht wird, nicht nur durch Du-Anreden oder das einbeziehende »Wir«, sondern auch durch die Anknüpfung an

6 | Im letzten Satz ist der Druckfehler »sieht« in der Vorlage hier zu »siebt« verbessert. 7 | Diese Autoren nennt Oskar Negt als »unsere geläufigen Texte, die wir immer ausgebreitet haben, wenn wir auch ein unmittelbares Problem der Gegenwart behandelten«; Diskussionsbemerkung in Burmeister 2003: 51.

210 | Winfried Siebers deren Alltagserfahrungen, etwa am Beispiel von »Hammer, Zange, Hebel« als Illustration für die Gewaltsamkeit von Arbeitseigenschaften (Licher 2000: 208; Negt/Kluge 2001: II, 20-26). Der Dialog kann als mikroskopisches Modell zur »Organisation der menschlichen Subjekteigenschaften« betrachtet werden, das als ein Grundzug des Öffentlichkeitsverständnisses von Negt und Kluge namhaft gemacht wurde (Schulte 2004: 238). Man mag auch in diesem dialogischen Moment ihrer Schriften eine Aufnahme aufklärerischer Motive entdecken, obwohl die Traditionsgeschichte des Dialogs sehr viel älter ist und auf die antike Philosophie zurückgeht. Doch in der Epoche der Aufklärung erreicht das Genre des literarischen und popularphilosophischen Dialogs eine neue Breitenwirkung und eine Intensivierung seiner ästhetischen Potenzen, etwa im »Dialogroman« (vgl. Winter 1974; Galle 1983). Der Anspruch auf Denk- und Redefreiheit bedingt eine Auseinandersetzung und Darlegung verschiedener Meinungen und Standpunkte, die im Dialog als mehrstimmiges Philosophieren vorgeführt werden können, wobei eine solche Art der Redeform stärker bei antisystematischen Denkern wie etwa Diderot oder Lessing vorzukommen scheint. Die Popularisierung des Wissens durch Veranschaulichung und die Einbindung individueller Momente bei der Gedankenfindung weisen auf parallel gelagerte Darstellungsmotive bei Negt und Kluge hin: Im Dialog wird Erkenntnis als Prozeß vorgeführt und mit der Affektsphäre verknüpft, die Erkenntnis vollzieht sich in Geselligkeit und ist deshalb auf Verständlichkeit verpflichtet, ebenso wie sich dialogisch ein Raum für intuitive Assoziationen öffnen kann. Ist »Geschichte und Eigensinn« ein »Lehrbuch«? Dieser Eindruck, den man aufgrund der typographischen Gestaltung des Werks haben könne, werde von den Autoren – so Lucia Licher – »einerseits unterlaufen und andererseits akzentuiert« (Licher 2000: 206). Liegt hier eine Verwirklichung pädagogischer Absichten durch Anti-Pädagogik vor? Immerhin entspricht das Buch in seinem äußeren Erscheinungsbild nicht demjenigen einer gängigen politisch-philosophischen Abhandlung: Es enthält ins Auge springende Hervorhebungen von Textteilen im Fettdruck, es gibt Kästen mit weißer Schrift auf schwarzem Grund, gerahmte Merksätze, auffällige kreisrunde Elemente zur Kapitelgliederung, es gibt »Exkurse« im Petitsatz und »Kommentare« am Schluß der Hauptkapitel, es gibt »Zusätze« und mit Großziffern numerierte Einschübe, schließlich findet man mitunter überlange Fußnoten und über 300 Abbildungen, die teilweise zu kleinen Bild-Essays zusammengestellt sind. Die »enzyklopädische Vielfalt der Gesten, Genres und Ausdruckformen« (Licher 2000: 214) spiegelt das Bemühen der Autoren wider, auch in der äußeren Gestalt ihrer Theoriearbeit und bis in die sprachlichen Formen hinein ein adäquates Verhältnis zu ihren Gegenständen zu gewinnen, die Organisationsform des Wissens nicht zugunsten von

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Resultaten und einer geschlossenen Darstellungsweise von der Materialität des Erkenntnisvorgangs auszuschließen. Das Verfahren ähnelt einer stilistischen Figur, die Alexander Kluge oft am Ende seiner Interview-Sendungen im Fernsehen verwendet: Auf einer Schrifttafel erscheint der Titel der Sendung, der Abspann beginnt, doch die Gesprächspartner reden weiter, der Ton wird nur langsam ausgeblendet. Damit wird angezeigt, daß das gerade ausgestrahlte Gespräch nur eine Momentaufnahme, ein Ausschnitt des gemeinsamen Denkprozesses ist, der wegen der äußeren Konventionen des Fernsehformats nur verkürzt wiedergegeben werden kann. Eine ähnlich Funktion haben bereits die zwanzig »Kommentare« am Schluß von »Öffentlichkeit und Erfahrung«, die verschiedene Aspekte des Argumentationsganges im Haupttext noch einmal in anderer Perspektive beleuchten und auf die Unabschließbarkeit der Theoriearbeit hinweisen. Dieses Mittel ist von den Autoren in »Geschichte und Eigensinn« in vervielfältigter Form angewandt worden. Es dient dazu, auch in der materialen Präsentation der Reflexion Unterscheidungsvermögen und Balanceökonomien herzustellen und zu aktivieren. Die kompendienartige Darstellung, die enzyklopädische Reichhaltigkeit der Themen, die kritische Überprüfung des Überlieferten, die ausufernden Digressionen, der Charakter des erweiterbaren Gebrauchsbuches, die sorgfältigen typographischen Differenzierungen – all diese Merkmale von »Geschichte und Eigensinn« mag das eine oder andere Werk der philosophischen Tradition aufweisen, doch scheinen sie auf kein anderes Buch genauer zuzutreffen als auf Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«, jener »Rüstkammer« der französischen Aufklärung, wie Wilhelm Dilthey es formulierte (Gawlick/Kreimendahl 2003: X). Bayles Wörterbuch, das für die philosophes aus dem Umkreis der »Encyclopédie« zur »Bibel« wurde (ebd.), erschien erstmals 1697 und zuletzt nach dem Tod des Verfassers in einer vierbändigen Ausgabe 1740. Das Wörterbuch enthält 2.050 Personen- und Städteartikel, die auf 3.300 Seiten im Folio-Format dargeboten werden. Für sein Handbuch, dessen inhaltliche Aspekte hier weitgehend ausgeklammert bleiben sollen, hat Bayle eine äußerst differenzierte typographische Gestaltung gewählt: Die oft nur wenige Zeilen umfassenden, den vollen Satzspiegel einnehmenden Hauptartikel werden durch Bayles eigentliche Leistung, die oft sehr umfangreichen, zweispaltig gesetzten Anmerkungen (remarques) ergänzt. Das Beleg- und Nachweissystem als dritte Schicht ist durch unterschiedliche Buchstaben- und Nummernfolgen für Haupt- und Anmerkungstext getrennt. Dazu kommen Marginalien am Seitenrand, die Stichworte und Zwischengliederungen, aber auf weitere Literaturangaben enthalten, während bei der Schriftverwendung Zitate in kursiv, das Stichwort in Großbuchstaben und Kapitälchen gedruckt sowie alle anderen Elefmente durch verschiedene Schriftgrößen untergliedert sind. Insgesamt hat

212 | Winfried Siebers Abbildung 1: Abbildung der S. 12 aus dem Band 3 des Dictionnaire historique et critique von Pierre Bayle, Amsterdam 1740 (Artikel »Knuzen«)

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man 10.350 Marginalnoten und 44.100 Noten zu den remarques gezählt, in denen über 3.500 Werke nachgewiesen werden (Lieshout 2001: 177). Diese »kunstvolle und wohldurchdachte Anordnung der Druckseite« zielt auf die »Stärkung der Autonomie des Lesers«, der den Gedankengang aufgrund des ausführlich ausgebreiteten Faktenmaterials kritisch nachvollziehen kann (Gawlick/Kreimendahl 2003: LVIIIf.). Außerdem pflegte Bayle dem Unterhaltungsbedürfnis des Publikums insofern nachzukommen, als er seine Anmerkungen mit Anekdoten und teilweise mit mancherlei Obszönitäten anreicherte (ebd.: XXIII). Mitunter verteilt er die Behandlung eines Themas auf mehrere Stichworte, insgesamt neigt er »zur dezentralen Behandlung seines Stoffs« und zu unerwarteten und überraschenden Digressionen (ebd.: XXV). Digressionen dienen in der Regel der Erläuterung eines Nebenaspektes des Hauptthemas, sind nach der Definition von Erasmus von Rotterdam aber auch ein »Sammelplatz geballter Gelehrsamkeit« – und damit ein Einfallstor für Subjektivität – sowie ein Mittel, die »Schläfrigkeit eines Lesers oder Hörers zu überwinden« (von Poser 1969: 23). Das führte in der Literatur des 18. Jahrhunderts dazu, daß ein Virtuose der Digression wie Laurence Stern in seinem Roman »Tristram Shandy« (17591767) statt der Geschichte des Autors dessen Subjektivität und den Vorgang des Erzählens zum Thema macht. Es wird deutlich, daß die typographische Anordnung des Faktenvorrats zur Offenlegung der Subjekteigenschaften des Lesers dient, der das angebotene Netzwerk des Wissens selbst verknüpfen muß, während das rhetorische Mittel der Digression den Gedankenprozeß des Verfassers aufzeigt. Beide Verfahren veranschaulichen in gleichem Zuge die Mehrdimensionalität des jeweiligen Gegenstandes. Es sind Darstellungsweisen, denen sich ebenfalls die Autoren von »Geschichte und Eigensinn« verpflichtet fühlen. Aufklärungstypische Methoden der Wissensorganisation im 18. Jahrhundert finden sich des weiteren bei der Verwendung von Illustrationen für pädagogische Zwecke. So erschien 1780-1784 die »Bilder-Akademie für die Jugend« des fränkischen Theologen und Lehrers Johann Siegmund Stoy, die aus zwei Textbänden und einem großformatigen Bildband mit 52 Kupferstichtafeln, die jeweils neun Abbildungen umfaßten, bestand. Das Werk sollte in größtmöglicher Vollständigkeit das gesamte Wissen der Welt von der biblischen Geschichte bis zur Naturlehre, von den verschiedenen Berufsständen bis zur Anatomie des Menschen in Illustrationen wiedergeben. Einige, heute äußerst seltene, Exemplare der »Bilder-Akademie« wurden in einer besonderen Form ausgeliefert: Hier hatte man die Einzelabbildungen zerschnitten und auf 468 Pappkartons geklebt, die in einem schubladengroßen Kasten mit neun Fächern aufrecht eingestellt waren. Die Wissenschaftshistorikerin Anke te Heesen hat bei der Untersuchung der Bildenzyklopädie für diese Form eines Wissensmediums den Begriff »Weltkasten«

214 | Winfried Siebers geprägt, der die Verbindung von Weltaneignung und materialer Präsentation anzeigen soll (te Heesen 1997: 8). Durch die Kombination von enzyklopädisch angelegtem Inhalt und einer materialen, im wörtlichen Sinne begreifbaren Ordnungsweise sollten die Schüler bei der Benutzung des Bilderkastens eigene Verknüpfungen zwischen den Bildkarten herstellen, sich auch ganz den individuellen Interessen beim Herausziehen der Karten überlassen können. Die räumliche Ordnung des Kastens machte sich somit die spezifische »Erkenntnisform der Kunstkammer« zu eigen (Bredekamp 1993: 68). Dabei war die bildliche Vorratskammer des Wissens zwar systematisch geordnet, jedoch grundsätzlich erweiterbar, denn nicht alle Fächer waren mit Bildkarten ausgefüllt. Der Verfasser animierte Pädagogen und Schüler geradezu, selbst Bilder und Zeichnungen zu sammeln und sie dem Kasten hinzuzufügen. »Tätiges Sammeln« und »Hantieren mit dem Objekt« sollten die Selbständigkeit und die Entdeckerlust der Kinder fördern (te Heesen 1997: 182). Unschwer wird man erkennen, daß nicht nur die Metapher des »Weltkastens« auf das Werk Negts und Kluges übertragbar ist, sondern daß zudem einige Funktionselemente der geschilderten Bildenzyklopädie mit deren Arbeit übereinstimmen: der große Stellenwert des Bildes als Bestandteil der Argumentation, die Netzwerkeigenschaften des dargebotenen Materials, der Aspekt selbsttätiger Wissensverknüpfung auf seiten des Benutzers oder Lesers, die prinzipielle Erweiterbarkeit der vorgeschlagenen Wissensordnung, der Werkzeugcharakter des Bildungs- bzw. Theoriemediums. Die Theoriearbeiten von Negt und Kluge haben eine unterschiedliche Bewertung erfahren. Ist »Geschichte und Eigensinn« eine »Art proletarischer Hausfreund« (Schuh 1983: 162) oder schlicht ein »Kultbuch«, das wie ein »riesenhafter Gedichtband« (Gräber 1982: 7) daherkomme, geschrieben von zwei »literarischen Sozialarbeiter[n]« (Drews 1985: 23f.)? Oder dient das Buch vielmehr der »theoretischen Standortsicherung des kritischen Intellektuellen« in »avancierter Denkbilderform« (Jäger 1999: 125 u. 109) am Beginn der 80er Jahre, ist es gar ein »akademisches Gesamtkunstwerk« (Licher 2000: 207)? Oder ist das Werk eine »breit angelegte materialistische Geschichtsphilosophie« (Brumlik 2004: 337), das zu den »erregendsten Bücher[n] der alten Bundesrepublik« (Lenk 1999) zählt? Wie immer man das beurteilen mag, es bleibt festzustellen, daß es sich bei der gemeinsamen Philosophie Negts und Kluges wohl kaum um ein »frühromantisches Projekt« (Licher 2000: 213) handelt, auch wenn die Autoren ihr Buch ein »Fragment« (Negt/Kluge 2001: II, 1245) nennen und damit im Regelfall eine wenig erhellende Assoziation zu den ästhetischen Positionen Friedrich Schlegels und der Frühromantik auslösen (Jäger 1999: 114; Licher 2000: 206 u. 208). Gegen eine solche einlinige Zuschreibung sprechen die angeführten Bezugnahmen auf Denkmotive und wissensorganisatorische Ver-

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fahren der historischen Aufklärung. Diese ist zudem in der philosophischen Durchdringung ihrer eigenen Dialektik sehr viel differenzierter gewesen als mancher ihrer Kritiker wahrzunehmen bereit ist. Georg Christoph Lichtenberg hat das auf seine ihm eigentümliche Weise in zwei Reflexionen ausgedrückt, die wohl auch in der politischen Philosophie Oskar Negts und Alexander Kluges einen Platz finden könnten: »Ich möchte zum Zeichen für Aufklärung das bekannte Zeichen des Feuers (≅) vorschlagen. Es gibt Licht und Wärme, es [ist] zum Wachstum und Fortschreiten alles dessen was lebt unentbehrlich, allein – unvorsichtig behandelt brennt es auch und zerstört auch.« – »Ein gewisser Freund den ich kannte pflegte seinen Leib in drei Etagen zu teilen, den Kopf, die Brust und den Unterleib, und er wünschte öfters, daß sich die Hausleute der obersten und der untersten Etage besser vertragen könnten« (Lichtenberg 1968, 790 u. 135f.).

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Cross-Mapping. Aspekte des Komischen Christian Schulte

»Mit der Straßenkarte von Groß-London den Harz durchwandern.« Die Texte, Filme und Fernsehproduktionen Alexander Kluges thematisieren in der Regel den geschichtlichen Ernstfall: Die Weltkriege, der Faschismus, Tschernobyl, Zäsuren wie 1918, 1945, 1968 und 1989 bis hin zu den Terroranschlägen am 11. September, nahezu sämtliche Krisenmomente der jüngeren Geschichte – vor allem des 20. Jahrhunderts – werden aus immer wieder anderen Perspektiven fokussiert und durchgearbeitet. Sein Werk läßt sich als Bestandsaufnahme der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts beschreiben, als Versuch, die Menetekel des Jahrhunderts mit erzählerischen Mitteln zu entziffern. Von Ausnahmen abgesehen beschreiben die Geschichten des Adorno-Schülers »Lernprozesse mit tödlichem Ausgang« (Kluge 1973). Ein ernster Autor also, bei dem man Komisches zuletzt vermuten würde. Wie kommt es dann, daß man – bei all diesem Ernst – trotzdem lachen muß. Die Antwort könnte lauten: Gerade, weil es so ernst ist, weil es um etwas geht. Davon soll im folgenden die Rede sein. Bereits phänomenologisch erfüllen die Arbeiten Kluges eine Grundbedingung des Komischen: nämlich als konsequenter Regelverstoß. Was Hans Magnus Enzensberger 1978 über die »Neuen Geschichten« (Kluge 1977) schrieb, gilt nicht nur für Kluges gesamtes literarisches Werk, sondern – mit den medienspezifischen Einschränkungen – ebenso für seine Filme und TV-Magazine. Und selbst die in Zusammenarbeit mit Oskar Negt angelegte philosophische Materialcollage »Geschichte und Eigensinn«

220 | Christian Schulte (Negt/Kluge 1981) könnte – aufgrund ihrer Kompositionsform – als Beleg für Enzensbergers Beobachtungen herangezogen werden: »Sein Buch macht den Eindruck eines Trümmerfeldes. Zum formalen Prinzip des Erzählens ist hier die Katastrophe gemacht worden. Der Text besteht aus zahllosen Splittern und Fragmenten. Alle möglichen Schreibweisen sind vertreten: das Dossier, die Familienchronik, das Interview, die Anekdote, der Lebenslauf, das Sitzungsprotokoll, die klassische Novelle, der Forschungsbericht usw. ›Gelungene‹, abgerundete Formen kommen nicht vor; so als läse man lauter Exposés, Auszüge, Treatments. Kluges Heldinnen und Helden sind wie aus dem Telephonbuch gegriffen. Eine Liste ihrer Berufe liest sich ungefähr folgendermaßen: Sophist, Lagerarbeiter, Staatsanwalt, Programmabhorcher, Leibwächter, Schönheitskönigin, Mittelwertbildner, Schwester Oberin, Vizeadmiral, Prostituierte, Raketentechniker. Überrepräsentiert sind Forscher aller Art, zum Beispiel Gehirn-, Friedens-, System-, Rasse- und Schwachstellenforscher« (Enzensberger 1978: 81).

Liest man Enzensbergers Aufzählung, so wird man sich fragen, was man sich denn unter einem Programmabhorcher oder einem Mittelwertbildner vorzustellen habe. Damit aber ist das Problem schon benannt, denn diese Bezeichnungen markieren einen Abstraktionsgrad, der unsere Phantasie übersteigt. Es sind Chiffren für die Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse, die Kluge auch als babylonische bezeichnet. Er interessiert sich auch weniger für diese Berufe, sondern mehr noch für die Motive, Umstände und Prozesse, die Menschen in solche Funktionen gebracht haben. Die Frage lautet immer: Wie verhält sich eine bestimmte Tätigkeit, die ein Mensch ausübt, oder eine Situation, in die er hineingerät (etwa im Krieg), zu dem, was er ursprünglich tun wollte. Sie zielt also auf das subjektiv-objektive Verhältnis von individuellem Lebenslauf und allgemeiner Geschichte. Um dieses Verhältnis so darzustellen, daß die menschliche Erfahrung, Wahrnehmung und Phantasie auf die Komplexität der Wirklichkeit antworten kann, bedient sich Kluge in seinen künstlerischen und theoretischen Arbeiten ästhetischer Verfahren, die die Vorstellungskraft von Lesern und Zuschauern stärken und ihre Phantasietätigkeit aktivieren sollen. »Mehr als die Chance, sich selbständig zu verhalten, gibt kein Buch«, hieß es im Vorwort der Erstausgabe von »Geschichte und Eigensinn« (Negt/Kluge 1981: 5). Und es ist eben diese Autonomie, die als Bedürfnis des Rezipienten unterstellt wird und die herzustellen die offensiv vorgetragene GebrauchswertUtopie eines längst nicht mehr zu überschauenden Werkgebildes ausmacht. Diese multimedialen Montagetexte sind unübersichtlich, verrätselt; sie haben weder Anfang noch Ende, folgen keinem roten Faden, keiner Dramaturgie der Steigerung; die einzelnen Elemente werden in einem weitma-

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schigen Gewebe assoziativ verknüpft und behalten so ihre Autonomie. Hybride Formen also, die mit den Einteilungen der Kulturindustrie unvereinbar sind. Auf die Frage, warum er auf jeden roten Faden verzichte, antwortet Kluge sinngemäß: Wenn es in der Realität den roten Faden nicht gibt, dann ist die lineare Erzählweise ein Irrtum. »Das alles hat den Charakter einer Baustelle. Es ist grundsätzlich imperfekt« (Kluge 1999: 132). Deshalb verzichtet Kluge darauf, seine Texte nachträglich auszubessern oder die Spielszenen seiner Filme mehrmals zu drehen. Ein Drehbuch im klassischen Sinne gibt es ohnehin nicht. Kluge gibt seinen Darstellern nur den Rahmen vor, eine bestimmte Situation oder einen Rollentypus, den sie dann spontan aus der eigenen Erfahrung und Imagination heraus entwikkeln müssen. Die Komik, die etwa bei den Auftritten Alfred Edels entsteht, wenn er den eitlen Hochschulassistenten, einen Werkschützer oder einen Staatsanwalt spielt, ist nicht kalkuliert, sie entsteht eher beiläufig, unwillkürlich (vgl. Schulte 2004a: 87-93). Die Pointe ist nicht zwingend, die Differenz zwischen Darsteller und Rolle bleibt – in Anlehnung an das epische Theater Brechts – stets erkennbar und soll es auch. Der Darsteller stößt seiner Figur gewissermaßen zu, das Spiel ähnelt einem Unfall, die Rolle ist für den Darsteller der Anlaß eines Selbstversuchs. Die Szenen bleiben in der Schwebe zwischen Fiktion und Dokument und ziehen damit die Fallhöhe, von der aus eine Darstellung scheitern könnte, weitgehend ein. In dem Film »Die Patriotin« heißt es: »Wenn doch die Fehler das Beste daran sind« (Kluge 1979: 92). Dasselbe gilt für die Interviews, die Kluge in seinen Kulturmagazinen führt. Auch hier werden sogenannte Fehler (Denkpausen oder Versprecher), die im konventionellen Fernsehen als qualitätsmindernd empfunden würden, nicht herausgeschnitten, sondern als authentische Merkmale der Gesprächssituation ausgestellt. In Abgrenzung vom filmischen mainstream sagt Kluge: »Das vollständige Verstehen von Filmen ist Begriffsimperialismus, kolonialisiert die Gegenstände. Wenn ich alles verstanden habe, ist etwas leergeworden. Wir müssen Filme machen, die im vollen Gegensatz zu dieser Kolonialisierung des Bewußtseins stehen. Ich stoße im Film auf etwas, das mich noch überrascht, mit dem ich umgehen kann, ohne es zu verschlingen. Eine Pfütze, auf die es regnet, verstehe ich nicht. Ich kann sie sehen. Das Wort, daß ich sie verstehe, ist unsinnig. Entspannung heißt, daß ich für einen Moment selber lebe, d.h. die Sinne laufen lassen: einmal nicht Wächter sein, mit der polizeilichen Absicht, daß mir nichts entgeht« (ebd.: 301).

Kluges Arbeiten sind Gegenentwürfe gegen die Ordnungsbegriffe des Erziehungsbewußtseins, gegen Sinnzwang und Bedeutungshierarchien, die die Welt in Haupt- und Nebensachen einteilen. So läßt eine Geschichte wie »0,0001 Prozent der Lebenszeit« (Kluge 2000a: 20) die Erwartungen der

222 | Christian Schulte Leser praktisch ins Leere laufen, denn sie handelt von nichts anderem als dem Seitenblick eines Wirtes auf ein paar spielende Hunde. Texte wie dieser, mehr aber noch die Fernsehinterviews konfrontieren die Wahrnehmung mit einer anderen Zeitökonomie. Hier wird Zeit buchstäblich verschwendet, ohne daß etwas Spektakuläres geschähe oder bündig auf den Punkt gebracht würde. Im Gegenteil, die Gespräche umkreisen ihr Thema eher, als daß sie zum Kern der Sache vordringen würden; und gelegentlich verlieren sie sich in Digressionen, die abstruser kaum sein könnten. So fragt Kluge die japanische Dichterin Yoko Tawada, ob es in Japan Mammute gebe (News & Stories, 20.09.93), der Dramatiker Heiner Müller soll plötzlich erläutern, was der Mond ist (Kluge/Müller 1985: 88-91), dem Regisseur Richard Linklater schlägt er vor, mit der Filmgeschichte noch mal von vorn zu beginnen (PrimeTime, 11.06.95), und mit dem Gehirnforscher Detlev B. Linke phantasiert er darüber, ob sich unser Gehirn mit einem Schlangennest vergleichen lasse (10 vor 11, 13.06.94). Was in diesen Personenporträts eher noch die Ausnahme ist, das ist in den fake-Gesprächen mit Peter Berling, die inzwischen auf rund einhundert Sendungen angewachsen sind, die Regel. In diesen slapstick-Dialogen, die im Abspann eine Zeitlang als doku-soaps markiert wurden, begegnet uns Berling – in immer wieder anderen Kostümen und Masken und doch immer erkennbar er selbst – mal als VerPeter Berling als Kaptajn Epsen Kioning, in: Warum hilft Gott dem Wal nicht?, 10 vor 11, 10.01.2000 (RTL).

Peter Berling als Kraftmagnet Michael Bohnen, in: Die Wagner-Bombe, PrimeTime/ Spätausgabe, 05.12. 1999 (RTL).

trauter Bill Clintons während der Lewinsky-Affäre, als intimer Zeuge der Kriminalgeschichte des Vatikans, als Löwenbändiger Hermann Görings, als der »vierte der Tenöre«, der immer dann einspringt, wenn Carreras oder Pavarotti verhindert sind, mal als Bodyguard Adolf Hitlers, als spanische Stierkampflegende usw. In diesen Gesprächen ist Kluge eine Art Souffleur, der die Stichworte liefert, nach denen Berling seine Rollen improvisiert, mal

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Peter Berling als Tiermehlfabrikant Fred Eicke, in: Der flexible Unternehmer, PrimeTime/Spätausgabe, 18.02.2001 (RTL).

Peter Berling als Fundamentalist Ibn Dawud, in: Der Emir, PrimeTime/Spätausgabe, 28.05.2000 (RTL).

eng an den geschichtlichen Tatsachen orientiert, mal der eigenen blühenden Phantasie folgend. Diese Dialoge sind komisch, weil sie auf der Ebene der fiktionalen Erzählung eine auf Zeugenschaft und aktiver Teilhabe beruhende Nähe zur großen Geschichte vorgeben, die der entspannt vor der Kamera sitzende und in seinem unverwechselbaren (griesgrämigen) Tonfall parlierende Berling zugleich ad absurdum führt. Auch hier gibt es keinerlei Identifikation mit der jeweiligen Rolle, im Gegenteil: Gezeigt wird die Arbeit der Imagination. Ein Mensch, der sich vorstellt, ein anderer zu sein, ohne diese Fiktion dem Zuschauer aufzuzwingen. Die Gespräche mit Peter Berling bilden – in ihrer wechselseitigen Überblendung von fact und fake – eine Variante des Klugeschen Versuchs, »die Realität als die geschichtliche Fiktion, die sie ist, auch darzustellen« (Kluge 1999: 127). Ohne ihr Monströses, etwa die Verbrechen des Nationalsozialismus, zu relativieren, wird die Realgeschichte im Gestus des Was wäre gewesen, wenn? noch einmal erzählt, werden die Fakten – auf dem Umweg über eine subjektive Perspektive – überraschend anders gewendet, so daß die Wirklichkeit selbst unwirklich erscheint, als »reißerische Erfindung« (ebd.), als Negativform einer wünschbaren Realität, in der Eigenschaften wie Spontaneität und Imaginationskraft sich entfalten könnten. Vergleich, Analogie, Metapher und Personifikation sind die Mittel, mit denen Kluge scheinbar stabile Referenzverhältnisse zwischen Sprache und Wirklichkeit außer Kraft setzt. Wenn er die Marxsche Absicht zitiert, »die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen« (Negt/Kluge 1981: 1147), so geht es immer auch um das Verflüssigen1 einmal etablierter Set-

1 | In diesem Sinne heißt es in »Geschichte und Eigensinn«: »Die verstei-

224 | Christian Schulte zungen, um die praktische Kritik einer Denkform, die mehr an Resultaten interessiert ist als an den Prozessen, die den Resultaten – und das heißt in Anwendung auf die Sprache: den funktionalen Begriffen – zugrundeliegen. Der Untertitel einer Sendung mit Christoph Schlingensief ist in dieser Hinsicht als programmatisch zu nehmen; er lautet: »Über die Befreiung des Ausdrucks vom Zwang des Sinns« (PrimeTime, 13.06.99). Besonders Kluges Titel sind gut geeignet, um diese Kritik der Setzung, des Sinnzwangs anschaulich zu machen. So erzeugt bereits ein Buchtitel wie »Theodor Fontane, Heinrich von Kleist und Anna Wilde« (Kluge 1987) eine leise Komik, wenn man diese Anna Wilde vielleicht für eine unbekannte Schriftstellerin hält, im Buch aber erfährt, daß sie die Putzfrau von Kluges Vater war. Im Komischfinden dieser Namenreihe wird aber vor allem offenbar, in welchem Maße man selber die Distinktionen des Kulturbetriebs verinnerlicht hat. Diese sozialen rankings sind fundiert in jenen »Blockierungszusammenhängen« der bürgerlichen Gesellschaft, die Oskar Negt und Alexander Kluge in dem Buch »Öffentlichkeit und Erfahrung« analysiert haben. Die ersten Sätze des Buches lauten: »Bundestagswahlen, Feierstunden der Olympiade, Aktionen eines Scharfschützenkommandos, eine Uraufführung im Großen Schauspielhaus gelten als öffentlich. Ereignisse von überragender öffentlicher Bedeutung wie Kindererziehung, Arbeit im Betrieb, Fernsehen in den eigenen vier Wänden gelten als privat. Die im Lebens- und Produktionszusammenhang wirklich produzierten kollektiven Erfahrungen der Menschen liegen quer zu diesen Einteilungen« (Negt/Kluge 1972: 7).

Wollte man diese Einteilungen auf der Ebene sprachlicher Repräsentation abbilden, so hätte man es mit den syntagmatischen Ordnungen des linearen Diskurses bzw. Erzählens zu tun, die zugunsten der argumentativen Strenge oder der inneren Stimmigkeit einer Handlung ganze Erfahrungshorizonte abschneiden. Diese Erfahrungszusammenhänge zu integrieren, würde bedeuten, die syntagmatische Logik und ihre Eindeutigkeit zu durchkreuzen, sie zugunsten einer komplexeren Wahrnehmung durchlässig zu machen. Aus diesem Grunde montiert Kluge. Die Montage verleiht seinen Arbeiten ihre spezifische (A-)Grammatik; er begreift sie als »Kunst der Proportionenbildung« (Eder/Kluge 1980: 99), als Meßinstrument einer Wahrnehmungspolitik, deren evozierende Kraft das Unterscheidungsvermögen des Zuschauers stärken soll. Sie bildet Maßverhältnisse, die in einer eigentätigen Rezeption auf ihre Evidenz hin überprüft werden können: »[…] und nerten Verhältnisse müssen nicht nur tanzen, sondern sich verflüssigen« (Negt/ Kluge 1981: 1147).

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dieses Verhältnis steckt im Schnitt, also an der Stelle, an der der Film nichts zeigt, während dort, wo er etwas zeigt, das Unwesentliche der Mitteilung sitzt, gewissermaßen die Voraussetzung, daß es mitteilbar ist« (ebd.: 100). Wenn aber das, was mitgeteilt werden soll, gar nicht positiviert werden kann, sondern in den Schnittstellen gewissermaßen darauf wartet, wahrgenommen zu werden, so obliegt die eigentliche Mitteilung dem Zuschauer, eine Mitteilung, die allerdings nur zustande kommen kann, wenn die an den Rändern der Leerstelle kollidierenden Sinn- und Ausdruckspartikel – Bild-, Ton- und Textelemente – mit dessen Erfahrungen korrespondieren. Der Begriff der Mitteilung bezeichnet daher ein Potential, dessen Realisierung davon abhängt, ob die Evokation gelingt oder nicht. In »Geschichte und Eigensinn« wird dieses reziproke Verhältnis deutlicher gefaßt, wenn Negt und Kluge schreiben: »Dieses Dazwischen ist der eigentliche Ausdruck, Behälter der Energie, das Beziehungsverhältnis« (Negt/Kluge 1981: 1065). Die negative Bezeichnung des »Dazwischen« ist einer Bilderskepsis geschuldet, die zweifellos mit dem nachhaltigen Einfluß des Adornoschen Denkens auf beide Autoren zusammenhängt, einem unversöhnten, die positive Bezeichnung verweigernden Denken, in dem untergründig das jüdische Bilderverbot wirksam ist.2 Eine weitere Referenz in diesem Kontext ist Brechts Theorem von der »Trennung der Elemente«, denn Kluges Montagen dissoziieren die syntagmatische Ordnung zugunsten einer variablen Versuchsanordnung, deren offene, unabgeschlossene Strukturen weite Zusammenhänge schaffen, die eine große Stoffmenge in sich aufnehmen können; zugleich aber entstehen Freiräume für Assoziationen, in denen sich die Phantasie selbstreguliert bewegen kann. Kluges Zusammenhang setzt sich – vor allem in den späten Essayfilmen »Die Patriotin« (1979), »Die Macht der Gefühle« (1983) und »Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit« (1985) – aus den disparatesten Bruchstücken zu einer polyphonen Formenwelt zusammen, die allegorisch eine Ahnung von der Vielstimmigkeit der Realität vermittelt. Dazu versammelt er Zitate aus den verschiedensten kulturgeschichtlichen Kontexten, die die Anfänge des eigenen Mediums ebenso vergegenwärtigen wie die verschiedenen Zeiten, denen sie entnommen sind. Materialien, denen, wie im Falle der verwendeten Musik (z.B. alte Tangos, Schlager, Opernausschnitte), die Spuren ihres Gebrauchs, 2 | Ihre erste gemeinsame Arbeit »Öffentlichkeit und Erfahrung« ist Theodor W. Adorno gewidmet. Kluge hat mehrere Prosatexte über seinen Lehrer geschrieben, den er in dem Buch »Die Macht der Gefühle« zu seinen »Ober-Rabbis« zählt (neben Marx, Freud und Benjamin). Auch Kluges gelegentliche Beteuerung, daß eine seiner Wurzeln in der jüdischen Theologie liege, gewinnt vor diesem Hintergrund eine gewisse Evidenz.

226 | Christian Schulte d.h. lebendiger Arbeit, deutlich anzumerken sind und die – in neue, unerwartete Kontexte gestellt – die These modellieren, daß die Realität ein vielfach übereinander geschriebener Text sei, den es – in quasi gegenläufiger Richtung – zu lesen gelte (vgl. Negt/Kluge 1981: 1127f.). Wie eine solche Lektüre gegen den Strich aussieht, läßt sich in den Filmen an jenen Bildern zeigen, die in die narrativen Strecken eingeschnitten sind und von denen eine beinahe kontemplative Ruhe ausgeht. Diese intermittierenden Bilder zeigen z. B. eine Regenpfütze, einen Busch oder den Sternenhimmel – Inhalte also, die für sich genommen keine Bedeutung repräsentieren, weil sie einer anderen Zeitordnung angehören als die kulturelle Zeichenproduktion. Im konventionellen Genrefilm hätten sie eine Berechtigung nur als Funktion innerhalb der Narration – wenn z.B. der im showdown erschossene Gangster mit dem Gesicht in der Regenpfütze stirbt, wird diese zugleich zum Sinnbild einer Wertung, zum Attribut sei es des Bösen oder der gerechten Strafe; das Bild des Busches wäre bedeutungsdramaturgisch legitimiert, wenn von dem Busch der Brand ausgeht, der schließlich das ganze Haus vernichtet etc. –, bei Kluge stehen diese Bilder für sich, sie bleiben autonom und verweisen zugleich auf die Möglichkeitsräume, die sich an der Schnittstelle, zwischen den Bedeutungsträgern, auftun; sie machen bewußt, daß Erfahrung sich erst organisieren kann, wenn die Permanenz des Informations- und Bilderflusses unterbrochen wird, wenn der Film innehält, um dem Virtuellen, dem »Nichtverfilmte[n]« Raum zu geben (Eder/Kluge 1980: 138). »Das Liegengebliebene, Ausgegrenzte, in dem noch keine analytische Arbeit drinsteckt, kritisiert das, was bereits bearbeitet worden ist. Am Anfang einer jeden kritischen Arbeit steht deshalb ein Perspektivwechsel« (Negt/Kluge 1981: 87). Als genuin essayistische, das hat Adorno am deutlichsten benannt, kennt die kritische Arbeit kein Ressort (vgl. Adorno 1974: 10). So kann es ohne weiteres vorkommen, daß in einer Sendung über die Oper neben dem Regisseur und den Darstellern der tragenden Rollen auch der Kantinenchef des Theaters gleichberechtigt zu Wort kommt.3 Dann öffnet sich das Porträt einer bestimmten Opern-Inszenierung hin zum Porträt des Musiktheaters als Produktionszusammenhang, in dem die elementaren Bedürfnisse der Beteiligten wie Essen und Trinken ebenso Berücksichtigung finden wie die Teilhabe des Küchenchefs an der kulturellen Produktion. Diese Öffnung der Perspektive hin zum materialen Unterbau und den vielen Seitenlinien der hochspezialisierten Tätigkeit der Musiker erzeugt Komik allein deshalb, weil diese Auffächerung der Produktionszusammenhänge in den repräsentativen Magazin-Formaten der anderen Fernsehprogramme generell ver-

3 | Oder in dem Film »Die Macht der Gefühle« die Garderobiere.

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mieden wird. In dem Maße, in dem die medial erzeugten Wirklichkeitsbilder dem Herstellungsideal der Kongruenz verpflichtet sind, zielt Kluges »Gegenproduktion« auf die – quasi mimetische – Darstellung der gesellschaftlichen Antagonismen, die sich nur um den Preis ihrer Verkürzung in eine homogenisierte Repräsentationsform übersetzen lassen. Um diesem Ausgrenzungsmechanismus zu entgehen, erzählt Kluge seine »Gegengeschichten« in den »Komplexitätsgraden der Realität« (Kluge 1999: 134), wobei die spezifischen Darstellungsbedingungen des jeweiligen Mediums, gewissermaßen als selbstreflexive Spur, stets miterzählt werden.4 Das Staunen über das Disparate, Inkongruente, das sich in der Rezeption seiner Bricollagen einstellt und nicht selten Gelächter provoziert, ist daher nicht allein der konstruktiven Arbeit des Autors geschuldet, sondern ebensosehr das Resultat unserer Erfahrungen mit den dominanten Gattungsnormen unserer Medienwirklichkeit. Man könnte mit Benjamin auch sagen: unserer »Erfahrungsarmut«, weil wir uns an die Verkürzungen der klassischen Erzählweisen und etablierten Programmformate gewöhnt haben. Wie oben bereits angedeutet, finden sich Inkongruenzen dieser Art bereits in zahlreichen Titeln Kluges, vor allem seiner Prosatexte. Sie lauten etwa: »Blut wie Sprudel«, »Hitler als Mondgänger«, »Ein Leninist des Gefühls«, »Poeten der Organisation«, »Zeit ist nicht gutmütig«, »Das Vertrauen eingekerkerter Kühe«, »Die Lenkung eines Rasse-Projektils«, »Triebwerk-Husten«, »Die Glocke der Zufriedenheit«, »Erfahrenheit der Junifliegen« oder »Brieskes stark erkältetes Radar«. Dieses Verknüpfen disparater Sinnmomente suspendiert die Regeln unserer Verständigung über die Wirklichkeit. Menschliche Eigenschaften werden auf Dinge bezogen und umgekehrt. Wie in der Stummfilmgroteske wird die Illusion unseres sicheren Abstands gegenüber den Dingen revidiert. Kluge bezeichnet dieses Verfahren als »cross-mapping«, als eine Technik des (kalkulierten) Irrtums: »Wenn Sie mit der falschen Landkarte eine Gegend durcheilen, oder zwei Landkarten verwechseln, dann kriegen Sie Komik, weil Sie an überraschenden Stellen in die falsche Richtung gehen. […] Die beharrliche Verfolgung eines Irrtums produziert Komik. Wenn ich Irrtümer doch genauso ernst nehme wie korrekte Einsichten und die Gefühle gewissermaßen notwendig zu 50 Prozent Irrtümer produzieren, und ich sie mit der gleichen Sorgfalt beschreibe, […] dann entsteht automatisch Komik. Die reicht von Schadenfreude bis zu einem Lustgefühl, daß im Grunde darauf beruht, daß das möglich ist, daß eine Freiheit dadurch entsteht, daß Irrtümer selber nicht sofort schädlich sind« (Kluge 2001: 84).

4 | Ich fasse hier also auch Kluges Filme und Fernsehmagazine unter den Begriff der Erzählung.

228 | Christian Schulte In diesem Sinne sagt Kluge, seine Dramaturgie folge nicht der Schulstunde, sondern der Schulpause, der Zeitspanne, in der die Sinne sich ebenso frei bewegen können wie in den Dunkelphasen im Kino. Die Anti-Dramaturgie des Autors vertraut darauf, daß in diesen Lücken die wirklichen Lernprozesse stattfinden, als eine allseitige sinnliche Tätigkeit. Das ist gemeint, wenn seine Film-Figur Leni Peickert Kant gewissermaßen abrüstet, indem sie dessen berühmte Definition der Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« in die knappe Formel übersetzt: »Mündig ist der Mensch, wenn er Ausgang hat« (Kluge 1968: 136). Kluge nobilitiert hier das freigesetzte Assoziationsvermögen als Agenten einer Aufklärung, die gar nicht mehr genannt werden muß, wenn Verstand, Sinne und Gefühle kooperieren. Ein Modell für solche Kooperation gibt im Film »Die Macht der Gefühle« etwa die Sequenz »Abbau eines Verbrechens durch Kooperation« (Kluge 1984: 154-158), in der ein erschlagener Jugoslawe durch ausdauernde Zuwendung von einer Prostituierten und ihrem Zuhälter, die sich weigern, an den Mord zu glauben, langsam wieder ins Leben zurückgeholt wird. Die Beharrlichkeit, mit der beide etwas Unmögliches versuchen, bezieht ihre Kraft aus einem naiven Realismus, den Kinder an den Tag legen, wenn sie etwas mit aller Macht wollen. Kluges Verständnis von Mündigkeit – im Sinne von Sich-seine-Motive-nichtAusreden-lassen – ist ohne dieses Urvertrauen, diese Kraft des Wünschens nicht zu denken. »Fakten allein«, sagt er, »sind nicht wirklich, Wünsche nur für sich auch nicht« (Eder/Kluge 1980: 7). Aber »der Wunsch ist gewissermaßen die Form, in der die Tatsachen aufgenommen werden« (Kluge 1999: 117). Die Wünsche und Phantasien, der Eigensinn – Kluge spricht auch vom »Antirealismus des Gefühls« – bezeichnen Protesteigenschaften, sie sind Gegner des Faktischen. Ihr Motiv ist der »Hunger nach Sinn«, einem Sinn, den die wirklichen Verhältnisse ebensowenig herausgeben wie die Fotografie der Kruppwerke Einblicke in die wirklichen Produktionsverhältnisse erlaubt (vgl. Kluge 1999: 116). Aus der Perspektive der Wünsche leidet die Realität gewissermaßen unter Wirklichkeitsverlust. An dieser Widerstandslinie, in der Frontstellung dieser David-gegen-Goliath-Situation, entsteht bei Kluge Komik. »Wie assoziativ«, heißt es, »müssen menschliche Kräfte sein, damit ein David überhaupt entsteht, imstande, dem Monstrum Realität ins Auge zu schießen« (Kluge 1979: 7). Was geschieht, wenn der Eigensinn (mit der Beharrlichkeit eines Kinderwunsches) auf die verwaltete Welt trifft, zeigt die Parteitags-Sequenz in dem Film »Die Patriotin«. Die Geschichtslehrerin Gabi Teichert, gespielt von Hannelore Hoger, besucht 1978 den Parteitag der SPD in Hamburg, in der Hoffnung, dort ein besseres Ausgangsmaterial für den Geschichtsunterricht zu bekommen. Dafür aber müsse, trägt sie den Delegierten vor, die

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Geschichte hier und jetzt geändert werden; die Delegierten reagieren mit Unverständnis. Innerhalb der Parteitagsroutine erscheint sie als komische, seltsame Person. Die Kollision der fiktiven Heldin mit der realen politischen Veranstaltung bringt die Zuschreibungen – was ist authentisch, was unwirklich – ins Wanken. Der Parteitag erscheint als leeres, erfahrungsarmes Ritual, in dem die Motive der Redner ebenso zum Verschwinden gebracht werden wie die konkreten Interessen einzelner Delegierter in der Praxis der Leitanträge (der »Abstimmungsguillotine«). Der inszenatorische Eingriff markiert eine Differenz, die eine Umkehrung des Realitätseffekts bewirkt. Gabi Teichert mag weltfremd erscheinen, aber ihr Auftreten hat eine Bestimmtheit, die sie authentischer wirken läßt als die beziehungslose Sprechweise der Funktionäre. Der Effekt des Komischen entsteht einmal aus dem ungleichen Verhältnis zwischen der minoritären Position der Lehrerin, die immerhin etwas fordert, und der Inszenierung politischen Handelns, wie man sie aus zahllosen Fernsehberichten kennt. Vor allem aber dadurch, daß der immer gleiche Modus, in dem solche Veranstaltungen stattfinden, durch die Konfrontation mit einer fiktiven Perspektive destabilisiert wird. Das Ereignis erscheint plötzlich angreifbar, fragwürdig; in dem Maße, in dem seine Hermetik aufgebrochen wird, verliert es an Überzeugungskraft. »So wie sich ideologischer Realismus, Logik, Bedeutungsdramaturgie, offizieller Bewußtseinsapparat miteinander verbinden, so kann die Gegenbewegung dazu nur in der Allianz eines radikal analytischen Verfahrens mit denjenigen Eigenschaften in der Wahrnehmung des Zuschauers entwickelt werden, die gegenüber dem Erziehungsbewußtsein eine unterdrückte Klasse bilden« (Kluge 1999: 122).

Die Komik einer Situation produziert Unterscheidungsvermögen, eine differenziertere Wahrnehmung, die es ermöglicht, in der Fremderfahrung die eigene Erfahrung wiederzuerkennen. Dem Zwerchfell schreibt Kluge dabei die Funktion eines Seismographen zu: »Lachen verstärkt nicht die Herrschaft, sondern nimmt sie blitzartig wahr« (Kluge 1975: 186). Ein gutes Beispiel dafür liefert die Sequenz »Es weihnachtet«, in der das vehemente Durchgreifen der Polizei gegen Demonstranten in einem Kaufhaus festgehalten ist. In die dokumentarische Sequenz ist eine Schrifttafel einmontiert mit dem Satz: »Sinn des Polizeieinsatzes ist die Störung des Weihnachtsfriedens im Kaufhof durch Jugendliche.« An diesem Satz stimmt etwas nicht. Irgendetwas scheint zu fehlen, und dieses Fehlende löst eine Irritation aus. Wie kann der Sinn, also die Bedeutung eines Polizeieinsatzes die Störung des Weihnachtsfriedens sein? Wenn doch die Störung allenfalls der Grund sein kann, warum die Polizei anrückt, um eben diese Störung zu beenden. Diesen Zweck des Einsatzes blendet Kluge aus, so daß der Sinn des

230 | Christian Schulte Polizeieinsatzes seine Bestimmung verliert. Der auktoriale Eingriff bringt die Kausalitäten durcheinander, für einen Augenblick erscheint die Polizei als Subjekt der Störung, die sie doch erst auf den Plan gerufen hat. Die Beschriftung der Bilder produziert eine Unschärfe, die aber dem in der Sequenz dokumentierten Durcheinander zwischen Polizei, Demonstranten und gewöhnlichen Kunden im Kaufhaus entspricht. Sie übt praktische Kritik an dem Herrschaftsverhalten der Kaufhausleitung, die sich auf das Hausrecht beruft. Kluges Komik ist nicht zynisch, sie zielt nicht darauf, eine Person anzugreifen oder lächerlich zu machen. Die Herabsetzung, sofern sich davon überhaupt sprechen läßt, gilt vielmehr den Strukturen, den Institutionen, die durch ihre Repräsentanten hindurchsprechen. Wenn der SPD-Politiker Horst Ehmke Gabi Teichert, die doch immerhin die Geschichte ändern will, das Braunschweiger Schulbuchinstitut empfiehlt, wenn ein Kaufhausverkäufer – mit erkennbar libidinöser Beteiligung – die menschlichen Eigenschaften einer Lauf-Sing-und-Sprech-Puppe anpreist oder wenn in dem Film »Abschied von gestern« (1966) der Ministerialrat Pichota und der Vertreter des Hundevereins ihre stereotypen Begrüßungsformeln von Manuskripten ablesen, so werden nicht die Sprecher vorgeführt, sondern ihre entindividualisierten Sprechweisen und Haltungen. Der Subtext dieser Szenen ist das Diktum Brechts, daß die Realität in die Funktionale gerutscht sei. Enthalten diese Beispiele (abgesehen von der fiktiven Figur des Pichota) weitgehend dokumentarische Momentaufnahmen, die vor allem durch den Kontrast zu den – meist weiblichen – fiktiven Gegenfiguren komisch wirken, so werden in Kluges Prosatexten Jargon und Geisteshaltung der zweckrationalen Welt durch Mimikry und sprachliche Kunstgriffe komisiert. Ich möchte kurz auf das radikalste und gewiß prekärste Beispiel eingehen. Der wohl bekannteste Text Kluges, »Ein Liebesversuch« (Kluge 2000b: 770-772; vgl. Schulte 2004b: 247-258), beschreibt ein grauenvolles Experiment in einem deutschen Konzentrationslager. Der Text ist dialogisch angelegt, aber im Laufe der Erzählung erfahren wir, daß es sich um die Selbstbefragung eines der Täter handelt. Zweck des Versuchs war es herauszufinden, ob Röntgenbestrahlung ein effizientes Mittel zur Durchführung von Massensterilisationen sei. Zwei Gefangene, die vor ihrer Deportation ein Liebespaar waren, wurden in einem Raum zusammengeführt und durch verschiedenste Foltermethoden zum Geschlechtsverkehr angehalten. Der Erzähler fragt sich, warum der Versuch mißlang und rekapituliert alle Einzelheiten. So fragt er schließlich auch: »Wurden wir selbst erregt?« und antwortet: »Jedenfalls eher als die beiden im Raum; wenigstens sah es so aus. Andererseits wäre uns das verboten gewesen. Infolgedessen glaube ich nicht, daß wir erregt waren.« Kluge zeigt hier ausgerechnet an den Tätern,

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daß sich Emotionen ebensowenig unterdrücken wie willkürlich herbeizwingen lassen. Die Beobachtung der eigenen Erregung widerspricht dem ideologischen Selbstverständnis der KZ-Wächter, denn ihr nachzugeben, wäre »Rassenschande gewesen«. Der Sprecher scheint angesichts dieser Möglichkeit zu erschrecken und korrigiert rasch seine Erinnerung, indem er sich auf das Verbot beruft: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Mit der Zeichnung dieses widersinnigen Verhaltens stellt Kluge den Ort der Vernichtung, ohne den Ernst der Situation zu mindern, in ein unerwartet komisches Licht: »Mitten im Zentrum des Terrors werden wir der lächerlichen, nichtigen Seite des Faschismus ansichtig« (Stollmann 1998: 37). Mir ist kein anderer Text bekannt, der die Gefühle, die Protesteigenschaften, stärker herausfordert als »Ein Liebesversuch«. Einmal, weil wir uns in der Täterperspektive selbst begegnen, zum andern über die Wortverbindung »Liebesversuch«, die den kalten Ton der Erzählung vorwegnimmt und zugleich konterkariert. Liebe markiert einen transzendenten Pol, der in der gleichgültigen Welt des Versuchs keinen Ort hat. Beide Begriffe bilden Extreme. Ihre Verknüpfung ist selber ein Gewaltverhältnis und als solches empfindbar. Die Komik, die durch dieses cross-mapping erzeugt wird, ist hier Ausdruck von Trauerarbeit. Die Selbstbeobachtung beim Lesen dieser Erzählung liefert m. E. den stärksten Beleg für die innere Stimmigkeit des Klugeschen Realismuskonzepts, nämlich daß die Gefühle als Protesteigenschaften tätig sind. In diesem Fall als der Wunsch, den Text umzuschreiben und das beschriebene Geschehen rückgängig zu machen. Der Effekt des Komischen entsteht bei Kluge stets dann, wenn die vermeintliche Stimmigkeit, die Kohärenz einer Situation ihren doppelten Boden zeigt. Meist sind es Augenblicke, in denen wirkungsmächtige Distinktionen implodieren. Im Modus des Komischen ist die Schicksalsförmigkeit der Realität, ihr zwanghaftes So-und-nicht-anders, suspendiert. Die normative Kraft des Faktischen verliert für Augenblicke ihre Geltung. In dieser Aussetzung eröffnet sich, was Robert Musil den »Möglichkeitssinn« und Alexander Kluge die »Lust aufs Unwahrscheinliche« (Kluge 1984: 227) nennt. Seine Haltung ist vergleichbar mit der des Kammersängers in dem Film »Die Macht der Gefühle«. Auf die Frage, warum er nach der 84. Aufführung immer noch mit einem Funken der Hoffnung im Gesicht spiele, obwohl er doch wisse, daß es am Ende nicht gut ausgeht, antwortet er lapidar: »Könnte doch aber!« (Ebd.: 79)

232 | Christian Schulte

Literatur Adorno, Theodor Wiesengrund (1974): »Noten zur Literatur«. In: Ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 11, Frankfurt/M. Eder, Klaus/Kluge, Alexander (1980): Ulmer Dramaturgien. Reibungsverluste, München, Wien. Enzensberger, Hans Magnus (1978): »Ein herzloser Schriftsteller«. In: Der Spiegel, Nr. 1, S. 81-83. Kluge, Alexander (1968): Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos/Die Ungläubige/Projekt Z/Sprüche der Leni Peickert, München. Kluge, Alexander (1973): Lernprozesse mit tödlichem Ausgang, Frankfurt/M. Kluge, Alexander (1975): Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/M. Kluge, Alexander (1977): Neue Geschichten. Hefte 1-18 ›Unheimlichkeit der Zeit‹, Frankfurt/M. Kluge, Alexander (1984): Die Macht der Gefühle, Frankfurt/M. Kluge, Alexander/Müller, Heiner (1995): Ich schulde der Welt einen Toten. Gespräche, Hamburg. Kluge, Alexander (1999): In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Film, Kino, Politik, hg. von Christian Schulte, Berlin. Kluge, Alexander (2000a): Chronik der Gefühle, Bd. 1, Frankfurt/M. Kluge, Alexander (2000b): Chronik der Gefühle, Bd. 2, Frankfurt/M. Kluge, Alexander (2001): Verdeckte Ermittlung. Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann, Berlin. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1981): Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/ M. Schulte, Christian (2004a): »Die Kraftreserve – Alfred Edel revisited«. In: Rolf Aurich/Wolfgang Jacobsen (Hg.), Das Edelbuch, Berlin. Schulte, Christian (2004b): »Alexander Kluge: Ein Liebesversuch«. In: Werner Bellmann (Hg.), Interpretationen. Klassische deutsche Kurzgeschichten, Stuttgart. Stollmann, Rainer (1998): Alexander Kluge zur Einführung, Hamburg. Stollmann, Rainer: »Grotesker Realismus. Alexander Kluges Fernseharbeit in der Tradition von Komik und Lachkultur«. In: Christian Schulte/ Winfried Siebers (Hg.), Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt/M.

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Vernunft ist ein Gefühl für Zusammenhang Rainer Stollmann

Friends & Neighbours Ohne die Namen von Kant, Hegel, Marx, Nietzsche, Freud, Adorno/Horkheimer, Benjamin, Habermas wäre die Existenz des voluminösen Doppelbandes »Der unterschätzte Mensch« von Negt/Kluge nicht denkbar. Die drei Abhandlungen stellen im Kern jede eine einfache Frage: Was ist Öffentlichkeit? (»Öffentlichkeit und Erfahrung«); Was ist Kultur? (»Geschichte und Eigensinn« – in der Beantwortung der Frage wird dann aus »Kultur« eine »politische Ökonomie« der »Arbeit« – dazu später); und: Was ist Politik? (»Maßverhältnisse des Politischen«). Hinzu kommen ca. 300 Seiten Gespräche (»Suchbegriffe«) zwischen den Autoren. Man kann aber auch umgekehrt sagen, auf was die drei Bücher kritisch gerichtet sind: »Öffentlichkeit und Erfahrung« ist eine kritische Parallele und Ergänzung zu Habermas »Strukturwandel der Öffentlichkeit«, aber auch zu Horkheimer/Adornos »Dialektik der Aufklärung« und zu Adornos »Negative Dialektik«; »Geschichte und Eigensinn« ist einerseits eine Marx-Renaissance innerhalb der Kritischen Theorie, andererseits die Erhellung des blinden Flecks bei Marx; die Vorstellung eines »eindimensionalen Menschen« (Marcuse) wird man in »Geschichte und Eigensinn« nicht finden; die »Maßverhältnisse des Politischen« unterscheiden sich von den akademischen Schulen der Politologie vor allem darin, daß sie für ihren Politikbegriff nicht den Staat voraussetzen, sondern Politik in der Lebenswelt verankern. Die »Kritische Theorie« Adornos setzt der Unterschätzte Mensch gewiß nicht in allen Positionen, nicht im Sprachstil, auch nicht im Stoff, aber ganz bestimmt in der Haltung fort. Sie ist wie bei Adorno oder Benjamin selbst auch Ausdruck der Wissenschaftskritik der Kritischen Theorie, die mittelbar

234 | Rainer Stollmann von der Erfahrung ausgelöst wurde, wie leicht sich die unparteilichen und angeblich nur der Wahrheit verpflichteten Wissenschaften der Weimarer Republik ab 1933 gleichschalten ließen, unmittelbar aber wohl daher rühren, die nicht diskursiven, sondern ästhetisch-emotionalen Erfahrungen, die sich an Poesie und Musik knüpfen, den diskursiv-rationalen mindestens für ebenbürtig zu halten. Die Autoren sprechen von einem »philosophischen Buch«, sein Blick ist aber so hartnäckig auf das Lebendige, also keineswegs bloß das Vernünftige oder Sachliche gerichtet, wie Philosophie das sonst nicht tut, sondern es lieber der Literatur überläßt.1 Die Darstellungsweise wechselt oder schwankt durchaus zwischen Argumentieren, Analysieren, Begreifen und Erzählen. Es gibt eine gewisse Tradition solcher Bücher. Michelets »Hexe« (1862) ist solch ein Werk, keine historische Monographie, auch kein richtiger Roman, aber für den Autor selbst sein wichtigstes Buch, Sammlung geistiger Lebenserfahrung. Die »Dialektik der Aufklärung« steht dem Unterschätzen Menschen jedenfalls näher als der diskursiven Anlage des Habermasschen Denkens. Benjamins Schreibweise ist ebenfalls nicht ganz so weit entfernt, und die Bücher von Deleuze und Guattari, insbesondere »Mille Plateaus« grüßen doch wohl ebenso wie Derrida herüber. Man kann alle diese Bücher (und sicher noch manch andere, nicht ganz so berühmte) geradezu als besonders exponierte Anstrengungen einer »Philosophie des Dazwischen« begreifen, die die herkömmlichen Bahnen geistiger Arbeitsteilung (Philosophie/Einzelwissenschaften/Poesie) verläßt und nicht ausschließlich den Regeln diskursiven Argumentierens vertraut. Der Ausdruck »Essay« liegt nahe.2 Pro captu lectoris habent sua fata libelli – Ganz wie der Leser sie faßt, so 1 | Besonders »Geschichte und Eigensinn« hat zum Gegenstand, was wir traditionellerweise in Literatur und Poesie finden. Die geistige Arbeitsteilung zwischen Theorie und Poesie wird von »Geschichte und Eigensinn« mehr oder weniger suspendiert. Das mag für viele einen eigenen Reiz haben, aber insbesondere Akademiker, Fachleute empfinden dabei Berührungsängste, weil es dem, was in den Disziplinen üblich und karrierefördernd ist, nicht entspricht. Und es mag so viel von »Interdisziplinarität« geredet werden, wie es seit Jahrzehnten an den Universitäten der Fall ist, so ernst wie die beiden Autoren hat das dann doch keiner gemeint. 2 | Er trifft aber für die Methode des Unterschätzten Menschen nur in einem erweiterten Sinn zu, als Montage-Essay, bei dem die Autorenperspektive, das bewegliche Ich zurückgenommen und durch Montagen von diskursiven, wissenschaftlichen oder erzählerischen Partien, bzw. Mischungen von beidem sowie Bilder abgelöst wird. Kluges Filme (ebenso wie Godards) werden meistens »Essay-Filme« oder »Film-Essays« genannt, weil sie beim Erzählen auf das Nachdenken nicht verzichten. Das »Dazwischen« zeigt sich hier von der anderen Seite.

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haben Büchlein ihre Schicksale. Die »Dialektik der Aufklärung« und das Werk Benjamins verdanken noch ihre heutige Präsenz der Tatsache, daß sie in den sechziger Jahren von Studenten spontan gegen den akademischen Betrieb entdeckt und studiert wurden. Es mag Verschleißerscheinungen nach sich ziehen, wenn sie heute deren Teil sind, trotzdem darf man sagen, daß die »Flaschenpost« (Adorno) der »Dialektik der Aufklärung«, im Exil geschrieben, 1947 in Amsterdam auf deutsch veröffentlicht, alles in allem ab 1966 doch nicht ganz unglücklich in der Protestbewegung gestrandet ist. Ohne sie wäre das Buch heute kein Klassiker mit hohen Auflagen, sondern ein Geheimtipp. »Geschichte und Eigensinn«, 1981 veröffentlicht, in mehreren Auflagen bei Zweitausendeins 50.000mal verkauft, dann bei Suhrkamp und schließlich als ein Teil des zweibändigen Unterschätzten Menschen ab 2001 wieder bei Zweitausendeins zu haben, hat nur äußerlich ein anderes Schicksal. Denn es ist, als ob dieses Buch in einem schwarzen Loch versunken wäre. Ein oder zwei kümmerliche Rezensionen 1981, bekannte Rezensenten lehnten damals eine Besprechung mit der Bemerkung »unrezensierbar« ab, und bis heute hat die deutsche Intelligentsija sich geweigert, dieses Buch in irgendeinen ihrer Diskurse aufzunehmen. Es mag eine Schar von Fans geben, aber die Mehrheit der verkauften Exemplare dürfte wohl halb angelesen auf den Bücherregalen verhungern. Insofern ist »Geschichte und Eigensinn« trotz des Verkaufserfolgs auch eine Flaschenpost, und zwar eine, die noch nicht gelandet ist. »Öffentlichkeit und Erfahrung« (1972) hatte eine bemerkenswerte Resonanz. Man las damals Habermas’ »Strukturwandel der Öffentlichkeit« (1962) und danach »Öffentlichkeit und Erfahrung«, um die ausgesparten Fragen bei Habermas zu beleuchten (Fixierung auf die dominanten, bürgerlichen Formen der Öffentlichkeit, Vernachlässigung anderer Ansätze in den Revolutionen und in der Arbeiterbewegung, Aussparung des Dritten Reiches und seiner Öffentlichkeit). Der Stachel, den »Öffentlichkeit und Erfahrung« noch heute enthält, ist, daß sich das große Denken zu schnell abfindet mit der Verabschiedung großer Gedanken, d.h. selbst dem Realitätsprinzip zu rasch nachgibt. Man schaue sich einmal heute die kritische, der Wissenschaft nahe Öffentlichkeit der Zeitungen an, wie oft jetzt, nach dem offenkundigen Sieg der westlichen Ökonomie, des freien Marktes in der Welt von Kapitalismus die Rede ist. Aber nirgends spricht irgend jemand von Proletariat. Theoretisch ist das unmöglich. Kapitalismus ist im Grunde nichts anderes als die Ansammlung und Beschäftigung von working hands, was in bäuerlichen Gesellschaften eben nicht vorkommt. Bei allem Verständnis dafür, daß das Proletariat irgendwie verschwunden ist (Mittelstand, Dienstleistung, Bildungsprozesse, Differenzierung, postindustrielle Gesellschaft u.a.), irgendwas müßte doch eigentlich davon auch noch übrig geblie-

236 | Rainer Stollmann ben sein, wenn es nach allgemeiner Einschätzung den Kapitalismus immer noch gibt. Schon die Millionen von Arbeitslosen sind ja nicht einfach Arme, die Neue Armut ist eben nicht die alte – oder sollten wir uns wieder im Mittelalter befinden? Man konnte sich schon 1972 über das Gewicht des Begriffs »proletarisch« in »Öffentlichkeit und Erfahrung« wundern, und man kann es im 21. Jahrhundert, bei der unveränderten Übernahme noch mehr. Aber man kann sicher sein, daß ein großer Teil dieser Fremdheit damit zu tun hat, daß die liberale bis linksliberale journalistische und akademische Öffentlichkeit mit dem Kapitalismus-Begriff bloß kokettiert. Man könnte ein älteres Horkheimer-Zitat für heute abwandeln: Wer vom Proletariat nicht reden will, soll vom Kapitalismus schweigen. (Und man prüfe einmal nach, was vom Begriff »Moderne«, »Risikogesellschaft«, »Erlebnisgesellschaft«, »Postmoderne« übrigbleibt, wenn man den Kapitalismus davon subtrahiert.) Wenn das Proletariat in der Wirklichkeit nicht mehr wie im 19. Jahrhundert sichtbar zu sein scheint, dann muß aber doch etwas, für das wir nach wie vor keinen analytischeren Begriff haben, unterhalb des Sichtbaren, das Gemeinwesen sowie innere und äußere Natur zusammenhalten. Das war mit dem Untergang des Bauern nicht anders. Noch um 1800 war Deutschland ein klassisches Agrarland, heute sind noch 3 bis 4 Prozent in der Landwirtschaft beschäftigt. Aber die Jahrtausende, in denen alle unsere Vorfahren Bauern waren, sollten in nichts zergangen sein? Das sollte Zivilisationen nicht prägen, diese Nähe zum Land, die Arbeit darauf, Begriffe oder Realitäten wie Patriotismus, Vaterland, Nation, Forschung (von »Furche«), Wurzel, Familie usw. sollten damit nichts zu tun haben?3 Inzwischen ist Habermas’ Publikation ein akademischer Klassiker und »Öffentlichkeit und Erfahrung« fast vergessen. Wäre »Geschichte und Eigensinn« 1973 erschienen, so wäre jedenfalls für ein paar Jahre eine entsprechende Resonanz vorhanden gewesen. Denn das Publikum, die Öffentlichkeit selbst hat sich seitdem verändert, die politisch-literarisch interessierte Gegenöffentlichkeit, die damals vorhanden war, hat sich zersetzt, individualisiert. Sie war daraus entstanden, daß sich ein Teil der akademisch geschlossenen Öffentlichkeit ›entakademisiert‹, von disziplinären Grenzen befreit und politisiert hatte. Insofern tragen diese Bücher den, sagen wir ruhig: revolutionären Elan weiter, der in den 70er Jahren zerfiel oder zum Erliegen kam. Draußen mag es noch Kriege und Weltpolitik geben, aber das Politische im Innern ist (ähnlich wie das Proletariat?) irgendwie verschwunden. Unterhaltung, Verwaltung und Realismus haben es aufgezehrt. Eine neue Generation von Politologen und Historikern ist an governance interessiert, und 3 | Nietzsche spricht an einer Stelle vom »Bauernaufstand des Geistes«.

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man hat das Gefühl, es könnte ein neues Barock (ästhetisch gespeist von der Kulturindustrie, das Fernsehen in der Funktion der Schlösser und französischen Gärten) heraufziehen. Die Fassaden der Parteien und Institutionen bestehen noch eine Weile, aber jenseits aller Öffentlichkeit scheinen sich alle darauf geeinigt zu haben, daß Politik in nichts anderem besteht als gut oder schlecht regiert zu werden. Es scheint oft so, als gäbe es kaum noch verschiedene Politiken, die sich nach Interessen, Konflikten richten, unterschiedliche Konzeptionen von Gemeinwesen haben, es geht immer mehr nur noch um die bessere Verwaltung des Ganzen.4 Insofern haben die Italiener den erfolgreichsten Unternehmer des Landes nicht ganz ohne Grund zum Präsidenten gemacht. Es ist kein Wunder, daß in einem solchen Klima die »Maßverhältnisse des Politischen«, in denen es z.B. heißt, Politik sei »ein besonderer Intensitätsgrad von alltäglichen Gefühlen«, nicht wirklich wahrgenommen werden.

In einfachen Worten 1. F: Können Sie mir einmal in einfachen Worten erklären, worum es in »Geschichte und Eigensinn« überhaupt geht? A: Um die Erhellung des blinden Flecks bei Marx. F: Und der wäre? A: Die Rückseite des zentralen Gedankens im Kapital, des sog. Wertgesetzes. F: Waren tauschen sich zu ihren Werten, das ist die Vorderseite? A: Die Rückseite wird deutlich, wenn man nach dem Wert der Ware Arbeitskraft fragt. F: Nach Hobbes, Smith und Marx tauscht die sich auch zu ihrem Wert: Was einer zum Leben braucht, kaufen muß, das muß er auch als Lohn erhalten. A: Und wieviel wäre das heute in Deutschland: 1.000 oder 5.000 € im Monat? Wieviel Geld ist denn wirklich nötig zur »notwendigen Reproduktion der Ware Arbeitskraft«? F: Wie Sie wissen, verzerrt die Empirie die Gesetze. Das ist bei Marx nicht anders als in der Physik: Beweisen Sie mal das Fallgesetz in der Empirie! Damit eine Feder genauso schnell herabfällt wie ein Nagel, brauchen Sie ein Vakuum! Trotzdem würde kein Physiker am Fallgesetz zweifeln. 4 | Das ist teilweise bloße Illusion (mit der CDU an der Regierung stünden heute deutsche Soldaten im Irak), teilweise real (man kann sich den Sozialabbau unter einer CDU-Regierung auch nicht rasanter vorstellen als unter Schröder/Clement).

238 | Rainer Stollmann A: Das heißt, h = 1/2gt2 ist Poesie, schön, ideal, liebenswert, überzeugend, aber weit weg vom wirklichen Leben? F: Keineswegs weit weg, sondern ein klarer, schöner Zusammenhang (= Gesetz), nur in Verbindung mit anderen Zusammenhängen (Reibung, Oberfläche, Gewicht, Temperatur) nicht mit dem bloßen Auge in der empirischen Welt zu erkennen. F: Dann wäre Physik fast Poesie? A: Das Wertgesetz in der Fassung: eine Stunde menschlicher Lebenszeit ist gleich einer Stunde menschlicher Lebenszeit – egal welche Menschen wir vergleichen und was die gerade tun – hat dieselbe Dignität wie das Fallgesetz der Physik, nach dem ja auch alle Körper, egal welchen Gewichts, gleich schnell fallen. Das ist in Kurzfassung und einfachen Worten Marx’ Ökonomie und sein Humanismus. Bei Neugeborenen sehe ich nicht, wie man das bestreiten könnte. Nur später sieht es fälschlicherweise so aus, als ob Menschen von unterschiedlichem Wert wären und entsprechend ungleich bezahlt werden müßten. Nun interessiert sich die Physik aber auch für Luftwiderstand, Reibung, Wärmeumwandlung, also die Umstände, die im mathematisch formulierten Fallgesetz außer Acht gelassen werden. Das tut Marx auch. Hier gibt es die berühmte Stelle, daß in die Bestimmung des Wertes der Ware Arbeitskraft »ein moralisches und historisches Element« (Marx 1972: 185) (= Kultur) eingehe. Unternehmer verlangen z.B. heute im Westen den Abbau des Sozialsystems, aber nicht die Rückkehr zur Sklaverei, obwohl die US-Ökonomie und clevere spanische und britische, kapitalistische Schiffseigner vor nur 200 Jahren noch damit reich geworden sind, d.h. Sklaverei und Kapitalismus sich gut vertragen. Man könnte sagen, Kultur sei das, was auch den Gegnern im Klassenkampf gemeinsam ist und nicht in Frage gestellt wird.5 F: Das ist aber nicht sehr verläßlich, wenn man z.B. an 1933-1945 denkt. A: Immer in Gefahr, aber doch vorhanden. F: Sie meinen, an dieser Stelle dringt sozusagen das gesamte empirische Leben, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Kultur, Moral und Geschichte eines Landes bis hinunter zum Verhalten jedes einzelnen Menschen in den ökonomischen Zusammenhang ein, streng genommen? A: So wie Luft und Umstände in der Empirie das Fallgesetz ›verunreinigen‹. F: Das hält Marx draußen, um das System des Kapitalismus diskursiv beschreiben zu können? A: Ja, das ist sein »poetisches Konstrukt«, wie Kluge sagt (vgl. Kluge 2003: 733f.), und da setzt »Geschichte und Eigensinn« ein. Diese Kultur, das ist 5 | Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hält etwa den »rheinischen Kapitalismus« für eine solche Kultur. Vgl. Sennett 1998.

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aber ein Zusammenhang von Natur und Kultur, ist eigentlich das Feste, Materielle. Das scheinbar Allersubjektivste, die menschliche Natur, der Körper und was Menschen kulturell daraus machen, ist das Allerobjektivste. Deshalb sprechen die Autoren auch nicht von Kultur, sondern von Ökonomie, es ist harte Materie, meßbar, wenngleich nicht unbedingt in Zahlen auszudrücken. F: Selbst die Ökonomie des Kapitals, wie Marx sie analysiert, wäre sozusagen ein Stück Holz oder ein Wrack auf dem Wasser der Ökonomie der Arbeitsvermögen? A: Deswegen die permanenten Krisen, Kriege, Revolutionen, Ausbrüche, so daß man von einem kapitalistischen System in Wirklichkeit ebensowenig reden kann wie davon, daß sich das Fallgesetz an irgendeiner Stelle auf dem Globus augenfällig von selbst realisiert. F: Der Kapitalismus hat zu wenig Berührung mit der Wirklichkeit? A: Das behauptet schon Marx, wenn er die Krisenanfälligkeiten beschreibt. F: Und statt des blinden Flecks, den jede diskursive Behandlung eines Themas zwangsläufig hat und den z.B. die Systemtheorie mit Beobachtung zweiter, dritter usw. Ordnung aufzufangen sucht, bedient sich die Kritische Theorie von Anfang an des Poetischen? A: Das ist ihre Stärke, Vernunft ist ein Gefühl für Zusammenhang, gleich Poesie oder Musik. Wasserzivilisationen (Kluge, ebd.: 360) – – – – – –

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Im Verhältnis zum Körpergewicht haben der Mensch und der Delphin das größte Gehirn. Das Gehirn des Pottwals verfügt über die sechseinhalbfache Masse des Gehirns eines durchschnittlichen Menschen. Haben Wale Einsichten, erzählen sie sich Geschichten? Uns fehlen die Sinnesorgane, um das zu prüfen. Sie sind aber überzeugt, daß krakenähnliche Wesen auf einem Wasserplaneten die Spitze der Evolution übernehmen könnten? Sie hätten den Vorteil, daß sie schwerere Körper und damit auch ausladendere Gehirne bilden könnten. Das Wasser trägt das Gewicht. Dafür haben sie keine Schreibtische, sie können ihre Computer oder Speicheranlagen sich schwerer »gegenüberstellen«. Aber für lösbar halten Sie diese Frage auf einem Wasserplaneten? Intelligenzen in Wasserzivilisationen werden das Problem der Objektivität haben, sie stellen sich nicht die Welt gegenüber, sie bewegen sich in der Welt. Ist das kein Vorteil? Zum Leben ja, für Zivilisation nein.

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2. F: Fangen wir noch einmal von vorne an? A: Gewiß. F: Können Sie mir in einfachen Worten erklären, worum es in »Geschichte und Eigensinn« geht? A: Um eine neue Ökonomie. F: Und was ist daran neu? A: Deren Gegenstand. F: Und der wäre? A: Die Natur des Menschen. F: Nicht die Größe des Landes, die Menge der Menschen, die geographischen Gegebenheiten, das Bruttosozialprodukt, die Profitrate, die Fiskalpolitik, die Handelsströme, das Verhältnis von Im- und Export, oder was sonst Gegenstände der Ökonomie waren, sondern ausgerechnet die menschliche Natur wird in »Geschichte und Eigensinn« zum Gegenstand der Ökonomie? A: So ist es. F: Darf man fragen wieso? A: Ende des 20. Jahrhunderts beginnt das Zeitalter des Kapitalfeudalismus. F: Was ist das denn? A: Die Welt als Ware-Geld-Prinzip plus protego ergo obliquo, d.h. feudale Treue zu diesem Prinzip. F: Statt des Fürsten sagt das Kapital Ich schütze dich, daher bist du mir verpflichtet? A: Für Marx sind Feudalismus und Kapitalismus eine Epoche, und je mehr der Kapitalismus seine feudalistischen Voraussetzungen auflöst, um so deutlicher nimmt er selbst feudalistische Züge an. Die freie, entfremdete Arbeit, die im 18. und 19. Jahrhundert ein Zwangsverhältnis war, ist heute ein Privileg wie im Mittelalter der eigene Landbesitz des freien Bauern. Darunter rangierten in der feudalen Sozialpyramide die Landlosen, armen Leute, Diebe, Schauspieler, Bettler, Rechtlosen, heute die Arbeitslosen bzw. »Überflüssigen« (Enzensberger) der ganzen Welt. F: Aber wovor schützt der Kapitalismus denn noch, wenn man an die Massen der Arbeitslosen/Überflüssigen denkt? A: Deshalb die aufwendige Suche nach einem Kommunismusersatz, einem neuen Feind seit den neunziger Jahren, vor dem angeblich geschützt werden muß. F: Und der »internationale Terrorismus« paßt sehr gut als Feindbild. Eine Chimäre aus Angst, Polizeifantasie und Wirklichkeitsfetzen, eine Art neuer Teufel nach dem Zeitalter der Aufklärung mit dem Vorteil, daß er empirisch vorhanden zu sein scheint.

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A: Globale Konzerne beherrschen die Welt wie früher Ritter/Raubritter/ Räuberbanden Mitteleuropa. Was für die mittelalterlichen Herren das Land, ist für sie deterritorialisiertes menschliches Arbeitsvermögen. F: In einer globalisierten Welt ist die menschliche Natur der Acker des großen Geldes? Man läßt auf ein Stück Globus mit günstigem Klima (niedrige Löhne, keine Steuern, keine Gewerkschaften, willige Arbeitskräfte, Subunternehmer für unangenehme asoziale Arbeiten usw.) ein paar Millionen Dollar (vgl. dazu Klein 2002) säen und erwartet in den Metropolen, daß es eine gute Ernte gibt? A: Insofern kommt es jetzt auf die Ökonomie der Arbeitskraft/menschliche Natur ungefähr so an wie im Mittelalter auf Kenntnisse der Fruchtwechselwirtschaft. F: Aber »Geschichte und Eigensinn« ist doch nicht von Anlageberatern geschrieben worden. A: »Das Kapital« ist auch kein Handbuch für Unternehmer. F: Man muß den Feind kennen, um ihn zu besiegen. Aber die Natur des Menschen können Sie doch nicht besiegen! A: Ich sagte ja, es ist eine neue Ökonomie. F: Die alten Ökonomien haben alle versucht, die Natur des Menschen zu »besiegen«? A: Wenn Sie mit »Ökonomien« keine Bücher, sondern wirkliche Verhältnisse meinen. Sie gehen nur mit kleinen Ausschnitten der Ökonomie der menschlichen Arbeitsvermögen um, verzerren sie und scheitern am unbekannten Gesamtzusammenhang. F: (ironisch) … den Negt/Kluge kennen? A: Erforschen und zu erforschen vorschlagen. F: Und diesen Gesamtzusammenhang nennen sie Geschichte? A: Geschichte und Eigensinn. F: Was bei Marx »Kapital« hieß, heißt jetzt »Geschichte und Eigensinn«? A: Nein. Marx Kapital hätte ebensogut »Kapital und Arbeit« heißen können. Was bei Marx Kapital hieß, heißt jetzt Geschichte. F: Das heißt, es handelt sich hier um eine Erweiterung der Marxschen Gedanken auf die gesamte menschliche Geschichte?6 6 | Marx hat den größten Respekt für Darwin gezeigt, ihm sein Kapital gewidmet, er wollte für das gesellschaftliche Leben Ähnliches tun, wie Darwin für das natürliche. Aber Biologie/Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften klaffen auch in den ihnen nachfolgenden Traditionen immer weiter auseinander. Eigentlich sollte nicht der eine dem anderen nur großen Respekt erweisen (was in diesem Fall einseitig blieb), sondern sie müssen das natürliche und gesellschaftliche Leben zusammendenken, die »Menschwerdung«, auf die Darwin ein Licht werfen wollte, ist nicht bloß eine natürliche, sondern auch eine gesellschaftliche Angelegenheit.

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3. Kurzfassung »Geschichte und Eigensinn«, Teil I Im ersten Teil des Buches (S. 27-357) geht es in vier Hauptkapiteln um die geschichtliche Organisation der Arbeitsvermögen oder, was dasselbe ist, um die allgemeine Entwicklung eines Begriffs der politischen Ökonomie der Arbeitskraft. Wie verhalten sich diese vier Kapitel zueinander, wie ist der grobe Gedankengang? Die Überschrift »Die Entstehung der Arbeitsvermögen aus der Trennung« kann zunächst Befremden hervorrufen: Entstehen Arbeitsvermögen denn nicht durch Bildung und Ausbildung, in Schulen, in der Lehre, oder durch irgendwie organisierte oder zufällige Erfahrungsvermittlung? Wieso durch Trennung? Schulen oder andere Organisationsformen der Ausbildung qualifizierter Arbeitskraft entstehen als gesellschaftlich relevante Institutionen erst in der industrialisierten Gesellschaft. Die Dominanz städtischen Lebens gegenüber dem bäuerlichen muß sich durchgesetzt haben. Diesen Prozeß nennt Marx nach A. Smith ursprüngliche Expropriation (Enteignung) oder Akkumulation (Anhäufung von ehemaligem Bauernland in den Händen großer Grundbesitzer, aber auch Anhäufung von landlosen Bauern, d.h. Proletariern in den Städten). Die Urbanisierung mag heute äußerlich in Europa zu einem gewissen Ende gekommen sein, aber das Prinzip des Anhäufens, Enteignens von menschlichen Fähigkeiten treibt den Kapitalismus voran. Ist dieser Gedanke von der Permanenz der ursprünglichen Akkumulation oder andauernden Trennungsenergie, die die Arbeitsvermögen in industriellen Gesellschaften in die Rasanz bringt, im ersten Kapitel entfaltet worden, so fragt das zweite Kapitel ganz einfach und logisch danach, ob es etwas gibt, wovon Arbeitsvermögen nicht getrennt werden können. Denn sonst könnten sie gar keine eigene Ökonomie haben, sondern gingen in der des Kapitalismus auf. Sie entwickeln als einzelne und in Zusammenhängen, sagen die Autoren, eine spezifische »Selbstregulierung« (Kapitel 2), von der sie sich nicht trennen können, ohne vernichtet zu werden. Diese Selbstregulierung, ihr »Eigensinn«, ihre Identität kommt unter historischen Verhältnissen allerdings nie rein zum Ausdruck, sondern immer nur in Form von Störung, Reibung, Nichtidentität. Real ist nicht Harmonie, sondern immer der Zusammenhang von Geschichte und Eigensinn, der Konflikt. In Kapitel 3 benennen und beschreiben die Autoren solche Konfliktlinien, Widersprüche, die die Elemente einer politischen Ökonomie der Arbeitskraft darstellen (z.B. der Widerspruch zwischen Gehorsam, äußerem Funktionieren, Selbstausbeutung und innerer, selbstreguSchließlich hat jeder Mensch einen Körper, in dem die gesamte Naturgeschichte steckt, bevor er ein gesellschaftliches Wesen wird, und umgekehrt läßt sich die biologische Evolution der Körper erst begreifen, wenn Kultur aufgeklärt ist, ein gewisses Maß an Selbstreflexion erreicht hat.

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lierter Zuarbeit; Widerspruch zwischen lebendiger und toter Arbeit; Widerspruch zwischen individueller und gesellschaftlicher Arbeit, Widerspruch zwischen Prozeß und Resultat). Sind diese Widersprüche bestimmt, dann kann es so aussehen, als ob die ganze Sache (eben die politische Ökonomie der Arbeitskraft) in Einzelheiten/Elemente zerfällt, die nichts mehr miteinander zu tun haben. Das heißt, es mag zwar sein, daß die Arbeitsvermögen Selbstregulierungen, Identität, Eigensinn haben, aber verausgabt sich dieser nicht permanent an weit auseinander liegenden Fronten und bildet selbst keinen Zusammenhang? Deshalb unterziehen die Autoren in Kapitel 4 ihre bisher entwickelte Theorie einem ›Härtetest‹ und fragen unmittelbar nach der Wechselwirkung oder den Kreisläufen, d.h. dem Lebendigen, Verbindenden innerhalb der politischen Ökonomie der Arbeitskraft, von dem sie annehmen, daß es trotz und unter diesen Widersprüchen doch Zusammenhang bildet oder eine Tendenz dazu hat (reales, tendenzielles, potentielles, auch utopisches menschlich-gesellschaftliches Gemeinwesen).

4. Über politische Großintellektuelle F: Enzensberger? A: Sehr groß, macht es sich aber oft zu leicht. F: Wie bitte? A: Vergleichen Sie z.B. die Formulierung »Fernsehen ist ein bunter Watteball für die Augen« (Enzensberger) mit dieser: »Ich kritisiere das Fernsehen nicht für das, was es macht, sondern für das, was es nicht macht« (Kluge). F: Habermas? A: Einer der größten, es gibt zwei Habermase. Einen politischen Essayisten, sehr glanzvoll, und einen Sozialphilosophen. F: Und der letztere? A: Riesig, aber ich kann ein gelungenes Seminar doch nicht für ein vertrauenswürdiges Vorbild von Emanzipation halten. Die Lebenswelt enthält, aber tendiert nicht auf kommunikative Vernunft, sondern, so absolut falsch sich das anhört, auf Unterhaltung, d.h. nicht bloß auf Vernunft, sondern auf Vernunft, Gefühle, Phantasie, Lachen. Funktioniert die Parole »Vernünftige aller Länder, vereinigt euch«? F: Luhmann? A: Kein politischer Intellektueller. F: Aber groß? A: Sehr. F: Können Sie noch etwas mehr zu Luhmann sagen? A: Der Begriff »Emanzipationskonservativismus« ist haltlos. Die Wirklichkeit läßt sich nur aus hegelschem-göttlichen Blick in eine Ansammlung von

244 | Rainer Stollmann Systemen auflösen. Nur ein Wesen, das glaubt, diesen Blick gäbe es wirklich, kann sich von Emanzipation verabschieden. F: Heiner Müller? A: Einzigartig, leichter Hang zu Zynismus aus Enttäuschung. »Massenmörder sind die letzten Humanisten« u.ä. F: Und was ist das Große an Kluge? A: Negt/Kluge, wenn wir hier von Theorie reden. F: Und was ist an der Theorie von Negt und Kluge so großartig? A: (schweigt) F: Können Sie das nicht sagen? A: … schon … F: Aber ich würde es nicht glauben? A: Würden Sie dem Satz zustimmen, daß Philosophie Theorie ist, wenn die Praxis das Leben ist? F: … Ja, warum nicht? A: Es geht uns also nicht um die Theorie von irgend etwas, sondern um die Theorie des Lebens? F: Von mir aus. A: Lernen zu leben, wie z.B. Derrida sagt (vgl. Derrida 1996: 9ff.), ist eigentlich das, was wir wirklich wollen, dazu brauchen wir eine Theorie? F: Könnte man so sagen. Erinnert mich an die Phrase, die wir in der Schule hörten: Non scholae, sed vitae discimus. So abgedroschen die ist, man kann am Ende nicht bestreiten, daß sie stimmt. A: Hegel redete ebenfalls zuerst von »Leben«, wo er später »Geist« sagte. Die Lebensphilosophie, Bergson, konzipierte einen elan vital, also eine Lebenskraft. Die großen Philosophen wollen doch wirklich das Leben begreifen. Wenn wir aber Marx folgen, daß der Mensch, also das Leben aus allen seinen Lebensäußerungen besteht, aus seinen Beziehungen zur Welt, also keine Substanz, kein Subjekt im Unterschied zum Objektiven ist, sondern gerade im Ausdruck, in der Äußerung seiner Wesenskräfte besteht, dann ist Philosophie die analytische Beschreibung subjektiv-objektiver Verhältnisse. Das tun Negt/Kluge und nennen es Geschichte der Arbeitsvermögen. F: Aber Arbeit ist doch nicht Leben. A: Können wir uns darauf einigen, daß der Mensch tätig sein will? Er will nicht nur faulenzen und konsumieren, das macht auf Dauer nicht glücklich, sondern sich irgendwie in der Welt betätigen, von mir aus: spielen, wie Schiller meinte. Wenn es dann Mühe (= Arbeit) macht, möchte er lieber aufhören. Das geht aber nicht so leicht. Sowohl unsere mangelhafte Natur (was wir im Unterschied zu Tieren alles brauchen, um uns einigermaßen wohl zu fühlen: Kleider, Wohnung, Fernsehen, andere Menschen) als auch Herrschaft (Arbeit für andere) machen aus dem Tätig-sein-Wollen meistens Arbeit.

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F: Einverstanden. A: Insofern ist die Hauptform des Lebens Arbeit? F: Na gut. A: Das heißt, wenn wir eine Theorie der Arbeit hätten, also lernten, Arbeit mit dem Wunsch des Tätigseins zu vereinen, hätten wir auch fast eine Theorie des menschlichen Lebens? F: Wäre möglich. A: Lesen Sie »Geschichte und Eigensinn«! F: Da steht eine Theorie des Lebens drin? A: Man kann so einen Ausdruck höchstens einmal in einem beiläufigen Gespräch wie dem unseren fallen lassen, aber nicht aufschreiben. Selbstverständlich reden die Verfasser überhaupt nicht davon.

5. Über Selbstregulierung F: Und wie soll man leben nach »Geschichte und Eigensinn«? A: Wir leben tatsächlich selbstregulierend, insofern sollte man auch so leben. F: ? A: Man könnte sagen, vollständige Emanzipation ist die Selbstregulation von Selbstregulationen (von Selbstregulationen usw.), also ein hochkomplexes, lebendiges, veränderbares Gefüge kooperativer Autonomien. F: ?? A: Man kann z.B. davon ausgehen, daß ein Familienleben sich selbst reguliert (Benutzung des Bades, Freizeitgestaltung, Auswahl des Fernsehprogramms, gemeinsame Mahlzeiten, Urlaub). Man sieht aber sofort, daß eine funktionierende Familienselbstregulierung, das Ausbalancieren unterschiedlicher Bedürfnisse und Interessen zwischen und in den einzelnen Mitgliedern, die Formen und Strukturen, die dabei entwickelt werden, ihre Zerbrechlichkeit, die Rücksicht auf die Veränderung der Individuen und auf Einflüsse von außen, daß die Kunst, das alles so lebendig zu halten, daß man wirklich von »Selbstregulierung« dieser Familie mit mehreren unterschiedlichen, höchst lebendigen, individuellen ›Selbsten‹ sprechen kann (und nicht von laissez-faire, Schematismus, Zwang, Unterordnung, Gleichgültigkeit), daß das alles komplizierter ist als die Formel e = mc2, nach der sich das Weltall bewegt. Und selbst wenn man das für eine Familie beschreiben könnte (Romane wie etwa T. Manns »Buddenbrooks« enthalten davon einiges), so kann man es keineswegs auf eine andere Familie mit anderen individuellen Mitgliedern einfach übertragen. Dort kann Selbstregulierung anders, abweichend aussehen. F: Nun leben aber wohl viele Familien gar nicht nach dem Prinzip von Selbstregulierung. A: Ja und nein. Ohne ein Minimum an Selbstregulierung könnte auch die

246 | Rainer Stollmann autoritärste Familie nicht leben, sie würde zerbrechen, jemand würde in Krankheit flüchten usw. F: Das heißt, Selbstregulierung ist kein Ideal, sondern das muß es geben? Woher nehmen Negt-Kluge diese Gewißheit? A: Aus der Natur, Selbstregulation ist ein natürliches Prinzip, das man in seinen vielfältigen Gestalten studieren und nachahmen oder besser: übertragen, übersetzen, anders weiterführen kann. F: Aber die Natur ist grausam. A: Trotzdem nicht ohne Selbstregulation. Fressen die Leoparden zu viele oder gar alle erreichbaren Antilopen, dann werden sie selber aussterben. Selbst in den für das menschliche Auge grausamsten Naturverhältnissen ist Selbstregulation vorhanden. F: Ist »Selbstregulation« ein wichtiger Begriff in »Geschichte und Eigensinn«? A: Der tragende. Eigensinn, also der eigentliche Signalbegriff des Titels, ist Selbstregulierung in dichter Zusammensetzung oder Synthese. »Geschichte und Selbstregulierung« wäre als Titel auch nicht falsch. F: Und wo gibt es Selbstregulierung oder Eigensinn? A: Überall, wo es Geschichte gibt. Die Autoren sprechen sogar von eigensinnigen Möbeln. Und wenn Sie an Laurel & Hardy denken, die ein Klavier transportieren, dann verstoßen die … F: Aber Sie sagten doch gerade, daß die Autoren das Prinzip der Selbstregulierung gewissermaßen der Natur ablauschen. A: Auch Möbel haben eine Natur (das Holz und seine Verarbeitung) und eine Geschichte. Natur allein hat auch eine Geschichte, die Naturgeschichte – dauert seit dem Urknall nach unterschiedlichen Schätzungen 12 bis 20 Milliarden Jahre. F: Die aber doch für menschliche Emanzipation keine Bedeutung hat. A: Sagen Sie das nicht, es gibt die schönsten Beispiele in dem Buch. Z.B. unsere Körpertemperatur. Man weiß, daß die Urmeere etwa 37 Grad hatten, diese Temperatur hat das Leben, als die Meere erkalteten, ins Innere genommen, unsere Körpertemperatur. Es ist doch verblüffend, wie unterschiedlich Menschen rund um den Globus aussehen und leben, aber die Körperwärme ist überall gleich. Davon ist aber unsere gesamte Lebensweise, Kleidung, die Zonen, in denen wir leben können, Kochen usw. abhängig. Nur wenige Grad Abweichung im Körper führen zum Tod. Napoleons und Hitlers Armeen werden in Rußland von ›General Winter‹ besiegt. Die Tatsache, daß wir Wasserwesen sind und viel davon brauchen, wird weltpolitisch gegenwärtig zum Thema. Oder die Tatsache, daß die menschliche Schwangerschaft neun Monate dauert. Hitler hat Mutterkreuze für Kinderreichtum verliehen (im Volksmund ›Karnickelorden‹), weil er Soldaten brauchte, ein Regime wie die Nazis hätte bestimmt gern die Zeit und

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die Strapazen der Schwangerschaft verkürzt oder abgeschafft. Es handelt sich aber um eine natürliche Selbstregulation, gegen die sie machtlos sind. Der gesamte Taylorismus in der Industrie scheitert an den Selbstregulationen der menschlichen Natur, seit den 60er Jahren steuern die Fabriken um. Unsere Körper sind unser natürliches Gemeinwesen, sie bestehen aus Selbstregulationen. F: Der Geschichtsbegriff Negt/Kluges schließt die gesamte Naturgeschichte mit ein? A: Ja. F: Aber sie sind doch keine Naturwissenschaftler. A: Jeder kann Bücher lesen. F: Ist das nicht etwas unwissenschaftlich? A: Es ist ja auch nicht Wissenschaft, sondern Philosophie. F: Ist das nicht eine Ausrede? A: Marx galt und gilt als unwissenschaftlich, die ganze Kritische Theorie hat es nur der Protestbewegung zu verdanken, daß sie akademisch halbwegs akzeptiert ist oder war. Was als Wissenschaft anerkannt wird, ist eine Frage der Macht oder Politik. F: Auch als Naturwissenschaft? A: Galilei, Kepler, Kopernikus? F: Die Zeiten haben wir hinter uns. Einstein, Planck, Bohr hatten solche Schwierigkeiten keineswegs. A: Wenn das Dritte Reich die Welt erobert hätte, wäre das Schicksal des Juden Einstein und der Relativitätstheorie mit dem Galileis vergleichbar geworden. Es betrifft nicht Geistes- oder Naturwissenschaften, sondern schon die Trennung von Natur- und Kulturwissenschaften ist ein teilweise tragisch anmutender politischer Fehler (vgl. hierzu Enzensberger 2003: 7691). Gedanke, Geist, Seele, Kultur gibt es nicht ohne Körper. Die Sozialund Geisteswissenschaften sind eigentümlich körperlos. F: Und die Naturwissenschaften eigentümlich geistlos? A: Das kommt vor.

Stoff und Gedanke Der erste Teil von »Geschichte und Eigensinn« (»I Geschichtliche Organisation der Arbeitsvermögen«) enthält die allgemeine theoretische Grundlegung. Das ist in jedem großen philosophischen Werk der schwierigste, weil abstrakteste Teil. Wenn wir den ersten Band des Marxschen Kapital zum Vergleich heranziehen, dann sind dort auch die ersten Kapitel, in denen die Dialektik der Ware entwickelt wird bis hin zum Begriff des Kapitals, schwieriger als das letzte Kapitel (»24. Die sogenannte ursprüngliche Ak-

248 | Rainer Stollmann kumulation«). Die Bewegung des dialektischen Denkens nennt Marx »Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten«. Das Abstrakteste ist die Ware (fast alles kann eben Ware sein, insofern ist der Begriff abstrakt, von allem möglichen Anschaulichen, Handgreiflichen abgezogen). Damit fängt »Das Kapital« an, und es endet beim Konkreten, das sich teilweise wie reine Geschichtsschreibung liest: Geschichte der Vertreibung der englischen Bauern von ihren Äckern in die Städte, dort errichten sie als Proletarier (Landlose) die große Industrie und setzen Ende des 18. Jahrhunderts die sog. Industrielle Revolution in Gang – nach der neolithischen Revolution, der Erfindung des Ackerbaus um 10.000 v. Chr. die zweite große gesellschaftliche Umwälzung des menschlichen Lebens (Trennung vom Ackerbau). Diese Bewegung von der allgemeinen Theorie hin zum historischen Stoff, wie sie sich im Kapital findet, ist der Ausformulierung des Lebenswerks bei Hegel von der Phänomenologie bis zu den »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie« und auch bei Kant in der Bewegung von der »Kritik der reinen Vernunft« zur »Kritik der Urteilskraft« ähnlich. Die Hauptschwierigkeit beim Lesen von »Geschichte und Eigensinn« ist aber anders gelagert, sie ist nicht dieselbe wie die der klassischen Theoriebildung, wenngleich diese auch nicht einfach verschwindet. Das Buch fängt ja überhaupt nicht theoretisch an, vielmehr ist das erste Wort des Inhaltsverzeichnisses »Geschichte«: »Geschichtliche Organisation der Arbeitsvermögen« – also gerade nicht Theorie, sondern Stoff, Anschauung? Anders als »Das Kapital« steigt »Geschichte und Eigensinn« nicht über die Länge des Textes »vom Abstrakten zum Konkreten« auf, wenngleich der erste Teil gegenüber den beiden anderen allgemeiner ist. Das Buch folgt auch nicht der Chronologie. Mit welchem Recht können wir eigentlich noch von einer theoretischen Grundlegung im ersten Teil sprechen, wenn es sofort mit »Geschichte«, also konkretem Stoff, Anschaulichem, gar nicht Abstraktem beginnt (aber doch auch keine Historiographie ist)? Dann fällt in der Überschrift des zweiten Kapitels auch schon das Stichwort Natur, und zwar nicht bloß metaphorisch, sondern es ist von Gehirn, Zellen und Wasser die Rede. In vielen Passagen des Buches weiß man nicht genau, ob man sich in einer Beschreibung oder Erzählung oder einem theoretischen gedanklichen Zusammenhang befindet. Noch bei den kürzesten und mit anschaulichem Stoff beschäftigten Abschnitten hat man das Gefühl, hier gehe es irgendwie auch noch ums Ganze, um große Philosophie: In den sechs Zeilen über »Eindringgesetze des Wassers« lesen wir die Ausdrücke »List der Natur« (was auf Hegels »List der Vernunft« anspielt) und »atomare Materialisten« – wovon sich die Wassermoleküle sicher nichts träumen lassen; und in welche Nähe geraten bei solchen Formulierungen Materialismus und Animismus (Beseeltheit der Natur)? Eins wechselt mit dem anderen, Bilder kommen hinzu usw. Das Verhältnis von Ge-

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danke und Stoff (Denken und Leben, Theorie und Welt, Begriff und Anschauung) ist hier deutlich anders gelagert als in der klassischen Theoriebildung. Wenn Kant sagt, »Begriff ohne Anschauung ist leer, Anschauung ohne Begriff ist blind«, dann erscheint es so, als ob Kluge und Negt diese Regel gewissermaßen permanent zu befolgen versuchen, indem sie, so dicht das nur eben geht, Begriff und Anschauung, Konkretes und Abstraktes ineinander weben und das ist dann doch etwas anderes als das klassische Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten.7 Insbesondere Alexander Kluge ist nicht nur im Unterschätzten Menschen, sondern in seinem Gesamtwerk in diesem Punkte der strengste Kantianer. Das ist aber in der Sache begründet: »Im Kapital von Marx ist die sog. ursprüngliche Akkumulation als der Dreh- und Ausbruchspunkt für jede moderne Produktion von Arbeitskraft, und damit der Geschichtsproduktion, ans Ende der Darstellung gerückt. Es ist erste wirkliche Voraussetzung seiner Entstehungsgeschichte, so wie die Ware erste Voraussetzung seines Prinzips ist. Untersucht man den Gegenpol der Kapitallogik, die geschichtliche Prägung der Arbeitskraft, so muss dieses Kapitel der ursprünglichen Akkumulation an den Anfang treten« (Negt/Kluge 1981: 35).

Habe ich aber erst einmal das Ende des Marxschen Denkens zum Anfang meines Denkens gemacht, dann kehrt sich auch der ganze Rest um. Das gesamte klassische Verhältnis von Gedanke/Theorie und Stoff, dem Marx anhängt, insofern er die Dialektik des Kapitals als des Geistes der neuen Zeit hegelianisch beschreibt, ist nicht mehr zu verwenden für die Untersuchung der politischen Ökonomie der Arbeitskraft. Was z.B. sollte deren Entste7 | Kant selber bemüht sich nicht gerade um Anschauung, sondern wählt die Seite des Begriffs. Schlägt man seine Kritiken auf, dann bemerkt man schon im Inhaltsverzeichnis, daß er aus uns unbekannten Gründen einen Narren an der abstrakten Zahl 4 gefressen hat, er gliedert alles in Vierer-Päckchen (Doppelkopf-Philosoph). Bei Hegel (Skat-Philosoph) läuft alles nach der Zahl 3 (»Dialektik«). Bei allem Respekt, aller Hochachtung für Kant und Hegel kann man gegenüber einer solch abstrakt-schematischen Theoriebewegung oder Registrierung des Weltlaufs Zweifel haben. – Wenn bei Kant oder Hegel einmal Anschauung, Beispiele auftauchen, dann sind es ganz markante Stellen, in denen die Leidenschaft der Autoren durchbricht, wie z.B. im »Beschluß« am Ende der »Kritik der praktischen Vernunft« der berühmte Anfangssatz: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« In dem ungewöhnlichen Wort »bestirnt« – wieso nicht »Sternenhimmel«, »sternenvoll« oder »besternt«? – ist die »Stirn«, hinter der das Hirn sitzt, enthalten.

250 | Rainer Stollmann hungsgeschichte sein, da sie doch etwas Lebendiges ist und sich in jedem Individuum die ganze Gattung erhält? Die Entstehungsgeschichte der Arbeitskraft beginnt jeden Tag neu, wenn die Menschen aufstehen und ihr Tagwerk aufnehmen (eigentlich arbeiten sie auch im Schlaf, nicht zufällig spricht Freud von Traumarbeit). Gleichzeitig baut jeder Erdentag auf die Erfahrung aller Geschlechter vorher, ja auch auf die Zeit, da noch keine Menschen die Erde bewohnten, denn die Maße unseres Sonnensystems sind keineswegs nur außen, sondern auch in uns – es tragen z.B. die Körper der Menschenfrauen die Zeitrhythmen des Mondes in sich. Und was sollte das Prinzip der politischen Ökonomie der Arbeitskraft sein? Gibt es da irgendeinen faßlichen Punkt, der der Ware entspräche?8 Ist das reichhaltige Arbeitsvermögen der Menschen – Sozialwissenschaftler und Psychologen billigen schlecht ausgebildeten Menschen mit niedrigem IQ das Minimum von 600 Einzeleigenschaften zu, hochqualifizierte haben bis zu 60.000 – irgendeinem Prinzip unterzuordnen, wenn es sich doch seit 4 Mrd. oder 2 Millionen oder seit 150 Jahren in Auseinandersetzung mit Natur und Ge8 | Man könnte, nach Durcharbeiten des Unterschätzten Menschen, vermuten, daß es solch einen Punkt vielleicht doch gäbe: das Gefühl. Man kann vom Wort ausgehen: »Fühlen« ist zunächst nichts Inneres, sondern ein Tasten, ein spontanes Sich-Äußern oder Bewegen. Um 1800 ist einerseits die Vernunft so stark wie nie, beginnt die Industrie, es kehren sich die Gefühle nach innen und von der Außenwelt ab. Es organisieren sich gesellschaftliche Bereiche (Betriebe, Wissenschaft, Geschäft), in denen die Gefühle angeblich gar nichts zu sagen haben, und andere (Familie, Liebe, Ehe, Kindheit), in denen sie Nester haben sollen. Diese Trennung bringen Menschen nur sehr unvollkommen zuwege. Die reale Lage der Gefühle vergleicht Kluge mit dem Motor, den Verstand mit dem Steuer – die Gefühle treiben an, der Verstand bestimmt die Richtung. Das nennt man Realismus. Ihrem Ursprung nach (Tasten), sind Gefühle aber gar keine Antreiber (Motive), sondern Unterscheidungsvermögen: kalt/warm, rauh/weich. Die Aufspaltung der menschlichen Fähigkeiten in einen solchen Verstand und solche Gefühle zerrt stark an der menschlichen Natur. Genau diese Arbeitsteilung, die zum Klassenkampf zwischen Gefühlen und Verstand in der Moderne führt, muß aufgehoben werden. Dabei erweist sich das Gefühl als die Elementarform der politischen Ökonomie der Arbeitskraft, wie die Ware die des Kapitalismus ist. Aber das Gefühl ist nicht das Allerabstrakteste, Objektivste dieser politischen Ökonomie, sondern das Allerkonkreteste, Lebendigste, sich ständig Wandelnde und Ungreifbarste, Subjektivste, in dem anders als in der Ware, deren Mystifikationen, Fetischcharakter und theologische Mucken Marx auflöst, gewissermaßen Kants »Ding an sich« aufgehoben wäre. Das ist aber dann auch nicht mehr das Objekt schlechthin, sondern, da Gefühle nicht einfach innen sind bzw., wenn sie länger dort eingesperrt werden, verkümmern oder explodieren können, gerade die ursprüngliche subjektiv-objektive Beziehung jedes einzelnen Arbeitsvermögens.

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sellschaft, also nach vielfältigen Prinzipien, herausgebildet hat? Prinzip und Entstehungsgeschichte der Ökonomie der Arbeitskraft (oder im herkömmlichen Sprachgebrauch: der Kultur) in einem – ihre Form – ist die »Einheit von Gattungsgeschichte und Individuum« (Negt/Kluge 1981: 92).9 Es liegt viel daran, dieses verwirrende Verhältnis von Gedanke und Stoff, die einzigartige Nähe, das Durch- und Miteinander von Anschauung und Begriff, Theorie und Geschichtsschreibung zu verstehen, das eine Besonderheit der Theoriebildung und Darstellung im Unterschätzten Menschen ausmacht und sowohl für eine gewisse Befremdung wie für eine andauernde Anziehungskraft von »Geschichte und Eigensinn« seit dem Ersterscheinen im Jahr 1981 mitverantwortlich ist.

Die Methode im Unterschätzten Menschen als Konsequenz der Philosophiegeschichte Für Hegel ist bekanntlich das Ganze das Wahre. Dieser Gedanke ist zunächst leicht einzusehen, weil z.B. ein Satz oder ein Textabschnitt im Rahmen eines Kapitels oder ganzen Buches eine andere Bedeutung bekommt als an sich. (Wie interpretiert man Sätze, die Mephisto in Goethes »Faust« sagt, wenn doch ein Teufel nicht einfach die Wahrheit sagen wird?) Die Ähnlichkeit mit wirklicher Geschichte wird deutlich, wenn man sich ein Wesen vorstellt, das die Menschheitsgeschichte überblicken könnte wie ein Buch.10 Für unser menschliches Verhältnis zur Geschichte heißt das, daß man etwa das Ganze und damit auch die Teile einer historischen Epoche erst erkennen kann, wenn diese zu Ende ist. Insofern kommt Theorie immer zu spät. Da das Wirkliche vernünftig, d.h. Geschichte die Verwirklichung der Vernunft ist, wird die unbegriffliche, nicht vernünftige Anschauung von Hegel in einer Art Begriffsimperialismus des Geistes an den Rand gedrängt (er proklamiert z.B. das Ende der Kunst). Ist aber bei Marx das Ganze (statt im Geist) im sich ausbreitenden Kapitalismus gegeben, und ist dieses Ganze von den schärfsten Widersprüchen 9 | Und das, könnte man sagen, ist der Horizont von Roman, Mythos, Märchen, Erzählung, Oper, von Poesie eben, und nicht von Theorie. Vgl. dazu ebd.: 382384. 10 | In dieser Metapher steckt aber schon die Fiktion diskursiver Omnipotenz. Es ist daher naheliegend, daß Hegels Philosophie regelrecht das Christentum beerben, geistig profanisieren will. Nur Gott könnte die Weltgeschichte anblicken wie ein Buch, der Blick des bekannten Engels von Klee/Benjamin ist schon mehrfach gebrochen, blind für die Zukunft, vom Sturm getrieben. Wir Menschen leben in den Trümmerfeldern, ohne Überblick.

252 | Rainer Stollmann gekennzeichnet, dann ändert sich der Totalitätsbezug des Denkens. Marx bricht im 19. Jahrhundert als erster mit der privilegierten Position des Denkens. Denken ist nur eine besondere Zuspitzung allgemeiner menschlicher Arbeitskraft, es unterliegt wie andere Arbeitsvermögen auch natürlichen Bestimmungen und gesellschaftlichen Verhältnissen.11 Marx stürzt den Monotheismus des Geistes. Man weiß, daß Marx alles zu erfahren suchte, was mit der Lage der arbeitenden Klassen, ihren Protestformen, Organisationen, der betrieblichen Arbeit usw. zusammenhing. Der Grund dafür ist, daß dort, im Laboratorium der großen Industrie, die menschlichen Arbeitsfähigkeiten verallgemeinert, diszipliniert und auf den modernen Stand gebracht wurden. In der Masse der qualifizierten, am modernsten technischen Standard geschulten Arbeitsvermögen, sagte er, sitzt der wirkliche Geist der Zeit, und nicht in Philosophenstübchen. Und nur das Denken, das damit möglichst große Berührung hält, sich als Theorie der Arbeit im allgemeinen12 begreift, hat die größte Chance, realistisch zu sein. Dialektik, die Umwälzung des Ganzen, ist eine Sache der revolutionären Politik, nicht der Vernunft, der Totalitätsbezug muß praktisch hergestellt werden, Philosophie als Begreifen des Ganzen ist von einem einzelnen Kopf aus nicht möglich. Denken muß sich auf die Kräfte beziehen oder sie ergründen, die die Verhältnisse, in denen der Mensch ein »entrechtetes, geknechtetes Wesen« ist, verändern können. Man kann also sagen, daß bei Marx der Totalitätsbezug des Denkens in der politischen Selbstreflexion der Philosophie, ihrem Selbstverständnis als Teil, Partei der Wirklichkeit steckt. Sie soll damit Praxisbezug gewinnen und nicht mehr zu spät kommen müssen. Erfüllen sich die revolutionären Hoffnungen nicht, scheint der Kapitalismus seine Gegenpartei zu verschlucken (»Untergang« des Proletariats 1914-1918 oder 1914-1945), dann setzt sich Wirklichkeit als totaler geist- und subjektloser Verblendungszusammenhang durch; scheint politischer Eingriff nicht oder fast nicht mehr möglich, dann kann Adorno Hegel umkehren und sagen: »Das Ganze ist das Unwahre«, d.h. der Marxsche Bezug auf einen Teil der Wirklichkeit, das Proletariat, wird zweifelhaft. Von diesem Punkt an wird der Wirklichkeitsbezug des Denkens auf neue, andere Weise (als nur erkenntnistheoretisch wie bei Kant) unsicher, zumal das »partei11 | »Was in der Wirklichkeit denkt, ist die Arbeit« (ebd.: 486). 12 | Auch das hat Marx historisch begründet: Wenn es im Prinzip auch immer schon so war, dass die Menschen arbeiten mußten, um zu leben (und sie sich daher Paradiese ohne Arbeit erträumten), macht erst die große Industrie Arbeit zum allgemeinen Medium des gesellschaftlichen Lebens, zum ersten Mal in der Geschichte arbeitet auch die herrschende Klasse. Erst jetzt, da es praktisch so ist, kann die Arbeit als das erkannt werden, was sie ist: conditio humana. (Vgl. Marx, Karl: »Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie«. In: Marx/Engels 1972: 7-11)

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liche Denken« in der »marxistischen Legitimationsideologie« (Negt) der realsozialistischen Staaten zur Karikatur des »Die Partei hat immer recht« erstarrte. Die Kritische Theorie zeichnet sich insgesamt durch politische Selbstreflexion und das Bemühen aus, jeder »Affirmation« (Adorno) einer unmenschlichen, mit Krieg, Leid und Elend durchzogenen Wirklichkeit wenigstens im Denken zu widerstehen, also gewissermaßen parteilich im Marxschen Sinne auch dann zu bleiben, wenn eine Partei in der Wirklichkeit nicht mehr so leicht, jedenfalls nicht mehr so kontinuierlich wie die Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert, auszumachen ist (die allerdings Marx von Anfang an auch scharf kritisiert hatte). Diese ihre zwangsläufig prekäre politische Parteilichkeit (kein Idealismus, kein Positivismus, sondern ein Materialismus ohne andere als geistige Erfahrung) ist dann aber immer noch identisch mit ihrem Totalitätsbezug (Festhalten am Emanzipationsbegriff der Aufklärung). Ist kein historisches Subjekt da, das die Welt wirklich »begreift« (industrielle Arbeit, das Proletariat), sondern herrscht der »Überhang des Objektiven«, dann wird es für die Theorie selbst immer schwieriger, diesem objektiven Prozeß begrifflich nachspüren. Sie wird selbst »subjektiv«. Die diskursive Position, das Denken des Ganzen bzw. das Bündnis mit der Kraft eines möglichen neuen Ganzen im alten, ist so erschüttert, daß im begrifflichen Denken eine poetische Tendenz erwacht und nicht bloß begrifflich im Kontakt mit dem Ganzen steht. Man kann vor allem bei Benjamin, aber auch bei Adorno (ebenso bei Musil oder Brecht) dieses Ineinanderübergehen von Theorie, begrifflichem Denken und Poesie bemerken. Diese habituelle Distanzierung von Hegel (und teilweise von Marx) ist unmittelbare Konsequenz der Krise des Denkens des Ganzen bzw. der politischen Parteinahme. Warum sollte der Begriff oder die Theorie ein Vorrecht in der Nähe auf Wahrheit haben, wenn der vernünftige Totalitätsbezug (oder die Parteilichkeit auf eine Kraft in der Wirklichkeit) so unsicher geworden ist? Warum sollte das genaue anschauliche Beschreiben und Darstellen, also auch Literatur, Kunst, Film einen minderen Status gegenüber den abstrakten Begriffen, dem Entwickeln von argumentativen Zusammenhängen haben, wenn man sich nach den Schrecken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer Phase des Suchens und Tastens innerhalb des Problemzusammenhangs Wirklichkeit, Totalität, Wahrheit, Politik befindet? Dieses Moment der Balance oder Berührung von Anschauung und Begriff wird in »Geschichte und Eigensinn« insofern nur in besonderer Weise zugespitzt. Ob ich etwas denke oder erzähle, ob ich argumentiere oder ein Foto zeige, das besagt an sich noch nichts über den Erkenntniswert oder die Wahrheitsnähe (vgl. dazu Enzensberger 2004).13 13 | Auch manche Formulierungen von Kluge legen nahe, daß er die treiben-

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Kultur und Ökonomie können dasselbe sein Was ist z.B. Kultur? Sie ist jedenfalls das irgendwie Weiche, Unbestimmte, Innere, Schöne, Künstlerische, Seelische, die Weisen des menschlichen Verhaltens, der Reflexion und Gefühle, das, was zur harten Realität der Technik, Industrie, der Fakten, Märkte, des Arbeitstags auf Distanz geht und von vornherein als das Schwächere erscheint. Man kann natürlich auch den Begriff der Kultur mit dem der Zivilisation gleichsetzen, dann wird plötzlich der Kapitalismus oder die freie oder soziale Marktwirtschaft zu einem Teil unserer Kultur, aber diese Ansicht ist ein anthropologischer Trick (so als ob westliche Gesellschaften Stämme wären, die man selbst wie ein Anthropologe von außen betrachten könne), der sich über die interne Situation zu leicht hinwegsetzt. Und was ist Ökonomie? Oikos – der Herd, Ökonomie – das Gesetz des Herdes: wie groß kann das Haus mit welchem Herd sein, und wie viele Personen können dann darin wie leben? Hauswirtschaft, Betrieb und Leben fallen zusammen. In der Agrikultur freier, selbstbewirtschaftender Bauernhöfe sind Ökonomie (Arbeit) und Kultur (Leben, Lebenswelt) dasselbe – wären da nicht die widrige Natur, die Herren und Eroberer. Offenkundig ist das heute nicht mehr der Fall. Die Herdstellen, die wärmenden, sie ernährenden Zentren, denen sich Menschen zuordnen müssen, sind ins Gigantische – Betriebe, Konzerne, corporate identity, Nationalwirtschaften, Globalisierung usw. – gestiegen. An den Einheiten und Strukturen dieser äußeren Ökonomie orientieren sich die Wirtschaftswissenschaften. Was mit Kultur zu tun hat, steht dieser Ökonomie fast ausschließlich feindlich gegenüber. Kultur erscheint unökonomisch, etwas, das wie Theater, Musik und Romane bloß Geld verbraucht, oft nicht mehr als eine Art Luxus, den man sich zu bestimmten Zeiten leisten kann und der nur sehr eingeschränkt (Kunstmarkt, ›events‹) ökonomisch, d.h. Geschäft sein kann. Greift die Ökonomie (der Kapitalismus) rücksichtslos auf die Kultur über (Kultur- oder Bewußtseinsindustrie), dann verdorrt sie. Dieser im Alltagsgeschäft der Budgets und Märkte durch nichts zu lindernde, die gegenwärtige staatliche Kulturpolitik prägende scharfe Gegensatz von Ökonomie und Kultur nähert sich nur unter zwei Bedingungen einer Auflösung: wenn man den Betrieb, die Einheit, auf die sich Ökonomie bezieht, innerhalb derer es ökonomisch zugehen soll, sehr groß oder sehr klein macht. Weltökonomie – wie richtet man die Welt häuslich ein? – wäre de Kraft im menschlichen Erkenntnisvermögen, einschließlich der Naturwissenschaften, am ehesten als »Poesie« bezeichnet. Umgekehrt gehen Kluge und Enzensberger (neuerdings auch Durs Grünbein) so nah und ungeniert wie niemand anders ihrer deutschen Schriftstellerkollegen mit den Naturwissenschaften um.

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fast dasselbe wie Kultur/Weltzivilisation, und Individualökonomie – nach welchen Gesetzen und Maßen richtet ein Individuum sein Leben ein? – ist die alte philosophische Frage nach dem rechten oder guten Leben, die kein Mensch bloß nach der Höhe des Gehaltskontos entscheidet. Man kann sich also eine Wissenschaft denken, die wie die klassische Ökonomie nach Gesetzen sucht, unter denen ein Betrieb oder die Wirtschaft einer ganzen Nation am besten funktioniert, deren Gegenstand aber nicht der Betrieb oder die Nation, sondern der einzelne Mensch ist. Tut man das, sagt man, daß der oikos, der Brennpunkt, um den sich menschliches Leben abspielt, nicht einfach in einer Ansammlung äußerer Bezugspunkte aufgeht, sondern daß es eine in der historischen Erfahrung wurzelnde Ökonomie des Menschen selbst gibt, dann landet man aber nicht bei Robinson, sondern hat den Gegenstand der Ökonomie gleichzeitig minimalisiert und maximalisiert. Denn einen einzelnen Menschen gibt es nicht ohne die Menschheit und umgekehrt. Menschheit existiert nur in Gestalt von Individuen – oder, wie Kluge etwas anschaulicher aber völlig in Übereinstimmung mit Kant behauptet: »Die erste Globalisierung ist der menschliche Körper.« Er ist das ursprüngliche Gemeinwesen der Menschen. Wird, wie in »Geschichte und Eigensinn«, der »Zusammenhang von Individualund Gattungsgeschichte« zum Gegenstand der Forschung, dann kann man unsicher werden, ob es sich um Ökonomie oder Kulturwissenschaft/Philosophie handelt. Tatsächlich sprechen die Autoren von einem »philosophischen Buch«, dessen Gegenstand aber die »politische Ökonomie der Arbeit« ist. Und wenn man näher hinsieht, so wird man finden, daß »Geschichte und Eigensinn« sich wesentlich mit dem beschäftigt, was im blinden Fleck von Marx, d.h. außerhalb des Wertgesetzes (Waren, einschließlich der Ware Arbeitskraft, tauschen sich zu ihren Werten) liegt. Und das ist eben, was Marx Geschichte und Moral, also Kultur nennt.

Auch die Grenzen zwischen Poesie, Theorie und Naturwissenschaften sind relativ oder scheinbar Offensichtlich ging es in den Anfängen der modernen Astronomie (Galilei, Kepler, Kopernikus) nicht nur um naturwissenschaftliche Fragen, sondern es zerbrach ein ganzes autoritäres, zentralisiertes Weltbild mit der Einsicht, daß die Erde um die Sonne kreist. Die heutige Astronomie fußt auf den Erkenntnissen Einsteins. Aber auch hier ist es gespenstisch, wie gut die Vorstellung eines big bang mit den schrecklichen big bangs zusammenpaßt, die Europa und die Welt in den Kriegen des 20. Jahrhunderts erschütterten, wobei der Schlußpunkt des Krieges (Hiroshima, Nagasaki) bereits an Einsteins Erkenntnissen praktisch partizipierte. Die heutige Biologie bis hin

256 | Rainer Stollmann zur Gentechnologie ist darwinistisch. Auffällig ist, wie sonderbar das Prinzip des survival of the fittest mit dem Gesellschaftssystem übereinstimmt, in dem Darwin lebte. Niemand, auch die abstraktesten und ausdifferenziertesten Wissenschaften nicht, kann sich tatsächlich aus seiner Zeit entfernen. Es gibt einen epochalen gesellschaftlichen und natürlichen Lebenszusammenhang, aus dem auch das abstrakteste, radikalste und differenzierteste Denken oder das individuellste Fühlen nicht ausbrechen können. Was immer Menschen betreiben, seien es abstrakteste Theorie oder die gefühlvollste Lyrik, sie bleiben Historiker, d.h. sie produzieren (ob in Worten, Bildern oder im wirklichen Leben) relative, auf ihre Welt bezogene Wahrheiten. Es ist daher die Geschichte, die nicht nur das Leben, sondern auch alle Wissenschaften und geistigen Anstrengungen integriert und die Schranken zwischen allem, was Menschen tun oder denken, relativiert. Das ist der Grund für das erste Wort im Titel des Buches »Geschichte und Eigensinn«. Wir beziehen uns in unserem Philosophieren, sagen die Autoren, grundsätzlich auf die Geschichte. Wir nehmen nirgendwo in Anspruch, auf die Geschichte zu blicken, sondern wissen, daß wir uns nur in ihr bewegen können. Allerdings gilt das für alle anderen auch, wir nehmen uns daher als Historiker das Recht heraus, über alles zu reden, insofern es historisch ist. Auch Alltag, Mathematik, Quantentheorie, Dichtung und Schlager finden innerhalb von Geschichte statt. Mit der Einsicht, daß Wahrheit einen »Zeitkern« (Adorno) hat, könnten Menschen, ob nun im Alltag oder in Labors und Schriftstellerstuben, gut leben, wenn sie in ihrer Lebenszeit »nach ihrer eigenen Façon selig« sein könnten. Das Ausmaß an Unglück in der Welt hat aber die gesamte moderne Philosophie (Kunst und Literatur) im Unterschied zur Religion, die auf ein Jenseits der Wahrheit vertraut, veranlaßt, das Verhältnis der Menschen zu ihrer Welt kritisch und nicht trostreich zu fassen. Das steckt im Kritikbegriff von Kant ebenso wie in Hegels Dialektik (»Das Sein und das Nichts sind dasselbe«) und in der Marxschen Formulierung vom »notwendig falschen Bewußtsein« (Ideologie) oder in Adornos »gesellschaftlichem Verblendungszusammenhang«. Was die Welt verbessern kann, ist die Vernunft (Kant, Habermas), der Geist (Hegel), die Politik, das Proletariat (Marx), oder, um eine Theorie zu nennen, die sich von solchem traditionellen Emanzipationskonservatismus trennen zu können glaubt, aber doch auf Erkenntnis nicht verzichten will, die Beobachtung (Luhmann). Auch in einem Teil des Adornoschen Werks sieht es so aus, als ob Emanzipation verabschiedet werde und nur noch große Musik (Mahler, Schönberg) oder Poesie (Proust, Beckett) die Ahnung eines anderen Lebens aufrechterhalten könne. An dieser Stelle erscheint bei Negt/Kluge der zweite Begriff des Titels: »Eigensinn«. Es gibt gewissermaßen zwei Habermase: den der »Kleinen Schriften«

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und den der großen Werke. In der Ellipse Hegel – Marx steht der erste in der Nähe von Marx, der letztere in der Nähe von Hegel und Kant. Bei Adorno war diese Spaltung schon angelegt, in den großen Schriften ein auf Negativismus gewendeter Marx-Kant, in den kleinen und im öffentlichen Leben kämpferisch, ein politischer Citoyen wie Habermas. Interessanterweise findet sich eine ähnliche Spaltung bei Kluge (und auch bei Negt) nicht. Was ist die Kritische Theorie von Horkheimer und Adorno oder Benjamin? Philosophie, Wissenschaft, Politik, Poesie? Habermas setzt ihre wissenschaftliche und politische Seite (teilweise getrennt voneinander) fort und kritisiert insbesondere ihren poetischen Charakter (Kritik Benjamins und der »Dialektik der Aufklärung«). Kluge setzt gerade ihre Poesie fort, aber auf andere Weise. Damit ist hier gar nicht Kluges erzählerisches Werk gemeint, obwohl es natürlich auch die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit anderen, poetischen Mitteln ist, sondern die Konzeption des Eigensinns. Was Adorno nur noch in der großen Kunst fand, eine Ahnung des »richtigen Lebens im falschen«, das spüren Negt und Kluge, natürlich in anderer Gestalt und Konsistenz, aber vom selben Rohstoff, im Eigensinn, ohne den in der Geschichte nichts geht, praktisch überall auf. So wie jeder Mensch Historiker ist, d.h. nicht aus seiner historischen Haut kann, so ist er auch Künstler, d.h. ohne antirealistischen, antihistorischen Eigensinn gar nicht lebensfähig. Negt/Kluge tun zweierlei mit der Kritischen Theorie: 1. sie lesen sie (im Zuge der Protestbewegung) noch einmal mit den Augen von Marx; deshalb z.B. das Wiederauftauchen des Begriffs »proletarisch«, den Adorno/ Horkheimer im amerikanischen Exil und in der frühen BRD schon aus Zensur- und Ausgrenzungsgründen nicht verwenden konnten; 2. sie stärken deren poetischen Charakter, d.h. die Theorie wird insofern poetisch oder essayistisch, als sie auf die argumentativen Letztbegründungen von vernünftiger Erkenntnis verzichten, die alle große Philosophie und viele ernsthafte Wissenschaftler umtreibt (man vergleiche die instruktiven Zusammenfassungen der modernen Diskurse, die Habermas bei solchen Gelegenheiten gibt und die einen guten Teil seines Ruhmes ausmachen). Oberbegriffe, geistigen Hochbau vermeiden die Autoren, Kluge, wenn er dazu gezwungen würde, würde vielleicht alle Wissenschaft und Philosophie auch als Poesie bezeichnen, weder Darwin noch Marx, noch Hegel, Kant und Kepler, Newton, Habermas und Planck kommen ohne eine Grundannahme, d.h. eine poetische Setzung, eine Art Romananfang aus. Dagegen hat Negt/Kluges Philosophie Montagecharakter, sie dekonstruiert die großen Diskurse, ist Maulwurfs- statt Adlertheorie. Der Adler auf der Jagd hat den ganzen Himmel über sich als blinden Fleck, der Maulwurf ist von Natur aus blind, kann insofern keinen blinden Fleck haben, und er ist deshalb quasi eins mit der Materie (der Geschichte).

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Zurück zur Vernunft? Ziehen wir zum Vergleich eine andere anspruchsvolle Gesellschaftstheorie hinzu, die sich ebenfalls als Erbe der klassischen Philosophie begreift. Niklas Luhmann behauptet in »Soziale Systeme«: »Der Systembegriff bezeichnet also etwas, was wirklich ein System ist« (Luhmann 1987: 30). Das heißt, ein System ist nichts bloß Gedankliches, sondern es geht um »eine Analyse realer Systeme der wirklichen Welt«. »Es gibt selbstreferentielle Systeme« (ebd.: 31). Das behauptet nicht jeder Systemtheoretiker, andere halten den Systembegriff für ein Denkmodell. Gleichzeitig lehnt Luhmann eine Haltung der (wie auch immer prekären) Parteinahme, wie die Kritische Theorie sie beansprucht, als Emanzipationskonservativismus ab. Die Hauptentwicklungen der Systemtheorie kann man ganz unpolemisch als geistlosen, d.h. dezentralisierten Hegelianismus auffassen. Die penetrante Hierarchie Hegels (vom Reich der Steine durch die gesamte Weltgeschichte bis hinauf zu Preußen) löst sich dann allerdings auch in penetranten, unzusammenhängenden Parallelismus von Systemen auf, die füreinander bloße Umwelt sind. Die Systemtheorie gewinnt dadurch eine gewisse Bewegungsfreiheit und Realitätsnähe im einzelnen, daß sie wie jede andere akademische Einzelwissenschaft das Ganze nicht mehr denkt. Die modernen Wirklichkeiten des Westens scheinen ja tatsächlich in nichts anderem zu bestehen, als in der geistlosen Ausdifferenzierung von Systemen nach je eigenen Unterschieden. Es entsteht dabei zwangsläufig ein Unsicherheitsgefühl, ob nicht der zunächst befreiend erscheinende Verzicht auf permanenten Totalitätsbezug einer Kapitulation vor der faktischen Wirklichkeit (das nennt Adorno »Affirmation«) gleichkommt (die bei Hegel nur fragmentarisch politisch, aber nicht methodologisch auftritt). Das war der Kern von Habermas’ Kritik an Luhmann. Dieser selbst artikuliert das Gefühl des Unbehagens vielleicht am schärfsten, wenn er sagt, daß Kultur (also Hegels »Geist«, das Ganze) einer der »schlimmsten Begriffe« sei (vgl. Baecker 2001: 147). Denn genau dieser bleibt am Ende allen Systemdeklinierens als Asystem, als störender Rest zurück. Luhmann selbst hat mehrfach versucht, dieses Unbehagens gedanklich Herr zu werden, weniger überzeugend in den theoretisch übergreifenden Werken als in seinem Buch »Liebe als Passion« (1994), das eben den stärksten historischen Stoffund damit einen natürlichen Totalitätsbezug hat, den alle anderen seiner Bücher zu umgehen trachten.14 14 | Es ist verblüffend, daß ein 1987 veröffentlichtes umfängliches deutsches Buch mit dem allgemeinen Titel »Soziale Systeme« ohne einen einzigen Verweis auf Faschismus auskommt. – Zu Luhmanns letztem Werk »Die Gesellschaft der Gesellschaft« (1997) vgl. Reese-Schäfer 1997: 13ff. – Die bewegendsten Stellen auch in

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Luhmanns Theoriearbeit ist insofern »klassisch«, als er die Systemtheorie abstrakt, an sich konzipiert und dann auf verschiedene gesellschaftliche Gebiete anwendet, die Theorie an der Wirklichkeit prüft, also auch vom Abstrakten zum Konkreten sich bewegt. Es gibt die ganz allgemeine Theorie des Systems, die um den Begriff der »Autopoiesis« herum gebaut ist15 und nach Luhmanns Vorstellung der Kern einer »Supertheorie« (Luhmann 1987: 19) für alle möglichen Stoffe und Wissenschaften sein kann.16 Die Systemtheorie träumt also bisweilen von einer Einheitswissenschaft, die die Philosophie beerbt. Das wäre gewissermaßen ein halber Hegel: die Einheit des Geistes im Denken (und eben nicht in Napoleon oder Preußen, oder gar im Proletariat) ist nicht ganz verschwunden. Der Totalitätsbezug hat in der Systemtheorie die Form einer Erinnerung oder eines gelegentlichen Bedürfnisses, ist aber im praktischen Vollzug des Denkens aufgegeben. Folgen wir aber Adorno, ist das Ganze das Unwahre (Kapitalismus, falsches Bewußtsein, Verblendungszusammenhang, Entfremdung), dann können auch seine Teile (etwa Luhmanns »Systeme«) nicht einfach das Wahre/Wirkliche sein, sondern sind immer in unterschiedlicher Weise wahr und falsch zugleich. Darin dürfte Einigkeit zwischen ihm und Walter Benjamin bestehen. Die Schwierigkeit, diesen offenen, politischen Realitätsbezug zu ertragen, d.h. beim Denken praktisch ständig mit unterschiedlichen Mischungsverhältnissen von wahr und falsch umzugehen (und sich auch noch darin zu befinden), ist möglicherweise die Gefühlsbasis, die Habermas zur offenen Kritik am Mangel an normativen Grundlagen bei Adorno, der Sackgasse einer »totalisierenden Vernunftkritik« und zur praktiLuhmanns Werk sind aber die, an denen sein persönlicher Charme und seine Ironie, mit denen er den methodischen Mangel an Hegelschem Geist in der Darstellung der einzelnen Systeme zu kompensieren sich bemüht, in die Nähe von Poesie gelangen. 15 | Der Begriff der »Autopoiesis« hat die größte Nähe zu dem Begriff der »Selbstregulierung«, der in »Geschichte und Eigensinn« aber eben gar nicht abstrakt entfaltet wird. Die großen Systeme (Ökonomie, Recht, Medien, psychische »Systeme« u.a.) bewegen sich im Innern überhaupt nicht selbstregulierend, sondern im Gegenteil nach Kommandoprinzipien, dem »stummen Zwang ökonomischer Verhältnisse« oder gewaltsam, sie sind mit Privilegien, Macht und Erbhöfen durchsetzt, also etwas Vielgestaltiges, Monströses. Man kann sich den Unterschied zwischen den Juristen Kluge und Luhmann sehr anschaulich machen, wenn man Luhmanns Buch »Rechtssoziologie« (1972) mit dem äußerst kurzgefaßten »Lehrgang der deutschen Justiz« (1962) vergleicht (vgl. Kluge 200: 816-818). Man sieht daran, welch marginaler, i.w. fiktiver, bloß als massenhaftes Bedürfnis vorhandener Stellenwert für Luhmanns systematisch-autopoietische Grunddifferenz »rechtmäßig/unrechtmäßig« bei konsequent historischer (anstatt abstrakt-systematischer) Betrachtung übrigbleibt. 16 | Vgl. dazu das Interview mit Dirk Baecker in diesem Band.

260 | Rainer Stollmann schen Ablehnung der »Dialektik der Aufklärung« veranlaßt hat, der (neben Benjamin) die Theoriearbeit Negt/Kluges insgesamt näher steht als der kommunikativen Vernunft von Habermas. Bei Habermas wird das kommunikative Handeln als normatives Telos privilegiert, weil es ein Entkommen aus dem falschen Bewußtsein ermögliche und eine Art Gradmesser nicht nur für quantitativ unterschiedliche, sondern auch in der Wirklichkeit für sich in ständiger Bewegung befindliche Mischungsverhältnisse von wahr und falsch darstelle.17 Die Privilegierung einer benennbaren Kraft mit emanzipatorischer Tendenz (Habermas: kommunikative Vernunft, der späte Adorno: avantgardistische Kunst) hat Konsequenzen. Sie führt bei Habermas z.B. zu der Geste, sich der Totalität des wissenschaftlich-philosophischen Denkens (also des avancierten kommunikativen Handelns) seiner Zeit zu versichern – kein Philosoph oder Soziologe auf der Welt bemüht sich so umfassend wie er um Rücksicht auf bereits Gedachtes. Das ist die klassische Position (Kant, Hegel) des integrativen Diskurses. Bei Negt/Kluge geht es dagegen maulwurfsartig zu, kein Bemühen, möglichst vollständige Berührung mit dem fachwissenschaftlichen Denken der Zeit zu halten, sondern mit der Skepsis Adornos am Wissenschaftsbetrieb, aber im Vertrauen auf das eigene Motiv bei der Orientierung in der gesamten geistig-kulturellen Welt, in der die akademische Wissenschaft keine Priorität vor Literatur, Film, Kunst, Bildern, Geschichten, denkenden Außenseitern hat. (Hierin am engsten mit Benjamin verwandt.) Die Totalität, auf die Kluge und Negt sich beziehen, ist, wie zunächst bei jedem Menschen, identisch mit der Welt (dem Ort, der Zeit), in der sie leben. Ihre Theorieproduktion ist ein besonderer, nämlich durch eine gewisse Priorität der Begriffsbildung charakterisierter Ausdruck ihres politischen Lebensgefühls (also mit starkem Bezug zum oder besser gegen den historischen Zeitgeist),18 Habermas’ Theorie ist kritische 17 | Noch während wir uns vom Manipulationszusammenhang der Kulturindustrie überzeugten, treten die Beatles auf, d.h. eine Kulturrevolution in der Popmusik; kaum war die Familie als antiemanzipatorisch erkannt, erscheint sie vor dem Phänomen der Alleinerziehenden als Hort der Geborgenheit; eben hat man den Konsumterror auf’s Korn genommen, da werden, gemessen an den Einkaufszentren für die Massen auf den Brachen, die guten alten Kaufhäuser in den Innenstädten zum Hort der urbanen Kultur; gerade hatten wir verstanden, warum ein Gespräch über Bäume »fast ein Verbrechen« ist, da wird es fast zum Verbrechen, nicht über Bäume zu reden; und sogar vom Religiösen als etwas, über das Kommunikation verweigert werden darf, scheint sich die Aufklärung nicht so leicht trennen zu können, wie man glaubte (vgl. Habermas’ Friedenspreisrede 2001). 18 | »Öffentlichkeit und Erfahrung« ist zunächst theoretische Protestarbeit gegen die ersten Pläne der Errichtung eines Medienverbundes, das Thema erweitert

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Verarbeitung dessen, was in der Gelehrtenrepublik im Gange ist. Zusätzlich bringt sich Habermas dann bei Gelegenheit (im Historikerstreit mit bemerkenswertem Erfolg) als mündiger Bürger in die politische Diskussion ein (der Habermas der »kleinen Schriften«). Negt und Kluge betätigen sich politisch in ihren jeweiligen Arbeitsfeldern (gewerkschaftliche Bildung bzw. kulturelle Öffentlichkeit), Negts Stimme hatte in der Zeit der Protestbewegung starkes öffentliches Gewicht. Aber die Wirkung ihrer Theoriearbeit nach »Öffentlichkeit und Erfahrung« (1972), nach dem Zerbrechen der von der Protestbewegung gebildeten politischen Gegenöffentlichkeit, ist unmeßbar. Habermas redet einerseits zu den Akademikern und andererseits zur allgemeinen Öffentlichkeit. Negt/Kluges Arbeit ist insgesamt an eine Gegenöffentlichkeit adressiert oder versteht sich als ein Moment davon, mag sie nun breit (1967-75) vorhanden sein oder fast gar nicht (1980ff.). Die politische Ökonomie der Arbeitskraft unterscheidet sich als perspektivische, kritische Totalitätskategorie von Kants und Habermas’ Vernunft, der avantgardistischen Kunst beim späten Adorno oder gar dem Blochschen Prinzip Hoffnung vor allem in zwei Charakteren: der (klassischen, Marxschen) Gewichtung des Politischen19 und einer neuen Öffnung des Totalitätsbezugs. Es gibt innerhalb der politischen Ökonomie der Arbeitskraft keine besondere, konkrete Kraft mit einer Art Privileg auf Emanzipation.20 Diese sich zur Untersuchung von »Öffentlichkeit«; »Geschichte und Eigensinn« entspringt dem deutschen Herbst 77, in dem auf fatale Weise deutsche Geschichte lebendig zu werden scheint, Autobahnsperren, polizeiliche Durchsuchung des Hauses von Böll, unbeteiligte Tote, die BRD war damals nahe daran, Züge eines Polizeistaates anzunehmen (vgl. Negt/Kluge 1981, 362ff.). »Maßverhältnisse des Politischen« (1992) reagiert auf das Verschwinden von Politik. 19 | Recht genau in der Mitte von »Geschichte und Eigensinn« (Negt/Kluge 1981: 711f.) finden sich folgende Stellen: »Der letzte Satz, den Rosa Luxemburg 1918 veröffentlicht hat, endet damit, daß die Revolution selber zum Leser spricht: ›Ich bin, ich war, ich werde sein‹. Dies sagt von sich die Revolution.« Nach interpretierenden Bemerkungen dazu heißt es: »Man könnte sagen, daß der Kontrast zwischen Herbst 1977 und diesem Gedruckten der Grund für unsere Arbeit ist.« Und etwas später: »Uns bewegt Rosa Luxemburgs Satz, wir hören, da sie gleich darauf starb, mit der Gedankenfabrikation auf. Wir beginnen erneut, weil das nicht der Sinn ihres Testaments gewesen sein kann.« – Man kann aus dieser Stelle vielleicht ahnen, wie sehr sich die Theoriearbeit dieses Buches auf Grundlage eines Gefühls für politischen Zusammenhang von jedem betriebsförmigen Denken unterscheidet, in dem dieser katholische Satz R. Luxemburgs heute in keiner Weise zitierfähig erscheint. 20 | Wenn Kant davon spricht, daß man an die Naturkraft der Vernunft »glauben« müsse – warum soll man dann nicht an alle menschlichen Eigenschaften »glauben«? Weshalb sollte eine besondere davon privilegiert werden? Nicht unter

262 | Rainer Stollmann steckt vielmehr in ihrem Zusammenhang. Je mehr Berührungsflächen lebendige Arbeitsvermögen bilden können, je komplexere Gegenstände sie zu ergreifen imstande sind, desto deutlicher ihre freie Realisierung. Man könnte sagen, daß das Adjektiv »kommunikativ«, mit dem Habermas die Vernunft belegt, von Negt/Kluge für jede einzelne und die Gesamtheit menschlicher Eigenschaften reklamiert wird. Das ist die politische Ökonomie der Arbeitskraft, der eigensinnige Zusammenhang aller menschlicher Arbeitsvermögen. Insofern ist der Eigensinn nicht nur Thema des Buches, sondern drückt sich auch in seiner Form aus. Die ungewohnte sprachliche Darstellung, das scheinbare Durcheinander von Begriff und Anschauung, Gedanken, Tatsachen, Phantasien, Erzählungen im Unterschätzten Menschen hat weniger mit der Psychologie der Autoren oder dem »Schriftsteller« und »Autorenfilmer« Kluge zu tun, der in Filmen und Literatur das Montageprinzip zur grandiosen Entfaltung bringt, sondern mit der Stringenz, mit der »Der unterschätzte Mensch« die große Linie der klassischen Philosophie fortsetzt. Ist die politische Ökonomie der Arbeitskraft mein Gegenstand und meine Perspektive, dann muß ich ihr auch in der Produktion und Darstellung meiner eigenen Gedanken zum Recht verhelfen. Denken wird dann eine Frage dieses Zusammenhangs, es kann sich nicht dem traditionellen Verstand oder einer Logik unterwerfen, sondern wird Assoziationsvermögen, das auf das Herstellen von Beziehungen, Berührungen aus ist (und gerade nicht Definitionen, Abgrenzungen), auch wenn diese nicht im traditionellen Sinn als vernünftig erscheinen. Diese geistige Bewegung entspricht aber im Grunde ganz dem pragmatischen Alltagsverhalten, der Lebenswelt, wenn es nicht gestört wird und ohne Zeitdruck sich vollziehen kann. Von ihm sagt Marx, daß die Sinne in der Praxis »Theoretiker« seien, d.h. mit Erfahrung praktisch an eine Sache herangingen. Die alltägliche Grundform ist, daß jede(r) sich so sein individuelles Leben irgendwie zurechtbastelt. Auch unsere Köpfe sind nur etwas komplexere, vernetzte »Sinne« und produzieren in jedem Menschen eine eigene fragmentarische Theorie seines Lebens, die uns als schwer in Worte zu fassendes Lebensgefühl steuert, motiviert, durchs weitere Leben bewegt. Diese Unangestrengtheit, eigentlich Einfachheit (des Gefühls für Zusammenhang) hat in den Universitäten keine Tradition (statt dessen Gedankenpyramidenbau). »In unserm Buch machen wir von einer Arbeitsform Gebrauch, die lebendige Verhältnisse, als wären es Dinge, nebeneinander legt, auseinanderlegt, versammelt, in der Verstreuung verfolgt, ausprobiert. Eine solche Arbeitsweise nennt Lévi-Strauss Führung der Vernunft, sondern unter Beachtung der Ökonomie (Maßverhältnisse) aller Arbeitsvermögen/Eigenschaften kommt Emanzipation in Gang.

Vernunft ist ein Gefühl für Zusammenhang | 263 die des Bastlers. In Das wilde Denken sagt er: ›Der Bastler legt, ohne sein Projekt jemals auszufüllen, immer etwas von sich hinein.‹ Es sind Kleinwerkzeuge, die angewendet werden. Es geht aber von der Bastelei ein gewisses Vertrauen aus, wie es auch dem Handwerk entgegengebracht wird. Der Austausch zwischen gegenwärtigem Bewußtsein und der Sprechweise der Mythen, die sich gegen uns versperren, ist keinem anderen Arbeitsbegriff als dem des Bastlers zugänglich. Er hat nicht vor, ›sein Projekt jemals auszufüllen‹« (Negt/Kluge 1981: 222).21

Der Bastler tut einen Schritt nach dem anderen. Kommt er an einer Stelle nicht weiter, fängt er woanders an.22 Nie entfernt sich sein Denken allzuweit von seinem Gegenstand, der Anschauung bzw. Produktion. So daß also Sache/Gegenstand und Methode, politische Ökonomie der Arbeitskraft und Basteln eine Einheit sein wollen. Wenn ich die Vernunft in der Welt bestimmen will, bediene ich mich meiner Vernunft, um ihre wirklichen Entsprechungen zu entdecken, wenn das Kapital beschrieben werden soll, ist ebenfalls Rationalismus angebracht (Ökonomie, instrumentelle Vernunft, Rationalisierung der Arbeit als Grundzug des Kapitals). Aber wenn ich die Ökonomie der Arbeitsvermögen entschlüsseln will, von denen jedes selbst »in der Praxis Theoretiker« ist und alle zusammen, wenn es eine Ökonomie sein soll, ihre Praxis und ihre eigene Theorie einbringen müssen, dann ist ›Basteln‹ angesagt als möglichst enge, dialektische Einheit von 21 | Ich habe hier das Neue in der Methode Negt/Kluges betont, weil die ausgesprochen dichte Engführung von Geschichte/Stoff und Theorie eine besondere Hürde beim Lesen darzustellen scheint. Man kann aber auch umgekehrt verfahren, denn diese Engführung ist nach Marx (nicht nur) in der Kritischen Theorie angelegt. Habermas’ »Strukturwandel der Öffentlichkeit« (vgl. Habermas 1962) hat den ähnlichen Charakter eines »theoretischen Geschichtsbuches« – etwas, weshalb diese inzwischen zum akademischen Klassiker gewordene Habilitationsschrift anfangs als methodisch unsauber angefeindet wurde. Adorno oder Horkheimer schreiben praktisch immer so, daß geschichtliches Wissen, Stoffbezug zum Moment der Theoriebildung wird (am deutlichsten vielleicht in der Figur des Odysseus). Deshalb heißt es »Kritische Theorie« und nicht kritische Historiographie. Negt/Kluge haben diese Bewegung eigentlich nur weitergetrieben, die Geschichte selber wird bei ihnen tendenziell zur Theorie der menschlichen Arbeitsvermögen: das 20. Jahrhundert ist ein Theoriestück der menschlichen Arbeit, es hätte bei etwas vorsichtigerer Bastelei auch alles anders verlaufen können. Wenn z.B. Kaiser Friedrich, der »100-Tage-Kaiser«, nicht an Krebs gestorben wäre und seinem Bruder Wilhelm den Thron nicht vererbt hätte, hätten gute Chancen bestanden, daß der Erste Weltkrieg nicht oder wenigstens nicht so und mit so verheerendem Einfluß bis heute stattgefunden hätte. 22 | »Jedes Kapitel dieses Buches war irgendwann einmal in einer Phase unserer Arbeit der Anfang« (Negt/Kluge 1981: 32, Anm. 17).

264 | Rainer Stollmann Theorie (Anschauung, Beobachtung) und Praxis (Stoff, Geschichte), um den Eigensinn, die Besonderheiten dieser Arbeitsvermögen nicht zu unterschlagen. Im allgemeinen dem Stoff gegenüber völlig frei, jedem Stoff gegenüber offen (das würden manche dann nicht mehr Wissenschaft nennen, weil sich wissenschaftliche Disziplinen auf bestimmte Stoffgebiete beschränken), im besonderen, jedem einzelnen Stoff so nah wie möglich. Der Gedanke, der immer nach einem Stoff sucht, um sich zu prüfen, der Stoff, der fast schon selbst Gedanke ist (atomare Materialisten), das ist das in der Sache wurzelnde Arbeitsideal der Autoren. Es unterscheidet sie von herkömmlicher Theoriebildung23, die dem Stoff immer die untergeordnete Stelle gibt. Es macht das Sprunghafte, die flinke Bewegung aus, der Kopf kann sich nicht in Begriffen einrichten, kaum will er sich setzen, ist schon kein Sessel (verdinglichter Begriff) mehr da.24 23 | Man kann sich bei Luhmann an jeder Stelle des Werks umschauen zum Systembegriff, und schon hat man scheinbar wieder halt. Das ist in der Kritischen Theorie grundsätzlich anders. Bei Luhmann gibt ein eigentlich recht beliebiger allgemeiner Unterschied (»blinder Fleck« der Entscheidung für eine Beobachterperspektive) grundsätzliche Orientierung innerhalb eines Systems. Die Kritische Theorie ist den Besonderheiten verpflichtet, denen das Allgemeine widerspricht. Es muß nicht nur Geschichte als Produktion von Eigensinnen rekonstruiert werden, sondern dabei auch noch die Möglichkeit alternativer Geschichtsverläufe erkennbar gemacht werden. Sie – und Kluge ganz besonders – löst das Problem des blinden Flecks jeder Theorie im Rückgriff auf Poesie. So entsteht die sie charakterisierende Mischung von poetischer Theorie, von aufgeklärtem Philosoph und blindem Seher (am deutlichsten: Walter Benjamin). Das macht das Zitieren von Adorno oder Benjamin so schwierig, man hat so leicht das Gefühl, etwas aus einem Netz zu lösen, das dadurch seine Kraft verliert. Musil spricht einmal davon, daß es sich mit der Wahrheit wie mit Kiesel im Wasser verhalte: Holt man sie heraus (»begreift« sie), verlieren sie ihren Glanz. Vgl. ähnlich: »Die Wahrheit ist eben kein Kristall, den man in die Tasche stekken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt« (Musil 1981: 533f.). »Flüssigkeit« ist kein »System«. Es ist verständlich, daß gerade diese unentschiedene, hermetische Mischung von Diskurs und Poesie die Aggression des diskursiven Verstandes (darin sind sich Luhmann und Habermas ähnlich, nämlich Hegelianer) auf sich ziehen kann. Luhmann hält den gesamten Marxismus für »Emanzipationspoesie«, und in Habermas’ Vorwurf der »totalisierenden Vernunftkritik« ist dieses Moment mitbenannt: hätten Horkheimer/Adorno die »Dialektik der Aufklärung« nicht so poetisch geschrieben, dann hätten sie eine solche Vernunftkritik gar nicht formulieren können. 24 | Von Musil, dem Kluge überaus verbunden ist, stammt der Aphorismus: »Eine Idee, die länger als 5 [Min.] festgehalten wird, ist schon eine Zwangsidee. Ausgenommen in der Wissenschaft« (Musil 1982: 553).

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Wenn besonders im akademischen Milieu nach 1989 oder 1991 Marx soviel Abkehr erfährt, dann ist das nicht realistisch,25 sondern Enthemmung von Opportunismus. Ganze ehemals marxistische Kohorten flüchten zu anderen Rabbis, d.h. laufen mit fliegenden Fahnen zum Realitätsprinzip über. Das Realitätsprinzip ist aber nicht realistisch,26 sondern ein Monstrum. Die Versuche des 20. Jahrhunderts, sozialistische Gesellschaften aufzubauen, sind gewiß gescheitert, gleichzeitig haben wir im Marxschen Werk immer noch die gründlichste Analyse des kapitalistischen Gesellschaftssystems vorliegen. Dieser Widerspruch ist der Stachel, der die Kritische Theorie von Beginn an vorangetrieben hat. Erinnern wir uns: Denken ist Partei (= Teil) der Wirklichkeit (dieser Gedanke hält sich in der Kritischen Theorie – auch Habermas reklamiert für seine Theoriearbeit die Partei der Emanzipation).27 Insofern besagt das Scheitern der sozialistischen Hoffnungen, die Marx bestimmt gehegt hat, im 20. Jahrhundert, daß seine

25 | Interessanterweise sind wir eher geneigt zu glauben, daß solche Ungeheuer wie Faschismus, Nationalsozialismus irgendwie weiterleben und sich immer wieder zeigen, während wir es für realistisch halten, die eigenen enttäuschten Hoffnungen zu verachten. 26 | Vgl. dazu Kluges »klassischen« Aufsatz: Die schärfste Ideologie: daß die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft. In: Kluge 1975: 214-221; wieder abgedruckt in: Schulte 1999. 27 | Negt/Kluge 1981: 226: »Wir gehören zur Partei des Eigensinns der lebendigen Arbeitsvermögen.« – Im Unterschied zur Philosophie, die einen positiven, unkritischen Orientierungspunkt in der Wirklichkeit braucht (Vernunft, Geist, Proletariat, Leben, Hoffnung), verläßt sich die Religion als Wissenschaft vom Elend auf das gesammelte Negative im wirklichen Leben und phantasiert außerirdische Haltepunkte. – In der Systemtheorie Luhmanns erscheint, obwohl sie jede Parteinahme ablehnt, dieses Problem trotzdem: als der »blinde Fleck« (d.h. eben auch: der Kritik nicht zugänglich) der Grundentscheidung einer Systemdifferenz. Geschichte ist aus Zufälligkeiten und Notwendigkeiten zusammengesetzt, und jedes Denken als Teil allgemeinen menschlichen Arbeitsvermögen ist dem ebenfalls unterworfen. Das führt zur Konzeption des »falschen Bewußtseins« bei Marx – eine Kategorie, die oft mißverstanden wird: Marx würde nicht behaupten, daß sein Denken »richtiges Bewußtsein« sei. Vielmehr setzt allein der Begriff »falsches Bewußtsein« voraus, daß es auch richtiges in ihm, neben ihm gibt. Jeder Mensch hat auch richtiges Bewußtsein, und ernsthaftes, lebensnahes Denken wird immer die Richtung auf richtiges Bewußtsein nehmen, sei es auch nur in Form von höherem Komplexitätsgrad von »falschem«: Wenn ich zwei Falschheiten habe, bin ich dem Richtigen näher als bloß mit einer, weil ich mich dann fragen kann, welche Falschheit stimmt. Vgl. Brecht 1971. »Ich bereite meinen nächsten Irrtum vor.«

266 | Rainer Stollmann Partei verloren hat. Geschichte ist aber kein Fußballspiel,28 vielleicht kann die Partei der Emanzipation absteigen29, aber man kann sie nicht aus der Wirklichkeit ausschließen. Genau dieser Bewegung folgen Negt/Kluge in der Weiterführung der Kritischen Theorie hartnäckig. Der Nichtausschluß der Proletarier des Denkens, der Gefühle, aus einer politischen Ökonomie der Arbeitsvermögen, unterscheidet den Unterschätzten Menschen am markantesten von dem, was heute große Theorie ist. Wenn die Autoren dabei heute das Wort »proletarisch« in wissenschaftlich-philosophische Texte hineinbringen und annehmen, daß die Gesellschaft statt durch Kommunikation nach wie vor durch Arbeit zusammengehalten werde, entfernen sie sich zwangsläufig von den akademischen Karawanen, die den Spuren im Sand und ihren Leittieren folgen, aber den Blick selten ernsthaft auf die großen, toten, leuchtenden Sterne richten.

Literatur Baecker, Dirk (2001): Wozu Kultur?, Berlin. Brecht, Bertold (1971): Geschichten vom Herrn Keuner, Frankfurt/M. Derrida, Jacques (1996): Marx’ Gespenster, Frankfurt/M. Enzensberger, Hans Magnus (2003): »Die Poesie der Wissenschaft«. In: Ders, Nomaden im Regal, Frankfurt/M. Enzensberger, Hans Magnus (2004): Die Elixiere der Wissenschaft, Frankfurt/M. Habermas, Jürgen (1962): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied-Berlin. Klein, Naomi (2002): No logo! DerKampf der Global Players um die Marktmacht, München. Kluge, Alexander (1975): Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/M. Kluge, Alexander (2000): Chronik der Gefühle, Frankfurt/M. Kluge, Alexander (2003): Die Lücke, die der Teufel läßt, Frankfurt/M. Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme, Frankfurt/M. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1972): Werke, Berlin. Musil, Robert (1981): Gesammelte Werke 2, Reinbek. 28 | Wenn sie eines wäre: gegen wen soll die siegreiche Mannschaft jetzt spielen? Da jeder nur so gut ist, wie der Gegner erlaubt, was soll aus dem Kapitalismus werden, wenn man davon ausgeht, daß es niemanden gibt, der ihn aufbaut? 29 | Auch der dritte Atomkrieg würde die Menschheit nicht ganz vernichten, wenngleich wir uns solche Verhältnisse lieber nicht vorstellen möchten. Vgl. dazu aber, als materialistische Kritik dieser Tradition des Science-Fiction-Genres: »Lernprozesse mit tödlichem Ausgang«. In: Kluge 2000: II, 827-920.

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Musil, Robert (1982): Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Herausgegeben von Adolf Frisé, Reinbek. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1972): Öffentlichkeit und Erfahrung, Frankfurt/M. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1981): Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/ M. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1992): Maßverhältnisse des Politischen, Frankfurt/M. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (2001): Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden, Frankfurt/M. Reese-Schäfer, Walter (1997): Niklas Luhmann zur Einführung, Hamburg. Schulte Christian (Hg.) (1999): In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik. Berlin Sennett, Richard (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin.

Autorinnen und Autoren | 269

Autorinnen und Autoren

Dirk Baecker ist Professor für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und gesellschaftlichen Wandel an der Universität Witten/Herdecke. Veröffentlichungen zur Organisations- und Wirtschaftssoziologie sowie zur Gesellschafts- und Kulturtheorie; u.a.: Wozu Systeme?, 2002, Organisation und Management, 2003, (mit Alexander Kluge) Vom Nutzen ungelöster Probleme, 2003, und Einführung in die Systemtheorie, 2004. Markus Bauer ist Germanist und Historiker und war von 1998-2003 als DAAD-Lektor an der Universität Iai (Rumänien). Arbeitsschwerpunkte: Walter Benjamin, Melancholie, Exil, Judaica, frühmoderne Epistemologie, deutschsprachige Literatur in Rumänien. Veröffentlichungen u.a.: (Mhg.) Die Grenze, 1997, Zum Thema Mitteleuropa. Sprache und Literatur im Kontext, 2000, und Passage Marburg. Ausschnitte aus vierundzwanzig Lebenswegen, 2001. Wolfgang Bock ist Hochschuldozent für Theorie und Geschichte der Visuellen Kommunikation an der Fakultät für Gestaltung der Bauhaus-Universität Weimar. Publikationen über Neue Mythologie, Postmoderne, Rechtsradikalismus, Bildungstheorie und Neue Medien. Zuletzt erschien von ihm Walter Benjamin – Die Rettung der Nacht. Sterne, Melancholie und Messianismus, 2000, Bild, Schrift, Cyberspace. Grundkurs Medienwissen und Der Film im Zeitalter seines Verschwindens. Bild, Schrift, Cyberspace II, 2005 Hans-Peter Burmeister ist Studienleiter für den Bereich Kultur an der Evangelischen Akademie Loccum. Er verantwortete zahlreiche Tagungen. Veröffentlichungen u.a.: Kunst als Protest und Widerstand. Untersuchungen zum Kunstbegriff bei Peter Weiss und Alexander Kluge, 1985, und (Hg.) Maß-

270 | Der Maulwurf kennt kein System verhältnisse des Politischen. Öffentlichkeit und Erfahrung an der Schwelle zum 21. Jh., 2002. Barbara Hahn ist Distinguished Professor of German an der Vanderbilt University. Forschungsschwerpunkte: Deutsch-jüdische Kultur, intellectual history, Genretheorien, kulturwissenschaftliche Theorien. Arbeitet an einer sechsbändigen Ausgabe von Rahel Levin Varnhagens Briefwechseln und Tagebüchern. Veröffentlichungen u.a.: Antworten Sie mir – Rahel Levin Varnhagens Briefwechsel, 1990, Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen, 1991, Die Jüdin Pallas Athene. Auch eine Theorie der Moderne, 2002 (Englische Ausgabe bei Princeton University Press 2005). Herbert Holl ist Maitre de Conférence am Germanistischen Institut der Universität Nantes. Habilitation mit der Arbeit La violence de la contexture: autour de G.W.F. Hegel, F. Hölderlin, A. Kluge. Er leitete von 1999-2003 das CERCI (Centre de recherche sur les conflits d’interprétation). Veröffentlichungen u.a. La Fuite du Temps. »Zeitentzug« chez Alexander Kluge. Récit. Image. Concept, 1999; Le Fardeau de la joie. F. Hölderlin (Übersetzungen und Kommentare, mit Kza Han), 2002. Christian Jäger ist Privatdozent am Institut für deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Literatur um 1800, der Weimarer Republik und der Gegenwart, pragerdeutsche Literatur, Kurzprosa im Spannungsfeld von Philosophie und Literatur sowie literaturwissenschaftliche Methodik. Veröffentlichungen u.a.: Gilles Deleuze. Eine Einführung, 1997, (mit Erhard Schütz) Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus. Wien, Berlin und das Feuilleton der Weimarer Republik, 1999. Harald Kerber ist Professor i. R. für Erkenntnistheorie und methodologische Grundlagen der Psychologie am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück. Arbeitsschwerpunkt: vornehmlich Wissenschaftstheorie. Veröffentlichungen u.a.: (hg. mit Arnold Schmieder) Handbuch Soziologie, 1984, Soziologie. Ein Grundkurs, 1991 und Spezielle Soziologien, 1994. Corinna Mieth ist wissenschaftliche Assistentin am Philosophischen Seminar der Universität Bonn. Arbeitsschwerpunkte: Praktische Philosophie, Vertragstheorie, Ästhetik. Veröffentlichung: Das Utopische in Literatur und Philosophie. Zur Ästhetik Heiner Müllers und Alexander Kluges 2003.

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Christian Schulte ist z.Zt. Gastprofessor am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Mediengeschichte und -theorie, Essayismus in Literatur und Film, Walter Benjamin und Alexander Kluge. Veröffentlichungen u.a.: (Mhg.) Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, 2002, Ursprung ist das Ziel. Walter Benjamin über Karl Kraus, 2003, und (Mhg.) Der Text ist der Coyote. Heiner Müller Bestandsaufnahme, 2004. Winfried Siebers ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück. Arbeitsschwerpunkte: Reiseberichte der Frühen Neuzeit, Kulturgeschichte der Aufklärung, Literatur nach 1945. Veröffentlichungen u.a.: Deutsche Schottlandbilder. Beiträge zur Kulturgeschichte (hg. mit U. Zagratzki, 1998); Europareisen politisch-sozialer Eliten im 18. Jahrhundert (hg. mit J. Rees u. H. Tilgner, 2002); Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Fernsehmagazine (hg. mit Christian Schulte, 2002 Rainer Stollmann ist Hochschuldozent im Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, Kulturtheorie und Kulturgeschichte. Veröffentlichungen u.a.: Die Entstehung des Schönheitssinns aus dem Eis. Gespräche über Geschichten mit Alexander Kluge, 2005, Alexander Kluge: Verdeckte Ermittlung. Ein Interview zur Chronik der Gefühle (zusammen mit Christian Schulte, 2001), Groteske Aufklärung, Studien zu Natur und Kultur des Lachens, 1997

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Die Titel dieser Reihe:

Jens Badura (Hg.) Mondialisierungen »Globalisierung« im Lichte transdisziplinärer Reflexionen Oktober 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-364-X

Christoph Henning Philosophie nach Marx 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik August 2005, ca. 600 Seiten, kart., ca. 39,80 €, ISBN: 3-89942-367-4

Christian Schulte, Rainer Stollmann (Hg.) Der Maulwurf kennt kein System Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge

Hans-Joachim Lenger Marx zufolge Die unmögliche Revolution 2004, 418 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-211-2

Christoph Ernst, Petra Gropp, Karl Anton Sprengard (Hg.) Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie 2003, 334 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-159-0

Hans-Joachim Lenger Vom Abschied Ein Essay zur Differenz 2001, 242 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-933127-75-0

Juli 2005, 272 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-273-2

Arnd Pollmann Integrität Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie März 2005, 394 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-325-9

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de