Quellen zu den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn 1949–1990: Band 3 Die politisch-diplomatischen Beziehungen in der Wendezeit 1987–1990 9783110488890, 9783110486230

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Quellen zu den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn 1949–1990: Band 3 Die politisch-diplomatischen Beziehungen in der Wendezeit 1987–1990
 9783110488890, 9783110486230

Table of contents :
Inhalt
1. Vorwort
2. Bemerkungen zu Thema, Quellenauswahl und Quellenedition
3. Rückblick auf die westdeutsch-ungarischen Beziehungen (1949 bis 1987)
4. Die politisch-diplomatischen Beziehungen zur Zeit der politischen Wende in Ungarn, der DDR-Flüchtlingswelle und des deutschen Vereinigungsprozesses (1987 bis 1990)
5. Dokumente in chronologischer Reihenfolge
6. Chronologie
7. Literaturverzeichnis
8. Namensregister

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Quellen zu den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn 1949–1990

Quellen zu den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn 1949–1990 Herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Humanwissenschaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften

Band 3

Die politisch-diplomatischen Beziehungen in der Wendezeit 1987–1990

Herausgegeben und bearbeitet von Andreas Schmidt-Schweizer

ISBN 978-3-11-048623-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-048889-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048644-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

„Mein Verhandlungspartner sagte, dass die deutsche Seite die Veränderungen in Mittel-­ Ost-Europa im Wesentlichen nach politischen Gesichtspunkten beurteile. Sie hätten die ungarischen Reformbestrebungen deshalb unterstützt, weil das Land politisch eine bahnbrechende Rolle gespielt habe. Auch in Zukunft würden politische Gesichtspunkte die deutsche Unterstützungspolitik leiten.“ (Staatssekretär György Matolcsy über eine Besprechung mit Kanzlerberater Horst Teltschik, August 1990)

Inhalt 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

Vorwort  1



3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9

4

Bemerkungen zu Thema, Quellenauswahl und Quellenedition  3 Thema und Gliederung  3 Publikationen zum Thema  4 Quellenauswahl  7 Archivquellen  8 Quellenedition  9 Monografischer Teil  10 Rückblick auf die westdeutsch-ungarischen Beziehungen (1949 bis 1987)  11 Ausgangssituation (1949)  11 Rudimentärer Neubeginn der Beziehungen im Bereich des Handels (1949 bis 1955)  13 Ungarische Pläne und Bemühungen zur Entwicklung der politischdiplomatischen Beziehungen (1955/1956)  16 Politische Konfrontation bei stillschweigender Fortsetzung des Handels (1956 bis 1963)  18 Ausbau der Handelsbeziehungen und politisch-diplomatische Annäherungsversuche (1963 bis 1969)  23 Fundierung der politisch-diplomatischen Beziehungen und Ausbau der Wirtschaftskontakte (1969 bis 1973)  28 Aufschwung in den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen (1973 bis 1979)  32 Kontaktpflege während des „Zweiten Kalten Krieges“ und der weltwirtschaftlichen Rezession (1979 bis 1986)  38 Anfänge einer „neuen Qualität“ in den westdeutsch-ungarischen Beziehungen (1986/1987)  46

Die politisch-diplomatischen Beziehungen zur Zeit der politischen Wende in Ungarn, der DDR-Flüchtlingswelle und des deutschen Vereinigungsprozesses (1987 bis 1990)  55 4.1 Der Beginn der Wende in der ungarischen Politik und die westdeutschungarischen Beziehungen (Sommer 1987 bis Herbst 1988)  55 4.1.1 Personelle und wirtschaftspolitische Veränderungen in Ungarn  55 4.1.2 Die westdeutsch-ungarischen Beziehungen im Lichte der personalpolitischen Veränderungen und der wirtschaftspolitischen Wende  60

VIII  4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.1.7 4.1.8 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.3

4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.3.6

4.3.7

 Inhalt

Politische Reformvorhaben und gesellschaftliche Entwicklungen in Ungarn  70 Die Bonner Diplomatie und die Ergebnisse der Landeskonferenz der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei  74 Die Politik von Partei- und Regierungschef Károly Grósz  75 Die westdeutsch-ungarischen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen im Sommer/ Herbst 1988  81 Die politisch-gesellschaftlichen Pluralisierungsprozesse in Ungarn  85 Die bundesdeutsche Politik und die Pluralisierungsprozesse in Ungarn  87 Die bilateralen Beziehungen während der ersten Phase der ungarischen Systemtransformation (Herbst 1988 bis Frühjahr 1989)  91 Der Beginn des politischen Systemwechsels unter Generalsekretär Károly Grósz und Ministerpräsident Miklós Németh  91 Innerparteiliche und gesellschaftlich-politische Entwicklungen in Ungarn im Frühjahr 1989  98 Außenpolitische Vorstellungen und Aktivitäten während der Amtszeit des ersten Németh-Kabinetts  101 Die bilateralen politisch-diplomatischen Beziehungen in der ersten Transformationsphase  105 Westdeutsche Beurteilungen der innenpolitischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Ungarn  110 Die bilateralen Beziehungen zur Zeit der zweiten Phase der Systemtransformation und der DDR-Flüchtlingswelle in Ungarn (Frühjahr 1989 bis Herbst 1989)  119 Die Durchsetzung der „Transformer“ in Partei und Regierung und die Fortsetzung des politischen Systemwechsels im Frühjahr 1989  119 Die Innen-, Wirtschafts- und Kulturpolitik des zweiten Németh-Kabinetts im Frühjahr/ Sommer 1989  121 Die Konzeption der „doppelten Orientierung“ und die ungarische Außenpolitik im Frühjahr/ Sommer 1989  126 Westdeutsche Reaktionen auf die Transformationsprozesse in Ungarn und die bilateralen Beziehungen vor der Flüchtlingskrise  129 Die westdeutsch-ungarischen Beziehungen während der Flüchtlingskrise vom Sommer 1989  139 Die Selbstauflösung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei und die Etablierung einer demokratischen Verfassungsordnung in Ungarn  148 Die Entwicklung der bilateralen Beziehungen vor dem Hintergrund der Ausreisegenehmigung für die DDR-Flüchtlinge  152

Inhalt 

4.3.8 4.4

4.4.1

4.4.2 4.4.3 4.4.4

4.4.5

5 5.1

 IX

Westdeutsche Reaktionen auf die Totalrevision der Verfassung und die neue Parteienlandschaft in Ungarn  157 Die westdeutsch-ungarischen Beziehungen nach der Wende in Ungarn und im Vorfeld der deutschen Vereinigung (Herbst 1989 bis Herbst 1990)  160 Die Politik der „geschäftsführenden“ Németh-Regierung, die innenpolitischen Entwicklungen in der Republik Ungarn und die Bonner Reaktionen  160 Die Frage der deutschen Vereinigung und die Reaktionen der ungarischen Medien und Politik Ende 1989/ Anfang 1990  170 Die westdeutsch-ungarischen Beziehungen bis zu den freien Parlamentswahlen in Ungarn  177 Die Wahlen vom Frühjahr 1990, die Politik der national-konservativen Regierung unter Ministerpräsident József Antall und die Haltung der westdeutschen Politik  187 Die deutsche Einheit als Herausforderung für Ungarn und die bilateralen Beziehungen nach dem Regierungswechsel in Budapest  195 Dokumente in chronologischer Reihenfolge  215 Dokumente 1 bis 16 (Sommer 1987 bis Herbst 1988)  215 Dokument 1: Stellungnahme des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei bezüglich des Programms der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entfaltung vom 2. Juli 1987  215 Dokument 2: Westdeutsch-ungarisches Abkommen über die Zusammenarbeit in den Bereichen Wissenschaft und Technologie vom 7. Oktober 1987  227 Dokument 3: Westdeutsch-ungarische Erklärung über ein Sonderprogramm zur Förderung der deutschen Minderheit und der deutschen Sprache in Ungarn vom 7. Oktober 1987  232 Dokument 4: Westdeutsch-ungarische Vereinbarung über die gegenseitige Errichtung von Kultur- und Informationszentren vom 7. Oktober 1987  234 Dokument 5: Bericht des ungarischen Außenministeriums vom 12. Oktober 1987 für das Politbüro und die Regierung über den Besuch von Károly Grósz in der Bundesrepublik Deutschland  239 Dokument 6: Aufzeichnung des ungarischen Geheimdienstes vom 27. Oktober 1987 über Stellungnahmen des Bonner Auswärtigen Amts zum Besuch von Károly Grósz in der Bundesrepublik  249 Dokument 7: Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth vom 11. Januar 1988 an Staatssekretär Gyula Horn über westdeutsche Meinungen zu den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Ungarn  253

X 

 Inhalt Dokument 8: Gemeinsamer Bericht der ZK-Abteilungen für Wirtschaftspolitik und für Außenpolitik für das Politbüro vom 29. Februar 1988 über den Besuch von ZK-Sekretär Miklós Németh in der Bundesrepublik Deutschland  262 Dokument 9: Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 1. März 1988  273 Dokument 10: Informationsbericht des Bonner Auswärtigen Amts vom 24. März 1988 über den Stand der politischen Reformen in Ungarn  285 Dokument 11: Stellungnahme der Landeskonferenz der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei über die Reform des politischen Systems vom 22. Mai 1988 (gekürzt)  290 Dokument 12: Jahresbericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth für Außenminister Péter Várkonyi vom 27. Juni 1988 (gekürzt)  305 Dokument 13: Bericht der bundesdeutschen Botschaft in Budapest für das Auswärtige Amt vom 6. Juli 1988 über das Verhalten der ungarischen Sicherheitskräfte bei den Demonstrationen am 16. und 27. Juni 1988 in Budapest  316 Dokument 14: Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Juli 1988  318 Dokument 15: Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an ZK-Sekretär Miklós Németh vom 22. September 1988 über die Möglichkeiten zur Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen  330 Dokument 16: Gesetz Nr. VI des Jahres 1988 über die Wirtschaftsgesellschaften, verabschiedet vom ungarischen Parlament am 10. Oktober 1988 (gekürzt)  334

5.2 Dokumente 17 bis 30 (Herbst 1988 bis Frühjahr 1989)  348 Dokument 17: Parlamentsrede von Staatsminister und Politbüro-Mitglied Imre Pozsgay vom 24. November 1988 über die geplanten Veränderungen im politischen System Ungarns  348 Dokument 18: Gesetz Nr. XXIV des Jahres 1988 über die Investitionen von Ausländern in Ungarn, angenommen vom ungarischen Parlament auf seiner Sitzung vom 20. bis 22. Dezember 1988  362 Dokument 19: Gesetz Nr. II des Jahres 1989 über das Vereinigungsrecht, angenommen vom ungarischen Parlament auf seiner Sitzung am 10./11. Januar 1989  372 Dokument 20: Gesetz Nr. III des Jahres 1989 über das Versammlungsrecht, angenommen vom ungarischen Parlament auf seiner Sitzung am 10./11. Januar 1989  379 Dokument 21: Erklärung von Politbüro-Mitglied Imre Pozsgay zu den Ereignissen vom Herbst 1956 in Ungarn im Programm „Radio 168 Stunden” am 28. Januar 1989  384

Inhalt 

 XI

Dokument 22: Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Januar 1989  390 Dokument 23: Mitteilung über die Ergebnisse der Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei am 10./11. Februar 1989 hinsichtlich der Frage des Mehrparteiensystems und der Neubewertung der Ereignisse von 1956  409 Dokument 24: Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Staatssekretär Gyula Horn vom 20. Februar 1989 zu den Bonner Reaktionen auf die jüngsten politischen Ereignisse in Ungarn  414 Dokument 25: Vorlage des ungarischen Justizministeriums bezüglich der Prinzipien für eine neue ungarische Verfassung, veröffentlicht am 23. Februar 1989 (gekürzt)  418 Dokument 26: Gesetz Nr. VII des Jahres 1989 über den Streik, verabschiedet vom ungarischen Parlament am 22. März 1989  436 Dokument 27: Bericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest an das Auswärtige Amt vom 29. März 1989 über die Einführung des Streikrechts in Ungarn  439 Dokument 28: Bericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest an das Auswärtige Amt vom 19. April 1989 über die jüngsten Entwicklungen auf dem Gebiet des Gewerkschaftswesens in Ungarn  441 Dokument 29: Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident Miklós Németh vom 20. April 1989 über die Haltung westdeutscher Politiker und Experten zu den wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in Ungarn  444 Dokument 30: Bericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest an das Auswärtige Amt vom Mai 1989 über den Stand des politischen Veränderungsprozesses in Ungarn  451

5.3 Dokumente 31 bis 54 (Frühjahr 1989 bis Herbst 1989)  454 Dokument 31: Offizielle Mitteilung über die Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei am 8. Mai 1989, veröffentlicht am 10. Mai 1989  454 Dokument 32: Rede von Ministerpräsident Miklós Németh im Parlament am 10. Mai 1989 aus Anlass seiner geplanten Regierungsumbildung  457 Dokument 33: Länderaufzeichung Ungarn der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt vom 29. Mai 1989  470 Dokument 34: Gesetz Nr. XIII des Jahres 1989 über die Umwandlung von Wirtschaftsorganisationen und Wirtschaftsgesellschaften, verabschiedet vom ungarischen Parlament am 30. Mai 1989 (gekürzt)  478

XII 

 Inhalt Dokument 35: Aktennotiz des Auswärtigen Amts vom 5. Juni 1989 über den Sachstand bezüglich des ungarischen Vorhabens der Errichtung eines Donaukraftwerks bei Nagymaros  486 Dokument 36: Westdeutsch-ungarische Vereinbarung über die Errichtung eines ungarischen Kulturzentrums in der Bundesrepublik Deutschland vom 9. Juni 1989  487 Dokument 37: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Grünen zur politischen Entwicklung in Ungarn, angenommen vom Deutschen Bundestag am 22. Juni 1989  492 Dokument 38: Jahresbericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth für Außenminister Gyula Horn vom 26. Juni 1989  495 Dokument 39: Verschlüsseltes Fernschreiben des bundesdeutschen Botschafters in Budapest Alexander Arnot an das Auswärtige Amt vom 4. August 1989  511 Dokument 40: Aufzeichnung des ungarischen Innenministers István Horváth vom 4. August 1989 über seine Unterredung mit dem bundesdeutschen Botschafter Alexander Arnot  515 Dokument 41: Aufzeichnung von Ferenc Somogyi, Staatssekretär im Außenministerium, vom 7. August 1989 über das Gespräch mit dem bundesdeutschen Botschafter in Budapest Alexander Arnot  518 Dokument 42: Verschlüsseltes Fernschreiben des bundesdeutschen Botschafters in Budapest Alexander Arnot an das Auswärtige Amt vom 8. August 1989 betreffend der Zuflucht suchenden Deutschen aus der DDR  522 Dokument 43: Aufzeichnung von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher über die Unterredung von Bundeskanzler Helmut Kohl mit dem ungarischen Minister­ präsidenten Miklós Németh und Außenminister Gyula Horn am 25. August 1989  525 Dokument 44: Aufzeichnung über die Unterredung von Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit dem ungarischen Minister­ präsidenten Miklós Németh und Außenminister Gyula Horn am 25. August 1989  529 Dokument 45: Aktenvermerk des Auswärtigen Amts vom 5. September 1989 über ein Gespräch mit zwei Vertretern der reaktivierten Sozialdemokratischen Partei Ungarns  532 Dokument 46: Stellungnahme der Regierung der Volksrepublik Ungarn vom 10. September 1989 in Verbindung mit der Möglichkeit der Weiterreise der sich in Ungarn aufhaltenden DDR-Staatsbürger  534 Dokument 47: Interview mit dem ungarischen Außenminister Gyula Horn im Ungarischen Fernsehen am 10. September 1989 in Verbindung mit der Ausreisegenehmigung für die DDR-Staatsbürger  535 Dokument 48: Vereinbarungen vom 18. September 1989 zwischen der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, den Oppositionsbewegungen und der Dritten Seite am Nationalen Runden Tisch über Modalitäten des politischen Systemwechsels in Ungarn  539

Inhalt 

 XIII

Dokument 49: Stellungnahme des XIV. Parteitags der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei vom 7. Oktober 1989 über die Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei  544 Dokument 50: Bericht des Auswärtigen Amts vom Oktober 1989 zur politischen Situation in Ungarn und zur Lage der politischen Parteien  546 Dokument 51: Protokoll des Landesbüros der Ungarischen Sozialistischen Partei vom 16. Oktober 1989 über die Besprechung des Parteivorsitzenden Rezső Nyers mit dem Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Hans-Jochen Vogel  550 Dokument 52: Gesetz Nr. XXX des Jahres 1989 über die Auflösung der Arbeitermiliz, verabschiedet vom ungarischen Parlament auf seiner Sitzung am 17. Oktober 1989  556 Dokument 53: Revidierte Verfassung der Republik Ungarn vom 23. Oktober 1989  557 Dokument 54: Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Oktober 1989  582

5.4 Dokumente 55 bis 75 (Herbst 1989 bis Herbst 1990)  596 Dokument 55: Aktenvermerk des Auswärtigen Amts vom 27. November 1989 über das Gespräch von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh  596 Dokument 56: Fernschreiben der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt vom 1. Dezember 1989 über das ungarische Presseecho auf die ZehnPunkte-Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl  602 Dokument 57: Aufzeichnung des Auswärtigen Amts vom 1. Dezember 1989 über das Gespräch von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit dem Vorsitzenden des Ungarischen Demokratischen Forums József Antall am 23. November 1989  603 Dokument 58: Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an den ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh vom 4. Dezember 1989 über die Bonner Reaktionen auf die Volksabstimmung vom 26. November 1989  607 Dokument 59: Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident Miklós Németh vom 11. Dezember 1989 in Zusammenhang mit dem offiziellen Staatsbesuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Ungarn vom 16. bis 18. Dezember 1989  611 Dokument 60: Aufzeichnung des Auswärtigen Amts vom 19. Dezember 1989 über das Gespräch von Bundeskanzler Helmut Kohl mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh  615 Dokument 61: Aufzeichnung des ungarischen Außenministeriums vom 16. Januar 1990 über die Nachfrage des bundesdeutschen Botschafters in Budapest Alexander Arnot nach den ungarischen Abhörregelungen  618

XIV 

 Inhalt Dokument 62: Gesetz Nr. IV des Jahres 1990 über die Gewissens- und Glaubensfreiheit sowie über die Kirchen, verabschiedet vom Parlament auf seiner Sitzung vom 23. bis 26. Januar 1990  619 Dokument 63: Verschlüsseltes Fernschreiben des bundesdeutschen Botschafters in Budapest Alexander Arnot vom 5. Februar 1990 an das Auswärtige Amt bezüglich der Haltung Ungarns zur deutschen Einheit  627 Dokument 64: Darlegungen des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth vom 20. April 1990 zur Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland  628 Dokument 65: Aufzeichnung des ungarischen Außenministeriums über die Auswirkungen der deutschen Vereinigung auf Europa und Ungarn und die diesbezüglichen Aufgaben des Ministeriums vom 24. Mai 1990  635 Dokument 66: Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident József Antall vom 31. Mai 1990 bezüglich der gegenüber der Bundesrepublik zu vertretenden ungarischen Anliegen  648 Dokument 67: Schreiben des Generalsekretärs des Demokratischen Verbandes der Deutschen in Ungarn Géza Hambuch an Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher vom 13. Juni 1990 bezüglich der zukünftigen Unterstützung der Ungarndeutschen  652 Dokument 68: Gesetz Nr. XL des Jahres 1990 über die Änderung der Verfassung der Republik Ungarn, angenommen vom ungarischen Parlament auf seiner Sitzung am 19. Juni 1990  654 Dokument 69: Bericht des ungarischen Außenministeriums vom 26. Juni 1990 über den Besuch von Ministerpräsident József Antall in der Bundesrepublik Deutschland  664 Dokument 70: Aufzeichnung des Auswärtigen Amts vom 26. Juni 1990 über die Vorsprache des ungarischen Botschaftssekretärs József Czukor bezüglich der Fortführung von Verträgen zwischen der DDR und Ungarn  672 Dokument 71: Jahresbericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth für Außenminister Géza Jeszenszky vom 5. Juli 1990  673 Dokument 72: Informationsbericht über die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland, eingegangen im ungarischen Außenministerium Anfang Oktober 1990  689 Dokument 73: Glückwunschtelegramm des ungarischen Ministerpräsidenten József Antall vom 3. Oktober 1990 an Bundeskanzler Helmut Kohl aus Anlass der deutschen Vereinigung  692 Dokument 74: Fernschreiben des bundesdeutschen Botschafters Alexander Arnot an das Auswärtige Amt vom 4. Oktober 1990 über die Ereignisse am Tag der deutschen Einheit in Budapest  693 Dokument 75: Schreiben der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt vom 9. Oktober 1990 über die Ereignisse am Tag der deutschen Einheit in Pécs (Fünfkirchen)  695

Inhalt 

6

Chronologie  697 1987  697 1988  699 1989  708 1990  723

7 7.1 7.2 7.3

Literaturverzeichnis  729 Publizierte Quellensammlungen und Chronologien  729 Veröffentlichte Memoiren  730 Sekundärliteratur  731

8

Namensregister  741

 XV

1 Vorwort Die Idee, mich in Form einer Quellenedition mit den politisch-diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik bzw. Republik Ungarn in den Wendejahren von 1987 bis 1990 zu befassen, entstand im Rahmen eines umfassenderen wissenschaftlichen Publikationsprojekts. Dieses bezweckt die Dokumentation und Aufarbeitung der politisch-diplomatischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen beider Staaten von 1949 bis 1990 und wird am Institut für Geschichtswissenschaft des Zentrums für Humanwissenschaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften1 durchgeführt. Die Tatsache, dass die Geschichtswissenschaft auch im Umfeld des 25. Jubiläums der ersten freien Parlamentswahlen in Ungarn nach der Ära des Kommunismus (am 25. März bzw. 8. April 1990) und der deutschen Vereinigung (am 3. Oktober 1990) die bilateralen Beziehungen der beiden Staaten während der damaligen historischen Epochenwende nur ansatzweise als Thema aufgegriffen hat, ließ es mir geboten erscheinen, die westdeutsch-ungarischen politisch-diplomatischen Beziehungen von Sommer 1987 bis Herbst 1990 vorab in einem gesonderten Band zu behandeln.2 Sowohl dem ungarischen Reform- und Transformationsprozess als auch der Frage der deutschen Vereinigung kam in der – bislang überhaupt nur partiell oder überblicksweise aufgearbeiteten – Beziehungsgeschichte der beiden Staaten nach 1945 nämlich eine ganz außergewöhnliche Bedeutung zu. Ziel der vorliegenden Publikation ist es dementsprechend, die Entwicklung der bilateralen Beziehung vor dem Hintergrund dieser beiden historischen Herausforderungen bzw. Wendepunkte in Ungarn und Deutschland eingehend zu dokumentieren und zu analysieren. Die Möglichkeit, dieses Vorhaben durchzuführen, wurde mir in erster Linie durch das Institut für Geschichtswissenschaft des Zentrums für Humanwissenschaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest eröffnet. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter konnte ich dort in den vergangenen zwölf Jahren meine Studien zum politischen und ökonomischen Systemwechsel in Ungarn fortsetzen sowie – zusammen mit meinem Kollegen Tibor Dömötörfi – einer intensiven Recherchearbeit über die westdeutsch-ungarischen Beziehungen nachgehen. Hierfür schulde ich der Institutsleitung, dem vormaligen Direktor Ferenc Glatz und dem gegenwärtigen Institutsleiter Pál Fodor, meinen besonderen Dank. Dankbar bin ich auch dem ungarischen Forschungsfonds OTKA, der in den Jahren 2010 bis 2014 die finanziellen Mittel für die Erschließung der Quellen zu den westdeutsch-ungarischen Beziehungen von 1949 bis 1990 zur Verfügung stellte (OTKA-Projekt K 81562). Meine Editionsarbeiten wurden

1  MTA Bölcsészettudományi Kutatóközpont Történettudományi Intézet, H-1097 Budapest, Tóth Kálmán u. 4., E-Mail: [email protected]. 2  Das Publikationsprojekt ist so insgesamt auf drei Bände angelegt, wobei die anderen beiden Bände den Zeitraum von 1949 bis 1973 bzw. von 1973 bis 1987 behandeln werden. DOI 10.1515/9783110488890-202

2 

 Vorwort

zudem durch die Möglichkeit, im Rahmen der Online-Quellenpublikation „Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte“ des Herder-Instituts e.V. Marburg (http://www.herder-institut.de) in den Jahren von 2012 bis 2014 die Bearbeitung des Moduls „Umbruch in Ungarn 1985–1990“ zu übernehmen, erleichtert. Zu großem Dank bin ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der besuchten Archive, insbesondere des Staatsarchivs des Ungarischen Nationalarchivs in Budapest, des Bundesarchivs in Koblenz und des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts in Berlin sowie des Historischen Archivs der Staatssicherheitsdienste in Budapest verpflichtet. Dem Politischen Archiv schulde ich zudem Dank, dass es eine Reihe von Dokumenten, die eigentlich der 30-Jahre-Sperrfrist unterliegen, der Forschung zugänglich gemacht und mir die Genehmigung für ihre Publikation erteilt hat. Auch dem ungarischen Außenministerium bin ich dadurch verbunden, dass es mir die Durchsicht seiner Akten aus dem Jahr 1990 genehmigte. Nicht vergessen seien auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bibliothek des Instituts für Zeitgeschichte in München und der Budapester Parlamentsbibliothek, die mir mit Rat und Tat bei der Literaturrecherche zur Seite standen. Mein ganz besonderer Dank gilt meinen Institutskollegen, insbesondere Attila Pók und Sándor Horváth, für die Unterstützung meiner Forschungen sowie Tibor Dömötörfi, Gerhard Seewann, Ágnes Tóth, István Simon und László J. Kiss für die zahlreichen anregenden Gespräche. Sehr dankbar bin ich darüber hinaus dem einstigen ungarischen Botschafter in Bonn István Horváth, der mir die Genehmigung gab, aus seinem Privatarchiv stammende Dokumente zu veröffentlichen, und mir zu ausführlichen Gesprächen über die damaligen Ereignisse und ihre Hintergründe zur Verfügung stand. Für die Publikation des Bandes danke ich dem Verlag De Gruyter – Oldenbourg in München und insbesondere Gabrielle Jaroschka, die das Projekt von Anfang an engagiert begleitete. Ein ganz herzlicher Dank gebührt Dieter Uesseler, der sich mit größter Sorgfalt der (nicht nur) sprachlichen Überprüfung des Manuskripts annahm. Und schließlich sei auch Éva Kovács und Imre Horváth gedankt, die sich am Institut für Geschichtswissenschaft um die Fertigstellung der druckfertigen Vorlage kümmerten.

Nézsa (Ungarn), 31. März 2017

2 B  emerkungen zu Thema, Quellenauswahl und Quellenedition 2.1 Thema und Gliederung Der vorliegende Band dokumentiert und analysiert – nach einem ausführlichen historischen Rückblick auf die Jahre von 1949 bis 1987 – die Entwicklung der politischdiplomatischen Beziehungen zwischen Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland von Sommer 1987 bis zur deutschen Vereinigung im Herbst 1990. Hierbei kommt der Frage, wie sich zum einen die dynamischen politischen Veränderungen in Ungarn seit Mitte 1987 und zum anderen der mit dem Mauerfall vom November 1989 einsetzende Prozess der deutschen Vereinigung auf die bilateralen Beziehungen1 auswirkten, eine besondere Bedeutung zu. Nach einer knapp vier Jahrzehnte andauernden Vorgeschichte, die durch die sich anfänglich allmählich, dann immer dynamischer entwickelnden Kontakte in Wirtschaft, Politik und Kultur geprägt waren, erreichte die Geschichte der Beziehungen beider Staaten in den Jahren von 1987 bis 1990 – vor dem Hintergrund der spektakulären, mit den Veränderungen in der Weltpolitik bzw. der Implosion des „real existierenden Sozialismus“ verbundenen Wendepunkte in der inneren Entwicklung Ungarns und Deutschlands – einen historischen Höhepunkt. Im Folgenden werden zuerst die staatlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn von den Anfängen 1949 bis Mitte 1987 auf der Grundlage von zentralen Primärquellen und der relevanten Sekundärliteratur skizziert. Ohne diese Darlegungen sind die Entwicklungen im letzten Drittel der 1980er Jahre kaum verständlich bzw. können historisch nicht eingeordnet werden. Dieser Einführung schließt sich eine monografische Erörterung der politisch-diplomatischen Beziehungen vor dem Hintergrund der dynamischen innenpolitischen Entwicklungen in Ungarn seit Sommer 1987, der Problematik der ostdeutschen Flüchtlinge in Ungarn im Sommer 1989 und der Herausforderungen der deutschen Vereinigung für Ungarn von Herbst 1989 bis Herbst 1990 an. In diesem Teil wird einerseits Bezug auf die in diesem Band publizierten Dokumente genommen, andererseits werden auch zahlreiche Quellen, deren Veröffentlichung den Rahmen der Arbeit gesprengt hätte, sowie wissenschaftliche Darstellungen zu einzelnen thematischen Aspekten herangezogen. Dann folgen die Texte der meines Erachtens inhaltlich zentralen bzw. besonders aussagekräftigen Quellen aus dem Zeitraum vom Sommer 1987 bis zum Herbst 1990 in chronologischer, nach den vier thematischen Hauptphasen untergliederter Reihenfolge. Um dem Leser einen schnellen und zuverlässigen Überblick über die Thematik

1  Auf die Entwicklung der ostdeutsch-ungarischen Beziehungen kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht näher eingegangen werden. DOI 10.1515/9783110488890-001

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zu vermitteln und die Ereignisse in einem weiteren historischen Rahmen zu verorten, ist dem Band eine umfangreiche Chronologie beigefügt. Diese greift zum einen wichtige Ereignisse in den bilateralen Beziehungen auf, zum anderen behandelt sie die für die Entwicklung des bilateralen Verhältnisses relevanten Ereignisse in der bundesdeutschen und ungarischen sowie in der internationalen Politik. Darüber hinaus wird in der Chronologie – zur leichteren Erschließung des Entstehungsumfelds der Quellen – auch auf die publizierten Dokumente bzw. auf die mit ihrer Entstehung verbundenen Ereignisse verwiesen. Der Chronologie folgt das Literaturverzeichnis, in dem die publizierten Quellensammlungen und Chronologien, die veröffentlichen Memoiren sowie die verwendete Sekundärliteratur aufgeführt sind. Abgeschlossen wird der Band durch ein Namensregister.

2.2 Publikationen zum Thema Das Thema, die westdeutsch-ungarischen politisch-diplomatischen Beziehungen in den Wendejahren von 1987 bis 1990, wird mit der vorliegenden Arbeit erstmals von der historischen Forschung aufgegriffen. Überhaupt liegen zur Entwicklung der bilateralen Beziehungen im Zeitraum von 1949 bis 1990 – trotz der günstigen Quellenlage – weder umfassende Quellenpublikationen noch wissenschaftliche Monografien in deutscher oder ungarischer Sprache vor. Es wurden bisher lediglich einzelne Aspekte der Beziehungsgeschichte, darunter vor allem die Grenzöffnung vom September 1989, aufgearbeitet bzw. dokumentiert,2 oder Überblicksdarstellungen, die

2  Siehe hierzu die im Literaturverzeichnis aufgeführten Untersuchungen von László J. Kiss, Attila Pók, Tibor Dömötörfi, Mihály Ruff, Andreas Schmidt-Schweizer, Ferenc Cseresnyés, Sándor Jeszenszky, Iván Lipovecz, Sándor Peisch, Éva Vámos und István Sziklai. Mit der für das bilaterale Verhältnis besonders wichtigen Frage der DDR-Flüchtlinge in Ungarn befassen sich folgende Arbeiten: Andreas Oplatka, Der erste Riss in der Mauer. September 1989 – Ungarn öffnet die Grenze. Wien 2009 (auch in ungarischer Sprache publiziert); Tibor Dömötörfi/ Andreas Schmidt-Schweizer, Eine merkwürdige Episode der westdeutsch-ungarischen diplomatischen Beziehungen in der ersten Augustwoche 1989 in Zusammenhang mit der Fluchtwelle der DDR-Staatsbürger in Ungarn. In: György Gyarmati/ Krisztina Slachta (Hrsg.), Das Vorspiel für die Grenzöffnung. Das Paneuropäische Picknick in Sopron am 19. August 1989. Sopron/ Budapest 2014, S. 109–127 (auch in ungarischer Sprache publiziert); Andreas Schmidt-Schweizer, Die Öffnung der ungarischen Westgrenze für die DDR-Bürger im Sommer 1989. Vorgeschichte, Hintergründe und Schlußfolgerungen. In: Südosteuropa-Mitteilungen 37 (1997), H. 1, S. 133–153; Ders., Motive im Vorfeld der Demontage des „Eisernen Vorhangs“ 1987–1989. In: Peter Haslinger (Hrsg.), Grenze im Kopf. Frankfurt a.M./ Berlin/ Bern 1999, S. 127–139; Imre Tóth, Die Auswirkungen der ostdeutschen Flüchtlingsfrage auf die „Dreiecksbeziehung“ Berlin-Bonn-Budapest. In: György Gyarmati/ Krisztina Slachta (Hrsg.), Das Vorspiel für die Grenzöffnung. Das Paneuropäische Picknick in Sopron am 19. August 1989. Sopron/ Budapest 2014, S. 129–166 (auch in ungarischer Sprache publiziert).



Publikationen zum Thema  

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auch die Wende­jahre streifen,3 vorgelegt. Eingehender befassen sich lediglich die – naturgemäß subjektiven – Erinnerungen des damaligen ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth mit den westdeutsch-ungarischen Beziehungen in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, wobei Horváth – insbesondere in seiner jüngsten Publikation – auch zahlreiche Quellen aus der Zeit seiner Tätigkeit als Diplomat publiziert.4 Darüber hinaus behandeln auch die Memoiren des einstigen Außenministers Gyula Horn die bilateralen Beziehungen, insbesondere im Jahre 1989.5 Kurze Rückblicke auf das Jahr 1989 bieten außerdem Ex-Botschafter Alexander Arnot und Horst Teltschik, damals außen- und sicherheitspolitischer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl.6 Hinsichtlich der Außenpolitik der Bundesrepublik gibt es eine Reihe neuerer Gesamtdarstellungen, die auch die Jahre 1987 bis 1990 behandeln,7 und es liegen mehrere Bände (Monografien und Quellenpublikationen) vor, die (auch) die außen-

3  Ádám Masát, Ungarn und die Herausbildung der Beziehungen zu den beiden deutschen Staaten zwischen 1949 und 1989. In: Gábor Ujváry/ Gergely Prőhle (Hrsg.), Chronik des wiederholten Neubeginns 1867–2001. Deutsch-ungarische diplomatische Beziehungen. Budapest 2001, S. 135–164 (auch in ungarischer Sprache publiziert); Andreas Schmidt-Schweizer/ Tibor Dömötörfi, A magyar–­ nyugatnémet kapcsolatok dinamikus időszaka. A diplomáciai kapcsolatok felvételétől a határnyitásig, 1973–1989 [Die dynamische Phase der ungarisch-westdeutschen Beziehungen. Von der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen bis zur Grenzöffnung, 1973–1989]. In: Külügyi Szemle 13 (2014), H. 4, S. 19–43; István Horváth/ István Németh, …és a falak leomlanak. Magyarország és a német egység (1945–1990) […und die Mauern stürzen ein. Ungarn und die deutsche Einheit (1945–1990)]. Budapest 1999; Attila Pók, Wendepunkte der deutsch-ungarischen politischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Ungarn und Deutsche. Eine besondere Beziehung. Herausgegeben vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg und vom Kulturinstitut der Republik Ungarn. Tübingen 2002, S. 151–165; Sándor Peisch, „Soha nem felejtjük el nektek…“ A magyar–német kapcsolatok az elmúlt két évtizedben [„Wir werden es euch niemals vergessen…“ Die ungarisch-deutschen Beziehungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten]. In: Külügyi Szemle 8 (2009), H. 3, S. 44–54. 4  Siehe hierzu István Horváth/ András Heltai, A magyar–német játszma. Emlékezés és dokumentumok [Die ungarisch-deutsche Partie. Erinnerung und Dokumente]. Budapest 2015; siehe auch István Horváth, Az elszalasztott lehetőség. A magyar–német kapcsolatok 1980–1991 [Die verpasste Chance. Die ungarisch-deutschen Beziehungen 1980–1991]. Budapest 2009; Ders., Európa megkísértése [Versuchung Europas]. Budapest 1990. Ein Band der von Horváth verfassten Memoiren liegt auch in deutscher Übersetzung vor: István Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf. Erinnerungen an eine besondere Freundschaft. München 2000. Diese Arbeit basiert im Wesentlichen auf Horváth/ Németh, …és a falak leomlanak. 5  Gyula Horn, Freiheit, die ich meine. Erinnerungen des ungarischen Außenministers, der den Eisernen Vorhang öffnete. Hamburg 1991 (auch in ungarischer Sprache publiziert). 6  Veröffentlicht in András Heltai/ Ágnes Novák (Hrsg.), Elbeszélt történelem. Huszonöten a középkelet-európai demokratikus átmenetről [Erzählte Geschichte. Fünfundzwanzig über den demokratischen Übergang in Mittel-Ost-Europa]. Budapest 2011, S. 119–208 bzw. S. 221–231. 7  Diesbezüglich sei vor allem auf folgende Arbeiten verwiesen: Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung 1945–2000. Stuttgart/ München 2001; Gregor Schöllgen, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München ³2004; Stephan Bierling, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Normen, Akteure, Entscheidungen. München/ Wien ²2005; Ulrich Lappenküper, Die Außenpolitik der

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 Bemerkungen

politischen Aspekte der deutschen Vereinigung beleuchten.8 In diesen Arbeiten spielt allerdings die westdeutsch-ungarische Relation – abgesehen vom August/ September 1989 – so gut wie keine Rolle. Jüngere ungarische Arbeiten, die – unter anderem – die ungarische Außenpolitik nach 1945 behandeln, greifen die Entwicklungen der Jahre von 1987 bis 1990 und darin die westdeutsch-ungarischen Beziehungen nur sehr skizzenhaft auf.9 In einer jüngst erschienenen ungarischsprachigen Monografie und Quellensammlung zur Außenpolitik in der Ära Kádár (1956 bis 1988) werden zumindest einzelne Aspekte des Verhältnisses zwischen Bonn und Budapest, darunter für die Jahre 1987/1988, thematisiert.10 Aufschlussreich für die ungarische Außenpolitik im letzten Drittel der 1980er Jahre – und für das westdeutsch-ungarische Verhältnis – sind darüber hinaus eine vor kurzem publizierte Monografie zum ungarischamerikanischen Verhältnis,11 eine zweibändige Darstellung und Quellensammlung zur Geschichte des ungarischen Außenministeriums in den Jahren von 1985 bis 1993 sowie eine Dokumentensammlung zur Außenpolitik der Antall-Regierung im Jahre 1990.12 Im Gegensatz zu den bilateralen Beziehungen existieren hinsichtlich der innenpolitischen Entwicklungen in Ungarn in den Jahren 1987 bis 1990 – sowohl mit Blick

Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1990. München 2008; Kerstin Brauckhoff/ Irmgard Schwaetzer (Hrsg.), Hans-Dietrich Genschers Außenpolitik. Wiesbaden 2015. 8  Siehe exemplarisch Philip Zelikow/ Condoleezza Rice, Sternstunden der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas. München 2001; Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung. München 2009; Robert Grünbaum, Deutsche Einheit. Ein Überblick 1945 bis heute. Berlin ²2010; Gerhard A. Ritter, Hans-Dietrich Genscher, das Auswärtige Amt und die deutsche Vereinigung. München 2013; Horst Möller u.a. (Hrsg.), Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess. Göttingen 2015; Hanns Jürgen Küsters/ Daniel Hofmann (Hrsg.), Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. München 1998. 9  Péter Sipos/ Mihály Fülöp, Magyarország külpolitikája a XX. században [Außenpolitik Ungarns im XX. Jahrhundert]. Budapest 1998; Ignác Romsics, Magyarország története a XX. században [Geschichte Ungarns im XX. Jahrhundert]. Budapest ²2000; Róbert Győri Szabó, A magyar külpolitika története 1848-től napjainkig [Geschichte der ungarischen Außenpolitik von 1848 bis in unsere Tage]. Budapest 2011. 10  György Földes, Kádár János külpolitikája és nemzetközi tárgyalásai 1956–1988 [Die Außenpolitik János Kádárs und seine internationalen Verhandlungen 1956–1988], 2 Bde. Budapest 2015. 11  László Borhi, Nagyhatalmi érdekek hálójában. Az Egyesült Államok és Magyarország kapcsolata a második világháborútól a rendszerváltásig [Im Netz der Großmachtinteressen. Die Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und Ungarn vom Zweiten Weltkrieg bis zum Systemwechsel]. Budapest 2015. 12  János Sáringer (Hrsg.), Iratok a Magyar Külügyminisztérium történetéhez 1985–1993 [Akten zur Geschichte des Ungarischen Außenministeriums 1985–1993], 2 Bde. Budapest 2014/2015; János Sáringer (Hrsg.), Iratok az Antall-kormány külpolitikájához és diplomáciájához (1990. május – 1990. december) [Akten zur Außenpolitik und Diplomatie der Antall-Regierung (Mai 1990 – Dezember 1990)], Bd. 1. Budapest 2015.



Quellenauswahl  

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auf die Quellen13 als auch auf wissenschaftliche Darstellungen14 – bereits einige grundlegende ungarisch-, englisch- und deutschsprachige Werke. Und die Ereignisse in der Bundesrepublik und in der Deutschen Demokratischen Republik im Umfeld der deutschen Vereinigung sind bekanntlich bereits sehr umfassend und eingehend aufgearbeitet,15 ebenso wie die weltpolitischen Veränderungen in diesen Jahren.16

2.3 Quellenauswahl Bei der Quellenauswahl werden – im Sinne der zentralen Thematik – vier Gruppen von schriftlichen Dokumenten in den Vordergrund gerückt. Erstens handelt es sich hierbei um ungarische Dokumente, die grundlegend für die Beurteilung des politischen und wirtschaftlichen Reform- und Transformationsprozesses sind und die bereits damals veröffentlicht wurden bzw. von den Akteuren rezipiert werden konnten (Parteidokumente, Gesetze, Stellungnahmen von Politikern usw.). Zweitens wurden – bisher fast immer unveröffentlichte – Dokumente der bundesdeutschen Diplomatie und Politik über das westdeutsch-ungarische Verhältnis (Botschaftsberichte, Aufzeichnungen des Auswärtigen Amts, Protokolle usw.) aufgenommen. Diese behandeln in erster Linie Politikertreffen, die innenpolitischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Ungarn sowie deutschlandrelevante Positionen der ungarischen

13  Diesbezüglich sei insbesondere auf das vom Verfasser der vorliegenden Publikation bearbeitete Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“ der Online-Quellenpublikation „Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte“ des Herder-Instituts e.V. Marburg (URL: http:// www.herder-institut.de/no_cache/bestaende-digitale-angebote/e-publikationen/dokumente-undmaterialien/themenmodule/modul/16/seite.html) verwiesen, das seit November 2014 freigeschaltet ist. Außerdem sei hier auch auf die umfangreiche Dokumentation und Analyse der Gespräche am Nationalen Runden Tisch hingewiesen (András Bozóki u.a. (Hrsg.), A rendszerváltás forgatókönyve. Kerekasztal-tárgyalások 1989-ben [Drehbuch des Systemwechsels. Rundtisch-Verhandlungen 1989], 5 Bde. Budapest 1999–2000). 14  Siehe insbesondere die Monografien von Ignác Romsics, Rudolf Tőkés, Zoltán Ripp und Andreas Schmidt-Schweizer im Literaturverzeichnis. 15  Hier sei insbesondere auf die bereits erwähnten Arbeiten von Philip Zelikow, Condoleezza Rice, Andreas Rödder, Robert Grünbaum, Gerhard A. Ritter, Horst Möller, Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann (Anm. 8) sowie auf folgende Arbeiten verwiesen: Werner Weidenfeld/ Karl-Rudolf Korte (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit: 1949–1989–1999. Frankfurt am Main 1999; Ehrhart Neubert, Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90. München 2008; Thomas Großmann, Fernsehen, Revolution und das Ende der DDR, Göttingen 2015; Karsten Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch. Göttingen 2000; Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. München 2009. 16  Unter den zahlreichen diesbezüglichen Arbeiten seien exemplarisch die Folgenden genannt: Archie Brown, The Gorbachev Factor. Oxford/ New York 1997; Michael R. Beschloss/ Strobe Talbott, Auf höchster Ebene. Das Ende des Kalten Krieges und die Geheimdiplomatie der Supermächte 1989–91. Düsseldorf 1993; Archie Brown, Aufstieg und Fall des Kommunismus. Berlin 2009.

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 Bemerkungen

Politik. Drittens enthält die Edition – in der Regel ebenfalls unveröffentlichte – Dokumente der ungarischen Diplomatie sowie von Parteigremien (Botschaftsberichte, Aufzeichnungen und Protokolle des Außenministeriums, Berichte der ZK-Abteilung für Außenpolitik usw.), in deren Zentrum – sozusagen als Gegenstück zu den westdeutschen Quellen – Politikertreffen, die politischen Entwicklungen in der Bundesrepublik sowie die ungarnrelevanten Positionen der westdeutschen Politik stehen. Und viertens werden grundlegende, in den meisten Fällen bereits publizierte bilaterale Abkommen und Vereinbarungen sowie Erklärungen und Resolutionen präsentiert. West- oder ostdeutsche Dokumente zum deutschen Vereinigungsprozess wurden zum einen aus Gründen des Umfangs der vorliegenden Publikation, zum anderen aufgrund der Tatsache, dass diese für die deutschsprachige Leserschaft leicht zugänglich sind, nicht aufgenommen (z. B. Modrow-Erklärung zur deutschen Vereinigung, Zehn-Punkte-Programm von Bundeskanzler Helmut Kohl, Einigungsvertrag).

2.4 Archivquellen Die sowohl für den Quellenteil als auch für die historische Skizze und die monografische Einführung verwendeten Archivquellen stammen in erster Linie aus den Aktenbeständen des Staatsarchivs des Ungarischen Nationalarchivs in Budapest (Magyar Nemzeti Levéltár Országos Levéltára; MNL OL) sowie aus den Sammlungen des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts in Berlin (PA AA). Darüber hinaus wurden einzelne Quellen aus dem Historischen Archiv der Staatssicherheitsdienste (Állambiztonsági Szolgálatok Történeti Levéltára; ÁBTL) sowie aus dem Bundesarchiv (BArch) in Koblenz herangezogen. Bei den Archivrecherchen im Budapester Staatsarchiv sah der Herausgeber vor allem die Aktenbestände des Politbüros der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP), der ZK-Abteilung für Außenpolitik, des Ministerrats (Regierung) und des Außenministeriums durch. Erleichtert wurden diese Arbeiten durch die Tatsache, dass die ungarischen Dokumente, die bis Herbst 1989 – also bis zur Auflösung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei – entstanden, nicht der 30-Jahre-Sprerrfrist unterliegen und die Akten des ungarischen Außenministeriums aus dem Jahre 1990 nach einer entsprechenden Genehmigung recherchiert werden konnten. Hinsichtlich der Archivrecherchen im Berliner Politischen Archiv erwies es sich als besonders glücklicher Umstand, dass das Auswärtige Amt vor wenigen Jahren die 30-Jahre-Sperrfrist für Dokumente im Zusammenhang mit Fragen der deutschen Einheit aufgehoben hat und somit auch zahlreiche Quellen mit Bezug auf Ungarn aus der – damals – Bonner Zentrale der bundesdeutschen Diplomatie sowie Dokumente aus der bundesdeutschen Botschaft in Budapest zugänglich sind. Ohne diese Zugangsmöglichkeit wäre die vorliegende Publikation kaum sinnvoll gewesen.



Quellenedition  

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2.5 Quellenedition Die in Kapitel 5 veröffentlichten Dokumente sind in chronologischer Reihenfolge angeordnet und fortlaufend nummeriert. Die Datierung des jeweiligen Dokuments beruht auf dem Zeitpunkt seiner Unterzeichnung (z. B. bei Verträgen), seiner Verabschiedung (z. B. bei Gesetzen), seiner Publikation (z. B. bei Stellungnahmen) oder seiner Niederschrift (z. B. bei Protokollen und Berichten); dies bedeutet, dass hier also nicht das Datum des dokumentierten Vorgangs ausschlaggebend ist. Jedem Dokument gehen eine möglichst aussagekräftige, nicht unbedingt mit dem originalen Titel übereinstimmende Dokumentenüberschrift und ein in Kursivschrift verfasster kurzer Einführungstext voraus. Letzterer enthält – in der Regel – Bemerkungen zum Entstehungshintergrund des Dokuments, führt den bzw. die Urheber und – gegebenenfalls – den Adressaten bzw. Adressatenkreis auf und bietet einen knappen Überblick über den Inhalt des Dokuments oder über das darin behandelte Ereignis. In besonderen Fällen wird zudem auf die historische Bedeutung des Dokuments oder der damit verbundenen Begebenheit hingewiesen. Der Dokumententext selbst wird in normaler Drucktype wiedergegeben und schließt – sofern vorhanden – den Originaltitel der Quelle, das Erstellungsdatum sowie – wenn nicht anders vermerkt – Formalien wie Anrede, Verfasser, Adressaten usw. ein. Die Texte werden gemäß der neuen deutschen Rechtschreibung (Dudenempfehlung) wiedergegeben. Dies bedeutet, dass die deutschsprachigen Originale – aus Gründen der Einheitlichkeit – entsprechend transkribiert wurden. Bei der Übersetzung ungarischer Quellen, die ebenfalls auf der Grundlage der neuen deutschen Rechtschreibung erfolgte, wird die Abkürzung „NSZK“ in adjektivischer Verwendung als „bundesdeutsch“ oder „westdeutsch“ übersetzt. Die Quellen werden zumeist vollständig veröffentlicht, bei umfangreicheren Auslassungen wird im Dokumententitel mit dem Hinweis „(gekürzt)“ darauf verwiesen. Die ausgelassenen Stellen werden durch eckige Klammern und Auslassungszeichen („[…]“) gekennzeichnet und bei größeren Auslassungen in einer Anmerkung auf den jeweiligen Inhalt verwiesen. Sofern möglich wird auch der Ort der vollständigen Veröffentlichung angegeben. Offensichtliche orthografische Fehler oder fehlende diakritische Zeichen (zumeist bei ungarischen Personen- und Ortsnamen) wurden stillschweigend korrigiert bzw. ergänzt und ungebräuchliche Abkürzungen im Dokument an der jeweiligen Stelle, allerdings nur bei der erstmaligen Erwähnung, in eckigen Klammern aufgelöst. Allgemein bekannte Abkürzungen (UNO, WP, RGW/COMECON, EG, SPD, CDU, IWF/IMF usw.) wurden hingegen nicht aufgelöst. Zur genaueren Personenbestimmung wurden fehlende Vornamen – soweit zu eruieren – in den einzelnen Dokumenten bei der erstmaligen Erwähnung in eckigen Klammern ergänzt. In einzelnen Fällen liefern Anmerkungen (Fußnoten) im Text ergänzende Informationen. Unter dem Dokumententext befindet sich die jeweilige Fundstelle, eventuell auch ein Hinweis auf eine bereits erfolgte Veröffentlichung, sowie bei ursprünglich ungarischsprachigen Dokumenten der Name des Übersetzers. Bei den vom Bearbeiter selbst angefertigten Übersetzun-

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 Bemerkungen

gen wurde auf größtmögliche Nähe zum ursprünglichen Text und weniger auf stilistische Gesichtspunkte geachtet.

2.6 Monografischer Teil Im monografischen Teil (Kapitel 4) versucht der Verfasser nicht nur, einen engen Bezug zu den im folgenden Kapitel publizierten Dokumenten herzustellen, sondern er bemüht sich auch, das gezeichnete „Bild“ durch die Auswertung von zahlreichen weiteren Quellen sowie – wenn möglich – durch die Heranziehung von Sekundärund Erinnerungsliteratur „abzurunden“. Die monografischen Ausführungen bezwecken, Wandel und Kontinuität in den bilateralen Beziehungen vor Augen zu führen, die Hintergründe der festgestellten Entwicklungen darzulegen sowie die jeweiligen Zielsetzungen und Interessenlagen der Akteure aufzudecken. Dabei ist insbesondere auch beabsichtigt, vernachlässigte oder unbekannte Aspekte des westdeutsch-ungarischen Verhältnisses zu beleuchten, bisherige Ergebnisse der Forschung zu bekräftigen oder zu präzisieren sowie eventuell falsche Wertungen in Wissenschaft und Publizistik zu korrigieren.

3 R  ückblick auf die westdeutsch-ungarischen Beziehungen (1949 bis 1987) 3.1 3.1 Ausgangssituation (1949) Die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Ungarn, die sich bekanntlich Jahrhunderte hindurch kontinuierlich, zumeist für beide Seiten fruchtbar und weitgehend konfliktfrei entwickelt hatten, fanden mit den Kriegsereignissen 1944/1945, der Kriegsniederlage und dem Zusammenbruch der bisherigen Staats- bzw. Regierungsorganisation in beiden Ländern im Frühjahr 1945 eine abrupte Unterbrechung. In Deutschland übernahmen die vier Hauptsiegermächte in ihren jeweiligen Besatzungszonen die Herrschaftsgewalt, in Ungarn fielen die entscheidenden Machtbefugnisse an die sowjetische Militärverwaltung, die die ungarische Provisorische Regierung streng kontrollierte. Damit gelangten auch die Kompetenzen bezüglich der Gestaltung der Außenbeziehungen beider Länder an die Siegermächte. Mehr als zwei Jahre nach dem Kriegsende – zu einer Zeit, als die Vertreibung etwa der Hälfte der Ungarndeutschen aus ihrer Heimat noch im Gange war1 und sich der Ost-West-Gegensatz immer deutlicher abzeichnete2 – begannen die Westmächte im Herbst 1947 erste offizielle Wirtschaftskontakte zwischen ihren Besatzungszonen und dem weiterhin unter der Aufsicht der sowjetischen Hegemonialmacht stehenden

1  Ausführlich zur Vertreibung von rund 220.000 Ungarndeutschen aus ihrer Heimat siehe Ágnes Tóth, Migrationen in Ungarn 1945–1948. Vertreibung der Ungarndeutschen, Binnenwanderungen und slowakisch-ungarischer Bevölkerungsaustausch. München 2001; Tibor Zinner, A magyarországi németek kitelepítése/ Die Aussiedlung der Ungarndeutschen. Budapest 2004 (zweisprachig); Gábor Gonda, Kitaszítva. Kényszermigráció, nemzetiségpolitika és földreform németek által lakott dél- és nyugat-dunántúli településeken 1944–1948 [Verstoßen. Zwangsmigration, Nationalitätenpolitik und Bodenreform in den von Deutschen bewohnten süd- und west-transdanubischen Gemeinden 1944– 1948]. Pécs 2014; Gerhard Seewann, Geschichte der Deutschen in Ungarn, Bd. 2: 1860–2006. Marburg 2012, S. 331–368. 2  Ein besonders augenfälliges Zeichen für den Beginn des Kalten Krieges setzte die Konferenz der kommunistischen Parteien im polnischen Szklarska Podęba im September 1947, wo auf Initiative der sowjetischen Delegation eine „Verschärfung des Klassenkampfes“ angekündigt wurde. Dies bedeutete unter anderem, dass die kommunistischen Parteien nun ihre bisherige Zusammenarbeit mit den „bürgerlichen“ Kräften („Volksfrontpolitik“) beendeten (siehe hierzu Charles Gati, Hungary and the Soviet Bloc. Durham 1986, S. 108–123). Ausführlich zur jüngsten Historiografie des Kalten Krieges siehe – unter anderem – John Lewis Gaddis, The Cold War. A New History. New York 2008; Bernd Stöver, Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947–1991. München 2007. DOI 10.1515/9783110488890-002

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 Rückblick

Ungarn3 zu entwickeln.4 Hierbei ging es ihnen in erster Linie um die Sicherstellung der Lebensmittelversorgung in ihren Besatzungszonen,5 während Ungarn vor allem darum bestrebt war, fehlende Industrieartikel für die Bevölkerung und Investitionsgüter zum Wiederaufbau seiner Industrie zu importieren. Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 19496 sowie der Reorganisation und Konsolidierung der ungarischen Staatsorganisation unter kommunistischer Führung, die mit der Proklamation der „Volksrepublik Ungarn“ bzw. der Annahme einer neuen, „volksdemokratischen“ ungarischen Verfassung am 20. August 1949 ihren Höhepunkt fanden,7 eröffnete sich – zumindest theoretisch – erstmals die Möglichkeit, zwischenstaatliche Beziehungen zwischen Westdeutschland8 und Ungarn9 zu entwickeln.

3  Zur sowjetischen Hegemonie in Ungarn im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg siehe László Borhi, A hívatlan birodalom. Magyarország és a szovjet hegemónia 1945–1953 [Das ungerufene Imperium. Ungarn und die sowjetische Hegemonie 1945–1953]. In: Valóság 42 (1999), H. 1, S. 75–89. Borhi weist in seinem Artikel – zurecht – auf den von Anfang an herausragenden Einfluss der Sowjetunion auf die ungarische Politik bzw. auf die weitgehende Machtlosigkeit des im November 1945 gewählten Parlaments und der ersten Nachkriegsregierung hin. 4  Grundlage hierzu bildete das Zahlungsabkommen zwischen den amerikanischen, britischen und französischen Militärregierungen für Deutschland und der ungarischen Regierung vom 5. Oktober 1947. Bereits im Juli 1947 war zwischen den Westmächten und Ungarn die Errichtung eines ungarischen Konsulats in Frankfurt a. M. vereinbart worden (siehe hierzu Horváth/ Németh, ...és a falak leomlanak, S. 125). 5  Laut einem Bericht des ungarischen Außenministeriums über die westdeutsch-ungarischen Beziehungen, der vermutlich Anfang 1959 verfasst wurde, zählte Ungarn in den Jahren von 1947 bis 1950 zu den bedeutendsten Lieferanten von Lebensmitteln in die westlichen Besatzungszonen bzw. nach Westdeutschland (Külügyminisztérium. A magyar–nyugatnémet kapcsolatok [Außenministerium. Die ungarisch-westdeutschen Beziehungen] [ohne Datum]; MNL OL, XIX-J-1-j (NSZK, 1945–1964), 26. t., 1. d., ohne Paginierung). 6  Zur Geschichte der Bundesrepublik siehe Rudolf Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland. München ³1995; Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart. München 1999; Marie-Luise Recker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. München ³2009; Dietrich Thränhardt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt a. M. 1999. 7  Zur Geschichte der Volksrepublik Ungarn siehe Romsics, Magyarország története a XX. században, S. 269–534; György Gyarmati, A Rákosi-korszak. Rendszerváltó fordulatok évtizede Magyarországon, 1945–1956 [Die Rákosi-Ära. Jahrzehnt der systemtransformierenden Wendepunkte in Ungarn, 1945– 1956]. Budapest 2011; Árpád von Klimó, Ungarn seit 1945. Göttingen 2006; Andreas Schmidt-Schweizer, Der Kádárismus – das „lange Nachspiel“ des ungarischen Volksaufstandes. In: Rüdiger Kipke (Hrsg.), Ungarn 1956. Zur Geschichte einer gescheiterten Volkserhebung. Wiesbaden 2006, S. 161–187. 8  Allgemein zur Außenpolitik der Bundesrepublik siehe die in Kapitel 2 genannten grundlegenden Darstellungen. 9  Allgemein zur Außenpolitik Ungarns nach 1945 siehe – neben den in Kapitel 2 aufgeführten Arbeiten von Sipos, Fülöp, Földes und Borhi – Csaba Békés, Magyar külpolitika a szovjet szövetségi rendszerben, 1968–1989 [Ungarische Außenpolitik im sowjetischen Bündnissystem, 1968–1989]. In: Ferenc Gazdag/ László J. Kiss (Hrsg.), Magyar külpolitika a 20. században. Tanulmányok [Ungarische Außenpolitik im 20. Jahrhundert. Studien]. Budapest 2004, S. 133–172; Ders., Európából Eu-



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(Zwischen Ungarn und Ostdeutschland wurde bereits kurz nach der am 7. Oktober 1949 erfolgten Gründung der Deutschen Demokratischen Republik ein wesentlicher Schritt zur Entwicklung der offiziellen bilateralen Kontakte unternommen: Am 19. Oktober 1949 nahmen Budapest und Ostberlin diplomatische Beziehungen auf, kurze Zeit später folgte die Unterzeichnung zahlreicher Verträge bezüglich der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit.10) 3.2

3.2 R  udimentärer Neubeginn der Beziehungen im Bereich des Handels (1949 bis 1955) In dieser ersten, bis Mitte 1955 andauernden Phase der westdeutsch-ungarischen Beziehungen, in der die außenpolitischen Spielräume nicht nur des – zumindest bis 1953 – stalinistisch geprägten Ungarn,11 sondern auch des westdeutschen Staates12 durch die Siegermächte außerordentlich stark eingeschränkt waren, konnten sich zwar – vor dem Hintergrund des eskalierenden „Kalten Krieges“ – keine politischdiplomatischen oder offiziellen kulturellen Kontakte zwischen Westdeutschland und Ungarn entwickeln. Vertreter der Alliierten Hohen Kommission, die anfänglich noch für die westdeutsche Seite verhandelten, und Repräsentanten Ungarns verabschiede-

rópába. Magyarország konfliktusok kereszttüzében, 1945–1990 [Von Europa nach Europa. Ungarn im Kreuzfeuer der Konflikte, 1945–1990]. Budapest 2004; László Borhi, A vasfüggöny mögött. Magyarország nagyhatalmi erőtérben 1945–1968 [Hinter dem Eisernen Vorhang. Ungarn im Kräftefeld der Großmächte 1945–1968]. Budapest 2000; György Földes, Kádár János külpolitikai nézetei, 1957–1967 [János Kádárs außenpolitischen Anschauungen, 1957–1967]. In: Pál Pritz (Hrsg.), Magyarország helye a 20. századi Európában [Ungarns Platz im Europa des 20. Jahrhunderts]. Budapest 2002, S. 135–146; Jungwon Park, Conformity and Relative Autonomy in the Soviet Block. Hungary’s Westward Policy since the 1956 Revolution. Budapest 1994 (Diss.); Andrew Felkay, Hungary and the USSR, 1956–1988. Kádár‘ political Leadership. New York/ London 1989; Klaus-Detlev Grothusen, Außenpolitik. In: Ders. (Hrsg.), Ungarn. Göttingen 1987, S. 107–145; Georg P. Hefty, Schwerpunkte der Außenpolitik Ungarns 1945–1973. Vorgeschichte, Infrastruktur, Orientierung, Interaktionsprozesse. München 1980; Gati, Hungary and the Soviet Bloc; Romsics, Magyarország története. 10  Einen Überblick über die – hier nicht näher behandelte – Außenpolitik der DDR bieten Joachim Scholtyseck, Die Außenpolitik der DDR. München 2003; Hermann Wentker, Außenpolitik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System 1949–1989. München 2007. 11  Ausführlich hierzu siehe Borhi, A hívatlan birodalom, S. 75–89. 12  Bis zur „kleinen Revision“ des Besatzungsstatuts im März 1951 existierte keine offizielle Bonner Außenpolitik. Einzelne außenpolitische Fragen wurden bestenfalls im Zuge persönlicher Kontakte Adenauers zu den Hohen Kommissaren oder im Rahmen einer gezielten „Interviewpolitik“ der Bundesregierung mit ausländischen Journalisten erörtert (vgl. Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland, S. 27). Ihre Souveränität bzw. außenpolitische Handlungsfreiheit erhielt die Bundesrepublik erst mit dem Ende des Besatzungsstatuts bzw. dem Inkrafttreten des Deutschlandvertrags im Mai 1955 weitgehend – also abgesehen von den alliierten Vorbehaltsrechten in Bezug auf Gesamtdeutschland und Berlin sowie den durch die Westintegration bedingten Verpflichtungen – zurück.

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 Rückblick

ten aber – in Anknüpfung an frühere Vereinbarungen13 – im September/ Oktober 1949 ein Protokoll über den westdeutsch-ungarischen Warenaustausch.14 Nachdem der Abschluss von Handelsvereinbarungen im November 1949 gemäß der Petersberger Vereinbarungen15 in den Kompetenzbereich der Bundesrepublik übertragen worden war, wurde der auf der Basis von Clearing-Geschäften abgewickelte Handel dann ab März 1950 im Rahmen von Verhandlungen Gemischter Kommissionen von westdeutschen Vertretern, die anfänglich noch unter der Kontrolle der Hohen Kommissare handelten, und Repräsentanten des ungarischen Staates festgelegt.16 Die Besprechungen der Gemischten Kommissionen fanden ab Herbst 1950 in der Regel einmal jährlich statt, wobei die Handelskontingente nach Warengruppen und Warenwert jeweils für ein Jahr in einem Protokoll festgehalten wurden.17 Der Entwicklung der Handelsbeziehungen diente darüber hinaus auch die Tatsache, dass Ungarn Anfang der 1950er Jahre eine Handelsmission in Frankfurt am Main („Ungarisches Außenhandelsbüro“) einrichtete, auch wenn deren rechtlicher Status nicht geregelt war und die Tätigkeit der Institution, die in begrenzten Maße zudem konsularische Aufgaben wahrnahm, von den westdeutschen Behörden lediglich geduldet wurde.18

13  Diesbezüglich sei vor allem auf das in Form eines Protokolls abgefasste und am 6. August 1948 geschlossene Handelsabkommen hingewiesen. Zum Wortlaut siehe (deutschsprachiges) Protokoll zwischen der Regierung der Ungarischen Republik und den Militärregierungen für Deutschland (amerikanisch-britisch) über den Handel zwischen Ungarn und den amerikanisch-britischen Besatzungsgebieten Deutschlands (BArch, Z 13/1027, ohne Paginierung). 14  (Deutschsprachiges) Protokoll über die Besprechungen zwischen Vertretern der Regierung der Volksrepublik Ungarn und Vertretern der (amerikanischen, britischen und französischen) Alliierten Hohen Kommission für Deutschland vom 26. September bis 19. Oktober 1949 (BArch, B 102/2322, ohne Paginierung). 15  Vgl. Horváth/ Németh, ...és a falak leomlanak, S. 125. 16  Protokoll über die Besprechung der westdeutsch-ungarischen Gemischten Kommission vom 9. bis 30. März 1950 (BArch, B 102/2322, ohne Paginierung). 17  Protokoll über die Besprechung der westdeutsch-ungarischen Gemischten Kommission vom 12. Oktober bis zum 22. November 1950 (BArch, B 102/57799, ohne Paginierung) sowie exemplarisch die Protokolle über die Besprechung der westdeutsch-ungarischen Gemischten Kommission vom 7. Dezember 1951 bis 10. Januar 1952 (BArch, B 102/608, ohne Paginierung) sowie vom 11. Juli bis zum 4. August 1955 (BArch, B 146/739, ohne Paginierung). 18  In Ungarn wurden währenddessen die konsularischen Angelegenheiten von einem „Deutschen Reisebüro“ im Rahmen der französischen Botschaft in Budapest wahrgenommen. Auch dessen Status war zwischenstaatlich nicht geregelt, seine Tätigkeit wurde ungarischerseits aber geduldet. Neben Ungarn unterhielten auch Polen, Rumänien, Bulgarien und die Tschechoslowakei Außenhandelsbüros in der Main-Metropole. Die Bundesrepublik verfügte demgegenüber über keine derartigen Einrichtungen in Osteuropa. Zum ungarischen Außenhandelsbüro in Frankfurt a. M. bzw. zum Deutschen Reisebüro in Budapest siehe Külügyminisztérium. A magyar–nyugatnémet kapcsolatok [Außenministerium. Die ungarisch-westdeutschen Beziehungen] [ohne Datum] (MNL OL, XIX-J-1-j (NSZK, 1945– 1964), 26. t., 1. d., ohne Paginierung).



1949 bis 1955 

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Grundlegend für die Entwicklung der westdeutsch-ungarischen Handelsbeziehungen war letztlich ein beiderseitiges Interesse. Einerseits bot die Bundesrepu­blik Ungarn traditionell einen großen Markt für den Absatz von Agrarprodukten und Erzeugnissen der Lebensmittelindustrie und die wiedererstehende westdeutsche (Groß-) Industrie, die im Jahre 1952 den Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft gründete, zeigte wachsendes Interesse an Exporten in Richtung Osten bzw. an der Wiederbelebung der Handelsbeziehungen zu Ost- und Südosteuropa aus der Vorkriegszeit.19 Andererseits hatte auch das sozialistische Ungarn ein besonderes Anliegen daran, seine landwirtschaftlichen Produkte und Erzeugnisse nach Westen zu exportieren sowie Industrieartikel, Werkstoffe (Materialien) und Investitionsgüter für die – von der sowjetischen Führung in der ersten Hälfte der 1950er Jahre forcierte – Industrialisierung Ungarns einzuführen. Die westdeutsche Wirtschaft bzw. der westdeutsche Handel konnte so seit 1949 – wie auch in den folgenden anderthalb Jahrzehnten – eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung der bilateralen Beziehungen übernehmen.20 Das Volumen des westdeutsch-ungarischen Warenverkehrs war in den ersten fünf Jahren allerdings marginal, was nicht nur am Zusammenbruch der traditionellen Märkte nach 1944/45 lag, sondern auch an der radikalen Veränderung der ungarischen Außenhandelsbeziehungen bzw. ihrer Ausrichtung auf die sowjetische Vormacht.21 Nachdem das westdeutsch-ungarische Handelsvolumen im Jahre 1950 einen Gesamtwert von 57,1 Millionen Dollar erreicht hatte, sank dieser – auch wegen der durch den Koreakrieg (Juni 1950 bis Juli 1953) motivierten Boykottpolitik des Westens gegenüber den kommunistischen Staaten22 – auf 35,8 Millionen Dollar (1951), 32 Millionen Dollar (1952) und 28,8 Millionen Dollar (1953). Erst 1954 setzte ein deutlicher

19  Schreiben von Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard an Bundeskanzler Konrad Adenauer vom 13. Juni 1950. In: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1949/50. München 1997, S. 176–182. Ausführlich zu den nach Osten gerichteten Bestrebungen der westdeutschen Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg siehe Karsten Rudolph, Wirtschaftsdiplomatie im Kalten Krieg. Die Ostpolitik der westdeutschen Großindustrie 1945–1991. Frankfurt/ New York 2004; Claudia Wörmann, Der Osthandel der Bundesrepublik Deutschland. Politische Rahmenbedingungen und ökonomischen Bedeutung. Frankfurt a. M. 1982; Silvia Engels, Deutsche Wirtschaft – Gestalter der Ostpolitik? Die Bedeutung der Wirtschaftsbeziehungen für die Regierungspolitik. Die Bundesrepublik Deutschland und Polen, Ungarn sowie die Tschechoslowakei 1985–1992. Köln 1998. 20  Zusammenfassend zur Vorreiterrolle der deutschen Industrie bei der Gestaltung der Ost-WestBeziehungen siehe Rudolph, Wirtschaftsdiplomatie im Kalten Krieg, S. 343–355. 21  Im Jahre 1949 wickelte Ungarn bereits 25 Prozent seines Gesamtexports und 21 Prozent seines Gesamtimports mit der Sowjetunion ab (vgl. Romsics, Magyarország története, S. 313). 22  Zur „Wirtschaftskriegsführung“ der USA gegenüber der Sowjetunion und ihren Verbündeten Ende der 1940er/ Anfang der 1950er Jahre siehe László Borhi (Hrsg.), Magyar–amerikai kapcsolatok 1945–1989. Források [Ungarisch-amerikanische Beziehungen 1945–1989. Quellen]. Budapest 2009, S. 31–35.

16 

 Rückblick

Zuwachs ein: In den anderthalb Jahren von Anfang 1954 bis Mitte 1955 erreichte der bilaterale Handel einen Wert von 57,8 Millionen Dollar.23 3.3

3.3 U  ngarische Pläne und Bemühungen zur Entwicklung der politisch-diplomatischen Beziehungen (1955/1956) Im Zuge der Entstalinisierungsbemühungen im östlichen Lager, die nach dem Ableben des sowjetischen Diktators im März 1953 allmählich einsetzten, offenbarte sich auch eine Entspannung im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der östlichen Führungsmacht Sowjetunion: Am 25. Januar 1955 erklärte die sowjetische Führung den Kriegszustand mit Deutschland für beendet,24 und während des Moskau-Besuchs von Bundeskanzler Konrad Adenauer vom 9. bis 13. September 1955 wurde die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der – nunmehr weitgehend souveränen und fest in die westlichen Bündnissysteme integrierten – Bundesrepublik und der Sowjetunion in die Wege geleitet. Vor diesem Hintergrund sah die ungarische Führung eine Möglichkeit, ihren außenpolitischen Spielraum auch in Richtung Westen auszuweiten,25 und begann Mitte 1955 damit, über ihre Ostberliner Botschaft erste inoffizielle politische Kontakte zu westdeutschen Journalisten sowie zu sozialdemokratischen und liberalen Oppositionspolitiker aufzunehmen.26 Diesem Ansinnen kamen auf westdeutscher Seite mehrere Politiker entgegen, darunter der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende (und spätere Minister für gesamtdeutsche Fragen) Erich Mende, der FDP-Bundestagsabgeordnete (und spätere Bundesaußenminister und Bundespräsident) Walter Scheel sowie Herbert Wehner, damals SPD-Abgeordneter im Bundestag und Mitglied des Europäischen Parlaments. Im Herbst 1956 kam es schließlich zu einem ersten bedeutenderen Treffen der FDP-Politiker Walter Scheel, Hermann Schwann und Wolfgang Döring mit den führenden Mitarbeitern der ungarischen Botschaft in Ostber-

23  Külügyminisztérium. Német referatúra. Magyar–nyugatnémet kapcsolatok /1955 végéig/ [Außenministerium. Deutschlandreferat. Ungarisch-westdeutsche Beziehungen (bis Ende 1955)] [28. Mai 1956] (MOL, XIX-J-1-k (NSZK, Admin., 1948–1963), 1. d., 26. t., ohne Paginierung). 24  Die Volksrepublik Ungarn folgte diesem Schritt am 18. März 1955 mit Gesetzesdirektive Nr. 9/1955 des Präsidialrats (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 33, 18. März 1955, S. 185–186). 25  Zu den – von Moskau angeregten bzw. begrüßten – allgemeinen Veränderungen in der ungarischen Außenpolitik von 1953 bis 1956 siehe zusammenfassend Szabó, A magyar külpolitika története, S. 206–222. 26  Näheres siehe Andreas Schmidt-Schweizer/ Tibor Dömötörfi, Adenauer és a keleti „olvadás“. Az NSZK, a Szovjetunió és Magyarország viszonyáról 1955–56-ban [Adenauer und das „Tauwetter“ im Osten. Zum Verhältnis der BRD, der Sowjetunion und Ungarns 1955–1956]. In: Világtörténet, Herbst/ Winter 2008, S. 59–66; Mihály Ruff, Kísérletek a magyar–nyugatnémet kapcsolatok fejlesztésére (1956–1958) [Versuche zur Entwicklung der ungarisch-westdeutschen Beziehungen (1956–1958)]. In: Múltunk 49 (2004), H. 2, S. 155–179; Horváth/ Németh, ...és a falak leomlanak, S. 125–127.

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lin János Beck, Sándor Kurtán und István K. Nagy. Während die westdeutsche Seite hierbei die Hoffnung äußerte, dass die Aufnahme von Beziehungen zu den östlichen Volksdemokratien – langfristig – der Wiedervereinigung Deutschlands dienen könne, wurde ungarischerseits vor allem das pragmatische Ziel betont, normale politische Beziehungen herzustellen und den Handel zu beleben. Währenddessen hatte man im Budapester Außenministerium damit begonnen, eine Konzeption zur Normalisierung der politischen Beziehungen zur Bundesrepublik einschließlich der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu entwickeln, wobei man auch auf die historischen Bande – auch im kulturellen Bereich – zwischen Deutschland und Ungarn verwies.27 Die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands vom Oktober/ November 1956 machte die Erwägungen zur Entwicklung der politischen Kontakte allerdings hinfällig. Überhaupt hätten derart weitgehende Bestrebungen damals wohl kaum Aussichten auf Erfolg gehabt, da die Adenauer-Regierung ihre Außenpolitik28 fast ausschließlich auf den Prozess der Westintegration ausrichtete, nicht an politisch-diplomatischen Kontakten zu den „Satelliten Moskaus“ interessiert war und zudem im Sinne des Alleinvertretungsanspruchs bzw. der Hallstein-Doktrin, die nach dem Moskau-Besuchs Adenauers vom September 1955 verkündet worden war, sowieso keine diplomatischen Beziehungen zu Staaten, die die DDR ihrerseits staatsrechtlich anerkannt hatten, unterhalten bzw. aufnehmen wollte.29 Bis Anfang der 1960er Jahre kann in diesem Sinne von einem „Verzicht der Bonner Außenpolitik auf eine konstruktive und initiative Ostpolitik“30 gesprochen werden.

27  In diesem Zusammenhang sei vor allem auf folgendes Dokument verwiesen: Külügyminisztérium. Német referatúra. Feljegyzés. Tárgy: Az NSZK-val kiépítendő hivatalos kapcsolataink előkészítése [Außenministerium. Deutsches Referat. Aufzeichnung. Gegenstand: Vorbereitung unserer offiziellen Beziehungen zur BRD] [8. Juni 1956] (MNL OL, XIX-J-1-k (NSZK, Admin., 1948–63), 26. t., 1.d., ohne Paginierung). 28  Grundsätzlich zu den außenpolitischen Positionen Bonns Mitte der 1950er Jahre siehe die Bundestagsrede von Außenminister Heinrich von Brentano vom 28. Juni 1956 (Stenographische Berichte. 2. Deutscher Bundestag. 155. Sitzung. Bonn, 28. Juni 1956, S. 8412–8429). Allgemein zur Außenpolitik der Regierung Adenauer siehe insbesondere Ludolf Herbst, Option für den Westen. Vom Marshallplan bis zum deutsch-französischen Vertrag. München 1989; Hans-Peter Schwarz, Konrad Adenauer. Seine Deutschland- und Außenpolitik 1945–1963. München 1975. 29  Gemäß der die Deutschland- und Außenpolitik der Adenauer-Regierung maßgeblich beeinflussenden Hallstein-Doktrin betrachtete es Bonn als „unfreundlichen Akt“, wenn Drittstaaten die DDR völkerrechtlich anerkannten und mit ihr diplomatische Beziehungen aufnahmen oder aufrechterhielten. Davon ausgenommen war lediglich die Sowjetunion als eine der vier für Deutschland als Ganzes verantwortlichen Mächte (näheres siehe Werner Kilian, Die Hallstein-Doktrin. Der diplomatische Krieg zwischen der BRD und der DDR 1955–1973. Aus den Akten der beiden deutschen Außenministerien. Berlin 2001). 30  László J. Kiss, A Magyar Népköztársaság és a Német Szövetségi Köztársaság kapcsolatainak fejlődése (1963–1975) [Die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Volksrepublik Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland (1963–1975)]. Manuskript (1976), S. 4.

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 Rückblick

Währenddessen erfuhren die kommerziellen Beziehungen in den Jahren 1955/1956, bis zum Ausbruch des Volksaufstandes, einen deutlichen Aufschwung. Nachdem der Zahlungsverkehr zwischen der Bundesrepublik und Ungarn durch das auch Westberlin einschließende und zum 1. Februar 1956 in Kraft tretende Zahlungsabkommen vom 17. Oktober 195531 geregelt worden war und Westdeutschland die früheren Embargo-Maßnahmen lockerte, stiegen die ungarischen Einfuhren aus der Bundesrepublik im Jahr 1956 auf 97 Millionen DM und die westdeutschen Importe aus Ungarn auf 160 Millionen DM, das heißt, der Wert des gesamten Warenverkehrs lag bei 257 Millionen DM, wobei die Bundesrepublik – damals noch – eine passive Handelsbilanz zu verzeichnen hatte.32 Das Volumen des westdeutschen Handels mit Ungarn betrug Mitte der 1950er Jahre allerdings auch so nur knapp ein halbes Prozent des gesamten westdeutschen Handelsumsatzes, während das Volumen des ungarischen Warenverkehrs mit Westdeutschland rund 5 bis 6 Prozent des gesamten ungarischen Handels ausmachte.33 (Die Bundesrepublik stand damit beim ungarischen Export auf Platz 7 und bei den ungarischen Importen – nach der Sowjetunion, der DDR und Österreich – auf Platz 4). 3.4

3.4 P  olitische Konfrontation bei stillschweigender Fortsetzung des Handels (1956 bis 1963) Die nach der Niederschlagung des Volksaufstandes einsetzende, bis ins erste Drittel der 1960er Jahre anhaltende Repressions- und Vergeltungspolitik des von Moskau etablierten und gestützten Regimes von Parteichef János Kádár führte bekanntlich – insbesondere auch nach der Hinrichtung des „Ministerpräsidenten der Revolution“ Imre Nagy und seiner engsten Mitstreiter im Juni 1958 – zu einer scharfen Verurteilung und politisch-diplomatischen Isolierung Ungarns durch die westliche Welt. Daran beteiligte sich auch die Bundesrepublik Deutschland unter ihrem dezidiert

31  Zahlungsabkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik und der Regierung der Volksrepublik Ungarn vom 27. Oktober 1955 (PA AA, Bd. B 12/608, ohne Paginierung); siehe auch Ruff, Kísérletek a magyar–nyugatnémet kapcsolatok fejlesztésére (1956–1958), S. 155. Infolge des Abkommens wurde der westdeutsch-ungarische Handel von nun an auf der Grundlage der D-Mark und nicht mehr des Dollars abgewickelt. 32  Schreiben von Herbert Schellpeper, Oberregierungsrat im Bundeswirtschaftsministerium, an das Auswärtige Amt vom 5. Juni 1957 (BArch, B 102/58155, ohne Paginierung). Die hier – sowie im Folgenden – genannten Zahlen zum westdeutsch-ungarischen Handel basieren auf den Angaben des 1948 gegründeten westdeutschen Statistischen Bundesamts. In der Regel stützten sich auch die ungarischen staatlichen Stellen auf dieses Datenmaterial. 33  Külügyminisztérium. A magyar–nyugatnémet kapcsolatok [Außenministerium. Die ungarischwestdeutschen Beziehungen] [ohne Datum] (MNL OL, XIX-J-1-j (NSZK, 1945–1964), 26. t., 1. d., ohne Paginierung).



1956 bis 1963 

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antikommunistischen Bundeskanzler Konrad Adenauer34 und nahm – bekanntlich – Zehntausende von Ungarn-Flüchtlingen auf.35 Die ungarische Führung bezichtigte währenddessen den Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik, militaristische und imperialistische Ziele zu verfolgen, und kritisierte die gegen die kommunistische Welt gerichteten Aktivitäten von Radio Freies Europa in München scharf. Gleichzeitig unterstrich sie ihre unbedingte Loyalität gegenüber der sowjetischen Führung und intensivierte demonstrativ ihre Beziehungen zu den sogenannten Bruderländern und den sowjetfreundlichen Staaten der Dritten Welt.36 Hinter den Kulissen der „großen Politik“ wurden allerdings die 1955/56 begonnenen Gespräche zwischen Repräsentanten der westdeutschen sozialdemokratischen und liberalen Opposition und Vertretern der ungarischen Botschaft in Ostberlin im Herbst 1957 fortgeführt.37 Auf Initiative der ungarischen Botschaft in Ostberlin trafen sich dortige ungarische Diplomaten Mitte Oktober 1957 – im Westteil der Stadt – erneut mit Herbert Wehner sowie mit dem späteren Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) und dem stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden Fritz Erler sowie mit den FDPPolitikern Willy Max Rademacher und Ewald Bucher. Bei diesen Gesprächen stand die Frage, wie die bilateralen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen in Zukunft entwickelt werden könnten, im Mittelpunkt. In diesem Zusammenhang interessierte sich die ungarische Seite besonders für die Einschätzungen der Oppositionspolitiker hinsichtlich der Chancen innenpolitischer Veränderungen in der Bundesrepublik, d. h. einer Ablösung der Adenauer-Regierung. Während vor der Öffentlichkeit noch jahrelang auf beiden Seiten ein heftiger Propagandakrieg geführt wurde, nahmen – auf ungarische Initiative38 – Vertreter beider

34  Zur Verurteilung der Niederschlagung des Aufstandes und der Hinrichtungen durch die bundesdeutsche Politik siehe exemplarisch die Stellungnahme des Abgeordneten und späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann vom 24. Juni 1958 (PA AA, Bd. B 12/552, ohne Paginierung). 35  Ausführlich hierzu siehe Andreas Schmidt-Schweizer, „Bevorzugte Behandlung“. Aufnahme und Integration der Ungarnflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland (Herbst 1956 bis Frühjahr 1957) (in Vorbereitung); Ferenc Cseresnyés, 1956-os magyar menekültek befogadása az NSZK-ba [Aufnahme der ungarischen Flüchtlinge von 1956 in der BRD]. In: Múltunk 50 (2005), H. 2, S. 115–136. 36  Siehe hierzu Romsics, Magyarország története, S. 510–511. 37  Siehe hierzu Mihály Ruff, A hivatalos Magyarország nyugatnémet politikai kapcsolatairól (1956– 1958) [Die politischen Beziehungen des offiziellen Ungarn zu Westdeutschland (1956–1958)]. In: Szá­ zadok 132 (1998), H. 5, S. 1113–1132, hier S. 1125–1126; vgl. Horváth/ Németh, ...és a falak leomlanak, S. 129–132. 38  Hinter dieser Initiative verbargen sich nicht nur die – dargelegten – grundlegenden ungarischen Handelsinteressen, sondern insbesondere auch große Importbedürfnisse, um das tagtägliche Funktionieren der ungarischen Wirtschaft sicherzustellen, sowie die Politik der Erhöhung des allgemeinen Lebensstandards, die das neu etablierte Kádár-Regime zur Stabilisierung und Konsolidierung seiner Macht nach der Niederschlagung des Volksaufstandes 1956 einzuleiten begann. Aufgrund der starken Außenhandelsabhängigkeit Ungarns sah sich Budapest zur Implementierung dieses gesellschaftspolitischen Kurses nämlich gezwungen, alle Möglichkeiten des Außenhandels in Richtung Ost und West auszuschöpfen (vgl. Békés, Európából Európába, S. 237; Földes, Kádár János külpolitikája, Bd. 1, S. 32–33).

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 Rückblick

Seiten bereits Ende Januar 1957 ihre Gespräche über die bilateralen Handelsbeziehungen stillschweigend wieder auf,39 wobei diese Unterredungen allerdings noch zu keinen konkreten Ergebnissen führten. Erst nach einer mehrere Monate andauernden Phase, in der der bilaterale Handel – von beiden Seiten toleriert – ungeregelt, d. h. ohne offizielle Vereinbarungen, allmählich wieder in Gang kam, unterzeichneten Vertreter der westdeutsch-ungarischen Gemischten Kommission Ende Juli 1957 – anstelle der am 15. Oktober 1956 paraphierten, aber nicht mehr in Kraft getretenen Abmachung – ein neues, allerdings nur für ein halbes Jahr geltendes Protokoll über den Warenverkehr.40 Die stillschweigende Fortsetzung der Handelsbeziehungen offenbarte letztlich, ein wie großes Gewicht den wechselseitigen Wirtschaftsinteressen auch in diesen Jahren, als die politischen Ost-West-Beziehungen einen Tiefpunkt erreichten, zukam. Nachdem das Volumen des westdeutsch-ungarischen Handels bereits im ersten Halbjahr 1957 fast 78 Millionen DM erreicht hatte,41 stieg es in den folgenden Jahren weiter an.42 Von 1958 an unterzeichneten die Vertreter der Gemischten Kommission wieder jährliche Protokolle über den Warenverkehr, das Handelsvolumen stieg auf 408,6 Millionen DM (1960) und – nach einem leichten Rückgang 1961/62 wohl auch infolge der verschärften Ost-West-Spannungen (Kuba-Krise) – auf 483,0 Millionen DM (1963).43 Wie im Jahrzehnt zuvor exportierte Ungarn auch jetzt vor allem landwirtschaftliche Produkte und Erzeugnisse der Lebensmittelindustrie in die Bundesrepu­ blik, während Westdeutschland hauptsächlich Materialien für die Produktion, Maschinen und Artikel der Feinmechanik nach Ungarn ausführte.44 Zu dieser – insgesamt betrachtet – positiven Tendenz in den Handelsbeziehungen hatten auch die besonderen Bemühungen Ungarns auf dem Gebiet des Messewesens45 beigetragen:

39  Vermerk von Herbert Schellpeper, Oberregierungsrat im Bundeswirtschaftsministerium, über eine Besprechung mit Ministerialdirektor János Nyerges aus dem ungarischen Außenhandelsministerium vom 29. Januar 1957 (BArch, B 102/58155, ohne Paginierung). 40  Aufzeichnung über die deutsch-ungarischen Verhandlungen über den Warenverkehr vom 10. ­August 1957 (BArch, B 102/58155, ohne Paginierung). 41  Vgl. Ruff, Kísérletek a magyar–nyugatnémet kapcsolatok fejlesztésére (1956–1958), S. 167–168. 42  Bereits im November 1957 konnte Kádár so mit Blick auf die Indikatoren bezüglich der Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen zusammenfassend feststellen, dass diese den Stand vor dem Monat Oktober 1956 wieder erreicht hätten (vgl. Békés, Európából Európába, S. 243). 43  Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Aktuelle Beiträge zur Wirtschafts- und Finanzpolitik, Nr. 104/1972, 2. August 1972, S. 5. 44  Gemäß einer Aufstellung des ungarischen Außenministeriums aus dem Jahr 1960 machte der ungarische Export der genannten Produkte bzw. Erzeugnisse 73 Prozent, die Einfuhr der erwähnten Materialien und Industrieerzeugnisse über 85 Prozent aus (MNL OL, XIX-J-1-j, 1. d. (4/b 003 113), 1960, ohne Paginierung). 45  Näheres hierzu siehe Éva Vámos, Deutsch-ungarische Wechselbeziehungen im Rahmen der internationalen Industriemessen. In: Holger Fischer (Hrsg.), Deutsch-ungarische Beziehungen in Naturwissenschaft und Technik nach dem Zweiten Weltkrieg. München 1999, S. 531–554.



1956 bis 1963 

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Mit der Ausrichtung der „Budapester Industriemesse 1958“ betrieb die ungarische Führung nicht nur allgemeine Imagepflege, sondern begann auch, ihre internationalen Handelsinteressen in dieser konkreten Form aktiv zu fördern. Hierbei war Budapest, wie die Messepräsenz einer großen Zahl von westlichen und insbesondere bundesdeutschen Unternehmen bereits im Jahre 1958 zeigte, sehr erfolgreich. In dieser Phase kam es zudem – zumeist im Rahmen von „privaten Jagdbesuchen“ – zu einer Reihe von Ungarn-Reisen westdeutscher Wirtschaftsführer. Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang waren die Besuche des einflussreichen Krupp-Generalbevollmächtigten und Adenauer-Beraters Berthold Beitz.46 Im September 1959 kam Beitz, nachdem er im Jahr zuvor Polen, die Sowjetunion und Bulgarien besucht hatte, mit einer Delegation nach Budapest, um führende Vertreter des ungarischen Wirtschaftslebens kennenzulernen und erste Geschäftskontakte zwischen dem Krupp-Konzern und den ungarischen Außenhandelsunternehmen zu knüpfen. Ein Jahr später traf Beitz dann zu einem „Jagdbesuch“ in Ungarn ein und wurde bei dieser Gelegenheit sogar von János Kádár zu einem Gespräch empfangen.47 Und im Mai 1962 stattete der Krupp-Manager, nachdem sich in Bonn im Herbst 1961 erstmals ein „Übergang zu einer flexibleren Ostpolitik“48 bzw. ein Ende des bisherigen politischen Ignorierens der osteuropäischen Staaten abgezeichnet hatte, Ungarn einen weiteren derartigen „Privatbesuch“ ab und führte dabei im Auftrag von Außenminister Gerhard Schröder (CDU) Gespräche mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Jenő Fock und dem ersten stellvertretenden Minister für Außenhandel Gyula Karádi über die Entwicklung der bilateralen Handelsbeziehungen. Hierbei wurde erstmals auch die Frage der wechselseitigen Errichtung von offiziellen Handelsvertretungen angesprochen. Die ungarische Partei- und Wirtschaftsführung hatte sich bereits seit Anfang der 1960er Jahre intensiv mit der Zukunft der westdeutsch-ungarischen Handels- und

46  Siehe hierzu Mechthild Lindemann, Anfänge einer neuen Ostpolitik? Handelsvertragsverhandlungen und die Errichtung von Handelsvertretungen in den Ostblockstaaten. In: Rainer A. Blasius (Hrsg.), Von Adenauer zu Erhard. Studien zur auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1963. München 1994, S. 45–96, hier S. 51–68; Mihály Ruff, A magyar–NSZK kapcsolatok (1960–1963). Útkeresés a doktrínák útvesztőjében [Die ungarisch-westdeutschen Beziehungen (1960–1963). Wegsuche im Irrgarten der Doktrinen]. In: Múltunk 44 (1999), H. 3, S. 3–40, hier S. 7–8, 11, 24–26; Norbert F. Pötzl, Beitz. Eine deutsche Geschichte. München 2011, S. 239; Der Spiegel Nr. 40/1962, 3. Oktober 1962, S. 27–29. 47  Zum Inhalt dieser Unterredung liegen leider keine Quellen vor. 48  Lindemann, Anfänge einer neuen Ostpolitik, S. 46. Der seit November 1961 amtierende Außenminister Gerhard Schröder sondierte in der Endphase der Ära Adenauer erstmals die Möglichkeit, zielgerichtete politische Kontakte zu den Staaten Osteuropa aufzunehmen. Ausführlich zu dieser „Politik der kleinen Schritte“ gegenüber Osteuropa, die allerdings noch keinen eindeutigen und radikalen Bruch mit der vorangegangenen, von Adenauer geprägten westdeutschen Außenpolitik bedeutete, siehe Kiss, A Magyar Népköztársaság és a Német Szövetségi Köztársaság kapcsolatainak fejlődése, S. 5–47.

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Wirtschaftsbeziehungen auseinandergesetzt.49 Dabei war einerseits die Möglichkeit der Erhöhung des Handelsumsatzes erörtert und der Sachverhalt betont worden, dass Ungarn in Westdeutschland für seine agrarischen Produkte höhere Preise als in anderen kapitalistischen Ländern erzielen könne und dass die aus der Bundesrepublik eingeführten Industrieartikel auch günstiger und qualitativ hochwertiger seien sowie schneller geliefert würden.50 Andererseits hatte man aber auch das Problem der mit dem Handel verbundenen wirtschaftlich-technischen Abhängigkeiten von der damals politisch heftig angefeindeten Bundesrepublik51 sowie Möglichkeiten zur Erschließung alternativer Export- und Importmärkte thematisiert. Aufgrund der großen wirtschaftlichen Bedeutung Westdeutschlands für Ungarn und insbesondere seiner herausragenden Rolle beim Versuch, die ungarische Wirtschaft zu modernisieren,52 beschloss Budapest – trotz aller politischer Vorbehalte – nach eingehenden Konsultationen mit Moskau und den osteuropäischen Verbündeten Ende Mai 1962 schließlich, Verhandlungen mit der Bundesrepublik über den Abschluss eines langfristigen Handelsabkommens und über die Errichtung von Handelsvertretungen zu initiieren. Letzteres wollte die ungarische Führung auch als einen ersten Schritt in Richtung der Aufnahme diplomatischer Beziehungen verstanden wissen, sie wollte damit also erstmals die bilateralen Beziehungen auch auf die politisch-diplomatische Ebene ausweiten – und damit die Hallstein-Doktrin „aufweichen“. Obwohl es bereits Mitte September 1962 zu ersten Gesprächen beider Seiten in Bonn kam, sollte es in der Frage des Abschlusses eines Handelsabkommens und der Errichtung von Handelsvertretungen allerdings erst mehr als ein Jahr später zu einem Durchbruch kommen.

49  Siehe hierzu Ruff, A magyar–NSZK kapcsolatok (1960–1963), S. 9–28. 50  In diesem Zusammenhang sei auch auf weitere Faktoren, die sich grundlegend positiv auf den westdeutsch-ungarischen Handel auswirkten, verwiesen, nämlich auf die Donau als Verkehrsader zwischen beiden Staaten, auf das auf der Deutschen Industrienorm (DIN) beruhende ungarische Normensystem sowie auf die deutsche Orientierung und Tradition der ungarischen technischen Intelligenz (vgl. Kiss, A Magyar Népköztársaság és a Német Szövetségi Köztársaság kapcsolatainak fejlődése, S. 9). 51  Exemplarisch sei hier die Verbalnote der ungarischen Regierung an Bonn vom 27. März 1962 erwähnt, in der auf ein Wiederaufleben revanchistischer und militaristischer Kräfte im öffentlichen Leben der Bundesrepublik hingewiesen und Bonn als Zentrum antiungarischer Aktivitäten bezeichnet wurde. Zum Wortlaut siehe Magyar jegyzék az NSZK kormányához [Ungarische Note an die Regierung der BRD] [27. März 1962] (MNL OL, XIX-J-1-k (NSZK, Admin., 1948–1963), 26. t., 1. d. ohne Paginierung). 52  In diesem Zusammenhang wurde zurecht betont, dass die Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zum Westen unter dem Gesichtspunkt der Modernisierung der ungarischen Wirtschaft eine „Schlüsselfrage“ dargestellt habe, da nämlich „die sowjetische Technologie – abgesehen von der Militärtechnik und der Weltraumforschung“ – Mitte der 1960er Jahre „mindestens so weit hinter der westlichen Technik zurückgeblieben [sei] wie Anfang der fünfziger Jahre.“ (vgl. Békés, Európából Európába, S. 247).



1963 bis 1969 

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3.5 A  usbau der Handelsbeziehungen und politisch-diplomatische Annäherungsversuche (1963 bis 1969) Die internationale Entspannung nach der Überwindung der Kuba-Krise vom Oktober 1962, die Streichung der „ungarischen Frage“ als ständiges Thema auf der Tagesordnung der Vereinten Nationen im Juli 1963 sowie der Rücktritt Adenauers im Oktober desselben Jahres eröffneten neue Möglichkeiten und Perspektiven für die Entwicklung der westdeutsch-ungarischen Beziehungen. Hierzu trug auch der nunmehr deutlich offenere und pragmatischere außenpolitische Kurs des Kádár-Regimes bei, den Ungarn – nach der sichtlichen Konsolidierung der politischen und wirtschaftlichen Situation – zuerst gegenüber den neutralen Staaten Finnland und Österreich, dann auch gegenüber dem Westen einschließlich der Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland verfolgte.53 Nach mehr als einjährigen Verhandlungen, bei denen vor allem die Frage erweiterter (konsularischer) Kompetenzen der geplanten Handelsvertretung, das Problem der Einbeziehung Westberlins in die kommerziellen Beziehungen sowie der Hinweis auf den Ausbau der Handelskontakte als Vorstufe für diplomatische Beziehungen umstritten waren,54 unterzeichneten die Diplomaten Dietrich von Mirbach und István Beck am 10. November 1963 ein langfristiges Regierungsabkommen über den Waren- und Zahlungsverkehr und über die Errichtung von Handelsvertretungen, das dazu dienen sollte, den „Handelsverkehr […] auf eine dauerhafte Grundlage zu stellen und zu erweitern“.55 Hinsichtlich des Inhalts des Vertrags, dem ähnliche Abkommen der Bundesrepublik mit Polen und Rumä-

53  Siehe hierzu Romsics, Magyarország története, S. 517; Földes, Kádár János külpolitikája, S. 57–59; ausführlich hierzu siehe Mihály Ruff, Új helyzet, új feladatok a magyar külpolitikában 1963–1964 [Neue Situation, neue Aufgaben in der ungarischen Außenpolitik 1963–1964]. In: Múltunk 46 (2001), H. 4, S. 3–39. Zur Entwicklung der ungarisch-amerikanischen Beziehungen siehe Borhi (Hrsg.), Magyar-amerikai kapcsolatok 1945–1989, S. 97–131. Zur Entwicklung der ungarisch-österreichischen Beziehungen siehe Lajos Gecsényi, Forradalom előtt és után. Osztrák–magyar kapcsolatok 1945–1965 [Vor und nach der Revolution. Österreichisch-ungarische Beziehungen 1945–1965]. In: Lajos Pál/ Ignácz Romsics (Hrsg.), 1956 okai, jelentősége és következményei [Gründe, Bedeutung und Folgen von 1956]. Budapest 2006, S. 83–105; Maximilian Graf, Ein Musterbeispiel der europäischen Entspannung? Die österreichisch-ungarischen Beziehungen von 1964 bis 1989. In: Csaba Szabó (Hrsg.), Österreich und Ungarn im 20. Jahrhundert. Wien 2014, S. 261–280. Zu den westdeutsch-ungarischen Beziehungen siehe László J. Kiss, Az első államközi megállapodástól a diplomáciai kapcsolatok felvételéig. A magyar–NSZK kapcsolatok egy évtizede (1963–1973) [Vom ersten zwischenstaatlichen Abkommen bis zur Aufnahme der diplomatischen Beziehungen. Ein Jahrzehnt in den ungarisch-westdeutschen Beziehungen (1963–1973)]. In: Külpolitika 3 (1976), H. 3, S. 40–64. 54  Zu den Verhandlungen und ihren Ergebnissen siehe Lindemann, Anfänge einer neuen Ostpolitik, S. 68–79; Ruff, A magyar–NSZK kapcsolatok (1960–1963), S. 28–39; Kiss, A Magyar Népköztársaság és a Német Szövetségi Köztársaság kapcsolatainak fejlődése, S. 8–16. 55  Abkommen über den Waren- und Zahlungsverkehr und über die Errichtung von Handelsvertretungen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ungarischen Volksrepublik [10. November 1963] (Bundesanzeiger, Nr. 14/1964, 22. Januar 1964, S. 1–2).

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nien vorausgegangen waren,56 hatte Bonn durchsetzen können, dass der Vertrag sich auf den Gültigkeitsbereich der D-Mark, also auch auf Westberlin, erstreckte (Währungsgebietsklausel) und außerdem auf jeglichen Hinweis auf die spätere Aufnahme diplomatischer Beziehungen verzichtet wurde. Die Handelsvertretungen, die acht Monaten später, am 15. Juli 1964 in Frankfurt a. M. und in Budapest eröffnet wurden,57 waren gemäß den Vereinbarungen bzw. gemäß dem bundesdeutschen Standpunkt zudem reine Handelsvertretungen ohne konsularische oder sonstige zusätzliche Kompetenzen. Letzteres verdeutlicht auch, dass sich die Ostpolitik der Bundesrepublik gegenüber Ungarn bzw. den osteuropäischen Staaten in den ersten Jahren nach der Ära Adenauer im Grunde weiterhin auf außenwirtschaftspolitische Maßnahmen beschränkte. Dennoch verbargen sich westdeutscherseits auch politische Erwägungen hinter der Errichtung von Handelsvertretungen: „Man hoffte, auf lange Sicht könne die ökonomische Zusammenarbeit diesen Staaten ihre Furcht vor den Deutschen und einer Wiedervereinigung nehmen, Verselbstständigungstendenzen gegenüber Moskau stärken und zudem den Handlungsspielraum der DDR im Ostblock einschränken, denn selbstverständlich sollte Ost-Berlin mit Hilfe der durch die überlegene Wirtschaftskraft der Bundesrepublik aufrechterhaltenen Hallstein-Doktrin weiter internationale Anerkennung verwehrt werden.“58

Aufgrund der – bereits angesprochenen – besonderen Handelsinteressen Ungarns, die sich durch das Bestreben von Parteichef János Kádár, die ungarische Wirtschaft zu reformieren bzw. zu modernisieren,59 weiter verstärkten, sowie wegen des wachsenden Interesses der westdeutschen Wirtschaft am Ausbau des Osthandels erfuhren die Handelsbeziehungen in der Folgezeit einen starken Impuls: Das Gesamtvolumen des bilateralen Warenverkehrs, dessen Kontingente wie bisher durch Gemischte Kommissionen für jeweils ein Jahr festgelegt wurden, stieg so von 543,5 Millionen DM (1964) über 692,5 Millionen DM (1966) auf 756,6 Mio. DM (1969).60 Trotz anhaltender

56  Das Abkommen mit Polen war am 7. März 1963 und der zweiteilige Vertrag mit Rumänien am 17. Oktober bzw. 24. Dezember 1963 unterzeichnet worden. Ein entsprechendes Abkommen mit Bulgarien folgte am 6. März 1964. Ein Vertragsabschluss mit der Tschechoslowakei scheiterte (ausführlich hierzu siehe Lindemann, Anfänge einer neuen Ostpolitik, S. 45–96). Die für Bonn vorteilhaft verlaufenden Verhandlungen mit Ungarn waren – wie Lindemann aufzeigt – in starkem Maße auch durch die Ergebnisse der entsprechenden Verhandlungen mit Polen und Rumänien beeinflusst worden. 57  Während Ungarn hierbei lediglich sein bereits bestehendes Ungarisches Außenhandelsbüro entsprechend reorganisieren bzw. ausbauen musste, hatte die Bundesrepublik nicht die Möglichkeit, an einer Vorgängerorganisation anzuknüpfen. 58  Tim Geiger, Atlantiker gegen Gaullisten. Außenpolitischer Konflikt und innerparteilicher Machtkampf in der CSU/CDU 1958–1969. München 2008, S. 219. 59  Zu den wirtschaftlichen Reformen und Reformbemühungen in Ungarn unter Kádár siehe Iván T. Berend, A magyar gazdasági reform útja [Der Weg der ungarischen Wirtschaftsreform]. Budapest 1988. 60  Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Aktuelle Beiträge zur Wirtschafts- und Finanzpolitik, Nr. 104/1972, 2. August 1972, S. 5.



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ungarischer Befürchtungen vor einer wachsenden Abhängigkeit wurde die Bundesrepublik damit im Laufe des Jahres 1966 vor Österreich zum wichtigsten kapitalistischen Handelspartner Ungarns. Parallel zur Intensivierung der Handelsbeziehungen setzte seit 1964 auch ein deutlicher Aufschwung im westdeutsch-ungarischen Tourismus ein.61 Vor dem Hintergrund des sich entspannenden innenpolitischen Klimas in Ungarn und der Bemühungen des Kádár-Regimes, den – Devisen bringenden – Tourismus aus dem Westen anzukurbeln, kam es seit dieser Zeit zu einem allmählichen Anstieg der Besuche westdeutscher Touristen in Ungarn. (Ende des Jahrzehnts sollte die Zahl der westdeutschen Touristen in Ungarn bereits 200.000 Personen erreichen.62) Diese Öffnungs- bzw. Liberalisierungspolitik der Budapester Führung hatte den positiven Nebeneffekt, dass Ungarn damit auch zu einem Ort der deutsch-deutschen Begegnung werden konnte63 und auch die ungarndeutschen Vertriebenen ihre in Ungarn verbliebenen Verwandten besuchen konnten. Da Kádár gleichzeitig erstmals auch den ungarischen Staatsbürgern eine beschränkte Möglichkeit zu Westreisen einräumte, kam es seitdem auch zu einer wachsenden, wenn auch deutlich geringeren Zahl von Reisen ungarischer Staatsbürger in die Bundesrepublik. (Eine wirklich dynamische Entwicklung des Tourismus setzte allerdings erst Ende der 1970er Jahre, insbesondere natürlich in Richtung Ungarn, ein.64) Während sich auch in dieser Phase die Vorreiterrolle der bundesdeutschen Wirtschaft bzw. der Außenwirtschaftspolitik bei der Entwicklung der Beziehungen zu Ungarn deutlich abzeichnete, kam es hinsichtlich der politischen Beziehungen – trotz eines ersten bedeutenden Versuchs – noch zu keinem substanziellen Durchbruch. Nachdem bei den Vorbereitungen zur Errichtung der Handelsvertretungen 1963 westdeutscherseits – ganz im Sinne der Hallstein-Doktrin – noch streng darauf geachtet worden war, selbst den Anschein zu vermeiden, dass es sich um eine „getarnte diplomatische Mission“ handle,65 wurde auch im Handelsabkommen selbst mit Blick auf die Handelsvertretungen lediglich ganz allgemein von einem „Mittel für die Verbesserung der Beziehungen zwischen beiden Völkern“ (Artikel 19) gesprochen.66 Ungarische Bestrebungen, die Einrichtung der Handelsvertretungen als eine Vorstufe für

61  Siehe hierzu Békés, Európából Európába, S. 246. 62  Vgl. Horváth/ Németh, ...és a falak leomlanak, S. 142. 63  Siehe hierzu János Can Togay/ Jürgen Haase (Hrsg.), Deutsche Einheit am Balaton. Die private Geschichte der deutschen Einheit. Berlin 2009. 64  Auf eine eingehende Behandlung dieses Themas muss hier verzichtet werden. Zum Tourismus in Ungarn siehe Krisztina Slachta, A „magyar vircsaft“. A Kádár-kori idegenforgalom sajátosságai [Die „ungarische Wirtschaft“. Charakteristika des Tourismus in der Ära Kádár]. In: Metszetek 3 (2014), H. 2 (http://metszetek.unideb.hu/files/201402_07_slachta_krisztina.pdf; Zugriff: 12.10.2016). 65  Vgl. Lindemann, Anfänge einer neuen Ostpolitik, S. 56. 66  Abkommen über den westdeutsch-ungarischen Waren- und Zahlungsverkehr. In: Bundesanzeiger, Nr. 14/1964, 22. Januar 1964, S. 2.

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die Herstellung diplomatischer Beziehungen zu bezeichnen, hatte Bonn – wie gezeigt – konsequent abgeblockt. Erst nach der Bildung der Großen Koalition aus CDU/ CSU und SPD unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) und Außenminister bzw. Vizekanzler Willy Brandt (SPD) am 1. Dezember 1966 zeichnete sich der Beginn eines grundlegenden politischen Haltungswandels der bundesdeutschen Außenpolitik gegenüber den osteuropäischen Staaten67 und damit auch die Möglichkeit einer ersten Annäherung zwischen der Bundesrepublik und Ungarn auf dem Gebiet der politisch-diplomatischen Beziehungen ab. Im Januar 1967 kam es – nach vorangegangenen bundesdeutschen politischen Kontakten zu Bukarest und Sofia und einer Reihe von westdeutsch-ungarischen Sondierungsgesprächen – zum ersten Treffen zwischen Vertretern Bonns und Budapests auf höherer politischer Ebene, nämlich zu Gesprächen zwischen Staatssekretär Rolf Lahr aus dem Auswärtigen Amts einerseits und dem ungarischen Außenminister János Péter, seinem Stellvertreter Béla Szilágyi sowie Außenhandelsminister József Bíró andererseits.68 Bei dieser Gelegenheit verhandelten beide Seiten nicht nur über die Weiterentwicklung der Wirtschaftsbeziehungen, sondern es kam erstmals auch zu Gesprächen über die Frage der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Staaten. (Dies bedeutete auch, dass die westdeutsche Seite Budapest das Ende der Hallstein-Doktrin signalisierte, nachdem sie dies zuvor bereits gegenüber Rumänien und Bulgarien getan hatte.) Im Gegenzug für die bundesdeutsche Bereitschaft, die von Ungarn bereits 1962/1963 gewünschten diplomatischen Beziehungen69 aufzu-

67  Ausführlich hierzu siehe Martin Winkels, Die Deutschland- und Ostpolitik der ersten Großen Koalition in der Bundesrepublik Deutschland (1966–1969). Bonn 2009 (Diss.); Daniela Taschler, Vor neuen Herausforderungen. Die außen- und deutschlandpolitische Debatte in der CDU/CSU- Bundestagsfraktion während der großen Koalition (1966–1969). Düsseldorf 2001, S. 107–109. Der einflussreiche sozialdemokratische Politiker Egon Bahr hatte bereits Mitte 1963 die Bereitschaft seiner Partei zu einem grundlegenden Wandel in der bundesdeutschen Ost- und Deutschlandpolitik unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“ demonstriert. Zum Wortlaut der Tutzinger Rede von Bahr vom 15. Juli 1963 siehe Boris Meissner (Hrsg.), Die deutsche Ostpolitik 1961–1970. Köln 1970, S. 45–48. 68  Der Besuch von Staatssekretär Lahr fand vom 23. bis 26. Januar 1967 in Budapest statt. Zu Vorbereitung und Verlauf des Lahr-Besuchs siehe Kiss, A Magyar Népköztársaság és a Német Szövetségi Köztársaság kapcsolatainak fejlődése, S. 50–58. Zur – zentralen – Unterredung von Lahr mit Vizeaußenminister Szilágyi am 24. Januar siehe das Gesprächsprotokoll in Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1967, Bd. 1. München 1998, S. 153–164. Zu den Wirtschaftsverhandlungen siehe das Protokoll des Gesprächs von Lahr mit dem ungarischen Außenhandelsminister József Bíró, veröffentlicht ebenda, S. 165–170; siehe auch Békés, Európából Európába, S. 252–255; Földes, Kádár János külpolitikája, Bd. 1, S. 78–79. 69  Nachdem Ungarn auch nach der Unterzeichnung der Vereinbarung über die wechselseitige Errichtung von Handelsvertretungen noch starkes Interesse an der Normalisierung der diplomatischen Beziehungen gezeigt hatte, nahm die Budapester Führung dieses Ziel nach dem Sturz von Nikita Chruschtschow im Oktober 1964 gänzlich von ihrer außenpolitischen Tagesordnung. Erst im Vorfeld des Lahr-Besuchs beschloss das Politbüro am 10. Januar 1967, im Falle eines westdeutschen Angebots zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen positiv zu reagieren. Dies geht aus dem Politbüro-Proto-



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nehmen, äußerte Staatssekretär Lahr vor allem das westdeutsche Anliegen, die ungarische Seite möge von einer Erklärung der Bundesrepublik über die Anerkennung der bestehenden Grenzen und der Deutschen Demokratischen Republik absehen. Wie aus einer späteren Aufzeichnung des Auswärtigen Amts hervorgeht, hatte die Bonner Diplomatie zu diesem Zeitpunkt auch den Eindruck, Ungarn wolle keine Bedingungen bezüglich der Aufnahme diplomatischer Beziehungen stellen und sei bereit, die Einbeziehung Westberlins in eine entsprechende Vereinbarung zu akzeptieren.70 Die Initiative Bonns scheiterte allerdings infolge einer parallelen Aktion der westdeutschen und rumänischen Diplomatie:71 Nach der völlig überraschenden Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Rumänien, die am 31. Januar 1967, nur wenige Tage nach dem Lahr-Besuch in Ungarn, erfolgte, schlugen die Warschauer-Pakt-Staaten72 – nicht zuletzt auf Drängen der ostdeutschen Führung – einen konfrontativen Kurs gegenüber der Bundesrepublik ein und stellten nun gerade jene Bedingungen für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, die für die westdeutsche Politik damals unannehmbar waren, nämlich die Anerkennung der DDR bzw. die Aufgabe des Alleinvertretungsanspruchs sowie die Akzeptanz der Oder-Neiße-Grenze. Als letztlich besonders „loyaler, zuverlässiger und berechenbarer Partner“73 im östlichen Bündnis schloss sich die ungarische Führung unter Kádár dieser Position widerspruchslos an. Die Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen infolge der Intervention der Staaten des Warschauer Vertrags in der Tschechoslowakei im August 1968, an der sich – nach intensiven Vermittlungsversuchen Kádárs zwischen der Tschechoslowakei und der Moskauer Führung – auch ungarische Truppenkontingente beteiligten, nahm der Frage der Normalisierung der westdeutschungarischen politischen Beziehungen dann – zumindest vorläufig – jede Aktualität.

koll und einer entsprechenden Vorlage des ungarischen Außenministeriums hervor (Jegyzőkönyv a Politikai Bizottság 1967. január 10-én megtartott üléséről [Protokoll über die Sitzung des Politbüros vom 10. Januar 1967]; MNL OL, 288.f.5/414. ő. e., fol. 5, fol. 69–71). 70  Aufzeichnung der Abteilung II des Auswärtigen Amts vom 14. Dezember 1967 zum „Stand unserer Beziehungen zu Ungarn“ (PA AA, B 42/215, ohne Paginierung). 71  Siehe hierzu Kiss, A Magyar Népköztársaság és a Német Szövetségi Köztársaság kapcsolatainak fejlődése, S. 58–63; Heinrich Potthoff, Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961–1990. Berlin 1999, S. 57–59; Taschler, Vor neuen Herausforderungen, S. 107–109. 72  Auf dem Warschauer Außenministertreffen vom Februar 1967 sowie auf der Karlsbader Konferenz vom April 1967. 73  Békés, Magyar külpolitika a szovjet szövetségi rendszerben, S. 135.

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3.6 F undierung der politisch-diplomatischen Beziehungen und Ausbau der Wirtschaftskontakte (1969 bis 1973) Die „neue Ostpolitik“, die der im Oktober 1969 gewählte Bundeskanzler Willy Brandt nach den – oben erwähnten – ersten Ansätzen einer Neuorientierung der westdeutschen Außenpolitik implementierte und die auf einen Ausgleich der Bundesrepublik mit den östlichen Nachbarn einschließlich Ostdeutschlands abzielte,74 eröffnete auch für das westdeutsch-ungarische Verhältnis gänzlich neue politische Perspektiven. Der neue ostpolitische Kurs der Bonner Regierung wurde auch von der ungarischen Führung positiv aufgenommen. Ungarn signalisierte so – nachdem es sich bereits Ende Juli 1969 zugunsten einer aktiveren Politik gegenüber Bonn ausgesprochen hatte75 – seit Herbst 1969 wiederholt seine Bereitschaft, die ungarisch-westdeutschen Beziehungen – natürlich auch weiterhin in enger Abstimmung mit Moskau – auf allen Gebieten zu entwickeln, wobei allerdings die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vorläufig noch ausgeschlossen wurde.76 Nachdem bereits bei den Verhandlungen der westdeutsch-ungarischen Gemischten Kommission im Februar 1969 von Bonner Seite der Vorschlag unterbreitet worden war, den Handelsvertretungen konsulari-

74  Ausführlich zur neuen Ostpolitik und ihren Auswirkungen siehe Peter Bender, Die „Neue Ostpolitik“ und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung. München 1995; Manfred Uschner, Die Ostpolitik der SPD. Sieg und Niederlage einer Strategie. Berlin 1991; Gottfried Niedhart, Entspannung in Europa. Die Bundesrepublik Deutschland und der Warschauer Pakt 1966 bis 1975. München 2014; Dieter Bingen, Ostpolitik und die demokratischen Wandlungen in den Staaten Mittel- und Osteuropas. In: Rocznik Polsko-Niemiecki 2005/ Deutsch-Polnisches Jahrbuch 2005. Sonderausgabe. Warschau 2006, S. 21–53; Attila Pók, Ungarische Motive für die Öffnung für die Ostpolitik und ihre Bedeutung für die deutsch-ungarischen Beziehungen in den 1970er Jahren. In: Rocznik Polsko-Niemiecki 2005/ Deutsch-Polnisches Jahrbuch 2005. Sonderausgabe. Warschau 2006, S. 259–270. 75  Im Mittelpunkt des Beschlusses der ungarischen Regierung stand – neben der gezielten Intensivierung der wirtschaftlich-technologischen Kooperation und einer begrenzten Ausweitung der Zusammenarbeit auf kulturellem Gebiet – die Absicht, die politischen Kontakte, insbesondere mit dem „linken Flügel der Sozialdemokratischen Partei“ und den „progressiveren Jugendführern“ der Freien Demokratischen Partei, zu intensivieren (A Magyar Forradalmi Munkás-Paraszt Kormány 3235/1969. sz. határozata a Magyar Népköztársaság és a Német Szövetségi Köztársaság államközi kapcsolatairól [Beschlusses Nr. 3235/1969 der Ungarischen Revolutionären Arbeiter- und Bauernregierung über die zwischenstaatlichen Beziehungen der Volksrepublik Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland]; MNL OL, 288.f.32/b/1969/54. ő. e., fol. 1–4). Über diesen geheim gehaltenen Beschluss erhielt die neue Bundesregierung im Oktober 1969 Kenntnis (Fernschreiben von Legationsrat Hardo Brückner an das Auswärtige Amt vom 22. und 24. Oktober 1969. In: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1969, Bd. 2. München 2000, S. 1151–1153, S. 1155–1157). 76  Hierzu und zum Folgenden siehe Aufzeichnung des Ministerialdirektors im Auswärtigen Amt Berndt von Staden vom 22. Juni 1970. In: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1970, Bd. 2. München 2001, S. 1001–1003; siehe auch Kiss, A Magyar Népköztársaság és a Német Szövetségi Köztársaság kapcsolatainak fejlődése, S. 63–71; Földes, Kádár János külpolitikája, Bd. 1, S. 109–110.



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sche Rechte zu übertragen, vereinbarten Regierungsvertreter beider Staaten am 6. Oktober 1969, den beiden Vertretungen zum 1. Januar 1970 wechselseitig Pass- und Sichtvermerkbefugnisse zu erteilen.77 Damit war – nach dem Scheitern der Aufnahme diplomatischer Beziehungen 1967 – ein wichtiger Schritt zur Weiterentwicklung der konsularischen Beziehungen getan.78 Mit dem Besuch von Außenhandelsminister József Bíró in Bonn Mitte März 1970 und dem Gegenbesuch von Wirtschaftsminister Karl Schiller in Budapest Ende Oktober 1970, bei denen die Weiterentwicklung der Handelsbeziehungen bzw. ihre zukünftige vertragliche Fundierung im Mittelpunkt stand,79 nahm zudem die Besuchsdiplomatie auf Ministerebene, der bald eine besondere Rolle in den bilateralen Beziehungen zukommen sollte, ihren Anfang. Nachdem sich die ungarische Seite Anfang der 1970er Jahre noch sehr zurückhaltend bezüglich der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik geäußert hatte, rückte diese Frage im Zuge des – maßgeblich durch die Neue Ostpolitik der Bundesregierung herbeigeführten – allmählichen Ausbaus der politischen Kontakte und der positiven Entwicklungen in den Beziehungen Bonns zum östlichen Lager80 bzw. zur DDR81 Anfang 1973 erneut auf die Tagesordnung der bilateralen Beziehungen. Während der Außenministerkonferenz in Helsinki Anfang Juli 1973 erklärte der ungarische Außenminister János Péter – auf der Grundlage entsprechender Beschlüsse des Politbüros und des Ministerrats vom Januar/ Februar 1973 – gegenüber Bundesaußenminister Walter Scheel die Bereitschaft Ungarns, über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu verhandeln.82 Daraufhin begannen beide Seiten – vertreten durch den Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt Günter van Well und den ungarischen stell-

77  Vgl. Horváth/ Németh, ...és a falak leomlanak, S. 141. 78  Die Tatsache, dass die ungarische Führung – wie die bundesdeutsche Handelsvertretung in Budapest nach Bonn berichtete – die breite Öffentlichkeit in den Zeitungen und im Radio über die Übereinkunft informierte, zeigt, welche Bedeutung Budapest diesem Schritt zuschrieb (Fernschreiben der bundesdeutschen Handelsvertretung in Budapest an das Auswärtige Amt vom 13. Oktober 1969; PA AA, AV Neues Amt, Bd. 10.266, ohne Paginierung). 79  Zu den beiden Besuchen siehe Bulletin der Bundesregierung Nr. 36/1970, 17. März 1970, S. 360; Bericht über die Reise des Bundeswirtschaftsministers nach Ungarn (46. Kabinettssitzung am 29. Oktober 1970). In: Michael Hollmann (Hrsg.), Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 23: 1970. München 2015, S. 414–415. 80  In diesem Zusammenhang ist vor allem auf den westdeutsch-sowjetischen Vertrag (Moskauer Vertrag) vom August 1970 und auf den westdeutsch-polnischen Vertrag (Warschauer Vertrag) vom Dezember 1970, die beide im Mai 1972 vom Bundestag ratifiziert wurden, sowie auf das Vier-MächteAbkommen vom September 1971, das im Juni 1972 in Kraft trat, hinzuweisen. Die beiden ersten Verträge enthielten auch die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik (vgl. Horváth/ Németh, ...és a falak leomlanak, S. 141–142). 81  Zu erwähnen ist hier vor allem der am 21. Dezember 1972 geschlossene Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik, der am 21. Juni 1973 in Kraft trat und die staatsrechtliche (nicht völkerrechtliche) Anerkennung der DDR beinhaltete. 82  Fernschreiben der bundesdeutschen Botschaft in Helsinki an das Auswärtige Amt vom 5. Juli 1973 (PA AA, Neues Amt, Bd. 10.262, ohne Paginierung).

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vertretenden Außenminister János Nagy – Mitte August 1973, konkrete Verhandlungen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu führen.83 Diese mündeten schließlich am 21. Dezember 1973 – nach der Lösung bzw. „Ausklammerung“ mehrerer Problembereiche84 – in der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Bonn und Budapest, die im Rahmen eines von beiden Seiten am 13. Dezember 1973 unterzeichneten unveröffentlichten Protokolls erfolgte.85 Wie vorsichtig die KádárFührung damals – aus innenpolitischen und blockinternen Gründen86 – allerdings gewesen war, offenbart die Tatsache, dass diesem Schritt die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Polen (7. Dezember 1970) bzw. der Tschechoslowakei (11. Dezember 1973) vorausgegangen war und sie zeitgleich mit der Normalisierung der politischen Beziehungen zwischen Bonn und Sofia erfolgte. Während es in dieser Phase zu einem schrittweisen Durchbruch bei der Vorbereitung der politisch-diplomatischen Beziehungen kam, entwickelten sich die Handelsbeziehungen Ende der 1960er/ Anfang der 1970er Jahre kontinuierlich weiter. 1970

83  Zu den Verhandlungen, auf die in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden kann, siehe die bundesdeutschen Verhandlungsprotokolle vom 13. bis 16. August 1973 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 112.627, ohne Paginierung) und vom 13. Dezember 1973 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 116.597, ohne Paginierung). Ausführlich aus ungarischer Sicht siehe Kiss, A Magyar Népköztársaság és a Német Szövetségi Köztársaság kapcsolatainak fejlődése, S. 118–130. 84  Hierbei ging es im Wesentlichen um zwei Fragen, nämlich zum einen um die Frage der prinzipiellen Akzeptanz ungarischer Restitutions- und Entschädigungsforderungen (für Schäden aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs), wobei sich Bonn allerdings hartnäckig und letztlich – unter Berufung auf die internationale Rechtslage, insbesondere auf das Londoner Schuldenabkommen von 1953 – erfolgreich jeglichen Entschädigungsansprüchen Ungarns verschloss und lediglich eine wohlwollende Prüfung begründeter Restitutionsansprüche zusagte. Zum anderen handelte es sich um die Frage der westdeutschen Rechtshilfe für ständige Einwohner Westberlins. In dieser Frage kam man überein, dass die bundesdeutsche Botschaft deren konsularische Anliegen wahrnehmen könne, insofern die Tätigkeit eines ungarischen Generalkonsulats in Westberlin ermöglicht werde. 85  Die Dokumente bezüglich der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen, darunter das Protokoll vom 13. Dezember 1973 und mehrere Anlagen, werden im Politische Archiv des Auswärtigen Amts in Berlin unter der Signatur PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 112.672 und Bd. 112.677 aufbewahrt. Faksimiles der Dokumente sowie Fotografien sind über die Homepage der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest zugänglich: http://www.budapest.diplo.de/contentblob/4083546/Daten/37 64982/131219Ausstellung40Jahre.pdf (Zugriff: 05.03.2015) sowie http://www.budapest.diplo.de/contentblob/4083556/Daten/3764978/131219Ausstellung40Jahre2.pdf (Zugriff: 05.03.2015). 86  Parteichef Kádár stand seit Februar 1972 (letztlich bis zur Jahreswende 1975/1976) unter starkem Druck von orthodoxen Kräften in der eigenen Partei und in den verbündeten Staaten, denen seine „kleinbürgerlichen“ Wirtschaftsreformen bzw. politischen Liberalisierungsschritte zu weit gingen. Ganz offensichtlich mit dem Ziel, keine neuen Angriffsflächen zu schaffen, betrieb Kádár daher in diesen Jahren eine ausgesprochen vorsichtige Außenpolitik (siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Der Kádárismus, S. 170–171; ausführlich hierzu siehe Tibor Huszár, Kádár János politikai életrajza [Politische Biografie János Kádárs], Bd. 2: 1957. november–1989. június [November 1957–Juni 1989]. Budapest 2003, S. 233–256; Ders., Kádár: A hatalom évei, 1956–1989 [Kádár: Jahre der Macht, 1956–1989]. Budapest 2006, S. 187–205.



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lag das Gesamtvolumen des westdeutsch-ungarischen Warenverkehrs bei 1.012,2 Millionen DM und stieg bis 1973 auf 1.886 Millionen DM. Damit erreichte die Bundesrepublik einen achtprozentigen Anteil am gesamten ungarischen Außenhandel und befand sich damit auf Platz 3 hinter der Sowjetunion und der DDR.87 Hinsichtlich der Export- bzw. Importstrukturen hatte sich bis zum Ende dieser Phase folgende Entwicklung abgezeichnet: Bei den Warenlieferungen aus Ungarn in die Bundesrepu­ blik hatten die Produkte der Ernährungs- und Landwirtschaft mittlerweile ihre früher entscheidende Bedeutung verloren. Nun spielten die verschiedensten Erzeugnisse der gewerblichen Wirtschaft, darunter Energieträger, chemische Rohstoffe und Kautschukwaren, Bekleidungsartikel und Textilien sowie Haushaltswaren eine besondere Rolle. Bei den Lieferungen aus der Bundesrepublik hatten – neben einzelnen Produkten der Land- und Ernährungswirtschaft wie Mehl oder Hopfen – vor allem chemische und pharmazeutische Rohstoffe und Erzeugnisse, Bekleidungsartikel, Produkte der Eisen- und Stahlverarbeitung sowie höherwertige gewerbliche Artikel (zum Beispiel Erzeugnisse des Fahrzeugbaus und der feinmechanischen und optischen Industrie) herausragendes Gewicht.88 Ein Grundproblem der westdeutsch-ungarischen Handelsbeziehungen, nämlich das chronische Bilanzdefizit der ungarischen Seite seit Ende der 1950er Jahre, war auch für diese Phase charakteristisch,89 obwohl es der ungarischen Seite bei den westdeutsch-ungarischen Wirtschaftsverhandlungen im Juni 1970 gelungen war, die Möglichkeit für eine beträchtliche Steigerung des ungarischen Exports zu erwirken.90 Über die Intensivierung des Warenaustausches hinaus entwickelte sich seit Ende der 1960er Jahre ein neues Feld der Wirtschaftsbeziehungen, nämlich die Unternehmenskooperation. Im Sommer 1972 existierten bereits über 100 Kooperationsverträge zwischen westdeutschen und ungarischen Unternehmen, vor allem im Bereich der Produktion.91 Die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen hatten in dieser Phase einen starken Impuls durch die besonderen Handelsinteressen Ungarns in Verbindung mit den am 1. Januar 1968 implementierten ungarischen Wirtschaftsreformen („Neuer Ökonomi-

87  Der Anteil der Bundesrepublik am ungarischen Export machte 1973 6,7 Prozent aus, ihr Anteil am ungarischen Import 8,8 Prozent (Kiss, A Magyar Népköztársaság és a Német Szövetségi Köztársaság kapcsolatainak fejlődése, S. 108). 88  Ausführlich hierzu siehe das Protokoll über die Warenkontingente vom 16. März 1973 (Bundesgesetzblatt Nr. 15, 14. April 1974, S. 217–223). 89  Laut Angaben des Statistischen Bundesamts schnellte der ungarische Negativsaldo 1971 auf 189 Millionen DM hoch, nachdem er in den vorangegangenen zehn Jahren – mit Ausnahme des Jahres 1967 (145 Millionen DM) – zwischen 3 und 50 Millionen DM gelegen hatte. 1972 blieb der Negativsaldo mit 185 Millionen DM nahezu gleich hoch, 1973 stieg der Differenzbetrag dann weiter auf 226 Mil­ lionen. 90  Vgl. Kiss, A Magyar Népköztársaság és a Német Szövetségi Köztársaság kapcsolatainak fejlődése, S. 101. 91  Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Aktuelle Beiträge zur Wirtschafts- und Finanzpolitik, Nr. 104/1972, 2. August 1972, S. 3.

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scher Mechanismus“) bzw. durch die Liberalisierung des ungarischen Außenhandels erhalten, durch die der Handlungsspielraum der ungarischen Exportunternehmen beträchtlich ausgeweitet wurde.92 Positiv hatten sich darüber hinaus auch die sich entwickelnden politischen Kontakte93 sowie die neuen Rahmenbedingungen ausgewirkt, die das im Oktober 1970 von Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller und dem ungarischen Finanzminister Péter Vályi unterzeichnete und bis zum 31. Dezember 1974 gültige bilaterale Abkommen über den Warenverkehr und die Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und technischem Gebiet94 geschaffen hatte.

3.7 A  ufschwung in den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen (1973 bis 1979) Mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Budapest am 21. Dezember 1973 wurde ein neues Kapitel in der Geschichte des westdeutsch-ungarischen Verhältnisses aufgeschlagen.95 Diese Tatsache offenbarte sich daran, dass sich nicht nur die bilaterale Wirtschaftskooperation dynamisch weiterentwickelte, sondern es auch zu einem starken Aufschwung auf dem Gebiet der politischen Beziehungen kam. Zu den positiven Entwicklungen in dieser Phase trug auch die Fortsetzung des internationalen Entspannungsprozesses im Rahmen der Verhandlungen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) bei, mit denen bereits im Sommer 1973 begonnen worden war und die mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki am 1. August 1975 ihren Höhepunkt fanden.96 Einen starken

92  Zu den neuen Möglichkeiten der ungarischen Staatsunternehmen bei Import- und Exportgeschäften siehe Mitteilungen der Bundesstelle für Aussenhandelsinformationen, Nr. 122, Mai 1970. Ausführlich zu den ungarischen Wirtschaftsreformen seit Mitte der 1960er Jahre siehe Berend, A magyar gazdasági reform útja, S. 177–366. 93  Bezeichnenderweise handelte es sich bei den – angesprochenen – ersten politischen Kontakten auf Ministerebene um Visiten aus dem Wirtschafts- bzw. Außenwirtschaftsressort. 94  Langfristiges Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ungarischen Volksrepublik über den Warenverkehr und die Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und technischem Gebiet vom 27. Oktober 1970 (Bundesanzeiger Nr. 218, 24. November 1970, S. 3–4); siehe auch Horváth/ Németh, ...és a falak leomlanak, S. 143. Zu den Vertragsverhandlungen siehe Kiss, A Magyar Népköztársaság és a Német Szövetségi Köztársaság kapcsolatainak fejlődése, S. 99–108. 95  Siehe hierzu auch Schmidt-Schweizer/ Dömötörfi, A magyar–nyugatnémet kapcsolatok dinamikus időszaka, S. 19–43; Kiss, A Magyar Népköztársaság és a Német Szövetségi Köztársaság kapcsolatainak fejlődése, S. 144–172. 96  Ausführlich zum KSZE-Prozess siehe Matthias Peter/ Hermann Wentker (Hrsg.), Die KSZE im OstWest-Konflikt. Internationale Politik und gesellschaftliche Transformation 1975–1990. München 2012; Helmut Altrichter/ Hermann Wentker (Hrsg.), Der KSZE-Prozess. Vom Kalten Krieg zu einem neuen Europa 1975 bis 1990. München 2011; Oliver Bange/ Gottfried Niedhart (Hrsg.), Helsinki 1975 and the Transformation of Europe. New York 2008; Wilfried Loth, Helsinki. 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung. München 1998.



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Impuls erfuhren die westdeutsch-ungarischen Beziehungen kurze Zeit später außerdem durch den neuen außenpolitischen Kurs der ungarischen Führung, die nun auf eine Politik der verstärkten Westöffnung Ungarns setzte.97 Hinter diesem Wandel verbargen sich letztlich wirtschaftspolitische Zwänge98 und gesellschafts- und innenpolitische Beweggründe: „Ende 1976 wurde der Führung der MSZMP […] eine Sache klar: Es muss eine noch aktivere Außenpolitik als bisher betrieben und die Öffnung [Ungarns nach Westen] in die Praxis umgesetzt werden, wenn am Programm des Wohlstandssozialismus festgehalten, der Aufbau der sozialistischen Nation fortgesetzt sowie die gesellschaftliche Ruhe und innenpolitische Stabilität aufrechterhalten werden soll.“99

Vor diesem Hintergrund betrieb Ungarn seit Mitte der 1970er Jahre gegenüber dem Westen (und den neutralen Staaten) eine äußerst aktive „Besuchsdiplomatie“ auf hoher und höchster politischer Ebene. So besuchten Parteichef János Kádár im Dezember 1976 Österreich, im Juni 1977 Italien und den Vatikan sowie im November 1978 Frankreich, der ungarische Ministerpräsident György Lázár Finnland (Juni 1977), Österreich (November 1977, Oktober 1979) und Frankreich (November 1979) sowie Außenminister Frigyes Puja Großbritannien (März 1977), Griechenland (März 1977), Schweden (November 1977), Belgien (Februar 1978), Holland (September 1978) und Portugal (Oktober 1979). Und auf Einladung der ungarischen Führung hielten sich in diesen Jahren – unter anderen westlichen Politikern – der amerikanische Außenminister Cyrus Vance (Januar 1978), der österreichischen Kanzler Bruno Kreisky (September 1978) sowie der belgische Außenminister Henry Simonet (Juli 1979) und der dänische Außenminister Kjeld Olesen (Dezember 1979) in Ungarn auf.100 Die weitaus intensivsten Westkontakte pflegte die Budapester Führung – verständlicherweise – mit der Bundesrepublik. In den Jahren von der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen bis Ende 1979 kam es so zu mehrmaligen wechselseitigen Besuchen bzw. Treffen der Außenminister (Walter Scheel bzw. Hans-Dietrich Genscher und Frigyes Puja101) und der für den Außenhandel zuständigen Ressortminister

97  Näheres hierzu siehe Földes, Kádár János külpolitikája, Bd. 1, S. 205–221. 98  Nach Jahren der Reideologisierung der Wirtschaftspolitik (seit 1972/73) beschloss die ungarische Führung vor dem Hintergrund der weltweiten Ölkrise, eines sich beschleunigenden Verschuldungsprozesses und einer unzureichenden Planerfüllung ab Mitte der 1970er Jahre eine neue wirtschaftspolitische Strategie, mit der die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der ungarischen Wirtschaft gesteigert werden sollte (näheres siehe Berend, A magyar gazdasági reform útja, S. 362–379). 99  Földes, Kádár János külpolitikája, Bd. 1, S. 209. 100  Zur Chronologie der politischen Kontakte Ungarns in dieser Phase siehe Miklós Nagy (Hrsg.), Magyar külpolitika 1956–1989. Történeti kronológia [Ungarische Außenpolitik 1956–1989. Historische Chronologie]. Budapest 1993, S. 128–148. Zusammenfassend zur ungarischen Besuchsdiplomatie siehe Földes, Kádár János külpolitikája, Bd. 1, 212–221. 101  Im April 1974, Juni 1975, April 1976, Juli 1977 und im September 1979.

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(Hans Friderichs bzw. Otto Graf Lambsdorff und József Bíró).102 Parallel hierzu erfolgten erstmals offizielle Ungarn-Besuche der führenden SPD-Politiker Willy Brandt und Herbert Wehner.103 Den Höhepunkt der Besuchsdiplomatie bildeten die ebenfalls erstmaligen, wechselseitigen Besuche der Spitzenpolitiker beider Staaten: Im Juli 1977 stattete Parteichef János Kádár der Bundesrepublik einen Besuch ab, im September 1979 erfolgte der Gegenbesuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt.104 Zwei Jahre zuvor, im September 1977, war es außerdem zu einem Ereignis gekommen, das zuvor undenkbar gewesen wäre, nämlich zum „privaten Jagdbesuch“ des radikal antikommunistischen und antisowjetischen CSU-Politikers Franz Josef Strauß in Ungarn.105 Diese Besuche, bei denen ein intensiver Meinungsaustausch über aktuelle Fragen der internationalen Politik – insbesondere über den Helsinki-Prozess, einzelne Fragen des Ost-West-Verhältnisses und die laufenden Abrüstungsverhandlungen (SALT, MBFR) – sowie über die Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen in Wirtschaft, Politik und Kultur geführt wurde,106 konnten selbstverständlich den grundsätzlichen ideologisch-politischen Antagonismus zwischen beiden Staaten nicht überwinden. Sie trugen aber zur Klärung einer Reihe von konkreten Sachfragen bei und gaben wichtige Impulse für die Ausweitung der Zusammenarbeit vor allem im Bereich der Wirtschaft. Darüber hinaus führten die persönlichen Kontakte zu einer sichtbaren Entideologisierung der Beziehungen und begründeten ein besonderes Vertrauensverhältnis, das sich insbesondere in der folgenden Phase als bedeutungsvoll erweisen sollte. Charakteristisch für die qualitative Weiterentwicklung der politischen Beziehungen in diesen Jahren war die Entschärfung eines neuralgischen Konfliktfeldes, nämlich der Westberlin-Frage. Trotz des Viermächteabkommens vom Juni 1972, das den internationalen Status von Westberlin (als nicht zur Bundesrepublik gehörende,

102  Im Januar 1974, November 1974, Januar 1976, Juli 1977, April 1978 und im Januar 1979. 103  Im März 1978 bzw. im Februar 1979. Zu den Kontakten zwischen Brandt und Kádár siehe István Sziklai, Szemelvények Magyarország és az NSZK kapcsolatából: Kádár János és Willy Brandt [Fragmente aus den Beziehungen Ungarns und der Bundesrepublik: János Kádár und Willy Brandt]. In: Múltunk 54 (2009), H. 1, S. 45–64. 104  Zusammenfassend zu den Unterredungen zwischen Kádár und Schmidt 1977 und 1979 siehe Földes, Kádár János külpolitikája, Bd. 1, S. 216–218, S. 276–277. 105  Ausführlich hierzu siehe Andreas Schmidt-Schweizer/ Tibor Dömötörfi: Meghívás „vadászatra, magánemberként“. Franz Josef Strauß első látogatása Magyarországon, 1977 [Einladung „zur Jagd, als Privatperson“. Franz Josef Strauß‘ erster Besuch in Ungarn, 1977]. In: Történelmi Szemle 54 (2012), H. 4, S. 653–666. Ein weiterer Besuch von Strauß – als Kanzlerkandidat – erfolgte im August 1979. 106  Eine nähere Darlegung der Gesprächsinhalte kann in diesem Rahmen nicht erfolgen. Zu den quellenmäßig gut dokumentierten Treffen von Schmidt und Kádár 1977 und 1979 siehe die publizierten Dokumente in Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1977, Bd. 2. München 2008, S. 880–889; Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1979, Bd. 2. München 2010, S. 1233–1244, S. 1259–1266; Földes, Kádár János külpolitikája, Bd. 2, S. 467–487, S. 488–498, S. 557–564, S. 565–576.



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aber über besondere Bindungen zu ihr verfügende Stadt) endgültig regeln sollte, gab es hinsichtlich der Statusfrage auch danach immer wieder Spannungen zwischen Bonn und Budapest, so zum Beispiel selbst bei Sport- oder Kulturveranstaltungen. Kern des Problems war, dass Bonn wiederholt versuchte, die „besondere Bindung“ Westberlins an die Bundesrepublik durch ein gemeinsames Auftreten bei Veranstaltungen zu demonstrieren, während Ungarn und die sozialistischen Staaten einvernehmlich auf der Demonstration der Eigenständigkeit Westberlins bestanden. Wie aus einem Bericht des Budapester Außenministeriums hervorgeht, versuchte die ungarische Führung ab Mitte 1977 allerdings, dieses Problem – im Rahmen des Möglichen – zu entschärfen: „Die Westberlin-Problematik erfordert auch in Zukunft eine sorgfältige Behandlung. Wir halten uns an den mit den sozialistischen Staaten abgestimmten Standpunkt, wir machen keine prinzipiellen Zugeständnisse. In der Praxis [aber], hauptsächlich in Fragen geringerer Bedeutung, müssen wir danach streben, dass Westberlin unsere Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland möglichst wenig belastet.“107

Westdeutscherseits versuchte man gar, das Problem aus den bilateralen Beziehungen überhaupt auszuklammern. So erklärte Schmidt im September 1979 gegenüber Kádár, dass die „Differenzen bei der Auslegung des Viermächteabkommens […] nur mit der Sowjetunion geklärt werden [könnten]; dies sei kein Gebiet für deutsch-ungarische Regelungen und Lösungen.“108 Gänzlich überwunden sollte das Problem allerdings erst Ende der 1980er Jahre werden. Bei den damaligen Verhandlungen der Wirtschaftspolitiker beider Länder standen in erster Linie die Möglichkeiten der wechselseitigen Ausweitung des Handels bei gleichzeitigem Abbau des ungarischen Handelsdefizits im Mittelpunkt. Hinsichtlich letzterem spielte die Frage, wie die bundesdeutsche und westeuropäische Handelspolitik gegenüber Ungarn liberalisiert werden könne, für Budapest eine besondere Rolle. Trotz der Tatsache, dass das Problem der Handelsbarrieren bzw. des Marktzugangs durch die Übertragung der Außenhandelskompetenzen der einzelnen EG-Mitgliedsstaaten an die Gemeinschaft zum 1. Januar 1975 für die ungarische Seite komplizierter wurde, kam es im bilateralen Handel in den Jahren von 1973 bis 1979 zu einer Verdopplung des Gesamtumsatzes von 1.886 auf 3.828 Millionen DM.109 Durch

107  Külügyminisztérium. Előterjesztés a Politikai Bizottságnak a magyar–nyugatnémet kapcsolatok helyzetéről és a további feladatokról [Außenministerium. Vorlage für das Politbüro über den Stand der ungarisch-westdeutschen Beziehungen und über die weiteren Aufgaben] [23. Mai 1977] (MNL OL, 288.f.5/719. ő. e., fol. 30–38, hier fol. 38). 108  Fernschreiben der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt und an das Bundeskanzleramt vom 5. September 1979 (PA AA, AV Neues Amt, Bd. 10269, ohne Paginierung). 109  KB Gazdaságpolitikai Osztály. Feljegyzés Ballai László elvtárs részére. Tájékoztató a magyar–NSZK gazdasági kapcsolatokról [Abteilung für Wirtschaftspolitik des ZK. Aufzeichnungen für Genossen László Ballai. Informationen über die ungarisch-westdeutschen Wirtschaftsbeziehungen] [5. Dezember 1984]

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diese Steigerung des Handelsvolumens wurde die Bundesrepublik, auf ideologischpropagandistischem Gebiet „Klassenfeind Nr. 2“ Ungarns (hinter den USA), im Jahre 1977, nachdem sie die DDR auf kommerziellem Gebiet „überholt“ hatte, zum „Handelspartner Nr. 2“ (hinter der Sowjetunion). Grundproblem der Handelsbeziehungen blieb allerdings auch weiterhin das chronische ungarische Bilanzdefizit.110 Neben dem Handel kam es in dieser Phase auch zu einer dynamischen Entwicklung im Bereich der Unternehmenskooperation. Mit dem Inkrafttreten der langfristigen Vereinbarung über wirtschaftliche, technische und industrielle Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und Ungarn am 11. November 1974111 erhielt die Mitte der 1960er Jahre begonnene Unternehmenskooperation einen starken Impuls. Während im ersten Jahrzehnt (bis Ende 1974) insgesamt 176 Kooperationsverträge abgeschlossen worden waren, erhöhte sich diese Zahl nun innerhalb eines Jahres auf 225.112 Ende 1975 konnten beide Staaten überdies auf etwa 350 weitere geplante Vorhaben verweisen. Diese dynamische Entwicklung sollte sich auch in den folgenden Jahren fortsetzen. 1974 kam es überdies, nachdem eine Verordnung des ungarischen Finanzministeriums aus dem Jahre 1972113 den Weg hierfür freigemacht hatte, zur Gründung des ersten westdeutsch-ungarischen gemischten Unternehmens Sicontact, an dem das ungarische Staatsunternehmen Intercooperation mit 51 Prozent und die Siemens AG mit 49 Prozent beteiligt waren.114 Mit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen rückte schließlich auch die Frage der Entwicklung der offiziellen Kulturbeziehungen, die bislang ein Schattendasein geführt hatten, auf die Tagesordnung.115 Im Gegensatz zur pragmatischen Wirt-

(MNL OL, 288.f.32/1984/74. ő. e., fol. 284); siehe hierzu auch Iván Lipovecz, Relations between Hungary and the Federal Republic of Germany. In: The New Hungarian Quarterly 21 (1980), Nr. 80, S. 143–147. 110  Von 1973 bis 1974 vervierfachte (!) sich der ungarische Negativsaldo in der bilateralen Handelsbilanz beinahe (von 226 auf 858 Millionen DM). 111  Vereinbarung zwischen der Regierung der Volksrepublik Ungarn und der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über wirtschaftliche, industrielle und technische Zusammenarbeit. In: United Nations Treaty Series, Vol. 983, I-14374. New York 1975, S. 390–393. 112  Protokoll der ersten Tagung der Gemischten Regierungskommission für wirtschaftliche, industrielle und technische Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Ungarischen Volksrepublik vom 15. Januar 1976 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 116.560, ohne Paginierung). 113  28/1972 (X.3.) PM számú rendelet a külföldi részvétellel működő gazdasági társaságokról [Verordnung Nr. 28/1972 (X.3.) PM über Wirtschaftsgesellschaften mit ausländischer Beteiligung] [8. März 1972]. In: Törvények és rendeletek hivatalos gyűjteménye 1972 [Offizielles Kompendium der Gesetze und Verordnungen 1972]. Budapest 1973, S. 863–864. 114  Siehe hierzu Sándor Jeszenszky, Ungarisch-deutsche Beziehungen auf dem Gebiet der Elek­ trotechnik zwischen 1945 und 1995 – Fallstudie zur Zusammenarbeit der deutschen Firma Siemens und der ungarischen elektrotechnischen Unternehmen. In: Holger Fischer (Hrsg.), Deutsch-ungarische Beziehungen in Naturwissenschaft und Technik nach dem Zweiten Weltkrieg. München 1999, S. 439–481. 115  Die Absicht, die Möglichkeit des Abschlusses eines Kulturabkommens zu überprüfen, war bereits im Protokoll über die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen vom Dezember 1973 festgehal-



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schaftskooperation gestaltete sich die Intensivierung der Kulturbeziehungen allerdings wesentlich schwieriger. Gründe hierfür waren zum einen, dass Budapest nicht wirklich von seinen früheren, auf eine stark einseitige Kulturrepräsentanz Ungarns in der Bundesrepublik angelegten Beschlüssen abgehen wollte, zum anderen die Sorge der ungarischen Führung, dass es durch westdeutsche Kulturaktivitäten in Ungarn zu einer ideologischen Aufweichung und zu einer Intervention der DDR, die das Monopol der deutschen Kulturvertretung in Ungarn beanspruchte, kommen könnte.116 Die wechselseitigen kulturellen Kontakte waren so in dieser Phase nur von kleineren Fortschritten gekennzeichnet und beschränkten sich auch weiterhin auf „politikfreie“ Bereiche wie Bildende Künste, Musik, Literatur, Rundfunk, Fernsehen, Film und Sport sowie auf den Austausch von Wissenschaftlern und Studenten im für Ungarn besonders interessanten technischen Bereich. (Stipendien für Geisteswissenschaftler waren zu dieser Zeit zwar nicht mehr ausgeschlossen, bildeten aber eine seltene, von der ungarischen Seite streng reglementierte und kontrollierte Ausnahme.) Auf einigen Gebieten wie zum Beispiel bei der Folklore nutzte Ungarn von nun an seine Möglichkeiten, eine finanziell einträgliche „Kulturpropaganda“ in der Bundesrepublik zu entfalten, besonders intensiv, während die westdeutschen Aktivitäten in Ungarn auf einzelne Veranstaltungen beschränkt blieben. Westdeutsche Initiativen, einen Beitrag zur Förderung der deutschen Sprache in Ungarn zu leisten – und dadurch den Alleinvertretungsanspruch der DDR in diesem Bereich aufzubrechen –, waren demgegenüber zum Scheitern verurteilt.117 Nach Abschluss des Kulturabkommens vom Juli 1977,118 das bezeichnenderweise erst im April 1978 in Kraft trat, kam es aber zumindest zur erstmaligen gegenseitigen Abhaltung von größeren Kulturwochen, so im Januar 1979 in München und ein Jahr später in Budapest. Der Kulturaustausch bildete aber weiterhin – trotz der Bemühungen der Bundesrepublik, eine deutsch-deutsche „kulturelle Doppelrepräsentation“ in Ungarn herbeizuführen und das Prinzip der Reziprozität der westdeutsch-ungarischen Kulturbeziehungen durchzusetzen119 – das „Stiefkind“ der bilateralen Beziehungen, das weit hinter der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit zurückblieb.

ten worden. Ausführlich zu den deutsch-ungarischen Kulturbeziehungen zwischen 1949 und 1990 siehe Andreas Schmidt-Schweizer, Im Spannungsfeld von Kaltem Krieg und Deutscher Frage. Die Kulturbeziehungen zwischen der Volksrepublik Ungarn und den beiden deutschen Staaten (1949–1989) (in Vorbereitung). 116  Auswärtiges Amt, Bonn. Bericht über die deutsch-ungarischen Kulturbeziehungen vom 2. September 1974 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 112.677, ohne Paginierung). 117  Auswärtiges Amt, Bericht zu den deutsch-ungarischen Kulturbeziehungen vom März 1978 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 116.597, ohne Paginierung). 118  Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ungarischen Volksrepublik über kulturelle Zusammenarbeit (Bundesgesetzblatt Nr. 29, 16. Juni 1978, S. 879–880). 119  Zusammenfassend zu den außenkulturpolitischen Vorstellungen der Bundesrepublik in diesen Jahren siehe Reinhard Schlagintweit, Auswärtige Kulturpolitik und Außenpolitik. In: German For-

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3.8 K  ontaktpflege während des „Zweiten Kalten Krieges“ und der weltwirtschaftlichen Rezession (1979 bis 1986) Nachdem sich bereits in den vorangegangenen Jahren ein Stocken des Helsinki-Prozesses offenbart hatte und es zu wachsenden Spannungen im Ost-West-Verhältnis gekommen war, begann im Dezember 1979 mit dem NATO-Doppelbeschluss und der sowjetischen Intervention in Afghanistan eine neue „Eiszeit“ im Ost-West-Verhältnis, der sogenannte Zweite Kalte Krieg.120 Die angespannte Situation verschärfte sich in den folgenden Jahren durch die Polenkrise 1980/1981, durch den Beginn der Stationierung amerikanischer Raketen in Westeuropa im Zuge der „Nachrüstung“ der NATO und durch das SDI-Vorhaben der USA 1983/1984. Der „kalte“ Konflikt zwischen den Großmächten, der nach der AfghanistanIntervention offen in Erscheinung trat, führte Anfang 1980 auch zu Störungen an der „Oberfläche“ der westdeutsch-ungarischen politischen Beziehungen. Nachdem die ungarische Führung im Januar 1980 noch gehofft hatte, dass die – immer bedeutsameren – Beziehungen Ungarns zum Westen durch diese Geschehnisse nicht wesentlich beeinflusst würden, trat die sowjetische Führung Ende des Monats mit dem „Ersuchen“ an Ungarn heran, seine Beziehungen zum Westen auf höherer Ebene „einzufrieren“.121 Infolge des sowjetischen Drucks kam es zur demonstrativen Absage des für Februar 1980 geplanten Besuchs von Außenminister Frigyes Puja in Bonn,122 die politischen Kontakte wurden aber – hinter den Kulissen – selbst in dieser kritischen Phase der Weltpolitik auf höchster Ebene weitergeführt: Im Februar fand ein Briefkontakt zwischen János Kádár und Bundeskanzler Helmut Schmidt bzw. Willy Brandt, Vorsitzender der SPD und der Sozialistischen Internationale, statt. In seinem Schreiben, auf das beide westdeutsche Politiker positiv reagierten, unterstrich der ungarische Parteichef seinen Willen, auch in dieser schwierigen weltpolitischen Situation und selbst im Falle von grundlegenden Meinungsverschiedenheiten, den

eign Affairs 24 (1974), H. 3, S. 255–269; Hans Arnold, Kulturpolitik. Ein Überblick aus deutscher Sicht. München/ Wien 1980. 120  Der Begriff „Zweiter Kalter Krieg“ wurde im April 1981 von dem Historiker Hartmuth Soell in einem Essay in Der Spiegel (Nr. 15/1981, 6. April 1981, S. 48–49) verwendet. Ausführlich zum Zweiten Kalten Krieg siehe Gaddis, The Cold War, S. 243–292; Philipp Gassert/ Tim Geiger/ Hermann Wentker (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive. München 2011. 121  Zum sowjetisch-ungarischen Verhältnis in den Monaten nach der Afghanistan-Intervention bzw. zu den Interessengegensätzen zwischen beiden Staaten siehe Békés, Magyar külpolitika a szov­ jet szövetségi rendszerben, S. 156–164. 122  Der Absage des Puja-Besuchs war eine intensive Diskussion innerhalb der ungarischen Führung über den zu verfolgenden außenpolitischen Kurs gegenüber dem Westen bzw. über die Reaktion auf das sowjetische „Ersuchen“ vorausgegangen. Ein Machtwort Kádárs, der das Politbüro Ende Januar 1980 eindringlich an die Vormachtrolle der Sowjetunion erinnerte, beendete die Diskussion schließlich (siehe hierzu Békés, Európából Európába, S. 267–269).



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unmittelbaren Dialog zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten aufrechtzuerhalten.123 Bundeskanzler Schmidt betonte in seiner mündlichen Antwort sogar, dass es nun an den Staaten West- und Osteuropas – also insbesondere an Bonn und Budapest – liege, nicht in den von den beiden Supermächten provozierten Kalten Krieg hineingezogen zu werden.124 Damit verdeutlichte Schmidt auch, dass Bonn grundsätzlich nicht bereit war, seine bisherige Entspannungspolitik einer unbedingten Solidarität gegenüber Washington unterzuordnen.125 Hinter dieser Position beider Seiten verbarg sich letztlich eine politische „Interessengemeinschaft“, die dadurch gekennzeichnet war, dass sie „die Errungenschaften der Entspannungspolitik und des Helsinki-Prozesses bewahren wollten. Sie hatten nämlich erkannt, dass die Hauptverlierer der neuerlichen Phase des Kalten Krieges, die mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen begonnen hatte, nicht die Supermächte sein würden, sondern gerade die an beiden Seiten des Eisernen Vorhangs gelegenen Staaten […].“126

Selbstverständlich ging es hierbei aber nicht nur um politisch-diplomatische Interessen, sondern ganz besonders auch um die „handfesten“ Wirtschaftsinteressen. Aufgrund der Tatsache, dass die Kontakte zum Westen und vor allem zur Bundesrepublik für Ungarn mittlerweile zu einer Frage von existenzieller wirtschaftlichfinanzieller Bedeutung geworden waren, setzte sich die ungarische Führung – nach intensiven innerparteilichen Diskussionen – in den folgenden Monaten gegenüber Moskau mit Nachdruck und schließlich, im Sommer 1980, erfolgreich dafür ein, seine Westbeziehungen ungestört aufrechterhalten und weiterentwickeln zu können.127

123  Zum Wortlaut der Korrespondenz siehe Tibor Huszár (Hrsg.), Kedves, jó Kádár elvtárs! Válogatás Kádár János levelezéséből 1954–1989 [Lieber, guter Genosse Kádár! Auswahl aus der Korrespondenz János Kádárs 1954–1989]. Budapest 2002, S. 548–553. 124  Magyar Szocialista Munkáspárt. Központi Bizottság. Külügyi Osztály. Tájékoztató a Politikai Bizottság és a Titkárság tagjai részére. Helmut Schmidt kancellár szóbeli válasza Kádár János elvtárs levelére [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei. Zentralkomitee. Außenpolitische Abteilung. Information für die Mitglieder des Politbüros und des Sekretariats. Mündliche Antwort von Kanzler Helmut Schmidt auf den Brief von Genossen János Kádár] [14. Februar 1980] (MNL OL, 288.f.11/4512. ő. e., fol. 70–73); siehe auch Békés, Európából Európába, S. 273. 125  Diese Haltung traf auch für das Verhältnis zwischen Bonn und Warschau zu (siehe hierzu Burkhard Olschowsky, Relations between the Federal Republic of Germany and the People’s Republic of Poland in the view of Political Changes at the End of the 1980’s. In: Remembrance and Solidarity. Studies in 20th Century European History, Nr. 3. Warschau 2014, S. 243–266, hier S. 243–244). 126  Peisch, Soha nem felejtjük el nektek…, S. 45. 127  Siehe hierzu Békés, Európából Európába, S. 269–273. Im Mai 1980 hatte sich Kádár auf einer Sitzung der Warschauer-Pakt-Staaten offen für den Erhalt und Ausbau der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zum Westen ausgesprochen, gleichzeitig aber auch für eine Stärkung des östlichen Bündnisses plädiert. Zur doppelten Ausrichtung der Kádár’schen Außenpolitik in dieser Phase siehe Földes, Kádár János külpolitikája, Bd. 2, S. 298–299.

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Auch in den folgenden Jahren entwickelte die ungarische Diplomatie so – im Zeichen einer „sich vorsichtig verselbstständigenden Außenpolitik“128 – rege Aktivitäten in Richtung westlicher Staaten129 und Institutionen,130 wobei ihr zugutekam, dass die überalterte und mehrfach wechselnde sowjetische Führung die Kontrolle über die verbündeten Staaten nur in eingeschränktem Maße wahrnahm.131 Auch wenn die westdeutsch-ungarische Besuchsdiplomatie auf der staatlichen Ebene in diesen Jahren an Schwung verlor, blieb die Bundesrepublik doch der wichtigste politische und wirtschaftliche Partner Ungarns im Westen. Diese herausragende Rolle zeigte sich besonders daran, dass die Kontakte der Außenministerien beider Staaten bald wieder in Gang kamen. So holte Frigyes Puja bereits im September 1980 seinen Anfang 1980 abgesagten Besuch in die Bundesrepublik nach, und in den folgenden Jahren statteten sich die Chefs der Außenressorts (Hans-Dietrich Genscher, Frigyes Puja bzw. seit Juli 1983 sein Nachfolger Péter Vár­ konyi) mehrere gegenseitige Besuche ab132 und erörterten dabei – neben Fragen der Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen – das gespannte Ost-West-Verhältnis. Von besonderer Symbolkraft für das weiterhin gute politische Verhältnis war, dass die Kontakte auch auf höchster Ebene während dieser schwierigen Jahre weitergeführt wurden. Ende April 1982 fand so der zweite offizielle Staatsbesuch von Parteichef János Kádár in der Bundesrepublik statt. Während dieses Besuchs, dem ersten Treffen zwischen hochrangigen Politikern der NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten seit der Proklamation des Kriegsrechts in Polen im Dezember 1981, legten beide Seiten in einer betont freundschaftlichen Atmosphäre offen ihre – konträren – Positionen bezüglich der Notwendigkeit des Kriegszustands in Polen sowie hinsichtlich des NATO-Doppelbeschlusses bzw. des Rüstungsgleichgewichts in Europa dar. Gleichzeitig bekräftigten sie aber erneut ihre Dialogbereitschaft und ihren festen Willen, die

128  Romsics, Magyarország története, S. 519. 129  Abgesehen von den – noch zu erwähnenden – westdeutsch-ungarischen Gipfeltreffen kam es in der ersten Hälfte der 1980er Jahre zu Besuchen von János Kádár in Frankreich (Oktober 1984), Großbritannien (November 1985) und Österreich (Dezember 1985). Einer Einladung nach Ungarn folgten in diesen Jahren – unter anderen – der französische Staatspräsident François Mitterrand (Juli 1982), der amerikanische Vizepräsident George Bush (September 1983), die britische Premierministerin Margaret Thatcher (Februar 1984), der belgische Ministerpräsident Wilfried Martens (November 1984), der italienische Regierungschef Bettino Craxi (April 1985) und der österreichische Bundeskanzler Fred Sinowatz (September 1985). Zu den zahlreichen Besuchen und Gegenbesuchen auf der Außenministerebene siehe Nagy (Hrsg.), Magyar Külpolitika 1956–1989, S. 148–213. 130  In Bezug auf Letzteres sei auf den Beitritt Ungarns zum Internationalen Währungsfonds und zur Weltbank im Jahre 1982 verwiesen (näheres hierzu siehe Földes, Kádár János külpolitikája, Bd. 2, S. 321–333, S. 344–348). 131  Siehe hierzu Szabó, A magyar külpolitika története, S. 321–324. 132  Im November 1982 und Juni 1985 besuchte Genscher Budapest, im Dezember 1983 Péter Várkonyi Bonn.



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bilateralen Beziehungen trotz der Ost-West-Spannungen weiter auszubauen.133 Der im Juni 1984 erfolgende Gegenbesuch bzw. der erste Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Ungarn konnte zwar ebenso zu keiner Annäherung hinsichtlich der Fragen des Ost-West-Verhältnisses führen, er verlief aber erneut betont freundschaftlich und demonstrierte den beiderseitigen Willen, die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen weiter auszubauen sowie die akuten Ost-West-Spannungen zu überwinden.134 In drei Bereichen erfuhren die bilateralen Beziehungen während des Zweiten Kalten Krieges sogar eine substanzielle Ausweitung. Der erste Bereich betraf die bundesdeutsche Unterstützung eines internationalen Anliegens der ungarischen Seite: Vor dem Hintergrund seiner Wirtschaftsprobleme unternahm Budapest seit 1981 den Versuch, als erstes RGW-Land offizielle Beziehungen zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aufzunehmen und ein Handelsabkommen mit der EWG abzuschließen.135 Dieser Schritt sollte vor allem dem Zweck dienen, den Zugang Ungarns zum europäischen Markt zu erleichtern. Während Bundeskanzler Helmut Schmidt diesen Bestrebungen skeptisch gegenüberstand und Kádár bei seinem Bonn-Besuch im Frühjahr 1982 von dem – seiner Meinung nach mit Blick auf Moskau übermäßig gewagten – Vorhaben abriet, führte der Regierungswechsel Anfang Oktober 1982 in der Bundesrepublik zu einem grundlegenden Wandel, da der neue Bundeskanzler Helmut Kohl den Budapester Plänen durchaus aufgeschlossen gegenüberstand.136 Bei seiner Ungarn-Visite 1984 sagte Kohl den Ungarn sogar eine aktive Unterstützung der Bundesrepublik in dieser Frage zu und hielt – wie noch zu zeigen sein wird – bis zum Abschluss des Abkommens 1988 auch an dieser Politik fest. Bonn übernahm damit letztlich die Rolle eines „trojanischen Pferds“ für Ungarn, um in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft „einzubrechen“.137 Zweitens kam es zu vermehrten Kontakten zwischen ungarischen Politikern und führenden Politikern aus den Bundesländern (Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen), und drittens fanden nun –

133  Vermerk über das Gespräch von Helmut Schmidt mit dem Ersten Sekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei János Kádár am 27. April 1982. In: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1982, Bd. 1. München 2013, S. 627–641; siehe auch Földes, Kádár János külpolitikája, Bd. 2, S. 349–350. 134  Siehe hierzu die – in die Hände der ungarischen Staatssicherheit gelangte – Aufzeichnung der Österreichischen Botschaft in Budapest an das Wiener Außenministerium vom 27. Juni 1984 über den offiziellen Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Ungarn vom 21. bis 23. Juni 1984 (ÁBTL, 1. 11. 4. D – V/1983, fol. 11–17); siehe auch Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Ministerpräsident Lázár in Budapest, 21. Juni 1984. In: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1984, Bd. 1. Berlin/ München/ Boston 2015, S. 827–837. 135  Siehe hierzu Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 20; [István Horváth], Bizalmas jelentés a legfelsőbb vezetésnek az EGK-kapcsolatokról [Vertraulicher Bericht für die oberste Führung über die Beziehungen zur EWG] [März 1981] (ebenda, S. 103–112). 136  Siehe hierzu Horváth/ Németh, …és a falak leomlanak, S. 170–176, S. 181–212; Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 21–28; Peisch, Soha nem felejtjük el, S. 46. 137  Vgl. Földes, Kádár János külpolitikája, S. 481.

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natürlich auch mit dem Regierungswechsel vom Oktober 1982 verbunden – vermehrt Besuche von christlich-konservativen Politikern statt, darunter der CDU-Politiker und stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Volker Rühe.138 Bei den bilateralen politischen Kontakten spielten damals überdies die Treffen von SPD-Politikern und Funktionären der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, auch nach dem Sturz der sozialliberalen Koalition Anfang Oktober 1982, eine besondere Rolle.139 In diesem Zeitraum erfolgten zahlreiche Besuche von führenden sozialdemokratischen Politikern in Ungarn, darunter von Parteichef Willy Brandt und Vorstandsmitglied HansJochen Vogel. 1983 fand überdies ein „Privatbesuch“ von Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt statt. Auf ungarischer Seite traten vor allem die ZK-Mitarbeiter Gyula Horn, János Berecz, András Gyenes, László Ballai und Mátyás Szűrös – in der Bundesrepu­ blik oder in Ungarn – in Kontakt zu den westdeutschen Sozialdemokraten.140 Der politische Austausch zwischen der Bundesrepublik und Ungarn in dieser Phase konnte selbstverständlich auch weiterhin die Ost-West-Spannungen, die in erster Linie einen Konflikt zwischen Washington und Moskau darstellten, nicht lösen. Er trug aber, begleitet von den – angesprochenen – weiteren nach Westen gerichteten Aktivitäten Ungarns dazu bei, dass der Dialog zwischen beiden Blöcken nicht vollständig zum Erliegen kam.141 Die entspannte politische Atmosphäre zwischen Bonn und Budapest, die sich in auch dieser Phase offenbarte, wirkte sich zudem positiv auf die Wirtschaftsbeziehungen in diesen konfliktreichen, durch eine weltweite ökonomische Rezession gekennzeichneten Jahren sowie auf die zukünftigen politischen Beziehungen aus.

138  Siehe hierzu Nagy (Hrsg.), Magyar külpolitika 1956–1989, S. 148–213; Magyar Külpolitikai Év­ könyv 1980 [Ungarisches Außenpolitisches Jahrbuch 1980]. Budapest 1981. 139  Siehe hierzu István Simon, Bal-kísértés. A kádári külpolitika és a nyugati szociáldemokrácia [Linke Versuchung. Die Kádár‘sche Außenpolitik und die westliche Sozialdemokratie]. o. O. [Budapest] 2011. 140  Auf Einladung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands besuchten bereits Mitte März 1980 Gyula Horn, Mitarbeiter in der außenpolitischen Abteilung des Zentralkomitees, und János Hoós, Mitarbeiter in der ZK-Abteilung für Wirtschaftspolitik, die Bundesrepublik, wo sie mit führenden Vertretern der SPD (unter anderen mit Herbert Wehner, Egon Bahr und Horst Ehmke) wirtschaftspolitische Fragen und die internationale Lage erörterten. Dieses Treffen zeigte deutlich die Absicht der ungarischen Führung, die bilateralen Kontakte – nach der Absage des Puja-Besuchs – vorübergehend zumindest auf der Ebene der Parteikontakte fortzuführen. 141  Auch wenn Kádár gegenüber Kohl Mitte 1984 hervorhob, er wolle keine „Dolmetscherrolle“ zwischen Ost und West spielen, so steht außer Zweifel, dass die ungarische Seite Moskau genau über die Unterredungen informierte und Bonn ebenso Washington unterrichtete. Zur „Dolmetscher“-Äußerung Kádárs siehe Aufzeichnung der Österreichischen Botschaft in Budapest an das Wiener Außenministerium vom 27. Juni 1984 über den offiziellen Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Ungarn vom 21. bis 23. Juni 1984 (ÁBTL, 1. 11. 4. D – V/1983, fol. 11–17). Gegenüber internationalen Finanzexperten hatte sich Kádár zwei Jahre zuvor durchaus positiv zur Vermittlerrolle seines Landes geäußert: „Wir hatten keine solchen Aspirationen, aber es ist so gekommen, dass wir ein wenig zum Treffpunkt von Ost und West wurden. Ich glaube, die Welt braucht ein solches Land.“ (Kádár zitiert in Földes, Kádár János külpolitikája, Bd. 2, S. 348).



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Auf der Ebene der Wirtschaftsbeziehungen erfolgten bereits im Frühjahr/ Sommer 1980 mehrere Treffen, die das Interesse beider Seiten deutlich machten, die Wirtschaftskontakte trotz der widrigen weltpolitischen Umstände nicht nur fortzusetzen, sondern weiterzuentwickeln.142 So kam es – unter anderem – zu Besprechungen zwischen dem einflussreichen Kanzlerberater und Vorsitzenden der Krupp-Stiftung Berthold Beitz mit Ministerpräsident György Lázár und ungarischen Wirtschaftspolitikern, zur Reise einer ungarischen Delegation unter Leitung des stellvertretenden Industrieministers auf die Internationale Hannover Messe im April 1980 und zu Besuchen des bayerischen und des hessischen Wirtschaftsministers auf der Budapester Internationalen Messe im Juni 1980. Darüber hinaus erfolgte im Mai 1980 ein Besuch von Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff in der ungarischen Hauptstadt,143 im August 1980 schloss sich die Budapest-Visite von Bundeslandwirtschaftsminister Josef Ertl an, und schließlich kam es auch zu einem ungarischen Ministerbesuch in der Bundesrepublik, nämlich des Ministers für Bauwesen und Stadtentwicklung Kálmán Ábrahám. Ein deutliches Zeichen zugunsten der Weiterentwicklung der Wirtschaftsbeziehungen setzte auch die westdeutsche Wirtschaft: Im Sommer 1980 eröffnete der Siemens-Konzern ein Büro in Budapest. Die von beiden Seiten unternommenen Anstrengungen führten letztlich dazu, dass der Handel auch in dieser Phase einen Zuwachs verzeichnen konnte. Sein Gesamtvolumen stieg von 4.013 Millionen DM im Jahre 1980 auf 5.304 Millionen DM im Jahre 1985, also um rund 13 Prozent.144 (Dies bedeutete, dass der Anteil der Bundesrepublik am gesamten ungarischen Handel nun etwa 9 Prozent und der Anteil Ungarns am westdeutschen Handel etwa 0,6 Prozent ausmachte.) Die Tatsache, dass die Steigerung deutlich niedriger als in der vorherigen Periode ausfiel und das Volumen zweimal sogar leicht rückläufig war (1982 und 1983), war weniger auf den Zweiten Kalten Krieg und die strengere Einhaltung der sogenannten CoCom-Liste145 zurückzuführen, sondern vor allem auf die ungünstigen weltwirtschaftlichen Ent-

142  Siehe hierzu Lipovecz, Economic Relations, S. 143. 143  Der Besuch des Bundeswirtschaftsministers diente nicht nur der Weiterentwicklung der Wirtschaftsbeziehungen, sondern Lambsdorff führte auch mit Außenminister Frigyes Puja und Ministerpräsident György Lázár Gespräche über die angespannte internationale Situation. Nach dem Besuch stellte die bundesdeutsche Botschaft in Budapest in einem Fernschreiben fest: „Nach allem, was [die] Botschaft inzwischen erfahren konnte, wurde [der] Ungarnbesuch des Bundesministers für Wirtschaft von [der] ungarischen Führung in hohem Maße und dankbar begrüßt. Er fiel zeitlich zusammen mit [einer] Reihe von demonstrativen Bekundungen einer Politik der ‚Weiterentwicklung bilateraler Kontakte mit [den] westlichen Ländern‘.“ (Fernschreiben der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt in Bonn vom 29. Mai 1980; PA AA, AV Neues Amt, Bd. 10.270, ohne Paginierung). 144  Laut Angaben des Statistischen Bundesamts für die Jahre 1980 bis 1985. 145  Bei der CoCom-Liste handelt es sich um die Embargoliste des 1951 von den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten gegründete Coordinating Committee for East West Trade Policy. Auf dieser Liste waren Artikel aufgeführt, die militärischen Zwecken dienten bzw. dienen konnten und deshalb nicht in die Länder des Ostblocks exportiert werden durften.

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wicklungen und die Ungarn betreffenden EG-Handelsbarrieren. (Ende 1984 fielen 45 Prozent der ungarischen Warenlieferungen in die Bundesrepublik in Bereiche mit EGMengenbeschränkungen.146) Wie bisher war die Entwicklung des Handels auch jetzt durch eine negative Bilanz Ungarns gekennzeichnet. Eine – insbesondere längerfristig gesehen – positive Tendenz offenbarte sich währenddessen bei der westdeutsch-ungarischen Unternehmenskooperation. Auf diesem Gebiet war es in der ersten Hälfte der 1980er Jahre zu einer schwungvollen Weiterentwicklung gekommen, sodass Ende 1984 bereits 332 Kooperationsvereinbarungen existierten, die sich auch positiv auf den Handelsumsatz auswirkten. Für eine weitere Zunahme der Kooperationen schuf die Verlängerung des Abkommens über wirtschaftliche, industrielle und technische Zusammenarbeit am 13. August 1984 für weitere zehn Jahre günstige Voraussetzungen. Und schließlich entwickelte sich in dieser Phase auch eine erste Zusammenarbeit beider Länder auf Drittmärkten, der vor allem ungarischerseits „große Perspektiven“ zugeschrieben wurden.147 Parallel zur Entwicklung der bilateralen Handelsbeziehungen zeichnete sich in der ersten Hälfte der 1980er Jahre auch ein neues Kooperationsfeld ab, nämlich der Bereich der finanziellen Zusammenarbeit. Die Kooperation in diesem Bereich war für Ungarn, das sich im vorangegangenen Jahrzehnt stark verschuldet hatte und 1981/1982 an die Schwelle zur Zahlungsunfähigkeit geriet, von besonderer Bedeutung.148 Im Vorfeld des Kádár-Besuchs 1982 gelang es Ungarn – trotz der damaligen westdeutschen Zurückhaltung bei der Kreditvergabe vor dem Hintergrund der politischen und sozioökonomischen Entwicklungen in Polen –, einen für den Erhalt der Zahlungsfähigkeit Ungarns dringend benötigten 100-Millionen-Kredit von westdeutschen Banken zu erwirken. Ein weiterer Kredit in dieser Höhe wurde vorbereitet.149

146  KB Gazdaságpolitikai Osztály. Feljegyzés Ballai László elvtárs részére: tájékoztató a magyar– NSZK gazdasági kapcsolatokról [ZK-Abteilung für Wirtschaftspolitik. Aufzeichnung für Genossen László Ballai: Informationen über die ungarisch-westdeutschen Wirtschaftsbeziehungen] [5. Dezember 1984] (MNL OL, 288.f.32/1984/74. ő. e. (NSZK/1984/A), fol. 277–288, hier fol. 279.). 147  KB Gazdaságpolitikai Osztály. Feljegyzés Ballai László elvtárs részére: tájékoztató a ma­ gyar–NSZK gazdasági kapcsolatokról [ZK-Abteilung für Wirtschaftspolitik. Aufzeichnung für Genossen László Ballai: Informationsbericht über die ungarisch-westdeutschen Wirtschaftsbeziehungen] [5. Dezember 1984] (MNL OL, 288.f.32/1984/74. ő. e. (NSZK/1984/A), fol. 277–288, hier fol. 283–285). 148  Ausführlich zur ungarischen Verschuldungsproblematik siehe Attila Mong, Kádár hitele. A magyar államadósság története 1956–1990 [Kádárs Kredit. Geschichte der ungarischen Staatsschulden 1956–1990]. Budapest 2012; Péter Mihályi, A magyar gazdaság útja az adósságválságba 1945–2013 [Der Weg der ungarischen Wirtschaft in die Schuldenkrise 1945–2013]. Budapest 2013. 149  Kádár János elvtárs szóbeli tájékoztatója bonni megbeszéléseiről /Politikai Bizottság, 1982. április 29./ [Mündliche Information von Genossen János Kádár über seiner Bonner Gespräche (Politbüro, 29. April 1982)] (MNL OL, 288. f.5/852. ő. e., fol. 94–113, hier fol. 104). Versuche der polnischen Führung, bundesdeutsche Kredite zu erwirken, wurden in dieser Phase von Bonner Seite demgegenüber – unter Hinweis auf die fehlenden ökonomischen Rahmenbedingungen – zurückgewiesen



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Bei den bilateralen Kulturkontakten offenbarte sich in den Jahren von Ende 1979 bis Sommer 1985, auch nach der Konstituierung der – bereits im Kulturabkommen von 1977 vorgesehenen – Gemischten Kommission für Kulturfragen im September 1981, wenig Neues.150 Ungarn nutzte weiterhin das offene kulturelle System der Bundesrepublik, um dort möglichst viele – politischen und finanziellen Gewinn versprechende – Veranstaltungen durchzuführen, während die Bundesrepublik auch in dieser Phase in der Regel jährlich nur eine größere Veranstaltung in Ungarn abhalten konnte, so zum Beispiel eine Bücherausstellung in Budapest und Pécs im Jahre 1982. Der Unterricht der deutschen Sprache in Ungarn und die kulturelle Versorgung der deutschen Minderheit lagen auch in diesem Zeitraum fest in ostdeutschen Händen. Und dem von Bonn – auch beim Ungarn-Besuch von Bundeskanzler Kohl im Sommer 1984 – verfolgten Anliegen, eine Vereinbarung über die gegenseitige Errichtung von Kulturzentren zu erreichen, war vorerst kein Erfolg beschieden. Erst das im Oktober/ November 1985 in Budapest abgehaltene Europäische Kulturforum, das eine erstaunlich weitgehende kulturelle Westöffnung Ungarns demonstrierte, brachte auch neuen Schwung in die ungarisch-westdeutschen Kulturbeziehungen. Während des Kulturforums, das – ganz im Sinne der Schlussakte von Helsinki – im Zeichen der kulturellen Zusammenarbeit und des Dialogs in Europa stand und ohne spektakuläre Repressionsmaßnahmen gegen die – besonders aktiven – oppositionellen Teilnehmer ablief,151 konnte – neben der DDR – bekanntlich auch die Bundesrepublik zahlreiche kulturelle Aktivitäten entfalten.

(vgl. Olschowsky, Relations between the Federal Republic of Germany and the People’s Republic of Poland, S. 244). 150  Bericht der ungarischen Staatssicherheit (Innenministerium, Abteilung III/I) vom 11. Mai 1983, der auf einer Auswertung der bundesdeutschen Botschaft in Budapest über den westdeutsch-ungarischen Kulturaustausch des Jahres 1982 beruht (ÁBTL, 1. 11. 4. D – V/1983, fol. 2–5). 151  Wie zurecht festgestellt wurde, musste Ungarn während des Forums gegenüber dem Westen seine liberale politische und kulturelle Praxis demonstrieren und gegenüber dem Osten zeigen, dass es die Entwicklungen, auch die Austragung kulturell-ideologischer Konflikte, kontrollierte. Dementsprechend plädierte Kádár dafür, dass sich die staatlichen Organe weitgehend zurückhalten und nur für die Einhaltung der „ungarischen Gesetze“ gegenüber den Teilnehmern sorgen sollten (siehe hierzu Földes, Kádár János külpolitikája, S. 465–466). Näheres zum Europäischen Kulturforum 1985 und den gleichzeitigen oppositionellen Aktivitäten siehe Rolf Müller, Európai Kulturális Fórum és ellenfórum [Europäisches Kulturforum und Gegenforum]. Budapest 2005; Az MSZMP KB Politikai Bizottságának határozata az Európai Kulturális Fórum tapasztalatairól (1985. december 3.) [Beschluss des Politbüros des ZK der MSZMP über die Erfahrungen bezüglich des Europäischen Kulturforums (3. Dezember 1985)]. In: Henrik Vass (Hrsg.), A Magyar Szocialista Munkáspárt határozatai és dokumentumai 1985–1989 [Beschlüsse und Dokumente der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei 1985–1989]. Budapest 1994, S. 117–120.

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3.9 A  nfänge einer „neuen Qualität“ in den westdeutschungarischen Beziehungen (1986/1987) Nach dem Amtsantritt vom Generalsekretär Michail Gorbatschow im März 1985 begannen sich die internationalen Rahmenbedingungen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Ungarn allmählich grundlegend zu verändern.152 Auf dem Gipfeltreffen von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow in Genf im November 1985 und in Reykjavik im Oktober 1986 zeichnete sich zwar noch kein Durchbruch in den Ost-West-Beziehungen, aber doch eine beginnende Entspannung zwischen den Großmächten ab. Darüber hinaus trat nun – parallel zu den einsetzenden innenpolitischen Reformen in der Sowjetunion („Glasnost und Perestroika“) – auch eine schrittweise Veränderung im Verhältnis zwischen der Blockvormacht und ihren Verbündeten ein. Dieser Wandel ging erstmals aus einer Rede Gorbatschows vom Mai 1986 hervor, in der er sich für mehr Respekt gegenüber den „Erfahrungen und Verdiensten“ der osteuropäischen Staaten und für weniger Bevormundung durch Moskau aussprach.153 Diese Entwicklung sollte schließlich Mitte 1988 in die Suspendierung154 der Breschnew-Doktrin über die beschränkte Souveränität der verbündeten Staaten münden. Vor diesem internationalen Hintergrund zeichnete sich im ersten Drittel des Jahres 1986 eine „Neuerwägung der westdeutsch-ungarischen Beziehungen“155 ab. Die Initiative hierzu ging von ungarischer Seite aus, wobei dahinter ganz offensichtlich wirtschaftlich-finanzielle Gründe standen.156 Bereits 1985, als die krisenhaften sozioökonomischen Entwicklungen (und ideologischen Widersprüche) in Ungarn immer deutlicher zutage getreten waren,157 waren in den ZK-Abteilungen für Außenund Wirtschaftspolitik Kräfte – darunter Gyula Horn und Miklós Németh – hervorgetreten, die sich für radikale Reformen in der ungarischen Wirtschaft und Politik sowie – damit verbunden – für eine substanzielle Ausweitung der Kontakte zum Westen,

152  Zur Politik der UdSSR unter dem neuen KPdSU-Generalsekretär siehe Brown, The Gorbachev Factor. 153  Ebenda, S. 242. 154  Der ungarische Historiker Csaba Békés spricht in diesem Zusammenhang von einem „Schwebenlassen“ der Breschnew-Doktrin (Békés, Magyar külpolitika a szovjet szövetségi rendszerben, S. 168). Auf der Parteikonferenz der KPdSU im Juni 1988 sollte eine entsprechende Ankündigung von Generalsekretär Gorbatschow erfolgen. 155  Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 46; siehe auch Horváth/ Németh, ...és a falak leomlanak, S. 213; Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf, S. 187 (hier ist von „Überdenken der Beziehungen“ die Rede). 156  In diesem Sinne bezeichnet György Földes diese Phase der ungarischen Außenpolitik – insbesondere auch in Hinblick auf den Westen – als „Außenpolitik des Krisenmanagements“ (Földes, Kádár János külpolitikája, S. 467). 157  Zusammenfassend siehe Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 37–40. Auf die Krisenerscheinungen in der Endphase der Ära Kádár und die Reaktionen der ungarischen Politik wird im folgenden Kapitel (Kapitel 4.1.) näher eingegangen.

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vor allem zur Bundesrepublik, einsetzten.158 In diesem Kreis spielte auch der neue ungarische Botschafter in Bonn István Horváth eine zentrale Rolle. Horváth baute nach seiner Amtsübernahme im Sommer 1984 nicht nur umfangreiche Kontakte zu maßgeblichen westdeutschen Politikern, Politikberatern und Wirtschaftsführern auf, sondern arbeitete auch für das ungarische Außenministerium eine Reihe von konkreten Vorschlägen zur Entwicklung der bilateralen Beziehungen aus.159 Unter den Empfehlungen Horváths, die bereits zuvor mit der westdeutschen Seite abgestimmt worden waren, befand sich unter anderem die Einladung von Bundespräsident Richard von Weizsäcker nach Ungarn, der weitere Ausbau der Beziehungen zu den Bundesländern, die Gründung von gemischten Unternehmen in Ungarn sowie der beschleunigte Abschluss der Vereinbarungen über Investitionsschutz und über wissenschaftlich-technologische Kooperation. Die von der ungarischen Führung verfolgten Vorhaben, also die Westöffnungspolitik und die ökonomischen Reformbestrebungen,160 fielen – auch vor dem Hintergrund einer relativ entspannten innenpolitischen Atmosphäre in Ungarn161 – in Bonn auf fruchtbaren Boden. Die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl hatte nämlich Mitte der 1980er Jahre, nach dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow in der Sowjetunion, ihrerseits beschlossen, eine aktivere Politik gegenüber den Staaten des sogenannten Ostblocks zu verfolgen und die Reformaktivitäten innerhalb des Warschauer Pakts zu unterstützen.162 Mit konkreten Bezug auf Ungarn erinnerte sich der außen- und sicherheitspolitische Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl Horst Teltschik diesbezüglich später folgendermaßen:

158  Hierzu und zum Folgenden siehe Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 23–48; Földes, Kádár János külpolitikája, S. 462–464. 159  Horváth István nagykövet jelentése Várkonyi Péter külügyminiszternek. Tárgy: Javaslatok a ma­ gyar–NSZK kapcsolatok továbbfejlesztésére [Bericht von Botschafter István Horváth an Außenminister Péter Várkonyi. Gegenstand: Vorschläge zur Weiterentwicklung der ungarisch-westdeutschen Beziehungen] [13. Mai 1985] (MNL OL 288.f.32/1985/84. ő. e., fol. 722–733); siehe auch Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 23–36. 160  Ausführlich hierzu siehe Berend, A magyar gazdasági reform útja, S. 367–439. Zur wirtschaftlichen Westöffnung siehe Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 11–22. 161  In diesem Zusammenhang sei zum Beispiel auf die Wahlrechtsreform von 1983, die eine obligatorische Kandidatur von zwei Kandidaten vorschrieb, verwiesen. Zu den politischen Reformen in Ungarn siehe Georg Brunner, Partei und Staat in Ungarn. In: Südosteuropa 33 (1984), H. 3/4, S. 155–196; Ferenc Majoros, Wahlrechtsreform in Ungarn (Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Bd. 57). Köln 1984. 162  Siehe hierzu Horst Teltschik, Az NDK eltűnéséhez vezető folyamatot Magyarország indította el [Den zum Verschwinden der DDR führenden Prozess brachte Ungarn in Gang]. In: András Heltai/ Ágnes Novák (Hrsg.), Elbeszélt történelem. Huszonöten a közép-kelet-európai demokratikus átmenetről [Erzählte Geschichte. Fünfundzwanzig über den demokratischen Übergang in Mittel-OstEuropa]. Budapest 2011, S. 221–231, hier S. 222.

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„Wir waren auch sehr interessiert, dass die Ungarn ihre Reformpolitik in Gang setzen, und wir versprachen ihnen von Anfang an: Wenn Ihr diesen Weg beschreitet, könnt Ihr wirtschaftlich, finanziell und politisch mit unserer Unterstützung rechnen.“163

Einen wesentlichen Grund für die westdeutsche Unterstützungsbereitschaft bildeten sicherlich die langfristigen Wirtschaftsinteressen der Bundesrepublik in dieser Region. Darüber hinaus führte Kanzlerberater Teltschik rückblickend noch zwei weitere Aspekte an: „Zuerst einmal sind demokratische Nachbarn besser als kommunistische. Zweitens sagten wir uns: Wenn diese Staaten, Polen, Ungarn und die Sowjetunion, selbst Reformen einführen, dann muss dies auch Auswirkungen auf die DDR haben. […] Dadurch, dass wir Ungarn und Polen helfen, dass wir mit Gorbatschow zusammenarbeiten, erhöhen wir den Druck auf die DDR.“164

Im Februar 1986 suchte Horst Teltschik, der auch in engem Kontakt zu Botschafter Horváth stand, in Budapest Gyula Horn, nun Staatssekretär im Außenministerium, auf.165 Teltschik äußerte gegenüber Horn, dass Bonn die Kooperation mit Ungarn weiter intensivieren wolle und gleichzeitig um ein besonderes Vertrauensverhältnis bemüht sei. Offenbar um ungarische Bedenken zu zerstreuen, Bonn wolle das „östliche Lager“ spalten, fügte er hinzu, „dass die BRD kein außergewöhnliches Verhältnis zu Ungarn entwickeln wolle […], das gegen die anderen Mitgliedsstaaten des WP ausgespielt werden könne.“166 Zweifellos war Bonn damals einerseits darum bemüht, keine unkalkulierbaren Störungen im östlichen Bündnis zu provozieren bzw. die europäische Stabilität zu gefährden, andererseits war man aber doch daran interessiert, mit Ungarn als „salonfähigstem Land des Ostblocks“167 möglichst enge bilaterale Beziehungen zu entwickeln und den Donaustaat in wirtschaftlicher Hinsicht enger mit dem sich vereinigenden Westeuropa zu verbinden.168 Mit

163  Ebenda. 164  Ebenda, S. 227. 165  Külügyminisztérium. Feljegyzés. Tárgy: Teltschik, az NSZK Kancellári Hivatal főigazgatójának látogatása [Außenministerium. Aufzeichnung. Gegenstand: der Besuch von Teltschik, Direktor im Kanzleramt der BRD] [13. Februar 1986] (MNL OL, 288.f.32/1986/95 ő. e., fol. 40–44). 166  Ebenda, fol. 40. Dass im Kreise der ungarischen Führung tatsächlich Bedenken über westliche Spaltungsabsichten bestanden, geht beispielsweise aus den Worten Kádárs auf der Politbüro-Sitzung am 15. November 1983 hervor: „Wir müssen daran denken […], dass sich unsere – insbesondere mit den entwickelten kapitalistischen Staaten notwendigerweise entwickelten und zu entwickelnden – politischen Beziehungen […] so gestalten, dass wir sie für unsere eigenen sozialistischen und Friedensbestrebungen ausnutzen können, und nicht, dass sie sich so entwickeln, dass die Imperialisten sie zugunsten ihrer eigenen Spaltungs- und Differenzierungsabsichten nutzen können. Darauf muss geachtet werden!“ (Kádár zitiert in Földes, Kádár János külpolitikája, Bd. 2, S. 409; siehe auch S. 404–405). 167  Békés, Európából Európába, S. 274. 168  Eine aktive „Aufweichung“ des politisch-militärischen sowjetischen Bündnissystems war von westdeutscher Seite sicherlich nicht bezweckt, da dies gerade die europäische Stabilität gefährdet hätte.

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der Absicht, letztere Ziele zu untermauern, hob Teltschik hervor, dass Bonn Ungarn in der Frage der Verhandlungen mit dem Gemeinsamen Markt über ein – wie gezeigt – von Budapest seit Jahren angestrebtes Handelsabkommen mit konkreten Schritten aktiv unterstützen werde, sich für eine Überprüfung der wegen der CoComListe verhinderten ungarischen Importe einsetzen wolle und beide Regierungen ihr Auftreten in allen Bereichen der Ost-West-Beziehungen aufeinander abstimmen und möglicherweise mit gemeinsamen Vorschlägen auftreten sollten. Im Frühjahr/ Sommer 1986 offenbarte sich schließlich, dass auch die oberste Führung um János Kádár – nicht zuletzt aufgrund der kritischen Wirtschafts- und Finanzlage – daran interessiert war, eine weitere Intensivierung der wechselseitigen Beziehungen zu akzeptieren.169 Die sich im Frühjahr/ Sommer 1986 abzeichnenden grundsätzlichen qualitativen Veränderungen im bilateralen Verhältnis wirkten sich selbstverständlich auch positiv auf die weitere Entwicklung der konkreten politischen Kontakte aus. Neben den Beziehungen, die auch während des Zweiten Kalten Kriegs auf der Ebene der Außenministerien und zwischen der SPD und der ungarischen Staatspartei intensiv weitergepflegt wurden, kam es nun insbesondere zu einer Reaktivierung der Kontakte zwischen den einzelnen Fachministerien und zu ihrer Ausweitung auf neue Bereiche (z. B. Forschung und Technologie, Umweltschutz und Inneres). Vor dem Hintergrund der rapide zunehmenden ungarischen Wirtschafts- und Finanzprobleme intensivierten sich seit Frühjahr 1986 vor allem auch die Beziehungen auf der Ebene der Wirtschafts- und Finanzfragen, wobei ungarischerseits nun allerdings weniger das Außenhandelsministerium die Hauptrolle spielte, sondern der – der Wirtschaftsreform und Westöffnung Ungarns aufgeschlossen gegenüberstehende – ZK-Sekretär für Wirtschaftspolitik Ferenc Havasi,170 der im Laufe des Jahres 1986 mehrmals mit bundesdeutschen Politikern verhandelte. Eine sprunghafte Zunahme der Gespräche zeigte sich auch zwischen Budapest und den Bundesländern. Hierbei spielten weiterhin Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen eine besondere Rolle.171 Im Frühjahr 1986 nahm überdies erstmals auch Rheinland-Pfalz offizielle Kontakte zu Ungarn auf. Bereits im April 1986, kaum zweieinhalb Monate nach dem Treffen von Gyula Horn und Horst Teltschik, unternahm die bundesdeutsche Seite einen entscheidenden Schritt bei der Unterstützung der ungarischen Bemühungen, ein Handelsabkommen mit der EWG abzuschließen. Nach intensiven Gesprächen mit dem ungarischen

169  Horn Gyula. Jelentés az 1986. április 16–18. közötti bonni konzultációkról [Gyula Horn. Bericht über die Bonner Konsultationen vom 16. bis 18. April 1986] [22. April 1986] (MNL OL, 288.f.32/1986/ 95. ő. e., fol. 99–108, hier fol. 107). 170  Zur Beurteilung der Politik von Havasi siehe Horváth/ Németh, …és a falak leomlanak, S. 163– 169, S. 200–204; Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf, S. 170–175, S. 193–195. 171  Siehe hierzu Nagy (Hrsg.), Magyar Külpolitika 1956–1989, S. 219–234.

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 Rückblick

Botschafter in Bonn István Horváth und einem „Erkundungsbesuch“ in Budapest172 verfasste der CDU-Politiker Axel Zarges, Abgeordneter des Europäischen Parlaments und Mitglied des Ausschusses für Außenwirtschaftsbeziehungen, einen Bericht „über die Handelsbeziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Ungarn“ für seinen Ausschuss.173 Der Bericht lieferte ein äußerst positives Bild über die Rolle Ungarns in der internationalen Politik, über seine Wirtschaftsreformen seit 1968174 sowie über den Prozess der politisch-gesellschaftlichen Liberalisierung, und empfahl schließlich, die Europäische Kommission solle Verhandlungen mit Ungarn über den Abschluss eines Handelsvertrages beginnen. Mitte Juni 1986 wurde der Bericht vom Ausschuss für Außenwirtschaft einstimmig verabschiedet und im September 1986 auch vom Europäischen Parlament angenommen, sodass wenig später die Gespräche zwischen Budapest und Brüssel beginnen konnten. Den Höhepunkt im bilateralen politischen Verhältnis dieser Phase bildete der spektakuläre Besuch von Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Ungarn Mitte Oktober 1986.175 Dieser stellte die erste Visite eines deutschen Staatsoberhaupts seit 1896 in Ungarn dar und hatte alleine schon deswegen besondere Symbolkraft. Der Besuch war aber auch hinsichtlich der ungarndeutschen Minderheit von grundlegender Bedeutung: Weizsäcker war der erste hohe westdeutsche Politiker, der – nach einem spontanen, informellen Treffen zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und Vertretern der ungarndeutschen Minderheit im Juni 1984176 – offiziell in Kontakt zu den Ungarndeutschen trat, die jahrzehntelang von Budapest und Bonn als offensichtlicher „Störfaktor“ aus den bilateralen Beziehungen „ausgeblendet“ worden

172  Siehe hierzu Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 39–41. 173  Report drawn up on behalf of the Committee on External Economic Relations on trade relations between the European Community and Hungary (European Parliament Working Documents, Series A, Document A 2-28/86, 21. April 1986). Zur Online-Publikation siehe http://aei.pitt.edu/1690/1/ hungary_A2_28_86.pdf (Zugriff: 10.10.2016); siehe auch Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 41–44; Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 41–42; Földes, Kádár János külpolitikája, S. 481–482. 174  Diesbezüglich stellte der Bericht fest, dass der Außenhandel in Ungarn zwar noch immer ein staatliches Monopol darstelle, es gebe allerdings keine verpflichtenden Plananweisungen mehr, die Unternehmen seien selbstständig, und die Preise würden nicht mehr staatlich festgelegt werden, weswegen es nicht mehr begründet sei, Ungarn als Staatshandelsland zu behandeln. 175  Zum Weizsäcker-Besuch und seinen Ergebnissen siehe Külügyminisztérium. Jelentés a Politikai Bizottságnak és az Elnöki Tanácsnak a Német Szövetségi Köztársasági elnökének látogatásáról [Außenministerium. Bericht für das Politbüro und den Präsidialrat über den Besuch des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland] [20. Oktober 1986] (MNL OL, 288. f.32/1986/ 93. ő. e. (NSZK/1986/B), fol. 226–236). 176  Wie aus dem – bereits behandelten – Bericht der österreichischen Botschaft in Budapest an das Wiener Außenministerium vom 27. Juni 1984 hervorgeht, war dieses ursprünglich nicht geplante, für die ungarische Seite – insbesondere mit Blick auf die DDR – heikle Treffen mit „5 bis 6 Vertretern“ der Ungarndeutschen durch die Berichterstattung eines bundesdeutschen Journalisten über den Verband der Ungarndeutschen, der sich – zurecht – von Bonn vernachlässigt fühlte, angeregt worden (ÁBTL, 1. 11. 4. D – V/1983, fol. 11–17, hier fol. 14–15).

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waren. Mit diesem Schritt, der sowohl von Botschafter István Horváth als auch von Ministerpräsident Lothar Späth angeregt worden war, stärkte er nicht nur die Position dieser Minderheit in Ungarn, sondern wies ihr erstmals auch eine faktische „Brückenfunktion“ in den westdeutsch-ungarischen Beziehungen zu. Im Zuge des WeizsäckerBesuchs kam es zudem zum ersten offiziellen Abschluss einer Städtepartnerschaft, nämlich zwischen Pécs (Fünfkirchen), dem Zentrum der deutschen Minderheit in Ungarn, und der baden-württembergischen Stadt Fellbach, in der sich zahlreiche ungarndeutsche Vertriebene niedergelassen hatten. Hinsichtlich der bilateralen Finanz- und Wirtschaftskontakte erfolgte bis Mitte 1987 eine Reihe grundlegender Verhandlungen, die – wie angesprochen – von ZKSekretär Ferenc Havasi mit seinen westdeutschen Partnern auf Bundes- und Landesebene geführt wurden. Im Mittelpunkt dieser Unterredungen standen – neben „traditionellen Themen“ wie das Problem der EG-Einfuhrbeschränkungen, das ungarische Handelsbilanzdefizit oder die Kreditfrage – die geplanten Maßnahmen und Ziele der ungarischen Wirtschaftsführung, die Möglichkeit der Gründung von gemischten Unternehmen in Ungarn sowie eine verstärkte Zusammenarbeit in den Bereichen Verkehr, Tourismus und – nach der Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 – bei der Frage der Sicherheit der Atomenergie. Hinter diesen besonderen ungarischen Bemühungen verbarg sich einerseits die Tatsache, dass Ungarn bei seinem im Herbst 1986 beginnenden intensiven Versuch, die Wirtschaftskrise zu überwinden und seine Ökonomie in marktwirtschaftlichem Geist zu restrukturieren,177 unbedingt auf die wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit und wohlwollende Unterstützung Bonns angewiesen war, andererseits zeigte nun auch die westdeutsche Wirtschaft aufgrund der schrittweisen ökonomischen Westöffnung Ungarns und seiner zunehmend marktwirtschaftlich orientierten Politik verstärktes Interesse an der Erschließung neuer Kooperations- und Expansionsmöglichkeiten. Die Handelsbeziehungen verzeichneten in den Jahren 1986 und 1987 allerdings keine positiven Tendenzen, sondern sogar einen leichten wertmäßigen Rückgang: Das Gesamtvolumen sank von 5.304 Millionen DM im Jahre 1985 auf 5.079 Millionen DM 1986 und 5.047 Millionen DM 1987.178 Das Grundproblem des westdeutschungarischen Handels, nämlich das ungarische Bilanzdefizit blieb – auch wegen der sinkenden Wettbewerbsfähigkeit der ungarischen Unternehmen, der für Ungarn ungünstigen Entwicklung der Weltmarktpreise und der weiter bestehenden Handelsbarrieren – sehr groß und nahm 1986 und 1987 mit einer Differenz von über 900 Millionen DM (1986) und von rund 740 Millionen DM (1987) gar dramatische Ausmaße an. Währenddessen kam es im Bereich der Gründung von gemischten Unternehmen in Ungarn im Frühjahr 1986 zu einem wichtigen Ereignis: Ende April 1986 schlossen

177  Näheres hierzu siehe das folgende Kapitel (Kapitel 4.1). 178  Laut Angaben des Statistischen Bundesamts.

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 Rückblick

beide Regierungen ein Investitionsschutzabkommen.179 Die positiven Auswirkungen dieser Maßnahme sollten sich allerdings erst Ende des Jahrzehnts – nach der Schaffung weiterer unverzichtbarer rechtlicher Rahmenbedingungen durch die ungarische Führung – offenbaren. Bei den bilateralen Kulturkontakten erfolgte in dieser Phase, nach langen Jahren der Stagnation, ein entscheidender Durchbruch. Bereits im April 1986 konnte Staatssekretär Horn seinen westdeutschen Gesprächspartnern signalisieren, dass Ungarn „gerne eine verstärkte Teilnahme der BRD bei der Befriedigung der kulturellen Bedürfnisse der deutschen Nationalität in Ungarn“ sehen würde,180 und das Politbüro gab – infolge der qualitativ neuartigen Beziehungen und als Signal hierfür – „grünes Licht“ für Verhandlungen über die Errichtung eines westdeutschen Kulturzentrums in Ungarn.181 Die – aus finanziellen Gründen vorerst einseitige – Errichtung eines Kulturinstituts sollte allerdings von Bonner Gegenleistungen begleitet werden, nämlich vom Abschluss eines Abkommens über wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit, von Visaerleichterungen und von einem Kredit für kulturelle Zwecke, d. h. für die Pflege der ungarndeutschen Kultur.182 Beim Besuch von Richard von Weizsäcker im Oktober 1986 wurde dann – wie bereits erwähnt – auch die grundsätzliche Entscheidung hinsichtlich der offiziellen Aufnahme von Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der ungarndeutschen Minderheit getroffen. Auch wenn die Errichtung von Kulturzentren erst im Oktober 1987, nach mehr als einjährigen Expertengesprächen,183 vertraglich besiegelt werden sollte und es erst zu diesem Zeitpunkt zu einer gemeinsamen Regierungserklärung bezüglich der Unterstützung der deutschen Minderheit und Sprache kommen sollte, so waren doch bereits im Frühjahr bzw. Herbst 1986 die Grundsatzentscheidungen bezüglich einer qualitativen Wende in den westdeutsch-ungarischen Kulturbeziehungen gefallen. Auch vor dem Hintergrund wachsender Spannungen zwischen der veränderungsfreudigen Budapester Führung und dem reformunfähigen Ostberliner Regime gab Budapest nun seinen

179  Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Ungarischen Volksrepublik über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen (Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode. Drucksache 11/26, 27. Februar 1987, S. 6–10). 180  Horn Gyula. Jelentés az 1986. április 16–18. közötti bonni konzultációkról [Gyula Horn. Bericht über die Bonner Konsultationen vom 16. bis 18. April 1986] [22. April 1986] (MNL OL, 288.f.32/1986/95. ő. e., fol. 99–108, hier fol. 107). 181  Jegyzőkönyv a Politikai Bizottság 1986. április 22-én megtartott üléséről [Protokoll über die Sitzung des Politbüros vom 22. April 1986] (MNL OL, 288.f.5/967. ő. e., fol. 13). 182  Schreiben von Botschafter István Horváth an Außenminister Péter Várkonyi vom 22. Mai 1986 (MNL OL, 288.f.32/1986/95. ő. e., fol. 186–192). 183  Die diesbezüglichen Gespräche hatten bereits im Frühsommer 1986 begonnen, wobei die westdeutsche Seite auf schnelle Ergebnisse gehofft hatte (Külügyminisztérium. Feljegyzés. Tárgy: NSZK nagykövet látogatása – NSZK kulturális intézet létesítése Budapesten [Außenministerium. Aufzeichnung. Besuch des BRD-Botschafters – Errichtung eines Kulturinstituts der BRD in Budapest] [21. Juli 1986]; MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 517–518).

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jahrzehntelangen Widerstand gegen eine kulturelle und sprachliche „Betreuung“ der Ungarndeutschen durch die Bundesrepublik und gegen eine breite sprachlich-kulturelle Präsenz der Bundesrepublik in Ungarn auf. Mit dieser Grundsatzentscheidung war es – dreizehn Jahre nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen – auch auf diesem Gebiet der bilateralen Beziehungen zu einer Normalisierung gekommen. Vor dem Hintergrund dieser sich über fast vier Jahrzehnte erstreckenden Entwicklungen, die in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht ein besonderes Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und Ungarn fundierten, leitete die Budapester Führung Mitte 1987 tiefgreifende wirtschafts-, gesellschafts- und innenpolitische Veränderungen ein. Diese sollten sich nicht nur in Bezug auf Ungarn selbst, sondern auch auf seine Außenbeziehungen, insbesondere auf das deutsch-ungarische Verhältnis, als äußerst folgenreich erweisen – und überdies bedeutende Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der „deutschen Frage“ haben.

4 D  ie politisch-diplomatischen Beziehungen zur Zeit der politischen Wende in Ungarn, der DDR-Flüchtlingswelle und des deutschen Vereinigungsprozesses (1987 bis 1990) 4.1 D  er Beginn der Wende in der ungarischen Politik und die westdeutsch-ungarischen Beziehungen (Sommer 1987 bis Herbst 1988) 4.1 4.1.1 Personelle und wirtschaftspolitische Veränderungen in Ungarn Während sich der internationale Entspannungsprozess im Laufe des Jahres 1987 weiter beschleunigte,1 die Sowjetunion unter Gorbatschow ihren innen- und wirtschaftspolitischen Reformkurs fortsetzte und Moskau seinen Verbündeten hinsichtlich ihrer Innen-, Wirtschafts- und Außenpolitik zunehmend freie Hand ließ,2 kam auch „neuer Wind“ in die ungarische Politik. Den Grund hierfür bildete in erster Linie die sich verschärfende, äußerst problematische Wirtschafts- und Finanzlage Ungarns bzw. die angestrengte Suche nach einem Ausweg aus der verfahrenen Situation. Die nun einsetzenden inneren Entwicklungen in Ungarn sollten sich auch wesentlich auf die weitere Gestaltung der westdeutsch-ungarischen Beziehungen auswirken. Bereits in den ersten Monaten des Jahres 1986 hatte sich innerhalb der ungarischen Führung wachsende Besorgnis über die wirtschaftliche Entwicklung des Landes gezeigt. Die Vorgaben des Mitte November 1985 verabschiedeten 7. Fünfjahresplans (für die Jahre 1986 bis 1990), der – sehr ambitioniert – als Hauptziele gleichzeitig die Verbesserung der ökonomischen Effizienz, die Beschleunigung des technischen Fortschritts, die Belebung des Wirtschaftswachstums und die Verbesserung

1  Dieser Prozess führte schließlich im Dezember 1987 zum Washingtoner Gipfel der Großmächte, auf dem es zu bedeutenden Abrüstungsschritten hinsichtlich der nuklearen Mittelstreckenwaffen kam (INF-Verträge). Ausführlich hierzu siehe Brown, Gorbachev Factor, S. 230–242; Gaddis, Der Kalte Krieg, S. 283–292. 2  Ausführlich hierzu siehe Brown, Gorbachev Factor, S. 130–175, S. 242–251. Ein deutliches Zeichen für den erweiterten außenpolitischen Spielraum Ungarns war, dass sich Gorbatschow nicht gegen die Annäherung Ungarns an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bzw. gegen ein entsprechendes bilaterales „Sonderabkommen“ stellte. Auf der Berliner Sitzung der Staaten des Warschauer Pakts im Mai 1987 bezeichnete er nicht nur die Entwicklung der Beziehungen zwischen dem RGW und der EWG, sondern auch die Regelung des Verhältnisses der einzelnen Staaten des östlichen Wirtschaftsbündnisses zur EWG als wichtig (vgl. Földes, Kádár János külpolitikája, S. 513). Bereits zuvor, im November 1986, hatte sich Gorbatschow auf einem Gipfeltreffen der kommunistischen Führungen in Moskau nachdrücklich für eine Beendigung der „Politik der Bevormundung“ ausgesprochen (vgl. Békés, Európából Európába, S. 283). DOI 10.1515/9783110488890-003

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 Die politisch-diplomatischen Beziehungen

des Lebensstandards anstrebte,3 erwiesen sich in der Praxis sehr schnell als unerfüllbar. Daraufhin setzten innerhalb der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei im Frühjahr 1986 intensive Diskussionen ein, die durch die Tatsache, dass sich die wirtschaftliche Situation in der Folgezeit – insbesondere im Hinblick auf das Haushaltsgleichgewicht und die äußere Verschuldung – deutlich verschärfte,4 weiteren Auftrieb erhielten.5 In diesen Monaten wurde immer deutlicher, dass eine radikale Wende in der ungarischen Wirtschaftspolitik in Richtung Marktwirtschaft sowie – auch aufgrund der mangelnden Leistungsfähigkeit und Reformbereitschaft im östlichen Wirtschaftsbündnis – eine noch stärkere Zusammenarbeit mit den entwickelten Staaten des Westens und insbesondere der Bundesrepublik unverzichtbar war. Vor diesem Hintergrund beschloss die Parteiführung in der ersten Jahreshälfte 1987, tiefgreifende personalpolitische Maßnahmen durchzuführen und einen radikalen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik in Angriff zu nehmen. Am 23. Juni 1987 entschied die Parteiführung über eine Reihe von personellen Veränderungen in Staat und Partei.6 Im Mittelpunkt der Personalentscheidungen, die die staatliche Ebene betrafen und am 25. Juni 1987 vom Parlament formal bestätigt wurden, stand die Ablösung des langjährigen Vorsitzenden des Ministerrates (Ministerpräsidenten) György Lázár durch Politbüro-Mitglied Károly Grósz. Der 57jährige Grósz hatte sich einerseits Jahrzehnte hindurch als regime- und linientreuer „Par-

3  Az MSZMP Központi Bizottságának határozata az VII. ötéves népgazdasági terv irányelveiről [Beschluss des Zentralkomitees der MSZMP über die Richtlinien des VII. Fünfjahres-Volkswirtschaftsplans] [12. November 1985]. In: Vass (Hrsg.), A Magyar Szocialista Munkáspárt határozatai, S. 105–117. 4  Siehe hierzu – unter anderem – Jelentés a gazdasági fejlődés 1987. évi várható alakulásáról, javaslat a szükséges intézkedésekre [Bericht über die im Jahre 1987 zu erwartende Wirtschaftsentwicklung, Vorschlag für die notwendigen Maßnahmen] [30. Juni 1987] (MNL OL, 288.f.5/1002 ő. e., fol. 48–58). Besonders aufschlussreich für die kritische Situation war, dass die Nettoschulden Ungarns von 8 Milliarden Dollar im Jahr 1985 auf 15 Milliarden Dollar im Jahr 1987 anstiegen, d. h. sich beinahe verdoppelten, die Reallöhne sanken und die Inflation 1987 mit 8,4 Prozent ein für sozialistische Länder ungewohnt hohes Ausmaß annahm. Diese Entwicklung war zudem von wachsenden devianten Erscheinungen in der ungarischen Gesellschaft – wie eine sehr hohe Selbstmordrate und massiver Alkoholismus – sowie von unüberwindbaren ideologischen Widersprüchen, in die sich Ungarn im Zuge der Reformpolitik Kádárs verstrickt hatte (insbesondere der Antagonismus von Plan und Markt, von Egalitäts- und Leistungsprinzip usw.), begleitet. Ausführlich zu den Krisenerscheinungen in der Endphase der Ära Kádár siehe Ignác Romsics, Volt egyszer egy rendszerváltás [Es war einmal ein Systemwechsel]. Budapest 2003, S. 51–52; Attila Ágh, A századvég gyermekei. Az államszocializmus összeomlása a nyolcvanas években [Die Kinder des ausgehenden Jahrhunderts. Der Zusammenbruch des Staatssozialismus in den achtziger Jahren]. Budapest 1990; Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 37–40. 5  Zur parteiinternen Diskussion über die Wirtschaftsprobleme seit Februar 1986 und zu den Entwicklungen innerhalb des RGW siehe Földes, Kádár János külpolitikája, S. 471–499. 6  Jegyzőkönyv a Központi Bizottság 1987. június 23-án megtartott üléséről [Protokoll über die Sitzung des Zentralkomitees am 23. Juni 1987] (MNL OL, 288.f.4/225. ő. e., fol. 1–6); siehe auch SchmidtSchweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 42–49.



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teiarbeiter“ bewährt, andererseits hatte er sich Mitte der 1980er Jahre aber auch als Persönlichkeit profiliert, die in der Lage sein würde, neuen Elan in die ungarische Politik zu bringen und die sozialistische politische und wirtschaftliche Ordnung ohne eine Gefährdung der führenden Rolle der Partei zu reformieren. Auf der Parteiebene kam es – unter anderem – zur Ernennung von Miklós Németh zum ZK-Sekretär für Wirtschaftspolitik7 anstelle von Ferenc Havasi, der diesen Posten seit 1978 innegehabt hatte. Németh, Jahrgang 1948, hatte sich im Zuge seines Volkswirtschaftsstudiums und als Stipendiat an der Harvard-Universität in den Vereinigten Staaten eingehende Kenntnisse über die Funktionsweise marktwirtschaftlicher Systeme verschafft und Karriere im ungarischen Landesplanungsamt sowie in der ZK-Abteilung für Wirtschaftspolitik gemacht. Nachdem er bereits seit Herbst 1986 eine federführende Rolle bei der Suche nach „neuen Wegen“ in der ungarischen Wirtschaftspolitik gespielt hatte, übernahm er nun auch offiziell ihre Leitung. Grundlage der neuen ungarischen Wirtschaftspolitik bildete das „Programm der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entfaltung“,8 das nach mehrmonatigen intensiven konzeptionellen Arbeiten am 2. Juli 1987 offiziell vom Zentralkomitee verabschiedet wurde und schließlich auch die Grundlage für das „Arbeitsprogramm des Ministerrats“ von Mitte September 19879 bildete. Das sogenannte Entfaltungsprogramm zielte darauf ab, die chronischen ökonomischen Probleme Ungarns zu überwinden, eine solide Grundlage für ein anhaltendes Wirtschaftswachstum zu schaffen und langfristig die ungarische Wirtschaft an den Entwicklungsstand der „Ersten Welt“ heranzuführen. Hierzu sah die Wirtschaftsführung um Németh zum einen kurzfristige – also innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre zu verwirklichende – radikale Rationalisierungs- und Sparmaßnahmen zur ökonomischen Krisenbekämpfung und Stabilisierung der ungarischen Wirtschaft bzw. zur Wiederherstellung des inneren und äußeren Wirtschaftsgleichgewichts vor, zum anderen setzte sie sich das längerfristige Ziel, den Prinzipien des Marktes anstelle des Plans eine entscheidende Rolle im ungarischen Wirtschaftsleben einzuräumen, die Eigentumsordnung zu reformieren und umfangreiche Investitionen des westlichen Auslands in Ungarn anzuregen.

7  Zu den Hintergründen der Ernennung von Németh siehe Horváth/ Németh, …és a falak leomlanak, S. 271–276; Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 43–44. Ausführlich zur Biografie von Németh siehe András Oplatka, Németh Miklós – Mert ez az ország érdeke [Miklós Németh – Weil es im Inte­ resse des Landes liegt]. Budapest 2014. 8  A Magyar Szocialista Munkáspárt Központi Bizottságának 1987. július 2-ai állásfoglalása a gazdasági-társadalmi kibontakozás programjáról [Stellungnahme des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei vom 2. Juli 1987 zum Programm der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entfaltung]. In: Népszabadság, 4. Juli 1987, S. 1–2 (= Dokument 1). Zur Vorgeschichte und Bewertung des Programms siehe Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 45–54. 9  Zum Wortlaut des Programms siehe Ágnes Dús (Hrsg.), A Minisztertanács munkaprogramja. Elfogadta az Országgyűlés 1987. szeptember 16–19-i ülése [Das Arbeitsprogramm des Ministerrates. Vom Parlament auf seiner Sitzung am 16.–19. September 1987 angenommen]. Budapest 1987.

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Die kurzfristigen Maßnahmen des Programms bezweckten in erster Linie, den Verbrauch mit der Produktion zu harmonisieren und das Gleichgewicht im Staatsbudget wiederherzustellen. Hierzu sollten konsequente Schritte zum Abbau der Konsumund Produktionssubventionen, zur Durchsetzung des Leistungsprinzips sowie zur Schließung unrentabler Betriebe unternommen werden. Die damit zwangsläufig verbundenen sozialen Lasten, darunter „vorübergehende“ Beschäftigungsprobleme und ein sinkendes Lebensniveau für breite Schichten, wurden dabei in Kauf genommen. Die größten sozialen Belastungen sollten allerdings durch sozialpolitische Maßnahmen abgemildert werden. Im Zentrum der längerfristigen Maßnahmen standen eine radikale Reorganisation der Wirtschaftslenkung und die Neuausrichtung der Außenwirtschaftspolitik. Hinsichtlich der Wirtschaftslenkung sollten die direkten Interventionen des Staates in die Unternehmenstätigkeit beendet und in Zukunft die strategischen Ziele und ökonomischen Rahmenbedingungen – wie in einer Marktwirtschaft üblich – mittels des Instrumentariums der Finanz-, Steuer- und Entwicklungspolitik usw. bestimmt werden. Die Unternehmen sollten in Zukunft selbstständig, nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage und mit dem Ziel der Gewinnmaximierung wirtschaften. Eine zentralstaatliche Lenkung war nur noch bei der Energieerzeugung und Energieversorgung, bei der Grundstoffproduktion sowie in grundlegenden Fragen der Zusammenarbeit im östlichen Wirtschaftsbündnis vorgesehen. Bezüglich der internationalen Wirtschaftskooperation betonte das Programm zwar noch immer den Vorrang der sozialistischen Wirtschaftsintegration,10 es implizierte aber gleichzeitig eine substanzielle Aufwertung der Zusammenarbeit mit dem Westen. Neben dem zur ökonomischen Krisenbekämpfung und Stabilisierung notwendigen – wachsenden – Kreditbedarf erforderten nämlich auch die langfristigen wirtschaftspolitischen Vorhaben zur Errichtung einer modernen marktwirtschaftlichen Ordnung eine verstärkte Kooperation mit dem Westen und vor allem mit der Bundesrepublik als herausragendem kapitalistischem Wirtschaftspartner. Der Übergang zu einer neuen Wirtschaftsordnung war nämlich ohne zusätzliche Westkredite, ohne erweiterte Exportmöglichkeiten in den Westen sowie ohne die Einbeziehung westlichen Kapitals und westlicher Technologie (vor allem mittels Investitionen westlicher Unternehmen in Ungarn) nicht denkbar. Begleitet werden sollten die wirtschaftspolitischen Vorhaben von politisch-gesellschaftlichen Reformen, die letztlich den Zweck verfolgten, die aktive Unterstützung

10  Die besondere Betonung der RGW-Kooperation war ganz offensichtlich zur „Beruhigung“ der Staaten des östlichen Wirtschaftsbündnisses und der reformfeindlichen Kräfte im „eigenen Haus“ gedacht. Mitte 1987 war der ungarischen Führung zweifellos klar, dass der RGW Ungarn nicht nur die benötigten „äußeren Quellen“ für die geplanten Maßnahmen nicht zur Verfügung stellen werden könne, sondern wohl auch kaum in der Lage sein würde, sich zu reformieren bzw. seinen Kooperationsmechanismus in markwirtschaftlichem Sinne zu modernisieren (zum Problem der Reform des RGW und den ungarischen Vorstellungen 1987 siehe Földes, Kádár János külpolitikája, S. 519–520).



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der Bevölkerung für die Durchführung der ökonomischen Vorhaben zu gewinnen, sowie die Ungarn für die – zumindest vorübergehend – unvermeidbaren materiellen Einschränkungen zu „entschädigen“. In diesem Zusammenhang war unter anderem vorgesehen, wichtige politische Beschlüsse – ganz ähnlich der sowjetischen GlasnostPolitik – öffentlich zu treffen und die Bürger mittels „gesellschaftlicher Diskussionen“ stärker in den Prozess der politischen Entscheidungsfindung einzubeziehen. Darüber hinaus sollte auch die politische Rolle der staatlichen Institutionen, insbesondere des Parlaments und der Regierung, gegenüber den Parteigremien aufgewertet und gleichzeitig auch das „innerparteiliche Leben“ aktiviert bzw. die Rolle der Parteibasis gestärkt werden. Das Entfaltungsprogramm war zwar einerseits noch durch die „traditionelle“ Diktion und Begrifflichkeit der Ära Kádár geprägt,11 es verzichtete auf die Verwendung des Begriffs „sozialistische Marktwirtschaft“12 und ging nicht so weit, wie es die Reformökonomen an der Parteibasis in ihrer Studie „Wende und Reform“13 gefordert hatten. Andererseits reichten aber die Vorhaben, die Wirtschaftsprozesse im Wesentlichen durch die Kräfte des Marktes regulieren zu lassen und eine Eigentumsreform durchzuführen, weit über die bisherigen Wirtschaftsreformen hinaus. Da die Wirtschaftsführung noch Raum für beschränkte zentralstaatliche Interventionen ließ, beschreibt der von Németh selbst verwendete Begriff „regulierte Marktwirtschaft“14 den Grundcharakter des vorgesehenen Wirtschaftssystems am besten. Mit dem geplanten Übergang von der Plan- zur Marktkoordination sowie mit dem Vorhaben, das starre System der sozialistischen Eigentumsformen aufzubrechen, stellte das Entfaltungsprogramm gar wesentliche Grundlagen der realsozialistischen Wirtschaftsordnung in Frage. Darüber hinaus verwarf es auch zentrale Grundsätze des „klas-

11  So wurde z. B. von „sozialistischer Wirtschaft“, „sozialistischem gesellschaftlichem Bewusstsein“ und „führender Rolle der Partei“ sowie von der entscheidenden Bedeutung des „effektiven Wirtschaftens der sozialistischen Großbetriebe und Genossenschaften“ gesprochen. Damit bezweckte die Wirtschaftsführung um Németh zweifellos, die reformfeindlichen Kräfte in der eigenen Partei und im Kreise der Verbündeten über den radikalen Charakter der vorgesehenen wirtschaftspolitischen Veränderungen hinwegzutäuschen. 12  Es wird hier lediglich von „sozialistischen Marktverhältnissen“ gesprochen. 13  László Antal/ Lajos Bokros/ István Csillag/ László Lengyel/ György Matolcsy, Fordulat és reform [Wende und Reform]. In: Közgazdasági Szemle 34 (1987), H. 6, S. 642–663. Zum (deutsch- und ungarischsprachigen) Wortlaut siehe Herder-Institut (Hrsg.), Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas SchmidtSchweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UF-ab3936 (Zugriff: 06.11.2015). 14  Miklós Németh, A gazdasági-társadalmi kibontakozás programjáról [Über das Programm der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entfaltung]. Budapest 1987, S. 19–38. Zum (deutsch- und ungarischsprachigen) Wortlaut siehe Herder-Institut (Hrsg.), Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UG-743cc7 (Zugriff: 06.11.2015).

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sischen Kádárismus“,15 nämlich den Grundsatz der politischen Nicht-Mobilisierung der Bevölkerung, den Kádár nach dem Volksaufstand von 1956 jahrzehntelang erfolgreich angewendet hatte, sowie die Prinzipien der Vollbeschäftigung und des kontinuierlich steigenden allgemeinen Lebensstandards („sozialistischer Wohlfahrtsstaat“). Mit Letzterem kündigte das Entfaltungsprogramm auch ein wesentliches Element der „unausgesprochenen Übereinkunft“ zwischen der Bevölkerung und dem Regime auf, nämlich den Grundsatz: Die Partei sorgt für wachsenden Wohlstand, dafür toleriert die Bevölkerung die Parteiherrschaft. Das Entfaltungsprogramm signalisierte so letztlich das Ende der Ära Kádár, auch wenn diese offiziell erst im Mai 1988, mit dem Abtreten Kádárs als MSZMP-Generalsekretär, ihr Ende fand.

4.1.2 D  ie westdeutsch-ungarischen Beziehungen im Lichte der personalpolitischen Veränderungen und der wirtschaftspolitischen Wende Bereits Ende des Jahres 1986 hatte eine Gruppe von außenpolitischen Experten des Deutschen Bundestages einen Bericht mit dem Titel „Die vier tragenden Säulen des ungarischen Reformprozesses“ verfasst.16 Das Papier hob in diesem Zusammenhang an erster Stelle die 1968 implementierten, Anfang der 1970er Jahre unterbrochenen und 1979 weitergeführten Wirtschaftsreformen hervor, mit denen Ungarn als erster mit Moskau verbündeter Staat einen eigenständigen Weg des Aufbaus des Sozialismus versucht habe. Dann wies der Bericht auf die ungewöhnlich aktive Westpolitik Ungarns bei gleichzeitiger fester Integration ins östliche Bündnissystem seit Anfang der 1980er Jahre sowie auf die innenpolitischen Demokratisierungsbestrebungen hin, vor allem auf die Wahlrechtsreform vom Dezember 1983 (obligatorische Aufstellung von zwei Kandidaten). Und schließlich wurde die Liberalisierung der Minderheitenpolitik, die kurz zuvor beim Ungarn-Besuch von Bundespräsident Richard von Weizsäcker demonstrativ in den Mittelpunkt gerückt worden war, angesprochen. Während der Bericht einerseits die überaus positive Haltung der bundesdeutschen Politik gegenüber den Entwicklungen in Ungarn in den vergangenen zwei Jahrzehnten widerspiegelte, brachte er andererseits aber auch Zweifel zum Ausdruck, ob der Reformprozess unter den gegebenen personellen Voraussetzungen, also unter Führung János Kádárs und seiner „alten Garde“, von den Reformbefürwortern weitergeführt werden könne.

15  Zu Kádár und zum Kádárismus siehe Tibor Huszár, Kádár. A hatalom évei, 1956–1989 [Kádár. Die Jahre der Macht, 1956–1989]. Budapest 2006; Schmidt-Schweizer, Der Kádárismus, S. 161–187. 16  Zum Wortlaut des Berichts, der allerdings nur in ungarischer Übersetzung – als Beilage zu einem Bericht von Botschafter István Horváth – zur Verfügung steht, siehe Horváth/ Heltai, A magyar– német játszma, S. 180–185.



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Im Frühjahr 1987 äußerte sich darüber hinaus – wie aus einem Bericht des ungarischen Botschafters in Bonn hervorgeht – im Kreise westdeutscher Politiker und Wirtschaftsführer zudem große Besorgnis hinsichtlich der Finanz- und Wirtschaftslage Ungarns.17 Während auch in diesem Kreise die Innen- und Außenpolitik Ungarns und sein Bestreben, die Wirtschaft zu modernisieren, auf grundsätzlich positiven Widerhall stießen, wurden die sich seit 1985 ständig verschlechternde Haushaltsbilanz bzw. das Festhalten an der wirtschaftlich nicht fundierten Politik des wachsenden Lebensstandards, die ineffiziente, nicht dem wirtschaftlichen Strukturwandel dienende Verwendung der gewährten Kreditmittel sowie insbesondere die Beibehaltung der zentralistisch-bürokratischen Wirtschaftslenkung beanstandet. Um dieser Entwicklung Abhilfe zu schaffen, wurde empfohlen, nicht nur Produktion und Konsum in Einklang zu bringen, sondern – unter Einbeziehung in- und ausländischer Quellen – die Voraussetzungen zu schaffen, die ungarische Wirtschaft auf den Weg des Wachstums zu bringen. Während die Übernahme des höchsten Regierungsamtes in Ungarn durch den „Parteimann“ Károly Grósz, der über keine dezidierten volkswirtschaftlichen Kenntnisse verfügte, und der Aufstieg des jungen und in der Bundesrepublik weitgehend unbekannten Ökonomen Miklós Németh zum ZK-Sekretär für Wirtschaftspolitik in Bonn im Sommer 1987 offensichtlich (noch) keineswegs als personalpolitischer Durchbruch angesehen wurde,18 stieß das Entfaltungsprogramm auf besonderes Interesse der bundesdeutschen Politik und Wirtschaft. Zwar war man sich im Sommer 1987 in der Bundesrepublik wohl noch keineswegs bewusst, welche politischen Implikationen das Entfaltungsprogramm hatte (siehe oben), vor allem die ökonomischen Zielsetzungen der neuen ungarischen Staats- und Wirtschaftsführung riefen aber in den folgenden Monaten bei einer Reihe von einflussreichen westdeutschen Politikern und Wirtschaftsführern ein grundsätzlich positives Echo hervor.19 Dies war

17  Titkos jelentés Magyarország megítéléséről az NSZK-ban [Geheimer Bericht über die Beurteilung Ungarns in der BRD] [13. Mai 1987]. In: Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 187–192. Als Gesprächspartner führt Horváth insbesondere Otto Wolff von Amerongen (Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft), Otto Graf Lambsdorff (ehemaliger Wirtschaftsminister), Helmut Schlesinger (Bundesbank), Hans Tietmeyer (Staatssekretär im Finanzministerium) und Siegfried Mann (Bundesverband der Deutschen Industrie) auf. 18  Im August 1987 mussten Kanzlerberater Horst Teltschik und Alfred Herrhausen, Präsident der Deutschen Bank, die im Auftrag von Bundeskanzler Helmut Kohl zur Sondierung der Lage nach Budapest gereist waren, dort sogar durch die Erklärung beruhigt werden, dass der über keine volkswirtschaftliche Kenntnisse verfügende Grósz das Amt des Ministerpräsidenten nur vorübergehend ausüben und sein Amt später an Miklós Németh, dessen Kompetenzen als Wirtschaftsexperte und -reformer betont wurden, übergeben werde (so István Horváth in Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 44). 19  Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth vom 11. Januar 1988 an Staatssekretär Gyula Horn über die westdeutschen Meinungen zu den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Ungarn (MNL OL, 288.f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/B), fol. 141–150) (= Dokument

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insofern wenig verwunderlich, als die wirtschaftspolitischen Vorhaben Ungarns mit dem schrittweisen Übergang zur Marktkoordination der ökonomischen Prozesse und der weiteren Westöffnung der ungarischen Wirtschaft natürlich auch zahlreiche neue Chancen für die Wirtschaft der Bundesrepublik, in Richtung Osten zu expandieren, eröffneten. Begrüßt wurden vor allem die neuartige Rolle des Marktes bzw. des Wettbewerbs, die Aufwertung des Privateigentums und die den wirtschaftlichen Wandel begleitenden politischen Reformmaßnahmen. Gleichzeitig offenbarten sich allerdings auch kritische Stimmen. Diese verwiesen unter anderem auf die Notwendigkeit einer – in den vergangenen Jahrzehnten unterlassenen – konsequenten Umsetzung der wirtschaftlichen Vorhaben und eines Wandels der Denk- und Handlungsstruktur der ungarischen Unternehmensleitungen, auf das Fehlen einer genaueren Analyse der inneren Gründe für die Wirtschaftsprobleme sowie auf eine Reihe von noch offenen oder unzureichend geklärten Fragen wie die Lohn-, Preis- und Haushaltsreform oder die Regelung der Außenhandelspraxis und der staatlichen Devisenverwendung. Für besonders wichtig wurde auf westdeutscher Seite überdies die Notwendigkeit erachtet, das Vertrauen der ungarischen Gesellschaft für die neue Politik zu gewinnen. Aufgrund der herausragenden Bedeutung der Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik unternahm die ungarische Führung nach der Implementierung des Entfaltungsprogramms besondere Bemühungen, ihre politisch-diplomatischen Kontakte zur Bundesrepublik weiter zu intensivieren und die westdeutsche Seite über ihre Vorhaben auf dem neuesten Stand zu halten. Zwischen Herbst 1987 und Frühjahr 1988 kam es so zu zahlreichen Treffen ungarischer Spitzenpolitiker mit herausragenden Vertretern der bundesdeutschen Politik und Wirtschaft. Von besonderer Bedeutung waren in diesem Zusammenhang der Besuch von Ministerpräsident Károly Grósz in Bonn, München und Stuttgart im Oktober 1987 sowie die Reise von ZK-Sekretär Miklós Németh in die Bundesrepublik im Februar 1988. In diesen Monaten unternahm zudem auch die ungarische Botschaft in Bonn besondere Anstrengungen, um westdeutsche Politiker über die Ziele und die Umsetzung des Entfaltungsprogramms zu informieren. Im Zuge dieser Bemühungen traf Botschafter István Horváth im März 1988 auch mit dem SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel zusammen, der sich ebenfalls anerkennend über die ungarischen Pläne in Wirtschaft und Politik äußerte und seine Absicht signalisierte, sich für eine intensive Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ungarn und den SPD-regierten Bundesländern einzusetzen.20

7). Es steht natürlich außer Frage, dass Horváth, ein überzeugter Verfechter der Wende in der Wirtschaftspolitik und selbst gelernter Ökonom, mit seinen Berichten an die „Budapester Zentrale“ auch versuchte, die politischen Entscheidungen der ungarischen Staats- und Parteiführung maßgeblich im Sinne der ökonomischen Transformation zu beeinflussen. 20  Bericht von Botschafter István Horváth an Außenminister Péter Várkonyi vom 15. März 1988 (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/C), fol. 57–59).



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Nach den Besuchen von Parteichef János Kádár in der Bundesrepublik (1977 und 1982) sowie den Gegenbesuchen der Bundeskanzler Helmut Schmidt (1979) und Helmut Kohl (1984) bildete der Staatsbesuch des neuen ungarischen Regierungschefs Károly Grósz einen besonderen Höhepunkt in den bilateralen Beziehungen.21 Ein Jahr nach der – behandelten – Ungarn-Visite von Bundespräsident Richard von Weizsäcker traf der ungarische Regierungschef mit einer Delegation am 7. Oktober 1987 zu einem viertägigen Aufenthalt in der Bundesrepublik ein.22 Bei seinem ersten offiziellen Staatsbesuch in einem westlichen Land nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte traf Grósz in Bonn, München und Stuttgart mit führenden Bundes- und Landespolitikern zusammen, darunter Bundeskanzler Helmut Kohl, Außenminister Hans-Dietrich Genscher sowie die Ministerpräsidenten Lothar Späth und Franz Josef Strauß. Außerdem führte er Unterredungen mit Spitzenvertretern der westdeutschen Wirtschafts- und Finanzwelt. Während seines Besuchs, der in einer entspannten und freundschaftlichen Atmosphäre stattfand und bei dem beide Seiten – aufgrund der dargelegten Entwicklungen in den vorangegangenen Jahren – auf die Beispielhaftigkeit der westdeutsch-ungarischen Beziehungen für das Ost-West-Verhältnis verwiesen, wurden zum einen internationale Fragen wie der Veränderungsprozess in der Sowjetunion, das westdeutsch-polnische Verhältnis und die Beziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Ungarn behandelt, zum anderen die wirtschafts- und innenpolitischen Vorhaben der ungarischen Führung sowie zukünftige Möglichkeiten der Unternehmenskooperation. Grósz legte in diesem Zusammenhang gegenüber seinen Gesprächspartnern die gewaltigen Herausforderungen dar, vor denen Ungarn im Zuge der Umsetzung des kurz zuvor angenommenen Regierungsprogramms stand. Die westdeutsche Seite brachte ihre Anerkennung gegenüber den ungarischen Reformbestrebungen zum Ausdruck und sagte ihre Bereitschaft zu, die

21  Die Tatsache, dass im Oktober 1987 ungarischerseits nicht – wie bisher – der Generalsekretär (János Kádár) an dem Gipfeltreffen teilnahm, sondern der Ministerpräsident, weist auf die Tatsache hin, dass es mit dem Amtsantritt von Károly Grósz – und ganz im Sinne des Entfaltungsprogramms – zu einer politischen Aufwertung der Rolle der Regierung bzw. des Ministerpräsidenten gegenüber der Parteiführung kam (siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 48). Darüber hinaus bezweckte die Parteiführung mit diesem Schritt offensichtlich auch, Grósz als – wahrscheinlichsten – Nachfolger des bereits 75 Jahre alten Parteichefs international zu positionieren. 22  Külügyminisztérium. Jelentés a Politikai Bizottságnak és a Minisztertanácsnak Grósz Károly elvtárs az NSZK-ban tett hivatalos látogatásáról [Außenministerium. Bericht für das Politbüro und den Ministerrat über den offiziellen Besuch von Genossen Károly Grósz in der Bundesrepublik Deutschland] [12. Oktober 1987] (MNL OL, 288.f.32/1987/92. ő. e. (NSZK/1987/B), fol. 725–736) (= Dokument 5). Zu den Reaktionen im Auswärtigen Amt siehe die folgende Aufzeichnung des ungarischen Geheimdienstes: Belügyminisztérium, III/I-6. Osztály. Feljegyzés: A magyar kormányfő látogatása az NSZKban [Innenministerium. Abteilung III/I-6. Aufzeichnung. Gegenstand: Besuch des ungarischen Regierungschefs in der BRD] [27. Oktober 1987] (ÁBTL, 1. 11. 4. D – V/1987, fol. 4–8) (= Dokument 6); siehe auch Horváth/ Németh, …és a falak leomlanak, S. 281–285; Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf, S. 251–253; Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 45–46.

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Vorhaben der ökonomischen Krisenbekämpfung und Restrukturierung der Wirtschaft sowie die politischen Reformpläne gemäß ihren Möglichkeiten zu unterstützen. Bundeskanzler Kohl bekräftigte darüber hinaus, dass Bonn Ungarn in der Frage des Abschlusses eines Handelsabkommens mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – trotz des Widerstandes einzelner Mitgliedsstaaten – weiter unterstützen werde. Darüber hinaus sprachen sich die westdeutschen Politiker äußerst anerkennend über die ungarische Minderheitenpolitik, die Intensivierung der Kulturbeziehungen und die aktive Rolle Ungarns im Prozess der Annäherung zwischen Ost und West aus. Nachdem sich Ungarn jahrelang darum bemüht hatte, einen größeren westdeutschen Kredit zu erhalten, und beide Seiten diesbezüglich – unter tatkräftiger Mitwirkung des bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß23 – im Sommer 1987 eine Einigung erzielt hatten, konnte während des Besuchs des ungarischen Regierungschefs in Bonn eine Vereinbarung getroffen werden, in der die Bundesregierung Ungarn eine Bürgschaft für einen Kredit der Deutschen Bank in Höhe von 1 Milliarde DM zusicherte.24 Während der Grósz-Visite wurde zudem ein westdeutsch-ungarisches Abkommen über die Zusammenarbeit in den Bereichen Wissenschaft und Technologie unterzeichnet,25 das von der ungarischen Seite ebenfalls seit Jahren angestrebt worden war. Außerdem schlossen beide Seiten eine – von der bundesdeutschen Seite ein Jahrzehnt hindurch anvisierte – Vereinbarung über die gegenseitige Errichtung von Kultur- und Informationszentren26 und gaben eine Regierungserklärung hinsichtlich der Unterstützung der ungarndeutschen Kultur und der deutschen Sprache in Ungarn27 ab. Diese beiden Schritte besiegelten den Durchbruch, den die Bundesrepublik – wie dargelegt – im vorangegangenen Jahr hinsichtlich des offiziellen Ver-

23  Siehe hierzu Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 68, S. 77–78. Sicherlich spielte hinsichtlich der Gewährung der Kreditbürgschaft auch die Tatsache eine wesentliche Rolle, dass Helmut Kohl und vor allem Franz Josef Strauß – unter tatkräftiger Mitwirkung von Kanzlerberater Horst Teltschik und Botschafter István Horváth – ein besonderes, vertrauliches Verhältnis zu den Reformkräften in der ungarischen Führung entwickelt hatten (vgl. Peisch, Soha nem felejtjük el, S. 47). 24  Begründet wurde die Gewährung der Milliardenbürgschaft mit der Absicht der Bundesregierung, „Ungarn gerade in der jetzigen Phase seiner Reformpolitik nach Kräften zu unterstützen“ und zur „Entwicklung der beiderseitigen wirtschaftlichen, industriellen und technischen Zusammenarbeit“ beizutragen (Bulletin der Bundesregierung, Nr. 103, 14. Oktober 1987, S. 883). 25  Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ungarischen Volksrepublik über die Zusammenarbeit in der wissenschaftlichen Forschung und technologischen Entwicklung. In: United Nations Treaty Series, Vol. 1555, I-27015. New York 1990, S. 36–40 (= Dokument 2). 26  Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ungarischen Volksrepublik über die gegenseitige Errichtung von Kultur- und Informationszentren. In: United Nations Treaty Series, Vol. 1555, I-27016. New York 1990, S. 58–62 (= Dokument 4). 27  Erklärung über ein Sonderprogramm zur Förderung der deutschen Minderheit und der deutschen Sprache in Ungarn vom 7. Oktober 1987 (PA AA, BILAT UNG 55) (= Dokument 3).



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hältnisses zu den Ungarndeutschen, des deutschen Sprachunterrichts in Ungarn und der Errichtung von Kulturinstituten hatte erreichen können. Darüber hinaus kam es zum Austausch von Noten, die das Abkommen über Investitionsschutz,28 das im vergangenen Jahr unterzeichnet worden war, bekräftigten, und die Bundesregierung übergab der ungarischen Seite ein Pro Memoria über die von Bonn geplanten Visaerleichterungen. Eine diesbezügliche, insbesondere von der ungarischen Seite angestrebte Vereinbarung, die unter anderem die Streichung des Visazwangs für Diplomatenpässe und Visaerleichterungen für Personen mit Dienstpässen vorsah, sollte im Februar 1988 getroffen werden und zum 1. März 1988 in Kraft treten.29 Und schließlich gab der Grósz-Besuch einen wesentlichen Impuls für den Abschluss eines bilateralen Binnenschifffahrtsabkommens, das Mitte Januar von Vertretern beider Staaten unterzeichnet wurde.30 Die Kreditbürgschaft der Bundesrepublik und der kurze Zeit später von der Deutschen Bank zur Verfügung gestellte zinslose (!) Kredit in Höhe von 1 Milliarde DM waren für Ungarn nicht nur deshalb von besonderer Bedeutung, weil dadurch ein unmittelbarer Beitrag zur Bekämpfung der akuten ungarischen Finanzkrise und zur Entwicklung bzw. Restrukturierung der Wirtschaft unter Sonderkonditionen geleistet wurde,31 sondern auch aufgrund der Tatsache, dass die Bundesregierung gegenüber der internationalen Finanzwelt ein demonstratives Zeichen des Vertrauens gegenüber Ungarn und seiner neuen Wirtschaftspolitik setzte.32 Dieser Schritt der Bundes-

28  Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Ungarischen Volksrepublik über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen (Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode. Drucksache 11/26, 27. Februar 1987, S. 6–10). 29  Magyar Szocialista Munkáspárt Központi Bizottsága. Külügyi Osztály. Aktuális események a magyar–NSZK kapcsolatokban [Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Außenpolitische Abteilung. Aktuelle Ereignisse in den ungarisch-westdeutschen Beziehungen] (16. Februar 1988) (MNL OL, 288.f.32/1982/87. ő. e., fol. 147–148; das Dokument gelangte offensichtlich aus Versehen unter die Akten der Außenpolitischen Abteilung des ZK aus dem Jahr 1982). 30  Aufzeichnung des Auswärtigen Amts, Referat 214, zu den westdeutsch-ungarischen Beziehungen vom 2. Februar 1988 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung). 31  An den Kredit knüpfte aber auch die bundesdeutsche Seite bestimmte Erwartungen: Wie aus einer Grundsatzrede von Bundeskanzler Helmut Kohl über die Beziehungen der Bundesrepublik zu Ost- und Südosteuropa vor der Evangelischen Akademie im oberbayerischen Tutzing Mitte Januar 1988 hervorgeht, erhoffte sich Bonn bzw. die deutsche Wirtschaft durch die Kreditvergabe eine verstärkte Kooperation mit Ungarn auf dem Gebiet der Industrie. Hierauf wurde auch in einem Bericht des BRD-Referats im ungarischen Außenministerium hingewiesen (Külügyminisztérium. V. Területi Főosztály. NSZK referatura. Feljegyzés. Tárgy: Helmut Kohl kancellár az MNK–NSZK kapcsolatokról [Außenministerium. Gebietshauptabteilung V. BRD-Referat. Aufzeichnung. Kanzler Helmut Kohl über die ungarisch-westdeutschen Beziehungen] (9. Februar 1988) (MNL OL, XIX-J-1-k (NSZK/1988), 70. d., 1. t., ohne Paginierung). 32  Ein Interview, das Kanzlerberater Horst Teltschik damals einem ungarischen Journalisten gab, trägt bezeichnenderweise den Titel „Der Ungarn gewährte Kredit ist ein Zeichen des Vertrauens“. Zum (ungarischsprachigen) Text des Interviews siehe Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S.

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republik konnte auch insofern als großer Erfolg der ungarischen Diplomatie betrachtet werden, als es für die Staaten Osteuropas – aufgrund der weltwirtschaftlichen Situation und der Zurückhaltung der Gläubigerstaaten – zu diesem Zeitpunkt nahezu unmöglich war, Kredite aus dem Westen zu erhalten. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass die Bundesrepublik ihre Kreditgarantie an Ungarn als einen Einzelfall betrachtete, der keine Berufungsgrundlage für andere osteuropäische Länder bilden sollte,33 und Bonn in dieser Phase – bis Sommer 1989 – insbesondere keine Bereitschaft zeigte, Polen unter den gegebenen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und vor dem Hintergrund der Spannungen im bilateralen Verhältnis eine Kreditgarantie bzw. einen Kredit zu gewähren.34 Große Bedeutung hatte für Ungarn darüber hinaus das Abkommen über wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit. Auf der Grundlage dieses Vertrags konnte es in den folgenden Jahren zu diversen Kooperationsprojekten kommen, durch die Ungarn die Möglichkeit erhielt, in bestimmten Bereichen wie dem Kraftfahrzeugbau und der chemischen Industrie Anschluss an das technologisch-wissenschaftliche Niveau der westlichen Welt zu finden. Dies wiederum war für den Prozess der Modernisierung der ungarischen Wirtschaft unverzichtbar. Die Vereinbarung über die Einrichtung von Kulturzentren stellte zweifellos einen Höhepunkt der bundesdeutschen Kulturdiplomatie gegenüber dem östlichen Europa dar. Gemäß der Vereinbarung vom Oktober 1987 konnte die Bundesrepublik bereits ein halbes Jahr nach dem Grósz-Besuch, im März 1988, ihr Kultur- und Informationszentrum in Budapest feierlich eröffnen. Ungarn war damit das erste Land unter den Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrags, in dem ein westdeutsches Kulturinstitut eingerichtet werden konnte.35 Die bis in die Gegenwart unter dem Namen Goethe-In­ stitut tätige Institution übernahm von diesem Zeitpunkt an eine Schlüsselposition bei der Sprach- und Kulturvermittlung der Bundesrepublik in Ungarn und konnte damit

194–195. Zweifellos trug der westdeutsche Kredit dazu bei, dass der Internationale Währungsfonds im Herbst 1987 Verhandlungen mit Ungarn über die Gewährung eines neuen Kredits begann (zu den Kreditverhandlungen von Herbst 1987 bis Frühjahr 1988 siehe Mong, Kádár hitele, S. 270–272; Földes, Kádár János külpolitikája, S. 528–530). 33  Belügyminisztérium, III/I-6. Osztály. Feljegyzés: A magyar kormányfő látogatása az NSZK-ban [Innenministerium. Abteilung III/I-6. Aufzeichnung. Gegenstand: Besuch des ungarischen Regierungschefs in der BRD] [27. Oktober 1987] (ÁBTL, 1. 11. 4. D – V/1987, fol. 4–8, hier fol. 6–7) (= Dokument 6). 34  Näheres hierzu siehe Olschowsky, Relations between the Federal Republic of Germany and the People’s Republic of Poland, S. 246–261. Spannungen in den bilateralen Beziehungen offenbarten sich insbesondere hinsichtlich der offiziellen Akzeptanz der Endgültigkeit der Oder-Neiße-Grenze und der Situation der deutschen Minderheit in Polen. 35  Lediglich in Rumänien, das allerdings nicht zum östlichen Militärbündnis gehörte, war bereits Jahre zuvor ein bundesdeutsches Kulturzentrum eingerichtet worden. In Polen sollte sich die Regierung erst im Januar 1989, beim Besuch von Ministerpräsident Mieczysław Rakowski in der Bundesrepublik, zur Zulassung eines westdeutschen Kulturinstituts bereit erklären (vgl. Olschowsky, Relations between the Federal Republic of Germany and the People’s Republic of Poland, S. 253).



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auch die jahrzehntelange Dominanz der DDR auf diesem Gebiet brechen. (Die ebenfalls vereinbarte Eröffnung eines ungarischen Kulturinstituts erfolgte – insbesondere wegen finanzieller Probleme der ungarischen Seite – erst zwei Jahre später, im Mai 1990, in Stuttgart.) Für Bonn besonders bedeutsam war auch die Regierungserklärung über die Unterstützung der deutschen Nationalität in Ungarn und der deutschen Sprache. Sie eröffnete der Bundesrepublik die Möglichkeit, sich seit Ende 1987/ Anfang 1988 intensiv der Pflege der deutschen Sprache in Ungarn bzw. der Kultur und des Unterrichtswesens der ungarndeutschen Minderheit anzunehmen.36 Für diese Domäne der auswärtigen Kulturpolitik hatte Ostberlin bis dahin auf einen „Alleinvertretungsanspruch“ bestanden und auch in der Praxis eine Monopolposition eingenommen. In diesem Zusammenhang kam mehreren konkreten westdeutschen bzw. ungarischen Schritten in den ersten Monaten des Jahres 1988 große Bedeutung zu, darunter die Gründung der ungarischen „Stiftung Ungarndeutsche“ am 1. Februar 1988, die in Kooperation mit der parallel gegründeten „Donauschwäbischen Kulturstiftung des Landes Baden-Württemberg“ Projekte zur Förderung der ungarndeutschen Minderheit und der deutschen Sprache initiieren und finanzieren sollte,37 die weitere intensive finanzielle Unterstützung der – wie gezeigt bereits im Oktober 1986 geplanten – Einrichtung und Betreibung des Lenau-Hauses in Pécs (Fünfkirchen) in Zusammenarbeit mit der baden-württembergischen Stadt Fellbach,38 die Unterstützung der Errichtung und Ausstattung von Schulen für den Minderheitenunterricht sowie die Entsendung von westdeutschen Sprachlehrern und Lektoren und die Vergabe von Sprachstipendien. Zur weiteren Konkretisierung der Regierungserklärung wurde darüber hinaus ein Ständiger Unterausschuss der beiden Regierungen eingerichtet, der Mitte Februar 1988 zu seiner ersten Sitzung zusammentrat.39 Bereits im Jahre 1988

36  Demgegenüber sollte sich die Regierung in Warschau noch Anfang des Jahres 1989 weigern, selbst den Begriff „deutsche Minderheit“ zu akzeptieren (vgl. Olschowsky, Relations between the Federal Republic of Germany and the People’s Republic of Poland, S. 254). 37  Magyar Szocialista Munkáspárt Központi Bizottsága. Külügyi Osztály. Tájékoztató a „Magyaror­ szági Németek” Alapítvány létrehozásáról [Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Außenpolitische Abteilung. Informationsbericht über die Gründung der Stiftung „Ungarndeutsche“] [Februar 1988] (MNL OL, 288.f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/B/1), fol. 1–2). 38  Siehe hierzu die (deutschsprachige) Erklärung über Fragen des Aufbaus und der Nutzung des Hauses des Kulturvereins Nikolaus Lenau e. V (Lenau Verein) vom 6. Januar 1988 (MNL OL 288.f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/B), fol. 132–135). 39  Művelődési Minisztérium. Nemzetiségi Önálló Osztály. Jelentés a Magyar Népköztársaság és a Németországi Szövetségi Köztársaság kormányainak a magyarországi németek, valamint a német nyelv oktatásának támogatásáról szóló Nyilatkozata végrehajtására létrejött Állandó Albizottság első üléséről [Kulturministerium. Selbstständige Abteilung für Nationalitäten. Bericht über die erste Sitzung des Ständigen Unterausschusses zur Durchführung der Erklärung über die Unterstützung der Ungarndeutschen und des Unterrichts der deutschen Sprache der Regierungen der Volksrepublik Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland] [25. Februar 1988] (MNL OL, 288.f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/B/1), fol. 22–24).

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bewilligte der Deutsche Bundestag kurzfristig 2 Millionen DM zur Unterstützung der deutschen Minderheit, wodurch noch im selben Jahr 80 ungarische Deutschlehrer Kurse in der Bundesrepublik besuchen, westdeutsche Dozenten in Ungarn Seminare für rund 400 Deutschlehrer organisieren und Lehr- und Lernmittel aus der Bundesrepublik in Ungarn eingesetzt werden konnten.40 Bezüglich des Grósz-Besuchs konnte der ungarische Botschafter in Bonn so in seinem Jahresbericht 1987/1988 insgesamt folgendes Fazit ziehen: „Der Besuch des Ministerpräsidenten im Oktober vergangenen Jahres hat auf allen Gebieten in der konkretesten Form neue Möglichkeiten geschaffen, um die auf gegenseitigen Vorteilen beruhenden, gleichberechtigten Beziehungen zu vertiefen. […] Mit der Visite wurden die Voraussetzungen geschaffen, eine qualitativ neue Phase der bilateralen Beziehungen einzuleiten.“41

Der Besuch des ungarischen Regierungschefs, der in Bonn, Stuttgart und München auch einen sehr positiven persönlichen und fachlich überaus kompetenten Eindruck gemacht hatte,42 wurde auch von der westdeutschen Seite als äußerst erfolgreich eingestuft und festigte ihre Überzeugung, dass Ungarn unter dem neuen Regierungschef ernsthaft den Umbau seiner Wirtschaft sowie zudem politische Liberalisierungsschritte in Angriff nehmen wolle, kurz, „dass Ungarn bei der Bekämpfung seine Schwierigkeiten unterstützt werden müsse.“43 Viereinhalb Monate nach dem spektakulären Deutschland-Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten reiste der für die Wirtschaftspolitik verantwortliche ZKSekretär Miklós Németh Ende Februar 1988 mit dem Ziel, die westdeutsche Seite genauer über die wirtschaftspolitischen Vorhaben in Ungarn zu informieren und sich

40  Auswärtiges Amt, Referat 214. Zusammenstellung über die deutsch-ungarischen Beziehungen vom Dezember 1989 (Aktenzeichen 214 – 321.00 UNG) (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.937 E, ohne Paginierung). 41  Jahresbericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth für Außenminister Péter Várkonyi vom 27. Juni 1988 (MNL OL, 288.f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/C), fol. 653–675, hier fol. 653 und fol. 657) (= Dokument 12). 42  Laut einer Aufzeichnung des ungarischen Geheimdienstes, die sich auf die Äußerung eines „führenden Beamten des Außenministeriums der BRD“ beruft, habe der „ungarische Ministerpräsident den Eindruck einer dynamischen, intelligenten und kraftvollen Persönlichkeit erweckt.“ Sein Auftreten sei „imponierend“ gewesen (Belügyminisztérium. III/I-6. Osztály. Feljegyzés. Tárgy: Nyugatnémet vélemény a magyar miniszterelnök NSZK-beli látogatásáról [Innenministerium. Abteilung III/I-6. Aufzeichnung. Gegenstand: Westdeutsche Meinung über den Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten in der BRD] [20. Oktober 1987]; ÁBTL, 1. 11. 4. D – V/1987, fol. 9–10). 43  Siehe hierzu die Aufzeichnung des ungarischen Geheimdienstes vom 14. Oktober 1987 (Belügyminisztérium, III/I-6. Osztály. III/I. Csoportfőnökség. 1/1-6/87 sz. jelentés. Tárgy: A Grósz látogatás NSZK értékelése [Innenministerium. Abteilung III/I. Bericht Nr. 1/1-6/87. Gegenstand: BRD-Bewertung des Grósz-Besuchs] (ÁBTL, 1. 11. 4. D – V/1987, fol. 11); siehe auch Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 95–97).



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auch weiterhin ihrer wohlwollenden Unterstützung zu versichern, in die Bundesrepublik.44 Diese Reise führte auch Németh – bezeichnenderweise – nicht nur nach Bonn, sondern auch nach München und Stuttgart. Bei den Gesprächen in der bayerischen und baden-württembergischen Landeshauptstadt brachte Németh gegenüber Franz Josef Strauß bzw. Lothar Späth ein besonderes Anliegen Ungarns vor, nämlich die Frage eines weiteren Kredits in Höhe von 1 Milliarde D-Mark.45 Auf dieses Ersuchen reagierten beide Ministerpräsidenten – ganz zur Überraschung Némeths – mit größtem Verständnis und mit der Bereitschaft, erneut einen Kredit mittels entsprechenden Kreditbürgschaften der beiden Länder und des Bundes46 zu ermöglichen. Späth signalisierte darüber hinaus, dass Baden-Württemberg – über die vereinbarte Förderung der Renovierung des Lenau-Hauses in Pécs (Fünfkirchen) hinaus – weitere Mittel zur Förderung der ungarndeutschen Kultur und der deutschen Sprache zur Verfügung stellen werde und sprach sich – unter anderem – für baden-württembergische Tourismusinvestitionen in Ungarn aus. Bei den Unterredungen des ZK-Sekretärs mit dem Bundeskanzler reagierte auch Helmuth Kohl positiv auf die ungarischen Anliegen und verwies auf den „Modellcharakter“ der ungarischen Entwicklungen, er zeigte sich gleichzeitig aber auch besorgt über die Frage, ob Ungarns Verbündete und Nachbarn die weitgehenden wirtschaftlichen und politischen Vorhaben tolerieren würden. In Bezug auf zukünftige Kapitalinvestitionen in Ungarn machten sowohl Ministerpräsident Strauß als auch Vertreter der westdeutschen Wirtschaft Németh im Zuge der Gespräche darauf aufmerksam, welche herausragende Bedeutung dem geplanten ungarischen Gesetz über die Wirtschaftsgesellschaften zukomme. Nach den Besuchen von Grósz und Németh in der Bundesrepublik, die zu einer Reihe äußerst bedeutsamer Vereinbarungen und konkreter westdeutscher Angebote geführt hatten, war für die weitere Entwicklung der bilateralen Beziehungen entscheidend, wie sich die politischen Kräfteverhältnisse in Ungarn entwickeln würden und welche Beschlüsse auf der anstehenden Landeskonferenz der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, deren Abhaltung von den Kräften um Regierungschef Grósz und ZK-Sekretär Németh Ende 1987 gegen den Widerstand von Parteichef János Kádár und seiner „Alten Garde“ durchgesetzt worden war, getroffen bzw. „abgesegnet“ werden würden.

44  Jelentés a Politikai Bizottságnak Németh Miklós elvtárs NSZK-beli látogatásáról [Bericht für das Politbüro über den Besuch von Genossen Miklós Németh in der BRD] [29. Februar 1988] (MNL OL, 288.f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/B), fol. 53–66) (= Dokument 8); siehe auch Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 97–98; Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf, S. 263–265. 45  Über das erneute Kreditanliegen berichtet nur der damalige Botschafter István Horváth (Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 97–98), der genannte, in 28 Exemplaren existierende Bericht für das Politbüro vom 29. Februar 1989 greift dieses Thema nicht auf. 46  Späth warf dabei die Möglichkeit auf, dass die Bundesrepublik eine Bürgschaft in Höhe von 500.000 DM und die Länder Bayern und Baden-Württemberg in Höhe von jeweils 250.000 DM übernehmen könnten.

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4.1.3 Politische Reformvorhaben und gesellschaftliche Entwicklungen in Ungarn Nach der Verabschiedung des Regierungsprogramms im Parlament Mitte September 1987 waren der neue Regierungschef Károly Grósz und der neue ZK-Sekretär Miklós Németh darangegangen, ihre wirtschaftspolitischen Vorhaben und begleitenden innenpolitischen Maßnahmen in die Tat umzusetzen.47 Mit der Verabschiedung des Gesetzes über die Rechtssetzung48 im Parlament im Dezember 1987 gelang es ihnen zudem, dem Parlament eine größere politische Rolle einzuräumen, indem das vom Präsidialrat extensiv ausgeübte Recht, das Parlament zu vertreten und Rechtsnormen zu setzen, wesentlich eingeschränkt wurde. Außerdem eröffnete das Gesetz – ganz im Sinne der angestrebten politischen Mobilisierung der Bevölkerung – die Möglichkeit, „gesellschaftliche Diskussionen“ über wichtigere Gesetzesentwürfe zu führen. Gleichzeitig machte sich die Wirtschaftsführung auch daran, das Gesetz über die Wirtschaftsgesellschaften, das der Einführung neuer Eigentumsformen dienen sollte und dem die westdeutsche Seite – wie gezeigt – besonderes Interesse entgegenbrachte, von einer Expertengruppe unter Leitung des Staatsrechts-Professors Tamás Sárközy ausarbeiten zu lassen.49 Während die Regierung Grósz mit großem Elan an ihre Arbeit ging, wurde allerdings immer deutlicher, dass eine konsequente Verwirklichung der Wende in der Wirtschaftspolitik sowie die Einleitung weiterer politischer Reformen unter Generalsekretär Kádár und seiner „alten Garde“ nicht mehr zu erwarten waren.50 Der KádárZirkel blockierte die Streichung oder Kürzung der ungeheuren Subventionen von Konsum und Produktion sowie die Liquidierung unproduktiver Betriebe, versuchte die Implementierung des Gesetzes über die Wirtschaftsgesellschaften zu verschleppen und ignorierte Vorschläge für weitere politische Reformen. Die reformfeindliche Haltung des Kádár-Zirkels sowie die akuten sozioökonomischen Krisenerscheinungen führten seit Sommer/ Herbst 1987 einerseits zu verstärkten oppositionellen Aktivitäten, andererseits kam es auch an der MSZMP-Basis, die sich drei Jahrzehnte lang politisch opportun verhalten hatte, zu immer heftigerer Kritik. An der MSZMP-Basis wurden vor allem die Passivität der Kádár’schen Parteiführung, das Ausbleiben politischer Reformen sowie der Mangel an innerparteilicher Demokratie scharf kritisiert

47  Zu den Entwicklungen vor und während der Parteikonferenz vom Mai 1988 siehe Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 55–80; Romsics, Volt egyszer egy rendszerváltás, S. 71–77. 48  1987. évi XI. törvény a jogalkotásról [Gesetz Nr. XI des Jahres 1987 über die Rechtssetzung]. In: Törvények és rendeletek hivatalos gyűjteménye 1987 [Offizielles Kompendium der Gesetze und Verordnungen 1987], Bd. 1. Budapest 1988, S. 120–135. 49  Näheres hierzu siehe Tamás Sárközy, A társasági törvény előkészítése. Szubjektív beszámoló egy törvényhozás anatómiájáról [Die Ausarbeitung des Gesellschaftsgesetzes. Subjektiver Bericht über die Anatomie einer Gesetzgebung]. In: Valóság 32 (1989), H. 3, S. 40–60. 50  Siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 56–61.



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und die Forderung nach weiteren personellen Veränderungen und nach Abhaltung einer außerordentlichen Landesparteikonferenz im Frühjahr 1988 erhoben. Auf Seiten der „Andersdenkenden“ trat nun auch die gemäßigte, national-traditionalistische „Volkstümliche Opposition“ in Aktion. (Zuvor, im Juni 1987, hatte bereits die radikale, liberal-urbane Demokratische Opposition mit ihrem „Gesellschaftsvertrag“ für Aufsehen gesorgt, in dem sie eine „neue gesellschaftliche Übereinkunft“, eine „radikale politische Wende“ bzw. Demokratisierung sowie den Rücktritt Kádárs gefordert hatte.51) Die Volkstümliche Opposition thematisierte auf ihrem Treffen in Lakitelek am 27. September 1987, an dem rund 180 bekannte Persönlichkeiten des ungarischen öffentlichen Lebens sowie der Generalsekretär der Patriotischen Volksfront Imre Pozsgay teilnahmen, die schweren Krisenerscheinungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sowie „nationale Schicksalsfragen“ (z. B. die Situation der ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten) und gründete unter dem Namen „Ungarisches Demokratisches Forum“ (MDF) ein Diskussionsforum ohne feste organisatorische Strukturen.52 Vor dem Hintergrund der allgemeinen Unzufriedenheit in der ungarischen Gesellschaft bzw. der von der bundesdeutschen Botschaft in Budapest nach Bonn gemeldeten innenpolitischen Klimaverschlechterung,53 vor allem aber aufgrund des Drucks innerhalb der MSZMP, konnte die Parteiführung um Kádár – wie bereits angesprochen – Ende 1987 die Abhaltung einer außerordentlichen Landesparteikonferenz sowie die Vorbereitung weitreichender personal- und innenpolitischer Weichenstellungen nicht mehr verhindern. Bereits im Vorfeld der Konferenz erfolgten innerhalb der Staatspartei radikale politisch-ideologische und personelle Weichenstellungen,54 die sich als sehr folgenreich erweisen sollten. In den Monaten, die der Parteikonferenz vorausgingen, wurde unter Leitung des ZK-Sekretärs für Agitation und Propaganda János Berecz intensiv

51  Társadalmi szerződés. A politikai kibontakozás feltételei [Gesellschaftsvertrag. Die Voraussetzungen der politischen Entfaltung]. In: Beszélő, 7 (1987) Sondernummer, Juni 1987, S. 749–791. Zu (deutschsprachigen) Auszügen aus dem Gesellschaftsvertrag siehe Herder-Institut (Hrsg.), Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985– 1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/ go/UH-832ea3 (Zugriff: 06.11.2015). Zur Geschichte der Demokratischen Opposition siehe Ervin Csizmadia, A Magyar Demokratikus Ellenzék (1968–1988). Monográfia [Die Ungarische Demokratische Opposition (1968–1988). Monografie]. Budapest 1995. 52  Siehe hierzu Romsics, Volt egyszer egy rendszerváltás, S. 59–65; Ripp, Rendszerváltás Magyaror­ szágon, S. 59–66. Zum (deutsch- und ungarischsprachigen) Wortlaut der Erklärung, die in Lakitelek verabschiedet wurde, siehe Herder-Institut (Hrsg.), Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas SchmidtSchweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UI-2e2e60 (Zugriff: 06.11.2015). 53  Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 1. März 1988 (Kapitel Innenpolitik) (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 9). 54  Siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 62–75.

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an einem Entwurf für die „Stellungnahme der Landesparteikonferenz“ gearbeitet. Die Vorlage wurde mehrfach parteiintern erörtert und einer „gesellschaftlichen Diskussion“ unterzogen, wobei in zahlreichen Fällen scharfe Kritik geäußert wurde. Infolge dieses Diskussionsprozesses kam es zu wesentlichen Modifizierungen zugunsten der Anhänger radikaler politischer Reformen. Während die wirtschaftspolitischen Vorstellungen weiterhin auf dem Entfaltungsprogramm vom Juli 1987 basierten, sah der am 10. Mai 1988 fertiggestellte Entwurf nun unter der Bezeichnung „sozialistischer Pluralismus“ eine Reihe weitreichender politischer Veränderungen vor, die allerdings den Rahmen des Einparteiensystems nicht sprengen sollten. So strebte das Dokument – unter anderem – eine klare Trennung der Kompetenzen von Partei, Staat und gesellschaftlichen Organisationen, eine weitgehende innerparteiliche Demokratisierung sowie eine prinzipiell-politische Ausübung der führenden Rolle der Partei in gesetzlichem Rahmen an. Die gesellschaftlichen Organisationen sollten in Zukunft ihrer Funktion als „Transmissionsriemen“ der Parteientscheidungen entbunden werden und als unabhängige Interessenvertretungen handeln. Von besonderer Bedeutung für die weiteren politischen Entwicklungen waren schließlich die Vorschläge, die Verfassung zu überprüfen, die Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit einzuführen sowie Gesetze über die lokalen Selbstverwaltungen, das Vereinigungsrecht und die Versammlungsfreiheit auszuarbeiten. Bezüglich der personellen Veränderungen kam es ebenfalls in den Wochen vor der Konferenz zu grundlegenden Entscheidungen bzw. Kompromissen. Vor dem Hintergrund der wachsenden Kritik rang sich der kurz vor der Vollendung seines 75. Lebensjahres stehende Generalsekretär Kádár Anfang Mai 1988 dazu durch, den Posten des Parteichefs an Ministerpräsident Grósz abzugeben, auch aus dem Politbüro auszuscheiden und die repräsentative Funktion eines Parteipräsidenten zu übernehmen. (Grósz sollte für eine Übergangszeit von einem halben Jahr beide Ämter wahrnehmen.) Hinsichtlich der zukünftigen Zusammensetzung des Politbüros wurde nach langwierigen Verhandlungen zwischen Grósz und Kádár ein Kompromiss geschlossen. Dieser sah vor, dass fünf Sitze im Politbüro neu besetzt werden sollten (unter anderen sollten die für ihre Reformbereitschaft bekannten Politiker Imre Pozsgay und Rezső Nyers sowie ZK-Sekretär Miklós Németh ins oberste Parteigremium aufsteigen), acht Politbüro-Mitglieder sollten wiedergewählt werden. Der im Vorfeld der Parteikonferenz geplante personelle Wandel sah somit zwar beträchtliche Veränderungen im Spitzengremium vor, eine völlige Entmachtung des Kádár-Zirkels war aber nicht beabsichtigt. Auf der Landesparteikonferenz, die vom 20. bis 22. Mai 1988 in Budapest stattfand, nahmen die Delegierten die mehrfach modifizierte Vorlage der Konferenzstellungnahme55 erwartungsgemäß mit überwältigender Mehrheit an. Damit stimmten

55  A Magyar Szocialista Munkáspárt országos értekezletének állásfoglalása a párt feladatairól, a politikai intézményrendszer fejlesztéséről [Stellungnahme der Landeskonferenz der Ungarischen So-



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sie – nunmehr unter der Bezeichnung „sozialistische Marktwirtschaft“ – für die Fortsetzung der Wende in der Wirtschaftspolitik, billigten die tiefgreifenden und umfassenden politischen Reformen im Zeichen des „sozialistischen Pluralismus“ und bestätigten auch die unter Grósz eingeleitete Akzentverschiebung in der Außenpolitik. Hinsichtlich letzterer hielt die Stellungnahme zwar – ähnlich wie das Entfaltungsprogramm – an der herausragenden Rolle der Außen- bzw. Außenwirtschaftsbeziehungen zur Sowjetunion, zum Warschauer Vertrag und zum Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe fest, sie plädierte aber auch zugunsten einer radikalen Umgestaltung der Bündnissysteme auf der Grundlage von Gleichberechtigung bzw. Marktmechanismus und unterstrich die wachsende Bedeutung nationaler Interessen in der ungarischen Wirtschaft und Politik sowie die Ost-West-Zusammenarbeit und die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kontakte zu westlichen Ländern.56 Bezüglich der Beziehungen zum Westen stellte die Stellungnahme Folgendes fest: „Zu den entwickelten kapitalistischen Staaten erweitern wir unsere politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen, kulturellen und humanitären Beziehungen auf der Grundlage der Prinzipien der wechselseitigen Vorteile und der friedlichen Zusammenarbeit. Wir bemühen uns um geregelte, vertraglich regulierte Beziehungen zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.“57

In diesem Dokument wurde erstmals explizit auf das gesamte Spektrum der Westkontakte verwiesen, die Gegenseitigkeit der Kooperation hervorgehoben und das – bisher nicht öffentlich propagierte, aber ökonomisch extrem bedeutungsvolle – Ziel der Regelung der Beziehungen Ungarns zur EWG thematisiert. Während die Verabschiedung der Konferenzstellungnahme plangemäß verlief, kam es bei den Personalentscheidungen zu unerwarteten Entwicklungen. Zwar wählten die Delegierten – wie geplant – Károly Grósz zum neuen Generalsekretär und rund 60 Prozent der ZK-Mitglieder erneut in dieses Gremium, mehrere herausragende Vertreter des Kádár-Zirkels verfehlten aber die notwendige Stimmenzahl. Dies bedeutete auch, dass drei exponierte Anhänger Kádárs58 nicht wieder ins Politbüro aufsteigen konnten und der zuvor ausgehandelte Kompromiss damit hinfällig wurde. Aufgrund des Herausfallens dieser „Altkádáristen“ aus dem höchsten Parteigremium und der starken Position, die Grósz als neuer, auch von Moskau unterstützter Generalsekretär und weiterhin amtierender Ministerpräsident besetzte, schien der Verwirkli-

zialistischen Arbeiterpartei über die Aufgaben der Partei und die Entwicklung des Systems der politischen Institutionen]. In: Népszabadság, 23. Mai 1988, S. 7–10 (= Dokument 11). 56  Ganz in diesem Sinne äußerte sich auch der abtretende Generalsekretär János Kádár in seinem Konferenzschlusswort bzw. seiner letzten Rede vor der Öffentlichkeit (siehe hierzu Földes, Kádár János külpolitikája, S. 533–534). 57  Ebenda, S. 10. 58  Károly Németh, Sándor Gáspár und Ferenc Havasi. Havasi wurde ganz offensichtlich für die verfehlte Wirtschaftspolitik des vergangenen Jahrzehnts „abgestraft“.

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chung des „sozialistischen Pluralismus“ und der – nunmehr offiziell so bezeichneten – „sozialistischen Marktwirtschaft“ nun nichts mehr im Wege zu stehen.

4.1.4 D  ie Bonner Diplomatie und die Ergebnisse der Landeskonferenz der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei Auch in Bonn hatte man der Landeskonferenz der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei mit gespannter Erwartung entgegengesehen. Bereits zwei Monate vor der Parteikonferenz hatte das Auswärtige Amt einen Bericht erstellen lassen, in dem der Stand der politischen Reformen in Ungarn dargelegt wurde.59 Das Dokument verwies dabei auf den schrittweisen Funktionswandel der politischen Institutionen in den vergangenen Jahrzehnten, wobei es vor allem die wachsende politische Rolle von Regierung, Parlament und Massenorganisationen gegenüber der Partei, zugleich aber auch die Absicht der ungarischen Führung, am Einparteiensystem festzuhalten, herausstellte. Wie der Bericht zeigt, betrachtete die Bonner Diplomatie die Entscheidung der Frage, wer die Nachfolge Kádárs antreten werde und wie sich das Verhältnis zwischen Konservativen und Reformern entwickeln würde, als entscheidend für den weiteren Verlauf des Veränderungsprozesses – und dementsprechend auch als wesentlich für die zukünftige Entwicklung der bilateralen Beziehungen. Nachdem die Landesparteikonferenz vom Mai 1988 zu den dargelegten Ergebnissen geführt hatte, zog die bundesdeutsche Diplomatie schließlich eine positive Bilanz: „Die Parteikonferenz schuf vorbehaltlos die personellen und sachlichen Voraussetzungen zu dem von Grósz propagierten Kurs, die erforderliche Wirtschaftsreform in Ungarn durch politische Reformen zu begleiten und so die Bevölkerung wirtschaftlich und politisch zu engagieren, über wirtschaftspolitisch notwendige, aber sozialpolitisch schmerzhafte Maßnahmen hinwegzukommen und schließlich Wirtschaftskreise und Politik des Westens für Ungarn weiter zu interessieren.“60

Gleichzeitig betrachtete die bundesdeutsche Diplomatie die Absicht, einen „sozialistischen Pluralismus“ zu verwirklichen, aber durchaus – und wie sich schnell zeigen

59  Informationsbericht des Auswärtigen Amts vom 24. März 1988 über den Stand der politischen Reformen in Ungarn (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 10); siehe auch Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 1. März 1988 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 9). 60  Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Juli 1988 (PA AA, Zwischenarchiv, 139.939 E, ohne Paginierung) (= Dokument 14).



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sollte zurecht – skeptisch und verwies auf zahlreiche offene Fragen, die noch zu klären seien. Zusammenfassend konstatierte sie „für Ungarn eine Zielvorgabe, die das System weit über die Grenzen eines sozialistischen Modells bisheriger Prägung hinaus in einen neuen Zustand führen würde, den die Befürworter als Optimalmischung von Sozialismus und westlicher Markteffizienz, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erhoffen, den vorsichtige Beobachter aber eher als Ansatz zur Quadratur des Kreises empfinden“.61

Ganz im Sinne dieser Feststellung sollte die Bundesrepublik nun – neben den Entscheidungen und tatsächlichen Maßnahmen der ungarischen Wirtschaftsführung – auch die offenen politischen Entwicklungen in Ungarn mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen, insbesondere auch in Hinblick auf das Verhältnis der Machthaber gegenüber der Opposition. Trotz einer gewissen bundesdeutschen Skepsis wirkten sich – wie Botschafter Horváth nach Budapest berichten konnte – die Entwicklungen im Mai 1988 aber grundsätzlich positiv auf die westdeutsch-ungarischen Beziehungen aus: „Die auf der Parteikonferenz vom Mai [1988] eingetretenen Veränderungen haben Sympathie hervorgerufen und wesentlich dazu beigetragen, dass sich das Vertrauen in die ungarischen Reformen erneut verstärkt hat.“62

4.1.5 Die Politik von Partei- und Regierungschef Károly Grósz Nach der Landesparteikonferenz vom Mai 1988 ging die neue Parteiführung unter Generalsekretär Grósz – neben der Fortsetzung der wirtschaftspolitischen Wende – unverzüglich daran, die politischen Reformvorhaben zu konkretisieren und in die Praxis umzusetzen.63 So ließ sie einerseits ZK-Arbeitsausschüsse zur Analyse der sozialen und ökonomischen Entwicklungen in Ungarn in den vergangenen vier Jahrzehnten und zur – darauf aufbauenden – Entwicklung eines neuen Parteiprogramms sowie zur Ausarbeitung neuer Parteistatuten einsetzen. Andererseits beauftragte sie Parlament und Regierung, Maßnahmen zur Reform der Staatsorganisation in Angriff zu nehmen. Hierzu sollte die gesamte Verfassung und die Geschäftsordnung des Parlaments überprüft und mit der Ausarbeitung einer Reihe von konkreten Gesetzesvorhaben – darunter ein neues Wahlgesetz, ein neues Rätegesetz, ein Versamm-

61  Ebenda. 62  Jahresbericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth für Außenminister Péter Várkonyi vom 27. Juni 1988 (MNL OL, 288.f.32/85. ő. e. (NSZK/1989/C), fol. 653–675, hier fol. 653) (= Dokument 12). 63  Ausführlich hierzu siehe Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 80–105.

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lungs- und Vereinigungsgesetz sowie ein Gesetz über die Gewissens- und Glaubensfreiheit – begonnen werden. Und schließlich kündigte die Parteiführung auch die Umwandlung des Gewerkschaftsverbandes, der Volksfront und des Jugendverbandes in parteiunabhängige Interessenvertretungen an. Im Rahmen der Arbeiten zur Verwirklichung des „sozialistischen Pluralismus“ entstanden in den folgenden Monaten zahlreiche prinzipielle Stellungnahmen, Diskussionsvorlagen und Gesetzentwürfe. Die für den politischen Liberalisierungsprozess wichtigsten Vorlagen waren die Entwürfe für das Versammlungs- und für das Vereinigungsgesetz, die – nach eingehenden Diskussionen – allerdings erst im Januar 1989 angenommen werden sollten. Währenddessen kam es im Bereich der Wirtschaftspolitik zu bedeutenden Schritten in Richtung einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Mitte Juli 1988 beschloss das Zentralkomitee nach einer eingehenden, ganz im Zeichen der innerparteilichen Demokratisierung stehenden Diskussion über zwei mögliche Wege der Wirtschaftspolitik und ohne die bisherige obligatorische „Empfehlung“ des Politbüros, die „sozialistische Marktwirtschaft“ vor dem Hintergrund der kritischen Wirtschaftslage nicht im Zuge eines längerfristigen Prozesses, sondern auf beschleunigte Weise zu verwirklichen: Die ungarischen Wirtschaftsstrukturen sollten gemäß dieser Variante innerhalb von sieben bis acht Jahren im Sinne einer Marktwirtschaft reorganisiert und eine schnelle Anpassung an die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen herbeigeführt werden, wobei eine Arbeitslosigkeit von bis zu 100.000 Personen und eine schnell wachsende soziale Ungleichheit in Kauf genommen wurde.64 Eine für den ökonomischen Strukturwandel besonders bedeutungsvolle Maßnahme unter Ministerpräsident Grósz war die Verabschiedung des auch von der bundesdeutschen Seite gespannt erwarteten Gesetzes über die Wirtschaftsgesellschaften65 durch das Parlament am 10. Oktober 1988. Das Gesetz, das die im Entfaltungsprogramm beschlossene Eigentumsreform einleitete und am 1. Januar 1989 in Kraft trat, regelte „die Gründung von Wirtschaftsgesellschaften, ihre Organisation, die Tätigkeit ihrer Organe und die Rechte der Gesellschafter, ihre Pflichten und ihre Haftung sowie die Auflösung der Gesellschaften“ (§ 1, Absatz 1). Ganz am Vorbild des deutschen Wirtschaftsrechts orientiert, sah es – unter anderem – die Gründung

64  Jegyzőkönyv a Központi Bizottság 1988. július 13–14-én megtartott üléséről [Protokoll über die Sitzung des Zentralkomitees am 13./14. Juli 1988] (MNL OL, 288.f.4/240–241. ő. e., fol 305–307); Népgazdaságunk helyzetéről és fejlődésünk fő irányairól. Előterjesztés az MSZMP Központi Bizottságának ülésére [Die Lage unserer Volkswirtschaft und die Hauptrichtungen unserer Entwicklung. Vorlage für die Sitzung des Zentralkomitees]. In: Népszabadság, 9. Juli 1988, S. 3. 65  1988. évi VI. törvény a gazdasági társaságokról [Gesetz Nr. VI des Jahres 1988 über die Wirtschaftsgesellschaften]. In: Törvények és rendeletek hivatalos gyűjteménye 1988 [Offizielles Kompendium der Gesetze und Verordnungen 1988]. Budapest 1989, S. 38–133 (= Dokument 16); siehe auch Tamás Sárközy, Das Gesetz über die Wirtschaftsgesellschaften. In: Ders. (Hrsg.), Ausländische Investitionen in Ungarn. Budapest o. J. [1989], S. 160–186; Tamás Sárközy, Das Privatisierungsrecht in den ehemaligen sozialistischen Staaten Europas. Budapest 2009, S. 190–195.



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von Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH), Aktiengesellschaften (AG) und Kommanditgesellschaften (KG) vor. Das Gesetz ermöglichte damit – nach vierzigjähriger Unterbrechung – erstmals wieder die Etablierung von kapitalistischen Unternehmen- und Eigentumsformen in Ungarn, die dazu dienen sollten, die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft zu steigern sowie in- und ausländisches Kapital in den ungarischen Wirtschaftskreislauf einfließen zu lassen. Zusammen mit dem im Dezember 1988 verabschiedeten Gesetz über die Investitionen von Ausländern in Ungarn66 bildete es einen Grundpfeiler für den ökonomischen Systemwechsel sowie für Auslandsinvestitionen in Ungarn. Beide Gesetze sollten zum 1. Januar 1989 in Kraft treten. Darüber hinaus unternahm die Németh-Regierung in dieser Phase noch eine Reihe weiterer Schritten zur Etablierung einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Hierzu zählten die vom Internationalen Währungsfonds nachdrücklich geforderte Streichung der Subventionen für verlustreiche Großbetriebe, insbesondere im Bereich des Bergbaus und der Schwerindustrie, sowie die am 25. Oktober 1988 angekündigte Beendigung der Vollbeschäftigung.67 (Um zumindest einen Teil der damit verbundenen sozialen Belastungen abzufangen, sah die Regierung allerdings auch vor, zum 1. Januar 1989 eine Arbeitslosenunterstützung einzuführen.) Mit dem Ziel, eine grundlegende Modernisierung des Steuersystems herbeizuführen, beschloss das Kabinett im Herbst 1988, zum Jahresbeginn 1989 eine einheitliche Unternehmensgewinnsteuer von 50 Prozent68 festzulegen sowie die Einkommens- und Mehrwertsteuer einzuführen.69 Und im Zuge der bereits 1987 begonnenen Bankenreform, deren erste Maßnahme die funktionelle Trennung von Nationalbank (Zentralbank) und Geschäftsbanken (Handelsbanken) gewesen war,70 ermöglichte es der Staat den Geschäftsbanken nun, neben ihren Geschäftskunden ab dem 1. Januar 1989 auch Privatkunden zu betreuen.71 Darüber hinaus sah die Németh-Regierung eine weitere Liberalisierung des Außenhandels vor: Sie erlaubte es den Unternehmen, zum Jahresbeginn 1989 selbstständige Außenhandelsaktivitäten gegen konvertible Währun-

66  1988. évi XXIV. törvény a külföldiek magyarországi befektetéseiről [Gesetz Nr. XXIV des Jahres 1988 über die Investitionen von Ausländern in Ungarn] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 69, 31. Dezember 1988, S. 1710–1715) (= Dokument 18). 67  Siehe hierzu Romsics, Volt egyszer egy rendszerváltás, S. 98. 68  Bei einem Jahresgewinn von weniger als 3 Millionen Forint sollte die Steuer lediglich 40 Prozent betragen. 69  Näheres hierzu siehe Ottó Gadó, Das ungarische Steuersystem. In: Ungarische Wirtschaftshefte 5 (1989), H. 3, S. 34–39. 70  Bei der Bankenreform des Jahres 1987 wurde ein zweistufiges Bankensystem errichten. Die Funktion der Nationalbank wurde darin auf die Aufgaben einer Notenbank und die Ausübung des Devisenmonopols beschränkt und die Betreuung der Unternehmenskunden verschiedenen Geschäftsbanken, an denen sich auch ausländische Geldinstitute beteiligen konnten, übertragen. 71  Siehe hierzu László Budavári, Das ungarische Bankensystem in der Phase der Umgestaltung. In: Südosteuropa 37 (1988), H. 2, S. 59–72.

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gen zu verfolgen und 40 Prozent ihrer Hartwährungseinfuhren ohne Genehmigungen durchzuführen.72 Im Bereich der Außenwirtschaft gelang es der ungarische Regierung währenddessen, einen für die Entwicklung der Gesamtwirtschaft besonderen Erfolg verbuchen, nämlich den Abschluss eines umfassenden Handels- und Wirtschaftsabkommens zwischen Ungarn und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft am 26. September 1988.73 Das Abkommen, um das sich Ungarn – wie gezeigt – seit Anfang der 1980er Jahre bemüht hatte und dabei von der Bundesrepublik (die selbstverständlich mit Blick auf die Weiterentwicklung des bilateralen Handels ebenfalls ein großes Inte­ resse am Zustandekommen des Vertrags hatte) seit 1984 tatkräftig unterstützt worden war,74 trat am 1. Dezember 1988 in Kraft. Es eröffnete Ungarn zahlreiche neue Möglichkeiten, Zugang zum westeuropäischen und damit vor allem zum westdeutschen Markt zu erhalten, und sah überdies Möglichkeiten für eine „handelspolitische und wirtschaftliche Zusammenarbeit“ vor. Während Generalsekretär und Regierungschef Károly Grósz den Prozess der Etablierung einer grundsätzlich nach den Regeln der Marktwirtschaft funktionierenden Ordnung mit gemischten (staatlichen, genossenschaftlichen und privaten) Eigentumsformen konsequent weiterführte und versuchte, die Politik des „sozialistischen Pluralismus“ zu implementieren, kam es entsprechend den Entscheidungen vom Mai 1988 auch in der ungarischen Außenpolitik zu besonderen Aktivitäten. Die von Budapest verfolgte außenpolitische Linie setzte in diesem Sinne vier Akzente, nämlich die Abstimmung der politischen und ökonomischen Vorhaben der ungarischen Führung mit der sowjetischen Vormacht und die Gewinnung ihrer Zustimmung für diesen Kurs, die Reform des östlichen Militär- und insbesondere Wirtschaftsbündnisses, die Verbesserung der Situation der ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten und die Intensivierung der Beziehungen zum Westen.75 Aufgrund der auch weiterhin besonderen politischen und – vor allem im Hinblick auf die Energie- und Rohstoffversorgung Ungarns – wirtschaftlichen Bedeutung der

72  Länderaufzeichnung Ungarn der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt vom 29. Mai 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 33). 73  Abkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Ungarischen Volksrepublik über den Handel und die handelspolitische und wirtschaftliche Zusammenarbeit. In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 327, 31. Jg., 30. November 1988, S. 2–8; siehe hierzu auch Árpádné Hargita, Vissza Európába – rögös úton. Egy közreműködő szemével [Zurück nach Europa – auf holprigem Weg. Mit den Augen einer Mitwirkenden]. Budapest 2012, S. 133–136. 74  Der ungarische Botschafter in Bonn István Horváth spricht in diesem Zusammenhang von einer „bedeutenden deutschen Unterstützung“ (Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 41). 75  Zur ungarischen Außenpolitik unter Ministerpräsident Grósz siehe Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 87–91; Nagy (Hrsg.), Magyar külpolitika 1956–1989, S. 246–279; Horn, Freiheit, S. 241–280; siehe auch die Analyse im Kapitel Außenpolitik des Politischen Halbjahresberichts der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 1. März 1988 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 9).



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Sowjetunion für Ungarn besuchte Grósz bereits wenige Wochen nach der Übernahme des höchsten Parteiamts – so wie er dies bereits nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten getan hatte76 – die Sowjetunion. Bei diesem Besuch ging es – wie bei den vorangegangenen Visiten ungarischer Politiker – vor allem darum, die Grundaspekte der gemeinsamen Außen- bzw. Abrüstungspolitik zu erörtern, Möglichkeiten der – von beiden Führungen befürworteten – Demokratisierung bzw. Reform des Warschauer Pakts und des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe zu diskutieren sowie die innen- und wirtschaftspolitischen Veränderungen in beiden Ländern bzw. die Frage der „Zukunft des Sozialismus“ zu erörtern.77 Auch wenn die ungarischen Pläne im Zeichen der „sozialistischen Marktwirtschaft“ und des „sozialistischen Pluralismus“ mittlerweile über die Reformvorstellungen Gorbatschows hinausgingen, wurden sie dennoch von Moskau befürwortet. Nach seinem Treffen mit Gorbatschow Anfang Juli 1988 konnte Grósz so öffentlich feststellen, dass Moskau nicht beabsichtige, in die innerungarischen Veränderungsprozesse einzugreifen, und niemandem sein Konzept über den Weg zur Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft aufzwingen wolle.78 (Ob die Breschnew-Doktrin damit für immer aufgehoben war bzw. bis zu welchem Punkt des Veränderungsprozesses Ungarn mit ihrer Suspendierung rechnen konnte, war damals allerdings noch keineswegs eindeutig abzusehen.79) Nachdem Generalsekretär Grósz bei seinem Moskau-Besuch gegenüber Parteichef Gorbatschow bereits klargemacht hatte, dass sein Land nicht mehr in der Lage sei, das – im Laufe der vergangenen Jahrzehnte der RGW-Kooperation entstandene – gewaltige Handelsaktivum gegenüber der Sowjetunion zu finanzieren, und auch nicht fähig sei, den Export von Produkten mit einem hohen Anteil an westlichen Produktteilen in die Sowjetunion fortzusetzen,80 setzten sich ZK-Sekretär Miklós Németh

76  Seine erste Auslandsreise als Regierungschef hatte Grósz Mitte Juli 1987 zu einem Freundschaftsbesuch nach Moskau geführt. In dieser Phase hatten zudem auch der damals noch amtierende Generalsekretär János Kádár (Oktober/ November 1987) sowie die ZK-Sekretäre Miklós Németh (Dezember 1987) und György Fejti (Januar 1988) der Sowjetunion Besuche abgestattet. 77  Ausführlich zu den Unterredungen von Grósz und Gorbatschow in dieser Phase siehe Jelentés az MSZMP Politikai Bizottságának Grósz Károly 1987. július 17–18-i moszkvai látogatásáról [Bericht für das Politbüro der MSZMP über den Moskau-Besuch von Károly Grósz am 17./18. Juli 1987], Jegyzőkönyv Mihail Gorbacsov és Grósz Károly 1988. július 5-i moszkvai találkozójáról [Protokoll über das Treffen von Michail Gorbatschow und Károly Grósz in Moskau am 5. Juli] und Jelentés az MSZMP Politikai Bizottságának Grósz Károly 1988 július 4–5-i moszkvai látogatásáról [Bericht für das Politbüro der MSZMP über den Moskau-Besuch von Károly Grósz am 4.–5. Juli 1988]. In: Magdolna Baráth/ János M. Rainer (Hrsg.), Gorbacsov tárgyalásai magyar vezetőkkel. Dokumentumok az egykori SZKP és MSZMP archívumaiból 1985–1991 [Gorbatschows Verhandlungen mit ungarischen Führern. Dokumente aus den einstigen KPdSU- und MSZMP-Archiven 1985–1991]. Budapest 2000, S. 111–119, S. 126–155. 78  Vgl. Népszabadság, 6. Juli 1988, S. 2. 79  Hierauf weist Csaba Békés zurecht nachdrücklich hin (Békés, Európából Európába, S. 286–292). 80  Jegyzőkönyv Mihail Gorbacsov és Grósz Károly 1988. július 5-i moszkvai találkozójáról [Protokoll über das Treffen von Michail Gorbatschow und Károly Grósz in Moskau am 5. Juli]. In: Baráth/ Rainer (Hrsg.), Gorbacsov tárgyalásai magyar vezetőkkel, S. 139–141.

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und Gyula Horn, Staatssekretär im Außenministerium, im Sommer 1988 für eine radikale Neugestaltung der östlichen Wirtschaftskooperation ein. Auf der Sitzung des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe Anfang Juli 1988 bezeichneten sie die gegenwärtige Situation der Wirtschaftskooperation als unhaltbar und forderten eine Reorganisation der Wirtschaftsordnungen der einzelnen Mitgliedsstaaten im Sinne der Marktwirtschaft und eine entsprechende Reform des Wirtschaftsbündnisses.81 Ihre Bestrebungen stießen allerdings, insbesondere auf Seiten der DDR, Rumäniens und Bulgariens, auf heftigen Widerstand. Dies machte letztlich deutlich, dass einer marktwirtschaftlichen Neugestaltung des RGW – zumindest für absehbare Zeit – kaum Erfolgschancen beschieden waren. Ganz im Sinne der in der Stellungnahme der Parteikonferenz festgehaltenen Betonung nationaler Aspekte in der Außenpolitik begann die ungarische Diplomatie unter Partei- und Regierungschef Grósz im Frühjahr 1988 auch damit, der – in der Gesellschaft immer stärker thematisierten – Frage der ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern besondere Aufmerksamkeit zu schenken und auf der Verwirklichung der individuellen und kollektiven Rechte der Minderheiten zu bestehen. In diesem Zusammenhang kam der Politik gegenüber Rumänien, das seit Jahrzehnten einen rigorosen, sich verschärfenden Kurs gegenüber den Minderheiten im Land verfolgte und Anfang 1988 zudem ein auch die ungarische Minderheit betreffendes „Dorfzerstörungsprogramm“82 implementierte, eine besondere Bedeutung zu. Und nach der – erwähnten – Massendemonstration vom 27. Juni 1988 gegen die rumänische Minderheitenpolitik kam die ungarische Führung unter massiven Zugzwang. Ministerpräsident Grósz bemühte sich hierauf in verstärktem Maße, die Frage der Minderheitenrechte auf internationalen Foren zu thematisieren83 und in direkten Kontakt zum rumänischen Diktator Ceauşescu zu treten. Letzteres führte am 28. August 1988 zu einem Treffen der beiden Politiker im rumänischen Arad. Bei dieser Gelegenheit konnte Grósz allerdings keinerlei Erfolg verzeichnen und geriet so unter heftige Kritik innerhalb und außerhalb seiner Partei. Aufgrund der beschriebenen Reorientierung in der Außenwirtschaftspolitik spielten auch nach der Parteikonferenz Initiativen zur Intensivierung der Beziehungen zum Westen – bei gleichzeitiger Einbindung in die östlichen Bündnissysteme – eine

81  Vgl. Magdolna Baráth, Mit dem Gesicht nach Westen. Die Neuorientierung der ungarischen Außenpolitik. In: Stefan Karner/ Philip Lesiak (Hrsg.), Der erste Stein aus der Berliner Mauer. Das Paneuropäische Picknick 1989. Innsbruck/ Wien/ Bozen (in Vorbereitung); Népszabadság, 7. Juli 1988, S. 1, S. 3. 82  Das auch als „Systematisierungsprogramm“ bezeichnete Vorhaben der rumänischen Regierung sah vor, die Bevölkerung kleinerer rumänischer Ortschaften in agroindustrielle Zentren umzusiedeln und die Dörfer, die häufig auch von Minderheiten bewohnt wurden, vollständig zu zerstören. 83  So beispielsweise beim Treffen der Warschauer-Pakt-Staaten in Bukarest Mitte Juli 1989 und während des Wiener KSZE-Nachfolgetreffens im September 1988.



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besondere Rolle. Deren Bedeutung nahm auch deshalb immer mehr zu, weil Ungarn – wie sich in diesen Monaten besonders deutlich abzeichnete – weder eine effektivere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Staaten des östlichen Wirtschaftsbündnisses erreichen konnte, noch sich – wie gezeigt – eine an marktwirtschaftlichen Erfordernissen ausgerichtete Reform der RGW-Kooperation abzeichnete.84 Vor diesem Hintergrund stattete Grósz während seiner Amtszeit als Regierungschef einer Reihe von westlichen oder „neutralen“ Ländern Besuche ab. Während seiner Aufenthalte in Großbritannien (Mai 1988), den Vereinigten Staaten (Juli 1988), Kanada (Juli 1988), Österreich (November 1988) und Frankreich (November 1988) ging es ihm in erster Linie darum, Sympathien für die neue Wirtschafts- und Innenpolitik Ungarns zu gewinnen sowie den Abschluss einer Reihe von Abkommen anzuregen.

4.1.6 D  ie westdeutsch-ungarischen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen im Sommer/ Herbst 1988 In dem halben Jahr, das der Parteikonferenz folgte, kam es auf der politisch-diplomatischen Ebene zu zahlreichen Treffen westdeutscher und ungarischer Politiker. Nachdem Botschafter Horváth die westdeutsche Seite bereits im Vorfeld der Parteikonferenz über die Entwicklung der Kräfteverhältnisse in der ungarischen Politik und die politischen Perspektiven informiert hatte, besuchte Miklós Németh in seiner Funktion als ZK-Sekretär für Wirtschaftspolitik und Politbüromitglied im Juni 1988 erneut die Bundesrepublik.85 Bei dieser Gelegenheit traf sich Németh mit Bundeskanzler Helmut Kohl und weiteren Vertretern der bundesdeutschen Politik sowie mit Managern aus der Wirtschaft und Finanzwelt, die er über die politischen und wirtschaftlichen Zielsetzungen Ungarns nach der Parteikonferenz informierte. Bei seiner Unterredung mit dem Bundeskanzler sprach Németh erneut die Kreditfrage an und signalisierte, dass er den wirtschaftlichen und politischen Veränderungsprozess in Ungarn weiter beschleunigen wolle. Die darauf erfolgenden Antworten von Kohl machten zwei Sachverhalte, die die bundesdeutsche Politik gegenüber Ungarn auch im folgenden Jahr kennzeichnen sollten, deutlich: Zum einen zeigten sie, dass Ungarn zwar mit dem angesprochenen Kredit rechnen konnte, auf die Auszahlung allerdings aufgrund des – historisch begründeten – Vorrangs eines kurz zuvor vereinbarten bundesdeutschen Kredits für Polen warten musste. Zum anderen offenbarte

84  Zur Krise des RGW siehe Christian Meier, Die UdSSR und Osteuropa. Auf dem Weg zu einer neuen Struktur multilateraler Beziehungen? (Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Bd. 43). Köln 1989, S. 14–19. 85  Bezüglich des Besuchs von Németh in der Bundesrepublik, über den keine Archivquellen zur Verfügung stehen, kann lediglich auf die Erinnerungen des damaligen ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth zurückgegriffen werden (Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 102, S. 104–106; Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf, S. 263–265).

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sich, dass Bonn zwar einen beschleunigten Wandel in Ungarn begrüßte, sich gleichzeitig aber auch Sorgen über die Reaktion Moskaus machte. Kurz nach den Bonner Besprechungen Némeths traf Gyula Horn, Staatssekretär im ungarischen Außenministerium, in der Bundeshauptstadt ein und führte Gespräche mit Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher.86 Wie der Besuch von Németh diente auch die Horn-Visite letztlich dazu, „die deutsche Führung auf jene geplanten innen- und außenpolitischen Veränderungen ‚vorzubereiten‘, zu denen Ungarn um weitere Unterstützung aus der BRD ersuchte“.87 Unter den zahlreichen weiteren Ereignissen der westdeutsch-ungarischen Besuchsdiplomatie dieser Monate sind zwei Treffen besonders hervorzuheben, nämlich der Besuch von Innenminister István Horváth88 in der Bundesrepublik (Juli 1988) sowie die Visite von Heinz Riesenhuber (CDU), Bundesminister für Forschung und Technologie, in der ungarischen Hauptstadt (November 1988). Horváth, der der Bundesrepublik einen offiziellen Besuch abstattete, führte Gespräche mit seinem Amtskollegen Friedrich Zimmermann (CSU), mit Generalbundesanwalt Kurt Rebmann und mit dem bayerischen Innenminister August Lang (CSU).89 Im Mittelpunkt der Unterredungen stand die Ausweitung der bilateralen Kooperation auf gänzlich neuartige Bereiche, nämlich auf die innere Sicherheit bzw. die Bekämpfung des Terrorismus sowie auf Fragen des Grenzschutzes. Der Besuch von Bundesminister Riesenhuber diente vor allem der Konkretisierung der Zusammenarbeit, die im Abkommen über wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit vom 7. Oktober 1987 vereinbart worden war. Hinsichtlich der Weiterentwicklung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zeitigten die intensiven ungarischen Bemühungen, sich bundesdeutsche Unterstützung bei der Überwindung der Wirtschaftskrise und für den ökonomischen Veränderungsprozess zu sichern, im Sommer 1988 einen weiteren Erfolg. Wie ein Dokument des Bundeskanzleramts, das dem ungarischen Botschafter István Horváth vertraulich zur Verfügung gestellt worden war und dessen zentrale Inhalte Horváth im September 1988 an ZK-Sekretär Miklós Németh übermittelte, offenbart, plädierte Bonn dafür, alle Möglichkeiten zu nutzen, um die ungarische Wirtschaft dauerhaft zu stärken.90

86  Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 106–107; Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf, S. 265–267. 87  Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 107. 88  Horváth ist nicht identisch oder verwandt mit dem gleichnamigen ungarischen Botschafter in Bonn. 89  Zum Besuch von Innenminister Horváth in der Bundesrepublik siehe Belügyminisztérium. Titkárság. Nemzetközi Kapcsolatok Osztálya. Jelentés az MNK Belügyminisztérium küldöttségének az NSZK-ba tett látogatásáról /1988. július 4–7./ [Innenministerium. Sekretariat. Abteilung für Internationale Beziehungen. Bericht über den Besuch der Delegation des Innenministeriums der Volksrepublik Ungarn in der BRD (4.–7. Juli 1988)] (MNL OL, 288.f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/B), fol. 599–604). 90  Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an ZK-Sekretär Miklós Németh vom 22. September 1988 über die Möglichkeiten zur Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen (Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 211–214) (= Dokument 15).



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Hierzu sah man auf westdeutscher Seite unter anderem vor, die Kooperation zwischen den Unternehmen beider Länder zu intensivieren und in verstärktem Maße gemischte Unternehmen in Ungarn ins Leben zu rufen sowie die ungarischen Exportmöglichkeiten und Reformbestrebungen auf internationaler Ebene zu fördern. Vor dem Hintergrund der bislang unzureichenden Maßnahmen der ungarischen Seite stellte das Kanzleramt allerdings auch klar, dass eine Reihe von Voraussetzungen für eine erfolgreiche Weiterentwicklung der Wirtschaftsbeziehungen von Ungarn erfüllt werden müssten. Diesbezüglich wurde – unter anderem – auf die Notwendigkeit freier Kapital- und Warenströme, der Ausweitung der Unternehmensselbstständigkeit und des Privatsektors sowie des Subventionsabbaus und der Schließung unwirtschaftlicher Unternehmen verwiesen. Mit besonders großem Interesse erwartete auch das Kanzleramt das ungarische Gesetz über die Wirtschaftsgesellschaften, das – so Bonn – den in- und ausländischen Investoren und Unternehmern „klare Perspektiven“ offenbaren sollte. Als das Gesetz schließlich im Oktober 1988 verabschiedet wurde und am 1. Januar 1989 in Kraft trat, waren die Reaktionen in der bundesdeutschen Politik und Wirtschaft äußerst positiv.91 Trotz der bedeutenden Schritte, die in der ungarischen Wirtschafts- bzw. Außenwirtschaftspolitik seit Juli 1987 unternommen worden waren, offenbarte sich während der Amtszeit von Ministerpräsident Károly Grósz in den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen allerdings noch kein entscheidender Durchbruch. Bei den Handelsbeziehungen zeigten sich 1987/1988 aufgrund der schwierigen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der sinkenden Wettbewerbsfähigkeit der ungarischen Wirtschaft – wie bereits angesprochen – sogar rückläufige Tendenzen: Das Gesamtvolumen sank von 5.047 Millionen DM 1987 auf 5.022 Millionen DM 1988.92 Das ungarische Bilanzdefizit konnte allerdings von seinem Höchststand 1986 (über 900 Millionen DM) 1987 auf rund 740 Millionen DM und schließlich – infolge der radikalen Sparpolitik der Regierung Grósz – 1988 auf unter 500 Millionen DM gesenkt werden. Und auch im Bereich der Gründung von gemischten Unternehmen blieb bis Ende 1988 eine entscheidende Wende noch aus. Bis zu diesem Zeitpunkt waren lediglich 32 – zumeist kleinere – gemischte Unternehmen mit einem westdeutschen Grundkapital von 0,99 Milliarden Forint (etwa 28 Millionen DM) gegründet worden.93 Dies lag nicht nur an den fehlenden gesetzlichen Grundlagen (die entscheidenden Gesetze sollten erst 1989 in Kraft treten) und der unzureichenden Infrastruktur in Ungarn, sondern

91  Brief von Botschafter István Horváth an Miklós Németh vom Februar/ März 1989, veröffentlicht in Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 234–237; siehe auch Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 113–114. 92  Laut Angaben des Statistischen Bundesamts für die Jahre 1987 und 1988. 93  Központi Statisztikai Hivatal. A külföldi tőkeérdekeltségű vegyesvállalatok tevékenysége az iparban [Statistisches Zentralamt. Die Tätigkeit von gemischten Unternehmen mit ausländischer Kapitalbeteiligung in der Industrie]. Budapest, März 1989, S. 22.

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auch – wie der ungarische Botschafter in Bonn Mitte 1988 feststellte – an der Tatsache, dass die bilaterale Unternehmenskooperation bzw. die Gründung gemischter Unternehmen durch das vorsichtig-passive Verhalten des ungarischen Managements, fehlende Finanzmittel der ungarischen Unternehmen und ihre unvorteilhaften Produktionsstrukturen behindert wurde.94 Nachdem sich Bonn – wie dargelegt – bereits in der Frage der vertraglichen Regelung der Beziehungen Ungarns zur EWG tatkräftig und mit Erfolg auf der internationalen Ebene für Ungarn eingesetzte hatte, trat die bundesdeutsche Politik auch hinsichtlich einer anderen internationalen Angelegenheit zugunsten Ungarns auf, nämlich im Konflikt zwischen Ungarn und Rumänien, der durch die diskriminierende Minderheitenpolitik und das sogenannte Systematisierungsprogramm des rumänischen „Führers“ Nicolae Ceauşescu ausgelöst worden war.95 (Natürlich verfolgte Bonn auch hier bestimmte Eigeninteressen, nämlich die Verbesserung der Lage der rumäniendeutschen Minderheit.) Bereits bevor es zu der spektakulären oppositionellen Massendemonstration auf dem Budapester Heldenplatz gegen die rumänische Minderheitenpolitik am 27. Juni 1988 kam, hatten die Spannungen zwischen Ungarn und Rumänien in der Minderheitenfrage die Aufmerksamkeit der bundesdeutschen Diplomatie gefunden. In ihrem Halbjahresbericht vom März 1988 wies so die bundesdeutsche Botschaft darauf hin, dass das ungarisch-rumänische Verhältnis nach jahrelangen erfolglosen Budapester Bemühungen, die Lage der ungarischen Minderheit in Rumänien zu verbessern, durch wachsende Spannungen gekennzeichnet sei und dass der für Außenpolitik zuständige ZK-Sekretär Mátyás Szűrös es „als eine der wichtigsten Aufgaben der ungarischen Außenpolitik, sich um die außerhalb der Landesgrenzen lebenden Ungarn zu kümmern“, bezeichnet habe.96 Insbesondere nach dem Massenprotest in Budapest Ende Juni 1988 setzten sich dann mehrere bundesdeutsche Politiker, darunter der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) bei seiner Ungarn-Visite Ende August 198897 und Außenminister Hans-Dietrich Genscher bei seinem offiziellen Budapest-Besuch Mitte Dezember

94  Jahresbericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth für Außenminister Péter Vár­ konyi vom 27. Juni 1988 (MNL OL, 288.f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/C), fol. 653–675, hier fol. 658–659) (= Dokument 12). 95  Zur Politik Ungarns hinsichtlich der Ungarn in Siebenbürgen von 1986 bis 1988 siehe Földes, Kádár János külpolitikája, S. 499–506. 96  Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 1. März 1988 (Kapitel Außenpolitik, Punkt 8) (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 9). 97  Magyar Szocialista Munkáspárt Központi Bizottsága. Külügyi Osztály. Feljegyzés Otto Lambsdorff látogatásáról [Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Abteilung für Außenpolitik. Aufzeichnung über den Besuch von Otto Lambsdorff] [2. September 1988] (MNL OL, 288.f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/B), fol. 668–669).



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1988,98 demonstrativ für ein entschiedenes Eintreten der Bundesrepublik auf internationaler Ebene zugunsten der individuellen und kollektiven Rechte der ungarischen (und deutschen) Minderheit(en) in Rumänien ein.

4.1.7 Die politisch-gesellschaftlichen Pluralisierungsprozesse in Ungarn Während die Staats- und Parteiführung in den Monaten vor und nach der Landesparteikonferenz immer wieder betonte, dass die Ablösung des Einparteiensystems nicht auf der Tagesordnung stehe,99 setzten in Ungarn dynamische gesellschaftlichpolitische Pluralisierungsprozesse ein, die schnell den Rahmen des „sozialistischen Pluralismus“ sprengten.100 Nachdem es in den vorangegangenen Jahren bereits mehrmals zu kleineren Demonstrationen von „Andersdenkenden“, insbesondere am Jahrestag der Revolution von 1848 (15. März) und des Volksaufstandes von 1956 (23. Oktober) bzw. der Hinrichtung von Imre Nagy 1958 (16. Juni), gekommen war, erfolgten nach der Ankündigung der Staatspartei, ein Versammlungsgesetz vorzubereiten, zwei große Demonstrationen. Am 27. Juni 1988 kam es auf dem Budapester Heldenplatz zu dem angesprochenen, maßgeblich vom Ungarischen Demokratischen Forum (MDF) organisierten Massenprotest gegen die skrupellose Minderheitenpolitik bzw. das „Dorfzerstörungsprogramm“ des Bukarester Regimes und am 12. September 1988 folgte auf dem Budapester Vörösmarty-Platz eine von Umweltschützern und sympathisierenden Gruppen organisierte Großveranstaltung gegen das Staustufenprojekt bei Gabčikovo-Nagymaros. Und das auf der Parteikonferenz beschlossene Vorhaben, ein Streikgesetz in Angriff zu nehmen, sowie Arbeitsniederlegungen in polnischen Bergwerken Mitte August 1988 standen ganz offensichtlich im Hintergrund des am 23./24. August 1988 stattfindenden Streiks im Bergwerk im Mecsek-Gebirge. Auch infolge der im Frühjahr 1988 parteiintern einsetzenden Diskussion um ein Vereinigungsgesetz kam es nun zur Bildung einer Reihe von staatsbürgerlichen

98  Külügyminisztérium. Tájékoztató Hans-Dietrich Genschernek, a Német Szövetségi Köztársaság alkancellárjának 1988. december 14–15-i hivatalos magyarországi látogatásáról [Außenministerium. Informationsbericht über den offiziellen Besuch von Hans-Dietrich Genscher, Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland, in Ungarn vom 14. bis 15. Dezember 1988] [20. Dezember 1988] (MNL OL, 288.f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/B), fol. 950–953). 99  Siehe hierzu „A többpártrendszer nincs napirenden…“. Legfelsőbb szintű magyar politikai vezetők vélekedése az egypártrendszer-többpártrendszer kérdéséről 1988 során [„Das Mehrparteiensystem steht nicht auf der Tagesordnung…“. Die Meinung der obersten ungarischen politischen Führer über die Frage des Ein- oder Mehrparteiensystems im Laufe des Jahres 1988]. In: Sándor Kurtán/ Péter Sándor/ László Vass (Hrsg.), Magyarország Politikai Évkönyve 1988 [Politisches Jahrbuch Ungarns 1988]. Budapest 1989, S. 570–576. 100  Siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 91–98; Romsics, Volt egyszer egy rendszerváltás, S. 79–98; Ripp, Rendszerváltás Magyarországon, S. 87–109.

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Organisationen. Im Juni 1988 gründeten Historiker, Schriftsteller und Opfer der Kádár’schen Repression nach 1956 das „Komitee für Historische Gerechtigkeit“ (TIB), das sich die Aufarbeitung der Ereignisse vom Herbst 1956 und der kommunistischen Repression zum Ziel setzte. Ebenfalls im Juni 1988 bildete sich der „Nagymaros-Ausschuss“, der als Dachverband verschiedener Umweltbewegungen wie des „DonauKreises“ Umweltfragen und insbesondere das Staudammprojekt bei GabčikovoNagymaros thematisierte. Darüber hinaus kam es in den folgenden Monaten zur Gründung des „Öffentlichkeitsklubs“, der sich für einen freien Informations- und Meinungsaustausch sowie für die Öffentlichkeit des politischen und gesellschaftlichen Lebens einsetzte, des „Unabhängigen Juristenforums“ (FJF), das als Vereinigung ungarischer Rechtsanwälte den Übergang zu einer rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung fördern wollte,101 sowie zur Gründung der „Demokratischen Gewerkschaft der Pädagogen“ (PDSZ). Darüber hinaus erschienen im Sommer/ Herbst 1988 – im Rahmen mehrerer neuer alternativer Verlage – zahlreiche unabhängige Zeitschriften und Magazine („Reform“, „Kapu“, „Hitel“ usw.), die bisherige Tabuthemen wie Aids und die „Revolution von 1956“ aufgriffen, sowie Bücher, die „weiße Flecken“ in der ungarischen und sowjetischen Geschichte behandelten. Die folgenreichste Entwicklung nach der Parteikonferenz war das Hervortreten von Organisationen, die „bürgerliche“ politische Zielsetzungen vertraten und parteiartige Strukturen entwickelten. Am 3. September 1988 beschlossen rund 370 Anhänger des ein Jahr zuvor gegründeten Ungarischen Demokratischen Forums, das MDF von einer locker organisierten Diskussionsrunde in eine Institution mit festen organisatorischen Strukturen und politischen Zielsetzungen, die von christlich-traditionalistischen und national-konservativen Idealen geprägt sein sollten, umzuwandeln. Anfang Oktober 1988 folgte der Bund Junger Demokraten (Fidesz), der sich bereits im März 1988 als alternative Jugendorganisation konstituiert hatte, und entschied, sich eine feste organisatorische Struktur zu geben und ein Programm mit bürgerlichliberalen Inhalten auszuarbeiten. Mitte November 1988 meldete sich überdies eine der historischen Parteien Ungarns, die Unabhängige Kleinlandwirtepartei (FKGP), nach vierzigjähriger Zwangspause wieder zu Wort und kündigte ihre Reaktivierung als Vertretung vorrangig bäuerlich-agrarischer Interessen an. Und ebenfalls Mitte November 1988 gründeten führende Vertreter der Demokratischen Opposition den liberal-urbanen „Bund Freier Demokraten“ (SZDSZ), der eine äußerst kritische und kompromisslose Haltung gegenüber den Machthabern einnahm.

101  Zur Chronologie und zu grundlegenden Dokumenten und Materialien des Unabhängigen Juristenforums (FJF) siehe die 2014 von einstigen Akteuren der Organisation zusammengestellte Homepage (URL: http://www.fjf.hu). Zur (ungarisch- und deutschsprachigen) Gründungsurkunde des Juristenforums siehe Herder-Institut (Hrsg.), Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: https://www.herder-institut.de/go/NY-682505 (Zugriff: 06.12.2016).



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Der dynamische Pluralisierungsprozess, der im Sommer/ Herbst 1988 in Ungarn einsetzte, zeigte, dass innerhalb der Gesellschaft politische Zielsetzungen an Boden gewannen, die mit dem Prinzip des sozialistischen Pluralismus nicht zu vereinbaren waren. Im Zuge der „Entschärfung“ der Einparteienherrschaft und günstiger block­ interner bzw. internationaler Umstände traten nun bürgerliche Forderungen nach einem kompetitiven Mehrparteiensystem und einer parlamentarischen Demokratie sowie das Verlangen nach einer Neuinterpretation der kommunistischen Vergangenheit und insbesondere der Geschehnisse von 1956 hervor. Auch wenn sich diese Aktivitäten im Wesentlichen auf die kleinen, in sich gespaltenen Oppositionszirkel102 beschränkten bzw. im Gegensatz zu den Ereignissen in Polen ohne eine Massenmobilisierung stattfanden, so war die ungarische Partei- und Staatsführung im Herbst 1988 doch gezwungen, auf diesen diffusen innenpolitischen Druck zu reagieren.

4.1.8 Die bundesdeutsche Politik und die Pluralisierungsprozesse in Ungarn Die westdeutsche Diplomatie verfolgte in diesen Monaten – neben den wirtschaftspolitischen Maßnahmen – auch die innenpolitischen Entwicklungen in Ungarn mit wachsendem Interesse. Westdeutscherseits war man besonders an der Frage interessiert, wie die ungarische Seite das als widersprüchlich aufgefasste Konzept des sozialistischen Pluralismus in die Praxis umsetzen wollte. Diesbezüglich richtete Bonn seine Aufmerksamkeit vor allem auf das Verhalten der ungarischen Machthaber gegenüber den Andersdenkenden und konstatierte in einem Bericht vom Juli 1988 ein „sehr unterschiedliches Verhalten der Ordnungskräfte“ hinsichtlich zweier Demonstrationen, die im Juni 1988 stattgefunden hatten, nämlich die oppositionelle Kundgebung am 16. Juni 1988 zum Jahrestag der Hinrichtung Imre Nagys, auf die die Ordnungskräfte mit dem Einsatz von Gewalt reagiert hatten, und die Massendemonstration vom 27. Juni 1988 gegen die rumänische Minderheitenpolitik, bei der die ungarische Polizei nicht eingriff.103 Als Erklärung hierfür wies der Bericht darauf hin, dass die Demonstration am 27. Juni – im Gegensatz zu den Ereignissen elf Tage zuvor – die „fortbestehenden Tabus“ (damit wurde auf die „Unantastbarkeit“ des Einparteiensystems und der Interpretation der Ereignisse vom Herbst 1956 als „Konterrevolution“ angespielt) nicht gebrochen hätte. Zusammenfassend wurde der Schluss gezogen, dass der neue Parteichef Károly Grósz klar die Grenzen des politischen Veränderungs-

102  Die entscheidende Trennlinie verlief dabei zwischen den national-konservativen und den liberalen Gruppierungen. 103  Bericht der bundesdeutschen Botschaft in Budapest für das Auswärtige Amt vom 6. Juli 1988 über das Verhalten der ungarischen Sicherheitskräfte bei den Demonstrationen am 16. und 27. Juni 1988 in Budapest (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung) (= Dokument 13).

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prozesses aufzeigen wolle: „Die Zulassung gewisser bürgerlicher Freiheitsrechte, wie des Demonstrationsrechts, erfolgt begrenzt und genau dosiert.“104 Im September 1988, vier Monate nach der Parteikonferenz, zogen führende Politiker in der Bundesrepublik – laut einem Bericht der ostdeutschen Staatssicherheit – aus den jüngsten politischen Entwicklungen in Ungarn den Schluss, dass es in den vergangenen Monaten zu einer Aktivierung und Profilierung der Opposition, allerdings zu keinem „Massenengagement der Bevölkerung“ gekommen sei. Die politische Führung habe „wachsam, aber umsichtig“ reagiert und „die meist vereinzelt wirkenden Oppositionellen unter Kontrolle“ gehalten.105 Die Tatsache, dass die Staats- und Parteiführung um Grósz auch im Herbst 1988 nicht gewillt war, eine Neuinterpretation der Ereignisse von 1956 ins Auge zu fassen, und weiter am Einparteiensystem bzw. der führenden Rolle der Partei festhalten wollte, offenbarte sich auch bei den Geschehnissen am 23. Oktober 1988, dem Jahrestag des Volksaufstandes. Auch hier ging die Polizei gewaltsam gegen einige Hundert Demonstranten vor. Die bundesdeutsche Botschaft zog diesbezüglich folgenden Schluss: „Der Verlauf der Dinge zeigt, dass die politische Führung […] die Aufarbeitung der Oktober-Revolution 1956 als eine Schmerzgrenze oppositionellen Wirkens empfindet und dies auch deutlich zu machen trachtet.“106

Während sich der Pluralisierungsprozess in Ungarn immer schwungvoller entfaltete, kam es erstmals auch zu besonderen Aktivitäten der westdeutschen politischen Stiftungen in Ungarn.107 Diese hatten bereits im vorangegangenen Jahrzehnt zahlreiche Stipendien an ungarische Studenten, Wissenschaftler und Journalisten für Aufenthalte in der Bundesrepublik vergeben, westdeutsche Forschungen zu Ungarn finanziell unterstützt und eine Reihe von internationalen Konferenzen in der Bundesrepublik abgehalten. Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung hatte sogar schon Ende der 1970er Jahre, nach dem Treffen von Willy Brandt und János Kádár im März 1978, damit begonnen, mit dem Gesellschaftswissenschaftlichen Institut des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei zu kooperieren, wobei diese

104  Ebenda. 105  Der folgende (deutschsprachige) Bericht, der sich mit der Einschätzung der „maßgeblichen BRD-Führungskreise“ über die Entwicklungen in Ungarn beschäftigt, wurde offenbar der ungarischen Staatssicherheit zugeleitet und ist im Historischen Archiv der Staatssicherheitsdienste in Budapest zu finden (Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik. Ministerium für Staatssicherheit. Information über einige Aspekte der Innen- und Außenpolitik Ungarns. Berlin, 13. Oktober 1988; ÁBTL, 1. 11. 4. D – V/1988, fol. 5–8, hier fol. 6–7). 106  Fernschreiben Nr. 1626 der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Referat 214 des Auswärtigen Amts vom 24. Oktober 1988 (PA AA, ZA 139.936 E, ohne Paginierung). 107  Genannt seien hier die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), die CSU-nahe Hanns-SeidelStiftung (HSS), die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung (FNS) sowie die SPD-nahe Friedrich-EbertStiftung (FES).



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Zusammenarbeit vor allem im Rahmen von wissenschaftlichen und politischen Veranstaltungen und Publikationen erfolgte.108) All diese Aktivitäten wurden auch von der ungarischen Diplomatie begrüßt, weil sich dadurch – wie der ungarische Botschafter István Horváth Mitte 1988 rückblickend feststellte – der Kreis der Experten und Journalisten, die die Bundesrepublik besucht hätten, „beträchtlich ausgeweitet“ habe und die internationalen Veranstaltungen Ungarn die Möglichkeit eröffnet hätten, „unsere Standpunkte in für uns wichtigen (wirtschaftlichen, Flüchtlings-) Fragen zum Ausdruck zu bringen“.109 Am 25. August 1988 kam es, nachdem sich in den Monaten zuvor bereits die Konrad-Adenauer-Stiftung110 und die Hanns-SeidelStiftung111 für eine weitere Intensivierung der Kontakte eingesetzt hatten, zu einem Treffen des Geschäftsführers Ausland der Friedrich-Naumann-Stiftung Gottfried Wüst mit dem Leiter des ZK-Instituts für Gesellschaftswissenschaften György Aczél, langjähriger Kulturpolitiker der MSZMP und Weggefährte János Kádárs, und dem Leiter des Instituts für Nationale Kulturbeziehungen György Nádor. Hierbei signalisierte der Vertreter der Friedrich-Naumann-Stiftung gegenüber dem Institut für Nationale Kulturbeziehungen, dass seine Stiftung einen konkreten Kooperationspartner suche und zu einer Zusammenarbeit auf jeglichen, in wechselseitigem Interesse liegenden Themengebieten bereit sei.112 Und Mitte Oktober 1988 sprach der Fraktionsvorsitzende der FDP Wolfgang Mischnick sogar den Wunsch aus, ein Büro der Friedrich-

108  In einem ungarischen Bericht wird gar von einer „engen Zusammenarbeit“ beider Institutionen gesprochen, ohne diese jedoch näher darzulegen (Magyar Szocialista Munkáspárt Központi Bizottsága. Nemzetközi Pártkapcsolatok Osztálya. Tájékoztató az SPD-vel fennálló kétoldalú kapcsolatainkról [Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Abteilung für Internationale Parteibeziehungen. Informationsbericht über unsere bilateralen Beziehungen zur SPD] [Mai 1989]; MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 118–119). 109  Jahresbericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth für Außenminister Péter Várkonyi vom 27. Juni 1988 (MNL OL, 288.f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/C), fol. 653–675, hier fol. 658) (= Dokument 12). 110  Zum diesbezüglichen Treffen des geschäftsführenden Direktors der Konrad-Adenauer-Stiftung Lothar Kraft mit György Aczél, Leiter des ZK-Instituts für Gesellschaftswissenschaften, am 4. Februar 1988 siehe Emlékeztető az intézet főigazgatója, Aczél György elvtárs és a Konrad-Adenauer Alapítvány főügyvezető igazgatója, Lothar Kraft úr közötti beszélgetésről, 1988. II. 4-én [Aufzeichnung über das Gespräch des Generaldirektors des Instituts György Aczél mit dem Geschäftsführenden Direktor der Konrad-Adenauer-Stiftung Lothar Kraft am 4. II. 1988] (MNL OL, 288.f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/B), fol. 196). 111  Zum Treffen einer Delegation des Instituts für Internationale Kulturbeziehungen mit Vertretern der Hanns-Seidel-Stiftung und bayerischen Politikern vom 4. bis 7. Mai 1988 siehe Nemzetközi Kulturális Intézet. Útijelentés. Tárgy: magyar delegáció látogatása az NSZK-ban [Institut für Internationale Kulturbeziehungen. Reisebericht. Gegenstand: ungarischer Delegationsbesuch in der BRD] [11. Mai 1988] (MNL OL, 288.f.32/1988/85. ő. (NSZK/1988/B), fol. 450–460). 112  Aufzeichnung des Instituts für Internationale Kulturbeziehungen vom 25. August 1988 (MNL OL, 288.f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/B), fol. 659).

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Naumann-Stiftung in Budapest zu eröffnen.113 Damit wurde letztlich der Startschuss für äußerst dynamische Aktivitäten der bundesdeutschen politischen Stiftungen in Ungarn gegeben, die ein Jahr zuvor noch unvorstellbar gewesen wären und sehr bald, mit der Eröffnung der Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung im Juni 1989, einen ersten Höhepunkt erfahren sollten. Der dynamische Pluralisierungsprozess führte innerhalb der ungarischen Führung im Spätsommer/ Herbst 1988 zu heftigen Diskussionen über die Frage des Ausmaßes der politischen Veränderungen. So kam es insbesondere am 27. September und 1./2. November 1988 zu intensiven Auseinandersetzungen im Zentralkomitee zwischen denjenigen Politikern, die am Einparteiensystem festhalten wollten, und jenen Kräften, die sich für den Übergang zu einem Mehrparteiensystem (westlicher Prägung) aussprachen.114 Diese Entwicklungen wurden „von außen“ auch von den westdeutschen Diplomaten in Budapest beobachtet, ohne dass diese natürlich das volle Ausmaß der innerparteilichen Auseinandersetzungen erkennen konnten.115 Die Tatsache, dass Ministerpräsident Károly Grósz am 27. Oktober 1988 ankündigte, sein Amt abgeben zu wollen, allerdings keine Aussagen zu seinem Nachfolger machte,116 sowie der Sachverhalt, dass mehrere hohe ungarische Politiker, darunter Justizminister Kálmán Kulcsár117 und Politbüro Mitglied Imre Pozsgay,118 ein Mehrparteiensystem Mitte November 1988 prinzipiell als akzeptabel bezeichneten, machte die Situation, auch für die bundesdeutsche Diplomatie, noch komplizierter. Entscheidend für die weiteren innenpolitischen Entwicklungen in Ungarn – und damit auch für die Perspektiven des westdeutsch-ungarischen Verhältnisses – war nun an erster Stelle die Frage, wer das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen würde.

113  Magyar Szocialista Munkáspárt Központi Bizottsága. Külügyi Osztály. Jelentés Wolfgang Mischnick látogatásáról [Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Abteilung für Außenpolitik. Bericht über den Besuch von Wolfgang Mischnick] [26. Oktober 1988] (MNL OL, 288.f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/B), fol. 844–847, hier fol. 847). 114  Zu den Wortprotokollen der Sitzungen siehe Jegyzőkönyv a Központi Bizottság 1988. szeptember 27-én megtartott üléséről [Protokoll über die Sitzung des Zentralkomitees vom 27. September 1988] (MNL OL, 288.f.4/242. ő. e.); Jegyzőkönyv a Központi Bizottság 1988. november 1–2-án megtartott üléséről [Protokoll über die Sitzung des Zentralkomitees vom 1.–2. November 1988] (MNL OL, 288.f.4/244. ő. e.). Zusammenfassend zu den parteiinternen Diskussionen über das Parteiensystem siehe Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 98–105. 115  Siehe exemplarisch hierzu Fernschreiben Nr. 1701 der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Referat 214 des Auswärtigen Amts vom 4. November 1988 (PA AA, ZA 139.936 E, ohne Paginierung). 116  Hierüber unterrichtete die bundesdeutsche Botschaft in Budapest das Referat 214 des Auswärtigen Amts am 31. Oktober 1988 (Fernschreiben Nr. 1669; PA AA, ZA 139.936 E, ohne Paginierung). 117  Vgl. Népszabadság, 12. November 1988, S. 5. 118  Vgl. The Christian Science Monitor, 18. November 1988.



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4.2 D  ie bilateralen Beziehungen während der ersten Phase der ungarischen Systemtransformation (Herbst 1988 bis Frühjahr 1989) 4.2 4.2.1 D  er Beginn des politischen Systemwechsels unter Generalsekretär Károly Grósz und Ministerpräsident Miklós Németh Inmitten der Versuche, die Wirtschaftsordnung Ungarns im Sinne der sogenannten sozialistischen bzw. geregelten Marktwirtschaft zu transformieren und das radikale politische Reformkonzept des sozialistischen Pluralismus in die Praxis umzusetzen, übernahm der bisherige ZK-Sekretär für Wirtschaftspolitik Miklós Németh am 24. November 1988 das Amt des Ministerpräsidenten.119 Die Tatsache, dass die Wahl auf Németh – der weiterhin Mitglied des Politbüros blieb – gefallen war, hing zum einen damit zusammen, dass die Parteiführung die wirtschaftlichen Veränderungen mit einem ausgewiesenen Fachmann an der Regierungsspitze durchführen wollte, zum anderen damit, dass Generalsekretär Grósz der Auffassung war, Németh sei ganz „sein Mann“, der überdies keine innenpolitischen Experimente durchführen werde.120 Bereits bei seiner Rede am 24. November 1988 vor dem Parlament betonte Németh allerdings, dass er sich nicht nur bemühen wolle, eine marktwirtschaftliche Ordnung zu errichten, sondern es auch als notwendig erachte, den Wandel in allen gesellschaftlichen Bereichen, also auch in der Innenpolitik, fortzusetzen.121 Die eigentliche „innenpolitische Regierungserklärung“ gab an diesem Tage allerdings nicht Németh ab, sondern sein – für die politischen Reformen zuständiger – Staatsminister (und Politbüro-Mitglied) Imre Pozsgay. Pozsgay stellte in seiner Rede ein umfassendes Konzept zur „Modernisierung des Systems der politischen Institutionen“ vor.122 Unter den Vorhaben waren teils Maßnahmen, die die Partei- und Staatsführung bereits früher beschlossen hatte und deren Umsetzung bereits im Gange war (z. B. die Ausarbeitung des Vereinigungs- und des Versammlungsgesetzes oder die Verfassungsreform), teils aber auch Zielsetzungen, die deutlich darüber hinausgingen. Zu Letzteren zählte die Absicht, die Funktionen des kollektiven Staatsoberhaupts

119  Siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 107. 120  Zum letzteren Aspekt siehe auch Romsics, Volt egyszer egy rendszerváltás, S. 103. 121  Zum ungarischsprachigen Wortlaut der Rede von Németh siehe Az Országgyűlés 31. ülése [31. Sitzung des Parlaments]. In: Országgyűlési értesítő 1985–1990 [Parlamentsmitteilungen 1985–1990], Bd. 1. Budapest 1990, S. 2506–2512. 122  Zur Pozsgay-Rede vom 24. November 1988 siehe Az Országgyűlés 31. ülése [31. Sitzung des Parlaments]. In: Országgyűlési értesítő 1985–1990 [Parlamentsmitteilungen 1985–1990], Bd. 1. Budapest 1990, S. 2512–2523 (= Dokument 17). Die von Pozsgay geäußerten Vorstellungen basierten im Wesentlichen auf dem sogenannten „Demokratiepaket“, das von dem Politologen Mihály Bihari ausgearbeitet und Ende Juni 1988 von 16 Abgeordneten dem Parlament vorgelegt worden war (siehe hierzu Romsics, Volt egyszer egy rendszerváltás, S. 100).

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(Präsidialrat) auf einen Staatspräsidenten zu übertragen, ein Vertrauensvotum zur Kontrolle der Regierung durch das Parlament einzuführen sowie die Menschen- und Bürgerrechte durch einen Ombudsmann zu schützen. Darüber hinaus war – unter anderem – vorgesehen, den Bürgern mittels eines Petitionsrechts die Möglichkeit zu eröffnen, sich direkt an die Volksvertretung zu wenden, sowie einen Rechnungshof zur Überprüfung der Staatsausgaben einzurichten. Der bedeutendste Vorschlag, den Pozsgay – zweifellos in Abstimmung mit Németh, aber offenbar ohne Wissen von Generalsekretär Grósz – im Parlament unterbreitete, war der, dass man sich in Verbindung mit dem Vereinigungsrecht auch um die Schaffung eines „Gesetzes über die politische Partei“ kümmern müsse. Damit signalisierte Pozsgay – vor dem Hintergrund des dynamischen politischen Pluralisierungsprozesses – bereits Ende November 1988 die Absicht, dass in Zukunft – neben der MSZMP – auch andere politische Parteien zugelassen werden sollten, und läutete damit letztlich den Übergang von einer Politik der radikalen Reformen zu einer Politik der Transformation der politischen Ordnung ein. (Bereits am Tag vor der Parlamentssitzung hatte Pozsgay auf einer internationalen Pressekonferenz erklärt, dass die Entwicklung eines Mehrparteiensystems nicht von der Regierung, sondern vom Willen der Staatsbürger abhänge, er das Mehrparteiensystem als ein reales Verlangen der ungarischen Gesellschaft anerkenne, und dieses schrittweise und in Zusammenarbeit mit den Staatsbürgern verwirklicht werden müsse.123) Der überraschende Auftritt der sogenannten Reformpolitiker124 in der Regierung führte einige Tage später zum politischen Gegenangriff von Parteichef Grósz. Am 29. November 1988 hielt der Generalsekretär eine aufsehenerregende Rede vor Budapester Parteiaktivisten, die wegen ihrer ideologischen Ausfälle unter der Bezeichnung „Weiße-Terror-Rede“ bekannt wurde.125 Darin sprach der Parteichef eine deutliche Warnung an all jene Kräfte aus, die den politischen Veränderungsprozess vertiefen und beschleunigen wollten, und legte ein Bekenntnis zu den Beschlüssen der Landesparteikonferenz ab. In diesem Zusammenhang betonte er auch, dass die gültige Verfassung „keine Bestimmungen über andere Parteien“ enthalte. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass seit Sommer 1988 politische Organisationen mit bürgerlichen Zielsetzungen und der Absicht, sich als Parteien zu konstituieren, hervorgetreten waren, wies er auf „konterrevolutionäre Kräfte“ hin, die eine „bürgerliche Restauration“ bzw. die Zerstörung des Sozialismus bezwecken würden. Im „Klassenkampf“ gegen die „feindlichen konterrevolutionären Kräfte“ müsse diesen Organisationen entschieden entgegengetreten werden, da sonst ein „weißer Terror“126 drohe. Bezeichnenderweise

123  Vgl. Magyar Hírlap, 24. November 1988, S. 3. 124  Der Begriff „Reformpolitiker“ war eigentlich nicht mehr zutreffend, da diese Gruppe nun eine Transformation der wirtschaftlichen und politischen Ordnung anstrebte. 125  Zur Grósz-Rede vom 29. November 1988 siehe Népszabadság, 30. November 1988, S. 1, S. 3–5. 126  Mit dem Ausdruck „weißer Terror“ spielte Grósz auf die Kommunistenverfolgung nach der ungarischen Räterepublik von 1919 an.



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liebäugelte der Parteichef – wie sich später herausstellte – Ende November/ Anfang Dezember 1988 kurzzeitig auch mit der Idee der Ausrufung des Ausnahmezustands, vermutlich in Form einer Militärverwaltung nach polnischem Vorbild, die wohl mit der Verhaftung von Oppositionspolitikern, der Suspendierung der Freiheitsrechte und der Beschränkung der staatsbürgerlichen Rechte einhergegangen wäre.127 Die grundlegend gewandelte Haltung der sowjetischen Führung unter Gorbatschow sowie die allgemein verbreitete Furcht vor einer Wiederholung eines Gewaltausbruchs wie im Herbst 1956128 ließ derartige Vorstellungen von „Recht und Ordnung“ aber letztlich obsolet werden. Mit den Stellungnahmen von Németh und Pozsgay einerseits und der Rede des Generalsekretärs andererseits trat die politische Spaltung innerhalb der Partei- und Staatsführung Ende 1988/ Anfang 1989 offen hervor.129 Während ein Teil der führenden Politiker um Grósz130 grundsätzlich an den Beschlüssen der Parteikonferenz und insbesondere an der Konzeption des sozialistischen Pluralismus festhielten, strebten andere Führungsmitglieder um Németh, Pozsgay und Nyers131 danach, den Demokratisierungsprozess – neben dem ökonomischen Systemwechsel – weiterzuführen und einen politischen „Modellwechsel“132 in Richtung eines wirklichen Pluralismus und kompetitiven Mehrparteiensystems herbeizuführen. Eine derartige Spaltung offenbarte sich Ende 1988 auch an der Parteibasis: Während sich die – meist älteren, teils an der Niederschlagung des Volksaufstandes von 1956 beteiligten – Anhänger der

127  Vgl. Romsics, Volt egyszer egy rendszerváltás, S. 106. 128  In diesem Zusammenhang stellte die bundesdeutsche Botschaft in Budapest Ende Januar 1989 fest: „Im Verhalten aller politischen Kräfte spürt man die tiefsitzende Furcht vor einer Wiederholung der Ereignisse von 1956.“ (Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Januar 1989; PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 22). 129  Ausführlich hierzu siehe Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 107–113; Romsics, Volt egyszer egy rendszerváltás, S. 98–107. 130  Zu dieser Gruppe zählten auch die ZK-Sekretäre György Fejti und János Berecz sowie Verteidigungsminister Ferenc Kárpáti und Industrieminister Frigyes Berecz. 131  Zu dieser Gruppe zählten auch die Parteifunktionäre Gyula Horn und Mátyás Szűrös sowie der stellvertretende Ministerpräsident Péter Medgyessy und Justizminister Kálmán Kulcsár. 132  Mit dem Begriff des „Modellwechsels“, der in der Anfangsphase des politischen Transformationsprozesses von den Kräften um Pozsgay und Németh verwendet wurde, signalisierten diese Politiker zum einen, dass sie ein pluralistisch-demokratische System mit einem Mehrparteiensystem befürworteten, sich gleichzeitig aber von einer bloßen „Übernahme“ einer bürgerlichen Demokratie distanzierten und an einzelnen, mit einer demokratischen Ordnung zu vereinbarenden, aber nicht näher definierten „Errungenschaften des Sozialismus“ festhalten wollten. Mit dem Begriff versuchten sie darüber hinaus, ihre Vorstellungen von den Zielen der Oppositionsbewegungen abzusetzen, die offen einen „Systemwechsel“ bzw. eine „bürgerliche Demokratie“ ohne „sozialistische“ Attribute anstrebten.

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sogenannten Ferenc-Münnich-Gesellschaft133 demonstrativ hinter Grósz stellten und sich für die Wahrung der „grundlegenden Errungenschaften der vergangenen vier Jahrzehnte“ aussprachen, forderten die „MSZMP-Reformzirkel“134 – neben einer radikalen Demokratisierung der Partei – einen Bruch mit der „poststalinistischen Praxis“ und die konsequente Fortführung des politischen und ökonomischen Transformationsprozesses. Besonders treffend charakterisierte der Vorsitzende des Ungarischen Demokratischen Forums Zoltán Bíró im Januar 1989 die damalige Situation innerhalb der Staatspartei: „Das eine Gesicht der MSZMP zeigt in diesem Augenblick, dass sie die Demokratisierung ernst nimmt, was selbstverständlich bedeutet, dass sie in der Lage ist, auf das Machtmonopol zu verzichten. Das andere Gesicht zeigt demgegenüber, dass sie – egal, ob sie der Demokratie zustimmt oder nicht – nicht wirklich ernsthaft an demokratische Veränderungen denken kann, weil es so scheint, dass sie nicht auf das Machtmonopol verzichten will, und damit zusammen natürlich auch nicht auf jene verstockten Stilmerkmale, Methoden und Instrumentarien, an die sie sich in einer früheren Phase Jahrzehnte hindurch gewöhnt hat.“135

Nachdem das ungarische Parlament auf seiner Sitzungsperiode im Dezember 1988 ein weiteres wichtiges Wirtschaftsgesetz angenommen hatte, nämlich das Gesetz über die Investitionen von Ausländern,136 das eine stabile Rechtsgrundlage für die Investition von ausländischem (vor allem westlichem) Kapital in Ungarn schuf, wandte sich die ungarische Regierung im Januar 1989 dem politischen Veränderungsprozess zu. Nach mehrmonatigen Vorbereitungen nahm das ungarische Parlament auf seiner Sitzung

133  Die im November 1988 gegründete Gesellschaft war nach dem ungarischen Innenminister benannt, der an der Seite Kádárs die „Konterrevolution“ von 1956 hatte liquidieren und die Beteiligten jahrelang hatten verfolgen lassen. 134  Ausführlich zur Reformzirkel-Bewegung Patrick O’Neill, Revolution from Within. Institutional Analysis, Transformation from Authoritarianism, and the Case of Hungary. In: World Politics 48 (1996), H. 4, S. 579–603; Ders., Revolution from Within. The Hungarian Socialist Workers‘ Party and the collapse of communism. Michigan 1998. Zu den grundlegenden (ungarischsprachigen) Quellen siehe Attila Ágh/ József Géczi/ József Sipos (Hrsg.), Rendszerváltók a baloldalon. Reformerek és reformkörök 1988–1989. Válogatott dokumentumok [Transformer auf der Linken. Reformer und Reformzirkel 1988–1989. Ausgewählte Dokumente]. Budapest 1999. 135  Bíró zitiert in A demokrácia alternatívái hazánkban. Az MSZMP és a Magyar Demokrata Fórum képviselőinek vitafóruma a Politikai Főiskolán 1989. január 26-án [Die Alternativen der Demokratie in unserem Land. Diskussionsforum der Vertreter der MSZMP und des Ungarischen Demokratischen Forums in der Politischen Hochschule am 26. Januar 1989]. Budapest 1989, S. 13–14. Zum (deutschund ungarischsprachigen) Wortlaut der Rede siehe Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/Of-feb3e8 (Zugriff: 06.11.2015). 136  1988. évi XXIV. törvény a külföldiek magyarországi befektetéseiről [Gesetz Nr. XXIV des Jahres 1988 über die Investitionen von Ausländern in Ungarn] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 69, 31. Dezember 1988, S. 1710–1715) (= Dokument 18).



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am 10./11. Januar 1989 die beiden Gesetze zur Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit an.137 Dieses Ereignis stellte zweifellos einen Erfolg der Kräfte um Pozsgay und Németh dar, da beide Rechtsnormen ganz im Sinne des Rechtsstaatsverständnisses westlicher Demokratien formuliert waren,138 und die Gesetze diese Freiheiten nicht als Zugeständnis des Staates, sondern als aus der Volkssouveränität hervorgehende staatsbürgerliche Rechte betrachteten. Das Vereinigungsgesetz139 bildete eine Rechtsnorm, die bis dahin überhaupt einzigartig im östlichen Bündnissystem war. Das Gesetz schrieb fest, dass das Vereinigungsrecht ein subjektives Freiheitsrecht darstelle, das die Volksrepublik Ungarn anerkenne und dessen Ausübung sie garantiere. Auf dieser Grundlage gewährte es jedermann das Recht, mit anderen Personen eine Organisation oder Gemeinschaft zu bilden oder an derartigen Aktivitäten teilzunehmen. Eingeschränkt wurde dieses nur durch die Bestimmung, dass bei seiner Ausübung keine Straftat begangen bzw. dazu aufgerufen werden dürfe sowie die Rechte und Freiheiten anderer Personen nicht eingeschränkt werden dürften. Darüber hinaus bestimmte das Gesetz, dass sich dieses Recht auf die Gründung bzw. Aktivitäten von Massenorganisationen, Interessenvertretungen, Vereinen, Gewerkschaften und Parteien beziehe, wobei hinsichtlich Letzteren darauf hingewiesen wurde, dass bezüglich der Parteien die Bestimmungen der Verfassung und eines gesonderten, für Sommer 1989 angekündigten Parteiengesetzes richtungsweisend seien. Das Vereinigungsgesetz traf damit bezüglich des Parteiensystems und insbesondere seiner Qualität noch keine endgültige Entscheidung. Das Versammlungsgesetz140 stellte – analog zum Vereinigungsgesetz – fest, dass das Recht, sich zu versammeln, ein jedermann zustehendes Freiheitsrecht bilde und vom Staat anerkannt und garantiert werde. Es werde lediglich dadurch eingeschränkt, dass es nicht Ziel einer Versammlung sein dürfe, eine Straftat zu begehen oder dazu aufzurufen, sowie nicht die Rechte und Freiheiten anderer Personen einschränken dürfe. Das Gesetz bot damit nun auch den alternativen Organisationen und Bewegungen eine klar geregelte Möglichkeit, ihre Meinungen öffentlich kundzutun.

137  Hierzu und zur Vorgeschichte siehe Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 102– 103, S. 112. 138  Der Staatsrechtsprofessor Georg Brunner bemerkte in diesem Zusammenhang bereits 1989, dass beide Gesetze wohl auch einer Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht standgehalten hätten (vgl. Georg Brunner, Verfassungsreform und politische Entwicklung in Ungarn. In: Südosteuropa-Mitteilungen 29 (1989), H. 3, S. 175–185, hier S. 176). Ähnlich positiv beurteilte auch die bundesdeutsche Botschaft in Budapest die Gesetze: Sie könnten sich, „nach ihren Texten, durchaus mit entsprechenden Gesetzen westlicher Demokratien vergleichen“ (Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Januar 1989; PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 22). 139  1989. évi II. törvény az egyesülési jogról [Gesetz Nr. II des Jahres 1989 über das Vereinigungsrecht] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 5, 24. Januar 1989, S. 86–89) (= Dokument 19). 140  1989. évi III. törvény a gyülekezési jogról [Gesetz Nr. III des Jahres 1989 über das Versammlungsrecht] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 5, 24. Januar 1989, S. 96–98) (= Dokument 20).

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Ende Januar 1989 kam es in Ungarn zu einem Ereignis, das besondere Auswirkungen auf die weiteren innenpolitischen Entwicklungen haben sollte. Nachdem der unter der Leitung des Präsidenten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Iván T. Berend tätige ZK-Unterausschuss eine vorläufige Bilanz hinsichtlich der Untersuchung der Ereignisse von 1956 gezogen hatte, machte Politbüro-Mitglied und Staatsminister Imre Pozsgay – ohne Absprache mit der Parteiführung – den zentralen Aspekt der Begutachtung in einem Radiointerview öffentlich bekannt,141 nämlich die Neubewertung der Ereignisse vom Oktober/ November 1956 als „Volksaufstand“ und „nationaler Freiheitskampf“.142 Damit wurde nicht nur die These von der „Konterrevolution“, die jahrzehntelang der Eigenlegitimation des Kádár-Regimes gedient hatte, später allerdings zunehmend als „nationale Tragödie“ bemäntelt wurde, „von innen“ heraus verworfen, sondern auch der Glaubenssatz von der „brüderlichen Hilfe“ der Sowjetunion. „Das Tabu ‚1956‘ war damit vollständig gebrochen, und die Diskussion um die Geschichte wurde endgültig aus der ‚zweiten‘ in die ‚erste Öffentlichkeit‘ transferiert.“143

Mit der Neuinterpretation von 1956 als „Volksaufstand“ wurde gleichzeitig auch die Rechtmäßigkeit des damaligen Verlangens nach einem Mehrparteiensystem unterstrichen. Die Umdeutung von 1956 untergrub damit auch die Absicht der Kräfte innerhalb der Ungarischen Sozialistischen Partei, die führende Rolle der Partei – im Rahmen des Einparteiensystems oder zumindest eines „sozialistischen Mehrparteiensystems“ – zu bewahren, und bewirkte, dass die Parteiführung nun nicht nur das Thema „1956“ auf die politische Tagesordnung setzen, sondern auch in der Frage des Parteiensystems zu einer Entscheidung gelangen musste. Nach einem heftigen innerparteilichen Diskussionsprozess über die Ereignisse des Jahres 1956 sowie über die Notwendigkeit eines Mehrparteiensystems, der durch ein – zumindest vorläufiges – politisches Nachgeben der Anhänger des „sozialistischen Pluralismus“ gekennzeichnet war, wurden beide Angelegenheiten am 10./11. Februar 1989 auch auf einer ZK-Sondersitzung behandelt.144 Die Frage des Parteiensystems hatte zuvor auch dadurch weiter an Aktualität gewonnen, dass mittlerweile einerseits neue alternative Bewegungen145 entstanden waren und sich andererseits

141  Zum Wortlaut der Erklärung Pozsgays siehe Imre Pozsgay, 1989. Politikus-pálya a pártállamban és a rendszerváltásban [1989. Politiker-Karriere im Parteistaat und während des Systemwechsels]. Budapest 1993, S. 222–227 (= Dokument 21). 142  Siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 114–116. 143  Csilla Machos, Wem gehört „1956“? Die Auseinandersetzung der Parteien im postsozialistischen Ungarn um Erbe und Erben der Revolution. In: Petra Bock/ Edgar Wolfrum (Hrsg.), Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerungen und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich. Göttingen 1999, S. 114–142, hier S. 131. 144  Siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 117–124. 145  Am 9. Januar 1989 war z. B. die Sozialdemokratische Partei Ungarns (MSZDP) reaktiviert worden.



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die bereits bestehenden oppositionellen Parteien und Organisationen in den vorangegangenen Monaten weiter organisiert und öffentlich politisch profiliert hatten. Nachdem auch die Kräfte um Generalsekretär Grósz vor dem Zentralkomitee eingestanden hatten, dass der sozialistische Pluralismus im Rahmen des Einparteiensystems nicht zu verwirklichen sei und in der Gesellschaft ein tatsächlicher Anspruch auf ein Mehrparteiensystem bestehe, verabschiedete das Zentralkomitee am 11. Februar 1989 ein Kommuniqué, dass – unter Berufung auf das Prinzip der Volkssouveränität und Rechtsstaatlichkeit – die Absicht formulierte, den Demokratisierungsprozess fortzusetzen und zu einem Mehrparteiensystem überzugehen.146 Gleichzeitig hob es allerdings hervor, dass die Einführung des Mehrparteiensystems stufenweise erfolgen müsse, da die Gesellschaft hierauf nicht vorbereitet sei und ein überstürzter Schritt die Gefahr unkontrollierter Entwicklungen in sich berge. Von besonderer Bedeutung für die weitere Entwicklung des politischen Veränderungsprozesses bzw. der Qualität der geplanten politischen Ordnung in Ungarn waren die Arbeiten, die die politische Führung in Verbindung mit der zukünftigen Verfassung durchführen ließ. Der Entwurf für die Prinzipien einer neuen Verfassung, dessen Diskussion ebenfalls im Februar 1989 auf die Tagesordnung der ungarischen Politik rückte, basierte auf Vorarbeiten, die bereits Mitte der 1980er Jahre eingeleitet worden waren.147 Nachdem auf der Landesparteikonferenz vom Mai 1988 die Frage einer Verfassungsrevision aufgeworfen worden war, hatte man diese Arbeiten mit Nachdruck fortgesetzt. Nach einer grundlegenden Überarbeitung der ersten Fassung bzw. Anpassung an die veränderte innenpolitische Situation legte das Justizministerium unter Kálmán Kulcsár am 30. Januar 1989 neue „Regelungsprinzipien für die Verfassung“ vor, die nach der Diskussion im Zentralkomitee und im Politbüro am 23. Februar 1989 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.148 Gemäß der Konzeption sollte die Verfassung in Zukunft – ganz im Sinne des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit und im Gegensatz zum ideologisch-deklarativen Charakter der realsozialistischen Verfassungen – die Funktion eines allgemein ver-

146  Közlemény a Magyar Szocialista Munkáspárt Központi Bizottságának 1989. február 10–11-ei üléséről [Mitteilung über die Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei vom 10.–11. Februar 1989]. In: Népszabadság, 13. Februar 1989, S. 1 (= Dokument 23). 147  Siehe hierzu Géza Kilényi, Lagebericht Ungarn, abgegeben auf der internationalen Konferenz „Ost-Mittel-Europa. Die Herausforderung der Reformen“ der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bonn vom 29. bis 31. Mai 1989 (unveröffentlichtes Manuskript); Géza Kilényi (Hrsg.), Egy alkotmány-előkészítés dokumentumai (Kísérlet Magyarország új Alkotmányának megalkotására, 1988–1990) [Dokumente einer Verfassungsvorbereitung (Versuch der Schaffung einer neuen Verfassung für Ungarn, 1988– 1990)]. Budapest 1991; Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 124–131. 148  Magyarország alkotmányának szabályozási elvei [Regelungsprinzipien für die Verfassung Ungarns]. In: Magyar Hírlap, 23. Februar 1989, S. 7–13. (= Dokument 25). Zum deutschen Wortlaut siehe auch Kathrin Sitzler, Die Konzeption einer neuen ungarischen Verfassung (Dokumentation). In: Südosteuropa 38 (1989), H. 7/8, S. 449–486.

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ständlichen Grundgesetzes erfüllen, die allgemeinen „Spielregeln“ des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens festlegen und die Staatsform charakterisieren. Bezüglich Letzterem sollte von einem „freien, demokratischen und sozialistischen Staat“ gesprochen werden und die „sozialistische Gesellschaftsordnung“ als zukunftsweisendes Prinzip in die Verfassung aufgenommen werden. Dieser – nicht näher definierte – „Sozialismus“ sollte allerdings nicht mehr dem Realsozialismus der Ära Kádár entsprechen, sondern auf den Prinzipien der Marktwirtschaft, der Rechtsstaatlichkeit, des Pluralismus, der parlamentarischen Demokratie sowie der Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle basieren. Aufbauend auf diesen Grundgedanken entwickelte die Konzeption ihre Vorstellungen zur zukünftigen Art und Weise der Herrschaftsausübung, zu den Prinzipien des Wirtschaftslebens und zur politischen Ordnung. Besonders eingehend beschäftigte sie sich mit der Neugestaltung des Staates und seiner Organe, wobei sie – unter anderem – dem Parlament eine herausragende politische Funktion zuwies, eine der Volksvertretung verantwortliche Regierung vorsah und einen Präsidenten „mittlerer Stärke“ empfahl. Die Verfassungskonzeption, die am 9. März 1989 vom Parlament als Grundlage für die Arbeiten an der Verfassung angenommen wurde, offenbarte letztlich – sowohl im Hinblick auf ihre konstitutionellen Prinzipien als auch auf Charakter und Funktion der Staatsorgane – die Absicht, radikal mit der alten Verfassungsordnung zu brechen und die Transformation der wirtschaftlichen und politischen Ordnung Ungarns in der Verfassung festzuschreiben. Das in ihr zum Ausdruck kommende Sozialismusbild spiegelte letztlich ein sozialdemokratisches Politikverständnis wider.

4.2.2 I nnerparteiliche und gesellschaftlich-politische Entwicklungen in Ungarn im Frühjahr 1989 Vor dem Hintergrund der innenpolitischen Entscheidungen in der ersten Phase des ungarischen Systemwechsels rückten im Frühjahr 1989 zwei Fragen in den Mittelpunkt der Innenpolitik, nämlich zum einen die Frage, wie sich die oppositionellen Organisationen weiter entwickeln würden und wie sich ihr Verhältnis zu den Machthabern gestalten würde, zum anderen die Frage, wie sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der Staatspartei und der Regierung entwickeln würden. Als sich nach der ZK-Sondersitzung vom 10./11. Februar 1989 zeigte, dass die konservativen Kräfte um Generalsekretär Grósz auch weiterhin nicht wirklich gewillt waren, den politischen Transformationsprozess weiterzuführen bzw. die Führungsposition der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei aufzugeben, begannen sich die Kräfte um Pozsgay und Németh zu sammeln.149 In den folgenden Monaten schlossen sie sich mit den

149  Siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 132–135.



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erstarkenden, sich landesweit organisierenden Reformzirkeln an der Parteibasis150 sowie mit der Gruppe linker Reformintellektueller innerhalb der Partei bzw. in ihrem Umfeld151 zum sogenannten Reformlager zusammen und traten mit ihren politischen Vorstellungen an die Öffentlichkeit. Zwar konnte das Reformlager im Frühjahr 1989 noch kein klares linkes politisches Profil vorweisen, es orientierte sich aber eindeutig an „revisionistischen“ Sozialismus-Vorstellungen und verwarf den Realsozialismus als einen Irrweg der Geschichte. Bezüglich der zukünftigen Gesellschaftsordnung plädierte es nachdrücklich für den „Modellwechsel“ auf der Grundlage von Marktwirtschaft und Demokratie und sprach sich für eine radikale innerparteiliche Demokratisierung aus. Der politischen Offensive des Reformlagers konnten die konservativen Kräfte in Staat und Partei – auch aufgrund ihrer immer widersprüchlicheren politischen Stellungnahmen – immer weniger entgegensetzen.152 Auf der ZK-Sitzung am 12. April 1989, die wegen der wachsenden inneren Spannungen und einer hohen Zahl an Parteiaustritten einberufen wurde, gelang es Generalsekretär Grósz zwar noch einmal, seine Position als Parteichef bestätigen zu lassen und eine eindeutige Neubesetzung des Politbüros zugunsten des Reformlagers zu verhindern, er musste allerdings die – symbolträchtige – Abwahl des ZK-Sekretärs für Agitation und Propaganda János Berecz aus der Parteispitze hinnehmen. Dieser war ganz offensichtlich nicht wirklich bereit gewesen, das Konzept des sozialistischen Pluralismus aufzugeben. Parallel zur „inneren“ Zurückdrängung der konservativen Kräfte in Staat und Partei offenbarte sich im März/ April 1989 auch ein sichtliches Erstarken der oppositionellen Organisationen. Diesen gelang es zum einen, ihre Mitglieder- bzw. Anhängerzahlen zu erhöhen sowie ihre organisatorischen und Führungsstrukturen zu festigen,153 zum anderen begannen sie sich politisch-programmatisch klarer zu profilieren. Im März 1989 verabschiedete das Ungarische Demokratische Forum (MDF) auf seiner ersten Landesversammlung sein erstes Parteiprogramm, gab sich neue Parteistatuten und bestätigte die Parteiführung.154 Der Bund Junger Demokra-

150  Zu den politischen Zielsetzungen der Reformzirkel siehe die Broschüre A Reformkörök első országos nyilatkozata. Reformműhely Kecskemét. 1989. április 15. [Erste landesweite Erklärung der Reformzirkel. Reformwerkstatt Kecskemét. 15. April 1989]. Kecskemét 1989. Zum (deutsch- und ungarischsprachigen) Wortlaut siehe Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: https://www.herder-institut.de/go/UD-a98d75 (Zugriff: 06.11.2015). 151  Zu dieser Gruppe zählten Reformökonomen wie László Lengyel, Lajos Bokros und László Antal sowie die Sozialwissenschaftler Mihály Bihari, István Schlett und Attila Ágh. 152  Siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 136–137, S. 140–144. 153  Eine Ausnahme bildeten lediglich die historischen Parteien, also vor allem die Kleinlandwirtepartei (FKGP) und die Sozialdemokratische Partei Ungarns (MSZDP), die durch heftige Führungsquerelen gekennzeichnet waren. 154  Ausführlich zu den Programmen und Statuten des MDF siehe József M. Kiss/ István Vida (Hrsg.),

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ten (FIDESZ) hielt Ende April und Mitte Mai 1989 zwei landesweite Versammlungen ab, auf denen die Organisation provisorische Parteistatuten verabschiedete, ihre programmatischen Prinzipien diskutierte und einen Programmvorbereitungsausschuss einsetzte.155 Und der Bund Freier Demokraten (SZDSZ) organisierte Mitte März und Mitte April 1989 seine ersten Delegiertenversammlungen, auf denen die programmatischen Zielsetzungen des Bundes, aus denen schließlich das im Mai 1989 veröffentliche Parteiprogramm hervorging, erörtert wurden.156 Die Tatsache, dass die oppositionellen Organisationen mittlerweile auch über Rückhalt in der Bevölkerung verfügten, hatte sich bereits am 15. März 1989 offenbart: Bei ihren genehmigten Veranstaltungen anlässlich des – jetzt erstmals wieder zur Erinnerung an die Revolution von 1848/1849 begangenen – ungarischen Nationalfeiertags konnten sie auf deutlich mehr Teilnehmer verweisen als die staatlichen Stellen bei den offiziellen Veranstaltungen.157 Vor dem Hintergrund des Dialogangebots, das das Zentralkomitee der MSZMP beschlossen und am 16. Februar 1989 der Opposition unterbreitet hatte, sowie der offensichtlichen Bemühungen der Machthaber, die Zersplitterung der oppositionellen Kräfte zu konservieren, begannen diese im März 1989 damit, ihre Kräfte gegenüber der MSZMP zusammenzufassen.158 Am 22. März 1989 schlossen sich neun oppositionelle Organisationen auf Initiative des Unabhängigen Juristenforums159 zum sogenannten Oppositionellen Runden Tisch zusammen. Der vereinigten Opposition sollte es aber erst in den folgenden drei Monaten dank zäher Verhandlungen mit der

Magyarországi pártprogramok 1988–1990 [Parteiprogramme in Ungarn 1988–1990]. Budapest 2005, S. 419–530. Zum (deutsch- und ungarischsprachigen) Text des ersten MDF-Parteiprogramms siehe Herder-Institut (Hrsg.), Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). KurzURL: http://www.herder-institut.de/go/UE-1084fd (Zugriff: 06.11.2015). 155  Ausführlich zu den Programmen und Statuten des FIDESZ siehe Kiss/ Vida (Hrsg.), Magyarországi pártprogramok 1988–1990, S. 364–418. 156  Ausführlich zu den Programmen und Statuten des SZDSZ siehe Kiss/ Vida (Hrsg.), Magyarországi pártprogramok 1988–1990, S. 261–491. Zum (deutsch- und ungarischsprachigen) Text des ersten SZDSZ-Parteiprogramms siehe Herder-Institut (Hrsg.), Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas SchmidtSchweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UC-37296b (Zugriff: 06.11.2015). 157  Vgl. László Bruszt/ David Stark, Remaking the Political Field in Hungary: From the Politics of Confrontation to the Politics of Competition. In: Ivo Banac (Hrsg.), Eastern Europe in Revolution. Ithaca/ London 1992, S. 13–55, hier S. 30. 158  Ausführlich hierzu siehe Zoltán Ripp, Unity and Division. The Opposition Roundtable and Its Relationship to the Communist Party. In: András Bozóki (Hrsg.), The Roundtable Talks of 1989. The Genesis of Hungarian Democracy. Budapest 2002, S. 3–39; Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 137–140, S. 156–158. 159  Siehe hierzu den Aufruf der Juristen vom 15. März 1989 (Független Jogász Fórum. Felhívás az Ellenzéki Kerekasztal létrehozására [Unabhängiges Juristenforum. Aufruf zur Schaffung des Oppositionellen Runden Tisches] [15. März 1989]. URL: http://www.fjf.hu/dokumentumok/27-felhivas-azellenzeki-kerekasztal-letrehozasara; Zugriff: 12.11.2015).



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MSZMP-Führung gelingen, eine gegenüber den Machthabern gleichberechtigte Rolle bei den geplanten Ausgleichsgesprächen am Nationalen Runden Tisch zu erkämpfen. In den ersten fünf Monaten der Ministerpräsidentschaft von Miklós Németh verlagerte sich also der Schwerpunkt des Veränderungsprozesses in Ungarn eindeutig von der wirtschaftlichen auf die politische Ebene. In dieser Phase zeichnete sich ein schrittweises Vordringen des Reformlagers innerhalb der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei ab. Gleichzeitig offenbarte sich auch ein allmähliches Erstarken der oppositionellen Kräfte, das mit ihrem Zusammenschluss ein wichtiges Stadium erreichte. Einen wirklichen Durchbruch erreichte die Opposition hinsichtlich ihrer tatsächlichen Bedeutung für den politischen Veränderungsprozess im März/ April 1989 allerdings noch nicht. Und auch die Kräfteverhältnisse innerhalb der MSZMP waren zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs endgültig geklärt. Diesbezüglich sollte es erst im Mai/ Juni 1989, mit dem Beginn der zweiten Phase des ungarischen Systemwechsels, zu entscheidenden Entwicklungen kommen.

4.2.3 A  ußenpolitische Vorstellungen und Aktivitäten während der Amtszeit des ersten Németh-Kabinetts Während dieser Phase dynamischer innenpolitischer Entwicklungen setzte die ungarische Führung unter Generalsekretär Grósz und Ministerpräsident Németh Ende 1988/ Anfang 1989 den außenpolitischen Kurs, der auf der Parteikonferenz vom Mai 1988 offiziell beschlossen worden war, fort. Wie bereits Mitte 1988, so ging es der ungarischen Staats- und Parteiführung auch im Zeitraum von Ende 1988 bis zum Frühjahr 1989 darum, die vier – genannten – Prioritäten ihrer Außenpolitik – im Rahmen der östlichen Bündnisordnung, aber unter besonderer Betonung des nationalen Interesses – zu verfolgen: Gewinnung der Unterstützung der sowjetischen Vormacht für die ungarischen politischen und wirtschaftlichen Vorhaben, Reform des östlichen Militär- und Wirtschaftsbündnisses, Verbesserung der Situation der ungarischen Minderheiten und Ausbau der Beziehungen zum Westen. Die Vorstellung von einer – langfristig zu verwirklichenden – Neutralität Ungarns, die die bedeutendsten oppositionellen Bewegungen seit Anfang 1989 offen propagieren,160 wurde zu diesem Zeitpunkt von der ungarischen Diplomatie noch eindeutig abgelehnt. Diese Haltung brachte Gyula Horn, Staatssekretär im Außenministerium, im Februar 1989 vor dem Zentralkomitee folgendermaßen zum Ausdruck: „Die Realität ist der entstandene Status quo, zu dessen Erhalt sich nicht nur unsere Verbündeten bekennen, sondern – das muss gesagt werden – auch unsere westlichen Partner. Für eine wie auch immer erfolgende Verwirklichung der Neutralität hätten wir […] keine ernsthaften aus-

160  Siehe hierzu Romsics, Volt egyszer egy rendszerváltás, S. 145–147.

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ländischen Partner, die Bekräftigung dieser Forderung würde aber unsere Situation schwieriger machen. […] Auch der Westen ist nicht an der Formulierung und Vertretung einer derartigen Forderung interessiert.“161

Tatsächlich war der ungarischen politischen Führung in diesen Monaten nicht nur von der Moskauer Führung,162 sondern auch von zahlreichen westlichen Politikern, signalisiert worden, dass sie derartige Bestrebungen als destabilisierenden Faktor in der internationalen Politik betrachten und daher nicht unterstützen würden.163 Diese Position wurde in den ersten Monaten des Jahres 1989 auch vom Auswärtigen Amt geteilt, da man in Bonn befürchtete, ein entsprechender Schritt Ungarns könne die Position von KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow gefährden.164 Im Rahmen der – als zumindest vorläufig unveränderliches Faktum akzeptierten – Ostintegration strebte die ungarische Staats- und Parteiführung nun allerdings noch stärker danach, ihren außenpolitischen Spielraum zu erweitern und günstige äußere Voraussetzungen für die Fortsetzung der Veränderungsprozesse zu schaffen.165 Mit Blick auf Letzteres konzentrierten sich die außenpolitischen Aktivitäten Ungarns Ende 1988 und in den ersten Monaten den Jahres 1989 in besonderem Maße auf die – noch immer herausragenden – Beziehungen zur Sowjetunion. Hierzu dienten vor allem die Treffen von Ministerpräsident Miklós Németh und Generalsekretär Károly Grósz mit dem sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow und mit Minister-

161  Gyula Horn auf der ZK-Sitzung am 20. Februar 1989, zitiert in Baráth, Mit dem Gesicht nach Westen (in Vorbereitung). 162  Beim Treffen von Gorbatschow und Grósz am 23./24. März 1989 machte der sowjetische Parteichef den offiziellen Standpunkt der KPdSU in dieser Frage eindeutig klar: „Unter den heutigen Verhältnissen ist die Modernisierung des Warschauer Vertrags eine realistische Zielsetzung – und nicht die Neutralität.“ Zugleich betonte Gorbatschow aber auch das langfristige Ziel, eine „gleichzeitige Auflösung der Militärblöcke“ anzustreben (Jelentés az MSZMP Politikai Bizottságának Grósz Károly 1989. március 23–24-i moszkvai látogatásáról [Bericht für das Politbüro der MSZMP über den MoskauBesuch von Károly Grósz am 23.–24. März 1989]. In: Baráth/ Rainer (Hrsg.), Gorbacsov tárgyalásai magyar vezetőkkel, S. 185–186). 163  Siehe hierzu László Borhi, „Es ist die Pflicht Ungarns, im Warschauer Pakt zu bleiben.“ Internationale Zusammenhänge des Systemwechsels von 1989 im Spiegel ungarischer Quellen. In: György Gyarmati/ Krisztina Slachta (Hrsg.), Das Vorspiel für die Grenzöffnung. Das Paneuropäische Picknick in Sopron am 19. August 1989. Sopron/ Budapest 2014, S. 51–76; siehe auch Borhi, Nagyhatalmi érdekek hálójában, S. 416–436; Békés, Magyar külpolitika, S. 170–171. 164  Laut Telegramm eines ungarischen Agenten war Mitte Februar 1989 im Auswärtigen Amt betont worden, dass ein Ausscheiden Ungarns aus dem Ostblock mit Blick auf die Position Gorbatschows nicht zweckmäßig sei (siehe hierzu das verschlüsselte Telegramm des Agenten „Szomjas“ an die Abteilung III/I des ungarischen Innenministeriums vom 14. Februar 1989; ÁBTL, 1. 11. 4. 2122/90/L, fol. 1). 165  Diese Zielsetzung wird – unter anderem – in einer Vorlage besonders betont, die im März 1989 von dem kurz zuvor gegründeten ZK-Ausschuss für Internationale, Rechts- und Verwaltungspolitik erörtert wurde (vgl. Baráth, Mit dem Gesicht nach Westen; in Vorbereitung).



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präsident Nikolai Ryschkow im März 1989.166 Bei diesen Begegnungen stand – nach den Entscheidungen des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei vom 10./11. Februar 1989 – eindeutig die Frage der zukünftigen Gestaltung der politischen Ordnung als Ein- oder Mehrparteiensystem im Mittelpunkt. Während die sowjetische Seite bei den Gesprächen erneut deutlich machte, dass sie weiterhin am Einparteiensystem festhalten bzw. den Pluralismus im Rahmen des Einparteiensystems verwirklichen wolle, bekräftigten Németh und auch Grósz die Akzeptanz des Mehrparteiensystems in Ungarn. Trotz dieser grundsätzlich unterschiedlichen Standpunkte konnte Németh in seinem Bericht schließlich festhalten, dass die führenden Moskauer Politiker auch nach diesen weitreichenden ungarischen Entscheidungen keine Einwände gegen einen abweichenden politischen Kurs in Budapest erhoben hätten: „Sie [d.h. die sowjetischen Politiker] streben danach, den Pluralismus und die Demokratie im Rahmen des Einparteiensystems zu verwirklichen, sie haben aber keine Vorbehalte, wenn andere Staaten eine Lösung auf anderem Wege suchen.“167

Beide Seiten unterstrichen darüber hinaus ihre Absicht, weiterhin eine grundlegende Reform der Funktionsmechanismen des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe anzustreben und den Prozess der marktwirtschaftlichen Umgestaltung ihrer Staaten fortzuführen, auch wenn Gorbatschow hier erneut seine Vorbehalte gegenüber einer radikalen Veränderung der Eigentumsverhältnisse bzw. gegenüber der Einführung kapitalistischer Eigentumsformen signalisierte. Insgesamt gesehen konnte die ungarische Seite so mit der Entwicklung der Beziehungen zur Sowjetunion Gorbatschows zufrieden sein: Zumindest solange die Kräfte um den sowjetischen Generalsekretär an der Macht waren, hatte Ungarn ganz offensichtlich mit keinen grundsätzlichen Widerständen aus Moskau gegen seinen Kurs radikaler politischer und wirtschaftlicher Veränderungen zu rechnen. Während der Amtszeit des ersten Németh-Kabinetts unternahm die ungarische Führung bzw. Diplomatie außerdem weitere Versuche, um die ungarische Minder-

166  Ausführlich siehe hierzu Jegyzőkönyv Mihail Gorbacsov és Németh Miklós 1989. március 3-i moszkvai találkozójáról [Protokoll über das Treffen von Michail Gorbatschow und Miklós Németh in Moskau am 3. März 1989], Jelentés az MSZMP Politikai Bizottságának Németh Miklós 1989. március 2–3-i moszkvai látogatásáról [Bericht für das Politbüro der MSZMP über den Moskau-Besuch von Miklós Németh am 2.–3. März 1989] und Jelentés az MSZMP Politikai Bizottságának Grósz Károly 1989. március 23–24-i moszkvai látogatásáról [Bericht für das Politbüro der MSZMP über den Moskau-Besuch von Károly Grósz am 23.–24. März 1989]. In: Baráth/ Rainer (Hrsg.), Gorbacsov tárgyalásai magyar vezetőkkel, S. 156–168, S. 169–177, S. 178–187. 167  Jelentés az MSZMP Politikai Bizottságának Németh Miklós 1989. március 2–3-i moszkvai látogatásáról [Bericht für das Politbüro der MSZMP über den Moskau-Besuch von Miklós Németh am 2.–3. März 1989]. In: Baráth/ Rainer (Hrsg.), Gorbacsov tárgyalásai magyar vezetőkkel, S. 169–177, hier S. 169.

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heit in Rumänien gegenüber den Maßnahmen des Ceauşescu-Regimes in Schutz zu nehmen. Bereits Mitte November 1988 hatte Gyula Horn, Staatssekretär im ungarischen Außenministerium, auf der NATO-Vollversammlung in Hamburg die rumänische Minderheitenpolitik scharf angeprangert.168 Auf einer Sitzung der UN-Menschenrechtskommission im Februar 1989 erklärte er dann, „Ungarn werde die Zuständigkeit aller UNO-Kommissionen für Menschenrechte anerkennen“, und verwarf damit die rumänische Position, wonach Minderheitenfragen eine rein „innere Angelegenheit“ des betreffenden Staates seien. Dann ging er auf die Situation in Rumänien selbst ein: „Wir halten es für eine Menschenrechtsverletzung, dass Dörfer zerstört, kulturelle und historische Werte vernichtet, der Sprachgebrauch der nationalen Minderheiten bewusst behindert, [diese] gewaltsam assimiliert und die Glaubensfreiheit eingeschränkt werden!“169 Mit dieser Aktion machte Horn die internationale Öffentlichkeit erneut auf die problematische Lage der Minderheiten in Rumänien aufmerksam. Darüber hinaus stimmte er auch dem schwedischen Vorschlag zu, einen UN-Sonderbeauftragten zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. Dieser Schritt bedeutete einen eindeutigen „außenpolitischen Seitensprung“, denn damit unterstützte erstmals ein Land des östlichen Lagers einen UN-Menschenrechtsbeschlusses gegen ein „Bruderland“ – noch dazu in einem Bereich, der höchste Brisanz für den Vielvölkerstaat Sowjetunion hatte. In Zusammenhang mit der Problematik der ungarischen Minderheit in Rumänien stand überdies eine weitere spektakuläre Entscheidung der ungarischen Regierung auf internationaler Ebene, nämlich der Beschluss, am 14. März 1989 einen Antrag auf Beitritt zur Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahre 1951 zu stellen. Damit schuf Budapest nämlich die Möglichkeit, auch Personen aus dem „östlichen Lager“ – also auch Ungarn aus Rumänien – Asyl zu gewähren. Währenddessen führte Budapest auch seine Politik der Öffnung gegenüber der westlichen Welt schwungvoll fort. Nachdem Ungarn bereits im Sommer 1988 politische Kontakte zu Südkorea geknüpft und im Dezember 1988 eine ständige Vertretung in Seoul eingerichtet hatte, nahm das Land im Februar 1989 diplomatische Beziehungen zu Südkorea auf.170 Dabei handelte es sich insofern um einen spektakulären Akt, als Ungarn als erstes Mitgliedsland des Warschauer Pakts – und ganz zum Missfallen Nordkoreas – derartige Beziehungen zum einstigen „internationalen Klassenfeind“ Südkorea aufnahm. Ende Februar 1989 beschloss dann das Politbüro der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, den „Eisernen Vorhang“ an der Grenze zu Österreich abbauen zu lassen.171 Dieser Schritt, der natürlich auch in der Logik der

168  Hierzu und zum Folgenden siehe Horn, Freiheit, S. 273–274, S. 278–279. 169  Ebenda, S. 278. 170  Ausführlich hierzu aus der persönlichen Sicht des damaligen Hauptakteurs siehe Horn, Freiheit, S. 251–263. 171  Ausführlich hierzu siehe Schmidt-Schweizer, Motive im Vorfeld der Demontage des „Eisernen Vorhangs“ 1987–1989. S. 127–139.



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Gewährung des weltweit gültigen Reisepasses für die Ungarn zum 1. Januar 1988 lag, hatte besondere symbolische Bedeutung, da er die ungarische Politik der Westöffnung demonstrativ unterstrich. Er offenbarte letztlich aber auch, wie unterschiedlich die innen-, wirtschafts- und außenpolitischen Interessen der einzelnen Staaten des „Ostblocks“ mittlerweile geworden waren.172 Das wichtigste Instrument der ungarischen Westöffnungspolitik bildete auch unter Ministerpräsident Németh die bilaterale Besuchsdiplomatie.173 Besondere Aktivitäten entwickelten in dieser Hinsicht Staatssekretär Gyula Horn, der in dieser Phase Großbritannien und die Schweiz (Dezember 1988) sowie Südkorea (Januar/ Februar 1989) besuchte, sowie Außenminister Péter Várkonyi, der – unter anderem – nach Belgien (Februar 1989) und Großbritannien (März 1989) reiste. In diesen Monaten fanden überdies zahlreiche Visiten ausländischer Politiker in Budapest statt, darunter des französischen Parlamentspräsidenten Laurent Fabius (Februar 1989), des österreichischen Außenministers Thomas Klestil (März 1989) und des israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Schamir (April 1989). Ministerpräsident Miklós Németh traf sich an der ungarisch-österreichischen Grenze mit dem österreichischen Bundeskanzler Franz Vranitzky (Februar 1989). All diese Kontakte führten zum Abschluss zahlreicher bilateraler politischer und wirtschaftlicher Abkommen sowie – im September 1989 – zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Ungarn und Israel. (Wie bereits im Falle von Südkorea war Ungarn auch hier das erste Land des Warschauer Pakts, das mit Israel diplomatische Beziehungen aufnahm.)

4.2.4 D  ie bilateralen politisch-diplomatischen Beziehungen in der ersten Transformationsphase Wie in den vorangegangenen beiden Jahren zeigten sich auch in diesen Monaten besonders rege Aktivitäten auf der Ebene der westdeutsch-ungarischen Besuchsdiplomatie. Anfang Dezember 1988 besuchte Politbüro-Mitglied Imre Pozsgay die Bundesrepublik und führte Gespräche mit Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher sowie den FDP-Spitzenpolitikern Otto Graf Lambsdorff und Wolfgang Mischnick über Fragen der europäischen Integration und der Veränderungen in Ungarn. Im Zuge seiner Visite hielt er überdies einen – vielbeachteten – Vortrag vor der Evangeli-

172  Bereits einen Monat vor dem Abbaubeschluss und zwei Wochen vor der ungarischen Akzeptanz des Mehrparteiensystems hatte der ungarische Außenminister Péter Várkonyi in einem Bericht vom 27. Januar 1989, in dem er über das Wiener KSZE-Nachfolgetreffen reflektierte, auf „markante Meinungsverschiedenheiten“ zwischen den Staaten des sozialistischen Lagers „infolge der unterschiedlichen Interpretation des Reformprozesses“ hingewiesen und sogar einen „Zerfall der Einheit“ konstatiert (Várkonyi laut Baráth, Mit dem Gesicht nach Westen; in Vorbereitung). 173  Zur Chronologie der Ereignisse siehe Nagy (Hrsg.) Magyar Külpolitika 1956–1989, S. 280–291.

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schen Akademie Arnoldshain, in dem er sich – ganz im Sinne der Gorbatschow‘schen Idee des „gemeinsamen europäischen Hauses“ – für eine Überwindung der Teilung Europas aussprach.174 Mitte Dezember 1988 stattete Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Ungarn einen Besuch ab und unterzeichnete bei dieser Gelegenheit ein Abkommen über Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes.175 Im selben Monat traf außerdem Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, der von seinem Amtskollegen Péter Várkonyi zu ihrem regelmäßigen offiziellen Meinungsaustausch eingeladen worden war, in Budapest ein.176 Während dieses Besuchs, bei dem Genscher Gespräche mit Vertretern der Partei- (Károly Grósz und Mátyás Szűrös) und Staatsführung (Miklós Németh) führte, versicherte die bundesdeutsche Seite Ungarn erneut ihre Unterstützung für die politischen und wirtschaftlichen Vorhaben des Landes. Beide Seiten begrüßten die jüngsten neuen Abrüstungsinitiativen von Generalsekretär Michail Gorbatschow und sprachen sich dafür aus, den bisher gemeinsam verfolgten Kurs bezüglich der rumänischen Minderheitenpolitik fortzuführen bzw. diese Problematik auch weiter auf internationalen Foren zur Sprache zu bringen. Und schließlich trafen sie eine Vereinbarung über die wechselseitige Eröffnung von Konsulaten in Pécs (Fünfkirchen) und München sowie eine Abmachung über regelmäßige Konsultationen der beiden Außenministerien unterhalb der Ministerebene. Anfang des folgenden Jahres stattete die im Jahr zuvor gegründete deutschungarische Parlamentariergruppe des Bundestags unter Führung von Otto Schily (SPD) Ungarn einen Besuch ab.177 Bei dieser Gelegenheit nahm die Gruppe nicht nur Kontakt zur deutsch-ungarischen Parlamentariergruppe des Budapester Parlaments auf und ließ sich über die jüngsten innenpolitischen Veränderungen in Ungarn informieren, sondern versuchte auch, sich an Ort und Stelle ein Bild über die Situation der aus Rumänien geflüchteten Menschen zu machen und Möglichkeiten für westdeutsche Hilfsmaßnahmen zu sondieren. Im Februar 1989 traf der ungarische Handelsminister Tamás Beck mit einer Delegation von ungarischen Wirtschaftsführern

174  Vgl. Die Zeit, 20. Januar 1989 (http://www.zeit.de/1989/04/von-der-geschichte-laengst-ueberholt/komplettansicht; Zugriff: 10.09.2016). 175  Ähnliche Abkommen schloss die Bundesrepublik, die auf diesem Gebiet eine Vorreiterrolle einnahm, mit der Tschechoslowakei, Polen, Rumänien und Bulgarien ab (vgl. Maria J. Welfens, Umweltprobleme und Umweltpolitik in Mittel- und Osteuropa. Ökonomie, Ökologie und Systemwandel. Heidelberg 2013, S. 240). 176  Külügyminisztérium. Tájékoztató Hans-Dietrich Genschernek, a Német Szövetségi Köztársaság alkancellárjának 1988. december 14–15-i hivatalos magyarországi látogatásáról [Informations­bericht über den offiziellen Ungarn-Besuch von Hans-Dietrich Genscher, Vizekanzler der Bundesrepu­blik Deutschland, vom 14.–15. Dezember 1988] [20. Dezember 1988] (MNL OL, 288.f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/B), fol. 950–953). 177  Országgyűlés Irodája. Külügyi Főosztály. Jelentés az NSZK-delegáció látogatásáról [Parlamentsbüro. Außenpolitische Hauptabteilung. Bericht über den Besuch der BRD-Delegation] [3. Februar 1989] (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 251–257).



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in der Bundesrepublik Deutschland ein.178 Bei den Gesprächen mit Vertretern der bundesdeutschen Politik und Wirtschaft, darunter der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht und der geschäftsführende Direktor des Bundes der Deutschen Industrie Siegfried Mann, warb die ungarische Seite für die Übernahme von 50 ungarischen Staatsunternehmen, die in Kürze in Aktiengesellschaften umgewandelt werden sollten, durch deutsche Unternehmen. Ebenfalls im Februar 1989 führte der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth bei einer Budapest-Visite Gespräche über die Möglichkeiten von Unternehmen seines Bundeslandes, in Ungarn zu investieren, und der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft Jürgen Möllemann erörterte mit seinem ungarischen Amtskollegen Tibor Czibere Möglichkeiten der Kooperation im Unterrichts- und Hochschulwesen. Und im Mai 1989 besuchten der bayerische Ministerpräsident Max Streibl sowie der Ministerpräsident Schleswig-Holsteins und Bundesratspräsident Björn Engholm Ungarn. Beide Landespolitiker führten Gespräche mit Regierungschef Miklós Németh und Handelsminister Tamás Beck.179 Streibl nahm zudem an der Eröffnung einer Ausstellung des Freistaats Bayern, die vom 6. bis 16. Mai 1989 in Budapest stattfand, teil, Engholm traf sich mit dem im März 1989 ernannten Parlamentspräsidenten Mátyás Szűrös sowie mit Staatsminister und Politbüro-Mitglied Imre Pozsgay zu einem politischen Meinungsaustausch. Während die ungarische Seite beim Engholm-Besuch die vollzogenen bzw. geplanten Veränderungen im politischen System, insbesondere die wachsende politische Rolle des Parlaments, sowie die wirtschaftlichen Herausforderungen darlegte, bot der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Ungarn ökonomische Unterstützung durch die norddeutschen Bundesländer und eine Intensivierung der Wirtschaftskooperation an. Diesbezüglich plädierte Engholm nicht nur für eine Ausweitung der bilateralen Handelsbeziehungen, sondern bot auch an, die Weiterbildung junger ungarischer Unternehmensleiter zu übernehmen und bei der Entwicklung von Wirtschaftskontakten zu den skandinavischen Ländern behilflich zu sein. Insbesondere der Besuch von Ministerpräsident Engholm in Ungarn führte vor Augen, dass bei der Weiterentwicklung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen in

178  Die „Investitionsinitiative“ von Beck fand in den bundesdeutschen Presseorganen ein breites Echo (siehe exemplarisch Handelsblatt, 9. Februar 1989, S. 9–10; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Februar 1989, S. 1; Süddeutsche Zeitung, 9. Februar 1989, S. 26). Ausführlich zum Besuchsverlauf siehe Kereskedelmi Minisztérium. Miniszter. Jelentés a vezetésemmel az NSZK-ban járt delegáció tevékenységéről /1989. február 5–9./ [Handelsministerium. Minister. Bericht über die Tätigkeit der unter meiner Führung die BRD besuchenden Delegation (5.–9. Februar 1989)] [13. Februar 1989] (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 288–294); siehe auch Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf, S. 274–275. 179  Näheres zum Engholm-Besuch siehe Országgyűlés Irodája. Külügyi Főosztály. Jelentés az NSZKdelegáció magyarországi látogatásáról [Parlamentsbüro. Außenpolitische Hauptabteilung. Bericht über den Besuch der BRD-Delegation in Ungarn] [11. Mai 1989] (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 420–426).

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diesen Monaten den politisch-diplomatischen Kontakten zwischen Ungarn und den westdeutschen Bundesländern eine wachsende Bedeutung zukam. Für die dynamische Weiterentwicklung der bilateralen staatlichen Beziehungen spielte – neben den ungarischen Bemühungen zur Transformation der wirtschaftlichen und politischen Ordnung – sicherlich auch die Tatsache eine bedeutende Rolle, dass die bundesdeutsche Diplomatie die ungarische Außenpolitik insgesamt sehr positiv beurteilte.180 Besonders schätzten die westdeutschen Diplomaten die ungarische Aufnahme von diplomatischen bzw. politischen Beziehungen zu Südkorea und Israel, die konstruktive Mitwirkung der Budapester Außenpolitik am KSZE-Prozess und die ungarischen Reformbestrebungen innerhalb des östlichen Wirtschaftsbündnisses. Die bundesdeutsche Botschaft in Budapest vergab der ungarischen Außenpolitik sogar das Prädikat „magna cum laude“ und stellte fest, dass zu einem „summa“ lediglich die noch ausbleibenden außenwirtschaftlichen Ergebnisse fehlen würden, wobei insbesondere auf das Ausbleiben von diesbezüglichen Erfolgen in den Vereinigten Staaten verwiesen wurde.181 Gleichzeitig erkannten die westdeutschen Diplomaten auch die großen ungarischen Erwartungen gegenüber Westdeutschland: „Ungarn erwartet von der Bundesrepublik Deutschland als dem wichtigsten westlichen Partner weiterhin positives Interesse, realisiert durch aktiven Besuchsverkehr, Mitdenken mit dem ungarischen Reformprozess und Hilfsbereitschaft angesichts der anhaltend problematischen Wirtschaftslage des Landes.“182

Wie sich auch in den folgenden Monaten und Jahren zeigen sollte, waren diese Erwartungen der ungarischen Seite keineswegs vergeblich. Auf der Ebene der bilateralen Parteibeziehungen kam es im Frühjahr zu einem Aufleben der Kontakte zwischen der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei und der westdeutschen Sozialdemokratie. Bereits in den 1970 Jahren hatten sich – wie gezeigt – Kontakte zwischen beiden Parteien entwickelt, und diese waren auch in den spannungsgeladenen Jahren des Zweiten Kalten Krieges nicht abgerissen. Im Mai 1986 hatten MSZMP und SPD überdies eine gemeinsame parlamentarische Arbeitsgruppe zur Erörterung der Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen gebildet. Vor dem Hintergrund der radikalen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in Ungarn intensivierten die westdeutschen Sozialdemokraten im Frühjahr 1989, nach mehreren Jahren der Zurückhaltung, ihre Beziehungen zur Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpar-

180  Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Januar 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 22). 181  Zur Erfolglosigkeit der ungarischen außenwirtschaftlichen Bemühungen in den USA siehe Borhi, Nagyhatalmi érdekek hálójában, S. 436–438. 182  Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Januar 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 22).



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tei erneut.183 Neben einer weiteren Sitzung der parlamentarischen Arbeitsgruppe, die – vor dem Hintergrund des (west-) europäischen Integrationsprozesses – Fragen der Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Ungarn bzw. dem Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe zum Thema hatte,184 kam es zu mehreren Unterredungen von SPD-Politikern, darunter Wolfgang Roth, Peter Glotz und Hans Koschnik, mit Funktionären der MSZMP. Hinter dieser „Gesprächsoffensive“, bei der vor allem der Transformationsprozess in Ungarn, der europäische Integrationsprozess und die jüngsten Entwicklungstendenzen der europäischen Sozialdemokratie erörtert wurden, verbarg sich allerdings auch eine besondere, mit dem Pluralisierungsprozess verbundene Herausforderung für die westdeutschen Sozialdemokraten: Während die SPD nämlich einerseits Kontakte zur neugegründeten Ungarischen Sozialdemokratischen Partei (MSZDP) aufnahm und eine enge Zusammenarbeit mit dieser neuen Kraft anstrebte, war sie zugleich besonders bemüht, ihre langjährigen engen Beziehungen zur – politisch noch immer dominierenden – Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei zu erhalten. Dementsprechend betonten die SPD-Vertreter gegenüber ihren ungarischen Gesprächspartnern wiederholt und nachdrücklich, dass sie ihre diesbezüglichen Schritte mit der Führung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei besprechen und diese neuen Kontakte das gegenseitige Verhältnis nicht beeinträchtigen würden.185 Wie sich bald zeigen sollte, stand die SPD im Frühjahr 1989 allerdings vor einer grundlegenden Neubewertung ihres politischen Beziehungsnetzes in Ungarn – und zwar zu Lasten der MSZMP. In diese Richtung wies auch die Tatsache, dass die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung – im Gegensatz zu den drei anderen großen politischen Stiftungen der Bundesrepublik – in diesen Monaten keine besonderen Aktivitäten in Richtung Ungarn entfaltete und schließlich die letzte dieser Institutionen sein sollte, die dort ein Büro eröffnete.186

183  Magyar Szocialista Munkáspárt Központi Bizottsága. Nemzetközi Pártkapcsolatok Osztálya. Tájékoztató az SPD-vel fennálló kétoldalú kapcsolatainkról [Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Abteilung für Internationale Parteibeziehungen. Informationsbericht über unsere bilateralen Beziehungen zur SPD] [Mai 1989] (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 118–119). 184  Ausführlich zur Sitzung der Arbeitsgruppe siehe die Aufzeichnung der ZK-Abteilung für Wirtschaftspolitik vom 7. März 1989 (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 613–621). 185  Siehe hierzu die Zusammenfassung der Gespräche von Peter Glotz, SPD-Bundestagsabgeordneter und Chefredakteur der sozialdemokratischen Zeitschrift „Die Neue Gesellschaft“, mit Politbüro-Mitglied János Berecz und dem ZK-Mitglied und Hauptabteilungsleiter im Außenministerium Géza Kótai am 20. bzw. 22. März 1989 (Magyar Szocialista Munkáspárt Központi Bizottsága. Nemzetközi Pártkapcsolatok Osztálya. Feljegyzés dr. Peter Glotz-cal folytatott megbeszélésről [Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Abteilung für Internationale Parteibeziehungen. Aufzeichnung über die Besprechung mit Dr. Peter Glotz] [28. März 1989]; MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 349–350). 186  Währenddessen eröffnete die Friedrich-Ebert-Stiftung bereits im April 1989 in Moskau ein Büro und war damit die erste westdeutsche politische Stiftung, die in einem Land des Warschauer Pakts eine Repräsentanz einrichtete.

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4.2.5 W  estdeutsche Beurteilungen der innenpolitischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Ungarn Während bei den Treffen der westdeutschen und ungarischen Politiker auch während der Amtszeit des ersten Németh-Kabinetts in erster Linie wirtschaftliche bzw. wirtschaftspolitische Fragen im Mittelpunkt standen, beobachtete die westdeutsche Diplomatie Ende 1988/ Anfang 1989 den innenpolitischen Veränderungsprozess in Ungarn mit besonderer Aufmerksamkeit. Der reguläre, auf Ende Januar 1989 datierte, allerdings die innenpolitischen Entwicklungen bis Ende Februar berücksichtigende Halbjahresbericht der bundesdeutschen Botschaft in Budapest befasste sich eingehend mit dem Fortgang des Demokratisierungsprozesses.187 Nachdem sich die Botschaft bereits in ihrem vorangegangenen Bericht skeptisch gegenüber dem Konzept des sozialistischen Pluralismus geäußert hatte, konstatierte sie nun – mit Blick auf die jüngsten politischen Ereignisse – sein Scheitern: „Die bisherige These: Politischer Pluralismus innerhalb der Einheitspartei ist als Propaganda verbraucht und nicht mehr glaubwürdig. Die Partei beginnt sich auf ein Mehrparteiensystem einzustellen, in dem sie in Koalition ihren Machtanspruch erhalten kann.“188

Die Verabschiedung der Vereinigungs- und Versammlungsgesetze, deren westlichdemokratischer Charakter unterstrichen wurde, sowie die Vorhaben, eine neue Verfassung „mit Bürgerrechten und Gewaltenteilung“ und „ohne verbrieften eigenen Führungsanspruch“ der Partei zu verabschieden und ein Parteiengesetz auszuarbeiten, wertete die bundesdeutsche Diplomatie als Beleg für den „ehrlichen Reformwillen“ der ungarischen Führung. Darüber hinaus konstatierte sie einen grundlegenden politischen Klimawechsel in Ungarn, der sich durch die „fast ungestörte Existenz der sich neu bzw. wieder entfaltenden politischen Gruppen“, durch den „Umgang mit ihnen durch Partei und Regierung“ sowie durch „Offenheit und Kritikfreudigkeit der Medien“ und das „zunehmend engagiert und temperamentvoll debattierende Parlament“ offenbare.189 In dem Bericht klangen aber auch skeptische Töne an. Hinsichtlich der Vereinigungs- und Versammlungsgesetze wurde darauf verwiesen, dass die Art und Weise

187  Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Januar 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 22). Der Bericht war ganz offensichtlich vor der ZK-Sitzung vom 10./11. Februar 1989 verfasst worden und danach – ohne eine genauere Analyse im Hinblick auf die Akzeptanz des Mehrparteiensystems und ohne Abstimmung der einzelnen Absätze aufeinander – auf den „neuesten Stand“ gebracht worden. 188  Ebenda. 189  Ebenda.



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ihrer praktischen Umsetzung noch abgewartet werden müsse, und mit Blick auf die geplante neue Verfassung wurde die Verwendung des – kaum mehr eindeutig zu definierenden – Begriffs „sozialistisch“ als Problem hervorgehoben: „Allerdings soll auch die künftige Verfassung das ‚sozialistische System‘ festschreiben (womit möglicherweise eine Handhabe geschaffen wird, mit dem Werkzeug des Parteiengesetzes neuen nicht ‚sozialistischen‘ Parteien die Zulassung zu verweigern).“190

Der Botschaftsbericht thematisierte darüber hinaus ein grundlegendes „Fragezeichen“ der politischen Systemtransformation, nämlich die unklare Haltung „breiter Funktionärsschichten in der Partei“ hinsichtlich des Veränderungsprozesses, die einen „Risikofaktor für die Reformpolitik“191 darstelle. Damit wurde letztlich auf die Bedeutung der weiteren Entwicklung der Machtverhältnisse innerhalb der Staatspartei verwiesen. Mit den Kräfteverhältnissen innerhalb der Regierung, der man wie bisher eine untergeordnete politische Rolle zuschrieb,192 befasste sich der Bericht nicht, und dem ungarischen Ministerpräsidenten schrieb man trotz seiner maßgeblichen Rolle bei der radikalen Neugestaltung der Wirtschaftspolitik kein eigenständiges politisches Profil zu: Németh sei noch nicht aus dem „Schatten seines Vorgängers Grósz“ herausgetreten. Bezüglich des Generalsekretärs selbst wurde erklärt, dass es bislang nicht abzusehen sei, ob er ein überzeugter Anhänger des Reformkurses oder nur ein sich den vorherrschenden Strömungen anpassender Taktiker sei, wobei die diesbezüglichen Zweifel ganz offensichtlich durch seine – erwähnte – „Weiße-TerrorRede“ begründet waren. (Diese hatte im In- und Ausland für großes Aufsehen bzw. große Erregung gesorgt, wurde im Botschaftsbericht aber erstaunlicherweise nur in einem Halbsatz erwähnt.) Demgegenüber betrachtete der Bericht Imre Pozsgay, der sich durch seine zahlreichen öffentlichen Auftritte und Erklärungen seit November 1988 entsprechend profiliert hatte, zurecht als klaren Protagonisten des Demokratisierungsprozesses. Nach den spektakulären Entscheidungen des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei vom 10./11. Februar 1989 bezüglich der Neubewertung der Ereignisse vom Herbst 1956 als „Volksaufstand“ und des schrittweisen Übergangs zu einem Mehrparteiensystem beobachtete die ungarische Diplomatie mit großer Aufmerksamkeit, wie die Entwicklungen in der ungarischen Innenpolitik in der Bundesrepublik aufgenommen wurden. In einem Schreiben an Gyula Horn, Staatssekretär im Außenministerium, berichtete der ungarische Botschafter István Horváth am 20. Februar 1989 über seine Gespräche, die er diesbezüglich mit Bonner Politikern

190  Ebenda. 191  Ebenda. 192  „Die Regierung hat in den vergangenen 6 Monaten politisch eher [ein] flaches Profil gezeigt und sich überwiegend administrativ verhalten.“ (Ebenda).

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geführt hatte.193 Dabei wies er vor allem darauf hin, dass in den „obersten politischen Kreisen der BRD […] das Ergebnis der ZK-Sitzung vom 10./11. Februar mit Überraschung und mehrheitlich mit Sympathie aufgenommen“ worden sei.194 Außerdem legte er die Auffassung der bundesdeutschen Politik dar, dass die Partei vorläufig nicht dazu gezwungen sei, die strategische politische Initiative aus ihrer Hand zu geben und „damit die Entstehung einer explosionsgefährlichen Situation zu riskieren.“ Um eine politische Destabilisierung zu vermeiden, versuche die Partei, „auch unter operativem Gesichtspunkt führende Kraft der Gesellschaft zu bleiben“, und könne dies möglicherweise auch erreichen.195 In einem weiteren Schreiben von Ende Februar/ Anfang März 1989 teilte Horváth dann dem Ministerpräsidenten mit, dass sich auch zu diesem Zeitpunkt in der bundesdeutschen Politik und Diplomatie noch kein eindeutiges Bild über die Aussichten des Umbruchs in Ungarn abgezeichnet habe. Zwar würde der politische Wandel auf „internationaler Ebene als modellhaft“ betrachtet, andererseits würden aber auch „Sorgen über extreme Phänomene und Erklärungen“196 und Befürchtungen über eine eventuelle Rückgängigmachung der politischen Veränderungen „im Falle eines Abflauens des Gorbatschow’schen Rückenwinds“ zum Ausdruck gebracht.197 Damit verwies Horváth wohl auf westdeutsche Befürchtungen, es könne im Falle von wesentlichen personellen Veränderungen in Moskau auch zu einem Wiedererstarken der Gegner des politischen Transformationsprozesses in Ungarn kommen. Wie skeptisch die bundesdeutsche Politik den politischen Entwicklungen in Ungarn auch Ende Februar 1989 noch gegenüberstand, geht aus einem Bericht des ungarischen Geheimdienstes hervor, der sich auf ein Treffen von Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher mit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher Ende Februar 1989 bezieht.198 Bei diesem Treffen sei auch der ungarische Umbruchsprozess thematisiert worden, wobei die Gesprächspartner die Befürchtung zum Ausdruck gebracht hätten, dass die Ereignisse in Ungarn unkontrollierbar werden könnten. Dies könnte „das zerbrechliche politische Gleichgewicht“ auf der internationalen Ebene und auch die Zahlungsfähigkeit Ungarns

193  Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Staatssekretär Gyula Horn vom 20. Februar 1989 zu den Bonner Reaktionen auf die jüngsten politischen Ereignisse in Ungarn. In: Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 238–241 (= Dokument 24). 194  Ebenda, S. 238. 195  Ebenda, S. 239. 196  Horváth machte hierzu keine näheren Bemerkungen. Ganz offensichtlich standen diese „Sorgen“ aber in Verbindung mit den Äußerungen von Generalsekretär Károly Grósz zum „weißen Terror“ sowie mit oppositionellen Forderungen nach einer Neutralisierung Ungarns. 197  Schreiben von Botschafter István Horváth an Ministerpräsidenten Miklós Németh vom Februar/ März 1989. In: Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 234–237, hier S. 234. 198  Bericht des ungarischen Geheimdienstes, Abteilung III/I, mit Datum vom 10. April 1989 (ÁBTL, 1. 11. 4. D – V/1989, fol. 9).



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beeinträchtigen. Außenminister Genscher bewertete die politischen Veränderungen gar als „oberflächlich“, wies – im Gegensatz zu Polen mit Oppositionsführer Lech Wałęsa – auf das Fehlen eines „verhandlungsfähigen Führers“ in der ungarischen Opposition hin und schrieb den oppositionellen Bewegungen in Ungarn keinerlei tatsächliche politische Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund war es verständlich, dass die bundesdeutschen Diplomaten in Budapest die politischen Ereignisse in Ungarn weiterhin sehr aufmerksam verfolgten. Im März 1989 wandten sie sich diesbezüglich einem weniger spektakulären, aber für den Stand des politischen und gesellschaftlichen Pluralisierungsprozesses in Ungarn dennoch bedeutsamen Gradmesser zu, nämlich den Themen „Streikrecht“ und „Gewerkschaften“. (Natürlich spielten diese Fragen auch für die westdeutsch-ungarischen Wirtschaftskontakte eine wichtige Rolle, denn für Investoren aus der Bundesrepublik war es keineswegs irrelevant, wie sich die Möglichkeiten zur Ausübung des Streikrechts in Ungarn entwickeln und welche Rolle die Gewerkschaften in Zukunft spielen würden.) Nachdem das ungarische Parlament am 22. März 1989 – als erster RGW-Mitgliedsstaat – ein an westlich-marktwirtschaftlichen Vorbildern orientiertes Streikgesetz199 verabschiedet hatte, verfasste der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland Alexander Arnot eine Woche später einen diesbezüglichen Bericht an das Auswärtige Amt.200 In diesem wies Arnot einerseits auf den relativ umfassenden Charakter des eine größere Rechtssicherheit bietenden und ausbalancierten Streikrechts hin. Dieses sei lediglich für den öffentlichen Dienst und das Gesundheitswesen eingeschränkt und übernehme die Funktion eines „Rahmens […] für zukünftige Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“. Andererseits wies er aber auch darauf hin, dass das Gesetz eine – politisch motivierte – „Ventilfunktion“ habe und zu „vermehrtem streikbedingten Arbeitsausfall“ führen könne. Drei Wochen nach diesem Bericht folgte dann eine Aufzeichnung der bundesdeutschen Botschaft, die sich mit den „jüngsten Entwicklungen auf dem Gebiet des Gewerkschaftswesens in Ungarn“ befasste.201 Der Bericht verwies zum einen auf die Bemühungen des offiziellen Gewerkschaftsverbandes, seinen Charakter als „Transmissionsriemen“ von Parteientscheidungen abzulegen und sich zu einer „genuinen Interessenvertretung der Arbeitnehmer“ zu entwickeln, zum andern auf die „realistischen Überlebenschancen“ der „neuen, politisch unverbrauchten“ Gewerkschaften.

199  1989. évi VII. törvény a sztrájkról [Gesetz Nr. VII des Jahres 1989 über den Streik] (Magyar ­Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 22, 12. April 1989, S. 431–432 (= Dokument 26). 200  Bericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest an das Auswärtige Amt vom 29. März 1989 über die Einführung des Streikrechts in Ungarn (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 27). 201  Bericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest an das Auswärtige Amt vom 19. April 1989 über die jüngsten Entwicklungen auf dem Gebiet des Gewerkschaftswesens in Ungarn (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 28).

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Mit Blick auf die im Zuge der Pluralisierungsprozesse seit Frühjahr 1988 entstandenen „alternativen“ Interessenvertretungen wurde eine vorsichtige Unterstützung der „Demokratischen Gewerkschaft der Werktätigen in der Wissenschaft“ und der „Demokratischen Liga der Unabhängigen Gewerkschaften“ durch die westdeutschen Gewerkschaften empfohlen. Aber auch diese weiteren Schritte der ungarischen Führung führten noch zu keinem Umschwung in der Haltung der bundesdeutschen Diplomatie und Politik zum politischen Veränderungsprozess in Ungarn. Auf einer Fraktionssitzung von CDU und CSU Mitte April 1989 äußerte sich Bundeskanzler Helmut Kohl – trotz aller öffentlichen Sympathiebekundungen für Ungarn und des seit Mitte März 1989 deutlich zunehmenden Gewichts der Oppositionsbewegungen – noch immer skeptisch über die Erfolgsaussichten des politischen Umbruchs in Ungarn. Diesbezüglich wurde in einem ungarischen Geheimdienstbericht Folgendes festgestellt: „Der […] Kanzler bewertete den polnischen Reformprozess als nicht rückgängig zu machen, während er den ungarischen Reformprozess wegen der Unausgegorenheit der inneren Situation [in Ungarn] als Prozess mit einem ungewissen Ausgang beurteilte.“202

Diese Einschätzung war auch dem ungarischen Botschafter in Bonn István Horváth bekannt. In einem Schreiben an Ministerpräsident Miklós Németh hob er am 20. April 1989 dementsprechend hervor: „Hinter den politischen Schritten [Ungarns] werden vorläufig noch keine wirklichen Veränderungen gesehen.“203 Dementsprechend bemühte sich Horváth auch, die Bonner Diplomatie von den Fortschritten des Demokratisierungsprozesses in Ungarn zu überzeugen. So betonte er beispielsweise gegenüber Jürgen Sudhoff, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Mitte April 1989, man sei „in Ungarn […] mit dem konkreten Reformprozess weiter als in Polen. [Die] Grundsatzentscheidung für ein Mehrparteiensystem und die Vorbereitung einer neuen Verfassung sowie [die] Bereitschaft der USAP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] zum Verzicht auf Machtpositionen seien hierfür Belege.“204

202  Telegramm des Mitarbeiters des ungarischen Geheimdienstes „Hansen“ vom 24. April 1989 aus Bonn an die Abteilung III/I des ungarischen Innenministeriums über die bundesdeutschen Meinungen zum ungarischen Reformprozess (ÁBTL, 1. 11. 4. D – V/1989, fol. 7–8, hier fol. 7). 203  Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident Miklós Németh vom 20. April 1989 über die Haltung westdeutscher Politiker und Experten zu den wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in Ungarn. In: Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 242–251, hier S. 244 (= Dokument 29). 204  Aufzeichnung des Referats 214 des Auswärtigen Amts vom 19. April 1989 über das Gespräch von Staatssekretär Sudhoff mit dem ungarischen Botschafter Horváth am 18. April 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, 140.716 E, ohne Paginierung).



Herbst 1988 bis Frühjahr 1989 

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Die noch immer vorherrschende Skepsis in der bundesdeutschen Politik konnte allerdings auch Horváth zu diesem Zeitpunkt nicht zerstreuen. Offenbar kurz vor der Umbildung des Kabinetts von Ministerpräsident Németh, die am 10. Mai 1989 erfolgen sollte, verfasste die bundesdeutsche Botschaft in Budapest einen weiteren Bericht über den „Stand der politischen Reformen in Ungarn“.205 In diesem wurde erneut auf die Fortschritte im ungarischen Demokratisierungsprozess verwiesen und diesbezüglich die Verfassungsentwicklung – also die Akzeptanz des Mehrparteiensystems, die geplante Verfassungsreform sowie mehrere grundlegende Gesetzesvorhaben (Parteiengesetz, Wahlgesetz und Gesetz über den Staatspräsidenten) –, die Neuinterpretation von 1956 als Volksaufstand sowie die beginnenden Demokratisierungsprozesse innerhalb der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei angeführt. Ungarn wurde zugeschrieben, „zur Zeit und auf Sicht eindeutig auf Reformkurs“ zu sein, gleichzeitig wurden aber noch immer „vielfältige Unklarheiten, Widersprüche, Verzögerungen und Verzettelungen im Einzelnen“ festgestellt. Neben der Offenheit zahlreicher Aspekte des Demokratisierungsprozesses (beispielsweise der Frage, wer zur Verabschiedung der neuen Verfassung legitimiert sei), verwies der Bericht insbesondere auf die offenen Entwicklungen innerhalb der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Diesbezüglich wurden in erster Linie der rapide Mitgliederverlust der MSZMP,206 die zunehmende innerparteiliche Polarisierung und die offene Führungsfrage sowie die unabgeschlossene politische Identitätssuche thematisiert: „Die Neuorientierung auf einen sozialistischen Reformkurs in Annäherung an sozialdemokratische Leitlinien ist in der Partei durchaus noch nicht vollzogen.“207

Neben den zentralen innenpolitischen Geschehnissen in Ungarn in dieser ersten, durch zahlreiche offene bzw. „halbfertige“ politische Prozesse gekennzeichneten Phase des Umbruchs ließ die westdeutsche Politik und Diplomatie natürlich auch die dortigen wirtschaftlichen Entwicklungen nicht aus dem Auge. Noch stärker als bezüglich der Innenpolitik traten hier – nach der anfänglichen großen Sympathie für die Grundsatzentscheidung zugunsten einer Marktwirtschaft – zahlreiche skeptische und kritische Stimmen hinsichtlich der praktischen Umsetzung der ökonomischen Transformationsvorhaben hervor.

205  Bericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest an das Auswärtige Amt vom Mai 1989 über den Stand des politischen Veränderungsprozesses in Ungarn (PA AA, Zwischenarchiv, 139.939 E, ohne Paginierung) (= Dokument 30). 206  In den vergangenen zwei Jahren hatte sich die Zahl der MSZMP-Mitglieder um rund ein Viertel von 800.000 auf 600.000 Personen verringert. 207  Bericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest an das Auswärtige Amt vom Mai 1989 über den Stand des politischen Veränderungsprozesses in Ungarn (PA AA, Zwischenarchiv, 139.939 E, ohne Paginierung) (= Dokument 30).

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 Die politisch-diplomatischen Beziehungen

Im politischen Halbjahresbericht der bundesdeutschen Botschaft vom Januar 1989 wurde einerseits als Fazit der jüngsten Wirtschaftsentwicklung festgestellt, dass die – im Entfaltungsprogramm von 1987 festgehaltenen – Stabilisierungsziele sowie die quantitativen Ziele des Volkswirtschaftsplans von 1988 „im Großen und Ganzen“ erfüllt worden seien, beim Beginn der Umstrukturierung der ungarischen Wirtschaft im Sinne einer Marktwirtschaft seien Erfolge aber „nur in sehr geringem Maße erzielt worden.“208 Für das Jahr 1989 bescheinigte der Bericht der ungarischen Wirtschaftsführung einerseits die Absicht, die Priorität von der „eingeleiteten Begrenzung des Verschuldungsprozesses und des Budgetdefizits“ auf die „beschleunigte Einführung marktwirtschaftlicher Parameter“ und auf die „Integration in die Weltwirtschaft“ zu verlagern. Andererseits wurden aber auch deutliche Zweifel an der Fähigkeit der Wirtschaftsführung, den Umschwung einzuleiten, geäußert sowie auf die besondere Bedeutung der – bislang passiv-resignativen – Haltung der Bevölkerung ­hinge­wiesen: „Entscheidend für Erfolg und Fortsetzung des eingeschlagenen Weges wird sein, inwieweit die ungarische Führung das Vertrauen der Bevölkerung in ihre wirtschaftspolitische Kompetenz wiederzugewinnen vermag und nicht lediglich (unter ständiger Gefahr des Überschreitens) am Rande der (Er-) Duldungsbereitschaft der Bevölkerung operiert.“209

Wie aus dem Bericht hervorgeht, setzte die ungarische Wirtschaftsführung nicht nur ihre Hoffnungen „auf einen psychologischen Umschwung in der produzierenden Bevölkerung“, sondern insbesondere auch „auf Hilfe aus dem Westen“ – wobei natürlich in erster Linie an die Bundesrepublik gedacht war. Von einer sehr skeptischen westdeutschen Haltung in der Frage der Fähigkeit Ungarns, eine funktionsfähige Marktwirtschaft zu errichten, berichtete auch der ungarische Botschafter in Bonn in zwei Schreiben von Ende Februar/ Anfang März sowie vom 20. April 1989 an Ministerpräsident Miklós Németh. Im ersten Brief verwies Horváth darauf, dass „sich in den engeren wirtschaftlich-fachlichen Kreisen“ der Zweifel verstärke, „ob Ungarn fähig sei, zu einer ‚wirklichen‘ Marktwirtschaft überzugehen“.210 Als Hauptgründe hierfür konstatiere die westdeutsche Fachwelt „administrative Hindernisse“ sowie die „dominante Rolle der obersten Leitung“. In seinem Bericht wies Horváth auch darauf hin, dass das „Fehlen von marktwirt-

208  Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Januar 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 22). 209  Ebenda. 210  Schreiben von Botschafter István Horváth an Ministerpräsidenten Miklós Németh vom Februar/ März 1989. In: Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 234–237, hier S. 234.



Herbst 1988 bis Frühjahr 1989 

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schaftlichen Verhältnissen“ sowie die „zahllosen finanziellen und administrativen Verpflichtungen“ ein Hindernis für ausländischen Investoren bilden würden.211 In seinem zweiten Brief ging Horváth dann ausführlich auf die Ergebnisse der Gespräche ein, die er in den vorangegangenen Wochen „mit führenden Politikern sowie Wirtschafts- und Finanzexperten der BRD“ geführt hatte.212 Hier verwies der Botschafter vor allem auf die westdeutsche Kritik am ungarischen Lenkungs- und „Zieldefizit“, also darauf, dass „sich der politisch-wirtschaftliche Wandel nicht mit der erwünschten kraftvollen Lenkung und angemessen effektiven Wirtschaftsstrategie paare. […] In den vergangenen Wochen verwiesen immer mehr Stimmen darauf, dass das Ausland – trotz unserer häufig als ‚atemberaubend‘ bezeichneten innenpolitischen Veränderungen – durch die Tatsache, dass sich die Vorstellungen und Ziele bezüglich des politischen und wirtschaftlichen Wandels in Ungarn noch immer nicht hinreichend geklärt hätten, ziemlich beunruhigt sei und man zur Vorsicht mahne. Aus den häufig widersprüchlichen Äußerungen unserer führenden Politiker schließen sie, dass noch nicht entschieden sei, in welche Richtung sich das Land entwickeln wolle und mit welchen Instrumentarien die Ziele erreicht werden sollten.“213

Als grundlegende, von der westdeutschen Seite thematisierte Probleme der ungarischen Wirtschaft bzw. Wirtschaftspolitik hob Horváth – unter anderem – folgende Aspekte hervor: die Notwendigkeit, gleichzeitig die „schweren wirtschaftlichen Gleichgewichtsprobleme“ zu handhaben und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft wesentlich zu stärken; die Fortsetzung der durch Überstürzung und Unentschlossenheit gekennzeichneten „traditionellen Steuerungsauffassung“, also der bisherigen Planungsmethoden; die Frage der Wahrung der innenpolitischen Stabilität unter den Belastungen des ökonomischen Strukturwandels; die Tatsache, dass sich politischer Pluralismus „nur auf einem auf der Unternehmung basierenden wirtschaftlichen Pluralismus“ entwickeln könne; das verbreitete Unsicherheitsgefühl der Anleger infolge „zahlreicher widersprüchlicher und unverständlicher Maßnahmen und Regierungserklärungen“. Anschließend legte Horváth eine Reihe von Vorschlägen vor, die ihm die westdeutsche Seite zur Überwindung der genannten Probleme unterbreitet hatte, darunter eine ausschließlich an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit orientierte Strategie, eine radikalere Neuorientierung an den Prinzipien der Marktwirtschaft und eine beschleunigte Anpassung an die entwickelte westliche Welt. Und schließlich stellte er fest, dass der Akzent der westdeutschen Vorschläge „– über die Entwicklung einer

211  Ebenda, S. 235. 212  Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident Miklós Németh vom 20. April 1989 über die Haltung westdeutscher Politiker und Experten zu den wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in Ungarn. In: Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 242–251, hier S. 242 (= Dokument 29). 213  Ebenda, S. 243–244.

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neuen Wirtschaftsstrategie – auf der Verkündung eines ‚neuen Programms einer neuen Regierung‘“ liege. Neben den zahlreichen Kritikpunkten signalisierte Horváth allerdings auch, dass führende westdeutsche Politiker wie Helmut Kohl, Lothar Späth und Otto Graf Lambsdorff die Lage keineswegs als hoffnungslos betrachten würden und weiter dazu bereit seien, Ungarn aktiv zu unterstützen. Zusammenfassend betrachtet waren die bundesdeutschen Einschätzungen der politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen während der Amtszeit des ersten Németh-Kabinetts einerseits durch eine allgemeine Begrüßung der grundsätzlichen Entscheidungen und Maßnahmen zur Systemtransformation in Politik und Wirtschaft gekennzeichnet, andererseits setzte die westdeutsche Seite aber auch zahlreiche „Fragezeichen“. Der prinzipiellen Begrüßung der Verabschiedung der Gesetze über die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und über das Streikrecht, der Akzeptanz des Mehrparteiensystems, der begonnenen Verfassungsreform sowie der ersten ökonomischen Transformationsgesetze wurden mehrere offene Fragen gegenübergestellt. Die erste Frage bildeten für die westdeutsche Seite die – auch nach dem Ausscheiden von János Berecz aus dem Politbüro – noch immer keineswegs eindeutig entschiedenen Machtverhältnisse innerhalb der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei bzw. die Tatsache, dass sich bisher noch kein vollständiger Durchbruch der Anhänger des politischen Systemwechsels abgezeichnet hatte.214 Die zweite Frage war, wie die praktische Umsetzung der verabschiedeten Gesetze verlaufen würde und insbesondere, was der zukünftige „sozialistische“ Charakter der Verfassung konkret bedeuten sollte. Als dritte Frage wurde aufgeworfen, ob die herrschende Partei – vor dem Hintergrund des innerparteilichen und innenpolitischen Wandels und der äußerst schwierigen Situation der Wirtschaft – in der Lage sein würde, die politischen Entwicklungen zu kontrollieren und so eine Destabilisierung Ungarn zu verhindern. Eng damit verbunden stellte sich eine vierte Frage, nämlich die nach der zukünftigen Rolle der Oppositionsbewegung, die seitens der bundesdeutschen Politik und Diplomatie – zumindest bis Mitte März 1989 nicht ohne Grund – als politisch einflusslos betrachtet wurden. Und fünftens wurde gefragt, ob Ungarn in der Lage sein würde, den gewaltigen Herausforderungen der wirtschaftlichen Stabilisierung und Reorganisation mittels entschiedenen und konkreten wirtschaftspolitischen Maß-

214  Aufzeichnung von Referat 214 des Auswärtigen Amts vom 17. April 1989 zur Situation des ungarischen Veränderungsprozesses nach den jüngsten Personalveränderungen im Politbüro (PA AA, Zwischenarchiv, 139.936 E, ohne Paginierung). Laut einem Bericht der ungarischen Botschaft in Wien äußerte Ende April 1989 ein Sekretär der bundesdeutschen Botschaft in Wien, die Ablösung von Berecz sei „bestenfalls eine notwenige, aber keinesfalls eine ausreichende Voraussetzung für einen erfolgreichen Fortschritt.“ (A bécsi magyar nagykövetség feljegyzése nyugatnémet diplomaták Magyarországról adott értékeléséről 1989. április 28.) [Aufzeichnung der ungarischen Botschaft in Wien über die Bewertung Ungarns durch westdeutsche Diplomaten (28. April 1989)]. In: Lajos Gecsényi/ Gábor Máthé (Hrsg.), Sub clausula 1989. Dokumentumok a politikai rendszerváltás történetéhez [Sub clausula 1989. Dokumente zur Geschichte des politischen Systemwechsels]. Budapest 2009, S. 528–529).



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nahmen gerecht zu werden. Ganz offensichtlich war zur Klärung des zukünftigen Wegs Ungarns für die bundesdeutsche Seite von herausragender Bedeutung, wie sich die politischen Machtverhältnisse in Ungarn weiterentwickeln würden, wobei man im Mai 1989 nicht mehr nur auf die Situation innerhalb der Partei, sondern auch auf die in der Regierung blickte. Die grundsätzliche Bereitschaft, Ungarn auch weiterhin in besonderem Maße zu unterstützen, wurde – vor dem Hintergrund des besonderen westdeutsch-ungarischen Verhältnisses, das sich bereits bis Mitte 1987 herausgebildet hatte – aber auch durch diese „offenen Punkte“ von der bundesdeutschen Politik nicht infrage gestellt.

4.3 D  ie bilateralen Beziehungen zur Zeit der zweiten Phase der Systemtransformation und der DDR-Flüchtlingswelle in Ungarn (Frühjahr 1989 bis Herbst 1989) 4.3.1 D  ie Durchsetzung der „Transformer“ in Partei und Regierung und die Fortsetzung des politischen Systemwechsels im Frühjahr 1989 Nachdem die Konservativen um Károly Grósz am 12. April 1989 mit dem Ausscheiden von János Berecz aus dem Politbüro eine Schwächung erfahren hatten und führende Funktionäre und Intellektuelle der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, die dem Systemwechsel verpflichtet waren, am 15. April 1989 in Kecskemét im Rahmen einer sogenannten Reformwerkstatt ihre wachsende Kraft demonstriert hatten, konnten die Politiker um Imre Pozsgay und Miklós Németh auf der ZK-Sitzung am 8. Mai 1989 einen klaren politischen Sieg verzeichnen.215 Dies offenbarte sich insbesondere an den dort getroffenen, zwei Tage später in einem Kommuniqué veröffentlichten Beschlüssen.216 So nahm das Zentralkomitee den unter Federführung von Justizminister Kálmán Kulcsár erstellten Gesetzesentwurf über die politischen Parteien an,217 der in Kürze – so die Planungen – dem Parlament vorgelegt werden sollte. Der Entwurf orientierte sich eindeutig am Vorbild westlicher Parteiengesetze und zeigte damit, dass die Parteiführung über die prinzipielle Akzeptanz des Mehrparteiensys-

215  Näheres siehe Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 140–142; Ripp, Rendszerváltás Magyarországon, S. 329; József Géczi, Reformerek és reformkörök [Reformer und Reformzirkel]. In: Ders./ Attila Ágh/ József Sipos (Hrsg.), Rendszerváltók a baloldalon. Reformerek és reformkörök 1988–1989. Válogatott dokumentumok [Transformer auf der Linken. Reformer und Reformzirkel 1988– 1989. Ausgewählte Dokumente]. Budapest 1999, S. 21–40, hier S. 34–35. 216  Közlemény a Magyar Szocialista Munkáspárt Központi Bizottságának 1989. május 8-ai üléséről [Offizielle Mitteilung über die Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei am 8. Mai 1989]. In: Népszabadság, 10. Mai 1989, S. 3 (= Dokument 31). 217  Zum Wortlaut des Gesetzentwurfs siehe Magyar Hírlap, 19. April 1989, S. 7.

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tems hinaus auch bereit war, konkrete Schritte zur rechtlichen Fundierung einer kompetitiven politischen Ordnung zu unternehmen. Außerdem beschloss das Gremium, die Kaderkompetenzen der MSZMP zu beenden bzw. die sogenannte Kaderkompetenzliste abzuschaffen. Mit dieser Entscheidung verzichtete die Parteiführung auf ihre personalpolitischen Vorrechte in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft und tat damit einen entscheidenden Schritt zur Trennung von Staat und Partei bzw. zur Beendigung ihrer Rolle als Staatspartei.218 Der Verzicht auf diese Vorrechte bedeutete auch, dass der Regierungschef nun in die Lage versetzt wurde, eine von der Partei weitgehend unabhängige Personalpolitik zu verfolgen. Von dieser Möglichkeit sollte Ministerpräsident Németh sehr schnell auch Gebrauch machen. Darüber hinaus entschied das Zentralkomitee, die Aufsicht über die Arbeitermiliz von der Partei auf die Regierung zu übertragen und die bisherige „Parteiarmee“ nun zum Katastrophenschutz, zur Landesverteidigung sowie zur Wahrung der inneren Sicherheit heranzuziehen. Von großer symbolischer Bedeutung war überdies der Beschluss, János Kádár – aufgrund seines (tatsächlich) sehr schlechten Gesundheitszustandes – von seinen letzten Parteiämtern zu entbinden. Und schließlich zog das Zentralkomitee einen definitiven Schlussstrich unter die Praxis des sogenannten demokratischen Zentralismus, indem sie der Parteibasis erstmals offiziell zugestand, abweichende Meinungen auch nach einem offiziellen Parteibeschluss weiter vertreten zu dürfen. Im Zuge der schrittweisen Durchsetzung der Transformer innerhalb der MSZMP und bereits zwei Tage nach der ZK-Sitzung vom 8. Mai 1989 führte Ministerpräsident Németh eine radikale Umbildung seines Kabinetts durch.219 Am 10. Mai 1989 erläuterte er vor dem Parlament die Gründe für diesen Schritt, wobei er insbesondere auf die Notwendigkeit verwies, ein einheitliches und dem „Modellwechsel“ verpflichtetes Kabinett einzusetzen.220 Die Regierungsmannschaft, die Németh von Károly Grósz im November 1988 „geerbt“ hatte, war nämlich dadurch gekennzeichnet gewesen, dass sich darin sowohl überzeugte Anhänger der politischen und wirtschaftlichen Transformation wie Imre Pozsgay, Rezső Nyers und Kálmán Kulcsár als auch Politiker wie Péter Várkonyi, Frigyes Berecz und Miklós Villányi befanden, die noch in den politischen Kategorien der Ära Kádár verhaftet waren. Im Zuge der Kabinettsumbildung kam es an der Spitze von sechs Ressorts zu Veränderungen. Neue Minister wurden – unter anderen – László Békesi (Finanzen), Ferenc Glatz (Kultus) und Gyula Horn (Äußeres). Insbesondere die Ernennung von Horn wurde zweifellos auch von

218  Die enge personelle Verflechtung von Staat und Partei blieb allerdings bis zur Auflösung der MSZMP bestehen. So gehörte beispielsweise Ministerpräsident Németh bis Oktober 1989 auch der Parteispitze, also dem Politbüro bzw. dem Parteipräsidium an. 219  Siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 145; Ripp, Rendszerváltás Magyarországon, S. 339–340. 220  Zum Wortlaut der Rede siehe Az Országgyűlés 45. ülése, 1989. május. 10., szerda [45. Sitzung des Parlaments, Mittwoch, 10. Mai 1989]. In: Országgyűlési értesítő [Parlaments-Mitteilungen], Bd. 3. Budapest 1989, S. 3769–3779 (= Dokument 32).



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der bundesdeutschen Diplomatie, die bereits Ende Januar 1989 die besonders aktive außenpolitische Rolle des Staatssekretärs herausgestellt hatte,221 begrüßt. Bereits vor diesen personellen Veränderungen in der Regierung hatte Németh überdies angekündigt, den Prozess der Trennung von Staat und Partei, der bereits unter Grósz ansatzweise begonnen worden war, konsequent fortzusetzen.222 Vor dem Hintergrund der grundlegenden Umgestaltung des Kabinetts und einer weiteren Machtdemonstration der Anhänger des Systemwechsels innerhalb der Partei, nämlich der ersten landesweiten Konferenz der MSZMP-Reformzirkel in Szeged am 20./21. Mai 1989,223 kam es auch an der Parteispitze zu personell-organisatorischen Veränderungen, die zur „Entthronung“224 von Generalsekretär Grósz führten. Dieser hatte sich in den vorangegangenen Monaten in immer größere politische Widersprüche verstrickt und offenbar auch die „Zeichen der Zeit“ nicht erkannt. Auf der ZK-Sitzung vom 23./24. Juni 1989 schuf das Zentralkomitee die Position eines – die tatsächliche Parteiführung ausübenden – Parteivorsitzenden, die vom „Vater der Wirtschaftsreformen von 1968“ Rezső Nyers übernommen wurde, rief ein vierköpfiges Parteipräsidium ins Leben (Nyers, Grósz,225 Pozsgay und Németh) und ersetzte das Politbüro durch einen 21-köpfigen Politischen Verwaltungsausschuss, in dem die Anhänger einer umfassenden Demokratisierung eindeutig in der Mehrzahl waren. (Mit diesen Entscheidungen leitete das Zentralkomitee auch einen Bruch mit den typischen Organisationsmustern der kommunistischen Parteien „bolschewistischen“ Typus‘ ein.)

4.3.2 D  ie Innen-, Wirtschafts- und Kulturpolitik des zweiten Németh-Kabinetts im Frühjahr/ Sommer 1989 Nach der Regierungsumbildung, die den Beginn der zweiten Phase des ungarischen Systemwechsels einleitete, gingen Justizminister Kálmán Kulcsár und Innenminister István Horváth im Mai/ Juni 1989 unverzüglich daran, eine Reihe von Gesetzesvorhaben in die Praxis umzusetzen, die – ohne irgendwelche „sozialistische“ Vorbedingungen – der Verwirklichung einer parlamentarischen Demokratie dienen und gleichzei-

221  Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Januar 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 22); siehe auch Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf, S. 265. 222  Vgl. Magyar Hírlap, 14. April 1989, S. 5. Zu den ersten derartigen Bestrebungen unter Grósz siehe Schmidt-Schweizer, Vom Reformsozialismus zur Systemtransformation, S. 41. 223  Siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 142; Géczi, Reformerek és reformkörök, S. 35–36. 224  Romsics, Volt egyszer egy rendszerváltás, S. 141. 225  Grósz behielt formal den Titel „Generalsekretär“, war aber nur mehr für innerparteiliche Organisationsfragen zuständig.

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tig gegenüber der erstarkenden Opposition vollendete Tatsachen schaffen sollten.226 Im Mittelpunkt ihrer legislativen Arbeit standen die – auch der Öffentlichkeit vorgestellten – Vorlagen der Gesetze über das Parlamentswahlrecht, über die Volksabstimmung und Volksinitiative, über das Verfassungsgericht, über die Etablierung des Amts des „Präsidenten der Republik“, über den Misstrauensantrag und das Misstrauensvotum sowie über die politischen Parteien.227 Noch vor dem Beginn der Ausgleichsgespräche am Nationalen Runden Tisch, der nach langwierigen Verhandlungen zwischen der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, den vereinigten Oppositionsbewegungen und der sogenannten „dritten Seite“228 über den Status der Verhandlungsseiten und inhaltliche Fragen erstmals am 13. Juni 1989 zusammentreten sollte,229 gelang es der Regierung, mehrere Gesetzesvorhaben umzusetzen. So verabschiedete das Parlament am 10. Mai 1989 eine Verfassungsänderung, die die Möglichkeit für einen Misstrauensantrag und eine Misstrauensabstimmung schuf, und fundierte damit die – für eine parlamentarische Demokratie grundlegende – Abhängigkeit der Regierung von der Volksvertretung.230 Am 11./12. Mai beschloss das Parlament außerdem, die – mittlerweile völlig unzeitgemäße – „Lex Stalin“, die in den 1950er Jahren zum Gedenken an den sowjetischen Diktator verabschiedet worden war, zu streichen.231 Und am 1. Juni 1989 nahm es das Gesetz über die Volksabstimmung und Volksinitiative an und verankerte damit staatsrechtlich zwei Möglichkeiten zur Ausübung direkter

226  Zur Innenpolitik des zweiten Németh-Kabinetts siehe Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 147–150; Ripp, Rendszerváltás Magyarországon, S. 343–346. 227  Zum Wortlaut der Gesetzentwürfe siehe das Regierungsorgan Magyar Hírlap, 8. April 1989, S. 4–5; Magyar Hírlap, 19. April 1989, S. 7; Magyar Hírlap, 6. Mai 1989, S. 6; Magyar Hírlap, 10. Mai 1989, S. 8; Magyar Hírlap, 5. Juni 1989, S. 5–6. 228  Diese setzte sich aus verschiedenen Massenbewegungen (z. B. Patriotische Volksfront, Landesverband der Gewerkschaften) und gesellschaftlichen Organisationen (z. B. Bund Ungarischer Widerstandskämpfer und Antifaschisten, Linksalternative Vereinigung), die zumeist der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei nahestanden, zusammen. 229  Ausführlich zur Vorgeschichte der Rundtischverhandlungen siehe Schmidt-Schweizer, Vom Reformsozialismus zur Systemtransformation, S. 273–297. Zu den grundlegenden diesbezüglichen Dokumenten siehe András Bozóki/ Zoltán Ripp/ Melinda Kalmár u.a. (Hrsg.), A rendszerváltás forgatókönyve. Kerekasztal-tárgyalások 1989-ben [Drehbuch des Systemwechsels. Rundtisch-Verhandlungen 1989], Bd. 1. Budapest 1999. 230  1989. évi VIII. törvény az Alkotmány módosításáról [Gesetz Nr. VIII des Jahres 1989 über die Änderung der Verfassung] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 33, 26. Mai 1989, S. 585–586). Das Gesetz sah auch die Möglichkeit vor, einen Misstrauensantrag gegen einzelne Minister zu stellen. 231  1989. évi XII. törvény Joszif Visszarionovics Sztálin generalisszimusz emlékének meg­örökí­té­ sé­ről szóló 1953. évi I. törvény hatályon kívül helyezéséről [Gesetz Nr. XII des Jahres 1989 über die Außerkraftsetzung von Gesetz Nr. I des Jahres 1953 über die Verewigung des Andenkens an Generalissimus Josef Wissarionowitsch Stalin] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 33, 26. Mai 1989, S. 588–589).



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Demokratie.232 Die für Juli/ August 1989 geplante Verabschiedung des Parteiengesetzes, der Gesetze zur Wahl des Parlaments, der Räte und des Staatsoberhaupts sowie der Gesetze über das Verfassungsgericht und den Staatspräsidenten musste allerdings – gemäß einer Vereinbarung zwischen der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei und den Oppositionsbewegungen – zurückgestellt werden. Dies betraf auch die Arbeiten an der zukünftigen Verfassung. Der Inhalt dieser Gesetze bzw. der Verfassung sollte nämlich Gegenstand der Verhandlungen am Nationalen Runden Tisch werden. Dies bedeutete auch, dass die Németh-Regierung ihr Vorhaben, den politischen Transformationsprozess „in Eigenregie“ durchzuführen, also eine „Wende von innen“ herbeizuführen, beenden bzw. unterbrechen musste. In der Wirtschaftspolitik konzentrierten sich Ministerpräsident Németh und seine jeweils zuständigen Ressortminister zum einen weiterhin darauf, Maßnahmen zu ergreifen, um das mittlerweile katastrophale Ausmaße annehmende Haushaltsdefizit einzudämmen, zum anderen ergriffen sie legislative Maßnahmen, mit denen der marktwirtschaftliche Umbau der Wirtschaft weitergeführt werden sollte.233 Mitte Mai 1989 beschloss die Regierung nach intensiven Diskussionen, den Weiterbau des kostspieligen Staudammprojekts bei Nagymaros mit sofortiger Wirkung zu suspendieren,234 und traf die Entscheidung, die Preise für Haushaltsenergie um 20 Prozent zu erhöhen. Anfang Juni 1989 stellten Németh und Finanzminister László Békesi dann einen umfassenden Sanierungsplan vor, der zur Abwehr der akuten Gefahr der Zahlungsunfähigkeit Ungarns drastische Einsparungen vorsah. Das Sparpaket enthielt vor allem weitere Streichungen von Subventionen für Unternehmen und Kürzungen im Bereich von Verwaltung und Verteidigung. All diese Maßnahmen fanden schließlich Eingang in die im Sommer 1989 verabschiedete Haushaltsreform. Parallel hierzu begann die Németh-Regierung – im Zuge einer radikalen Reform der Sozialversicherung – auch, die Ausgaben für die sozialen Versorgungssysteme zu kürzen.235 Einen spürbaren Erfolg bei der Stabilisierung der Wirtschaft konnte die

232  1989. évi XVII. törvény a népszavazásról és a népi kezdeményezésről [Gesetz Nr. XVII des Jahres 1989 über die Volksabstimmung und Volksinitiative] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 39, 15. Juni 1989, S. 706–710). 233  Siehe hierzu Ripp, Rendszerváltás Magyarországon, S. 340–343; Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 150–153. 234  Die das Staudammprojekt betreffenden Entscheidungen der ungarischen Regierung wurde auch von der bundesdeutschen Diplomatie beobachtet und in einer Aktennotiz auf mögliche Konsequenzen (Schadensersatzforderungen Österreichs und der Tschechoslowakei) hingewiesen (Aktennotiz des Auswärtigen Amts vom 5. Juni 1989 über den Sachstand bezüglich des ungarischen Vorhabens der Errichtung eines Donaukraftwerks bei Nagymaros; PA AA, Zwischenarchiv, 139.939 E, ohne Paginierung) (= Dokument 35). 235  Vgl. Tibor Valuch, Magyarország társadalomtörténete a XX. század második felében [Gesellschaftsgeschichte Ungarns in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts]. Budapest 2001, S. 349. Zur Sozialpolitik unter Ministerin Judit Csehák, die bereits dem ersten Németh-Kabinett angehört hatte, siehe Schmidt-Schweizer, Vom Reformsozialismus zur Systemtransformation, S. 303–304.

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Regierung während ihrer Amtszeit (bis Frühjahr 1990) allerdings nicht verzeichnen, vielmehr führte ihre – für die Bevölkerung, die bislang wenig Informationen über die tatsächliche Wirtschaftslage erhalten hatte, sehr schmerzliche – restriktive Wirtschafts- und Sozialpolitik, hinter der sich auch der Druck des Internationalen Währungsfonds verbarg,236 zu einem rapiden Ansehensverlust der Regierung. Hinsichtlich des wirtschaftlichen Systemwechsels rückte die Regierung – nachdem bereits Anfang 1989 der Import und die Devisenwirtschaft liberalisiert und mit der Schließung unproduktiver Betriebe begonnen worden war – die Frage der Privatisierung in den Mittelpunkt.237 Am 30. Mai 1989 verabschiedete das Parlament nach intensiven Diskussionen in Politik und Fachwelt das sogenannte Umwandlungsgesetz,238 das die Art und Weise der Umwandlung der Organisations- bzw. Rechtsform von Wirtschaftsgesellschaften und Wirtschaftsorganisationen regelte. Hierbei kam der Umwandlung der sozialistischen Staatsunternehmen in kapitalistische Wirtschaftsgesellschaften eine besondere Rolle zu. Auf der Grundlage dieses Gesetzes wurden die Betriebsleitungen staatlicher Unternehmen in die Lage versetzt, ihre Betriebe in Unternehmen mit kapitalistischer Rechtsform umzuwandeln bzw. in kleine, leichter zu privatisierende Einheiten aufzuspalten. Bis Frühjahr 1990 sollten auf diese Weise rund 150 Unternehmen privatisiert werden.239 Dem ökonomischen Transformationsprozess dienten darüber hinaus auch die Änderung des Gesetzes über die Staatsbetriebe240 sowie des Boden- und des Genossenschaftsgesetzes.241 Im Mittelpunkt dieser Normenrevision stand das Ziel, die von der Staatsverwaltung ausgeübte Aufsicht über die Staatsunternehmen und Genossenschaften zu beenden und die Rechtsaufsicht

236  Aufgrund der schlechten, deutlich unter den geplanten Werten liegenden makroökonomischen Indikatoren, und insbesondere wegen des gewaltigen Haushalts- und Zahlungsbilanzdefizits, suspendierte der Internationale Währungsfonds am 15. Mai 1989 die Auszahlung eines Bereitstellungskredits für Ungarn (vgl. Ripp, Rendszerváltás Magyarországon, S. 341). 237  Umfassend zur Privatisierung in Ungarn siehe Sárközy, Das Privatisierungsrecht, S. 181–317. 238  1989. évi XIII. törvény a gazdálkodó szervezetek és a gazdasági társaságok átalakulásáról [Gesetz Nr. XIII des Jahres 1989 über die Umwandlung von Wirtschaftsorganisationen und Wirtschaftsgesellschaften] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 38, 13. Juni 1989, S. 665–668) (= Dokument 34) 239  Die durch das Gesetz geregelten Methoden der Privatisierung waren allerdings äußerst umstritten, weil sie den Unternehmensleitern die Möglichkeit eröffneten, sich besonders lukrative Teile ihrer Betriebe anzueignen. Zur zeitgenössischen Kritik am Umwandlungsgesetz siehe Lajos Bokros, Rendszerváltás vakvágányon. 1989: kísérlet a társadalmi tulajdon elherdálására [Systemwechsel in der Sackgasse. 1989: Versuch des Verprassens von gesellschaftlichem Eigentum]. In: Magyarország Politikai Évkönyve [Politisches Jahrbuch Ungarns] [1989]. Budapest 1990, S. 72–78. Zur Verteidigung des Gesetzes siehe Sárközy, Das Privatisierungsrecht, S. 197–219. 240  1989. évi XIV. törvény az állami vállalatokról szóló 1977. évi VI. törvény módosításáról [Gesetz Nr. XIV des Jahres 1989 über die Änderung von Gesetz Nr. VI des Jahres 1977 über die Staatsunternehmen] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 38, 13. Juni 1989, S. 692–693). 241  1989. évi XV. törvény a szövetkezetekről szóló 1971. évi III. törvény módosításáról [Gesetz Nr. XV des Jahres 1989 über die Änderung von Gesetz Nr. II des Jahres 1971 über die Genossenschaften] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 38, 13. Juni 1989, S. 696–699).



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den neugeschaffenen Firmengerichten zu übertragen. Das modifizierte Genossenschaftsgesetz bezweckte zudem, die materielle Interessiertheit der Genossenschaftsführung und der Mitglieder zu erhöhen. Das Bodengesetz hob die Unteilbarkeit des genossenschaftlichen Eigentums auf, das heißt, die Genossenschaften konnten nun frei über ihren Boden verfügen. Damit wurde nach vierzig Jahren erstmals wieder ein Markt für landwirtschaftliche Nutzflächen in Ungarn geschaffen. Neben ihrer legislativen Tätigkeit legte die Regierung von Miklós Németh – nachdem die Forderung nach einer klaren und detaillierten wirtschaftspolitischen Konzeption auch im Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik, laut geworden waren242 – im Sommer überdies einen wirtschaftspolitischen Fahrplan für die folgenden Jahre vor. Das „Dreijahresprogramm für den gesellschaftlich-wirtschaftlichen Umbau“ sah die konsequente Fortführung der Eigentumsreform und den institutionellen Ausbau der Marktwirtschaft vor und bezweckte, zudem den bisherigen „Dschungel von Rechtsnormen“ zu beseitigen.243 Auch im Bereich der Kultur- und Bildungspolitik kam es unter dem neuen Minister Ferenc Glatz zu einer Reihe von tiefgreifenden Maßnahmen.244 Bereits im Mai 1989 verfügte Glatz die Ersetzung des Russischunterrichts durch westliche Fremdsprachen, insbesondere durch Deutsch und Englisch, und bereitete in den folgenden Monaten entsprechende Veränderungen beim Lehramtsstudium vor. Außerdem bemühte er sich darum, Unterstützung in der Bundesrepublik, Österreich und in den Vereinigten Staaten für die neuartige Sprachausbildung zu gewinnen und traf Maßnahmen zur Entpolitisierung und Entideologisierung des Schulunterrichts, insbesondere in den Fächern Geschichte und Literatur. Zum 1. Juli 1989 ließ er darüber hinaus das Staatliche Kirchenamt auflösen und beseitigte damit den Behördenapparat zur Kontrolle der Kirchen, er ordnete die schrittweise Rückgabe von enteigneten Kirchenimmobilien an und verfügte die Wiederzulassung der Tätigkeit religiöser Orden. Diese Maßnahmen in Richtung kulturellen Pluralismus und einer kulturellen Re-Europäisierung Ungarns trafen auch in der Öffentlichkeit auf breite Zustimmung.

242  Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident Miklós Németh vom 20. April 1989 über die Haltung westdeutscher Politiker und Experten zu den wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in Ungarn. In: Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 242–251, hier S. 242 (= Dokument 29). 243  Vgl. Magyar Hírlap, 13. September 1989, S. 1, S. 3. 244  Näheres hierzu siehe Schmidt-Schweizer, Vom Reformsozialismus zur Systemtransformation, S. 319–320.

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4.3.3 D  ie Konzeption der „doppelten Orientierung“ und die ungarische Außenpolitik im Frühjahr/ Sommer 1989 Bereits Mitte März 1989 hatten zwei Mitarbeiter der Außenpolitischen Abteilung des Zentralkomitees, Imre Szokai und Csaba Tabajdi, in einem Zeitungsartikel der Öffentlichkeit ein umfassendes Konzept für die Außenpolitik Ungarns vorgestellt.245 Die beiden Verfasser griffen darin nicht nur die Grundgedanken der bisherigen Außenpolitik auf, sondern entwickelten diese zu einer umfassenden außenpolitischen Konzeption weiter und lieferten ausführliche Begründungen für die zu verfolgende Außenpolitik. So bekräftigten sie vor dem Hintergrund des erheblich erweiterten außenpolitischen Spielraums Ungarns einen außenpolitischen Kurs, der der Verfolgung nationaler Interessen eine zentrale Rolle zuschrieb. Gleichzeitig unterstrichen sie aber auch die geostrategischen, außenwirtschaftlichen und weltpolitischen Determinanten und warnten davor, irrationale ideologisch-emotionale Aspekte in den Vordergrund zu rücken. In ihren Ausführungen legten Szokai und Tabajdi dar, dass nicht nur der Austritt aus dem Warschauer Pakt, sondern auch ein Verlassen des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe keine realistische Option darstelle. Zwar funktioniere der RGW nicht – wie eigentlich vorgesehen – als multilaterale Integrationsorganisation, der Rat bilde aber eine „Schirm- und Rahmenorganisation bilateraler Beziehungssysteme“, und Ungarn müsse danach streben, innerhalb dieser einen wirtschaftlich vorteilhaften bilateralen Handel zu betreiben. In diesem Zusammenhang verwiesen die Verfasser auch auf die Bedeutung des Imports von Energie und Rohstoffen aus der Sowjetunion, der kurzfristig nicht auf „konvertible Märkte“ umgeleitet werden könne, sowie auf das Faktum, dass der Handel mit den RGW-Ländern gegenwärtig etwa einer Million Ungarn einen Arbeitsplatz sicherstelle. Eine grundlegende, marktwirtschaftliche Prinzipien verwirklichende Reform des östlichen Wirtschaftsbündnisses war ihrer Meinung nach allerdings innerhalb der nächsten 10 bis 15 Jahre nicht vorstellbar. Hinsichtlich des Austritts Ungarns aus dem Warschauer Vertrag kamen sie zu dem Schluss, dass ein solcher Schritt „kurzfristig kein realistisches Ziel“ darstelle. Hierzu sei ein grundlegender Wandel der internationalen Kräfteverhältnisse die unabdingbare Voraussetzung. Gegenwärtig müsse es das Ziel Ungarns sein, eine Reform des Warschauer Vertrags anzustreben, wobei eine Stärkung des politischen Charakters

245  Imre Szokai/ Csaba Tabajdi, A magyar társadalmi modellváltás – a magyar külpolitika orientációváltása? [Ungarischer gesellschaftlicher Modellwechsel – Orientierungswandel der ungarischen Außenpolitik?]. In: Magyar Nemzet, 18. März 1989, S. 4–5. Zum (deutsch- und ungarischsprachigen) Wortlaut siehe Imre Szokai/ Csaba Tabajdi, Ungarischer gesellschaftlicher Modellwechsel – Orientierungswandel der ungarischen Außenpolitik? In: Herder-Institut (Hrsg.), Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/RE-62abd0 (Zugriff: 12.12.2015).



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der Organisation und eine „Destalinisierung der Beziehung zwischen den sozialistischen Staaten“, also eine innere Demokratisierung des Pakts, anzustreben sei. Längerfristig sei auch vorstellbar, dass Ungarn seine Mitgliedschaft – ähnlich wie Frankreich und Griechenland in der NATO – auf die politische Organisation beschränke. Im Zusammenhang mit dem Plädoyer für ein Verbleiben Ungarns in den beiden östlichen Organisationen signalisierten Szokai und Tabajdi auch, dass der Westen – trotz der Befürwortung des Transformationsprozesses – an der politischen Stabilität im östlichen Lager interessiert sei: „Auf der einen Seite will Westeuropa, dass sich die gesellschaftliche Entwicklung Ungarns und anderer sozialistischer Staaten immer stärker in Richtung einer bürgerlichen Demokratie bewegt. […] Auf der anderen Seite tritt seitens des Westens aber immer stärker auch die Befürchtung vor dem Verlust der politischen Stabilität in Erscheinung. Eine akute Krise in Ungarn kann nämlich – mittels ihrer negativen Wirkungen auf die Perestroika in der Sowjetunion – mit sehr ernsten Gefahren für die Lage in ganz Europa einhergehen.“246

Hinsichtlich der ungarischen Beziehungen zur westlichen Welt, insbesondere zu Westeuropa, sprachen sich beide Verfasser zugunsten der Entwicklung von „kräftigeren Beziehungen zu den westlichen Staaten“ aus, warnten aber auch vor übertriebenen Erwartungen. Einen EG-Beitritt Ungarns bezeichneten sie – ganz abgesehen von der Gefahr der Stabilitätsgefährdung – als nicht realistisch. Hierdurch würde zum einen der von der Europäischen Gemeinschaft angestrebte Integrationsprozess abgebremst werden, zum anderen stelle – selbst bei EG-Assoziationsverträgen – das Vorhandensein einer entwickelten Marktwirtschaft eine grundlegende Voraussetzung dar. Primäres ungarisches Ziel gegenüber der Gemeinschaft sollte es dementsprechend bis Mitte der 1990er Jahre sein, eine beschleunigte Umsetzung des im Sommer 1988 geschlossenen bilateralen Vertrags mit der Europäischen Gemeinschaft, das heißt, einen vorgezogenen Abbau der Handelsbarrieren zu erreichen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Beziehungen zum Westen wiesen Szokai und Tabajdi überdies auf einen entscheidenden Gesichtspunkt hin: „Es existiert nicht nur die Frage, in welche Richtung wir uns orientieren sollen, sondern auch die, ob es seitens der Partner hierzu eine ‚Aufnahmebereitschaft‘ gibt. Unsere Möglichkeiten werden nämlich auch durch ihre Kooperationsbereitschaft bestimmt.“247

Diese Ausführungen legten – wenn auch nicht unmittelbar angesprochen – eine noch stärkere Ausrichtung der ungarischen Außenpolitik auf die Bundesrepublik nahe, die ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren in besonderem

246  Ebenda, S. 4. 247  Ebenda, S. 4.

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Maße demonstriert hatte. Szokai und Tabajdi wiesen aber auch auf die Grenzen der Westöffnung hin: „Die weitere Öffnung gegenüber dem Westen muss so verwirklicht werden, dass dies keine Beschädigung unserer östlichen Bindungen und vor allem keine Beschädigung des Verhältnisses zur Sowjetunion zur Folge hat.“ 248

Insgesamt betrachtet sah die Konzeption von Szokai und Tabajdi also den „Aufbau ausgeglichener Beziehungen zur östlichen und westlichen Hälfte Europas“ vor und wies darauf hin, dass „die konsequente Verwirklichung der doppelten Orientierung für unser Land eine Lebensnotwendigkeit und ein Gebot der Zeit“ darstelle.249 Eine Neutralität Ungarns wurde von den Verfassern zum damaligen Zeitpunkt als „über die unmittelbaren Realitäten“ hinausgehend bezeichnet, aber langfristig, im Zuge der Konvergenz der Systeme bzw. der Auflösung der Blöcke, nicht ausgeschlossen: „Die ungarische Neutralität kann also nur ein langfristiges Ziel sein, in dieser Qualität ist sie aber ein grundlegendes Interesse unserer Nation.“250

Mittelfristig, also als Zwischenziel, und unter „Berücksichtigung der heutigen Realitäten“ hoben die Verfasser das finnische Modell hervor, das aufgrund der „dortigen vernünftigen Verbindung der Vorteile des östlichen und des westlichen Markts“ besonders interessant sei. Dieses Ziel könne „auch ohne einen Austritt aus dem Warschauer Pakt und ungarische Neutralität verwirklicht werden“.251 Die Außenpolitik Ungarns unter dem neuen Außenminister Gyula Horn orientierte sich in den ersten Monaten seiner Amtszeit eindeutig an der Konzeption der doppelten Orientierung. So stellten die ungarischen Diplomaten und Politiker zum einen die Integration Ungarns ins östliche Militärbündnis – zumindest kurz- und mittelfristig – bei ihren Treffen mit ihren ausländischen Partnern im Frühjahr/ Sommer 1989 nicht in Frage252 und bemühten sich zum anderen um eine ausgewogene Entwicklung der Beziehungen zu Ost und West sowie zu den neutralen Staaten.253 Neben

248  Ebenda, S. 5. 249  Ebenda. 250  Ebenda. 251  Ebenda. 252  Beim Treffen der Warschauer-Pakt-Staaten in Bukarest am 7./8. Juni 1989 traten allerdings die grundlegenden Differenzen im östlichen Militärbündnis zwischen den „Reformstaaten“ (Sowjetunion, Polen und Ungarn) und den „orthodoxen Ländern“ (insbesondere Rumänien, Ostdeutschland und die Tschechoslowakei) in aller Deutlichkeit hervor (siehe hierzu Helmut Altrichter, Russland 1989: Der Untergang des sowjetischen Imperiums. München 2009, S. 307–310; siehe auch Horn, Freiheit, S. 298–304). 253  Überblicksweise zu den außenpolitischen Aktivitäten Ungarns von Mai bis Juli 1989 siehe Nagy (Hrsg.), Magyar Külpolitika, S. 291–296.



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dem weiterhin engen Schulterschluss zur Sowjetunion254 bemühte sich Ungarn nun auch um besonders enge Beziehungen zum „Reformpartner“ Polen, was auch durch den Besuch von Ministerpräsident Miklós Németh bei seinem polnischen Amtskollegen Mieczysław Rakowski Mitte Mai 1989, wenige Tage nach der Kabinettsumbildung, zum Ausdruck kam. Die Tatsache, dass Ungarn aber auch weiterhin an guten Beziehungen zu den übrigen RGW-Staaten und an einem Ausbau der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen interessiert war, zeigte sich bei den offiziellen Besuchen des ungarischen Regierungschefs in der Tschechoslowakei (Ende Mai 1989) sowie von Außenminister Gyula Horn in Bulgarien (Mitte Juli 1989). Und hinsichtlich der Weiterentwicklung der politischen und wirtschaftlichen Kontakte zu den westlichen Staaten konnte Ungarn Mitte Juli 1989 – vor dem Hintergrund der Beschleunigung des Transformations- und Öffnungsprozesses – einen politisch symbolträchtigen Erfolg verzeichnen: Vom 11. bis 13. Juli 1989 besuchte George Bush als erster Präsident der Vereinigten Staaten Ungarn.255 Die entscheidende politische und wirtschaftliche Rolle in den ungarischen Westbeziehungen spielten aber auch weiterhin die Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland.

4.3.4 W  estdeutsche Reaktionen auf die Transformationsprozesse in Ungarn und die bilateralen Beziehungen vor der Flüchtlingskrise Mit den – dargelegten – Entscheidungen in Richtung Mehrparteiensystem und parlamentarische Demokratie auf der Partei- und Regierungsebene hatte der Prozess des politischen Systemwechsels in Ungarn im Frühjahr 1989 eine deutliche Beschleunigung erfahren. Diese Fortschritte im Demokratisierungsprozess wurden auch in einer Analyse der bundesdeutschen Botschaft in Budapest von Ende Mai 1989 festgehalten. In diesem Dokument wurde zur ungarischen Innenpolitik – insbesondere mit Blick auf die ZK-Sitzung vom 8. Mai 1989 – Folgendes konstatiert: „Ungarn befindet sich im Umbruch vom Einparteienstaat zu einem Verfassungssystem mit Orientierung an den demokratischen westlichen Staaten. Der Reformkurs der USAP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] zielt auf ein freiheitliches, demokratisches, aber weiterhin sozialistisches Staatswesen, in dem die Partei ihren verfassungsrechtlich garantierten Führungsanspruch aufgibt und künftig in einem Mehrparteiensystem ihren Platz allein mit politischen Mitteln zu behaupten suchen wird. Auf die Verflechtung zwischen Partei und Staat (Nomenklatura) und die administrative Durchsetzung ihrer politischen Absichten will sie künftig verzichten. […] Schon heute […] hat sich in Ungarn durch eine Vielzahl kleiner Fortschritte eine politische und Verfassungswirklichkeit herausgebildet, die noch zu Beginn 1988 undenkbar schien.“256

254  Nach den Besuchen von Miklós Németh und Károly Grósz in Moskau im März 1989 kam es im Juli 1989 zu einem weiteren Treffen von Grósz und Rezső Nyers mit Michail Gorbatschow. 255  Ausführlich hierzu siehe Borhi (Hrsg.), Magyar–amerikai kapcsolatok, S. 205–206. 256  Länderaufzeichnung Ungarn (Stand 15. Mai 1989) der Botschaft der Bundesrepublik Deutsch-

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Zwar problematisierte die Analyse den Begriff des „sozialistischen Staatswesens“ nicht, wies darauf hin, dass sich die „Absichten der Reformer“ noch nicht vollständig durchgesetzt hätten und ging nicht auf die grundlegend gewandelte, mittlerweile zentrale politische Rolle der Regierung ein, die bundesdeutsche Diplomatie formulierte zu diesem Zeitpunkt aber – im Gegensatz zu früheren Dokumenten – keine Zweifel mehr an der grundsätzlichen Richtung des politischen Veränderungsprozesses in Ungarn. Besonders positiv äußerte sich die Aufzeichnung bezüglich der Pressefreiheit und konstatierte diesbezüglich, dass es in diesem Bereich „praktisch keine Tabuthemen“ mehr gebe. Nach dem Beginn der Ausgleichsverhandlungen am Nationalen Runden Tisch am 13. Juni 1989 und dem friedlichen und symbolträchtigen Trauerakt für den einstigen ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy am 16. Juni 1989257 kam es in Bonn zu einem Ereignis, das offenbarte, dass in der bundesdeutschen Politik nun auch letzte Zweifel an der Absicht der ungarischen Führung, eine demokratisch-pluralistische und marktwirtschaftliche Ordnung zu etablieren, gefallen waren. Am 22. Juni 1989 verabschiedeten die im Bundestag vertretenen Parteien einstimmig einen Antrag, dem eine demonstrative Würdigung der „grundlegenden Reform des politischen Systems“, der Umgestaltung der Wirtschaft „in Richtung auf mehr Marktwirtschaft“ und der außenpolitischen Öffnung und Kooperationsbereitschaft des Landes vorangestellt war.258 Die allgemeine Anerkennung der Veränderungen in der ungarischen Politik und Wirtschaft endete mit dem Satz: „Diese Politik ist richtungsweisend auch für andere Länder in Osteuropa.“259 Anschließend hob der Bundestag – erneut auf die internationale Dimension der ungarischen Politik verweisend – den Demokratisierungsprozess „als wichtigen Beitrag zur Vertrauensbildung zwischen Ost und West und zur Förderung der systemöffnenden Zusammenarbeit im Sinne der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“260

land in Budapest an das Auswärtige Amt in Bonn vom 29. Mai 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung). 257  Imre Nagy war am 16. Juni 1958, zusammen mit mehreren Mitstreitern, hingerichtet und in einem anonymen Massengrab beigesetzt worden. Nachdem es vor dem Hintergrund der Neuinterpretation der Ereignisse vom Herbst 1956 zu einer Exhumierung der sterblichen Überreste gekommen war, fand genau 31 Jahre nach der Exekution ein von Zehntausenden Menschen besuchter Trauerakt auf dem Budapester Heldenplatz statt. Neben den Angehörigen nahmen daran auch Vertreter der oppositionellen Organisationen und der Regierung teil. 258  Siehe hierzu den – am 22. Juni 1989 angenommenen – Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion der Die Grünen „Zur politischen Entwicklung in Ungarn“ [vom 21. Juni 1989] (Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/4840, 21. Juni 1989, S. 1–3) (= Dokument 37). 259  Ebenda, S. 1. 260  Ebenda, S. 2.



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hervor, lobte die „nachdrückliche Unterstützung“ der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungsprozesse in Ungarn durch die Bundesregierung und forderte sie auf, die „notwendige Umstrukturierung der ungarischen Wirtschaft im Rahmen ihrer Möglichkeiten weiter zu fördern“. Ganz in diesem Sinne riefen die Parteien schließlich auch die bundesdeutsche Wirtschaft zu einer Intensivierung der Wirtschaftskooperation mit Ungarn auf. Uneingeschränkte Anerkennung und durch augenfällige Emotionen geprägte Sympathie für Ungarn bzw. für die jüngsten Entwicklungen in Ungarn bekundeten auch die Redner der politischen Parteien während der Bundestagsdebatte über die Vorlage am 22. Juni 1989.261 So erklärte der CDU-Politiker Otto Wulff: „Meine Damen und Herren, wenn ich hier als deutscher Abgeordneter spreche, so tue ich das nicht nur als Sprecher der CDU/CSU-Fraktion in dieser Ungarn-Debatte, nein, hier steht ein Abgeordneter, der über das normale Maß an Zuneigung und Wertschätzung für Ungarn hinaus das Wort ergriffen hat. […] Gerade deshalb möchte ich hier im Deutschen Bundestag bekennen: Das große Kulturvolk der Ungarn, jene Nation, die Europa so viel gegeben hat, findet zu Europa zurück.“262

Der Redner der Sozialdemokraten Günter Verheugen berichtete über seine persönlichen Erfahrungen bei der ihn tief beeindruckenden friedlich-versöhnlichen Trauerfeier für Imre Nagy und hob die „ungeheure symbolische und faktische Bedeutung“ der Rehabilitierung der Opfer des Volksaufstandes hervor: „Dass Ungarn heute in der Lage ist, seine Nachkriegsgeschichte aufzuarbeiten, kennzeichnet einen Prozess innerer Reformen, der weiter fortgeschritten ist als in irgendeinem anderen Land des östlichen Europas.“263

Darüber hinaus plädierte Verheugen für eine umfassende westdeutsche Unterstützung Ungarns, insbesondere auch auf internationaler Ebene, also im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft, und konstatierte auch ein klares Interesse der Bundesrepublik am Erfolg der Wende in Ungarn und der Sowjetunion: „Wir reden über Ungarn, aber wir denken auch an andere, und wir denken ganz besonders an Deutschland. Wir haben also ein sehr breites Interesse daran, das neue Denken zu fördern und die Veränderungen in der Sowjetunion […] als gemeinsame Chance zu begreifen.“264

261  Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 11. Wahlperiode, 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989, S. 11453–11459. 262  Ebenda, S. 11454. 263  Ebenda. 264  Ebenda, S. 11456.

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Hans-Günter Hoppe von den Liberalen lobte die Erkenntnis in der Regierung Ungarns, dass „sein politisches und wirtschaftliches System reformiert werden muss, wenn die Herausforderungen der nächsten Jahre gemeistert werden sollen, und dass die Reformen in der Wirtschaft Hand in Hand mit den politischen Reformen gehen müssen“.265

Anschließend plädierte auch er dafür, „Ungarn bei seinen Bemühungen, das wirtschaftliche und politische System zu reformieren, zu unterstützen“, und betonte diesbezüglich, dass sich die Bundesrepublik dafür einsetzen solle, „die Kooperation Ungarns mit der Europäischen Gemeinschaft so rasch und so intensiv wie möglich auszubauen“.266 Otto Schily von den Grünen begrüßte die Verabschiedung der gemeinsamen Entschließung mit dem Hinweis, dass „das ungarische Volk […] für den Weg, den es jetzt geht, unser aller Hochachtung und Bewunderung verdient“.267 „Ich denke, was den Vorgang in Ungarn so beachtlich macht, ist die Tatsache […], dass ein Volk die von ihm längst erkannte historische Wahrheit durchsetzt. […] Das kluge, tapfere, gedankenund gefühlsreiche ungarische Volk gehört in das europäische Konzert.“268

Und die Staatsministerin im Auswärtigen Amt Irmgard Adam-Schwaetzer konstatierte: „Mit großer Entschlossenheit und weitgesteckter Perspektive hat die ungarische Führung begonnen, neue Denkansätze, Methoden und Strukturen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an die Stelle der alten, für untauglich befundenen zu setzen. […] Nur wer das alles aus der Nähe miterlebt hat, nur wer den Vergleich mit Zeiten vor zehn oder zwanzig Jahren direkt ziehen kann, der kann ermessen, was an Mut, Weitsicht und Führungskraft erforderlich ist, wenn die Führung eines Staates entschlossen ist, diese Entwicklungen voranzutreiben.“269

Die Staatssekretärin machte deutlich, dass die bundesdeutsche Politik, wohl auch unter dem Eindruck des spektakulären, das „Ende der Nachkriegszeit“ beschwörenden Besuchs von Generalsekretär Michail Gorbatschow in Bonn eine Woche zuvor, die Entwicklungen in Ungarn, Polen und der Sowjetunion als große Chance in der internationalen Politik sah: „Die Reformen eröffnen neue Perspektiven und Chancen des Dialogs und der Zusammenarbeit über die Grenzen von Bündnissystemen und Gesellschaftsordnungen hinweg. Sie tragen damit

265  Ebenda, S. 11457. 266  Ebenda. 267  Ebenda. 268  Ebenda, S. 11458. 269  Ebenda.



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dazu bei, den Frieden auf unserem Kontinent sicherer zu machen. Der Erfolg liegt in unser aller Interesse.“270

Vor dem Hintergrund dieser eindeutigen Sympathiebekundung und unbedingten Unterstützungsbereitschaft der maßgeblichen bundesdeutschen politischen Kräfte für das Transformationsland Ungarn konnte der ungarische Botschafter in Bonn István Horváth so fünf Tage nach der Bundestagssitzung feststellen: „In allen Bereichen der bilateralen Beziehungen kommt die Wirkung der Ereignisse in Ungarn zur Geltung. Wegen der Beschleunigung der politisch-wirtschaftlichen Prozesse hat das sich mit Sympathie und Unterstützungsbereitschaft paarende Interesse sowohl in den Regierungs- als auch in den Oppositionskreisen beträchtlich zugenommen. […] Unabhängig von der Staatsgröße nimmt unser Land eine besondere Rolle im System der Außenbeziehungen der BRD ein. Das Verhältnis zu unserem Land wird als modellhaft betrachtet […].“271

Stimmen von Politikern, die sich zuvor noch skeptisch über die Erfolgsaussichten des politischen Umbruchs in Ungarn geäußert hatten, darunter – wie gezeigt – auch Bundeskanzler Kohl, waren vor diesem Hintergrund nicht mehr zu vernehmen, und Befürchtungen, der rasante, mittlerweile weit fortgeschrittene Transformationsprozess in Ungarn (und Polen) könnte sich negativ auf die Position Gorbatschows und damit auf die Veränderungsprozesse in der Sowjetunion auswirken, traten ganz offenbar in den Hintergrund. Die am 22. Juni 1989 einstimmig verabschiedete Bundestagsresolution verdeutlichte aber nicht nur, dass sich in Bonn eine eindeutig positive, gleichsam euphorische Haltung hinsichtlich der ungarischen Transformationspolitik herausgebildet hatte, sondern sie spiegelte auch die Tatsache wider, dass sich im Zuge der internationalen Entwicklungen in der ersten Hälfte des Jahres 1989 eine grundsätzliche Neuorientierung der westdeutschen Außenpolitik abzuzeichnen begann. Nach langen Jahren einer Politik der „Sicherung des Status quo“272 und des Denkens in den Kategorien der bipolaren Weltordnung setzte die bundesdeutsche Diplomatie nun – vor dem Hintergrund der Wandlungsprozesse in der Sowjetunion, die den internationalen Entspannungs- und Abrüstungsprozess sowie die radikalen politischen Veränderungen in Polen und Ungarn erst möglich gemacht hatten273 – auf eine Außenpolitik

270  Ebenda, S. 11459. 271  Horváth István. Nagyköveti beszámoló jelentés 1988/1989. Bonn, 1989. június 26. [István Horváth. Botschafterbericht 1988/1989. Bonn, 26. Juni 1989] (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/C), fol. 90–128, hier 98–99) (= Dokument 38). 272  Schöllgen, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, S. 138; ausführlich hierzu siehe ebenda, S. 138–181. 273  Auf dem Bukarester Gipfeltreffen der Warschauer-Pakt-Staaten am 7./8. Juli 1989 sollte das Recht jedes Volkes, „selbst das gesellschaftspolitische und ökonomische System, die staatliche Ordnung, die es für sich als geeignet betrachtet, zu wählen“, in einer gemeinsamen Erklärung nochmals bekräftigt werden (Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages. Berlin (Ost) 1989, S. 14–26).

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mit gesamteuropäischer Perspektive, die zu einer neuen europäischen Friedensordnung und zu einem Zusammenwachsen Europas und letztlich auch zu einer Überwindung der Teilung Deutschlands führen sollte. Ganz in diesem Sinne hatte sich Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher bereits in seiner Budapester Rede am 9. Juni 1989 geäußert.274 Bei dieser Gelegenheit hatte Genscher darauf verwiesen, dass Europa an der Schwelle zu einer neuen Epoche stehe und der Kontinent nun die Chance habe, das Zeitalter der Konfrontation zu überwinden, eine dauerhafte europäische Friedensordnung zu schaffen und ein Europa ohne trennende Grenzen zu errichten. In diesem Zusammenhang brachte Genscher auch große Sympathie für die Politik der ungarischen Führung zum Ausdruck und verwies auf ihre positiven Auswirkungen auf die zukünftigen Entwicklungen in Europa. Vor diesem Hintergrund fasste die politische Führung in der Bundesrepublik einen Beschluss, der nicht nur große politische Symbolkraft hatte, sondern auch für die Bewahrung der Zahlungsfähigkeit Ungarns und für den ökonomischen Transformationsprozess von besonderer Bedeutung war. Nachdem es Ungarn nach dem Milliardenkredit vom Oktober 1987 aufgrund der Zurückhaltung (auch) der bundesdeutschen Banken, die die finanziellen Entwicklungen in Osteuropa skeptisch betrachteten, nicht gelungen war, für seinen gewaltigen Kapitalbedarf einen neuerlichen Kredit zu erhalten, erklärte Bundeskanzler Helmut Kohl Ende Juni 1989 seine Bereitschaft, für eine neue „Finanzspritze“ zu sorgen. Am 28. Juni 1989 teilte er USPräsident George Bush mit, dass die Bundesrepublik bereit sei, einen erneuten Kredit über 250 Millionen DM zu verbürgen, und deutete auch die Bereitschaft von zwei Bundesländern (Bayern und Baden-Württemberg) an, für Kredite in Höhe von insgesamt 750 Millionen DM einzustehen.275 Diese Haltung begründete er gegenüber Bush folgendermaßen: „Wir hoffen, dass die neuerliche finanzielle Hilfe Ungarn gerade in der jetzigen kritischen Phase in die Lage versetzen wird, seine politischen Reformen sowie die wirtschaftliche Öffnung zum Westen konsequent fortzusetzen.“276

Auf maßgebliches Betreiben der Bundesrepublik wurde darüber hinaus auf dem Pariser Gipfeltreffen der sieben führenden Industrienationen vom 14. bis 16. Juli 1989 grundsätzlich beschlossen, Ungarn und Polen umfangreiche Wirtschaftshilfe zu

274  Grundsatzrede von Hans-Dietrich Genscher zum Thema „Europa auf dem Weg zu einer dauerhaften Friedensordnung“, Budapest, 9. Juni 1989 (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/C), fol. 441–449). 275  Schreiben des Bundeskanzlers Kohl an Präsident Bush. Bonn, 28. Juni 1989. In: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramts 1989/90. München 1998, S. 320–323, hier S. 322. 276  Ebenda.



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gewähren.277 Diese Entscheidung sollte die Basis für den Beschluss des Ministerrats der Europäischen Gemeinschaft Mitte Dezember 1989 bilden, die Transformationsstaaten Polen und Ungarn mit erheblichen Finanzmitteln (600 Mio. ECU bzw. 1,44, Mrd. DM) zu unterstützen. Bereits zuvor, am 9. Oktober 1989, hatten sich die EGFinanzminister zudem darüber geeinigt, konkrete Investitionsvorhaben in Ungarn (und Polen) mit Mitteln der Europäischen Investitionsbank zu fördert.278 Währenddessen war es im Juni/ Juli 1989 zu einer Reihe weiterer wichtiger Ereignisse in den bilateralen Beziehungen gekommen, die ganz im Zeichen der Weiterentwicklung des besonderen Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik und Ungarn standen. Am 9. Juni 1989 unterzeichneten Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und sein neuer Amtskollege Gyula Horn – als „Gegenstück“ zur Errichtung des bundesdeutschen Kulturzentrums in Budapest und gemäß dem Beschluss vom 7. Oktober 1987279 – die Vereinbarung über die Errichtung eines „Kultur- und Informationszentrums der Ungarischen Volksrepublik“.280 Als Sitz des Kulturzentrums wurde Stuttgart bestimmt, sein Tätigkeitsbereich sollte sich aber auf die gesamte Bundesrepublik erstrecken. Als seine Hauptaufgaben legte das Abkommen die Unterhaltung einer Bibliothek, die Abhaltung wissenschaftlicher und kultureller Veranstaltungen sowie die Durchführung von Sprachkursen fest. Nach der Klärung einiger offener Fragen wie der Gebäudefrage und der Frage des Status der Mitarbeiter sowie nach der Überwindung von Finanzierungsproblemen konnte die – bis in die Gegenwart aktive – Institution im Jahre 1990 ihre Tätigkeit aufnehmen.281 Am Tag der Unterzeichnung des Abkommens über das ungarische Kulturinstitut kam es zu einem weiteren Ereignis im westdeutsch-ungarischen Verhältnis, das auch für den Stand des politischen Veränderungsprozesses in Ungarn bezeichnend war, nämlich zur Eröffnung des ersten Ungarn-Büros einer politischen Stiftung aus der Bundesrepublik.282 Nachdem liberale Politiker – wie dargelegt – bereits in Vorjahr Kontakte zur ungarischen Führung aufgenommen hatten und der Vorstand der Stiftung Wolfgang Mischnick Gespräche über die Einrichtung eines Seminarbüros

277  Vgl. Arne Niemann, Explaining Decisions in the European Union. Cambridge 2006, S. 67. 278  Auswärtiges Amt, Referat 214. Zusammenstellung über die deutsch-ungarischen Beziehungen vom Dezember 1989 (Aktenzeichen 214 – 321.00 UNG) (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.937 E, ohne Paginierung). 279  Siehe Dokument 4. 280  Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ungarischen Volksrepublik über die Errichtung eines Kultur- und Informationszentrums der Ungarischen Volksrepublik in der Bundesrepublik Deutschland [9. Juni 1989]. In: United Nations Treaty Series, Vol. 1706, I-29500, New York 1993, S. 190–194 (= Dokument 36). 281  Die Einrichtung ist unter dem Namen Balassi Institut – Ungarisches Kulturinstitut, Stuttgart tätig (URL: http://www.stuttgart.balassiintezet.hu; Zugriff: 20.12.2016). 282  Laut den Erinnerungen des ehemaligen ungarischen Botschafters in Bonn war die Initiative hierzu von der ungarischen Seite ausgegangen (vgl. Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf, S. 275).

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geführt hatte, eröffnete nun die Friedrich-Naumann-Stiftung ein Büro in Budapest. Allgemeine Aufgabe der Einrichtung sollte es sein, die universellen Werte des liberalen Denkens zu vermitteln und die Entwicklung demokratischer Organisationsformen zu unterstützen.283 Wie Wolfgang Mischnick auf einer Pressekonferenz am 9. Juni 1989 in Budapest erklärte, sei es insbesondere ihr Ziel, zum Zustandekommen einer Partei, die alle liberalen Kräfte zusammenfasse, beizutragen284 – wobei die Stiftung ganz offensichtlich an eine Zusammenarbeit mit dem Bund Freier Demokraten (SZDSZ) dachte. Nach diesem „Startschuss“ der bundesdeutschen Liberalen signalisierten dann in der zweiten Jahreshälfte 1989 auch die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung, die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung sowie die bayerische Hanns-Seidel-Stiftung ihre Absicht, den Prozess der Pluralisierung und Demokratisierung in Ungarn zu unterstützen und in naher Zukunft in Budapest Büros zu eröffnen.285 Die intensiven Kontakte, die führende FDP-Politiker, darunter Hans-Dietrich Genscher und Wolfgang Mischnick, in dieser Phase – so auch bei der Eröffnung des Stiftungsbüros – zur Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei pflegten, offenbarten, dass die bundesdeutschen Liberalen trotz des – auch von ihnen geförderten – Erstarkens der oppositionellen Bewegungen die MSZMP auch Mitte 1989 weiterhin als entscheidende politische Kraft in Ungarn betrachteten. Dieser Tatsache war sich – wie aus einem Bericht der ZK-Abteilung für Internationale Parteibeziehungen vom Juni 1989 hervorgeht – auch die ungarische Seite bewusst: „Die FDP hält die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei für einen reellen Machtfaktor in der ungarischen Gesellschaft, der nicht zu umgehen ist, wenn sie [also die FDP] in den wichtigsten internationalen und bilateralen Beziehungen […] definitive Schritte unternehmen will.“286

283  Ausführlich zu den Zielen der Stiftung in Ungarn siehe Friedrich-Naumann-Stiftung. Eröffnungsrede des Parlamentsabgeordneten Wolfgang Mischnick, Vorsitzender der Friedrich-NaumannStiftung. Budapest, 9. Juni 1989 (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 431–435). 284  Vgl. Népszabadság, 10. Juni 1989, S. 1, S. 3. 285  Horváth István. Nagyköveti beszámoló jelentés 1988/1989. Bonn, 1989. június 26. [István Horváth. Botschafterbericht 1988/1989. Bonn, 26. Juni 1989] (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e., fol. 90–128, hier 103) (= Dokument 38). Zur geplanten Ausweitung der Aktivitäten der Konrad-Adenauer-Stiftung in den sozialistischen Staaten und insbesondere in Ungarn siehe Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik. Ministerium für Staatssicherheit. Informationen über Pläne der Konrad-AdenauersStiftung (KAS) gegenüber den sozialistischen Staaten [26. Juni 1989] (ÁBTL, 1. 11. 4. D – V/1989, fol. 4–5). Die Hanns-Seidel-Stiftung sollte als zweite politische Stiftung am 1. März 1990 ihr Büro in Budapest eröffnen. 286  Magyar Szocialista Munkáspárt Központi Bizottsága. Nemzetközi Pártkapcsolatok Osztálya. Tájékoztató az MSZMP és a Szabaddemokrata Párt (FDP) közötti kapcsolatok aktuális kérdéseiről [Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Abteilung für Internationale Parteibeziehungen. Informationsbericht über aktuelle Fragen der Beziehungen zwischen der MSZMP und der Freidemokratischen Partei (FDP)] [Juni 1989] (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 114–115, hier 114).



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Ganz offensichtlich wurde diese Auffassung auch von den anderen maßgeblichen politischen Parteien in der Bundesrepublik Mitte 1989 (noch) geteilt. Wie in der vorangegangenen Phase, so erfolgten auch im Frühjahr/ Sommer 1989 eine Reihe von Politikertreffen, wobei sich auch das weiter wachsende Gewicht der Bundesländer in den bilateralen Beziehungen offenbarte. Mitte Mai 1989 hielt sich der bayerische Minister für Wirtschaft und Verkehr August Lang (CSU) aus Anlass der Budapester Internationalen Ausstellung in Ungarn auf und führte Gespräche mit Handelsminister Tamás Beck, wobei die bayerische Seite Ungarn die Weiterbildung von ungarischen Managern zusicherte und konkrete Kooperationsprojekte thematisierte, darunter die Möglichkeit einer teilweisen Auslagerung der Produktion vom bayerischen Motorrädern nach Ungarn.287 Und Mitte Juni 1989 erfolgte ein (erneuter) Besuch des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth, der von baden-württembergischen Wirtschaftsminister und von Wirtschaftsvertretern begleitet wurde, in der ungarischen Hauptstadt. Bei den Gesprächen mit Ministerpräsident Miklós Németh, Außenminister Gyula Horn und Handelsminister Tamás Beck wurden insbesondere die Einrichtung einer Außenstelle eines bundesdeutschen Kreditinstituts in Ungarn sowie die Gründung eines „Hauses Baden-Württemberg“, in welchem Repräsentanzen von Unternahmen, eine Investitionsagentur und ein Kulturzentrum untergebracht werden sollten, erörtert.288 Bereits Ende Mai 1989 hatte Staatsminister und Politbüro-Mitglied Imre Pozsgay Westberlin einen Besuch abgestattet.289 Zwar handelte es sich hierbei um eine inoffizielle Visite, die auf Einladung der Europäischen Akademie Berlin zustande gekommen war. Die Tatsache aber, dass der hochrangige ungarische Politiker gerade in der geteilten Stadt Berlin einen Vortrag zum Thema „Perspektiven des gemeinsamen europäischen Hauses aus ungarischer Sicht“ hielt, besaß durchaus auch symbolische Bedeutung. Während die Bonner Politik den politischen Veränderungsprozess in Ungarn Mitte 1989 nunmehr – wie gezeigt – ohne Vorbehalte positiv bewertete, zeigte sich in den Kreisen der bundesdeutschen Politik und Wirtschaft auch wachsender Opti-

287  Kereskedelmi Miniszterium. Emlékeztető. Tárgy: A. Lang bajor gazdasági és közlekedési miniszter látogatása [Handelsministerium. Promemoria. Gegenstand: Besuch des bayerischen Wirtschaftsund Verkehrsminister A. Lang] [18. Mai 1989] (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 419–420). 288  Külügyminisztérium. Tájékoztató a Minisztertanácsnak Dr. Lothar Späth baden-württembergi tartományi miniszterelnök magyarországi látogatásáról [Außenministerium. Informationsbericht über den Ungarn-Besuch des Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg Dr. Lothar Späth]. In: Gecsényi/ Máthé (Hrsg.), Sub clausula 1989, S. 572–578. 289  A Magyar Népköztársaság Főkonzulátusa Berlin nyugati szerktoraiban. Jelentés. Tárgy: Pozsgay elvtárs látogatása Nyugat-Berlinben [Generalkonsulat der Ungarischen Volksrepublik in den Westsektoren Berlins. Bericht. Gegenstand: Besuch von Genossen Pozsgay in Westberlin] [27. Mai 1989] (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/C), fol. 201–207).

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mismus hinsichtlich der Wende in der Wirtschaft. Dies geht aus dem Jahresbericht hervor, den Botschafter István Horváth am 26. Juni 1989 nach Budapest sandte: „Verantwortliche westdeutsche politische und wirtschaftliche Akteure vertreten die Meinung, dass die ungarische Führung trotz der unvermeidlichen Umwege und Stagnation versucht, wo es nötig ist durch eine Korrektur der begangenen Fehler die angestrebten Wirtschaftsreformen zu verwirklichen. […] Unsere spürbar positive Beurteilung in breiten Kreisen der BRD und die daraus hervorgehende gutwillige und hilfsbereite Kooperationsbereitschaft hat konkrete Impulse durch die wichtigen politischen, wirtschaftlichen sowie personellen Entscheidungen, die im Berichtzeitraum getroffen wurden, erhalten.“290

In dieser besonders günstigen „Wetterlage“ besuchte Rezső Nyers, der mit dem ökonomischen Transformationsprozess betraute Staatsminister, in der zweiten Junihälfte 1989 auf Einladung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands die Bundesrepu­ blik.291 Neben führenden SPD-Politikern traf sich Nyers mit Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, Kanzlerberater Horst Teltschik und dem ehemaligen Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff sowie mit dem geschäftsführenden Präsidenten des Bundes der Deutschen Industrie Siegfried Mann und mit dem Präsidenten des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft Otto Wolff von Amerongen. Während die bundesdeutsche Seite gegenüber Nyers ihre besondere Anerkennung und Sympathie für den politischen und wirtschaftlichen Wandlungsprozess in Ungarn bezeugte292 und ihm zusicherte, das ungarische Ziel einer weiteren Vertiefung der Beziehungen zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu unterstützen, warb Nyers um die für den ökonomischen Wandel äußerst wichtigen westdeutschen Investitionen in Ungarn,293 die trotz des großen westlichen bzw. westdeutschen Interesses Mitte 1989 in der Praxis noch nicht gemäß den ungarischen Erwartungen in Gang gekommen waren.294

290  Horváth István. Nagyköveti beszámoló jelentés 1988/1989. Bonn, 1989. június 26. [István Horváth. Botschafterbericht 1988/1989. Bonn, 26. Juni 1989] (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e., fol. 90–128, hier 104–105) (= Dokument 38). 291  Magyar Szocialista Munkáspárt Központi Bizottsága. Nemzetközi Pártkapcsolatok Osztálya. Jelentés Nyers Rezső elvtárs NSZK-beli látogatásáról [Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Abteilung für Internationale Parteibeziehungen. Bericht über den BRD-Besuch von Genossen Rezső Nyers] [24. Juni 1989] (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 481–485). 292  Bezüglich der ökonomischen Veränderungsprozesse erklärte Lambsdorff gar, dass Ungarn aufgrund der jüngsten Entwicklungen nicht mehr „in die Kategorie der Staatshandelsländer“ einzureihen sei (ebenda, fol. 483). 293  Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Juni 1989, S. 4. 294  Horváth István. Nagyköveti beszámoló jelentés 1988/1989. Bonn, 1989. június 26. [István Horváth. Botschafterbericht 1988/1989. Bonn, 26. Juni 1989] (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e., fol. 90–128, hier 106) (= Dokument 38). Im August 1989 wies Rezső Nyers in einem Gespräch mit Volker Rühe, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Bundestag, darauf hin, wie wichtig für Ungarn eine intensivere Zusammenarbeit mit dem Westen in diesem Bereich sei: „Hierzu wären wesentlich größere Direktinvestitionen (jährlich 300 bis 400 Millionen Dollar) als bisher notwendig.” (Magyar



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 ie westdeutsch-ungarischen Beziehungen während der Flüchtlingskrise vom 4.3.5 D Sommer 1989 Im Sommer 1989 kam es in Ungarn – bekanntlich – zu dramatischen Ereignissen, in deren Mittelpunkt das Problem der Flüchtlingswelle von DDR-Bürgern stand. Auslöser für diese Entwicklung war der Abbau des „Eisernen Vorhangs“ an der ungarisch-österreichischen Grenze gewesen.295 Die Demontage der zwei Jahrzehnte alten Anlagen war am 28. Februar 1989 vom Politbüro beschlossen und bereits am 4. März 1989 in einer kurzen „versteckten“ Zeitungsnotiz angekündigt worden.296 Nachdem der Grenzschutz am 18. April 1989 im Rahmen einer streng geheimen Übung mit dem Abbau der Grenzsperren begonnen hatte, wurde der Beginn der Demontage am 2. Mai 1989 auf einer internationalen Pressekonferenz offiziell angekündigt. Bereits im Laufe des Monats Mai häuften sich daraufhin Versuche von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik, über Ungarn in die Bundesrepublik zu gelangen, und die Zahl der Ostdeutschen, die in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest vorsprachen oder gar Zuflucht suchten, stieg deutlich an.297 Die Fluchtwelle nahm dann nach dem spektakulären „historischen Drahtdurchschneiden“ von Außenminister Gyula Horn und seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock am 27. Juni 1989298 und dem Beginn der Sommerferien in Ostdeutschland immer größere Ausmaße an.299

Szocialista Munkáspárt Központi Bizottsága. Nemzetközi Pártkapcsolatok Osztálya. Jelentés Volker Rühe magyarországi látogatásáról [Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischn Arbeiterpartei. Abteilung für Internationale Parteibeziehungen. Bericht über den Ungarn-Besuch von Volker Rühe] [August 1989]; MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 549–555, hier fol. 550–551). 295  Zu den Hintergründen des Abbaus des „Eisernen Vorgangs“ an der ungarisch-österreichischen Grenze siehe Schmidt-Schweizer, Motive im Vorfeld der Demontage des „Eisernen Vorhangs“, S. 127– 139; Ders., Die Öffnung der ungarischen Westgrenze, S. 34–41; Oplatka, Der erste Riss in der Mauer, S. 15–34. Zum (deutsch- und ungarischsprachigen) Wortlaut des Berichts des ungarischen Grenzschutzes vom Oktober 1987, in dem erstmals der Abbau der Grenzsperren angeregt und begründet wurde, siehe Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: https://www.herder-institut.de/go/X3-6e05ea (Zugriff am 29.01.2016). 296  Népszabadság, 4. März 1989, S. 15. 297  Vermerk eines Mitarbeiters des Auswärtigen Amts, Arbeitsbereich „Hilfe für Deutsche aus der DDR“, vom 24. Mai 1989 über eine Dienstreise nach Budapest (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung). 298  Hinsichtlich der Wirkung dieses Akts spielte es keine Rolle, dass es sich hierbei um „eine ganz bewusste Post-festum-Inszenierung“, um „nicht mehr als eine symbolische Handlung“ handelte (László J. Kiss, Politik und Wahrnehmung. Ungarns (Außen-)Politik im Übergang – Österreichs Außenpolitik im Zuge der Umbruchsjahre (1988–1991). In: Andrea Brait/ Micheal Gehler (Hrsg.), Grenz­ öffnung 1989. Innen- und Außenperspektiven und die Folgen für Österreich. Wien/ Köln/ Weimar 2014, S. 405–426, hier S. 421). 299  Ausführlich zu den Ereignissen in Ungarn im Sommer 1989 in Zusammenhang mit den DDRFlüchtlingen siehe Oplatka, Der erste Riss in der Mauer, S. 87–120; Schmidt-Schweizer, Die Öffnung

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Die zahlreichen Fluchtversuche von DDR-Bürgern300 stellten die ungarische Politik und ihren Behördenapparat vor große Herausforderungen.301 Im Juni/ Juli 1989 waren Grenzschutz und Polizei nämlich einerseits noch an die bisher geltenden Rechtsnormen, die auch auf bilateralen Vereinbarungen mit Ostberlin302 basierten, gebunden. Diese sahen vor, den Pass von DDR-Bürgern, die bei einem Fluchtversuch aufgegriffen wurden, mit einem „Fluchtstempel“ zu markieren und die ostdeutschen Behörden über den Fluchtversuch zu informieren. Anschließend wurden die inhaftierten Personen Vertretern der DDR übergeben und in der Regel mit dem Flugzeug nach Ostdeutschland ausgeflogen. Andererseits standen diese Bestimmungen aber sowohl im Widerspruch zum Geist der Politik des Systemwechsels und der Westöffnung als auch zu den Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention, der Ungarn im Mitte März 1989 – mit Blick auf die Flüchtlinge aus Rumänien – beigetreten und die Mitte Juni 1989 in Ungarn in Kraft getreten war. Welche Konsequenzen sich aus der Flüchtlingskonvention für Ungarn – auch in Bezug auf die DDR-Flüchtlinge – ergaben, teilte der stellvertretende ungarische Justizminister Jenő László Ende Juli 1989 der Obersten Staatsanwaltschaft mit: „Mit der Annahme dieses Abkommens haben wir nämlich Pflichten übernommen, die es nicht möglich machen, die DDR-Staatsbürger mit Zwang in ihre Heimat oder in ein anderes Land, in das sie nicht gehen wollen, zurückzuschicken. […] Ich möchte die Aufmerksamkeit insbesondere auf die Art. 31, 32 und 33 des Genfer Abkommens lenken. Gemäß diesen dürfen Flüchtlinge auch dann nicht gegen ihren Willen in ihre Heimat zurückgeschickt werden, wenn sie kein Asylrecht bekommen. Es wäre schwierig, über DDR-Staatsbürger, die einen gesetzwidrigen Grenzübertritt nach Österreich versucht haben, zu behaupten, sie seien keine Flüchtlinge, auch dann, wenn sie zufällig formell nicht um Asylrecht ersucht haben bzw. bei uns keines erhalten haben.“303

Vor dem Hintergrund der widersprüchlichen politischen und rechtlichen Situation war es nicht verwunderlich, dass sich die Behördenpraxis gegenüber den an der Grenze aufgegriffenen DDR-Flüchtlingen ebenfalls widerspruchsvoll gestaltete: Ein

der ungarischen Westgrenze, S. 41–51; Tóth, Variációk konfliktuskezelésre, S. 159–174; Ágnes Jobst, Vasfüggöny – határnyitás – menekültügy. A határ mint entitás és a vasfüggöny szimbóluma [Eiserner Vorhang – Grenzöffnung – Flüchtlingsfrage. Die Grenze als Entität und das Symbol des Eisernen Vorhangs]. In: Szabolcs-Szatmár-Beregi Szemle 47 (2012), H. 4, S. 255–280, hier S. 270–279. 300  Von Anfang Mai bis Ende Juli 1989 meldeten sich bei den österreichischen Behörden insgesamt 237 DDR-Staatsbürger, denen der illegale Grenzübertritt gelungen war (vgl. Népszabadság, 1. August 1989, S. 1) und das ungarische Innenministerium meldete Ende Juli 1989, dass in der ersten Jahreshälfte 1989 550 Ostdeutsche versucht hätten, Ungarn illegal in Richtung Österreich zu verlassen (vgl. Magyar Hírlap, 26. Juli 1989, S. 4). 301  Siehe hierzu Dömötörfi/ Schmidt-Schweizer, Eine merkwürdige Episode, S. 114–115. 302  Diesbezüglich sei insbesondere auf das Reiseverkehrsabkommen von 1969 verwiesen. 303  Schreiben des stellvertretenden Justizministers Jenő László an den stellvertretenden Obersten Staatsanwalt Sándor Nyíri vom 29. Juli 1989, zitiert in Dömötörfi/ Schmidt-Schweizer, Eine merkwürdige Episode, S. 115.



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Teil der Grenzverletzer wurde gemäß der alten Praxis behandelt und abgeschoben,304 bei einem anderen Teil unterblieb zwar die „Rückführung“ in die DDR, den ostdeutschen Behörden wurden aber weiterhin Informationen über den Fluchtversuch übermittelt. Ein weiterer Teil der Grenzverletzer wurde nach einem Verweis lediglich ins Landesinnere zurückgeschickt, und die DDR-Behörden wurden über den Vorfall nicht mehr verständigt. Und es kam – nicht nur in Einzelfällen – auch vor, dass der Grenzschutz bei Fluchtaktionen einfach „wegschaute“, also gar keine Maßnahmen ergriff. Infolge der sich verschärfenden Flüchtlingsproblematik und des widersprüchlichen Verhaltens der ungarischen Behörden trat nun der bundesdeutsche Botschafter in Budapest Alexander Arnot in Aktion.305 Auf Weisung des Bonner Auswärtigen Amts suchte er am 4. August 1989 Innenminister István Horvath auf und äußerte bei diesem Treffen ungewöhnlich scharfe Kritik am Verhalten Ungarns in der Flüchtlingsfrage.306 Er wies diesbezüglich auf die offensichtlichen Widersprüche zwischen dem praktischen Handeln Ungarns und seiner erklärten Politik hin und mahnte die Umsetzung der Verpflichtungen der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. die Durchführung eines entsprechenden Anerkennungsverfahren an. Insbesondere kritisierte Arnot auch die Praxis der ungarischen Behörden, Informationen über aufgegriffene DDR-Flüchtlinge an Ostberlin weiterzuleiten,307 und unterstrich das Interesse der Bundesregierung an einer engen Zusammenarbeit zwischen Ungarn und dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zur Lösung der Frage der über 100 Flüchtlinge in der bundesdeutschen Botschaft bzw. der Flüchtlingsfrage überhaupt. Innenminister Horváth verwies in seiner Antwort auf die komplexen Herausforderungen, vor denen Ungarn gegenwärtig stünde, betonte die Absicht der Budapester Führung, die Vorgaben der Flüchtlingskonvention nach einer unvermeidbaren Übergangsphase umzusetzen und die „Ersuchen“ der bundesdeutschen Seite zu überprüfen. Gleichzeitig machte er aber auch deutlich, dass Ungarn kein „Sprungbrett“ für eine rechtswidrige Ausreise nach Westdeutschland sein könne und dass für die mittlerweile über 100 Flüchtlinge

304  Die letzte derartige Abschiebung erfolgte am 31. Juli 1989. 305  Siehe hierzu Dömötörfi/ Schmidt-Schweizer, Eine merkwürdige Episode, S. 109–127; Oplatka, Der erste Riss in der Mauer, S. 121–125. 306  Verschlüsseltes Fernschreiben des bundesdeutschen Botschafters in Budapest Alexander Arnot an das Auswärtige Amt vom 4. August 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140734 E, ohne Paginierung) (= Dokument 39); Aufzeichnung des ungarischen Innenministers István Horváth vom 4. August 1989 über seine Unterredung mit dem bundesdeutschen Botschafter Alexander Arnot (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 145–151) (= Dokument 40). 307  Damit war vor allem die Praxis der ungarischen Behörden gemeint, bei einem missglückten Fluchtversuch den Pass der betreffenden Person mit einem „Fluchtstempel“ zu versehen. Diese Maßnahme wurde am 6. August 1989 auch von Außenminister Hans-Dietrich Genscher in einem Interview mit der Zeitung Bild am Sonntag beanstandet und auf ihre Beendigung gedrängt (vgl. Oplatka, Der erste Riss in der Mauer, S. 123).

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in der bundesdeutschen Botschaft eine deutsch-deutsche Lösung gefunden werden müsse. Welche Dringlichkeit und Bedeutung die bundesdeutsche Diplomatie der Angelegenheit zuschrieb, offenbarte sich darin, dass Botschafter Arnot drei Tage später auch ein Gespräch mit Ferenc Somogyi, Staatssekretär im Außenministerium, führte.308 Bei dieser Unterredung kritisierte Arnot erneut das Verhalten der ungarischen Behörden gegenüber den ostdeutschen Flüchtlingen und wiederholte, dass man in der Bundesrepublik einen Widerspruch zwischen den Erklärungen der ungarischen Politik und ihren tatsächlichen Handlungen sehe. Demgegenüber legte Somogyi – wie bereits zuvor Horvath – die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Lage sowie die gewaltigen Herausforderungen für Ungarn in dieser Übergangszeit dar und teilte mit, dass Ungarn bemüht sei, die gegenwärtigen Probleme und Widersprüche zu überbrücken, und bereits darangegangen sei, die Bestimmungen der Flüchtlingskonvention umzusetzen. In diesem Zusammenhang ersuchte er um ein diskretes, geduldiges und verständnisvolles Verhalten der westdeutschen Seite. Der bundesdeutsche Botschafter begrüßte abschließend – wenn auch nicht vollkommen überzeugt, wie aus seinem Telegramm hervorgeht – die ungarische Maßnahme, illegale Grenzübertrittsversuche nicht mehr mit einem Stempel im Pass zu vermerken. Die Tatsache, dass Somogyi in seiner Aufzeichnung feststellte, Arnot habe die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge mittels der „Vogel-Lösung“309 gelöst werden könne, während es Arnot in seinem Telegramm – im Bewusstsein der damit verbundenen Probleme – als „optimale Lösung“ bezeichnete, ein „verkürztes UNHCRVerfahren“ anzuwenden,310 um allen rückkehrunwilligen Ostdeutschen in Ungarn die Ausreise in die Bundesrepublik zu ermöglichen, offenbarte allerdings, dass die Frage, wie das Problem der DDR-Flüchtlinge in Ungarn gelöst werden sollte, noch keineswegs geklärt war. Ihre zwangsweise Rückführung in die DDR stand allerdings zu diesem Zeitpunkt eindeutig nicht mehr auf der Tagesordnung.

308  Aufzeichnung von Ferenc Somogyi, Staatssekretär im Außenministerium, vom 7. August 1989 über das Gespräch mit dem bundesdeutschen Botschafter in Budapest Alexander Arnot (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 115–121) (= Dokument 41); Verschlüsseltes Fernschreiben des bundesdeutschen Botschafters in Budapest Alexander Arnot an das Auswärtige Amt vom 8. August 1989 betreffend der Zuflucht suchenden Deutschen aus der DDR (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.734 E, ohne Paginierung) (= Dokument 42). 309  Diese bereits früher praktizierte Methode sah eine Rückkehr der Flüchtlinge in die DDR vor. Dort sollten sie dann einen Ausreiseantrag stellen, den die Behörden wohlwollend entscheiden würden. 310  Damit war gemeint, die DDR-Flüchtlinge mit Papieren des Internationalen Roten Kreuzes ausreisen zu lassen, was allerdings – so Arnot – dazu führen könnte, dass „den etwa 1,2 Millionen DDRTouristen das Urlaubsland Ungarn“ verlorengehe. Außerdem erscheine es „wenig wahrscheinlich, dass Ungarn eine solche Lösung gegenüber seinen sozialistischen Partnern“ praktizieren könne (Verschlüsseltes Fernschreiben des bundesdeutschen Botschafters in Budapest Alexander Arnot an das Auswärtige Amt vom 8. August 1989 betreffend der Zuflucht suchenden Deutschen aus der DDR; PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.734 E, ohne Paginierung) (= Dokument 42).



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Die Unterredungen vom 4. und 7. August 1989 führen überdies besonders deutlich vor Augen, in welcher schwierigen Situation sich die ungarischen Politiker damals befanden.311 Aufgrund seiner Westöffnungs- und Transformationspolitik geriet Ungarn im Sommer 1989 letztlich „zwischen zwei Welten“.312 Bezüglich der Flüchtlingsfrage bedeutete dies, dass Ungarn in das Spannungsfeld zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik geriet, wobei beide Seiten jeweils ein vollkommen gegensätzliches Verhalten von Ungarn erwarteten. Ungarn wurde damit unmittelbar zu einem Leidtragenden der ungelösten deutschen Frage. Die Besprechungen machen zudem deutlich, in welchem Maße die ungarische Politik und Verwaltung von der Dynamik der internationalen Entwicklungen bzw. der Flüchtlingsproblematik im Sommer 1989 „überrollt“ worden waren. Diese Situation war auch darauf zurückzuführen, dass die Angelegenheit der DDR-Flüchtlinge nur eine der zahlreichen Herausforderungen war, denen sich die ungarische Politik im Sommer 1989 zu stellen hatte. Darüber hinaus hatte sich Budapest mit den Fragen der politischen und ökonomischen Systemtransformation, des Ausgleichs mit der Opposition am Nationalen Runden Tisch und der Bewahrung der Zahlungsfähigkeit auseinanderzusetzen und musste sich mit dem angespannten Verhältnis zu den Nachbarn Rumänien und Tschechoslowakei sowie mit einer Masse von – zumeist ungarischstämmigen – Flüchtlingen aus der Ceauşescu-Diktatur313 befassen. Dieses komplexen Sachverhalts waren sich Botschafter Alexander Arnot und das Auswärtige Amt – trotz allen Äußerungen des Verständnisses für Ungarn – offenbar zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich bewusst gewesen. Mangelnde Sensibilität für die äußerst schwierige Lage Ungarns und sicherlich auch eine gewisse, durch die Flüchtlingsproblematik entstandene Nervosität und Ungeduld offenbarte sich insbesondere in den einer Drohung gleichkommenden, wenig diplomatischen Äußerungen, mit denen Arnot eine Gefährdung der – für Ungarn überaus wichtigen – Beziehungen zur Bundes­ republik und zum Westen überhaupt beschwor: „In den letzten Monaten hat die ungarische Führung in unserer Öffentlichkeit den Ruf erworben, mit Umsicht und Augenmaß einen unumkehrbaren Kurs auf die Öffnung des Landes zu verfol-

311  Siehe hierzu auch Dömötörfi/ Schmidt-Schweizer, Eine merkwürdige Episode, S. 116–119. 312  So der bezeichnende Titel eines Buches des ehemaligen Justizministers (Kálmán Kulcsár, Két világ között. Rendszerváltás Magyarországon 1988–1990 [Zwischen zwei Welten. Systemwechsel in Ungarn]. Budapest 1994 (zur deutschen Ausgabe siehe Ders., Systemwechsel in Ungarn 1988–1990. Analysen und Erinnerungen des damaligen ungarischen Justizministers. Frankfurt a. M. 1997). 313  Zur – im Westen kaum wahrgenommenen – Massenflucht aus Rumänien in den Jahren 1988 und 1989 siehe György Gyarmati, „Közénk valók, hozzánk tartoznak”. Kettős migráció Magyarország keleti és nyugati határán, 1988–1989 folyamán [„Sie gehören in unsere Reihen, sie gehören zu uns“. Doppelte Migration an der Ost- und Westgrenze Ungarns im Laufe der Jahre 1988–1989]. In: Forrás 47 (2015), H. 7/8, S. 97–109.

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gen. Dieser Ruf gerät jetzt in ernste Gefahr, mit schwerwiegenden Folgen insbesondere für unsere bilateralen Beziehungen, aber auch für die Beziehungen Ungarns mit dem Westen insgesamt.“314

Die in der Aufzeichnung von Ferenc Somogyi festgehaltene Äußerung des bundesdeutschen Botschafters, es liege nicht im Interesse der Bundesrepublik, dass die Ostdeutschen „massenhaft aus der DDR in die BRD flüchten“,315 dürfte für die ungarische Seite in dieser Situation wenig tröstlich gewesen sein. Infolge der Maßnahmen, die die ungarische Führung Ende Juli/ Anfang August bereits vorbereitet hatte und nun umzusetzen begann, blieben diese Spannungen im westdeutsch-ungarischen Verhältnis aber letztlich nur eine „merkwürdige Episode“ in den sonst „makellosen“ Beziehungen.316 Im Laufe des Monats August kam es zu einer weiteren Verschärfung der Problematik der DDR-Flüchtlinge in Ungarn. Am 8. August 1989 gab die ungarische Oberste Staatsanwaltschaft eine Direktive aus, wonach Grenzverletzer nicht mehr in ihr Heimatland abgeschoben, sondern in Ungarn nach den geltenden Gesetzen zur Verantwortung gezogen werden sollten, und für den Fall, dass ein „triftiger Grund“ für die Tat vorlag, kein Strafverfahren mehr eingeleitet, sondern nur mehr ein Verweis ausgesprochen werden sollte.317 Diese Regelung, die Außenminister Gyula Horn eine Woche später auch der Bundesregierung bekanntgab, bedeutete, dass aufgegriffene ostdeutsche Grenzverletzer lediglich mit einer Ermahnung, aber keinen weiteren Konsequenzen mehr zu rechnen hatten. In den folgenden Wochen nahm die Fluchtbewegung von DDR-Bürgern – ganz offensichtlich vor dem Hintergrund dieser Entscheidung – lawinenartig zu, das heißt, Hunderte von Ostdeutschen versuchten

314  Verschlüsseltes Fernschreiben des bundesdeutschen Botschafters in Budapest Alexander Arnot an das Auswärtige Amt vom 4. August 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.734 E, ohne Paginierung) (= Dokument 39). 315  Aufzeichnung von Ferenc Somogyi, Staatssekretär im Außenministerium, vom 7. August 1989 über das Gespräch mit dem bundesdeutschen Botschafter in Budapest Alexander Arnot (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 115–121, hier fol. 115) (= Dokument 41). In der Arbeit von Oplatka, Der erste Riss in der Mauer, wird diese Äußerung nicht erwähnt. Geht man von ihrer Authentizität aus, dann stellt sich die Frage, was Arnot mit dieser Aussage bezweckte: Sah er in der Fluchtbewegung eine Gefahr für die Stabilität des Status quo in Europa, befürchtete er darin eine Schwächung der oppositionellen, kritischen Kräfte in der DDR oder handelte es sich lediglich um eine Gemütserregung? 316  In seinem Rückblick auf diese Monate geht Arnot bezeichnenderweise nicht auf diese Geschehnisse ein (Alexander Arnot, Mesteri teljesítmény volt mind az ellenzék, mind a kormány részéről [Es war eine Meiserleistung sowohl seitens der Opposition als auch der Regierung]. In: András Heltai/ Ágnes Novák (Hrsg.), Elbeszélt történelem. Huszonöten a közép-kelet-európai demokratikus átmenetről [Erzählte Geschichte. Fünfundzwanzig über den demokratischen Übergang in Mittel-OstEuropa]. Budapest 2011, S. 199–208). 317  Zur Direktive des stellvertretenden Obersten Staatsanwalts vom 8. August 1989 bezüglich der eine Grenzverletzung begehenden ausländischen Staatsbürger siehe Schmidt-Schweizer, Die Öffnung der ungarischen Westgerenze, S. 42.



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tagtäglich und oft erfolgreich, die Grenze nach Österreich zu überwinden.318 Über diese Entwicklung berichteten nicht nur westliche, sondern auch ungarische Medien, wodurch die Fluchtwelle weiter verstärkt wurde und es auch zu einer Reihe gewaltsamer Grenzdurchbruchsversuche kam. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildete das sogenannte Paneuropa-Picknick, bei dem etwa 600 bis 700 Ostdeutsche nach Österreich gelangten, ohne dass der ungarische Grenzschutz substantielle Gegenmaßnahmen ergriff.319 Als es in der Nacht zum 21. August 1989 überdies zu einem Zwischenfall mit Todesfolge kam, zeigte es sich, dass „an der Grenze die Ordnung nicht mehr aufrechterhalten werden konnte“.320 Gleichzeitig stellte auch die Unterbringung der – schätzungsweise über 10.000 – Ostdeutschen, deren Urlaubszeit abgelaufen war und die nicht mehr in die DDR zurückkehren wollten, ein immer größeres Problem dar, sodass die ungarische Regierung in Zusammenarbeit mit dem Ungarischen MalteserCaritas-Dienst und dem Internationalen Roten Kreuz Flüchtlingslager einrichten ließ. Aufgrund dieser in doppelter Hinsicht unhaltbaren Situation geriet die NémethRegierung unter wachsenden Entscheidungszwang. In dieser schwierigen Lage kam es auch zu einer Reihe von Verhandlungen zwischen der Budapester Führung und Ostberlin.321 Nachdem die Gespräche mit der DDRFührung zu keinen Ergebnissen geführt hatten, beschloss die ungarische Regierung nach Konsultationen mit der bundesdeutschen Seite und einem längeren internen Diskussionsprozess am 22. August 1989, die Ostdeutschen ausreisen zu lassen.322 Bei dieser Entscheidung war die Németh-Regierung ganz offensichtlich davon ausgegangen, dass – wie Außenminister Horn am 24. August 1989 gegenüber dem stellvertretenden CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Volker Rühe erklärte – „jegliche militärische Intervention in die Prozesse der Region heute unrealistisch“ sei,323 also insbesondere mit einem Stillhalten der Sowjetunion zu rechnen sei. Am 24. August 1989 erfolgte

318  Zwischen dem 1. und dem 23. August 1989 gelang mehr als 3.000 DDR-Bürgern die Flucht nach Österreich. 319  Näheres hierzu siehe Gyula Kurucz (Hrsg.), Das Tor zur deutschen Einheit. Grenzdurchbruch Sopron, 19. August 1989. Berlin 2000; Krisztina Slachta, Die DDR-Staatssicherheit und das Paneuropäische Picknick. In: György Gyarmati/ Krisztina Slachta (Hrsg.), Das Vorspiel für die Grenzöffnung. Das Paneuropäische Picknick in Sopron am 19. August 1989. Sopron/ Budapest 2014, S. 167–177. 320  Horn, Freiheit, S. 316. Zu den Berichten des ungarischen Grenzschutzes über die Lage an der Grenze siehe Schmidt-Schweizer, Die Öffnung der ungarischen Westgrenze, S. 44–45. 321  Ausführlich zu diesen Unterredungen, die – auch in deutscher Sprache – bereits umfassend aufgearbeitet wurden, siehe Tóth, Die Auswirkungen der ostdeutschen Flüchtlingsfrage, S. 129–154; Oplatka, Der erste Riss in der Mauer, S. 126–230. 322  Ausführlich hierzu siehe Oplatka, Der erste Riss in der Mauer, S. 138–190; Tóth, Die Auswirkungen der ostdeutschen Flüchtlingsfrage, S. 147–154. 323  Magyar Szocialista Munkáspárt Központi Bizottsága. Nemzetközi Pártkapcsolatok Osztálya. Jelentés Volker Rühe magyarországi látogatásáról [Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Abteilung für Internationale Parteibeziehungen. Bericht über den Ungarn-Besuch von Volker Rühe] [August 1989] (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 549–555, hier fol. 553).

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dann die erste konkrete Maßnahme der ungarischen Führung zur Lösung des deutschen Flüchtlingsproblems: An diesem Tag gestattete Budapest die Ausreise von über 100 ostdeutschen Flüchtlingen, die sich in der bundesdeutschen Botschaft aufgehalten hatten, mit Papieren des Internationalen Roten Kreuzes, und zwar als „einmaligen humanitären Akt“. Nach diesem Schritt reisten Ministerpräsident Miklós Németh und Außenminister Gyula Horn am folgenden Tag zu einem geheimen Besuch in die Bundesrepublik. Bei den Verhandlungen am 25. August 1989 auf Schloss Gymnich bei Bonn informierte die ungarische Seite Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher über den grundsätzlichen Beschluss, die Grenze für die ostdeutschen Flüchtlinge zu öffnen, und es wurde über die Modalitäten ihrer praktischen Umsetzung verhandelt, das konkrete Datum der Grenzöffnung blieb allerdings noch offen.324 Darüber hinaus kam bei den Unterredungen – sicherlich nicht zufällig – auch die äußerst schwierige Wirtschafts- und Finanzlage Ungarns zur Sprache, wobei die westdeutsche Seite dem Land erneut auf internationaler Ebene Unterstützung zusagte,325 und beide Seiten erörterten die Situation in den anderen osteuropäischen Staaten sowie deren grundverschiedene Positionen hinsichtlich der Transformationsprozesse.326 Am 10. September 1989 abends verkündete schließlich Außenminister Gyula Horn im Fernsehen die Entscheidung der Regierung, die Grenze um Mitternacht (11. September 1989, Null Uhr) zu öffnen.327 Das Verhalten der Németh-Regierung in der Frage der ostdeutschen Flüchtlinge hatte eine grundlegende symbolische und faktische Bedeutung hinsichtlich ihrer

324  Ausführlich hierzu siehe Oplatka, Der erste Riss in der Mauer, S. 191–199. Die Erörterung der Flüchtlingsfrage bzw. die ungarische Entscheidung zugunsten der Grenzöffnung wurde in den Aufzeichnungen über das Treffen (siehe hierzu die folgenden beiden Fußnoten) nicht festgehalten. Andreas Oplatka legt aber plausibel dar, dass die grundsätzliche Entscheidung zur Grenzöffnung der westdeutschen Seite am 25. August 1989 mitgeteilt wurde. Die Tatsache, dass auf eine schriftliche Aufzeichnung verzichtet wurde, stand offenbar auch mit der Furcht vor einem „Durchsickern“ dieser brisanten Informationen in Zusammenhang (eine entsprechende Andeutung findet sich bei Arnot, Mesteri teljesítmény volt, S. 201). 325  Vermerk des Bundesministers Genscher über das Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Ministerpräsident Németh und Außenminister Horn. Schloss Gymnich, 25. August 1989. In: Dokumente zur Deutschlandpolitik, S. 377–380 (= Dokument 43). 326  Gespräch des Bundeskanzlers Kohl und des Bundesministers Genscher mit Ministerpräsident Németh und Außenminister Horn während des Mittagessens. Schloss Gymnich, 25. August 1989. In: Dokumente zur Deutschlandpolitik, S. 380–382 (= Dokument 44). 327  Interview mit dem ungarischen Außenminister Gyula Horn im Ungarischen Fernsehen am 10. September 1989 in Verbindung mit der Ausreisegenehmigung für die DDR-Staatsbürger. In: Magyar Külpolitikai Évkönyv 1989 [Ungarisches Außenpolitisches Jahrbuch 1989]. Budapest 1989, S. 277–280 (= Dokument 47); Stellungnahme der Regierung der Volksrepublik Ungarn vom 10. September 1989 in Verbindung mit der Möglichkeit der Weiterreise der sich in Ungarn aufhaltenden DDR-Staatsbürger. In: ebenda, S. 277 (= Dokument 46). Ausführlich zu den der Grenzöffnung unmittelbar vorausgehenden Ereignissen (einschließlich der Festlegung des Datums) siehe Oplatka, Der erste Riss in der Mauer, S. 199–230.



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Politik der Systemtransformation und der Westöffnung und kann zweifellos als eindeutige Bestätigung dieses Kurses gewertet werden: „In der Aufnahme der ostdeutschen Flüchtlinge und dann in ihrer Ausreise und der Grenzöffnung manifestierte sich eindeutig der tiefgreifende Wandel, den die ungarische Politik in der vorangegangenen Phase durchlaufen hatte. […] Die Grenzöffnung beglaubigte gegenüber der bundesdeutschen Führung und der gesamten Welt jene Politik, über die die ungarische Botschaft so viele Botschaften nach Bonn übermittelt hatte.“328

Die Entscheidung zur Grenzöffnung war im Grunde eine logische Konsequenz der wirtschaftlichen und politischen Transformations- und Westöffnungspolitik der Németh-Regierung. Dies bedeutet auch, dass die ungarische Regierung letztlich keine Alternative zur Entscheidung, die Grenze zu öffnen, hatte. Sowohl ein langfristiges „Aussitzen“ einer Entscheidung als auch eine Rückkehr zur früheren Abschiebepraxis waren weder praktisch möglich, noch wäre eine derartige Politik mit dem Kurs bzw. den Zielen der ungarischen Führung unter Miklós Németh zu vereinbaren gewesen. Eine derartige Haltung hätte das – für die Stabilisierung und Transformation der ungarischen Wirtschaft unerlässliche – liberale Image Ungarns im Westen und insbesondere in der Bundesrepublik zerstört und die Politik des ökonomischen und politischen Systemwechsels und der Westöffnung vollständig diskreditiert.329 Und auch in innenpolitischer Hinsicht, insbesondere in Hinblick auf die für Frühjahr 1990 angesetzten freien Parlamentswahlen, wäre sie nicht zu vertreten gewesen.330 Mutig war der Grenzöffnungsbeschluss insofern, als man in Budapest – trotz aller Anzeichen einer Nichteinmischung der Sowjetunion331 – auch zu diesem Zeitpunkt nie hundertprozentige Gewissheit über die Reaktion Moskaus haben konnte. Die ungarische Entscheidung zur Grenzöffnung markierte gleichzeitig auch den Beginn einer erneuten Reorientierung der ungarischen Außenpolitik: An die Stelle

328  Peisch, Soha nem felejtjük el, S. 47–48. 329  In diesem Zusammenhang stellt Imre Tóth zurecht fest: „Die ungarische außenwirtschaftliche Orientierung bzw. der Handlungszwang bezüglich des äußeren Schuldenmanagements darf keineswegs übersehen werden. Diese Situation bestimmte den Platz der ungarischen Außenpolitik neben der Bundesrepublik“ (Tóth, Die Auswirkungen der ostdeutschen Flüchtlingsfrage, S. 148). 330  Betrachtet man die damaligen Ereignisse nicht isoliert, sondern in Zusammenhang mit den historischen Entwicklungen der vorangegangenen Jahre und der internationalen Situation Ungarns, so ist die Auffassung, „die Németh-Regierung [hätte] einen anderen Weg gehen können“ (Oplatka, Der erste Riss in der Mauer, S. 240) wenig überzeugend. In Anbetracht des repressiven Charakters des Honecker-Regimes kann insbesondere die Argumentation, man hätte die Lösung des Flüchtlingsproblems ganz einfach dem Wetter überlassen können, kaum nachvollzogen werden. Sicherlich hätte die „kalte Witterung“ nicht die Aufgabe der Polizei übernommen, „die Flüchtlinge nach Hause zu treiben“, wie Andreas Oplatka in seinem Buch konstatiert (ebenda). 331  Ganz offensichtlich vertrat man zu diesem Zeitpunkt in Moskau den Standpunkt, dass die Angelegenheit der DDR-Flüchtlinge eine „Sache Ungarns und der beiden deutschen Staaten“ sei. Ausführlich zur sowjetischen Haltung in dieser Frage siehe ebenda, S. 173–178.

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der – noch ganz jungen – Konzeption der „doppelten Orientierung“ trat nun immer deutlicher das strategische Ziel Ungarns, sich im Zuge des offensichtlichen Zerfalls des östlichen politischen und militärischen Bündnisses noch stärker, auch institutionell, mit dem Westen zu verbinden, das heißt also, den Akzent auf die Westorientierung zu setzen. Lediglich einen Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt sah die ungarische Diplomatie zu diesem Zeitpunkt und unter den gegebenen Umständen (noch) nicht vor.332

4.3.6 D  ie Selbstauflösung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei und die Etablierung einer demokratischen Verfassungsordnung in Ungarn Knapp einen Monat nach der Grenzöffnung trat am 6. Oktober 1989 der 14. Parteitag der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei zusammen.333 Am folgenden Tag beschlossen die 1.300 Delegierten, die erstmals in der Geschichte der Partei demokratisch von den Parteiverbänden gewählt worden waren, die Auflösung der einstigen Staatspartei und die Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP).334 Mit dieser Entscheidung, die nun auch in parteihistorischer Hinsicht einen Schlussstrich unter die Ära Kádár zog, kam es erstmals in der Geschichte der kommunistischen und sozialistischen Parteien zur Selbstliquidierung einer herrschenden Partei,335 und der 14. Parteitag der MSZMP wurde zum 1. Parteitag der MSZP. Die neue Partei, zu deren Vorsitzenden der von allen innerparteilichen Gruppierungen akzeptierte Rezső Nyers gewählt wurde, bekräftigte in ihren neuen Statuten den Bruch mit der zentralistisch-

332  Gegenüber Kohl und Genscher erklärte Németh am 25. August 1989, dass Ungarn ein „neues Konzept des Zusammenlebens im Warschauer Pakt“ anstrebe und – solange das Bündnis die „Reformentwicklung“ nicht behindere – von Ungarn keine Neutralität angestrebt werde (Aufzeichnung von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher über die Unterredung von Bundeskanzler Helmut Kohl mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh und Außenminister Gyula Horn am 25. August 1989. In: Dokumente zur Deutschlandpolitik, S. 377–380, hier S. 377) (= Dokument 43). 333  Ausführlich hierzu siehe Andreas S. Schmidt, Die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) 1989– 1994. Entstehung und Wandel einer „Nachfolgepartei“. In: Südosteuropa-Mitteilungen 34 (1994), H. 3, S. 202–220; Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 169–174. Zu den wichtigsten diesbezüglichen Quellen siehe Emil Kimmel (Hrsg.), Kongresszus ʻ89. Rövidített, szerkesztett jegyzőkönyv az 1989. október 6–9. között tartott kongresszus anyagából [Kongress ʻ89. Gekürztes, redigiertes Protokoll aus dem Material des vom 6. bis 9. Oktober abgehaltenen Kongresses]. Budapest 1990; Ágh/ Géczi/ Sipos (Hrsg.), Rendszerváltók a baloldalon, S. 365–429. 334  A kongresszus állásfoglalása a Magyar Szocialista Pártról [Stellungnahme des Kongresses über die Ungarische Sozialistische Partei] [7. Oktober 1989]. In: Népszabadság, 8. Oktober 1989, S. 2 (= Dokument 49). 335  Die Jugendorganisation der Partei, der Kommunistische Jugendverband (KISZ), hatte sich bereits im April 1989, im Zuge der Bestrebungen der Massenorganisationen, sich von der Partei zu „emanzipieren“, selbst aufgelöst. An seine Stelle war der (kurzlebige) Ungarische Demokratische Jugendverband (DEMISZ) getreten.



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hierarchischen Organisationsweise der MSZMP und sprach sich für betont basisdemokratische innere Strukturen aus. Zwar trat die neue Partei – aus offensichtlich vermögensrechtlichen Erwägungen – die Rechtsnachfolge der alten Staatspartei an, sie distanzierte sich gleichzeitig aber politisch-weltanschaulich eindeutig vom „Realsozialismus“ der Ära Kádár: In ihrer Programmerklärung bekannte sie sich ohne Einschränkungen zum Rechtsstaat, zu einer parlamentarisch-demokratischen Ordnung sowie zu einer Marktwirtschaft mit staatlichen, genossenschaftlichen und privaten Eigentumsformen – und war damit „kompatibel“ für die zukünftige demokratischpluralistische Ordnung. Hinsichtlich ihres politischen Selbstverständnisses war die Sozialistische Partei allerdings durch eine unklare „Synthese“ unterschiedlicher, kaum zu vereinbarender Vorstellungen gekennzeichnet, die von „reformistischen“ sozialdemokratischen bis zu „revolutionären“ linkssozialistisch-plebiszitären Ideen reichten. Ein klares Bekenntnis zur Sozialdemokratie sollte die Partei erst zwei Jahre später unter ihrem neuen Parteichef Gyula Horn abgeben. Einen halben Monat nach der Selbstauflösung der Partei János Kádárs kam es auch hinsichtlich der ungarischen Verfassungsordnung zu den lange vorbereiteten grundlegenden Veränderungen. Nachdem die grundsätzlichen Entscheidungen zur Transformation der wirtschaftlichen und politischen Ordnung – wie dargelegt – bis Frühjahr 1989 auf der Partei- und Regierungsebene getroffen worden waren und anschließend am Nationalen Runden Tisch über die konkrete Ausgestaltung der demokratischen Verfassungsordnung verhandelt worden war, fand dieser Prozess in der Verabschiedung mehrerer sogenannter Eckgesetze und einer radikalen Verfassungsänderung seinen Abschluss. Die Ausgleichsgespräche zwischen der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, dem vereinigten Oppositionslager und der „dritten Seite“ hatten am 13. Juni 1989 begonnen und waren am 18. September 1989 mit der Unterzeichnung einer Vereinbarung336 abgeschlossen worden. Die Rundtisch-Vereinbarungen, die von den Vertretern der MSZMP sowie von der überwiegenden Mehrheit der Repräsentanten der Oppositionsbewegungen und der dritten Seite unterzeichnet worden waren, nahmen in Form von sechs – mehr oder weniger detailliert ausgearbeiteten – Gesetzentwürfen

336  Megállapodás a politikai egyeztető tárgyalások 1989. június 13-a és szeptember 18-a közötti ­szakaszának lezárásáról [Vereinbarung über den Abschluss der vom 13. Juni bis 18. September dauernden Phase der politischen Ausgleichsverhandlungen]. In: Népszabadság, 19. September 1989, S. 5 (= Dokument 48). Ausführlich zu den Rundtischgesprächen, die in diesem Rahmen nicht näher behandelt werden, und zu den Verhandlungsergebnissen siehe András Bozóki (Hrsg.), The Roundtable Talks of 1989. The Genesis of Hungarian Democracy. Analysis and Dokuments. Budapest 2002; Ders. (Hrsg.), A rendszerváltás forgatókönyve. Kerekasztal-tárgyalások 1989-ben. Alkotmányos forradalom. Tanulmányok [Drehbuch des Systemwechsels. Rundtisch-Verhandlungen 1989. Verfassungsmäßige Revolution. Studien], Bd. 7. Budapest 2000; Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 160–169, S. 174–179; Ripp, Rendszerváltás Magyarországon, S. 426–470; Romsics, Volt egyszer egy rendszerváltás, S. 167–173.

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Gestalt an. Die Vorlagen dieser sogenannten Eckgesetze bezogen sich auf die zukünftige Verfassungsordnung, auf die Institution des Staatspräsidenten und des Verfassungsgerichts, auf die Parteien, auf das Wahlrecht sowie auf das Strafgesetz und das Strafverfahren. In den folgenden Wochen wurden diese Entwürfe von den jeweils zuständigen Ministerien formal überarbeitet und dann vom „alten“, 1985 unter den Bedingungen des Parteistaats gewählten Parlament angenommen. Mit der Änderung des Strafgesetzes und des Strafverfahrensgesetzes337 wurde eine Entideologisierung des Rechtswesens eingeleitet, das Gesetz über die Wahl der Parlamentsabgeordneten338 fundierte das Prinzip der allgemeinen, gleichen, geheimen und unmittelbaren Wahlen und bestimmte ein Wahlverfahren, das auf einer komplexen Verknüpfung von Mehrheits- und Verhältniswahlsystem beruhte. Das Parteiengesetz339 regelte – aufbauend auf dem Vereinigungsgesetz – die Gründung, Registrierung und Finanzierung von politischen Parteien sowie die Aufsicht über ihre Tätigkeiten. Mit dem Gesetz über das Verfassungsgericht340 wurden die Kompetenzen, der Aufbau und die Funktion dieser neuen Institution geregelt und mit dem Gesetz über die Wahl des Staatspräsidenten341 der Wahlmodus für dieses ebenfalls neue Amt festgelegt. Das letzte der sechs Eckgesetze, das Gesetz über die Verfassungsänderung,342 bildete schließlich die Grundlage für die neue ungarische Verfassungsordnung. Darüber hinaus verabschiedete das Parlament im Oktober 1989 weitere Gesetze, die ebenfalls der Liquidierung des Parteistaats dienten, darunter das Gesetz über die Auflösung der Arbeitermiliz343 und ein neues, liberales Reisegesetz.344 Den symbolischen Höhepunkt des Transformationsprozesses, der damit in staatsrechtlicher Hinsicht weitge-

337  1989. évi XXV. törvény a Büntető Törvénykönyvről szóló 1978. évi IV. törvény módosításáról [Gesetz Nr. XXV des Jahres 1989 über die Änderung von Gesetz Nr. I des Jahres 1978 über das Strafgesetzbuch]. In: Törvények és rendeletek hivatalos gyűjteménye 1989 [Offizielles Kompendium der Gesetze und Verordnungen 1989], Bd. 1. Budapest 1990, S. 107–108; 1989. évi XXVI. törvény a büntetőeljárásról szóló 1973. évi I. törvény módosításáról [Gesetz Nr. XXVI des Jahres 1989 über die Änderung von Gesetz Nr. I des Jahres 1973 über das Strafverfahren]. In: ebenda, S. 112–114. 338  1989. évi XXXIV. törvény az országgyűlési képviselők választásáról [Gesetz Nr. XXXIV des Jahres 1989 über die Wahl der Parlamentsabgeordneten]. In: ebenda, S. 175–188. 339  1989. évi XXXIII. törvény a pártok működéséről és gazdálkodásáról [Gesetz Nr. XXXIII des Jahres 1989 über die Tätigkeit und Wirtschaftsweise der Parteien]. In: ebenda, S. 169–172. 340  1989. évi XXXII. törvény az Alkotmánybíróságról [Gesetz Nr. XXXII des Jahres 1989 über das Verfassungsgericht]. In: ebenda, S. 157–162. 341  1989. évi XXXV. törvény a köztársasági elnök választásáról [Gesetz Nr. XXXV des Jahres 1989 über die Wahl des Präsidenten der Republik]. In: ebenda, S. 191–192. 342  1989. évi XXXI. törvény az Alkotmány módosításáról [Gesetz Nr. XXXI des Jahres 1989 über die Änderung der Verfassung]. In: ebenda, S. 130–138 (= Dokument 53). 343  1989. évi XXX. törvény a munkásőrség megszüntetéséről [Gesetz Nr. XXX des Jahres 1989 über die Auflösung der Arbeitermiliz]. In: ebenda, S. 130 (= Dokument 52). 344  1989. évi XXVIII. törvény a külföldre utazásról és az útlevélről [Gesetz Nr. XXVIII des Jahres 1989 über Auslandsreisen und Pass]. In: ebenda, S. 122–124.



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hend abgeschlossen war, bildete schließlich die Proklamation der Republik Ungarn am 23. Oktober 1989 durch das provisorische Staatoberhaupt Mátyás Szűrös. Die durch die Totalrevision vom Herbst 1989 geschaffene Verfassungsordnung brach vollständig mit den Grundsätzen der realsozialistischen Gesellschaftsordnung und bekannte sich uneingeschränkt zu den Prinzipien Rechtstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Pluralismus usw. eines demokratischen Systems westlicher Prägung und zu den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft nach westdeutschem Vorbild.345 Sie enthielt eine detaillierte Aufstellung von garantierten, einklagbaren Menschen- und Bürgerrechten und legte ein – am Vorbild der westlichen Demokratien ausgerichtetes – System von politischen Institutionen fest. Im Sinne der parlamentarischen Demokratie wurde dem Ein-Kammer-Parlament eine herausragende politische Rolle, die sich vor allem auf seine Gesetzgebungskompetenz und sein Budgetrecht sowie auf die parlamentarische Wahl und Verantwortlichkeit der Regierung und seine verfassunggebenden Kompetenzen gründete, zugeschrieben. Der Präsident der Republik sollte als Staatsoberhaupt die Einheit der Nation verkörpern und in erster Linie repräsentative Aufgaben wahrnehmen. Als unabhängige Institutionen zur Kontrolle der Legislative und der Exekutive sah die Verfassung ein Verfassungsgericht, einen Beauftragten für die Bürgerrechte sowie einen Staatlichen Rechnungshof vor. Der Regierung schrieb sie als Exekutive in erster Linie die Durchführung der Gesetze, die Lenkung der Arbeit der Ministerien und die Aufsicht über die regionale und kommunale Verwaltung zu. Die Räte (Selbstverwaltungen) in den Komitaten, Städten und Gemeinden wurden zum einen als Selbstverwaltungsorgane, zum anderen als Instrumente der Staatsverwaltung definiert. Bezüglich der Judikative hob die Verfassung vor allem die Unabhängigkeit des Gerichtswesens hervor und schrieb den Gerichten auch die Aufgabe der – bislang nicht praktizierten – Verwaltungsgerichtsbarkeit zu. Und hinsichtlich des Grundcharakters des Staates hielt die Verfassung einen am Nationalen Runden Tisch ausgehandelte Formulierung fest: „Die ungarische Republik ist ein unabhängiger demokratischer Rechtsstaat, in dem die Werte der bürgerlichen Demokratie und des demokratischen Sozialismus gleichermaßen zur Geltung kommen.“346

345  Siehe hierzu auch Ferenc Majoros, Ungarns neue Verfassungsordnung: Die Genese einer neuen demokratischen Republik nach westlichen Maßstäben, I. In: Osteuropa Recht 36 (1990), H. 2, S. 85–99; Ders., Ungarns neue Verfassungsordnung: Die Genese einer neuen demokratischen Republik nach westlichen Maßstäben, II. In: Osteuropa-Recht 36 (1990), H. 3, S. 161–174; Georg Brunner, Die Verfassungsordnung. In: Ders. (Hrsg.), Ungarn auf dem Weg der Demokratie. Von der Wende bis zur Gegenwart. Bonn 1993, S. 42–86; Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 174–179. 346  1989. évi XXXI. törvény az Alkotmány módosításáról Gesetz Nr. XXI des Jahres 1989 über die Änderung der Verfassung]. In: ebenda, S. 130–138, hier S. 130 (§ 2, Abs. 1).

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Und mit Blick auf die Wirtschaftsordnung sprach die Verfassung von einer Marktwirtschaft, die „auch die Vorzüge der Planung“ nutze.347 Diese unbestimmten, staatsrechtlich inhaltslosen Formulierungen, die den Grundcharakter der Verfassung sub­ stantiell nicht berührten, sollten allerdings nur sehr kurzlebig sein.

4.3.7 D  ie Entwicklung der bilateralen Beziehungen vor dem Hintergrund der Ausreisegenehmigung für die DDR-Flüchtlinge Kurz nach dem Paneuropa-Picknick, während dem – wie gezeigt – mehrere Hundert Ostdeutsche im Grunde unbehelligt vom ungarischen Grenzschutz nach Österreich gelangt waren, und wenige Tage vor der Ausreise der Botschaftsflüchtlinge sandte der ungarische Botschafter in Bonn am 21. August 1989 einen Bericht nach Budapest, der im Vergleich zur ersten Augustwoche eine grundlegend gewandelte westdeutsche Auffassung hinsichtlich des ungarischen Verhaltens in der Flüchtlingsfrage widerspiegelte: „Die Führungskreise in der BRD schätzen das humane Verhalten der ungarischen Regierung, das diese in der Sache der DDR-Staatsbürger, die sich in unserem Land aufhalten und in die BRD übersiedeln wollen, bezeugt hat, hoch ein. Sie sehen ein, dass Ungarn mit seinen bisherigen Maßnahmen – die Duldung der auf eine Übersiedlung wartenden Personen, die wohlgesinnte Haltung gegenüber den illegalen Grenzgängern – die Möglichkeiten ausgeschöpft hat, die die Regierung der BRD realistischer Weise von der ungarischen Seite erwarten kann.“348

Mit Befriedigung äußerte sich – laut einem weiteren ungarischen Bericht – auch der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Volker Rühe, der am 23./24. August 1989, aus Anlass der Ausreise der Botschaftsflüchtlinge, Budapest besuchte, über die ungarische Haltung gegenüber den Flüchtlingen aus der DDR: „Er [Rühe] erklärte, dass die westdeutsche öffentliche Meinung die Hilfsbereitschaft und Solidarität, die sich bei der Linderung des Schicksals der Flüchtlinge offenbart habe, obwohl die Ungarn selbst mit großen Problemen kämpfen würden, sehr schätzen würde. Er drückte seinen Dank für die gute Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den Politikern sowie den Diplomaten aus, die seit Jahren ein störungsloses und ausgeglichenes ungarisch-westdeutsches Verhältnis ermöglicht habe.“349

347  Ebenda, S. 131 (§ 9, Abs. 1). 348  Zum Bericht von István Horváth vom 21. August 1989, der sich im Historischen Archiv der Geheimdienste in Budapest befindet (ÁBTL, 2.7.2. Központi NOIJ. 162/7), siehe Baráth, Mit dem Gesicht nach Westen (in Vorbereitung). 349  Magyar Szocialista Munkáspárt Központi Bizottsága. Nemzetközi Pártkapcsolatok Osztálya. Jelentés Volker Rühe magyarországi látogatásáról [Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Abteilung für Internationale Parteibeziehungen. Bericht über den Ungarn-Besuch von Volker Rühe] [August 1989] (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 549–555, hier fol. 554).



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Und als Ungarn am 11. September 1989 seine Grenze für die Ausreise der DDR-Bürger nach Westen öffnete und so in den folgenden zwei Monaten, bis zum Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989, fast 50.000 DDR-Bürger über das Territorium Ungarns in die Bundesrepublik ausreisen konnten,350 führte dies bekanntlich zu überschwänglichen Reaktionen in der bundesdeutschen Politik und Öffentlichkeit. So äußerte sich beispielsweise Bundeskanzler Helmut Kohl, zugleich Vorsitzender der Christlich Demokratischen Union, während des – durch einen für Kohl glücklichen Zufall – am Tage der Grenzöffnung beginnenden CDU-Parteitags in Bremen351 folgendermaßen: „Wir sind uns nicht zuletzt aufgrund unserer Gespräche in den vergangenen Wochen sehr wohl bewusst – auch ich selbst –, welche Entscheidung die ungarische Regierung getroffen hat. Es ist eine Entscheidung der Menschlichkeit, es ist eine Entscheidung der europäischen Solidarität. Und ich bin für diese Entscheidung sehr, sehr dankbar.“352

Und am 12. September 1989 schrieb Bundeskanzler Kohl in einem Telegramm an den ungarischen Regierungschef Miklós Németh: „Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, für den großzügigen Akt der Menschlichkeit, den ihr Land in diesen Tagen Tausenden meiner Landsleute erweist, möchte ich Ihnen im Namen aller Deutschen aufs herzlichste danken. In meinen Dank schließe ich Ihre Mitarbeiter, insbesondere Herrn Außenminister Horn, sowie die karitativen Organisationen und alle Bürger Ihres Landes ein, die in den vergangenen Wochen großzügig und selbstlos geholfen haben. […] Herr Ministerpräsident, was Ungarn in diesen Tagen für uns geleistet hat, werden wir nie vergessen. […].“353

Neben den zahlreichen Sympathie- und Dankbarkeitsbekundungen, die das Auftreten der deutschen Politiker gegenüber Ungarn – bis in die Gegenwart hinein – kennzeichnen, offenbarte sich nun auch die Tatsache, dass sich die Bundesrepublik gegenüber Ungarn, das sich zu diesem Zeitpunkt nicht nur wirtschaftlich-finanziell,354 sondern auch außenpolitisch in einer äußerst schwierigen Situation befand, in einem ganz besonderen Maße verpflichtet fühlte.

350  So die auf Zählungen der ostdeutschen Staatssicherheit beruhenden Angaben bei Oplatka, Der erste Riss in der Mauer, S. 231. An anderer Stelle ist von nahezu 60.000 DDR-Bürgern die Rede (vgl. Horváth/ Németh, …és a falak leomlanak, S. 373). 351  Der Parteitag dauerte vom 11. bis 13. September 1989. Die Tatsache, dass der Zeitpunkt der Grenz­ öffnung zufällig auf den ersten Tag des Parteitags fiel, wird hervorgehoben bei Teltschik, Az NDK eltűnéséhez vezető folyamatot Magyarország indította el, S. 229. 352  Helmut Kohl zitiert in Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf, S. 334. 353  Telegramm des Bundeskanzlers Kohl an Ministerpräsident Németh. 12. September 1989. In: Dokumente zur Deutschlandpolitik, S. 404. 354  Ausführlich zur Wirtschafts- und Finanzlage Ungarns siehe Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Oktober 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 53).

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 Die politisch-diplomatischen Beziehungen

Am 19. September 1989, rund eine Woche nach der ungarischen Ausreisegenehmigung für die Ostdeutschen, kam es auf Ersuchen des ungarischen Botschafters in Bonn zu einem Treffen von István Horváth mit Bundesminister Rudolf Seiters, Chef des Bundeskanzleramts, in Bonn.355 Während der Unterredung verwies Horváth zum einen auf den wachsenden, mit unabsehbaren „mittel- und langfristigen Folgen“ einhergehenden Druck aus den „konservativen osteuropäischen Staaten“ und beschwor – mit Blick auf das rumänisch-ungarische bzw. tschechoslowakisch-ungarische Verhältnis – sogar das Wiederaufleben der gegen Ungarn gerichteten Kleinen Entente aus der Zwischenkriegszeit. Zum anderen kritisierte er – insbesondere in Anspielung auf die Haltung der Vereinigten Staaten und Frankreich – das verbreitete Desinteresse des Westens an einer Fortsetzung des ungarischen Demokratisierungsprozesses, „weil man im Grunde keine Änderung des Ost-West-Status-quo wünsche.“356 Vor diesem Hintergrund ersuchte Horváth die Bundesrepublik, die er ausdrücklich von seiner Kritik ausnahm, darum, Ungarn und – explizit – auch den „Reformflügel“ der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei um Miklós Németh und Imre Pozsgay zu unterstützen. In diesem Zusammenhang verwies er auf die Wichtigkeit eines baldigen Besuchs des Bundeskanzlers in Ungarn sowie von wirtschaftlichen und finanziellen Hilfsmaßnahmen für sein Land. Seiters bekräftigte daraufhin, dass die Bundesrepublik Ungarn im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen werde, auch auf internationaler Ebene, und kam damit den – aufgrund der Entscheidungen vom August/ September 1989 bezüglich der DDR-Flüchtlinge zweifellos bestehenden – Erwartungen der ungarischen Seite357 entgegen. Dass es sich hierbei um keine leeren Versprechungen handelte, zeigte sich bereits zwei Wochen nach diesem Gespräch. Am 4. Oktober 1989 teilte Bundeskanzler Helmut Kohl dem ungarischen Ministerpräsidenten in einem Schreiben Folgendes mit: „Schon heute kann ich Ihnen mitteilen, dass die Bundesregierung grundsätzlich bereit ist, die Garantie für den Kredit aus [dem Jahre] 1987 um 500 Mio. DM aufzustocken. Damit kann Ihre Regierung zusammen mit der parallelen Kreditaktion der Bundesländer Bayern und BadenWürttemberg mit einem deutschen Beitrag in Höhe von 1 Milliarde DM rechnen.“358

355  Gespräch des Bundesministers Seiters mit Botschafter Horváth. Bonn, 19. September 1989. In: Dokumente zur Deutschlandpolitik, S. 405–407. 356  Ebenda, S. 405. 357  Bereits am 1. September 1989 hatte der ungarische Regierungschef Miklós Németh in einem Schreiben an Bundeskanzler Helmut Kohl die wirtschaftlichen Probleme seines Landes dargelegt und Kohl gebeten, Ungarn auf internationaler Ebene – gegenüber der EWG und den Vereinigten Staaten – zu unterstützen (vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik, S. 379, Anm. 7). 358  Schreiben des Bundeskanzlers Kohl an Ministerpräsident Németh. Bonn, 4. Oktober 1989. In: Dokumente zur Deutschlandpolitik, S. 442.



Frühjahr 1989 bis Herbst 1989 

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Unmittelbar nach dieser Zusage trafen der bayerische Ministerpräsident Max Streibl und der baden-württembergische Regierungschef Lothar Späth in Budapest ein und unterzeichneten am 6. Oktober 1989, am Tag des Beginns des (letzten) Parteitags der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, eine Vereinbarungen bezüglich des von den beiden Bundesländern verbürgten Kredits über 500 Millionen DM, der von der Bayerischen und der Baden-Württembergischen Landesbank gewährt wurde.359 Im November 1989 folgte dann auch eine entsprechende Kreditvereinbarung über die weiteren, von einem bundesdeutschen Bankenkonsortium zur Verfügung gestellten 500 Millionen DM.360 Damit leistete die Bundesrepublik – nach dem Milliardenkredit vom Herbst 1987 – einen weiteren wesentlichen finanziellen Beitrag zu Stabilisierung und Restrukturierung der ungarischen Wirtschaft. Bei dem Kredit bzw. bei der Kreditgarantie handelte es sich allerdings keineswegs – wie bis in die Gegenwart hartnäckig behauptet wird – um eine Gegenleistung für die Grenzöffnung.361 Wie gezeigt hatte Bundeskanzler Helmut Kohl nämlich bereits Ende Juni 1989 (!) gegenüber dem amerikanischen Präsidenten George Bush eine erneute Bürgschaft für einen Milliardenkredit für Ungarn angekündigt362 und es waren auch entsprechende Vorbereitungen angelaufen. Das ungarische Verhalten in der Frage der DDR-Flüchtlinge führte so bestenfalls zu einer beschleunigten Abwicklung des Milliardenkredits.363 Tatsache ist allerdings, dass die überaus dankbare Bundesrepublik – wie im Folgenden noch dargelegt wird – für ungarische Hilfsersuchen nun noch aufgeschlossener war und es infolgedessen zu einer ganzen Reihe von weiteren Unterstützungsmaßnahmen kam. Die Bundesregierung setzte sich nun – gemäß ihren Zusagen – auch auf der internationalen Ebene in besonderem Maße für die dringenden Belange Ungarns ein. Nachdem – wie gezeigt – bereits auf dem Gipfeltreffen der sieben führenden Industrienationen in Paris Mitte Juli 1989 auf Betreiben der Bundesrepublik grundsätzlich beschlossen worden war, Ungarn und Polen Wirtschaftshilfe zu gewähren, kündigte Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher am 27. September am Rande der UNO-

359  Vgl. Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf, S. 334. 360  Ein entsprechendes Kreditabkommen eines bundesdeutschen Bankenkonsortiums mit der Ungarischen Nationalbank wurde während des Ungarn-Besuch von Bundesaußenminister HansDietrich Genscher am 24. November 1989 unterzeichnet (Drahterlass des Auswärtigen Amts vom 27. November 1989 zum Besuch von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher in Ungarn, Aktenzeichen: 214 – 321.11 UNG 27110810; PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung). 361  Siehe hierzu exemplarisch Heinrich-August Winkler, Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall. München 2014, S. 992. Eine kausale Verknüpfung zwischen der Grenzöffnung und der Kreditgewährung bzw. -garantie wird auch bei Rödder, Deutschland einig Vaterland, S. 74, hergestellt. 362  Bei dieser Ankündigung wich lediglich die Höhe der Kreditgarantie, die jeweils vom Bund (250 Millionen DM) und von den beiden Bundesländern (750 Millionen DM) übernommen werden sollte, von der späteren Kreditbürgschaft ab. 363  Siehe hierzu auch Schmidt-Schweizer/ Dömötörfi, A magyar–nyugatnémet kapcsolatok dinamikus időszaka, S. 38.

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 Die politisch-diplomatischen Beziehungen

Vollversammlung in New York gegenüber seinem ungarischen Amtskollegen Gyula Horn an, dass der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft das Thema der Hilfe für Ungarn (und Polen) in Kürze auf seine Tagesordnung setzen werden, und signalisierte, dass Ungarn mit der Unterstützung Bonns in dieser Frage rechnen könne.364 (Insbesondere die intensiven Bemühungen der Bundesrepublik sollten bereits am 13. Dezember 1989 dazu führen, dass der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft das Programm „PHARE – Poland and Hungary Assistance to Economic Restructuring“, das eine langfristige finanzielle Unterstützung Polens und Ungarns bei der Bewältigung der sozialen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse vorsah, verabschiedete.365) Wenig später, in dem – erwähnten – Brief an Ministerpräsident Miklós Németh vom 4. Oktober 1989, erklärte Bundeskanzler Helmut Kohl dann, er werde sich für die finanziellen Anliegen Ungarns auch bei der Weltbank und beim Internationalen Währungsfonds einsetzen. Und am 20. November 1989 demonstrierte der Bundeskanzler erneut die besondere Hilfsbereitschaft der Bundesrepublik gegenüber Ungarn. An diesem Tag reiste der ungarische Ministerpräsident Miklós Németh zu einem kurzfristig angesetzten, geheim gehaltenen Treffen mit Bundeskanzler Helmut Kohl in die Bundesrepublik.366 Bei dem Gespräch mit Kohl in dessen Ludwigshafener Privatwohnung schilderte Németh, dass die Rohstoff- und Energieversorgung Ungarns aufgrund einer äußerst schwierigen, ökonomisch oder politisch367 bedingten Situation in den ungarisch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen in Gefahr geraten sei, und ersuchte Kohl darum, Ungarn bei der Sicherstellung seiner Energieversorgung zu unterstützen. Darüber hinaus informierte Németh den Bundeskanzler über die weiterhin harte Haltung des Internationalen Währungsfonds gegenüber Ungarn und betonte, dass die vom IMF gestellten Bedingungen ein Überleben seiner Regierung bis zu den Parlamentswahlen unmöglich machen würden. Daraufhin versprach Kohl zum einen, dass die Bundesrepublik im Falle eines Ausfalls der sowjetischen Energielieferungen sofort einspringen werde,368 zum anderen versicherte er Németh, bei seinem anstehenden

364  In diesem Zusammenhang erklärte Genscher, er habe gegenüber den EG-Außenministern „die Idee eines Plans der Solidarität für Europa“ – womit er offensichtlich die Unterstützung Polens und Ungarns meinte – vorgetragen (Auswärtiges Amt. Leiter Ministerbüro. Vermerk betreffend das Gespräch des Bundesministers mit dem ungarischen Außenminister Horn am 27. September 1989. New York, 27. September 1989; PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung). 365  Ausführlich zum PHARE-Programm, dem bedeutendsten Finanzierungsinstrument der EG bzw. EU für die zukünftigen Mitgliedsländer, siehe Niemann, Explaining Decisions, S. 67–112; Hargita, Vis�sza Európába, S. 136–141. 366  Siehe hierzu Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 174–176. 367  Damit verwies Németh möglicherweise auf Bestrebungen konservativer Kräfte in der Sowjetunion, Störungen im ungarisch-sowjetischen Verhältnis zu provozieren. 368  Die Befürchtungen der ungarischen Regierung erwiesen sich letztlich allerdings als unbegründet, da die Sowjetunion Ungarn auch weiterhin mit Energieträgern (und Rohstoffen) belieferte.



Frühjahr 1989 bis Herbst 1989 

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USA-Besuch zusammen mit Präsident George Bush alles unternehmen zu wollen, um die IMF-Führung von ihrem bisherigen Kurs abzubringen.

4.3.8 W  estdeutsche Reaktionen auf die Totalrevision der Verfassung und die neue Parteienlandschaft in Ungarn Nachdem während der spektakulären Geschehnisse in Zusammenhang mit den ostdeutschen Flüchtlingen die – parallel hierzu fortgesetzten – Demokratisierungsprozesse in Ungarn verständlicherweise in den Hintergrund des Interesses in der Bundesrepublik gerückt waren, gelangten diese Entwicklungen im Oktober 1989 erneut in Fokus der westdeutschen Diplomatie. Der Politische Halbjahresbericht der bundesdeutschen Botschaft vom 31. Oktober 1989 beschäftigte sich eingehend – und nahezu ausschließlich369 – mit den Ergebnissen des politischen Transformationsprozesses und kam diesbezüglich zu einer rundweg positiven allgemeinen Wertung: „Insgesamt gewinnt das Reformwerk in Ungarn zunehmend festen Boden.“370 Diesbezüglich verwies der Bericht auf die Entscheidung zur Etablierung eines „demokratischen Verfassungsstaates nach westlichem Modell“ im Sinne der Verhandlungen am Nationalen Runden Tisch und auf die Bildung eines „Expertenkabinetts“ durch Ministerpräsident Miklós Németh. (Auch wenn der Bericht nicht direkt auf die Verlagerung der politischen Beschlüsse von der Partei auf die Regierung einging, so machen die Ausführungen doch klar, dass die politische Initiative und Entscheidungsgewalt seit Mitte 1989 – nun auch gemäß der Erkenntnis der westdeutschen Diplomaten – bei der Regierung lag.) Darüber hinaus vermerkten die Budapester Diplomaten positiv, dass das ungarische Parteienspektrum, auch wenn das Profil der neuen Ungarischen Sozialistischen Partei noch unklar sei, an Konturen gewinne, insbesondere mit Blick auf die Opposition, die sich in eine gemäßigte, zur Kooperation mit den Herrschen-

369  Im Gegensatz zur bisherigen Praxis behandelte der Bericht die bilateralen Beziehungen so gut wie gar nicht. 370  Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Oktober 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 53). Bereits zwei Monate zuvor, zur Zeit der Ausreise der Botschaftsflüchtlinge, hatte sich der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU Volker Rühe besonders anerkennend über die Rolle der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei in der Umbruchszeit ausgesprochen: „Ohne die Reformkräfte der MSZMP wäre es in Ungarn nicht zu tiefgreifenden Reformen gekommen und es könnten keine anderen Parteien tätig sein.“ (Magyar Szocialista Munkáspárt Központi Bizottsága. Nemzetközi Pártkapcsolatok Osztálya. Jelentés Volker Rühe magyarországi látogatásáról [Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischn Arbeiterpartei. Abteilung für Internationale Parteibeziehungen. Bericht über den Ungarn-Besuch von Volker Rühe] [August 1989]; MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 549–555, hier fol. 551–552).

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 Die politisch-diplomatischen Beziehungen

den bereite Strömung und in eine radikale Richtung unterteile.371 Mit Blick auf die zukünftigen Wahlen stellt der Bericht fest: „Die Parteiengliederung nach heutigem Stand bietet die Voraussetzungen für die Entwicklung eines Mehrparteiensystems mit regierungsfähigen Gruppierungen.“372

Positiv äußerte sich der Halbjahresbericht auch zur Entwicklung der Medienlandschaft, wobei er – trotz des faktischen Übergewichts von Regierung und Partei – allgemein feststellte, „dass sich die Pressefreiheit in Ungarn weiter gefestigt“ habe. Darüber hinaus konstatierte die Budapester Diplomatie auch „Anzeichen einer Wende“ in der Kulturpolitik und bemerkte, dass sich unter Kultusminister Ferenc Glatz „auch Umrisse einer neuen kulturpolitischen Konzeption erkennen“ ließen, die in erster Linie „durch eine Dezentralisierung und die zunehmende Tendenz, das Recht auf Selbstverwaltung einzuräumen“, gekennzeichnet seien. Ebenfalls positiv wurde vermerkt, dass die „neue kulturpolitische Führung“ auf einen „Ausbau der Fremdsprachenkenntnisse“ setze und das Russische als Pflichtfach durch westliche Sprachen ablösen wolle. Während sich die westdeutsche Diplomatie eingehend mit der politischen Situation in Ungarn befasste, kam es am 14. Oktober 1989, eine Woche nach dem Gründungsparteitag der Ungarischen Sozialistischen Partei, zu einem Treffen des Vorsitzenden Rezső Nyers mit dem Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Nachdem die SPD-Führung im Sommer 1989 noch ihr Interesse an einer Vertiefung der Beziehung zwischen beiden Parteien demonstriert und der MSZMP politische Unterstützung hinsichtlich der Parlamentsarbeit und der Tätigkeit des Parteiapparats sowie „technische“ Ratschläge für den Wahlkampf angeboten hatte,373 offenbarte

371  Deutlich skeptischer hatte sich kurz zuvor das Auswärtige Amt in einem Bericht über die sich neubildenden politischen Parteien geäußert: Diese seien „bislang personell, organisatorisch und finanziell überwiegend noch nicht gefestigt“ und hätten eine offene Konfrontation mit der herrschenden Partei vermieden (Bericht des Auswärtigen Amts vom Oktober 1989 zur politischen Situation in Ungarn und zur Lage der politischen Parteien; PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 50). Welch großes Interesse im letzten Drittel des Jahres 1989 an den neuen Parteien in Ungarn seitens des Auswärtigen Amts bestand, zeigt auch die Tatsache, dass die Bonner Diplomatie und Politik nun Gespräche mit den oppositionellen Kräften, darunter auch mit der ungarischen Sozialdemokratie als potentielle Konkurrentin zur Ungarischen Sozialistischen Partei, suchte (Aktenvermerk des Auswärtigen Amts vom 5. September 1989 über ein Gespräch mit zwei Vertretern der reaktivierten Sozialdemokratischen Partei Ungarns; PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 45). 372  Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Oktober 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 53). 373  Magyar Szocialista Munkáspárt Központi Bizottsága. Nemzetközi Pártkapcsolatok Osztálya. Jelentés Nyers Rezső elvtárs NSZK-beli látogatásáról [Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Abteilung für Internationale Parteibeziehungen. Bericht über den BRD-Besuch von



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sich nach der Gründung der neuen Partei wachsende Distanz der bundesdeutschen Sozialdemokraten zu den ungarischen Sozialisten.374 Obwohl bei dem Treffen beide Seiten die Absicht unterstrichen, die Beziehungen weiter zu pflegen bzw. eine Zusammenarbeit zwischen der MSZP und der SPD einzuleiten, stellte sich die SPD-Führung – offenbar auch vor dem Hintergrund des unklaren politischen Profils der neuen Partei und eines vermeintlichen Erstarkens der ungarischen Sozialdemokraten375 – in einer entscheidenden Frage gegen die ungarischen Sozialisten, nämlich bezüglich des Beitritts zur Sozialistischen Internationale: „Reagierend auf die Aufnahme von Beziehungen zwischen der MSZP und der Sozialistischen Internationale erklärte Dr. Vogel, dass im Allgemeinen in jedem Land nur eine Partei Mitglied der Sozialistischen Internationale sein könne. Mit Blick auf Ungarn sei die Mitgliedschaft der Sozialdemokratischen Partei niemals beendet worden, der Platz der ungarischen Vertretung sei also besetzt.“376

In Bezug auf ein persönliches Gespräch mit Willy Brandt, dem Vorsitzenden der Sozialistischen Internationale, stellte der damalige ungarische Botschafter in Bonn diese parteipolitische „Neuorientierung“ der SPD, die sich im Herbst 1989 abzeichnete und 1990 praktisch zu einem Bruch führen sollte, in seinen Erinnerungen mit deutlichen Worten dar: „Es schien, als hätten alle Personen an Wichtigkeit verloren, die jahrzehntelang die einzigen offiziellen Partner der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Osteuropa waren. Die SPD war nur bereit, einseitig die wieder gegründete Sozialdemokratische Partei Ungarns zu unterstützen; […] Die Führung der SPD ließ ihre früheren wichtigen ungarischen Partner praktisch im Stich.“377

Genossen Rezső Nyers] [24. Juni 1989] (MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 481–485, hier fol. 484). 374  Magyar Szocialista Párt. Országos Iroda. Emlékeztető Nyers Rezső elvtárs Dr. Hans-Jochen Vogellal folytatott megbeszéléséről [Ungarische Sozialistische Partei. Landesbüro. Promemoria über die Unterredung von Genossen Rezső Nyers mit Dr. Hans-Jochen Vogel] [16. Oktober 1989] (MNL OL, 288. f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 575–581) (= Dokument 51). 375  In völliger Verkennung der (überaus schwachen) sozialen Basis seiner Partei hatte ein Präsidiumsmitglied der Sozialdemokratischen Partei Ungarns Anfang September gegenüber der Deutschen Presseagentur im Hinblick auf die kommenden freien Parlamentswahlen angekündigt, seine Partei strebe „die Alleinregierung oder eine starke Opposition“ an (Meldung der Deutschen Presseagentur, dpa/4.9.89/2050/digl11). 376  Magyar Szocialista Párt. Országos Iroda. Emlékeztető Nyers Rezső elvtárs Dr. Hans-Jochen Vogellal folytatott megbeszéléséről [Ungarische Sozialistische Partei. Landesbüro. Promemoria über die Unterredung von Genossen Rezső Nyers mit Dr. Hans-Jochen Vogel] [16. Oktober 1989] (MNL OL, 288. f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 575–581, hier fol. 579) (= Dokument 51). 377  Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf, S. 341. In diesem Zusammenhang stellt Horváth auch fest: „Es war kaum ein Zufall, dass das Budapester Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung als letztes geöffnet wurde.“ (Ebenda).

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 Die politisch-diplomatischen Beziehungen

Die politischen Wandlungsprozesse in Ungarn sollten aber nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf die Parteibeziehungen im Speziellen und auf das westdeutschungarische Verhältnis im Allgemeinen haben. Der ungarische Transformationsprozess und insbesondere die damit – wie gezeigt – in engster Verbindung stehende Grenzöffnung vom 11. September 1989 hatten, wie die bundesdeutsche Botschaft in Budapest bereits Ende Oktober 1989 feststellte, auch Folgen für den „zweiten“ deutschen Staat: „Ungewollt hat Ungarn mit seiner humanitären Geste [der Grenzöffnung] auch eine der Ursachen für die Ende Oktober [1989] ausgelösten Veränderungen in der DDR gesetzt (sic!).“378

Noch eindeutiger sprach sich rückblickend Kanzlerberater Horst Teltschik aus: „Die Entscheidung der Ungarn zur Öffnung der Grenze bedeutete das Ende der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. […] Der Prozess, der zum Verschwinden der DDR führte, wurde auf alle Fälle von Ungarn in Gang gebracht.“379

Die Entwicklungen in Ostdeutschland wiederum sollten die ungarische Außenpolitik vor gänzlich neue Herausforderungen stellen.

4.4 D  ie westdeutsch-ungarischen Beziehungen nach der Wende in Ungarn und im Vorfeld der deutschen Vereinigung (Herbst 1989 bis Herbst 1990) 4.4.1 D  ie Politik der „geschäftsführenden“ Németh-Regierung, die innenpolitischen Entwicklungen in der Republik Ungarn und die Bonner Reaktionen Nachdem der politische Transformationsprozess in staatsrechtlichem Sinne mit dem Inkrafttreten der „Übergangsverfassung“ am 23. Oktober 1989 im Wesentlichen abgeschlossen war, implementierte die „geschäftsführende“ Nemeth-Regierung380 in den folgenden sechs Monaten, meist in Zusammenwirken mit dem Parlament, eine Reihe von Maßnahmen, die – ganz im Sinne der Fortführung der „Wende von innen“

378  Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Oktober 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 53). 379  Teltschik, Az NDK eltűnéséhez vezető folyamatot Magyarország indította el, S. 231. 380  Mit der Auflösung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei und aufgrund der Tatsache, dass die neue Ungarische Sozialistische Partei sich erst in der Aufbauphase befand, fehlte der Németh-Regierung im Grunde der „parteimäßige Unterbau“.



Herbst 1989 bis Herbst 1990 

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– bezweckten, die neue politische Ordnung zu konsolidieren, die Wirtschaft zu stabilisieren und die ökonomische Umgestaltung im Sinne der Markwirtschaft weiterzuführen.381 Zur institutionellen Konsolidierung des politischen Systems initiierte sie – unter anderem – die Ausarbeitung des Gesetzes über den Staatlichen Rechnungshof, das Ende des Jahres 1989 vom Parlament verabschiedet wurde.382 Dem Staatlichen Rechnungshof, der am 1. Januar 1990 seine Tätigkeit aufnahm, oblag die Aufgabe, unter der Aufsicht des Parlaments und unabhängig von der Regierung die Einnahmen und Ausgaben des Staates zu kontrollieren sowie über die Verwendung des Staatsvermögens zu wachen. Außerdem sorgte die Németh-Regierung dafür, dass das Verfassungsgericht, nachdem sein Präsident László Sólyom und die – vorläufig – fünf Richter vom Parlament gewählt worden waren, plangemäß zum Jahresbeginn 1990 seine Tätigkeit aufnehmen konnte. Und schließlich führte die Regierung auch die bereits früher begonnenen Arbeiten am Gesetz über die örtlichen Selbstverwaltungen, am Gesetz über die Wahl der Abgeordneten der örtlichen Selbstverwaltungen und der Bürgermeister sowie an einer entsprechenden Verfassungsänderung fort. Die Gesetze sollten allerdings erst nach dem Regierungswechsel vollendet und schließlich Anfang August 1990 vom Parlament verabschiedet werden. Zur Weiterführung der ökonomischen Wende verabschiedete das Parlament auf Veranlassung der Németh-Regierung Ende 1989/ Anfang 1990 mehrere grundlegende Rechtsnormen, darunter das Gesetz über die Einzelunternehmer, das die bisherigen Bestimmungen vereinfachte und vereinheitlichte,383 sowie das Börsengesetz, das den Wertpapierhandel, die Rolle der Börse sowie die staatliche Aufsicht über die Börsentätigkeit regelte.384 In Zusammenhang mit der beginnenden Privatisierung kam der Vorbereitung und Verabschiedung des Gesetzes über die Staatliche Vermögensagentur (ÁVÜ) besondere Bedeutung zu.385 Aufgabe der – bereits im Umwandlungsgesetz vorgesehenen – Institution, die am 1. März 1990 ihre Tätigkeit begann, sollte es sein, unter der Kontrolle des Parlaments die Eigentumsrechte des Staates wahrzuneh-

381  Siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 179–182. 382  1989. évi XXXVIII. törvény az Állami Számvevőszékről [Gesetz Nr. XXXVIII des Jahres 1989 über den Staatlichen Rechnungshof]. In: Törvények és rendeletek hivatalos gyűjteménye 1989, Bd. 1, S. 196–200. 383  1990. évi V. törvény az egyéni vállalkozásról [Gesetz Nr. V des Jahres 1990 über die Einzelunternehmung] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 13, 13. Februar 1990, S. 219–221). 384  1990. évi VI. törvény egyes értékpapírok nyilvános forgalomba hozataláról és forgalmazásáról, valamint az értékpapírtőzsdéről [Gesetz Nr. VI des Jahres 1990 über das Inverkehrbringen und den Vertrieb einzelner Wertpapiere sowie über die Wertpapierbörse] (ebenda, S. 228–243). 385  1990. évi VII. törvény az Állami Vagyonügynökségről és a hozzá tartozó vagyon kezeléséről és hasznosításáról [Gesetz Nr. VII des Jahres 1990 über die Staatliche Vermögensagentur und über die Verwaltung und Verwertung des ihr zugehörigen Vermögens] (ebenda, S. 263–268); siehe auch Sárközy, Das Privatisierungsrecht, S. 197–213.

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men und die (teilweise) Privatisierung seiner Unternehmen durchzuführen. Mit dem Gesetz sollten auch Vorkehrungen getroffen werden, um unerwünschten Entwicklungen und Missbräuchen, zu denen es während der sogenannten spontanen Privatisierung386 in der zweiten Jahreshälfte 1989 gekommen war, vorzubeugen. Und vor dem Hintergrund der weiterhin kritischen Wirtschaftslage387 und des massiven Drucks des Internationalen Währungsfonds, der eine Anpassung des Lebensstandards an die Produktivität als Voraussetzung für weitere Kredite forderte, bereitete die NémethRegierung außerdem eine Reihe von Gesetzen zur Einführung neuer Steuern bzw. zur Steuererhöhung sowie einen rigiden Sparhaushalt für das Jahr 1990 vor. Sowohl die Steuergesetze388 als auch das Budgetgesetz389 wurden schließlich, nach heftigen Diskussionen im Parlament, Ende des Jahres 1989 angenommen. In Bezug auf die juristische Vergangenheitsbewältigung ließ die Regierung von Miklós Németh zwei „Aufhebungsgesetze“ ausarbeiten, mit denen der Prozess der strafrechtlichen Rehabilitierung von Personen, die Opfer der kommunistischen Justiz geworden waren, eingeleitet wurde. Das Gesetz über die Wiedergutmachung der Verurteilungen in Verbindung mit dem Volksaufstand von 1956, das am 1. November 1989 in Kraft trat, erklärte die Urteile für politische Straftaten, die zwischen dem 23. Oktober 1956 und dem 4. April 1963 in Zusammenhang mit der „Konterrevolution“ verhängt worden waren, für ungültig.390 Das Gesetz über die Nichtigerklärung der gesetzwidrigen Urteile zwischen 1945 und 1963 hob – da man eine individuelle Überprüfung der zahlreichen, politisch motivierten Urteile für praktisch unmöglich hielt – alle Urteile wegen Rechtsverstößen aus diesen Jahren auf.391 Neben der strafrechtlichen Rehabi-

386  Siehe hierzu Sárközy, Das Privatisierungsrecht, S. 202–204. 387  Ausführlich zur Wirtschaftslage Ungarns im Herbst 1989 siehe den Politischen Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Oktober 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 53). 388  Diesbezüglich sei insbesondere auf folgende Rechtsnormen hingewiesen: 1989. évi XL. ­törvény az általános forgalmi adóról [Gesetz Nr. XL des Jahres 1989 über die allgemeine Umsatzsteuer]. In: Törvények és rendeletek hivatalos gyűjteménye 1989, Bd. 1, S. 201–212; 1989. évi XLV. törvény a magánszemélyek jövedelemadójáról [Gesetz Nr. XLV des Jahres 1989 über die Einkommenssteuer für Privatpersonen]. In: ebenda, S. 245–260; 1989. évi XLIV. törvény a vállalkozási nyereségadóról szóló 1988. évi IX. törvény módosításáról [Gesetz Nr. XLIV des Jahres über die Änderung von Gesetz Nr. IX des Jahres 1988 über die Unternehmensgewinnsteuer]. In: ebenda, S. 234–237; 1989. évi LI. törvény a fogyasztási adóról és a fogyasztói árkiegészítésről [Gesetz Nr. LI des Jahres 1989 über die Verbrauchssteuer und über die Ergänzung der Verbraucherpreise]. In: ebenda, S. 310–311. 389  1989. évi L. törvény a Magyar Köztársaság 1990. évi állami költségvetéséről [Gesetz Nr. L des Jahres 1989 über den Staatshaushalt des Jahres 1990 der Republik Ungarn]. In: ebenda, S. 290–293. 390  1989. évi XXXVI. törvény az 1956-os népfelkeléssel összefüggő elítélések orvoslásáról [Gesetz Nr. XXXVI des Jahres 1989 über die Wiedergutmachung von Urteilen in Verbindung mit dem Volksaufstand von 1956]. In: ebenda, S. 193. 391  1990. évi. XXVI. törvény az 1945 és 1963 közötti törvénysértő elítélések semmissé nyilvánításáról [Gesetz Nr. XXVI des Jahres 1990 über die Nichtigerklärung von gesetzwidrigen Urteilen aus den Jahren zwischen 1945 und 1963] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 29, 31. März 1990, S. 605–606).



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litierung setzten unter der Németh-Regierung auch soziale Ausgleichsleistungen für Opfer von Gewaltmaßnahmen ein, die nach dem Zweiten Weltkrieg, während der Ära Rákosi und im Zuge der Niederschlagung des Volksaufstandes erfolgt waren.392 Und zur Entideologisierung und Entpolitisierung der Arbeitswelt diente eine Änderung des Arbeitsgesetzbuches, die eine politische Diskriminierung im Rahmen des Arbeitsverhältnisses verbot.393 Im Bereich der Kultuspolitik kam dem Gesetz über die Gewissens- und Glaubensfreiheit sowie über die Kirchen, das unter der Leitung von Kultusminister Ferenc Glatz ausgearbeitet und im Januar 1990 vom Parlament angenommen worden war,394 eine herausragende Rolle zu. Dieses bestimmte zum einen die freie Ausübung der Gewissens- und Religionsfreiheit und setzte gesetzliche Garantien zur ungestörten Ausübung dieser Freiheitsrechte fest. Zum anderen regelte es die Voraussetzungen für die Registrierung und Tätigkeit der Kirchen. Ihre gerichtliche Eintragung wurde für den Fall, dass ihre Zielsetzungen und geplanten Aktivitäten nicht gegen die Rechtsordnung verstießen, obligatorisch. Das Gesetz ermöglichte den Kirchen überdies, konfessionellen Unterricht zu erteilen und ihre inneren Strukturen frei zu wählen. Nachdem Glatz bereits Mitte November 1989 eine „Unterrichtspolitische Konzeption“, die – unter anderem – eine Entideologisierung und Entpolitisierung des Schulunterrichts vorsah,395 dem zuständigen Parlamentsausschuss vorgestellt hatte, verabschiedete das Parlament am 1. März 1990 darüber hinaus eine Änderung des Unterrichtsgesetzes.396 In dieser wurden die „sozialistische Verpflichtungen“ im Schulbereich gestrichen,397 der Kompetenzbereich des Kultusministers zugunsten der Bildungsinstitutionen stark eingeschränkt und es natürlichen und juristischen Personen, insbesondere Kirchen und Stiftungen, erlaubt, im Bereich von Erziehung und Unterricht

392  Näheres hierzu siehe Georg Brunner/ Gábor Halmai, Die juristische Bewältigung des kommunistischen Unrechts in Ungarn. In: Georg Brunner (Hrsg.), Juristische Bewältigung des kommunistischen Unrechts in Osteuropa und Deutschland. Berlin 1995, S. 9–40, hier S. 32–33. 393  1989. évi XLI. törvény a Munka Törvénykönyvéről szóló 1967. évi II. törvény módosításáról [Gesetz Nr. XLI des Jahres 1989 über die Änderung von Gesetz Nr. II des Jahres 1967 über das Arbeitsgesetzbuch]. In: Törvények és rendeletek hivatalos gyűjteménye 1989, Bd. 1, S. 227. 394  1990. évi IV. törvény a lelkiismereti és vallásszabadságról, valamint az egyházakról [Gesetz Nr.  IV des Jahres 1990 über die Gewissens- und Glaubensfreiheit sowie über die Kirchen] (Magyar ­Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 12, 12. Februar 1990, S. 205–209) (= Dokument 62). 395  Siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Vom Reformsozialismus zur Systemtransformation, S. 319–320. 396  1990. évi XXIII. törvény az oktatásról szóló 1985. évi I. törvény módosításáról [Gesetz Nr. XXIII des Jahres 1990 über die Änderung von Gesetz Nr. I des Jahres 1985 über den Unterricht] (Magyar Köz­ löny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 22, 13. März 1990, S. 454–459). 397  In diesem Sinne wurde bereits in der Einleitung erklärt: „In der Republik Ungarn dient der Unterricht der Aneignung und Erweiterung der Allgemeinbildung und der Fachkenntnisse sowie der Erziehung der Jugend und der lernenden Erwachsenen im Geiste von Demokratie und Humanismus.“ (Ebenda, S. 454).

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aktiv zu werden. Besonderes Augenmerk legte das Kulturministerium auch weiterhin auf die „Wende“ im Sprachunterricht, wobei insbesondere die Ablösung des Russischen durch die westlichen Fremdsprachen Deutsch und Englisch im Mittelpunkt stand.398 Das vordringliche Ziel der ungarischen Außenpolitik war es in dieser Phase, ihre neugewonnene Entscheidungs- und Handlungsfreiheit, die sich insbesondere bei der Entscheidung zur Grenzöffnung offenbart hatte, gegenüber der Sowjetunion auch zukünftig abzusichern.399 Die ungarische Führung war sich nämlich – wie Gyula Horn später feststellte – bewusst, dass der „Faktor Moskau“ auch an der Wende von den 1980er zu den 1990er Jahren noch immer eine herausragende Rolle spielte: „Bei der Wahrung unserer Souveränität war der wichtigste Faktor natürlich die Außenpolitik der Gorbatschow-Führung bzw. die Frage, ob und inwieweit sie bereit sein würde, unsere Selbstständigkeit zu akzeptieren.“400

Zur Sicherung des in den vorangegangenen Jahren gewonnenen außenpolitischen Spielraums bzw. der beträchtlichen Souveränitätserweiterung kam einer Frage herausragende Bedeutung zu, nämlich dem vollständigen Abzug der Roten Armee aus Ungarn. Nachdem der Abzug aufgrund der Fortschritte im Abrüstungsprozess der Supermächte möglich geworden war, ging es den ungarischen Außenpolitikern nun darum, diesen möglich schnell herbeizuführen. Diese Absicht sollte auch von Erfolg gekrönt sein: Nachdem es der ungarischen Diplomatie im Vorjahr gelungen war, einen Teilabzug der sowjetischen Streitkräfte aus Ungarn zu erreichen, begannen am 1. Februar 1990 ungarisch-sowjetische Verhandlungen über den vollständigen Abzug der Roten Armee. Bereits nach anderthalb Monaten führten diese Gespräche zum Abschluss eines entsprechenden Regierungsabkommens. Der am 10. März 1990 unterzeichnete Vertrag sah vor, dass die Rote Armee bis Mitte 1991 Ungarn verlassen sollte.401 Mit diesem Vertrag bzw. mit dem Abzug der sowjetischen Truppen wurde

398  Siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Vom Reformsozialismus zur Systemtransformation, S. 319–320. 399  Vgl. Horn, Freiheit, S. 338. Die Notwendigkeit, auch Einmischungsversuchen der reformfeindlichen Regime in Ostdeutschland, Rumänien, Bulgarien und in der Tschechoslowakei, die Ungarn einen „Verrat des Sozialismus“ vorwarfen, begegnen zu müssen, verschwand mit deren Sturz im November/ Dezember 1989. 400  Horn, Freiheit, S. 338. Der Bedeutung der Sowjetunion für Ungarn war sich auch das Auswärtige Amt bewusst: „Die SU [Sowjetunion] ist nach wie vor Ungarns wichtigster Partner. Im Zuge des ung. [ungarischen] Reformprozesses ist die Abhängigkeit von der SU nicht geringer geworden. Die Unterstützung durch Moskau ist für den Reformkurs der ung. Führung von grundlegender Bedeutung […]. Beide Länder sind auf allen Gebieten – politisch, militärisch, wirtschaftlich und kulturell – eng miteinander verbunden.“ (Auswärtiges Amt, Referat 214. Bericht über den Stand der ungarisch-sowjetischen Beziehungen. Bonn, November 1989; PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.945 E). 401  Näheres zur Frage des Abzugs der sowjetischen Truppen und zum (ungarischsprachigen) Wortlaut des Abkommens siehe Zoltán Sz. Bíró, A szovjet csapatok kivonása Magyarországról [Der Abzug



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letztlich auch eine wesentliche Grundlage für eine „Einbettung“ Ungarns in die westliche Welt geschaffen. Die zweite Priorität der ungarischen Außenpolitik in dieser Phase bildeten dementsprechend auch „konkrete Schritte zum Anschluss an Westeuropa“,402 das heißt, der Ausbau entsprechender institutionell-vertraglicher Beziehungen. Mitte November 1989 reichte Ungarn so einen Antrag auf Vollmitgliedschaft im Europarat ein und wurde bereits im folgenden Jahr, als erster Staat des einstigen „Ostblocks“, Vollmitglied der Organisation. Auch bezüglich des Verhältnisses zur Europäischen Gemeinschaft konnte die ungarische Diplomatie Ende des Jahres 1989 besondere Erfolge verzeichnen: Nach langen Jahre eines zögerlich-hinhaltenden Auftretens Brüssels gegenüber Ungarn zeichnete sich nun, vor dem Hintergrund der ungarischen Entscheidungen vom Sommer/ Herbst 1989, ein grundlegender Wandel ab. Diesbezüglich berichtete Gyula Horn in seinen Memoiren: „So war es uns binnen weniger Wochen gelungen, mit dem 1. Januar 1990 eine Wende im Verhältnis zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Ungarn herbeizuführen. Von diesem Zeitpunkt an beseitigte Brüssel praktisch alle Hindernisse, die den ungarischen Produkten beim Zugang zum EG-Markt im Wege standen. Jacques Delors und andere bemühten sich nachdrücklich um eine nähere Anbindung Ungarns an die Europäische Gemeinschaft.“403

Ergebnis dieses Prozesses sollte es sein, dass im April 1990 beim Dubliner Gipfeltreffen des Europäischen Rats der Vorschlag für einen Assoziierungsvertrag mit Ungarn vorgelegt wurde, im Herbst 1990 von der Europäischen Kommission entsprechende Vorbereitungsgespräche eingeleitet wurden und Ungarn schließlich am 16. Dezember 1991 – zusammen mit Polen und der Tschechoslowakei – das Assoziierungsabkommen unterzeichnen konnte.404 Vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklungen Ende 1989/ Anfang 1990 ging die ungarische Diplomatie unter Gyula Horn dann sogar dazu über, nicht nur die bislang noch verworfene Neutralität Ungarns ins Auge zu fassen, sondern sogar mit dem Gedanken einer militärischen Westinte­ gration zu spielen. Während im Bonner Außenministerium Mitte Februar 1990 davon ausgegangen wurde, dass es für Ungarn nicht zweckmäßig sei, aus dem „Ostblock“ auszuscheiden,405 verkündete Gyula Horn am 20. Februar 1990, dass sich Ungarn im

der sowjetischen Truppen aus Ungarn]. In: História 31 (2009), H. 5/6, S. 3–10; siehe auch Horn, Freiheit, S. 348–350; Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 231–232. Tatsächlich verließen die letzten sowjetischen Einheiten Ungarn am 16. Juni 1991. 402  Horn, Freiheit, S. 338. 403  Ebenda, S. 343. 404  Ausführlich hierzu siehe Hargita, Vissza Európába, S. 145–163. 405  Bericht eines Agenten des ungarischen Geheimdienstes über eine Besprechung im Bonner Außenministerium über das Verhältnis der Bundesrepublik zu Osteuropa auf der Grundlage eines persönlichen Gesprächs mit dem westdeutschen Diplomaten Martin Hecker am 9. Februar 1990 (ÁBTL, 1. 11. 4. 2122/90/L, fol. 1).

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Interesse seiner Sicherheit in absehbarer Zeit der NATO anschließen müsse.406 Mit dieser weitreichenden Äußerung befasste sich auch die Bonner Politik: Laut einem Telegramm des ungarischen Botschafters in Bonn wurde die Stellungnahme Horns nicht als innenpolitisch motivierter Wahlkampfzug gewertet, sondern als Hinweis darauf, dass für Ungarn langfristig, mit dem Zerfall des Warschauer Pakts, weder eine Anlehnung an die Sowjetunion noch die Neutralität vorteilhaft sei, sondern nur die NATO-Mitgliedschaft.407 Eine wesentliche Rolle in der ungarischen Außenpolitik spielte währenddessen – neben dem Ausbau der bilateralen Beziehungen zu den westeuropäischen Staaten und insbesondere zur Bundesrepublik (siehe unten) – auch die Normalisierung der Beziehungen zu Rumänien.408 Diesbezüglich schienen sich durch den Sturz des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescu neue Perspektiven zu eröffnen. Trotz angestrengter Bemühungen der ungarischen Diplomatie409 gelang Budapest hier allerdings kein Durchbruch: Insbesondere in der Frage der ungarischen Minderheit scheiterte so auch die Németh-Regierung an der weiterhin starren Haltung Bukarests. Wie bisher, so beobachtete die Bonner Politik auch nach dem Sturz des rumänischen Diktators das ungarisch-rumänische Verhältnis und die Situation der Minderheiten in Rumänien. Neben der Regierung verurteilten auch die Fraktionen von SPD und FDP die dortigen Minderheitenkonflikte, die sich vor allem bei den gewaltsamen Ereignissen in Târgu Mureș (Marosvásárhely) offenbart hatten, hoben die Verantwortung der neuen rumänischen Führung für die Geschehnisse hervor und stellten sich hinter die „berechtigten Forderungen der ungarischen Minderheiten“ nach Nationalitätenautonomie und ungarischem Sprachunterricht.410 Während die Regierung nach der Proklamation der Republik Ungarn ihre Politik der Konsolidierung des Systemwechsels und der immer offensichtlicheren Westorientierung mit großem Elan und Erfolg fortsetzte, kam es in den letzten beiden Monaten des Jahres 1989 zu Entwicklungen, die einen „neuen Wind“ in der ungarischen Innenpolitik ankündigten. Bereits im Oktober 1989 hatte zwei radikale Oppositionsbewe-

406  Vgl. Baráth, Mit dem Gesicht nach Westen (in Vorbereitung). 407  Telegramm von Botschafter István Horváth an das Außenministerium in Budapest vom 28. Februar 1990. In: Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 277–280 (einschließlich Faksimile). 408  Ausführlich hierzu siehe Horn, Freiheit, S. 351–362. 409  Siehe exemplarisch Dr. Horn Gyula külügyminiszer levele Románia külügyminiszteréhez ­[Schreiben von Außenminister Dr. Gyula Horn an den Außenminister Rumäniens] [31. März 1990]. In: Magyar Külpolitikai Évkönyv 1990 [Ungarisches Außenpolitisches Jahrbuch 1990]. Budapest 1990, S. 125–127. Zum (deutsch- und ungarischsprachigen) Wortlaut siehe Herder-Institut (Hrsg.), Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www. herder-institut.de/go/YQ-dc9bba (Zugriff: 21.11.2016). 410  Telegramm des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an das Außenministerium vom 22. März 1990. In: Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 208–209.



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gungen, nämlich der Bund Freier Demokraten (SZDSZ) und der Bund Junger Demokraten (Fidesz), die beide die Rundtisch-Vereinbarungen vom 18. September 1989 nicht unterzeichnet hatten und die dort beschlossene Direktwahl des Staatspräsidenten verhindern wollten, von der neuen Möglichkeit Gebrauch gemacht, eine Volksabstimmung zu initiieren.411 Nachdem es den beiden Parteien – mit Unterstützung der Kleinlandwirtepartei und der Sozialdemokraten – gelungen war, die zur Ausschreibung des Referendums notwendigen 100.000 Unterschriften zu sammeln, kam es am 26. November 1989 zur sogenannten „Vier-Ja-Volksabstimmung“. Bei dem Votum, an dem sich 58,03 Prozent der Wahlbürger beteiligten, sprach sich eine knappe Mehrheit für eine mittelbare Wahl des Staatspräsidenten durch das im Frühjahr zu wählende neue Parlament aus.412 Dieses Ergebnis bedeutete, dass die ursprüngliche Absicht der Németh-Regierung, Imre Pozsgay das Präsidentenamt vor den Parlamentswahlen durch eine Direktwahl im Januar 1990 zu sichern, gescheitert war. Und es signalisierte auch, dass es der radikalen, jede Zusammenarbeit mit den Sozialisten ablehnenden Opposition gelungen war, eine Mehrheit der Bevölkerung für sich zu mobilisieren und sich die politischen Kräfteverhältnisse in Ungarn grundlegend zu wandeln begannen. Nachdem die bundesdeutsche Botschaft in Budapest in ihrem Bericht von Ende Oktober 1989, nach der Ausschreibung der Volksabstimmung, bereits festgestellt hatte, dass es in Ungarn zu einer deutlichen Aktivierung der – bislang politisch weitgehend zurückhaltenden – Bevölkerung gekommen sei und sich die Entwicklung politischer Konturen und „regierungsfähiger Gruppierungen“ abzeichne,413 befasste sich der ungarische Botschafter in Bonn István Horváth in einem Schreiben an Ministerpräsident Miklós Németh Anfang Dezember 1989 eingehend mit den westdeutschen Reaktionen auf die Volksabstimmung.414 Darin hob Horváth hervor, dass in den politischen Kreisen in Bonn oftmals sowohl die Notwendigkeit der Volksabstimmung infrage gestellt als auch ihr Ergebnis heftig kritisiert worden seien. Diesbezüglich wies

411  Siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 182–183; Ripp, Rendszerváltás Magyarországon, S. 488–498; Romsics, Volt egyszer egy rendszerváltás, S. 189–191. 412  Das Referendum war von den beiden Oppositionsparteien geschickt mit der Abstimmung über drei weitere Fragen verbunden worden, die die Regierung bereits zuvor positiv entschieden hatte, nämlich mit der Entscheidung darüber, ob die Arbeitermiliz aufgelöst werden solle (siehe auch Dokument 52), ob die MSZMP bzw. MSZP über ihr Vermögen Rechenschaft ablegen solle und ob Parteiverbände an den Arbeitsplätzen verboten werden sollten. Diese Fragen waren von rund jeweils 95 Prozent der Abstimmenden mit „Ja“ beantwortet worden. Das vierte „Ja“ in der Präsidentenfrage war den Votierenden so gleichsam „in den Mund“ gelegt worden (vgl. Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 182–183). 413  Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Oktober 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung) (= Dokument 53). 414  Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an den ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh vom 4. Dezember 1989 über die Bonner Reaktionen auf die Volksabstimmung vom November 1989. In: Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 255–258 (= Dokument 58).

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der Botschafter darauf hin, dass man in der Bundeshauptstadt der Meinung sei, die radikale Opposition habe mit der Abstimmung die Kompromisslösung am Nationalen Runden Tisch aufgehoben und mit dem Ergebnis „verhindert, dass Ungarn in der Person eines unmittelbar vom Volk gewählten Präsidenten der Republik einen effektiven und handlungsfähigen politischen Führer in dieser krisenhaften Phase […]“ bekommen könne.415

Zwar ist es kaum vorstellbar, dass die Volksabstimmung in Bonn tatsächlich als – wie Horváth feststellte – „antidemokratischer Umweg“ betrachtet wurde,416 zweifellos hatte Bonn aber auch zu diesem Zeitpunkt größtes Interesse an der Wahrung der politischen Stabilität in Ungarn, und sah wohl auch in Imre Pozsgay einen Garanten für diese Stabilität. Das Schreiben des Botschafters offenbart außerdem, dass man in Bonn zwar die nun einsetzende politische Aktivität der ungarischen Bevölkerung positiv vermerkte, andererseits aber auch befürchtete, dass deren Abstimmungsverhalten im Wesentlichen nur – von der radikalen Opposition genährte – Proteststimmen zum Ausdruck bringen würde.417 Aus dem Schreiben von Horváth geht darüber hinaus hervor, dass man in Bonn – trotz der geschilderten negativen Phänomene – auch nach der Volksabstimmung davon überzeugt war, dass die Sozialistische Partei weiterhin eine zentrale politische Bedeutung spielen würde und dass nach den Wahlen eine Koalitionsregierung, die man als wesentlich für die politische Stabilität und Berechenbarkeit in Ungarn betrachtete, gebildet werden könnte. Laut Horváth vertrat der bundesdeutsche Botschafter in Budapest Alexander Arnot gegenüber Außenminister Hans-Dietrich Genscher gar die Meinung, die außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik würden es erfordern, „dass Bonn auch weiterhin in erster Linie der Partner der MSZP“ sei418 – womit Arnot wohl die Németh-Regierung

415  Ebenda, S. 255. 416  Die Abstimmung, die gemäß den verfassungsmäßigen und gesetzlichen Bestimmungen durchgeführt worden war, stellte eindeutig eine Manifestation des Willens der Mehrheit der ungarischen Wahlbürger dar und war somit keineswegs „antidemokratisch“. Dies wurde sicherlich auch in Bonn nicht grundsätzlich bezweifelt. 417  Im August 1989 hatte der CDU-Politiker Volker Rühe während seines Ungarn-Besuchs – laut den Worten des ZK-Abteilungsleiters Imre Szokai – gar die Befürchtung zum Ausdruck gebracht, die Opposition könne mit demagogischen und nationalistischen Slogans die Massen gewinnen und die MSZMP stürzen (vgl. Borhi, Nagyhatalmi érdekek hálójában, S. 428). 418  Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an den ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh vom 4. Dezember 1989 über die Bonner Reaktionen auf die Volksabstimmung vom November 1989. In: Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 255–258 (= Dokument 58). Zur Sympathie der Bundesregierung gegenüber dem „Reformflügel“ der MSZMP bzw. gegenüber der Regierung siehe auch Borhi, Nagyhatalmi érdekek hálójában, S. 428–429.



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meinte.419 Auf alle Fälle bedeutete dies aber, dass die Oppositionsbewegungen als zweitrangige politische Faktoren betrachtet werden sollten. Anfang des Jahres 1990 kam es dann zu einem Vorfall, der einerseits die Position der Ungarischen Sozialistischen Partei und insbesondere die der Németh-Regierung innenpolitisch in besonderem Maße schwächte, andererseits den liberalen Oppositionsbewegungen SZDSZ und Fidesz neuen politischen Auftrieb gab. Aufgedeckt durch Politiker der radikalen Opposition, stellte sich am 5. Januar 1990 heraus, dass die ungarischen Staatssicherheitsbehörden in alter Manier ungarische Oppositionelle und Oppositionsbewegungen verfassungswidrig bespitzelt hatten.420 Diese illegal gesammelten Informationen waren in die täglichen Berichte der Staatssicherheit eingeflossen und an die Regierung sowie an die Führung der Ungarischen Sozialistischen Partei weitergeleitet worden. Obwohl es infolge des sogenannten DonauGate-Skandals zum Rücktritt des zuständigen Abteilungsleiters, des stellvertretenden Innenministers und schließlich auch von Innenminister István Horváth selbst kam, eine parlamentarische Untersuchungskommission eingesetzt, die „Bespitzelungsabteilung“ aufgelöst und ein Gesetz zur provisorischen Neuregelung der Tätigkeit der Staatssicherheitsbehörde und ihrer Kontrolle verabschiedet wurde,421 war der Skandal für das Ansehen der Németh-Regierung äußerst negativ und erregte auch im Ausland Aufsehen. In Budapest erkundigte sich nach Ausbruch des Skandals Botschafter Arnot Mitte Januar 1990 nach den ungarischen Abhörregelungen und demonstrierte damit offensichtliche Bedenken hinsichtlich der Arbeitspraxis der ungarischen Staatssicherheit.422 An der grundsätzlich positiven Beurteilung des ungarischen Transformationsprozesses auf bundesdeutscher Seite änderte dieser Zwischenfall allerdings nichts.423 Dies lag wohl auch daran, dass der ungarische Geheimdienst in den vergangenen Jahrzehnten eine – im Vergleich zur ostdeutschen Staatssicherheit – untergeordnete Rolle gespielt hatte und letztlich keinen manifes-

419  Die Ungarische Sozialistische Partei befand sich zu diesem Zeitpunkt noch in der Aufbauphase, hatte mit inneren Konflikten, die später zum Austritt von Imre Pozsgay und Miklós Németh führten, zu kämpfen und war als tatsächlicher politischer Faktor noch nicht in Erscheinung getreten. 420  Ausführlich hierzu siehe Béla Révész, A „Duna-Gate“ ügy jelentősége a rendszerváltás történetében [Die Bedeutung der „Donau-Gate“-Affäre in der Geschichte des Systemwechsels]. Szeged 2006; siehe auch Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 183–184. 421  1990. évi X. törvény a különleges titkosszolgálati eszközök és módszerek engedélyezésének átmeneti szabályozásáról [Gesetz Nr. X des Jahres 1990 über die übergangsweise Regelung der Genehmigung von besonderen Geheimdienstmitteln und -methoden] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 14, 14. Februar 1990, S. 285–286). 422  Külügyminisztérium. Feljegyzés. Tárgy: NSZK nagykövet érdeklődése a magyar lehallgatási ­szabályozás iránt [Außenministerium. Aufzeichnung. Gegenstand: Erkundigung des Botschafters der BRD nach der ungarischen Abhörregelung] [16. Januar 1990] (MNL OL, XIX-J-1-k 1990, 70. d., ohne Paginierung) (= Dokument 61). 423  Siehe hierzu auch Teltschik, Az NDK eltűnéséhez vezető folyamatot Magyarország indította el, S. 222–224.

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ten Einfluss auf den politischen Umbruch und auf die ungarische Außenpolitik hatte ausüben können.424

4.4.2 D  ie Frage der deutschen Vereinigung und die Reaktionen der ungarischen Medien und Politik Ende 1989/ Anfang 1990 Wenige Wochen nach der ungarischen Grenzöffnung am 11. September 1989, die zu einer anhaltenden ostdeutschen Migrationsbewegung nach Westen führte, „sprang die Flüchtlingskrise auf das Territorium der DDR über“.425 Während die ostdeutsche Führung die offiziellen Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik in Ostberlin vorbereitete, kam es in mehreren Städten der DDR zu Protestkundgebungen gegen die Herrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Diese Aktionen weiteten sich – trotz des gewaltsamen Vorgehens der Staatsmacht gegen die Demonstranten – während der Jubiläumsfeier am 7./8. Oktober 1989 aus, bei denen das Honecker-Regime eine „heile Welt“ vorzuspiegeln versuchte und die „Erfolge“ der DDR feiern ließ. Als es dann im Zuge der Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 zu einer überraschenden „Kapitulation der Staatsmacht“426 vor der Masse der friedlichen Demonstranten kam, setzte in Ostdeutschland – vor dem Hintergrund des Drucks zahlreicher weiterer Massenproteste – ein dynamischer politischer Veränderungsprozess ein. An dessen Anfang stand der Sturz von Erich Honecker als SED-Generalsekretär am 18. Oktober 1989 und der Fall der Berliner Mauer am Abend des 9. November 1989. Mit letzterem Ereignis gelangte die Frage der deutschen Einheit auf die Tagesordnung der deutschen und internationalen Politik und wurde damit auch zu einem zentralen Aspekt der westdeutsch-ungarischen Beziehungen.

424  Das Thema „ungarischer Geheimdienst“ wurde in jüngster Zeit in Ungarn mehrfach aufgegriffen (siehe hierzu exemplarisch Gábor Tabajdi, A III/III krónikája [Chronik der Abteilung III/III]. Budapest 2013; Gábor Tabajdi/ Krisztián Ungváry, Elhallgatott múlt. A pártállam és a belügy. A politikai rendőrség működése Magyarországon 1956–1990 [Verschwiegene Vergangenheit. Der Parteistaat und das Innenressort. Die Tätigkeit der politischen Polizei in Ungarn 1956–1990]. Budapest 2008). Auch wenn seine Tätigkeit durchaus Auswirkungen auf das Leben der bespitzelten Personen und Organisationen hatte, so können doch keine Aktivitäten festgemacht werden, die einen relevanten Einfluss auf den Verlauf des ungarischen Transformationsprozesses und auf das westdeutsch-ungarische Verhältnis gehabt hätten. 425  Rödder, Deutschland einig Vaterland, S. 84. Ausführlich zu den Ereignissen und ihren Hintergründen siehe auch Neubert, Unsere Revolution; Grünbaum, Deutsche Einheit; Kowalczuk, Endspiel; Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch. 426  Hans-Hermann Hertle, Der Fall der Mauer. Die unabsichtliche Selbstauflösung des SED-Staates. Opladen 1999, S. 117.



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Wie Presse, Rundfunk und Fernsehen weltweit, so berichteten auch die ungarischen Medien an hervorgehobener Stelle über den Fall der Berliner Mauer.427 Sowohl in den – zu diesem Zeitpunkt noch staatlichen – Fernseh- und Radioprogrammen als auch in den wichtigsten landesweiten Tageszeitungen428 spielte seitdem die Berichterstattung über die dramatischen Geschehnisse in der DDR, über die politischen Initiativen und Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland sowie über die sehr unterschiedlichen internationalen Reaktionen auf die Vorgänge in den beiden deutschen Staaten429 – neben der ungarischen Innenpolitik – eine zentrale Rolle. Bereits wenige Tage nach dem Mauerfall wies die führende ungarische Tageszeitung Népszabadság am 14. November 1989 als erstes Presseorgan darauf hin, dass mit dem Mauerfall auch die deutsche Frage auf die Tagesordnung der internationalen Politik gerückt sei.430 Und als Bundeskanzler Helmut Kohl am 28. November 1989, zweieinhalb Wochen nach dem Mauerfall, sein „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag verkündete, wurde die Frage der deutschen Einheit in den ungarischen Medien zu einem Dauerthema. Im Mittelpunkt des Zehn-Punkte-Programms,431 das der Bundeskanzler am Morgen dieses Tages – für das In- und Ausland und selbst für den Bundesaußenminister überraschend – im Bundestag verkündete, standen zum einen verschiedene Maßnahmen zur sofortigen bzw. längerfristigen und umfassenden Unterstützung der DDR sowie die Fortführung der Zusammenarbeit mit Ostdeutschland in allen Bereichen, zum anderen das Vorhaben, über die vom neuen ostdeutschen Regierungschef Hans Modrow verkündete „Vertragsgemeinschaft“ hinaus „konföderative Strukturen

427  Zusammenfassend zu den ungarischen Medienreaktionen auf die Ereignisse vom 9. November 1989 siehe das Fernschreiben der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt vom 13. November 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.944 E, ohne Paginierung); hierzu und zum Folgenden siehe auch Andreas Schmidt-Schweizer, Die deutsche Einheit als Herausforderung für Ungarn (in Vorbereitung). 428  Neben Népszabadság (Volksfreiheit), vormaliges Organ der Staatspartei, dann der Ungarischen Sozialistischen Partei, ist hier vor allem auf Magyar Nemzet (Ungarische Nation), Organ der Patriotischen Volksfront, und Népszava (Volksstimme), Zeitung des Landesrats der Gewerkschaft, zu verweisen. Die – auflagenschwachen, zumeist auf Budapest beschränkten – Presseerzeugnisse der Oppositionsbewegungen griffen die Entwicklungen in Deutschland ebenfalls auf, waren aber – verständlicherweise – in erster Linie mit den innerungarischen Ereignissen befasst. 429  Überblicksweise zu den – überraschten, dann zumeist skeptisch-ablehnenden – internationalen Reaktionen in den ersten Wochen und Monaten nach dem Mauerfall siehe Heike Amos/ Tim Geiger, Einleitung. In: Horst Möller u.a. (Hrsg.), Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess. Göttingen 2015, S. 16–24; ausführlich hierzu siehe Zelikow/ Rice, Sternstunden der Diplomatie. 430  Vgl. Népszabadság, 14. November 1989, S. 1. 431  Zum Wortlaut der Rede Kohls am 28. November 1989 siehe das Web-Archiv des Deutschen Bundestags (URL: http://webarchiv.bundestag.de/archive/2009/0109/geschichte/parlhist/dokumente/ dok09.html; Zugriff: 17.09.2016); siehe auch Rödder, Deutschland einig Vaterland, S. 139–142.

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zwischen beiden Staaten in Deutschland“ mit dem längerfristigen Ziel zu schaffen, eine „Föderation, das heißt, eine bundesstaatliche Ordnung in Deutschland“ herbeizuführen, wobei Kohl für die Vereinigung fünf bis zehn Jahre veranschlagte. Darüber betonte das Zehn-Punkte-Programm die Einbettung der deutschen Vereinigung in den internationalen bzw. europäischen Integrations- und Abrüstungsprozess. Trotz dieses „internationalen Rahmens“ stießen die Vorstellungen des Bundeskanzlers – bekanntlich – in dieser Phase auf eindeutige Ablehnung in der Sowjetunion, in Großbritannien und Frankreich, die das Wiedererstehen eines starken Deutschlands in der Mitte Europas befürchteten. Bezüglich des ungarischen Presseechos auf das Zehn-Punkte-Programm teilte die bundesdeutsche Botschaft in Budapest dem Auswärtigen Amt am 1. Dezember 1989 mit, dass die Rede „starken Niederschlag“ in der ungarischen Presse gefunden habe, wobei das internationale Echo „sehr ausführlich wiedergegeben“ worden sei.432 Auf eine eigene Kommentierung sei weitgehend verzichtet worden, und die wenigen Kommentare seien „überwiegend verhalten positiv“. Darüber hinaus machte die Botschaft darauf aufmerksam, dass in der Presse übereinstimmend die Verantwortung der vier Siegermächte, die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion bzw. des Warschauer Pakts und die Europäische Integration als „Hindernisse auf dem Weg zur deutschen Einheit“ genannt, gleichzeitig aber „praktisch keine eigenen, aus ungarischen Interessen abgeleitete Befürchtungen oder Bedenken“ gegenüber einer Vereinigung vorgebracht worden seien. Dieser Sachverhalt war nicht nur aufgrund der erwähnten offenen Ablehnung einer deutschen Vereinigung durch drei der vier Siegermächte erstaunlich, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt nicht abzuschätzen war, wie sich die von Bundeskanzler Kohl vorgesehenen Unterstützungsmaßnahmen für die DDR auf die westdeutschen „Kapazitäten“ zur Unterstützung Ungarns auswirken würden. Die – spätestens seit 1986/1987 – besondere Qualität der westdeutsch-ungarischen Beziehungen und die anhaltende demonstrative – im Folgenden darzulegende – Hilfs- und Unterstützungsbereitschaft der westdeutschen Seite rückte diesbezügliche Bedenken offensichtlich in den Hintergrund der öffentlichen Diskussion in Ungarn. Wie die Botschaft dem Auswärtigen Amt in den folgenden Wochen wiederholt mitteilte, behandelten die ungarischen Medien das Thema „deutsche Einheit“ auch Ende 1989/ Anfang 1990 nicht nur sehr ausführlich, sondern auch überaus sachlich und zurückhaltend sowie zumeist ohne jeden eigenen Kommentar.433 Am 7. Dezember 1989 meldet die Budapester Botschaft beispielsweise:

432  Fernschreiben der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt vom 1. Dezember 1989 über das ungarische Presseecho auf die Zehn-Punkte-Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.729 E, ohne Paginierung) (= Dokument 56). 433  Siehe hierzu die Fernschreiben der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt vom 7. Dezember 1989, 2. Januar 1990 und 1. Februar 1990 (PA AA, ZA 140.729 E, ohne Paginierung).



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Die ungarische „Presse ist zum Thema deutsche Wiedervereinigung bzw. 10-Punkte-Plan des Bundeskanzlers weiterhin auffallend zurückhaltend. Es werden fast ausschließlich Wertungen und Kommentare anderer, d. h. ausländischer Medien, sowie Stellungnahmen ausländischer Politiker wiedergegeben. Die Berichterstattung über die Entwicklungen in der DDR ist dessen ungeachtet ausführlich und sachlich.“434

Gegen Jahresende 1989 trat dann das Interesse von Presse, Rundfunk und Fernsehen in Ungarn an der Frage der deutschen Einheit aufgrund der spektakulären Ereignisse in Verbindung mit dem Sturz von Nicolae Ceauşescu im Nachbarland Rumänien kurzzeitig in den Hintergrund. Aufgrund der weiteren Annäherung der beiden deutschen Staaten435 wurde die Frage der Einheit aber bereits Ende Januar 1990 erneut zu einem zentralen Gegenstand der weiterhin sachlich-zurückhaltenden ungarischen Berichterstattung. Im Falle einer Kommentierung wurde der Vereinigungsprozess – so die bundesdeutsche Botschaft am 1. Februar 1990 – zumeist positiv betrachtet, seine Dynamik hervorgehoben und die Notwendigkeit seiner gesamteuropäischen Einbindung betont: Der „Tenor der Kommentierung zum Thema ‚deutsche Einheit‘ ist überwiegend wohlwollend, aber auch von Erstaunen über die Geschwindigkeit der Entwicklungen geprägt, [die] Frage der Einbindung in die gesamteuropäische Entwicklung wird als entscheidend angesehen“.436

Im Kreise ungarischer Journalisten zeigten sich allerdings seit Februar 1990 auch – oft verklausulierte – Bedenken, vor allem hinsichtlich der zukünftigen Wirtschaftskraft und der eventuellen machtpolitischen Ambitionen des vereinten Deutschlands.437 Ein wirklicher Diskurs entwickelte sich daraus in den ungarischen Medien allerdings auch in den folgenden Monaten nicht. Und auch die Frage konkreter Herausforderungen, vor die Ungarn möglicherweise durch die Einheit gestellt werden könnte, bzw.

434  Fernschreiben der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt vom 7. Dezember 1989 (ebenda). 435  Nachdem bei den Montagsdemonstrationen in der DDR am 11. Dezember 1989 – unter dem Motto „Wir sind ein Volk“ – erstmals massiv der Ruf nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten laut geworden war, begannen am 1. Januar 1990 Regierungsgespräche über die Ausgestaltung einer Vertragsgemeinschaft zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Diese mündeten am 7. Februar 1990 in die Verhandlungen über die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion. Bereits am 30. Januar 1990 hatte zudem Generalsekretär Michail Gorbatschow beim Moskau-Besuch des ostdeutschen Regierungschefs Hans Modrow signalisiert, das Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung zu respektieren, und damit ein sowjetisches Umdenken in der deutschen Frage angedeutet (ausführlich hierzu siehe Rödder, Deutschland einig Vaterland, S. 142–216). 436  Fernschreiben der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt vom 1. Februar 1990 (PA AA, ZA 140.729 E, ohne Paginierung). 437  Fernschreiben der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt vom 13. Feb­ ruar 1990 (ebenda).

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eines entsprechenden Handlungsbedarfs für die ungarische Außenpolitik wurde in der Öffentlichkeit nicht thematisiert. Auch die führenden Vertreter der ungarischen Politik bezogen Ende 1989/ Anfang 1990 nur selten vor der Öffentlichkeit Stellung zur Frage der deutschen Einheit. Dies mag dadurch begründet gewesen sein, dass die ungarische Regierung als nicht unmittelbar betroffene internationale Akteurin erst einmal die weiteren Entwicklungen und vor allem die Reaktionen der einstigen Siegermächte in der Deutschlandfrage abwarten wollte und sich – nach der spektakulären Grenzöffnung vom September 1989 – international nicht unnötig mit prinzipiellen Stellungnahmen profilieren wollte. Ein Dokument, das ein halbes Jahr später, bereits unter einer neuen Regierung, im ungarischen Außenministerium entstand, brachte diese Haltung auf den Punkt: „Ungarn kann nicht zu einem Faktor der Beeinflussung des Vereinigungsprozesses werden, weswegen es nicht zweckmäßig ist, bei prinzipiellen Stellungnahmen selbstständig weiter zu gehen oder dem Prozess irgendwelche Hindernisse in den Weg zu legen.“438

Einer der wenigen ungarischen Spitzenpolitiker, die sich frühzeitig zur deutschen Vereinigung äußerten, war Gyula Horn. Gegenüber dem britischen Radiosender BBC erklärte der Außenminister Mitte November 1989: „Die Wiedervereinigung Deutschlands ist unvermeidlich. Auch wenn sie heute nur als Vermutung in Erscheinung tritt, ist sie mit Blick auf die Geschwindigkeit der in der DDR erfolgenden Veränderungen nicht mehr so hypothetisch.“439

In den Gesprächen ungarischer Spitzenpolitiker mit ihren bundesdeutschen Partnern spielte das Thema „deutsche Einheit“ hingegen eine zentrale Rolle, und zwar bereits seit dem letzten Drittel des Monats November 1989. Die ungarischen Politiker zählten dabei zu den ersten Kräften in der internationalen Politik, die sich grundsätzlich positiv zur deutschen Einheit äußerten.440 Bereits einige Tage vor der Verkündung des Zehn-Punkte-Programms des Bundeskanzlers signalisierte Ministerpräsident Miklós Németh am 23. November 1989

438  Aufzeichnung des ungarischen Außenministeriums über die Auswirkungen der deutschen Vereinigung auf Europa und Ungarn vom 24. Mai 1990 (MNL OL, XIX-J-1-j 1990, 53. d., 0077/28/1990, ohne Paginierung) (= Dokument 65). 439  Horn zitiert in Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 172–173. 440  Zu den wenigen ungarischen Politikern, die der deutschen Vereinigung ablehnend gegenüberstanden, zählte der Vorsitzende der Sozialistischen Partei Rezső Nyers (vgl. ebenda, S. 183). Gegenüber Außenminister Hans-Dietrich Genscher signalisierte Nyers am 24. November 1989 seine Skepsis hinsichtlich der Möglichkeit, die deutsche Einheit auf internationaler Ebene durchzusetzen (Fernschreiben des bundesdeutschen Botschafters in Budapest Alexander Arnot bezüglich des BudapestBesuchs des Bundesaußenministers an das Auswärtige Amt vom 25. November 1989; PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung).



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gegenüber Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, dass er sich „ohne abrupte Veränderung des [internationalen] Kräfteverhältnisses […] ein organisches Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten vorstellen“ könne.441 Und am selben Tag brachte auch der ungarische Außenminister Gyula Horn seine prinzipiell positive Haltung gegenüber der deutschen Einheit zum Ausdruck. Laut einem Vermerk des Auswärtigen Amts äußerte Horn, „eine Wiedervereinigung sei in ungarischen Augen keine Tragödie, sondern das natürliche Begehren eines Volkes. Die Realisierung werde die Realitäten in Europa zu berücksichtigen haben.“442

Neben den führenden ungarischen Regierungspolitikern sprach sich an diesem Tag auch der Vorsitzende der herausragenden national-konservativen Oppositionspartei József Antall im Namen des Ungarischen Demokratischen Forums (MDF) zugunsten der deutschen Einheit aus. Die Haltung des späteren Ministerpräsidenten wurde vom Auswärtigen Amt in einem Bericht vom 1. Dezember 1989 folgendermaßen wiedergegeben: „Das D[emokratische] F[orum] befürworte die Deutsche Einheit und setze sich selbstverständlich für das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes ein, wobei es davon ausgehe, dass die Deutsche Einheit sich im Europäischen Rahmen verwirklichen müsse.“443

Gleichzeitig brachte Antall bei dieser Gelegenheit aber auch die Befürchtung zum Ausdruck, dass Ungarn aufgrund der „dramatischen Entwicklungen“ in Ostdeutschland von der Bundesrepublik „vergessen“ werden könnte. Eine erste ausführlichere öffentliche Stellungnahme zur Frage der deutschen Einheit gab der stellvertretende Ministerpräsident Péter Medgyessy auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos Anfang Februar 1990 ab. Laut einem Fernschreiben der

441  Aktenvermerk des Auswärtigen Amts vom 27. November 1989 über das Gespräch von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung) (= Dokument 55). 442  Vermerk des Auswärtigen Amts vom 27. November 1989 über den Besuch von Bundesminister Genscher in Budapest am 23./24. November 1989, hier: Gespräch mit Außenminister Horn am 23. November 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung). 443  Aufzeichnung des Auswärtigen Amts vom 1. Dezember 1989 über das Gespräch von Bundesminister Hans-Dietrich Genscher mit dem Vorsitzenden des Ungarischen Demokratischen Forums József Antall am 23. November 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung) (= Dokument 57). Diese Haltung bekräftigte Antall auch acht Monate später, wobei er wiederum – wohl auch mit einem gewissen Blick auf die ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten – das „Selbstbestimmungsrecht“ besonders herausstellte (Antall József miniszterelnök beszéde az 1990. évi nagyköveti értekezleten. 1990. július 25. [Rede von Ministerpräsident József Antall auf der Botschafter-Konferenz des Jahres 1990. 25. Juli 1990]. In: Sáringer (Hrsg.), Iratok a magyar külügyminisztérium történetéhez, Bd. 1, S. 117–135, hier S. 123).

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bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt, das sich auf eine Meldung der Ungarischen Nachrichtenagentur (MTI) vom 3. Februar 1990 stützte, äußerte Medgyessy dort Folgendes: „Die deutsche Wiedervereinigung sei ein unvermeidlicher Prozess und [werde] von Ungarn als Realität erachtet. Zunächst sei es aber entscheidend, dass dieser Wandel, der den gesamten politischen und wirtschaftlichen Charakter Europas verändern werde, graduell, ohne Brüche und unter Kontrolle vollzogen werde.“444

In diesem Zusammenhang wies Medgyessy auch darauf hin, dass die von der ungarischen Politik betriebene Regionalkooperation mit Österreich, Jugoslawien und Italien445 bezwecken würde, die Kräfteverhältnisse in Europa gegenüber dem vereinten und starken Deutschland „auszutarieren“. An der grundsätzlichen Befürwortung oder zumindest Akzeptanz der deutschen Vereinigung durch die ungarische Politik sollte sich auch in den folgenden Monaten nichts ändern, auch nicht – wie zu zeigen sein wird – nach der Ablösung der postkommunistischen Németh-Regierung durch das national-konservative Kabinett von Ministerpräsident József Antall Anfang Mai 1990. Den Hintergrund für diese ungarische Haltung bildeten zweifellos die weitgehend konfliktfreie gemeinsame Geschichte, die jüngste dynamische Entwicklung der bilateralen Beziehungen und die – damit verbundene – besondere gegenseitige Sympathie von Deutschen und Ungarn sowie insbesondere die Tatsache, dass Ungarn letztlich keine Interessen hatte, die sich grundsätzlich gegen die Einheit gerichtet hätten. Ganz im Gegenteil: Aufgrund der jüngsten, äußerst positiven Entwicklungen im bilateralen Verhältnis war es ein besonderes Anliegen, im vereinten Deutschland langfristig einen politisch und wirtschaftlich starken, verlässlichen Partner zu haben. Und mit der „Forderung“ der ungarischen Politik und Medien, die Vereinigung dürfe nur kontrolliert und in europäischem Rahmen erfolgen, rannte Ungarn letztlich „offene Türen“ ein, da es – bekanntlich – ein Grundelement des politischen Denkens und Handelns von Bundeskanzler Helmut Kohl und aller maßgeblichen politisch-gesellschaftlichen Kräfte in der Bundesrepublik war, mit dem Prozess der Vereinigung keinen „deutschen Sonderweg“ einzuschlagen, also die deutsche Einheit in einem europäischen „Kontrollrahmen“ und im gegenseitigen Einvernehmen mit den betroffenen bzw. maßgeblichen Kräften in der internationalen Politik herbeizuführen. Welche gewaltige Dynamik der Einigungsprozess im Frühjahr/ Sommer 1990 entwickeln sollte, wurde allerdings Ende 1989/ Anfang 1990 weder von den ungarischen Medien noch von der Politik und Diplomatie voll erkannt. Eine Ausnahme bildete hier

444  Fernschreiben der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt vom 5. Februar 1990 bezüglich der Haltung Ungarns zur deutschen Einheit (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.729 E, ohne Paginierung) (= Dokument 63). 445  Hierbei handelte es sich um die sogenannte Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Alpen-Adria.



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lediglich der ungarische Botschafter in Bonn István Horváth, der bereits Mitte Dezember 1989 – gestützt auf seine Sachkenntnis und breite Informationsbasis – Ministerpräsident Miklós Németh in einem Schreiben auf die zu erwartenden Entwicklungen in der deutschen Frage hinwies, und auch einen entscheidenden Grund für seine „Vorhersage“ nannte, nämlich die sozioökonomische und politische Situation in der DDR: „Unabhängig von […] der Meinung und vom Willen der verschiedenen ost- und westeuropäischen Politiker wird der Prozess des faktischen ‚Zusammenwachsens‘ der beiden deutschen Staaten – dadurch, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu einer tatsächlichen Praxis geworden ist – aufgrund der objektiven Umstände voraussichtlich weitaus schneller verlaufen, als dies von den Außenstehenden angenommen wird. Dieser ‚Prozess des Zusammenwachsens‘, dessen Anzeichen bereits jetzt spürbar sind, beginnt infolge der katastrophalen Lage in der DDR auf sozialem Gebiet. […] Infolge der schwierigen inneren Wirtschaftslage der DDR lastet auf der DDR-Mark (sic!) ein außerordentlich großer Druck. Die Ausweitung der Beziehungen (freies Reisen, Beendigung des Zwangsumtausches usw.) wird in der Praxis die Anerkennung der BRDMark (sic!) als allgemeines Zahlungsmittel erzwingen. Aufgrund dessen wirft sich bereits heute die Notwendigkeit einer Währungsreform auf. Und […] wegen der schweren politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise in der DDR [wird] in der DDR seitens der Bevölkerung immer kraftvoller die Forderung nach Vereinigung der beiden deutschen Staaten zum Ausdruck gebracht. Dieser Prozess ist unserer Meinung nach von außen nur minimal zu beeinflussen.“446

Horváth wies also – zu einer Zeit, als viele deutsche und europäische Politiker noch an einen langfristigen Prozess glaubten bzw. darauf hofften – sehr früh auf die durch die Situation bzw. die Entwicklungen in der DDR begründete Eigendynamik des Vereinigungsprozesses hin. In diesem Zusammenhang machte er die ungarische Führung auch darauf aufmerksam, dass sich Ungarn auf die Herausforderung der deutschen Einheit vorbereiten müsse, und plädierte in diesem Zusammenhang für eine forcierte Entwicklung der Beziehungen zur Bundesrepublik.

4.4.3 D  ie westdeutsch-ungarischen Beziehungen bis zu den freien Parlamentswahlen in Ungarn Nachdem sich – wie gezeigt – bereits im Umfeld der Grenzöffnung vom 11. September 1989 die überaus große Dankbarkeit und Unterstützungsbereitschaft der bundesdeutschen Politik gegenüber Ungarn offenbart hatte, standen die westdeutschungarischen Beziehungen auch in den folgenden sechs Monaten der Amtszeit der Németh-Regierung bzw. während der turbulenten Entwicklungen, die sich in der

446  Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident Miklós Németh vom 11. Dezember 1989. In: Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 259–262, hier S. 259–260 (= Dokument 59).

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deutschen Frage abzeichneten, ganz im Zeichen dieser westdeutschen Grundhaltung. Dies zeigte sich vor allem bei den Ungarn-Besuchen von Bundesaußenminister HansDietrich Genscher und Bundeskanzler Helmut Kohl im November/ Dezember 1989, die weitere Höhepunkte der westdeutsch-ungarischen Besuchsdiplomatie bildeten. Während seines Budapest-Besuchs demonstrierte Hans-Dietrich Genscher insbesondere bei der Tischrede, die er aus Anlass eines Festessens mit dem ungarischen Außenminister Gyula Horn am 23. November 1989 hielt, die besondere Hilfsbereitschaft und tiefe Dankbarkeit Bundesrepublik gegenüber Ungarn und bezweckte damit auch, die ungarische Befürchtung zu zerstreuen, Bonn würde Ungarn aufgrund der Entwicklungen in der DDR „vergessen“. In seiner Rede verwies Genscher auf die bereits mehrjährige tatkräftige westdeutsche Unterstützung für Ungarn sowie auf den Zusammenhang zwischen den sowjetischen, polnischen und ungarischen Reformbzw. Transformationsprozessen und den jüngsten Veränderungen in Ostdeutschland: „Die Bundesregierung hat den ungarischen Reformkurs von Anfang an mit Nachdruck und Tatkraft unterstützt. Sie wird dies auch weiterhin tun. Dies soll durch meinen Besuch und durch den bevorstehenden Besuch des Herrn Bundeskanzler zum Ausdruck gebracht werden. […] Ohne die Reformen in Ihrem Lande und in Polen – zusammen mit denen in der Sowjetunion – hätten auch die Veränderungen in der DDR nicht heranreifen können. Es bleibt das historische Verdienst Ungarns, dass es als erstes Land den Eisernen Vorhang zerschnitten und damit den Blick auf ein einheitliches Europa freigegeben hat. Wir Deutschen werden Ihnen das nie vergessen.“447

Bei seinem Besuch sprach der Bundesaußenminister darüber hinaus auch an, welche weiteren Unterstützungsmaßnahmen Bonn auf der internationalen Ebene zugunsten Ungarns vorsah. So erklärte Genscher gegenüber Gyula Horn, dass sich die Bundesrepublik für die konstruktive Prüfung des – kurz zuvor von Ungarn gestellten – Antrags auf Mitgliedschaft im Europarat in Straßburg sowie dafür einsetzen werde, dass in der Europäischen Gemeinschaft „neue Formen der Kooperation und der Assoziierung gefunden werden, die den besonderen Bedürfnissen Ungarns und anderer Reformstaaten Rechnung tragen.“448 Diese Bestrebungen Bonns sollten – wie bereits gezeigt – schnell Früchte tragen und im folgenden Jahr zu einem weiteren wesentlichen Wandel im Verhältnis der Europäischen Gemeinschaft zu Ungarn führen. Und bei seiner Unterredung mit dem ungarischen Regierungschef betonte Hans-Dietrich Genscher, Bonn werde sich auf Außenministerebene im Kreise des Europäischen Rats in Brüssel am 13. Dezember 1989 dafür einsetzen, dass sich alle Teilnehmerstaaten für die Gründung einer Bank für Europa, die der mittel- und langfristigen Wirtschafts-

447  Rede des Bundesministers des Auswärtigen Hans-Dietrich Genscher anlässlich eines Abendessens mit Außenminister Gyula Horn im Rahmen seines Ungarn-Besuchs am 23. November 1989. In: Der Bundesminister des Auswärtigen. Mitteilungen für die Presse Nr. 1185/89. Bonn, den 24. November 1989. 448  Ebenda, S. 7–8.



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kooperation dienen solle, engagieren.449 Dieses maßgeblich von der Bundesregierung betriebene Projekt sollte ein halbes Jahr später, am 29. Mai 1990, in Paris zur Unterzeichnung des Gründungsdokuments der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) führen.450 Während des Gesprächs mit Miklós Németh wies Genscher darüber hinaus darauf hin, dass bei dem geplanten Außenministertreffen zudem auf den Internationalen Währungsfonds eingewirkt werden solle, seine „große Verantwortung“ zu erkennen. Damit bekräftigte der Bundesaußenminister, dass auf Bonner Initiative der IMF dazu bewegt werden sollte, seine bisher harte Haltung gegenüber Osteuropa bzw. Ungarn bei der Kreditvergabe aufzugeben. Bei seiner Ungarn-Visite traf Hans-Dietrich Genscher auch mit dem Vorsitzenden des Ungarischen Demokratischen Forums József Antall zusammen. Diesem Treffen mit der Führungspersönlichkeit der – ganz offensichtlich – stärksten Oppositionskraft451 war eine entsprechende Empfehlung vorausgegangen, die vom zuständigen Referat im Auswärtigen Amt erstellt worden war. Darin war mit Blick auf die sich – im Zuge der Volksabstimmung vom November 1989 – rasant wandelnden politischen Kräfteverhältnisse in Ungarn und den offensichtlichen Popularitätsverlust der Regierung aufgrund der problematischen Wirtschaftslage Folgendes vorgeschlagen worden: „In dieser Situation, in der nicht abzusehen ist, welche Kräfte sich durchsetzen, sollten wir in unserem politischen Dialog mit Ungarn die verschiedenen, im Einzelnen derzeit nicht absehbaren Optionen offenhalten.“452

Ein Treffen mit Antall wurde darüber hinaus auch deshalb angestrebt, weil man in der Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt – trotz aller Machtfluktuation – letztlich weiterhin mit einer Koalitionsregierung der Ungarischen Sozialistischen Partei und des Ungarischen Demokratischen Forums rechnete, und diese aus Gründen der politischen Stabilität auch für wünschenswert erachtete.453

449  Aktenvermerk des Auswärtigen Amts vom 27. November 1989 über das Gespräch von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung) (= Dokument 55). 450  Näheres zur seit März 1991 tätigen EBRD siehe die Grundsatzdokumente der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (URL: http://www.ebrd.com/downloads/research/guides/basicsde.pdf; Zugriff: 12.12.2016). 451  Das MDF hatte bei allen fünf Nachwahlen für ausgeschiedene Parlamentsabgeordneten im Sommer/ Herbst 1989 die meisten Stimmen erhalten und ging auch aus verschiedenen Meinungsumfragen nicht nur als stärkste Oppositionsbewegung, sondern als stärkste politische Kraft überhaupt hervor (vgl. Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 191–192). 452  Vorlage von Referat 214 des Auswärtigen Amts betreffend den Besuch des Bundesministers in der Republik Ungarn. Bonn, 21. November 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung). 453  Bericht eines Mitarbeiters des ungarischen Geheimdienstes vom 30. November 1989 über ein Ge-

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Während des Treffens von Bundesaußenminister Genscher und dem MDF-Vorsitzenden Antall, das – auch wenn es nur im Rahmen eines „Frühstücks“ erfolgte – eine grundsätzlich gewandelte Einstellung Bonns gegenüber der im Frühjahr 1989 noch als politisch irrelevant betrachteten Opposition signalisierte, erkundigte sich der Bundesaußenminister insbesondere nach der Meinung Antalls zur innenpolitischen Lage Ungarns und zu den politischen Kräfteverhältnissen.454 Antall brachte diesbezüglich seine Besorgnis vor einer politischen Radikalisierung der Bevölkerung zum Ausdruck und plädierte deshalb – ganz in Übereinstimmung mit der Németh-Regierung – für baldige Parlamentswahlen. Vor dem Hintergrund der Zerstrittenheit455 und Desorganisation der Opposition,456 aber in Erwartung eines Wahlsiegs des Demokratischen Forums sprach er sich aus innen- und außenpolitischen Gesichtspunkten für eine „Koalition mit dem Reformflügel der Sozialistischen Partei“ aus. Damit stimmte Antall mit der Position, die auch die Bundesregierung aus Gründen der politischen Stabilität und Berechenbarkeit vertrat, grundsätzlich überein. Dem zweieinhalb Wochen später, vom 16. bis 18. Dezember 1989, stattfindenden offiziellen Staatsbesuch von Bundeskanzler Helmut Kohl kam – wie zwei Jahre zuvor dem Besuch von Ministerpräsident Károly Grósz in der Bundesrepublik – eine ganz besondere Bedeutung im bilateralen Verhältnis zu.457 Der Besuch war auf ungarisches Ersuchen bereits im Frühjahr 1989 für das Ende der zweiten Jahreshälfte 1989 angesetzt worden,458 er erhielt aber durch die Ereignisse vom Sommer/ Herbst 1989 einen besonderen Stellenwert. Ganz in diesem Sinne unterbreitete der ungarische Botschafter in Bonn István Horváth seinem Regierungschef im Vorfeld des Kanzler-Besuchs eine Reihe von Vorschlägen, die der weiteren Intensivierung der westdeutsch-unga-

spräch mit Friedbert Pflügler, politischer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, am 22. November 1989 (ÁBTL, 1. 11. 4. D – V/1989, fol. 2). 454  Aufzeichnung des Auswärtigen Amts vom 1. Dezember 1989 über das Gespräch von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit dem Vorsitzenden des Ungarischen Demokratischen Forums József Antall am 23. November 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung) (= Dokument 57). 455  Nach dem Abschluss der Gespräche am Nationalen Runden Tisch war es, insbesondere bei den politischen Kampagnen vor der Vier-Ja-Abstimmung, zu einer sich verschärfenden Konfrontation zwischen der radikalen Opposition um den Bund Freier Demokraten (SZDSZ) und den gemäßigten, eine Kooperation mit den Kräften um Regierungschef Németh nicht ausschließenden Oppositionellen um das Ungarische Demokratische Forum gekommen (siehe hierzu Ripp, Rendszerváltás Magyarországon, S. 487–498). 456  Mit besonderen organisatorischen Problemen hatte zum Beispiel die Kleinlandwirtepartei zu kämpfen (siehe hierzu Andreas S. Schmidt, Die Unabhängige Kleinlandwirte-Partei im gegenwärtigen Ungarn. Versuch einer politischen „Wiederbelebung“. In: Südosteuropa Mitteilungen, 32 (1992), H.4, S. 281–301, hier S. 286–287). 457  Zum Besuchsverlauf siehe Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf, S. 354–360. 458  Auswärtiges Amt. Unterabteilung Dg 21 der Politischen Abteilung 2. Vermerk über eine Besprechung mit dem stellvertretenden ungarischen Außenminister László Kovács. Bonn, 3. Mai 1989 (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung).



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rischen Beziehungen dienen sollten.459 Diesbezüglich schlug Horváth Németh vor, die Einrichtung eines „ungarisch-deutschen Forums“, das „einen regelmäßigen und zugleich breiten Meinungsaustausch auf hoher Ebene“ sicherstellen sollte, anzuregen. Außerdem sollte die Bundesregierung ersucht werden, die Tätigkeit westdeutscher Geldinstitute in Ungarn zu initiieren, sowie Möglichkeiten zu prüfen, die Sanierung und Restrukturierung der ungarischen Wirtschaft auf Regierungsebene zu unterstützen, beispielsweise durch einen „nicht deklarierten Überbrückungskredit“. Im Mittelpunkt des Besuchs von Bundeskanzler Helmut Kohl, der von Führungspersönlichkeiten aus der bundesdeutschen Politik und Wirtschaft begleitet wurde, standen zwei Ereignisse, nämlich eine Unterredung mit Ministerpräsident Miklós Németh am 16. Dezember 1989 sowie eine Ansprache vor den Abgeordneten des ungarischen Parlaments zwei Tage später. Beim Gespräch zwischen dem Bundeskanzler und dem ungarischen Regierungschef standen die wirtschaftliche und innenpolitische Lage in Ungarn, die jüngsten Entwicklungen in der DDR und hinsichtlich der deutschen Frage, internationale Themen wie der Abrüstungsprozess sowie aktuelle Fragen der bilateralen Beziehungen im Mittelpunkt.460 Zu Beginn der Unterredung versicherte Kohl gegenüber Németh, dass Bonn im Falle von Problemen bei der Energieversorgung auch weiterhin bereit sei, zugunsten Ungarns auf der EG-Ebene zu intervenieren oder auch auf bilateraler Grundlage Hilfe zu leisten. Als Grund für diese Haltung führte er an, dass der Erfolg Ungarns für die Bundesrepublik und auch für die Entwicklungen in der DDR und in Polen von existenzieller Bedeutung sei.461 Damit machte der Bundeskanzler klar, dass die bundesdeutsche Unterstützung für Ungarn keineswegs nur ein Akt der Dankbarkeit und Selbstlosigkeit war, sondern durchaus auch auf dem grundlegenden Interesse Westdeutschlands an einem erfolgreichen Veränderungsprozess im einstigen „Ostblock“ beruhte. Hinsichtlich der Entwicklungen in der DDR verdeutlichte er, dass vor dem Hintergrund der katastrophalen politischen und wirtschaftlichen Situation den Menschen in Ostdeutschland eine Per­spektive aufgezeigt werden müsse und eine große Initiativkraft der Bundes­ republik notwendig sei, dass dies aber keine Veränderung der westdeutschen Ver-

459  Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident Miklós Németh vom 11. Dezember 1989. In: Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 259–262 (= Dokument 59). 460  Aufzeichnung des Auswärtigen Amts vom 19. Dezember 1989 über das Gespräch von Bundeskanzler Helmut Kohl mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.716 E, ohne Paginierung) (= Dokument 60); Feljegyzés Helmut Kohl szövetségi kancellár és Németh Miklós miniszterelnök beszélgetéséről (1989. december 16.) [Aufzeichnung über das Gespräch von Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Miklós Németh (16. Dezember 1989)]. In: Gecsényi/ Máthé (Hrsg.), Sub clausula 1989, S. 771–779. 461  Feljegyzés Helmut Kohl szövetségi kancellár és Németh Miklós miniszterelnök beszélgetéséről (1989. december 16.) [Aufzeichnung über das Gespräch von Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Miklós Németh (16. Dezember 1989)]. In: Gecsényi/ Máthé (Hrsg.), Sub clausula 1989, S. 771.

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pflichtungen für Ungarn bedeute. Damit legte auch der Bundeskanzler gegenüber Németh dar, dass der von der Bundesrepublik betriebene Vereinigungsprozess nicht zulasten der Unterstützung für Ungarn erfolgen sollte. Ministerpräsident Miklós Németh betonte während der Unterredung die Vorreiterrolle Ungarns im Transformationsprozess und stimmte der Absicht Kohls zu, die deutsche Einheit gemäß dem Zehn-Punkte-Programm in gesamteuropäischem Zusammenhang zu verwirklichen, er wies zugleich aber auch auf die diesbezüglichen Widerstände in Polen und der Sowjetunion hin. Mit Blick auf Letzteres ersuchte Kohl den ungarischen Regierungschef darum, Bonn im Sinne des Zehn-Punkte-Programms gegenüber Gorbatschow zu unterstützen bzw. seine „Ostkontakte“ einzusetzen. Gegen Ende des Gesprächs warf Németh noch ein „altes“ Problem Ungarns auf, nämlich die Beschränkungen, denen sein Land durch die Bestimmungen der CoCom-Liste noch immer unterworfen war, und ersucht Bundeskanzler Kohl diesbezüglich um Hilfe. Aufgrund der offensichtlichen Tatsache, dass sich die CoCom-Liste als immer größeres Hindernis für die OstWest-Wirtschaftskooperation erwies und sich zudem kontraproduktiv auf die ökonomischen Unterstützungs- und Fördermaßahmen des Westens und insbesondere der Bundesrepublik auswirkte, wurden die darin enthaltenen Beschränkungen konsequenterweise im Frühjahr 1990 für die osteuropäischen Staaten wesentlich abgemildert462 und schließlich im Februar 1992 ganz aufgehoben. Nachdem Bundeskanzler Kohl bereits bei einem Festessen zu Ehren seines Ungarn-Besuchs in Bezug auf die Grenzöffnung den – später legendär gewordenen – Satz „Ungarn hat damals den ersten Stein aus der Mauer geschlagen“ geäußert hatte,463 demonstrierte er auch bei seinem Auftritt vor dem Budapester Parlament am 18. Dezember 1989 erneut die Dankbarkeit der Bundesrepublik für die ungarische Haltung in der Flüchtlingsfrage.464 Darüber hinaus würdigte er die Vorreiterrolle Ungarns im Transformationsprozess465 und hob diesbezüglich auch die – während der vergangenen beiden Jahre tatsächlich grundlegend gewandelte – Rolle des Parlaments hervor: „Die Ungarische Nationalversammlung hat den Prozess der Reformen, der Öffnung und der Umgestaltung Ungarns in Richtung auf Demokratie und Pluralismus maßgeblich mitgestaltet. Ich darf Ihnen dafür meinen besonderen Respekt erweisen.“466

462  Vgl. New Scientist, 12. Mai 1990 (URL: https://www.newscientist.com/article/mg12617161000-us-softens-on-technology-trade-with-eastern-bloc/). 463  Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf, S. 359. 464  Zum Wortlaut der Rede Kohls siehe Helmut Kohl (Hrsg.), Bilanzen und Perspektiven. Regierungspolitik 1989–1991, Bd. 1. Bonn 1992, S. 348–357; siehe auch Országgyűlés naplója [Protokoll des Parlaments], Bd. 5. (21. XI. 1989 – 14. II. 1990). Budapest 1998, S. 5708–5713. 465  „Der Erfolg Ihrer Reformen hat in entscheidendem Maße den Weg der Umgestaltung und der Öffnung in der Sowjetunion, in Polen, in der ČSSR und nicht zuletzt in der DDR beeinflusst.“ (Kohl (Hrsg.), Bilanzen und Perspektiven, S. 349). 466  Ebenda, S. 348. Ausführlich zum Rollenwandel des ungarischen Parlaments in der Transforma-



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Anschließend wies Kohl die Abgeordneten allerdings auch darauf hin, dass sie „noch bedeutende Reformschritte, insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet“, vor sich hätten und appellierte an ihre über Ungarn hinausweisende politische Verantwortung: „Aber Parlamentarier sein, heißt, Verantwortung für das eigene Land zu tragen. Und wenn es um Entscheidungen für die Zukunft geht, gilt es auch Mut zu beweisen – auch wenn unpopuläre Maßnahmen ergriffen werden müssen, die von dem einzelnen Bürger Opfer verlangen […]. All dies verlangt Mut, Weitsicht und das Bewusstsein einer die Grenzen Ihres Landes übergreifenden Verantwortung. Der Erfolg der Reformen in Ungarn ist von größter Bedeutung nicht nur für das Wohlergehen Ihres Landes und seiner Bürger, sondern für die Reformstaaten in Mittel-, Ostund Südosteuropa und damit für Europa insgesamt.“467

Diese Worte des Kanzlers bildeten letztlich einen leidenschaftlichen, die europäische Verantwortung der Abgeordneten beschwörenden Appell, den von der Németh-Regierung vorbereiteten Haushaltsentwurf für das Jahr 1990 anzunehmen. Seinen Aufruf untermauert Kohl mit der Zusicherung, dass sich Ungarn auf seinem „schwierigen Weg“ auf seine „Freunde im Westen“ und insbesondere auf die Bundesrepublik verlassen könne. An den Hintergrund und die Bedeutung dieses Auftritts von Kohl erinnerte sich Botschafter István Horváth später folgendermaßen: „Die weitere Tätigkeit Némeths war für den friedlichen Übergang außerordentlich wichtig. Deshalb schlugen wir wegen der kritischen, auf der Tagesordnung stehenden Haushaltsdebatte vor, der Kanzler solle im Parlament eine Rede halten und darin den Budgetentwurf der NémethRegierung unterstützen. Der Abschluss der Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds hing auch davon ab, ob es der Regierung gelingen würde, das geplante Haushaltsprogramm zu verwirklichen.“468

Die – in den internationalen Beziehungen ungewöhnlich offene – politische Intervention des Bundeskanzlers in die ungarische Politik sollte nicht ergebnislos bleiben: Am 21. Dezember 1989 stimmten die Abgeordneten mit deutlicher Mehrheit für den Haushalt.469 (Am selben Tag beschloss das ungarische Parlament auch, sich zum 16. März 1990 aufzulösen470 und machte damit den Weg für die ersten freien Parlamentswahlen nach über vier Jahrzehnten frei.) Folge der Annahme des Haushalts war wiederum, dass der Internationale Währungsfonds seine bisherige harte Haltung gegen-

tionsphase siehe Sándor Kurtán, Demokratisierung ohne Demokraten? Zur Rolle des letzten staatsozialistischen Parlaments in Ungarn. In: Andrei S. Markovits/ Sieglinde K. Rosenberger (Hrsg.), Demokratie. Modus und Telos. Beiträge für Anton Pelinka. Wien/ Köln/ Weimar 2001, S. 234–258. 467  Kohl (Hrsg.), Bilanzen und Perspektiven, S. 349. 468  Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 179. 469  Das Gesetz wurde mit 252 Ja-Stimmen, 23 Nein-Stimmen und 52 Enthaltungen angenommen (Országgyűlés naplója, Bd. 5, S. 5988). 470  Ebenda, S. 6012.

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über Ungarn aufgab und im Dezember 1989/ Januar 1990 erneut Verhandlungen mit Ungarn führte. Diese führten schließlich dazu, dass der IMF-Direktionsrat Mitte März 1990 dem von Ungarn dringend benötigten Bereitstellungskredit zustimmte.471 Neben der Tatsache, dass der Bundeskanzler die Wirtschaftspolitik der NémethRegierung mit seinem demonstrativen Appell unterstützte, erfolgte während des Kohl-Besuchs auch der Abschluss mehrerer Maßnahmen zur Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen. Zwar sollten die dargelegten, von Botschafter Horváth aufgeworfenen Vorschläge bei diesem Besuch (noch) keine Rolle spielen, es kam aber zur Unterzeichnung von fünf wichtigen Abkommen, darunter ein Vertrag über den Luftverkehr, ein Abkommen über den Straßengüterverkehr sowie eine Gastarbeitnehmervereinbarung, die es mehreren Tausend Ungarn ermöglichte, in Westdeutschland zu arbeiten. Beide Seiten vereinbarten darüber hinaus – erstmals – gegenseitige Besuche der Verteidigungsminister, und Bundeskanzler Kohl erklärte, er werde sich für baldige Verhandlungen über die Aufhebung der Visapflicht zwischen der Bundesrepublik und Ungarn bei den Regierungen der Schengen-Staaten einsetzen. Letztere Bemühungen führten bereits wenige Monate später, im Frühjahr 1990, zum Erfolg, sodass Bundesaußenminister Genscher bei einem Kurzbesuch in Ungarn am 24. März 1990 ein Abkommen über die Streichung der Visapflicht zwischen beiden Staaten, das zum 1. Mai 1990 in Kraft trat, unterzeichnen konnte.472 Eine Woche nach dem Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Ungarn konnte die ungarische Botschaft in Bonn an das Außenministerium in Budapest melden, dass der Ungarn-Besuch des Kanzlers in der Bundeshauptstadt überaus positiv bewertet worden sei – was natürlich auch einen Erfolg für Ungarn darstellte: „Gemäß der Bonner Bewertung war der Besuch von Kohl in Budapest weit mehr als eine einfache Dankesbekundung für das ungarische Verhalten bezüglich der DDR-Flüchtlinge. Er war dazu berufen, zu demonstrieren, dass die qualitativ neue Phase, die 1987 in den Beziehungen der beiden Staaten begann, eine neuerliche Station erreicht hat, wo die veränderten ungarischen innenpolitischen und die internationalen Umstände die Möglichkeit zu einem weiteren Fortschreiten bieten.“473

471  Vgl. Ripp, Rendszerváltás Magyarországon, S. 513. Der am 14. Mai 1990 zur Verfügung gestellte Kreditrahmen betrug 159 Millionen Dollar. Zu einer größeren Kreditgewährung (1,114 Milliarden Dollar) durch den IMF kam es schließlich im Februar 1991 (vgl. Sáringer (Hrsg.), Iratok az Antall-kormány külpolitikájához és diplomáciához, Bd. 1, S. 256, Anm. 476). 472  Külügyminisztérium. Tájékoztató a Miniszterelnöki Hivatal számára Magyarország és a Német­ országi Szövetségi Köztársaság kapcsolatairól. 1990. május [Außenministerium. Informationsbericht für das Amt des Ministerpräsidenten über die Beziehungen zwischen Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland. Mai 1990]. In: Sáringer (Hrsg.), Iratok az Antall-kormány külpolitikájához és diplomáciához, Bd. 1, S. 247–249. 473  A bonni magyar nagykövetség rejtjeltávirata a Külügyminisztériumnak Helmut Kohl budapesti látogatásának visszhangjáról (1989. december 26.) [Verschlüsseltes Telegramm der ungarischen Botschaft in Bonn an das Außenministerium über das Echo auf den Budapest-Besuch von Helmut Kohl (26. Dezember 1989)]. In: Gecsényi/ Máthé (Hrsg.), Sub clausula, S. 782–783, hier S. 782.



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Der Bericht bekräftigte nochmals, dass Bonn die westdeutsch-ungarischen Beziehungen keineswegs als „Einbahnstraße“ betrachte, sondern mit ihrer Entwicklung auch die ungestörte Weiterführung der osteuropäischen Veränderungsprozesse bezweckte: „Das Interesse der BRD ist, dass in Ungarn, das eine maßgebliche Rolle im osteuropäischen Reformprozess spielt, die Entfaltung der Demokratie nicht unterbrochen wird, weswegen Bonn versucht, alles Mögliche zu unternehmen, um diese Entwicklung zu unterstützen. Die führende Kraft dieses Prozesses ist gegenwärtig die Regierung, die in erster Linie wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten die praktische und moralische Unterstützung des Auslands außerordentlich dringend benötigt. Diese Tatsache hat Kohl wohlwollend zur Kenntnis genommen […].“474

Aus dem Bericht ging schließlich auch hervor, dass Bonn der ungarischen Regierung nunmehr nicht nur für die Grenzöffnung, sondern auch bezüglich ihrer grundsätzlich zustimmenden Haltung in der Vereinigungsfrage dankbar war: Ungarn sei der erste osteuropäische Staat gewesen, der erklärt habe, den Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten zu unterstützen. Konkrete bundesdeutsche Unterstützung erhielt Ungarn in dieser Phase auch im Bildungsbereich. Nachdem sich Kultusminister Ferenc Glatz – wie gezeigt – nach der Übernahme des Ressorts im Mai 1989 unverzüglich darangemacht hatte, den russischen Sprachunterricht durch die Vermittlung westlicher Sprachen ablösen zu lassen, konnte Budapest die westdeutsche Seite diesbezüglich zu bedeutenden Maßnahmen veranlassen. So initiierte beispielsweise der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair die Entsendung von Gastlehrer aus seinem Bundesland nach Ungarn.475 Diese sollten in den folgenden Jahren sowohl ungarischen Schülern und Studenten Sprachunterricht erteilen, als auch bei der Umschulung der ungarischen Russischlehrer mithelfen. Außerdem machte Zehetmair die Fortbildung und Umschulung von ungarischen Lehrern an Institutionen in Bayern möglich. Und im März 1990 wurden während des Besuchs des stellvertretenden ungarischen Kultusministers Károly Mannherz in der Bundesrepublik mehrerer Abkommen und Vereinbarungen vorbereitet, die der Ausbildung von ungarischen Wirtschaftsexperten in der Bundesrepu­blik, der Entsendung weiterer Deutschlehrer nach Ungarn,476 der Kooperation Ungarns

474  Ebenda. 475  Siehe hierzu Hans Zehetmair, Bayerische Kulturpolitik in den Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas. In: Hans Peter Linss/ Roland Schönfeld (Hrsg.), Deutschland und die Völker Südosteuropas. München 1993, S. 335–341, hier S. 338–341. 476  Bis Ende 1989 waren von der Bundesrepublik bereits 21 Deutschlehrer nach Ungarn entsandt worden (Auswärtiges Amt, Referat 214. Zusammenstellung über die deutsch-ungarischen Beziehungen vom Dezember 1989 (Aktenzeichen 214 – 321.00 UNG); PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.937 E, ohne Paginierung).

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mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) sowie der gegenseitigen Anerkennung der Hochschulausbildung477 dienten.478 Hinter den politischen Initiativen zugunsten der ungarischen Wirtschaft und den umfassenden wirtschaftlichen Kooperations- und Unterstützungsmaßnahmen der bundesdeutschen Seite für Ungarn verbarg sich ganz offensichtlich auch ein klares Eigeninteresse der Bundesrepublik: Aufgrund der intensiven Wirtschaftskooperation hätte ein ökonomischer Zusammenbruch Ungarns für die Bundesrepublik empfindliche Folgen gehabt und musste deshalb unbedingt vermieden werden. Wie dynamisch sich die Wirtschaftsbeziehungen auch im Jahre 1989 entwickelt hatten, geht aus einem Bericht des Auswärtigen Amts vom Dezember 1989 hervor: „Ausgehend von einem Handelsvolumen von rund 5,0 Milliarden DM im vergangenen Jahr [1988] ist für die ersten sieben Monate 1989 eine kräftige Belebung des Warenaustauschs zwischen beiden Ländern zu verzeichnen. (Deutsche Einfuhr + 22,9% auf 1.433 Mio. DM, deutsche Ausfuhr + 31,3% auf 2.017 Mio. DM). Ungarn ist das RGW-Land, mit dem deutsche Unternehmen die intensivsten Kooperationsbeziehungen unterhalten. Derzeit bestehen etwa 300 Kooperationsvereinbarungen und rund 130 Joint-Ventures (im ersten Halbjahr 1989 plus 80). Weiterhin ist ein steigendes Interesse mittlerer und kleinerer deutscher Unternehmen zu verzeichnen.“479

Gegen Ende der Amtszeit der Németh-Regierung im Frühjahr 1990 bestanden in Ungarn insgesamt 150 gemischte Unternehmen, und sogar mehrere westdeutsche Großunternehmen, darunter Siemens, Hoechst und BASF, hatten bis dahin eigene Betriebe in Ungarn errichtet.480 Trotz aller Schwierigkeiten bei der gleichzeitigen Stabilisierung und Transformation der ökonomischen Ordnung verzeichneten die westdeutsch-ungarischen Wirtschaftsbeziehungen gegen Ende der Amtszeit vom Ministerpräsident Miklós Németh – über die verstärkte Gründung von gemischten Unternehmen hinaus – auch weitere positive Entwicklungen. Laut einem für das ungarische Außenministerium erstellten

477  Eine entsprechend Vereinbarung wurde am 24. März 1990 von den Außenministern beider Staaten in Budapest unterzeichnet (Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Ungarn über die Anerkennung von Gleichwertigkeiten im Hochschulbereich. In: United Nations Treaty Series, Vol. 1706, I-29503. New York 1993, S. 236–240). 478  Siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Im Spannungsfeld von Kaltem Krieg und Deutscher Frage (in Vorbereitung). 479  Auswärtiges Amt, Referat 214. Zusammenstellung über die deutsch-ungarischen Beziehungen vom Dezember 1989. Aktenzeichen: 214 – 321.00 UNG (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.937 E, ohne Paginierung). 480  Külügyminisztérium. Tájékoztató a Miniszterelnöki Hivatal számára Magyarország és a Német­ országi Szövetségi Köztársaság kapcsolatairól. 1990. május [Außenministerium. Informationsbericht für das Amt des Ministerpräsidenten über die Beziehungen zwischen Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland. Mai 1990]. In: Sáringer (Hrsg.), Iratok az Antall-kormány külpolitikájához és diplomáciához, Bd. 1, S. 248.



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Bericht konnte der westdeutsch-ungarische Handel im Jahre 1989 und in den ersten vier Monaten des Jahres 1990 einen dynamischen Anstieg verzeichnen: „Der Wert des ungarischen Exports in Richtung BRD betrug […] 1989 2.677 Mio. DM, 18,3% mehr als ein Jahr zuvor, der Wert des aus der BRD stammenden ungarischen Imports machte 3.651 Mio. DM aus, das sind 32,3% mehr als 1988. Das Jahr 1989 galt in beiderlei Hinsicht als Rekordjahr.“481

Der Anteil der Bundesrepublik am ungarischen Export betrug so 1989 11,9 Prozent, am Import 16,1%. „Dieser Anteil wuchs in den ersten Monaten 1990 auf 17% bzw. 17,6%.“482

4.4.4 D  ie Wahlen vom Frühjahr 1990, die Politik der national-konservativen Regierung unter Ministerpräsident József Antall und die Haltung der westdeutschen Politik Nachdem das 1985 gewählte Parlament Ende Dezember 1989 seine Selbstauflösung zum 16. März 1990 beschlossen hatte, fanden – nach einem harten, stark antikommunistisch geprägten Wahlkampf483 – am 25. März (erster Wahlgang) und am 8. April 1990 (zweiter Wahlgang), nach viereinhalb Jahrzehnten, erstmals wieder freie Parlamentswahlen in Ungarn statt.484 Deren Bedeutung lag nicht nur darin, die Machtverhältnisse zu klären bzw. die Regierung für die nächsten vier Jahre demokratisch zu legitimieren, sondern auch in der Offenlegung der politisch-weltanschaulichen Präferenzen der ungarischen Gesellschaft. Nachdem sich bereits in den Monaten zuvor ein Wahlsieg des national-konservativen Ungarischen Demokratischen Forums abgezeichnet hatte, konnte das MDF tatsächlich die Mehrheit der Mandate, nämlich 164 von 386 (42,5 Prozent), erringen. Zweitstärkste Kraft wurde der liberale Bund Freier Demokraten: Der SZDSZ erhielt 94 Sitze (24,4 Prozent). Ihm folgten die Unabhängige Kleinlandwirtepartei (FKGP) mit 44 Sitzen (11,4 Prozent), die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) mit 33 Mandaten (8,6 Prozent), der Bund Junger Demokraten (FIDESZ) mit 22 Abgeordneten (5,7 Prozent) sowie die Christdemokraten (KDNP) mit 21 Sitzen (5,5 Prozent). Zwei Mandate gingen an das Agrarbündnis (0,5 Prozent) und sechs Abgeordnetensitze (1,5 Prozent) fielen an unabhängige Kandidaten. Dieses Ergebnis bedeutete eine klare Wahlniederlage für die Sozialisten und einen eindeuti-

481  Informationsbericht über die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland, eingegangen im ungarischen Außenministerium Anfang Oktober 1990 (MNL OL, XIX-1-J-1-k 1990, 73. d., 4881-5, ohne Paginierung) (= Dokument 72). 482  Ebenda. 483  Ausführlich hierzu siehe Ripp, Rendszerváltás Magyarországon, S. 522–536. 484  Ausführlich hierzu siehe Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 193–198; Ripp, Rendszerváltás Magyarországon, S. 537–542.

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gen Sieg für das „bürgerliche“ Lager, also für die national-konservativen Kräfte (MDF, FKGP und KDNP). Die lange Zeit von der bundesdeutschen Politik und Diplomatie gehegte Hoffnung, es könnte zu einer – einen berechenbaren Wandel verkörpernden – Koalition aus der Sozialistischen Partei und dem Demokratischen Forum kommen, hatte sich damit zerschlagen. Hinsichtlich der bundesdeutschen Reaktionen auf das Wahlergebnis teilte Botschafter István Horváth dem Außenministerium bereits nach dem ersten, für das Ergebnis entscheidenden Wahlgang in einem Bericht am 30. März 1990 Folgendes mit: „Gemäß den Bonner Wertungen haben die Wahlen bewiesen, dass fast die gesamte Bevölkerung mit sämtlichen Resten des früheren Systems brechen will. Der Sieg der bürgerlichen Parteien war noch vollständiger, als in der DDR.“485

Darüber hinaus wies Horváth darauf hin, dass die westdeutsche Seite mit Beruhigung festgestellt habe, dass es den extremen Kräften, insbesondere den Kommunisten,486 nicht gelungen sei, Raum zu gewinnen, und sich in Ungarn in absehbarer Zeit ein Parteiensystem entwickeln werde, das dem westeuropäischen Muster entspreche. „Unter diesem Gesichtspunkt seien“ – so gab Horváth die Bonner Position wider – „die Ausgangspunkte der auf dem neuen Parlamentarismus beruhenden Epoche nicht schlecht.“487 Wie aus dem Bericht überdies hervorgeht, plädierte die bundesdeutsche Politik – da das Wahlergebnis eine MSZP-MDF-Koalition unmöglich gemacht hatte – aus Gründen der politischen Stabilität und wegen des gewaltigen Ausmaßes der zu bewältigenden Herausforderungen nun für eine breite Koalition der beiden stärksten Kräfte, also des Demokratischen Forums und des Bundes Freier Demokraten. Hierbei war man sich in Bonn durchaus der großen weltanschaulichen Gegensätze und politischen Konflikte der beiden Parteien bewusst und rechnete für den Fall einer Großen Koalition – wie der Bericht ebenfalls zeigt – auch mit der Möglichkeit ernster Regierungskrisen. (Wie tief der Bruch zwischen den beiden politischen Lagern tatsächlich

485  Zum Wortlaut des Berichts siehe Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 209–211, hier S. 209. Bei den kurz zuvor abgehaltenen Wahlen in der DDR hatte die das „bürgerliche Lager“ vertretende Christlich Demokratische Union (Ost) 40,8 Prozent, die Sozialdemokratische Partei Deutschland (Ost) 21,9 Prozent und die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), die Nachfolgepartei der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), 16,4 Prozent der Stimmen erhalten. 486  Nach der Selbstauflösung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei im Oktober 1989 hatten Politiker, die weiterhin an den politischen Grundideen der Ära Kádár festhielten bzw. an die Reformierbarkeit des Kommunismus glaubten, darunter der ehemalige Generalsekretär Károly Grósz und Ex-Politbüro-Mitglied János Berecz, unter dem alten Namen eine neue kommunistische Partei gegründet. 487  Bericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth vom 30. März 1990. In: Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 209–211, hier S. 210.



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war, wurde in der Bundeshauptstadt aber offenbar unterschätzt.) Einer national-konservativen Koalition stand man in der Bundeshauptstadt währenddessen skeptisch gegenüber: „Eine Koalition aus MDF, KDNP und den Unabhängigen oder aus MDF, KDNP und der Kleinlandwirtepartei wird kaum breit und stark genug sein, um den das Regieren erschwerenden und für die Gesellschaft schmerzlichen, aber notwendigen Wandel zu überleben.“488

Mit Blick auf eine Koalition aus MDF, KDNP und FKGP stießen darüber hinaus auch einige „radikale Vorstellungen“ der Kleinlandwirtepartei auf das Missfallen der bundesdeutschen Politik, wobei es sich sicherlich um das zentrale Wahlkampfversprechen der FKGP, nämlich nach Reprivatisierung der Landwirtschaft, sowie um den blindwütigen Antikommunismus der Partei im Wahlkampf handelte.489 Auch wenn man in Bonn das Wahlergebnis mit Blick auf die demokratische Entwicklung Ungarns grundsätzlich positiv beurteilte, war man im Hinblick auf die praktische Regierungsfähigkeit keineswegs optimistisch: „Insgesamt beobachtet man in Bonn mit kritischen Blicken, wie das Land mit der neugewonnenen Freiheit umgehen wird. Was jetzt notwendig ist, ist eine funktionsfähige Regierung und ein Programm, das die Menschen beruhigt, gleichzeitig aber auch den Übergang zur Marktwirtshaft fördert.“490

Für die weitere bundesdeutsche Beurteilung der politischen Entwicklungen in Ungarn rückte nun die politische Beschaffenheit der zukünftigen Koalition unter József Antall491 und insbesondere das zukünftige Regierungsprogramm in den Mittelpunkt der westdeutschen Aufmerksamkeit. Der durch die Wahlen vollzogene radikale Wandel der politischen Kräfteverhältnisse führte, nachdem das Parlament am 2. Mai zu seiner konstituierenden Sitzung zusammengekommen war, am 23. Mai zur Bildung einer national-konservativen Koalitionsregierung aus dem Demokratischen Forum, der Kleinlandwirtepartei und der Christdemokratischen Volkspartei, die über eine Mehrheit von knapp 60 Prozent verfügte.492 Die neue, von Ministerpräsident József Antall, dem Vorsitzenden des MDF,

488  Ebenda. 489  Ausführlich hierzu siehe Schmidt, Die Unabhängige Kleinlandwirte-Partei, S. 290–298. 490  Bericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth vom 30. März 1990. In: Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 210–211. 491  Zur Biografie Antalls siehe József Debreczeni, A miniszterelnök. Antall József és a rendszerváltozás [Der Ministerpräsident. József Antall und der Systemwechsel]. Budapest 2003. 492  Ausführlich zur Regierungsbildung und zur Politik der Antall-Regierung bis Herbst 1990 siehe Romsics, Volt egyszer egy rendszerváltás, S. 248–313; Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns, S. 198–217. Zu den grundlegenden politischen Anschauungen József Antalls siehe seine Rede vor dem Parlament am 22. Mai 1990 (Az Országgyűlés 5. ülésnapja [5. Sitzungstag des Parla-

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geführte Regierung stand bei ihrem Amtsantritt bekanntlich vor gewaltigen Herausforderungen. So musste sie eine Reihe von Maßnahmen ergreifen, um den politischinstitutionellen Wandel zu konsolidieren, die Stabilisierung und Transformation der Wirtschaft weiterführen und außenpolitisch den Platz Ungarns in einem sich rasant verändernden internationalen Umwelt definieren. Gleichzeitig waren auch die Erwartungen der Bevölkerung an die „bürgerliche Wende“, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht, ausgesprochen hoch. Die Antall-Regierung konnte sich zwar bei ihren ersten politischen Schritten auf die legislativen Maßnahmen bzw. Vorarbeiten der Németh-Regierung stützen, sie hatte aber mit der großen Bürde zu kämpfen, dass sich Regierung und Parlament nahezu vollständig aus Personen zusammensetzten, die über keine politische Erfahrung verfügten, und sich die Minister und Abgeordneten auch auf keinen eingespielten Expertenapparat stützen konnten. Hinsichtlich der politischen Handlungsfähigkeit der neuen Regierung, um die sich – wie gezeigt – auch Bonn Sorgen machte, kam es noch vor der Regierungsbildung zu einem wesentlichen Ereignis, nämlich zum Abschluss eines „Stabilitätspakts“ der beiden stärksten Parteien, also des Ungarischen Demokratischen Forums und des Bundes Freier Demokraten.493 Aufgrund dieser Vereinbarung wurde der Bereich der Rechtsnormen, die gemäß der Verfassungsrevision vom Oktober 1989 nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit – über die die Antall-Regierung nicht verfügte – verabschiedet werden konnten, wesentlich eingeschränkt. Eine qualifizierte Mehrheit war so nur mehr bei Gesetzen bzw. Gesetzesänderungen notwendig, die die politische Grundordnung und die Grundrechte der Bürger betrafen. Außerdem vereinbarten beide Parteien, die Stellung der Regierung und des Regierungschefs dadurch zu stärken, dass das Parlament künftig nur über die Person des Ministerpräsidenten entscheiden sollte, nicht aber – wie im Falle des zweiten Németh-Kabinetts – über die einzelnen Minister. Dies bedeutete auch, dass ein Misstrauensvotum nur gegen den Regierungschef bzw. gegen das ganze Kabinett möglich sein sollte, nicht aber gegen einzelne Minister. Im Gegensatz zur bisherigen Regelung vereinbarte man zudem, das „einfache“ Misstrauensvotum durch ein konstruktives Misstrauensvotum nach bundesdeutschem Muster abzulösen. Als Gegenleistung für die Zustimmung der Liberalen zur Stärkung der Position der national-konservativen Koalition beschlossen beide Seiten schließlich, dem liberalen Politiker Árpád Göncz den Posten des Parlamentspräsidenten und des provisorischen Staatspräsidenten zukommen zu lassen und im Sommer 1990 dann seine Wahl zum Präsidenten der Republik durch das Parlament sicherzustellen.494 Während der Pakt der beiden stärksten Parteien in Ungarn vor

ments]. In: Országgyűlési értesítő 1990–1994 [Parlamentsbulletin 1990–1994], Bd. 1, Budapest 1990, S. 190–234). 493  Ausführlich zum MDF-SZDSZ-Pakt siehe Ripp, Rendszerváltás Magyarországon, S. 542–547. 494  Göncz wurde vereinbarungsgemäß am 3. August 1990 zum Präsidenten der Republik Ungarn gewählt und gab das Amt des Parlamentspräsidenten an György Szabad, ebenfalls SZDSZ-Politiker, ab.



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allem aufgrund seines putschartigen Abschlusses beanstandet wurde,495 stieß er im westlichen Ausland als Garant der politischen Stabilität auf eine positive Aufnahme. Und auch in Bonn begrüßte man, da eine Große Koalition in Ungarn ganz offensichtlich politisch nicht praktikabel war, zweifellos diese Entwicklung. In der Innenpolitik strebte die neue Regierung einerseits – wie ihre Vorgängerin – an, die Rechtsordnung und Rechtspraxis Ungarns rasch an das westeuropäische Vorbild heranzuführen, zum anderen betrieb sie eine Politik der demonstrativen „Auskehrens“ des Kommunismus sowie der moralischen und materiellen Rehabilitierung der Opfer der kommunistischen Herrschaft. Welche große Rolle das nationalkonservative Lager in diesem Zusammenhang der antikommunistischen Symbolik zuschrieb, offenbarte sich bereits bei der Konstituierung des neuen Parlaments am 2. Mai 1990: An diesem Tag verankerten die Abgeordneten per Gesetz die „historische Bedeutung der Revolution und des Freiheitskampfes vom Oktober 1956“ und erklärten den 23. Oktober zum Nationalfeiertag.496 Am 19. Juni 1990 nahm das neue Parlament dann eine wichtige Verfassungsänderung an.497 Mit dieser bezweckte die Antall-Regierung zum einen, die konstitutionelle Ordnung Ungarns von „sozialistischen Relikten“ bzw. von „historisch überlebten“ Formulierungen zu säubern und ließ dementsprechend hinsichtlich der politischen Ordnung den Verweis auf den „demokratischen Sozialismus“ und bezüglich des Wirtschaftssystems den Hinweis auf die „Vorteile der Planung“ streichen. Zum anderen wurden durch die Verfassungsänderung diejenigen Bestimmungen zur Stärkung der Regierung, die zwischen dem Ungarischen Demokratischen Forum und dem Bund Freier Demokraten ausgehandelt worden waren, in der Verfassung verankert (konstruktives Misstrauensvotum, Begrenzung des Bereichs der mit qualifizierter Mehrheit zu verabschiedenden Gesetze usw.). Und im Sinne der Stärkung der bürgerlichen Freiheitsrechte wurden die Institutionen eines Parlamentsbeauftragten für die Staatsbürgerrechte sowie eines Ombudsmanns für die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten eingerichtet. Im Sommer 1990 legte die Antall-Regierung dann – unter Rückgriff auf entsprechende Gesetzesarbeiten der Németh-Regierung – dem Parlament drei Gesetze zur Etablierung der örtlichen Selbstverwaltungen in Ungarn vor, die von den Abgeordneten am 3. August

495  József Antall hatte, um Diskussionen im national-konservativen Lager zu vermeiden und den Abschluss des Paktes sicherzustellen, weder die übrigen Führungsmitglieder seiner Partei noch die der Koalitionspartner über diesen Schritt vorab unterrichtet und wurde deswegen heftig kritisiert. Im liberalen Lager beanstandete der FIDESZ, von der SZDSZ-Führung nicht informiert worden zu sein. 496  1990. évi XXVIII törvény az 1956 októberi forradalom és szabadságharc jelentőségének törvénybe iktatásáról [Gesetz Nr. XXVIII des Jahres 1990 über die gesetzliche Verankerung der Bedeutung der Revolution und des Freiheitskampfes vom Oktober 1956] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 42, 8. Mai 1990, S. 989–900). 497  1990. évi. XL. törvény a Magyar Köztársaság alkotmányának módosításáról [Gesetz Nr. XL des Jahres 1990 über die Änderung der Verfassung der Republik Ungarn] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 59, 25. Juni 1990, S. 1261–1265) (= Dokument 68).

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1990 angenommen wurden: ein Gesetz, das entsprechende Verfassungsänderungen vorsah,498 sowie das Gesetz über der Wahl der Abgeordneten der örtlichen Selbstverwaltungen und der Bürgermeister499 und das Gesetz über die örtlichen Selbstverwaltungen.500 Letzteres regelte den Aufbau, die Funktion und Kontrolle der kommunalen Selbstverwaltungen und unternahm damit – im Zuge des Prozesses der demokratischen Konsolidierung – den entscheidenden Schritt zur Institutionalisierung der vertikalen Gewaltenteilung in Ungarn. Hinsichtlich ihrer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik bekannte sich die AntallRegierung – sehr optimistisch – zum Ziel der schnellen Verwirklichung einer sozialen Marktwirtschaft westdeutscher Prägung, die in der Lage sein sollte, den Erwartungen der Bevölkerung in Bezug auf materiellen Wohlstand sowie auf soziale Sicherheit und Gesundheitsversorgung gerecht zu werden, und schließlich zur Schaffung einer starken christlich-nationalen Mittelklasse führen sollte. Gemäß ihrer nationalen Orientierung sollte die ungarische Wirtschaft in erster Linie auf einheimischen Unternehmen gründen. Dementsprechend plädierte die Regierung auch für eine Privatisierung, an der zwar Auslandskapital beteiligt sein, aber keine Hauptrolle spielen sollte.501 Und um der „Verschleuderung von nationalem Eigentum“ entgegenzuwirken und eine „gesellschaftlich kontrollierbare und gerechte“ Privatisierung durchzuführen, ließ die Regierung im Sommer 1990 das Umwandlungsgesetz modifizieren.502 Diese Änderung führte zu einer starken Zentralisierung und Überwachung des Pri-

498  1990. évi LXIII. törvény a Magyar Köztársaság Alkotmányának módosításáról [Gesetz Nr. LXIII des Jahres 1990 über die Änderung der Verfassung der Republik Ungarn] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 78, 9. August 1990, S. 1589–1591). 499  1990. évi LXIV. törvény a helyi önkormányzati képviselők és polgármesterek választásáról [Gesetz Nr. LXIV des Jahres 1990 über die Wahl der Abgeordneten der örtlichen Selbstverwaltungen und der Bürgermeister] (ebenda, S. 1592–1603). 500  1990. évi LXV. törvény a helyi önkormányzatokról [Gesetz Nr. LXV des Jahres 1990 über die örtlichen Selbstverwaltungen] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 80, 14. August 1990, S. 1637– 1652). Zum (deutsch- und ungarischsprachigen) Wortlaut des Gesetzes siehe Herder-Institut (Hrsg.), Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herderinstitut.de/go/YN-acb0aa (Zugriff: 22.09.2016). Zur Analyse des Gesetzes siehe János Brenner, Neue Kommunalverfassung in Ungarn. Das Gesetz über die örtlichen Selbstverwaltungen. In: Archiv für Kommunalwissenschaften 30 (1991), H. 2, S. 296–301; Herbert Küpper, Autonomie im Einheitsstaat. Geschichte und Gegenwart der Selbstverwaltung in Ungarn. Berlin 2002. 501  Zu den Privatisierungsmaßnahmen der Antall-Regierung im Jahre 1990 siehe Sárközy, Das Privatisierungsrecht, S. 219–234; Dankwart Plattner, Privatisierung in der Systemtransformation. Eine ökonomische Untersuchung am Beispiel der Privatisierungspolitik in Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Polen und Rumänien. Berlin 1996, S. 167. 502  1990. évi LXXII. törvény a gazdálkodó szervezetek és a gazdasági társaságok átalakulásáról szóló 1989. évi XIII. törvény módosításáról [Gesetz Nr. LXXII des Jahres 1990 über die Änderung von Gesetz Nr. XIII des Jahres 1989 über die Umwandlung von Wirtschaftsorganisationen und Wirtschaftsgesellschaften] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 92, 18. September 1990, S. 1849–1850).



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vatisierungsprozesses und beschränkte diesen auf 20 „lukrative“ Großunternehmen sowie auf die sogenannte Vorprivatisierung kleiner Unternehmen im Handwerks- und Dienstleistungsbereich.503 Durch diese gesetzlichen Maßnahmen, sowie durch die Tatsache, dass die Privatisierung von der neuen Regierung nur äußerst schleppend in Angriff genommen wurde, erfuhr der von der Németh-Regierung mit besonderem Elan eingeleitete Privatisierungsprozess eine wesentliche Verlangsamung. Zusätzlich wurde die Privatisierung im Agrarbereich auch durch einen koalitionsinternen Konflikt stark verzögert: Während die Kleinlandwirte auf eine Reprivatisierung des Bodens gemäß den Eigentumsverhältnissen von 1947 bestanden, orientierten sich die Vorstellungen des Demokratischen Forums am Prinzip der effektiven Nutzung des Bodens. 504 Bezüglich der Außenpolitik stellte Antall von Anfang an klar, dass die ungarische Diplomatie ausschließlich durch nationale Interesse geleitet sein dürfe und die vollständige Souveränität Ungarns zum Ziel haben müsse. Im Wesentlichen formulierte die Antall-Regierung in den ersten Monaten ihrer Amtszeit vier außenpolitische Prioritäten, nämlich erstens die Überwindung der „künstlichen Teilung“ Europas und die Schaffung eines gesamteuropäischen Systems der kollektiven Sicherheit, zweitens Unterstützung der ethnischen Ungarn jenseits der Grenzen, für die der ungarische Staat eine besondere Verantwortung übernehmen sollte505, drittens die Intensivierung der Regionalkooperation sowie viertens die Fortsetzung des Prozesses der Westintegration, der letztlich – nach etwa fünf Jahren – in die Vollmitgliedschaft in der EG führen sollte.506 Während die neue Regierung einerseits den baldigen Austritt aus dem Warschauer Pakt anstrebte und Ministerpräsident József Antall bereits am 7. Juni 1990 einen derartigen Schritt seines Landes ankündigte, sah sie andererseits aber zu Beginn ihrer Amtszeit (noch) keinen Beitritt zur NATO vor, den die Vorgängerregierung – wie gezeigt – bereits angedacht hatte. Der neue Außenminister Géza Jeszensz­ky (MDF) brachte hinsichtlich der Frage des Militärbündnisses gar deutliche Sympathien für die Neutralität Ungarns zum Ausdruck. Darüber hinaus war

503  1990. évi LXXIV törvény a kiskereskedelmi, a vendéglátóipari és fogyasztási szolgáltató tevékeny­séget végző állami vállalatok vagyonának privatizálásáról (értékesítéséről, hasznosításáról) [Gesetz Nr. LXXIV des Jahres 1990 über die Privatisierung (Veräußerung, Nutzung) des Vermögens der Staatsunternehmen, die Tätigkeiten im Einzelhandel, im Gastgewerbe und im Bereich der Konsumdienstleistungen nachgehen] (Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 95, 25. September 1990, S. 1886–1888). 504  Zur koalitionsinternen Auseinandersetzung um die Reprivatisierungsfrage siehe Schmidt, Die Unabhängige Kleinlandwirte-Partei, S. 294–298. 505  In diesem Zusammenhang fiel die umstrittene Äußerung von Antall, er fühle sich „im Herzen“ als Ministerpräsident von 15 Millionen Ungarn. 506  Bereits im Dezember 1989 hatte sich Antall gegenüber Bundeskanzler Helmut Kohl in einem kleinen Kreis entschieden für eine baldige EG-Mitgliedschaft ausgesprochen und gar die Überzeugung vertreten, Ungarn könne vor Österreich die Mitgliedschaft erreichen (vgl. Horváth, Az elszalasz­ tott lehetőség, S. 205).

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Jeszensz­ky auch für seine starke „angelsächsische Orientierung“ und seine Zurückhaltung gegenüber Deutschland bekannt.507 Ganz offensichtlich mit dem Ziel, dem übermächtigen (west)deutschen Einfluss in Ungarn zu verringern, richtete die ungarische Außenpolitik ihren Blick von Anfang an in besonderem Maße auch auf die USA.508 Der von der neuen ungarischen Regierung propagierte bzw. verfolgte politische Kurs spiegelte zwar eindeutig die grundsätzliche Bereitschaft wider, den Prozess der demokratischen Konsolidierung und den Übergang zur Marktwirtschaft fortzuführen, er wies aber auch eine Reihe von politischen Aspekten auf, die sich deutlich von der Politik der Vorgängerregierung unterschieden und die zum Teil weniger mit den Interessen der Bundesrepublik zu vereinbaren waren. Zwar wurden auf Seiten der christlich-konservativen Parteien in der Bundesrepublik nach den Wahlen und der Regierungsbildung häufig die weltanschaulichen Gemeinsamkeiten betont und die unbedingte ungarische Unterstützung der deutschen Einheit gelobt,509 dies konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass man auf westdeutscher Seite gerne eine rasche und umfangreiche Privatisierung gesehen, eine stärkere Gewichtung der europäischen gegenüber den – nun besonders herausgestellten – nationalen Aspekten gewünscht und man sich – mit Blick auf die Leistungen der sogenannten Reformkommunisten – eine weniger radikale antikommunistische Rhetorik gewünscht hätte. Zweifellos lag überdies auch der neue „ungarische Blick nach Amerika“ nicht unbedingt im Interesse Bonns. In der Bundeshauptstadt wiederum gewann währenddessen die Frage der konkreten Umsetzung der deutschen Einheit wachsende Be­deutung.

507  Siehe hierzu ebenda, S. 202, S. 242–243. Horváth stellt in seinen Erinnerungen gar fest, Jeszensz­ ky habe die „ausgezeichnete ungarisch-deutsche Kooperation nicht als Realität“ akzeptiert und offensichtlich zum Kreis derjenigen Personen gehört, die die außenpolitischen Erfolge der Vorgängerregierungen nicht anerkennen wollten (ebenda, S. 242). 508  Zur Amerika-Orientierung der Antall-Regierung siehe Borhi, Nagyhatalmi érdekek hálójában, S. 470–474. 509  So stellten beispielsweise der bayerische Ministerpräsident Max Streibl und Bundeskanzler Helmut Kohl beim offiziellen Staatsbesuch des ungarischen Regierungschefs den Charakter des Ungarischen Demokratischen Forums und der CSU bzw. CDU als „Schwesterparteien“ heraus und betonten die dadurch bedingten positiven Entwicklungsmöglichkeiten der bilateralen Zusammenarbeit (Bericht des ungarischen Außenministeriums vom 26. Juni 1990 über den Besuch von Ministerpräsident Antall in der Bundesrepublik Deutschland; MNL OL, XIX-J-1-j 1990, 53. d., 002417, ohne Paginierung) (= Dokument 69).



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 ie deutsche Einheit als Herausforderung für Ungarn und die bilateralen 4.4.5 D Beziehungen nach dem Regierungswechsel in Budapest Bereits in den ersten fünf Monaten des Jahres 1990 war es in den beiden deutschen Staaten und auf internationaler Ebene zu einer Reihe von Entwicklungen gekommen, die deutlich machten, dass ein allmählicher, schrittweiser und synchron zum Zusammenwachsen Europas verlaufender Vereinigungsprozess nicht der Realität entsprach und dass mit einem schnellen Vereinigungsprozess zu rechnen war:510 Nachdem sich die Vereinigten Staaten bereits Ende 1989 positiv zur deutschen Einheit geäußert hatten, erklärte am 30. Januar 1990 auch Generalsekretär Michail Gorbatschow, dass die Vereinigung der beiden deutschen Staaten unvermeidlich sei und die Sowjetunion sich dem Wunsch der Deutschen nicht entgegenstellen werde. Anderthalb Monate später, am 18. März 1990, kam es bei den DDR-Volkskammerwahlen zu einem klaren Sieg der von der CDU (Ost) geführten „Allianz für Deutschland“, wodurch „indirekt auch eine Präferenz für einen möglichst schnellen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 Grundgesetz ausgesprochen“ wurde.511 Am 5. Mai 1990 begannen die Zwei-plus-Vier-Gespräche zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Hauptsiegermächten des Zweiten Weltkriegs über die Modalitäten der deutschen Vereinigung, und am 18. Mai 1990 erfolgte die Unterzeichnung des Vertrags über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik512 – und damit die Vorentscheidung zur schnellen Vereinigung Deutschlands bzw. zum Beitritt Ostdeutschlands zur Bundesrepublik. An all diesen Geschehnissen und Entscheidungen hatte Ungarn, das durch seine Transformations- und Westöffnungspolitik sowie schließlich durch den Grenzöffnungsbeschluss vom 11. September 1989 einen bedeutenden Impuls auf die Entwicklungen in Ostdeutschland gegeben bzw. als Katalysator zum Fall der Berliner Mauer beigetragen hatte, keinen Anteil. Obwohl Ungarn so eine – allgemein anerkannte – wichtige Rolle dabei gespielt hatte, dass die deutsche Frage auf die Tagesordnung der deutschen und internationalen Politik gelangte, war es tatsächlich kein Akteur im Prozess der deutschen Vereinigung. Gleichzeitig war Ungarn aber ein Land, das auf-

510  Zusammenfassend zu den Entwicklungen siehe Rödder, Deutschland einig Vaterland, S. 147– 225, S. 279–292; Amos/ Geiger, Einleitung, S. 24–40. 511  Amos/ Geiger, Einleitung, S. 30. 512  Der Staatsvertrag über die Schaffung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion wurde am 21. Juni 1990 durch die Parlamente der beiden deutschen Staaten ratifiziert und trat am 1. Juli 1990 in Kraft. Aufgrund der Währungsunion wurde die westdeutsche Mark zum alleinigen Zahlungsmittel, die Wirtschaftsunion führte das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft auch in der DDR ein, und die Sozialunion legte die sozialpolitischen Grundlagen in der DDR nach bundesdeutschem Muster fest.

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grund seiner engen Beziehungen zu West- und Ostdeutschland in besonderem Maße von den zu erwartenden Konsequenzen der deutschen Einheit betroffen war.513 Der ungarische Botschafter István Horváth hatte – wie gezeigt – bereits Mitte Dezember 1989 auf die Dynamik der deutschen Frage hingewiesen und vor diesem Hintergrund für eine forcierte Weiterentwicklung der Beziehungen zu Westdeutschland plädiert. Horváth war sich nämlich im Klaren, dass der Prozess der deutschen Vereinigung – insbesondere durch die die DDR betreffenden Veränderungen – mit bedeutenden, in erster Linie wirtschaftlichen Nachteilen für Ungarn verbunden sein konnte, gegen die die ungarische Diplomatie Vorkehrungen treffen sollte.514 Als sich die Bildung der Antall-Regierung abzeichnete, legte der Botschafter am 20. April 1990 dem Außenministerium ein Dokument vor, in dem die grundlegenden Aufgaben der ungarischen Diplomatie in Bezug auf die bilateralen Beziehungen und die deutsche Vereinigung skizziert wurden.515 Horváth verwies in seiner Vorlage darauf, dass das vereinigte Deutschland mittel- und langfristig „eine wichtigere Rolle als jemals zuvor“ in den Außenbeziehungen Ungarns spielen werde und darüber hinaus – im Falle weiterer Bonner Unterstützung auf internationaler Ebene – in besonderer Weise zur schrittweisen Einbeziehung Ungarns in den europäischen Integrationsprozess beitragen könne. Vor diesem Hintergrund schlug er eine wesentliche Intensivierung der Besuchspolitik vor: Noch in der ersten Jahreshälfte 1990 sollte es – zumindest – zu einem kurzen Arbeitstreffen der Regierungschefs, dann zu einem offiziellen Staatsbesuch Antalls in der Bundesrepublik kommen, und innerhalb kurzer Zeit war auch ein Treffen der Außenminister vorgesehen. Währenddessen sollten auch die Leiter der anderen wichtigen, mit Fragen der bilateralen Zusammenarbeit befassten Ressorts schnell Kontakt zu ihren bundesdeutschen Amtskollegen aufnehmen, und das neue ungarische Parlament sollte in Beziehung zum Deutschen Bundestag treten. Auf dem Gebiet der Wirtschaft verwies Horváth grundsätzlich darauf, dass „das Hinüberretten der mit der DDR entwickelten Zusammenarbeit in die Zeit nach der Vereinigung eine der wichtigsten Fragen“ darstelle. Darüber hinaus unterbreitete er eine Reihe von konkreten Vorschlägen zur Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen mit dem vereinten Deutschland, wobei er – auf der Grundlage zahlreicher Gespräche mit führenden Bundes- und Landespolitikern – die unveränderte Bereitschaft Deutschlands betonte, trotz der Bindung „bedeutender geistiger und materieller Kraftquellen“

513  Zu den folgenden Ausführungen siehe auch Schmidt-Schweizer, Die deutsche Einheit als Herausforderung für Ungarn (in Vorbereitung). 514  Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident Miklós Németh vom 11. Dezember 1989. In: Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 259–262, hier S. 259–260 (= Dokument 59). 515  Darlegungen des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth vom 20. April 1990 zur Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland] (MNL OL, XIX-J-1-k 1990, 73. d., 7672-7, ohne Paginierung) (= Dokument 64).



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durch die Vereinigung, „den Wandlungsprozess in Ungarn aktiv zu unterstützen.“516 In Bezug auf die ökonomische Kooperation sprach sich Horváth dafür aus, in verschiedenen Bereichen die Möglichkeiten weiterer deutscher Unterstützungsmaßnahmen auszuloten, unter anderem bei der Gründung kleinerer und mittlerer (gemeinsamer) Unternehmen, bei der Ausbildung ungarischer Experten-, Manager- und Facharbeiter, bei der Einbeziehung ungarischer Unternehmen in den zukünftigen Aufbau Ostdeutschlands und bei der Entwicklung des Systems der wirtschaftlichen Interessenvertretungen in Ungarn. In den übrigen Gebieten der bilateralen Beziehungen sollte – unter anderem – nach Anerkennung der Äquivalenz der Abiturzeugnisse gestrebt und die Kooperation auf früher – aus ideologischen bzw. Bündnisgründen – „ausgeblendete“ Bereiche (Inneres, Verteidigung und Justiz) ausgeweitet werden, und es sollten neue Möglichkeiten des Tourismus erschlossen werden.517 Und schließlich griff Horváth einen Vorschlag auf, den er bereits im Dezember 1989 Ministerpräsident Miklós Németh unterbreitet hatte,518 nämlich die Einrichtung eines jährlich einmal tagenden „Deutsch-Ungarischen Forums“, auf dem die bilateralen Beziehungen regelmäßig umfassend überprüft werden sollten. Nachdem sich die ungarische Botschaft in Bonn unter Horváth mit konkreten Aspekten der (west)deutsch-ungarischen Beziehungen befasst hatte, war im neuen ungarischen Außenministerium eine „deutsche Arbeitsgruppe“ eingesetzt worden, die sich mit den Herausforderungen der deutschen Einheit für Europa im Allgemeinen und für Ungarn im Speziellen beschäftigte. Am 24. Mai 1990, kurz nach der Unterzeichnung des Vertrags über die Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, legte die Arbeitsgruppe der Führung des ungarischen Außenministeriums zwei Dokumente vor, in denen die besondere Relevanz und Dringlichkeit des Themas dargelegt und eine Reihe grundsätzlicher Vorstellungen entwickelt wurden.519 Das erste Dokument verwies vor allem auf die Notwendigkeit, die sich für Ungarn aus dem Vereinigungsprozess ergebende Situation vor dem Hintergrund der früheren dynamischen Entwicklung der deutsch-ungarischen Beziehungen eingehend zu analysieren, eine prinzipiellen Standpunkt zur deutschen Einheit zu entwickeln und eine entsprechende außenpolitische Konzeption vorzubereiten. Das zweite Dokument wiederholte unter anderem die – längst bekannten bzw. anerkannten – Tatsachen, dass es sich bei der deutschen Vereinigung um eine unumgänglichen „objektiven Prozess“ handle, mit der Einheit eine „Wirtschaftsmacht neuer Qualität“ entstehe und das vereinigte

516  Ebenda. 517  Letzteres spielte insofern eine wichtige Rolle, als – wie Horváth erklärte – „die Funktion Ungarns als Treffpunkt für die Ost- und Westdeutschen“ nun ein Ende finden würde (ebenda). 518  Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident Miklós Németh vom 11. Dezember 1989. In: Horváth/ Heltai, A magyar–német játszma, S. 261. 519  Aufzeichnung des ungarischen Außenministeriums über die Auswirkungen der deutschen Vereinigung auf Europa und Ungarn vom 24. Mai 1990 (MNL OL, XIX-J-1-j 1990, 53. d., 0077/28/1990, ohne Paginierung) (= Dokument 65).

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Deutschland zum wichtigsten Wirtschaftspartner Ungarns werden würde. Dann skizzierte es die drei Ebenen der zukünftigen bilateralen Kooperation, nämlich die Ebene der „Makrostrukturen“, auf der versucht werden müsse, die Beziehungen zu Deutschland als „konkretes Sprungbrett“ für die europäische Integration Ungarns zu nutzen, die Ebene der „klassischen“ bilateralen Kontakte, die stabilisiert, erneuert und ausgeweitet werden sollten, sowie die Mikroebene, wobei auf die wachsende Bedeutung der Zusammenarbeit mit den Bundesländern, Städten und „Landschaftseinheiten“ verwiesen wurde. Konkrete Vorschläge zu den zukünftigen bilateralen Beziehungen wurden auch in diesem Teil nicht unterbreitet. Die in den beiden Dokumenten formulierten Vorstellungen und Vorschläge fassten im Wesentlichen bekannte Grundpositionen und Vorhaben zusammen und verdeutlichten letztlich den Sachverhalt, dass das Budapester Außenministerium nach dem Regierungswechsel – ganz im Gegensatz zur ungarischen Botschaft in Bonn– bei seiner Suche nach Antworten auf die Herausforderungen der deutschen Einheit noch ganz am Anfang stand. Dieser Sachverhalt führte ganz offensichtlich auch dazu, dass sich Ministerpräsident József Antall bei seiner Besuchsdiplomatie gegenüber der Bundesrepublik in den folgenden Monaten ganz auf die Position der Botschaft in Bonn unter István Horváth stützte.520 Entsprechend dem Vorschlag von Botschafter Horváth traf der neue ungarische Ministerpräsident am 26./27. Mai 1990 in Berlin zu einer inoffiziellen Kurzvisite ein und führte erstmals in dieser Funktion ein Gespräch mit Bundeskanzler Helmut Kohl. Zur Vorbereitung dieser kurzen informellen Unterredung hatte das Außenministerium am 25. Mai 1990 ein Papier mit den wichtigsten „Gesichtspunkten“, die Antall bei seinem Gespräch mit dem Bundeskanzler berücksichtigen bzw. vertreten sollte, erstellt.521 In der Vorlage wurde – im Sinne der oben dargelegten Vorschläge – zum einen das strategische Ziel Ungarns unterstrichen, den gegenwärtigen Stand der Kooperation mit beiden deutschen Staaten in den wichtigsten Bereichen auch in Zukunft zu erhalten und neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu eruieren, zum anderen die Vereinbarung einer Bonn-Visite von Außenminister Géza Jeszenszky und eines möglichst baldigen offiziellen Staatsbesuchs von Ministerpräsident Antall in der Bundesrepu­blik empfohlen. (In Zusammenhang mit Letzterem wies das Papier auch auf den hohen politischen Symbolgehalt der Tatsache hin, dass dies den ersten derart hochrangigen Auslandsbesuch des neuen ungarischen Ministerpräsidenten darstellen würde.) Darüber hinaus enthielt das Dokument ein in zweifacher Hinsicht aufschlussreiches

520  Wie Horváth in seinen Erinnerungen feststellte, hatte Ministerpräsident Antall – seinen Kenntnissen nach – keinen Berater, der in den „deutschen Angelegenheiten“ bewandert war (Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 216). 521  A magyar Külügyminisztérium IV. Területi Főosztályának javaslatai Antall Józsefnek Helmut Kohl NSZK szövetségi kancellárral folytatandó megbeszéléséhez. 1990. május 25. [Vorschläge der IV. Gebietshauptabteilung des ungarischen Außenministeriums zur Unterredung von József Antall mit Bundeskanzler Helmut Kohl]. In: Sáringer (Hrsg.), Iratok az Antall-kormány külpolitikájához és diplomáciához, Bd. 1, S. 250–252.



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Vorhaben, und zwar den Vorschlag, zur Koordinierung der Arbeit der beiden Botschaften den Bonner Botschafter István Horváth auch in Ostberlin zu akkreditieren. Diese Absicht zeigte zum einen die große Bedeutung, die der neue Regierungschef der Tätigkeit von Horváth in dieser Übergangsphase zuschrieb, zum anderen hatte dieser Schritt natürlich auch in Bezug auf die deutsche Einheit eine eindeutige symbolische Bedeutung. Dementsprechend wurde das Vorhaben in beiden deutschen Staaten als „zukunftsweisende ungarische Initiative“ freudig begrüßt, während es in anderen Ländern auf Zurückhaltung oder gar Unverständnis stieß.522 Bei dem – nicht protokollierten – kurzen Treffen der beiden Regierungschefs kam ganz offensichtlich zumindest ein Teil der obigen Themen zur Sprache. Wie aus einem späteren Schreiben József Antalls an Helmuth Kohl hervorgeht,523 wurde bei dieser Gelegenheit von Antall die Absicht der doppelten Akkreditierung Horváths, mit der – laut Antall – ein „guter Präzedenzfall auch für andere Staaten“ geschaffen werden sollte,524 angekündigt. (Nach der Zustimmung der ostdeutschen Seite wurde Horváth am 18. Juli 1990 auch in Berlin akkreditiert.) Und Bundeskanzler Kohl bot – in Abstimmung mit den Ländern Bayern und Baden-Württemberg – dem neuen ungarischen Ministerpräsidenten verschiedene materielle und ideelle Unterstützungen für seine Ministerien bzw. für die Reform der zentralen Staats- und der regionalen bzw. örtlichen Selbstverwaltung sowie auf dem Gebiet von Managerausbildung und Unterricht an. Kurz nach dem Treffen in Berlin und drei Wochen vor dem offiziellen Staatsbesuch des ungarischen Ministerpräsidenten in der Bundesrepublik Deutschland verfasste der designierte „Doppelbotschafter“ István Horváth – auf persönliches Ersuchen József Antalls – ein Informationsschreiben, in dem er dem Regierungschef die ungarischen Anliegen, die gegenüber der Bundesrepublik vertreten werden sollten, besonders ausführlich darlegte.525 (Wie aus den Erinnerungen Horváths hervorgeht, sah der Botschafter in dem Treffen eine besondere Möglichkeit, die Politik der Vorgängerregierung zugunsten Ungarns (weiter) zu „verzinsen“, und bereitete „den Besuch in diesem Sinne besonders sorgfältig vor“, wozu er auch vertrauliche Gespräche mit deutschen Akteuren führte.)526 Im Mittelpunkt der Ausführungen von Horváth standen drei Anliegen: Erstens regte der Botschafter an, die Bundesrepublik um eine

522  Vgl. Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 231–232. 523  Antall József baráti hangvételű levele Helmut Kohlnak. 1990. június 8. [In freundschaftlichem Ton verfasster Brief von József Antall an Helmut Kohl. 8. Juni 1990]. In: Sáringer (Hrsg.), Iratok az Antall-kormány külpolitikájához és diplomáciához, Bd. 1, S. 270. 524  Ebenda. 525  Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident József Antall vom 31. Mai 1990. In: Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 213–215; Jahresbericht 1989/90 des ungarischen Botschafters István Horváth in Bonn (MNL OL, XIX-J-1-j 1990, 54. d., 42/Sz.T./1990, ohne Paginierung) (= Dokument 66). 526  Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 213, S. 216.

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verstärkte finanzielle Unterstützung in Form von Finanzhilfen, Krediten bzw. Kreditbürgschaften zu ersuchen. Um dieses Ziel zu fördern, sollte Bonn genau über die ungarischen wirtschaftspolitischen Absichten informiert werden. Zweitens plädierte Horváth dafür, über die Fortführung der Verträge bezüglich der ungarischen Arbeitskräfte in beiden Staaten zu verhandeln und eine Kontingenterhöhung anzustreben. Und drittens riet Horváth dem Ministerpräsidenten, den Wunsch nach Unterstützung bei der Reform des ungarischen Selbstverwaltungswesens und der ungarischen Polizei zum Ausdruck zu bringen. Im Juni 1990 stellte daraufhin auch das Amt des Ministerpräsidenten eine Vorlage für den Westdeutschland-Besuch von Antall zusammen, und zwar konkret einen Verhandlungsvorschlag für das Treffen mit dem Bundeskanzler.527 Die darin enthaltenen, detailliert ausgearbeiteten Vorstellungen basierten im Wesentlichen auf den Vorarbeiten Horváths und sollten als Verhandlungsgrundlage über die Bonner Botschaft der westdeutschen Seite übergeben werden, was allerdings – in Form von zwei Schreiben Antalls an den Bundeskanzler – lediglich hinsichtlich des gewünschten Überbrückungskredits und einiger anderer finanzieller Unterstützungsvorhaben geschah.528 Im Zentrum des vom Amt des Ministerpräsidenten verfassten Dokuments stand die allgemeine Bitte Ungarns um deutsche materielle und fachlich-ideelle Unterstützung beim Aufbau der am westdeutschen Beispiel ausgerichteten sozialen Marktwirtschaft, um politische Hilfe im Prozess der Assoziation und Integration Ungarns in die Europäische Gemeinschaft und um den Erhalt der mit der DDR entwickelten wirtschaftlichen Zusammenarbeit unter marktwirtschaftlichen Bedingungen. Bezüglich Letzterem stellte das Dokument fest: „Wir freuen uns über die Vereinigung der beiden deutschen Staaten und unterstützen diese bedingungslos. Wirtschaftlich ist allerdings die Gefahr aufgetreten, dass unser ökonomisches

527  Témavázlat Antall József és Helmut Kohl 1990. június 21-re tervezett találkozójára. 1990. június [Themenskizze für das für den 21. Juni 1990 geplante Treffen von József Antall und Helmut Kohl. Juni 1990]. In: Sáringer (Hrsg.), Iratok az Antall-kormány külpolitikájához és diplomáciához, Bd. 1, S. 253–263. 528  Antall József levele Helmut Kohlnak. 1990. június 8. [Schreiben von József Antall an Helmut Kohl. 8. Juni 1990]. In: Sáringer (Hrsg.), Iratok az Antall-kormány külpolitikájához és diplomáciához, Bd. 1, S. 267–269; Antall József baráti hangvételű levele Helmut Kohlnak. 1990. június 8. [In freundschaftlichem Ton verfasster Brief von József Antall an Helmut Kohl. 8. Juni 1990]. In: ebenda, S. 270. Im ersten Schreiben legte Antall ausführlich dar, welche rigiden Sparmaßnahmen die neue Regierung – in Abstimmung mit dem IMF und der Weltbank – in Angriff nehmen wollte, welche Kreditvereinbarungen Ungarn mit der Europäischen Gemeinschaft (1 Milliarde Dollar) abschließen konnte bzw. welche Kreditaufnahmen mit der Weltbank (200 Millionen Dollar) und dem IMF (2,5 Milliarden Dollar) geplant waren, und ersuchte schließlich den Bundeskanzler um die Vermittlung eines Überbrückungskredits von deutschen Banken in Höhe von 1 Milliarde DM zur Wahrung der ungarischen Zahlungsfähigkeit. Im zweiten Schreiben ging Antall positiv auf die Unterstützungsangebote, die der Bundeskanzler in Hinblick auf die ungarischen Ministerien bzw. auf die Reform der Staatsverwaltung und des Selbstverwaltungswesens unterbreitet hatte, ein.



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Beziehungssystem, das wir zur DDR entwickelt haben, absturzartig einbrechen wird. […] Wir ersuchen die deutsche Seite, den Erhalt der früheren ungarisch-deutschen (BRD und DDR zusammen) wirtschaftlichen Kooperation auch im Rahmen des vereinten Deutschlands als politische und wirtschaftspolitische Priorität zu behandeln.“529

Anschließend wurde dargelegt, dass Ungarn seine gewaltigen Zahlungsbilanz- und Schuldenprobleme mittels einer langfristigen Steigerung der Exporte zu überwinden beabsichtige.530 Für die dazu notwendige Entwicklung der ungarischen Wirtschaft sollte Deutschland um eine Reihe von Finanzmaßnahmen ersucht werden: Zur Überwindung „kurzfristiger Spannungen“ sollte um einen erneuten deutschen Kredit bzw. um eine Kreditbürgschaft in Höhe von – nunmehr – 800 Millionen DM und für das nächste halbe Jahrzehnt, zumindest aber für das dreijährige ungarische Wiederaufbauprogramm von 1991 bis 1994, um die Einrichtung eines „finanzielle Reservefonds“ durch Deutschland gebeten werden, der Ungarn gegen „in der Region unerwartet auftretende politisch-wirtschaftliche Veränderungen“ und gegen „Schwankungen auf dem internationalen Devisenmarkt“ gleichermaßen absichern sollte.531 Darüber hinaus sollte Deutschland zu einer teilweisen Umwandlung der bestehenden ungarischen Schulden veranlasst werden: „Wir ersuchen außerdem darum, zu erwägen, zur Bewältigung der deutschen Kreditforderungen, die etwa 40 Prozent unseres Schuldenstandes ausmachen, solche neuen Techniken anzuwenden, die einen Teil der Kreditforderungen in deutsche Investitionen, in deutsches Eigentum in Ungarn, umwandeln.“532

Im Folgenden enthielt das Dokument eine Reihe von Vorschlägen für weitere mögliche deutsche Unterstützungsmaßnahmen. Diesbezüglich wurde an eine deutsch-ungarische Arbeitsgruppe gedacht, die den Übergang zu einer sozialen Marktwirtschaft der Prägung Adenauers und Erhardts ideell unterstützen sollte, sowie an fachliche Hilfe beim Aufbau des ungarischen Selbstverwaltungswesens und bei der Errichtung eines sozialpolitischen Netzes. Die deutsche Politik sollte außerdem Investitionen deutscher Unternehmen in den Bereichen verarbeitende Industrie und insbesondere Infrastrukturentwicklung, eine Beteiligung der deutschen Wirtschaft an der für 1995 geplanten Weltausstellung Wien-Budapest und die Tätigkeit deutscher Banken in

529  Témavázlat Antall József és Helmut Kohl 1990. június 21-re tervezett találkozójára. 1990. június [Themenskizze für das für den 21. Juni 1990 geplante Treffen von József Antall und Helmut Kohl. Juni 1990]. In: Sáringer (Hrsg.), Iratok az Antall-kormány külpolitikájához és diplomáciához, Bd. 1, S. 255. 530  Bezüglich dieser Problematik legte das Dokument grundsätzlich dar: „Unsere Wirtschaftspolitik will diese [Problematik] nicht durch Importverringerung, Stundung oder Bankrotterklärung lösen, sondern durch eine Deckung zuerst der Zinsen, dann des gesamten Schuldendienstes aus dem Außenhandelsaktivum mittels Exportsteigerung.“ (Ebenda, S. 256). 531  Ebenda, S. 256–257. 532  Ebenda, S. 257.

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Ungarn anregen sowie materielle und ideelle Unterstützung bei der Reorganisation des Innenministeriums und der Polizei leisten. Und als weitere Kooperations- und Unterstützungsmöglichkeiten, die von Antall angesprochen werden sollten, wurde – unter anderem – aufgeworfen, deutsche Unternehmen könnten auch ungarische Kreditforderungen übernehmen, es könnte mittels einer weiteren deutschen Kreditgarantie ein Sozialfonds in Höhe von 0,5 bis 1 Milliarde DM zur Deckung der sozialen Kosten von Privatisierung und Strukturwandel eingerichtet werden, und es sollte versucht werden, das gegenwärtige Kontingent von ungarischen Arbeitskräften in Westund Ostdeutschland (4.700 bzw. 3.000 Personen) nicht nur zu erhalten, sondern auf 10.000 Personen im vereinten Deutschland zu erhöhen. Der offizielle Staatsbesuch des ungarischen Ministerpräsidenten fand vom 19. bis 21. Juni 1990 statt.533 Er stellte den ersten offiziellen Besuch des neuen ungarischen Regierungschefs im Ausland dar und verwies damit – wie angesprochen – auch auf die herausragende Bedeutung der Beziehungen Ungarns zur Bundesrepublik. Während seiner Reise, die József Antall nach Bonn sowie – analog zu den Staatsbesuchen von Károly Grósz und Miklós Németh – auch nach München und Stuttgart führte, kam es zu Unterredungen mit Bundeskanzler Helmut Kohl und den Ministerpräsidenten Max Streibl (CSU) und Lothar Späth (CDU). Außerdem fanden Gespräche mit weiteren führenden Bundes-, Landes- und Parteipolitikern, darunter Außenminister HansDietrich Genscher und Ex-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, sowie Treffen mit herausragenden Vertretern der Wirtschafts- und Finanzbranche statt. Gegenüber der westdeutschen Seite vertrat Antall im Wesentlichen diejenigen Vorstellungen, die zuvor in der Bonner Botschaft bzw. im Außenministerium und im Amt des Ministerpräsidenten entwickelt worden waren. Lediglich die – durchaus bedeutende – Frage der Umwandlung deutscher Kreditforderungen in deutsches Eigentum in Ungarn, wurde von Antall – gemäß dem Bericht – allem Anschein nach nicht aufgeworfen. Die Anliegen der ungarischen Seite wurden – vor dem Hintergrund der Geschehnisse im Vorjahr und der Haltung Ungarns zur deutschen Einheit – sowohl in Bonn als auch in den Bundesländern mit großem Verständnis und Wohlwollen aufgenommen, und es wurde weitestgehende Hilfs- und Kooperationsbereitschaft demonstriert. So erklärten sich die Ministerpräsidenten der Länder – unter anderem – bereit, den Kreditwünschen Ungarns entgegenzukommen, die – wenn auch bislang nur schleppend anlaufende – Manager- und Facharbeiterausbildung weiter zu unterstützen, sich an der geplanten Weltausstellung zu beteiligen, Investitionen von Unternehmen ihrer Bundesländer und Gründungen von Banken in Ungarn anzuregen bzw. zu prüfen und eine Kooperation im Bereich der Innenministerien, also bei Polizei und Verwal-

533  Ungarischsprachiger Bericht des ungarischen Außenministeriums vom 26. Juni 1990 über den Besuch von Ministerpräsident Antall in der Bundesrepublik Deutschland (MNL OL, XIX-J-1-j 1990, 53. d., 002417, ohne Paginierung) (= Dokument 69). Ein entsprechender Bericht der westdeutschen Seite befindet sich leider nicht unter den bisher freigegebenen Dokumenten des Auswärtigen Amts.



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tung, herbeizuführen. Bundeskanzler Helmut Kohl strich zu Beginn des Gesprächs mit József Antall zudem seine Bereitschaft heraus, Ungarn in den Außenbeziehungen der Bundesrepublik auch weiterhin eine Sonderstellung einzuräumen, das Land also nicht „in einen Topf“ mit den anderen ehemaligen sozialistischen Staaten zu werfen.534 In den anschließenden Gesprächen, die „in einer außerordentlich vertrauensvollen und freundschaftlichen Atmosphäre“535 erfolgten, thematisierte Antall die – dargelegten – grundlegenden Unterstützungsersuchen der ungarischen Seite, darunter die „Schaffung eines sozialen Netzes“, „eventuell mittels der Einrichtung eines Sozialfonds“, die Gewährung eines Kreditrahmens für Existenzgründungen, die Gewährung eines Überbrückungskredits von 800 Millionen DM, die Übernahme des DDR-Arbeitskräftekontingents im vereinten Deutschland, die finanzielle und fachliche Hilfe bei der Verwaltungs- bzw. Selbstverwaltungsreform und die Schaffung eines Fonds zur Errichtung von Unterrichtszentren in Ungarn. Auf alle diese Wünsche reagierte der Bundeskanzler positiv: „Kanzler Kohl gab zur Erfüllung aller unserer Ersuchen ein Versprechen ab.“536 Hinsichtlich des Kreditersuchens von 800 Millionen DM erklärte Kohl, die Bundesrepublik würde nach seinen Vorstellungen 500 Millionen übernehmen, 300 Millionen würden voraussichtlich andere europäische Staaten gewähren. Hinsichtlich der „Außenwirkung“ dieser Kreditgewährung erklärte Kohl: „Die Regierung der BRD wolle damit gegenüber der Finanzwelt demonstrieren, dass die europäischen Staaten Vertrauen in die ungarische Regierung hätten und auch weiterhin bereit seien, die Verwirklichung des Programms der ungarischen Regierung aktiv zu unterstützen.“537

Darüber hinaus kamen die beiden Regierungschefs überein, eine „kleine strategische Gruppe“ zu gründen, die die aufgeworfenen Vorhaben genau prüfen und ein „Aktionsprogramm“ zu ihrer Verwirklichung ausarbeiten sollte, wobei die Koordinierungsaufgaben dem Kanzlerberater Horst Teltschik und dem ungarischen Staatssekretär György Matolcsy übertragen werden sollten. Und schließlich gab Bundeskanzler Kohl dem ungarischen Ministerpräsidenten eine grundlegende Zusicherung hinsichtlich der Auswirkungen der deutschen Einheit auf Ungarn:

534  Ganz im Sinne einer weiterhin „differenzierten“ Behandlung Ungarns sollte sich wenig später auch Kanzlerberater Horst Teltschik gegenüber dem ungarischen Staatssekretär György Matolcsy aussprechen (Matolcsy György, a Miniszterelnöki Hivatal politikai államtitkárának tárgyalása a Német­ országi Szövetségi Köztársaságban. 1990. augusztus 21. [Verhandlungen des politischen Staatssekretärs im Amt des Ministerpräsidenten György Matolcsy in der Bundesrepublik Deutschland. 21. August 1990]. In: Sáringer (Hrsg.), Iratok az Antall-kormány külpolitikájához és diplomáciához, Bd. 1, S. 282). 535  Ungarischsprachiger Bericht des ungarischen Außenministeriums vom 26. Juni 1990 über den Besuch von Ministerpräsident Antall in der Bundesrepublik Deutschland (MNL OL, XIX-J-1-j 1990, 53. d., 002417, ohne Paginierung) (= Dokument 69). 536  Ebenda. 537  Ebenda.

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„Kanzler Kohl machte abschließend das entschiedene Versprechen, die Regierung der BRD werde jede Unterstützung dazu gewähren, damit die sich aus der Wiedervereinigung ergebende Rekonstruktion der ungarisch-ostdeutschen Beziehungen keine bedeutenderen Verluste für die ungarische Wirtschaft bewirkt.“538

Eine derartige Zusage gab – so der Bericht – auch Ex-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff: „Als ehemaliger Wirtschaftsminister und Experte für Wirtschaftsfragen sowie ausgehend davon, dass er [Lambsdorff] Vorsitzender jener Partei sei, die im Besitz des Wirtschaftsressorts sei, werde er alles unternehmen, damit die Wiedervereinigung für Ungarn mit den kleinstmöglichen negativen Folgen einhergehe.“539

Mit den Ergebnissen des Staatsbesuchs konnten nicht nur der ungarische Regierungschef und seine Diplomaten in Bonn zufrieden sein,540 auch die bundesdeutsche Seite äußerte sich – laut einem Telegramm der ungarischen Botschaft – sehr positiv über den Antall-Besuch: „Die Treffen – deren Verlauf denjenigen ähnlich war, die in Westeuropa seit langem üblich sind – zeigen, dass Ungarn beginnt, ein integraler Teil des westeuropäischen politischen Blutkreislaufs zu werden.“541

In Ungarn selbst häuften sich nun allerdings auch Stimmen, die gerade aufgrund der zahlreichen, politisch und wirtschaftlich gewichtigen Ergebnisse des Antall-Besuch bzw. wegen der besonderen Intensität der bilateralen Beziehungen deutliche Vorbehalte und Sorgen zum Ausdruck brachten. Diesbezüglich schrieb Botschafter István Horváth später in seinen Memoiren: „Die Medienberichterstattungen, die den Deutschland-Besuch József Antalls begleiteten, ließen bereits erahnen, dass ein Teil der ungarischen politischen Elite die ‚neuzeitliche‘ Entwicklung der ungarisch-deutschen Beziehungen nicht wohlwollend betrachtete. […] Es erhoben sich […]

538  Ebenda. 539  Ebenda. 540  „Die Unterredungen haben bewiesen, dass die Regierung der BRD – trotz der bedeutenden, sich aus der Wiedervereinigung ergebenden Aufgaben und in Anerkennung der bedeutenden Schritte, die Ungarn im Interesse der Schaffung der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und damit zugleich zur Überwindung der europäischen Teilung und der konsequenten Durchführung des Demokratisierungsprozesses unternahm – auch weiterhin bereit ist, unser Land aktiv und konkret zu unterstützen.“ (Ebenda). 541  Rejtjeltávirat Bonnból. Antall József Németországi Szövetségi Köztársaságban tett látogatásának helyi visszhangjáról. 1990. június 26. [Verschlüsseltes Telegramm aus Bonn. Dortiges Echo auf den Besuch von József Antall in der Bundesrepublik Deutschland. 26. Juni 1990]. In: Sáringer (Hrsg.), Iratok az Antall-kormány külpolitikájához és diplomáciához, Bd. 1, S. 279.



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auch besorgte Stimmen, die in einer engeren Zusammenarbeit mit Deutschland […] die Gefahren einer neuerlichen, ‚in eine Katastrophe mündenden‘ Zusammenarbeit zu erkennen meinten.“542

Trotz der Bedenken vor einer „übermäßigen deutschen Orientierung“,543 die sowohl in Teilen des Regierungslagers als auch – vor allem – bei der liberalen Opposition geäußert wurden,544 entwickelten sich die bilateralen Beziehungen in den folgenden Wochen und Monaten „plangemäß“ weiter.545 Nachdem es bereits vor dem Staatsbesuch von József Antall – im Zuge des Besuchs einer Delegation des Deutschen Bundestags in Budapest – zu einer ersten Kontaktaufnahme der beiden Parlamente gekommen und ein umfassender Ausbau der Beziehungen zwischen den Volksvertretungen vereinbart worden war, traf in der zweiten Juliwoche 1990 Bundesverteidigungsminister Gerhard Stoltenberg mit einer Delegation in Ungarn ein. Bei den Besprechungen mit seinem ungarischen Amtskollegen, die in den vorangegangenen Jahren kaum denkbar gewesen wären, ging es einerseits um den Stand des Abzugs der sowjetischen Truppen aus Ungarn, um das Verhältnis Ungarns zum Warschauer Pakt und um die Pläne zur Modernisierung der ungarischen Armee bzw. um die zukünftige ungarische Verteidigungsdoktrin, andererseits wurden Kooperationsmöglichkeiten auf militärischem Gebiet erörtert. Nachdem bereits im Mai 1990 das ungarische Kulturinstitut in Stuttgart eröffnet worden war, zeugten die Eröffnung des Generalkonsulats der Republik Ungarn in München Mitte Juli 1990 und die Vorbereitung der Einrichtung eines deutschen Generalkonsulats in Pécs (Fünfkirchen) ebenfalls von den sich weiter intensivierenden Beziehungen, auch wenn die diesbezüglichen Entscheidungen natürlich schon vor dem Regierungswechsel getroffen worden waren. Währenddessen offenbarten sich in den ersten Monaten der Antall-Regierung allerdings nicht nur Befürchtungen vor einem übermäßigen Einfluss des vereinigten Deutschland in Ungarn, sondern – ganz im Gegenteil – auch Besorgnisse über ein verringertes deutsches Engagement. So hatte sich bereits Mitte Juni 1990, eine Woche vor dem Staatsbesuch von Ministerpräsident Antall, der Generalsekretär des Demokratischen Verbandes der Deutschen in Ungarn (MNDSZ) Géza Hambuch in einem Schreiben an Bundesaußenminister Genscher (sowie an Bundeskanzler Helmut

542  Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 225. 543  Ebenda. 544  Exemplarisch sei hier auf einen Artikel der liberalen Zeitschrift Figyelő verwiesen, in dem die Ablösung der einseitigen Moskau-Orientierung durch eine einseitige deutsche Orientierung beanstandet wurde (Figyelő, 1. November 1990, S. 3) sowie auf eine deutschlandkritische Stellungnahme von dem SZDSZ-Politiker und Staatspräsidenten Árpád Göncz, der bei einem USA-Besuch Anspielungen auf das vereinte Deutschland als einen Bedrohungsfaktor für die Region Ostmitteleuropa machte (Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 257–259). 545  Zur Entwicklung der westdeutsch-ungarischen Beziehungen im Sommer 1990 siehe den Jahresbericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Außenminister Géza Jeszenszky vom 5. Juli 1990) (MNL OL, XIX-J-1-j 1990, 54. D., 42/Sz.T./1990, ohne Paginierung) (= Dokument 71).

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Kohl und Ministerpräsident Antall) gewandt.546 In diesem wies er auf die Gefahr des vollständigen Identitätsverlusts der Ungarndeutschen hin und ersuchte um weitere Unterstützung, um diesem Prozess – mittels einer neuen ungarischen Minderheitenpolitik und fortgesetzter, intensivierter deutscher Unterstützung – entgegenzuwirken: „Wir suchen unser Glück in unserer angestammten Heimat, in Ungarn. Hier wollen wir Deutsche bleiben. Ohne größere eigene Anstrengungen sind wir als Volksgruppe verloren. Verloren sind wir aber auch ohne unentbehrliche rechtliche Garantien (Minderheitengesetz) und institutionelle Voraussetzungen wie echte deutsche Kindergärten, Schulen, Medien, deutschen Gottesdienst.“547

Hambuchs Sorge war durchaus begründet, da der Assimilationsprozess der Ungarndeutschen nach Jahrzehnten einer minderheitenfeindlichen Politik Ungarns Ende der 1980er tatsächlich weit fortgeschritten war.548 Nachdem sich – wie gezeigt – in diesem Bereich im Herbst 1986, mit dem Besuch von Bundespräsident Richard von Weizsäcker, erste positive Veränderungen abgezeichnet hatten, sollte sich die Situation der Ungarndeutschen durch die – dargelegte – Reihe von Maßnahmen, die auch unter der Antall-Regierung fortgeführt wurden,549 aber doch deutlich verbessern. Im Vorfeld der deutschen Einheit wurden noch weitere bzw. weiterbestehende ungarische Sorgen thematisiert: Die ungarische Botschaft griff so im Sommer 1990 mehrfach die Frage nach der Zukunft der vertraglich-institutionellen Beziehungen mit der DDR auf, und zwar nicht nur auf wirtschaftlicher Ebene. Bereits am 21. Juni 1990, zeitgleich mit dem Bonn-Besuch von Ministerpräsident József Antall, sprach Botschaftssekretär József Czukor im Auswärtigen Amt vor und betonte die dringende Notwendigkeit, die mit der DDR geschlossenen Verträge über Rechtshilfe und Sozialpolitik fortzuführen bzw. zu modifizieren.550 Und auch bei den Kultur- und Unter-

546  Schreiben des Generalsekretärs des Demokratischen Verbandes der Deutschen in Ungarn Géza Hambuch an Bundesaußenminister vom 13. Juni 1990 bezüglich der zukünftigen Unterstützung der Ungarndeutschen (MNL OL, XIX-J-1-k 1990, 71. D., ohne Paginierung) (= Dokument 67). 547  Ebenda. 548  Ausführlich hierzu siehe Seewann, Geschichte der Deutschen in Ungarn, Bd. 2, S. 369–400. 549  In diesem Zusammenhang sei vor allem auf die Gemeinsame Erklärung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Ungarn über die Förderung der deutschen Minderheit und des Unterrichts von Deutsch als Fremdsprache in der Republik Ungarn vom 25. September 1992 (PA AA, BILAT UNG 55, ohne Paginierung), die an der Regierungserklärung vom 7. Oktober 1987 (= Dokument 3) anknüpfte, verwiesen. Ein ungarisches Minderheitengesetz wurde 1993 verabschiedet (näheres hierzu siehe Herbert Küpper, Das neue Minderheitenrecht in Ungarn. München 1998). 550  Aufzeichnung des Auswärtigen Amts vom 26. Juni 1990 über die Vorsprache des ungarischen Botschaftssekretärs József Czukor bezüglich der Fortführung von Verträgen zwischen der DDR und Ungarn (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.716 E, ohne Paginierung) (= Dokument 70). Das Auswärtige Amt sicherte Czukor daraufhin zu, sich der Thematik anzunehmen und mit der ungarischen Seite „in engem Kontakt“ zu bleiben.



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richtsbeziehungen warf sich die Frage auf, wie die umfangreichen, intensiven und langjährigen Kontakte in diesem Bereich weitergeführt bzw. transformiert werden könnten. In diesem Zusammenhang ging es beispielsweise um die konkrete Frage, wie es zukünftig mit dem Haus der Ungarischen Kultur in Ostberlin weitergehen sollte oder was mit der Kooperation im Hochschul- und Unterrichtswesen (insbesondere auch beim Stipendiaten- und Lehreraustausch), geschehen sollte. Hierbei strebte die ungarische Seite in der Regel danach, die mit der DDR entwickelten Vertragsbeziehungen nach der Vereinigung übergangsweise fortzuführen, und dann neue Verträge mit dem vereinten Deutschland – auf der Grundlage der Prinzipien der mit Westdeutschland abgeschlossenen Verträge – auszuhandeln.551 Diesbezügliche Lösungen sollten sich zwar erst in den Jahren nach der Vereinigung ergeben, Ungarn konnte dabei aber – wie auch bisher – mit einer wohlwollenden Entscheidung der Bundesrepublik rechnen. Trotz der erwähnten Zusagen von bundesdeutscher Seite, es werde alles unternommen, um negative wirtschaftliche Einflüsse der deutschen Einheit auf Ungarn zu vermeiden, griff der ungarische Botschafter in Bonn István Horváth dieses Thema auch im Sommer 1990 noch mehrmals auf. Bezeichnenderweise äußerte Horváth seine Befürchtungen aber nicht gegenüber Bonn, sondern in erster Linie gegenüber der eigenen Regierung. So machte er Anfang Juli 1990 Außenminister Géza Jeszen­szky – neben allgemeinen Problemen der Wirtschaftskooperation mit der Bundesrepu­ blik552 – erneut auf die Frage der Weiterführung der Abkommen mit der DDR aufmerksam, und äußerte in diesem Zusammenhang: „Eine herausragend wichtige Frage, die in unseren Tagen aktuell wird, ist, was mit dem Zustandekommen der Einheit mit unseren Abkommen, die mit der DDR in Kraft sind, passieren wird. Unsere Straßen-, Luft- und Eisenbahnabkommen usw. garantieren [beispielsweise] den ungarischen Spediteuren viel bessere Tarife, als in der Relation zur BRD.“553

551  Siehe hierzu Schmidt-Schweizer, Die deutsche Einheit als Herausforderung für Ungarn (in Vorbereitung). In diesem Zusammenhang schlug Botschafter Horváth beispielsweise vor, „das mit der DDR geschlossene [Kultur-] Abkommen nicht zu verlängern, und bei der Kooperation im Bereich von Kultur und Unterricht die auf der Grundlage der mit der BRD geschlossenen Abkommen (z. B. Nationalitäten-Vereinbarung, Sprachlehreraustausch, Facharbeiter- und Managerausbildung) entwickelte Praxis als „Ordnungsprinzip“ anzuwenden. (Jahresbericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Außenminister Géza Jeszenszky vom 5. Juli 1990; MNL OL, XIX-J-1-j 1990, 54. D., 42/ Sz.T./1990, ohne Paginierung) (= Dokument 71). 552  In diesem Zusammenhang erklärte der Botschafter: „Die Entwicklung unserer bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zum sich vereinigenden Deutschland hängt in bedeutendem Maße von der Geschwindigkeit unseres Übergangs zur Marktwirtschaft und von ihren Qualitätsmerkmalen ab.“ Anschließend verwies er auf „interne“ Probleme wie die „geerbte“ Bürokratie, das Fehlen eines modernen Boden- und Immobiliengesetzes sowie den mangelhaften Austausch von Wirtschaftsinformationen (ebenda). 553  Ebenda.

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In einem Schreiben, dass Horváth am 21. September 1990 an den Minister für internationale Wirtschaftsbeziehungen Béla Kádár sandte, beschäftigte sich der Botschafter aus Anlass des Inkrafttretens des Einigungsvertrages und auf der Grundlage von Gesprächen mit Vertretern der „insgesamt maßgeblichen“ westdeutschen Wirtschaftsund Finanzzirkel erneut mit den ökonomischen Herausforderungen der deutschen Einheit für Ungarn.554 Trotz gewisser rechtlicher Garantien im Einheitsvertrag,555 der grundsätzlichen deutschen Absicht, die ostdeutschen Wirtschaftskontakte zu erhalten, und dem Vorhaben der Europäischen Kommission bzw. der Bundesregierung, die Warenlieferungsprotokolle des Jahres 1990 zwischen der DDR und den RGW-Staaten bis zum 31. Dezember 1991 (und in begründeten Fälle ein weiteres Jahr) zu verlängern und so eine Übergangszeit zur Anpassung an die neuen Rahmenbedingungen zu schaffen,556 wies Horváth auf eine Reihe von Problemen, die auf Ungarn zukommen würde, hin. So müsse aufgrund der „realwirtschaftlichen Wirkung der Vereinigung“557 vor allem mit schwerwiegenden Problemen beim ungarischen Export in die ostdeutschen Gebiete gerechnet werden. Dementsprechend sei es zweckmäßig, Gespräche mit der deutschen Regierung zu führen, um Unterstützung bei der Suche nach alternativen Absatzmärkten zu erhalten und vorzuschlagen, bei Verlusten infolge massenhafter Auftragsstornierungen die Schadenssumme zur Verringerung des – voraussichtlich wachsenden – Defizits Ungarns im bilateralen Handel anrechnen zu lassen. Am 26. September 1990 ließ Botschafter Horváth dann dem ungarischen Außenminister eine Aufzeichnung über die Auswirkungen der Ausweitung des EG-Gebiets auf Ostdeutschland auf die deutsch-ungarischen Vertrags- und Wirtschaftsbeziehungen zukommen.558 In diesem Bericht legte Horváth zum einen dar, dass die Europäische Gemeinschaft bezüglich der Handelsbeziehungen zum Rechtsnachfolger der DDR

554  Schreiben von Botschafter István Horváth an den Minister für internationale Wirtschaftsbeziehungen Béla Kádár vom 21. September 1990. In: Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 234–237. 555  Der Vertrag enthielt zwar grundsätzliche Schutzbestimmungen für die Wirtschaftsverträge zwischen der DDR und den RGW-Staaten, diese waren aber an marktwirtschaftliche Gesichtspunkte (Weltmarktpreise, Qualitätsvorgaben usw.) sowie an ihre Vereinbarkeit mit den Zuständigkeiten der EG gebunden. 556  Für die in den Protokollen genannten Waren sollten seitens der EG keine Zölle erhoben werden und keine Mengenbeschränkungen gelten. Für den Import in die betreffenden RGW-Länder sollten erst ab dem 31. Dezember 1991 „harte“ Devisen benötigt werden. 557  Schreiben von Botschafter István Horváth an den Minister für internationale Wirtschaftsbeziehungen Béla Kádár vom 21. September 1990. In: Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 234–237, hier S. 235. 558  Horváth István feljegyzése Jeszenszky Gézának az Európai Közösség területének az NDK-ra történő kiterjesztéséről és annak a magyar–német szerződéses és gazdasági kapcsolataira gyakorolt hatásáról. 1990. szeptember 26. [Aufzeichnung von István Horváth an Géza Jeszenszky über die Ausweitung des Territoriums der Europäischen Gemeinschaft auf die DDR und über ihre Auswirkung auf die ungarisch-deutschen Vertrags- und Wirtschaftsbeziehungen. 26. September 1990]. In: Sáringer (Hrsg.), Iratok az Antall-kormány külpolitikájához és diplomáciához, Bd. 1, S. 286–295.



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werde und die diesbezüglichen Rechtsverpflichtungen der DDR übernehmen werde, weswegen auch mit der Europäischen Kommission Gespräche über die Zukunft der Verträge geführt werden müssten. Zum anderen wies Horváth auch Außenminister Jeszenszky darauf hin, dass in der Praxis mit einem wesentlichen Rückgang des ungarischen Exports nach Ostdeutschland zu rechnen sei, weshalb bilaterale Verhandlungen mit Deutschland zur Unterstützung des ungarischen Exports geführt werden müssten, und dass in der Handelsfrage natürlich auch eine Kooperation mit der Europäischen Kommission anzustreben sei. Horváths Vorschläge führten allerdings weder beim Minister für internationale Wirtschaftsbeziehungen Béla Kádár noch bei Außenminister Géza Jeszenszky zu politischen Reaktionen. Beide Minister bzw. ihre Mitarbeiter nahmen in dieser Frage keinen Kontakt zu den zuständigen deutschen Politikern auf, und auch der Besuch von Außenminister Jeszenszky in Bonn, zu dem es erst Mitte Oktober 1990, drei Monate nach dem Staatsbesuch von Ministerpräsident Antall, kommen sollte, führte weder zu substantiellen Gesprächen über mögliche deutsche Unterstützungsmaßnahmen für Ungarn, noch kam es zur Unterzeichnung von bedeutenderen bilateralen Abkommen. Der Besuch Jeszenszkys, der – so Botschafter Horváth – eher als Historiker denn als Diplomat aufgetreten sei, habe letztlich den Eindruck erweckt, die neue ungarische Regierung sei nicht an einer besonderen Beziehung zu Deutschland interessiert.559 Währenddessen begann auch die Zeit, in der Ungarn seinen bisherigen „Bonus“ in den Beziehungen zu Deutschland voll hätte nutzen können, „wegzu­ laufen“. Bezeichnend für das sich wandelnde Verhältnis Ungarns zur Bundesrepublik war auch, dass Budapest zwar einerseits mehrere deutsche Unterstützungsangebote in Anspruch nahm, darunter den – besonders bedeutsamen – Überbrückungskredit von 800 Millionen DM, die (weitere) Manager- und Facharbeiterausbildung sowie die Kooperation im Bereich der Innenministerien.560 Andererseits verzichtete die ungarische Regierung nach dem Staatsbesuch von Ministerpräsident Antall aber darauf, eine Reihe von Vorhaben, bei denen die bundesdeutsche Seite bereits ihre grundsätzliche oder gar konkrete Zusage erteilt hatte, umzusetzen: So wurde beispielsweise das Angebot einer umfassenden fachlichen Unterstützung auch der – übrigen – ungarischen Ministerien nicht aufgegriffen, die Idee eines von Deutschland unterstützten Sozialfonds nicht weiter verfolgt und das Ersuchen um Übernahme oder gar Ausweitung des DDR-Arbeitskräftekontingents im vereinten Deutschland fallengelassen. Auch die Einrichtung eines „Hauses Baden-Württemberg“ in Budapest, mit dem –

559  Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 250–251. 560  Ein grundlegendes Ergebnis dieser Kooperation sollte das Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Ungarn über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität (United Nation Treaty Series, Vol. 1918, I-32734. New York 1996, S. 62–72) darstellen, das am 22. März 1991 unterzeichnet wurde.

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unter anderem – deutsche Investitionen in Ungarn angeregt und Wirtschaftskontakte angebahnt werden sollten, verlief im Sande. Ganz besonders aufschlussreich war, dass die ungarische Regierung zwar das Vorhaben eines jährlich tagenden DeutschUngarischen Forums begrüßte und es so im Juni 1991 erstmals zu einem derartigen allgemeinen Gedankenaustausch kommen konnte. Die „strategische Arbeitsgruppe“, die berufen sein sollte, eine zentrale Rolle bei der konkreten Auslotung, Vorbereitung und Umsetzung der zukünftigen deutsch-ungarischen Kooperation zu spielen, nahm ihre Tätigkeit – trotz erster Vorbereitungen561 und deutschem Drängen562 – aber niemals auf. Darüber hinaus gelangten auch wichtige Vorschläge erst gar nicht auf die Tagesordnung der bilateralen Besuchsdiplomatie, darunter der Gedanke der Einbeziehung ungarischer Unternehmen in den zukünftigen „Aufbau Ost“ oder die Idee der Verrechnung von ungarischen finanziellen Einbußen durch Vertragsstornierungen mit dem ungarischen Handelsdefizit. Und auch der ganz besonders gewichtige Vorschlag, einen Teil der ungarischen Staatsschulden in deutsche Investitionen zu konvertieren, fiel – ganz offensichtlich wegen der zögerlichen Privatisierungspolitik der Antall-Regierung – völlig „unter den Tisch“. Auch wenn es nicht ganz zutrifft, dass von den Vorhaben, die während des Besuchs von József Antall in Bonn, Stuttgart und München vereinbart worden waren, „im Wesentlichen nichts verwirklicht wurde“,563 so sprach Botschafter István Horváth aufgrund dieser zahlreichen nicht genutzten Möglichkeiten – insbesondere vor dem Hintergrund der ungewöhnlich großen deutschen Kooperations- und Unterstützungsbereitschaft – doch sicherlich zurecht von einer „verpassten Chance“.564 Den Hintergrund für diese Entwicklung des deutsch-ungarischen Verhältnisses, die in der ersten Jahreshälfte 1990 wohl kaum jemand prognostiziert hätte, war in erster Linie sicherlich die Tatsache, dass innerhalb der Antall-Regierung diejenigen Kräfte, die einer noch intensiveren Kooperation mit Deutschland skeptisch gegenüberstanden, an Raum gewannen. Bezeichnend hierfür ist, dass Ministerpräsident Antall nach seinem Staatsbesuch in der Bundesrepublik offensichtlich für seine „deutschfreundliche“ Politik in den eigenen Reihen kritisiert wurde und so sich gezwungen sah, eine Verteidigungsposition zu beziehen bzw. zu erklären, dass sich Ungarn nicht „an irgendein deutsches Gängelband nehmen lassen“ wolle, und dass als Gegengewicht zum deutschen Einfluss auch die Beziehungen zu anderen westlichen Staaten und Organisationen intensiviert sowie regionale Kooperationsvorhaben

561  Matolcsy György, a Miniszterelnöki Hivatal politikai államtitkárának tárgyalása a Németországi Szövetségi Köztársaságban. 1990. augusztus 21. [Verhandlungen des politischen Staatssekretärs im Amt des Ministerpräsidenten György Matolcsy in der Bundesrepublik Deutschland. 21. August 1990]. In: Sáringer (Hrsg.), Iratok az Antall-kormány külpolitikájához és diplomáciához, Bd. 1, S. 282–283. 562  Siehe hierzu Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 233. 563  Ebenda, S. 226. 564  So der Titel des Buches von Horváth, Az elszalasztott lehetőség. Siehe hierzu insbesondere auch S. 226–227, S. 233.



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– wie die Pentagonale565 – verstärkt verfolgt werden sollten.566 Bereits Ende Mai 1990 hatte das ungarische Außenministerium im Sinne der „neuen Zurückhaltung“ gegenüber Deutschland dafür plädiert, die Beziehungen zu „regionalen Kooperationsformen ohne deutsche Beteiligung“, zur Europäischen Gemeinschaft, zu den übrigen europäischen Staaten sowie zu den USA, Japan und Südkorea zu aktivieren bzw. intensivieren. Mit Blick auf die Stärke Deutschlands und die Zeitgeschichte wurde dabei folgendermaßen argumentiert: „Die ungarische Regierung muss eine Politik des ‚Stehens auf mehreren Füßen‘ ausarbeiten. […] Die Tatsachen zeigen, dass die Beziehung zu Deutschland für unser Land entscheidend sein wird. Es muss allerdings alles dafür getan werden, dass eine Wiederholung einer einseitigen Orientierung unmöglich wird.“567

Hinter der Tatsache, dass in den bilateralen politisch-diplomatischen Beziehungen im Spätsommer und Herbst 1990 ein weitgehender Stillstand eintrat, verbargen sich allerdings keine direkten Absichten der ungarischen Regierung, die deutsch-ungarischen Beziehungen aus Furcht vor einem übermäßigen deutschen Einfluss „zurückzufahren“, sondern bedeutende innenpolitische Ereignisse in beiden Staaten: Während Deutschland in die „heiße Phase“ der Vereinigung eintrat,568 rückten in Ungarn nun die Vorbereitungen auf die Kommunalwahlen, der Wahlkampf und schließlich die Abstimmungen selbst ins Zentrum des politischen Geschehens.569

565  Nachdem im November 1989 Österreich, Italien, Ungarn und Jugoslawien in Budapest eine Zusammenarbeit auf Regierungsebene vereinbart hatten, schloss sich den vier Staaten wenig später auch die Tschechoslowakei an. Im April 1990 kam es dann zur offiziellen Gründung der Pentagonale, aus der schließlich die Central European Initiative hervorging (siehe hierzu Adrian Hyde-Price, The International Politics of East Central Europe. Manchester 1996, S. 109–114). 566  Antall József miniszterelnök beszéde az 1990. évi nagyköveti értekezleten. 1990. július 25. [Rede von Ministerpräsident József Antall auf der Botschafter-Konferenz des Jahres 1990. 25. Juli 1990]. In: Sáringer (Hrsg.), Iratok a magyar külügyminisztérium történetéhez, Bd. 1, S. 117–135, hier S. 123–124. 567  Aufzeichnung des ungarischen Außenministeriums über die Auswirkungen der deutschen Vereinigung auf Europa und Ungarn vom 24. Mai 1990 (MNL OL, XIX-J-1-j 1990, 53. d., 0077/28/1990, ohne Paginierung) (= Dokument 65). 568  In den Monaten August und September 1990 erfolgten in beiden deutschen Staaten und auf der internationalen Ebene die entscheidenden Schritte zur Herbeiführung der Einheit: Am 23. August 1990 fasste die Volkskammer der DDR gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes den Beschluss über den Beitritt zur Bundesrepublik, am 31. August 1990 erfolgte die Unterzeichnung des Einigungsvertrags und am 12. September 1990 unterzeichneten die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und die beiden deutschen Staaten den Zwei-Plus-Vier-Vertrag in Moskau. Damit war der Weg zur Verwirklichung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 frei. 569  Die erste Runde der Kommunalwahlen erfolgte am 30. September 1990, die zweite Runde am 14. Oktober 1990. Bei den Wahlen wurden in erster Linie unabhängige Kandidaten als Bürgermeister oder Stadt- bzw. Gemeinderäte gewählt. Zu einem kleineren Teil konnten auch ehemalige (kommunistische) Ratsvorsitzende oder Rätemitglieder ihre Positionen behaupten.

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 Die politisch-diplomatischen Beziehungen

Als am 3. Oktober 1990 in Deutschland und Ungarn Feierlichkeiten zur deutschen Einheit abgehalten wurden, war von einer Abkühlung der Beziehungen nichts zu verspüren, vielmehr beteiligten sich alle maßgeblichen politischen Lager Ungarns an den Veranstaltungen. Zu den offiziellen, betont zurückhaltend organisierten Feierlichkeiten in Berlin waren drei Persönlichkeiten der ungarischen Politik und Diplomatie, die sich um die bilateralen Beziehungen besonders verdient gemacht hatten, eingeladen worden:570 Ex-Ministerpräsident Miklós Németh,571 Ex-Außenminister Gyula Horn572 sowie Botschafter István Horváth. (Horváth hatte sich seit 1984 – in einer sicherlich weit über die „klassische“ Rolle eines Botschafters hinausreichenden Art und Weise – für die Entwicklung der (west)deutsch-ungarischen Beziehungen eingesetzt,573 und sollte sein Amt, nunmehr als Botschafter der Republik Ungarn im vereinten Deutschland, noch bis Herbst 1991 ausüben.) An dem Empfang, den die deutsche Botschaft am 3. Oktober 1990 in Budapest veranstaltete, nahmen Staatspräsident Árpád Göncz (SZDSZ), Ministerpräsident József Antall (MDF), Parlamentspräsident György Szabad (SZDSZ) „sowie das gesamte zur Zeit in Budapest anwesende Kabinett teil, und zwar während der gesamten Dauer.“574 Ministerpräsident Antall, der zwei Tage zuvor auch am Vereinigungsparteitag der west- und ostdeutschen Christdemokraten (CDU) in Hamburg teilgenommen hatte, übersandte Bundeskanzler Helmut Kohl ein Glückwunschtelegramm, in dem er auch den Beitrag der „ungarischen Regierung und des ungarischen Volkes zur Erfüllung dieses Wunsches“ herausstellte.575 Darüber hinaus kam es auch in Pécs (Fünfkirchen) zu einer kleinen Feier aus Anlass des Tags der deutschen Einheit, die vom „Aufbaustab“ für das dortige Generalkonsulat organisiert worden war.576

570  Siehe hierzu Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 227–231, S. 244. 571  Németh sollte in diesen Monaten aus der ungarischen Politik ausscheiden und eine Position als Vizepräsident bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung übernehmen. 572  Horn hatte – obwohl eigentlich Ministerpräsident Németh die entscheidende politische Rolle bei der Grenzöffnung im September 1989 gespielt hatte – am 25. April 1990 den Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen erhalten. 573  Kanzlerberater Horst Teltschik bezeichnete Horváth später gar als „Vermittler und Schlüsselfigur“ des deutsch-ungarischen Verhandlungsprozesses (Teltschik, Az NDK eltűnéséhez vezető fo­ lyamatot Magyarország indította el, S. 222). 574  Fernschreiben des bundesdeutschen Botschafters Alexander Arnot an das Auswärtige Amt vom 4. Oktober 1990 über die Ereignisse am Tag der deutschen Einheit in Budapest (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.729 E, ohne Paginierung) (= Dokument 74). 575  Glückwunschtelegramm des ungarischen Ministerpräsidenten József Antall vom 3. Oktober 1990 an Bundeskanzler Helmut Kohl aus Anlass der deutschen Vereinigung (MNL OL, XIX-J-1-k 1990, 72. d., 7941, ohne Paginierung) (= Dokument 73). 576  Schreiben der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt vom 9. Oktober 1990 über die Ereignisse am Tag der deutschen Einheit in Pécs (Fünfkirchen) (PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.729 E, ohne Paginierung (= Dokument 75).



Herbst 1989 bis Herbst 1990 

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Auch wenn die national-konservative Antall-Regierung und insbesondere ihr Außenminister Géza Jeszenszky – im Gegensatz zur Németh-Regierung – Bedenken vor einer „übermäßigen deutschen Orientierung“ hegten und deshalb viele Kooperations- und Unterstützungsangebote der deutschen Seite von Budapest Anfang der 1990er Jahre nicht aufgegriffen wurden, und sich gleichzeitig auch die „Unterstützungskapazitäten“ Deutschlands infolge der Kräfteabsorbierung durch die praktische Verwirklichung der Einheit wesentlich verringerten, so sollten sich die bilateralen Beziehungen in den folgenden zweieinhalb Jahrzehnten doch kontinuierlich, oftmals sogar (erneut) äußerst dynamisch weiterentwickeln.577 Den Ausgangspunkt hierfür bildete zweifellos das besondere „Beziehungsgeflecht“, das sich seit den 1960er Jahren, vor allem aber im letzten Drittel der 1980er Jahre herausgebildet hatte. Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa, der am 6. Februar 1992578 von den Regierungschefs sowie von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und Ferenc Mádl,579 Minister ohne Geschäftsbereich, unterzeichnet wurde, schuf schließlich eine Grundlage für die zwischenstaatlichen Beziehungen, die bis in die Gegenwart eine maßgebliche Rolle spielt. Die Tatsache, dass die „neue“ Bundesrepublik Deutschland derartige Verträge auch mit anderen ehemaligen sozialistischen Staaten, darunter Polen, Rumänien und Bulgarien, abschloss, signalisierte aber gleichzeitig auch, dass – trotz der „ewigen Dankbarkeit“ der deutschen Politik für die Grenzöffnung vom September 1989 – die privilegierte Rolle Ungarns in den Beziehungen der Bundesrepublik zu den Staaten des östlichen Europas ihr Ende gefunden hatte.580

577  Siehe hierzu András Hettyey/ Bence Bauer: 25 Jahre deutsch-ungarische Beziehungen seit dem Wendejahr 1989. In: Auslandsinformationen der Konrad-Adenauer-Stiftung 11-12/2014, S. 7–29. 578  Zum deutschsprachigen Wortlaut siehe United Nations Treaty Series, Vol. 1909, I-32526. New York 1996, S. 148–161. 579  Die Tatsache, dass nicht der Amtskollege Genschers, sondern der – deutschorientierte – Minister Ferenc Mádl den Vertrag unterzeichnete, stand sicherlich in Zusammenhang mit den außenpolitischen Präferenzen Jeszenszkys. 580  Die Tatsache, dass Ungarn – entgegen den Hoffnungen der Antall-Regierung – auch von Brüssel nicht bevorzugt behandelt wurde, hatte sich bereits bei den EG-Assoziierungsabkommen gezeigt, die mit allen drei Visegrád-Staaten (Ungarn, Polen und Tschechoslowakei) gleichzeitig abgeschlossen worden waren.

5 Dokumente in chronologischer Reihenfolge 5.1 5.1 Dokumente 1 bis 16 (Sommer 1987 bis Herbst 1988) Dokument 1 Stellungnahme des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei bezüglich des Programms der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entfaltung vom 2. Juli 1987 Vor dem Hintergrund der akuten sozioökonomischen Krise verabschiedete das Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei – nach einer halbjährigen intensiven Vorbereitungsphase und der grundsätzlichen „Absegnung“ durch das Politbüro – am 2. Juli 1987 die „Stellungnahme zum Programm der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entfaltung“. Das Programm, das unter der Federführung von ZK-Sekretär Miklós Németh ausgearbeitet wurde, sieht zum einen Spar- und Rationalisierungsmaßnahmen zur ökonomischen Krisenbekämpfung und Stabilisierung der ungarischen Wirtschaft vor, zum anderen setzt es sich längerfristig zum Ziel, den Prinzipien des Marktes anstelle der Planvorgaben die entscheidende Rolle im ungarischen Wirtschaftsleben zukommen zu lassen, kapitalistische Eigentumsformen einzuführen und umfangreiche Investitionen des westlichen Auslands in Ungarn anzuregen. Begleitet werden sollten diese Vorhaben durch politisch-gesellschaftliche Reformen, die den Zweck verfolgten, die aktive Unterstützung der Bevölkerung für die Durchführung der ökonomischen Vorhaben zu gewinnen und die Menschen für die – zumindest vorübergehend – unvermeidbaren materiellen Einschränkungen zu „entschädigen“. Das Entfaltungsprogramm wurde am 4. Juli 1987 im Parteiorgan „Népszabadság“ (Volksfreiheit) veröffentlich und auf der Sitzung des Parlaments vom 16. bis 19. September 1987 als „Arbeitsprogramm des Ministerrats“ angenommen. In den folgenden zwei Jahren bildete es die Grundlage für dynamische Veränderungen in der ungarischen Wirtschaft, die schließlich in die vollständige Transformation der ökonomischen Ordnung mündeten. Gleichzeitig gab es auch einen wesentlichen Impuls für radikale politische Reformen im Rahmen des Einparteiensystems, die ebenfalls eine besondere Dynamik entwickelten. Die Ausarbeitung und Verabschiedung des Entfaltungsprogramms signalisierte zugleich das Ende grundlegender Prinzipien der Ära Kádár. ***

DOI 10.1515/9783110488890-004

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Stellungnahme des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei vom 2. Juli 1987 zum Programm der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entfaltung In den Jahrzehnten des Aufbaus des Sozialismus wurden die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in unserer Heimat als Ergebnis der Arbeit unseres Volkes radikal umgestaltet: Wir haben die Macht des Volkes erkämpft und das System des Großgrundbesitzes beseitigt, die grundlegenden Produktionsmittel sind in gesellschaftliches Eigentum überführt worden und wir haben die sozialistische großbetriebliche Landwirtschaft geschaffen. Unsere Entwicklung war nicht bruchlos. Nach der Erschütterung, die den ersten Jahren des Aufbaus des Sozialismus folgten, fand unsere Partei und Gesellschaft aber die Kraft zur Erneuerung. Es hat sich die sozialistische Demokratie entfaltet und es ist eine gesellschaftliche Übereinkunft zustande gekommen. Der Aufbau des Sozialismus ist zu einem nationalen Programm geworden. Wir haben eine flexible Wirtschaftslenkung eingeführt, die Entwicklung unserer Volkswirtschaft ist in Gang gekommen und wir haben international anerkannte Ergebnisse erzielt. Seit 1960 ist das Nationaleinkommen auf etwa das Dreifache, die Industrieproduktion auf das Dreieinhalbfache, die landwirtschaftliche Produktion auf das Zweifache und der Verbrauch und das Realeinkommen der Bevölkerung um das Zweieinhalbfache gestiegen. Das Land wurde um bedeutende materielle und geistige Werte reicher. Die Arbeits- und Lebensumstände haben sich verbessert; wir haben Arbeitsplätze, Vollbeschäftigung, soziale und Existenzsicherheit geschaffen. Unsere Heimat wurde zu einem Land mit einem mittleren Entwicklungsniveau. Unser Volk kann zu Recht stolz auf die Ergebnisse seiner Arbeit sein. In den letzten anderthalb Jahrzehnten durchlief die Weltwirtschaft radikale Veränderungen. Dieser Wandel sowie die veränderten Bedingungen des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft, der Übergang zur intensiven Wirtschaftsweise, haben zusammen neue Aufgaben aufgeworfen, haben die ungarische Volkswirtschaft mit größeren und schwierigeren Aufgaben konfrontiert. All dem konnte unsere Volkswirtschaft bislang nur zum Teil gerecht werden. Wir haben uns bei der Anpassung an die veränderte Situation verspätet. Die gesamte Wirtschaftslenkung hat den Übergang zur intensiven Phase, die Umwandlung der Produktionsstruktur und die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit nicht gefördert und nicht forciert. Die Entwicklung [der Wirtschaft] weicht beträchtlich von der im Beschluss des XIII. Parteitags bestimmten Richtung und von den im VII. Fünfjahresplan festgelegten Zielen ab. Das Nationaleinkommen deckt den Verbrauch nicht, der Schuldenstand und das Haushaltsdefizit wachsen weiter, während gleichzeitig der Verbrauch der Kommunen und der Bevölkerung zunimmt. Die Leistung der Volkswirtschaft bestimmt die Entwicklung aller Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens. Deshalb hält es das Zentralkomitee für unaufschiebbar, mit der Überwindung der angehäuften Schwierigkeiten zu beginnen, die Hindernisse, die unserer Entwicklung im Wege stehen, niederzukämpfen, die Produktionsstruktur



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umzugestalten und die technische Entwicklung zu beschleunigen. Unsere sozialistische Entwicklung, die unvermeidbare Modernisierung der Produktion, die Verbesserung der Lebensumstände und die weitere Entwicklung des Lebensniveaus erfordern feste Grundlagen. In der gegenwärtigen Situation ist eine Phase der Stabilisierung notwendig, in der Einklang zwischen Produktion und Verbrauch geschaffen und der Forderung, dass wir nur so viel verteilen können, wie wir produziert haben, Geltung verschafft werden muss. In dieser Phase müssen wir die Kämpfe, Konflikte und Lasten, die mit der Umstrukturierung einhergehen, auf uns nehmen. Die Hauptaufgabe ist es, den Erfordernissen des rationalen Wirtschaftens – unter Beachtung der humanen Grundprinzipien der sozialistischen Gesellschaft – entschieden Geltung zu verschaffen. Die Verbesserung des Gleichgewichts kann jetzt nur durch eine Senkung der Ausgaben und langfristig nur mittels einer Steigerung der Ertragskraft fundiert werden. In mehreren Bereichen müssen wir mit einer falschen Praxis brechen. Die Verteilung darf das Ziel der Schaffung der materiellen Deckung nicht überholen. Es muss mit dem System der unüberschaubaren Subventionen und Streichungen, das die Effektivität verdeckt, gebrochen werden. Es müssen entschiedene Schritte zum Abbau der Subventionen unternommen werden, weil eine verlustreiche Tätigkeit nicht dauerhaft auf Kosten der erfolgreich arbeitenden Unternehmen finanziert werden kann. Es muss eine Differenzierung nach Leistung erreicht werden. Das Zentralkomitee analysierte auf seiner Sitzung im November 1986 die Situation unserer Volkswirtschaft umfassend und beschloss, dass ein Programm der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entfaltung ausgearbeitet werden muß. Der Entwurf wurde von 38 führenden Gremien von Partei-, Staats-, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Organisationen begutachtet. Die Stellungnahme wurde vom Zentralkomitee unter Berücksichtigung und Abwägung der unterbreiteten Anregungen ausgearbeitet. I. Grundlegendes Ziel des Programms der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Entfaltung ist es, durch die Erneuerung aller Sphären des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens dem Aufbau des Sozialismus neuen Schwung zu verleihen, die notwendigen Quellen für die Wirtschaftsentwicklung zu schaffen und das mittlere Niveau der Wirtschaftsentwicklung zu übertreffen. 1. Das Zentralkomitee ist der Meinung, dass zur Beendigung der im Wirtschaftsleben stattfindenden ungünstigen Prozesse und zur Vorbereitung einer Wende in eine positive Richtung eine kurzfristige Stabilisierungs- und eine langfristige Entfaltungsphase notwendig sind. In der ersten Phase muss der Prozess der Verschuldung schrittweise aufgehalten sowie das Budgetdefizit verringert und schließlich beendet werden.

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Im Interesse der Entfaltung müssen die Anpassung an die intensive Entwicklung und an die Prozesse der Weltwirtschaft, der den dauerhaften Veränderungen dienende Strukturwandel, die technische Entwicklung, die Verringerung der Aufwendungen und – mit all dem zusammen – die Verbesserung der Effektivität beschleunigt werden. 2. Die Produktion soll sich differenziert entwickeln, wobei man sich vor allem die Erhöhung der Exportfähigkeit vor Augen halten muss. Der rentable, konvertierbar abzurechnende Export soll – vor allem in der verarbeitenden Industrie – kraftvoll wachsen. Dies muss durch eine bessere Nutzung der vorhandenen Produktionskapazitäten, durch ihre Erweiterung und Modernisierung, durch die Anhebung der Qualität der Produkte und des technischen Niveaus und durch eine Verbesserung der Marktaktivitäten erreicht werden. Die strukturelle Umwandlung einzelner Branchen muss mittels der Überprüfung und Änderung früher beschlossener zentraler Wirtschaftsentwicklungsprogramme und mittels der Verbesserung des Durchführungsinstrumentariums beschleunigt werden. Die Entwicklungen müssen auf international wettbewerbsfähige Gebiete konzentriert werden. 3. Der Abbau der Subventionen für unwirtschaftliche Produktion und unwirtschaftlichen Export muss entschiedener weitergeführt werden. Produktion, die nicht effektiv gestaltet werden kann, muss eingestellt werden. Gleichzeitig muss durch andere einheimische Produktion oder durch Import für die Befriedigung der Bedürfnisse gesorgt werden. Im Falle von zahlungsunfähigen Unternehmen und Genossenschaften muss streng entsprechend der Liquidations- und Sanierungsbestimmungen vorgegangen werden. Das freiwerdende Kapital und die freiwerdende Arbeitskraft müssen in der effektiveren Produktion verwendet werden. 4. Im Interesse der umfassenden Verbesserung des Gleichgewichts der Volkswirtschaft muss danach gestrebt werden, die Möglichkeiten der internationalen Zusammenarbeit effektiver auszuschöpfen. – Beim wissenschaftlich-technischen Fortschritt und in der wissenschaftlich-technischen Entwicklung der ungarischen Volkswirtschaft spielt die mit der Sowjet­ union und den sozialistischen Staaten entwickelte Kooperation die entscheidende Rolle. Die im Rahmen des RGW entwickelte, wechselseitig vorteilhafte technisch-wissenschaftliche und wirtschaftliche Zusammenarbeit, die sozialistische Wirtschaftsintegration, muss weiterentwickelt werden. Mit Blick auf die sozialistischen Staaten müssen mittels der besseren Erschließung der Möglichkeiten und der gegenseitigen Ausweitung des Umsatzes ausgeglichene Warenverkehrs- und Zahlungsbeziehungen sichergestellt werden. Die Kooperation muss unter Anpassung an die Bedürfnisse auf dem Wege der Entwicklung der unmittelbaren Kontakte zwischen den Unternehmen und durch gemeinsame Unternehmen, die auf wechselseitigen Interessen beruhen, ausgeweitet werden.



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– Es muss danach gestrebt werden, unseren Außenhandelsumsatz mit den entwickelten kapitalistischen Ländern auszuweiten und die Beziehungen im Bereich von Entwicklung und Produktion zu vertiefen. In unserem Angebot muss der Anteil derjenigen Produkte, die über einen höheren Grad der Verarbeitung verfügen und bedeutende geistige Arbeit erfordern, erhöht werden. Unsere Beziehungen [zu den entwickelten kapitalistischen Staaten] müssen stärker zum inländischen technischen Fortschritt und zur Verbreitung moderner Produktionsverfahren beitragen. Die dauerhaften und unmittelbaren Beziehungen zwischen den Unternehmen und die Kooperation in der Produktion müssen gestärkt werden. Mittels der Schaffung günstiger Bedingungen muss dafür gesorgt werden, einen größeren Anteil von produktivem Kapital [in die ungarische Wirtschaft] einzubeziehen. – Bei unserem Außenhandel mit den Entwicklungsländern muss die wechselseitig vorteilhafte Kooperation so gestaltet werden, dass sie der Verwirklichung der Ziele bei der Strukturveränderung in der heimischen Produktion besser dient. II. Für die erfolgreiche Lösung der kurz- und langfristigen Aufgaben bilden die Verbesserung der planmäßigen Lenkung der Volkswirtschaft und die Entwicklung des Markts sowie die Berücksichtigung seiner Gesetze gleichermaßen die Voraussetzung. 1. Die zentrale Lenkung soll ein volkswirtschaftliches und gesellschaftliches Umfeld entwickeln, das zum Unternehmertum anregt, dessen Leistungen schätzt, eine Differenzierung nach Leistung erzwingt und in der Lage ist, Konflikte auszutragen. a) Die Entscheidungen der zentralen Organe der Wirtschaftslenkung sollen in folgenden Bereichen von entscheidender Bedeutung sein: bei der Lösung der strategischen Aufgaben des Strukturwandels, in bedeutenden Fragen der Energieerzeugung und Energieverteilung, des Bergbaus, der Infrastruktur und der Zusammenarbeit im Rahmen des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe sowie bei der Ausgestaltung der finanz- und kreditpolitischen Leitlinien. Die Tätigkeiten der Regierung zur Strukturentwicklung sollen dazu beitragen, dass den Hauptrichtungen der internationalen technologischen und technischen Entwicklung gefolgt werden kann. b) In der verarbeitenden Industrie, in der Lebensmittelindustrie, im Baugewerbe, bei der Produktion von Konsumartikeln und bei den Dienstleistungen muss der Durchsetzung der Verhältnisse von Angebot und Nachfrage bewusst mehr Spielraum eröffnet werden. c) Im Wirtschaftsleben muss den Waren- und Geldverhältnissen, dem Angebot und der Nachfrage, dem Kredit, den Preisen, den Kursen, der Rentabilität und dem Gewinn eine aktive Rolle zugewiesen werden. Durch die Anwendung einer strengen Finanz-, Kredit- und Budgetpraxis müssen das Interesse

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der Unternehmenskollektive an Effektivität und die Verantwortung für diese erhöht werden. 2. Der Erfolg der Entfaltung hängt in entscheidender Weise davon ab, inwiefern es gelingt, die Unternehmen, Genossenschaften und Wirtschaftseinheiten zu Organisationen des Wirtschaftslebens, die über wirkliche Selbstständigkeit verfügen und unmittelbar an der Einkommens- und Vermögensmehrung interessiert sind, zu machen. Die Unternehmen sollen die Bedürfnisse des Markts mittels größerer Flexibilität und vernünftiger Risikobereitschaft befriedigen und Produktion und Nachfrage sollen in Einklang geraten. Es ist dafür zu sorgen, dass die Arbeiter eine angemessene Ausbildung und Weiterbildung erhalten. Arbeitsdisziplin, Arbeitsmoral und Arbeitskultur müssen verbessert werden. Die zwischenbetriebliche Kooperation muss wesentlich entwickelt und die Kooperations- und Vertragsdisziplin muss gestärkt werden; es muss dafür gesorgt werden, dass die Unternehmen ihre Vereinbarungen konsequent einhalten. 3. Die Regulierung des Verhältnisses von Staat und Unternehmen soll berechenbar und überschaubar sein. Mittels einer beträchtlichen Verringerung der individuellen Eingriffe sollen die Selbstständigkeit der Wirtschaftsorganisationen und die Verantwortung der Unternehmensleitung gestärkt werden. Bei der Abstimmung der Inte­ ressen der Gesellschaft und der Unternehmen sollen die Interessenvertretungen eine größere Rolle erhalten. Es muss eine Interessenabstimmung zwischen der Regierung sowie den Gewerkschaften, den Interessenvertretungen der Genossenschaften und der Ungarischen Wirtschaftskammer institutionalisiert werden. 4. Für die effektive Arbeit der Unternehmen sind ein System der Unternehmenssteuerung, das die wirtschaftliche Klarsicht und eine rentable Produktion fördert, und ein gut funktionierendes Preissystem sowie eine Gehalts- und Lohnregelung, die zur Leistungssteigerung anregt, notwendig. a) Mittels der Änderung des Systems der Unternehmensbesteuerung müssen Zahl und Umfang der Steuern, die die Produzenten direkt belasten, verringert werden und gleichzeitig die mit dem Konsum verbundenen Steuern erhöht werden. Das Zentralkomitee ist damit einverstanden, dass nach entsprechenden Vorbereitungen eine allgemeine Umsatzsteuer nach Art der Mehrwertsteuer eingeführt wird. Es nimmt zur Kenntnis, dass dies mit einer Verringerung der Erzeugerpreise und – wegen des Abbaus der Subventionen – mit einer Erhöhung der Verbraucherpreise einhergehen wird. b) Es müssen ein Preissystem und ein Preismechanismus entwickelt werden, die die Wirtschaftlichkeit und die internationale Wettbewerbsfähigkeit zum Ausdruck bringen. Die Preise sollen die tatsächlichen Kosten und die Verhältnisse von Angebot und Nachfrage widerspiegeln, nicht jedoch die Kosten nachlässiger Arbeit enthalten. Die Steuerreform wird das unabdingbare



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Erfordernis, eine enge und kontinuierliche Verbindung zwischen Erzeugerund Verbraucherpreisen herzustellen, durchsetzen. Bei den grundlegenden Artikeln und Dienstleistungen, die der Existenzsicherung dienen, ist auch weiterhin eine behördliche Preiskontrolle und Preisbeeinflussung notwendig. c) Neben der Steuer- und Preisreform ist eine Lohnreform, die das Prinzip der Verteilung gemäß der Arbeitsleistung fördert, notwendig. Als erster Schritt müssen die Bindungen der Gehaltsregulierung verringert werden. Langfristig müssen Lohnverhältnisse entstehen, die die gesellschaftliche Nützlichkeit der Arbeit zum Ausdruck bringen. Bei der inneren Interessiertheit der Unternehmen muss eine Veränderung eintreten: Die sich nach dem Charakter der Tätigkeit richtenden Lohnsysteme und Entlohnungsformen sollen die Harmonie der individuellen bzw. Gruppenleistungen und der Gehälter stärken. Für die unternehmerische Arbeitsleistung der sozialistischen Brigaden und anderer Arbeitsgemeinschaften muss ein System der Verrechnung und der Interessiertheit entwickelt werden. 5. Im Interesse der Ausweitung der Selbstständigkeit der Unternehmen, der besseren Ausnutzung der Vorteile, die die internationale Arbeitsteilung bietet, und der Stärkung der unmittelbaren Beziehungen zum Produzentenmarkt ist es notwendig, den Inhalt der Außenhandelsaktivitäten sowie ihre Organisationsweise und Interessenlage radikal umzuwandeln. 6. Für eine erfolgreiche Entfaltung kommt dem effektiven Wirtschaften der sozialistischen Großbetriebe und Genossenschaften sowie der Effektivität der in der Hauptarbeitszeit verrichteten Arbeit eine entscheidende Rolle zu. An der Erhöhung der Wirtschaftsleistung müssen zur gleichen Zeit alle Wirtschaftsorganisationen – unabhängig von ihrer Größe und von den Eigentums- und Tätigkeitsformen – beteiligt sein. 7. Die sozialistischen Marktverhältnisse müssen zielbewusst entwickelt werden. Mit einem neuen Gesellschaftsgesetz muss dazu beigetragen werden, dass sich vielfältige Unternehmensformen herausbilden. Die Gründung von neuen kleinen und mittleren Wirtschaftsorganisationen, die flexibel arbeiten und gewinnbringend wirtschaften, muss gefördert werden. Die bestehenden Bindungen der Unternehmen hinsichtlich Produktion und Absatz müssen verringert und die wettbewerbsfördernde Rolle des Imports muss verbessert werden. Unterschiede, die hinsichtlich der unternehmerischen Voraussetzungen in den einzelnen Sektoren bestehen, und schädliche Monopole müssen abgeschafft werden. 8. Die Hilfs- und Ergänzungswirtschaft sowie die private Wirtschaftstätigkeit bilden einen organischen Bestandteil der sozialistischen Wirtschaft. Es müssen alle Initiativen und Aktivitäten ermutigt werden, die der Steigerung des Nationaleinkommens

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und der Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung dienen. Die Arbeitsteilung und Zusammenarbeit zwischen Groß- und Kleinbetrieben sollen weiterentwickelt werden. Es müssen die Voraussetzungen für Assoziationen geschaffen werden. Dieser Schritt soll auch dazu beitragen, einen Produktionshintergrund für die Arbeit der Großbetriebe zu schaffen. 9. Im Interesse der Erweiterung der Ressourcen für die Entwicklung müssen mehr Möglichkeiten geschaffen werden, um die Betriebsmittel mobilisieren und die Geldmittel der Bevölkerung und der Unternehmen effektiv und vorteilhaft investieren zu können. Diesem Zweck sollen die Ausweitung der Formen von Wertpapieren und die Erweiterung ihres Verkehrs dienen. Mittels der abwechslungsreichen Kombination der grundlegenden Eigentumsformen muss ein angemessener Rahmen geschaffen werden, um die wertschöpfenden Aktivitäten auszuweiten. Es müssen Möglichkeiten und Voraussetzungen entwickelt werden, damit sich die dazu bereiten Arbeiter mit ihren eigenen materiellen Mitteln an der Mehrung des Unternehmenskapitals und Unternehmensertrags aufgrund von persönlichem Interesse beteiligen können. 10. Gesetzmäßigkeit und Rechtssicherheit müssen sowohl innerhalb der Unternehmen und Genossenschaften als auch hinsichtlich ihrer externen Beziehungen gestärkt werden. Rang und Prestige von Statuten, kollektiven Verträgen und gegenseitigen Verpflichtungserklärungen müssen erhöht werden. Innerhalb der Betriebe muss die Demokratie am Arbeitsplatz von Formalitäten befreit werden. Gleichzeitig ist eine eindeutige und klare Abgrenzung der Aufgaben in der Unternehmensleitung, also zwischen dem Unternehmensrat und dem Direktor sowie zwischen dem Unternehmensrat und den Gewerkschaftsforen, notwendig. 11. Infolge der Selbstständigkeit der Unternehmen sind die sozialistischen Arbeiterbewegungen mit den Produktions- und Entwicklungsplänen, die von den Wirtschaftsorganisationen ausgearbeitet wurden, verbunden. Es ist deshalb richtig, dass die Kollektive das Ziel des Arbeitswettbewerbs sowie die Art und Weise ihrer Teilnahme selbst definieren und sie selbst die Leistungen bewerten. III. Für die erfolgreiche wirtschaftliche Entfaltung sind eine effektivere Produktion, eine bessere Abstimmung zwischen Leistung und Einkommen, eine Differenzierung auf der Basis der Leistung, eine gerechtere Verteilung der öffentlichen Lasten und eine effektive Sozialpolitik notwendig. Der Fortschritt erfordert von unserer gesamten Gesellschaft Opferbereitschaft und disziplinierte Arbeit sowie von der Führung Konsequenz und Entschlossenheit. Es ist notwendig, das Gemeininteresse in den Vordergrund zu rücken und den Gemeinschaftsgeist zu verbessern.



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1. Die Sicherstellung der Quellen, die für eine effektive Produktion, den Strukturwandel und die Beschleunigung der technischen Entwicklung notwendig sind, führt übergangsweise zu einer Beschränkung des öffentlichen und privaten Verbrauchs. Damit eine [ökonomisch] fundierte Anhebung des Lebensniveaus erfolgen kann, ist es notwendig, die Leistungen zu steigern und eine effektive wirtschaftliche Tätigkeit zu verrichten. Die Arbeitseinkommen, die Löhne der Bevölkerung sollen – abhängig von der Leistung – stärker differenziert werden. Erfolgreich arbeitende Kollektive und Individuen müssen eine höhere materielle Anerkennung erfahren. 2. Wir bemühen uns um den Erhalt der sozialen Sicherheit. Wir müssen uns auf die Lösung und Linderung neuer sozialer Probleme, die mit der Umgestaltung der Wirtschaftsstruktur einhergehen, vorbereiten. An erster Stelle müssen auf Hilfe angewiesene Altersrentner, die nur über ein geringes Einkommen verfügen, sowie kinderreiche Familien unterstützt werden. Die institutionelle Ordnung, das Instrumentarium und die materielle Basis der örtlichen Sozialpolitik müssen ausgeweitet werden. Der staatliche Anteil an den Aufwendungen der Familien für die Kindererziehung muss [wertmäßig] stabilisiert und später erhöht werden. Es ist eine Änderung des Rentensystems notwendig, um – in Einklang mit den finanziellen Voraussetzungen – eine größere soziale Sicherheit zu gewährleisten und die Entwicklung gesellschaftlich gerechterer Rentenverhältnisse herbeizuführen. 3. Den Berufsanfängern muss insbesondere bei der Wohnungsbeschaffung geholfen werden. Zur umfassenden Weiterentwicklung der Wohnungswirtschaft müssen – unter Beteiligung des Kommunistischen Jugendverbandes – möglichst bald Vorschläge ausgearbeitet werden. Das System zur Unterstützung des Wohnungserwerbs und der Unterhaltung einer Wohnung muss entsprechend der sozialen und Einkommenssituation der Familien differenziert gestaltet werden. 4. Bei der Besteuerung der Bevölkerung sind Veränderungen, die eine proportionale Übernahme der öffentlichen Lasten möglich machen, notwendig. Das Zentralkomitee ist damit einverstanden, dass nach einer entsprechenden Vorbereitung eine Einkommenssteuer eingeführt wird. Das Steuersystem soll überschaubar sein. Der Umfang der Steuern soll so festgelegt werden, dass die Schichten mit größeren Einkommen durch die Steuer progressiv belastet werden, das Interesse an einer Leistungssteigerung aber erhalten bleibt. Gruppen und Schichten, die sich in einer ungünstigen sozialen Situation befinden, dürfen durch die Besteuerung nicht nachteilig betroffen werden. Durch die Einführung der Einkommenssteuer darf sich der Nettoverdienst aus der Hauptarbeitszeit nicht substanziell verringern. Im Interesse der Besteuerung und Kontrolle derjenigen bedeutenden Einkommen, die bisher steuerfrei waren, soll die Besteuerung durch eine Vermögenserklärung und Vermögenskontrolle ergänzt werden.

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5. Die Lösung der wirtschaftlichen Aufgaben erfordert eine vorausschauende Beschäftigungspolitik. Die Umgestaltung der Produktionsstruktur erfordert eine Umgruppierung der Arbeitskräfte. Die Arbeitsplatzwahl muss – ohne Verletzung des Rechts der Staatsbürger auf Arbeit – besser in Einklang mit den Interessen der Gesellschaft gebracht werden. Zur Überwindung der damit einhergehenden übergangsweisen Spannungen ist das Instrumentarium der Beschäftigungspolitik mit der Entwicklung flexibler Formen [der Beschäftigung] zu erweitern. Wir müssen uns auf eine angemessene Beschäftigung der Altersklassen, die Anfang der neunziger Jahre die Arbeit aufnehmen, vorbereiten. 6. Zur erfolgreichen Durchführung des Programms der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Entfaltung sind höhere fachliche Qualifikation und eine breite Bildung notwendig. Die qualitative Weiterentwicklung unseres Unterrichtswesens soll diese Erfordernisse fundieren. Die Struktur der Fachausbildung soll sich den wandelnden Bedürfnissen anpassen. Die Zahl derjenigen, die die Mittelschule und – langfristig – die Hochschule absolvieren, soll erhöht werden. 7. Die Intellektuellen spielen eine wichtige Rolle bei der Entfaltung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen. Die gesellschaftliche Anerkennung der geistigen Arbeit, die große Fähigkeiten erfordert, soll erhöht werden. Die Führungspersonen in der Regierung, in den Unternehmen und Instituten sollen Anstrengungen unternehmen, damit die Intellektuellen eine moralische und materielle Anerkennung erfahren, die im Verhältnis zu ihren Leistungen und zur gesellschaftlichen Nützlichkeit ihrer Tätigkeit steht. Die Intelligenz soll mit ihrer beruflichen Tätigkeit und ihrer Rolle im öffentlichen Leben dazu beitragen, das sozialistische gesellschaftliche Bewusstsein und die sozialistische gesellschaftliche Moral positiv zu beein­ flussen. 8. Auf dem Gebiet der Staatsverwaltung, der Gesundheits- und Sozialversorgung, der wissenschaftlichen Forschung, des Unterrichts und der Bildung, der Masseninformation und des Sports müssen die Voraussetzungen zur Durchführung der gesellschaftlich notwendigen Aufgaben sichergestellt werden. Gleichzeitig muss erreicht werden, dass sich auch in diesen Institutionen ein Tätigkeits- und Organisationswesen, das sich nach den Aufgaben und materiellen Möglichkeiten richtet, sowie ein sinnvolles Personal- und Kostenmanagement entwickeln. 9. Auch in der Partei, in den Massenorganisationen und Massenbewegungen sind rationalere, kleinere und effektiver arbeitende Institutionen notwendig. 10. Im Kampf gegen negative Erscheinungen im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben müssen ein entschiedeneres Auftreten, strengere Verantwortlichmachung, größere Öffentlichkeit und gesellschaftliche Kontrolle gefordert werden. Eine



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gestärkte einheitliche rechtliche Regelung ohne Schlupflöcher muss durchgesetzt werden und es muss ihr auch mit administrativen Mitteln Geltung verschafft werden, um Phänomene wie Korruption, unrechtmäßige Vorteilsnahme, Protektionismus usw., die unserer Gesellschaft fernstehen, zurückzudrängen. Die Parteiorgane sollen sich an die Spitze des Schutzes der Redlichkeit des öffentlichen Lebens stellen und die zuständigen Aufsichts- und Behördenorgane sollen jene Personen, die unrechtmäßige Vorteile anbieten oder annehmen, entschieden zur Verantwortung ziehen. IV. Zur Verwirklichung unseres wirtschaftlich-gesellschaftlichen Programms ist es unverzichtbar, die sozialistische Demokratie zu entwickeln und die Tätigkeit des Systems der politischen Institutionen zu verbessern. Der Wandlungsprozess soll fortgesetzt werden, bei dem die Rolle des Individuums im gesellschaftlichen Handeln zunimmt, die Selbstständigkeit der Kollektive wächst sowie sich die Funktionen der Selbstverwaltung am Arbeitsplatz und an den Wohnorten entwickeln. Ereignisse, Phänomene und Entscheidungen, die für die Gesellschaft wichtig sind, sollen größere Öffentlichkeit erhalten. Hierzu muss ein umfassendes und progressives System der gesellschaftlichen Diskussionen entwickelt werden, das den politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen vorangeht. Unsere Partei soll auch auf diesem Gebiet eine initiative und lenkende Rolle übernehmen. 1. Die gesamte Tätigkeit der Partei soll der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entfaltung sowie der Beschleunigung der Reformprozesse dienen. Das Zentralkomitee hat beschlossen, im Rahmen der Entwicklung des Systems der politischen Institutionen die Hauptfragen, die mit der Durchsetzung der führenden Rolle der Partei, der Entwicklung des Innenlebens der Partei und der ideologischen Arbeit in Zusammenhang stehen, auf die Tagesordnung zu setzen. 2. Die Durchführung des Entfaltungsprogramms stellt große Anforderungen an die Arbeit der Parteiorgane und der Parteimitglieder. Vor allem sind eine feste Einheit der Partei und ein entschiedenes politisches Einstehen notwendig. Es ist eine wichtige Aufgabe, das Programm vorzustellen und für seine Annahme zu sorgen. Es ist die Pflicht aller Parteimitglieder, das Programm zu vertreten und aktiv an seiner Verwirklichung mitzuwirken. Die Parteiorgane und Parteiorganisationen sollen dafür sorgen, dass die Programme am Arbeitsplatz ausgearbeitet werden und sie sollen ihre Durchführung unterstützen. Die Kommunisten sollen mit einem verantwortungsbewussten Verhalten ein Beispiel geben. 3. Die Verwirklichung unseres Programms erfordert eine konsequente und zielbewusste Führung in allen Lebensbereichen. Es müssen strengere Anforderungen an

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die Führungspersonen gestellt werden und es muss zugleich die gesellschaftliche Wertschätzung der notwendigen und niveauvollen Führungsarbeit erhöht werden. In der Kaderpolitik und bei der staatlichen Personalarbeit muss jenen Führungspersonen Vertrauen geschenkt werden, die die Durchführung des Entfaltungsprogramms mit voller Überzeugung unterstützen und die ihre Arbeit erfolgreich erledigen. Die demokratischen Züge der Kaderarbeit, die Öffentlichkeit und die gesellschaftliche Kontrolle müssen gestärkt werden. Mit der Beförderung junger, frischer Kräfte muss auf allen Gebieten für einen kontinuierlichen Führungsnachwuchs gesorgt werden. 4. Agitation und Propaganda sollen die richtig interpretierten gesellschaftlichen Interessen vertreten. In der an die Massen gerichteten politischen Arbeit sollen die wirtschaftspolitischen Ziele und ihre Voraussetzungen klargemacht und die Massen zu ihrer Durchführung mobilisiert werden. Positive Initiativen sollen herausgestellt und Faktoren, die die Entfaltung behindern, offengelegt werden. Und es soll verständlich gemacht werden, dass wir nur auf dem Wege der Steigerung der Effektivität der Produktion vorankommen können. Es soll bewusst gemacht werden, dass die größeren Aufgaben eine ausdauernde, selbstständige und disziplinierte Arbeit erfordern. Die Angestellten des Ungarischen Fernsehens, des Ungarischen Radios, der Presse und der Massenmedien sollen mit ihrer Arbeit der erfolgreichen Durchführung des Programms dienen. Sie sollen den Standpunkt der Partei und die Maßnahmen der Regierung vorstellen und erklären; sie sollen zukunftsweisende und positive Erfahrungen bekannt machen; sie sollen falsche Ansichten und Kleingläubigkeit diskutieren sowie Praktiken, die im Gegensatz zur Politik der Partei stehen, verurteilen. 5. Das Zentralkomitee hält es für notwendig, dass die Regierung auf der Grundlage der Stellungnahme der Partei die konkreten Aufgaben zur Umsetzung des Entfaltungsprogramms ausarbeitet und diese dem Parlament zur Diskussion und Zustimmung unterbreitet. Ebenso sollen die Ministerien, die Räte, die Institutionen und die Wirtschaftsorganisationen ihre eigenen Aufgaben ausarbeiten. 6. Das Zentralkomitee ruft den Landesrat der Patriotischen Volksfront, den Landesrat der Gewerkschaften, das Zentralkomitee des Kommunistischen Jugendverbandes, die Ungarische Wirtschaftskammer, den Landesrat der Genossenschaften und seine Mitgliedsorganisationen sowie die Führungsgremien aller gesellschaftlichen und Interessenvertretungsorgane, die Organisationen des wissenschaftlichen und technischen Lebens sowie die Leiter der Massenbewegungen auf, die erfolgreiche Entfaltung zu unterstützen und zu fördern. Sie sollen ihre eigenen Aufgaben zur Realisierung des Programms bestimmen. *



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Das Zentralkomitee richtet sich mit einem Aufruf an die Arbeiter, Bauern, Intellektuellen, Jugendlichen und an unsere parteilosen Verbündeten sowie an alle Anhänger des Sozialismus: Unterstützen Sie die Durchführung des Programms der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entfaltung und nehmen Sie an seiner Realisierung teil. Es ist die Überzeugung des Zentralkomitees, dass das Entfaltungsprogramm mit standhafter und zielbewusster Arbeit, mittels der Mobilisierung der Kräfte unserer Gesellschaft und durch einen nationalen Zusammenschluss zu verwirklichen ist. Seine erfolgreiche Durchführung dient der Umsetzung unserer sozialistischen Ziele und dem Wohlstand unseres Volkes. Quelle: Népszabadság, 4. Juli 1987, S. 1–2. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UJ-23cb88 (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 2 Westdeutsch-ungarisches Abkommen über die Zusammenarbeit in den Bereichen Wissenschaft und Technologie vom 7. Oktober 1987 Das Abkommen zwischen Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland über wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit wurde am 7. Oktober 1987, während des Besuchs des ungarischen Ministerpräsidenten Károly Grósz in Westdeutschland, unterzeichnet. In dem Vertrag betonen beide Seiten – auch unter Berufung auf den KSZE-Prozess – ihr „gemeinsames Interesse an Fortschritten in der wissenschaftlichen Forschung und technologischen Entwicklung“ und unterstreichen die Prinzipien der „Gleichberechtigung, der Gegenseitigkeit und des wechselseitigen Vorteils“ bei der Zusammenarbeit. In den folgenden Artikeln werden – unter anderem – die Formen der Kooperation (z. B. Informationsaustausch und gemeinsame Nutzung wissenschaftlich-technologischer Institutionen) definiert, der Inhalt der zu schließenden Kooperationsvereinbarungen bestimmt, die Einrichtung einer Gemischten Kommission beschlossen sowie Fragen der Finanzierung und des Wissenschaftleraustausches geregelt. Der Vertrag, auf dessen Abschluss die ungarische Seite – verständlicherweise – bereits seit Jahren gedrängt hatte, trat am Tage seiner Unterzeichnung in Kraft und galt – mit der Option auf Verlängerung – für fünf Jahre. Er gab in den folgenden Jahren, auch vor dem Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse in Ungarn, bedeutende Impulse für die Weiterentwicklung der Kooperation in den Bereichen Wissenschaft und Technologie. ***

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Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ungarischen Volksrepublik über die Zusammenarbeit in der wissenschaftlichen Forschung und technologischen Entwicklung Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und die Regierung der Ungarischen Volksrepublik – im folgenden Vertragsparteien genannt – von dem Wunsch geleitet, die wissenschaftlich-technologischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Ungarn zu erleichtern und zu entwickeln, davon überzeugt, dass die Zusammenarbeit zur Festigung der Beziehungen zwischen beiden Ländern beitragen wird, in Anbetracht ihres gemeinsamen Interesses an Fortschritten in der wissenschaftlichen Forschung und technologischen Entwicklung, im Bewusstsein der Vorteile, die aus einer engen wissenschaftlich-technologischen Zusammenarbeit für beide Staaten erwachsen, eingedenk der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und des abschließenden Dokuments des Madrider Folgetreffens – sind wie folgt übereingekommen: Artikel 1 Die Vertragsparteien fördern im Einklang mit den jeweils geltenden Gesetzen und Rechtsvorschriften die wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit auf der Grundlage der Gleichberechtigung, der Gegenseitigkeit und des wechselseitigen Vorteils. Artikel 2 Die Zusammenarbeit kann insbesondere folgende Formen haben: a) Austausch von wissenschaftlich-technologischen Informationen und Publikationen, b) Organisation und Durchführung von wissenschaftlichen Veranstaltungen, c) Austausch von Delegationen, wissenschaftlichem und sonstigem Fachpersonal, d) gemeinsame Nutzung wissenschaftlich-technologischer Einrichtungen oder Anlagen, e) Ausarbeitung und Durchführung gemeinsamer Vorhaben auf dem Gebiet der Grundlagenforschung, der angewandten Forschung sowie der technologischen Entwicklung.



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Artikel 3 (1) Die Gebiete der Zusammenarbeit werden im Einzelfall vereinbart. Die Einzelheiten können durch besondere Vereinbarungen zwischen den Vertragsparteien, interessierten Ministerien oder den von ihnen benannten Organisationen festgelegt werden. (2) Diese Vereinbarungen regeln insbesondere a) Inhalt und Umfang der Zusammenarbeit sowie die Benennung der mit ihrer Durchführung betrauten Stellen, b) die Verwertung der Ergebnisse gemeinsamer Forschungs- und Entwicklungsarbeiten, c) die Finanzierung der Zusammenarbeit, d) alle Verpflichtungen der Beteiligten und andere Festlegungen, die für die Zusammenarbeit wesentlich sind. (3) Die Vertragsparteien unterstützen unmittelbare Kontakte zwischen Wissenschaftlern und Forschungseinrichtungen beider Seiten. Artikel 4 (1) Zur Durchführung dieses Abkommens und der darin vorgesehenen besonderen Vereinbarungen nach Artikel 3 wird eine Gemischte Kommission für wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit gebildet. (2) Die Gemischte Kommission tritt abwechselnd möglichst einmal im Jahr in der Bundesrepublik Deutschland und in der Ungarischen Volksrepublik zusammen. (3) Der Vorsitz liegt dabei jeweils bei der gastgebenden Seite. Für Einzelfragen kann die Kommission Sachverständigengruppen einsetzen. (4) Ein erstes abgestimmtes Programm gemeinsamer Vorhaben und Projekte tritt gleichzeitig mit diesem Abkommen in Kraft. Zur weiteren Durchführung der Zusammenarbeit wird die Gemischte Kommission gemeinsame Vorhaben und Projekte dementsprechend abstimmen. Artikel 5 (1) Die mit dem Austausch von Fachdelegationen, Wissenschaftlern und sonstigem Fachpersonal verbundenen Kosten trägt die entsendende Seite. In den besonderen Vereinbarungen nach Artikel 3 oder im Einzelfall kann etwas Anderes geregelt werden; dies schließt die Möglichkeit ein, dass die entsendende Seite beim Austausch von Wissenschaftlern und Fachleuten die Beförderungskosten für die Hin- und Rückreise und die aufnehmende Seite die Kosten für den Unterhalt und die für die Durchführung des Vorhabens notwendigen Reisen innerhalb ihres Landes übernimmt.

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(2) Wissenschaftler und Fachleute, die im Rahmen dieses Abkommens ausgetauscht werden, erhalten kostenfrei medizinische Betreuung im Zusammenhang mit einem Unfall oder einer Krankheit (mit Ausnahme von Zahnersatz), die unverzüglich medizinische Hilfe erfordern, auf Seiten der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen einer Krankenversicherung, auf Seiten der Ungarischen Volksrepublik gemäß den geltenden Gesetzen und Verordnungen. Artikel 6 (1) Jede Vertragspartei und jeder Partner von Vereinbarungen nach Artikel 3 darf Informationen einschließlich solcher mit kommerziellem Wert, die das Ergebnis ihrer wissenschaftlich-technologischen Zusammenarbeit sind, sowie wissenschaftlichtechnologische Informationen, deren Kenntnis im Wege des Austauschs erworben wurden, nur im gegenseitigen Einvernehmen an Dritte weitergeben. (2) Dieses Abkommen gilt nicht für a) Informationen, über die die Vertragsparteien oder von ihnen benannte Stellen nicht verfügen dürfen, weil diese Informationen von Dritten herrühren und die Weitergabe ausgeschlossen ist. b) Informationen sowie Eigentums- oder gewerbliche Schutzrechte, die aufgrund von internationalen Übereinkünften nicht mitgeteilt oder übertragen werden dürfen. Artikel 7 Verpflichtungen der Vertragsparteien aus ihren jeweiligen internationalen Verträgen und Abkommen werden durch dieses Abkommen nicht berührt. Artikel 8 (1) Die Vertragsparteien oder die an der Durchführung der Zusammenarbeit beteiligten Stellen haften einander nicht für Schäden, die sie oder im Rahmen dieses Abkommens entsandte Personen verursacht haben. (2) Haften im Rahmen dieses Abkommens entsandte Personen nach dem Recht des aufnehmenden Staates einem Dritten für einen in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit verursachten Schaden, so stellt sie die aufnehmende Stelle, in deren Land sie entsandt sind, von dieser Haftung frei, soweit sie nicht Versicherungsschutz genießen. (3) Die entsandten Personen haften der aufnehmenden Vertragspartei oder den aufnehmenden Stellen auf Schadensersatz nur, wenn sie einen Schaden vorsätzlich verursacht haben. Die Vertragsparteien verpflichten sich, nur solche Stellen an der Durchführung der Zusammenarbeit zu beteiligen, die sich mit der in diesem Artikel enthaltenden Haftungsregelung einverstanden erklären.



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Artikel 9 Die Vertragsparteien unterstützen sich gegenseitig auf der Grundlage des geltenden Rechts bei der Erledigung von Sichtvermerks-, Zoll- und Steuerformalitäten, insbesondere im Hinblick auf die Ein- und Ausfuhr von Materialien, Systemen und Ausrüstungen, die für die Zusammenarbeit benötigt werden, und von Gegenständen des persönlichen Bedarfs einschließlich eines Kraftfahrzeugs von Personen, die aufgrund dieses Abkommens entsandt werden. Sichtvermerksgebühren werden bei Personen, die im Rahmen dieses Abkommens entsandt werden, nicht erhoben. Artikel 10 Streitfragen über die Auslegung oder Anwendung dieses Abkommens sollen auf dem Wege der laufenden Konsultationen der beiden Vertragsparteien oder auf den Sitzungen der Gemischten Kommission beigelegt werden. Artikel 11 Entsprechend dem Viermächte-Abkommen vom 3. September 1971 wird dieses Abkommen in Übereinstimmung mit den festgelegten Verfahren auf Berlin (West) ausgedehnt. Artikel 12 (1) Dieses Abkommen tritt am Tage seiner Unterzeichnung in Kraft und gilt für die Dauer von fünf Jahren. (2) Wird das Abkommen nicht mindestens sechs Monate vor Ablauf der Geltungsdauer schriftlich gekündigt, so verlängert sich diese um jeweils fünf Jahre. (3) Tritt das Abkommen außer Kraft, so finden seine Bestimmungen weiterhin Anwendung, soweit es zur Durchführung der besonderen Vereinbarungen gemäß Artikel 3 erforderlich ist. Geschehen zu Bonn am 7. Oktober 1987 in zwei Urschriften, jede in deutscher und ungarischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist. Für die Regierung der Bundesrepublik Deutschland: Hans-Dietrich Genscher Dr. Heinz Riesenhuber Für die Regierung der Ungarischen Volksrepublik: Dr. Pál Tétényi László Kovács Quelle: United Nations Treaty Series, Vol. 1555, I-27015. New York 1990, S. 36–40.

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Dokument 3 Westdeutsch-ungarische Erklärung über ein Sonderprogramm zur Förderung der deutschen Minderheit und der deutschen Sprache in Ungarn vom 7. Oktober 1987 Die Erklärung über ein Sonderprogramm zur Förderung der deutschen Minderheit und der deutschen Sprache in Ungarn, die die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Ungarn am 7. Oktober 1987, während des Staatsbesuchs des ungarischen Ministerpräsidenten Károly Grósz, abgaben bzw. schriftlich festhielten, stellte – nach den Ereignissen während der Ungarn-Visite von Richard von Weizsäcker ein Jahr zuvor – einen weiteren demonstrativen Wendepunkt hinsichtlich der ungarischen Haltung gegenüber den Aktivitäten der westdeutschen Seite bei der Pflege der deutschen Sprache in Ungarn und bei der Betreuung der ungarndeutschen Minderheit dar. In der Erklärung sagt die Bundesrepublik die Errichtung und Betreibung von Nationalitätenschulen, die finanzielle und personelle Unterstützung für die Germanistikinstitute an ungarischen Universitäten sowie die Förderung eines deutschsprachigen Theaters in Ungarn und von Kulturzentren der deutschen Minderheit zu. Auf der Grundlage der Erklärung sowie weiterer anschließender Vereinbarungen konnte die Bundesrepublik in den folgenden Jahren zahlreiche konkrete Projekte in diesen beiden, bislang von der ostdeutschen Führung als „Monopol“ beanspruchten Bereichen der bilateralen Beziehungen durchführen. *** Erklärung Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und die Regierung der Ungarischen Volksrepublik beabsichtigen, unter Bezugnahme auf das Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ungarischen Volksrepublik über kulturelle Zusammenarbeit vom 6. Juni 1977, vorbehaltlich der jeweiligen innerstaatlich notwendigen Verfahren und Vereinbarungen zwischen beiden Seiten, folgende Maßnahmen zur Förderung der deutschen Nationalität in der Ungarischen Volksrepublik bzw. Förderung der deutschen Sprache im Allgemeinen über bestehende Programme im Rahmen des Kulturabkommens hinaus zu treffen. I. Allgemeinbildende Einrichtungen (Schulen, Kindergärten) Beide Seiten stimmen darin überein, dass die Bundesrepublik Deutschland den Bau, die Einrichtung und den Betrieb zweisprachiger (deutsch-ungarisch) Schulen der deutschen Nationalität in der Ungarischen Volksrepublik unterstützen wird. Bestehende ungarische Mittelschulen für Schüler ungarischer oder deutscher Muttersprache, die zweisprachigen Unterricht (deutsch-ungarisch) anbieten bzw. intensiven deutschen Sprachunterricht betreiben, erhalten finanzielle und didaktische Unterstützung aus der Bundesrepublik Deutschland.



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Hierzu zählen: – die Übersendung von Lehrmitteln aus der Bundesrepublik Deutschland (z. B. Bücher für den Sprachunterricht sowie technische Hilfsmittel für den Fachunterricht); – die Entsendung von Experten zur intensiven Lehrerfortbildung in die Ungarische Volksrepublik; – Stipendien zur Lehrerfortbildung und für Intensivsprachkurse in der Bundesrepublik Deutschland. II. Hochschulen und Wissenschaft Die Germanistikinstitute der ungarischen Universitäten sind die wichtigsten Träger zur Verbreitung und Intensivierung der deutschen Sprachkenntnisse in der Ungarischen Volksrepublik. Sie erhalten finanzielle und personelle Unterstützung aus der Bundesrepublik Deutschland: – Bücherspenden und technische Ausstattungshilfen aus der Bundesrepublik Deutschland; – Förderung der akademischen Zusammenarbeit durch den Austausch von Kurzzeitdozenten. Aus der Bundesrepublik Deutschland werden Kurzzeitdozenten an Universitäten in der Ungarischen Volksrepublik entsandt; – Entsendung von Fachlektoren für die Fachbereiche Deutsch als Fremdsprache, Literatur und Landeskunde für die vier Germanistischen Fakultäten der Ungarischen Volksrepublik oder für andere Fachbereiche; – Verschiedenartige Stipendien für Studierende, Graduierte und Hochschullehrer für Aufenthalte in der Bundesrepublik Deutschland; – Unterstützung bei der Erforschung der ungarndeutschen Mundart; – Unterstützung von Arbeitsprogrammen im Rahmen bestehender Universitätspartnerschaften. III. Der Aufbau des deutschsprachigen Theaters in der Ungarischen Volksrepublik wird durch die Bundesrepublik Deutschland mit geeigneten Maßnahmen unterstützt. Hierzu zählen: – Entsendung von Gastregisseuren (nach Bedarf); – Fortbildung in deutscher Bühnensprache für Schauspieler; – Seminare und Fortbildungsveranstaltungen für Bühnenpersonal; – Ausstattungshilfen für deutschsprachige Theatergruppen. IV. Kulturelle Zentren der deutschen Minderheit in der Ungarischen Volksrepublik werden durch die Bundesrepublik Deutschland unterstützt. Beide Seiten stimmen darin überein, dass die Bundesrepublik Deutschland den Aufbau des Lenau-Hauses

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in Fünfkirchen finanziell unterstützen wird. Die Regierung der Ungarischen Volksrepublik begrüßt diese neuen Projekte der Zusammenarbeit und wird ihrerseits gewährleisten, dass die vereinbarten Maßnahmen realisiert werden können. Über weitere Aktivitäten1 werden beide Seiten gesondert übereinkommen. Diese Erklärung hat eine Laufzeit von fünf Jahren und verlängert sich stillschweigend, sofern sie nicht mit einer Frist von sechs Monaten schriftlich gekündigt wird. Geschehen zu Bonn am [7.] Oktober 1987 Für die Regierung der Bundesrepublik Deutschland Für die Regierung der Ungarischen Volksrepublik2 Quelle: PA AA, BILAT UNG 55, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin. Das Dokument, das bislang unter die dreißigjährige Sperrfrist fiel, wurde dem Verfasser auf Antrag vom Politischen Archiv zur Verfügung gestellt).

Dokument 4 Westdeutsch-ungarische Vereinbarung über die gegenseitige Errichtung von Kulturund Informationszentren vom 7. Oktober 1987 Die Vereinbarung zwischen Bonn und Budapest über die wechselseitige Errichtung von Kultur- und Informationszentren, auf die Bonn ein Jahrzehnt hindurch gedrängt hatte, wurde am 7. Oktober 1987, während des Staatsbesuchs des ungarischen Ministerpräsidenten Károly Grósz, unterzeichnet. Die Tatsache, dass dieser Schritt vollzogen wurde, offenbarte, dass die ungarische Führung ihre Rücksichten auf den „kulturellen Alleinvertretungsanspruch“ Ostberlins in Ungarn endgültig aufgegeben hatte. Im Mittelpunkt des Dokuments, das sich auf das Kulturabkommen vom Juli 1977 als Grundlage beruft, steht die Errichtung eines bundesdeutschen „Kultur- und Informationszentrums“ in Ungarn. Über die ebenfalls – im Sinne des besonders betonten Prinzips der Gegenseitigkeit – geplante, aber aus finanziellen Gründen vorerst zurückgestellte Errichtung eines ungarischen Kultur- und Informationszentrums sollte eine spätere, gesonderte Über-

1  Wort unleserlich, wahrscheinlich „Aktivitäten“. 2  Laut einem Beiblatt zu dieser Erklärung wurde das Dokument nicht unterzeichnet, aber angewandt (PA AA, BILAT UNG 55, ohne Paginierung).



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einkunft getroffen werden (siehe Dokument 36). Im Einzelnen regelt die Übereinkunft den Namen, Sitz und Status des Kulturinstituts, seine vorrangigen Aufgaben (unter anderem Betreibung einer Bibliothek sowie Durchführung von Veranstaltungen und Sprachkursen), seine Personalstruktur und finanzielle Fragen. Darüber hinaus garantiert die ungarische Seite in der Vereinbarung dem Institut bestimmte Privilegien wie z. B. Zoll- und Steuerfreiheit. Während das westdeutsche Kulturzentrum, das seitdem unter dem Namen „Goethe-Institut“ eine Schlüsselrolle bei den kulturellen Tätigkeiten der Bundesrepublik in Ungarn spielt, bereits am 10. März 1988 eröffnet wurde, erfolgte die Einrichtung des ungarischen „Gegenstücks“ in Stuttgart erst Ende Mai 1990. *** Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ungarischen Volksrepublik über die gegenseitige Errichtung von Kultur- und Informationszentren Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und die Regierung der Ungarischen Volksrepublik, von dem Wunsch geleitet, – ihre Zusammenarbeit im Bereich Kultur, Bildung und Wissenschaft weiterzuentwickeln und zu vertiefen; – die kulturellen und geistigen Werte ihrer Länder in möglichst breiten Kreisen zu vermitteln und zu verbreiten; – die gegenseitige Information über das gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Leben der beiden Länder, insbesondere auf dem Gebiet von Technik und Wissenschaft, zu fördern; – zu einem gegenseitigen Kennenlernen und einem besseren Verständnis zwischen den Menschen in beiden Ländern auch auf diese Weise beizutragen, haben folgende Vereinbarung getroffen: Artikel 1 1. Auf der Grundlage des Artikels 1 des Abkommens vom 6. Juli 1977 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ungarischen Volksrepublik über kulturelle Zusammenarbeit werden die Bundesrepublik Deutschland in der Ungarischen Volksrepublik und die Ungarische Volksrepu­ blik in der Bundesrepublik Deutschland jeweils ein Kultur- und Informationszentrum errichten.

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2. Die Errichtung der Kultur- und Informationszentren erfolgt auf der Basis der Gegenseitigkeit, unabhängig von dem Zeitpunkt der Eröffnung. 3. Über die Bedingungen der Errichtung des Kultur- und Informationszentrums der Ungarischen Volksrepublik werden die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und die Regierung der Ungarischen Volksrepublik gesondert übereinkommen. Artikel 2 1. Das Kulturinstitut der Bundesrepublik Deutschland in der Ungarischen Volksrepublik wird den Namen „Kultur- und Informationszentrum der Bundesrepublik Deutschland“3 (im Weiteren: „Kulturinstitut“) führen. Diese Bezeichnung wird z. B. auf Schildern, in Korrespondenz, Stempeln, Programmen usw. in gleicher Weise benutzt. 2. Das Kulturinstitut hat seinen Sitz in Budapest. 3. Das Kulturinstitut wird seine Tätigkeit unter den in dieser Vereinbarung festgelegten Bedingungen und in Übereinstimmung mit den Gesetzen und gesetzlichen Vorschriften der Ungarischen Volksrepublik ausüben. 4. Die zuständigen Organe der Ungarischen Volksrepublik sichern die öffentliche Tätigkeit gemäß Artikel 3 und die freie Zugänglichkeit des Kulturinstituts zu. Artikel 3 Das Kulturinstitut wird insbesondere die Aufgaben wahrnehmen: 1. Es unterhält eine Bibliothek/ Mediothek, in der Bücher, gedruckte und vervielfältigte Materialien, einschließlich Zeitschriften, Tageszeitungen, Ton- und Bildträger den Interessenten zur Verfügung gestellt werden; 2. es führt kulturelle und wissenschaftliche Veranstaltungen, Vorträge, Schriftstellerlesungen, Seminare, Symposien, Ausstellungen, Filmaufführungen, Konzerte und Theateraufführungen sowie andere künstlerische Darbietungen durch; 3. es führt allgemeine und fachbezogene Sprachkurse durch; 4. es unterstützt und führt entsprechend dem Bedarf und in Zusammenarbeit mit den zuständigen ungarischen Stellen Lehrerfortbildungsveranstaltungen und Veranstaltungen auf dem Gebiet der Landeskunde, der Methodik und Didaktik des Fremdsprachenunterrichts in Ungarn sowie in der Bundesrepublik Deutschland durch; 5. es entwickelt in Zusammenarbeit mit den ungarischen Stellen Unterrichtsmaterialien für den Deutschunterricht in der Ungarischen Volksrepublik sowie für die

3  Der Name wurde kurze Zeit später in „Goethe-Institut Ungarn“ geändert.



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Aus- und Fortbildung ungarischer Deutschlehrer und stellt Lehrmaterialien zur Verfügung. Artikel 4 Die zuständigen Institutionen beider Staaten werden die Arbeit des Kulturinstituts bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben nach Artikel 3 unterstützen und fördern. Artikel 5 Die Wahrnehmung der Aufgaben des Kulturinstituts der Bundesrepublik Deutschland wird von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland dem „Goethe-Institut zur Pflege der deutschen Sprache im Ausland und zur Förderung der internationalen kulturellen Zusammenarbeit e. V.“, München übertragen. Artikel 6 1. Das Kulturinstitut wird von einem aus der Bundesrepublik Deutschland entsandten Direktor geleitet. 2. Außer dem Direktor können aus der Bundesrepublik Deutschland andere Mitarbeiter für die Bereiche Spracharbeit, pädagogische Verbindungsarbeit, Kultur und Wissenschaft/ Technologie sowie Verwaltung, Bibliothek/ Mediothek entsandt werden. 3. Der Direktor bzw. sein Beauftragter kann in Fragen der Tätigkeit des Kultur­ instituts mit den zuständigen Institutionen der Ungarischen Volksrepublik – nach deren innerstaatlichen Rechtsbestimmungen – unmittelbar verkehren. Artikel 7 Neben dem entsandten Personal kann das Kulturinstitut auch Ortskräfte einstellen. Ortskräfte ungarischer Staatsangehörigkeit können nur über die Direktion für die Versorgung des Diplomatischen Corps (DTEI) eingestellt werden. Artikel 8 1. Die Ausstattung, einschließlich der technischen Geräte, und das Vermögen des Kulturinstituts sind Eigentum der Bundesrepublik Deutschland. 2. Die finanziellen Lasten für Ausstattung und Betrieb des Kulturinstituts trägt die Bundesrepublik Deutschland. 3. Für die Beschaffung des Gebäudes beziehungsweise Grundstücks für das Kulturinstitut und der Wohnungen für die entsandten Mitarbeiter ist die Direktion für die Versorgung des Diplomatischen Corps (DTEI) zuständig.

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Artikel 9 1. Die Regierung der Ungarischen Volksrepublik gewährt nach ihren Gesetzen und Bestimmungen freie Ein- und Rückfuhr und Abgabenfreiheit von jeglichen Zollund Steuerverpflichtungen sowie von öffentlichen Lasten, ausgenommen Lagerungs- und Transportkosten und die Kosten anderer Dienstleistungen – für jene Gegenstände (z. B. belichtete Filme, Bild- und Tonmaterial, Bücher, Zeitschriften, Möbel, Dienstwagen), die für das Kulturinstitut eingeführt werden, – für persönliche Gebrauchsgegenstände einschließlich der privaten Kraftfahrzeuge für die entsandten Mitarbeiter des Kulturinstituts sowie deren Familienangehörige und für solche Gegenstände, die die entsandten Mitarbeiter nach Aufnahme ihrer Tätigkeit und nach Begründung ihres gewöhnlichen Aufenthalts in der Ungarischen Volksrepublik innerhalb von sechs Monaten einführen. 2. Für Veranstaltungen im Gebäude des Kulturinstituts (Sprachkurse, Vorlesungen, Ausstellungen usw.) können Eintrittsgebühren in einem in der Ungarischen Volksrepublik üblichen Maße erhoben werden. Unter diesem Titel erhobene Gebühren sind frei von Besteuerung und sonstigen Abgaben in der Ungarischen Volksrepublik. Artikel 10 Entsprechend dem Viermächteabkommen vom 3. September 1971 wird diese Vereinbarung in Übereinstimmung mit den festgelegten Verfahren auf Berlin (West) ausgedehnt. Artikel 11 Diese Vereinbarung tritt am Tage nach Austausch der Noten in Kraft, durch die beide Regierungen einander mitgeteilt haben, dass die erforderlichen innerstaatlichen Voraussetzungen für das Inkrafttreten erfüllt sind. Artikel 12 1. Diese Vereinbarung wird für die Zeit von fünf Jahren vom Tage ihres Inkrafttretens an geschlossen: Ihre Geltungsdauer verlängert sich um jeweils weitere fünf Jahre, sofern sie nicht von einer der beiden Vertragsparteien spätestens ein Jahr vor Ablauf der jeweiligen Fünfjahresperiode schriftlich gekündigt wird. 2. Im Falle der Kündigung dieser Vereinbarung wird das Kulturinstitut seine Tätigkeit an dem Tage einstellen, an dem die Vereinbarung außer Kraft tritt.



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Geschehen zu Bonn am 7. Oktober 1987 in zwei Urschriften, jede in deutscher und ungarischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist. Für die Regierung der Bundesrepublik Deutschland: [Hans-Dietrich] Genscher Für die Regierung der Ungarischen Volksrepublik: [László] Kovács Quelle: United Nations Treaty Series, Vol. 1555, I-27016. New York 1990, S. 58–62.

Dokument 5 Bericht des ungarischen Außenministeriums vom 12. Oktober 1987 für das Politbüro und die Regierung über den Besuch von Károly Grósz in der Bundesrepublik Deutschland Der Ende Juni 1987 von der politischen Führung um János Kádár eingesetzte neue Vorsitzende des Ministerrats (Ministerpräsident) Károly Grósz stattete vom 7. bis 10. Oktober 1987 der Bundesrepublik Deutschland einen offiziellen Staatsbesuch ab. Im Zuge seiner ersten Visite in einem westlichen Land führte Grósz Gespräche mit seinem Gastgeber Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher, mit den Ministerpräsidenten aus vier Bundesländern sowie mit Spitzenpolitikern aller im Bundestag vertretenden politischen Richtungen und mit führenden Vertretern von Wirtschaft und Finanzen. Während der Unterredungen legte Grósz seine Zielsetzungen in Wirtschaft und Politik dar und erhielt von der westdeutschen Seite breite Unterstützung für die ungarischen Vorhaben im Rahmen des „Entfaltungsprogramms“. Die Bundesregierung übernahm eine Bürgschaft für einen Milliardenkredit westdeutscher Banken. Außerdem kam es zur Unterzeichnung mehrerer Dokumente mit herausragender Bedeutung für die bilateralen Kontakte, darunter eine Vereinbarung über die wechselseitige Errichtung von Kulturzentren (siehe Dokument 4) und ein Abkommen über wissenschaftlich-technologische Kooperation (siehe Dokument 2). Über die Reise, die von beiden Seiten als großer Erfolg betrachtet wurde, stellte der stellvertretende Außenminister László Kovács am 12. Oktober 1987 in Namen des Außenministeriums einen ausführlichen, von Grósz genehmigten streng geheimen Bericht für das Politbüro und die Regierung zusammen. ***

Außenministerium Streng geheim! 004117/18/1987

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Bericht für das Politbüro und den Ministerrat über den offiziellen Besuch von Genossen Károly Grósz in der Bundesrepublik Deutschland Auf Einladung von Bundeskanzler Helmut Kohl stattete Genosse Károly Grósz der Bundesrepublik Deutschland vom 7. bis 10. Oktober 1987 einen offiziellen Besuch ab. Begleitet wurde er von Staatssekretär Pál Tétényi, Vorsitzender des OMFB [Landesausschuss für Technische Entwicklung], dem stellvertretenden Minister Ferenc Bartha, Leiter des Sekretariats für Internationale Wirtschaftsbeziehungen des Ministerrats, János Fekete, erster Vizepräsident der Ungarischen Nationalbank, und László Kovács, stellvertretender Außenminister. Károly Grósz führte mit seinem Gastgeber zuerst eine Besprechung in engem Kreis, dann eine Plenarbesprechung. Er traf sich mit Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger, Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Hans-Jochen Vogel, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Wolfgang Mischnick, Fraktionsvorsitzender der Freien Demokratischen Partei, sowie mit Vertretern der Grünen. Er führte Gespräche mit den Ministerpräsidenten von Niedersachsen bzw. Rheinland-Pfalz sowie im Rahmen eines kurzen Münchenund Stuttgart-Besuchs mit dem bayerischen und dem baden-württembergischen Regierungschef. Es kam auch zu einem Treffen mit den Leitern der wichtigsten westdeutschen Großunternehmen und Banken. In Anwesenheit der beiden Regierungschefs erfolgte die Unterzeichnung des Abkommens über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, der Vereinbarung über die wechselseitige Einrichtung von Kultur- und Informationszentren, der gemeinsamen Erklärung über die Hauptgebiete der Unterstützung der BRD zur Verbesserung der kulturellen Versorgung der in Ungarn lebenden deutschen Nationalität und zur Erhöhung des Niveaus des deutschen Sprachunterrichts sowie der Erklärung über einen 1 Milliarde DM umfassenden, von der Deutschen Bank mit einer Regierungsgarantie zur Verfügung zu stellenden Kredit. Außerdem kam es zum Austausch der Dokumente, die die im vergangenen Jahr unterzeichnete Investitionsschutzvereinbarung bekräftigen. I. Auf der Besprechung in engem Kreis nahm Helmut Kohl die Grüße von Genossen János Kádár mit Freuden an und erwiderte sie. Er verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass sich in nicht zu ferner Zukunft auch eine Möglichkeit zu einem persönlichen Treffen eröffnen werde. Der Kanzler sprach mit betonter Anerkennung über die innen- und außenpolitischen Bemühungen Ungarns. Er hob hervor, dass Ungarn während seiner bisher fünfjährigen Tätigkeit als Regierungschef ein konsequenter Partner bei den Anstrengungen zur Linderung der Ost-West-Spannungen und zum Ausbau der Beziehungen gewesen sei. Wie er formulierte, habe er seitens Ungarn das größte Verständnis und



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die größte Hilfsbereitschaft unter den Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts erfahren. Mit der Reform des Systems der Wirtschaftslenkung, mit der Modernisierung des Systems der politischen Institutionen und mit ihren außenpolitischen Aktivitäten habe die ungarische Politik eine bahnbrechende Rolle in ihrem eigenen Bündnissystem gespielt. All dies habe zum – traditionell guten – Verhältnis unserer Länder und zur ungestörten Entwicklung der bilateralen Beziehungen beigetragen. Kohl stellte heraus, dass die BRD das ungarische Stabilisierungs- und Entfaltungsprogramm mit Sympathie verfolge und – über das breite Beziehungsnetz hinaus – auch wegen der offensichtlichen internationalen Auswirkungen an seinem Erfolg interessiert sei. Sie seien gemäß ihren Möglichkeiten bereit, die Verwirklichung unserer Vorstellungen, insbesondere mittels einer Ausweitung der Zusammenarbeit, zu unterstützen. Diese Unterstützung kommt auch in den jetzigen Vereinbarungen, die auch als Signal für das eine oder andere Land aufgefasst werden könnten, zum Ausdruck. Die Führung der BRD verfolge die Prozesse, die in der Sowjetunion stattfänden, mit großer Aufmerksamkeit. Der Kanzler persönlich sei in einer „Wartehaltung“, er stimme allerdings zu, dass man die neuen Züge der sowjetischen Außenpolitik zur Verringerung der Spannungen nützen müsse. Die BRD arbeite – als wichtigster europäischer Verbündeter der USA – auch in ihrem eigenen Bündnissystem an der Forcierung von Abkommen zur Rüstungsbeschränkung. Die sowjetisch-amerikanische Vereinbarung, die gerade vorbereitet werde, sei nur ein erster Schritt, eine ähnliche Vereinbarung sei auch auf dem Gebiet der strategischen bzw. der Raketen mit einer Reichweite von weniger als 500 Kilometern sowie der chemischen und konventionellen Waffen notwendig. Hinsichtlich der Perspektiven des sowjetisch-westdeutschen Verhältnisses sei man hoffnungsvoll, man rechne damit, dass die störenden Probleme der vergangenen Jahre überwunden werden könnten. Helmut Kohl sprach mit Nachdruck über die Bemühungen, die Beziehungen zwischen der BRD und Polen zu regeln. Er habe das Gefühl, dass die bisherigen Gesten – also die Tatsache, dass sich die BRD nicht an den von der amerikanischen Seite betriebenen Isolationsbestrebungen beteiligt und einen 9-Milliarden-DM-Kredit gewährt habe – bei der polnischen Führung auf keinerlei Echo gestoßen seien. Sie würde nicht auf die Regierung, sondern auf die oppositionelle SPD bauen. Er bemerkte, dass eine eventuelle SPD-Regierung nicht in der Lage sein würde, eine solche Vereinbarung mit den sozialistischen Staaten zu treffen, wie die Unionsparteien dies tun könnten. Er bat darum, dass die ungarische Führung unter Nutzung ihrer allgemein bekannten guten Beziehungen dazu beitragen möge, den polnischen Führern verständlich zu machen, dass es in der BRD keinen Revanchismus gebe, bestenfalls „einige Verrückte“. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung würden die Oder-Neiße-Grenze akzeptieren und auch der Verlust von einem Drittel des deutschen Territoriums würde „vom Gras überwachsen“ werden. Der Kanzler und seine Partei würden sich mit gutem Willen, aber in Würde Polen nähern und sie würden dasselbe auch von der polnischen Seite erwarten. Kanzler Kohl übergab ein Pro Memoria über die seitens der BRD geplanten Visaerleichterungen. Gemäß diesem Dokument ist die BRD bereit, eine Vereinbarung

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über die Streichung des Visazwangs für Diplomatenpässe, für die Mitglieder hochrangiger Delegationen und für Direktoren von gemischten Unternehmen sowie über die Beschleunigung der Visa-Erledigung bei anderen offiziell reisenden Personen zu treffen. Der Vorschlag müsse bei Expertengesprächen konkretisiert werden. Der Kanzler betonte, dass die BRD gegenüber Ungarn nach einer völligen Visafreiheit strebe, sie könne vorerst aber den Widerstand seitens der Verbündeten, insbesondere Frankreichs, nicht überwinden. Unter Betonung der Bedeutung persönlicher Kontakte warf der Kanzler gegenüber Genossen Grósz die Möglichkeit eines operativen Kontakts – auch per Telefon oder über Beauftragte – auf. Genosse Grósz betonte, dass der außerordentlich herzliche Empfang und das reichhaltige Programm die Wertschätzung unseres Landes gut widerspiegeln würden. Er sprach die Situation und die Probleme unseres Landes an. Er hob hervor, dass unsere Situation dadurch erschwert werde, dass wir auf „halbem Weg“ zwischen der alten Praxis und den neu gesteckten Zielen stünden. Wir hätten aber keine andere Wahl als vorwärtszugehen. Zur früheren Praxis könnten wir nicht zurückkehren. Dies sei mehr als eine „ungarische Angelegenheit“, es gehe um die Erneuerung des Sozialismus. Die internationalen Voraussetzungen seien jetzt vorteilhafter. Früher seien wir im Wesentlichen alleine gewesen, jetzt würden auch unsere Freunde an der Verwirklichung ähnlicher Vorstellungen arbeiten. Wir würden uns über die Unterstützung der BRD und anderer zur Zusammenarbeit bereiter Partner freuen. Wir würden uns bei der BRD – über die bilateralen Beziehungen hinaus – auch für die in der EWG in Erscheinung tretende Hilfe besonders bedanken, die Schlacht müssten wir schließlich aber selbst führen. Es sei unsere feste Überzeugung, das Programm der Stabilisierung und Entfaltung zu Ende zu führen. Auch die sowjetische Führung habe eine große Unternehmung gestartet. Der Prozess werde lang und sicherlich voll von Problemen und Rückschlägen sein. Aber auch dort gebe es keine Alternative. Wir würden die auch für uns günstigen Veränderungen unterstützen. Aufgrund unserer Situation konnten wir aber übrigens nicht „abwarten“ wie die BRD. Wir seien bereit, das größte Einvernehmen zwischen Polen und der BRD zu fördern. Dies sei auch ein gemeinsames Interesse. Bezüglich der Visaerleichterungen betonte Genosse Grósz, dass wir mit der jetzigen Zwischenlösung zufrieden seien. Diese habe auch so eine große politische und praktische Bedeutung. Bei den Plenarverhandlungen betonte Kanzler Kohl die Bedeutung der Abrüstung. Er hob hervor, dass die BRD besonders an der baldmöglichsten Demontage der Raketen mit einer Reichweite von weniger als 500 Kilometern interessiert sei. Wiederholt würdigte er die ungarischen wirtschaftspolitischen Bestrebungen, wobei er hierzu Erfolg wünschte und die Meinung zum Ausdruck brachte, dass es im Falle eines Scheiterns des jetzt beschlossenen Programms in Ungarn wahrscheinlich zu Prozessen kommen würde, die für die BRD „nicht sympathisch“ sein würden. Er betonte



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überdies seine Sympathien für die von Ungarn eingeführten Reiseerleichterungen.4 Mit großer Anerkennung sprach er über die Lage der in Ungarn lebenden Deutschen und hob die große Bedeutung der gemeinsamen Erklärung bezüglich der weiteren Verbesserung ihrer kulturellen Versorgung für die BRD hervor. Er warf außerdem die Frage einer Vereinbarung über die Donau-Binnenschifffahrt auf, wobei er Interesse an einer baldmöglichen Übereinkunft bekundete. Die seitens der BRD teilnehmenden Experten interessierten sich für die Verhandlungen zwischen Ungarn und der EWG und für die Aussichten auf ein Abkommen. Sie betonten, sie würden zwar die ungarischen Bestrebungen unterstützen, der Entwurf, der Ende Oktober [1987] bei einer neuerlichen Verhandlungsrunde in Brüssel seitens der Kommission der EWG übergeben werde, werde für Ungarn aber wahrscheinlich noch immer nicht akzeptabel sein. Sie lenkten die Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass über die Erklärung, die das Verhältnis zwischen dem RGW und der EWG regle, vielleicht erst später eine Vereinbarung getroffen werde, als zwischen der EWG und Ungarn, was im Gegensatz zu ihren Absichten stünde. Bei seiner Bewertung der positiven Entwicklung der internationalen Situation sprach sich Genosse Grósz anerkennend über die konstruktive Haltung der BRD aus. Eigens hob er den westdeutschen Beitrag zum Helsinki-Prozess hervor. Er vertrat die Meinung, dass die jetzigen Vereinbarungen neue Möglichkeiten zur – mit gegenseitigen Vorteilen einhergehenden – Ausweitung der bilateralen Beziehungen eröffnen würden, und würdigte in diesem Zusammenhang die Unterstützung der Führung der BRD. Er signalisierte außerdem die Absicht, dass wir in München – unter Sicherstellung der Wechselseitigkeit – ein Generalkonsulat eröffnen, was von Kanzler Kohl begrüßt wurde. Er [Grósz] versprach, dass wir in Kürze einen konkreten Vorschlag für eine wechselseitig befriedigende Lösung der Fragen in Verbindung mit dem Binnenschifffahrtsabkommen und mit der Fahnenverwendung der in Westberlin registrierten Schiffe ausarbeiten würden. Mit Blick auf die Verhandlungen zwischen dem RGW und der EWG bzw. der einzelnen RGW-Mitgliedsländer und der Gemeinschaft unterstrich Genosse Grósz ihren sich gegenseitig ergänzenden Charakter. Er verwies auch darauf, dass sich in den Standpunkten der einzelnen sozialistischen Länder gegenüber der EWG auch die Unterschiede in der jeweiligen Situation und in den Gegebenheiten widerspiegeln würden. Er stellte den Kern des ungarischen Standpunkts dar, wobei er betonte, dass wir grundsätzlich an der Nicht-Diskriminierung und an dem an Fristen gebundenen Abbau der Mengenbeschränkungen festhalten würden, hinsichtlich der praktischen Lösungen aber weitgehend flexibel seien. Er wolle die Vereinbarung möglichst schnell abschließen, aber nur auf dieser Grundlage. Es sei aber auf alle Fälle notwendig, die Vermittlungstätigkeit im Apparat der EWG zu beschleunigen.

4  Damit meinte Kohl den Beschluss der ungarischen Führung vom Mai 1987, zum 1. Januar 1988 einen weltweit gültigen Reisepass einzuführen.

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II. Präsident Weizsäcker brachte die Überzeugung zum Ausdruck, dass nicht die Abrüstung zum Frieden führe, sondern die friedliche Kooperation zur Abrüstung. Er betonte das Interesse der BRD am Helsinki-Prozess und am erfolgreichen Abschluss des Wiener Nachfolgetreffens. Er hob die Wichtigkeit des „zweiten Korbs“, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, hervor. Seiner Meinung nach sei ein bedeutender Teil der Probleme der Länder vom Gesellschaftssystem unabhängig, was ebenfalls die Möglichkeit der Zusammenarbeit beweise. Der Bundespräsident sprach anerkennend über die Bemühungen der ungarischen Führung. Er verwies darauf, dass es auch in der BRD Diskussionen über den Widerspruch von Leistungsprinzip und sozialpolitischen Erwägungen gegeben habe und gebe. Diesen Konflikt müsse man auf sich nehmen. Gleichheit und Neid würden nirgendwohin führen. Seiner Meinung nach sei es ein Grund auch für die Probleme der Sowjetunion, dass dem Volk 70 Jahre lang die Honorierung von Motivation und Leistungen abgewöhnt worden sei. Auch deshalb gebe es in der sowjetischen Führung Angst vor den Reformen, zumindest aber Unsicherheit bei ihrer Durchführung. Eine halbe Reform sei aber das Schlechteste. Weizsäcker würdigte – auch unter Hinweis auf seinen Ungarn-Besuch und sein Programm in Pécs [Fünfkirchen] im vorangegangenen Jahr – die ungarische Nationalitätenpolitik mit großer Anerkennung. Er brachte den Wunsch zum Ausdruck, dass auch die in anderen Ländern lebende ungarische Nationalität eine ähnliche Art und Weise der Behandlung erfahren solle, wie die Minderheiten in Ungarn. Philipp Jenninger, Präsident des Bundestags, unterstrich ebenfalls, dass die in Ungarn lebenden Deutschen – als loyale Staatsbürger ihrer Heimat und unter Wahrung ihrer nationalen Kultur, Pflege ihrer Muttersprache und ihrer Verwandtschaftsbeziehungen – eine wichtige Rolle für die Entwicklung der ungarisch-westdeutschen Beziehungen spielen würden. Er betonte, dass im Bundestag vollkommene Einigkeit über die Notwendigkeit, die Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten weiter zu stärken, bestehe. Bei seiner Erörterung der Wichtigkeit der Ost-West-Beziehungen hob Außenminister Hans-Dietrich Genscher gesondert hervor, dass die Politik der Isolierung unhaltbar sei und betonte die Bedeutung der Offenheit. Ungarns internationale Rolle bewertete er als beispielhaft. Im gleichen Geiste sprach er auch über die bilateralen Beziehungen. Er unterstrich die Notwendigkeit, die regelmäßigen Treffen und den regelmäßigen Meinungsaustausch fortzusetzen. Genscher interessierte sich besonders eingehend für die ungarische Einschätzung, welche Aussichten die in der Sowjetunion stattfindenden Prozesse hätten. Seiner Meinung nach könnten in der westlichen Welt drei verschiedene Grundhaltungen vernommen werden. Es gebe Positionen, die die Verwirklichung der Bestrebungen von Generalsekretär Gorbatschow für hoffnungslos halten würden, andere Kräfte würden ein Abwarten und Vorsicht empfehlen. Er glaube daran, dass die neue Politik



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auch den Interessen des Westens entspreche, weswegen ein Erfolg unterstützt werden müsse – insbesondere mit der Unterstützung der Rüstungsbeschränkung. Genosse Grósz gab den führenden bundesdeutschen Persönlichkeiten einen kurzen Überblick über unsere Situation, über die Gründe unserer Schwierigkeiten und über unsere Politik. Er betonte, dass die ungarische Führung gezwungen sei, unpopuläre Schritte zu unternehmen. Sie müsse gleichzeitig den Konsum beschränken und eine Leistungssteigerung erzwingen. Hierzu existiere keine Alternative. Eine besondere Schwierigkeit bedeute, dass der jetzt begonnene Weg noch nie beschritten worden sei und ein Teil der Lösungen unter sozialistischen Verhältnissen einen ganz und gar neuen Charakter habe. Auch die Situation in der Sowjetunion sei im Wesentlichen ähnlich, aber auch dort gebe es die Entschlossenheit, die Veränderungen zu Ende zu bringen. Die kapitalistischen Staaten dürften diese nicht erschweren, sondern sie müssten sie vor allem verstehen und unterstützen. Er bekräftigte, dass auch unsererseits die Bereitschaft bestehe, die Beziehungen zwischen Ungarn und der BRD weiterzuentwickeln. III. Hans-Jochen Vogel, Vorsitzender der SPD, betonte, dass seine Partei mit der Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen Ungarn und der BRD einverstanden sei. An deren Entwicklung habe die Ostpolitik der damaligen sozialliberalen Koalition in den 70er Jahren eine beträchtliche Rolle gespielt. Besonders positiv bewertete er die bahnbrechende Rolle der MSZMP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] innerhalb der sozialistischen Gemeinschaft und das internationale Ansehen von Genossen János Kádár. Er äußerte die Meinung, dass die letzte Sitzungsperiode des Parlaments von heftigen Debatten im Bundestag geprägt gewesen sei. Die in der Sowjetunion stattfindenden Veränderungen bewertete er als weltpolitisch bedeutend und unterstrich, dass er trotz der offensichtlichen Schwierigkeiten hoffnungsvoll bezüglich ihrer Perspektiven sei. Die Situation in Jugoslawien hingegen beurteilte er als beängstigend. Laut Wolfgang Mischnick, Fraktionschef der FDP, sei es ungarischerseits eine weise Sache gewesen, die Unionsparteien bei der Bildung der christlich-liberalen Koalition in die [westdeutsch-ungarischen] Beziehungen einzubeziehen. Dies könnte auch für andere sozialistische Staaten ein Beispiel sein. Mit Blick auf die internationalen Fragen hob Mischnick die Wichtigkeit der Beseitigung der Asymmetrien, die auf dem Gebiet der konventionellen Waffen bestünden, hervor. Ihm persönlich erscheine es so, dass die sowjetische Militärführung dagegen opponiere. Er zitierte Genossen Honecker, der – seiner Meinung nach – bei seinem jüngsten Besuch erklärt habe, auch die Beschränkung der konventionellen Waffen dürfe nicht den Militärs überlassen bleiben. Über die Vorstellungen bezüglich der Schaffung von chemiewaffenfreien Gürteln äußerte sich Mischnick unter Hinweis auf die Schwierigkeiten der Kontrolle skeptisch. Er informierte darüber, dass ein Treffen der westeuropäischen liberalen

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Parteien geplant sei und dass man beabsichtige, hierzu auch die nichtkommunistischen Parteien einiger sozialistischer Länder – der DDR, der Tschechoslowakei, Polens und vielleicht Bulgariens – einzuladen. Themen könnten die Abrüstung, der Vergleich der Militärdoktrinen sowie der Umweltschutz sein. Er warf die eventuelle Teilnahme der Patriotischen Volksfront auf. Mischnick bot an, dass die Stiftung der FDP (sic!)5 jungen ungarischen Fachleuten bei ihrer Weiterbildung in der BRD finanzielle Hilfe anbieten könnte. In Reaktion auf die [ungarische] Anerkennung seiner bisherigen persönlichen Unterstützung zur Förderung einer Vereinbarung zwischen Ungarn und der EWG und nach der Anhörung der ungarischen Beurteilung der Probleme signalisierte er, dass er gegenüber Präsident Mitterrand, der die BRD in nächster Zukunft besuchen werde, nachdrücklich die Unhaltbarkeit des französischen Standpunkts ansprechen werde. Otto Schily und Waltraud Schoppe, Vertreter bzw. Vertreterin der Grünen, brachten ihre bekannten Vorbehalte gegen den Bau der Staustufe bei Bős–Nagymaros, gegen die Betreibung von Atomkraftwerken, gegen eine die Umwelt schädigende landwirtschaftliche Produktion sowie bezüglich unseres Auftretens gegen Personen, die den Militärdienst aus Gewissensgründen verweigern, zum Ausdruck. Außerdem stellten sie auch Fragen zu den zu erwartenden negativen sozialen Auswirkungen des Arbeitsprogramms der Regierung. Zugleich äußerten sie sich aber auch anerkennend über die Offenheit der ungarischen Politik. Sie betonten, dass unter den Parteien der BRD vollständiger Konsens hinsichtlich der Sympathie gegenüber Ungarn bestehe. Generalsekretär Grósz informierte die Leiter der Parteifraktionen über den wesentlichen Inhalt der Besprechungen der Regierungschefs. Er sprach über die Situation Ungarns sowie über das Stabilisierungs- und Entfaltungsprogramm. Er bedankte sich bei den Parteien für ihre Unterstützung zur Entwicklung der zwischenstaatlichen Beziehungen. In seiner Reaktion auf die Einwendungen der Grünen bezüglich des Naturschutzes betonte er, dass wir bei der Lösung der Probleme wegen unserer begrenzten Möglichkeiten gezwungen seien, Prioritäten zu setzen. IV. Der halbtägige Besuch von Genossen Grósz in Bayern verlief in einer sehr herzlichen Atmosphäre. Ministerpräsident Strauß würdigte die ungarische Innen- und Außenpolitik sowie die Nationalitätenpolitik mit großem Nachdruck. Ebenfalls mit Anerkennung sprach er über die ungarisch-westdeutschen und die ungarisch-bayerischen Beziehungen. Für deren Weiterentwicklung versprach er ebenso seine weitere persönliche Unterstützung wie für die Verhandlungen zwischen Ungarn und der EWG. Bei den Verhandlungen bat Strauß – als Vorsitzender der Airbus-Gesellschaft – darum, darauf hinzuwirken, dass sich MALÉV [Ungarisches Staatliches Flugunter-

5  Gemeint ist die der FDP nahestehende Friedrich-Naumann-Stiftung (FNS).



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nehmen] 1989 für den Kauf des Flugzeugs A-320 entscheide. Er ersuchte darum, die Ausweitung der Städtepartnerschaften zu unterstützen, sowie die Handlungsmöglichkeiten der Budapester CIB-Bank, an der Bayern beteiligt sei, auszuweiten. Unsere Absicht, in München ein Konsulat zu eröffnen, nahm er mit Freude auf. Ähnlich aufmerksam und freundschaftlich war auch der Empfang im Bundesland Baden-Württemberg. Hier erhielt die ungarische Nationalitätenpolitik die nachdrücklichste Würdigung. Am offiziellen Abendessen nahmen auch Vertreter der aus Ungarn ausgesiedelten Schwaben teil. Ministerpräsident Lothar Späth betonte mit großem Nachdruck die Wichtigkeit der für sein Bundesland charakteristischen Klein- und Mittelbetriebe sowie die Bedeutung der Entwicklung ihrer Beziehungen zu ungarischen Unternehmen mit ähnlicher Größe. Die Landesregierung versuche die Unternehmen zu überzeugen, anstelle der südostasiatischen Staaten lieber im nahegelegenen Ungarn nach Kooperationsmöglichkeiten zu suchen. Späth legte ebenfalls großes Gewicht auf die Ausweitung der technisch-wissenschaftlichen Beziehungen. Baden-Württemberg sei bereit, [ungarische] Experten zum Studium der Beziehungen zwischen wissenschaftlichen Institutionen und Produktionsbetrieben und zum Studium der Unternehmensinnovation zu empfangen. Gleichzeitig würde man gerne auch ungarische Fachleute einladen, die Auskünfte über den Investitionsbedarf und die Investitionsmöglichkeiten in Ungarn geben könnten. Dem könnte eine Budapester Ausstellung der in diese Richtung interessierten Firmen aus dem Bundesland folgen. Auch die Städtepartnerschaften könnten einen guten Rahmen für die Kooperation bei Investitionen geben. Späth warf auch die Möglichkeit der Zusammenarbeit im Bereich des Fachunterrichts auf; sie seien bereit, diesen materiell, durch Investitionen, zu unterstützen. Mit dem Ministerpräsidenten von Niedersachsen Ernst Albrecht wurde hauptsächlich ein Meinungsaustausch über das Verhältnis zwischen Ungarn und der EWG geführt. Seiner Meinung nach müsste sich die EWG nicht über den PräzedenzfallCharakter eines Abkommens mit Ungarn fürchten, sondern sollte sich bewusst um die Schaffung eines Präzedenzfalls in positivem Sinne und um die Anerkennung der ungarischen Reformprozesse mittels eines Abbaus der Diskriminierungen bemühen. Er erklärte, dass die Länder der EWG jährlich 44 Milliarden Mark für die Subvention der landwirtschaftlichen Produktion ausgeben würden. Anstelle dessen sollte lieber dafür gezahlt werden, dass die Böden nicht bearbeitet würden, wodurch der Agrarexport innerhalb von drei bis sechs Jahren beendet werden würde. Dies würde die Marktposition der ärmeren Länder, die traditionell Agrarexporteure seien, verbessern. Mit Blick auf die bilateralen Beziehungen hob Albrecht die Möglichkeiten der Zusammenarbeit auf Länderebene auf dem Gebiet der Forschung sowie der Manager­ausbildung hervor. Bernhard Vogel, Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, zeigte großes Interesse an der Beteiligung von Unternehmen des Bundeslandes bei der Sanierung von ungarischen Unternehmen, die in eine schwierige Lage geraten seien, aber über eine ausgebildete Facharbeitergarde verfügen würden.

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Genosse Grósz unterrichtete die Leiter der Bundesländer über die Situation unseres Landes, über unsere Bemühungen sowie über die Rolle, die der internationalen Zusammenarbeit bei der Verwirklichung der Ziele zugeschrieben werde. Er betonte unsere Absicht, die Beziehungen zwischen Ungarn und der BRD auszuweiten, sowie die Wichtigkeit der Kontakte zu den Bundesländern. Er versprach, die von den Regierungschefs der Bundesländer unterbreiteten Vorschläge zu prüfen. Auf dem Treffen mit den führenden Vertretern des Wirtschafts- und Finanzlebens der BRD hob Genosse Grósz die Möglichkeit, sich an der Verwirklichung unserer Pläne zu beteiligen, mit besonderem Nachdruck hervor. Die Leiter der westdeutschen Unternehmen gaben einen Überblick über ihre Erfahrungen mit den Beziehungen zu Ungarn und über ihre weiteren Pläne, so über die Umwandlung mehrerer, seit langer Zeit erfolgreich arbeitenden Produktionskooperationen zu gemischten Unternehmen und über die Möglichkeit der Zusammenarbeit auf Drittmärkten. Bei den Gesprächen von Genossen Pál Tétényi und [Heinz] Riesenhuber, den Ministern für Forschung und Technologie, äußerte sich die westdeutsche Seite anerkennend über die bisherige Zusammenarbeit der ungarischen und westdeutschen Forscher. Auch diese positive Erfahrung bei der Zusammenarbeit habe zur Unterzeichnung des Abkommens über technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit beigetragen. Es herrschte Übereinstimmung, dass auf allen Gebieten nach programmartigen gemeinsamen Forschungen gestrebt werden müsse, an denen seitens beider Partner Interesse bestehe und bei denen – im Falle von technischen Entwicklungsprogrammen – die Art und Weise der praktischen Verwirklichung der Ergebnisse bereits im Voraus bekannt sei. Deutscherseits schlug man vor, die Zusammenarbeit auf die Fragen der Nukleartechnik und insbesondere der Reaktorsicherheit auszuweiten. Es wurde auch darum ersucht, Kooperationsmöglichkeit auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften zu erwägen. V. Der Besuch des Regierungschefs in der BRD bot eine gute Möglichkeit, die Situation unseres Landes und die Gründe für unsere Probleme darzulegen, die wirtschaftlichen Kooperationsmöglichkeiten in Verbindung mit der Durchführung des Stabilisierungsund Entfaltungsprogramms zu betonen und sie konkret zu eruieren. Die wichtigste Erkenntnis der Treffen ist, dass es seitens der politischen und wirtschaftlichen Kreise der BRD eine ungebrochene Sympathie gegenüber der ungarischen Politik gibt. Sämtliche Verhandlungspartner betonten, dass sie für unser Land keine andere Möglichkeit sehen würden, als die konsequente Durchführung der gegenwärtigen Beschlüsse der Führung. Gleichzeitig unterstrichen sie, dass die BRD, da sie an einer stabilen Entwicklung der ungarischen Wirtschaft interessiert sei, bei einem Erfolg der Reformprozesse bereit sei, die Bestrebungen zu unterstützen. Die unterzeichneten Vereinbarungen schaffen angemessene Rahmenbedingungen zur Ausweitung der Zusammenarbeit. Die Regierungsgarantie der BRD für das



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Kreditabkommen rief auf den Geldmärkten großes Interesse hervor und stärkte das Vertrauen in unser Land. Der Besuch bot eine Gelegenheit, den ungarischen Standpunkt bezüglich der EWG zu beleuchten und auch die Unterstützungsbereitschaft der BRD zu erhöhen. Bezüglich der Aufgaben in Verbindung mit den konkreten Fragen der Kooperation, die bei den Gesprächen und Treffen aufgeworfen wurden, wird ein eigener Maßnahmenplan erstellt. Budapest, 12. Oktober 1987 Der Bericht wurde verfasst von [Unterschrift] (László Kovács) Stellvertretender Außenminister Genehmigt von [Unterschrift] (Károly Grósz) Quelle: MNL OL, 288.f.32/1987/92. ő. e. (NSZK/1987/B), fol. 725–736. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UK-46e283 (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 6 Aufzeichnung des ungarischen Geheimdienstes vom 27. Oktober 1987 über Stellungnahmen des Bonner Auswärtigen Amts zum Besuch von Károly Grósz in der Bundesrepublik Nach dem Besuch von Ministerpräsident Károly Grósz in der Bundesrepublik Deutschland vom 7. bis 10. Oktober 1987 beschäftigte sich der ungarische Geheimdienst mit den westdeutschen Reaktionen auf das Ereignis. Die zuständige Abteilung III/I des Innenministeriums erstellte am 27. Oktober 1987 eine Aufzeichnung, die nicht nur als „Streng geheim!“, sondern auch als „Besonders wichtig!“ klassifiziert wurde und sich – gestützt auf eine nicht näher bezeichnete „NATO-Quelle“ – mit den Stellungnahmen des Auswärtigen Amts in Bonn zum Grósz-Besuch beschäftigt. Wie aus der Aufzeichnung hervorgeht, bewertete das Auswärtige Amt den Besuch sowie die Person des neuen ungarischen Regierungschefs sehr positiv. Besonders angetan sei man in Bonn von der ungarischen Minderheitenpolitik und von der Möglichkeit, ein westdeutsches Kulturzen-

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trum in Ungarn zu eröffnen. Gleichzeitig sei von der Bonner Diplomatie – so der Bericht – aber auch ein neuralgischer Punkt des Grósz-Besuchs angesprochen worden, nämlich der Milliardenkredit und die bundesdeutsche Kreditbürgschaft. Eventuelle Ersuchen anderer Staaten nach einer Kreditbürgschaft sollten mit dem Hinweis auf den Charakter der Bürgschaft als „Einzelfall“ bzw. auf das besondere westdeutsch-ungarische Verhältnis abgewehrt werden. *** […]6 Innenministerium Streng geheim! III/I-6. Abteilung Besonders wichtig! 67/9-4044/1987 Expl. 18 Gegenstand: Besuch des ungarischen Regierungschefs in der BRD Aufzeichnung Gemäß unseren Informationen, die aus einer NATO-Quelle stammen, informierte das westdeutsche Außenministerium seine Botschafter folgendermaßen über den Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten in der BRD: Bei der Analyse der Ost-West-Beziehungen stimmen die verhandelnden Seiten überein, dass in der gegenwärtigen Situation die Möglichkeiten, die sich auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle, der Abrüstung und der internationalen Zusammenarbeit ergeben würden, auf konstruktive Weise ausgenützt werden müssten. Die Entwicklungen in der Sowjetunion, die der ungarische Ministerpräsident für nicht rückgängig zu machen betrachte, wurden positiv bewertet. Seiner Meinung nach handle es sich um einen sehr langen Prozess, den auch Konflikte, insbesondere zwischen der Führung und der Bevölkerung, belasten könnten. Károly Grósz analysierte die Situation der ungarischen Wirtschaft detailliert und selbstkritisch. Er verwies darauf, dass sich die gegenwärtige Krise – neben den ungünstigen weltwirtschaftlichen Auswirkungen – auch aus eigenen Fehlern ergeben habe. Es sei seine Überzeugung, dass das Land die Schwierigkeiten mithilfe des Stabilisierungsprogramms bis 1990 überwinden werde. Nach Meinung der beiden Seiten bilden die langfristigen, sich positiv entwickelnden Wirtschaftsbeziehungen ein wichtiges Element der Entspannung und Vertrauensbildung zwischen Ost und West.

6  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.



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Der ungarische Ministerpräsident teilte die Hoffnung von Kanzler [Helmut] Kohl, dass sich die Beziehungen der BRD zu den übrigen osteuropäischen Ländern nach dem Vorbild des westdeutsch-ungarischen Verhältnisses entwickeln würden. Der Besuch zeigte, dass auch zwischen Staaten, die zu unterschiedlichen Bündnissystemen gehören und unterschiedliche Gesellschaftsordnungen haben, ein Verhältnis zustande kommen kann, das anderen Staaten als Modell dienen kann. Die aktive Arbeit zur Wahrung des Friedens muss auch die menschlichen Beziehungen vertiefen, unabhängig von der Existenz politischer und ideologischer Trennlinien. Der Budapester Botschafter der BRD7 bewertete den Besuch vor den Botschaftern der EWG-Mitgliedsstaaten folgendermaßen: Károly Grósz machte einen guten Eindruck auf seine Verhandlungspartner. Bei den Gesprächen berief er sich häufig auf Generalsekretär Gorbatschow, der ihm bei seinem Moskaubesuch gesagt habe, er habe die mit der Umgestaltung einhergehenden Schwierigkeiten unterschätzt, dennoch würde er aber – wie der ungarische Regierungschef – den Reformprozess für unumkehrbar halten. Der Ministerpräsident zeigte besonderes Interesse an der entwickelten Technik der BRD und verbarg seine Gefühle nicht, als man ihm in Stuttgart Computer neuesten Typus‘ zeigte. Seine Begleitung stellte er sichtbar gut zusammen. Das war deshalb wichtig, weil es seine erste Westreise war. Es scheint so, dass es wegen der Kürze der Zeit nicht ganz gelungen ist, den ungarischen Ministerpräsidenten mit dem föderativen System der BRD bekannt zu machen und ihm die Besonderheiten der von ihm besuchten Städte Bonn, Stuttgart und München vorzustellen. Es kann als Ausdruck der Sympathie gegenüber seiner Person bewertet werden, dass die Repräsentanten der oberen Kreise der westdeutschen Industrie- und Finanzwelt seine Verhandlungspartner waren. Der Besuch, der im Inland wie im Ausland eine positive Wirkung zeigte, bot eine gute Gelegenheit, die Unterstützung der BRD für die Durchführung des Regierungsprogramms zu gewinnen. Nach Meinung des Ministerpräsidenten hängt dessen Erfolg nicht ausschließlich von der Partei ab, sondern in erster Linie davon, ob die Bevölkerung sich mit diesem identifiziert. Die ungarische Führung und die Presse nutzte jede Gelegenheit, um zu betonen, dass die Bonner Regierung traditioneller Fürsprecher der ungarischen Interessen bei den Verhandlungen mit der EWG gewesen sei. Diese Meinung erntete sicherlich bei Staaten wie z. B. Frankreich, die wegen der Zunahme des Gewichts der BRD besorgt sind, keinen Gefallen. In Ungarn weiß man noch gar nicht, welchen großen Erfolg man in der BRD dadurch erzielte, dass die Einrichtung eines Kulturzentrums in Budapest gestattet wurde. Es wurden auch bereits Angebote für wunderbare Einrichtungen, die dem Ziel

7  Hans Alfred Steger, bundesdeutscher Botschafter in Ungarn von Herbst 1987 bis Februar 1989.

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der Institution dienen, gemacht. All das, was Ungarn für die deutsche Minderheit unternimmt, hat positive Auswirkungen; auch solche winzigen Gesten, dass sich in der Begleitung von Károly Grósz auch ein Journalist befand, der der deutschen Minderheit angehört. Es hat ein neuer Abschnitt in den ungarisch-westdeutschen Beziehungen begonnen. Dies wirft ganz offensichtlich die Frage auf, ob die Pflege der Beziehungen zur ungarndeutschen Minderheit ein Monopol der DDR ist. Diese Volksgruppe wird in Zukunft mit aller Gewissheit versuchen, die sich aus dieser Situation ergebenden größeren Möglichkeiten zu nutzen. Die BRD, die früher nur von der Unterstützung der ungarndeutschen Minderheiten sprach, spricht jetzt offen aus: Wenn die Ungarn die Möglichkeiten, die sich aus den enger werdenden Beziehungen ergeben, nützen wollen, dann müssen sie beginnen, die deutsche Sprache zu lernen. Das Bonner Außenministerium hat ihre in den europäischen sozialistischen Staaten tätigen Botschaften angewiesen, im Falle von Interesse hinsichtlich einer Kreditgarantie im Geiste des Folgenden Stellung zu nehmen: Die Regierung der BRD hat mit Blick auf den besonderen Charakter der westdeutsch-ungarischen Beziehungen ein Kreditabkommen über 1 Milliarde Mark, die Ungarn gewährt werden sollen, vorbereitet. Dabei stellte sie folgende, mit den betroffenen Ressorts abgestimmte Gesichtspunkte in Rechnung: 1. Die BRD würdigt und unterstützt die Wirtschaftspolitik der ungarischen Regierung, die darauf gerichtet ist, mit Reformmaßnahmen, die auch marktwirtschaftliche Elemente aufgreifen, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes zu erhöhen, die industrielle und landwirtschaftliche Produktion zu steigern und vor allem die Exportfähigkeit zu verbessern. 2. Die übrigen westlichen Handelspartner Ungarns begrüßen diese Wirtschaftspolitik ebenfalls. 3. Die Regierung der BRD geht davon aus, dass Ungarn bezüglich seiner Wirtschaftspolitik zu einer Übereinkunft mit dem Internationalen Währungsfonds kommt. 4. Die Beziehungen Ungarns und der BRD haben sich zu einem gutnachbarschaftlichen Verhältnis entwickelt. Die beiden Staaten bemühten sich auch in einer angespannten Ost-West-Atmosphäre, den politischen Dialog aufrechtzuerhalten. Die ungarisch-westdeutschen Wirtschaftsbeziehungen entwickeln sich insgesamt positiv. Ein wichtiges Gebiet der Zusammenarbeit ist die Kooperation zwischen Unternehmen, die erwartungsgemäß durch das Abkommen über Investitionsschutz weiter belebt werden wird. Die Vereinbarung über die Errichtung von Kulturinstituten und über die Unterstützung des deutschen Sprachunterrichts stellt die kulturelle Zusammenarbeit der beiden Staaten auf neue Grundlagen und gibt den Beziehungen neuen Schwung. Die positive Entwicklung des Reiseverkehrs zwischen Ungarn und der BRD trägt zu einer umfassenden und langfristigen Zusammenarbeit bei.



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5. Zum Zwecke der Unterstützung der Politik der ungarischen Regierung und zur Entwicklung der bilateralen wirtschaftlichen, industriellen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit ist die Regierung der BRD bereit, eine Garantie für einen Ungarn zu gewährenden Bankkredit zu übernehmen. Im Zuge der Vorbereitung des Kreditabkommens berücksichtigte die Regierung der BRD, dass die Vereinbarung anderen sozialistischen Staaten – vor allem Jugoslawien und Polen – als Bezugspunkt dienen kann. Das Finanzministerium stimmte der Garantie nur unter der Bedingung zu, dass diese ein Einzelfall bleibt. Notfalls kann auch darauf verwiesen werden, dass Polen 1975 – unter günstigsten Bedingungen – bereits einen ähnlichen Kredit und in Form eines Rohstoffkredits weitere Hilfe zur Verbesserung seiner Zahlungsbilanz erhielt. Wie bekannt ist, konnte Polen diese Kredite nicht rechtzeitig tilgen. Demgegenüber hat die BRD mit Ungarn normale finanzielle Beziehungen – ohne Ausbleiben von Zahlungen und ohne Tilgungsstreckung –, weswegen die Voraussetzungen für die Übernahme einer staatlichen Kreditgarantie gegeben sind. (Die Aussichten für eine problemlose Abwicklung der Kreditangelegenheit sind gut.) Im Zuge der Argumentation muss nach Möglichkeit eine Bezugnahme auf das flexible ungarische Verhalten in der Frage der Kulturinstitute vermieden werden, da aufgrund von haushaltsrelevanten und rechtlichen Erwägungen bei den Polen gewährten Krediten – auch in Falle eines ähnlichen polnischen Entgegenkommens – keine Möglichkeit für eine Garantieübernahme besteht. (Die Informationen beruhen auf Dokumenten, sie erfordern erhöhten Schutz.) Budapest, 27. Oktober 1987 Quelle: ÁBTL, 1. 11. 4. D–V/1987, fol. 4–8. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer Dokument 7 Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth vom 11. Januar 1988 an Staatssekretär Gyula Horn über westdeutsche Meinungen zu den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Ungarn Am 11. Januar 1988 verfasste der ungarische Botschafter in Bonn István Horváth ein Schreiben an Gyula Horn, Staatssekretär im Budapester Außenministerium, in dem er die Meinung führender Vertreter der bundesdeutschen Wirtschaft und Politik zum „Programm der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entfaltung“ zusammenfasste. Wie aus dem Brief hervorgeht, wurden die jüngsten ungarischen wirtschaftlichen und politischen Vorhaben in den genannten Kreisen grundsätzlich positiv aufgenommen, gleichzeitig aber hinsichtlich zahlreicher konkreter wirtschaftlicher Fragen des Regierungsprogramms und seiner konsequenten Umsetzung teils deutliche Zweifel bzw. fachliche Kritik geäu-

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ßert. Darüber hinaus wiesen die Gesprächspartner Horváths auch auf die Gefahr hin, dass im Falle einer Verschleppung der wirtschaftspolitischen Vorhaben die wirtschaftlich-gesellschaftlichen Spannungen in „politische Unruhe“ mit negativen Folgen für die Fortsetzung des Veränderungsprozesses in Ungarn und im östlichen Wirtschaftsbündnis umschlagen könnten. *** […]8 Lieber Genosse Horn! Ich hatte in den vergangenen Monaten Gelegenheit, mit zahlreichen Vertretern der politischen und wirtschaftlichen Führung der BRD Gespräche zu führen, [und zwar] mit Personen, die der inneren Entwicklung in Ungarn seit Jahren große Aufmerksamkeit schenken und deren Meinung in bedeutendem Maße die in unsere Richtung verfolgte westdeutsche Außen- und Außenwirtschaftspolitik beeinflusst. Seitens der politischen und wirtschaftlichen Führung der BRD offenbart sich seit dem verkündeten Stabilisierungsprogramm der Regierung und dann seit dem – in hiesigen Kreisen eindeutig als Erfolg bewerteten – Besuch des Ministerpräsidenten eine auch im Vergleich zu früher gesteigerte Aufmerksamkeit hinsichtlich der Entwicklung unserer inneren Situation. In den Führungskreisen der BRD, aber auch in der in weiterem Sinne verstandenen wirtschaftlich-politischen öffentlichen Meinung, wurden die Fortsetzung der Wirtschaftsreform und – parallel hierzu – die Beschlüsse zur Entwicklung des Systems der politischen Institutionen positiv aufgenommen. Innerhalb dieser Maßnahmen lösten die Absicht, die Rolle und Kompetenzen der Macht- und Exekutivorgane zu trennen und ihre Zusammenarbeit effektiver zu gestalten, sowie der Wille, eine einheitliche Regierungstätigkeit herbeizuführen und die Staatsverwaltung weiter zu modernisieren, ein bedeutendes Echo aus. Die im Regierungsprogramm formulierte wirtschaftspolitische Leitlinie und das zur Verwirklichung der Zielsetzungen verkündete Instrumentarium zur Wirtschaftslenkung wird – insofern wir es konsequent anwenden – insgesamt als geeignet betrachtet, um in der Wirtschaft jene Struktur- und Anpassungsprozesse in Gang zu setzen, die zur Triebkraft der Entfaltung und der Erneuerung werden können. Wahr ist, dass es auch Meinungen gibt, die bemängeln, dass es nicht zu einer tieferen Analyse der Gründe für den allgemeinen wirtschaftlichen Gleichgewichtsverlust der letzten 2 bis 3 Jahre gekommen ist, da es nämlich weder in der Weltpolitik, noch in der Weltwirtschaft zu Veränderungen gekommen sei, die eine Verschlechterung der

8  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.



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Wirtschaftslage in diesem großen Ausmaß begründen würden. Die Gründe seien also nur in der Binnenwirtschaft zu suchen. Außerdem wird beanstandet, dass das Regierungsprogramm keine Wahlmöglichkeiten über die möglichen Bereiche der von den inneren strukturellen Gegebenheiten, von den Ressourcen und gesellschaftlichen Schranken sowie von den außenwirtschaftlichen Bindungen determinierten „Flucht“-Wege formuliere. Als wichtig wird hingegen der die Dokumente durchdringende Geist beurteilt, nämlich die Tatsache, dass wir die Reorganisation unserer Gesellschaft und Wirtschaft in ein moderneres und effizienteres System, das die alleinige Garantie für die Bewahrung unserer erreichten Werte, für ihre Mehrung und für die Festigung unserer Position, die wir uns in der Gemeinschaft der Völker erkämpft haben, fortsetzen. In die im Allgemeinen positive Beurteilung unserer Heimat mischen sich in letzter Zeit allerdings auch mehrere besorgte und zweifelnde Meinungen: Die tatsächlichen Voraussetzungen für die Lösung der in der Gegenwart angehäuften Probleme und der erfolgreichen Verwirklichung des Stabilisierungs- und Entfaltungsprogramms seien ein sehr strenges und konsequentes Lenkungsverhalten, die konsequente Fortsetzung der Reform und die Sicherstellung des dazu notwendigen gesellschaftlichen Vertrauens. Letzteres sei auch deshalb wichtig, weil der Inhalt der im Programm vorgeschlagenen wirtschaftlich-politischen Reformprozesse sowie die darin verborgenen Risiken und Möglichkeiten für das Individuum nicht entschieden genug formuliert wurden. Es sei deshalb (z. B. wegen des Kauffiebers zu Jahresende) spürbar, dass die gesellschaftliche Rezeption der Reformgedanken nur teilweise günstig sei. Allgemein verbreitet ist auch die Meinung, dass es nicht mit der „Konstruktion“ selbst Probleme gebe, sondern mit ihrer Verwirklichung. Die Erfolglosigkeit der ungarischen Reform während nahezu 20 Jahren könne hauptsächlich auf die abgebrochenen Reformmaßnahmen und die inkonsequente Wirtschaftslenkung (Verschärfung – Nachgeben) zurückgeführt werden. Diese habe zu einer sich stabilisierenden Überverteilung geführt, während die Lenkung den Markt nur simuliert habe. Die Wirtschaftslenkung sei gegenwärtig noch immer weniger „Regulator“ als vielmehr Substituent der Marktprozesse. Noch immer existiere eine Auffassung, die die Notwendigkeit der staatlichen Rollenübernahme mit einer direkten Intervention identifiziert. Die Eigenart einer derartigen „Handsteuerung“ sei, dass mit der Befriedigung einer Forderung eine andere verletzt werde, was eine erneute Intervention erfordere und zur Folge habe, dass diese schließlich mit dem gesamten Prinzip des Mechanismus selbst in einen Gegensatz gerate. Die inkonsequente Wirtschaftslenkung und die kräftigere Beibehaltung der unmittelbaren Eingriffe würden eine Haltung widerspiegeln, als ob wir uns davor fürchten würden, dass wir mit der Ausweitung des indirekten, die Marktmechanismen besser zur Geltung bringenden Steuerungssystems die sozialistischen Werte aufgeben würden. Parallel zur Ausweitung der Regulierungsrolle des Marktes sei gar eine – andere Funktionen betreffende (strukturpolitische Themen, Infrastrukturentwicklung,

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Themen des sozialen Schutzes, technische Entwicklung) – aktivere staatliche Rollenübernahme als früher notwendig. Weiterhin sei es ein wichtiges Erfordernis, dass in der Wirtschaft im Bereich der wichtigsten „Parameter“ (Preise, Löhne, Kurse, Steuersystem usw.) annähernd gleichzeitig ein konsistentes System zustande kommt. Hierzu sei es notwendig, dass auch bei der Wirtschaftslenkung ein Entwicklungskonzept formuliert werde. Es müsse getrennt werden, was im gegenwärtigen System als Konstruktion stabil (z. B. Steuersystem, Preisordnung) und was eine provisorische, zwangsweise Lösung sei (z. B. Importregulierung). Es müsse auch bestimmt werden, was zur Vervollständigung des Systems noch fehle und wann diese in etwa erreicht werden könne (z. B. Haushaltsreform, bedeutende Verringerung der Neuverteilungsrolle des Haushalts, Lohnreform bzw. Reform der Nachfrageregulierung, Konzeption der Marktentwicklung, Überdenken der Mittel der Außenhandelslenkung, Forderung von Assoziationsformen, Unternehmensfragen bzw. Hilfs- und Unterstützungssystem für Unternehmen). Das verkündete wirtschaftlich-gesellschaftliche Entfaltungsprogramm erwecke den Eindruck, als ob die Lenkung vorerst in mehreren wichtigen Bereichen nicht nach „Gleichzeitigkeit“, sondern nur nach einer Fortsetzung der Reform mittels Teillösungen strebe. Dabei könne natürlich eine Rolle spielen, dass die ungarische Wirtschaft ein nur teilweise monetarisiertes System sei, das Geld die Wirtschaft weniger integriere, weshalb auch aufgrund objektiver Gründe die „Gleichzeitigkeit“ nicht zustande kommen könne. Auf dem Gebiet der Preise – das eines der wichtigsten Elemente der Funktion des Marktmechanismus darstelle – sei zum 1. Januar 1988 eine wesentliche Veränderung geschehen. Die Pflicht, Preisveränderungen anzumelden, bleibe aber noch immer ein Instrument der staatlichen Intervention, mit dem man das Verhältnis, das auf dem „natürlichen“ Gegensatz von Produzenten- und Konsumentenpreisen beruhe, verzerren könne. Unter den Mechanismus-Fragen würden, insbesondere im Falle Ungarns, die Problematik der außenwirtschaftlichen Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft sowie die Art und Weise der Verbindung des äußeren und des inneren Marktes als wichtiger Faktor gelten. Für die Effektivität der strukturellen Anpassung der ungarischen Wirtschaft habe dies – unter dem Gesichtspunkt ihrer Entwicklung – eine entscheidende Rolle. Die Devisenkurse würden, trotz mehrfacher Abwertung des Forints, nicht die tatsächlichen wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse widerspiegeln. Für die ungarischen Unternehmen seien kapitalistische Devisen wegen der beträchtlichen Überbewertung des Forints sehr billig. Die Regierung solle die Devisenverwendung mittels Rahmenbestimmungen regulieren. Aufgrund der jeweiligen Ausschöpfung oder gar Überspannung der Devisenrahmen gebe es eine ständige Importbeschränkung. Ja, die Unternehmen seien – auch um ihre Funktionsfähigkeit zu erhalten – ständig zu einem Import (von im RGW nicht beschaffbaren Gütern) gezwungen. Die künstlich niedrig gehaltenen Wechselkurse würden sich auch negativ auf den Export auswirken. In der Stabilisie-



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rungsphase sei natürlich ein rationaler Schutz der Wirtschaft – der eine nicht übertragbare staatliche Aufgabe darstelle – notwendig, da eine Durchsetzung der internationalen Wettbewerbsbedingungen ohne regulierende Ventile in der Wirtschaft sofortige schwere Störungen bewirken würde. Gleichzeitig seien aber auch eine Erhöhung des äußeren Drucks und eine Vermittlung der Veränderungen notwendig. Die Lösung wäre nicht einfach eine Abwertung des Forints, sondern eine solche, die die Entwicklung eines schwebenden, wesentlich höheren Wechselkurses als bisher bedeuten würde. Dieser würde die Prozesse in Richtung der Marktfunktion lenken und zusammen mit einem neuen Preissystem die Veränderungen zwischen dem äußeren und inneren Markt realistischer vermitteln. Dies würde zwar die Gefahr einer bedeutenden Inflation – die in der gegenwärtigen Phase der Entwicklung sowieso unvermeidbar sei – in sich tragen, durch die Stärkung der Vermittlungsrolle würde der Wechselkurs aber besser der Verwirklichung der Strukturentwicklungsbzw. Rückentwicklungsvorstellungen dienen. Unter den geplanten Schritten sei selbst langfristig die Absicht der Schaffung der – zumindest äußeren – Konvertibilität des Forints nicht enthalten. Die äußere Konvertibilität würde – obwohl sie übergangsweise mit keinem geringen wirtschaftlichen Druck einhergehen würde – unsere Anpassungsfähigkeit an die Weltwirtschaft und unsere Integrationsmöglichkeiten mit aller Gewissheit positiv beeinflussen. Bei den Reformschritten mit großer Bedeutung sei die Reform der Löhne erst für einen späteren Zeitpunkt geplant. Das gegenwärtige System der Lohnregulierung würde – trotz der sich in immer größerem Maße ausbreitenden Lohnmasseregulierung – noch immer auf dem Prinzip der Beschränkung beruhen. Gemäß den hiesigen Meinungen erscheine es vorläufig so, dass die Regierung die Methode der Beschränkung der Kaufkraft mittels strenger Lohnregulierung – als „erfolgreiches Instrumentarium“ der Wirtschaftspolitik – auch in Zukunft anwenden wolle. Es sei nicht ratsam, die „natürlichen Gegensätze“ zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf dem Gebiet der Löhne dadurch zu lösen, dass deren Regelung im Rahmen der zentralen Lenkung erfolge, weil dies die Störungen in der Wirtschaft nur weiter verstärke. In Verbindung mit diesem Themenkreis wird auch die am 1. Januar [1988] eingeführte Steuerreform [von der westdeutschen Seite] bewertet. Bezüglich der Einkommenssteuer stelle man allerdings fest, dass die Arbeitskraft in Ungarn heute billig sei. Die Löhne würden noch immer in erster Linie eine sozialpolitische Funktion und keine Funktion als Arbeitskraft-Wertmaß erfüllen. Es sei zweckmäßig, für den aktiv tätigen „regulierten“ Markt ein tatsächlich zweistufiges Banksystem zu betreiben, in dem in erster Linie ihre Funktion als Arbeitskraft-Wertmaß zum Ausdruck komme. Und daraus würde der Abzug der Einkommenssteuer erfolgen. Für die ab dem 1. Januar [1988] eingeführte Einkommensbesteuerung würden die volkswirtschaftlichen und administrativen Voraussetzungen nur teilweise vorliegen, weswegen sie in ihrer gegenwärtigen Form eher als erneutes Mittel zur Kaufkraftschwächung erscheine.

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Es ist die einhellige Meinung der Wirtschafts- und Finanzkreise, dass es den sozialistischen Gesellschaften im Allgemeinen nicht gelungen sei, die Problematik des Anreizes und des Interesses zu lösen. Ihrer Meinung nach bildet auch Ungarn in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Das Prinzip des unmittelbaren materiellen Anreizes würde immer größere Bedeutung gewinnen. Hinsichtlich seines Kerns richte sich der Anreiz [in Ungarn] darauf, dass die Angestellten überhaupt die ihnen aufgetragene Arbeit verrichten. Das Prinzip der Leistung bzw. des Anreizes müsste vielmehr die sich im Wettbewerb entwickelnde Tätigkeit der Unternehmen regulieren. Aufgrund des Mangels an Wettbewerb sei dieses Prinzip heute aber noch schwer zu verwirklichen. In Zusammenhang mit dem Anreiz bewerten sie die Beschäftigungspolitik. Sie verstehen unsere „Furcht“ vor der Arbeitslosigkeit. Und auch unser Bestreben nach vollständiger bzw. annähernd vollständiger Beschäftigung sei klar. Wenn wir aber tatsächlich eine Entfaltung der Marktmechanismen planen, dann müssten wir mit Arbeitslosigkeit rechnen, weil es bei der Durchsetzung der Wettbewerbsbedingungen im Interesse der Unternehmen liegen müsse, überflüssige Arbeitskraft zu entlassen. Sonst könnten sie selbst den Erfordernissen der grundlegenden technischen Entwicklung langfristig nicht gerecht werden. Die Aufgaben, die in Verbindung mit der vollständigen oder teilweisen Beschäftigung der Arbeitskraft stehen (Umschulung, Umlenkung und Unterstützung), müsse der Staat übernehmen. Die hiesigen Kreise verfolgen auch die volkswirtschaftlich-ideologischen Diskussionen bezüglich des Eigentums mit außerordentlich großer Aufmerksamkeit. Sie begrüßen die Stärkung der Privatwirtschaft und den Wandel in der bisher fetischisierten [negativen] Auffassung über das Privateigentum. Allerdings sind die Art und Weise und die Form, wie wir in der gegenwärtigen Phase des wirtschaftlichen Umbaus nach einer Einbeziehung der Arbeiter als „Eigentümer“ in die Produktion und nach einer Umwandlung in Richtung einer Struktur der Unternehmensselbstverwaltung mit Partnereigentümern streben, für viele wenig verständlich. In der gegenwärtigen Phase der Reform und unserer wirtschaftlichen Entwicklung müssten wir weniger von einer ideologischen als vielmehr von einer praktischen Eigentumsformel ausgehen. Im Interesse der Stärkung der Wettbewerbsverhältnisse wäre es zweckmäßig, durch einen kraftvolleren Rückzug des Staates aus der Wirtschaft die „Eigentümerfunktionen“ der Unternehmensleiter zu stärken. Die in Zusammenhang mit der Entwicklung der Wirtschaftslenkung in den vergangenen Jahren gemachten positiven Schritte – wie die Modernisierung der Finanzregulierung, die Entwicklung eines zweistufigen Banksystems, die Aufspaltung der Trusts in kleinere Unternehmen, die Unterstützung der Kleinunternehmen, die Einführung eines neuen Steuersystems – hätten zwar auf eine Stärkung des Marktmechanismus abgezielt, wären nützlich gewesen und hätten auch international ein großes Echo hervorgerufen, sie würden aber dennoch keine wesentliche Veränderung des Zustands der Wirtschaft bewirken. Die derartig starke Ausweitung der zweiten und dritten Wirtschaft sei kein Begleitphänomen eines „heilenden“ Prozesses der Wirt-



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schaft, sondern eher ihrer inkorrekten Funktion. Die kleinen und mittleren Unternehmen der zweiten und dritten Wirtschaft und ihre ideologisch-wirtschaftlichen Begleiterscheinungen könnten den Wettbewerb, der die gesamte Wirtschaft umfasse, und die damit verbundenen tatsächlichen Interessenverhältnisse nicht ersetzen. Deshalb wäre es in der Wirtschaft zweckmäßig, die zentrale Intervention auf zahlreichen Gebieten zu verringern. Wo es hingegen begründet sei, dort sei ein konsequentes, auch politisch zu vertretendes zentrales Verhalten notwendig. Dies sei auch deshalb wichtig, weil eine inkonsequente Wirtschaftslenkung und die als Ergebnis davon in der Wirtschaft hervortretenden funktionellen Unzulänglichkeiten in der öffentlichen Auffassung sehr leicht mit der Reform selbst identifiziert werden könnten. Sie [d. h. die westdeutschen Wirtschafts- und Finanzkreise] betrachten die von der Wirtschaftslenkung verfolgte Praxis in vielerlei Hinsicht auch nicht als mit den Grundprinzipien unserer – von uns oft erwähnten – GATT-Vereinbarung übereinstimmend (z. B. Importregulierung). Mit der Entwicklung des Systems der Wirtschaftslenkung werfe sich gleichzeitig auch die Frage auf, inwiefern die gegenwärtig verfolgte Wirtschaftspolitik in Übereinstimmung mit der wirtschaftlichen Situation des Landes und mit der allgemeinen Stimmung in der Gesellschaft stehe. Eine der wichtigsten Fragen sei, in wieweit die Politik in den folgenden Jahren hinsichtlich des Lenkungsverhaltens konsequent sein werde, und inwieweit sie fähig sein werde, die Folgen der zahlreichen Sanierungen und Konkursverfahren zu tragen. Gemäß den hiesigen Meinungen müssten wir diese Schritte – selbst zum Preis einer Verringerung des Exports – auf uns nehmen. Hierzu müssten natürlich sowohl im Hinblick auf die Gesichtspunkte der Liquidität als auch der Kreditaufnahme die internationalen finanziellen Voraussetzungen geschaffen werden. (Beispielsweise weitere Kreditaufnahmen, die aber von vorneherein als gesonderte Entwicklungsund gemeinsame Unternehmensquelle behandelt werden müssten.) Es wäre auch zweckmäßig, die rechtlichen, volkswirtschaftlichen usw. Voraussetzungen ihrer Integration in kapitalkräftige Firmen als Partnereigentümer zur teilweisen Veräußerung der sanierten Unternehmen zu untersuchen. Es müsste ein Programm der Strukturreform ausgearbeitet werden. Dieses müsste unter Einbeziehung der Unternehmen und unter Berücksichtigung der langfristigen außenwirtschaftlichen, integrativen und marktmäßigen Gesichtspunkte zentral entwickelt werden. Im gegenwärtigen Entwicklungsstadium der Wirtschaft und unter den gegenwärtigen Bedingungen des Lenkungssystems sei der sowieso schwach funktionierende „halbe Markt“ (sozialistisch-kapitalistisch) nicht in der Lage, zu selektieren oder, wenn doch, sei er sehr langsam und viel kostenaufwendiger. Die Strukturprogramme seien auch in der BRD unter der Koordinierung der Bundesregierung von den Regierungen der Bundesländer ausgearbeitet worden, gerade deshalb, weil diese auch zahlreiche internationale Aspekte hätten. Man müsse und könne den Motor der Entwicklung, die tatsächlichen „ziehenden“ Branchen eines jeden Landes, finden, weil ohne diese die Probleme der Wirtschaft nicht dauerhaft gelöst werden könnten.

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Zur Verwirklichung dessen sei nicht nur ein Strukturprogramm, sondern eine Wirtschaftspolitik notwendig, die die gesellschaftliche Akkumulation weniger bremse. Oft werfe sich die Frage auf, ob die eindeutige Dominanz der Gleichgewichtserfordernisse gegenüber dem Wachstum die bessere Lösung sei. Wäre es nicht vorteilhafter, unter Berücksichtigung der Prinzipien einer konsequenten prinzipiellen Lenkung, unter „Abgrenzung“ der selektierten und speziellen „Aufgaben“ des Staates und unter tatsächlicher Belebung der Marktmechanismen – auch wenn dies eine vorübergehende Verschlechterung des Haushaltsgleichgewichts bewirke – für eine Dynamisierung der Wirtschaft zu sorgen? Außer den erwähnten Kriterien der sich in der Wirtschaft vollziehenden positiven Veränderungen sei es notwendig, dass auch in der Denk- und Handlungsstruktur der oberen und mittleren Führung (Unternehmensmanagement), die bei der Verwirklichung am stärksten betroffen sei, wesentliche Veränderungen eintreten. Im Verhalten von ungarischen Unternehmensführern, die im Ausland verhandeln, könne noch immer in einem bedeutenden Maße ein Geist, der auf die Denkweise des früheren Systems der „Plananweisung“ verweise, ausgemacht werden. Die Berufung auf obere Organe sei noch immer häufig. Gemäß der Einschätzung der politisch-wirtschaftlichen Führung der BRD würden sich, auch wenn sich in der internationalen Politik die positiven Prozesse verstärken würden, die Bedingungen der kapitalistischen Weltwirtschaft wahrscheinlich auch weiterhin etwas verschlechtern. Auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen innerhalb des RGW würden sich nicht wesentlich verbessern und ein Wandlungsprozess mit Marktcharakter sei kurzfristig weder in den einzelnen Staaten (vielleicht am spätesten in Polen), noch in den regionalen Beziehungen zu erwarten. Die Auswirkungen der angespannten Weltwirtschaft und die angehäuften schweren inneren Probleme in unserem Land würden keinen übermäßig großen Spielraum bieten. Die Gefahr erscheine reell, dass die inneren wirtschaftlich-gesellschaftlichen Spannungen – wenn sich die Verwirklichung des Stabilisierungsprogramms wesentlich verzögere – auch in politische Unruhe umschlagen. Diese würde die weiteren Voraussetzungen der Verwirklichung der Reformen ungünstig beeinflussen, sich nachteilig auf unsere internationale Beurteilung auswirken und auch eine unvorteilhafte Ausstrahlung auf die Entwicklung der gesamten sozialistischen Gemeinschaft haben. Trotz der erwähnten Probleme ist – neben dem Bestreben nach einem offenen, aufrichtigen politischen Stil, der konstruktiven Rollenübernahme in der internationalen Politik, unserer Praxis auf dem Gebiet der Menschenrechte usw. – die Tatsache, dass unser Land mit seiner wirtschaftlich-gesellschaftlichen Reform eine potenziell positive Rolle spielt für das Zusammenleben der beiden Weltsysteme, das aus der Tatsache der wechselseitigen Angewiesenheit aufeinander hervorgeht und sich aufgrund neuer Impulse formiert, Grund für unsere noch immer relativ günstige Beurteilung. In diesem Brief habe ich versucht, die Meinung der führenden politisch-wirtschaftlichen Vertreter der BRD sachlich zusammenzufassen. Ganz offensichtlich



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spielte bei der Ausbildung der Meinungen die informative Tiefe und Faktenkenntnis usw. über unsere unternommenen und geplanten volkswirtschaftlich-politischen Schritte auch eine Rolle. Sollte aufgrund der hiesigen Meinungen der Eindruck entstehen, dass unsere Partner nicht über vollständige Kenntnisse auf dem neusten Stand verfügen, wäre es zweckmäßig, ein Informationssystem zu entwickeln, das die wichtigsten Kreise, die für die Ausprägung der Politik und Wirtschaftspolitik uns gegenüber maßgeblich sind, kontinuierlich über unsere wichtigen und konkreten Schritte informiert. Der Bericht wurde anhand von Gesprächen mit folgenden Personen erstellt: – [Horst] Teltschik, sicherheitspolitischer Berater des Kanzlers, – [Otto] Schlecht, Wirtschaftsstaatssekretär, – [Otto Graf] Lambsdorff, ehemaliger Wirtschaftsminister, – Dr. [Siegfried] Mann, Geschäftsführender Vorsitzender des BDI [Bundesverband der Deutschen Industrie], – [Otto Wolff von] Amerongen, Präsident der bundesdeutschen Kammer, – [Hans Otto] Thierbach, Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft, – Dr. [Hermann Josef] Unland, Vorsitzender des Bundestags-Wirtschaftsausschusses, – [Wolfgang] Roth, wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD, – [Hans] Tietmeyer, Finanzstaatssekretär, – Dr. [Helmut] Schlesinger, Vizepräsident der Bundesbank, – Dr. [Axel] Zarges, Abgeordneter des Europaparlaments, – [Hilmar] Kopper, Mitglied des Vorstands der Deutschen Bank, – [Piet-Jochen] Etzel, Mitglied des Vorstands der Dresdner Bank, – [Max] Streibl, bayerischer Finanzminister, – [Martin] Herzog, baden-württembergischer Finanzminister, – [Anton] Jaumann, bayerischer Wirtschaftsminister, – Thomson, Vizepräsident den Chemiekonzerns Hoechst, – Claas, Großindustrieller. Mit Genossen-Gruß [Unterschrift] (Dr. István Horváth) Quelle: MNL OL, 288.f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/B), fol. 141–150. Veröffentlicht in ungarischer Sprache: István Horváth/ András Heltai, A magyar– német játszma. Emlékezés és dokumentumok [Die ungarisch-deutsche Partie. Erinnerung und Dokumente]. Budapest 2015, S. 196–205. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

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Dokument 8 Gemeinsamer Bericht der ZK-Abteilungen für Wirtschaftspolitik und für Außenpolitik für das Politbüro vom 29. Februar 1988 über den Besuch von ZKSekretär Miklós Németh in der Bundesrepublik Deutschland Vom 24. bis 27. Februar 1988 hielt sich Miklós Németh, ZK-Sekretär für Wirtschaftspolitik und federführender Gestalter des sogenannten Entfaltungsprogramms, auf Einladung des Bundeskanzleramts in der Bundesrepublik Deutschland auf und führte Gespräche mit herausragenden Persönlichkeiten der westdeutschen Politik und Wirtschaft, darunter Bundeskanzler Helmut Kohl und die Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (Bayern) und Lothar Späth (Baden-Württemberg) sowie die Wirtschaftsführer Siegfried Mann (Bund der Deutschen Industrie) und Helmut Schlesinger (Bundesbank). Im Mittelpunkt der Unterredungen standen – neben der Erörterung aktueller Fragen der Ost-WestBeziehungen und der Entwicklungen in der Sowjetunion – die bilateralen Beziehungen sowie der Stand und die Aufgaben des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Veränderungsprozesses in Ungarn. Die westdeutsche Seite bekräftigte dabei ihre Absicht, die ungarischen Vorhaben, deren „Modellcharakter“ von Kohl hervorgehoben wurde, zu unterstützen und brachte zukünftige Vorhaben zur Sprache, so beispielsweise die Ausbildung ungarischer Wirtschaftsmanager und westdeutsche Kapitalinvestitionen. Hinsichtlich Letzterem verwiesen die westdeutschen Gesprächspartner insbesondere auf die Bedeutung des geplanten Gesetzes über die Wirtschaftsgesellschaften. Über den Besuch von Németh stellten die Abteilung für Wirtschaftspolitik und die Außenpolitische Abteilung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei am 29. Februar 1988 einen gemeinsamen Bericht zusammen. *** Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei Streng geheim! Zentralkomitee […]9 Abteilung für Wirtschaftspolitik Abteilung für Außenpolitik Bericht für das Politbüro über den Besuch von Miklós Németh in der BRD Genosse Miklós Németh besuchte auf Initiative des Kanzleramts der BRD vom 24. bis 27. Februar [1988] die Bundesrepublik Deutschland. Er wurde von Bundeskanzler Helmut Kohl empfangen. Er führte Unterredungen mit Franz Josef Strauß, Ministerpräsident des Bundeslandes Bayern, und Lothar Späth, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, mit Wolfgang Mischnick,

9  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.



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Vorsitzender der Parlamentsfraktion der Freien Demokratischen Partei (FDP), mit Wolfgang Roth, Vorsitzender der Parlamentsfraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), mit Hans Klein (CSU), Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, mit Horst Teltschik, Abteilungsleiter im Kanzleramt, sowie mit Dr. Otto Schlecht, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, und mit Anton Jaumann, bayerischer Minister für Wirtschaft und Verkehr. Er traf sich mit Siegfried Mann, Geschäftsführender Vorsitzender des Bundes der Deutschen Industrie, und mit Helmut Schlesinger, Vizepräsident der Bundesbank, sowie mit mehreren führenden Politikern des politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Lebens aus Bund und Ländern. Während der Besprechungen informierte Genosse Németh über die Aufgaben des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Stabilisierungs- und Entfaltungsprogramms, über den gegenwärtigen Stand des Reformprozesses und über unsere Bestrebungen. Er stellte die Maßnahmen vor, die in der vergangenen Zeit zur Verwirklichung des effektiveren Wirtschaftens und des Strukturwandels getroffen wurden, wobei er hervorhob, dass die Marktregulierung auch im Interesse der Bewahrung und Durchsetzung der Grundwerte der sozialistischen Wirtschaft eine immer größere Bedeutung erhalte. Er betonte, dass die Entfaltung im Rahmen eines gesellschaftlichen Prozesses erfolge, der – außer den wirtschaftlichen Aufgaben – auch einen Wandel der politischen Mechanismen einschließe. Er verwies auf die Aufgaben, die sich aus der Veränderung der Rolle des Parlaments, aus der Trennung der Tätigkeit von Partei und Regierung, aus der Reform der institutionellen Ordnung sowie aus der Zunahme der Bedeutung der von unten kommenden Initiativen ergeben. Er skizzierte die internationalen Bedingungen mit besonderer Berücksichtigung der Möglichkeiten, die die wirtschaftliche Zusammenarbeit von Ost und West in sich birgt. Er hob die Bedeutung von neuen Formen der Kooperation wie die unmittelbaren Beziehungen zwischen den Unternehmen und die Einbeziehung westlichen Betriebskapitals hervor. Er brachte unseren Standpunkt bezüglich des gemeinsamen Marktes und unserer Prinzipien, die wir bei den Verhandlungen mit der EWG verfolgen zum Ausdruck. Er bewertete unsere Beziehungen mit der BRD positiv und wies auf die Möglichkeiten hin, die bereits bei der Durchführung des Stabilisierungsprogramms eine Chance eröffnen, die bilaterale Zusammenarbeit zu vertiefen. Kanzler Helmut Kohl begrüßte die in letzter Zeit in der ungarischen Gesellschaft und auf dem Gebiet der Wirtschaft gemachten Schritte. Er betonte, die BRD sei an unseren Erfolgen interessiert, weil – seiner Meinung nach – unsere gesellschaftspolitischen Maßnahmen als „Muster“ eine größere Rolle spielen würden, als von vielen gegenwärtig gespürt würde. Laut Kohl könne die ungarische Entwicklung nicht nur in Osteuropa lehrreich sein und einen Modellcharakter haben, sondern sie sei in vielerlei Hinsicht auch für die nichtsozialistischen Staaten von großer Bedeutung. Er warf als Frage auf, ob die oberste politische Führung in Ungarn bei der Fortsetzung der Reformpolitik eine einheitliche Position vertrete. Er halte es nämlich für außer-

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ordentlich wichtig, dass zwischen unserem verkündeten Programm und der von uns verfolgten Praxis, also zwischen Worten und Taten, Übereinstimmung herrsche. Dies sei unverzichtbar, damit die BRD auch im Weiteren in konkreten wirtschaftlichen und finanziellen Fragen so Hilfe leisten könne, wie sie das in der Vergangenheit getan habe und auch in Zukunft zu tun beabsichtige. In Zusammenhang mit unseren bilateralen Beziehungen sagte er, dass der BRDBesuch von Genossen Grósz im vergangenen Jahr auch in internationaler Hinsicht beachtenswert gewesen sei. Es sei gelungen, Vereinbarungen zu unterzeichnen, die in Übereinstimmung mit dem Geist der Schlussakte von Helsinki in Europa ein Beispiel für die Zusammenarbeit von Staaten, die unterschiedliche Gesellschaftsordnungen hätten und zu jeweils anderen Bündnissystemen gehören würden, geben würden. Er freue sich auch persönlich, dass innerhalb kurzer Zeit das Kultur- und Informationszentrum der BRD in Budapest eröffnet werde und bald die Stiftung, die auch der Pflege der kulturellen und sprachlichen Traditionen der ungarndeutschen Nationalität diene, gegründet werde. Seiner Meinung nach weise die ungarische Nationalitätenpolitik selbst über die europäischen Grenzen hinaus und sei für die ganze Welt von Bedeutung. Das Schicksal der deutschen Nationalität in Ungarn entwickle sich so, dass sie in ihrer ungarischen Heimat menschenwürdig leben könne und zugleich eine Brückenfunktion zu ihrem einstigen Mutterland erfülle. Die am 1. März [1988] in Kraft tretenden Visaerleichterungen betrachte er als den Anfang eines Prozesses, aber auch der erste Schritt sei außerordentlich wichtig. Die BRD wolle mit der Vereinbarung zum Ausdruck bringen, dass sie die durch die politischen und wirtschaftlichen Reformen geschaffenen inneren Verhältnisse als solche betrachte, die es möglich machen würden, die administrativen Hindernisse, die der Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden Völkern im Weg stehen, schrittweise zu beenden. Gleichzeitig erklärte er auch, dass die BRD ihre Vorstellungen zur Vertiefung der Zusammenarbeit der europäischen Länder ernst nehme und auf der Grundlage der Gegenseitigkeit auch in dieser Hinsicht bereit sei, bei der Ost-WestZusammenarbeit ein Beispiel zu zeigen. Bezüglich der osteuropäischen Bestrebungen der BRD betonte Kohl, dass sein Land auch wegen seiner geopolitischen Lage außerordentlich an der Entwicklung der Beziehungen interessiert sei. Er dankte für die in Richtung der sowjetischen und polnischen Führung geleistete Arbeit von János Kádár und Károly Grósz, die in keinem geringen Maße dazu beigetragen habe, dass die Bestrebungen der BRD zugunsten der europäischen Entspannung und zur Vertiefung der Kooperation verstanden worden seien. Er beurteile es so, dass in der Sowjetunion eine Neubewertung der Vorstellungen bezüglich der BRD eingesetzt habe. Die Erfahrungen aus seinen Besuchen auf hoher Ebene hätten in der vergangenen Zeit widergespiegelt, dass die sowjetische Führung auf dem Boden der Realitäten stehe und den Lenin’schen Ausspruch akzeptiere, wonach „der Weg nach Europa über Berlin“ führe. Die Führung der BRD sei bereit,



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jede Unterstützung zu leisten, um die Gorbatschow’sche Linie weiter zu stärken und die Beziehungen der beiden Staaten fruchtbar zu entwickeln. Die sowjetische Führung habe – seinem Eindruck nach – den Standpunkt der BRD bezüglich der Sicherheitspolitik verstanden. Die BRD wolle nicht die Rolle eines Stoßfängers zwischen den beiden Großmächten spielen. Als europäisches Land habe sie in der Mitte Europas spezifische sicherheitspolitische Bestrebungen. Diese würden für keinen Staat eine Gefahr bedeuten. Im Laufe seines Besuchs in den Vereinigten Staaten sei es bei den Gesprächen mit den Repräsentanten des Senats sein Hauptziel gewesen, den die sicherheitspolitischen Interessen der BRD einschließenden Standpunkt verständlich zu machen. Die BRD sei sich darüber im Klaren, dass in Europa – alleine schon auf „verwandtschaftlicher“ Grundlage – England der natürliche Verbündete der Vereinigten Staaten sei. Aber auch die amerikanische Führung wisse sehr gut, warum dennoch gerade die BRD ihr Partner Nr. 1 sei. Dies beinhalte nicht nur amerikanische militärpolitische Erwägungen, sondern die USA würden die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass die BRD der führende Staat in Westeuropa sei. Kohl betonte, er habe bei seinen Washingtoner Verhandlungen Präsident Reagan zu verstehen gegeben, dass die BRD ein treues Mitglied des Bündnissystems sei und der Kanzler ein Freund der Vereinigten Staaten, er betrachte sich aber nicht als Vasall der USA. Laut Kohl seien die westdeutsch-polnischen Beziehungen nicht durch jene Spannungen, die zur Zeit Hitler-Deutschlands entstanden seien, belastet, weil es auch zuvor schon bedeutende Meinungsunterschiede gegeben habe. Die BRD sei bereit, die Zusammenarbeit mit Polen unter vollständiger Anerkennung der Realitäten auf neue Grundlagen zu stellen, es sei für sie aber inakzeptabel, dass man westdeutsche Delegationen bei jeder Verhandlung unter Erinnerung an Auschwitz zu immer größeren finanziellen Unterstützungen auffordert. Unter den Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrags habe übrigens Polen die größte Wiedergutmachung und danach die größte finanzielle Unterstützung erhalten. Polen halte – so die Meinung Kohls – auch in der Angelegenheit der auf seinem Territorium lebenden deutschen nationalen Minderheit an früheren starren Klischees fest. Die BRD habe keine territorialen Forderungen, sie akzeptiere die europäischen Realitäten und – innerhalb dieser – die entstandenen Grenzen, sie halte es aber für unvereinbar mit der europäischen Zusammenarbeit und dem Geist von Helsinki, dass die polnische Führung durch die Leugnung der Existenz der deutschen nationalen Minderheit selbst die Entwicklung der Familienbeziehungen zwischen beiden Staaten unmöglich macht. Er werde in diesem Jahr vielleicht Polen besuchen, die Voraussetzung hierfür sei allerdings, dass die Führung der BRD nicht zur Akzeptanz eines Standpunkts gezwungen werde, den er für Geschichtsfälschung halte. Wenn die polnische Führung auf dem Gebiet der Nationalitäten und sonstigen Gebieten nur ein Viertel dessen unternehme, was Ungarn tue, dann gebe es seitens der BRD bereits die Bereitschaft zum Ausgleich.

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Der Kanzler ersuchte darum, dass die Genossen János Kádár und Károly Grósz – im Falle ihres Einverständnisses – der polnischen Führung seinen Standpunkt, wonach man die Vergangenheit nicht vergessen dürfe, man aber bloß durch die Hinwendung zur Vergangenheit und unter Berufung darauf die europäische Zusammenarbeit der Zukunft nicht fundieren könne, zu vermitteln. Vielmehr müsse man lernen, sich unabhängig vom wirtschaftlichen Potenzial, der militärischen Stärke und der Größe des jeweiligen Landes gegenseitig zu achten. Gleichzeitig brachte er seinen Dank für die bisherige Weiterleitung des Standpunkts der BRD, wodurch gewisse positive Prozesse bei der politischen Bewertung der BRD durch die polnische Führung eingesetzt hätten, zum Ausdruck. In der BRD sehe man es so, dass [Wojciech] Jaruzelski an der Spitze des Neubewertungsprozesses stehe. Es gebe aber noch Kräfte, die eine Veränderung ablehnen würden. Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß erklärte, dass die politische und wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land mit großer Aufmerksamkeit verfolgt werde. In Einklang mit Kanzler Kohl betonte er, dass die Führung der BRD auch weiterhin bereit sei, unser Land zu unterstützen, weil die Entfaltung des Reformprozesses in Ungarn sowohl im Interesse des Ostens als auch des Westens liege. In Verbindung mit den Informationen Némeths bemerkte Strauß, dass das sich in Vorbereitung befindende Gesellschaftsgesetz unter dem Gesichtspunkt des Zuflusses von westdeutschem Betriebskapital und der Erneuerung von Technik und Technologie eine Schlüsselbedeutung haben könne. Diesem Prozess wäre wohl gedient, wenn bei Inkrafttreten des Gesetzes sofort einige Referenzbetriebe gegründet würden. Bayerische kleine und mittlere Betriebe wären bereit, als Erste die Möglichkeiten, die das neue Gesetz biete, zu nutzen. Strauß würdigte die vor ihrer Einführung stehenden Visaerleichterungen als erste Maßnahme zur Beendigung der Visapflicht, er betonte allerdings, dass das Niveau der Beziehungen zwischen beiden Völkern weitere Schritte notwendig mache. Er beurteilte die Nationalitätenpolitik unseres Landes, insbesondere gegenüber der deutschen Minderheit, als beispielhaft. Seine Einladung nach Ungarn quittierte er dankend. Er wolle ihr in der zweiten Maihälfte Genüge leisten. Strauß informierte über seine Moskaureise. Er bekräftigte, dass die Reformbestrebungen der sowjetischen Führung westdeutscherseits unterstützt würden, man sei allerdings der Meinung, dass die wirklichen Hindernisse des sowjetischen Wandels innerhalb des Landes, bei den bewaffneten Kräften, bei den konservativen Kräften innerhalb des Apparats, in den wirtschaftlichen Schwierigkeiten und im Unverständnis zu finden seien. Seiner Meinung nach sehe Gorbatschow die inneren Schwierigkeiten klar, es sei aber eine große Frage, inwiefern er bei der Verwirklichung seiner Bestrebungen die Partei und die Staatsführung bzw. die Bevölkerung hinter sich bringen könne. Die BRD wolle dem Ersuchen Genüge leisten, mittels der Steigerung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der Gründung gemischter Unternehmen einen größeren Anteil an der sowjetischen Entfaltung zu übernehmen. Aufgrund des Wunsches Gorbatschows werde die Möglichkeit untersucht, durch die Einrichtung



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von Managerschulen in der Sowjetunion und in der BRD die Schaffung einer neuen sowjetischen Führungsschicht zu unterstützen. Laut dem bayerischen Ministerpräsidenten müsse die sowjetische Führung im Interesse des Erfolgs auf drei Gebieten Anstrengungen unternehmen. Sie müsse dem Westen zu verstehen geben, dass die sowjetischen Abrüstungsbestrebungen aufrichtig seien, man müsse die inneren Probleme lösen und anfängliche Wirtschaftserfolge zumindest auf dem Gebiet des Lebensniveaus aufweisen und man müsse die regionalen Spannungen überwinden. Strauß führte aus, dass die Präsenz der Sowjetunion in Afghanistan eine große Belastung für das Land darstelle. Seine sowjetischen Verhandlungspartner hätten ihm zu verstehen gegeben, dass es leichter gewesen sei, in Afghanistan einzumarschieren, als von dort ohne Prestigeverlust abzuziehen. Ebenfalls eine große Last für die Sowjetunion würden die Aktivitäten in Afrika und die Waffenlieferungen bedeuten; diese hätten – so Strauß – weder politisch, noch wirtschaftlich, noch ideologisch ein Ergebnis oder einen Raumgewinn für das Land gebracht. Laut seiner Einschätzung könne die Sowjetunion, solange sie 16% des Nationaleinkommens für Rüstung aufwende, keinen Anschluss an die technologische Entwicklung finden und ihre führende Position in der Welt nicht dauerhaft bewahren. Unter Berufung aus Kissinger, Berater für nationale Sicherheit der USA, legte er den amerikanischen Standpunkt dar, dass die Sowjetunion bis zur Jahrtausendwende hinter den USA, Westeuropa, China und Japan auf den fünften Platz unter den führenden Mächten der Welt gedrängt werde. Der Ministerpräsident ging auf die Beurteilung Rumäniens durch die BRD ein. Kanzler Kohl und auch er würden die Meinung vertreten, dass Rumäniens das „kranke Land“ Europas sei. Die dortigen Zustände seien für ein europäisches Kulturland unwürdig und würden neben dem rumänischen Volk in erster Linie die dort lebenden Nationalitäten treffen. Die BRD fühle sich für das Schicksal der dort lebenden 200.000 Deutschen verantwortlich. Von diesen würden jährlich mehrere Tausend auswandern. Als Voraussetzung für die Auswanderung würden pro Person 10.000 DM gezahlt werden und das „Schmiergeld“ für die Beamten sei ebenso hoch. Strauß signalisierte, dass man sich sowjetischerseits für eine Lieferung der Triebwerke der Flugzeuge vom Typus Airbus in die Sowjetunion interessiere. Eine ähnliche Aktivität erfahre man auch seitens der DDR: INTERFLUG habe zwei Maschinen von Airbus bestellt. Um die CoCom-Vorschriften10 zu überbrücken, werde INTERFLUG die

10  Das 1949 ins Leben gerufene Coordinating Commitee for East West Trade Policy (CoCom) hatte die Aufgabe, anhand einer bestimmten Liste (CoCom-Liste) die Lieferungen von Kriegsmaterial und Waren, die auch für militärische Zwecke verwendet werden konnten, in die Länder der östlichen Militärallianz zu verhindern.

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Maschinen leasen und sich bei der Betreibung auf die Ausbildungs-und Ersatzteilbasis der westdeutschen Lufthansa stützen. Der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth versicherte der Reihe von Reformen in Ungarn ebenfalls seine Unterstützung. Er würdigte die Beziehungen zwischen Ungarn und der BRD und – innerhalb dieser – zwischen unserem Land und dem Bundesland. Neben der breiten wirtschaftlichen Zusammenarbeit schrieb er der Tatsache, dass ein bedeutender Teil der nach dem Zweiten Weltkrieg aus unserem Land ausgesiedelten Deutschen im Bundesland [Baden-Württemberg] lebe, große Bedeutung bei. Die zustande gekommenen menschlichen Beziehungen und auch die entspannten offiziellen Kontakte mit den Organisationen der „Donauschwaben“ würden eine feste Basis der Kooperation bilden. Als gutes Beispiel unserer Nationalitätenpolitik bezeichnete er die Gründung der Stiftung Ungarndeutsche. Er signalisierte, dass er am 11. März [1988] gerne an der Unterzeichnung der Stiftungsurkunde teilnehme. Als weitere Möglichkeit der Kräftigung der ungarisch-baden-württembergischen Beziehungen warf er auf, dass sich das Bundesland gerne in Investitionen in Verbindung mit dem Ungarntourismus einschalten würde. Dies werde auch dadurch begründet, dass aus dem Bundesland viele gerade wegen der besonderen menschlichen Beziehungen unser Land besuchen würden. Im Geiste der Äußerung, die beim Besuch von Genossen Grósz verlautet seien, würde man gerne die Joint-VentureKooperation verstärken. In der zweiten Maihälfte würde man gerne Genossen [László] Kapolyi11 empfangen. Ihre Bitte sei nur, dass wir den voraussichtlichen Themenkreis der Verhandlungen im Interesse sachlicher und konkreter Besprechungen rechtzeitig signalisieren sollten. Über seinen Besuch in der Sowjetunion sagte er, dass gegenwärtig der Dialog und die Zusammenarbeit auch dadurch erschwert würden, dass im sowjetischen Apparat gewisse volkswirtschaftliche Begriffe entweder nicht verstanden würden oder man ihnen einen vom westlichen gänzlich abweichenden Inhalt zuschreibe. Er sehe es so, dass ein Teil der sowjetischen Kader zu lange aufgrund eines bestimmten Schemas nachdenke und die ältere Generation – abgesehen von Ausnahmen – sich nicht erneuern könne. Daher sei es vor allem notwendig, dass die neuen, jungen Kräfte die moderne Denkweise lernen. Hierzu würden die im Laufe der Besuche geschlossenen Vereinbarungen dienen. Aufgrund dieser seien gemeinsame Arbeitsgruppen, an die sich kooperierende kleine und mittlere Betriebe in Fragen, die ihre Kontakte betreffen, wenden könnten, gegründet worden. Das Ziel der zweiten Vereinbarung sei, dass das Bundesland dazu beitrage, westdeutsche Erfahrungen zur Schaffung einer neuen Generation von sowjetischen Fachleuten und auf verschiedenen Gebieten der Unternehmensführung zu vermitteln.

11 1987 Industrieminister, dann Regierungsbeauftragter für Energiepolitik und Vorsitzender eines wirtschaftspolitischen Regierungsberatungsgremiums.



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Hierzu werde zusammen mit der sowjetischen Seite ein Zentrum gegründet, in dem baden-württembergische Fachleute die sowjetischen Teilnehmer in Fragen der Unternehmensinfrastruktur ausbilden. Als Ort des Zentrums habe man deshalb Leningrad gewählt, weil die Stadt auch bisher Kontakte zum Westen gehabt habe. Späth hält es für eine der wichtigsten Voraussetzungen der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den westlichen Staaten und der Sowjetunion bzw. den sozialistischen Staaten, dass sich die kooperierenden westlichen Partner der langfristigen Planbarkeit der Beziehungen sicher sein können. Gleichzeitig erlege die Entwicklung der Zusammenarbeit auch den westlichen Staaten eine große Verantwortung auf. Man müsse die in diesen Staaten ablaufenden Reformprozesse verstehen und sie unterstützen. Otto Schlecht, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, ging detailliert auf die westdeutsche Beurteilung der Verhandlungen zwischen unserem Land und der EWG ein. In der BRD habe man – so sagte er – schnell erkannt, dass Ungarn eine inhaltliche Vereinbarung wünsche und auf seine grundlegenden GATT-Rechte bestehe. Bis Herbst 1987 waren die Aussichten auf ein Zustandekommen der Vereinbarung nicht rosa. Jetzt sehe man es aber so, dass es gelungen sei, die bisher Widerstand leistenden Staaten des Gemeinsamen Marktes in einem Maße zu beeinflussen, sodass das Zustandekommen einer wechselseitig akzeptablen Vereinbarung zu einer realen Chance geworden sei. Er bemerkte, dass die ungarische Verhandlungsposition, wenn die ungarische Seite zu früh Zugeständnisse gemacht hätte, heute schlechter wäre. Gleichzeitig habe auch er persönlich den zuständigen ungarischen Führern mehrfach signalisiert, dass wir keinen Standpunkt des „alles oder nichts“ einnehmen sollten. Er urteile, dass in der gegenwärtigen Phase, in der die sich hart widersetzenden Mitgliedsstaaten in grundlegenden Fragen „weich geworden“ seien, die weitere ungarische Verhandlungsführung vorsichtig und flexibel sein müsse, damit die Vereinbarung tatsächlich zustande komme. Die BRD habe unsere Bestrebungen von Anfang an unterstützt. Auch jetzt, wo die BRD den Vorsitz im Gemeinsamen Markt habe, werde versucht, alles zu tun, um die Vereinbarung möglichst schnell zustande zu bringen, und man sei sich sicher, dass die Abmachung in der Phase ihres Vorsitzes verwirklicht werden könne. Gleichzeitig seien die mit dem Vorsitz einhergehenden Möglichkeiten und Mittel in einem Gremium mit 12 gleichberechtigten Mitgliedern beschränkt. Das vorsitzende Land habe innerhalb der Gemeinschaft die Aufgabe, mögliche Kompromisse zu suchen und zu finden, nicht die Situation zu verschärfen. Es dürfe so von der Vorsitzrolle der BRD kein Wunder erwartet werden. Der Staatssekretär sagte, die BRD habe kein schlechtes Wirtschaftsjahr abgeschlossen, vor allem was die Handelsbilanz anbelange. Und auch mittels der Belebung der inneren Nachfrage sei es gelungen, das Wachstum zu fördern. Zur Wahrung des Entwicklungstempos würden weitere Steuersenkungen geplant werden und man rege kommunale Investitionen mittels Zinsvergünstigungen an. Man wolle eigene Instrumente zur Linderung der sich verschärfenden regionalen Strukturprobleme im Rheinland anwenden. Die Prognose ihrer Entwicklung werde durch die Entwicklung

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des Dollar-Wechselkurses unsicher gemacht, aber wenn die Währung der USA nicht unter 1,60 DM falle, dann könnte 1988 ein Wachstum von 1,5 bis 2 Prozent erreicht werden. In den vergangenen Jahren sei die Zahl der Arbeitsplätze um 700.000 gewachsen, aber auch die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter habe um dieselbe Zahl zugenommen, sodass das Beschäftigungsverhältnis gleichgeblieben sei. 1988 werde die Arbeitslosigkeit voraussichtlich zunehmen. Die Reallöhne würden nach dem Anstieg 1987 auch 1988 um etwa 2% zunehmen. Dr. Siegfried Mann, Geschäftsführender Vorsitzender des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, bewertete in dem mit ihm geführten Gespräch den Besuch von Genossen Grósz als einen Meilenstein und betonte die Bedeutung dessen, dass man während der Visite die Wurzeln der Probleme der ungarischen Wirtschaft und die vorgesehene wirtschaftspolitische Leitlinie klar verstanden habe. Bei seinen Ausführungen über die Ausweitung der Unternehmensbeziehungen bewertete er unser sich in Vorbereitung befindliches Gesellschaftsgesetz als sehr wichtig und vielversprechend. Er erklärte, dass die deutsche Wirtschaft auch deshalb gesund sei, weil es ein angemessenes Verhältnis von kleinen, mittleren und großen Unternehmen gebe. Bei der Entwicklung eines gesunden Verhältnisses wäre es sehr hilfreich, wenn rechtliche Rahmenbedingungen, die der Unternehmenstätigkeit die Möglichkeit für außerordentlich abwechslungsreiche Formen bieten, existieren würden. Aus diesen könnten die Wirtschaftenden die ihnen am meisten entsprechende, am besten zugeschnittene Lösung wählen. Dies sei eine der Haupterklärungen für die Flexibilität. Die Riesen würden ihre Richtung nur schwer ändern (siehe Rheinland) und die Monokultur der Regionen sei sehr schädlich. Er bot an, dass uns der führende Jurist des Bundes12 – wenn wir dies in Anspruch nehmen wollten – bei der Vorbereitung des Gesetzes zu Konsultationen bereitstehen würde. Er pflichtete bei, dass die Managerausbildung sehr wichtig sei. Er machte darauf aufmerksam, dass wir bei der Auswahl der ausländischen Ausbilder und Referenten die Experten von Ländern bevorzugen sollten, bei denen das Angewiesensein auf die internationale Arbeitsteilung und der Exportzwang stark seien. Bezüglich der Möglichkeiten der ungarischen Wirtschaft verwies er auf zwei Hauptprobleme, nämlich auf den Exportzwang, dem man nur mit einem gut funktionierenden Importsystem entsprechen könne, und auf den ernsten Restriktionsfaktor, dass es im RGW keinen wirklichen Multilateralismus gebe. Mit Helmut Schlesinger, dem Vizepräsidenten der Bundesbank, wurde ein Gedankenaustausch über die Rolle der Notenbank bei der Regulierung der Finanzprozesse der Wirtschaft sowie über die Beziehungen zwischen der Regierung, der Notenbank und den Handelsbanken geführt. Schlesinger betonte, dass sie mit den ungarischen Reformbestrebungen sympathisieren würden und sie auch weiterhin, wenn als Notenbank auch nicht unmittelbar, sondern auf mittelbarem Weg, bereit seien, hierzu

12  Wer hier konkret gemeint war, konnte nicht eruiert werden.



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die notwendige Unterstützung zu leisten. Er verwies darauf, dass ihr Einfluss auf die internationalen Finanzinstitutionen nicht zu vernachlässigen sei. Wolfgang Mischnick, der Vorsitzende der FDP-Parlamentsfraktion, erklärte, dass seine Partei auch als Mitglied der Regierungskoalition den ungarischen Reformprozess unterstütze. Auch die in der Sowjetunion stattfindende Entwicklung beweise die Richtigkeit der seit 1968 verfolgten ungarischen Politik. Für die BRD habe – seiner Meinung nach – die ungarische Nationalitätenpolitik auch deshalb eine große Bedeutung, weil sie als Bezugspunkt in Richtung anderer Staaten diesen könne. Es scheine so, dass in der Sowjetunion und gar in den USA – wo gewisse Minderheiten langfristig auch zur Mehrheit werden könnten – die Gefahren, die sich in der Ungelöstheit dieser Frage verbergen würden, erkannt worden seien. Er erkundigte sich, ob im Rahmen der Reform des Systems der politischen Institutionen die Möglichkeit der Einführung eines Mehrparteiensystems aufgeworfen werde. Mischnick versicherte im Namen seiner Partei allen Akteuren der Entwicklung der bilateralen Beziehungen seine Unterstützung. Er signalisierte, dass die zur Partei gehörende Friedrich-Naumann-Stiftung zur Förderung der Ost-West-Beziehungen ein Wirtschaftsforum unter Teilnahme von führenden Vertretern der westdeutschen Wirtschaft organisiere. Sie würden es begrüßen, wenn Genosse Németh auf dem Forum einen Vortrag halten würde. Wolfgang Roth, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Parlamentsfraktion, beurteilte die Arbeitsbeziehungen zur MSZMP als sehr gut. Man sei mit der Zusammenarbeit zufrieden und an ihrer Entwicklung interessiert. Der gemeinsame parlamentarische Arbeitsausschuss zur Untersuchung der wirtschaftlichen Kooperation von Ost und West habe nützliche Arbeit geleistet. Die Partei unterstütze unverändert Schritte, die sich auf die Entwicklung der bilateralen staatlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Beziehungen richten würden. Er legte dar, dass die SPD die Zukunft der Wirtschaftsentwicklung in der BRD pessimistisch beurteile. Ihrer Meinung nach stünde das Land an der Schwelle der Stagnation oder gar einer Rezession. Die gegenwärtigen, auf eine niedrige Basis bezogenen statistischen Daten würden nicht die ungünstige Tendenz der letzten Monate anzeigen. Der Rückfall würde sich zwar nicht in Form eines Bankrotts offenbaren, er werde aber beträchtlich sein. Er hielt es für bemerkenswert, dass bei der Lagebeurteilung der SPD und bei ihren Vorschlägen mehr Berührungspunkte mit der Meinung der CDU/CSU, in erster Linie mit der Meinung der Minister (sic!)13 der Bundesländer Strauß und Späth, existieren würden, als mit der FDP. Roth ging auf die Frage der Beurteilung des Gemeinsamen Marktes ein. Er verwies darauf, dass in bedeutenden Wirtschaftskreisen in der BRD auch die Meinung vertreten werde, dass sich die Gemeinschaft nicht nach außen orientieren müsse, weil der Binnenmarkt von 220 Millionen für die Entwicklung ausreiche. Nach Meinung der

13  Richtig: Ministerpräsidenten.

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SPD sei dies eine gefährliche Tendenz und könne in die Isolation führen. Neue Probleme würden durch den eventuellen Beitritt Österreichs in die EWG aufgeworfen, weil dann die Vermittlerrolle des neutralen Landes zwischen Ost und West beendet werden würde. Die SPD habe die Aufmerksamkeit der Österreichischen Sozialistischen Partei (sic!)14 bereits auf die Gefahr einer solchen Annäherung gelenkt. Roth schlug vor, dass unsere Parteien über diese Fragen sowie über die Probleme in Verbindung mit dem CoCom den Meinungsaustausch – eventuell im Rahmen des gemeinsamen Arbeitsausschusses – fortführen sollten. Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende signalisierte, dass Hans-Jochen Vogel, der Parteivorsitzende, wahrscheinlich im Herbst [1988] seiner Einladung nach Ungarn nachkommen werde. * Organisiert durch die Industrie- und Handelskammer traf sich Genosse Németh mit führenden Vertretern der Unternehmenssphäre. Nach einer Information über unsere Situation, unsere Bestrebungen und unsere Beziehungen kam es zu einem lebhaften Meinungsaustausch, bei dem die Möglichkeiten der Vertiefung unserer bilateralen Beziehungen bzw. die diese behindernden Faktoren breiteren Raum erhielten. Einmütig kam zum Ausdruck, dass die deutschen Unternehmen mit großen Erwartungen auf die Schaffung des neuen Gesellschaftsgesetzes blicken, weil sie sich davon eine Intensivierung der Unternehmensbeziehungen und eine anziehendere Möglichkeit für die Platzierung von Betriebskapital erhoffen würden. Von dieser wolle man auch Gebrauch machen. Budapest, 29. Februar 1988 Erstellt: [Unterschrift] (László Mohai) [Unterschrift] (Ferenc Gróf) Gebilligt: [Unterschrift] (Miklós Németh) Quelle: MNL OL, 288. f.32/1988/85. ő. e. (NSZK/1988/B), fol. 53–66. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

14  Richtig: Sozialdemokratische Partei Österreichs.



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Dokument 9 Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 1. März 1988 Der für das Auswärtige Amt in Bonn angefertigte Politische Halbjahresbericht der bundesdeutschen Botschaft in Budapest für die Monate September 1987 bis Februar 1988 befasst sich in seinem ersten Kapitel mit der ungarischen Innenpolitik. Hierbei wird insbesondere auf das sich verschlechternde innenpolitische Klima, die schwierige Lage des neuen Ministerpräsidenten Károly Grósz sowie auf personelle Veränderungen in der Regierung und auf einzelne politische Reformschritte (Ausweitung der Möglichkeit zu Westreisen, größere Bedeutung der Regierung gegenüber der Partei) verwiesen. Das folgende Kapitel thematisiert die Außenpolitik Ungarns und hebt die aktive „Reisedip­ lomatie“ der führenden ungarischen Politiker insbesondere auch in Richtung Westen hervor. Bezüglich der westdeutsch-ungarischen Beziehungen hebt es deren „hohes Niveau“ hervor und verweist in diesem Zusammenhang auf den Besuch von Regierungschef Grósz vom Oktober 1987 sowie auf das – Westberlin auf „befriedigende Weise“ einschließende – Binnenschifffahrtsabkommen vom Januar 1988. Das dritte Kapitel über die ungarische Wirtschaftspolitik legt die schwierige Wirtschaftslage und das „äußerst unbefriedigende außenwirtschaftliche Abschneiden“ des Landes detailliert dar. Und im letzten Kapitel behandelt der Halbjahresbericht die ungarische Kulturpolitik, wobei vor allem die grundlegenden Veränderungen der westdeutsch-ungarischen Kulturbeziehungen im Vorfeld der Eröffnung des bundesdeutschen Kultur- und Informationszentrums in Budapest im März 1988 zur Sprache kommen. *** Politischer Halbjahresbericht Ungarn Stand vom 01.03.1988 Nur zur Unterrichtung des Auswärtigen Amts I. Innenpolitik 1. Das innenpolitische Klima Ungarns hat sich – vor allem in den ersten Wochen des Jahres 1988 – weiter verschlechtert. Zwar mag die Stimmung der Bevölkerung schlechter sein als die tatsächliche Lage des Landes. Dennoch steht bereits jetzt fest, dass die Lebenshaltungskosten in diesem Jahr vor allem durch Einführung der Mehrwertsteuer weit höher steigen werden, als von der Regierung erwartet. Letztere hatte ein Ansteigen der Preise im Jahresdurchschnitt um 15% vorausgesagt, tatsächlich liegen manche Preise schon jetzt erheblich höher. Diesem Anstieg steht keine entsprechende Erhöhung der Einkommen gegenüber. Es trifft vor allem die ärmeren Bevölkerungskreise. Lediglich die Folgen der gleichzeitigen Einführung einer per-

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sönlichen Einkommensteuer (die bis zu 60% beträgt und daher den Steuersätzen mancher „kapitalistischer Staaten“ nicht nachsteht) versuchte die Regierung dadurch zu mildern, dass die Gehälter um die Höhe der abzuführenden Einkommensteuer angehoben wurden. Die Bevölkerung sieht angesichts dieser Entwicklung nicht, welche Vorteile ihr die weiteren Wirtschaftsreformen überhaupt bringen. Außerdem stellt sie sich die bange Frage, ob die für sozialistische Staaten relativ gute Versorgung der Bevölkerung anhält, wenn die in Privatinitiative hergestellten Waren künftig ausbleiben, weil die Regierung diesen Markt langsam dadurch austrocknet, dass die hieraus gezogenen Einkünfte künftig zu versteuern sind und sich daher die harte zusätzliche Arbeit – viele Ungarn arbeiten mehr als 12 Stunden am Tag – für viele kaum noch lohnt. 2. So sieht sich der seit Mitte 1987 im Amt befindliche Ministerpräsident [Károly] Grósz bereits kurze Zeit nach seinem Amtsantritt in einer schwierigen Lage. Der anfängliche Schwung der neuen Regierung hat bereits nachgelassen. Grósz sieht sich nicht nur einer unzufriedenen Bevölkerung gegenüber, auch im Politbüro und in der Nationalversammlung bläst ihm der Wind stärker als seinen Vorgängern ins Gesicht. Seinem Versuch, mit einer neuen Mannschaft die vor ihm liegenden Aufgaben anzugehen, war bisher nur teilweise Erfolg beschieden. Immerhin stellte sich [János] Kádár selbst in der Herbstsitzung der Nationalversammlung demonstrativ – zugleich ausdrücklich im Namen des ZK – hinter das von Grósz verkündete Regierungsprogramm und übernahm gleichzeitig die oder zumindest einen Teil der Verantwortung für die in der Vergangenheit gemachten Fehler und Versäumnisse. Außerdem warb Kádár um Verständnis für erforderlich werdende „Umgruppierungen von Produktionsmitteln und Arbeitskräften“, eine verschämte Umschreibung für die geplante Schließung von Betrieben und zumindest vorübergehende Arbeitslosigkeit, die es nach sozialistischen Vorstellungen im Sozialismus bekanntlich nicht geben kann. Dabei wäre vermutlich schon heute mindestens ein Viertel der Bevölkerung arbeitslos, beschäftigte man sie unter Rentabilitätsgesichtspunkten. Nach den Äußerungen Kádárs während der Tagung der Nationalversammlung ist die Schuld für die negative Entwicklung des Landes indessen nicht nur im eigenen Land zu suchen. Schuld haben laut Kádár vielmehr auch die kapitalistischen Staaten – er nennt insbesondere die USA, Japan und die Bundesrepublik Deutschland –, die nicht nur die Entwicklungsländer, sondern in gewissem Umfang auch die sozialistischen Staaten ausbeuteten (gleichwohl hatte die ungarische Regierung keine Bedenken, drei Wochen später von der Bundesrepublik Deutschland einen Kredit über 1 Milliarde DM anzunehmen). 3. Die von Grósz geplanten organisatorischen Änderungen im Regierungsapparat konnte er – wenn auch nur zum Teil und verspätet – in der Dezember-Sitzung der Nationalversammlung durchsetzen. Wesentlichste Punkte der Änderungen waren die Zusammenfassung der bisherigen Ministerien für Außen- und Binnenhandel zu



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einem „Handelsministerium“, einer Art Superministerium mit dem Stellvertretenden Ministerpräsidenten [József] Marjai und gleich drei Staatssekretären an der Spitze. Außerdem wurde ein Umweltministerium geschaffen und das Sozialministerium um den Gesundheitsbereich erweitert. Die Zahl der stellvertretenden Ministerpräsidenten wurde von 5 auf 2 vermindert. Ferner wurde u.a. das Informationsamt aufgelöst. Stärkster Mann in der Regierung ist nach MP [Ministerpräsident] Grósz der frühere Finanzminister und jetzige Stellvertretende Ministerpräsident [Péter] Medgyessy. Die Posten der Minister für Industrie, Inneres und Finanzen sowie des Leiters des Landesplanungsamts wurden neu besetzt. 4. Zugleich mit der von der Bevölkerung als schmerzlich empfundenen Einführung der Mehrwertsteuer und einer persönlichen Einkommensteuer trat eine Maßnahme in Kraft, die vielleicht als eine Art „Ausgleich“ gedacht war. Seit dem 01. Januar 1988 können die Ungarn – jedenfalls theoretisch – frei in den Westen reisen, eingeschränkt nur durch die begrenzte Zuteilung von Devisen. Sie beträgt in 3 Jahren 19.000,- Ft. [Forint] (ca. 660,- DM), wovon bei jeder Reise in den Westen 3.000,- Ft. vorgewiesen werden müssen, so dass jeder Ungar theoretisch zweimal im Jahr in den Westen reisen kann. Bei Einladung und eigenem legalen Besitz von Devisen sind weitere Reisen möglich. Das wichtigste für den einzelnen Ungarn ist bei der neuen Regelung der Fortfall der Ausreisegenehmigung bei jeder einzelnen Reise. Diese für östliche Verhältnisse großzügige Regelung wird von der Bevölkerung allgemein begrüßt. 5. Es ist Grósz gelungen, die Bedeutung der Regierung gegenüber der Partei, aus der er selbst kommt, aufzuwerten, auch wenn letztlich die wichtigsten Beschlüsse im Politbüro getroffen werden. Zugleich mit der Stärkung der Regierung zeigen auch die Nationalversammlung, die „Patriotische Volksfront“ und die Gewerkschaften ein steigendes Selbstbewusstsein. Die Beratungen über die Regierungsumbildung in der Nationalversammlung während der Dezember-Sitzung fanden erstmalig hinter verschlossenen Türen statt. Es gab widerstrebende Tendenzen, die man nicht nach außen dringen lassen wollte. Dies ist ein Zeichen dafür, dass die Mitglieder der Nationalversammlung diese nicht länger als bloßes zustimmendes Organ ansehen. 6. Regimekritiker, insbesondere die im sogenannten „[Ungarischen] Demokratischen Forum“ zusammengefassten intellektuellen Dissidenten, meldeten sich verstärkt zu Wort. Eine für den 30. Januar 1988 ursprünglich von der „Patriotischen Volksfront“ in ein Budapester Theater einberufene Tagung wurde von Regimekritikern, insbesondere unzufriedenen Journalisten, zu einer oppositionellen Veranstaltung umgewandelt, worauf sich die Patriotische Volksfront von der Veranstaltung distanzierte. Dabei wurde auch eine Erklärung zur Lage der ungarischen Minderheit in Rumänien verabschiedet, die die Regierung zu einer festeren Haltung aufforderte und insbesondere das angebliche Abschieben von Angehörigen der ungarischen Minderheit,

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die illegal nach Ungarn gekommen waren, nach Rumänien kritisierte. (Ein derartiges Vorgehen wurde von der Regierung dementiert.) 7. Vorausschau Die weitere Zukunft von MP Grósz hängt vor allem von Erfolg oder Misserfolg der wirtschaftlichen Reformen ab. Während er als Parteisekretär von Budapest allgemein als „hardliner“ angesehen wurde, entwickelt er sich immer mehr zu einem gemäßigten Politiker, dem man zutraut, als integrierende Persönlichkeit eines Tages die Nachfolge Kádárs als Parteichef antreten zu können. Ernsthaftester Konkurrent ist für ihn der mehr dem orthodoxen Flügel zuzurechnende ZK-Sekretär [János] Berecz, der sich zwar nicht gegen Reformen ausspricht, dem jedoch die Stärkung des Sozialismus als wesentlichste Aufgabe erscheint. Aber auch der Vorsitzende des Nationalrates der Patriotischen Volksfront, [Imre] Pozsgay, ist als Vertreter des „liberalen Flügels“ keineswegs aus dem Rennen. Er ist die treibende Kraft für politische und gesellschaftliche Reformen und profiliert sich auch durch Auslandsreisen. Wann Kádár allerdings beschließt, die Zügel aus der Hand zu geben, ist nach wie vor ungewiss. Auch ist nicht auszuschließen, dass dann die Wahl auf einen „Kompromisskandidaten“ fällt. II. Außenpolitik 1. Ungarn setzte auch in den vergangenen Monaten – bei fester Einbindung in das östliche Paktsystem – seine aktive Außenpolitik gegenüber dem Westen fort. Sein besonderes Interesse war weiterhin auf die Verhandlungen mit der EG gerichtet. Es setzte auch seine Bemühungen um Abschaffung des Sichtvermerkszwanges gegenüber nichtsozialistischen Staaten Europas fort, stieß hierbei jedoch, außer bei uns, weiterhin auf wenig Gegenliebe. Eine Sichtvermerks-Freiheit konnte bisher lediglich mit den Nicht-EG-Staaten Österreich, Finnland, Schweden und Malta erreicht werden. 2. Auf dem Gebiet der Abrüstung beteiligte sich Ungarn – zwar nicht die Regierung, sondern die Partei – an einer gemeinsamen Abrüstungsinitiative mit der Sozialdemokratischen Partei Finnlands und der Sozialistischen Partei Italiens. ZK-Sekretär [Mátyás] Szűrös gab für die USAP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] den Aufruf in Budapest bekannt. Nur wenige Tage später äußerte sich Szűrös im ungarischen Rundfunk erneut zu Abrüstungsfragen und erklärte in diesem Zusammenhang, dass die Sowjetunion nicht die Absicht habe, auf Dauer Truppen in anderen Ländern zu stationieren. 3. Die „Reisediplomatie“ ungarischer Politiker war wiederum vielseitig, wobei besonders die erneute Aktivität Kádárs auffiel. Während er im ersten Halbjahr 1987 nur zwei Auslandsreisen durchführte (im April nach Schweden und im Mai nach Ostberlin zu einer WP-Tagung), führte er in der 2. Jahreshälfte vier Auslandsreisen durch, nämlich nach China und Belgien, außerdem zur Jubiläumsfeier nach Moskau sowie eine weitere zu einer WP-Tagung nach Ostberlin.



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Während der neue Staatspräsident (sic!)15 [Károly] Németh sich auf eine größere Besuchsreise nach Südamerika beschränkte (Brasilien, Uruguay und Argentinien), führte der (ebenfalls neue) Ministerpräsident Grósz verschiedene Auslandsreisen durch. Nach dem obligatorischen Antrittsbesuch in der Sowjetunion kurz nach Übernahme seines Amtes war die Bundesrepublik Deutschland im Oktober 1987 Ziel seiner 2. Auslandsreise. Ebenfalls im Oktober reiste er nach Polen und zu einer RGW-Tagung nach Moskau, im November nach Athen. Von den Besuchen in Ungarn ist der Besuch der dänischen Königin Margarethe II. im Oktober 1987 hervorzuheben. Ihr Besuch war der dritte eines westlichen Mo­narchen innerhalb eines Jahres in Ungarn, nach dem Besuch der niederländischen Königin im Oktober 1986 und des spanischen Königs im Juli 1987. Die Besuche ausländischer Ministerpräsidenten waren wieder sorgfältig ausgewogen, und zwar kamen (im ganzen Jahr 1987) 2 Ministerpräsidenten aus WP-Staaten nach Ungarn (ČSSR und Bulgarien), 2 aus „westlichen Staaten“ (Dänemark und Australien) und 2 aus „neu­ tralen Staaten“ (Österreich und Malaysia). Auf Parteiebene ist vor allem der Besuch [Wojciech] Jaruzelskis zu erwähnen. 4. Die Beziehungen zwischen Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland bewegten sich weiterhin auf einem hohen Niveau. Der Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten Grósz in der Bundesrepublik Deutschland im Oktober 1987 spiegelte den guten Stand der Beziehungen wider. Bei diesem Besuch wurde Ungarn ein Kredit von 1 Mrd. DM gewährt. Außerdem wurden ein Abkommen über wissenschaftlichtechnische Zusammenarbeit und ein weiteres über die gegenseitige Errichtung von Kulturinstituten unterzeichnet. Damit wäre Ungarn – sieht man von dem Sonderfall Rumänien ab – das erste WP-Land, in dem ein deutsches Kulturinstitut eröffnet wird. Ein nicht nur fachlich, sondern auch politisch wichtiges Abkommen stellte die Unterzeichnung eines deutsch-ungarischen Binnenschifffahrtsabkommens im Januar 1988 in Budapest durch Bundesverkehrsminister [Jürgen] Warnke dar, bei dem es gelang, das Berlin-Problem in einer uns befriedigenden Weise zu berücksichtigen. Die Ungarn nehmen bei den beiden Abkommen gegenüber ihren eigenen Bündnispartnern eine Art Vorreiterrolle ein. Außer Ministerpräsident Grósz reisten weitere ungarische Persönlichkeiten in die Bundesrepublik, so ZK-Sekretär Berecz, Politbüro-Mitglied [György] Aczél, der Staatssekretär des ungarischen Außenministeriums [Gyula] Horn und der Generalstaatsanwalt [Károly] Szijártó, letzterer auf Einladung von Generalbundesanwalt [Kurt] Rebmann. Die Zahl hochrangiger Besucher aus dem politischen Bereich aus der Bundesrepublik war geringer als früher. U.a. hielt sich Ministerpräsident [Johannes] Rau im September 1987 zu einem Besuch in Budapest auf, ferner kamen – neben dem bereits

15  Richtig: Vorsitzender des Präsidialrats.

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erwähnten Bundesverkehrsminister Warnke und einer Reihe von Bundestagsabgeordneten – die Staatssekretäre [Ottfried] Hennig (BMB [Bundesministerium für Bildung]) und [Anton] Pfeifer (BMJFFG [Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit]) nach Ungarn. Die zunehmende Bedeutung Budapests als internationaler Treffpunkt wurde auch durch eine Tagung des „Bergedorfer Gesprächskreises“ unterstrichen, an der 36 Persönlichkeiten aus West und Ost teilnahmen, u.a. der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, der im Anschluss an diese Tagung als Vorsitzender des „Interaction Council“ zu einem Treffen früherer Ministerpräsidenten verschiedener Staaten in Budapest eingeladen hatte. 5. Für die Bürger der DDR war Ungarn bisher – neben der ČSSR – das beliebteste Reiseland innerhalb der WP-Staaten. 1987 besuchten mehr als 1,6 Mio. DDR-Touristen Ungarn, dreimal mehr als ungarische Touristen die DDR. Der Beschluss der DDR-Regierung, die Zuteilung an Reisedevisen zu vermindern, wird voraussichtlich zusammen mit den erheblichen Preissteigerungen in Ungarn zu einer Verminderung von Besuchsreisen aus der DDR nach Ungarn führen oder zumindest zu einer Verkürzung der Aufenthaltsdauer im Land. Die Entscheidung der DDR-Stellen stieß daher nicht überall auf Verständnis, auch wenn man anerkannte, dass es hierzu keiner vorherigen Abstimmung mit Ungarn bedurfte. 6. Im Verhältnis zur Sowjetunion ist Ungarn nach anfänglicher Zurückhaltung auf den neuen Kurs Gorbatschows eingeschwenkt. Zwischen [Michail] Gorbatschow und Ministerpräsident Grósz scheint sich ein vertrauensvolles Verhältnis entwickelt zu haben. Die Zugeständnisse gegenüber der Bundesrepublik in Bezug auf die Errichtung eines Kulturinstituts in Budapest und auf das Berlin-Problem beim Binnenschifffahrtsabkommen wären ohne zumindest stillschweigende Billigung durch die Sowjetunion wohl nicht möglich gewesen. Andererseits hat man den Eindruck, dass unter Grósz Ungarn seine eigenen Interessen selbstbewusster als zuvor verfolgt. 7. Mit dem Besuch von Generalsekretär Kádár im Oktober 1987 in China sind die Beziehungen zwischen den beiden Ländern endgültig wieder normalisiert. Es war Kádárs 3. Besuch in China. Die beiden letzten Besuche liegen allerdings mehr als 30 Jahre zurück. 8. Das Verhältnis zu Rumänien wird immer gespannter. Die jahrelangen und erfolglosen ungarischen Bemühungen um eine Verbesserung der Lage der ungarischen Minderheit in Rumänien führen zu einer zunehmenden Gereiztheit der Ungarn. Der für auswärtige Beziehungen zuständige ZK-Sekretär Szűrös, der sich bereits im Frühjahr 1987 zweimal mit dem Verhältnis zu Rumänien öffentlich auseinandergesetzt hatte, übte in zwei Interviews in Rundfunk und Presse erneut Kritik an Rumänien. Er bezeichnete es als eine der wichtigsten Aufgaben der ungarischen Außenpolitik, sich um die außerhalb der Landesgrenzen lebenden Ungarn zu kümmern, die Teil des



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„Ungarntums“ seien. Die Nachbarnationen Jugoslawien, die ČSSR, die Sowjetunion und Österreich seien insoweit konstruktive Partner. In Bezug auf Rumänien jedoch sei man trotz ungarischer Kompromissbereitschaft nicht vorangekommen; es gebe besorgniserregende Probleme. 9. Die guten Beziehungen zu Österreich wurden während eines offiziellen Besuches des österreichischen Bundeskanzlers [Franz] Vranitzky in Budapest erneut unterstrichen. Dabei wurde eine Absichtserklärung unterzeichnet, 1995 in Wien und Budapest eine gemeinsame Weltausstellung durchzuführen. Beide Seiten betonten bei diesem Besuch erneut die besonderen Aufgaben der kleinen und mittleren Staaten im Rahmen der OstWest-Beziehungen. Die ungarische Seite lobte die österreichische Minderheitenpolitik in Bezug auf die (zahlenmäßig kleine) ungarische Minderheit in Österreich. 10. Auch beim Besuch des Außenministers von Jugoslawien, Raif [Dizdarević], im Dezember wurde die Frage der beiderseitigen Minderheiten erörtert und als positives Element in den Beziehungen angesehen. Der Verlauf des Besuches spiegelte die Problemlosigkeit der Beziehungen zwischen den beiden Nachbarstaaten wider. 11. Das verstärkte Interesse Großbritanniens an einer weiteren Förderung des Englischunterrichts in Ungarn kam bei einem Besuch des Vorsitzenden des „British Council“ zum Ausdruck, der Englisch als die internationale Sprache der Wissenschaft und Technologie bezeichnete. Er bot eine Unterstützung für die Schaffung zweisprachiger Schulen an. Die politischen Kontakte zwischen Ungarn und Großbritannien beschränkten sich im Wesentlichen auf einen Besuch des britischen Staatsministers [David] Mellor, der den Ungarn die britische Unterstützung bei ihren Verhandlungen mit der EG zusagte. Die Beziehungen zwischen Ungarn und Frankreich sind – verglichen mit denen zur Bundesrepublik – weiterhin nicht sehr vielfältig. In der ungarischen Presse, die sich bisher mit Äußerungen zur deutsch-französischen Zusammenarbeit zurückgehalten hatte, wurde erstmals von einer „beunruhigend enger“ werdenden deutschfranzösischen militärischen Zusammenarbeit gesprochen. Demgegenüber gab es im Verhältnis zu den Niederlanden wiederum eine Reihe von Begegnungen. Neben einem Besuch einer Delegation der PvdA [Partij van de Arbeid16] unter Leitung von Wim Kok sowie einem Besuch des Interkirchlichen Friedensrates ist der offizielle Besuch von Außenminister [Hans] Van den Broek zu erwähnen. Van den Broek, der u.a. auch von Generalsekretär Kádár empfangen wurde, unterzeichnete ein Investitionsschutzabkommen (das 7. Abkommen Ungarns dieser Art mit westlichen Staaten), von dem man sich vor allem auf ungarischer Seite eine Verstärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit erhofft.

16  Niederländische, sozialdemokratisch orientierte Partei.

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12. Eine seiner ersten Auslandsreisen führte Ministerpräsident Grósz im November nach Griechenland. Während dieses Besuches wurde eine „Freundschaftserklärung“ unterzeichnet, die erste dieser Art zwischen Ungarn und einem NATO-Staat. Auch ein Ordensaustausch zwischen Grósz und [Andreas] Papandreou stellte im Verhältnis Ungarns zu einem NATO-Staat ein Novum dar. 13. Ebenfalls im November hielt sich der stellvertretender Ministerpräsident Marjai zu einem Besuch in den Vereinigten Staaten auf, bei dem das Problem der CoComListe eine besondere Rolle spielte. Ungarn setzt sich nach wie vor für einen Abbau der CoCom-Beschränkungen ein. Der stellvertretende Außenminister [John C.] Whitehead hielt sich auf Einladung von Staatssekretär Horn zu einem Besuch in Ungarn auf. Die Beziehungen zu Israel wurden durch eine Vereinbarung über die Ausstattung der gegenseitigen Interessenvertretungen mit jeweils eigenem Personal intensiviert. An eine Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen ist z. Zt. jedoch noch nicht gedacht. In Israel leben mehr als 200.000 Israelis ungarischer Abstammung, was nach ungarischer Darstellung einer der Hauptgründe für die jetzige Vereinbarung ist. III. Wirtschaftspolitik Die ungarische Wirtschaft hat im zweiten Halbjahr 1987 zwar Anzeichen von Aufschwungtendenzen erkennen lassen, doch hat sich dies nicht in einem nennenswert besseren außenwirtschaftlichen Abschneiden niedergeschlagen. Nach kürzlich veröffentlichten vorläufigen Ergebnissen für das Gesamtjahr hat Ungarn sein Wachstumsziel 1987 erreichen können: Das Bruttoinlandsprodukt hat real um 2,5–3,0%, das Nationaleinkommen um 2,0–2,5% zugenommen. Der Volkswirtschaftsplan 1987 hatte einen (mindestens) 2,0-prozentigen Zuwachs des Nationaleinkommens vorgesehen, allerdings war diese Planziffer aufgrund der unbefriedigenden Resultate 1986 dem 5-Jahres-Plan-Ziel einer durchschnittlichen jährlichen Steigerung von 3,0% gegenüber entsprechend zurückgenommen worden. Von Partei- und Regierungsseite ist bereits eingeräumt worden, dass die Vorgaben des VII. 5-Jahres-Planes (1986–1990) seinerzeit auf unzutreffenden Grundlagen, d. h. zu optimistisch formuliert worden sind. Die Industrieproduktion lag 1987 um 3,7% höher als im Jahr zuvor und hat die Plangröße (+2,0–2,5%) damit übertroffen (an der Spitze die Chemie-Industrie mit mehr als +6%). Die landwirtschaftliche Produktion ist um 0,5–1,5% zurückgeblieben, wohingegen der Plan eine 4,5–5,5%ige Steigerung in Aussicht genommen hatte. Das dritte Mal in Folge erlebte Ungarn 1987 für den Agrarsektor ungünstige Wetterbedingungen, die insbesondere den Ackerbau in Mitleidenschaft zogen. Wie im Vorjahr, wenn auch in geringerem Ausmaß, hat das Land 1987 indes mehr verbraucht als produziert. Die Inlandsverwendung, die dem Plan nach gleichbleiben oder um bis zu 1,0% zurückgeführt werden sollte, wuchs real um 2,0% und überstieg



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das Nationaleinkommen um einen negativen Außenbeitrag von 6 Mrd. Forint (1986: –15,4 Mrd. Forint). Im Außenhandel gegen konvertible Währungen wurde ein Defizit von 361 Mio. US-$ erwirtschaftet, das nur um 10% unter dem Fehlbetrag des Vorjahres (401 Mio. US-$) lag. Im Warenaustausch gegen Rubel-Verrechnung ergab sich ein Überschuss von 141 Mio. Rubel (gegenüber +17 Mio. Rubel 1986). Unser Außenhandelsumsatz mit Ungarn war 1987 (im Vergleich der Periode Januar–November) 1,6% geringer als im Jahre davor, ein im ersten Halbjahr mit –8,2% bemessener Einbruch wurde zum Jahresende hin aber wie ersichtlich nahezu wieder kompensiert. Dahinter stehen freilich geringere deutsche Ausfuhren (–4,5%) und höhere deutsche Einfuhren (+2,6%), so dass der deutsche Exportüberschuss (1986 auf Rekordhöhe von 915,2 Mio. DM) um 21,3% reduziert wurde. Die Entwicklung des Fremdenverkehrs hingegen hat 1987 die Erwartungen noch bei Weitem übertroffen. Mit Netto-Deviseneinnahmen von 370 Mio. US-$ wurden 85,9 Prozent mehr erzielt als im vorangegangenen Jahr. Hinzu kamen 296 Mio. Rubel (+8,8%) als Netto-Einnahmen aus dem Tourismus mit den Staaten jenes Währungsraumes. Nicht zuletzt dank dieser günstigen Tourismusbilanz dürfte die ungarische Leistungsbilanz gegen konvertible Währungen zum 31.12.1987 mit einem Defizit von rd. 1 Mrd. US-$ abgeschlossen haben (1986: –1,42 Mrd. US-$). Die ungarische Auslandsverschuldung gegen konvertierbare Devisen hat brutto von 15,1 Mrd. US-$ zum Ende 1986 auf 17,7 Mrd. US-$ zum Ende des abgelaufenen Jahres zugenommen, netto (nach Abzug von Gold- und Währungsreserven sowie Auslandsforderungen) machte der Anstieg von 7,8 Mrd. US-$ auf 10,9 Mrd. US-$ aus. Der Abbau zumindest des Zuwachses der Auslandsverschuldung bei Erhalt der Zahlungsfähigkeit des Landes ist ein Hauptziel des Aktionsprogrammes der Regierung, das von MP Grósz am 16./17.09.1987 überzeugend im Parlament vertreten wurde. Zweites Hauptziel ist der Abbau des Fehlbetrages im Staatshaushalt, der 1986 die Rekordhöhe von 46,9 Mrd. Forint eingenommen hatte. Mit einem Defizit von rd. 35 Mrd. Forint wurde 1987 ein Einstieg in die Haushaltskonsolidierung realisiert. Erreicht wurde das u.a. durch zwei Runden empfindlicher Preissteigerungen für Grundbedarfsartikel in April und Juli, die durch eine Verminderung der Ausgaben für Konsumentenpreissubventionen die Staatseinnahmen verbesserten, aber ihren Teil zur Verbraucherpreissteigerung von 8,6% (statt der geplanten 7,0%) beitrugen. Nicht zuletzt dank dieser Beschleunigung des Preisauftriebs gelang es, die Realeinkommen plangemäß konstant zu halten. Dennoch nahm der private Konsum, der bestenfalls ebenfalls hätte gleichbleiben sollen, real um 2,5–3,0% zu. Genährt wurde die Ausdehnung des Konsums – zum Jahresende hin stärker werdend – aus Sparguthaben, auslösender Moment war insbesondere die zum 01.01.1988 in Kraft tretende Steuerreform. Die Ungewissheiten über Ausgestaltung und Auswirkungen der neuen Mehrwertsteuer und allgemeinen persönlichen Einkommensteuer regten die Ungarn zur Flucht in Sachwerte an, welche zu akuten Mangelerscheinungen z. B. bei Elekt-

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rogeräten und Baumaterialien führte und die Regierung ungeachtet der ungünstigen Handels- und Zahlungsbilanzdaten zu außerplanmäßigen Konsumgüterimporten auch gegen Hartwährung veranlasste. Als Folge der Einführung der Mehrwertsteuer sowie der damit verbundenen Begradigung des Preissystems und Reduzierung von Verbraucherpreissubventionen hatte die Regierung für 1988 frühzeitig eine Inflationsrate von 15 Prozent in Aussicht gestellt. Für die neue Belastung durch die allgemeine persönliche Einkommensteuer wurde zwar ein Lohnausgleich im Hauptarbeitsverhältnis dekretiert, empfindliche negative Auswirkungen bei den verschiedenartigsten Nebeneinkünften der Ungarn galten aber als ausgemacht bzw. beabsichtigt. Ausblick Das erneut äußerst unbefriedigende außenwirtschaftliche Abschneiden Ungarns hat die Notwendigkeit eines wirtschaftlichen Strukturwandels aufs Neue unterstrichen. Die Volkswirtschaftsplanung 1988 eröffnet mit einem mäßigen Wachstum der Indus­ trieerzeugung und der Umschichtung von Investitionen vom Staats- in den Unternehmensbereich dazu den nötigen Raum. Bescheidene Zuwachsraten für Nationaleinkommen und Brutto-Inlandsprodukt sowie reale Einbrüche bei privaten Einkommen und Verbrauch konstituieren geeignete Rahmenbedingungen. Der Haushalt 1988 korrespondiert mit weiterem Subventionsabbau, unter der vorausgeschätzten Inflationsrate liegenden Einnahme- und Ausgabezuwächsen sowie auf 20,4 Mrd. Forint weiter verringertem Defizit zu dieser schärferen Austeritätsgangart. Die Verfassung der ungarischen Wirtschaft muss gegenwärtig jedoch als labil bezeichnet werden. Auch nach dem Stichtag der Steuerreform hat die Unsicherheit bei Produzenten und Konsumenten nicht abgenommen. Der als Folge der Mehrwertsteuereinführung vorhergesagte Rückgang der Produzentenpreise um 6–8% ist nur im Ausmaß von allenfalls 1–2% eingetreten. Die für den Fall den staatlichen Projektionen zuwiderlaufender Preisentwicklungen ausgesprochene Drohung mit verschärften Preiskontrollen steht im Raum. Ein Ausgleich für die Einkommensteuerbelastung ist den Arbeitnehmern von staatlichen Unternehmen und Behörden vielfach lediglich auf die Grundlöhne, nicht aber auf das fein gesponnene System von Zulagen gewährt worden. Die Nationalbank hat sich zuletzt genötigt gesehen, den seit 01.01.1987 existierenden Geschäftsbanken die Liquidität zu verknappen, was vereinzelt sogar dazu führte, dass Unternehmen zur Lohnauszahlung erforderliche Kassenkredite nicht zur Verfügung standen. Für 1988 ist ein Geldmengenwachstum von 3–4% beabsichtigt. Die Regierung hat beteuert und entsprechende Maßnahmen ergriffen, die Konkursvorschriften strenger zur Anwendung zu bringen. Sie ist entschlossen, im laufenden Jahr eine Arbeitslosigkeit von 30.000 und mehr Personen hinzunehmen. Für die kommenden Jahre gehen die Schätzungen auf 100.000–200.000 Erwerbslose.



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Wirtschaftspolitischen Steuerungsansätzen ist unter diesen Bedingungen ein eher enger Rahmen gezogen. IV. Kulturpolitik Im Berichtszeitraum standen die wesentlichen Aktivitäten der Botschaft in Zusammenhang mit den beiden bevorstehenden herausragenden Ereignissen in den deutsch-ungarischen kulturellen Beziehungen: der Errichtung eines deutschen Kultur- und Informationszentrums in Budapest und der Kulturwoche der Bundesrepublik Deutschland. Neben den zahlreichen Delegationen, die zu diesem Anlass nach Budapest reisten, fand auch eine Reihe von Besuchen aus der Bundesrepu­ blik Deutschland aus anderen kulturellen Bereichen statt. So hielten sich Frau StS [Staatssekretärin][Elisabeth] Rickal (Kultusministerium Rheinland-Pfalz) und Herr StS [Staatssekretär] [Anton] Pfeifer (BMJFFG [Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit]) in Budapest auf. Letzterer unterzeichnete eine Vereinbarung zum Jugendaustausch zwischen beiden Ländern. Außerdem besuchte eine Delegation der Westdeutschen Rektoren-Konferenz Budapest und Szeged. Im Dezember fand die Sitzung der Gemischten Kulturkommission in Bonn und im Februar die Sitzung der Unterkommission zur Umsetzung der „Erklärung zur Förderung der deutschen Minderheit in Ungarn“ statt, bei der eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Förderung der deutschen Sprache für das Jahr 1988 vereinbart wurden. Daneben initiierte die Botschaft mehrere Fortbildungsveranstaltungen zur Lehrerfortbildung in Debrecen, Pécs [Fünfkirchen], Miskolc, Veszprém und Szekszárd in Zusammenarbeit mit der ungarischen Seite. Auf dem Gebiet des Kulturaustauschs wurde im September als Folge des Besuchs des Bundespräsidenten eine Ausstellung von Bildern des Malers Günter Uecker in Pécs eröffnet. Die drei Germanistik-Lehrstühle der Universität Szeged, Debrecen und der ELTE-Budapest [Loránd-Eötvös-Universität, Budapest] empfingen auf Vermittlung der Botschaft den Schriftsteller Gert Hofmann zu einer Lesung. Eine Heinrich-Böll-Gedächtnis-Ausstellung der Kölner Stadtbibliothek fand im Kossuth-Klub in Budapest statt, wobei ein literarischer Abend auch vom Rundfunk übertragen wurde. Staatlicherseits verstärken sich weiterhin die Bemühungen um eine Verstärkung des Fremdsprachenunterrichts. Seit Beginn des Schuljahrs 1987/88 begann der Unterricht an zwei deutschsprachigen Gymnasien mit der sog. Jahrgangsstufe Null mit dem Ziel, die Deutschkenntnisse zu vermitteln, die nötig sind, um in den folgenden vier Klassen alle Fächer auf Deutsch unterrichten zu können. Eine dritte Schule hat im weiteren Verlauf des Jahres begonnen, wobei bis jetzt eine offizielle Zusammenarbeit nur mit der DDR vereinbart ist (Entsendung von Lehrern). Von unserer Seite hat die Zahl der Lehrmittelsendungen weiterhin zugenommen, insbesondere auch für die zweisprachigen Schulen der deutschen Minderheit, in denen im Gegensatz zu den erwähnten „Elitegymnasien“ nur bestimmte Fächer wie Geschichte, Geografie und

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Musik auf Deutsch unterrichtet werden. – Die ungarischen Stellen bemühen sich, den Sprachunterricht auch in Bezug auf sonstige Fremdsprachen zu intensivieren. Auch in der kulturellen Szene war im Berichtszeitraum beherrschendes Thema die zum Jahreswechsel angekündigten wirtschaftlichen Einschränkungen, die gerade in dieser Gruppe empfindlich treffen vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Gehälter als Lehrer ebenso wie beispielsweise als Verlagslektor dazu zwingen, als freier Mitarbeiter oder Honorarkraft zusätzliches Geld zu verdienen, das nun versteuert werden muss. Die bedrückte Stimmung wurde auch nicht wesentlich durch die Reiseerleichterungen gehoben, da diese ebenfalls nur dann in Anspruch genommen werden können, wenn die Gelegenheit besteht, sich entsprechende finanzielle Voraussetzungen zu schaffen. Innerhalb der oppositionellen intellektuellen Szene macht sich Unruhe breit im Hinblick auf seit Dezember des Jahres in Kraft gesetzten Verordnungen, die empfindliche Einschränkungen der Freizügigkeit für diejenigen ankündigen, die (auch politische) Haftstrafen verbüßt haben oder das Ansehen des Staates nach außen verletzen. Die Zahl der damit Erfassbaren wird nach inoffiziellen Schätzungen mit 10.000 beziffert. Insgesamt ist die Stimmung auch hier deutlich pessimistisch, während sich der Anspruch verstärkt, sich bei den von offizieller Seite angekündigten politischen Veränderungen aktiv zu beteiligen. Vorausschau In unmittelbarer Zukunft steht die Kulturwoche der Bundesrepublik Deutschland bevor, die vom 09.–15.03.1988 stattfinden wird und in deren Rahmen auch das deutsche Kulturinstitut eröffnet werden soll. Damit ist zweifellos ein Höhepunkt in den deutsch-ungarischen kulturellen Beziehungen erreicht. Daneben werden die Maßnahmen zur Förderung der deutschen Sprache, die bei der letzten Sitzung der Unterkommission im Zusammenhang mit der Umsetzung der „Erklärung zur Förderung der deutschen Minderheit in Ungarn“ für das Jahr 1988 verabredet wurden, anlaufen. Unsere Präsenz wird sich durch die verabredete Entsendung von zwei Lektoren und zwei Fachberatern der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen verstärken, sodass die Förderung der deutschen Sprache ein Schwerpunkt in der Arbeit darstellen wird. Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).



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Dokument 10 Informationsbericht des Bonner Auswärtigen Amts vom 24. März 1988 über den Stand der politischen Reformen in Ungarn Das Auswärtige Amt in Bonn ließ am 24. März 1988, zwei Monate vor der Landeskonferenz der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, von seinem Referat 214 einen Informationsbericht über den Stand der politischen Reformen in Ungarn verfassen. Der Bericht beschäftigt sich zum einen mit den Grundzügen der Kádár’schen Reformpolitik in den drei Jahrzehnten nach 1956, zum anderen mit dem „bemerkenswerten Funktionswandel bestehender politischer Organe“. Bezüglich Letzterem wird in erster Linie auf das zunehmende Gewicht von Regierung, Parlament und Massenorganisationen gegenüber der Partei hingewiesen, gleichzeitig aber betont, dass die Diskussion über die zukünftige Rolle der Partei noch nicht abgeschlossen sei und die Parteiführung weiterhin am Einparteiensystem festhalte. Darüber hinaus thematisiert der Bericht die Bedeutung des „Reformflügels“ in der Partei, die Notwendigkeit der Unterstützung der Bevölkerung für eine „ökonomische Rosskur“ und das wachsende Verlangen nach Freiheitsrechten in der Gesellschaft. Und schließlich schreibt er der Entscheidung über die Nachfolge Kádárs und der Zurückdrängung des Einflusses der Konservativen, also der zu keinen substantiellen Veränderungen bereiten Kräfte, auf der anstehenden Landesparteikonferenz eine wesentliche Bedeutung für den weiteren Verlauf der Veränderungsprozesse zu. *** […]17 Bonn, den 24.03.1988 Betr.: Stand der politischen Reformen in Ungarn Zweck der Vorlage: Zur Information I. Zusammenfassung Die ungarische Partei- und Staatsführung bemüht sich seit Beginn der achtziger Jahre um eine Reform des politischen Systems des Landes. In letzter Zeit haben die Regierung, das Parlament, die Gewerkschaften und die Massenorganisation „Patriotische Volksfront“ eine zunehmend unabhängigere Position zur Partei einnehmen können und so ihr politisches Gewicht verstärkt. In diesem Jahr stehen in Ungarn wichtige politische Entscheidungen an. Die Parteiführung, die auf eine mehr als zwanzigjährige Tradition reformkommunistischer (wenngleich vorwiegend ökonomischer) Veränderungen zurückblicken kann, muss sich vor allem über Ausmaß und Tempo der Reformen einigen. Dem bald zu bestim-

17  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.

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menden Nachfolger des alternden GS [Generalsekretärs] [János] Kádár fällt dabei eine Schlüsselrolle zu. II. Stand der politischen Reformen in Ungarn 1. Die Lehren des für die ungarische kommunistische Partei traumatischen Aufstands von 1956 schlugen sich in drei Grundsätzen nieder, die bis heute den Aktionsrahmen der kommunistischen Führung markieren: – Der Zerfall der politischen Macht der kommunistischen Partei darf sich niemals wiederholen. – An den Grundsätzen des sozialistischen Systems und an der Loyalität zur Sowjetunion darf nicht gerüttelt werden. – Terror und überzogene Kontrolle der Gesellschaft fördern nicht die Stabilität und Leistungsfähigkeit des politisch-sozialen Systems. Innerhalb dieses Rahmens versuchte der neue Parteichef Kádár nach 1956, das kommunistische Regime in wenigen Jahren zu stabilisieren. Dies gelang nicht zuletzt deshalb, weil Kádár – nach einer Phase der Verfolgung und Repression unmittelbar nach 1956 – politische Zugeständnisse machte: Zunehmend wurden der Totalitätsanspruch der Partei gegenüber dem Volk gelockert (anstatt „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ lautete die neue Losung „Wer nicht gegen uns ist, ist für uns“) und weniger ostentative ideologische Lippenbekenntnisse von der Bevölkerung verlangt. Auch der zurückhaltende Führungsstil von Kádár sowie die nüchterne Einschätzung der außenpolitischen Gegebenheiten (nicht nur die eigene Erfahrung von 1956, später auch die der Tschechen 1968) erleichterten es den Ungarn, sich mit dem Regime zu arrangieren. Zunächst konzentrierte sich die ung. [ungarische] Reformpolitik auf die Wirtschaft. Nach dem VIII. Parteitag der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) wurde ab Anfang 1968 der „neue Wirtschaftsmechanismus“ in die Praxis umgesetzt. Ziel war und ist heute weiter eine Reform des Zentralverwaltungssystems durch verstärkte Einbeziehung von Marktmechanismen, durch Verlagerung von Initiative und Verantwortung nach unten in die Unternehmen sowie die Steigerung deren internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Eine engere Verflechtung mit der Weltwirtschaft wird angestrebt. Früher als in anderen RGW-Ländern wurde sich die ungarische Führung der Interdependenz von wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Reformen bewusst. In den 60er und 70er Jahren erwiesen sich Reformen allerdings als außerordentlich schwierig: u.a. wegen der Abhängigkeit Ungarns von der seinerzeit ideologisch starrkonservativen Sowjetunion, zum anderen wegen der „verknöcherten ideologischen Ansichten“ ([Mátyás] Szűrös) großer Teile der Parteiführung. Seit Beginn der 80er Jahre ist die Diskussion über die notwendigen Veränderungen im „politischen Überbau“ wieder in Gang gekommen. Eine der Grundüberlegungen ist dabei, dass auch in einer sozialistischen Gesellschaft Interessengegensätze zwischen



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Teilen der Gesellschaft bestehen, sich also nicht mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der Schaffung kommunistischer Institutionen (nach einer Übergangszeit) auflösen. Damit rückt die Frage der Ausgleichsmechanismen zwischen den Teilinteressen untereinander sowie zwischen diesen und dem allgemeinen nationalen Interesse in den Mittelpunkt. Schon 1983 bezeichnete das PB-Mitglied [György] Aczél die „Abstimmung der Interessen“ als Kardinalfrage der politischen Reform. 2. Diese theoretische Anerkennung der Existenz verschiedener „Gesellschaftsinteressen im Sozialismus“, die einen scharfen Bruch mit klassischen marxistisch-leninistischen Dogmen bedeutet, hat sich bereits in einem für WP-Staaten bemerkenswerten Funktionswandel bestehender politischer Organe niedergeschlagen: 2.1 Die Regierung unter der Leitung des dynamischen MP [Ministerpräsident] [Károly] Grósz ist offensichtlich gewillt, sich selbst ein stärkeres Gewicht zu geben und mehr als nur Direktiven der Partei auf dem staatlichen Sektor auszuführen. Inwiefern dies nur aufgrund der starken Stellung von MP Grósz in der Partei möglich ist, muss dahingestellt bleiben. 2.2 Von überragender Bedeutung für die Umgestaltung des politischen Systems ist die zukünftige Interpretation der Stellung und Aufgabe der Partei im Machtgefüge. Die Diskussion hierüber ist noch nicht abgeschlossen. Ziel ist aber offenbar, die Partei von operativ-administrativen Aufgaben in Staat und Wirtschaft zu befreien und ihre Rolle auf eine Art „Richtlinienkompetenz in grundsätzlichen Fragen“ zu beschränken. Gleichzeitig soll die innerparteiliche Demokratie gestärkt werden (auch durch Wahl von leitenden Funktionären). In der Diskussion ist auch die Einführung eines Mehrparteiensystems kein Tabu; indessen haben MP Grósz und andere Mitglieder der Parteiführung klargestellt, dass die USAP die einzige zugelassene Partei bleiben soll. Die offene Austragung von Interessengegensätzen soll durch die Schaffung entsprechender politischer Institutionen ohne Zulassung anderer Parteien ermöglicht werden. Folgende Möglichkeiten zeichnen sich hierfür ab: 2.3 In der Nationalversammlung hat die Änderung des Wahlrechts (öffentliche Kandidatenaufstellung; mindestens zwei Kandidaten pro Wahlkreis, die jedoch die wesentlichen Grundlagen des sozialistischen Gesellschaftssystems nicht in Frage stellen dürfen) zu einer Stärkung des Selbstbewusstseins der Abgeordneten geführt. Diese befürworten nicht mehr alle Vorschläge der Regierung ohne Sachdiskussion einstimmig, sondern diskutieren Gesetzesvorlagen kritisch; auch Gegenstimmen kommen vor. Bei der letzten Tagung der Nationalversammlung im Dezember 1987 waren die Abgeordneten nicht mehr bereit, ohne Diskussion ihre Zustimmung zu den Vorschlägen für Veränderungen innerhalb der Regierung zu geben. Die prominentere Rolle des Parlaments im politischen Entscheidungsprozess ist gewollt. Es zirkulieren im ZK bereits Vorschläge zur Auflösung des

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Präsidialrats, der bisher das Parlament in den langen sitzungsfreien Intervallen vertreten hat. Kompetitivere Wahlen und eine stärkere Kontrolle der Regierung durch das Parlament werden vom Reformflügel als unabdingbare Voraussetzung für eine auch nur ansatzweise Gewaltenteilung angesehen. Die Einführung plebiszitärer Elemente in den politischen Entscheidungsprozess nach dem (allerdings nicht sehr glücklichen) polnischen Vorbild [ist vorgesehen]. Für die Parteiführung hätten Referenden den Vorteil, keine Erweiterung der Kompetenzen bereits bestehender Vertretungsorgane zu erfordern, die dann möglicherweise ein nicht gewolltes und nur schwer kontrollierbares politisches Eigenleben führen. 2.4 Der Ungarische Gewerkschaftsbund fühlt sich verpflichtet, stärker als bisher zumindest gewisse Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten. Damit versucht er auch, die Vertrauenskrise seiner Mitglieder aufzufangen, die sich in zahlreichen Austritten sowie der hie und da erhobenen Forderung nach unabhängigen Gewerkschaften ausdrückt. In einer Zeit des fallenden Lebensstandards tut er sich schwer, die Regierungspolitik im Lenin’schen Sinne als „Transmissionsriemen“ seinen Mitgliedern nur zu erklären und sie zur vollen Unterstützung zu motivieren. 2.5 Die Patriotische Volksfront (PV) als eine auf rd. 5000 Volksfront-Komitees aufbauende Sammelorganisation, die die verschiedenen Kräfte der Gesellschaft zusammenschließt und an der Wahl und Arbeit der Volksvertretungen mitwirkt, hat eine politische Aufwertung erfahren. Eine „Demokratisierung“ durch nicht-repräsentative, korporative politische Vertretungsorgane wie die PV, in denen unterschiedliche soziale Gruppen ihre Interessen artikulieren, wäre noch am leichtesten mit dem marxistischen Staats- und Gesellschaftsmodell zu vereinbaren. Die PV tritt zunehmend selbstständig und selbstbewusst auf. Unter ihrem Generalsekretär [Imre] Pozsgay profiliert sie sich zunehmend als Organisation auch halboffizieller gesellschaftlicher Initiativen und als Instrument eines begrenzten Demokratisierungsprozesses. Dies reicht bis hin zu Veranstaltungen, zu denen auch Dissidenten geladen werden. Indem sich die Volksfront bemüht, sich auch Themen anzunehmen, die für Regierung oder Partei zu sensibel sind (in der Vergangenheit z. B. Umweltschutz, ungarische Minderheit in Rumänien), fängt sie populären Unmut auf und kanalisiert ihn, bis die Regierung die Zeit für eine Übernahme der Angelegenheit für gekommen hält. 2.6 Angeblich sollen auch Pläne zur Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit bestehen, was in der Tat die Stellung des einzelnen Bürgers gegenüber dem Staat grundlegend stärken könnte. 3. Im Gegensatz zur Sowjetunion, in der die Politik der „Umgestaltung“ gegen den Widerstand von Teilen des Partei- und Staatsapparats durchgesetzt werden muss, verfügen die ungarischen Reformer aufgrund einer mehr als zwanzigjährigen Praxis



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nicht nur über eine breite Basis in der Partei, sondern finden auch Unterstützung in der Bevölkerung, in der die Traditionen einer europäisch-demokratischen politischen Kultur noch weiterwirken. In der Partei dominiert der Reformflügel zwar zum gegenwärtigen Zeitpunkt, wobei mit den eher konservativen Kräften Konsens darüber besteht, dass der Reformprozess weitergeführt werden muss. Differenzen gibt es hingegen über Ausmaß und Tempo der Umgestaltung. Eine Entscheidung darüber wird voraussichtlich erst fallen, wenn der Kádár-Nachfolger bestimmt wird. 4. Eine der von der ungarischen Führung erhofften Wirkungen der Reformen ist die Unterstützung der Bevölkerung für eine ökonomische Rosskur. Ob sich dieser Effekt langfristig einstellen wird, ist aufgrund des sinkenden Lebensstandards weiter Bevölkerungskreise unsicher. Bislang haben populäre Maßnahmen wie die Erleichterungen der Auslandsreisen, die Minderheitenpolitik im Lande und das Eintreten für die Rumänienungarn dazu beigetragen, dass größere Unruhe nicht entstanden ist. 5. Das Zugestehen von Freiheiten zieht jedoch auch in Ungarn das Verlangen nach mehr Freiheit nach sich. Die nicht genehmigte, aber auch nicht von der Polizei aufgelöste Demonstration am Jahrestag des ungarischen Aufstands 1848 (15. März; etwa 10.000 Teilnehmer!), bei der auf Transparenten u.a. Presse-und Versammlungsfreiheit gefordert wurden, veranschaulicht dies. Offen bleibt, wie die ung. Führung bei der Verstärkung solcher Entwicklungen und gleichzeitigem Anwachsen des Unmuts über das Sinken des Lebensstandards reagieren wird. 6. Im Mai oder Juni d. J. wird die zweite Parteikonferenz zusammentreten (die erste fand 1957 statt). Die Reformer werden bemüht sein, ihren Kurs eindrucksvoll bestätigen zu lassen. Aufschlussreich wird es sein, in welchem Ausmaß dies gelingen wird. In einem engen Zusammenhang damit steht auch die Führungssituation: In erster Linie die Nachfolge von Kádár, der immer mehr als ein Hindernis für und weniger als ein Garant für Reformen empfunden wird. In zweiter Linie aber auch Änderungen im Politbüro und in der Regierung, in der eher konservative Kräfte weiter großen Einfluss haben. [Christoph] Derix [Unterschrift] Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

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Dokument 11 Stellungnahme der Landeskonferenz der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei über die Reform des politischen Systems vom 22. Mai 1988 (gekürzt) Die im Zuge mehrmonatiger heftiger innerparteilicher und „gesellschaftlicher“ Diskussionen vorab ausgearbeitete Landeskonferenz-Stellungnahme vom 22. Mai 1988 gesteht eingangs offen die größtenteils eigene Schuld von Partei und Regierung an der sich verschlechternden wirtschaftlich-gesellschaftlichen Lage Ungarns ein. Im I. Teil befasst sich das Dokument zuerst mit dem Ziel der umfassenden und tiefgreifenden inneren Erneuerung der Partei und mit der Neuinterpretation ihrer „führenden Rolle“, die sie in Zukunft unter gesetzlich geregelten Rahmenbedingungen ausüben sollte. Dann folgen Vorhaben zur Reform der Staatsorganisation bzw. zur Stärkung der politischen Funktionen von Regierung, Parlament und Räten, und schließlich wird auf die Ausweitung der Selbstständigkeit der Massenorganisationen und der „Öffentlichkeit“ im gesellschaftlich-politischen Leben eingegangen. Für diese politischen Reformen im Rahmen des Einparteiensystems prägt die Stellungnahme den Begriff „sozialistischer Pluralismus“. Der II. Teil bekräftigt die wirtschaftlichen Zielsetzungen des „Entfaltungsprogramms“ vom Sommer 1987 (siehe Dokument 1), wobei in diesem Zusammenhang erstmals von „sozialistischer Marktwirtschaft“ gesprochen wird. Und im III. Teil werden die außenpolitischen Zielsetzungen unter den gewandelten internationalen Umständen erörtert sowie ein zunehmendes Gewicht nationaler Fragen (Minderheitenproblematik) und der Kooperation mit den „entwickelten kapitalistischen Staaten“ im Rahmen der weiterhin dominierenden Ostintegration konstatiert. Abschließend ruft die Stellungnahme die Bevölkerung auf, sich aktiv an den politischen Zielsetzungen der Partei zu beteiligen. Der in der – am 23. Mai 1988 im Parteiorgan „Népszabadság“ (Volksfreiheit) veröffentlichen – Stellungnahme formulierte und mit der Parteikonferenz implementierte neue innenpolitische Kurs führte im Sommer/ Herbst 1988 zu ungeahnten und von der Parteiführung nicht beabsichtigten Entwicklungen in der ungarischen Gesellschaft, die schließlich den Rahmen des ungarischen Einparteiensystems sprengen sollten. *** Stellungnahme der Landeskonferenz der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei über die Aufgaben der Partei und die Entwicklung des Systems der politischen Institutionen vom 22. Mai 1988 Der im März 1985 abgehaltene XIII. Parteitag der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei beschloss, die Voraussetzungen für die Verbesserung des Wirtschaftsgleichgewichts und für die spürbare Anhebung des Lebensniveaus mittels der besseren Nutzung der Kraftquellen des sozialistischen Systems und der Hebung der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft zu schaffen, die Schaffenskraft der Gesellschaft mittels



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der Ankurbelung von Wissenschaft, Kultur und Bildung zu fördern und die nationale Einheit durch die Entwicklung unserer demokratischen Institutionen zu stärken. Die auf dem Parteitag angenommene Lageanalyse sowie die auf dieser Grundlage festgelegten Ziele der Wirtschaftspolitik und der Lebensniveauförderung haben sich als nicht fundiert erwiesen. Im VII. Fünfjahresplan erhielten mehr Ziele Priorität, als in der Realität zu verwirklichen waren. Unsere Wirtschaftslage hat sich nicht verbessert, der Schuldenstand des Landes in konvertibler Valuta ist gestiegen, die Inflation hat sich beschleunigt, die Lasten für die Bevölkerung haben zugenommen und das Lebensniveau ist gesunken. Diese Situation wurde zum Teil durch von uns unabhängige Faktoren hervorgerufen, größtenteils aber durch innere Gründe, durch die Mangelhaftigkeit unserer Tätigkeit. Die Wirkung des in der Weltwirtschaft abgelaufenen und bis heute andauernden Wandlungsprozesses auf die ungarische Wirtschaft wurde vom Zentralkomitee und von der Regierung falsch eingeschätzt, weswegen die wirtschaftspolitische Reaktion nicht angemessen war. Wir stellten uns den Konflikten, die mit der Zurückdrängung der unwirtschaftlichen Produktion und dem Abbau der Subventionen auf jeden Fall einhergehen, aber nicht und dachten, sie seien vermeidbar. Die Verteilung richtete sich nicht nach dem tatsächlich produzierten Einkommen. All dies verursachte einen weiteren Verfall des inneren und äußeren Gleichgewichts und führte zu einer wachsenden Verschuldung. Es wurde klar, dass die ungarische Wirtschaft nur dann dauerhafte Ergebnisse erzielen kann, wenn die begonnenen Reformen fortgeführt werden und sich das Funktions- und Lenkungssystem einer sozialistischen warenproduzierenden Wirtschaft – entsprechend unserer Entwicklung und unseren Gegebenheiten – herausgebildet hat. Deren Verwirklichung wurde dadurch erschwert, dass sich die in der Wirtschaft begonnene Reform nicht rechtzeitig auf andere Gebiete des gesellschaftlichen Lebens ausgedehnt hat. Die sich in der Wirtschaft verschärfenden Widersprüche sind teils Verursacher, teils Konsequenzen der Störungen, die sich in den gesellschaftlichen Verhältnissen und bei der Funktion des Systems der politischen Institutionen offenbart haben. Die Wirtschaftsentwicklung wird auch durch gesellschaftliche Umstände wie das Zurückbleiben des Niveaus der Schulbildung, der Fachkenntnisse und der Bildung hinter den Erfordernissen der Zeit gebremst. Die Verringerung der Bevölkerungszahl – insbesondere der Zahl der arbeitsfähigen Personen – und ihr unzureichender Gesundheitszustand wirkt sich negativ auf die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft aus. Die öffentliche Meinung spiegelt diese Widersprüche wider und die Bevölkerung zeigt wachsende Unzufriedenheit wegen der Stagnation der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen und der diesbezüglichen Schwierigkeiten. Die allgemeine Stimmung ist schlechter geworden und das Vertrauen gegenüber der Partei und den Führungspersönlichkeiten hat sich verringert. Neben der realen Lageanalyse

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und der Handlungsbereitschaft gibt es Pessimismus und Enttäuschung und es gewinnen nicht fundierte, irreale Vorstellungen an Raum. Die Verantwortung für die entstandene Situation lastet auf dem Zentralkomitee und den Exekutivorganen sowie außerdem auch auf der Regierung und ihren Institutionen. Ein Teil der Entscheidungen war nicht fundiert und in mehreren wichtigen Fragen konnten sie den Beschlüssen keine Geltung verschaffen. Die Praxis und der Arbeitsstil der Partei- und Staatsorgane sowie der gesellschaftlichen Organisationen wandelten sich nicht entsprechend den Erfordernissen. Der Beschluss des Zentralkomitees vom November 1985 erklärte, dass eine Wende notwendig sei. Daraufhin arbeitete das Zentralkomitee im Juli 1987 – unter Berücksichtigung der Vorschläge der Parteiaktivisten, der wissenschaftlichen Institutionen und der gesellschaftlichen Organisationen – das Programm der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entfaltung aus. Auf dieser Grundlage erstellte dann die Regierung ihr Stabilisierungsprogramm, das vom Parlament angenommen wurde. Es begann die Erneuerung der Regierungsarbeit. In der Wirtschaft offenbaren sich Zeichen einer kleineren Verbesserung, die notwendige Wende ist allerdings noch nicht eingetreten; ihre Voraussetzungen sind nur während einer längeren Zeitspanne zu schaffen. Unser Fortschritt und der Wohlstand der Nation erfordern es, dass wir auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens eine Wende herbeiführen: Wir müssen die Reformprozesse beschleunigen, die Erneuerung der Funktionsweise der wirtschaftlichen und politischen Institutionen aufeinander abgestimmt fortsetzen sowie dazu beitragen, dass sich die Schaffenskraft der Gesellschaft entfaltet. Mit der Entwicklung der Wirtschaft und der sozialistischen Demokratie kann erreicht werden, dass der berechtigte Anspruch der Gesellschaft erfüllt wird: Die Existenzsicherheit soll erhalten bleiben, die Einkommen sollen sich entsprechend der Leistungen entwickeln, die Inflation soll sich verringern, der Berufsbeginn der Jugend sowie der Unterhalt und die Erziehung der Kinder soll einfacher werden und die Fürsorge für die Alten sowie für Menschen, die nicht aus eigenem Verschulden in eine schwierige Lage gekommen sind, soll sich allgemein durchsetzen. Dadurch können wir unserer immer aktuellen Verpflichtung, die Werte der Nationalkultur zu bewahren und zu pflegen, die gesellschaftliche Solidarität zu stärken und das moralische Niveau der Gesellschaft anzuheben, Genüge leisten. Die größte Garantie für das Erreichen unserer Ziele ist die sozialistische Gesellschaftsordnung, deren Grundlage die – unter der Führung der Arbeiterklasse, mit der Kraft des Bündnisses von Arbeiter und Bauern und mit Unterstützung der Intellektuellen ausgebaute – Macht des Volkes, das gesellschaftliche Eigentum am entscheidenden Teil der Produktionsmittel, die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei sowie die Stärkung und Entwicklung der Basisinstitutionen unserer Gesellschaft bilden. Die Teilnahme der Kommunisten und der parteilosen Anhänger des Sozialismus an der Gestaltung der Politik, die Erneuerung der personellen Zusammensetzung der Führungsgremien, die Modernisierung des Systems der politischen



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Institutionen sowie die Offenheit und Öffentlichkeit der Politik machen den Prozess der Reform unseres gesellschaftlichen und politischen Lebens unumkehrbar. Die Parteikonferenz hält es für notwendig, dass das Zentralkomitee einen Arbeitsausschuss bildet, der eine tiefere Analyse der Situation durchführt, die Gründe [für die Probleme] aufdeckt und – auch unter Nutzung der Erfahrungen der jüngst durchgeführten Diskussionen – ein perspektivisches Programm zum Aufbau des Sozialismus skizziert. In diesem Rahmen muss die Notwendigkeit der Ausarbeitung einer neuen Programmerklärung untersucht werden. I. 1. Die Landeskonferenz der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei [MSZMP] hält es für notwendig, den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformprozess koordiniert fortzusetzen und zu beschleunigen. Da die MSZMP ihre führende Rolle unter den historisch entstandenen Bedingungen des Einparteiensystems erfüllt, ist der Ausgangspunkt der Fortsetzung der umfassenden Reform die Erneuerung der Funktionsweise der Partei. a) Die Partei soll den politischen Charakter ihrer Aktivitäten stärken. Sie soll sich im Zuge der Ausarbeitung ihrer Politik noch stärker auf die Ergebnisse der Wissenschaft und auf die praktischen Erfahrungen stützen. Sie soll die politische Vorbereitung der Parteibeschlüsse und – nach den Entscheidungen – die Überzeugungs-, Organisations- und Kontrollarbeit verbessern. Die Partei soll ihre Aktivitäten auf die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse, auf die Bestimmung der dem Schutz der sozialistischen Ordnung und der Gesetzmäßigkeit dienenden Grundprinzipien, auf die Bestimmung der Entwicklungsrichtung der Volkswirtschaft, auf die Beeinflussung des geistigen und ideologischen Lebens der Gesellschaft, auf die Verbesserung der moralischen Zustände sowie auf die Entwicklung unserer außenpolitischen Prinzipien und Ziele und auf die Entwicklung der internationalen Beziehungen konzentrieren. Sie soll nicht den Aufgabenbereich des Staates und der gesellschaftlichen Organisationen übernehmen, sondern ihre führende Rolle unter gesetzlichen Rahmenbedingungen durch die Aktivitäten ihrer Mitglieder, Organisationen und Gremien sowie durch politische Richtungsweisung zur Geltung bringen, wobei sie sich darum bemühen soll, breite Unterstützung zu gewinnen. b) Die Partei ist gemäß dem Prinzip des demokratischen Sozialismus organisiert und tätig. In der gegenwärtigen Situation ist die Stärkung und möglichst vollständige Entfaltung der innerparteilichen Demokratie die Hauptaufgabe. Während der Parteitage entscheidet das Zentralkomitee über Angelegenheiten, die die gesamte Partei betreffen, und sie nimmt Stellung zu Fragen, die die Gesellschaft und Wirtschaft anbelangen. In Angelegenheiten von großer Tragkraft soll das

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Zentralkomitee aufgrund von im Voraus abgehaltenen parteiinternen Diskussionen, die sich auf die gesamte Mitgliederschaft erstrecken, entscheiden und die wichtigeren Vorschläge sollen von den Gebiets-, Instituts- und Betriebsparteiausschüssen im Voraus begutachtet werden. Neben dem Zentralkomitee und – bei Bedarf – neben den Gebietsparteiorganisationen können Beratungsgremien eingerichtet werden, um die Beschlüsse und Stellungnahmen vielseitig zu untermauern. Gleichzeitig mit der Verbesserung der zentralen Lenkung muss die Teilnahme der Gebietsparteiorgane und der Parteiorgane an den Arbeitsplätzen, der Basisorganisationen und der Parteimitglieder an der Ausgestaltung der Politik sichergestellt und ihre Selbstständigkeit und Verantwortung bei der Vertretung der Politik der Partei und bei der Organisation und Kontrolle der politischen Aktivitäten erhöht werden. Es sind das Recht und die Pflicht der Basisorganisationen und Gremien der Partei, die von ihnen für notwendig erachtete Verhandlung bzw. Diskussion von Fragen bei den höheren Organen zu initiieren. Das höhere Parteiorgan ist verpflichtet, die Vorschläge auf der Versammlung des Gremiums abzuwägen. Über die Entscheidung und deren Begründungen soll die initiierende Parteiorganisation informiert werden. Der Kompetenzbereich der Basisorganisationen muss derart erweitert werden, dass er mit der Selbstständigkeit der auf ihrem Tätigkeitsgebiet liegenden staatlichen Organe, Unternehmen und Institutionen in Einklang steht. Wichtiger Bestandteil der Erneuerung der Parteiarbeit sind die Änderung des Entscheidungssystems und die Beschleunigung der Entscheidungsprozesse. Bei der Vorbereitung der politischen Entscheidungen sollen die Führungsgremien die Meinungen und Vorschläge der gesellschaftlichen Organisationen, der Interessenvertretungsorgane und der öffentlichen Foren in Erwägung ziehen. Es sollen nach Möglichkeit Entwürfe mit mehreren Varianten und unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Zusammenhänge und Auswirkungen erstellt werden. Auf der Sitzung des entscheidungsbefugten Parteiorgans sollen auch Vorstellungen, die von den Vorschlägen abweichen, vorgestellt werden und das Gremium soll über diese eine Stellungnahme abgeben. In der Partei kommt das Prinzip der kollektiven Führung zur Geltung. Diejenigen, die an den Entscheidungen und an ihrer Durchführung teilnehmen, sind persönlich politisch verantwortlich. Die Kontrolle der Durchführung soll auf allen Ebenen der Parteiarbeit zu einer regelmäßigen Aufgabe werden. Sie soll sich auch darauf erstrecken, ob die Praxis die Richtigkeit der Politik und der einzelnen Entscheidungen bestätigt. Die Ergebnisse der Kontrolle werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wobei – wenn nötig – auch auf die persönliche Verantwortung der an der Entscheidungsvorbereitung, Beschlussfassung und Durchführung beteiligten Personen eingegangen wird. Die Entwicklung der innerparteilichen Demokratie begründet es, das parteiinterne Wahlsystem zu modifizieren. Es muss möglich gemacht werden, dass die Basisorganisationen bzw. die unteren Parteiorgane einen bestimmten Teil der Mitglieder



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der Leitungsgremien direkt wählen und sie diese Personen, wenn sie mit ihrer Arbeit oder ihrem Verhalten unzufrieden sind, zurückberufen können. Die Wahlen sollen auf allen Ebenen geheim sein. Überall, wo dies gefordert wird, sollen mehrere Personen als Kandidaten aufgestellt werden. Bei der Auswahl der Delegierten der Parteitage und der Mitglieder der Gremien sollen keine statistischen Gesichtspunkte zur Geltung kommen. Die leitenden Parteiausschüsse dürfen die Wahl der Leiter und Funktionsträger der Basisverbände und die Wahl der mittleren Parteigremien nicht beeinflussen. Das neue Wahlsystem innerhalb der Partei muss ab 1988 schrittweise eingeführt werden. Die Leitungsfunktion soll überall von gewählten Gremien und bei den Basisorganisationen von der Mitgliederversammlung ausgeübt werden. Aufgabe der Apparate ist es, gemäß der Richtungsweisung der Gremien die Entscheidungsvorbereitung, die Bekanntgabe der Entscheidungen, ihre Anwendung und Verwirklichung sowie die Zusammenfassung der Erfahrungen zu organisieren und zu fördern. Die fachliche Zusammensetzung und Organisation der unter der Leitung der gewählten Gremien tätigen Apparate und die Kompetenz ihrer Mitglieder sollen sich entsprechend den sich verändernden Aufgabenbereichen der Parteiorgane entwickeln. c) Die ideelle, politische, organisatorische und Handlungseinheit der Partei muss kontinuierlich neu geschaffen werden. Die Kommunisten sollen auf allen Foren ihre Meinung offen und verantwortungsbewusst zum Ausdruck bringen, ihre Bedenken aber auf den Foren der Partei aufwerfen. Sowohl in den Basisverbänden als auch in den Führungsgremien muss die sachliche und geduldige politische Diskussion, bei der die Argumente und nicht die Position eine Rolle spielen, allgemein durchgesetzt werden. Die Parteimitglieder sind verpflichtet, den Standpunkt der Parteigremien öffentlich zu vertreten. Die Führungspersonen sollen darin ein Vorbild zeigen. Die Parteimitglieder dürfen außerhalb der zuständigen Parteiforen keine Erklärungen abgeben, die vom Geiste der angenommenen Beschlüsse abweichen; Fraktionen zur Unterstützung von Sondermeinungen dürfen nicht organisiert werden. Diejenigen, die mit ihrer Meinung in der Minderheit geblieben sind, dürfen ihren Standpunkt bei den Beratungen der Parteiorgane und auf den theoretischen Foren der Partei zum Ausdruck bringen bzw. es steht ihnen das Recht zu, sich zur Neuverhandlung der strittigen Angelegenheit an ihre eigenen Basisorganisationen und Gremien oder an das höhere Parteiorgan zu wenden. Solange aber der Beschluss gültig ist, sind sie verpflichtet, sich daran zu halten bzw. ihn durchzuführen. Vor der Entscheidung bzw. beim Ausstehen einer Entscheidung dürfen die Parteimitglieder ihren eigenen Standpunkt vertreten. Zum Zwecke der Stärkung der Handlungseinheit sind eine Praxis und ein Informationssystem notwendig, die bzw. das den Parteimitgliedern kontinuierlich die Gründe für die Entscheidungen und Beschlüsse sowie die diesbezüglichen Aufgaben

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bekannt gibt. Die Informationen sollen sich auch die Varianten, die sich im Zuge der Vorbereitung der Entscheidungen aufwerfen, erstrecken. Die Parteimitglieder müssen laufend über die Arbeit und die Beschlüsse des Zentralkomitees und seiner Exekutivorgane sowie der Zentralen Kontrollkommission informiert werden. Die Mitglieder des Zentralkomitees sowie die gewählten oder ernannten Parteifunktionäre aller Ebenen sollen sich häufiger mit den Basisverbänden treffen, es soll einen mittelbaren und unmittelbaren Kontakt zwischen den Führungspersonen und den Mitgliedern geben. d) Bei der Durchsetzung der führenden Rolle der Partei kommt der Kaderarbeit eine entscheidende Bedeutung zu. Den kaderpolitischen Prinzipien der Partei muss Geltung verschafft werden. Die Parteiorgane sollen – unter Abwägung der Meinung der Wähler – Vorschläge für die Besetzung politisch wichtiger Führungsämter machen. Sie sollen sich für die Sauberkeit der Wahlen und der Ernennungen, für ihre Gesetzmäßigkeit sowie gegen Protektion und prinzipienlose Verflechtung einsetzen. Der oberste Maßstab zur Beurteilung der Kandidaten soll ihre Befähigung und bei den amtierenden Leitern ihre Leistung, der Erfolg ihrer Arbeit sowie ihre menschliche Ehrlichkeit sein. Die Einhaltung der moralischen Normen und der Schutz der Sauberkeit des öffentlichen Lebens sind von allen Führungspersonen und von allen Parteimitgliedern streng einzufordern. Der Kreis der Funktionen, die auf dem Wege der Ausschreibung und für begrenzte Zeit zu besetzen sind, ist zu erweitern. Auf allen Gebieten des politischen und gesellschaftlichen Lebens sind talentierte junge Menschen in wesentlich größerer Zahl für Führungsämter zu nominieren. In den Führungsgremien der Partei- und Staatsorgane sowie der gesellschaftlichen Organisationen soll die wechselseitige Repräsentation verringert werden. Die Dezentralisierung der Kaderkompetenzen soll fortgesetzt werden und die Zahl der Ämter in Partei, Wirtschaft und Gesellschaft, die in den Kompetenzbereich übergeordneter Parteiorgane gehören, soll verringert werden. Die Mitglieder des Politbüros und des Sekretariats, der Vorsitzende und der Sekretär des Zentralen Kontrollausschusses sowie die Sekretäre des Budapester Parteiausschusses und der Parteiausschüsse der Komitate, der Parteiausschüsse mit Komitatsrechten sowie der Parteiausschüsse der Städte und Budapester Bezirke können – wenn sie für diese Arbeit geeignet sind – für dasselbe Amt höchsten für zwei Zyklen gewählt werden. Das Zentralkomitee setzt dieses Prinzip auch bei der Ernennung der Abteilungsleiter durch. Es muss auch für die angemessene Vermittlung der Führungspersonen, die aus ihren Ämtern ausscheiden, gesorgt werden. Die Veränderungen, die im Innenleben der Partei eingetreten und geplant sind, begründen die Ausarbeitung neuer Organisationsstatuten. Das Zentralkomitee setzt hierzu einen Arbeitsausschuss, der dem XIV. Parteitag einen diesbezüglichen Vorschlag unterbreiten soll, ein.



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e) Die konsequente Fortsetzung und Erneuerung der Bündnispolitik ist eine unverzichtbare Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus. Die MSZMP entwickelt sich im Zuge der Umwandlung der Klassen- und Schichtenverhältnisse der Gesellschaft, der [auf den Erfahrungen gründenden] Bereicherung der Politik der Partei und der Ausweitung des Aufbaus des Sozialismus zu einer Partei des Volkes. Sie hält auch weiterhin die Verwirklichung der historischen Ziele der Arbeiterklasse, die nationale Interessen ausdrücken, für ihre wichtigste Aufgabe. Sie setzt die bewährten Traditionen des Bündnisses von Arbeitern und Bauern fort und wendet sie auf die gegenwärtigen Verhältnisse an. Sie baut auf die Unterstützung und aktive Teilnahme der Intellektuellen und der Jugend und rechnet damit. Sie hält es für eine wichtige Aufgabe, Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen und die schöpferischen Kräfte der Nation zu vereinen. Wir arbeiten mit allen Staatsbürgern, die andere Auffassungen und eine andere Weltanschauung vertreten, zusammen, wenn sie zum Wohle unserer sozialistischen Heimat aktiv tätig sind und unsere Verfassungsordnung und internationalen Verpflichtungen achten. Wir verkünden den Standpunkt der Partei mit Überzeugung, wir beachten aber auch divergierende Anschauungen. Wir betrachten konstruktive Kritik und Vorschläge für eine wichtige Triebkraft unseres Fortschritts. Wir beurteilen unterschiedliche Vorstellungen nach ihrem Inhalt. Die Parteiorgane, die Institutionen der Volksmacht und die Gremien der gesellschaftlichen Organisationen sollen auch Konzeptionen, die von ihren eigenen Vorstellungen abweichen, untersuchen und sie sollen ihre Programme um verwertbare Vorschläge bereichern. Sie sollen sich aber auch offen und argumentierend von Vorstellungen, die nicht mit unseren sozialistischen Prinzipien und nationalen Interessen zu vereinbaren sind, distanzieren. f) Die überwiegende Mehrheit des ungarischen Volkes sieht im Sozialismus die Zukunft der Nation und möchte aktiv an der Arbeit [zum Aufbau des Sozialismus] teilnehmen. Im allgemeinen Denken gewinnen zugleich bürgerliche sowie antisozialistische Anschauungen an Raum und es verbreitet sich politisch-ideologische Gleichgültigkeit. Die vor uns stehenden Aufgaben erfordern eine permanente Erneuerung der ideologischen Arbeit und Belebung des marxistischen Denkens. Die Theoriewerkstätten und wissenschaftlichen Forscher sollen die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse analysieren, die Gründe und tieferen Wurzeln negativer Phänomene und Tendenzen enthüllen, die einheimischen und internationalen Erfahrungen der sozialistischen Entwicklung aufmerksam verfolgen und verallgemeinerbare prinzipielle Schlüsse ziehen. Mittels einer intensiveren bewusstseinsformenden Arbeit sollen sie der Erkenntnis und dem Verständnis neuer Phänomene der gesellschaftlichen Entwicklung sowie der Entwicklung einer durch die Wirklichkeit bestätigten Werteordnung behilflich sein.

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Die Parteiorgane und Parteiorganisationen sollen Fragen, die die Mitglieder beschäftigen, regelmäßig auf die Tagesordnung setzen und Antworten auf diese geben. Sie sollen die Aufnahme neuer Gedanken, die der Entwicklung des Sozialismus dienen, fördern. Die Organisationen, Institutionen und Mitglieder der Partei sollen mit Argumenten ausschweifenden, konservativen und verzerrten Ansichten, die die Notwendigkeit sozialistischer Reformen leugnen bzw. unsere Prinzipien und unsere Politik von jeglicher Seite aus angreifen, entgegentreten. Sie sollen den wahren Charakter der Ideen und Bestrebungen, die dem Sozialismus entgegenstehen, aufzeigen. Sie sollen das Eintreten für den Sozialismus stimulieren, die wissenschaftlich unterlegte, realistische nationale Selbsterkenntnis vertiefen und das Nationalgefühl und das nationale Selbstwertgefühl kräftigen. Der Sozialismus nimmt die Werte der Menschheit ins sich auf und bewahrt und bereichert sie. Die Partei betrachtet es als ihre Aufgabe, das historische Erbe und das nationale Selbstbewusstsein zu pflegen sowie die Bindung an das Ungarntum, den handlungsbereiten Patriotismus und das internationalistische Denken sowie die Idee der Freundschaft der Völker zu stärken. Die Partei unternimmt Anstrengungen zur Festigung der Arbeitsmoral, zur Ausweitung des gemeinschaftsorientierten Verhaltens sowie zur größeren Respektierung der Liebe zur Arbeit, des Standhaltens, des Talents, der Bildung und des Fachwissens. Bei der Verwirklichung unserer Ziele wächst die Rolle und Bedeutung von Werten wie die Fähigkeit zu individueller Initiative, die Übernahme von Verantwortung, der Unternehmergeist und das Bewusstsein der Erneuerung. 2. Bedingung und Mittel der Durchsetzung und Ausübung der Volksherrschaft ist der auf der führenden Rolle der Partei basierende sozialistische Pluralismus. Er schafft die Möglichkeit, die verschiedenen Interessen institutionell zum Ausdruck zu bringen und abzustimmen und sie zu einem politischen Willen zu formen. Die Tätigkeit des sozialistischen Staates ist ein bestimmender Faktor in der Gesellschaft. Die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei führte in einer schweren historischen Situation – wobei sie die breite Unterstützung der Gesellschaft gewann – einen großen und erfolgreichen Kampf zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen und gesetzlichen Ordnung der Volksrepublik Ungarn. Und sie hält es auch weiterhin für ihre Hauptaufgabe, die Grundgesetze des Landes zu bewahren und bewahren zu lassen sowie die sozialistische Gesetzlichkeit zu schützen. Die gesellschaftliche und politische Entwicklung macht eine Überprüfung der Verfassung notwendig. Das sozialistische Staatswesen soll selbstständig und mit größerer Effizienz arbeiten, sein Aufgabenbereich und seine Verantwortung sollen geklärt werden. Die Arbeitsteilung zwischen Partei und Regierung sowie die Prinzipien, Mittel und Methoden des Einflusses der Partei auf den Staat müssen modernisiert werden. Die Partei soll ihre politischen Stellungnahmen in erster Linie über die in der Staats-



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organisation arbeitenden Kommunisten durchsetzen bzw. auf die Arbeit der Staatsorgane einwirken. Die Gremien der Volksvertretung sollen Foren der offenen politischen Diskussion sein. Hauptaufgabe des Parlaments ist die Gesetzgebung. Hierbei verfügt es über eine ausschließliche Kompetenz. Gleichzeitig soll es eine größere Rolle bei der Abstimmung der gesellschaftlichen Interessen, bei der Vertretung gemeinsamer Interessen, bei der Kontrolle der Gesetzeseinhaltung, bei der Festlegung des Rahmens der Regierungsarbeit und bei der Kontrolle der Regierung spielen. Die Abgeordneten, die Parteimitglieder sind, sollen in den Körperschaften der Volksvertretung die Politik der Partei mit überzeugenden Argumenten zur Geltung bringen. Unter Fortsetzung der im Ministerrat begonnenen Reorganisation muss die Arbeit der Staatsverwaltung auf landesweiter, regionaler und örtlicher Ebene gleichermaßen vereinfacht und verbessert werden. Die Räte sollen sich zu Institutionen der wirklichen Selbstverwaltung der Wohnorte entwickeln und gleichzeitig effektiv die Rolle eines örtlichen Exekutivorgans des sozialistischen Staats übernehmen. Sie sollen einen gesetzlich geregelten Anteil an den zentralen Quellen erhalten. Die Regierungsorgane sollen die Selbstständigkeit der Räte im Wirtschaftsleben und im Entscheidungsprozess sowie ihr Interesse an der Steigerung ihrer Einnahmen erhöhen. Die Bedingungen der Rätearbeit sollen auch dadurch verbessert werden, dass die Bestimmungen für die verschiedenen Amtshandlungen vereinfacht werden. Es ist begründet, dass das Parlament ein neues Gesetz über die Aufgaben, Organisation und Tätigkeit der Räte verabschiedet. Im Verhältnis zwischen dem Staat und den Staatsbürgern sind demokratische, gesetzlich geregelte Verhältnisse, die frei von Bürokratismus (sic!) sind und auf der Erfüllung der Pflichten und auf der gegenseitigen Achtung der Rechte basieren, notwendig. Die Art und Weise der Ausübung der Rechte der Staatsbürger und der Staatsorgane sowie die Erfüllung ihrer Pflichten muss geregelt werden. Es muss ein System zur Organisation der gesellschaftlichen Diskussionen entwickelt werden. Das Recht auf selbsttätige Organisation, Versammlung, Vereinigung und auf Gewissens- und Religionsfreiheit, die Rechte der Nationalitäten sowie die Garantien zum Schutz der individuellen und kollektiven Rechte müssen per Gesetz geregelt werden. Die Institutionen Verfassungsgericht und Verwaltungsgerichtsbarkeit müssen eingerichtet werden. Das Wahlsystem muss weiterentwickelt werden. Eine Modifizierung des Wahlgesetzes soll möglich machen, dass die verschiedenen Organisationen, staatsbürgerlichen Vereinigungen, Interessenverbände und Arbeitsorganisationen tatsächlich an der Auswahl und Vorstellung der Kandidaten beteiligt werden. Es muss ein Gesetz über die Anwendung der landesweiten und örtlichen Volksabstimmung verabschiedet werden. Die Staatsorgane sollen Maßnahmen ergreifen, um auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens die Gesetzmäßigkeit sowie die staatliche und staatsbürgerliche Disziplin zu stärken. Der Schutz der Sauberkeit des öffentlichen Lebens und die

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Anwendung der Strenge des Gesetzes gegen Machtmissbrauch, unberechtigte Vorteilsnahme und Protektion sind berechtigte Forderungen. 3. Die Selbstständigkeit der gesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen soll ausgeweitet werden. Sie sollen eine größere Rolle bei den politischen und staatlichen Entscheidungen, bei der Vorbereitung und Diskussion von Gesetzen und anderen Rechtsnormen und bei der Kontrolle ihrer Einhaltung, bei der Entwicklung der politischen Kultur sowie bei der Schaffung institutionalisierter, selbsttätiger Formen des demokratischen Gemeinschaftslebens spielen. Bei den wichtigsten, ihre Mitglieder betreffenden Fragen sollen sie selbstständig Lösungsvorschläge ausarbeiten. Auch in Zukunft fällt den Gewerkschaften, die Träger historischer Traditionen sind und die überwiegende Mehrzahl der Werktätigen vereinigen, große Verantwortung zu. Das partnerschaftliche Verhältnis, das die politisch führende Rolle der Partei anerkennt, soll größere Betonung erfahren. Die in diesem Rahmen selbstständig arbeitenden Gewerkschaften sollen in Vertretung der Interessen ihrer Mitglieder handeln, ihre Vorschläge unterbreiten und ihre eigenständigen Meinungen entwickeln. Sie sollen ihren Mitgliedern und den Staatsbürgern ihre Stellungnahmen und die Bestrebungen der organisierten Werktätigen bekannt machen und die Offenheit und Öffentlichkeit ihrer Arbeit ausweiten. Die staatlichen Organe sollen die Gewerkschaften in die Vorbereitung der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entscheidungen einbeziehen. Sie sollen jene Initiativen, die sich auf die Verbesserung der politischen und rechtlichen Bedingungen der Interessenvertretungsaktivitäten der Gewerkschaften und auf die Modernisierung der Bewegung richten, unterstützen. Die Patriotische Volksfront ist eine wichtige Institution des sozialistischen Pluralismus. Sie soll sich auch weiterhin für die allgemeine nationale Übereinkunft und für das dauerhafte Bündnis der verschiedenen Kräfte der Gesellschaft einsetzen. Sie soll für alle, die das nationale Programm des sozialistischen Aufbaus akzeptieren und aktiv am öffentlichen Leben teilnehmen wollen, Rahmenbedingungen der Aktivität und politische Foren schaffen. Die Patriotische Volksfront soll ihre Aktivitäten unter der prinzipiellen Führung der Partei und unter ihrer Mitwirkung selbstständig durchführen. Sie soll das gemeinsame Auftreten der gesellschaftlichen Organisationen und staatsbürgerlichen Vereinigungen zur Verwirklichung wichtiger gesellschaftlicher Ziele initiieren. Sie soll die Beziehungen und die Zusammenarbeit von Parteimitgliedern und Parteilosen fördern. Sie soll den Einfluss der Staatsbürger auf die Organe der Volksvertretung und der Staatsverwaltung mittels der Ausübung öffentlich-rechtlicher Funktionen und ihrer Rolle bei der Abwicklung von Volksabstimmungen stärken. Mit ihrer Arbeit als Bewegung sollen sie der Abstimmung der Interessen der verschiedenen Gemeinschaften, der Bereicherung der politischen Kultur der Gesellschaft sowie der Durchsetzung der Menschenrechte dienen. Die Parteiorgane sollen – im Zuge der Entwicklung und Bekanntmachung ihrer Standpunkte und politischen Vorstellungen – in größerem Maße von den Möglichkeiten der Foren der Volksfrontbewegung Gebrauch machen.



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Der Ungarische Kommunistische Jugendverband [KISZ] ist die einheitliche politische Massenorganisation der ungarischen Jugend. Der Jugendverband wird – unter Achtung seiner organisatorischen Selbstständigkeit – von der Partei geleitet. Der KISZ soll die sich in letzter Zeit entwickelnde neue Praxis der politischen Tätigkeit, die im Kreise der Jugend zum Ausdruck kommt, stärken. Er soll die Inte­ ressen der Jugend öffentlich vertreten und sich an der Vorbereitung gesellschaftspolitischer Entscheidungen beteiligen. Er soll einen kontinuierlichen Dialog mit den verschiedenen Gruppen, Zirkeln und Vereinigungen der Jugend führen und in seinem eigenen Rahmen Organisationsformen, die die Gliederung der Jugend besser vor Augen führen, schaffen. Es ist notwendig, die Organisationsmöglichkeiten der Jugend zu erweitern; wir sollen die Gründung von selbstverwalteten Jugendzirkeln, Klubs und Vereinigungen, die den Interessen und besonderen Belangen der jugendlichen Schichten und Gruppen entsprechen, unterstützen und fördern. Wir bauen in besonderem Maße auf gesellschaftliche Organisationen, Bewegungen, Genossenschaften, Verbände und Vereinigungen, die ihre Aktivitäten im Rahmen der Verfassung auf den verschiedenen Gebieten des Gesellschaftslebens, in der Wirtschaft, in der Kultur, im Gesundheitswesen, beim Umweltschutz sowie im Sport zum Ausdruck bringen. Die Parteimitglieder sollen initiativ an der Arbeit der gesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen teilnehmen und ihre effektive, sozialistisch ausgerichtete Tätigkeit fördern. 4. Ein wichtiger Teil der Ausweitung der sozialistischen Demokratie ist die gesellschaftliche Öffentlichkeit. Diese schafft gute Möglichkeiten, um sich im öffentlichen Leben zu informieren, um Unterschiede und Übereinstimmungen der Interessen zu identifizieren, um eine allgemeine Übereinkunft herbeizuführen und um eine Kon­ trolle durch die Gesellschaft zu erwirken. Die politische Öffentlichkeit soll sich auf das parteiinterne, das staatliche und das gesellschaftliche Leben sowie auf die Staatsbürgerrechte und auch auf die Art und Weise ihrer Ausübung erstrecken. Über die staatlichen und politischen Entscheidungen muss eine schnelle, genaue und regelmäßige Information geboten werden. Die Bevölkerung muss über Stellungnahmen des Zentralkomitees und der Exekutivorgane, die die Gesellschaft betreffen, und über die Beratungen der Parteiausschüsse auf den verschiedenen Ebenen informiert werden. Die Parteiorgane sollen die Öffentlichkeit ihrer Tätigkeit erweitern. Die Zeitungen und Zeitschriften der Partei sollen den Standpunkt der Parteigremien und Parteiorgane überzeigend vertreten und Raum zur Diskussion eröffnen. Die Partei soll mit den Mitteln und Methoden der prinzipiellen Lenkung ihren politischen Einfluss in den Massenmedien stärken. Die Staatsorgane, gesellschaftlichen Organisationen und Vereinigungen, die Zeitungen ins Leben rufen und unter-

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halten, tragen volle politische, fachliche, moralische und materielle Verantwortung für ihre Zeitungen. Die in den Massenmedien arbeitenden Personen sollen ihre Aufgaben mit Verpflichtung und Verantwortung versehen, ein getreues Bild von der Wirklichkeit geben, die sozialistische Aufbauarbeit unterstützen, gute Beispiele der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen populär machen und die dem Fortschritt im Wege stehenden Phänomene konstruktiv kritisieren. Und sie sollen beim Kampf gegen Phänomene, die die allgemeine Stimmung verderben sowie die Sauberkeit des öffentlichen Lebens und das Gerechtigkeitsgefühl verletzen, behilflich sein. II. 1. Unsere wichtigste Aufgabe in der Wirtschaft ist die Durchführung des am 2. Juli 1987 angenommenen Programms des Zentralkomitees sowie des Arbeitsprogramms des Ministerrats zur Stabilisierung [von Wirtschaft und Gesellschaft]. […] 2. Die Wirtschaftsreform, die der Entwicklung der funktionellen Voraussetzungen einer sozialistischen Marktwirtschaft dient, muss fortgesetzt werden. […]18 III. Die günstige internationale Beurteilung unseres Landes haben wir in erster Linie durch die Leistungen unserer Arbeit beim Aufbau des Sozialismus und durch unsere Reformpolitik sowie durch unsere darauf aufbauenden internationalen Aktivitäten erkämpft – und damit bewahren wir diese Beurteilung auch in Zukunft. Grundlegende Voraussetzung unserer inneren Aufbauarbeit ist der Friede und die Zusammenarbeit der Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen. Auf dieser Erkenntnis beruht die aktive internationale Politik unserer Partei und der Volksrepublik Ungarn. Unsere Außenpolitik, die von den unterschiedlichsten Schichten unserer Gesellschaft unterstützt wird, ist zu einem wichtigen Faktor des nationalen Zusammenhalts geworden. Der Wandel, der in der Sowjetunion und in anderen sozialistischen Ländern erfolgt, schafft günstige Voraussetzungen zur Verwirklichung unseres Programms der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erneuerung. Im friedlichen Wettbewerb der Gesellschaftsordnungen stärken die Erneuerungsprozesse die Positionen des Sozialismus und fördern die Vollendung der Entspannung. Unsere Heimat ist ein anerkannter Akteur in diesem Prozess, einer der Initiatoren und Teilnehmer des internationalen Dialogs.

18  Hier werden die grundlegenden wirtschaftspolitischen Zielsetzungen des Entfaltungsprogramms (siehe Dokument 1) bzw. des darauf aufbauenden Regierungsprogramms zusammengefasst.



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Es ist ebenso eine Tatsache, dass sich infolge der in erster Linie von der Sowjetunion ausgehenden Flexibilität, Anschauung und Initiative die positiven Strömungen in der Welt – seit Mitte der achtziger Jahre – verstärkt haben. Der sowjetisch-amerikanische Dialog ist erneuert worden, die Ost-West-Beziehungen haben sich belebt, die internationale Atmosphäre hat sich entspannt und insgesamt sind Frieden und Sicherheit stabiler geworden. Das bedeutet, dass sich die internationalen Umstände verbessert haben und sich der außenpolitische Spielraum unseres Landes erhöht hat. Hierzu hat beigetragen, dass sich auch in den Führungskreisen der kapitalistischen Länder eine realistische Anschauung und die Verhandlungsbereitschaft verstärkt haben. Die verdienstvolle Teilnahme der ungarischen Diplomatie bei der Durchsetzung der Prinzipien des friedlichen Nebeneinanderlebens, am Ost-West-Dialog sowie bei der Überwindung des Misstrauens zwischen den Großmächten, den Bündnissystemen und den Ländern mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen hat das internationale Ansehen unseres Landes erhöht. Die verstärkte und effektive Teilnahme an den internationalen Prozessen, an der internationalen Arbeitsteilung sowie an der wissenschaftlich-technischen und finanziellen Zusammenarbeit ist für unser Land eine Existenzfrage. Die wichtigsten Komponenten des internationalen Hintergrunds unserer Arbeit in der Heimat sind die auf gemeinsamen Interessen beruhende Entwicklung unserer freundschaftlichen, internationalistischen Beziehungen, die wir zur Sowjetunion, zu den Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts und des RGW und im Allgemeinen zu den sozialistischen Staaten pflegen, sowie die Hebung unserer gleichberechtigten Zusammenarbeit auf eine qualitativ neue Ebene. Wir bemühen uns, unsere zweiund mehrseitige Kooperation [mit anderen Ländern] inhaltlich und organisatorisch zu modernisieren, zu erneuern und die Reserven zu mobilisieren sowie aus unseren Erfahrungen zu schöpfen. Im Interesse der unaufschiebbaren Modernisierung der RGW-Zusammenarbeit schreiben wir der Weiterentwicklung der Verhältnisse von Geld und Ware sowie des volkswirtschaftlichen Instrumentariums eine herausragende Bedeutung zu. Es ist ein grundlegendes Interesse der Volksrepublik Ungarn, auf allen Gebieten des Lebens geordnete und freundschaftliche Beziehungen und eine enge Zusammenarbeit mit allen unmittelbaren Nachbarn, mit der weiteren europäischen Umgebung und mit allen Staaten zu entwickeln. Etwa ein Drittel des Ungarntums lebt außerhalb unserer Grenzen, die meisten darunter in den benachbarten sozialistischen Staaten. Wir halten die Verwirklichung individueller und kollektiver Nationalitätenrechte unter sozialistischen Verhältnissen für natürlich. Die Nationalitäten fordern, in welchem Land sie auch leben, zurecht Unterstützung zur Wahrung ihrer Muttersprache, zur Entwicklung ihrer Kultur und zur Pflege ihrer Beziehungen zur Mutternation. Die Probleme, die sich in Verbindung mit ihrer Situation aufgeworfen haben, können nur durch die Geltendmachung des Humanismus sowie durch die Garantie der universellen Menschenrechte und der Demokratie überwunden werden. Zu all dem ist es notwendig, die aus der Vergan-

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genheit ererbten Vorurteile zu überwinden. Wir streben danach, das Verständnis und Vertrauen gegenüber allen benachbarten Volker sowie die Zusammenarbeit mit ihnen zu stärken. Es ist unsere Überzeugung, dass die doppelte Bindung der in Ungarn lebenden Nationalitäten und des in den Nachbarstaaten lebenden Ungarntums gut dazu dienen kann, das Vertrauen und Verständnis zwischen den Nachbarvölkern zu stärken. Zu den entwickelten kapitalistischen Staaten erweitern wir unsere politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen, kulturellen und humanitären Beziehungen auf der Grundlage der Prinzipien der wechselseitigen Vorteile und der friedlichen Zusammenarbeit. Wir bemühen uns um geregelte, vertraglich regulierte Beziehungen zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Wir sind daran interessiert, die wachsenden wirtschaftlich-gesellschaftlichen Probleme der Entwicklungsländer zu lindern und gefährliche lokale Krisen friedlich zu überwinden. Unser Volk ist mit den Entwicklungsländern, die für Festigung ihrer Unabhängigkeit und für gerechte internationale Wirtschaftsbeziehungen kämpfen, und mit den Nationalbewegungen, die gegen diktatorische und rassistische Systeme kämpfen, solidarisch. Im Zeichen der internationalistischen Solidarität arbeiten wir eng mit den kommunistischen und Arbeiterparteien zusammen. Wir entwickeln unsere Beziehungen zu den sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien, zu den linken Kräften und zu den progressiven nationalen Befreiungsbewegungen. Unser Land übernimmt auch in Zukunft eine aktive Rolle bei der Schaffung einer sichereren Welt und im Dienste der Sache von Frieden und Fortschritt. Wir konzen­ trieren unsere Kraftanstrengungen auf die Verringerung der Ost-West-Spannungen, auf die Förderung des Gleichgewichts auf einem niedrigeren Niveau der Bewaffnung, des Dialogs und der Zusammenarbeit sowie auf die Linderung der universellen Sorgen unserer gespaltenen, aber aufeinander angewiesenen Welt. * Der Aufbau des Sozialismus ist ein langer historischer Prozess. Es ist die entschiedene Absicht der Partei, die historische Mission zur Entwicklung der ungarischen Gesellschaft zu erfüllen. Die Lehre unseres zurückgelegten Weges ist, dass die Partei dann ihre Rolle erfüllen und dann Vertrauen wecken kann, wenn sie sensibel auf neue Phänomene der Realität reagiert und in der Lage ist, initiativ zu handeln. So ist es auch jetzt, in einer Zeit, in der der Fortschritt teils durch ererbte, teils durch neu entstandene Probleme erschwert wird. Die MSZMP ruft alle zum Handeln auf, die Verantwortung für die Zukunft der ungarischen Nation fühlen, die in der Lage sind, unser gemeinsames Ziel, den Aufbau eines sozialistischen Ungarn, mit Taten zu unterstützen.



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Es ist eine Schicksalsfrage für unsere Nation, die Funktion unseres Gesellschaftssystems vernünftiger, effektiver und erfolgreicher zu gestalten und zeitgemäße, den ungarischen Verhältnissen entsprechende sozialistische Lösungen für die neuen Probleme der Entwicklung zu finden. Ein besseres Leben für die Familien und Individuen können wir nur vom Aufstieg der gesamten Nation erwarten. Es hängt entscheidend vom einheitlichen Willen, von der Mobilisierung unserer Kräfte und von der Verzinsung unserer Arbeit, unserer Fähigkeiten und unseres Wissens ab, wann und wie wir die jetzige Phase voller Schwierigkeiten überwinden und in Richtung einer besseren Zukunft fortschreiten. Unsere Taten und Handlungen sollen Patriotismus und die Verantwortung für eine gemeinsame Zukunft leiten. Quelle: Népszabadság, 23. Mai 1988, S. 7–10. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UL-1dd034 (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 12 Jahresbericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth für Außenminister Péter Várkonyi vom 27. Juni 1988 (gekürzt) Der am 27. Juni 1988 in Bonn fertiggestellte Bericht des ungarischen Botschafters István Horváth, der den Zeitraum von Mitte 1987 bis Mitte 1988 behandelt, befasst sich mit allen relevanten Bereichen der bilateralen Beziehungen, angefangen von den diversen politischen Kontakten über die Wirtschafts- und Kulturbeziehungen bis hin zu den Kontakten auf den Gebieten Massenmedien, Wissenschaft und Technik, Umweltschutz, gesellschaftliche, Jugend- und Sportbeziehungen sowie Städtepartnerschaften. Darüber hinaus unterbreitet er – vor dem Hintergrund der Herausforderung des europäischen Integrationsprozesses für Ungarn – eine Reihe von Vorschlägen zur Weiterentwicklung der politischen Kontakte auf allen Beziehungsebenen, darunter ein Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl und des bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß in Ungarn sowie ein Gegenbesuch des ungarischen „Staatsoberhaupts“, also des Vorsitzenden des Präsidialrats, in Bonn. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Horváth in seinem Bericht dem im Berichtszeitraum erfolgten „Durchbruch“, der auf „einigen sensiblen Gebieten der bilateralen Beziehungen“ (unter anderem Kulturinstitute, wissenschaftlich-technologische Kooperation und ungarndeutsche Minderheit) habe erreicht werden können, sowie den positiven Auswirkungen des Besuchs von Ministerpräsident Károly Grósz im Oktober 1987 für die zukünftige Gestaltung der bilateralen Beziehun-

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gen. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die bundesdeutschen Reaktionen auf das „Entfaltungsprogramm“ vom Sommer 1987 sowie die Frage der Investitionen westdeutscher Unternehmen in Ungarn bzw. die Hindernisse für die Gründung von Joint Ventures in Ungarn (z. B. mangelnde Infrastruktur). Hinsichtlich der kulturellen Beziehungen verweist Horváth vor allem auf die in diesem Bereich eingetretenen dynamischen Entwicklungen, insbesondere im Zusammenhang mit der Eröffnung des bundesdeutschen Kultur- und Informationszentrums in Budapest. *** Streng geheim! Bonn, 27. Juni 1988 Gegenstand: Informationsbericht 1988 des Botschafters […]19 Die Situation der ungarisch-bundesdeutschen Beziehungen Die Beziehungen zwischen unseren Ländern haben sich im Berichtszeitraum intensiver als zuvor entwickelt. Der Besuch des Ministerpräsidenten [Károly Grósz] im Oktober vergangenen Jahres hat auf allen Gebieten in der konkretesten Form neue Möglichkeiten geschaffen, um die auf gegenseitigen Vorteilen beruhenden, gleichberechtigten Beziehungen zu vertiefen. Eine gute Voraussetzung hierfür gewährleistet, dass die Führungen der beiden Länder die Hauptfragen bezüglich der internationalen Lage ähnlich beurteilen und auch ein gemeinsames Interesse an der konsequenten Fortführung der Helsinki-Prozesse haben. Seitens der Führung der BRD offenbart sich ein intensives und aufrichtiges Interesse an unserem Entfaltungsprogramm. Die auf der Parteikonferenz vom Mai [1988] eingetretenen Veränderungen haben Sympathie hervorgerufen und wesentlich dazu beigetragen, dass sich das Vertrauen in die ungarischen Reformbestrebungen erneut verstärkt hat. Die intensivere Entwicklung der Beziehungen wurde von den positiven Prozessen in der Weltpolitik günstig beeinflusst, vor allem von der bedeutenden Veränderung im sowjetisch-amerikanischen Verhältnis. Dieses spielt eine entscheidende Rolle dafür, dass sich die Atmosphäre in der Gesamtheit des Ost-West-Verhältnisses spürbar verbessert hat. Diese Faktoren trugen gemeinsam dazu bei, dass es uns im Berichtszeitraum gelungen ist, auf einigen sensiblen Gebieten der bilateralen Beziehungen einen Durchbruch zu erreichen. Als Ergebnis hiervon kam es zur Unterzeichnung von

19  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.



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Abkommen über die wechselseitige Einrichtung von Kulturinstituten, über die technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit und über die teilweise Streichung der Visapflicht bzw. über Reiseerleichterungen. Über die Unterstützung der ungarndeutschen Minderheit unterzeichneten die beiden Regierungen eine gemeinsame Erklärung. Im Berichtszeitraum kam es zur Etablierung der Stellen der Militärattachés und es wurde eine prinzipielle Stellungnahme über die Einrichtung von Konsulaten in München bzw. Pécs verabschiedet. Auch kam es zur Unterzeichnung eines Binnenschifffahrtsabkommens. Auf den Berichtszeitraum fiel auch die Periode der Präsidentschaft der BRD im Gemeinsamen Markt, was – mit Blick auf die Bestrebungen unseres Landes, ein Abkommen mit der EG zu unterzeichnen – die Wichtigkeit des Landes auch in dieser Hinsicht gestärkt hat. Während der Präsidentschaft der BRD gelang es, eine gemeinsame Erklärung von RGW und EG zu unterzeichnen, und auf der Sitzung des EG-Ministerrats am 13. Juni [1988] wurde auch die politische Entscheidung getroffen, ein Handels- und Kooperationsabkommen mit Ungarn zu schließen. Für das Zustandekommen des Abkommens […] kommen der politischen und wirtschaftlichen Führung der BRD entscheidende Verdienste zu. Im Berichtszeitraum kam es auf westdeutsch-französische Initiative zur Ankündigung einer Entscheidung bezüglich der Beschleunigung des EG-Integrationsprozesses, dessen erste und entscheidende Phase die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes ist. Die Verwirklichung dieses umfassenden Programms der EG-Staaten wird tiefgreifende Veränderungen im Verhältnis der betroffenen Staaten zueinander, aber auch bedeutende Auswirkungen auf das internationale Beziehungsgefüge der Gemeinschaft haben. Die Beschleunigung des Integrationsprozesses verstärkt gleichzeitig auch den „Absonderungsprozess“ gegenüber den Außenstehenden. Damit kann er es „erzwingen“, die bilateralen Kontakte einzelner Mitgliedsstaaten zu den Außenstehenden auf neue Grundlagen zu stellen. Die schrittweise Überführung nationaler Kompetenzen in den Zuständigkeitsbereich der Gemeinschaft bewirkt, dass sich die Voraussetzungen der Entwicklung bilateraler Kontakte auch für die BRD verändern. Unter Berücksichtigung dieser Möglichkeit ist es notwendig, dass wir die weiteren Richtungen der Entwicklung der bilateralen Beziehungen entsprechend bestimmen. Die innenpolitische Situation in der BRD […]20 [Bilaterale Beziehungen]

20  Die Darlegungen zu innenpolitischen Situation in der Bundesrepublik werden ausgelassen.

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1. Politische Beziehungen Die Kontinuität des politischen Dialogs auf oberer Ebene wurde durch den Besuch von Ministerpräsident Károly Grósz [in der Bundesrepublik] vom Oktober 1987 sichergestellt. Mit der Visite wurden die Voraussetzungen geschaffen, eine qualitativ neue Phase der bilateralen Beziehungen einzuleiten. Die Kontakte zwischen den Parlamenten der beiden Staaten entwickelten sich im Berichtszeitraum gleichmäßig. Es kam zum Besuch des Parlamentsausschusses für Recht, Verwaltung und Justiz in der BRD und die bundesdeutsch-ungarische Parlamentsgruppe im Bundestag nahm ihre Arbeit auf. Als positive Entwicklung können wir werten, dass der wechselseitige Informationsbesuch von Parlamentsabgeordneten im Vergleich zu den früheren Jahren etwas ausgeglichener wurde. In der zweiten Jahreshälfte findet der Ungarn-Besuch von [Bundestagspräsidenten] Dr. Philipp Jenninger statt. Unserer Einschätzung nach müssen wir – im bereits entwickelten institutionellen Rahmen der bilateralen Beziehungen – größeres Gewicht als bisher auf die Suche nach neuen Bereichen der Zusammenarbeit legen. Hierzu ist eine Vertiefung der Kooperation zwischen den einzelnen Abgeordneten notwendig. […] Wir schlagen vor, dass es zu einer Kontaktaufnahme mit den Bundestagsausschüssen für Äußeres, Forschung und Technologie, Unterricht und Wissenschaft sowie für Umweltschutz kommen soll. […] Im September oder Oktober 1988 soll eine Delegation der bundesdeutsch-ungarischen Sektion des Bundestags zu einem Ungarn-Besuch eingeladen werden. Unsere Kontakte zu den Regierungs- und Oppositionsparteien haben sich auch im vergangenen Zeitraum ausgeglichen und gut entwickelt. Die Kontakte zu den Vertretern der Parteien der Regierungskoalition sind regelmäßig, auch die Parteiführer sind häufige Gäste in unserem Land. Erfreulich entwickeln sich die Beziehungen zwischen den den Regierungsparteien nahestehenden Stiftungen (Konrad-Adenauer-Stiftung, Hanns-Seidel-Stiftung, Friedrich-Naumann-Stiftung) und den ungarischen Partnerinstitutionen. Hierdurch hat sich der Kreis von Experten und Journalisten, die die BRD besuchen, beträchtlich ausgeweitet. Die internationalen Veranstaltungen der Stiftungen eröffnen uns die Möglichkeit, unsere Standpunkte in für uns wichtigen (wirtschaftlichen, Flüchtlings-) Fragen zum Ausdruck zu bringen. Auch die Verbindungen zwischen der MSZMP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] und der DKP [Deutsche Kommunistische Partei] sowie zwischen der MSZMP und der SPD finden regelmäßig und auf hoher Ebene statt. Im Verhältnis zur westdeutschen Bruderpartei ist es wichtig, dass wir regelmäßig über unsere inländischen Bestrebungen und über die spezifischen ungarischen Lösungen informieren. […] Bei der Zusammenarbeit von MSZMP und SPD spielt – über die traditionellen Formen der Kontaktpflege hinaus – die Arbeitsgruppe, die Fragen der Ost-West- und der bilateralen Wirtschaftskooperation studiert, eine außerordentlich wichtige Rolle.



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Außerordentlich nützlich ist auch die Zusammenarbeit zwischen der Friedrich-EbertStiftung und den ungarischen Partnerinstitutionen. Mit dem Besuch von Genossen [Csaba] Hámori erhielten die Zusammenarbeit zwischen dem [ungarischen] Kommunistischen Jugendverband und den Jungsozialisten sowie die Kooperation mit den Jugendorganisationen der Regierungsparteien neuen Schwung. 2. Unsere Wirtschaftsbeziehungen Der Gesamtumsatz [des Handels] im Jahre 1987 lag (mit 5,047 Milliarden DM) im Wesentlichen auf dem Niveau des Vorjahres. Die Außenhandelsbilanz erreichte gegen Ende 1987 ein Minus von 737 Millionen DM. In den ersten fünf Monaten des Jahres 1988 entwickelte sich der Umsatz wesentlich günstiger, als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Die ungarischen Unternehmen steigerten aufgrund innerer Reglementierungen und der Einengung der Vermarktungsmöglichkeiten im RGW ihre Exportaktivitäten. Das Verhalten der Unternehmen ist im Allgemeinen durch Vorsicht gekennzeichnet, das Risiko bedeutender Unternehmungen wird vermieden. Auf zahlreiche deutsche Unternehmensinitiativen erfolgte ungarischerseits keine wirkliche Reaktion, unsere Unternehmen können – unter Berufung auf verschiedene Gründe – „nicht kalkulieren“ und in der Mehrzahl der Fälle verfügen sie nicht über die für eine Unternehmung notwendigen minimalen Finanzmittel. Die Exportergebnisse der ersten fünf Monate führen gleichzeitig vor Augen, dass die ungarische Wirtschaft auch bei der gegenwärtigen Produktstruktur noch über Reserven verfügt. Aufgrund verschiedener Erhebungen und dem Vertragsbestand ist in der zweiten Hälfte des Jahres mit einer verringerten Dynamik zu rechnen und bis zum Ende des Jahres so eine 4- bis 5-prozentige Umsatzsteigerung im Vergleich zum Vorjahr zu erwarten. Im Interesse der Verbesserung der Tätigkeit unserer sich in einer schweren Lage befindenden Unternehmen wurde sowohl bei politischen als auch bei Regierungsverhandlungen ein Vorschlag zur unmittelbaren „Einschaltung“ deutscher Unternehmen aufgeworfen. Die Gründung gemischter Unternehmen oder die 100-prozentige Übernahme einzelner Unternehmen ist für die deutschen Unternehmer primär eine wirtschaftliche Frage. Das deutsche Industriekapital richtet sich sehr bewusst auf Unternehmen, in denen die zu produzierende Produktauswahl langfristig modern und gut zu veräußern ist und in denen die Investition eine Markterweiterung bewirkt. Die aufgesuchten deutschen Unternehmen betrachten die Produktpalette der in die ungarischen Vorschläge aufgenommenen Unternehmen (Maschinenfabrik Láng, Ganz-Mávag usw.) als perspektivisch schwer positionierbar. Die Kapazitäten der energetischen Maschinenproduktion sind z. B. auch in der BRD bestenfalls zu 50 Prozent ausgelastet. Dasselbe gilt auch für den Bereich des Fahrzeugbaus. Mehrere deutsche Unternehmen, z. B. die BASF und die Metallgesellschaft, haben gleichzeitig signalisiert, dass sie bereit sind, zum Zweck der Produktion perspektivischer Güter größere Summen zu investieren, sofern wir für solche einen Vorschlag unterbreiten

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könnten. Der Verwirklichung unserer diesbezüglichen Vorstellungen würde es besser dienen, wenn in der ersten Zeit – mit dem Ziel der Referenz – einige, sich nicht in der schlechtesten Lage befindenden Klein- und Mittelbetriebe „angeboten“ würden. Die mit diesen Betrieben gewonnenen Erfahrungen würden unsere Bestrebungen zur Einbeziehung von Betriebskapital zur Unterstützung unserer größeren und sich in einer schweren Lage befindenden Unternehmen sicherlich positiv beeinflussen. Die von uns eröffneten Marktmöglichkeiten und die Bürokratie in Verbindung mit Genehmigung und Betreibung begrenzen die Interessiertheit des Betriebskapitals. Unter dem Aspekt der Steigerung der unternehmerischen Bereitschaft muss betont werden, dass – obwohl die Rahmenbedingungen unserer Rechtsordnung bereits heute relativ günstig sind und mit dem Inkrafttreten des neuen Gesellschaftsgesetzes eindeutig gut werden – unsere infrastrukturellen „Dienstleistungen“ für die deutschen Unternehmen noch nicht wettbewerbsfähig sind (Grundstücke, öffentliche Versorgung, Energie- und Telefonversorgung). Der „Ermutigung“ des Kapitals würde – trotz der erwähnten bremsenden Faktoren – auch dienen, wenn unsere Handelsbanken und die Kreditbanken der BRD enger zusammenarbeiten würden (z. B. Holding) und wenn wir bei diesen auch unmittelbar Interesse an der Verwendung von Krediten wecken könnten. Die Beurteilung unserer Kreditfähigkeit wurde durch den [westdeutschen] Kredit von 1 Milliarde DM vorteilhaft beeinflusst, auch wenn er mit einer staatlichen Garantie zur Verfügung gestellt wurde. Die westdeutsche Führung bewertete die Kreditgewährung so, dass diese mehr als eine einfache Kreditgewährung darstelle, die Führer des westdeutschen Wirtschaftslebens hätten beabsichtigt, damit ihr Vertrauen in die ungarische Wirtschaft zum Ausdruck zu bringen. Unter dem Gesichtspunkt der Stärkung des Vertrauens der hiesigen Finanz- und Wirtschaftskreise ist allerdings wichtig, zu „demonstrieren“, dass wir den größeren Teil des Kredits in der BRD verwenden sowie dass wir einen bedeutenden Teil davon zur Modernisierung unserer Wirtschaft benutzen. Die Sicherstellung einer direkteren Teilnahme der Banken der BRD am ungarischen Wirtschaftsleben würde die Möglichkeit, weitere bedeutendere Quellen einzubeziehen, schaffen. Die Zahl der ungarischen Arbeitnehmer, die in der BRD arbeiten, bewegt sich im Jahresdurchschnitt auf 1.200 bis 1.400 Personen, was in Anbetracht der gespannten Arbeitsmarktlage als gutes Ergebnis gilt. In der Angelegenheit der Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen unternimmt unsere Botschaft auch weiterhin bedeutende Anstrengungen. Mit der neuen Arbeitsvereinbarung können wir die Voraussetzungen für eine kontinuierliche und bürokratiefreie Beschäftigung von ca. 2.500 Personen schaffen. Der Touristenverkehr zwischen unseren Ländern entwickelt sich ungebrochen dynamisch. Die Zahl der Touristen aus der BRD, die unser Land besuchten, überschritt 1 Million Personen. Die hiesigen Fremdenverkehrsorgane zeigen sich kooperationsbereit […]. Das Interesse würde wesentlich gesteigert werden, wenn wir in einzelnen Fällen den an der Errichtung des jeweiligen Objekts interessierten west-



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deutschen Partnern die Betreibung und das vollständige Eigentumsrecht überlassen würden. Der Besuch des [ungarischen] Ministerpräsidenten im Oktober vergangenen Jahres eröffnete auf mehreren Gebieten die Möglichkeit, die Wirtschaftsbeziehungen zu entwickeln. Es wurde eine prinzipielle Erklärung über die westdeutsche Unterstützung der Managerausbildung und des Fachunterrichts sowie über die Förderung der Beziehungen zwischen kleinen und mittleren Unternehmen verabschiedet. Mit der Verwirklichung wurde begonnen. Erfolgreiche Anstrengungen werden auch bei der Ausweitung der Vertragsbeziehungen unternommen. Das Investitionsschutzabkommen wurde registriert und die Verhandlungen über das Verkehrsabkommen und eine neue Arbeitsvereinbarung machen Fortschritte. Nach dem Besuch des Ministerpräsidenten letztes Jahr und als Ergebnis der Veränderungen auf der Parteikonferenz [vom Mai 1988] offenbaren sich seitens der Führung der BRD eine noch intensivere Aufmerksamkeit sowie Kooperations- und Unterstützungsbereitschaft gegenüber unserem Land. Über die politische Absicht hinaus stellt auch die gemäßigte, aber dauerhaft scheinende innere westdeutsche Konjunktur hierfür einen guten Hintergrund sicher. Zur Eruierung der Kooperationsmöglichkeiten verfügen die entwickelte Marktorganisation und die Wirtschaftsdiplomatie über ein angemessenes und gut nutzbares Instrumentarium. 3. Unsere Kulturbeziehungen Die ungarisch-westdeutschen Kultur- und Unterrichtsbeziehungen entwickelten sich im Berichtszeitraum schwungvoll und ausgeglichen. Eingebettet in das Beziehungsgefüge der beiden Staaten dienen sie der auf gegenseitigen Vorteilen beruhenden, gleichrangigen und die Annäherung der beiden Völker fördernden Zusammenarbeit. Unser Ziel ist auch weiterhin, unsere kulturelle Präsenz in diesem Land zu stärken und zur Formung und Verbesserung des Ungarn-Bildes und zur Mehrung der erreichten Ergebnisse beizutragen. Unsere Kultur- und Unterrichtskooperation erstreckt sich auf drei große Bereiche: a) auf die zwischenstaatlichen Kultur- und Unterrichtskontakte, b) auf die interinstitutionelle Zusammenarbeit und c) auf Veranstaltungen auf kommerzieller Basis. Das am 9. Dezember 1987 unterzeichnete und auf die Jahre 1988 und 1989 gerichtete kulturelle Kooperationsprogramm ist für beide Seiten verpflichtend und repräsentiert die höchste Ebene der Beziehungen. Unser Ziel ist es, die Bestimmungen des Programms möglichst breit umzusetzen. Die BRD eröffnete während der Kulturwoche vom 9. bis 15. März 1988 ihr Kulturzentrum in Budapest. Unser Land kann aus materiellen Gründen vorläufig keinen ähnlichen Schritt unternehmen, wir stehen aber in Kontakt mit der Landesregierung von Baden-Württemberg und suchen gemeinsam nach einer Lösung, wie man die Eröffnung eines ungarischen Kulturinstituts in Stuttgart voranbringen könnte.

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Während des Besuchs des [ungarischen] Ministerpräsidenten unterzeichneten wir eine gemeinsame Erklärung über die Unterstützung der in Ungarn lebenden deutschen Nationalität und über die Entwicklung des deutschen Sprachunterrichts. Im Interesse der Durchführung der Bestimmungen der Erklärung wurde ein Unterausschuss aus Vertretern beider Staaten ins Leben gerufen. Dieser hielt vom 15. bis 17. Februar dieses Jahres in Budapest seine erste Sitzung ab. Jetzt ist es unsere Aufgabe, das dort Verlautete zu verwirklichen bzw. mittels der konkreten Formulierung unserer Wünsche die baldmöglichst Verwirklichung der jeweiligen Projekte zu fördern. Die Institutionalisierung der sich auf diesem Gebiet entfaltenden Zusammenarbeit kann auch durch die „Stiftung Ungarndeutsche“, deren Gründungsurkunde am 11. März 1988 in Budapest unterzeichnet wurde, vorangebracht werden. Auch die Urkunde der „Donauschwäbischen Kulturstiftung“, die in Stuttgart unterzeichnet wird, ist in Vorbereitung. Es würde der Entwicklung unserer Unterrichts- und Kulturkontakte einen guten Dienst erweisen, wenn wir unsere Zusammenarbeit mit anderen Bundesländern ähnlich dem Muster des Kooperationsprotokolls zwischen dem [ungarischen] Kultusministerium und dem Bundesland Nordrhein-Westfalen regeln könnten. In den ungarisch-westdeutschen Unterrichtsbeziehungen würde der Abschluss eines Äquivalenzabkommens einen großen Fortschritt bedeuten. Da beide Seiten ihren sich darauf richtenden Wunsch geäußert haben, halten wir den Beginn von baldmöglichsten Expertenverhandlungen für eine erstrangige Aufgabe, denn die Integrationsbestrebungen der EG-Mitgliedsstaaten können die Verwirklichung unserer diesbezüglichen Vorstellungen erschweren. Aufgrund des Widerstands der Bundesländer ist mit aller Sicherheit nicht zu erwarten, dass die Äquivalenzvereinbarung auch auf Abiturprüfungen und -zeugnisse ausgedehnt wird. Deshalb schlagen wir vor, zu überprüfen, ob es keine Möglichkeit gibt, sich der diesbezüglichen Konvention, die vom Europarat angenommen wurde, anzuschließen. Eine bedeutende Station der Entwicklung der ungarisch-westdeutschen Beziehungen auf dem Gebiet der Schönen Künste war die Unterzeichnung der Urkunde der „Ludwig-Stiftung“ in Ungarn. Zweck der Stiftung ist die Unterstützung der Ausstellungs- und Forschungsaktivitäten der modernen ungarischen und internationalen Bildenden Kunst. Im vergangenen Jahr kam es zu zahlreichen ungarischen Veranstaltungen, zu Kulturtagen und Ausstellungen. Wir können feststellen, dass sich in der BRD ein breites Interesse an unserem Land offenbart. Bei der Formung des über uns entstehenden Bildes kommt also den ungarischen Kulturtagen eine wichtige Rolle zu, weswegen wir auch weiterhin die Wahrung und Stärkung ihrer Präsenz für notwendig halten. 4. Unsere Beziehungen auf dem Gebiet der Massenkommunikation Die bilateralen Beziehungen auf dem Gebiet der Massenkommunikationsorgane sind gut. Mit den zuständigen Leitern des Presse- und Informationsamts [der Bundesre-



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gierung], das die administrative Lenkung der in der BRD tätigen Presseorgane durchführt, stehen wir in regelmäßigem Arbeitskontakt. […] Im Berichtszeitraum besuchten offiziell etwa 200 Journalisten und ca. 20 Kamerateams unser Land. Die öffentliche Meinung in der BRD wird durch die hiesigen Informationsorgane häufig und detailliert, entsprechend dem Stil der bürgerlichen Presse, aber objektiv über unser Land informiert. 5. Technisch-wissenschaftliche Beziehungen, Umweltschutzbeziehungen Die stark beschleunigte technische Entwicklung, die Zunahme der Rolle der Wissenschaft und ihre Entwicklung zu einem wirtschaftlichen und politischen Faktor verleiht diesem Fachgebiet eine außerordentliche Wichtigkeit. Dies wird durch die Tatsache, dass unsere Technikkultur traditionell deutschorientiert ist, noch verstärkt. […] Das gute politische Verhältnis zwischen beiden Staaten schafft einen zuverlässigen Hintergrund für die Weiterentwicklung der traditionell lebhaften westdeutsch-ungarischen Beziehungen in Wissenschaft und Technik. Hinsichtlich seines technischen Potenzials ist die BRD eindeutig die führende Macht in Europa. Herausragendes Ereignis in diesem Fachgebiet war die Unterzeichnung des Regierungsabkommens über technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit. Der aus Experten beider Staaten bestehende gemischte Ausschuss untersuchte Anfang Juni [1988] die Lage und Möglichkeiten der Verwirklichung des Abkommen und der Zusammenarbeit. Das Interesse hat auf beiden Seiten bedeutende Ausmaße. Nach dem Besuch des Ministerpräsidenten eröffnete sich die Möglichkeit zu einer unmittelbaren Zusammenarbeit auf der Ebene der Bundesländer, die eine neue Form in der Praxis der BRD bedeutet. Wir haben mit drei Bundesländern Verhandlungen geführt. Als deren Ergebnis erhoffen wir uns die Entwicklung einer Zusammenarbeit, die tiefer als die traditionellen wissenschaftlich-technischen Kontakte ist und auch die Unternehmenssphäre berührt. Auf den verschiedenen Gebieten des Umweltschutzes haben wir die Möglichkeit, mit der BRD, die über viele Erfahrungen verfügt und sich in einer führenden Position in Europa befindet, zu kooperieren. Das Treffen der Umweltschutzminister der beiden Staaten Ende Juni [1988] in der BRD bedeutete einen großen Anschub für die Vorbereitungsarbeiten für das Abkommen. Zur Unterzeichnung […] kann es Ende des Jahres kommen. […] 6. Staatliche Jugendkontakte, Beziehungen der gesellschaftlichen und Massenorganisationen, Sportbeziehungen Auf dem Gebiet der Jugendbeziehungen war die Unterzeichnung einer Kooperationsvereinbarung, die die Entwicklungsbereiche der folgenden fünf Jahre festlegt, das bedeutendste Ereignis. […]

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1987/88 war für die ungarisch-westdeutschen Gewerkschaftsbeziehungen auf allen Gebieten Korrektheit und wechselseitiger guter Wille bezeichnend. Über die Kontakte zwischen dem Deutschen Gewerkschaftsbund und dem [ungarischen] Landesrat der Gewerkschaften hinaus entwickelte sich auch einen Dialog und Kontakt der Branchenorganisationen. […] Unsere Sportkontakte […] sind von Regelmäßigkeit und in Richtung Westen von der breitesten Zusammenarbeit geprägt. Die Abwicklung der durchschnittlich 150 bis 200 Treffen auf Auswahlebene jährlich ist durch plangemäße Genauigkeit und Zuverlässigkeit (gemäß dem internationalen Wettkampfkalender) gekennzeichnet. Die Wettbewerbe werden von den Sportverbänden und Vereinen selbstständig geplant […]. 7. Politische Emigrationsarbeit Entsprechend ihrer politischen Bedeutung betrachten wir die Unterstützung der loyalen Emigration, die Verringerung des Einflusses der rechten Organisationen auf die Emigration sowie das Gewinnen der dialogbereiten Führer der rechten Emigration und die Zusammenarbeit mit ihnen als eine Schwerpunktaufgabe. […] 8. Konsularische Arbeit […] Das wichtigste Ereignis des Jahres [1988] war die Unterzeichnung der Vereinbarung über die teilweise Visafreiheit. Ihr Zustandekommen – auf der Grundlage des Prinzips der wechselseitigen Vorteile – steht in Übereinstimmung mit unseren Bestrebungen zur Entwicklung der bilateralen Beziehungen. Die Vereinbarung funktioniert im Wesentlichen gut, bei fallweise auftretenden Problemen zeigt die BRD maximale Hilfsbereitschaft. Für die Weiterentwicklung der obigen Vereinbarung sehen wir nur langfristig eine reale Möglichkeit. […] 9. Städtepartnerschaften Auf dem Gebiet der Weiterentwicklung der Partnerschaften bewerten wir es als bedeutenden Fortschritt, dass auch die Gemeinschaften in Ungarn mit der Gründung der Stiftungen die Möglichkeit erhalten, sich in die Zusammenarbeit einzuschalten. Zur Bildung der Stuttgarter Stiftung wird es voraussichtlich Mitte Juli [1988] kommen. […] Die Zahl der Städtepartnerschaften hat sich im Laufe des vergangenen Jahres weiter erhöht. Im Falle der Annahme der vorgeschlagenen neuen Kontaktaufnahmen werden 12 ungarische Städte offizielle Beziehungen zu Städten in der BRD haben. In Anbetracht des unverändert großen Interesses seitens der hiesigen Städte schlagen wir vor, den Genehmigungsmechanismus in Ungarn zu vereinfachen.



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10. Vorschläge für den Besuchsplan der bilateralen Kontakte im Jahre 1988/89 und für die Weiterentwicklung der Beziehungen Mit der Verstärkung des Prozesses der westeuropäischen Zusammenarbeit wird sich die schrittweise Überführung nationaler Zuständigkeiten in den Kompetenzbereich der Gemeinschaft auch spürbar auf unsere bilateralen Beziehungen zur BRD auswirken. Zur Verringerung der zur erwartenden negativen Auswirkungen eröffnet sich uns die Möglichkeit, die Vertragsbeziehungen in Bereichen, die wir noch nicht durch Vereinbarungen geregelt haben, weiter zu stärken. In Übereinstimmung damit wäre es zweckmäßig, bis 1992 ein „Aktionsprogramm“ in Richtung der einzelnen EG-Staaten – so natürlich auch in Richtung der BRD – und der Staaten, die einen Anschluss beabsichtigen, zu initiieren. Der Abschluss von Vereinbarungen bedeutet zwar keine Garantie für ihr „Hinüberretten“ in die Zeit nach 1992, er kann aber unsere späteren Positionen etwas verbessern. Für eine Regelung der ungarisch-westdeutschen Beziehungen mittels Abkommen sehen wir in den folgenden Bereichen noch eine Möglichkeit: gegenseitige Anerkennung von Urkunden und Diplomen, Arbeitswesen, Straßen- und Luftverkehr, Umweltschutz, Zollwesen, Gesundheit und Postwesen. In Übereinstimmung mit der Absicht, die bilateralen Beziehungen zu entwickeln, müssen wir in der folgenden Phase unverändert großes Gewicht auf die Aufrechterhaltung des politischen Dialogs auf höchster Ebene legen. Wir sollen die Besuche dazu nutzen, die Ziele und Ergebnisse des politischen und wirtschaftlichen Wandlungsprozesses in Ungarn vorzustellen, Fragen in Zusammenhang mit den bilateralen Beziehungen zu regeln und Vereinbarungen zur Regelung der Kooperation zu unterzeichnen. – 1988 kommt es wegen seiner internationalen Verpflichtungen erwartungsgemäß nicht zum Ungarn-Besuch von Helmut Kohl. Wir schlagen vor, den Besuch für die zweite Jahreshälfte 1989 zu terminieren. Bis zum Zeitpunkt der Visite sollen die Expertengespräche, die auf dem Gebiet der Vertragsbeziehungen im Herbst [1988] beginnen (Umweltschutz, Arbeitswesen), abgeschlossen sein. – Aufgrund der Abstimmung zwischen den im Bundestag vertretenen Parteien kann als sicher angenommen werden, dass [Richard von] Weizsäcker 1989 für weitere fünf Jahre zum Bundespräsidenten gewählt wird. In der ersten Jahreshälfte 1989 sollen wir Schritte unternehmen, um den Gegenbesuch des Vorsitzenden des Präsidialrats 1990 zu realisieren. – Im Rahmen der Parlamentskontakte soll der im Mai ausgebliebene Besuch des Bundestagspräsidenten in der zweiten Jahreshälfte 1988 erfolgen. […] – Der entwickelte Dialog mit den führenden Politikern der im Bundestag vertretenen Parteien und ihrer Fraktionen soll weitergeführt werden. […] – Im Rahmen der Konsultationen der Außenministerien soll es – in Abstimmung mit dem Kohl-Besuch – zu Beratungen der Staatssekretäre und stellvertretenden Minister kommen. In Fortsetzung der Praxis der Konsultationen der Hauptabtei-

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lungen soll es 1989 in Bonn zu Beratungen der Konsularhauptabteilungen und der KSZE-Hauptabteilungen kommen. Wir sollen die Ausweitung der Beziehungen zu den Regierungen der Bundesländer der BRD fortsetzen. […] Ende 1988 können wir auch mit einem Ungarn-Besuch von [Franz Josef] Strauß rechnen. Die Besuche der Fachminister sollen dazu genutzt werden, die Vertragsbeziehungen weiterzuentwickeln. […] Auf dem Gebiet von Konsular- und Justizwesen schlagen wir Folgendes vor: – 1989 wäre der Besuch des ungarischen Justizministers in der BRD fällig. – Wir sollten unseren Beziehungen zu den höchsten Rechtsinstitutionen der BRD (Oberster Gerichtshof, Oberste Staatsanwaltschaft, führende Anwaltsorganisationen, Justizminister der Länder) fortsetzen. […] – Wir sollten eine Kontaktaufnahme zum Bundesverfassungsgericht vorschlagen.

[…] [Unterschrift] (Dr. István Horváth) Botschafter Quelle: MNL OL, 288.f.32/85. ő. e. (NSZK/1989/C), fol. 653–675. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer Dokument 13 Bericht der bundesdeutschen Botschaft in Budapest für das Auswärtige Amt vom 6. Juli 1988 über das Verhalten der ungarischen Sicherheitskräfte bei den Demonstrationen am 16. und 27. Juni 1988 in Budapest Rund einen Monat nach der Landeskonferenz der Ungarischen Sozialistischen Partei, auf dem sich die Parteiführung die Verwirklichung eines „sozialistischen Pluralismus“ im Rahmen des Einparteiensystems zum Ziel gesetzt hatte, kam es in Budapest zu zwei Demonstrationen. Am 16. Juni 1988 fand aus Anlass des Jahrestags der Hinrichtung von Imre Nagy, dem Ministerpräsidenten des ungarischen Volksaufstandes von 1956, eine Versammlung von mehreren Tausend Oppositionellen im Zentrum der ungarischen Hauptstadt statt, gegen die die Polizei auffallend gewaltsam vorging. Und am 27. Juni 1988 erfolgte auf dem Heldenplatz ein Massenprotest gegen die rumänische Minderheiten- und Dorfzerstörungspolitik, wobei es zu keiner Gewaltanwendung seitens der Sicherheitskräfte kam. Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest informierte daraufhin am 6. Juli 1988 das Auswärtige Amt in Bonn über die Ereignisse, wobei sie auf das „sehr unterschiedliche Verhalten der Ordnungskräfte“ und die Absicht



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der neuen Parteiführung, „gewisse bürgerliche Freiheitsrechte“ nur „begrenzt und genau dosiert“ zuzulassen, verwies. *** […]21 Betr.: Demonstrationen in Budapest am 16. und am 27. Juni 1988; hier: Das Verhalten der Sicherheitskräfte – ein Vergleich Zur Unterrichtung Bei einer abschließenden Betrachtung der jüngsten Demonstrationen in Budapest am 16.06. aus Anlass des Todestages von Imre Nagy und am 27.06. als Protest gegen die rumänische Minderheitenpolitik – fällt besonders das sehr unterschiedliche Verhalten der Ordnungskräfte während der Kundgebungen auf. Im Verlauf der Kundgebungen am 16.06. kam es zu zahlreichen Verhaftungen, die zwar vorübergehender Art waren, aber mit großer Härte durchgeführt wurden. Die Polizei griff häufig unprovoziert einzelne Demonstranten oder kleine Gruppen an, die dann rücksichtslos geprügelt und getreten wurden. Diese Misshandlungen setzten sich z. T. auch im Polizeigewahrsam fort. Gegen Ende der Kundgebung am BatthyányDenkmal ging die Polizei gegen Teilnehmer vor, die den Platz bereits verließen. Auch dabei kam es zu völlig unprovozierten Tätlichkeiten seitens der Sicherheitskräfte. Äußerungen führender Politiker (J. [János] Berecz, M. [Mátyás] Szűrös) lassen erkennen, dass dieses Verhalten der Polizei, das die Teilnehmer der Demonstration offensichtlich völlig unvorbereitet getroffen hat, genau berechnet und als Warnung an oppositionelle Gruppen gedacht war. Nach dem zurückhaltenden Auftreten der Polizei bei vorangegangenen Anlässen sollte zum einen bewiesen werden, dass Staat und Partei immer noch „hart zuschlagen“ können; zum anderen sollte eine deutliche Grenze gezogen werden, die zu überschreiten riskant bleibt. Die Veranstaltung am 27.06. dagegen konnte sich, wie berichtet, des weitgehenden Wohlwollens der Staats- und Parteiführung erfreuen. Ihr Verlauf war ruhig und geordnet. Mit der Teilnahme ging niemand ein persönliches Risiko ein, das umfangreiche Polizeiaufgebot schritt nicht ein. Bei der Demonstration vom 27.06. wurden die fortbestehenden Tabus nicht gebrochen. Die „radikale“ Opposition konnte oder wollte diesen Anlass nicht für weitergehende Forderungen (wie z. B. nach Rehabilitierung von Imre Nagy oder nach Einführung eines Mehrparteiensystems nach westlichem Muster) nutzen.

21  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.

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Bemerkenswert ist noch, dass einige Oppositionelle, die am 16.06. recht unliebsame Bekanntschaft mit der Polizei gemacht haben, am 27. wieder dabei waren, ohne Schwierigkeiten zu haben, sogar in Einzelfällen in Zusammenarbeit mit der Polizei die Menge dirigierten. Zusammenfassend lässt sich sagen – was im Übrigen auch für das politische Klima insgesamt gilt –, dass die ungarische Führung die Situation sehr sorgfältig beobachtet und keinerlei „Nachlässigkeit“ zeigt, die [Károly] Grósz‘ Kurs leicht in Misskredit bringen könnte. Die Zulassung gewisser bürgerlicher Freiheitsrechte, wie des Demonstrationsrechts, erfolgt begrenzt und genau dosiert. Der Erfolg der Demonstration vom 27.06. geht nicht zuletzt darauf zurück, dass das Regime sich auf eine neue Art von Massenkundgebungen einlässt, bei denen Initiativen aus der Bevölkerung auch zu eigenen Zwecken zugelassen werden. Ihre erneute Einschränkung bleibt jederzeit möglich. Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

Dokument 14 Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Juli 1988 Wenige Monate nach der Landeskonferenz der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, die sich die Verwirklichung eines „sozialistischen Pluralismus“ und einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ zum Ziel gesetzt und mit der Ablösung von Generalsekretär János Kádár und seiner „Alten Garde“ eine radikale personelle Erneuerung herbeigeführt hatte, verfasste die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest ihren politischen Halbjahresbericht für das Auswärtige Amt über die erste Jahreshälfte 1988. Der Bericht beschäftigt sich im Abschnitt „Innenpolitik“ in erster Linie mit den durch die Parteikonferenz herbeigeführten personellen und politischen Veränderungen, wobei einerseits festgestellt wird, die Parteikonferenz habe die „personellen und sachlichen Voraussetzungen“ für den vom neuen Generalsekretär Károly Grósz verkündeten innen-, wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs geschaffen, andererseits wird aber auch auf die noch ausstehende Umsetzung der Ziele und auf ihre innere Widersprüchlichkeit verwiesen. Darüber hinaus werden in diesem Zusammenhang auch die skeptische Haltung der ungarischen Bevölkerung und die wachsenden Aktivitäten der Opposition – wenn auch ohne „Massen-Engagement der Bevölkerung“ – und ihre Zielsetzungen angesprochen. Im Abschnitt „Außenpolitik“ thematisiert der Bericht die Prioritäten der ungarischen Außenpolitik, darunter den „Schulterschluss mit Gorbatschow“, die Intensivierung des Ost-West-Dialogs und die „Öffnungspolitik zum Westen“, und geht auf die Vertiefung der Beziehungen zur Bundesrepublik und auf den „regen Besucheraustausch“ zwischen beiden Staaten ein. Diesbezüglich stellt der Bericht auch fest, dass Budapest erkannt habe, „dass die erstrebte Zugehörigkeit zu Europa über die Nabelschnur zum deutschsprachigen Bereich gebildet und



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erhalten“ werde. Im Abschnitt „Wirtschaftspolitik“ werden insbesondere die Probleme des ungarischen Außenhandels und die positiven Entwicklungen im Ungarn-Tourismus behandelt. Darüber hinaus werden die Entwicklungen, Ziele und Probleme der neuen ungarischen Wirtschaftspolitik dargelegt. Und der Abschnitt „Kulturpolitik“ befasst sich in erster Linie mit dem westdeutsch-ungarischen Kulturbeziehungen und ihrem jüngsten Höhepunkt, der Eröffnung des bundesdeutschen Kultur- und Informationszentrums in Budapest. Abschließend werden mehrere konkrete kulturpolitische Vorhaben in Zusammenhang mit den Ungarndeutschen und der deutschen Sprache in Ungarn dargelegt. *** Politischer Halbjahresbericht Ungarn Stand vom 31.07.1988 Nur zur Unterrichtung des Auswärtigen Amts I. Innenpolitik 1. Ein Rückblick auf die vergangenen 5 Monate politischer Entwicklung in Ungarn verhält zunächst bei dem 22. Mai, der Parteikonferenz und ihren Beschlüssen zur Ablösung [János] Kádárs durch [Károly] Grósz als Generalsekretär der USAP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] und zur Verabschiedung der alten Garde der bisherigen Führung. Die parteiinternen Auseinandersetzungen in Vorbereitung der Parteikonferenz, die Anstrengungen um die jeweilige Unterstützung aus Moskau (Besuch [Andrei A.] Gromykos im Februar, [Nikolai I.] Ryschkows im April) sind seit dem 22. Mai nur noch Vergangenheit. Die Parteikonferenz schuf vorbehaltlos die personellen und sachlichen Voraussetzungen zu dem von Grósz propagierten Kurs, die erforderliche Wirtschaftsreform in Ungarn durch politische Reformen zu begleiten und so die Bevölkerung wirtschaftlich und politisch zu engagieren, über wirtschaftspolitisch notwendige, aber sozialpolitisch schmerzhafte Maßnahmen hinwegzukommen und schließlich Wirtschaftskreise und Politik des Westens für Ungarn weiter zu interessieren. 2. Nachdem sich Grósz zu diesem Kurs auch der Unterstützung Moskaus sicher sein kann, warten die politischen Beobachter – weniger die noch skeptisch verharrende Bevölkerung – auf den Vollzug des Reformprogramms. Das Zentralkomitee suchte in seinen Sitzungen vom 23. Juni und vom 13. Juli hierfür mit einem „Aufgabenpaket“ die Zielmarken zu setzen: – Demokratisierung und Transparenz der Partei – Öffentlichkeit der Partei- und Regierungsarbeit – Wahlrechtsreform zur Beteiligung aller „konstruktiven“ gesellschaftspolitischen Gruppen, auch außerhalb der Partei

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– Gesetz zur Vereins-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit – Entwicklung einer wirtschaftspolitischen Strategie unter Einschluss von Programmen zur Verbesserung der sozialpolitischen Lage (Renten, Arbeitslosenunterstützung) sowie des Erziehungs- und Ausbildungswesens. Nimmt man die inzwischen von der Regierung zu eigen aufgenommene Forderung hinzu, durch Einrichtung eines Verfassungsgerichts und richterliche Überprüfbarkeit von Verwaltungsentscheidungen den Rechtsstaat einzuführen, so sieht man für Ungarn eine Zielvorgabe, die das System weit über die Grenzen eines sozialistischen Modells bisheriger Prägung hinaus in einen neuen Zustand führen würde, den die Befürworter als Optimalmischung von Sozialismus und westlicher Markteffizienz, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erhoffen, den vorsichtige Beobachter aber eher als Ansatz zur Quadratur des Kreises empfindet. Die bisherige Arbeit am „Aufgabenpaket“22 in Parteikomitees, hin und wieder aber auch in öffentlicher Diskussion, erweckt dann auch den Eindruck, dass in fortschreitender Konzipierung die Tabu-Hürden sich immer schärfer abzeichnen: Wie kann eine Marktwirtschaft eingeführt und gleichzeitig dem Staat die Verfügungsgewalt an zentralen Produktionsbereichen erhalten bleiben? Wie kann ausländisches Investitionskapital angezogen und gleichzeitig in seiner Disposition kontrolliert werden? Wie kann die Entwicklung zu politischem Pluralismus unter Beibehaltung des Einparteiensystems verlaufen? Bis Ende 1989 sollen die Komitees hierauf ihre Antworten vorlegen. Nach einem jüngsten Interview von Grósz (01.08.[1988]) werden auch für die Regierungsarbeit noch weitere Organisationsentscheidungen zu treffen sein. Der Beschluss vom Dezember 1987 zur Umstrukturierung der Regierung ist auf 3 Jahre angelegt. Das neu gebildete Handelsministerium wird noch einige Zeit der Einarbeitung brauchen. Weitere Personalentscheidungen sind zu erwarten. Für die Zukunft seiner beiden Ämter: GS [Generalsekretär] und MP [Ministerpräsident], scheint Grósz sich an Gorbatschows Linie orientieren zu wollen, nämlich langfristig eine Verbindung beider Funktionen anzustreben, um zur „sozialen Kontrolle der Parteiarbeit durch die Regierungsarbeit“ beizutragen. Seine Erklärung, in wenigen Monaten das Amt des MP abgeben zu wollen, könnte allein taktisch begründet sein. Partei und Regierung sehen sich in einem „Rennen gegen die Zeit“, den tendenziellen Niedergang der Wirtschaft auch mit Hilfe der politischen Reformen zu wenden. 3. Auch die Gewerkschaften sind aufgerufen, hierzu ihren Teil beizutragen. Nach Ablösung der Führung stellt sich der neuen Mannschaft des Zentralverbandes unter GS [Generalsekretär] [Sándor] Nagy die Aufgabe, die 4,5 Millionen Mitglieder (92% der Arbeiterschaft) zu effektiver Arbeit bei zunächst sinkendem Lebensstandard zu

22  Das sogenannte Aufgabenpaket war in Juni 1988, nach der Parteikonferenz, vom Zentralkomitee verabschiedet worden und sollte der Umsetzung der Beschlüsse der Parteikonferenz dienen.



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motivieren, sich mit dem Problem der Arbeitslosigkeit auseinanderzusetzen, das mit den Anstrengungen für eine produktivere Wirtschaft zwangsläufig auftauchen wird, und sich im Zuge der Pluralismusdiskussion Bestrebungen zur Neugründung von konkurrierenden Gewerkschaften zu stellen. Auch im Gewerkschaftsbereich taucht inzwischen die Forderung nach gesetzlicher Verankerung von Grundrechten entsprechend westlichen Vorbildern auf. In diesem Zusammenhang sich mit dem Streikrecht auseinanderzusetzen, wird für die Reformer bedeuten, sich ein weiteres Tabu sozialistischer Gesellschaftspolitik vornehmen zu müssen. 4. Die oppositionellen Kreise in Ungarn haben im vergangenen Halbjahr an Profil und Resonanz gegenüber der Führung gewonnen, wenn auch noch nicht durch ein Massen-Engagement der Bevölkerung. Die kritischen Zirkel der geisteswissenschaftlichen Intelligenz formieren sich seit Ende letzten Jahres in kleinen Aktionsgruppen mit zum Teil spezieller Zielsetzung und suchen Regierung und Partei mit Aufgaben aktueller Politik herauszufordern und zum Handeln zu veranlassen: – Liberalisierung des Wirtschaftssystems – aktive Umweltpolitik – Verbesserung der Sozialleistungen, besonders bei der Altersversorgung und im Erziehungswesen – Unterstützung der ungarischen Minderheit in Rumänien. Die Gruppen formieren sich u.a. in Jugendverbänden, in politischen Gesellschaften, in künstlerischen und beruflichen Vereinigungen. Aus diesen wiederum bilden sich gemeinsame Foren (Demokratisches Forum vom Dezember 1987,23 gebildet in der Tradition des „Dritten Weges“ von 1945, Netzwerk24 vom März 1988). Bei den Treffen derartiger Foren, die beantragt und zugelassen werden, gelingt es neuen Gruppierungen, die sich bis dahin dem staatlichen Toleranztest nicht ausgesetzt haben, im Rahmen der großen Gruppe der Öffentlichkeit (allerdings auch den Sicherheitsbehörden) bekannt zu werden. Das Regime reagiert bisher wachsam aber umsichtig. Die Aktivitäten dieser „neuen Opposition“ sind im Sinne der Reformpolitik zu mehr Pluralismus und konstruktiv-aktiver Teilnahme der Bevölkerung durchaus erwünscht, wobei bisher, aber durchaus nicht unumstritten innerhalb der Führung, als Grenze das Prinzip der Einheitsvertretung für Partei und Verbände gilt. Die Patriotische Volksfront wird inzwischen von den Oppositionsgruppen als schützende Dachorganisation gesucht. Dagegen nährt sich die „klassische Opposition“ in Ungarn noch immer aus dem Aufstand von 1956 und durch den Austausch mit den emigrierten Landsleuten. Bis zu seinem Abgang war János Kádár ihre zentrale Zielfigur. Vom Nachfolger Grósz und

23  Ungarisches Demokratisches Forum (MDF), gegründet am 27. September 1988 in Lakitelek als Diskussionsforum der national-volkstümlichen Opposition. 24  Netzwerk Freier Initiativen (SZKH), organisiert von der liberal-urbanen Opposition, Vorläuferorganisation des Bundes Freier Demokraten (SZDSZ).

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seinem Regime verlangen diese Oppositionellen die Aufarbeitung der Vorgänge 1956 und die Rehabilitierung von Imre Nagy, eine Forderung, der, wie Grósz selbst erklärte, das Regime mit Rücksicht auf heute noch handelnde Personen bis auf weiteres nicht nachkommen kann. Die übrigen politischen Forderungen dieser Gruppe bleiben allgemein: Freiheitsrecht nach westlichem Vorbild, Austritt aus dem Warschauer Pakt. Das Regime hält die meist vereinzelt wirkenden Vertreter unter enger Kontrolle und lässt sie dieses durch kleine Schikanen, so in der Ausreisepraxis, spüren. Auf einen Hungerstreik von 8 Oppositionellen im Juli gegen die Verweigerung des Weltpasses zur freien Ausreise zeigten Regierung und Partei mehr Wirkung als öffentlich merkbar wurde. Die Argumente der Hungerstreikenden wiesen nämlich in die Richtung der unabhängigen richterlichen Überprüfbarkeit von Verwaltungsentscheidungen, die der Führung als gewichtiger, bisher nicht bewältigter Brocken der Reformarbeit vor Augen steht. Zur Demonstrationsfreiheit in Ungarn brachte das vergangene Halbjahr drei markante Beispiele: Eine Demonstration [am 16. Juni 1988] zum Todestag von Imre Nagy wurde von der Polizei in unverhältnismäßig harter Reaktion aufgelöst. Nach interner Begründung ging das repressive Vorgehen auf Entscheidungsfehler der Polizeiführung zurück. Grósz begründete öffentlich die Reaktion mit der Notwendigkeit, bei zunehmender Liberalisierung des Systems der Opposition ihre Grenzen zu zeigen. Eine Demonstration gegen die Umweltgefahren des projektierten Donau-Staudamms bei Nagymaros [am 27. Mai 1988] wurde von der Regierung als ein Beleg möglicher konstruktiver Opposition im Lande toleriert und sogar propagiert. Eine Massendemonstration gegen die rumänische Minderheitspolitik [am 27. Juni 1988] war von den Sicherheitskräften mit einiger Sorge erwartet worden. Die privat initiierte Demonstration verlief friedlich, die Sicherheitsmaßnahmen waren rein polizeilich (und nicht militärisch) eingerichtet gewesen. Die Regierung buchte anschließend diese bisher in einem sozialistischen Land nicht geübte Form einer Demonstration (private Initiative, aber im Sinne der nationalen Politik) als Erfolg der Demokratie-Entwicklung in Ungarn. II. Außenpolitik 1. Die Außenpolitik Ungarn wurde im vergangenen Halbjahr von vier Prioritäten bestimmt: 1.1. Die Absicherung des Reformkurses durch Zustimmung Moskaus sucht die Führung durch engen Schulterschluss mit [Michail] Gorbatschow. So wurde die Parteikonferenz als Parallelveranstaltung zur Allunionskonferenz geplant und terminiert. Die Besuche Ryschkows in Budapest im April und von Grósz nach seiner Wahl zum GS [Generalsekretär] in Moskau im Juli bestätigten aus ungarischer Sicht die umfassende Harmonie in den Beziehungen beider Parteien und Staaten:



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–  Übereinstimmung der Reform von KPdSU [Kommunistische Partei der Sowjetunion] und USAP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei]. –  Vorbehaltlose Unterstützung Ungarns der sowjetischen Außenpolitik des Dialogs mit dem Westen, der in allen Bereichen: Wirtschaft, Abrüstung, Kultur, direkten ungarischen Interessen entspricht. –   Die stagnierenden Wirtschaftsbeziehungen beider Länder lassen das Klima zwischen ihnen unberührt. Ungarn kann sich auf in etwa gleichbleibende Energielieferungen aus der Sowjetunion in den nächsten 5 Jahren verlassen. Bei im Übrigen für Ungarn dürftigem Exportangebot der SU bleibt die Bilanz auf mittlerem Niveau in etwa ausgeglichen. 1.2. Für die Öffnungspolitik zum Westen suchte Grósz im vergangenen Halbjahr über die inzwischen solide Basis zu uns hinaus den angelsächsischen Raum zu gewinnen. Seine Reise nach Großbritannien im Mai und in die USA im Juli waren in erster Linie darauf angelegt, dort das wirtschaftliche Interesse für Ungarn zu wecken. Konkrete Ergebnisse stehen noch aus. Die Reise in die USA, wie auch in London erstmalig ein Besuch eines ungarischen Regierungschefs seit dem Kriege, endete auch im Politischen mit wenig greifbarer Substanz, aber als erheblicher PR-Erfolg für den Politiker Grósz und seine Konzeption der wirtschaftlichen und politischen Westöffnung Ungarns. Im eigenen Land konnte Grósz den Eindruck einer selbstsicher, zielbewusst und dynamisch agierenden Führung verstärken. Das Bild einer international anerkannten ungarischen Außenpolitik, deren Stimme in Moskau wie auch in Washington gehört wird, hebt hier das überall, wenn auch zuweilen nur latent vorhandene Nationalbewusstsein. 1.3. Im multilateralen West-Ost-Dialog, besonders in der KSZE, sucht Ungarn weiterhin sich als engagierter Partner zu profilieren, zuletzt mit seinem Eintreten für die Aufnahme der „human dimension“ in das zwischenstaatliche Gespräch, auch im sozialistischen Lager. So erklärte das Politbüro der USAP in seiner jüngsten Sitzung zum Konsultativtreffen des WP am 15./16.07. in Warschau es als „äußerst wichtig, in der zukünftigen Zusammenarbeit der sozialistischen Länder den menschenrechtlichen und humanitären Fragen größere Bedeutung beizumessen“ und die hierfür einzurichtende Arbeitsgruppe im Rahmen des WP zu bilden. Zur konventionellen Abrüstung in Europa ist es das inzwischen auch öffentlich erklärte Ziel Ungarns, in diesem Prozess den Abzug der sowjetischen Truppen zu erreichen. Dabei scheint die ung. Politik bereit, eine Verknüpfung der Themen „konventionelle Abrüstung“ und „human dimension“ als vertrauensbildende Faktoren zu akzeptieren. 1.4. Gewisse Gefahren für die gewünschte wirtschaftliche und politische Öffnung nach Westen sieht Ungarn in der weiteren Integration Europas. Man verfolgt hier mit einiger Sorge die Entwicklung der EG zu einem Binnenmarkt bis 1992 und sucht nach Wegen, das Tor dorthin zu öffnen. Als überaus wichtig und

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hilfreich hierzu wird der Abschluss des Handelsabkommens Ungarn – EG empfunden. Die Hilfe der deutschen Präsidentschaft hierbei wurde dankbar gesehen. 1.5. Das größte außenpolitische Problem sieht Ungarn zur Zeit in seinen Beziehungen zu Rumänien wegen der dortigen Behandlung der ungarischen Minderheit. Erklärte Politik Ungarns ist es, das Problem bilateral zu lösen. Zugleich aber sucht Budapest unter Berufung auf Menschenrechte und das kulturelle Erbe Europas das Verhalten Rumäniens zu einem von der Staatengemeinschaft aufzugreifenden Tatbestand zu machen und dabei besonders in der Frage der rumänischen Dorfsiedlungspolitik eine Gemeinschaft mit unserem Anliegen für die deutsche Minderheit in Rumänien herzustellen. Die ung. Außenpolitik ist bemüht, dies auch mit Blick auf die ČSSR, jeden Anschein einer gegenüber dem Trianonvertrag revanchistischen Politik zu vermeiden. Gegenüber der eigenen, hochsensibilisierten Öffentlichkeit (Großdemonstration im Juni, eine weitere voraussichtlich im September) sucht die Führung eine kraftvolle Politik des Anspruchs auf die Fürsorge für die Landsleute in urungarischem Land (wenn auch heute auf fremdem Staatsgebiet) darzustellen. 2. Zu den übrigen WP-Partnern verliefen die Beziehungen im Berichtszeitraum eher zurückhaltend, wenn man von Polen absieht. 3. Mit dem Nachbarn Österreich entwickelt sich die Zusammenarbeit intensiv und problemfrei, wie der Besuch von Außenminister [Alois] Mock im Mai bestätigte. Als weiteren Brückenschlag zum Westen sucht Ungarn eine gemeinsame Weltausstellung in Budapest und Wien zu realisieren und im Übrigen die Grenze für Waren und Touristen weitgehend zu öffnen. Grósz wird voraussichtlich noch in diesem Jahr nach Wien reisen. 4. Ein neuer Akzent ungarischer Außenpolitik wurde durch Besuche von Außenminister [Péter] Várkonyi in Südostasien deutlich. Budapest sucht in diesem Raum vorwiegend Absatzmärkte und Investitionskapital, möchte aber auch im politischen Gespräch dort präsent werden. 5. Die bilateralen Beziehungen zur Bundesrepublik haben sich im vergangenen Halbjahr weiter vertieft und dies im Wesentlichen durch einen regen Besucheraustausch mit dem Höhepunkt des BM-Besuches [Besuch von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher] anlässlich der deutschen Kulturwoche und der Eröffnung des GoetheInstituts im März. Nach dem Kredit des letzten Jahres rechnet Ungarn wohl nicht mit weiteren wirtschaftlichen Vorteilen von unserer Seite in naher Zukunft, wohl aber mit anhaltender politischer Zuwendung und dem Verständnis für die Ziele und Anstrengungen der ungarischen Reformpolitik. So wird jeder offizielle Besuch, auch aus Bun-



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desländern und Kommunen, hier positiv aufgenommen. Das ungarische Außenministerium erhofft sich regelmäßige Regierungskontakte durch jährliche Besuche der Außenminister und Begegnungen der Regierungschefs in 2-jährigem Abstand. Mit der Aufnahme des erleichterten Reiseverkehrs für offizielle und Geschäftsbesuche (Visa-Freiheit für Inhaber von Diplomatenpässen, Erleichterungen für Geschäftsreisende) im März wurde dem ungarischen Wunsch nur teilweise entsprochen. Hier strebt man weiterhin nach visafreiem Reiseverkehr in die Bundesrepublik. Insgesamt können wir mit dem Stand unserer Beziehungen zu Ungarn, auch im Vergleich zu unseren westlichen Partnern, zufrieden sein. Die Besuche von Grósz in Großbritannien und in den USA können die Westorientierung Ungarns erweitern, werden die Beziehungen zu uns aber nicht mindern. Das Verhältnis zu Frankreich bleibt von geringerer Bedeutung, überwiegend wegen nach wie vor ausbleibenden Engagements der französischen Seite, wie bei einem Besuch des französischen Außenministers in Budapest erneut deutlich wurde. Die ungarische Außenpolitik sieht, dass die erstrebte Zugehörigkeit zu Europa über die Nabelschnur zum deutschsprachigen Bereich gebildet und erhalten wird. III. Wirtschaftspolitik Nach anfänglichen Aussichten mäßigen Wachstums zu Jahresbeginn zeigt sich die ungarische Wirtschaft zur Jahresmitte stagnierend. Zwar konnte außenwirtschaftlich erheblich an Boden gewonnen werden, doch gleicht dies insgesamt lediglich die Rezession der Binnenwirtschaft aus. Wirtschaftswissenschaftler, die schon im Frühjahr 1987 an der aufsehenerregenden Studie „Wende und Reform“25 mitgearbeitet und dabei eine drastische Liberalisierung der ungarischen Wirtschaft gefordert hatten, haben jetzt eine Prognose für das laufende Jahr verfasst, die sie „Mitteilungen aus dem Tunnel“ überschreiben und in der sie davor warnen, dass die gegenwärtige Stagnation bis zum Jahresende in Produktionsrückgang, noch weiter angeheizte Inflation und sich vermehrende Arbeitslosigkeit münden könnte. Ihnen zufolge weist Verschiedenes daraufhin, dass die ungarische Wirtschaft 1988 ihre bisher größte Belastungsprobe zu bestehen hat. Die Inlandsproduktion lag im ersten Halbjahr 1988 um bloß 0,2% höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres; an der Spitze Baumaterial und Hüttenwesen mit +5,3 bzw. +3,9%, überdurchschnittlich immerhin Chemie und Maschinenbau (+1,0 bzw. +0,7%), abgeschlagen die Lebensmittelbranche (–3,0%). Die landwirtschaftliche

25  Zum (deutsch- und ungarischsprachigen) Wortlaut der Studie siehe László Antal/ Lajos Bokros/ István Csillag/ László Lengyel/ György Matolcsy: Fordulat és reform [Wende und Reform]. In: HerderInstitut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UO-d7a4ba (Zugriff: 01.11.2015).

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Erzeugung blieb, gemessen an den staatlichen Aufkäufen von Agrarprodukten, um 0,8% hinter dem Vergleichsergebnis zurück; pflanzliche Erzeugnisse und tierische Produkte legten zwar um 2,6 bzw. 2,4% zu, doch schnitt die Vermarktung von Lebendvieh um 3,2% schlechter ab. Im Außenhandel gegen konvertible Währungen wurde bis zum 30.06. in laufenden Forintwerten um 1,3% weniger im- und um 20,0% mehr exportiert als im ersten Halbjahr 1987. Zum 31.05.1988 ist ein Handelsdefizit von 15,7 Mio. US-$ angelaufen, nachdem es zu diesem Stichtag im Vorjahr noch bei 474,6 Mio. US-$ gelegen hatte. Gegen Rubel-Verrechnung gingen Ein- und Ausfuhr in den ersten sechs Monaten dieses Jahres zurück (–3,9 bzw. –6,2%); der Saldo lag zum 31.05. bei –62,3 Mio. Rubel (–37,3 Mio. Rubel). Von inländischen Beobachtern werden die außenwirtschaftlichen Erfolge in Hartwährung dennoch als durch Subventionierung künstlich aufgebläht sowie als in der Struktur nach wie vor nicht zukunftsträchtig (da schwergewichtig in materialintensiven Bereichen wie Hüttenwesen und chemischen Vorprodukten) kritisiert. Zahlen des Statistischen Bundesamtes über unseren Außenhandel mit Ungarn in DM-Werten legen bisher wenig aussagekräftig erst für Januar vor (Ausfuhren –12,6%, Einfuhren –8,9%). Ungarischen Angaben in Forint zufolge ist der zu unseren Gunsten bestehende Außenhandelssaldo im ersten Quartal dieses Jahres gegenüber der Vorjahresperiode weiter um 61,7% zurückgegangen. Ungebremst aufwärts weist die Entwicklung im Fremdenverkehr mit westlichen Ländern. In den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres kamen erneut 29,1% mehr Besucher (bzw. 19,2% mehr Touristen, d. h. mit mindestens 24stündigem Aufenthalt) aus westlichen Ländern nach Ungarn als von Januar bis Mai 1987. Inoffiziellen Angaben zufolge brachten sie um 41% höhere Deviseneinnahmen ins Land. Mit der runden Verdreifachung der Auslandsreisen von Ungarn in westliche Richtung seit Inkrafttreten der neuen Passbestimmungen zum Jahresbeginn haben sich jedoch auch die ungarischen Devisenausgaben im Fremdenverkehr nicht unerheblich erhöht. Mit den sozialistischen Staaten ist der Tourismus hingegen beträchtlich zurückgegangen (19,7% weniger Besucher aus der ČSSR, 39,7% weniger aus Polen), was bestimmte Teile der ungarischen Fremdenverkehrswirtschaft, die auf jene Kundschaft ausgerichtet sind, teilweise vor Existenzprobleme stellt. Der 1. Vize-Präsident der Ungarischen Nationalbank, János Fekete, hat den Verschuldungsstand Ungarns in konvertiblen Währungen zum 30.06.1988 mit brutto 16,7 Mrd. US-$, netto (unter Abzug von Gold- und Devisenreserven sowie sonstiger Auslandsforderungen) 10,4 Mrd. US-$ beziffert. Die Verringerung gegenüber dem Jahresende 1987 (17,7 bzw. 10,9 Mrd. US-$) führte er allein auf die Wechselkursentwicklung des Dollar zurück. Die Geldeinkünfte der ungarischen Bevölkerung aus zentralen Quellen waren im ersten Halbjahr 1988 11,9% höher als im ersten Halbjahr 1987. Der Rückgang des Lebensstandards der Ungarn wird deutlich, wenn man hierzu den Anstieg der Verbraucherpreise im Vergleich beider Perioden um 16,5% gegenüberstellt. Die Einzelhandelsumsätze waren nominal um 10,8% höher, real jedoch um 5,8% geringer.



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Das offizielle Ziel einer 15%-igen Preissteigerung für das laufende Jahr, das ohnedies von allen Seiten beargwöhnt worden war, wird jetzt auch regierungsseitig nicht mehr aufrechterhalten. Der Regierungssprecher nannte zuletzt die Ziffer von 17%, nachdem sich die Regierung veranlasst gesehen hatte, zur Reduzierung des Fehlbetrages im Staatshaushalt die Benzinpreise um rd. 10% heraufzusetzen. Das Budgetdefizit hat, [so] ist zu hören, inzwischen bereits 30 Mrd. Ft. [Forint] erreicht (nicht zuletzt wegen zu optimistischer Einnahmenschätzungen hinsichtlich der neu gestalteten Einkommensteuer, die bestenfalls mit 50 Mrd. Ft. 1988 um 8 Mrd. Ft. spärlicher fließen dürfte als vorhergeschätzt). Im Haushaltsplan ist ein Defizit von 20,4. Mrd. Ft. veranschlagt, davon jedoch 10 Mrd. Ft. als Haushaltsreserve, die nicht in Anspruch zu nehmen sich Ungarn dem IWF gegenüber verpflichtet hat. Vor der Benzinpreiserhöhung schon waren die zuvor massiv subventionierten Wohnungsbaukredite erheblich verteuert und der Forint – in Erfüllung einer Zusage an den IWF, aber ebenfalls preistreibend – um 6% abgewertet worden. Gegen Benzinpreiserhöhung und Forintabwertung erhoben die Gewerkschaften Protest, die sich dabei als Interessenvertretung der Arbeitnehmer übergangen fühlten. Die Antwort des Stellvertretenden Ministerpräsidenten [Péter] Medgyessy, die Regierung konsultiere mit den Gewerkschaften die wirtschaftlichen Entwicklungstrends, aber nicht jede wirtschaftspolitische Maßnahme, vermochte diese nicht zu befriedigen. Der Konflikt erscheint nicht völlig beigelegt. Als neuer Meilenstein im ungarischen Reformprozess wird das z.Zt. in Vorbereitung befindliche neue Körperschaftsgesetz hingestellt, welches die Ungarische Nationalversammlung bei ihrer Septembersitzung verabschieden und zum 01.01.1989 in Kraft setzen soll. Es soll die Formen staatlichen, genossenschaftlichen, privaten und ausländischen Eigentums an Produktionsmitteln als gleichberechtigt miteinander verknüpfbar machen und dabei den Weg für Unternehmen in gemischtem (staatlichprivatem) Eigentum, für Aktienemissionen auch durch Staatsunternehmen, aber auch für Unternehmen in 100%-igem ausländischem Eigentum öffnen. Einzelheiten des Gesetzes sind noch nicht bekannt. Zu Anfang kommenden Jahres soll auch eine ungarische Börse wiedererstehen. Der bisherige institutionalisierte Wertpapierhandel unter 24 Finanzierungsinstituten hat sich allerdings nur sehr zögerlich angelassen. Die Begeisterung des Publikums für Obligationen ist abgeebbt, seit der Staat ab 01.01.1988 die Zinsen nicht mehr garantiert und die Verzinsung nach Abzug der neu darauf erhobenen 20%-igen Einkommensteuer trotz Zinsboni unter die Inflationsrate abgerutscht ist. Auch die neu in diesem Jahr herausgebrachten Schatzanweisungen zur Finanzierung des Haushaltsfehlbetrages könnten nicht zuletzt angesichts der inzwischen erhöhten Sparzinsen erst vollständig platziert werden, nachdem ihre Verzinsung z. T. auf das Eineinhalbfache heraufgesetzt worden war. Nachdem die Parteikonferenz im Mai über die personellen Veränderungen lediglich eine wenig substanzielle Bestätigung des wirtschaftspolitischen Programms von Partei und Regierung aus dem Vorjahr verabschiedet hatte, standen auf der Sitzung

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des USAP-Zentralkomitees am 13./14.07.1988 im Sinne einer Weichenstellung für die kommenden ein-zwei Jahre zwei wirtschaftspolitische Varianten zur Diskussion. Die radikalere (A) gibt auf der Grundlage größerer Liberalisierungsschritte sowie der Kraft von Marktmechanismen der wirtschaftlichen Umstrukturierung und beschleunigten Anpassung an den weltwirtschaftlichen Wandel höchste Priorität, sieht dabei aber höhere Inflation und Arbeitslosigkeit sowie das Auftreten sozialer Spannungen voraus. Die gemäßigtere Option (B) ordnet das Umstrukturierungsziel der kurzfristigen Handelsbilanzverbesserung sowie einer betonteren Restriktionspolitik unter und verspricht kurzfristig die Mäßigung sozialer Spannungen. Insbesondere besorgt über die gesellschaftlichen Folgen der erstgenannten Variante, aber auch unter dem Eindruck kritischer Stimmen wie der des neuen Nationalbank-Präsidenten [Ferenc] Bartha, demzufolge Variante A die Bedienung der ungarischen Auslandsschulden infrage stellen müsste, hat das ZK die wirtschaftspolitische Grundsatzentscheidung auf seine Oktobersitzung vertagt, indem es für die Ausarbeitung der Alternative A (die eine echte Wende in der ungarischen Wirtschaftspolitik bedeuten würde), zugleich aber auch die weitere Befassung mit der Alternative B stimmte. Wie oben dargelegt, hat Ungarn aber möglicherweise immer weniger Zeit, eine echte wirtschaftliche Belastungsprobe abzuwenden. IV. Kulturpolitik Im Berichtszeitraum stellen die beiden herausragenden Ereignisse in den deutschungarischen kulturellen Beziehungen die Eröffnung eines Goethe-Instituts in Ungarn am 10.03.1988 sowie die Kulturwoche der Bundesrepublik Deutschland vom 9.–15. März 1988 dar. Zu diesem Anlass reiste BM Genscher vom 9.–10. März nach Budapest. Die deutsche und ungarische Presse thematisierte beide Ereignisse ausführlich. Daneben verstärkten sich die Aktivitäten hinsichtlich der Umsetzung der gegenseitigen Vereinbarung zur Förderung der ungarndeutschen Minderheit vom Oktober 1987. Die Abwicklung der einzelnen Projekte – darunter allein 180 Stipendien verschiedener Art in die Bundesrepublik Deutschland – forderte einen erhöhten Einsatz der Botschaft insbesondere auf dem Gebiet der Sprachförderungsmaßnahmen in Zusammenarbeit mit verschiedenen deutschen Mittlerorganisationen, der noch andauert. Daneben fanden auch im Berichtszeitraum wieder eine Reihe von offiziellen Besuchen aus der Bundesrepublik Deutschland statt, die teilweise ebenfalls ihren Schwerpunkt bei der deutschen Minderheit in Ungarn hatten. So hielten sich Staatssekretär [Alois] Glück (Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus) und Prof. [Karl-Heinz] Hornhues, MdB, teilweise zu Gesprächen in Fünfkirchen (Pécs) auf, ebenfalls StS [Staatssekretär] [Hans-Ludwig] Schreiber (Ministerium für Kultur Niedersachsen) und Minister a. D. Prof. [Bruno] Heck (Konrad-Adenauer-Stiftung), Letzterer aus Anlass der Veranstaltung „Europa cantat“. Im Zusammenhang mit der Eröffnung der Ausstellung des Museumsdorfs Cloppenburg im Ethnografischen Museum Budapest reiste der niedersächsische Minis-



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ter für Kultur,26 [Johann-Tönjes] Cassens, an. Im Bereich Sport ist auf den Abschluss eines gegenseitigen Vertrags zwischen dem ungarischen Staatlichen Amt für Jugend und Sport und dem Deutschen Sportbund hinzuweisen, den der Präsident des Deutschen Sportbundes in Budapest unterzeichnete. Im Zusammenhang mit dem Besuch des Ausschusses für Jugend und Familie des Abgeordnetenhauses in Berlin (West) kam es zu den bekannten Schwierigkeiten bei der Vorbereitung der Reise. Außerdem hielt sich eine deutsche Delegation zu Verhandlungen über die endgültige Unterbringung des Goethe-Instituts in Budapest auf. Auf dem Gebiet des Kulturaustauschs fand eine Reihe von Veranstaltungen statt, die zumeist in direkten Kontakten zu Partnern in der Bundesrepublik Deutschland zustande gekommen waren. Hervorzuheben ist eine Ausstellung des Heinrich-HeineInstituts in Düsseldorf im Petőfi-Literaturmuseum Budapest. Im Bereich Film besteht aus finanziellen Gründen weiterhin ein großer Bedarf an Unterstützung, sodass die Botschaft im Nachgang an die sehr erfolgreichen Filmveranstaltungen während der Kulturwoche eine Serie von deutschen Nachwuchsfilmen, zusammengestellt vom Goethe-Institut München, an ein Budapester Kino vermittelte. Die Bemühungen um eine Unterstützung des Deutschunterrichts dauern fort und haben durch die Vielzahl der durch die „Vereinbarung“27 festgelegten Maßnahmen einen starken Impuls bekommen. Die ungarische Seite ihrerseits zeigt sich auf diesem Sektor sehr kooperationswillig. Die Diskussionen um eine Veränderung der politischen Strukturen findet in der kulturellen Szene lebhaftes, teilweise kritisches Echo. Ein Treffen zwischen Intellektuellen und Ministerpräsident Grósz hat keine Veränderung der kritischen Einstellung eines großen Teils der oppositionellen Intelligenz gebracht. Nicht eingelöste Versprechen (wie Änderung der Passgesetze) wie das rigide Einschreiten der Polizei bei der Demonstration zum 30. Todestag von Imre Nagy haben vielmehr Teile der Opposition dazu gebracht, zu so spektakulären Aktionen wie einem Hungerstreik zu greifen. Wenngleich einzelne prominente Vertreter der Opposition z. B. nun in der Literaturzeitung „Élet és Irodalom“ vereinzelt schreiben dürfen (György Konrád, István Eörsi), so stehen grundsätzliche Veränderungen aus ihrem Blickwinkel noch aus. Vorschau Die Umsetzung der Vereinbarung zur Förderung der ungarndeutschen Minderheit wird durch die kommende Sitzung der Unterkommission der Gemischten Kulturkommission für das Jahr 1989 konkretisiert werden. Ebenso sollen die Verhandlungen zur endgültigen Unterbringung des Goethe-Instituts im Herbst fortgeführt werden. Ab September werden zwei weitere Lektoren in Pécs/ Fünfkirchen und Szeged sowie

26  Richtig: Minister für Wissenschaft und Kunst. 27  Siehe Dokument 3.

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zwei entsandte Fachberater in Baja und Gyönk/ Jink ihren Dienst antreten. Eine Konferenz mit dem Ziel der Entwicklung von Arbeitsmaterialien speziell für den Deutschunterricht der deutschen Minderheit in Ungarn, die von der Botschaft initiiert und mitorganisiert wurde, steht im September bevor. Der DAAD [Deutscher Akademischer Austauschdienst] wird im November ein Treffen deutscher und ungarischer Germanisten organisieren. BM [Bundesminister] [Jürgen] Möllemann, dessen im Juli geplanter Besuch wegen der Ablösung des bisher amtierenden ungarischen Ministers für Kultur und Bildung verschoben worden war, wird im Oktober erwartet. Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

Dokument 15 Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an ZK-Sekretär Miklós Németh vom 22. September 1988 über die Möglichkeiten zur Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen In seinem Schreiben machte Botschafter István Horváth den führenden Wirtschaftspolitiker der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei und zukünftigen Ministerpräsidenten Miklós Németh mit dem „inhaltlich wichtigeren Teil“ einer Vorlage des Bundeskanzleramts, die ihm im Vorfeld der Sitzung des gemischten deutsch-ungarischen Wirtschaftsausschusses vertraulich zugespielt worden war, bekannt.28 Das Bundeskanzleramt plädiert darin grundsätzlich für eine umfassende und langfristige Stärkung der ungarischen Wirtschaft durch die Bundesrepublik und führt eine Reihe von Möglichkeiten zur Verbesserung der westdeutsch-ungarischen Wirtschaftsbeziehungen auf. Diesbezüglich spricht sich Bonn in erster Linie für eine Intensivierung der Unternehmenskooperation, insbesondere auch in Form einer Beteiligung westdeutscher Firmen an ungarischen Unternehmen (Joint Ventures), für die Unterstützung der ungarischen Reformvorhaben und Exportmöglichkeiten auf internationaler Ebene (GATT, IWF, EG usw.) sowie für „neu durchdachte Exportkredite“ aus. Gleichzeitig nennt Bonn auch zahlreiche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Weiterentwicklung der Wirtschaftsbeziehungen: „freien Handel ohne administrative Hindernisse“, einen „ungehinderten Kapitalfluss“, die Ausweitung der Selbstständigkeit und Verantwortung der ungarischen Unternehmen, die Stärkung des ungarischen Privatsektors, die Diversifizierung der Eigentumsformen sowie Subventionsabbau und Liquidierung unwirtschaftlicher Betriebe in Ungarn – auch unter Inkaufnahme von „Inflation, Bankrotte(n) und Arbeitslosigkeit“. Hinsichtlich des geplanten Gesellschaftsgesetzes wird in der Vorlage darauf

28  Da es nicht möglich war, auf das originale deutschsprachige Dokument zuzugreifen, handelt es sich im Folgenden zwangsläufig um eine Rückübersetzung.



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verwiesen, dass dieses „klare Perspektiven“ bieten müsse, und zwar sowohl für inländische als auch für ausländische Anleger bzw. Wirtschaftsakteure.

Genossen Miklós Németh Mitglied des Politbüros der MSZMP ZK-Sekretär der MSZMP Budapest

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Bonn, 22. September 1988 Lieber Genosse Németh! Das Kanzleramt erstellte vor der Sitzung des ungarisch-westdeutschen gemischten Ausschusses eine Beurteilung über die ungarisch-westdeutschen Wirtschaftsbeziehungen und über die innere Lage in Ungarn. Der inhaltlich wichtigere Teil der Beurteilung, den ich meinem Brief zu Deiner persönlichen Verwendung beifüge, wurde mir in vertraulicher Form zur Verfügung gestellt. Mit freundschaftlichen Grüßen Dr. István Horváth Ungarisch-westdeutsche Wirtschaftsbeziehungen 1) Bilateraler Handel Seit 1986 rückläufig. 1987: Export aus der BRD auf 2,9 Mrd. DM gesunken (–3,5%). Der Import [in die BRD] stieg (+3,5%) und macht 2,2 Mrd. DM aus. Tendenz für 1988: Weiterer Exportrückgang (ca. 8%) und Importverringerung (ca. 1%) 2) Bilaterale Zahlungsbilanz Die ungarische Seite verbesserte 1987 ihre Einnahmen in der Sphäre des Tourismus und des Transports beträchtlich. Tendenz für 1988: Weiteres bedeutendes Wachstum, insbesondere wegen der günstigen Entwicklung des Tourismus. Schlussfolgerung: Trotz der günstigen Indikatoren des Tourismus bleibt die Entwicklung der ungarisch-westdeutschen Wirtschaftsbeziehungen unter den gesteckten Zielen. Möglichkeiten der Verbesserung der Wirtschaftskooperation Die deutsche Seite muss alle Möglichkeiten unterstützen, die der dauerhaften Stärkung der ungarischen Wirtschaft dienen. Dieses Ziel kann nur auf dem Wege eines

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freien Handels ohne administrative Hindernisse und mit einem ungehinderten Kapitalfluss erfolgreich verwirklicht werden. 1) Die Kooperationsmöglichkeiten zwischen den ungarischen und deutschen Unternehmen müssen intensiviert werden. Das vor kurzem zu Gesetzeskraft gelangte Investitionsschutzabkommen kann diesen einen weiteren Impuls geben. Von den bisher zustande gekommenen Joint-Venture-Vereinbarungen wurde in 24 Fällen mit der Arbeit begonnen. Dies ist zu wenig, um die ungarisch-deutschen potenziellen Möglichkeiten auch nur marginal auszuschöpfen. Die Chemieindustrie, der Maschinenbau, die Unterhaltungselektronik und der Bereich der Software bieten breiten Spielraum für eine tiefere Zusammenarbeit bei der Entwicklung der gemeinsamen Exportinteressen. Voraussetzung hierfür ist eine wesentliche Verbesserung der Voraussetzungen seitens der ungarischen Seite zur Entfaltung des Innovationspotenzials und der Innovationsideen, d. h. mehr Liberalisierung auf dem Weg der Entwicklung der Unternehmensselbstständigkeit und Unternehmensverantwortung und eine Diversifizierung der Unternehmenseigentumsformen gemäß den Markterfordernissen, die der Konsument bestimmt. Die Tatsache, dass infolge der ungarischen Dezentralisierung mehr als 20.000 neue gewerbliche Kleinbetriebe ihre Tätigkeit aufgenommen haben und ca. 120.000 Handwerker selbstständig wurden, verrät die Leistungsfähigkeit und Tauglichkeit der ungarischen Wirtschaft und zeugt von einer gesunden Basis, die im Konkurrenzkampf mit solider Arbeit unter jeglichen Marktbedingungen ihren Mann steht. Diese Faktoren bedeuten eine überzeugende Verlockung für Investitionen, insbesondere in der Sphäre der kleinen und mittleren Unternehmen, die in jeder marktorientierten Wirtschaft das Rückgrat der Industrie bildet. Die Frage, ob die Möglichkeit der Entfaltung genutzt wird, hängt […] davon ab, inwieweit die ungarische Seite die staatlichen und genossenschaftlichen Eigentumsformen zugunsten von Entwicklungsstrukturen auf privatwirtschaftlicher Basis, bei denen sich Arbeit und Risikoübernahme auf angemessene Weise auszahlen, zurückdrängt. Währenddessen macht der Staat nur in solchen Bereichen von seinem Interventionsrecht Gebrauch, wo dies wegen seiner sozialen Verpflichtungen notwendig und richtig ist. Der ungarische staatliche Sektor umfasst noch immer 90 Prozent der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion. Die Erfahrungen zahlreicher Staaten zeigen aber, dass ein derart hoher Anteil der staatlichen Rollenübernahme die Initiative zur Leistungsentfaltung bremst, die Kreativität und Entfaltung von Ideen auszehrt, zugleich bedeutende Verluste bei den staatlichen Steuereinnahmen verursacht und zu einer Vernachlässigung der jeweiligen realen Bedürfnisse der Massen führt. In einer Wirtschaft, die einen zu hohen Staatsanteil repräsentiert, brachte die Legalisierung der zweiten Wirtschaft, die in solchen Fällen notwendigerweise entsteht, immer ein sichtbares und schnelles Ergebnis. 2) Das Gesellschaftsgesetz, das sich in der Phase der Vorbereitung durch die ungarische Seite befindet, muss klare Perspektiven bieten. Dies schafft Chancen für eine



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„Vertrauen weckende“ Entwicklung. Es ist […] eine entscheidende Frage, ob auch die Bevölkerung die durch das Gesetz eröffneten Möglichkeiten für ein wirtschaftliches Engagement und zum Kauf von Wertpapieren nutzt. Dies setzt Vertrauen in die Stabilität und Kontinuität der Wirtschaftsentwicklung voraus. Diese würde weiter gestärkt, wenn ausländische Interessenten – deren Zahlungsfähigkeit und guter Ruf unbestreitbar ist – sich an ungarischen Unternehmen beteiligen würden. Die ungarische Seite kann dann mit realen Erfolgschancen rechnen, wenn sie die Interdependenz solcher Bewertungen erkennt. All dies wird aber davon abhängen, in welchem Maße die ungarische Seite den Liberalismus, den sie den Partizipanten in der Frage der Unternehmensselbstständigkeit bereitzustellen gewillt ist, festlegt. 3) Es ist unzweifelhaft, dass der sich entfaltende Liberalisierungsprozess für die ungarische Seite Inflation, Bankrotte(n) und Arbeitslosigkeit mit sich bringt, und zwar infolge des notwendigen Subventionsabbaus, der schrittweisen Liquidierung der nicht wettbewerbsfähigen Unternehmen sowie der Entwicklung realistischer Wertverhältnisse bezüglich der Kosten, der Waren und der Dienstleistungen. Je früher Ungarn sich diesen Herausforderungen stellt und der Bevölkerung klarmacht, dass diese die Folgen der Fehler der Vergangenheit sind, desto kleiner werden die Lasten sein und die Reformen werden als Perspektive für die Erholung der Wirtschaft akzeptabel werden. Eine klare Formulierung ohne Kompromisse kann die Zustimmung zur Notwendigkeit der Entwicklung effektiver Produktionsmethoden stärken, vorausgesetzt, dass auch das Handeln konsequent bleibt. 4) Die europäische und insbesondere die deutsche Seite müssen den ungarischen Wirtschaftsreformen besondere Aufmerksamkeit widmen, da eine wachsende Leistungsfähigkeit der ungarischen Wirtschaft und ein Anstieg des Lebensniveaus der Bevölkerung mit ihren eigenen, sich auf den Anstieg des Handelsvolumens richtenden Interessen zusammenfallen. Die deutsche Seite muss deswegen die ungarischen Reformen auf folgende Art und Weise unterstützen: 1. Im Rahmen von GATT, IMF und Weltbank. 2. Mit der Nutzung aller Möglichkeiten, die das Verhältnis EG-RGW eröffnet. 3. Auf dem Weg der von der Richtlinie der EG gewährten Möglichkeiten zur Erhöhung der Kontingente (z. B. mit der Methode der Testausschreibungen). 4. Durch neu durchdachte Exportkredite. 5. Unter Einbeziehung der in der BRD tätigen Verbände und Fachorganisationen zum Zweck einer Reklame, die im Interesse der Entwicklung der durch verschiedene Möglichkeiten sichergestellten Zusammenarbeit entfaltet wird. 6. Auf dem Weg der Erleichterung der in Punkt 5 genannten Möglichkeiten, und zwar so, dass bei den Kooperationsaktivitäten Konstriktionen eine Vorreiterrolle spielen, bei denen die BRD-Unternehmen auch staatliche Mitwirkung in Anspruch nehmen.

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Bei den Verhandlungen des ungarisch-westdeutschen gemischten Ausschusses werden sich bald Möglichkeiten eröffnen, um konkrete Schritte zur Realisierung der hier entwickelten Gedanken zu unternehmen. Quelle: Privatarchiv von Dr. István Horváth, ehemaliger ungarischer Botschafter in Bonn (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Dr. István Horváth, Budapest). Veröffentlicht in ungarischer Sprache: István Horváth/ András Heltai, A magyar– német játszma. Emlékezés és dokumentumok [Die ungarisch-deutsche Partie. Erinnerung und Dokumente]. Budapest 2015, S. 211–214. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 16 Gesetz Nr. VI des Jahres 1988 über die Wirtschaftsgesellschaften, verabschiedet vom ungarischen Parlament am 10. Oktober 1988 (gekürzt) Das unter der Federführung des Staatsrechtsprofessors Tamás Sárközy ausgearbeitete Gesetz, das zum 1. Januar 1989 in Kraft trat, leitete die im Entfaltungsprogramm vom Juli 1987 beschlossene Eigentumsreform in Ungarn ein. Ziel des Gesetzesvorhabens war es, die Gründung, Organisation, Funktion und Liquidation von Wirtschaftsgesellschaften zu regeln sowie die Rechte, Pflichten und die Haftung der Gesellschafter festzulegen. Der erste Teil des Gesetzes (Kapitel I und II) befasst sich mit den allgemeinen und gemeinsamen Bestimmungen für die Wirtschaftsgesellschaften, darunter mit ihrer Rechtspersönlichkeit, ihren Gesellschaftern und der Beteiligung von Ausländern sowie mit der Gesellschaftsgründung, der Aufsicht über die Gesellschaften und ihrer Liquidation. Der zweite Teil (Kapitel III bis VII) hat die einzelnen Wirtschaftsgesellschaften zum Thema, nämlich die Offene Handelsgesellschaft (OHG) und die Kommanditgesellschaft (KG), die wirtschaftliche Vereinigung, das Gemeinschaftsunternehmen, die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) sowie die Aktiengesellschaft (AG). Und der dritte Teil beinhaltet verschiedene Schlussbestimmungen, unter anderem zum Inkrafttreten des Gesetzes und zu den Pflichten der bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits tätigen Unternehmen. Mit dem Gesellschaftsgesetz, dessen Bestimmungen sich am deutschen Wirtschaftsrecht orientieren, wurde in Ungarn die Grundlage für die Schaffung moderner kapitalistischer Unternehmensformen und damit eine entscheidende Voraussetzung für den ökonomischen Systemwechsel geschaffen. Zusammen mit dem anderthalb Monate später verabschiedeten Gesetz über die Investitionen von Ausländern in Ungarn (siehe Dokument 18) sollte es auch ein „Grundgesetz“ für ausländische Geldanlagen in Ungarn bilden. ***



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Gesetz Nr. VI des Jahres 1988 über die Wirtschaftsgesellschaften Erster Teil Einführende Bestimmungen I. Kapitel Allgemeine Bestimmungen § 1 (1) Dieses Gesetz regelt die Gründung von Wirtschaftsgesellschaften, ihre Organisation, die Tätigkeit ihrer Organe und die Rechte der Gesellschafter, ihre Pflichten und ihre Haftung sowie die Auflösung der Gesellschaften. (2) Die Wirtschaftsgesellschaften können unter dem Namen ihrer Firma Rechte erwerben und Verbindlichkeiten übernehmen, insbesondere können sie Eigentum erwerben, Verträge schließen, Prozesse anstrengen und verklagt werden. § 2 (1) Wirtschaftsgesellschaften können nur auf die in diesem Gesetz geregelte Art und Weise und Form gegründet werden. (2) Wirtschaftsgesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit sind die Offene Handelsgesellschaft und die Kommanditgesellschaft, Wirtschaftsgesellschaften mit Rechtspersönlichkeit sind die Vereinigung, das Gemeinschaftsunternehmen, die Gesellschaft mit beschränkter Haftung und die Aktiengesellschaft. § 3 Genossenschaften, Fachgruppen, Gesellschaften der Wasserwirtschaft, Arbeitsgemeinschaften mit Rechtspersönlichkeit, Vereinigungen sowie andere Personenvereinigungen von natürlichen Personen mit einem Ziel, dass keine wirtschaftliche Tätigkeit erfordert, fallen nicht unter die Geltung dieses Gesetzes; auf diese sind die sich auf sie beziehenden, gesonderten Rechtsnormen anzuwenden. Für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts sind die Bestimmungen des Zivilgesetzbuches maßgebend. § 4 (1) Eine Wirtschaftsgesellschaft kann – mit den in diesem Gesetz geregelten Ausnahmen – vom Staat, von juristischen Personen, von Wirtschaftsgesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit und von natürlichen Personen – In- und Ausländern gleichermaßen – zu gewerbsmäßiger gemeinsamer wirtschaftlicher Tätigkeit oder zu deren Förderung gegründet werden; dieser bzw. diese können einer solchen Gesellschaft als Gesellschafter beitreten. (2) Wenn irgendeine Tätigkeit per Gesetz, Verordnung mit Gesetzeskraft oder Ministerratsverordnung dem Staat, einem Staatsorgan oder einer staatlichen Wirtschaftsorganisation vorbehalten ist, dann darf eine Wirtschaftsgesellschaft dieser Tätigkeit nur dann nachgehen, wenn sie mindestens über einen dazu bevollmächtigten Gesellschafter verfügt. (3) Banken- und Versicherungstätigkeiten dürfen von einer Wirtschaftsgesellschaft nur in Form einer Aktiengesellschaft ausgeübt werden. (4) Bei der Anwendung dieses Gesetzes gelten alle Menschen ohne Berücksichtigung ihrer Staatsbürgerschaft als natürliche Personen, ein Ausländer ist eine

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natürliche bzw. juristische Person, die von den Devisenrechtsnormen zum Ausländer erklärt wird. § 5 Zur Gründung einer Wirtschaftsgesellschaft sind – falls dieses Gesetz es nicht anderes verfügt – mindestens zwei Gesellschafter notwendig. § 6 (1) Eine Person kann gleichzeitig nur in einer Wirtschaftsgesellschaft Gesellschafter mit unbeschränkter Haftung sein. (2) Eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts kann kein Gesellschafter einer Wirtschaftsgesellschaft und kein Gründungsmitglied einer Aktiengesellschaft sein. (3) Offene Handelsgesellschaften oder Kommanditgesellschaften können keine unbegrenzt haftenden Gesellschafter anderer derartiger Gesellschaften sein. (4) Nur juristische Personen können Gesellschafter einer Vereinigung oder eines Gemeinschaftsunternehmens sein. § 7 (1) Ausländer können sich an der Gründung einer Wirtschaftsgesellschaft bzw. als Gesellschafter an einer Gesellschaft beteiligen, wenn sie gemäß ihrem Heimatrecht über eine Firma verfügen oder wenn sie gemäß ihrem Heimatrecht im Handelsregister (oder in einem anderen Wirtschaftsregister) verzeichnet sind. (2) Hinsichtlich der Beteiligung von Ausländern können internationale Abkommen auch von diesem Gesetz abweichende Bedingungen festschreiben. § 8 (1) Zur Gründung einer sich mehrheitlich oder gänzlich in ausländischem Eigentum befindenden Wirtschaftsgesellschaft, zur Umwandlung einer solchen Gesellschaft und zum Erwerb einer ausländischen Mehrheitsbeteiligung ist die gemeinsame Genehmigung des Finanz- und des Handelsministers erforderlich. Diese Genehmigung schließt die devisenbehördliche Genehmigung ein. Wenn der Antrag innerhalb von 90 Tagen nach der Einreichung nicht abgelehnt wurde, dann ist die Genehmigung als erteilt zu betrachten. (2) Für den Fall, dass die ausländische Beteiligung das in Absatz 1 bezeichnete Ausmaß nicht erreicht, ist zur Gründung einer Wirtschaftsgesellschaft und zur Beteiligung an einer Gesellschaft keine devisenbehördliche oder andere Genehmigung notwendig. § 9 (1) Die Beteiligung von Ausländern an einer Wirtschaftsgesellschaft genießt vollständigen Schutz und vollständige Sicherheit. (2) Der Anteil aus dem Gewinn der Gesellschaft, der dem Ausländer zusteht, bzw. die Summe, die dem Ausländer im Falle der Auflösung der Gesellschaft oder der teilweisen oder vollständigen Veräußerung des ausländischen Eigentumsanteils zusteht, kann – sofern der Gesellschaft eine entsprechende Deckung zur Verfügung steht – auf der Grundlage eines Auftrags des Ausländers in der Währung der Investition ohne devisenbehördliche Genehmigung frei [ins Ausland] überwiesen werden. (3) Begünstigungen und besondere wirtschaftliche Voraussetzungen für Ausländer werden in einem gesonderten Gesetz festgehalten.



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§ 10 (1) Wenn eine Wirtschaftsgesellschaft ausschließlich natürliche Personen zu Gesellschaftern hat, dann darf die Zahl der Angestellten der Gesellschaft 500 Personen nicht überschreiten. (2) Die in Absatz 1 festgehaltene Bestimmung bezieht sich nicht auf Wirtschaftsgesellschaften, die sich mehrheitlich oder vollständig in ausländischem Eigentum befinden. § 11 (1) Die Gesetzlichkeitsaufsicht über die Wirtschaftsgesellschaften versieht das Gericht, das das Handelsregister führt (im Folgenden: Handelsgericht). (2) Im Rahmen der Gesetzlichkeitsaufsicht kontrolliert das Handelsgericht, ob der Gesellschaftsvertrag (die Satzung) sowie die sonstigen Dokumente, die sich auf die Organisation und Tätigkeit der Wirtschaftsgesellschaft beziehen, den Rechtsnormen entsprechen und ob die Beschlüsse der Organe der Gesellschaft nicht Rechtsnormen, die für die Organisation und Betreibung von Gesellschaften richtungsweisend sind, den Gesellschaftsvertrag (die Satzung) und die Bestimmungen in anderen erwähnten Dokumenten der Gesellschaft verletzen. (3) Die Gesetzlichkeitsaufsicht erstreckt sich nicht auf Angelegenheiten, die in andere Gerichts- oder Verwaltungsverfahren fallen. (4) Hinsichtlich der Verfahren des Handelsgerichts in Zusammenhang mit den Wirtschaftsgesellschaften sind die Rechtsnormen über die gerichtliche Firmenregistrierung mit den in diesem Gesetz festgeschriebenen Ergänzungen anzuwenden. § 12 Bei den Wirtschaftsgesellschaften sind hinsichtlich der Gewerkschaftsrechte das Arbeitsgesetzbuch bzw. die Rechtsnormen, die auf seiner Grundlage erlassen wurden, maßgebend. § 13 (1) Bei allen Gemeinschaftsunternehmen, Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Aktiengesellschaften, in denen die Zahl der hauptberuflichen Arbeitnehmer im Jahresdurchschnitt 200 Personen übersteigt, nehmen die Arbeitnehmer der Gesellschaft über den Aufsichtsrat an der Kontrolle der Tätigkeit der Gesellschaft teil. (2) In den in Absatz 1 festgelegten Fällen wählen die Arbeitnehmer aus ihren eigenen Reihen ein Drittel der Mitglieder des Aufsichtsrats. Die Wahl erfolgt auf der nächsten Vorstandssitzung, Gesellschafterversammlung oder Vollversammlung statt; diese Regelung muss auch dann entsprechend angewendet werden, wenn die Zahl der hauptberuflichen Arbeitnehmer unter 200 Personen sinkt. § 14 Über die Gesellschafterrechte dürfen – mit Ausnahme der Aktiengesellschaft – keine Wertpapiere ausgestellt werden. Wertpapiere, die trotz des Verbots ausgestellt wurden, sind nichtig und ihre Aussteller tragen die universelle Haftung für Schäden, die durch die Ausstellung entstehen. § 15 Daten und Fakten, die sich auf die Wirtschaftsgesellschaften beziehen, sind – gemäß den Bestimmungen dieses Gesetzes und der Rechtsnormen über die gerichtliche Firmenregistrierung – öffentlich.

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§ 16 (1) Die in diesem Gesetz vorgeschriebenen Erklärungen und Mitteilungen sind dem Empfänger schriftlich oder auf sonstige nachweisbare Art und Weise mitzuteilen. (2) Wenn ein Schreiben per Post mit einem Rückschein versandt wird, dann ist es zu dem auf dem Rückschein angegebenen Zeitpunkt oder, wenn dieser fehlt – bis zum Nachweis des Gegenteils – am fünften Arbeitstag nach der Aufgabe beim inländischen Adressaten als eingetroffen zu betrachten. (3) Wenn durch dieses Gesetz kein Termin zur Abgabe einer Erklärung oder Durchführung einer Maßnahme festgelegt wird, ist die Erklärung oder Handlung unverzüglich zu vollziehen. § 17 Bei Vermögensverhältnissen und persönlichen Verhältnissen der Wirtschaftsgesellschaften und ihrer Gesellschafter, die in diesem Gesetz nicht geregelt sind, sind die Bestimmungen des Zivilgesetzbuches anzuwenden. § 18 Bei Rechtsstreitigkeiten in Verbindung mit dem Gesellschaftsvertrag verfährt ein neben der Ungarischen Wirtschaftskammer eingerichtetes Ständiges Schiedsgericht, wenn die Parteien dies im Gesellschaftsvertrag (in der Satzung) festgelegt haben. II. Kapitel Die gemeinsamen Regeln der Wirtschaftsgesellschaften 1. Titel Die Gründung der Wirtschaftsgesellschaft § 19 (1) Zur Gründung einer Wirtschaftsgesellschaft ist ein Gesellschaftsvertrag (bzw. bei einer Aktiengesellschaft eine Satzung) notwendig. (2) Der Gesellschaftsvertrag ist in einer von allen Gesellschaftern unterzeichneten und von einem Rechtsanwalt oder Rechtsberater gegengezeichneten Urkunde festzuhalten. Diese Bestimmung ist auch im Falle einer Vertragsänderung anzuwenden. (3) Die in Absatz 2 festgeschriebene Gegenzeichnungspflicht bezieht sich auch auf die Satzung einer Aktiengesellschaft. § 20 Die Gesellschafter können den Inhalt des Gesellschaftsvertrags – im Rahmen dieses Gesetzes und anderer Rechtsnormen – frei festlegen; bei übereinstimmendem Willen kann von den Bestimmungen des Gesetzes für den Gesellschaftsvertrag abgewichen werden, wenn dieses Gesetz die Abweichung nicht verbietet. § 21 (1) Im Gesellschaftsvertrag muss Folgendes festgehalten werden: a) der Firmenname und Sitz der Gesellschaft, b) die Gesellschafter unter Anführung ihrer Namen (Firmen) und ihrer Adressen (Firmensitze), c) der Tätigkeitsbereich der Gesellschaft, d) die Höhe des Gesellschaftsvermögens sowie die Art und Weise und der Zeitpunkt seiner Bereitstellung,



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e) all das, was dieses Gesetz verpflichtend für die einzelnen Gesellschaftsformen vorschreibt. (2) Ein Gesellschaftsvertrag, der die in Absatz 1 aufgeführten Punkte nicht enthält, ist nichtig. (3) Wenn der Gesellschaftsvertrag keine Angaben über die Tätigkeitsdauer der Wirtschaftsgesellschaft enthält, ist die Gesellschaft als für unbestimmt Zeit gegründet zu betrachten. § 22 (1) Das Vermögen der Wirtschaftsgesellschaft stellen die Gesellschafter zur Verfügung; sie haben am Gewinn bzw. am Vermögenszuwachs (im Folgenden: Gewinn) gemeinsam Anteil und tragen gemeinsam den Verlust bzw. die Vermögensverringerung (im Folgenden: Verlust) auf die in diesem Gesetz festgelegte Art und Weise. (2) Das Vermögen der Gesellschaft besteht bei ihrer Gründung aus den Geldeinlagen (Geldbeiträgen) der Gesellschafter sowie aus den von ihnen zur Verfügung gestellten nicht geldmäßigen Einlagen (Beiträgen). Eine nicht geldmäßige Einlage kann jeder verkehrsfähige Gegenstand mit Vermögenswert, eine geistige Schöpfung oder ein Recht mit Vermögenswert sein. (3) Der Gesellschafter, der die Einlage nicht in Geldform einbringt, ist der Gesellschaft fünf Jahre lang ab Einbringung der Einlage dafür verantwortlich, dass der Wert seiner Einlage dem im Gesellschaftsvertrag bezeichneten Wert zur Zeit der Einbringung entspricht. § 23 (1) Die Gründung der Gesellschaft muss innerhalb von 30 Tagen nach Abschluss des Gesellschaftsvertrags bzw. nach Annahme der Satzung – zum Zweck der Registrierung und Veröffentlichung – dem Handelsgericht gemeldet werden. (2) Die Mitteilung an das Handelsgericht muss alle Angaben enthalten, die die Rechtsnormen über die gerichtliche Firmenregistrierung für eine Eintragung vorschreiben. Der Anmeldung müssen auch die in den erwähnten Rechtsnormen bezeichneten Dokumente beigefügt werden. (3) Eine Änderung der eingetragenen Angaben ist dem Firmengericht innerhalb von 30 Tagen, nachdem sie eingetreten ist, zu melden. § 24 (1) Die Wirtschaftsgesellschaft kommt durch die handelsgerichtliche Eintragung – rückwirkend zum Zeitpunkt des Abschlusses des Gesellschaftsvertrags bzw. bei Aktiengesellschaften bei Annahme der Satzung – zustande. Die Eintragung kann nur im Falle einer Rechtsverletzung verweigert werden. (2) Die Tatsache der Firmenregistrierung und die eingetragenen Angaben sowie ihre Änderungen werden – falls dieses Gesetz keine Ausnahmen macht – im offiziellen Organ des Handelsgerichts veröffentlicht. § 25 (1) Diejenigen, die vor der Firmenregistrierung im Namen der Gesellschaft gehandelt haben, haften unbegrenzt und universell für Verbindlichkeiten, die sie unter dem gemeinsamen Namen eingegangen sind. Ein Ausschluss oder eine Beschränkung der Haftung gegenüber den Gläubigern der Gesellschaft ist unwirksam. (2) Die Haftung gemäß Absatz 1 für Verpflichtungen, die im Namen der Wirtschaftsgesellschaft vor der Firmenregistrierung eingegangen wurden, entfällt,

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wenn der Vertrag von dem hierzu berechtigten Organ der Gesellschaft nachträglich genehmigt wird. (3) Wenn die Gesellschaft ihre Tätigkeit vor der Firmenregistrierung aufnimmt, dann kann sie sich gegenüber dritten Personen nicht auf das Fehlen der Firmenregistrierung berufen. § 26 Wenn das Firmengericht die Eintragung der Wirtschaftsgesellschaft verweigert, muss die Tätigkeit der Gesellschaft nach Entgegennahme des rechtskräftigen Beschlusses beendet werden. In der Zeitspanne vom Abschluss des Gesellschaftsvertrags bis zur Beendigung der Tätigkeit müssen hinsichtlich des Rechtsverhältnisses zwischen den Parteien – wenn die Voraussetzungen hierfür im Übrigen vorhanden sind und die Parteien keine anderen Verfügungen getroffen haben – die Regelungen für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts entsprechend angewendet werden. § 27 Nach der Firmenregistrierung kann sich niemand wegen eines Irrtums, einer Täuschung und einer Drohung (§ 210 des Zivilgesetzbuches) auf die Ungültigkeit des Vertrags berufen. Diese Bestimmung ist auch im Falle einer Vertragsänderung entsprechend anzuwenden. 2. Titel Leitende Funktionsträger, Mitglieder des Aufsichtsrats, Buchprüfer § 28 Leitende Funktionsträger sind bei einer Vereinigung und bei einem Gemeinschaftsunternehmen der Direktor, bei einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung die Geschäftsführer und bei einer Aktiengesellschaft die Vorstandsmitglieder. § 29 (1) Diejenige Person, die wegen des Begehens einer Straftat rechtskräftig zu einem vollstreckbaren Freiheitsentzug verurteilt worden ist, kann so lange kein leitender Funktionsträger einer Wirtschaftsgesellschaft werden, solange er nicht der nachteiligen Rechtsfolgen, die mit seinem straffälligen Vorleben verbunden sind, entbunden ist. (2) Diejenige Person, der irgendeine Beschäftigung untersagt ist, darf während der Rechtskräftigkeit des Urteils kein führender Funktionsträger in einer Wirtschaftsgesellschaft, die einer derartigen Tätigkeit nachgeht, sein. (3) Die Bestimmungen der Absätze 1 und 2 sind auch auf Mitglieder des Aufsichtsrats und auf Buchprüfer anzuwenden. § 30 Die führenden Funktionsträger, die Mitglieder des Aufsichtsrats und die Buchprüfer sind auf befristete Zeit, höchstens jedoch auf fünf Jahre zu wählen; sie können wiedergewählt und jederzeit abberufen werden. § 31 (1) Eine Person darf gleichzeitig höchstens in zwei Wirtschaftsgesellschaften ein leitender Funktionsträger sein. (2) Leitende Funktionsträger einer Wirtschaftsgesellschaft und ihnen nahestehende Personen (§ 685, Punkt b) können nicht zu Mitgliedern des Aufsichtsrats gewählt werden.



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(3) Eine Person kann gleichzeitig in den Aufsichtsrat von höchstens fünf Wirtschaftsgesellschaften gewählt bzw. als Mitglied nominiert werden. Die betroffenen Wirtschaftsgesellschaften müssen über die mehrfache Wahl (Nominierung) informiert werden. § 32 (1) Die leitenden Funktionsträger, die Mitglieder des Aufsichtsrats und die Buchprüfer sind verpflichtet, mit der von Personen, die solche Funktionen übernehmen, im Allgemeinen zu erwartenden Sorgfalt zu verfahren. Für Schäden, die sie der Wirtschaftsgesellschaft durch die Verletzung ihrer Pflichten verursachen, sind sie nach den allgemeinen Regeln des Zivilrechts verantwortlich, auch dann, wenn sie in einem Arbeitsverhältnis zur Wirtschaftsgesellschaft stehen. (2) Ein führender Funktionsträger, ein Mitglied des Aufsichtsrats und ein Buchprüfer dürfen im Rahmen ihrer zu ihrem Amt gehörenden Tätigkeit von ihrem Arbeitgeber keine Anweisungen erhalten. (3) Bei der Gesellschaft mit beschränkter Haftung und bei der Aktiengesellschaft tragen die leitenden Funktionsträger die Gesamthaftung gemäß Absatz 1. Derjenige leitende Funktionsträger, der gegen den Beschluss oder gegen die Maßnahme protestiert und seinen Protest dem Aufsichtsrat oder – wenn es keinen solchen gibt – der Gesellschafterversammlung mitteilt, trägt keine Verantwortung. § 33 Die führenden Funktionsträger, Mitglieder des Aufsichtsrats und die Buchprüfer sind verpflichtet, ihre Informationen über die geschäftlichen Angelegenheiten der Wirtschaftsgesellschaft als Geschäftsgeheimnis zu wahren. § 34 (1) Die Wirtschaftsgesellschaft ist verpflichtet, den Namen und die Adresse der Mitglieder des Aufsichtsrats und der Buchprüfer sowie die hinsichtlich ihrer Person eintretenden Veränderungen dem Handelsgericht – zum Zweck der Regist­rierung und Veröffentlichung – bekannt zu machen. (2) Der Aufsichtsrat legt seine Geschäftsordnung selbst fest; diese bewilligt das höchste Organ der Wirtschaftsgesellschaft. § 35 (1) Die Mitglieder des Aufsichtsrats wählen aus ihren Reihen einen Vorsitzenden. Der Vorsitzende ist verpflichtet, das höchste Organ der Wirtschaftsgesellschaft einzuberufen, wenn die Zahl der Mitglieder des Aufsichtsrats unter drei Personen fällt. (2) Der Vorsitzende beruft die Sitzungen des Aufsichtsrats ein. Zwei Mitglieder können jederzeit die Einberufung – unter Angabe von Grund und Ziel – vom Vorsitzenden verlangen; wenn der Vorsitzende die Ausschusssitzung nicht innerhalb von acht Tagen einberuft, dann sind die beiden Mitglieder zu Einberufung berechtigt. (3) Der Aufsichtsrat ist beschlussfähig, wenn zwei Drittel seiner Mitglieder, mindestens aber drei Mitglieder anwesend sind. Seine Entscheidungen trifft er mit einfacher Mehrheit. § 36 (1) Der Aufsichtsrat kontrolliert die Geschäftsführung der Wirtschaftsgesellschaft. In diesem Rahmen kann sie von den leitenden Funktionsträgern und von den führenden Angestellten der Wirtschaftsgesellschaft Bericht und Auskünfte

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einfordern und die Bücher und Dokumente der Gesellschaft prüfen bzw. sie von Experten prüfen lassen. (2) Der Aufsichtsrat ist verpflichtet, alle wichtigeren Berichte, die dem höchsten Organ der Wirtschaftsgesellschaft vorgelegt werden, sowie die Bilanz und die Vermögensübersicht zu prüfen. Das Ergebnis der Überprüfung gibt der Vorsitzende des Aufsichtsrats bekannt; ohne diesen Ergebnisbericht kann über die Berichte, über die Bilanz und über die Gewinnausschüttung nicht rechtswirksam entschieden werden. § 37 Die leitenden Funktionsträger der Wirtschaftsgesellschaften und die Mitglieder des Aufsichtsrats können eine Vergütung erhalten, die durch das in diesem Gesetz bestimmte Organ der Wirtschaftsgesellschaft festgelegt wird. § 38 (1) Der Auftrag der leitenden Funktionsträger und die Mitgliedschaft im Aufsichtsrat endet: a) mit dem Ablauf der Zeitdauer des Auftrags; b) mit der Abberufung; c) mit dem Rücktritt; d) mit dem Tod; e) mit dem Eintreten der in diesem Gesetz geregelten Ausschlussgründe. (2) Die Bestimmungen von Absatz 1 sind für den Buchprüfer mit der Abweichung anzuwenden, dass der Auftrag anstelle der Abberufung und des Rücktritts durch eine Kündigung endet. (3) Die Mitgliedschaft im Aufsichtsrat endet außerdem, wenn das Arbeitsverhältnis des von den Angestellten gewählten Mitglieds endet. § 39 (1) Der Gesellschaftsvertrag kann festlegen, dass die Kontrolle der Geschäftsführung – anstelle des Aufsichtsrats oder neben ihm – durch den Buchprüfer durchgeführt wird. (2) Bei Aktiengesellschaften, bei Einmann-Gesellschaften und bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung, bei denen das Grundkapital 50 Millionen Forint übersteigt, ist neben dem Aufsichtsrat auch eine obligatorische Buchprüfung zu wählen. § 40 (1) Als Buchprüfer kann ausgewählt werden, wer im Register der Buchprüfer aufgeführt ist. (2) Gründer, Mitglieder, Aktionäre, leitende Funktionsträger, Mitglieder des Aufsichtsrats der Wirtschaftsgesellschaft und ihnen nahestehenden Personen (§ 685, Punkt b des Zivilgesetzbuches) sowie Angestellte der Gesellschaft können innerhalb von drei Jahren nach Beendigung ihrer Funktion keine Buchprüfer sein. § 41 (1) Der Buchprüfer kann Einsicht in die Bücher der Wirtschaftsgesellschaft nehmen, von den leitenden Funktionsträgern und von den Angestellten der Gesellschaft Informationen einholen sowie ihre Kasse, die Wertpapier- und Warenbestände, ihre Verträge und Bankkonten prüfen. Er ist berechtigt, an den Sitzungen der obersten Organe der Wirtschaftsgesellschaft und des Aufsichtsrats teilzunehmen; an der Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft muss er teilnehmen.



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(2) Der Buchprüfer prüft alle Berichte, die dem obersten Organ der Wirtschaftsgesellschaft vorgelegt werden, insbesondere die Bilanz und die Vermögensübersicht, unter dem Gesichtspunkt, ob sie wahrheitsgemäße Angaben enthalten bzw. ob sie den Bestimmungen der Rechtsnormen entsprechen, und gibt seine Meinung bekannt. Ohne diese Stellungnahme kann kein gültiger Beschluss über die Berichte getroffen werden. § 42 (1) Erlangt der Buchprüfer Kenntnis darüber, dass eine bedeutende Verminderung des Vermögens der Wirtschaftsgesellschaft zu erwarten ist, oder über eine Tatsache, die die im vorliegenden Gesetz festgeschriebene Verantwortung der leitenden Funktionsträger oder der Aufsichtsratsmitglieder nach sich zieht, dann ist er verpflichtet, darüber den Aufsichtsrat und – wenn dieser fehlt – die Wirtschaftsgesellschaft zu informieren und um die Einberufung des obersten Organs der Gesellschaft zu ersuchen. (2) Wenn das oberste Organ der Wirtschaftsgesellschaft nicht einberufen wird, dann ist der Buchprüfer dazu berechtigt. Wenn das oberste Organ der Gesellschaft die notwendigen Beschlüsse nicht trifft, dann unterrichtet der Buchprüfer das Handelsgericht davon. 3. Titel Firmenzeichnung § 43 (1) Die Firmenzeichnung erfolgt so, dass die Personen, die zur Vertretung der Wirtschaftsgesellschaft berechtigt sind, zum Firmennamen der Gesellschaft ihre eigene Namensunterschrift hinzufügen. (2) Die leitenden Funktionsträger der Wirtschaftsgesellschaft unterzeichnen – wenn das Gesetz keine Ausnahme vorsieht – alleine; für die Gültigkeit einer Firmenzeichnung durch den Arbeitnehmer ist die gemeinsame Unterschrift von zwei – über eine Vertretungsbefugnis verfügende – Arbeitnehmern notwendig. (3) Die zur Vertretung berechtigten Personen sind verpflichtet, ihre Namensunterschrift – beglaubigt durch einen Notar – beim Handelsgericht einzureichen oder die Firma persönlich vor dem Firmengericht zu zeichnen. 4. Titel Gerichtliche Überprüfung von Gesellschaftsbeschlüssen § 44 (1) Jeder Gesellschafter ist berechtigt, die Überprüfung von Entscheidungen der Wirtschaftsgesellschaft oder ihrer Organe, die gegen die Bestimmungen des vorliegenden Gesetzes, andere Rechtsnormen, den Gesellschaftsvertrag oder die Satzung verstoßen (rechtsverletzende Beschlüsse), bei Gericht zu beantragen. Eine Überprüfung kann auch von Personen, die bei den einzelnen Gesellschaftsformen vorgesehen sind, beantragt werden.

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(2) Das Recht gemäß Absatz 1 seht demjenigen Gesellschafter nicht zu, der – mit Ausnahme der Fälle von Irrtum, Täuschung und Drohung (§ 210 des Zivilgesetzbuches) – zu der entsprechenden Entscheidung mit seiner Stimme beigetragen hat. (3) Das Recht gemäß Absatz 1 kann rechtsgültig nicht ausgeschlossen werden und ein Verzicht auf dieses Recht ist nichtig. § 45 Eine Klage auf Überprüfung eines rechtsverletzenden Beschlusses ist – bei Rechtsverlust – innerhalb von 30 Tagen nach der Beschlussfassung gegen die Wirtschaftsgesellschaft einzureichen. Die Klageerhebung hat keine aufschiebende Wirkung, das Gericht kann den Vollzug des Beschlusses aber suspendieren. (2) Ein rechtsverletzender Beschluss wird vom Gericht für nichtig erklärt. 5. Titel Das Erlöschen der Wirtschaftsgesellschaft, die freiwillige Liquidation § 46 (1) Die Gesellschaft erlischt, a) wenn die im Gesellschaftsvertrag (in der Satzung) festgelegte Zeit abgelaufen ist oder wenn andere Voraussetzungen des Erlöschens eingetreten sind; b) wenn sie den Beschluss zur Auflösung ohne Rechtsnachfolger trifft; c) wenn sie sich mit einer anderen Gesellschaft zusammenschließt, mit dieser fusioniert, sich von dieser trennt oder sich in eine andere Gesellschaftsform umwandelt; d) wenn sich die Zahl ihrer Gesellschafter – ausgenommen die Gesellschaft mit beschränkter Haftung und die Aktiengesellschaft – auf eine Person verringert und innerhalb von sechs Monaten kein neuer Gesellschafter beim Handelsgericht angemeldet wird; e) wenn sie vom Handelsgericht für erloschen erklärt wird; f) wenn das Gericht sie im Zuge eines Liquidationsverfahrens auflöst; g) wenn die Bestimmungen dieses Gesetzes, die sich auf einzelne Gesellschaftsformen beziehen, dies vorschreiben. (2) Die Wirtschaftsgesellschaft löst sich mit ihrer Löschung aus dem Handelsregister auf. Die Löschung wird im Amtsblatt des Handelsgerichts veröffentlicht. Die freiwillige Liquidation § 47 Wenn die Wirtschaftsgesellschaft ohne Rechtsnachfolgerin aufgelöst wird, dann ist – mit Ausnahme des Falls eines Liquidationsverfahrens wegen dauerhafter Zahlungsunfähigkeit – eine freiwillige Liquidation möglich. Die freiwillige Liquidation muss gemäß den Bestimmungen, die in der Rechtsnorm über das Liquidationsverfahren festgeschrieben sind, durchgeführt werden, wenn das vorliegende Gesetz keine anderen Bestimmungen enthält. § 48 (1) Die freiwillige Liquidation führen – mit Ausnahme der in den Absätzen 2 und 3 geregelten Fälle – der leitenden Funktionsträger der Wirtschaftsgesellschaft durch. (2) Gesellschafter, die über mindestens ein Zehntel der Stimmen verfügen, können beim Handelsgericht die Einsetzung einer anderen Person als Abwickler beantragen.



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(3) Wenn die Wirtschaftsgesellschaft für aufgelöst erklärt wird, dann bestellt das Handelsgericht den Abwickler. (4) Die Wirtschaftsgesellschaft ist – mit Ausnahme der in den Absätzen 2 bis 3 geregelten Fälle – verpflichtet, die Einleitung der freiwilligen Liquidation und die Person des Abwicklers dem Handelsgericht zwecks Eintragung und Veröffentlichung bekannt zu geben. § 49 Das Firmengericht als Abwickler darf a) nur eine natürliche Person bestellen, die den Erfordernissen, die im vorliegenden Gesetz hinsichtlich der leitenden Funktionsträger vorgeschrieben sind, entspricht; b) keine natürliche oder juristische Person bestellen, gegen die die Mehrzahl der Gesellschafter Einspruch erhebt. § 50 Mit der Auswahl (Bestellung) des Abwicklers endet die Zeichnungsberechtigung der leitenden Funktionsträger, Repräsentanten und angestellten der Wirtschaftsgesellschaft; ihre Rechte und Pflichten übt der Abwickler aus. § 51 (1) Der Abwickler stellt die Vermögenssituation der Wirtschaftsgesellschaft fest, erstellt ein Verzeichnis der Gläubiger der Gesellschaft und fertigt die Schlussbilanz der Gesellschaft an; diese unterbreitet er dem obersten Organ der Gesellschaft zur Zustimmung. (2) Wenn laut Feststellung des Abwicklers das Vermögen der Gesellschaft nicht zur Deckung der Forderungen der bekannten Gläubiger ausreicht, dann ist er verpflichtet, Maßnahmen zur Aufnahme eines Liquidationsverfahrens einzuleiten. (3) In einem Liquidationsverfahren, dass wegen der dauerhaften Zahlungsunfähigkeit einer Wirtschaftsgesellschaft eingeleitet wurde, genießen die Gläubiger der Gesellschaft im Hinblick auf das Vermögen der Gesellschaft Vorrang vor den Gläubigern der Gesellschafter. § 52 (1) Der Abwickler a) erstellt die Schlussbilanz und legt sie dem obersten Organ der Wirtschaftsgesellschaft zur Zustimmung vor, dann b) teilt er dem Handelsgericht die Beendigung des Verfahrens mit und ersucht um das Streichen der Wirtschaftsgesellschaft aus dem Handelsregister. (2) Wenn in der Wirtschaftsgesellschaft ein Aufsichtsrat oder ein Buchprüfer tätig ist, dann muss die Schlussbilanz zusammen mit dessen Bericht vorgelegt werden. § 53 Bei Streitigkeiten zwischen dem Abwickler und den Gesellschaftern entscheidet das Gericht. § 54 Forderungen gegen die Wirtschaftsgesellschaft oder gegen ihre Gesellschafter, die auf der Grundlage von Verpflichtungen, die die Gesellschaft belasten, geltend gemacht werden können, verjähren innerhalb von fünf Jahren nach Erlöschen der Gesellschaft oder des Gesellschafterverhältnisses, ausgenommen, wenn eine Rechtsnorm nicht eine kürzere Verjährungsfrist für irgendeine Forderung festlegt.

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Zweiter Teil Einzelne Wirtschaftsgesellschaften

III. Kapitel Die Offene Handelsgesellschaft und die Kommanditgesellschaft […]29 IV. Kapitel Die Vereinigung […]30 V. Kapitel Das Gemeinschaftsunternehmen […]31 VI. Kapitel Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung […]32 VII. Kapitel Die Aktiengesellschaft […]33 Dritter Teil Schlussbestimmungen Inkrafttreten § 331 Dieses Gesetz tritt am 1. Januar 1989 in Kraft […].

29  §§ 55–102. 30  §§ 103–126. 31  §§ 127–154. 32  §§ 155–232. 33  §§ 233–330.



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Übergangsbestimmungen § 332 (1) Die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes tätigen a) Wirtschaftsgesellschaften (§ 568 des Zivilgesetzbuches); b) wirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaften (Verordnung des Ministerrats Nr. 28/1981 vom 9. IX. 1981); c) Vereinigungen; d) Gemeinschaftsunternehmen; e) Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Aktiengesellschaften (mit den in Absatz 3 geregelten Ausnahmen) sind verpflichtet, bis zum 31. Dezember 1989 ihre Gesellschaftsverträge (Satzungen) gemäß den Bestimmungen dieses Gesetzes abzuändern und die Änderungen beim Handelsgericht anzumelden bzw. die bisher nicht im Handelsregister verzeichneten Vereinigungen und Gemeinschaftsunternehmen sind verpflichtet, ihre Eintragung zu beantragen. (2) Wirtschaftsgesellschaften, die ihrer in Absatz 1 niedergelegten Verpflichtung nicht nachkommen, werden vom Handelsgericht gestrichen bzw. die Vereinigungen und Gemeinschaftsunternehmen erlöschen zum 1. Januar 1990. (3) Die Bestimmungen der Absätze 1 und 2 beziehen sich nicht auf funktionierende Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Aktiengesellschaften, die über eine teilweise oder vollständige ausländische Beteiligung verfügen, und die auf internationalen Verträgen beruhen oder vor dem 1. Januar 1950 gegründet wurden. § 333 Die Registrierung der Betrieblichen Wirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaften, die gemäß der Verordnung des Ministerrats Nr. 28/1981 vom 9. IX. 1981 gegründet wurden, erlischt zum 1. Januar 1990. Die Betrieblichen Wirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaften können – in einer gemeinsamen Eingabe zusammen mit dem Unternehmen – bis zum 31. Dezember 1989 beim Handelsgericht anmelden, ob sie sich in die Form einer Offenen Handelsgesellschaft, einer wirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft oder einer wirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft mit Verantwortlichkeit einer juristischen Person umwandeln wollen. § 334 (1) Kommanditgesellschaften, die auf der Grundlage von Verordnung Nr. 4/1978 mit Gesetzeskraft gegründet wurden, sowie Agrarwirtschaftliche Vereinigungen, die auf der Grundlage besonderer Rechtsnormen tätig sind, erlöschen zum 31. Dezember 1989, ausgenommen, wenn sie sich in eine im vorliegenden Gesetz geregelte Wirtschaftsgesellschaft umwandeln. (2) Die Registrierung der Gesellschaften bürgerlichen Rechts im Handelsregister erlischt am 1. Januar 1990. Gesellschaften bürgerlichen Rechts, die nach Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzes einer geschäftsmäßigen Wirtschaftstätigkeit nachgehen wollen, sind verpflichtet, ihre Umwandlung in eine Wirtschaftliche Arbeitsgemeinschaft oder in eine andere Wirtschaftsgesellschaft bis zum 31. Dezember 1989 dem Handelsgericht mitzuteilen. § 355 Eine Umwandlung gemäß §§ 332–334 ist steuer- und gebührenfrei.

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§ 336 (1) Die Gesellschaften bürgerlichen Rechts, die vor dem 1. Oktober 1988 zum Zweck der vertraglichen oder pachtmäßigen Betreibung von Einzelhandels- und Gastgewerbegeschäften gegründet wurden, dürfen bis zum Erlöschen ihrer Verträge ihre Tätigkeit gemäß den bisherigen Regelungen fortsetzen. (2) Die auf der Grundlage von Regierungsverordnung Nr. 32/1967 vom 23. IX. 1967 tätigen Außenhandelsgesellschaften dürfen ihre Tätigkeiten entsprechend der bisherigen Regelungen fortsetzen. § 337 Inhaberaktien, die von Ausländern vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erworben wurden, werden in dieser Eigenschaft vom vorliegenden Gesetz nicht berührt. Gemische Bestimmungen § 338 Wirtschaftsgesellschaften, deren Gesellschafter (bei Aktiengesellschaften: deren Gründer) a) ausschließlich staatliche Wirtschaftsorganisationen oder andere staatliche Organe sind, können in ihren Firmentitel das Attribut „staatlich“ aufnehmen; b) ausschließlich Genossenschaften oder andere genossenschaftliche Organe sind, können in ihren Firmentitel das Attribut „genossenschaftlich“ aufnehmen. § 339 Die Umwandlung von Wirtschaftsgesellschaften untereinander sowie die Umwandlung von Wirtschaftsorganisationen (§ 685, Punkt c des Zivilgesetzbuchs) in Wirtschaftsgesellschaften wird durch ein gesondertes Gesetz geregelt. Quelle: Törvények és rendeletek hivatalos gyűjteménye 1988 [Offizielles Kompendium der Gesetze und Verordnungen 1988]. Budapest 1989, S. 38–133. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UM-b55a9a (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer 5.2

5.2 Dokumente 17 bis 30 (Herbst 1988 bis Frühjahr 1989) Dokument 17 Parlamentsrede von Staatsminister und Politbüro-Mitglied Imre Pozsgay vom 24. November 1988 über die geplanten Veränderungen im politischen System Ungarns In seiner in den Parlamentsprotokollen festgehaltenen Rede, die eine Art innenpolitische Regierungserklärung der neuen Regierung unter Ministerpräsident Miklós Németh



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darstellte, unterrichtete Imre Pozsgay die Abgeordneten des ungarischen Parlaments über die Pläne der Staatsführung, die politische Ordnung Ungarns im Sinne von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung bzw. -kontrolle zu verändern, sowie über die damit verbundene Gesetzgebungsarbeit. Die von Pozsgay dargelegten Vorhaben, die an den Beschlüssen der Parteikonferenz vom Mai 1988 anknüpften, teils aber auch deutlich darüber hinauswiesen, sahen unter anderem – im Rahmen einer grundlegenden Verfassungsrevision bzw. der Ausarbeitung einer neuen Verfassung – legislative Arbeiten zur Neuregelung der Rolle von Parlament, Regierung und Partei, zur Neuorganisation des Gerichtswesens (einschließlich der Verwaltungsgerichtsbarkeit) sowie zur Demokratisierung der örtlichen Selbstverwaltung vor. Darüber hinaus sollten Gesetze zur Etablierung des Staatspräsidentenamtes, der Institution des Rechnungshofs und der Verfassungsgerichtsbarkeit verabschiedet, das Vereinigungs- und Versammlungsrecht geregelt sowie ein Streikrecht gewährt werden. Und schließlich sah die Regierung vor, das Wahlgesetz neu zu regeln, ein Datengesetz zu verabschieden sowie das Pressegesetz ändern oder ein neues Informationsgesetz ausarbeiten zu lassen. Eine eindeutige Stellungnahme zur Frage des Ein- oder Mehrparteiensystems enthielt die Rede Pozsgays nicht. *** Verhandlungen über die Arbeiten zur Modernisierung des Systems der politischen Institutionen sowie über den Zeitplan für die damit verbundenen Gesetzentwürfe und Maßnahmen. Exposé von Staatsminister Imre Pozsgay Verehrtes Parlament! Liebe Abgeordnetenkollegen! In der 27. Sitzungsperiode hat das Parlament auf Antrag von mehreren Abgeordneten beschlossen, einen Bericht von der Regierung über ihre Pläne zur Umgestaltung des Systems der politischen Institutionen und über die Arbeiten zur Vorbereitung entsprechender Gesetze zu verlangen. Diesem Beschluss möchte ich gerecht werden, obwohl ich vorausschicken muss, dass dies eine ungewöhnliche Aufgabe für die Regierung ist und eine noch ungewöhnlichere für den Redner, denn es handelt sich um einen Bericht der Regierung und nicht um einen Akt der Gesetzgebung. Die Initiative ist aber auf alle Fälle wichtig, denn sie gehört vor das Gremium des Parlaments. Aus der Ungewöhnlichkeit dieser Aufgabe ergibt sich auch die Unsicherheit, die für einige Mitglieder der Regierung, darunter auch für den Vortragenden, bezeichnend war, und zwar hinsichtlich der Art und Weise der Vorlage, denn was das Wichtigste daran ist, ist die Aktualität der Angelegenheit. Oder anders ausgedrückt: Wir wollen mit einer politischen Anschauung und – soweit das möglich ist – mit ausgereiften politischen Vorstellungen mit der Absicht der Information auftreten, um der Zusammenarbeit von Regierung und Parlament wesentlich zu helfen. Bezeichnenderweise sind – ich erwähne dies nur nebenbei – auch seit dem in Schriftform verschickten Entwurf – worüber sich jeder meiner Abgeordnetenkollegen informieren konnte – zahlreiche politische Initiati-

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ven von großer Bedeutung erfolgt, gerade auf diesen Gebieten. Um nur das Wichtigste und Unmittelbarste zu erwähnen: Das Zentralkomitee kehrte bei seiner letzten Sitzung erneut auf die Erfahrungen mit dem Vereinigungsgesetz zurück, die Sache des Wahlgesetzes wurde dort ebenso angesprochen, wie der politische Inhalt anderer Rechtsschöpfungsakte, mit besonderem Nachdruck beispielsweise die Vorbereitung des Gesetzes über die Volksabstimmung. All dies erwähne ich nur deshalb, weil ich in meinem Bericht, den ich dem schriftlichen Bericht und den schriftlichen Vorschlägen anfügen möchte, bereits auch diese aktuellen – und nicht nur im Zentralkomitee, sondern auch in den gesellschaftlichen Diskussionen, in der Volksfront, in den Gewerkschaften und auf der Konferenz des KISZ [Kommunistischer Jugendverband] angesprochenen – Vorschläge berücksichtigen möchte. Die Regierung hat – nach den vorangegangenen Ereignissen – auf ihrer Sitzung in der vergangenen Woche diesen Entwurf mit gewissen Ergänzungen bekräftigt und ich möchte diesbezüglich einige ergänzende Bemerkungen machen, also meine Meinung zu einigen politischen Zusammenhängen zum Ausdruck bringen. Das eine, auf das ich die Aufmerksamkeit meiner verehrten Abgeordnetenkollegen lenken möchte, ist, dass in diesem ganz großformatigen Rechtsschöpfungsprozess, bei den zahlreichen Initiativen und insbesondere bei den Gesetzgebungsgeschehnissen des kommenden Jahres auf das Parlament viel stärker belastende und schneller zu erledigende Aufgaben als früher warten. Mit Blick auf die Zukunft erfordert dies aber auch die politische Lage – was auch unsere bisherigen Erfahrungen bekräftigt haben. Das Parlament nimmt – meinem besten Wissen nach – die Gesetzgebungsakte, die diesem Tempo entsprechen, gerne auf sich. Dies bedeutet – ich wiederhole – auch gewisse belastende Aufgaben. Die andere Frage ist: Warum dieses Tempo, ist das nicht überstürzt? Von Überstürzung kann natürlich keine Rede sein. Es geht um Zusammenhänge, um Zusammenhänge, die – wie gerade auch das Beispiel des Entwurfs zeigt – ohne einander vielleicht nicht ihre Aufgabe erfüllen können. Auf diese politischen Zusammenhänge hätte ich gerne bereits auf der Funktionärskonferenz, an der die Ausschussvorsitzenden, die Leiter der Abgeordnetengruppen der Komitate und der Parlamentssekretär teilnahmen, aufmerksam gemacht und so bei den Vorbereitungen bereits solche Hinweise gegeben. In dieser Hinsicht kam die Angelegenheit der Vorbereitung und Überprüfung der Verfassung mit besonderem Nachdruck zur Sprache. Auf die Frage, ob es nicht zweckmäßig sei, bestimmte Gesetzgebungsinitiativen auf die Zeit nach Abschluss der Überprüfung der Verfassung zu vertagen, kam man in der Diskussion der Regierung, aber auch vor der Öffentlichkeit natürlich zurück. Diesbezüglich möchte ich nur so viel sagen und darin um Ihre Unterstützung bitten, dass dieses Verlangen natürlich ist, und zwar dort und in der Hinsicht, wo es sich um Gesetzgebungsinitiativen, die die Staatsorganisation berühren, handelt. Sofern das Parlament zur Schlussfolgerung gelangt, dass eine neue Verfassung notwendig ist, werden mit aller Sicherheit zahlreiche neue Staatsinstitutionen oder wesentlich veränderte Staatsinstitutionen



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vor uns stehen. Und bei den weiteren legislativen Akten, die die Staatsorganisation betreffen, muss dies weitgehend berücksichtigt werden. Gleichzeitig will die Regierung – wie sie auch von Ministerpräsident Miklós Németh gehört haben – den Weg der Schaffung eines Rechtsstaates beschreiten und auch die Gesetzgebung hat sich dazu verpflichtet. Dies bedeutet, dass gewisse Gesetze auf der Grundlage der [Prinzipien der] Menschenrechte vorbereitet werden müssen. Und hier diktiert auch die rechtsgeschichtliche und legislative Erfahrung […], dass die Verfassung verpflichtet ist, den Normen der Menschenrechte zu entsprechen, und nicht umgekehrt. Es gibt also kein verfassungsmäßiges Hindernis für die legislativen Akte, die zum Bereich der Menschenrechte gehören. Ich bitte also, dass das Parlament auch diesen Gesichtspunkt würdigt, wenn die Regierung bei den Gesetzgebungsinitiativen die notwendigen Schritte unternimmt. Unter diesem Gesichtspunkt gehört es mit aller Sicherheit zur [Aufgabe der] neuen Verfassung, die zukünftige Rolle des Parlaments zu regeln, die Institution des Staatsoberhaupts, die exekutive Macht und die Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Machtzweigen bzw. die Machtteilung sowie die Schaffung des notwendigen Gleichgewichts zwischen ihnen zu regeln. In Verbindung mit der Gerichtsorganisation möchte ich allerdings – obwohl diese in der Vorlage eine Rolle spielt – die Aufmerksamkeit gesondert darauf lenken, dass der Einführung des Verwaltungsgerichts und der Verwaltungsgerichtsbarkeit außerordentliche Beachtung geschenkt werden muss. Auch hier ist es möglich, dass diese Arbeit bereits bis zur Schaffung der neuen Verfassung erledigt werden kann. In Verbindung mit dem staatlichen Kontrollsystem ist es auch nach dem verschickten Material zu weiteren Diskussionen gekommen. Hier möchte ich nur so viel erwähnen, dass man mit der Institution des Rechnungshofes in der Verfassung die rechtliche Garantie der Funktion dieses Vorhabens schaffen könnte. Der Rechnungshof muss vom Parlament ins Leben gerufen werden und würde dem Parlament gegenüber die Verantwortung tragen. Als neuerlicher Vorschlag wurde die Überprüfung und Modernisierung der Rechtsnormen über die staatliche und öffentliche Sicherheit aufgeworfen. Zu zahlreichen anderen Gesetzentwürfen sind ebenfalls Vorschläge und Initiativen eingetroffen. Auch wenn die Regierung der Meinung gewesen ist, dass diese Vorschläge natürliche Bedürfnisse befriedigen, aber nicht unbedingt in den Bereich der Konzeption über die Reform des Systems der politischen Institutionen passen, so können sie gemäß den üblichen Regeln der Rechtssetzung und der Gesetzgebungsinitiative verwirklicht und umgesetzt werden. Ich habe die politischen Diskussionen erwähnt. Ich möchte hier auch gesondert auf die Erfahrungen mit der Vorbereitung der Gesetze über das Vereinigungs- und Versammlungsgesetz zurückkehren und signalisieren, dass wir uns in Verbindung mit dem Vereinigungsrecht um die Schaffung eines Gesetzes über die politische Partei kümmern müssen. Es erscheint zweckmäßig, ein eventuelles Gesetz nach der neuen Verfassung zu verabschieden.

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Natürlich sind auch hinsichtlich der Phase der Gesetzesvorbereitung Streitfragen offengeblieben. Darin herrscht auch weiterhin zwischen der Regierung und der Gewerkschaft Übereinstimmung, dass es begründet ist, die Fragen des Verhältnisses zwischen den Gewerkschaften und dem Staat in einem eigenen Gewerkschaftsgesetz zu regeln, bzw. dass die Möglichkeit untersucht werden muss, inwiefern man im Rahmen dieses Gesetzes das Verhältnis der Gewerkschaften und der Arbeitgeber zueinander regeln kann. Der Landesrat der Gewerkschaften [SZOT] und andere Interessenvertretungen, der KIOSZ [Landesverband der Kleingewerbetreibenden], der KISOSZ [Landesverband der Händler und Gastgewerbetreibenden], der SZÖVOSZ [Landesverband der Genossenschaften] und der TOT [Landesverband der Produktionsgenossenschaften], fordern auch die institutionelle Regelung der Interessenvertretung. Gemäß unserem Standpunkt soll das Vereinigungsgesetz mit angemessener Allgemeinheit von diesen Organisationen handeln, ich wiederhole aber, dass es auch die Regierung für begründet hält, ein eigenes Gewerkschaftsgesetz zu verabschieden. Eine Diskussion entstand und wird fortgeführt über die Regelung des Streikrechts und über die Art und Weise der Ausübung dieses Rechts. Die Regierung hält die Regelung dieser Frage im Hinblick darauf, dass es sich um ein den Staatsbürgern zustehendes Arbeitnehmerrecht handelt, im Arbeitsgesetzbuch für angebracht. Dies muss bei der Gesetzesvorbereitung beachtet werden. Ich halte es für eine sehr wichtige Ergänzung, ein Gesetz über die Behandlung persönlicher Daten und über die Registrierung von Daten in öffentlichem Interesse zu verabschieden, weil dies eine Angelegenheit ist, die die Persönlichkeitsrechte berührt. Aufgrund solcher Erwägungen und Ergänzungen schlägt die Regierung vor, dass die Legislative noch in ihrer Sitzungsperiode im Dezember 1988 die Vorschläge über das Vereinigungs- und Versammlungsrecht, über das Streikrecht bzw. über die jetzt anstehende Verfassungsänderung behandeln soll, und im Jahr 1989 soll das Parlament in seiner ersten halbjährlichen Sitzungsperiode die Vorlage für die Konzeption zur Modernisierung der Verfassung, den Gesetzentwurf über die Änderung des Gesetzes über die Gerichte und über die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie die Gesetzesvorlage über die Änderung des Pressegesetzes erörtern. Und hier möchte ich eine kurze Bemerkung zur Information einschieben, nämlich insbesondere die, dass wir uns gemäß dem bisherigen Inhalt und der bisherigen Signale der politischen Diskussion nicht mit der Änderung des Pressegesetzes von 1986 befassen brauchen, sondern dem Land ein neues Informationsgesetz zur Anwendung der Prinzipien der Pressefreiheit vorlegen müssen. Auch die Modifizierung des Wahlgesetzes ist in der ersten Hälfte des Jahres 1989 fällig, und zwar so, dass wir anhand der weiteren politischen Information und der Erfahrungen mit der Vorbereitung der Verfassungsgebung entscheiden können, auf welche Art und Weise das Wahlgesetz geändert werden könnte, wobei vor allem auch auf die vorangegangene Erwägung gebaut werden soll, dass wir die Rätewahlen von den Parlamentswahlen trennen. Nach 1989 ist es notwendig, die Gesetzentwürfe über die Gewerkschaften, über das Verfassungsgericht, über die Volksabstimmung, über



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die Nationalitäten und über das System der Organisation und Abwicklung der gesellschaftlichen Diskussionen sowie über die Ungarische Akademie der Wissenschaften vor die Legislative zu bringen. Und 1990 soll der Gesetzentwurf über die Verfassung vorgelegt werden. Auch aufgrund der Arbeit des vom Parlament entsandten Ausschusses zur Überprüfung der Verfassung und anderer Informationen erscheint es gewiss, dass ein Vorschlag für eine neue Verfassung unterbreitet werden muss. In Zusammenhang mit dem Vorausschicken dieser Gesichtspunkte der Rechtssetzung und der Bestimmung der Aufgaben der Legislative für 1988/1989 möchte ich dem verehrten Parlament noch mitteilen, dass sich zur Gesetzesinitiative natürlich auch seitens zahlreicher anderer politischer Foren eine Möglichkeit eröffnet. Ich meine aber, dass dieser Plan konzeptionell diejenigen politischen Zusammenhänge beinhaltet, ohne die wir die bereits erwähnte rechtsstaatliche Situation und – zusammen mit dem Rechtsstaat – die gesetzlichen Voraussetzungen für eine pluralistische politische Ordnung nicht würden schaffen können. Verehrtes Parlament! Wir müssen also ohne Zögern jene Pläne vorbereiten, die – auf der Grundlage einer tiefgreifenden Analyse der Situation der ungarischen Gesellschaft und der Gründe für diese Situation – Vorschläge für eine umfassende, allgemeine radikale Reform enthalten, die auch die Eigentumsverhältnisse betrifft und auch die Verteilungsverhältnisse, die machtmäßigen und politischen Verhältnisse einschließt. Ohne diese Entschlossenheit und ohne eine geistige Vorbereitung darauf ist die Stabilisierung und Entfaltung in der ungarischen Gesellschaft heute nicht mehr vorstellbar. Und hier muss ich jetzt eine – vielleicht für Viele ungewöhnliche, aber, so denke ich, dennoch notwendige, fast zwangsweise notwendige – Sache ansprechen, und zwar, dass die Entfaltung und der Ausdruck dieser radikalen Reform und der sich darin verbergenden Alternativen nicht möglich sind, wenn wir die bisherige Reform und insbesondere auch ihre Durchführung nicht einer strengen Kritik unterziehen. Ich glaube nämlich, dass das ganze Vorgehen dann ehrlich ist, wenn wir uns einfach nicht nur mit den Funktionsstörungen des Systems beschäftigen, sondern auch mit der Beklommenheit jener, die seit Langem versuchen, eine progressive Antwort auf diese Probleme zu geben, die aber noch nicht auf den richtigen Weg gefunden haben. Ich meine also – ein wenig eine alte Weisheit verändernd –, dass man nicht zweimal die gleiche Reform in Angriff nehmen kann. Umgangssprachlich gesagt: Aus einem Rührei kann man kein Spiegelei mehr machen! Für eine neue Reform braucht man eine neue Konzeption, die anders an die Erledigung der Dinge des Landes herangeht, als wir das früher versuchten. Dazu, dass diese neue Konzeption entsteht, müssen wir über unseren Schatten springen – nicht nur die Gegner der Reform, sondern auch ihre Anhänger – und auch die Kritik der bisherigen Reform angehen. Eine derart offene und ehrliche Kritik kann die wirklichen Werte einer von Ungarn initiierten Reform retten, weil es in dieser frühere Reforminitiative gleichermaßen Elemente gibt, die bis heute wirken und die wir in Zukunft außer Acht lassen können. Und zwar bin ich der Meinung, dass wir darin übereinstimmen, dass hier ein ernsthafter, dem Schicksal des Landes verpflichtet denkender Mensch

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sich nicht noch einmal das auf Dirigismus beruhende System der Plananweisungen in der Wirtschaft zurückwünscht. Einer der großen Werte der um 1966/68 begonnenen Reform war, dass sie die dirigistische Methode verwarf und beim Wirtschaften – zumindest theoretisch – einen Weg für Lenkungsmethoden öffnen wollte, die das Wertgesetz sowie die Waren-, Geld- und Marktverhältnisse weitgehend berücksichtigten. Ein wichtiger und wertvoller Zug der damaligen Reform waren die Förderung der privaten und individuellen Initiativen und im Allgemeinen die Wende in der Anschauung, die sich in der Aufdeckung und Vertretung von Interessen und Interessenverhältnissen zeigte. Dies ist auch heute noch zu unterstützen, selbst wenn diese Initiative nur halbherzig, rudimentär und manchmal unsicher war. Gleichzeitig dürfen wir auch jene Umstände nicht außer Acht lassen, unter denen die Reform eingeleitet wurde und unter denen auch – selbst auf sich genommene – beschränkende Gesichtspunkte zur Geltung kamen, hauptsächlich der, dass die Reform nicht aus dem Kreis des [bisherigen sozialistischen] Wirtschaftens heraustreten wollte, zumindest nicht offen heraustreten wollte, dass sie gleichsam freiwillig ihrem Spielraum, in dem sie beginnen musste, enge Grenzen setzte. Wir kennen die internationalen und einheimischen Gründe dafür. Oder anders gesagt: Letztlich blieb diese Reform in einem aufgeklärten, absolutistischen Machtzirkel, der die Reform in eine bevormundende, paternalistische politische Konzeption der Bewilligung einbettete, wobei ihr keine angemessenen, nicht wieder rückgängig machbaren Voraussetzungen – einschließlich der politischen Machtbedingungen – gewährt wurden. Es wurde hauptsächlich darauf wachsam geachtet, dass sich die Reform nicht zu einer breiten demokratischen gesellschaftlichen Bewegung entwickelt, wobei gesagt wurde, dass die ganze Sache eine Angelegenheit weniger Führungspersonen und sachkundiger Experten sei und das Volk dann am Segen des Fortschritts teilhaben werde, wenn es fleißig genug arbeiten werde. Ein auf diese Weise unterbewertetes und politisch für minderjährig erachtetes Volk bestätigt die über das Volk geschaffenen Vorurteile in allem. Es tritt nämlich als Masse von gesichtslosen politischen Namenlosen in Erscheinung, weil es beim Eigentum nicht Eigentümer und in den Institutionen nicht Hüter ist, sondern – gemäß der Logik des Staatssozialismus – ein Untertan, der an der staatlichen Fürsorge teilhat. Diese Auffassung müssen wir hinter uns lassen. Die Grundkonzeption dafür schuf die Parteikonferenz vom Mai [1988]. Ich bin der Meinung, dass die neue Reformkonzeption, die auf einer umfassenden und tiefgreifenden Untersuchung und Analyse basiert, über eine wissenschaftliche Basis verfügt, dass es für sie die notwendigen Kenntnisse gibt und dass bereits heute an nicht wenigen Orten auch die politischen Voraussetzungen aus ehrlicher, rationaler Einsicht, manchmal natürlich aufgrund des Drucks der Krise, im Entstehen sind. In dieser Konzeption muss klargemacht werden, dass die Reform nicht Ziel, sondern Mittel ist. Dieses Mittel muss – unter ihrer Veränderung und Entwicklung



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gemäß den Erfordernissen – zum Erreichen eines weit über sie hinausweisenden Ziels genutzt werden. Deshalb darf sich das Verhältnis zu den konkreten Formen der Reform nicht im Zeichen der Treue und Verbindlichkeit, sondern im Zeichen der Anpassung entwickeln. Gerade seitens der Reformer muss ein streng kritisches Verhältnis in Verbindung mit allen eigenen Plänen entwickelt werden, denn das Ziel ist ein demokratisches sozialistisches Ungarn. Alle Bürger des Landes sollen ihre eigenen Herren, die auch unmittelbar ihre Verantwortung für ihre Arbeit erleben und fühlen, und eine Familie sein, die den Dienst am Allgemeinwohl als persönlichen Wert und eigenes Ziel betrachten. Gerade deshalb denke ich, dass – obwohl die entscheidende Rolle der Wirtschaft und die wirtschaftlichen Verhältnisse nur wenige bestreiten, denn wir spüren die ganzen Folgen der Krise auf unserer eigenen Haut – hier dennoch ausgesprochen werden muss, dass der Grundgedanke der Reform nicht volkswirtschaftlicher Natur ist, da auch die Gründe der Qualen und Widersprüche der Wirtschaft gesellschaftlicher Natur sind. Ausgehend von diesem gesellschaftlichen Gesichtspunkt gehört es zu den ersten Dingen der Reform, die notwendigen Initiativen zur Humanisierung der politischen Verhältnisse zu unternehmen. Ich weiß – ich wiederhole mich –, in der Geschichte ist nicht dies die wahre Reihenfolge der Dinge. Da aber der Staatssozialismus Stalin’schen Typus zuerst politisch errichtet wurde und von oben auf die Triebfedern des zentralen Willens baute, deshalb muss man auch die Hindernisse zuerst in der Politik beseitigen, damit der nationale Wohlstand, der vom wirtschaftlichen Erfolg abhängt, verwirklicht werden kann. In Verbindung damit muss auch mit einem Missverständnis ausgeräumt werden. Die Schaffung der institutionellen Struktur der neuen, aber doch auf der klassischen europäischen Kultur basierenden Staatlichkeit ersetzt nicht die Wirtschaftsreform. Die verfassungsmäßige Garantie der Menschenrechte und politischen Freiheiten ist kein Trostpreis für die verfallenden Lebensumstände des Volkes. Ganz im Gegenteil! Sie ist deshalb notwendig, weil die Wirtschaft, die unternehmerische Fantasie und Risikobereitschaft politische Fesseln erhielten. Die Schaffenskraft wurde beschränkt, der Glaube befahl der Wissenschaft, was man wissen musste. Eine umfassende radikale Reform war gerade deshalb notwendig, damit die Wirtschaft ihre bestimmende Rolle auf ihrem eigenen Gebiet zurückerhält, und der Vorrang der Politik soll bedeuten, dass sie eine initiative Rolle bei der Schaffung der freien menschlichen Tätigkeit spielt. Ohne eine nähere Ausführung, aber unter klarer Richtungsweisung möchte ich erklären, woran ich denke, wenn ich über diese politischen Verhältnisse rede. Zuerst, und das ist eine der wichtigsten Aufgaben, ist das Verhältnis von Partei und Staat – worüber auch zuvor die Rede war – zu klären. Und bei dieser Klärung muss bereits am Ausgangspunkt selbst als Präkonzeption anerkannt werden, dass – weil wir hierzu auch über genügend politische Erfahrung und politisches Wissen verfügen – die derartige Verflechtung von Partei und Staat sich letztlich lähmend auf den

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gesamten politischen Spielraum auswirkt. Wenn ich die Situation auch gemäß den Interessen der Partei betrachte, dann ist die Situation nachteilhaft, sie tötet die Möglichkeit der Bewegung in ihr ab und degradiert sie zu einer bürokratischen Organisation. Sie kann wohl selbst mit ihren eigenen Mitgliedern kaum mehr Kontakt halten, ganz zu schweigen von der Gesellschaft. Natürlich muss auch in Betracht gezogen werden, dass – solange ein Einparteiensystem in Ungarn existiert – die Arbeit der für das Regieren verantwortlichen Partei öffentlich sein muss, und zwar nicht nur für die Parteimitglieder, sondern auch für die Parteilosen und für die gesamte Gesellschaft. Und Öffentlichkeit der Parteiarbeit soll bedeuten, dass auch die Parteilosen die Partei kontrollieren können. Das andere sehr wichtige politische Erfordernis ist, dass an die Stelle der bisher zulässigen Interessenverfolgung eine demokratische und gegliederte, sich selbst organisierende Interessenvertretung tritt, die die Ausarbeitung von Alternativen ermöglicht. Zusammen damit muss durch die garantierte Form der Interessenvertretung der Platz und die Ordnung der gesellschaftlichen Organisationen und Vereinigungen geregelt werden. Unter diesem Gesichtspunkt halte ich die Verabschiedung eines Vereinigungsgesetzes, das die Vereinigung als menschliches, subjektives Recht betrachtet und nicht als Zugeständnis, das an eine Erlaubnis gebunden ist und auf Gutdünken basiert, für besonders wichtig. Diese Auffassung unterstützt auch die letzte Stellungnahme des Zentralkomitees. In Verbindung mit dem staatlichen Leben und den Staatsorganisationen kann ich hier jetzt nicht alle Zusammenhänge skizzieren, das Überdenken des Platzes, der Rolle und der Funktionen des Parlaments auf der Grundlage des Prinzips der Volkssouveränität ist aber eine natürliche Voraussetzung. Es ist notwendig, die legislative Rolle des Parlaments auszuweiten, und zwar so, dass es nicht ausschließlich mittels Regierungsinformationen die Arbeit der Regierung kontrollieren kann. Und es ist notwendig, das Parlament durch die Vervollständigung der Öffentlichkeit zu einem politischen Forum zu machen, das zugleich auch eine politische Schule des Landes und höchste staatliche Bühne der politischen Kultur sein kann. In der örtlichen Verwaltung ist die Stärkung der Selbstverwaltung das wichtigste Erfordernis und diese muss in der Verfassung geklärt werden, weil gegenwärtig die Möglichkeit der Selbstverwaltung nur auf die im Rätegesetz deklarierte Art und Weise und in der Deklaration zu seiner Modifizierung gegeben ist, und nicht so sehr in den Funktionsbedingungen. Ich denke hier beispielsweise daran, dass auch heute noch unsere gesamte Haushaltsordnung im Widerspruch zur Selbstverwaltungsabsicht, über die das Rätegesetz spricht, steht. Das Wahlgesetz muss gemäß den zuvor erwähnten Erfordernissen modifiziert werden und es ist ebenso zeitgemäß, ein Gesetz über die Volksabstimmung zu verabschieden, das nicht nur den Kreis der lokalen, örtlichen Regelungen und Angelegenheiten betrifft, sondern auch landesweite Fragen. Zur Schaffung der neuen ungarischen Staatlichkeit und zur Stärkung der für einen Rechtsstaat charakteristischen Garantien ist heute schon zu erkennen – und



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das ist mehr, als was man zu Beginn der Arbeiten zur Überprüfung der Verfassung sehen konnte –, dass es unvermeidbar ist, eine neue Verfassung zu schaffen, die die Menschenrechte und die Errungenschaften der europäischen Rechtskultur mit den historischen Werten des ungarischen Staatsrechts und der ungarischen Verfassung verbindet. Es muss verfassungsmäßig über die Teilung der Machtzweige verfügt werden, damit diese auch einander wechselseitig kontrollieren, sich in einem Gleichgewicht halten, in ihrer Funktion flexibler werden und damit dadurch die notwendigen Widerstandspunkte in der Gesellschaft gegen einen Machtmissbrauch entstehen. Eine sehr wichtige Rolle wird darin das Gericht spielen. Dieses wird neue Aufgaben beim Schutz der staatsbürgerlichen Rechte und bei der Schaffung der für das Wirtschaften unverzichtbaren öffentlichen Sicherheit haben. Hierzu gehört auch das Überdenken des gesamten Systems der Staatsverwaltung und der öffentlichen Verwaltung. Die Verfassung kann dies natürlich nicht umgehen. Eine Staatsverwaltung, die durch Machtinstrumente über den Gesetzen beeinflusst werden kann, ist unmöglich effektiv und sie ist der Korruption ungeschützt ausgesetzt. Wir sehen alle und jeden Tag die komische Situation, dass wir eine strenge, in vielerlei Hinsicht auch die Freiheit beschränkende, unter den politischen Verhältnissen ineffektive Staatsverwaltung geschaffen haben, in der dem Gesetz keine Geltung verschafft werden kann. Und dies ist heute das Grundproblem der Gesetzmäßigkeit und nicht das, ob jemanden gesetzwidrig eingesperrt wurde oder nicht. Dort, wo der Staat das Gesetz verletzen kann und die Staatsverwaltung dazu gezwungen werden kann, das Gesetz zu verletzen, wird nur schwer ein die Gesetze achtender Staatsbürger geboren. Nicht die Ausübung der Macht oder das Verlangen nach Gehorsam und die Erfüllung der Pflicht sind erniedrigend, sondern eine Ausübung der Macht, die die Menschen als gesetzeswidrig betrachten. Die mit einem schweren Legitimationsdefizit kämpfende Macht ist in einer schwierigeren Lage, als der sich mit dem schwersten Defizit abplagende Haushalt. Denn es demütigt und stürzt den gewissenhaften Beamten in Zweifel und lenkt den Staatsbürger auf den Weg des Ungehorsams. Diese Situation ist selbstverständlich in vielerlei Hinsicht zu retten (sic!). Ich möchte auch hier weder einen historischen Überblick bieten, noch auf die Vorgeschichte zurückgreifen, ich möchte nur so viel bemerken, dass ein Staat, der maßlos Vieles und seiner Funktion fremde Aufgaben übernimmt, auch beim besten Willen das Gesetz nicht achten kann. Die Aufgaben wachsen immer über seine Möglichkeiten und Fähigkeiten hinaus, weswegen er sich ständig in einer Situation der Überverteilung befindet, über die er dann glaubt, dass diese wegen der Konsumgier des Volkes und dem unstillbaren Hunger der Institutionen eingetreten sei, obwohl all dies aus Verschulden der Staatsstruktur geschieht. Aus dieser falschen Staatsstruktur heraus entwickelt sich dann eine derart launenhafte Staatsverwaltung, der weder der Staat noch die Staatsbürger wirklich folgen können. Und weder der Staat noch die Staatsbürger können sich ihr verhaltensmäßig anpassen. Deshalb wurden falsche Modernisierungsentscheidungen, basierende auf

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falschen wirtschaftspolitischen Vorstellungen, getroffen, selbst noch in den letzten anderthalb Jahrzehnten. Die Folgen dieser Entscheidungen haben wir zu tragen und wir zappeln in den Fallen, die durch sie zustande kamen. Gerade deshalb bin ich der Meinung, dass ohne die Kenntnisnahme des zuvor erwähnten Faktums und Umstands, dass es in den Wirtschaftsbeziehungen ein Wertgesetz gibt, dass sich auf dem Markt der Tauschwert in Form der Ware realisiert und dass die Produzenten durch den Markt miteinander verbunden werden und nicht irgendeine bürokratische Koordination sie zusammenbringt […] nicht gewirtschaftet werden kann. Und ohne die Reform der Eigentumsverhältnisse fehlen die gesellschaftlichwirtschaftlichen Fundamente der Demokratie, ohne sie existiert der zur Selbstbestimmung fähige, autonome Staatsbürger nicht, der notwendig ist, damit die zuvor erwähnten Institutionen der Staatsorganisation funktionsfähig sind. Ein Staatsbürger, der ohne Hoffnung auf Befreiung in die Hierarchie eingegliedert ist, der existenziell nur von oben abhängig ist, kann kein Subjekt der Demokratie sein. In einer sozialistischen Wirtschaft mit gemischtem Eigentum muss das sich frei organisierende Gemeinschaftseigentum zur zentralen Organisationsform der Eigentumsverhältnisse werden. Aus diesem [Gemeinschaftseigentum] folgen zusammen mit der Vielfalt der Eigentumsformen eine freiere Kapitalbewegung und auch die unternehmerische Akkumulationsmöglichkeit. Und an den beiden Außenseiten der Eigentumsverhältnisse positionieren sich das Privateigentum und das staatliche Eigentum, jedes aber an den Außenseiten, ausgehend von der Überlegung, dass die herrschenden sozialistischen Gemeinschaftsverhältnisse den Platz aller übrigen bestimmen. Nur unter einer solchen Eigentumsorganisation und nur unter solchen verfassungsmäßigen Vermögensgarantien kann – im Zeichen der Vermögensinteressiertheit – eine Ordnung geschaffen werden, in der die Beteiligten wahre Wirtschaftende sind, und nicht in erster Linie an der Verteilung, sondern am Wachstum interessiert sind. Weil gegenwärtig fast alle unsere [Eigentums-] Verhältnisse gerade deswegen, weil das Eigentum kein wirkliches Subjekt hat und der Staat und die Politik diese Rolle übernommen haben, sie [d. h. Staat und Politik] dazu veranlasst werden, möglichst früh, möglichst schnell, von heute auf morgen zu verteilen. Die neuartige Eigentumsentwicklung und Eigentumsorganisation machen sie nicht nur möglich, sondern fordern Zivilgesellschaft und politische Öffentlichkeit. Hier bietet nicht nur das Recht, sondern auch das Eigentum eine Garantie dafür, dass auch das Minderheitendenken, die in der Minderheit gebliebene Alternative, ein Existenzrecht haben soll und so die Vertreter der an die Macht gelangten Alternative dazu gezwungen werden, öffentlich und unter gesellschaftlicher Aufsicht für die Wahrheit der Mehrheit (sic!) kämpfen. In diesem Fall ist das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit zueinander keine moralische Frage und entscheidet sich nicht auf der Bühne der Moral, sondern in der Welt der gegenständlichen Wahrheiten. Wie sie also sehen, stehen hinter der Absicht, einen Rechtsstaat zu schaffen, tatsächliche Bedürfnisse und bedeutende politische Bewegungen, unter ihnen – mit



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dem größten Gewicht – die Partei mit ihren Erneuerungsbestrebungen. Die Rechtsstaatlichkeit hat aber weitere politische Konsequenzen. Die politischen Verhältnisse nehmen vielschichtige, sogenannte plurale Formen an und öffnen den Weg für verschiedenste Organisationen. Ihre ersten Anzeichen sind bereits zu sehen und ein Teil der Gesellschaft ist von Zuversicht, der andere Teil von Schrecken erfüllt. Hinter der Verstörung und Beklemmung treten abschreckende historische Erinnerungen hervor. Die Störung wird allerdings vor allem dadurch verursacht, dass die Untätigkeit und das lähmende, empfindliche Gleichgewicht zu lange andauerten. Währenddessen hat sich die Krise weiter vertieft, weil der Schacher, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, die regelwidrige Intrige mehr begünstigte, als problemlösende Initiativen mit durchschlagender Kraft. Die Diskussionen der Parteikonferenz zeugen auch davon reichlich. Bei einem Mangel an Öffentlichkeit kann nicht die notwendige Zahl von Staatsmännern, die zu großen Entschlüssen fähig sind, hervorgebracht werden, denn diese Struktur begünstigt Beamten-Politiker, die zur Anpassung bereit sind und die eher von der Furcht vor Entscheidungen, die für sie mit negativen Folgen einhergehen, geleitet werden, als vom notwendigen Willen und von der notwendigen Verantwortung zur Lösung der Sorgen der Nation. (Beifall.) Über all dies ist es jetzt hier notwendig, zu sprechen, weil die Macht und die Regierung eine sehr große Verantwortung dafür tragen, was sie in der Angelegenheit der neuerdings gegründeten und unaufhaltsam wuchernden Organisationen und Bewegungen machen. Jetzt entscheidet sich – worauf zuvor auch Genosse Károly Grósz verwiesen hat –, ob diese zur Desorganisation der Gesellschaft und zur Anarchie führen oder zu einem sich der Entwicklung anschließenden, modernen Land, für das der Rechtsstaat bezeichnend ist, in dem die Zivilgesellschaft erstarkt und in dem öffentlich Politik betrieben wird. Als Lösungen sind keine von oben empfohlenen Formen und organisatorischen Rezepte anzubieten – darüber ist die heutige ungarische Gesellschaft bereits hinweggeschritten –, sondern man muss Partnerschaft und einen Ausgleich bei der Praktizierung der Macht vorschlagen. Ein Ausgleich setzt entschiedene Fähigkeit und Entschlossenheit von allen Seiten und nicht Nachgiebigkeit voraus. Das gemeinsame Ergebnis geht nicht aus lautem Geschrei, sondern aus einem Ausgleich der in ihrer Überzeugung festen, nicht wortspielerischen Partner hervor. Wer kann die Politik bei ihrer Suche nach Orientierung unterstützen? Es sind glaubwürdige Politiker, die auch in dieser nebeligen, opalfarbenen politischen Öffentlichkeit sichtbar für ihre eigene Wahrheit gekämpft haben, und unerschütterlich souveräne, außerordentlich schöpferische Persönlichkeiten des Landes, die an der Spitze der sich als fest erweisenden Institutionen und Gemeinschaften, der Nation, des Staats, der Partei, der Kultur, der Wissenschaft und der Kirche, stehen und fähig sind, den Staatsbürgern und Gesetzgebern die Richtung zu weisen. Es muss bezeugt werden, dass sich hier ein wirklicher Rechtsstaat und ein wirklicher Pluralismus im Entstehen befinden. Es muss bewiesen werden, dass es sich nicht um ein Spiel einer zur Entscheidung und zu großen

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Entschlüssen unfähigen Macht handelt, die es erlaubt, dass sich die Leidenschaften entfesseln und die Institutionen zerfallen, um dann zum Instrument, das ihren Fähigkeiten am meisten entspricht, nach der Macht, zu greifen. Das politische Interesse an der Stabilisierung und die Stärkung des allgemeinen Vertrauens erfordern gleichermaßen, dass das Volk des Landes weiß, dass die Regierung die Umgestaltung des Systems der politischen Institutionen und die mit ihr verbundene Gesetzesvorbereitungsarbeit nicht aus taktischen Erwägungen, zur Ablenkung von der Krise, initiiert hat. Die Regierung ist sich im Klaren darüber, dass die Dinge auf die alte Art und Weise nicht weitergehen können. Sie ist sich auch darüber im Klaren, dass Gewalt, egal, welche Seite sie auslöst, das Land auf den tiefsten Punkt der Krise zurückwerfen würde und es aus dem Kreis der europäischen Länder und aus der zivilisierten Welt ausschließen würde. Das müssen das Volk und die im Namen des Volkes auftretenden Bewegungen nämlich wissen. Alle haben Platz beim Ausgleich, der die neue ungarische Staatlichkeit vorbereitet, ausgenommen die Krisenspekulanten, die in ihrer Machtbesessenheit – egal, auf welcher Seite sie stehen – die Stabilität und die zur nationalen Einheit führende Erneuerung gefährden. Wenn es uns gelingt, in diesen Fragen in einem breiten Kreis zu einem Konsens zu gelangen, dann wird in Ungarn kein Rat zur Rettung der Nation notwendig sein, sondern es ist vielleicht ein Rat zur allgemeinen nationalen Verständigung ins Leben zu rufen. Derjenige, der an der Durchführung dieser Aufgabe teilnehmen will, der muss früher oder später seinen Platz in der Regierung finden, und derjenige, der auf dem Boden der verfassungsmäßigen geistigen Kritik bleiben will, muss bei der Gesetzgebung und in den örtlichen Selbstverwaltungen zu Wort kommen. Das Vorhaben der Regierung zur Schaffung einer politischen Demokratie und eines Rechtsstaates kann auch ein Grundstein für Stabilität und Ordnung sein, weil das Vorhaben die Zukunft des Landes nicht auf der instabilen Struktur der Unfehlbarkeit und Allmächtigkeit eines einzigen Zentrums errichtet, sondern auf den Grundgedanken des demokratischen Sozialismus, auf die Freiheit der Staatsbürger, auf die Bereitschaft zur Initiative und auf die Fähigkeit zur Selbstverwaltung stellt. Zu diesem Zustand können die neue Verfassung und jene Gesetze, deren Verabschiedung die Partei und Regierung initiiert, führen. In der heutigen Phase der Prozesse und Ereignisse haben sowohl die Staatsmacht als auch die Staatsbürger eine sehr große Verantwortung. Die traditionellen und bewährten politischen Institutionen haben ebenso, wie die neu gegründeten und sich neu gründenden Institutionen die Verantwortung dafür, dabei zu helfen, die Bestrebungen und Ergriffenheit des Volks – unter Beiseitestellen von selbstbestätigenden Intensionen und Tatendrang zum Selbstzweck – in eine Form zu bringen. Sie sollen dabei helfen, aus der Masse der politisch Namenlosen, die der politischen Kultur entwöhnt sind, ein [politisch] gegliedertes, aber mit einem gemeinsamen staatsbürgerlichen Bewusstsein und mit gemeinsamer staatsbürgerlicher Verantwortung denkendes Volk zu formen. Sie sollen dabei helfen, den



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politischen Willen des Volkes, in dem die Absicht zum Zusammenschluss stark ist, zu entwickeln. Diese Aufgabe muss zu einer Zeit vollbracht werden, in der das Volk und die Regierung gleichermaßen mit einem schweren Erbe, mit der Krise des bisher praktizierten sozialistischen Modells konfrontiert sind. Die Krise kann aber auch der Anfang der Erneuerung und der nationalen Wiedergeburt sein, wenn wir mit gemeinsamen Willen das menschliche Maß zum Handeln finden. Das Volk weiß genau, dass die Lösung nicht ohne Opfer zu verwirklichen ist. Es weiß, dass es für die Fehler und schweren Irrtümer, die andere begingen, zahlen muss. Den Preis der Fehler zahlt es aber nur jenen, an die es glaubt. Die Krise wird hier nicht so lange dauern, bis wir einen angemessenen Lösungsmechanismus gefunden haben, sondern solange, bis das Volk Zeichen findet, die Grund für ein Vertrauen in die Tätigkeit der Macht und Regierung liefern. Deshalb muss die Regierung erneut um einen Kredit ersuchen, aber um einen solchen, der unter den schwersten Bedingungen gegeben wird. Das Vertrauen der Nation ist die Währung, um die ersucht werden muss, und wenn es dem Vertrauen dient, dann verlangt das Volk nur die Zinsen – in Form eines effektiven Dienstes für die Allgemeinheit. Das Volk wird die auf es wartenden Restriktionen verstehen, wenn es selbst denjenigen das Mandat geben kann, die diese zwangsweisen Restriktionen über es verhängen werden. Da es hier jetzt um die rechtliche Grundlegung des demok­ratischen Sozialismus geht, stellen wir uns eine Gesellschaft vor, in der jeder das Gesetz als sein eigenes Werk betrachtet und in der Notwendigkeit und Qualifikation der Regierung Respekt verleihen, nicht äußere Suggestion. Es ist die historische Aufgabe des jetzigen Parlaments, einen Beschluss zur Zustimmung zu diesem Regierungsvorhaben zu treffen und der Reihe nach jene Gesetze zu verabschieden, die in diesem Vorhaben aufgeführt sind. Im Namen des Ministerrats ersuche ich das verehrte Parlament, die Gesetzgebungsvorhaben und -aufgaben der Regierung, die sich auf die Reform des Systems der politischen Institutionen richten, zu unterstützen und zu genehmigen. Der mit Würde zum Ausdruck gebrachte Wille der Legislative stellt die Regierung vor eine ehrenvolle Aufgabe. Wenn das Volk unsere Absicht unterstützt, dann werden wir die notwendige Kraft und Entschiedenheit haben, unseren Willen durchzusetzen, dann wird die Nachwelt unsere Gremien unter den Staatsschöpfern erwähnen. Denn wenn wir unsere Aufgabe erledigen, dann kann das Endergebnis nicht zweifelhaft sein. Und dieses Ergebnis sind eine moralisch aufgestiegene Nation, ein durch Talent und Leistung bereichertes Ungarn und ein gut gestimmtes Ungarntum (sic!), Danke. (Beifall.) Quelle: Az Országgyűlés 31. ülése, 1988. november 24-én [31. Sitzung des Parlaments, 24. November 1988]. In: Országgyűlési értesítő 1985–1990 [Parlamentsmitteilungen 1985–1990]. Budapest 1990, S. 2512–2523. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul

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„Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UP-17c44d (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 18 Gesetz Nr. XXIV des Jahres 1988 über die Investitionen von Ausländern in Ungarn, angenommen vom ungarischen Parlament auf seiner Sitzung vom 20. bis 22. Dezember 1988 Das Gesetz über die Investitionen von Ausländern in Ungarn entstand vor dem Hintergrund des neuen wirtschaftspolitischen Kurses der ungarischen Führung, der zur marktwirtschaftlichen Restrukturierung und technologischen Modernisierung der ungarischen Wirtschaft eine verstärkte Einbeziehung von (westlichem) Auslandskapital in den ungarischen Wirtschaftskreislauf vorsah. Die Rechtsnorm regelt eingangs die allgemeinen Rahmenbedingungen von ausländischen Investitionen. Dann folgen Bestimmungen bezüglich der Gründung einer Wirtschaftsgesellschaft mit ausländischer Beteiligung bzw. der ausländischen Beteiligung an einer existierenden Gesellschaft sowie die Regeln für die Tätigkeit derartiger Gesellschaften. Darüber hinaus wird auch die Frage der Tätigkeit von Gesellschaften auf Zollfreigebieten thematisiert. Zweck des Gesetzes war es letztlich, die Möglichkeiten von ausländischen Investitionen in Ungarn eindeutig zu regeln, wobei auch eine Diskriminierung von ausländischen Anlegern ausgeschlossen und ein vollständiger Schutz von ausländischen Einlagen gewährleistet werden sollte. Überdies machte die Rechtsnorm erstmals auch eine 100-prozentige Auslandsbeteiligung möglich. Zusammen mit anderen gesetzgeberischen Maßnahmen – insbesondere mit dem Gesetz über die Wirtschaftsgesellschaften – bildete diese Rechtsnorm eine entscheidende Grundlage für den in den folgenden Jahren einsetzenden, sich äußerst dynamisch entwickelnden Zustrom von Auslandskapital nach Ungarn. Die Rechtsnorm wurde auf der Sitzung des ungarischen Parlaments vom 20. bis 22. Dezember 1988 verabschiedet, am 31. Dezember 1988 verkündet und trat zum 1. Januar 1989 in Kraft. *** Gesetz Nr. XXIV des Jahres 1988 über die Investitionen von Ausländer in Ungarn Zur Entwicklung der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit, vor allem zur Förderung des unmittelbaren Erscheinens von ausländischem aktivem Kapital in der ungarischen Wirtschaft und um die technische Entwicklung in der ungarischen Wirtschaft auch auf diesem Weg voranzutreiben – wobei den ausländischen Anlegern eine diskriminationsfreie und nationale Behandlung gewährleistet wird –, wird vom Parlament folgendes Gesetz verabschiedet:



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Kapitel 1 Allgemeine Bestimmungen § 1 (1) Die Einlagen von Ausländern in Ungarn genießen vollen Schutz und volle Sicherheit. (2) Die ausländischen Anleger sind für Schäden, die ihr Eigentum infolge etwaiger Verstaatlichungs-, Enteignungs- oder Maßnahmen mit ähnlicher Rechtswirkung treffen, mit ihrem tatsächlichen Wert unverzüglich zu entschädigen. (3) Für die Entschädigung trägt der Staat über das Verwaltungsorgan, das die Maßnahme ergriffen hat, Sorge. Im Fall einer Rechtsverletzung kann bei Gericht die Revision des Verwaltungsbeschlusses über die Entschädigung beantragt werden. (4) Die Entschädigungssumme ist an den Berechtigten in der Währung der getätigten Einlage auszuzahlen. § 2 In der Anwendung dieses Gesetzes gelten a) als Ausländer diejenigen juristischen Personen bzw. natürlichen Personen, die durch die Devisenbestimmungen zu einer solchen erklärt werden; b) als Investitionen von Ausländern in Ungarn Wirtschaftsgesellschaften, an denen sich Ausländer beteiligen, und Wirtschaftsgesellschaften, die von Ausländern gegründet werden, sowie der Erwerb eines Anteils an einer Wirtschaftsgesellschaft durch Ausländer (im Folgenden zusammen Gesellschaft mit ausländischer Beteiligung). § 3 Eine Gesellschaft mit ausländischer Beteiligung kann auf die in Gesetz Nr. VI des Jahres 1988 über die Wirtschaftsgesellschaften (im Folgenden GG) geregelte Art und Weise gegründet werden. Für diese Gesellschaften sind die Bestimmungen des GG – mit den Abweichungen und Ergänzungen dieses Gesetzes – anzuwenden. § 4 (1) Die Gesellschaft mit ausländischer Beteiligung kann sich an der Gründung einer anderen Wirtschaftsgesellschaft beteiligen, auch selbst eine Gesellschaft gründen und – mit den Einschränkungen in Absatz (2) – eine Beteiligung an einer aktiven Gesellschaft erwerben. Für diese Gesellschaften besitzen die Bestimmungen dieses Gesetzes – mit Ausnahme der Ausführungen in Kapitel IV – keine Geltung. (2) Aktiengesellschaften, die sich mehrheitlich oder vollständig in ausländischem Besitz befinden, können an anderen Aktiengesellschaften keinen mehrheitlichen Anteil erwerben. § 5 Die gesetzliche Aufsicht über die Gesellschaft mit ausländischer Beteiligung versieht das Gericht, das das Firmenregister führt (im Folgenden Firmengericht). § 6 Wird in einem internationalen Vertrag abweichend von diesem Gesetz verfügt, so ist dieser internationale Vertrag anzuwenden.

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Kapitel II Gründung einer Gesellschaft mit ausländischer Beteiligung, Erwerb eines Anteils an einer aktiven Gesellschaft § 7 Ausländer können sich an der Gründung einer Wirtschaftsgesellschaft beteiligen bzw. Mitglieder einer Gesellschaft werden, wenn sie nach ihrem heimischen Recht über eine Firma verfügen oder sie im Unternehmens- (oder einem anderen Wirtschafts-) Register gemäß ihrem heimischen Recht eingetragen sind. Aktionär kann jede beliebige ausländische natürliche oder juristische Person sein. § 8 An Gesellschaften mit ausländischer Beteiligung können sich – als inländische Gründer bzw. Mitglieder – der Staat, juristische Personen, Wirtschaftsgesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit und natürliche Personen entsprechend den Bestimmungen des GG in gleicher Weise beteiligen. § 9 (1) Eine Wirtschaftsgesellschaft mit ausländischer Beteiligung kann zur Ausübung jeglicher Wirtschaftstätigkeit gegründet werden, es sei denn, wenn diese Tätigkeit durch ein Gesetz verboten oder eingeschränkt wird. (2) Zur Gründung einer Wirtschaftsgesellschaft in mehrheitlichem oder vollständigem ausländischen Besitz, zur Umwandlung in eine solche Gesellschaft sowie zum Erlangen eines mehrheitlichen Besitzes an einer Gesellschaft ist die gemeinsame Genehmigung des Finanzministers und des Handelsministers erforderlich. Wird der Antrag innerhalb von neunzig Tagen nach dessen Einreichen nicht abgelehnt, gilt die Genehmigung als erteilt. (3) Bei einer ausländischen Beteiligung von weniger als in Absatz (2) festgehalten, ist zur Gründung der Wirtschaftsgesellschaft bzw. zur Beteiligung an einer Gesellschaft eine devisenbehördliche oder sonstige Genehmigung nicht erforderlich. § 10 (1) Der Antrag auf Genehmigung (§ 9 Absatz (2)) ist an den Finanzminister zu richten. (2) Der Antrag ist a) bei der Gründung einer neuen Gesellschaft vom ungarischen Gründer, b) im Fall des ausschließlich ausländischen Eigentums vom ausländischen Partner, c) beim Erwerb eines ausländischen Anteils an einer aktiven Gesellschaft von der Gesellschaft in ungarischer Sprache in fünf Ausfertigungen einzureichen. Der Antrag kann aufgrund einer Beauftragung auch durch jemand anderen eingereicht werden; liegt der Fall unter Punkt b) vor, ist ein inländischer Zustellungsbevollmächtigter anzugeben. (3) Der Antrag hat Folgendes zu beinhalten: a) Nennung der Namen (Firmennamen) der ungarischen und der ausländischen Mitglieder (Gründer), der Gesellschaftsform und des Sitzes (Wohnsitzes); b) Nennung der Gesellschaftsform, des Registrierungsortes und des Sitzes, außerdem die Beschreibung des Tätigkeitskreises;



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c) im Fall einer aktiven Gesellschaft Nennung der Höhe des Vermögens (Stammkapitals, Grundkapitals) zum Zeitpunkt der Antragsstellung; bei der Gründung einer neuen Gesellschaft die diesbezüglich geplanten Daten; d) Nennung der Art und Weise der Aufteilung des besteuerten Reingewinns; e) Darlegung der geschäftspolitischen Zielstellungen der Gesellschaft mit der Aufführung von Daten, die zur Bewertung geeignet sind. (4) Dem Antrag sind der Gesellschaftsvertrag (Satzung, Gründungsentwurf) in ungarischer Sprache und im Fall einer aktiven Gesellschaft auch die etwa notwendigen Änderungen der angeführten Urkunden beizufügen. § 11 (1) Den gemeinsamen Beschluss in der Sache des Antrags auf eine Genehmigung erteilt der Finanzminister. Der Abweisungsbeschluss ist zu begründen. (2) Ist der Antrag nicht in der vorgeschriebenen Form oder mit dem vorgeschriebenen Inhalt eingereicht worden, kann innerhalb von dreißig Tagen nach dem Einreichen – einmal – Mängelbeseitigung verfügt werden. Der Antrag ist innerhalb von sechzig Tagen nach der Beseitigung des Mangels in der Sache zu entscheiden. (3) Die in den Absätzen (1) und (2) genannten Beschlüsse sind in einer Ausführung auch an das Firmengericht weiterzuleiten. § 12 (1) Der Ausländer hat seinen eigenen Geldbeitrag – bei Fehlen einer abweichenden Bestimmung in einem internationalen Vertrag – in frei konvertierbarer Währung einzuzahlen. (2) Der nicht in Geld geleistete Beitrag kann eine jegliche handelsübliche Sache und Geistesschöpfung mit einem Vermögenswert und ein Vermögensrecht sein. § 13 (1) Wenn mehr Aktien gezeichnet wurden als die Aktiengesellschaft emittiert und es deshalb zu einer Zurückweisung kommt (GG § 255), kann bei einer Gesellschaft mit ausländischer Beteiligung das Notieren von Aktien auch durch ein staatliches Haushaltsorgan oder Finanzinstitut zurückgewiesen werden. (2) Ausländer können nur Namensaktien erwerben. Um eine Inhaberaktie an einen Ausländer zu übertragen, ist diese in eine Namensaktie umzuwandeln. Im Erbfall ist die Inhaberaktie des ausländischen Erben innerhalb von einem Jahr nach der Übergabe der Erbschaft in eine Namensaktie umzuwandeln. Kapitel III Die Tätigkeitsbedingungen der Gesellschaften § 14 (1) Die Gesellschaft mit ausländischer Beteiligung (im Folgenden Gesellschaft) ist zur Einzahlung der Unternehmensgewinnsteuer verpflichtet. Steuergrundlage bildet der im Kalenderjahr erzielte Gewinn der Gesellschaft. Nach ihrem Gewinn hat die Gesellschaft keine anderen Zahlungsverpflichtungen zu Gunsten des Staatshaushalts. (2) Die Höhe der Unternehmensgewinnsteuer beträgt vierzig Prozent des drei Millionen Forint nicht übersteigenden Teils der Steuergrundlage und fünfzig Prozent des diesen übersteigenden Teils (berechnete Steuer).

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§ 15 (1) Die Gesellschaft hat ein Anrecht auf alle Steuervergünstigungen, die anderen inländischen wirtschaftenden Organisationen zustehen. (2) Weitere Steuervergünstigungen im Kreis der Unternehmensgewinnsteuer: a) Erreicht der ausländische Anteil im Gründervermögen zwanzig Prozent oder fünf Millionen Forint, so steht der Gesellschaft eine zwanzig prozentige Steuervergünstigung aus der berechneten Steuer zu; b) Stammt mehr als die Hälfte des Erlöses der Gesellschaft aus der Produkterzeugung oder aus dem Betrieb eines selbst erbauten Hotels, übertrifft außerdem das Gründervermögen fünfundzwanzig Millionen Forint und ist darin der ausländische Anteil mindestens dreißig Prozent, so steht der Gesellschaft aus der berechneten Steuer in den ersten fünf Jahren nach Beginn der Verwertung des Produkts bzw. der Dienstleistung eine Steuervergünstigung von sechzig Prozent und ab dem sechsten Jahr eine Steuervergünstigung von vierzig Prozent zu; c) Bestehen die unter Punkt b) umschriebenen Bedingungen und übt die Gesellschaft eine in der Anlage zu diesem Gesetz angeführte, für die ungarische Wirtschaft besonders wichtige Tätigkeit aus, so steht der Gesellschaft aus der berechneten Steuer in den ersten fünf Jahren nach Beginn der Verwertung des Produkts bzw. der Dienstleistung eine Steuervergünstigung von einhundert Prozent und ab dem sechsten Jahr eine Steuervergünstigung von sechzig Prozent zu. (3) Die Steuervergünstigungen können in Form von Steuerrücklagen in Anspruch genommen werden. (4) Der Ministerrat kann mittels einer Verordnung – bei Bestehen der in Absatz (2) Punkt a) bestimmten Bedingungen – für Gesellschaften, die die Tätigkeiten eines Geldinstituts sowie die eine in der Anlage zu diesem Gesetz angeführte, besonders wichtige Tätigkeit ausüben, auch längerfristige bzw. größere Steuervergünstigungen als in Absatz (2) festgelegt, festsetzen. § 16 (1) Bestehen die in § 15 Absatz (2) Punkt b) und c) bestimmten Bedingungen und nutzt das ausländische Mitglied (der ausländische Aktionär) die ihm zustehende Dividende (den ihm zustehenden Anteil) voll und ganz oder zum Teil zum Aufstocken des Gründervermögens, erfährt die Gesellschaft eine Steuervergünstigung, in der Höhe des gleichen Betrages wie die auf diese Summe entfallende Steuer, die in der Form einer Steuerrücklage in Anspruch genommen werden kann. (2) Bedingung der Inanspruchnahme der Steuervergünstigung in Absatz (1) ist, dass der Nettogewinn mindestens die Höhe erreicht wie die Summe aus der Aufstockung des Gründervermögens und der damit verbundenen Steuervergünstigungen. § 17 Falls die Gesellschaft eine Investition tätigt, kann einhundert Prozent der im Berichtsjahr angefallenen, im Vorhinein angerechneten allgemeinen Umsatzsteuer (Mehrwertsteuer) zurückbehalten werden.



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§ 18 Produktionsmittel, die vom ausländischen Mitglied des Unternehmens als nicht in Geld geleisteter Beitrag (Apport) der Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden, können zollfrei nach Ungarn eingeführt werden. § 19 Die Gesellschaft kann a) für die zur Ausübung der im Gesellschaftsvertrag (in der Satzung) festgehaltenen Wirtschaftstätigkeiten notwendigen Immobilien Eigentumsrecht und andere Rechte erwerben; b) mit ihren Vermögensgegenständen im Rahmen der ungarischen Rechtsregeln und des Gesellschaftsvertrags (der Satzung) frei wirtschaften. § 20 (1) Eine Gesellschaft geht in der Beschaffung und im Absatz der Waren entsprechend den Bestimmungen der Rechtsnormen über den Produktumsatz und die Marktaufsicht vor. (2) Hinsichtlich der Preisbildung sind die Marktbedingungen – im Rahmen der Rechtsregeln über das Verbot der unlauteren Wirtschaftstätigkeit und die Feststellung des unlauteren Preises – maßgeblich. Wird mit einer Rechtsregel ein behördlicher Preis festgelegt, ist dieser anzuwenden. § 21 Die Gesellschaft kann ihre Außenhandels-, Groß- und Einzelhandelstätigkeiten gemäß den Regeln, die auch für andere inländische wirtschaftende Organisationen gelten, ausüben. § 22 Die Rechtsregeln über den Qualitätsschutz der Produkte und Leistungen sind auch auf die Gesellschaft anzuwenden. § 23 Die Gesellschaft kann gemäß den für andere inländische wirtschaftende Organisationen maßgeblichen Regeln Kredite aufnehmen und ihren Geldverkehr abwickeln. § 24 Im Zusammenhang mit dem Rechnungswesen, der Bilanzerstellung und der Verpflichtung zur Lieferung statistischer Daten sowie der staatlichen Kontrolle der Gesellschaft sind die Rechtsregeln, die sich auf andere, inländische wirtschaftende Organisationen beziehen, anzuwenden. § 25 Bei dauernder Zahlungsunfähigkeit sind die Bestimmungen des Liquidationsverfahrens anzuwenden. § 26 (1) Die Gesellschaft entrichtet nach den an ihre Arbeitnehmer ausgezahlten Löhnen und Gehältern den gleichen Sozialversicherungsbeitrag wie andere, inländische wirtschaftende Organisationen. (2) Die Gesellschaft ist zur Entrichtung des Sozialversicherungsbeitrags nur für die ausländischen Arbeitnehmer verpflichtet, die die unentgeltliche medizinische Versorgung und die Leistungen der Sozialversicherung in Anspruch nehmen wollen. Diese Bestimmung ist entsprechend auch auf den Rentenbeitrag anzuwenden. § 27 Die führenden Funktionsträger, Geschäftsführer, Aufsichtsratsmitglieder und Angestellten der Gesellschaft können auch Ausländer sein. § 28 (1) Im Zusammenhang mit der arbeitsrechtlichen Lage der Arbeitnehmer sind das Arbeitsgesetzbuch sowie in dessen Rahmen der Gesellschaftsvertrag (die

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Satzung) und der Arbeitsvertrag, und in Zusammenhang mit der Verantwortlichkeit der Arbeitnehmer das GG bzw. das Arbeitsgesetzbuch maßgeblich. (2) Für die gewerkschaftlichen Rechte gelten das Arbeitsgesetzbuch und die auf dessen Grundlage erlassenen Rechtsnormen. § 29 Die Rechtsnormen über die Lohnregelung und die materielle Interessiertheit der Beschäftigten in führenden Positionen sind auf die Gesellschaft nur dann anzuwenden, wenn der ausländische Anteil an ihr weniger als zwanzig Prozent oder fünf Millionen Forint beträgt. § 30 Das Vermögen der Gesellschaft ist – mit Ausnahme der Gesellschaften auf Zollfreigebiet – in Forint auszudrücken, die Bücher der Gesellschaft sind in Forint zu führen. Der Wert des nicht in Geld geleisteten Beitrags (Apports) des ausländischen Anlegers ist gemäß der Währung am Sitz des Ausländers in Forint zu führen. § 31 (1) Die Gesellschaft tätigt ihre Valuten- und Devisenoperationen bzw. Verrechnungen entsprechend den für andere inländische wirtschaftende Organisationen geltenden Regeln. (2) Das Umrechnen von Forint in Fremdwährung und von Fremdwährung auf Forint im Zusammenhang mit der Gründung, der Tätigkeit und der Auflösung der Gesellschaft – einschließlich der Überweisung von Beträgen, die vom Ausländer unter irgendeinem Titel der Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden, sowie der Überweisungen der Gesellschaft an das ausländische Mitglied – geschieht auf der Grundlage des jeweiligen offiziellen Kurses der Ungarischen Nationalbank. (3) Der in frei konvertierbarer Währung geleistete Geldbeitrag des ausländischen Gesellschaftsmitglieds kann von der Gesellschaft in der Einzahlungswährung auf ihrem eigenen Konto behalten werden, und es kann damit frei zur Beschaffung von Produktionsmitteln, Einzelteilen und Mitteln zur dauerhaften Nutzung, die für ihre Tätigkeit erforderlich sind, umgehen. Die zu Lasten dieses Kontos beschafften derartigen Produktionsmittel können zollfrei nach Ungarn eingeführt werden. § 32 (1) Der dem Ausländer zustehende Gewinnanteil der Gesellschaft sowie der im Fall der Auflösung der Gesellschaft oder der teilweisen oder vollständigen Veräußerung des ausländischen Eigentumsanteils dem Ausländer zustehende Betrag kann – falls der Gesellschaft die Gelddeckung zur Verfügung steht – gemäß dem Auftrag des Ausländers in der Währung der getätigten Einlage frei ins Ausland überwiesen werden. (2) Bei Auflösung der Gesellschaft hat der Ausländer vor der Überweisung seinen Verbindlichkeiten nachzukommen. § 33 Ausländische führende Funktionsträger, mit der Geschäftsführung betraute Mitglieder, Aufsichtsratsmitglieder und ausländische Angestellten können fünfzig Prozent ihrer von der Gesellschaft bezogenen und an die kontenführende Bank der Gesellschaft eingezahlten besteuerten Einkommen in der Landeswährung gemäß ihres ständigen Wohnsitzes frei in das Ausland überweisen.



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§ 34 Wird mit einer Rechtsregel für die ungarischen wirtschaftenden Organisationen zur Ausübung irgendeiner Tätigkeit eine behördliche Genehmigung vorgeschrieben, hat auch die Gesellschaft diese Genehmigung – unabhängig von der in § 9 Absatz (2) vorgeschriebenen Genehmigung – zu beschaffen. § 35 Wenn es das Gesetz nicht anders bestimmt, können die Bestimmungen nicht zivilrechtlichen Inhalts in Zusammenhang mit ihrer Wirtschaftstätigkeit auf die Gesellschaft nicht angewendet werden, die sich ausschließlich auf die staatlichen wirtschaftenden Organisationen und Genossenschaften – in dieser Eigenschaft – beziehen. § 36 Für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft gegenüber dem ausländischen Mitglied, die aus dem Mitgliedsverhältnis erwachsen, können die Banken unter den üblichen Bankgeschäftsbedingungen Garantien übernehmen. Kapitel IV Gesellschaften auf Zollfreigebiet § 37 (1) Gesellschaften können von Ausländern oder mit ausländischer Beteiligung auch auf Zollfreigebieten gegründet werden. An solchen Gesellschaften können von Ausländern Beteiligungen erworben werden. Vereinigungen können auf Zollfreigebieten nicht gegründet werden. (2) Bezüglich der Gründung von Gesellschaften auf Zollfreigebieten, dem Erlangen von Beteiligungen an solchen Gesellschaften und der Tätigkeit dieser Gesellschaften ist dieses Gesetz – mit den Abweichungen und Ergänzungen in diesem Kapitel – maßgeblich. (3) Die Bedingungen für die Errichtung von Anlagen und für die Ausübung von Tätigkeiten auf Zollfreigebieten sowie die Regeln des Personen- und Warenverkehrs mit den Zollfreigebieten sind in den Rechtsregeln über das Zollrecht und das Zollverfahren enthalten. § 38 Hinsichtlich der Anwendung der Zoll- und Devisenrechtsregeln sowie der Außenhandelsrechtsregeln gelten die Zollfreigebiete – mit den Abweichungen in § 39 – als Ausland und die Gesellschaften auf Zollfreigebieten in Anwendung der erwähnten Rechtsregeln als Ausländer. Dementsprechend können die Rechtsregeln über die Preisregelungen sowie über die staatliche Kontrolle auf die Gesellschaften auf Zollfreigebieten nicht angewendet werden. § 39 (1) Die Bestimmungen über den Außenhandel in den für die Volksrepublik Ungarn verbindlichen internationalen Verträgen sowie die Ein- und Ausfuhrvorschriften bezüglich einzelner Relationen oder Waren erstrecken sich auch auf die Gesellschaften auf Zollfreigebieten. (2) Mit der Genehmigung des Handelsministers können Gesellschaften auf Zollfreigebieten Außenhandelstätigkeiten mit Waren und Ländern ausüben, hinsichtlich der die Volksrepublik Ungarn über internationale Verträge verfügt, in denen die Sorten oder Mengen der zur Ein- oder Ausfuhr gelangenden Waren festgelegt sind.

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§ 40 Zur Eintragung einer Gesellschaft auf Zollfreigebiet in das Firmenregister ist auch der Beschluss des Finanzministeriums beizufügen, wonach das Grundstück, auf dem die Tätigkeit der Gesellschaft geplant ist, zum Zollfreigebiet erklärt wurde. § 41 (1) Die Gesellschaften auf Zollfreigebieten führen ihre Bücher – mit Ausnahme von Absatz (2) – in der frei konvertierbaren Währung, die im Gesellschaftsvertrag (in der Satzung) festgehalten ist. (2) Der Finanzminister kann das Führen einzelner Konten und die Bilanzerstellung in Forint anordnen. (3) Die Gesellschaften schließen ihre Geschäfte – abgesehen von den Ausnahmen in § 42 und von denjenigen, die vom Finanzminister fallweise genehmigt werden können – in frei konvertierbaren Währungen ab. (4) Die Gesellschaften auf Zollfreigebieten können a) ihre Valuten- und Devisenbestände bis zur Höhe ihres Gründungsvermögens (Stammkapitals, Grundkapitals) bei inländischen Banken und ihre darüber hinausgehenden Valuten- und Devisenbestände sowohl bei inländischen als auch ausländischen Banken halten; b) Kredite sowohl im Inland als auch im Ausland frei aufnehmen; c) frei über ihre im Inland und im Ausland in frei konvertierbaren Währungen angelegten Forderungen verfügen. § 42 (1) Die Gesellschaften auf Zollfreigebieten kaufen die zu ihrer Gründung und Tätigkeit erforderlichen Forintbeträge für frei konvertierbare Währungen bei den ungarischen Geldinstituten. Sie sind verpflichtet, die Forintbeträge auf Konten bei ungarischen Geldinstituten zu halten. (2) Zu Lasten der Konten in Absatz (1) sind zu zahlen a) die öffentlichen Abgaben; b) die Löhne und Gehälter sowie sonstige Zuwendungen der Angestellten und die darauf entfallenden Abgaben; c) die Gebühren der Flächennutzung (Mieten) und für Leistungen der öffentlichen Werke; sowie d) der Gegenwert der Beschaffungen aus dem Einzelhandel und der Bau-, Montage-, Reparatur- und ähnlicher Arbeiten auf Zollfreigebieten sowie der zur Gründung und Tätigkeit der Gesellschaft notwendigen sonstigen Beschaffungen und Leistungen, die nicht in den Tätigkeitsbereich der Gesellschaften auf Zollfreigebieten fallen, der den inländischen natürlichen Personen und den wirtschaftenden Organisationen ohne Außenhandelsrecht zusteht. § 43 Der Finanzminister kann die den Gesellschaften auf Zollfreigebieten zustehenden Begünstigungen auch für Gesellschaften mit vollständiger oder teilweiser ausländischer Beteiligung auf Nichtzollfreigebiet genehmigen, vorausgesetzt, dass die Gesellschaften keine Tätigkeiten ausüben, die mit der grenzüberschreitenden Bewegung von Waren einhergehen. Derartige Geldinstitute können als ausländische Geldinstitute angesehen werden.



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Kapitel V Schlussbestimmungen § 44 In Streitigkeiten der Gesellschaft mit ausländischer Beteiligung in Zusammenhang mit dem Gesellschaftsvertrag geht das inländische oder ausländische ordentliche oder Schiedsgericht vor, falls das von den Gründern bzw. Mitgliedern der Gesellschaft schriftlich vereinbart worden ist. § 45 Dieses Gesetz tritt mit dem 1. Januar 1989 in Kraft; gleichzeitig ändert sich der Beschluss des Ministerrats Nr. 1016/1985 (111.20.), § 11 Punkt c) entsprechend § 5 dieses Gesetzes. § 46 (1) Die Bestimmungen dieses Gesetzes sind a) auch auf die beim Inkrafttreten des Gesetzes bereits tätigen Gesellschaften mit ausländischer Beteiligung – mit Ausnahme der Genehmigungsvorschriften (§ 10 und 11) – anzuwenden; b) auch auf die in Gang befindlichen Sachen anzuwenden, wobei die Erledigungsfrist des Genehmigungsantrags von neunzig Tagen (§ 9 Absatz (2) mit dem 1. Januar 1989 beginnt. (2) Die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes ausgegebenen Genehmigungsurkunden behalten ihre Gültigkeit. (3) Die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes den Gesellschaften mit ausländischer Beteiligung gewährten Steuerbegünstigungen können bis zu ihrem Ablauf aus der berechneten Steuer – bis zu ihrer Höhe – zurückbehalten werden. § 47 Dieses Gesetz berührt nicht die Bestimmungen, die sich auf die Gründung von Banken und Geldinstituten mit ausländischer Beteiligung beziehen (Gesetz Nr. II vom Jahre 1979 § 34). Der volle Wert der Aktien solcher Banken oder Geldinstitute ist – abweichend vom GG § 264 Absatz (1) – innerhalb von drei Jahren nach der Eintragung der Aktiengesellschaft in das Firmenregister einzuzahlen. Anlage […]34 Quelle: Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 69, 31. Dezember 1988, S. 1710– 1715. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

34  Die Anlage führt die Bereiche „besonders wichtiger Tätigkeiten“ auf, darunter Elektronik, Maschinenbau, Arzneimittelherstellung, Telekommunikation und Fremdenverkehr.

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Dokument 19 Gesetz Nr. II des Jahres 1989 über das Vereinigungsrecht, angenommen vom ungarischen Parlament auf seiner Sitzung am 10./11. Januar 1989 Im Zuge des politischen Liberalisierungsprozesses, der mit der Parteikonferenz vom Mai 1988 eingeleitet worden war, kam auch die Frage des Vereinigungsrechts auf die politische Tagesordnung. Nach einem mehrmonatigen Vorbereitungsprozess unter Federführung des Justiz- und Innenministeriums wurde das Gesetz am 10./11. Januar 1989 – zusammen mit dem Versammlungsgesetz (siehe Dokument 20) – vom Parlament verabschiedet und trat mit seiner Verkündung am 24. Januar 1989 in Kraft. Das Vereinigungsgesetz war das erste derartige Gesetz in einem Staat des „sozialistischen Lagers“. Die Rechtsnorm befasst sich nach den allgemeinen Bestimmungen zum Vereinigungsrecht unter anderem mit den Rechten und Pflichten der Mitglieder von Vereinigungen, mit ihrem Aufbau und mit der Aufsicht über die Vereinigungen. Außerdem thematisiert sie ihr Wirtschaftsgebahren und ihre Auflösung bzw. ihr Erlöschen. Ganz in Übereinstimmung mit entsprechenden Regelungen in westlichen Demokratien schreibt es das Vereinigungsrecht als subjektives, staatlich anerkanntes und garantiertes Freiheitsrecht fest und eröffnet jedermann das Recht, mit anderen Personen eine Organisation oder Gemeinschaft zu bilden oder an derartigen Aktivitäten teilzunehmen. Das Vereinigungsrecht bezieht sich auf die Gründung und Tätigkeit von Massenorganisationen, Interessenvertretungen, Vereinen, Gewerkschaften und Parteien und schreibt als Voraussetzung fest, dass bei seiner Ausübung keine Straftaten begangen werden dürften, zu keinen derartigen Handlungen aufgerufen werden dürfe sowie die Rechte und Freiheiten anderer Personen nicht eingeschränkt werden dürften. Bezüglich der Organisation und Tätigkeit von politischen Parteien verweist das Gesetz aber darauf, dass diese Frage später gesondert durch die Verfassung und ein eigenes Gesetz geregelt werde. Das Gesetz über das Vereinigungsrecht bildete – zusammen mit dem Versammlungsgesetz – eines der „Grundgesetze“ der politischen Systemtransformation in Ungarn. *** Gesetz Nr. II des Jahres 1989 über das Vereinigungsrecht Im Interesse der Durchsetzung der Vereinigungsfreiheit verabschiedet das Parlament – in Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Verfassung sowie mit dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte – folgendes Gesetz: I. Kapitel Allgemeine Bestimmungen § 1 Das Vereinigungsrecht ist ein jedem Menschen zustehendes grundlegendes Freiheitsrecht, das von der Volksrepublik Ungarn anerkannt und dessen ungestörte



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Ausübung von ihr gewährleistet wird. Aufgrund des Vereinigungsrechts hat jeder Mensch das Recht, zusammen mit anderen Menschen Organisationen bzw. Gemeinschaften zu bilden oder an ihren Tätigkeiten teilzunehmen. § 2 (1) Aufgrund des Vereinigungsgesetzes können Privatpersonen, juristische Personen sowie ihre über keine Rechtspersönlichkeit verfügenden Organisationen – gemäß dem Zweck ihrer Tätigkeiten und der Absicht ihrer Gründer – politische Parteien, Gewerkschaften, Massenbewegungen, Interessenvertretungen, Vereinigungen oder andere – mit den Bestimmungen dieses Gesetzes nicht im Widerspruch stehende – Organisationen (im Folgenden: gesellschaftliche Organisationen) ins Leben rufen und betreiben. (2) Bei der Ausübung des Vereinigungsrechts darf keine Straftat begangen werden, es darf kein Aufruf zum Begehen einer Straftat erfolgen und es dürfen die Rechte und Freiheiten anderer Personen nicht verletzt werden. (3) Eine gesellschaftliche Organisation darf zum Zwecke der Durchführung jeder Tätigkeit gegründet werden, die in Einklang mit der Verfassung steht und die nicht gesetzlich verboten ist. Eine gesellschaftliche Organisation darf nicht mit dem primären Ziel, wirtschaftlich-unternehmerische Tätigkeiten durchzuführen, gegründet werden. Auf der Grundlage des Vereinigungsrechts darf keine bewaffnete Organisation ins Leben gerufen werden. (4) Gesellschaftliche Organisationen, Verbände gesellschaftlicher Organisationen sowie organisatorische Einheiten von gesellschaftlichen Organisationen sind – soweit die Satzung dies so regelt – juristische Personen. Die organisatorische Einheit einer gesellschaftlichen Organisation kann zu einer juristischen Person erklärt werden, die ein eigenes Geschäftsführungs- und Vertretungsorgan hat sowie über ein für ihr Funktionieren notwendiges Vermögen (über ein eigenes Budget) verfügt. § 3 (1) Eine gesellschaftliche Organisation ist eine freiwillig zustande gekommene und selbstverwaltete Organisation, die zu einem in der Satzung festgeschriebenen Zweck gebildet wird, über eine registrierte Mitgliederschaft verfügt und die Aktivitäten ihrer Mitglieder zur Erreichung des Zwecks organisiert. (2) An den Aktivitäten einer Massenorganisation können auch nicht registrierte Mitglieder teilnehmen. (3) Mitglieder einer politischen Partei oder einer Gewerkschaft können nur Privatpersonen sein. (4) Zur Gründung einer gesellschaftlichen Organisation ist es notwendig, dass mindestens zehn Gründungsmitglieder die Bildung der Organisation verkünden, die Satzung festlegen und ihre geschäftsführenden und Vertretungsorgane wählen. § 4 (1) Nach der Bildung einer gesellschaftlichen Organisation muss deren gerichtliche Registrierung beantragt werden. Die Registrierung der gesellschaftlichen Organisation darf nicht verweigert werden, wenn die Gründer den gesetzlich vorgeschriebenen Bedingungen Genüge geleistet haben. Die gesellschaftliche Organisation wird mit ihrer Registrierung zu einer juristischen Person.

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(2) Für die Rolle, die eine politische Partei im Gesellschaftssystem einnimmt, sind die Bestimmungen der Verfassung richtungsweisend, für ihre Gründung (§ 3, Abs. 4), ihre Registrierung (§ 4, Abs. 1, § 22), für die Aufsicht über sie (§§ 14 bis 16), für ihr Wirtschaftsgebaren (§ 19) und für ihre Auflösung (§ 21) sind die Bestimmungen eines eigenen Gesetzes maßgeblich. § 5 Eine Gemeinschaft von Privatpersonen, die auf der Grundlage des Vereinigungsgesetzes gebildet wurde, gilt nicht als gesellschaftliche Organisation, wenn sie nicht regelmäßig tätig ist oder über keine registrierten Mitglieder verfügt oder keine gemäß diesem Gesetz geregelte Organisation hat. II. Kapitel Die Satzung der gesellschaftlichen Organisation § 6 (1) Die Satzung der gesellschaftlichen Organisation gewährleistet entsprechend den darin festgelegten Zielsetzungen die demokratische, auf dem Prinzip der Selbstverwaltung beruhende Tätigkeit der Organisation und fördert die Durchsetzung der Rechte und Pflichten der Mitglieder. (2) In der Satzung der gesellschaftlichen Organisation muss der Name der Organisation, ihr Ziel und Sitz sowie ihre Organisation festgeschrieben werden. § 7 (1) Bezeichnung und Zielsetzung der gesellschaftlichen Organisation dürfen – ohne Zustimmung der betroffenen juristischen Person – nicht den Eindruck erwecken, dass die gesellschaftliche Organisation ihre Tätigkeit in Verbindung mit einer anderen juristischen Person ausübt. (2) Die Bezeichnung einer gesellschaftlichen Organisation muss sich von der Bezeichnung einer früher eingetragenen gesellschaftlichen Organisation, die auf dem Staatsgebiet [Ungarns] in einem ähnlichen Tätigkeitsfeld aktiv ist, unterscheiden. III. Kapitel Rechte und Pflichten der Mitglieder § 8 Mitglied des geschäftsführenden und des Vertretungsorgans einer gesellschaftlichen Organisation kann ein ungarischer Staatsbürger, ein nicht ungarischer Staatsbürger, der sich in Ungarn niedergelassen hat bzw. über eine Aufenthaltsgenehmigung in Ungarn verfügt, sowie – im Falle einer gesellschaftlichen Organisation mit internationalem Charakter – auch ein nicht ungarischer Staatsbürger sein, vorausgesetzt, er wurde nicht von der Ausübung öffentlicher Angelegenheiten ausgeschlossen. § 9 Das Mitglied einer gesellschaftlichen Organisation a) kann an den Aktivitäten und Veranstaltungen der gesellschaftlichen Organisation teilnehmen;



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b) kann die Organe der gesellschaftlichen Organisation wählen und ist in diese wählbar; c) ist verpflichtet, seinen in der Satzung niedergelegten Pflichten Genüge zu leisten. § 10 (1) Ein gesetzeswidriger Beschluss irgendeines Organs der gesellschaftlichen Organisation kann von jedem Mitglied – innerhalb von 30 Tagen nach dem Bekanntwerden – vor Gericht angefochten werden. (2) Die Anfechtung der Entscheidung blockiert die Durchführung des Beschlusses nicht, in einem begründeten Fall kann das Gericht seine Durchführung aber suspendieren. IV. Kapitel Der organisatorische Aufbau der gesellschaftlichen Organisation § 11 (1) Das oberste Organ der gesellschaftlichen Organisation ist die Gesamtheit der Mitglieder oder – gemäß den Bestimmungen der Satzung – ein unmittelbar oder mittelbar gewähltes Gremium. (2) Das oberste Organ der gesellschaftlichen Organisation ist nach Bedarf, spätestens aber alle fünf Jahre, einzuberufen. Das oberste Organ muss auch dann einberufen werden, wenn die Einberufung von einem Gericht angeordnet wird bzw. wenn ein Drittel der Mitglieder oder ein in der Satzung abweichend festgelegter Mitgliederanteil – unter Benennung von Grund und Ziel – die Einberufung fordert. (3) Die geschäftsführenden und Vertretungsorgane müssen – falls in der Satzung nicht anders bestimmt – in geheimer Wahl gewählt werden. § 12 (1) Zu den Kompetenzen des obersten Organs der gesellschaftlichen Organisation gehören: a) die Festlegung und Änderung der Satzung; b) die Bestimmung des Jahreshaushalts; c) die Annahme des jährlichen Berichts des Geschäftsführungsorgans; d) die Erklärung der Vereinigung der gesellschaftlichen Organisation mit einer anderen gesellschaftlichen Organisation, ebenso, wie ihre Auflösung; e) die Entscheidung aller Angelegenheiten, die die Satzung in ihren alleinigen Kompetenzbereich verweist. (2) In der Satzung kann die Feststellung des Jahreshaushalts der gesellschaftlichen Organisation und die Erörterung des jährlichen Berichts des geschäftsführenden Organs – anstelle durch das oberste Organ – auf ein anderes Organ der Organisation übertragen werden.

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V. Kapitel Verbände von gesellschaftlichen Organisationen § 13 Zur Organisation und Betreibung von Verbänden gesellschaftlicher Organisationen sowie hinsichtlich ihrer Registrierung und Rechtsfähigkeit sind die Regelungen, die sich auf die gesellschaftlichen Organisationen beziehen, entsprechend anzuwenden. VI. Kapitel Die Aufsicht über die gesellschaftlichen Organisationen § 14 (1) Über die gesellschaftlichen Organisationen übt die Staatsanwaltschaft gemäß den hierfür maßgeblichen Regelungen die Gesetzlichkeitsaufsicht aus. (2) Wenn die Gesetzmäßigkeit der Tätigkeit einer gesellschaftlichen Organisation nicht anders sicherzustellen ist, dann kann sich der Staatsanwalt an das Gericht wenden. § 15 (1) Die gesellschaftlichen Organisationen werden von – den mit Blick auf den Sitz der Organisation – zuständigen Komitatsgerichten bzw. vom Hauptstädtischen Gericht (im Folgenden zusammen: Gericht) registriert. (2) Der Antrag auf Registrierung wird von der Person, die zur Vertretung der gesellschaftlichen Organisation befugt ist, eingereicht. Dem Antrag sind die Satzung und das Protokoll der konstituierenden Sitzung beizufügen. (3) Das Gericht entscheidet über die Registrierung im Zuge eines nicht gerichtlichen Verfahrens und außer der Reihe. Den Beschluss über die Registrierung sendet das jeweilige Gericht der Staatsanwaltschaft. (4) Wenn sich der Name oder Sitz der gesellschaftlichen Organisation ändert bzw. wenn eine neue Person zur Vertretung der gesellschaftlichen Organisation berechtigt wird, dann muss dieser Sachverhalt dem Gericht gemeldet werden. § 16 (1) Prozesse, die von einem Mitglied der gesellschaftlichen Organisation (§ 10) oder vom Staatsanwalt (§ 14, Abs. 2) angestrengt werden, gehören in die Zuständigkeit der Komitatsgerichte bzw. des Hauptstädtischen Gerichts. (2) Das Gericht kann auf Antrag des Staatsanwalts a) einen gesetzwidrigen Beschluss einer gesellschaftlichen Organisation annullieren und verordnen, dass ein neuer Beschluss getroffen wird; b) zur Wiederherstellung der Gesetzmäßigkeit der Tätigkeit das oberste Organ der gesellschaftlichen Organisation einberufen; c) ihre Tätigkeit, wenn die Gesetzmäßigkeit der Tätigkeit der gesellschaftlichen Organisation nicht anderweitig sichergestellt werden kann, suspendieren und zu ihrer Überwachung einen Kontrollbeauftragten einsetzen; d) die gesellschaftliche Organisation auflösen, wenn ihre Tätigkeit mit § 2, Absatz 2 in Konflikt gerät;



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e) das Erlöschen der gesellschaftlichen Organisation feststellen, wenn sie mindestens ein Jahr lang nicht tätig gewesen ist oder ihre Mitgliederzahl dauerhaft unterhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Zahl lag. § 17 Wenn die gesellschaftliche Organisation einer Tätigkeit nachgeht, die eine Rechtsnorm an Voraussetzungen bindet oder auf sonstige Weise regelt, dann übt ein staatliches Organ, das über einen entsprechenden Kompetenzbereich verfügt, über diese Tätigkeit – unter Anwendung der sich auf die behördliche Kontrolle beziehenden Bestimmungen – die Aufsicht aus. VII. Kapitel Das Wirtschaftsgebaren der gesellschaftlichen Organisationen § 18 Die gesellschaftliche Organisation haftet mit ihrem eigenen Vermögen für ihre Verbindlichkeiten. Die Mitglieder haften – über die Bezahlung des Mitgliedsbeitrags hinaus – nicht mit ihrem eigenen Vermögen für die Verbindlichkeiten der gesellschaftlichen Organisation. § 19 (1) Das Vermögen der gesellschaftlichen Organisation setzt sich in erster Linie aus den von den Mitgliedern gezahlten Beiträgen, aus den Zuwendungen von juristischen Personen und Privatpersonen sowie aus ihren Spenden zusammen. (2) Eine gesellschaftliche Organisation kann – zur Sicherstellung der wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Verwirklichung ihrer Ziele – auch wirtschaftlichunternehmerischen Tätigkeiten nachgehen. VIII. Kapitel Das Erlöschen der gesellschaftlichen Organisation § 20 Eine gesellschaftliche Organisation hört auf, zu bestehen, wenn sie sich auflöst, sich mit einer anderen gesellschaftlichen Vereinigung vereinigt, aufgelöst wird bzw. ihr Erlöschen festgestellt wird. § 21 (1) Im Falle des Erlöschens einer gesellschaftlichen Organisation muss über ihr Vermögen – nach Befriedigung der Gläubiger – gemäß den Vorschriften der Satzung oder der Entscheidung des obersten Organs verfügt werden. Die Übernahme der damit verbundenen Aufgaben ist Aufgabe der Liquidatoren. (2) Wenn die gesellschaftliche Organisation aufgelöst oder ihr Erlöschen festgestellt wurde und wenn über die Verwendung des Vermögens keine Verfügung getroffen wurde, dann gelangt ihr Vermögen – nach Befriedigung der Gläubiger – in staatliches Eigentum und ist für gemeinnützige Zwecke zu verwenden. Die Art und Weise der Verwendung des Vermögens muss öffentlich kundgetan werden.

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IX. Kapitel Schlussbestimmungen § 22 Die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes tätigen, aber nicht registrierten gesellschaftlichen Organisationen können bis zum 31. Dezember 1989 um ihre Registrierung ersuchen. Falls dieser Schritt versäumt wird, ist die gesellschaftliche Organisation als erloschen zu betrachten. § 23 Für die Tätigkeit, Organisation und Aufsicht der gesellschaftlichen Organisationen, die vor Inkrafttreten dieses Gesetzes aufgrund einer eigenen Rechtsnorm gegründet wurden bzw. tätig waren, sind – bis zur Änderung dieser Rechtsnormen oder ihrer Außerkraftsetzung – die Bestimmungen der früheren, sich auf sie beziehenden Rechtsnormen maßgebend. § 24 Der Ministerrat wird dazu ermächtigt, die Bestimmungen in Verbindung mit der Wirtschaftstätigkeit der gesellschaftlichen Organisationen – unter Ausnahme der politischen Parteien – festzulegen. § 25 (1) Bezüglich der Mitglieder der Streitkräfte und der bewaffneten Organe bestimmt die Dienstvorschrift die Voraussetzungen und die Art und Weise der Ausübung des Vereinigungsrechts. (2) Die Bestimmungen von § 11 dieses Gesetzes erstrecken sich nicht auf die Gewerkschaften und die Interessenvertretungen der Arbeitgeber. § 26 An die Stelle von § 212 des Gesetzes Nr. IV des Jahres 1978 über das Strafgesetzbuch tritt folgende Bestimmung: „§ 212 Wer sich an der Leitung einer gerichtlich aufgelösten gesellschaftlichen Organisation beteiligt, begeht ein Vergehen, und ist mit einem Freiheitsentzug von bis zu einem Jahr, mit Besserungs- und Erziehungsarbeit oder mit einer Geldstrafe zu bestrafen.“ § 27 An die Stelle der Titel 7 und 8 von Kapitel VI des Gesetzes Nr. IV des Jahres 1959 über das Zivilgesetzbuch sowie der Teile darunter treten folgende Bestimmungen: „7. Die Vereinigung § 57 Eine Vereinigung ist eine freiwillig gebildete, sich selbst verwaltende Organisation, die zu einem in der Satzung festgehaltenen Zweck entsteht, über eine registrierte Mitgliederschaft verfügt und die Tätigkeit ihrer Mitglieder zur Erreichung ihres Ziels organisiert. Die Vereinigung ist eine juristische Person. § 58 (1) In der Satzung der Vereinigung muss der Name, der Zweck und Sitz der Organisation sowie ihr organisatorischer Aufbau bestimmt werden. (2) Die Vereinigung wird mit ihrer Registrierung zu einer juristischen Person. (3) Die Vereinigung haftet für ihre Verbindlichkeiten mit ihrem eigenen Vermögen. Die Mitglieder haften – abgesehen von der Zahlung des Mitgliedsbeitrags – mit ihrem eigenen Vermögen nicht für die Verbindlichkeiten der Vereinigung.



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§ 59 Die Vereinigung erlischt, wenn a) das oberste Organ seine Auflösung verkündet; b) das oberste Organ die Vereinigung mit einer anderen Vereinigung ausspricht; c) das hierfür zuständige Organ die Vereinigung auflöst oder ihr Erlöschen feststellt. § 60 Für die gesellschaftlichen Vereinigungen müssen die sich auf die Vereinigung beziehenden Bestimmungen entsprechend angewendet werden.“ § 28 (1) Dieses Gesetz tritt am Tage seiner Verkündung in Kraft. (2) Gleichzeitig mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes verlieren folgende Rechtsnormen ihre Gültigkeit: Verordnung Nr. 35 des Jahres 1970 mit Gesetzeskraft über die Vereinigungen sowie die diese Verordnung modifizierenden Verordnungen Nr. 29 des Jahres 1980 mit Gesetzeskraft und Nr. 27 des Jahres 1983 mit Gesetzeskraft; § 2 der Verordnung Nr. 3 des Jahres 1979 mit Gesetzeskraft über die Änderung einzelner Kompetenzen, die Landwirtschafts- und Lebensmittelsektor gehören; § 3, Absatz 4 der Verordnung Nr. 9 des Jahres 1986 mit Gesetzeskraft über das Staatliche Jugend- und Sportamt; der Satzteil „…während bei einer Vereinigung die Zustimmung des Aufsichtsorgans notwendig ist.“ in § 70, Absatz 2 des Gesetzes Nr. IV des Jahres 1959 über das Zivilgesetzbuch. Quelle: Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 5, 24. Januar 1989, S. 86–89. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UQ-370cbc (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 20 Gesetz Nr. III des Jahres 1989 über das Versammlungsrecht, angenommen vom ungarischen Parlament auf seiner Sitzung am 10./11. Januar 1989 Parallel zum Vereinigungsgesetz (siehe Dokument 19) wurde nach der Parteikonferenz vom Mai 1988 unter der Federführung des Justiz- und Innenministeriums auch mit der Ausarbeitung eines Versammlungsgesetzes begonnen. Wie das Vereinigungsgesetz wurde die Rechtsnorm vom Parlament am 10./11. Januar 1989 verabschiedet und trat mit seiner Verkündung am 24. Januar 1989 in Kraft. Nach der Darlegung der allgemeinen Bestimmungen zum Versammlungsrecht befasst sich die Rechtsnorm eingehend mit den Fragen der Organisation und Durchführung von Versammlungen. Analog zum Vereinigungsgesetz wird die Versammlungsfreiheit als ein subjektives, jedermann zustehendes

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sowie staatlich anerkanntes und garantiertes Freiheitsrecht bezeichnet. Eingeschränkt wird das Recht – wie auch in westlichen Demokratien üblich – nur durch die Bestimmung, dass es nicht das Ziel einer Versammlung sein dürfe, eine Straftat zu begehen oder dazu aufzurufen, und dass durch sie nicht die Rechte und Freiheiten anderer Personen eingeschränkt werden dürften. Zusammen mit dem Vereinigungsgesetz bildete die Rechtsnorm eines der „Grundgesetze“ des politischen Systemwechsels in Ungarn. *** Gesetz Nr. III des Jahres 1989 über das Versammlungsrecht Im Interesse der Durchsetzung der Versammlungsfreiheit verabschiedet das Parlament – in Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Verfassung sowie mit dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte – folgendes Gesetz: I. Kapitel Allgemeine Bestimmungen § 1 Das Versammlungsrecht ist ein jedem Menschen zustehendes grundlegendes Freiheitsrecht, das von der Volksrepublik Ungarn anerkannt und dessen ungestörte Ausübung von ihr gewährleistet wird. § 2 (1) Im Rahmen der Ausübung des Versammlungsrechts dürfen friedliche Zusammenkünfte, Aufzüge und Demonstrationen (im Folgenden: Veranstaltungen), auf denen die Teilnehmer ihre Meinung frei zum Ausdruck bringen können, abgehalten werden. (2) Die Veranstaltungsteilnehmer sind berechtigt, ihren gemeinsam entwickelten Standpunkt den interessierten Personen zur Kenntnis zu bringen. (3) Bei der Ausübung des Versammlungsrechts darf keine Straftat begangen werden, es darf kein Aufruf zum Begehen einer Straftat erfolgen und es dürfen die Rechte und Freiheiten anderer nicht verletzt werden. § 3 Die Gültigkeit des Gesetzes erstreckt sich nicht a) auf Versammlungen in Zusammenhang mit der Wahl der Abgeordneten des Parlaments und der Räteorganisationen sowie auf Berichtsversammlungen der Abgeordneten und Ratsmitglieder; b) auf religiöse Zeremonien, Veranstaltungen und Prozessionen, die auf dem Territorium von gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionskonfessionen veranstaltet werden; c) auf Kultur- und Sportveranstaltungen; d) auf Veranstaltungen in Verbindung mit familiären Ereignissen. § 4 Die Organisation und Abhaltung einer Veranstaltung in unmittelbarer Umgebung des Parlaments (auf dem Lajos-Kossuth-Platz, Budapest, V. Bezirk, bzw. auf dem Abschnitt des Széchenyi-Kais vor dem Parlament) ist verboten.



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II. Kapitel Organisation der Veranstaltung § 5 Der Organisator der Veranstaltung kann ein ungarischer Staatsbürger bzw. ein nicht ungarischer Staatsbürger, der über eine Aufenthalts- oder Niederlassungsgenehmigung verfügt, sein. § 6 Die Organisation einer auf einem öffentlichen Platz abzuhaltenden Veranstaltung muss dem gemäß dem Ort der Veranstaltung zuständigen Polizeipräsidium bzw. in Budapest dem Budapester Polizeipräsidium (im Folgenden: Polizei) mindestens drei Tage vor dem geplanten Zeitpunkt der Abhaltung der Veranstaltung gemeldet werden. Die Anmeldepflicht obliegt dem Organisator der Veranstaltung. § 7 Die schriftliche Anmeldung muss folgende Punkte beinhalten: a) den voraussichtlichen Zeitpunkt des Beginns und der Beendigung der geplanten Veranstaltung sowie ihren Schauplatz oder ihre Wegstrecke; b) das Ziel bzw. die Tagesordnung der Veranstaltung; c) die voraussichtliche Zahl der Veranstaltungsteilnehmer und die Zahl der Ordner, die eine ungestörte Abwicklung der Veranstaltung sicherstellen sollen; d) Name und Adresse des Organs oder der Personen, die die Veranstaltung organisieren, und der Person, die zur Vertretung der Organisatoren berechtigt ist. III. Kapitel Die Abhaltung der Veranstaltung § 8 (1) Wenn die Abhaltung der anmeldungspflichtigen Veranstaltung die ungestörte Tätigkeit von Volksvertretungsorganen oder Gerichten schwerwiegend gefährden würde bzw. wenn sie mit einer unverhältnismäßigen Störung der Verkehrsordnung einhergehen würde, dann kann die Polizei innerhalb von 48 Stunden, nachdem die Anmeldung bei der Behörde eingetroffen ist, die Abhaltung der Veranstaltung an dem in der Anmeldung angegebenen Ort oder zur dort angegebenen Zeit verbieten. (2) Die Entscheidung der Polizei muss den Organisatoren innerhalb von 24 Stunden schriftlich mitgeteilt werden. (3) Für das Verfahren der Polizei sind die allgemeinen Bestimmungen des Verwaltungsverfahrens maßgebend. § 9 (1) Gegen den Beschluss der Polizei kann keine Berufung eingelegt werden; der Organisator kann innerhalb von drei Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung eine gerichtliche Überprüfung des Beschlusses der Staatsverwaltung beantragen. Dem Antrag muss der Beschluss der Polizei beigefügt werden. (2) Das Gericht trifft innerhalb von drei Tagen nach Eintreffen des Antrags in einem nicht gerichtlichen Verfahren, unter Mitwirkung von Schöffen und – wenn

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notwendig – nach Anhörung der Parteien eine Entscheidung. Wenn es dem Antrag stattgibt, setzt die Entscheidung den Beschluss der Polizei außer Kraft. Anderenfalls weist das Gericht den Antrag zurück. Gegen den Gerichtsentschluss können keine Rechtsmittel eingelegt werden. (3) Wenn das Gericht den Beschluss der Polizei nach dem in der Anmeldung festgelegten Termin außer Kraft setzt, dann muss der Organisator die Polizei, die die Anmeldung beurteilt, 24 Stunden vor Abhaltung der Veranstaltung über den geplanten neuen Zeitpunkt der Abhaltung der Veranstaltung informieren. § 10 Wenn die Veranstaltung auf einem öffentlichen Verkehrsweg stattfindet, muss der Instandhalter des öffentlichen Verkehrswegs informiert werden. § 11 (1) Um die Sicherstellung der Ordnung auf der Veranstaltung kümmert sich der Organisator. (2) Die Polizei und andere hierfür zuständige Organe können an der Sicherstellung der Ordnung auf der Veranstaltung auf Ersuchen des Organisators mitwirken und für die Entfernung von Personen, die die Veranstaltung stören, sorgen. § 12 (1) Wenn das Verhalten der Teilnehmer an der Veranstaltung die Gesetzmäßigkeit der Veranstaltung gefährdet und die Ordnung auf andere Weise nicht wiederherzustellen ist, dann ist der Organisator verpflichtet, die Veranstaltung aufzulösen. (2) Die Teilnehmer an der Veranstaltung dürfen nicht bewaffnet oder mit Waffen ausgerüstet erscheinen. (3) Ein Vertreter der Polizei darf bei der Veranstaltung anwesend sein. (4) Die Teilnehmer an der Veranstaltung sind verpflichtet, den Schauplatz der Veranstaltung zum Zeitpunkt der – in der Anmeldung festgesetzten – Beendigung der Veranstaltung zu verlassen. § 13 (1) Für Schäden, die durch Teilnehmer an der Veranstaltung verursacht werden, haftet der Organisator gemeinsam mit dem Schadensverursacher gegenüber der geschädigten dritten Person. Der Organisator wird der Haftung enthoben, wenn er nachweist, dass er bei der Organisation und Durchführung so vorgegangen ist, wie dies in der gegebenen Situation im Allgemeinen zu erwarten ist. (2) Diese Regelung berührt das Recht des Organisators nicht, vom Schadensverursacher eine Erstattung des Schadens zu fordern. § 14 (1) Wenn die Ausübung des Versammlungsrechts mit den Bestimmungen von § 2, Absatz 3 in Konflikt gerät oder wenn auf der Veranstaltung Teilnehmer bewaffnet bzw. mit Waffen ausgestattet auftreten, sowie wenn eine anmeldungspflichtige Veranstaltung ohne Anmeldung, abweichend von den Bestimmungen von § 7, Punkt a) und b) oder trotz eines Verbotsentscheids abgehalten wird, dann löst die Polizei die Veranstaltung auf. (2) Der Auflösung der Veranstaltung muss eine Ermahnung vorausgehen. (3) Wenn die Veranstaltung aufgelöst wird, dann können die Teilnehmer der Veranstaltung innerhalb von 15 Tagen nach der Auflösung einen Prozess zur Feststellung der Widerrechtlichkeit der Auflösung initiieren.



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IV. Kapitel Schlussbestimmungen § 15 Bei der Anwendung dieses Gesetzes a) ist ein öffentlicher Platz jede Fläche, Straße, Gasse oder jeder Platz, die bzw. der von jeder Person ohne Einschränkungen in Anspruch genommen werden kann; b) tritt jede Person bewaffnet bei einer Veranstaltung in Erscheinung, die eine Schusswaffe oder Sprengstoff mit sich führt, und ist jede Person mit Waffen ausgerüstet, die zum Zweck der Anwendung von Gewalt oder Drohung Gegenstände mit sich führt, die dazu geeignet sind, Leben auszulöschen oder eine Körperverletzung zu verursachen. § 16 Bezüglich der Angehörigen der Streitkräfte und der bewaffneten Organe bestimmt die Dienstordnung die Bedingungen und die Art und Weise der Ausübung des Versammlungsrechts. § 17 Gesetz Nr. IV des Jahres 1978 über das Strafgesetzbuch wird um den folgenden § 228/A ergänzt: „Verletzung der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit § 228/A (1) Wer andere Personen an der Ausübung des Vereinigungs- oder Versammlungsrechts gewaltsam oder unter Drohungen rechtswidrig hindert, begeht eine Straftat und ist mit einem Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren zu bestrafen. (2) Wer mit Gewalt oder Drohung Widerstand gegen Maßnahmen leistet, die im Interesse der Aufrechterhaltung der Ordnung durch den Organisator einer – unter die Gültigkeit des Gesetzes über das Versammlungsrecht fallenden – Veranstaltung ergriffen werden, begeht ein Vergehen und ist mit einem Freiheitsentzug von bis zu einem Jahr, mit Besserungs- oder Erziehungsarbeit oder mit einer Geldstrafe zu bestrafen.“ § 18 (1) An die Stelle des Titels von § 103 des Gesetzes Nr. I des Jahres 1968 über die Ordnungswidrigkeiten tritt folgender Titel: „Missbrauch des Versammlungsrechts“. (2) An die Stelle von § 103 des Gesetzes Nr. I des Jahres 1968 über die Ordnungswidrigkeiten tritt folgende Bestimmung: „§ 103 (1) Wer eine Zusammenkunft, einen Umzug oder eine Demonstration, die bzw. der anmeldungspflichtig ist, ohne Anmeldung oder ohne vorherige Bekanntgabe eines geplanten neuen Zeitpunkts oder gegen den Verbotsbeschluss der Polizei organisiert, kann zu einer Geldstrafe von bis zu 20.000 Forint verurteilt werden. (2) Wer auf einer – unter die Gültigkeit des Gesetzes über das Versammlungsrecht fallenden – Veranstaltung eine Schusswaffe oder Sprengstoff oder Gegenstände, die – zur Anwendung von Gewalt oder Drohung – geeignet sind, Leben auszulösen oder eine Körperverletzung zu verursachen,

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mit sich führt, kann zu einer Geldstrafe von bis zu 20.000 Forint verurteilt werden. (3) Das Verfahren wegen einer in den Absätzen 1 und 2 festgeschriebenen Ordnungswidrigkeit fällt in den Kompetenzbereich der Polizei.“ § 19 (1) Dieses Gesetz tritt am Tage seiner Verkündung in Kraft. (2) Mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes verlieren folgende Rechtsnormen ihre Gültigkeit: – § 38 der Verordnung Nr. 10 des Jahres 1983 mit Gesetzeskraft über die Änderung von Gesetz Nr. I des Jahres 1968 über die Ordnungswidrigkeiten sowie – Verordnung Nr. 5159/1945 des Innenministeriums (vom 24. III. 1945) über die Anmeldung von Versammlungen. Quelle: Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 5, 24. Januar 1989, S. 96–98. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/US-43f541 (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 21 Erklärung von Politbüro-Mitglied Imre Pozsgay zu den Ereignissen vom Herbst 1956 in Ungarn im Programm „Radio 168 Stunden“ am 28. Januar 1989 Nachdem die ungarische Parteiführung auf der Landesparteikonferenz vom Mai 1988 beschlossen hatte, eine Überprüfung der jüngsten ungarischen Geschichte einzuleiten, führten diese Arbeiten Ende Januar 1989 zu einem spektakulären Ergebnis: Der Unterausschuss, der vom Präsidenten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Iván T. Berend geleitet wurde und sich mit den Ereignissen des Jahres 1956 befasste, verwarf in einem Bericht die These von der „Konterrevolution“ und sprach vielmehr von „Volksaufstand“ und „nationalem Freiheitskampf“. Auch wenn er – im Gegensatz zu den oppositionellen Bewegungen – nicht dem Begriff „Revolution“ verwendete, so brach er damit doch ein zentrales Tabu der Ära Kádár bzw. stellte die Selbstlegitimation des Kádár-Regimes in Frage. Allerdings „entschärfte“ der Ausschussbericht seine Neubewertung durch die Feststellung, dass sich unter den Aufständischen äußerst heterogene Gruppen befunden hätten, darunter auch „Kräfte der Konterrevolution“. Ohne sich mit den Mitgliedern des Unterausschusses oder mit dem Zentralkomitee abzusprechen, wandte sich Politbüro-Mitglied Imre Pozsgay, der an der Ausschusssitzung teilgenommen hatte, in einer „Partisanenaktion“ an die Öffentlichkeit und verkündete am 28. Januar 1989 in einem spektakulären, später von ihm auch wortwörtlich publizierten Radiointerview die Neuinterpretation der Geschehnisse vom Herbst 1956. Dieser Schritt bzw. die Neuinterpretation fanden in der Bevölkerung



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breite Zustimmung, lösten aber innerhalb der Partei in den folgenden Wochen große Diskussionen aus – auch über die eng mit der Thematik verbundene Frage des Einoder Mehrparteiensystems. *** Erklärung von Imre Pozsgay im Radioprogramm „168 Stunden“ (28. Januar 1989, 16 Uhr) György Ney: Der vom Zentralkomitee beauftragte Historische Unterausschuss betrachtet das, was sich im Jahre 1956 ereignete, aufgrund der derzeitigen Forschungen als Volksaufstand. In unserem Programm gibt Imre Pozsgay, Mitglied des Politbüros, eine Erklärung ab. Seiner Meinung nach haben sich mit dieser Formel Politik, Geschichtswissenschaft und öffentliche Meinung einander angenähert. Henrik Havas: Bisher dachte ich, ich müsste ein Methusalem’sches Alter erreichen, um wirklich zu erfahren, in welches Zeitalter ich geboren wurde und wie die unbefangene Nachwelt und die – hoffentlich – sachliche Geschichtsschreibung meine Zeitgenossen und ihre Taten beurteilen werden. Ich dachte dies deshalb, weil wir mehrmals darauf aufmerksam gemacht wurden, dass für ein korrektes Urteil Distanz nicht nur zur Epoche, sondern auch zu denjenigen Personen, die bereit sind, auf die Hände aller Schreibenden zu schlagen, notwendig sind. Der Wink war zweifellos praktisch, ich stimme aber dennoch mit denjenigen überein, die behaupten, dass wir wichtige Details nur in der Gegenwart erfahren könnten, dass die auf einer unmittelbaren Untersuchung gründende frische Diagnose mehr wert sei, als eine Sezierung der Geschichte. Im Zeichen dieses Prinzips hat das Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei jenen Arbeitsausschuss ins Leben gerufen, der die vergangenen vier Jahrzehnte unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung analysieren soll. Der Ausschuss gründete dann den historischen Unterausschuss, der gestern unter Führung von Politbüro-Mitglied Imre Pozsgay eine Sitzung abhielt. Bekannte Fachleute diskutierten dort über das mehr als hundertseitige Dokument, das der Leiter des Unterausschusses Iván T. Berend, Mitglied des Zentralkomitees und Präsident der [Ungarischen] Akademie [der Wissenschaften], vorlegte. Die Diskussionsredner vertreten die Ansicht, dass unter der Ägide der MSZMP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] ein ähnlich niveauvolles historisch-politisches Dokument noch nicht entstanden sei. Die Teilnehmer an der Diskussion stimmten darin überein, dass die MSZMP radikal und ein für alle Mal mit sämtlichen Überresten des stalinistischen Erbes brechen müsse. Die Vergangenheit müsse ehrlich aufgearbeitet werden, weil die Partei nur so den Fortschritt des Landes, der Nation und ihr eigenes Fortkommen in der folgenden Epoche fundieren könne. Der der gestrigen Beratung präsidierende Imre Pozsgay gab zwei Mitarbeitern von „Radio 168 Stunden“, József Orosz und Péter László, ein Interview.

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Frage: Nach der Regierungssitzung vom Donnerstag wurde mitgeteilt, dass Imre Nagy und seine Gefährten an ihren [bisherigen] Ruhestätten von den Angehörigen [wieder]bestattet werden. Hier geht es offenbar nur um die Genehmigung eines Akts der Pietät. Ist dies aber nicht auch eine Rehabilitierung der Ansichten und Aktivitäten von Imre Nagy? Antwort: Die Regierung kann nichts Anderes tun, als ein Gesetz der Menschlichkeit zu befolgen und den Erfordernissen der Pietät Genüge zu leisten. Dies bedeutet heute in der Tat noch keine politische Rehabilitierung. Ob es eine solche Rehabilitierung geben wird, darüber kann man noch nichts vorhersagen. Was das sogenannte neue Regierungsprogramm des Jahres 1953 zum Ausdruck brachte… In diesem war bereits damals nicht nur die Notwendigkeit der Reform der Wirtschaftsstruktur und des Systems der wirtschaftlichen Institutionen zu entdecken, sondern gewiss auch die Umgestaltung der politischen Institutionen, denn er [d. h. Nagy] setzte das Programm der Erneuerung der Volksfront auf die Tagesordnung. In dieser Hinsicht beweist jedes bisher analysierte Dokument, dass in der 1954/1955 umschlagenden Minikrise (sic!) – weil es eine Machtkrise war – Imre Nagy Recht hatte und sein Verhalten richtig war. Er war konsequent hinsichtlich dessen, was er auf sich genommen hatte. Seine Zeit [als Ministerpräsident 1954/1955] ist sicherlich positiv zu bewerten. Frage: Und wie werden die Rolle von Imre Nagy und seine Tätigkeit im Jahre 1956 beurteilt? Antwort: Das ist es, worüber noch diskutiert wird. Es können noch innere und äußere Zusammenhänge in Erscheinung treten, die diese Beurteilung – um es so auszudrücken – differenzierter machen. Beispielsweise sei alleine der Umstand angeführt, dass dieser Ausschuss aufgrund der gegenwärtigen Forschungen das, was im Jahre 1956 geschah, als Volksaufstand betrachtet, als einen Aufstand gegen eine oligarchische und die Nation demütigende Herrschaftsform. Frage: Die Änderung der Wortverwendung zeigt ja auch, dass die Politik heutzutage ganz anders über das Jahr 1956 denkt. Früher wurde es nämlich als Konterrevolution bewertet, später fand sich dann häufig die Wortverwendung „Ereignisse von 1956“ in den Erklärungen der Politiker, und jetzt sprechen sie schon von Volksaufstand. Was ist der Hintergrund dafür, dass sich diese Bewertung so schnell, innerhalb kaum eines Jahres, verändert hat? Und kann diese Bewertung als endgültig betrachtet werden? Antwort: Von Endgültigkeit kann man gerade in der Geschichte auch rückblickend nicht sprechen. Wenn wir die Tatsachen achten, dann müssen wir auch gegenüber jenen Tatsachen, die vielleicht erst später ans Tageslicht kommen, Achtung zeigen. Ich möchte aber auf alle Fälle hinzufügen, dass sich Politik, Geschichtswissenschaft und öffentliche Meinung mit dieser Formel, mit dieser historischen Beurteilung sehr



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einander annähern. Das summarische Urteil, dass das, was 1956 geschah, mit einem einzigen Begriff als „Konterrevolution“ bewertet, drückt aber auch die Gesinnung in einem großen Teil der öffentlichen Meinung und der Parteimitglieder aus. Es ist aufgrund der bisherigen Forschungen [aber] zu sehen, dass dieser Begriff seinen Platz nicht halten kann. Frage: Und ändert sich in diesem Zusammenhang die Reihenfolge der Gründe, die 1956 auslösten, beziehungsweise erfahren diese Gründe eine Neubewertung? Im Dezember 1956 machte man die Rákosi-Gerő-Clique vor allem [für 1956] verantwortlich, auf dem VII. Parteitag der MSZMP wurde dann bereits der Revisionismus von Imre Nagy als Hauptgrund für den 23. Oktober bezeichnet. Die letzten beiden Gründe, der internationale Imperialismus und der innere Feind, blieben unverändert bestehen. Kurz gefragt: Wurden diese Gründe neubewertet? Antwort: Ganz offensichtlich muss man auch diese Operation durchführen. Denn, wenn ich sage, dass Tatsachen und neue Daten diesen Ausschuss zu solchen Folgerungen haben kommen lassen, dann gehört auch dazu, dass auch Quellen und Mittel, die eine solche Qualifizierung vornahmen, zweifelhaft wurden oder man einfach voreilige Schlüsse zog. Im Besitz der einstigen Quellen und Kenntnisse wurden diese [Qualifizierungen] auf beschränkte Art und Weise formuliert. Aber man muss hier nicht bis zum Jahre 1956 zurückgehen, sondern zum 1948/1949 übernommenen oder aufgezwungenen sozialistischen Modell, das sich als Ganzes als Irrweg erwiesen hat, denn es führte hierzu, zu dieser Krise, die gegenwärtig die ganze Funktionsunfähigkeit des Modells offenbart. Frage: Die Jahre 1948 und 1949 bilden das Datum, als das Mehrparteiensystem sein Ende fand. Es entwickelte sich ein Einparteiensystem, über das heute viele behaupten, es sei die Sackgasse des Sozialismus. Antwort: Die Wirklichkeit duldete dieses [System] nicht. Es ist offensichtlich, dass diese Wirklichkeit alle Augenblicke durch eine Reihe von Krisen zum Vorschein kam. Seit 1951, seit der Phase des sogenannten erhöhten Fünfjahresplans, als man dem Land eine riesige Preisreform und Preisanhebung zumutete, seit diesem Augenblick gab es eine ununterbrochene Reihe von Krisen, die solche Tiefpunkte hatte, wie Ende 1952, Anfang 1953, solche, wie Ende 1954 und Anfang 1955. Die Borniertheit und Sektiererei des Parteibeschlusses vom März [1955]35 offenbart diese Krisen, und ebenso Fehltritte, wie die Sitzung der Zentralen Führung vom Juli 1956, der es nicht gelang, die Regierungskrise und die Verhältnisse der persönlichen Herrschaft [von Mátyás

35 Gemeint ist hier offensichtlich der Beschluss der Zentralen Führung der Partei der Ungarischen Werktätigen (MDP) über die politische Lage und die zukünftigen Aufgaben vom 4. März 1955.

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Rákosi] zu überwinden, und die direkt die Sachen (sic!) des Jahres 1956 induzierten. Also das, was ich bisher gesagt habe, macht vielleicht bereits spürbar, dass wir in diesem ganzen Prozess alles überdacht haben oder begonnen haben, es zu überdenken. Und wir haben die internationale Untersuchung dieses Prozesses noch nicht abgeschlossen und wir sind auch noch eine Untersuchung der volkswirtschaftlichen Zusammenhänge schuldig, um aus all dem schließlich ein politisches Programm entwickeln zu können. Frage: Ich denke, dass Sie diese Frage in einem außerordentlich aufregenden historischen Augenblick untersuchen. Und zwar versucht sich Ungarn jetzt an dieser – bislang einmaligen – Sache, wie es der Übergang von einem Einparteiensystem zu einem Mehrparteiensystem ist, oder es unternimmt zumindest den Versuch eines solchen Übergangs. Wie kann die Partei aus der umgekehrten Geschichte, als das Mehrparteiensystem in ein Einparteiensystem überging, klüger werden? Antwort: Also die Erkenntnis liegt in der Ergebnislosigkeit oder zumindest im vielfachen Scheitern und in den vielfältigen Krisen. Angefangen von dem Zeitpunkt, als man hier [in Ungarn] die Existenz der Diktatur des Proletariats proklamierte, fand die Teilnahme der Arbeiter an der Ausübung der Macht ihr Ende. Bis dahin konnte sie auch in den kapitalistischen Betrieben noch in Form von Betriebsausschüssen und Institutionen der unmittelbaren Demokratie existieren. Nach der allgemeinen Verstaatlichung wurde die Teilhabe der Arbeiter beendet und mit den Arbeiterräten von 1956 kehrte – beispielsweise – die Erinnerung zurück und – meiner Meinung nach – nicht eine konterrevolutionäre Absicht. Frage: Ist die Untersuchung bezüglich der Entstehung des Einparteiensystems möglicherweise eine Konsequenz dessen, dass die MSZMP versucht zu lernen, mit einer anderen Partei zu koexistieren? Antwort: Man muss es nicht mit einer, sondern mit zwei oder mehreren Parteien lernen. Welche Partei ein ernsthafter Faktor im ungarischen politischen Leben werden wird, das kann die MSZMP heute noch nicht sagen und sie will es auch nicht sagen. Es wird sich vielmehr eine Partnerschaft entwickeln oder – im Gegenteil – eine Oppositionsrolle, und zwar bei jenen, die diese Partnerschaft oder Koalition nicht auf sich nehmen wollen. Der Ernst der Sache erfordert natürlich auch das – und es geht hier nicht um Kleinigkeiten, das ist nicht zu bezweifeln. Wir wissen, dass in einer Regierungskrise und allgemein in dieser gesellschaftlich-politischen Krise, in die wir gelangt sind, nicht diese oder jene politischen Grüppchen eine Rolle spielen. Jene [Parteien] sind die Konsequenz [der Krise]. Das Grundproblem ist, dass es bereits seit 15 bis 20 Jahren nicht mehr gelingt, die Dinge so zu lenken, dass die grundlegenden Prozesse und politischen Absichten in eine Richtung voranschreiten. Trotz allem guten Willen weichen sie voneinander ab, es bestehen hier also strukturelle Prob-



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leme. Und zu diesen gehört auch, dass es keine wirklich tiefwirkenden politischen Diskussionen, die dem Voluntarismus und den willkürlichen Entscheidungen einen Riegel hätten vorschieben können, gab. Frage: Sie erwähnten die vergangenen 15 bis 20 Jahre. Demnach wird also auch eine Analyse über die Ära Kádár durchgeführt? Antwort: Auch über diese Epoche muss Bilanz gezogen werden, ich kann aber jenen, die sich dies in Form einer rein persönlichen Abrechnung vorstellen, keine großen Versprechen machen. Es geht hier nicht um eine so primitive Angelegenheit. Denn es gehörte gerade zum Wesen des Systems, dass die persönliche Verantwortung und im Allgemeinen die Verantwortung nicht auszumachen waren. Es besteht aber kein Zweifel, dass diejenigen, die im Leben dieser Epoche eine führende Rolle spielten – unabhängig davon, dass auch sie selbst Gefangene einer Struktur waren –, eine größere Verantwortung tragen, als jene, die Leidtragende dieser Epoche waren. Aber dies muss differenziert, gemäß den Regeln der europäischen Zivilisation durchgeführt werden, nicht in Form irgendeiner rituellen Abrechnung, sondern in Form eines zivilisierten Ausgleichs. Die Frage nach der Verantwortung muss aber gestellt werden und sie darf auch die allerjüngste Zeit nicht übergehen. Ja, wir müssen in einem gewissen Sinne auch diese untersuchen, obwohl es im klassischen Sinne des Wortes nicht zum Kreis der Geschichte gehört, warum die Dinge seit Mai 1988 langsamer voranschreiten und warum es keinen so tiefgreifenden Wandel gibt, wie er für die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Aktivitäten notwendig wäre. Frage: Kann irgendjemand die Arbeit dieser Arbeitsgruppe bzw. dieses Ausschusses beenden oder kann irgendjemand verhindern, dass der Öffentlichkeit auch Tatsachen zur Kenntnis gebracht werden, die die MDP [Partei der Ungarischen Werktätigen] oder auch die MSZMP in einem nicht wirklich günstigen Licht erscheinen lassen – egal, worum es geht? Oder einfacher ausgedrückt: Wie sehr hängt die Ausschussarbeit von den Kräfteverhältnissen und Kämpfen innerhalb der Parteiführung, die langsam immer stärker wahrnehmbar werden, ab? Antwort: Sicherlich hängt sie von so etwas ab. Es ist auch wahr, dass der von mir geführte Ausschuss seinen Auftrag direkt vom Zentralkomitee bekommen hat und das Zentralkomitee den selbigen auch zurückziehen kann. Theoretisch und praktisch sieht die Sache so aus. Ich kann mir aber eine solche Rückberufung nicht vorstellen. Sollte jemanden eine solche absurde Idee ergreifen, würde dies dem Spiel gleichen, wenn jemand die Zahncreme in die Tube zurückpressen will. Die Tatsache, dass wir bislang der Öffentlichkeit keine Dokumente und Details vorgelegt haben, liegt nur daran, dass wir damit noch nicht fertig geworden sind. Das ist eine Arbeit, die von großer Tragkraft ist und eine sehr große Verantwortung erfordert. Aber so, wie wir

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kontinuierlich in den Besitz dieser Kenntnisse kommen, so wollen wir sie noch vor den Sitzungen des Zentralkomitees der Öffentlichkeit vorstellen. Dieser Schritt ist also nicht von einer Verhandlung im Zentralkomitee abhängig. Dieses Wissen ist bereits hier, diese Kenntnisse befinden sich hier in unseren Händen. Wir werden sie an die Öffentlichkeit bringen und sie werden Auswirkungen auf das politische Leben haben. Quelle: Pozsgay, Imre: 1989. Politikus-pálya a pártállamban és a rendszerváltásban [1989. Politiker-Karriere im Parteistaat und während des Systemwechsels]. Budapest 1993, S. 222–227. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UT-533e9c (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 22 Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Januar 1989 Vor dem Hintergrund der durch die Beschlüsse vom Mai 1988 ausgelösten dynamischen innenpolitischen Entwicklungen widmete sich der Botschaftsbericht für die Monate August 1988 bis Januar 1989 vor allem dem offensichtlichen Scheitern des „sozialistischen Pluralismus“ im Rahmen des Einparteiensystems bzw. den in Richtung Mehrparteiensystem weisenden politischen Veränderungsprozessen. Nach einem zusammenfassenden Überblick wird im Kapitel „Innenpolitik“ auf einzelne herausragende innenpolitische Maßnahmen (vor allem auf die Gesetze zur Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) und Vorhaben (Parteiengesetz, neue Verfassung) verwiesen sowie ein Blick auf die führenden ungarischen Politiker geworfen, von denen Imre Pozsgay als herausragende Persönlichkeit des Demokratisierungsprozesses vorgestellt wird. Darüber hinaus thematisiert der Bericht die allgemeine Furcht vor einer Wiederholung der Ereignisse vom Herbst 1956, und es werden die neuen politischen Gruppierungen, die Entwicklung innerhalb des Gewerkschaftsverbandes (SZOT) und der „Konturgewinn“ des Parlaments behandelt. Auch wird auf das „eher flache Profil“ der Regierung verwiesen. (In Punkt II.2. geht der Bericht auch auf die Akzeptanz des Mehrparteiensystems durch das Zentralkomitee ein, ohne diesen Punkt weiter zu vertiefen bzw. diesbezügliche Widersprüche im Bericht selbst aufzulösen. Dies legt nahe, dass dieser Punkt nachträglich, also nach dem 10./11. Februar 1989, in den Bericht aufgenommen wurde, eine nähere Analyse bzw. umfassende Neuformulierung des Berichts aber – wohl aus Zeitgründen – unterblieb.) Die außenpolitischen Aktivitäten Ungarns, vor allem die aktive Besuchsdiplomatie zur Westöffnung, das ungarische Auftreten in der europäischen Politik und die selbstständige und zugleich „tolerant-zurückhaltende Politik“ im östli-



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chen Bündnis, werden im dritten Kapitel mit „magna cum laude“ bewertet. Zudem wird auf Problembereiche, insbesondere hinsichtlich der Reform des RGW und des äußerst angespannten Verhältnisses zu Rumänien, verwiesen. Bezüglich der westdeutsch-ungarischen Beziehungen streicht der Bericht die sich „stetig […] erweiternden und vertiefenden Kontakte“ heraus. Hinsichtlich der Wirtschaftspolitik legt der Bericht im vierten Kapitel die großen Schwierigkeiten Ungarns dar (innere und äußere Verschuldung, fehlender Rückhalt in der Bevölkerung usw.) und konstatiert nur sehr geringe Fortschritte bei der Umstrukturierung der Wirtschaft. In den folgenden Kapiteln wird mit Blick auf die Medien eine anhaltende Tendenz „zu mehr Vielfalt und Unabhängigkeit“ festgestellt und hinsichtlich des Kulturbereichs von einer Ablösung der „autoritären Kulturpolitik“ durch eine „eklektische“ gesprochen. Überdies verweist der Bericht auf die negativen Folgen der schlechten finanziellen Situation für die kulturellen Aktivitäten Ungarns, kann aber gleichzeitig die Pflege der deutschen Sprache als Erfolg hervorheben. Die „Vorausschau“ schließlich befasst sich in erster Linie mit den Erwartungen hinsichtlich der Fortsetzung der politischen und ökonomischen Veränderungen und hebt bezüglich Letzterem die Rolle des Gesellschafts- und des Umwandlungsgesetzes hervor. *** Politischer Halbjahresbericht Ungarn Stand vom 31.01.1989 Nur zur Unterrichtung des Auswärtigen Amts Lage in Ungarn I. Zusammenfassender Überblick Eine Bestandsaufnahme ungarischer Politik zum Jahresbeginn 1989 mit Bilanz der vergangenen 6 Monate ergibt insgesamt erhebliche Fortschritte im Reformprozess. Sein angestrebter Erfolg jedoch steht noch aus. Neben einer erfolgreichen Außenpolitik zur ideologisch unbeschwerten Öffnung nach Westen, Nahost und Asien ist die „Öffnung nach innen“, zu dem gewünschten positiven Engagement der Bevölkerung für das wirtschaftliche und politische Reformprogramm, bisher nicht erreicht. Nachdem erste Anzeichen von Liberalisierungstendenzen der Führung im Herbst 1987 umgehend zur Formierung alternativer politischer Gruppen genutzt wurden und diese seitdem in Vielfalt und Resonanz unüberhörbar geworden sind, hat sich die Partei der Frage stellen müssen, wie sie den selbst propagierten politischen Pluralismus verwirklichen, zugleich aber die Macht für sich weiterhin und dauerhaft behaupten kann. Die bisherige These: Politischer Pluralismus innerhalb der Einheitspartei ist als Propaganda verbraucht und nicht mehr glaubwürdig. Die Partei beginnt sich

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auf ein Mehrparteiensystem einzustellen, in dem sie in Koalitionen ihren Machtanspruch erhalten kann. Als Beleg ihres ehrlichen Reformwillens kann man der Führung zugutehalten, mit der Verabschiedung von Vereins- und Versammlungsgesetzen, mit dem Vorhaben einer neuen Verfassung ohne verbrieften eigenen Führungsanspruch sowie der verbindlichen Zusage eines Parteiengesetzes sich selbst in Zugzwang auf den Reformkurs gesetzt zu haben. Sollten ihre Antworten auf die Erwartungen der Bevölkerung aber nicht ausreichen, sollte den schon jetzt skeptischen Menschen im Land und den aufmerksamen westlichen Nachbarn der politische Pluralismus in Ungarn nur als ein Kulissenwerk angedient werden, dann wäre ein wichtiger Faktor für die Reform des Landes insgesamt und besonders für seine wirtschaftliche Reorganisation und Genesung vertan. Die jüngste wirtschaftspolitische Entwicklung ist, so von der Führung eingestanden, besorgniserregend. Die Wirtschaftsplaner der Partei gestehen ein, nicht weiter zu wissen, und blicken erwartungsvoll auf einen psychologischen Umschwung in der produzierenden Bevölkerung wie auf Hilfe aus dem Westen. Beide sollen durch die überzeugende politische Reform des Landes ausgelöst werden. Bei der Bevölkerung zumindest fehlt es aber bisher an dieser Resonanz. Das anhaltende Sinken der Reallöhne (bis hinunter auf das Niveau von 1973), teilweise massive Preissteigerungen zum Jahresbeginn lassen eher befürchten, dass die bisher resignative Passivität der Arbeiterschaft in Unruhe umschlägt. Eine solche Entwicklung könnte bisher auch nicht durch eine wirksame und konstruktiv orientierte Opposition, sei es Partei, sei es Gewerkschaft, aufgefangen werden. Hierzu fehlt es einfach an breitenwirksamen politischen Organisationen außerhalb von Einheitspartei und -gewerkschaft. Alle politisch engagierten Kräfte im Land sind sich einig in der Furcht vor der Wiederholung der Ereignisse vom Oktober 1956. Diese Furcht, neben dem Bedarf westlicher Unterstützung, treibt den Reformkurs der Führung, die Furcht vor 1956 erklärt auch weitgehend die Zurückhaltung der Mehrzahl der alternativen Gruppen und ihre Bereitschaft zu weitgehender Zusammenarbeit in vorsichtiger Evolution zu demokratischen Umgangsformen. Die Bilanz muss auch festhalten: Die fast ungestörte Existenz der sich neu bzw. wieder entfaltenden politischen Gruppen, der Umgang mit ihnen durch Partei und Regierung, die im Vorjahresvergleich stupende Offenheit und Kritikfreudigkeit der Medien, das zunehmend engagiert und temperamentvoll debattierende Parlament – dies alles hat das politische Klima des Landes im vergangenen Jahr grundlegend verwandelt. Im kommenden Halbjahr werden die Arbeit an einer neuen Verfassung und Wahlrechtsreform [sowie] die innerparteiliche politische Diskussion um die künftige Parteienstruktur des Landes weitergehen. Die alternativen politischen Gruppen werden wohl weiter an Substanz und Profil gewinnen. Die Reaktion breiter Funktionärsschichten in der Partei bleibt fraglich und ein Risikofaktor für die Reformpolitik. In der Wirtschaftspolitik wird die Führung weiterhin mit der Parole „durchhalten bis zur



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Genesung“ arbeiten müssen. Jeder gutwillige Beobachter muss Ungarn wünschen, dass die Reformpolitik genügend Resonanz findet und die stagnierenden Kräfte in der Partei überwindet, mit ihrem Kurs Zuversicht im Land gewinnt, den Konsens mit Moskau halten kann und das wirtschaftliche und politische Zutrauen der westlichen Partner bewahrt und stärkt. II. Innenpolitik 1. Die Nationalversammlung hat am 11. Januar 1989 Gesetze zur Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit verabschiedet, die sich, nach ihren Texten, durchaus mit entsprechenden Gesetzen westlicher Demokratien vergleichen können. Ihre Anwendung bleibt abzuwarten. Für die politisch wichtigste Aussage des Vereinigungsgesetzes, die Zulassung politischer Parteien, bleibt ein noch zu erlassendes Parteigesetz vorgeschaltet, das die Regierung im Entwurf bis zum 1. August 1989 vorlegen wird. Die formelle Legalisierung der bisherigen „alternativen Gruppen“ zu Parteien wird daher voraussichtlich noch bis in den Herbst dauern. Doch der Weg zum Mehrparteiensystem scheint eingeschlagen. 2. Vorausgegangen war eine zähe parteiinterne und auch über die Medien geführte Diskussion der Führung über den Macht- und Führungsanspruch der Partei und die für das sozialistische System erträgliche Bandbreite politischer Pluralität. Generalsekretär [Károly] Grósz übertrug im November 1988 das Amt des Ministerpräsidenten an seinen Gefolgsmann [Miklós] Németh und konzentriert sich seitdem darauf, die merkbar verunsicherte Partei unter seiner Führung zu konsolidieren. Hierbei griff er zunächst auf die traditionellen Denkmuster zurück: Verteidigung des Sozialismus gegen konterrevolutionäre Bestrebungen (gar „weißer Terror“), Führungsanspruch der Partei, Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit allen „Gutwilligen“ (Reden am 29.11.1988 in Budapest, am 16.12.1988 in Miskolc). In ZK-Tagungen am 10.–11.02. [1989] und 20.–21.02. [1989] gelang es Grósz dann, die Partei geschlossen auf seine Reformlinie zu bringen: – Akzeptierung eines Mehrparteiensystems, – Bereitschaft zu einer neuen Verfassung mit Bürgerrechten und Gewaltenteilung, ohne den bisherigen Führungsanspruch der Partei. Allerdings soll auch die künftige Verfassung das „sozialistische System“ festschreiben (womit möglicherweise eine Handhabe geschaffen wird, mit dem Werkzeug des Parteiengesetzes neuen nicht „sozialistischen“ Parteien die Zulassung zu verweigern). Ob Grósz aus Überzeugung seinen Reformkurs hält oder ob er als Taktiker sich der vorherrschenden Strömung anpasst, ist schwer zu sagen. Es ist ihm bis heute gelungen, jeweils vor den nächsten Reformschritten die widerstrebenden Parteikader zu beruhigen und langsam an die neue Wirklichkeit heranzuführen. Weite Kreise der Bevölkerung allerdings halten ihm nicht so viel zugute und glauben, in ihm den kalt-

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herzigen Funktionär früherer Zeiten wiederzuerkennen. János Berecz, neben Grósz die wohl stärkste politische Potenz im Politbüro, der auf der Reform-Parteikonferenz im Mai 1988 sehr spät aus der Gefolgschaft [János] Kádárs auf den neuen Kurs umschwenkte, profiliert sich heute als dialog- und kooperationsbereit gegenüber den alternativen Gruppen. Eher als Rivalität zu Grósz muss man hierin eine Art Arbeitsteilung zwischen beiden vermuten, die durch den bewussten Rollenwechsel: der Reformer als Bewahrer, der Konservative als Dialogbereiter, jeder Spekulation auf antagonistische Lager im Politbüro den Boden entziehen soll. Wirkliche Führungsrivalität dagegen besteht zwischen Grósz und Imre Pozsgay, der dritten in der Öffentlichkeit wirkenden Leitfigur aus dem Politbüro. P. [Pozsgay] vertritt weiterhin unbeirrt seine These, dass die Demokratisierung Ungarns nicht eine Entscheidungsfrage für die Führung, sondern eine gesellschaftspolitische Notwendigkeit für den Fortschritt des Landes in jeder Beziehung darstellt. Hierbei scheut er auch nicht den Konflikt mit der eigenen Partei, so in der Auseinandersetzung um die Bewertung der Ereignisse des Oktober 1956. Pozsgay ist für die Bevölkerung der Garant für den Reformkurs. Er und Politbüromitglied [Rezső] Nyers sind als Staatsminister die wichtigsten Vertreter der Reformpolitik in der Regierung. Der 42-jährige Ministerpräsident Németh ist bisher noch nicht aus dem Schatten seines Vorgängers Grósz herausgetreten. 3. Die im vergangenen Jahr neu aufgetretenen politischen Gruppen sind noch beschäftigt, sich personell und in Programmen zu formieren. Es zeichnen sich drei Tendenzen ab: – Die Wiederbelebung des traditionellen Parteiensystems, so in der Partei der „Kleinen Landwirte“36 (seit November 1988, etwa 3.000 Mitglieder, 34 Zweigstellen), die im Frühjahr ein komplettes Programm, mit Konzentration auf die Agrarpolitik, vorstellen will; die im Januar 1989 erneut ins Leben gerufene Sozialdemokratische Partei,37 die ihr Verfassungsrecht aus ununterbrochenem und nie untersagtem Fortbestehen seit der ersten Nachkriegszeit herleitet. – Sammelbewegungen wie das „Demokratische Forum“38 (etwa 10.000 Mitglieder) bzw. die „Union der Demokraten“,39 die bisher bewusst auf einen Parteienstatus verzichten, sich als Triebwerke zur Errichtung einer demokratischen Gesellschaftsordnung verstehen, die auf dem Wege dorthin zu Allianzen mit anderen Gruppen bereit sind. – Als dritte Tendenz schließlich ausdrücklich oppositionelle Gruppen, so die Jugendorganisation FIDESZ [Bund Junger Demokraten], die jeder Vereinnah-

36  Vollständiger Name: Unabhängige Partei der Kleinlandwirte, Landarbeiter und Bürger (FKGP). 37  Vollständiger Name: Sozialdemokratische Partei Ungarns (MSZDP). 38  Vollständiger Name: Ungarisches Demokratisches Forum (MDF). 39  Gemeint ist der Bund Freier Demokraten (SZDSZ).



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mung durch die Einheitspartei bzw. kommunistische Jugendorganisation KISZ [Kommunistischer Jugendverband] verweigert. Zum kommenden 15. März werden alle Beteiligten dieses neuen Kräftespiels ihre Karten auslegen müssen: Der Erinnerungstag der 1848-Revolution wurde 1988 mit inoffiziellen, nicht genehmigten Feiern der damals gerade entstandenen alternativen Gruppen begangen. Für den nächsten Gedenktag hat nun das Politbüro, in Einschätzung der neuen Lage und in kluger Voraussicht, offizielle Parteifeiern für den 15. März 1989 angekündigt und die alternativen Gruppen zu gemeinsamer Teilnahme aufgefordert. Voraussichtlich werden nicht wenige unter ihnen eigene Veranstaltungen dagegenstellen. 4. Im Verhalten aller politischen Kräfte spürt man die tiefsitzende Furcht vor einer Wiederholung der Ereignisse von 1956. Es wächst die Sorge, dass die sich bisher verschlechternde Wirtschafts- und Versorgungslage, verbunden mit Lockerungen im politischen Gefüge zu Unruhen in der Arbeiterschaft führt und die Entwicklung ausgleiten lässt. In Furcht und Fürsorge davor handeln auch die oppositionellen Vertreter durch frühzeitige politische Aktionen, die die Unzufriedenheit aufzufangen und zu kanalisieren suchen. 5. Der kommunistische Gewerkschaftsverband SZOT [Landesrat der Gewerkschaften] unternimmt zur Zeit alle Anstrengungen, sich von seinem Ruf als willfähriger Zählverein zu lösen. Seine Forderungen gegenüber den jüngsten Preiserhöhungen bereiten der Regierung einige Schwierigkeiten. Von der kommunistischen Führung insgesamt sind die lauten Töne des SZOT aber sicherlich als Entlastung und Versuch gedacht, die Unzufriedenheit der Bevölkerung und die Auseinandersetzungen um die wirtschaftliche Zukunft innerhalb des Systems auszutragen. Ob sie damit die Gefahr unabhängiger Gewerkschaften abwehren kann, ist eher fraglich. Zwar gibt es bisher, anders als in Polen, gewerkschaftliche Opposition nur im intellektuellen Bereich (Wissenschaftler, Filmschaffende, Lehrer). Die große Menge der arbeitenden Bevölkerung nimmt am politischen Leben bis heute nur passiv teil. Das kann aber die Führung nicht beruhigen. Sie und alle Beobachter verfolgen, auch mit sorgenvollem Rückblick auf 1956, wann und wie die Arbeiterschaft ihre Unzufriedenheit mit den materiellen Lebensbedingungen politisch artikulieren wird. Der SZOT selbst könnte sich andererseits durchaus zu einem Sammelbecken der konservativen Partei- und Gewerkschaftsanhänger entwickeln, die von der Reformpolitik Unruhe und Gefährdung der Arbeitsplätze befürchten. 6. Die Regierung hat in den vergangenen 6 Monaten politisch eher flaches Profil gezeigt und sich überwiegend administrativ verhalten. Von dem Reformziel eines eigenständigen politischen Entscheidungsträgers, dem gegenüber sich die Partei auf die strategischen Vorgaben beschränkt, ist sie noch weit entfernt.

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Seit Januar 1989 ist ein „Innen-“ Kabinett von sechs Ministern eingerichtet (Ministerpräsident, Stellvertreter [Péter] Medgyessy, die Staatsminister Pozsgay und Nyers sowie die Innen- und Außenminister), um mit einem strafferen Entscheidungsmechanismus der Regierungsarbeit mehr politisches Profil zu verleihen. 7. Die Nationalversammlung hat in den zwei Debatten des letzten Halbjahres beachtliche Konturen gewonnen. Das Präsidium hatte Mühe, sich der Kritik einzelner Abgeordneter an der Leitung von Abstimmungsvorgängen zu erwehren. Zu einer Ministerwahl enthielten sich fast 25% des Hauses der Stimmen. Der Finanzminister scheiterte mit seinem Budgetvorschlag und musste sich einem Gegenvorschlag des Parlaments anschließen. Ende Januar 1989 schlossen sich 51 parteilose Abgeordnete zu einer „Fraktion der Unabhängigen“ zusammen, um so mit gleichem Recht wie die Parlamentsgruppe der Partei Zugang zu nicht offiziellen Informationsquellen zu erhalten. Die Parteifraktion hat diesen Schritt akzeptiert und Zusammenarbeit angeboten. 8. In den kommenden Monaten wird die Innenpolitik Ungarns voraussichtlich weiterhin von der Diskussion um eine neue Verfassungs- und Parteienstruktur beherrscht bleiben, während gleichzeitig und in eigenartiger Weise bezugslos dazu die Belastungen der wirtschaftlichen Lage das politische Klima anhaltend eintrüben. Die parteiinterne Diskussion über die Zukunft des Parteiensystems scheint noch nicht entschieden. Während in der Öffentlichkeit die Entscheidung für ein Mehrparteiensystem mit der Verabschiedung des Vereinigungsgesetzes durch das Parlament am 11.01.1989 beschlossene Sache erscheint, auf die sich der schwerfällige Apparat der USAP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] nur noch einzurichten hat, erscheint aus der Sicht der Partei und ihrer besorgten Führung die Frage noch lange nicht beantwortet. Es geht u.a. um Positionen und die Zukunft von etwa 6.000– 8.000 Funktionären. Das Zentralkomitee wird im Februar über die Abänderung des Beschlusses der Parteikonferenz vom Mai 1988 abzustimmen haben, wonach bis zum Parteitag 1990 das Einparteiensystem bestehen bleiben sollte, und diesen Beschluss wird das Zentralkomitee mit der Mehrheit seiner Mitglieder treffen müssen. Für die Parteiführung ist heute noch erhebliche Überzeugungsarbeit im ZK zu leisten. Die Situation, insgesamt betrachtet, ist aber kaum auf Dauer in der Weise vorstellbar, dass die politische Reform, so sie auch mit der Partei gelingt, als Ersatz für die ausstehende wirtschaftliche Wende dient, dass mit dem Versuch einer Demokratie die Bevölkerung über ihren sich anhaltend verschlechternden Lebensstandard hinweggetröstet werden kann. Es bleibt für den Beobachter die Frage, ob und wann beide politischen Kraftfelder zusammengeraten: eine Oppositionspartei die Wirtschaftslage zum Vorwurf gegen die kommunistische Führung wendet, eine Bewegung aus der Bevölkerung die in der Hauptstadt Budapest geführte Systemdiskussion aufwirbelt. Bis auf weiteres scheint ein unausgesprochenes Stillhalteverständnis zu wirken, die materiellen



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Mangelzustände als Erbe aus Fehlern der Vergangenheit gemeinsam durchzustehen. Die Führung wird weiter auf dieses Verständnis bauen und im Übrigen den Machterhalt in Koalitionen mit den sich formierenden neuen politischen Kräften suchen. Als Hilfestellung hierfür erscheint auch der Aufruf der „Neuen März-Front“, ein nationales Komitee zu bilden. Die alternativen Gruppen reagieren darauf bisher vorsichtigreserviert. Für ihr Selbstverständnis als zukunftsfähige sozialistische Partei sucht die USAP zunehmend auch den Kontakt zu Parteien gleicher Orientierung in Westeuropa. Ein erster Schritt auf die SPÖ zu zeigt die Richtung an. Gleichzeitig suchen auch die neu erstandenen Parteien der Sozialdemokraten und der „Kleinen Landwirte“ Kontakte bei westlichen Partnerparteien, in der Bundesrepublik bei der SPD sowie, von den „Kleinen Landwirten“, bei der FDP und CDU. III. Außenpolitik 1. Die Außenpolitik Ungarn der vergangenen 6 Monate verdient das Prädikat „magna cum laude“, zum „summa“ fehlt bisher alleine der Erfolg, durch die aktive Besuchsdiplomatie die erstrebten außenwirtschaftlichen Ergebnisse eingefahren zu haben. Unterstellt man der ungarischen Außenpolitik die Zielvorgaben: – die Chancen der sowjetischen Bündnispolitik unter Gorbatschow zu ergreifen, um in enger Anlehnung an Moskau Ungarn gegenüber der kapitalistischen Welt, besonders nach Europa, zu öffnen, – Fortschritte im Abrüstungsdialog zu nutzen, um Ungarn als Lehrpfad anzubieten, sowjetische Truppen aus dem Land zu komplimentieren und das eigene Verteidigungsbudget zu entlasten, – die Zukunft Europas rechtzeitig zu begreifen, besonders sich einen Zugang zum europäischen Markt ab 1992 zu bereiten, so sind die Ergebnisse zum Jahresende erfreulich. 2. Ohne hörbare Verstimmung im Bündnis konnte Ungarn Beziehungen zu Israel und Südkorea einleiten. Die Belebung der Kontakte zu Israel war gut abgestimmt mit der Reise von GS [Generalsekretär] (damals noch MP [Ministerpräsident]) Grósz in die USA, wo die ungarische Politik die dortigen jüdischen Kreise, aber auch die ungarischen Emigranten zu gewinnen sucht. Die erhofften wirtschaftlichen Erträge dieser Investition allerdings stehen aus. Die Beziehungen zu Taiwan, ebenso wie eine Grósz-Reise nach Teheran im Oktober 1988 und eine Rundreise des Außenministers [Péter] Várkonyi durch Südostasien im November 1988 waren ebenfalls weitgehend wirtschaftlich motiviert. Auch hier wartet man jetzt auf greifbare Ergebnisse. Das Ausgreifen der ungarischen Außenpolitik in beide Richtungen zeigt eine energische Hand, vermutlich neben Grósz ganz überwiegend die des Staatssekretärs im ungarischen Außenministerium, [Gyula] Horn.

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3. Auch in Europa konnte die ungarische Außenpolitik im vergangenen Halbjahr erfolgsorientierte Aktivitäten vorweisen, zunächst mit dem am 26.09.1988 unterzeichneten Handels- und Kooperationsabkommens mit der EG. Seitdem hat die ungarische Diplomatie in ihrer auf die Europäischen Gemeinschaften gerichteten Aktivität nicht nachgelassen: Nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Gemeinschaft drängt Budapest auf breitere Personalausstattung ihrer Vertretung in Brüssel, als ihr bisher zugestanden wird. Sie sucht den Anschluss an die Entwicklung der EG durch möglichst regelmäßige Konsultationen, auch bilateral mit uns, zu halten und die Kontakte nach Europa auch in die parlamentarischen Bereiche auszuweiten. Hierbei zielt das Interesse zunächst auf das Europäische Parlament, aber auch auf den Europarat und die WEU [Westeuropäische Union]. 4. Im KSZE-Prozess hat Ungarn beim Wiener Folgetreffen in allen Phasen konstruktiv mitgewirkt und lässt sich gern bescheinigen, auch auf diesem Feld ein Vorreiter für blocküberwindende europäische Zusammenarbeit zu sein. Gleiches gilt für den Abrüstungsprozess in Europa, wo es Ungarn im vergangenen Halbjahr gelang, in politischen Gesprächen und in der Öffentlichkeitsarbeit sein Interesse an Abrüstungsschritten im konventionellen Bereich und damit am Abzug sowjetischer Truppen aus Ungarn anzumelden, ohne hierbei in Dissens zur Vormacht Sowjetunion zu geraten. 5. Den Eingang in die multilateralen Gremien Westeuropas sucht Ungarn auch durch bilaterale Kontakte zu erleichtern (Besuche von Grósz in Frankreich und Spanien im September 1988). Hierbei spielt Österreich eine besondere Rolle. Über die geografisch bedingten engen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen hinaus sieht Ungarn in Österreich den Steg nach Europa. Im Verständnis seiner eigenen Zugehörigkeit zum mitteleuropäischen Raum sucht Budapest alle politischen Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit dem westlichen Nachbarn. Ein greifbares Beispiel hierfür ist das von Ungarn mit Eifer betriebene Projekt einer gemeinsamen Weltausstellung Wien–Budapest für 1995. 6. Im eigenen Bündnis hat die ungarische Außenpolitik es auch im vergangenen Halbjahr verstanden, sich ihre selbstständige Politik nicht als Extravaganz vorwerfen zu lassen. Hierzu trägt die laufende enge Abstimmung mit Moskau (persönliche Kontakte Grósz/ [Michail] Gorbatschow, Besuch Grósz in Moskau im Juli, Politbüromitglied [Alexander] Jakowlew in Budapest im November) ebenso bei wie die tolerantzurückhaltende Politik gegenüber den übrigen WP-Partnern. Die ungarische Politik vermeidet sorgsam, die Politik der Bündnispartner in Vergleich zur eigenen Reformentwicklung zu setzen oder gar zu kritisieren. Dies wurde merkbar beim Besuch von GS [Generalsekretär] Grósz in Ostberlin im September 1988. Ein Reibungspunkt allerdings, auch bei diesem Besuch wahrzunehmen, ist die wirtschaftspolitische Abstimmung im COMECON. Ungarn sieht die Unmöglichkeit, im COMECON auf multilateraler Ebene anhand von nationalen Planwirtschaften und ohne flexible Austauschmecha-



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nismen zusammenzuarbeiten. So sei es unmöglich, mit dem westeuropäischen Markt in Wettbewerb zu treten und die gesammelte Kraft des COMECON einzubringen. Die ungarische Politik sieht einen möglichen Fortschritt nur durch nationale Wirtschaftsreformen der COMECON-Mitgliedstaaten, denen die Zusammenarbeit der östlichen Wirtschaftsgemeinschaft auf neuem Niveau folgen könnte. Bis dahin werde man sich auf bilaterale Zusammenarbeit mit geeigneten Partnern beschränken müssen. Hierbei denkt Ungarn primär an die Tschechoslowakei und Jugoslawien, aber auch an Polen. Zu Albanien wird Ungarn voraussichtlich bald wieder volle diplomatische Beziehungen unterhalten. 7. Ein schweres und dringendes Problem für die ungarische Außenpolitik stellen die Beziehungen zu Rumänien dar, insbesondere die Fürsorge für die ungarische Minderheit dort. Die Beziehungen verharren zur Zeit in gespannter Stille. Nach der Eruption einer anti-rumänischen Großdemonstration am 27.06.1988 in Budapest und der darauf erfolgten Schließung des ungarischen Generalkonsulats in Kolozsvár (Klausenburg) hatte GS Grósz, damals noch als Ministerpräsident, durch eine Gipfelbegegnung mit [Nicolae] Ceauşescu den Durchbruch zur Wiederaufnahme des 1977 abgebrochenen Dialogs gesucht. Die Unternehmung missglückte schon in der Anlage, da auf beiden Seiten in erster Linie das Interesse überwog, mit diesem Treffen in Moskau Gesprächsbereitschaft nachzuweisen. Es missglückte auf ungarischer Seite aber auch in der anschließenden Präsentation und Erörterung, so dass sich die Partei veranlasst sah, mit einem weiteren Parteitreffen (von ungarischer Seite ZK-Sekretär [Mátyás] Szűrös) den Versuch einer Nachbesserung zu unternehmen. Nachdem auch dieser Ansatz nicht weiterführte, sucht Ungarn das für ihn (sic!) wichtigste Problem in den Beziehungen: die Behandlung der ungarischen Minderheit in Rumänien und besonders das sie treffende Dorfsiedlungsprogramm als multilateralen Fall der Menschenrechtsverletzung behandelt zu sehen. Interventionen aus der Bundesrepublik, den USA und Österreich werden dankbar begrüßt. Zu der vermissten Hilfe der übrigen WP-Partner äußert sich Budapest vorsichtig-kritisch. So erklärte ZK-Sekretär Szűrös jüngst (Interview der österreichischen Wochenzeitung „Die Furche“ vom Januar 1989), in der ungarischen Öffentlichkeit breite sich zwar Unsicherheit aus, wenn Sympathiekundgebungen aus Österreich, der Bundesrepublik, Finnland und anderer zu hören, etwas Ähnliches aus sozialistischen Ländern aber nicht zu erfahren sei. Neuerdings vernehme man Sympathie in der UdSSR, was eine neue historische Situation darstelle, aber auch aus Polen und der ČSSR. Man wisse zudem, dass in manchen Staaten, „von denen wir offiziell keine Sympathiekundgebungen erfahren, Wohlwollen uns gegenüber herrscht“. Doch wird sich die ungarische Politik auch darüber klar sein müssen, dass ein solches Wohlwollen durchaus relativ ist und durch den Eindruck der Nachbarländer bestimmt wird, dass der ungarische Partner nach Westen drängt und dabei die Gemeinschaft mit seinen übrigen Nachbarn weniger aufmerksam bedient. Hier hinein spielt sicher auch der Vorbehalt gegen das Magyarentum, das sich traditionell

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gegenüber seiner östlichen Nachbarschaft eher herablassend zeigte und in der Vergangenheit mit Minderheiten nicht eben zimperlich umgegangen ist. 8. Die bilateralen Beziehungen zur Bundesrepublik verliefen, wie zuvor, auch im vergangenen Halbjahr stetig in der Richtung sich erweiternder und vertiefender Kontakte. Höhepunkte in der Besuchsdiplomatie waren die Besuche des Herrn Bundestagspräsidenten im September 1988 sowie des Herrn Bundesministers am 14./15.12.1988. Auch die Bundesminister [Heinz] Riesenhuber und [Klaus] Töpfer statteten mehrtägige Besuche in Budapest ab. Konsultationen der politischen Direktoren im Juli sowie der wirtschaftspolitischen Direktoren im Dezember sind Belege für den sich verdichtenden gegenseitigen Informations- und Meinungsaustausch, der der ungarischen Seite so wichtig ist. So knüpft man hier an die von den beiden Außenministern am 14.12.1988 unterzeichnete Konsultationsvereinbarung erhebliche Erwartungen für die Zukunft. Für das kommende Halbjahr sind weitere Höhepunkte vorherzusehen: der mögliche Besuch des Bundeskanzlers in Ungarn, die Einweihung des Lenau-Hauses in Pécs (Fünfkirchen) für die Kulturpflege der deutschen Minderheit und zu deutsch-ungarischen Begegnungen, die Errichtung eines ungarischen Kulturinstituts in Stuttgart sowie weitere Schritte zur Errichtung von Generalkonsulaten in München und Pécs (Fünfkirchen), die durch den Austausch von Verbalnoten anlässlich des BM-Besuchs in Budapest eingeleitet wurden. Im Vergleich zum Engagement der ungarischen Politik gegenüber anderen westlichen Staaten können wir nach wie vor uns unangefochten in einer besonderen Rolle für Ungarn, aber auch mit den daraus resultierenden Verpflichtungen sehen. Ungarn erwartet von der Bundesrepublik Deutschland als dem wichtigsten westlichen Partner weiterhin positives Interesse, realisiert durch aktiven Besuchsverkehr, Mitdenken mit dem ungarischen Reformprozess und Hilfsbereitschaft angesichts der anhaltend problematischen Wirtschaftslage des Landes. Dieser Erwartung entsprechen das in Budapest immer wieder merkbare positive Engagement und die große Gesprächsbereitschaft der ungarischen Führung uns gegenüber. Ein wichtiges Ereignis zur Vertiefung der parlamentarischen Beziehungen wurde der erste Besuch der deutsch-ungarischen Parlamentariergruppe unter Leitung von MdB [Otto] Schily. In hier beeindruckender Einigkeit engagierten sich die MdB‘s [Mitglieder des Bundestags] aus allen Fraktionen des Deutschen Bundestages für die Probleme der Minderheiten in Rumänien. Ein Gegenbesuch soll noch in diesem Jahr stattfinden. IV. Wirtschaftspolitik Nach den bisher bekannten (z. T. vorläufigen und näherungsweisen) Ergebnissen der ungarischen Wirtschaft für das vergangene Jahr sind zwar die im Stabilisierungsprogramm von Partei und Regierung von 1987 und im Volkswirtschaftsplan gesetzten quantitativen Ziele im Großen und Ganzen erfüllt, der im Zusammenhang damit



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projektierte Einstieg in eine Umstrukturierung der ungarischen Wirtschaft ist jedoch nur in sehr geringem Maße erzielt worden. Plangemäß verbanden sich Depression der Inlandsnachfrage und Boom im Außenhandel gegen konvertible Währungen zum Gesamtbild quantitativer Stagnation, der aber entgegen den Verheißungen kein Durchbruch zur qualitativen Verbesserung gegenüberstand. Für 1989 haben die ungarischen Wirtschaftsplaner daraus die Konsequenz gezogen, in den Vordergrund ihrer Anstrengungen nicht das Anknüpfen an die 1988 prioritär betriebene und auch eingeleitete Begrenzung des Verschuldungsprozesses und des Budgetdefizits, sondern vielmehr die beschleunigte Einführung marktwirtschaftlicher Parameter und Inte­gration in die Weltwirtschaft zu stellen. Die Führung hat bei der Vorlage des Volkswirtschaftsplanes 1989 bestätigt, sich den damit verbundenen unvermeidbaren Risiken und sozialen Spannungen zu stellen. Schon kurz darauf machte sie indes bei der Dekretierung erwarteter Preiserhöhungen in völlig unerwarteter Höhe eine denkbar schlechte Figur, indem sie sich zu Erläuterungen erst veranlasst sah, als erkennbar war, dass nicht nur die Stimmung der Bevölkerung aufgrund dieser Maßnahmen unter den Nullpunkt abgesunken ist, sondern auch Unmutsäußerungen bis hin zu spontanen Streikaktionen die Überschreitung der Duldungsgrenze signalisierten. In der Industrieproduktion wurde das Ergebnis von 1987 knapp verfehlt (JanuarNovember 1988: –0,3%), wohingegen der Plan einen einprozentigen Zuwachs vorgesehen hatte. An der Spitze lag mit +3,4% – vom internationalen Aufschwung dieser Sparte profitierend – ausgerechnet das Hüttenwesen, das unverändert neben dem Bergbau als Haupt-Problembranche und erster Kandidat für eine Gesundschrumpfung gilt. Es folgten noch überdurchschnittlich Maschinenbau (+1,2%), Chemie (+0,6%) und Baumaterialien (+0,3%), während abgeschlagen die Lebensmittelindustrie abschnitt (–3,2%, alle Zahlenangaben für den Zeitraum Januar-November 1988). Gemessen am preisbereinigten Umsatz der staatlichen Aufkäufe von Agrarprodukten, blieb die landwirtschaftliche Erzeugung um 0,5% hinter dem Vorjahresergebnis zurück (pflanzliche Erzeugnisse +1,5%, Lebendvieh –3,2%, tierische Produkte +2,5%, all Zahlenangaben wiederum 1–11/88). Da dies jedoch keine vollkommene Maßgröße für die Agrarproduktion ist, mag die korrekte statistische Ziffer doch wesentlich näher an die Planvorgabe von +5,0 bis +5,5% heranreichen. Bei Getreide etwa wurde 1988 mit rd. 14,7 Mio. t deutlich mehr eingefahren als 1987 (14,2 Mio. t), wenn auch deutlich weniger als im Rekordjahr 1984 (15,7 Mio. t). Im Außenhandel gegen konvertible Währungen bedeutet ein Exportüberschuss von rd. 575 Mio. US-Dollar eine stattliche Verbesserung gegenüber dem 1987 erwirtschafteten Defizit von 361 Mio. US-Dollar. Den Dollar-Werten nach haben die ungarischen Ausfuhren um ca. 16%, die Einfuhren um ca. 1% zugenommen. Der Export­ aufschwung ist dabei auf für Ungarn günstige Weltmarktentwicklungen, auch auf bewusste Exportstimulation zurückzuführen; er fand allerdings hauptsächlich bei den sehr weltmarktpreisabhängigen und weniger zukunftsträchtigen Grundstoffen (Stahl und Chemie) und Agrargütern statt, von denen Ungarn eher abkommen möchte. Der Anteil verarbeiteter Güter am Hartwährungsaußenhandel ist hingegen

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weiter von 30,5% (1987) auf 28,5% zurückgegangen. Die ungarischen Terms of Trade im Handel gegen konvertible Devisen verbesserten sich um 1–1,3%. Im Handel gegen Rubelverrechnung verbesserten sie sich um 3,3%. Hier waren (in Forint) sowohl Importe als auch Exporte rückläufig (ca. –2% bzw. –4%). Ausweislich der Angaben des Statistischen Bundesamtes hat unser Außenhandel mit Ungarn im Vergleich der DM-Werte für die Periode Januar-Oktober von 1987 auf 1988 bei der Ausfuhr um 13,1% ab-, bei der Einfuhr um 2,8% zugenommen (Umsatz –6,3%). Der zu unseren Gunsten bestehende Außenhandelssaldo reduzierte sich damit um 61,0%. Das Ergebnis im ungarischen Fremdenverkehr 1988 ist geprägt durch eine weitere Zunahme der Besucher aus nichtsozialistischen Staaten (+17%), einen Rückgang der Reisenden aus sozialistischen Ländern (–14%, verursacht durch die Verteuerung des Aufenthalts aufgrund der zum 01.01.88 in Ungarn eingeführten Mehrwertsteuer) und einen Anstieg der Westreisen ungarischer Staatsangehöriger nach Inkrafttreten der neuen Passbestimmungen zu Jahresbeginn um wahrscheinlich mehr als das Dreifache. Aus der Bundesrepublik Deutschland kamen 1988 nach ungarischen Angaben 1,3 Mio. Besucher nach Ungarn (+16,5%). Von der Botschaft wurden 314.160 Sichtvermerke zur Einreise (auch Transit) in die Bundesrepublik Deutschland ausgegeben (+47,3%). Die Westreisewelle von Ungarn hat ein für die Verantwortlichen unerwartetes Ausmaß zusätzlichen Devisenabflusses mit sich gebracht (610–630 Mio. US-Dollar nach 185 Mio. US-Dollar im Vorjahr), sodass die Nettodeviseneinnahmen aus dem Tourismus trotz höherer Bruttoeinnahmen (650–670 Mio. nach 555 Mio. US-Dollar) 1988 mit rd. 40 Mio. US-Dollar deutlich niedriger ausfielen als 1987 (370 Mio. USDollar). Hinzu kamen nach Angaben der Nationalbank höhere Zinszahlungen an ausländische Gläubiger, weswegen die ungarische Leistungsbilanz in konvertiblen Währungen 1988 mit einem höheren Defizit als den geplanten – 500 Mio. US Dollar – abgeschlossen haben dürfte. Zum 30.11.1988 ergab sich ein Leistungsbilanzsaldo von –662,1 Mio. US-Dollar. (Jahresende 1987 –846,5 Mio. US-Dollar). Die ungarische Auslandsverschuldung in konvertiblen Währungen wird zum 30. 11. 1988 mit brutto 17,7 Mrd. US-Dollar, netto (unter Abzug von Gold- und Devisenreserven sowie sonstiger Auslandsforderungen) 11,2 Mrd. US-Dollar angegeben. (Jahresende 1987 17,7 bzw. 10,9 Mrd. US-Dollar). Vizehandelsminister [Imre] Dunai hat in diesen Tagen davon gesprochen, das Ungarn nach 1990 zur Erfüllung seiner dann höheren Schuldendienstverpflichtungen einen jährlichen Hartwährungsausfuhrüberschuss von mindestens 1 Mrd. US-Dollar erzielen müsse, und dies bei einem Ausfuhrwert vor 7–8 Mrd. US-Dollar (heute rd. 5,8 Mrd. US-Dollar) für machbar gehalten. Dieser Optimismus wird freilich nicht von allen Beobachtern geteilt. Eine so nachhaltige Ausweitung der Dollar-Ausfuhren mag teilweise durch Verlagerungen weg vom Rubel-Außenhandel bewirkt werden können, muss aber im Wesentlichen eine Verminderung der Inlandsverfügbarkeit von Gütern und Dienstleistungen bedeuten. Die Lebenshaltungsaussichten der ungarischen Bevölkerung erfahren damit keinen positiven Impuls. Die Geldeinkünfte der Bevölkerung aus zentralen Quellen haben 1988 um 12,3% zugenommen. Bei einem Anstieg der Verbrau-



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cherpreise um 15,7% hatte sie damit aber einen Realeinkommensrückgang um ca. 2% zu verkraften. Die Einzelhandelsumsätze als Maßziffer für den privaten Konsum lagen real um 6,9% niedriger als 1987 (nominal +8,5%). Dass zusätzlich zum Einkommensschwund sich noch die Konsumquote verminderte, verdeutlicht die inzwischen auch in Meinungsumfragen bestätigten pessimistischen Zukunftserwartungen der Ungarn. Die Anfang Januar bekannt gegebenen Preiserhöhungen zwischen 14% (Fleisch, Wurst) und 290% (Trink- und Abwasser, verschiedene Zeitfahrkarten im öffentlichen Personennahverkehr) haben diese Zukunftserwartungen nicht gerade befruchtet. Sie wurden von der Regierung zur Budgetkonsolidierung durch Abbau von Produktionsund Verbraucherpreissubventionen aber als notwendig erachtet, wenn auch erst nachträglich erläutert. Das Defizit des Staatshaushalts lag nach ersten Veröffentlichungen 1988 bei ungefähr 20 Mrd. Forint. Ein Betrag dieser Größenordnung (20,4 Mrd. Ft) war zwar in den Haushaltsvoranschlag eingestellt, 10 Mrd. Ft davon sollten jedoch als Budgetreserve gelten und, auch einer ungarischen Zusage an den IWF gemäß, nicht in Anspruch genommen werden. Im Budget 1989 ist erneut ein Fehlbetrag von 20 Mrd. Ft angesetzt worden, der allerdings nur durch manifeste Ausgabenkürzungen zuletzt noch im Parlament und durch Verabschiedung einer auf 1989 beschränkten 4%igen Sondersteuer auf Unternehmensgewinne auf diese Dimension begrenzt werden konnte. Auf der Novembersitzung der Ungarischen Nationalversammlung war die Unternehmensbesteuerung durch Abschaffung mehrerer sektorspezifischer Steuern und Einführung einer einheitlichen Gewinnsteuer von 50% (bzw. 40% bei einem Jahresgewinn unter 3 Mio. Ft) bereits gestrafft und im fiskalischen Zugriff nicht unerheblich gemildert worden. Dies war Teil einer ganzen Reihe gesetzlicher Maßnahmen zur Neuregelung der Unternehmenssphäre, als deren Kristallisationspunkt (und als dritte Stufe der ungarischen Wirtschaftsreformen bezeichnet) bereits im Oktober das neue Gesellschaftsgesetz parlamentarisch gebilligt wurde. Danach sind seit 01.01.89 in Ungarn eine Reihe von Unternehmensformen westlichen Musters von OHG bis AG möglich, die unterschiedlichen Eigentumsformen (staatlich, genossenschaftlich, privat, ausländisch) sind gleichberechtigt und miteinander verknüpfbar, und Aktienemission an Private durch Staatsunternehmen ist genauso möglich wie Unternehmen in 100%igen ausländischem Eigentum. Auf der Dezembersitzung der Nationalversammlung kam schließlich ein Gesetz über ausländische Investitionen in Ungarn hinzu, das die (z. T. liberalisierten) Vorschriften und die (z. T. erweiterten) Vergünstigungen für ausländische Direktinvestitionen in Ungarn zusammenfasst und ausländischen Investoren größere Sicherheit (auch durch Transfergarantie) vermitteln soll. Zum 01.01.1989 traten weiterhin Importliberalisierungen in Kraft, denen zufolge nach offiziellen Angaben rd. 40% der ungarischen Hartwährungseinfuhren nicht mehr der Einfuhrgenehmigungspflicht unterliegen. Die Zollsätze für die Einfuhr westlicher PKW wurden ebenso gesenkt wie diejenigen für den gewerblichen Import westlicher Unterhaltungselektronik. Vorschriften über die Lohnbildung wurden gelockert. Die Verselbstständigung der Sozialversicherung wurde wirksam.

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Für die beim erhofften Wirksamwerden all dieser und früherer Maßnahmen erwartete Freisetzung einer nicht geringen Anzahl von Arbeitskräften hat die ungarische Regierung durch Schaffung einer vom Staat finanzierten Arbeitslosenunterstützung ebenfalls seit Jahresbeginn Vorkehrung getroffen. Die neu in Kraft gesetzte Maßnahmenmenge, die marktwirtschaftlichen Kriterien noch mehr Raum im ungarischen Wirtschaftsleben geben und sie endlich auch zu bestimmenden Parametern in den staatlichen Großunternehmen machen soll, hat nach dem Urteil westlicher Beobachter in westlichen Wirtschaftskreisen Zustimmung und erhöhtes Interesse an geschäftlichem, auch investorischem Engagement in Ungarn gefunden. Entscheidend für Erfolg und Fortsetzung des eingeschlagenen Weges wird sein, inwieweit die ungarische Führung das Vertrauen der Bevölkerung in ihre wirtschaftspolitische Kompetenz wiederzugewinnen vermag und nicht lediglich (unter ständiger Gefahr des Überschreitens) am Rande der (Er-) Duldungsbereitschaft der Bevölkerung operiert. Diese wird vom Volkswirtschaftsplan 1989, der bei Nullwachstum des Bruttoinlandsproduktes einen weiteren Realeinkommensverlust um 1% und Reallohnrückgang gar um 4–5% (1988: 7–8%) vorsieht, erneut strapaziert. Die spärlichen Verheißungen der Politiker auf zukünftige Besserung wirken dabei ebenso wenig überzeugend wie ihre häufigeren Hinweise auf die Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit. V. Zur Entwicklung der Presselandschaft in Ungarn Im Berichtszeitraum hat sich die seit ca. einem Jahr feststellbare Tendenz in der ungarischen Medienlandschaft zu mehr Vielfalt und Unabhängigkeit fortgesetzt und verstärkt. Der daraus resultierende, langsam zunehmende Konkurrenzdruck zwingt die verschiedenen Organe zu mehr Eigenständigkeit und Mut in der Berichterstattung. Die meisten Tabus sind gefallen und selbst die sublimen und nicht offen erkennbaren Mechanismen, mit deren Hilfe die Partei in der Vergangenheit die Kontrolle über die Medienlandschaft ausübte, verlieren an Effizienz. Insbesondere der Ungarische Rundfunk zeigt z. T. erstaunliche Zivilcourage im Umgang mit heiklen politischen Themen. In der Presselandschaft ist ein weiterer Zuwachs von Organen, bei gleichzeitig stagnierendem bzw. rückläufigen Gesamt-Absatz festzustellen. Zu den neueren, vor allem in Intellektuellenkreisen gelesenen, relativ auflagenschwachen Blättern, die alternative und oppositionelle Strömungen vertreten, gesellte sich Ende 1988 das Massenblatt „Reform“, das als einzige große Zeitung in Ungarn trotz der drastischen Preiserhöhungen Anfang 1989 keinen Rückgang, sondern sogar eine Steigerung der Auflage zu verzeichnen hatte. Das mit Hilfe des Springer-Verlages nach dem Muster von „Bild am Sonntag“ entworfene Blatt eroberte sich trotz des für ungarische Verhältnisse sehr hohen Preises ein breites Lesepublikum. Dem programmatischen Namen versucht das Blatt dadurch gerecht zu werden, dass es sich zum Mentor alternativer Zeitungen macht, mit denen zusammen der Aufbau einer eigenen, von der staatlichen Nachrichtenagentur „MTI“



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unabhängigen Struktur (Korrespondentennetz, Bezug von Agentur-Meldungen), geplant wird. Von Seiten des Staates und der Partei sind deutliche Bemühungen um eine verbesserte PR-Arbeit zu verzeichnen. Ein Indiz dafür ist die Einrichtung von Pressestellen mit in Medienfragen erfahrenen Leitern, denen (sic!) nicht mehr das Image des trockenen Bürokraten bzw. Funktionärs eignet. Eine koordinierende Funktion im Regierungsbereich übt das Pressebüro beim Ministerrat aus; zu speziellen Fachfragen werden die zuständigen Sprecher der Ministerien hinzugezogen. Einmal monatlich finden in der Regel internationale Pressekonferenzen statt, zu denen die Regierung einlädt und die – auf Anfrage – auch für Botschaftsvertreter offen sind. VI. Kulturpolitik Die Entwicklungen der vergangenen Monate sind dadurch gekennzeichnet, das die autoritäre Kulturpolitik zwar zu Ende gegangen, an ihre Stelle jedoch eine eklektische getreten ist: Die Ablösung des Ministers für Kultur Béla Köpeczi durch den ehemaligen Rektor der TU [Technische Universität] Miskolc Tibor Czibere, ließ zunächst eine Ausrichtung auf die Naturwissenschaft erwarten, die sich jedoch bis jetzt nicht klar konturiert hat. Das alte Befehlssystem ist, auch bedingt durch die katastrophale finanzielle Lage vor allem im Kulturbereich, zusammengebrochen, ohne das grundsätzliche Änderungen eingetreten wären, die eine neue kulturpolitische Konzeption erkennen ließen. Die Funktions- und Legitimationskrise des politisch-gesellschaftlichen Systems insgesamt hat den Kulturbereich mit Macht erfasst. Dies zeigt sich nicht nur in Demonstrationen und Protestaktionen von Lehrern, Studenten und Professoren, sondern auch im schwindenden Interesse der geistigen Intelligenz, sich zu engagieren, sofern sich diese nicht oppositionellen Gruppen anschließt. Der Vertrauensverlust in Bezug auf die Politik ist der Ausdruck einer moralischen Krise des Landes, die sich ganz besonders im geistigen Leben niederschlägt, die „Reform der Reform“ hat eine Atmosphäre der Unsicherheit erzeugt. Die schlechte finanzielle Lage im Kulturbereich trägt zu dieser Destabilisierung bei: Personalabbau, immer stärker dezimierte Etats für aufwendige Forschung, für Anschaffung von ausländischer Fachliteratur, für Theater, für Renovierung historischer Bausubstanz, für die Ausstattung und Instandhaltung von Schulen und Hochschulen insbesondere außerhalb von Budapest. Junge Forscher wandern ab, Akademiker sind gezwungen, Zweit- und Drittjobs anzunehmen, die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen nimmt ab. Eine konkrete Reaktion der Regierung steht, nicht zuletzt ebenfalls aus Geldmangel, aus. Hingegen lässt sich in Bezug auf die Fremdsprachenpolitik sagen, dass dieser noch von Minister Köpeczi in Angriff genommene Plan einer starken Förderung der Fremdsprachen, besonders der deutschen Sprache, beibehalten und weiter ausgebaut wurde, nicht zuletzt aufgrund der starken finanziellen und sachlichen Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland. So konnten im letzten Halbjahr zwei neue Lektoren sowie zwei deutsche Fachberater in verschiedenen Städten ihre Tätigkeit aufneh-

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men, eine große Zahl von Lehrmitteln und technischen Geräten wurde Schulen und Hochschulen übergeben. In der ELTE-Universität [Loránd-Eötvös-Universität] fand eine Konferenz zur Zweisprachigkeit mit deutschen und ungarischen Experten statt sowie ein deutsch-ungarisches Germanistentreffen, veranstaltet vom DAAD [Deutscher Akademischer Austauschdienst]. Zahlreiche Fortbildungsveranstaltungen für Deutschlehrer führten das hiesige Goethe-Institut zusammen mit der Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse (TIT) durch. Das Kultur- und Informationszentrum nahm im Herbst 1988 sein Programm auf mit Musik- und Filmveranstaltungen, Ausstellungen und Lesungen. Eine Partnerschaftsvereinbarung zwischen der TU Budapest und der TU München wurde abgeschlossen. VII. Vorausschau auf die mögliche Entwicklung im Gastland und Arbeitsschwerpunkte der Vertretung im kommenden Jahr […] 1. Politik Zieldatum der wichtigsten noch ausstehenden politisch/ rechtsstaatlichen Reformen (Verfassung, Verfassungsgericht, Parteiengesetz, Parlamentswahlen) ist das 1. Halbjahr 1990. Das kommende Jahr wird mit intensiven Vorbereitungen hierzu vergehen. In Arbeit sind des weiteren u.a. Gesetze über das Verhältnis zwischen Kirche und Staat, über die nationalen Minderheiten und eine neue Geschäftsordnung des Parlaments. Ob der im Sommer 1988 ausgelöste Reform-Impetus die gesetzten Zieldaten erreichen wird, dürfte einerseits von der Verfestigung der schon erreichten neuen, rechtsstaatlich orientierten politischen Kultur sowie der Entwicklung in der Sowjetunion, andererseits davon abhängen, wie weit bei anhaltender wirtschaftlicher Erfolglosigkeit für die Bevölkerung diese sich für das Reformprogramm engagieren lässt. Außenpolitisch sind für 1989 die Fortsetzung des ungarischen Eintretens für den Abrüstungsprozess, Aktivitäten in allen multilateralen Foren zur Förderung des WestOst-Dialogs sowie weitere Suche nach möglichen Entrees in multilaterale europäische Gremien zu erwarten. Ungarn wird weiterhin die Absicherung seiner Politik durch die Sowjetunion suchen, bündnisgerechte bilaterale Beziehungen zu den übrigen Partnern pflegen und im COMECON auf Anpassung an wirtschaftspolitische Erfordernisse der West-Ost-Zusammenarbeit drängen. Weitere außenpolitische Aktivitäten gegenüber den kapitalistischen Staaten und sich entwickelnden Industrieländern wird Ungarn voraussichtlich auch weiterhin mit dem Ziel entfalten, hierdurch seiner Außenwirtschaft zu dienen. Im bilateralen Verhältnis wird Ungarn weiterhin in vielfältiger Hinsicht aus wirtschaftspolitischem Bedarf erwartungsvoll auf die Bundesrepublik blicken. Aber auch im politischen Gespräch sucht die ungarische Politik den laufenden Kontakt zu uns. Hier wird in diesem Jahr der erhoffte Besuch des Herrn Bundeskanzlers einen Höhepunkt bringen. Die Botschaft erwartet im Übrigen die Fortsetzung der intensiven Besuchsdiplomatie von Regierung und Parlament, lebhaft betrieben auch aus den Bundesländern.



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2. Wirtschaft Im Wirtschaftsbereich ist insbesondere abzuwarten, ob das zu Jahresbeginn in Kraft getretene Gesellschaftsgesetz die damit verbundenen Erwartungen erfüllt, durch Mobilisierung privaten und ausländischen Kapitals die ungarische Wirtschaft zu befruchten und endlich strukturell auf Zukunftskurs zu bringen. Dies ist auch abhängig davon, wie rasch das angekündigte Umwandlungsgesetz vorliegen und welche realen Möglichkeiten es den bestehenden staatlichen (Groß-) Unternehmen zur Umgründung in flexiblere und (auch welt-) marktgerechte Unternehmensformen bringen wird. Ferner hängt es davon ab, wann die bisher unspektakulär vorangetriebenen Vorbereitungen zur Errichtung einer ungarischen Börse zum Abschluss kommen werden, damit einer nötigen beginnenden Marktbewertung der ungarischen Unternehmen der institutionelle Ort gegeben wird. Arbeitskräftefreisetzungen und durchaus wirtschaftsstrukturelle Wirkungen dürften mittlerweile von einer Seite in Gang gesetzt werden, an die man vor einiger Zeit in diesem Zusammenhang noch nicht gedacht hatte. In Anbetracht der Kürzungen im Verteidigungsbudget stellen sich diejenigen ungarischen Unternehmen, die Militärtechnik produzieren, auf nicht unerhebliche Auftragseinbußen ein und sehen sich deshalb zu umfangreichen Entlassungen genötigt. Die (offiziellen) Gewerkschaften (SZOT), die sich beträchtlichem Konkurrenzdruck von Seiten unabhängiger Fachgewerkschaften ausgesetzt sehen, nehmen die immer wieder von Partei und Regierung skizzierte Aussicht auf Arbeitslosigkeit größeren Ausmaßes hin. Sie haben nach heftigen Wortgefechten Ende vergangenen Jahres entgegen vorherigen Beteuerungen auch eine neuerliche Reallohnabsenkung für das laufende Jahr akzeptiert. Nach starker Kritik der Gewerkschaften an den kräftigen Preiserhöhungen im Januar (durch die sie die von ihnen gebilligte Inflationsrate 1989 von 12% für gefährdet halten) entzündet sich gewerkschaftlicher Zorn nun aber daran, was über die Streikvorschriften im von der Regierung geplanten Gewerkschaftsgesetz an die Öffentlichkeit gelangte (lediglich reaktives Streikrecht auf nachteilige Maßnahmen des Unternehmens). Nach dem Einlenken des SZOT im Dezember 1988 wirkt seine Aufregung jetzt allerdings weniger überzeugend. Außenwirtschaftlich wird mit weiterem Zeitablauf eine neue Wechselkurskorrektur des Forint immer wahrscheinlicher. Verschiedene Beobachter erwarten durchaus eine Abwertung, die über die Größenordnungen der letzten Jahre (bis zu 8%) hinausgeht. Im Verhältnis zur EG erhofft sich Ungarn weiterhin die in Aussicht gestellten Nachbesserungen beim Abbau mengenmäßiger Importbeschränkungen unter dem im September vergangenen Jahres abgeschlossenen Handels- und Kooperationsabkommen sowie eine Vereinbarung über EGKS-Waren [Waren der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl] im gleichen Geiste. Von uns erwartet man dabei die Fortsetzung unserer bisherigen Unterstützung der ungarischen Anliegen ebenso wie aktive Mitwirkung beim Werben um Kapitalbeteiligungen deutscher Unternehmen in Ungarn (wenngleich ungarische Gesprächspartner einräumen, das die eigenen Vorstellungen dazu noch keineswegs ausgereift sind).

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3. Medien Die weitere Entwicklung der Medienlandschaft in Ungarn ist auf das engste mit dem Fortgang der politischen Reformen verknüpft. Die ungarischen Journalisten erwarten jedoch durchweg eine Fortsetzung der bisherigen, liberalen Pressepolitik, sogar unabhängig vom Ausmaß der weiteren Reformen. Das sich darin äußernde, wachsende Selbstbewusstsein des Berufsstands wird allerdings durch die weiterhin äußerst schwierige wirtschaftliche Lage und mangelnde soziale Absicherung getrübt. In dieser Hinsicht ist keine Besserung zu erwarten. 4. Arbeitsschwerpunkte der Vertretung Die Botschaft wird, wie bisher, versuchen, den gegenseitigen Besuchsverkehr zu fördern und erfolgreich zu betreuen. Sie sieht hierin nicht nur einen wesentlichen Beitrag für das ungarische Interesse und damit zur Pflege der bilateralen Beziehungen, sondern gewinnt aus Besuchen aus der Bundesrepublik und deren Gesprächen hier wertvolles Material für die Berichterstattung. Dies gilt besonders für die beim Besuch des Herrn Bundesministers [d. h. des Bundesaußenministers] in Budapest am 14.12.1988 verabredeten regelmäßigen Konsultationen auf Ministerebene und die bereits etablierten regelmäßigen Konsultationen der politischen und wirtschaftspolitischen Direktoren, letztere speziell zur Thematik der für Ungarn besonders interessierenden Entwicklung innerhalb der EG. Solange im Verhältnis zu Ungarn Sichtvermerkspflicht besteht, wird, – auch im Dienste unseres Ansehens – der möglichst reibungslosen Sichtvermerkserteilung höchste Priorität zukommen. Angesichts der 1989 abermals zu erwartenden Zunahme der SV-Antragsteller [Sichtvermerk-Antragsteller] werden sich trotz baulicher und personeller Verbesserungen in der RK-Stelle [Rechts- und Konsularstelle] Warteschlangen und entsprechender Unmut nicht vermeiden lassen. Die Einrichtung des Generalkonsulats Fünfkirchen (voraussichtlich Sommer/ Herbst 1989) wird keine nennenswerte Entlastung bringen, da die Zahl der Antragsteller insgesamt zunehmen wird und 85% der Ungarn im zukünftigen Konsularbezirk Budapest leben. Die Beratung hier vorsprechender Deutscher aus der DDR wird auch und gerade nach Inkrafttreten des neuen DDR-Rechts (01.01.1989) die Botschaft weiterhin intensiv beschäftigen. Die routinemäßigen im Sommer/ Herbst 1989 in Budapest stattfindenden deutsch-ungarischen Konsularkonsultationen werden sich nicht mit herausragenden Problemen zu beschäftigen haben. Im Mittelpunkt der Politischen Öffentlichkeitsarbeit wird 1989 das 40-jährige Jubiläum der Bundesrepublik Deutschland stehen. Die begrenzten Mittel erlauben keine repräsentativen Großveranstaltungen. Daher wird die Gesamt-PÖA [politische Öffentlichkeitsarbeit] auf dieses Thema auszurichten sein. U.a. kann eine Auswei-



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tung des Empfängerkreises der „Presse-Informationen“ der Botschaft sowie ggf. eine Ausweitung der Filmarbeit hilfreich sein. Der steigende Bedarf an deutschsprachigen Publikationen, insbesondere Wochenzeitungen und Zeitschriften, kann allerdings aus den vorhandenen Mitteln kaum bestritten werden. Das große Interesse ungarischer Journalisten an fachlichem Austausch mit ihren deutschen Kollegen sollte mit allen vorhandenen Möglichkeiten gefördert werden (Quotenreisen, Vermittlung von Studienaufenthalten und Hospitantenstellen). Auf dem Gebiet des Studenten- und Wissenschaftleraustauschs wird durch die bevorstehende Vereinbarung über Äquivalenzen eine wesentliche Erleichterung erreicht werden. Die Arbeit der politischen Stiftungen wird sich verstärken, da Gespräche mit der letzten hier noch nicht vertretenen Stiftung, der Konrad-AdenauerStiftung, erfolgreich verlaufen sind. Weitere mit der Erklärung zur Förderung der Ungarndeutschen beschlossene Maßnahmen zur Förderung der deutschen Sprache harren der Umsetzung wie Entsendung von zwei weiteren deutschen Lektoren, Lehrmittelsendungen, Lehrerfortbildungsmaßnahmen und die Vergabe von ca. 300 Stipendien für Lehrer und Kindergärtnerinnen. Die im gleichen Zusammenhang zugesagten finanziellen Unterstützungen für das Lenau-Haus in Pécs/ Fünfkirchen und das Schulzentrum Baja sind abzuwickeln. Die endgültige Unterbringung des hiesigen Goethe-Instituts wird ein weiterer Schwerpunkt des Arbeitsbereichs sein. Insgesamt dürfte die Entwicklung in den genannten konkreten Arbeitsschwerpunkten positiv verlaufen angesichts des guten politischen Klimas zwischen beiden Ländern. Mehr noch als bisher wird allerdings die Entwicklung der bilateralen kulturellen Beziehungen von finanziellen Aspekten abhängen. Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

Dokument 23 Mitteilung über die Ergebnisse der Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei am 10./11. Februar 1989 hinsichtlich der Frage des Mehrparteiensystems und der Neubewertung der Ereignisse von 1956 Am 10./11. Februar 1989 hielt das Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei auf Initiative des Politbüros eine Sondersitzung ab. Im Mittelpunkt der Tagesordnung des Parteigremiums stand die Frage der Neubeurteilung der Ereignisse vom Herbst 1956 sowie der Akzeptanz oder Ablehnung des Mehrparteiensystems. Den Hintergrund der Einberufung bildeten zum einen die dynamischen Pluralisierungsprozesse, die im Sommer/ Herbst 1989 in Ungarn eingesetzt hatten und den Rahmen des „sozialistischen Pluralismus“ sprengten, zum anderen die Diskussionen, die das Radiointerview von Imre Pozsgay über die Neubewertung von 1956 als „Volksaufstand“ am 28. Januar 1989 (siehe Dokument 21) ausgelöst hatte. Auf beide Fragen musste das Zentralkomi-

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tee eine Antwort finden, um die politische Initiative zurückzugewinnen. Hinsichtlich der politischen Ordnung sprach sich das Gremium schließlich dafür aus, schrittweise zu einem Mehrparteiensystem überzugehen. In diesem sollte die MSZMP die „entscheidende Rolle“ mit politischen Mitteln zu erringen versuchen. Bezüglich der Geschehnisse von 1956 akzeptierte es die Wertung als „Volksaufstand“ anstelle von „Konterrevolution“, sprach aber gleichzeitig auch von sich gegen Ende Oktober 1956 verstärkenden „konterrevolutionären Handlungen“. Trotz zahlreicher skeptischer Stimmen und Vorbehalte führte die Entscheidung der ZK-Sitzung eine wesentliche Beschleunigung des Demokratisierungsprozesses in Ungarn herbei. Die Ergebnisse der Sitzung wurden am 12. Februar 1989 im Parteiorgan „Népszabadság“ (Volksfreiheit) veröffentlicht. *** Mitteilung über die Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei am 10./11. Februar 1989 Das Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei hielt am 10./11. Februar 1989 eine erweiterte Sitzung ab, an der außer den Mitgliedern des Gremiums folgende Personen – mit Beratungsrecht – teilnahmen: der Vorsitzende und der Sekretär der Zentralen Kontrollkommission, die Ersten Sekretäre der Komitats-Parteiausschüsse und der Parteiausschüsse mit Komitatsrechten, die Sekretäre des Budapester Parteiausschusses und die ZK-Abteilungsleiter sowie der Parlamentspräsident. Das Zentralkomitee diskutierte gemäß der Vorlage von Generalsekretär Károly Grósz – entsprechend des ZK-Beschlusses vom 15. Dezember 1988 – aktuelle politische Fragen. An der Diskussion der Vorlage nahmen 47 Personen teil, 7 Personen legten ihre Meinung schriftlich dar. Das Zentralkomitee nahm den Entwurf der Stellungnahme, den sie zur Diskussion stellt, an. I. Das Zentralkomitee hält es für eine drängende Aufgabe, dass die MSZMP die Initiative zur Überwindung der wirtschaftlich-politischen und moralischen Krise ergreift. Die Grundvoraussetzung der Erneuerung bildet die Entwicklung einer leistungsorientierten, auf gemischtem Eigentum basierenden Wirtschaftsordnung, in der die Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaft und die Erfordernisse der modernen Weltwirtschaft zur Geltung kommen und in der das Gemein- und Staatseigentum in den Hauptsektoren eine entscheidende Rolle behält. Hierzu ist es unverzichtbar, die Marktverhältnisse konsequent zu entwickeln. Die unvermeidbaren nachteiligen Nebenwirkungen des wirtschaftlichen Wandels und der wirtschaftlichen Stabilisierung müssen auf sich genommen werden. Ähnliche Prozesse haben bislang nirgends ohne vorübergehende Spannungen und manchmal schwere Opfer zu einem Ergebnis geführt.



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Das Zentralkomitee hält es gleichzeitig für unerlässlich, dass der wirtschaftliche Umbau von einer umfassenden Reform der Sozialpolitik begleitet wird. Die neue Sozialpolitik soll die soziale Gerechtigkeit, die gemeinschaftliche Solidarität und das Prinzip der Selbsthilfe berücksichtigen. Sie soll alles unternehmen, um die Chancenungleichheit zu verringern. Sie soll der Situation der Jugend sowie der [sozialen] Absicherung der unter schwierigen Bedingungen lebenden Schichten besondere Aufmerksamkeit schenken. Zur breiten Entfaltung der Demokratie ist es – ausgehend vom Prinzip der Volkssouveränität und der Rechtsstaatlichkeit – die feste Absicht des Zentralkomitees, die tiefgreifende Reform des Systems der politischen Institutionen fortzusetzen. Es ist seine Überzeugung, dass die Pluralisierung der politischen Ordnung – unter den gegebenen Bedingungen in Ungarn – im Rahmen des Mehrparteiensystems verwirklicht werden kann. Dadurch können – so die historischen Erfahrungen – bessere Garantien zur Kontrolle der Regierungsarbeit und gegen die Möglichkeit des Machtmissbrauchs geschaffen werden. Da die Gesellschaft nicht auf die sofortige Verwirklichung einer politischen Machtausübung, die auf dem Mehrparteiensystem basiert, vorbereitet ist, besteht die Gefahr, dass sich die Prozesse destabilisieren und unkontrollierbar werden. Dies steht im Interesse keiner [politischen] Kraft, die Verantwortung für Ungarn empfindet. Daher ist es notwendig, einen schrittweisen und kontinuierlichen Übergang durchzuführen und den politischen Wandel in einem berechenbaren Rahmen zu halten. Gleichermaßen ist es gefährlich, die Veränderungen gewaltsam zu beschleunigen oder künstlich zu behindern. Einer Zerrüttung der Gesellschaft kann nur durch gemeinsame Verantwortung und gemeinsames Maßhalten aller politischen Akteure vorgebeugt werden. Am Mehrparteiensystem haften zahlreiche Illusionen, vor allem bezüglich der Lösung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme. Es ist von grundlegender Bedeutung, dass die politische Reform die Lösung der wirtschaftlichen Aufgaben nicht ersetzen kann, aber auch nicht behindern darf. Hierzu ist eine kraftvolle Arbeit der Regierung und der Unternehmen notwendig. Der politische Wandel muss mit einer umfassenden Reform der Wirtschaft verbunden werden, damit sich ihre positiven Wirkungen verstärken. Um all diese Ziele und Aufgaben zu verwirklichen, ist das Zentralkomitee bereit, mit allen verantwortlichen politischen Akteuren zu einer Übereinkunft zu gelangen und zusammenzuarbeiten. In diesem Prozess strebt die Partei nach einer entscheidenden Rolle, die sie mit politischen Mitteln durchsetzen will. Gegen all diejenigen, die danach trachten, das Land zu destabilisieren, seine internationalen Interessen zu gefährden, die Ungestörtheit des friedlichen Umbaus zu behindern sowie die gesellschaftliche Ruhe zu stören, führt sie einen scharfen politischen Kampf. Im Bewusstsein seiner historischen Verantwortung bekennt sich das Zentralkomitee dazu, dass der Wandel nur mit einer den gesellschaftlichen Voraussetzungen entsprechenden Abstufung und Reihenfolge sowie als Ergebnis eines ausgeglichenen und konsequenten Fortschritts verwirklicht werden kann, und es nimmt diese

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Aufgabe auf sich. Es ist seine Überzeugung, dass dies den Interessen des ungarischen Volkes entspricht. Ohne Ruhe und Ordnung gibt es keine wertschöpfende Arbeit, und ohne diese gedeiht das Land nicht. Im Zeichen der auf der Parteikonferenz vom Mai 1988 angenommenen Leitlinien und des dort entwickelten Arbeitsstils ersucht das Zentralkomitee die Parteiorgane, die Basisverbände der Partei und die Mitglieder, den Entwurf der Stellungnahme, der veröffentlicht wird, zu diskutieren. Die Parteimitglieder müssen sich auch durch die vorgeschlagene Diskussion auf die vor uns stehenden Aufgaben vorbereiten. Wir können im Bewusstsein handeln, dass wir Beteiligte an der Verwirklichung einer historischen Aufgabe sind. Mit der Schaffung eines neuen ungarischen Modells des demokratischen Sozialismus fördern wir die Pros­perität unseres Volkes und zugleich den internationalen Fortschritt. Auch die ehrliche Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit sowie die Analyse unserer historischen Leistungen, aber auch unserer Illusionen und Fehler dienen diesem Ziel. II. Das Zentralkomitee hat die Ergebnisse der Studie, die im Rahmen des von ihm eingesetzten Ausschusses über die Untersuchung des historischen Weges der vergangenen Jahrzehnte fertiggestellt wurde, zur Kenntnis genommen. Es hat im Großen und Ganzen mit Anerkennung bestätigt, dass die Studie bereits in ihrer gegenwärtigen Form einen größtenteils differenzierten Überblick mit wissenschaftlichem Anspruch über unsere jüngste Vergangenheit bietet. Das Zentralkomitee befürwortet, dass die Studie zur Diskussion gestellt wird, und betont die Wichtigkeit, dass die gründliche Arbeit zur Aufdeckung der Fakten und die Forschungsarbeiten fortgesetzt werden. Als Teil dieser Arbeit hält sie es für notwendig, die nationale Tragödie von 1956 auf der Grundlage weiterer Fakten und auch internationaler Dokumente differenzierter als bisher zu bewerten und auch ihre Widersprüche vor Augen zu führen. Das Zentralkomitee hat in der Diskussion bekräftigt, dass im Jahre 1956 die Unfähigkeit der Führung, sich zu erneuern, zur politischen Explosion führte. Es brach ein wahrhafter Aufstand, ein Volksaufstand aus, in dem die Kräfte des demokratischen Sozialismus eine Rolle spielten. Von Anfang an waren aber auch untrennbar die nach einer Restauration strebenden Kräfte sowie deklassierte und Lumpenelemente präsent. Und gegen Ende Oktober verstärkten sich die konterrevolutionären Handlungen. Das Gremium verurteilt es als übereilt, dass Imre Pozsgay die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung des Historischen Unterausschusses vor der Diskussion durch das Zentralkomitee an die Öffentlichkeit brachte. Es hält es für bedauerlich, dass die in Verbindung mit seiner Erklärung erfolgte Vereinfachung Grund zu Missverständnissen gegeben hat. Gleichzeitig versichert das Zentralkomitee Genossen Imre Pozsgay aber sein Vertrauen.



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In den vergangenen Tagen erhielten das Zentralkomitee, der Generalsekretär und die verschiedenen Parteiorgane zahlreiche Briefe, die kollektive oder individuelle Meinungen zum Ausdruck bringen, leidenschaftliche Diskussionen widerspiegeln und sehr viele Meinungen und Vorschläge, die es wert sind, überdacht und genutzt zu werden, enthalten. Das Zentralkomitee nimmt diese mit Dank an und bittet, dass der Historische Unterausschuss ihren Inhalt bewertet und nutzt. Das Gremium erhebt weiterhin den Anspruch, dass der auf der Sitzung vom 23. Juni 1988 ins Leben gerufene Arbeitsausschuss – dessen Aufgabe die umfassende wissenschaftliche und politische Analyse der drei Jahrzehnte langen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Überprüfung der Programmerklärung der Partei ist – eine beschleunigte, aber umsichtige und gründliche Arbeit durchführt. Es ist notwendig, dass das Zentralkomitee die Studien der anderen Unterausschüsse kennenlernt und auch diese veröffentlicht werden. III. Das Zentralkomitee hat das Politbüro mit der Ausarbeitung eines Aktionsprogramms mit dem Titel „Was will die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei“ beauftragt. Dieses wird das Gremium auf seiner Sitzung im März [1989] behandeln. Das Zentralkomitee hat unter Führung des Generalsekretärs einen Ausschuss ins Leben gerufen, der den Arbeitsstil und die Arbeitsmethoden des Zentralkomitees und des Politbüros überprüfen und über seine Erfahrungen Bericht erstatten soll. Das Zentralkomitee hat eine Arbeitsgruppe damit beauftragt, zwei- oder mehrseitige Verhandlungen mit den verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Organisationen vorzubereiten. Während der Beratungen [des Zentralkomitees] wurde zu den behandelten Fragenkreisen eine große Anzahl von Vorschlägen unterbreitet, auf die das Gremium auf seinen nächsten Sitzungen zurückkommt. Das Zentralkomitee veröffentlicht den Vortrag von Károly Grósz, stellt den Entwurf der Stellungnahmen zur parteiinternen Diskussion und antwortete auf den Aufruf der Neuen Märzfront.40 Die Basisverband-Informationen41 stellen die Diskussion im Gremium vor. Quelle: Népszabadság, 12. Februar 1989, S. 1. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul

40 Aufruf der parteinahen, von Rezső Nyers geleiteten Organisation zur Aufnahme von Gesprächen mit den oppositionellen Organisationen. 41 Parteiinterne Informationsbroschüre.

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„Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UU-1384db (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 24 Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Staatssekretär Gyula Horn vom 20. Februar 1989 zu den Bonner Reaktionen auf die jüngsten politischen Ereignisse in Ungarn Nach den Entscheidungen des Zentralkomitees hinsichtlich der Neubewertung der Ereignisse von 1956 als „Volksaufstand“ und des schrittweisen Übergangs zu einem Mehrparteiensystem sondierte der ungarische Botschafter in Bonn István Horváth die Reaktionen führender westdeutscher Politiker und Mitarbeiter des Auswärtigen Amts auf die Entwicklungen in Ungarn und teilte die Ergebnisse dem Staatssekretär im ungarischen Außenministerium Gyula Horn mit. Wie aus dem Schreiben hervorgeht, wurden die Ergebnisse der ZK-Sitzung „mit Überraschung und mehrheitlich mit Sympathie“ aufgenommen, als „historischer Schritt“ bezeichnet und die Wahrung der Einheit der Partei als besonders wichtiges Ergebnis beurteilt. Positiv sei in Bonn auch der schrittweise Charakter des Übergangs aufgenommen worden, da man keine unkontrollierbaren Entwicklungen in Ungarn wolle. Das Schreiben Horváths setzt sich zudem auch mit den Bonner Meinungen über die sich wandelnde Haltung der Sowjetunion gegenüber den osteuropäischen Staaten sowie mit der – laut Bonn nicht immer widerspruchsfreien – Wirtschaftspolitik von Ministerpräsident Miklós Németh auseinander.

Genossen Dr. Gyula Horn Staatssekretär Außenministerium Budapest

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Bonn, 20. Februar 1989 Lieber Genosse Horn! Nach der ZK-Sitzung [vom 10./11. Februar 1989] hatte ich die Gelegenheit, mich persönlich mit mehreren führenden Politikern zu unterhalten, außerdem luden wir danach zwanzig führende Mitarbeiter des Außenministeriums als Gäste in die Botschaft ein. Auf der Grundlage der Gespräche fasse ich die Hauptfeststellungen im Folgenden zusammen: In den obersten politischen Kreisen der BRD wurde das Ergebnis der ZK-Sitzung vom 10./11. Februar mit Überraschung und mehrheitlich mit Sympathie aufgenom-



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men. Die Tiefe und Geschwindigkeit des ungarischen Reformprozesses innerhalb der sozialistischen Welt wurde auch bisher als einzigartig betrachtet, aber damit rechnete man nicht, dass die Partei – relativ gesehen – so schnell als Gremium Stellung zugunsten des Zustandekommens des Mehrparteiensystems nimmt. Betrachtet man die Diskussion vor der Sitzung in dieser Frage sowie bei der Beurteilung der Ereignisse von 1956, dann ging ein Teil der Bewertungen bereits davon aus, dass eventuell eine Parteispaltung oder zumindest der Austritt zahlreicher Führer zu erwarten sei. Dementsprechend betrachtet man als größtes Ergebnis der ZK-Sitzung, dass die MSZMP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] ihre Einheit bewahrt habe, noch dazu unter der Führung des gegenwärtigen Generalsekretärs Károly Grósz. Dies sei in erster Linie der Tatsache zu verdanken, dass es vorläufig gelungen sei, jedermann in der Frage des Mehrparteiensystems und der 1956-er Frage zu einem hinreichenden Kompromiss zu veranlassen. Alle Bewertungen stimmen darin überein, dass unter den sozialistischen Staaten Ungarn als erstes Land zu der Erkenntnis gelangt sei, dass das Einparteiensystem praktisch ein vom Ausland (Sowjetunion) übernommenes Modell sei, das weder den nationalen Eigenarten Ungarns noch jenem politischen und wirtschaftlichen Umfeld, in dessen Richtung sich das Land immer stärker orientieren wolle, entspreche. Es scheine so, dass die Mehrheit der politischen Führung und der Bevölkerung eher die Überzeugung habe, dass der Wettbewerb der Meinungen und sogar der verschiedenen Organisationen der beste Motor für die Entwicklung sei. Gleichzeitig wird hinzugefügt, dass diese Erkenntnis – neben externen Faktoren – auch eine als stürmisch zu bezeichnende innere Entwicklung erzwungen habe. Es sei umso beachtenswerter, dass die Partei diese mit angemessener Nüchternheit und Gelassenheit zur Kenntnis genommen habe und sie trotz des von rechts und links ausgehenden, zeitweise heftigen Drucks den von ihr selbst verkündeten Erneuerungsprozess in Bahnen halten kann. Parallel zur Anerkennung des Pluralismus und seiner schrittweisen Verwirklichung ist die Partei vorläufig nicht dazu gezwungen, die Möglichkeit der politischen Initiative auf der hauptsächlich strategischen Linie aus ihrer Hand zu geben und damit die Entstehung einer explosionsgefährlichen Situation zu riskieren. Alleine schon der von der Partei vorgeschlagene stufenweise Prozess der Entwicklung des Mehrparteiensystems (prinzipieller Beschluss, neue Verfassung, Parteiengesetz) lasse darauf schließen, dass sie unter Vermeidung einer Destabilisierung versuche, auch unter operativem Gesichtspunkt führende Kraft der Gesellschaft zu bleiben und vielleicht auch bleiben könne. So ist auch derjenige Teil der Erklärung nicht unberücksichtigt geblieben, der erklärt, dass die ungarische Gesellschaft noch nicht auf die Übernahme eines Mehrparteiensystems vorbereitet sei, weswegen diese schrittweise erfolgen müsse. Es ist Tatsache, dass diese Feststellung in Bonn, wo man weder politisch noch wirtschaftlich an der Entstehung unkontrollierbarer Prozesse in Ungarn interessiert ist, auf eine positive Aufnahme stieß. Trotzdem bewertet die Führung der BRD die ZK-Stellungnahme als einen historischen Schritt, der epochale Bedeutung habe und dessen Wirkung und Waghalsigkeit

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in den entwickelten kapitalistischen Ländern erst jetzt überhaupt verstanden werde. Die MSZMP sei die erste kommunistische Partei, die selbstständig und zudem mit großer Mehrheit ihre Macht begrenzen wolle, anderen Anschauungen und anderen Parteien einen Weg bahne und dies auch in der Verfassung festhalten wolle. Sie tue dies aus der einfachen Erkenntnis heraus, dass die Möglichkeiten, politische Fehler zu begehen, unter den Rahmenbedingungen des Mehrparteiensystems geringer seien. In Übereinstimmung mit dieser Erkenntnis sei sie bereit, mit anderen Parteien in Wettbewerb zu treten, wobei sie auch eine eventuelle Niederlage einkalkuliere und von der Auffassung geleitet werde, dass die Teilung der Macht auch eine Teilung der Verantwortung bedeute. Deshalb halten es die hiesigen Kreise für verständlich, dass die MSZMP vorläufig noch Anspruch auf die führende Rolle erhebe und gesamtgesellschaftliche Interessen vertreten wolle – eventuell neben ähnlichen Bestrebungen der politischen Opposition oder gegen sie. Diese müsse ebenfalls die nationalen Eigenarten und das politisch-gesellschaftliche Umfeld berücksichtigen. In Bonn hält man auch die Stellungnahme über die Ereignisse von 1956 für einen geschickten, von einem veränderten Geist zeugenden Kompromiss. Es wird bemerkt, dass das Vertrauen in die Person Imre Pozsgays sich weder innerhalb der Partei noch außerhalb verringert habe. Károly Grósz und Miklós Németh hätten ein Zeugnis großen taktischen Gefühls und großer Integrationsfähigkeit abgelegt. Gleichzeitig brachten mehrere ihre Meinung zum Ausdruck, dass in dieser noch nicht abgeschlossenen Frage die Sowjetunion noch keine Stellung bezogen habe. Die eventuelle Schwäche des Kompromisses könne sich dann offenbaren, wenn Moskau eines Tags die ganze Wahrheit an den Tag bringe und dies die MSZMP zu einer neuerlichen Stellungnahme veranlassen könne. In erster Linie laut Meinungen aus dem Außenministerium habe die MSZMP in der Diskussion drei wichtige, aus Moskau eintreffende „Signale“ nicht hinreichend berücksichtigt. Das erste sei, dass Gorbatschow die Afghanistan-Intervention als Verbrechen bezeichnet habe, das zweite, dass man gerade jetzt anerkannt habe, dass Stalin 1938 Béla Kun hatte hinrichten lassen. All dies zeige, dass die Moskauer Führung immer weniger geneigt sei, bei ihrer früheren Bewertung zu verbleiben. Das dritte und interessanteste Signal sei die jüngste Äußerung von Bogomolow, wonach Ungarn auch dann Mitglied des Warschauer Vertrags bleiben könne, wenn sich seine Gesellschaftsordnung verändern würde, ja sogar, dass ein neutrales demokratisches Ungarn keine Gefahr für die Sicherheit der Sowjetunion darstelle.42 In Bonn bewerte man dies so, dass diese Feststellung nicht zufällig gerade jetzt verlautet sei und vermutlich auch eine [neue] Art des Denkens im Kreml widerspiegele. Gleichzeitig bewertet man in diesem Zusammenhang die Erklärung von Miklós Németh, in der er die Gesellschaft indirekt zur Einhaltung des Prinzips der Gradualität und zur Selbstmäßigung auffordert, als außerordentlich taktisch.

42  Hier wird offensichtlich auf eine entsprechende Äußerung von Akademiemitglied Oleg Bogomolow bei einer Pressekonferenz in Moskau Mitte Februar 1989 verwiesen.



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Laut hiesigen Vermutungen bewertet Moskau jetzt seinen Standpunkt bezüglich der osteuropäischen sozialistischen Staaten neu. Es scheine so, dass sich Moskau eines Tages einem Start aus der Situation unmittelbar „nach dem Krieg“ nicht verschließt. Die Gründe hierfür werden nach den hiesigen Wertungen darin gesehen, dass die Sowjetunion erkannt habe, dass die schwere wirtschaftliche und politische Krise der osteuropäischen Staaten unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nicht gelöst werden könnten. Die Sowjetunion werde auch langfristig nicht in der Lage sein, zur wirtschaftlichen Wiederaufrichtung dieser Länder und zur Konsolidierung der politischen Systeme entsprechend Hilfe zu leisten, nur der Westen – und dies habe einen politischen Preis. Und die Möglichkeit einer militärischen Intervention in politisch und wirtschaftlich instabil werdenden Ländern sei nach Afghanistan unvorstellbar. In diesem Sinne könne die Bogomolow-Äußerung auch als ermutigendes Signal zur Fortsetzung der Reformprozesse in Ungarn aufgefasst werden. Aus den hiesigen Meinungen geht aber auch hervor, dass man in wichtigeren Fragen ab und zu Widersprüchlichkeiten meint, entdecken zu können. Als Beispiel wird erwähnt, dass der Regierungssprecher, während sich Handelsminister Tamás Beck für eine Annäherung an die EFTA einsetzte, einige Stunden später erklärte, die Frage sei nicht aktuell. Nach Meinung vieler würden in der Wirtschaft – im Gegensatz zur Politik – vorläufig noch immer die bremsenden Kräfte stärker zur Geltung kommen. Die in der Wirtschaft getroffenen Maßnahmen hätten – so die Meinung vieler – eine inflationäre und die Leistung bremsende Wirkung. Praktisch beginne sich eine der Situation nach 1968 ähnliche, „halbherzig“ durchgeführte Reformtätigkeit zu entfalten, mit dem Unterschied, dass die Führung auch kurzfristig die zerstörerischen Wirkungen noch schwerer „kalkulieren“ könne. Auf wirtschaftlicher Schiene verfüge sie nicht über ein angemessenes Instrumentarium, in Richtung der Bevölkerung müsse sie gleichzeitig aber die Verantwortung auf sich nehmen. Mehrere meinten, es biete eine große Chance, wenn man – auch im Rahmen eines kurzfristigen operativen Wirtschaftsprogramms – alle, eine wirkliche Marktwirtschaft behindernden Schranken beseitigen würde. Allgemeine Meinung ist allerdings, dass es zur von Grósz und Németh vertretenen Linie der Politik bzw. Wirtschaftspolitik vorerst keine sinnvolle Alternative gebe. Diese Linie müsse jetzt allerdings mit der Zeit um ihr Überleben kämpfen. Mit Genossen-Gruß Dr. István Horváth Quelle: Privatarchiv von Dr. István Horváth, ehemaliger ungarischer Botschafter in Bonn (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Dr. István Horváth, Budapest). Veröffentlicht in: István Horváth/ András Heltai, A magyar–német játszma. Emlékezés és dokumentumok [Die ungarisch-deutsche Partie. Erinnerung und Dokumente]. Budapest 2015, S. 238–241 (Dokument Nr. 30). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

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Dokument 25 Vorlage des ungarischen Justizministeriums bezüglich der Prinzipien für eine neue ungarische Verfassung, veröffentlicht am 23. Februar 1989 (gekürzt) Ende 1988 setzte die ungarische Regierung vor dem Hintergrund der sich dynamisierenden politischen Veränderungsprozesse die Frage der Verfassungsreform bzw. Ausarbeitung einer neuen Verfassung auf die politische Tagesordnung. Nachdem es bereits in den Jahren zuvor innerhalb des Justizministeriums zu intensiven Vorarbeiten gekommen war, konnte Justizminister Kálmán Kulcsár Ende Januar 1989 eine konzeptionelle Vorlage vorstellen. Diese wurde nach ihrer Annahme als Diskussionsgrundlage durch das Politbüro und durch die Regierung auch vom Zentralkomitee auf seiner Sitzung am 20./21. Februar 1989 einstimmig als Ausgangsbasis für die weitere Verfassungsarbeit akzeptiert. Die Vorlage beschäftigt sich eingangs mit den Grundfragen der Konzipierung einer neuen Verfassung und mit ihrer zukünftigen Präambel. Dann geht sie im Einzelnen auf die Grundprinzipien der zukünftigen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung Ungarns ein, wobei – unter anderem – die Fragen der Staatsform, der Rechtssetzung, des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft sowie der Grundprinzipien der politischen und wirtschaftlichen Ordnung thematisiert werden. Dann geht das Dokument auf die Menschen- und Bürgerrechte bzw. Bürgerpflichten sowie auf die wichtigsten zukünftigen zentralen politischen Institutionen (Parlament, Präsident der Republik, Verfassungsgericht, Rechnungshof und Ministerrat), auf das Justizwesen und auf die örtliche Selbstverwaltung ein. Abschließend befasst sich die Vorlage mit den Grundprinzipien des Wahlrechts und den Nationalsymbolen. Hinsichtlich der Staatsform schlägt die Konzeption vor, von einem „freien, demokratischen und sozialistischen Staat“ zu sprechen und die „sozialistische Gesellschaftsordnung“ bzw. den „Einfluss sozialistischer Gesellschafts- und Wirtschaftsziele“ als zukunftsweisende Prinzipien in die Verfassung aufzunehmen. Im Hinblick auf den Begriff „sozialistisch“ bringt die Vorlage allerdings eindeutig zum Ausdruck, dass dabei nicht an das bisherige starre, ideologisch-normative Sozialismusbild gedacht werde, sondern an ein radikal gewandeltes, reformistisches Modell des Sozialismus, dass auf den Prinzipien der Marktwirtschaft, des Pluralismus, der parlamentarischen Demokratie sowie der Gewaltenteilung und -kontrolle basieren sollte. Der Entwurf verwirft damit eindeutig die Prinzipien der auf der Einheit der Macht und dem Primat der Politik basierenden sozialistischen Verfassung von 1949 und orientiert sich offen an den konstitutionellen Grundsätzen und Strukturen der westlichen parlamentarischen Demokratien, insbesondere an denjenigen der Bundesrepublik Deutschland. Nach der Veröffentlichung der „Regelungsprinzipien“ in der Regierungszeitung „Magyar Hírlap“ (Ungarische Zeitung) am 23. Februar 1989 wurde das Dokument nach einer zweitägigen Diskussion im Parlament am 8./9. März 1989 von den Abgeordneten – einstimmig und ohne Änderungen – als Grundlage für die Arbeiten an einer neuen ungarischen Verfassung angenommen. Im Zuge der Verhandlungen am Nationalen Runden Tisch im Sommer 1989 flossen wesentliche Gedanken



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der Konzeption in die am 23. Oktober 1989 verkündeten Verfassungsänderungen bzw. in die Verfassung der Republik Ungarn (siehe Dokument 53) ein. *** Regelungsprinzipien für die Verfassung Ungarns 1. Grundfragen der Konzipierung a) In der politischen Öffentlichkeit wurde geraume Zeit darüber diskutiert, ob die Ausarbeitung einer neuen Verfassung notwendig sei, oder eher eine umfassende Modifikation der Verfassung aus dem Jahre 1949. Die wissenschaftliche Forschung dachte von Anfang an in den Kategorien einer neuen Verfassung. Die Summe der Erfahrungen bei der kritischen Überprüfung der Verfassung sprachen eindeutig für diesen Standpunkt. Seit 1949 hat sich nämlich in Ungarn das Sozialismusbild grundlegend gewandelt und ebenso die Auffassung von der Macht, der Art und Weise der Machtausübung und den Menschenrechten; außerdem haben tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur, in der Wirtschaft, in den Eigentumsverhältnissen und im Gefüge der politischen Institutionen stattgefunden, und es beginnen sich derzeit weitere Wandlungsprozesse zu entfalten. Mit all dem kann die alte Verfassung nicht mehr Schritt halten. Infolge der Verfassungsänderungen der vergangenen Jahrzehnte ist der geltende Text der Verfassung eklektisch geworden: Es bedarf also einer neu strukturierten Verfassung, die den gesellschaftlich-wirtschaftlichen Realitäten, wie sie Ende des 20. Jahrhunderts bestehen, Rechnung trägt und die unter Verwendung der jüngsten Ergebnis der Gesellschaftswissenschaften eine auf neuen theoretischen Grundlagen basierende, zeitgemäße und in ein einheitliches logisches System eingebettete Konzeption bietet. Die Prozesse, die seit der Parteikonferenz im Mai 1988 in Gang gekommen sind, erfordern auch unter politischen Gesichtspunkten die Konzipierung einer neuen Verfassung; hierin stimmen praktisch alle politischen Gruppierungen von Gewicht überein. b) Es sind sozialistische Verfassungen bekannt, die im Kern eher an politische Deklarationen erinnern, denn an ein Gesetz. Im Verlaufe der Vorbereitungsarbeiten für die Neukodifizierung trat völlige Übereinstimmung der Ansichten dahingehend zutage, dass der Grundgesetzcharakter unserer Verfassung – das heißt ihr Charakter als Rechtsnorm – stärker herausgestellt werden muss. Die Normgebung muss übersichtlich und allgemein verständlich sein, damit die Verfassung zum Allgemeingut aller Staatsbürger, zum integralen Bestandteil der staatsbürgerlichen Allgemeinbildung werden kann. Dementsprechend darf die Textfassung weder selbstzweckhaft in juristischer Fachsprache glänzen wollen, noch theoretisierend abstrakt sein.

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c) In engem Zusammenhang mit der vorangehenden Frage stehen die Reichweite der Normsetzung in der Verfassung, die Ausführlichkeit ihrer einzelnen Bestimmungen und deren Konkretheit. Nach allgemein herrschender Meinung sollte die neue Verfassung nicht den hohen Abstraktionsgrad des derzeit noch geltenden Textes beibehalten, sondern müsste konkreter gefasst sein, damit die Verfassungsnormen in breiterem Umfang unmittelbar – d. h. ohne Zwischenschaltung anderer Rechtsnormen – in der Rechtsanwendung zur Geltung kommen können. Diese Intention darf jedoch nicht zu Weitschweifigkeit und Umständlichkeit führen, zur „Überfrachtung“ des Grundgesetzes mit Detailbestimmungen. Es kann und sollte nicht die Zielsetzung sein, jede staatsrechtlich relevante Frage in der Verfassung und ausschließlich von der Verfassung regeln zu lassen. Auch in Zukunft werden in engem Kontext zur Verfassung stehende Gesetze von eminenter politischer Bedeutung notwendig sein, die zusammen mit der Verfassung die höherrangigen Normen des ungarischen öffentlichen Rechts darstellen. Diese sogenannten Gesetze mit Verfassungsrang (Verfassungsgesetze), die sich zum Teil auf die wichtigsten Staatsorgane beziehen, zum Teil die Beziehung zwischen dem Staat und den gesellschaftlichen Organisationen, zum Teil die individuellen und kollektiven staatsbürgerlichen Rechte regeln, sind sowohl von der Verfassung, als auch von den „einfachen“ Gesetzen, (wie etwa vom Montangesetz, dem Wassergesetz oder der Bauordnung) zu differenzieren. Die herausragende politische und verfassungsrechtliche Bedeutung der Gesetze dieser Art ist im Gesetzgebungsverfahren ebenfalls zum Ausdruck zu bringen (z. B. Annahme durch qualifizierte Mehrheit). […] d) Die neue Verfassung soll – unter Würdigung der gesamten Geschichte Ungarns – auf der Analyse der Entwicklungsprozesse aufbauen, die in die Zukunft weisen, und zwar so, dass sie von Dauer sein kann. Sie sollte der spontanen – mit der Verfassungsordnung und den im Grundgesetz festgelegten gesellschaftlichen Zielen in Übereinstimmung stehenden – Entwicklung der Eigentumsverhältnisse, des Wirtschaftssystems und des politischen Systems Raum lassen und nicht mit ungerechtfertigten Restriktionen die Entfaltung und Weiterentwicklung behindern. Sie soll die wirtschaftlichen und politischen Prozesse nur in dem Maße beschränken, in welchem dies der Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung unabdingbar macht. Bei der Ausarbeitung der Normen betreffend die bereits bestehenden Staatsorgane (Parlament, Räte, Ministerrat, Gerichte, Anwaltschaften) ist nach deren institutioneller und funktionaler Modernisierung zu streben. Daneben besteht Anlass, auch solche [neuen] Rechtsinstitute zu schaffen, die den Erfordernissen der Rechtsstaatlichkeit, der modernen Staatsorganisation entsprechen. Dies gilt sinngemäß als Leitlinie auch für die ideologischen Aussagen der Verfassung. In der Verfassung sollen die modernen, wissenschaftlich fundierten Prinzipien der sozialistischen Gesellschaftsordnung aufscheinen, ein



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„fertiges“ Sozialismusbild für den Alltagsgebrauch kann von der Verfassung jedoch nicht verlangt werden. e) Die prinzipiell-theoretischen Grundlagen, auf denen die neue Verfassung aufbaut, erfordern eine von der gegenwärtigen Verfassung abweichende Systematik, so unter anderem eine andere Kapitelfolge. Das Kapitel über die grundlegenden Rechte und Pflichten der Staatsbürger an den Anfang der Verfassung, vor das Kapitel über die Staatsorgane zu stellen, erscheint durchaus begründet. Darüber hinaus wären noch weitere Änderungen im Aufbau und in der Gliederung angebracht, die in der vorliegenden Konzeption noch nicht in vollem Umfang zum Tragen kommen. 2. Einleitung – Präambel Bei der Neuformulierung der Präambel ist mit der Auffassung der geltenden Verfassung zu brechen, nach der in der Geschichte des ungarischen Volkes der Staat stets nur ein Instrument der Klassenunterdrückung war, und eine [positive] Identifikation mit dem Staat und seiner Entwicklung daher erst seit der Befreiung möglich ist. Soll die Verfassung ihren Auftrag erfüllen, der Nation Zusammenhalt zu bieten und das Identitätsbewusstsein des Ungarntums zu stärken, muss die Präambel eine neue Auffassung von der Entwicklung der Staatlichkeit artikulieren, um – ohne die Vergangenheit zu negieren und auf die tradierten Werte zu verzichten, die Kontinuität der tausendjährigen Staatlichkeit Ungarn zu bewahren, und – gestützt auf die universellen Werte der Verfassungsentwicklung – zur Bestimmung der heutigen Gesellschaftsordnung und staatlichen Ziele zu gelangen. Die Präambel sollte klarstellen, dass Ungarn ein freier, demokratischer und sozialistischer Staat ist; sie soll darüber hinaus auf die Werte verweisen, welche die neue, auf den Bestrebungen der Arbeiterbewegung sich gründende Gesellschaftsordnung geschaffen hat. Zugleich soll der einleitende Teil auch ausführen, warum die Neuschöpfung der Verfassung notwendig geworden ist, und auf welchen wichtigsten Grundprinzipien die nachstehenden einzelnen Kapitel der Verfassung aufbauen. 3. Grundprinzipien der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Ordnung Ungarns Im Gegensatz zu Text und Inhalt der geltenden Verfassung kann in diesem Kapitel keine umfassende Regelung der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Ordnung angestrebt werden; anstelle dessen muss hier die Staatsform Ungarns bestimmt werden, und ist es notwendig, die Grundprinzipien anzuführen, welche die Art und Weise der Ausübung der Staatsgewalt, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft und das politische System insgesamt charakterisieren. Es wäre daher, angebracht, dieses Kapitel unter die Überschrift: „Die Grundprinzipien der gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Ordnung“ zu stellen.

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3.1. Ungarns Staatsform Was die Staatsform des Landes [und ihre Bezeichnung] betrifft, wurden mehrere Vorschläge gemacht: „Volksrepublik“, „Demokratische Republik“, „Sozialistische Republik“. Von unserem Standpunkt aus ist eine Änderung der gegenwärtigen Bezeichnung „Volksrepublik“ nicht begründet. 3.2. Der Ursprung der Staatsgewalt und der Modus ihrer Ausübung a) Als grundlegendes Prinzip ist in der Verfassung das Prinzip der Volkssouveränität festzulegen, das heißt, dass alle Gewalt ausschließlich vom Volke ausgeht und beim Volke liegt, welches sie zum Teil unmittelbar (in Form von Volksbegehren und Volksentscheid, von kollektivem Petition- und Beschwerderecht, von gesellschaftlichen Diskussionen), zum Teil über das institutionelle Gefüge des Staatsapparats ausübt. b) Als normatives Prinzip der Ausübung staatlicher Gewalt ist – in Verbindung mit dem Prinzip der Volkssouveränität – der Grundsatz der Gewaltenteilung festzuhalten, demgemäß das Parlament, der Präsident der Republik, der Ministerrat, die Verfassungsgerichtsbarkeit, die Gerichtsbarkeit, die Exekutivorgane der Verwaltung und die lokale Selbstverwaltung bestimmte Machtbefugnisse ausüben. Die Gewalten begrenzen und hemmen sich wechselseitig. Entsprechend diesem Grundsatz ist generell zu verbieten, dass einzelne staatliche Organe anderen Kompetenzen entziehen. (So kann z. B. das Parlament nicht nach Gutdünken dem Ministerrat oder den Gerichten die Kompetenzen entziehen.) 3.3. Die Rechtsetzung Eine Form der Ausübung der Staatsgewalt ist die Rechtsetzung. Die Befugnis der verschiedenen staatlichen Organe (Parlament, Präsident der Republik, Ministerrat, Minister, Räte) zur Rechtsetzung und die Rangfolge der Rechtsquellen untereinander werden sachnotwendig in den einschlägigen Kapiteln der Verfassung, die Verfahrensregeln der Rechtsetzung in einem gesonderten Gesetz geregelt. Einige Grundsätze der Rechtsetzung müssen – wegen ihrer prinzipiellen Bedeutung – bei den verfassungsmäßigen Prinzipien der Ausübung der Staatsgewalt festgehalten werden. So insbesondere: a) Gültigkeitsvoraussetzung einer Rechtsregel ist ihre Verkündung. b) Es ist eindeutig festzulegen, dass internationale Verträge mit ihrer Ratifizierung und Verkündung Teil des innerstaatlichen Rechts werden. c) Eine Rechtsregel niederen Rangs darf nicht in Widerspruch stehen zur Rechtsregel höheren Rangs. d) Die Organe der Rechtsetzung können Normen nur in ihrem Kompetenzbereich erlassen. e) Der Ministerpräsident und die Minister sind nicht befugt, ohne eine besondere, spezielle Ermächtigung Normen zu erlassen.



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f) Für die der Verkündung vorangehende Zeit kann eine Norm keine Verbindlichkeit beanspruchen und ein Verhalten nicht für rechtswidrig erklären. g) Wenn ein Organ der Rechtsanwendung eine Norm für verfassungswidrig oder rechtswidrig erachtet, soll es den Vollzug der Norm aussetzen und ein Verfahren beim Verfassungsgericht einleiten. 3.4. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft a) Fundamentales Prinzip des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft ist das Recht der Gesellschaftsmitglieder auf Selbstverwaltung. Die Selbstverwaltungsinstitutionen können auf der Grundlage des territorialen bzw. des fachlich-korporativen Organisationsprinzips geschaffen werden. Die Genossenschaften organisieren sich zur Wahrnehmung spezifischer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Aufgaben. Zur Garantie der Autonomie selbstverwalteter Institutionen ist es notwendig, in der Verfassung deren organisatorische und wirtschaftliche Selbstständigkeit festzulegen. So kann erreicht werden, dass die Selbstverwaltungskörperschaften und -anstalten Schranken der zentralen Staatsgewalt darstellen. b) Die Tätigkeit keines Staatsorgans bzw. keiner Organisation der Gesellschaft oder ihrer Mitglieder darf sich auf den ausschließlichen bzw. gewaltsamen Erwerb oder Besitz der Macht richten. Jedermann ist berechtigt und zugleich verpflichtet, gegen Bestrebungen dieser Art aktiv zu werden. c) Von entscheidender Bedeutung ist das Prinzip der Rechtsgleichheit. Es bedeutet die Gleichheit vor dem Gesetz, das Verbot der positiven und negativen Diskriminierung und hinsichtlich der Eigentumsformen das Prinzip der Sektorenneutralität. Das Verbot der positiven wie negativen Diskriminierung schließt jede Nichtgleichbehandlung aufgrund von Abstammung, Geschlecht, Rassen-, Religions-, Konfessions-, Volks- oder Nationalitätenzugehörigkeit aus. Das Prinzip der Sektorenneutralität schließt aus, dass die Rechtsetzung oder Rechtspraxis an bestimmte Eigentumsformen gebundene Vorteile gewährt oder Benachteiligungen verfügt. d) Als Verfassungsgrundsatz ist festzuhalten, dass es Ziel der Gesellschaft und Aufgabe des Staates ist, den Mitgliedern der Gesellschaft den Abbau von Chancenungleichheit zu gewährleisten. Der Staat hat deshalb besondere Sorge für die Unterstützung benachteiligter Gruppen und Personen und für die Entwicklung rückständiger Gebiete zu tragen. Ein Instrument des Abbaus von Chancenungleichheit ist die Gewährleistung sozialer Sicherheit als staatsbürgerliches Recht. Der Grundsatz der Rechtsgleichheit und das Prinzip des Abbaus der Chancenungleichheit können miteinander verschränkt werden. So bedeutet es z. B. eine Ausnahme vom Verbot der positiven Diskriminierung, wenn eine solche im Interesse des Abbaus von Chancenungleichheit geschieht. e) Das Prinzip, dass gesetzlich festgelegte Rechte und Pflichten ihrer gesellschaftlichen Bestimmung entsprechend ausgeübt werden sollen, ist in den

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Rang eines Verfassungsgrundsatzes zu heben. Auf der Grundlage des Prinzips der bestimmungsgemäßen Rechtsausübung ist es dem Staat und seinen Organen sowie den Staatsbürgern gleichermaßen verboten, Rechte zu missbrauchen. Jedermann darf seine Rechte nur derart ausüben, dass gesellschaftliches und individuelles Interesse ausgewogen sind. 3.5. Grundprinzipien der Außenpolitik Ungarns Bei den grundlegenden Verfassungsprinzipien müssen die wichtigsten Normen hinsichtlich der internationalen Beziehungen des Staates im Ganzen, der Mitglieder der Gesellschaft sowie deren Organisationen geregelt werden, die zugleich auch die Grundprinzipien der Außenpolitik der Ungarischen Volksrepublik sind. Die Organe von Staat und Gesellschaft sowie deren Mitglieder sind verpflichtet, a) die in den Grundlagendokumenten der UN enthaltenen Prinzipien und Bestimmungen; b) die allgemein gültigen, internationalen Erklärungen der Menschenrechte; c) die Prinzipien und Normen des Friedens, der Sicherheit und der Zusammenarbeit in Europa; d) die in den zwischenstaatlichen Verträgen Ungarns enthaltenen Bündnisverpflichtungen; e) das Interesse des ungarischen Volkes an der Förderung des allgemeinen menschlichen Fortschritts und an der internationalen Zusammenarbeit zum Wohle der Menschen zu achten und zu wahren. 3.6. Grundprinzipien des politischen Systems Im Zuge der Ordnung des politischen Systems ist es eine Frage von eminenter Bedeutung, ob die Partei bzw. die Parteien in der Verfassung überhaupt angesprochen werden. In diesem Zusammenhang ist es angezeigt, von folgendem auszugehen: a) Die marxistisch-leninistische Partei Ungarns ist nicht die führende Kraft der Gesellschaft, weil dies von der Verfassung postuliert wird, sondern deshalb, weil sie zu einer politisch immer aktiveren Partei wird, die nicht nur im Interesse des Volkes, sondern zusammen mit dem Volk Politik macht und die Staatsbürger von der Richtigkeit ihrer politischen Ziele überzeugt. Dementsprechend strebt die Partei nicht nach einer gesetzlich garantierten Hegemonialposition. b) Unter Berücksichtigung der politischen Bewegungen, die sich in Ungarn entfalten, ist mit großer Sicherheit die Ausbildung eines Mehrparteiensystems in absehbarer Zeit vorauszusagen; dem ist bei der Ausarbeitung der Verfassungsbestimmungen Rechnung zu tragen. c) Gleichzeitig ist für den Fall des Auftretens von Gruppierungen, die die im Grundgesetz festgelegte gesellschaftlich-politische Ordnung verletzen, eine Garantie für den Bestand der verfassungsmäßigen Ordnung zu schaffen.



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d) Es ist nicht die Aufgabe der Verfassung, das Mehrparteiensystem zu prok­ lamieren, die Verfassung darf jedoch – gemäß den Ausführungen über die Grundfragen der Konzipierung (Kapitel 1) – die natürliche Entwicklung des Systems der politischen Institutionen nicht behindern. Unter Berücksichtigung all dessen muss im Zusammenhang mit dem politischen System als Grundprinzip festgehalten werden, dass in Ungarn ausschließlich solche gesellschaftlichen Organisationen wirken dürfen, deren Ziele, Programme und Aktivitäten in Übereinstimmung mit der Verfassung stehen. Unter diesen Organisationen kommt der politischen Partei (den politischen Parteien) die Aufgabe zu, zur politischen Willensbildung des Volkes und deren Artikulation beizutragen bzw. als grundlegender Organisationsrahmen für die politische Partizipation zu dienen. […] 3.7. Grundlagen der Wirtschaftsordnung Ungarns Bei der Bestimmung der Wirtschaftsordnung ist es begründet, die Grundprinzipien der Wirtschaftsverfassung festzulegen, und zwar bei den Grundprinzipien der Gesellschaftsordnung. Bei den Grundprinzipien der Wirtschaftsverfassung müssen die der Eigentumsordnung, der staatlichen Wirtschaftspolitik und die Rechte der Wirtschaftssubjekte gesondert besprochen werden. Die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Arbeitnehmer – so das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf Arbeit und das Streikrecht – sollten ihrer Logik nach bei den Menschenrechten behandelt werden. 3.8. Grundprinzipien der Eigentumsordnung a) In der Verfassung muss ausgesprochen werden: In Ungarn sind das gemeinschaftliche Eigentum und das individuelle Eigentum anerkannte und gleichrangige Eigentumsformen. Zwischen ihnen bestehen keine starre Grenzen; Mischformen sind möglich. Ihre Aufzählung im Einzelnen ist daher nicht Aufgabe der Verfassung. Im Hinblick auf ihre Bedeutung können jedoch das staatliche und das genossenschaftliche Eigentum erwähnt werden. b) Als Grundprinzip muss notwendigerweise formuliert werden, dass ein ausschließliches Eigentumsrecht des Staates nur in Ausnahmefällen und nur im Hinblick auf solche Vermögensgegenstände begründet ist, wo dies der Schutz nationaler Interessen unabdingbar macht. Es ist zweckmäßig, den Bereich des ausschließlichen Staatseigentums und der ausschließlichen Wirtschaftstätigkeit des Staates in einem gesonderten Gesetz zu regeln. c) Die Qualität des Staates als Träger öffentlicher Gewalt ist konsequent von seiner Eigenschaft als Eigentümer zu separieren. d) Die Regelung des Erwerbs und der Ausübung des Eigentumsrechts ist in einem Gesetz zu bestimmen. e) Nicht staatliches Gemeineigentum und individuelles Eigentum können ausschließlich aus Gründen des Allgemeinwohls, in gesetzlich festgelegten Fällen und gegen Entschädigung enteignet werden.

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3.9. Die Grundprinzipien der staatlichen Wirtschaftspolitik a) Als Verfassungssatz ist festzuhalten: Die ungarische Wirtschaft ist eine dem Einfluss sozialistischer Gesellschafts- und Wirtschaftsziele ausgesetzte Marktwirtschaft, in der es die grundlegende Aufgabe staatlicher Wirtschaftspolitik ist, das wirtschaftliche Umfeld hinsichtlich seiner Anpassungsfähigkeit und hinsichtlich der Durchsetzung des Leistungsprinzips so auszugestalten, dass der Markt möglichst störungsfrei funktionieren kann. b) Als Verfassungsgrundsatz muss ausgesprochen werden: die Volkswirtschaftspläne sollen die wichtigsten gesellschaftlich-wirtschaftlichen Entwicklungsziele und die staatlichen wirtschaftspolitischen Aufgaben erhalten. Das Parlament setzt jährlich den Staatshaushalt fest, debattiert den Bericht über dessen Durchführung und verabschiedet ein Gesetz über dessen Bewilligung. c) Als Verfassungsauftrag ist vorzuschreiben, dass die wirtschaftspolitischen Entscheidungen besonders der Mehrung des Nationaleinkommens und -vermögens, der adäquaten Verwendung der öffentlichen Mittel, dem Schutz der natürlichen und der vom Menschen geschaffenen Umwelt, der Sicherung eines möglichst hohen Beschäftigungsniveaus, der Förderung der Unterstützung der Bedürftigen und der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit dienen sollen. d) Der Staat soll den Ausbau der internationalen Wirtschaftsbeziehungen fördern und in der Wirtschaft Sicherheit gewährleistende Bedingungen für den Einsatz ausländischen Kapitals in Ungarn garantieren. 3.10. Die Rechte der Wirtschaftssubjekte a) Den Wirtschaftssubjekten – Privatpersonen und wirtschaftlichen Organisationen – steht der Erwerb von Eigentum und die freie Verfügung darüber zu. Dieses Recht kann nur durch Gesetz und aus Gründen des Allgemeinwohls beschränkt werden. b) Die Wirtschaft funktioniert auf der Grundlage von selbstständigen Unternehmen und freiem Wettbewerb. Dementsprechend können die Wirtschaftssubjekte die von ihnen ausgeübte Wirtschaftstätigkeit und deren Organisationsform frei wählen. Auch diese Rechte können nur durch Gesetz und aus Gründen des Allgemeinwohls eingeschränkt werden. Der Staat kontrolliert die Einhaltung der Bestimmungen des wirtschaftlichen Wettbewerbs und bestraft deren Verletzung. 4. Die Menschenrechte und die staatsbürgerlichen Recht sowie die grundlegenden Pflichten Was die Systematik der Verfassung betrifft, so sollte der Katalog der Menschenrechte, der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten in einen selbstständigen Abschnitt zu stehen kommen. Abweichend von der gegenwärtigen Fassung muss dieses Kapitel



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unbedingt weiter nach vorn gestellt werden. Dass er grundlegende Werte beinhaltet, ist ebenso eindeutig klar zu stellen, wie dass die neue Verfassung das Gefüge und die Aufgaben der staatlichen Organe im Interesse einer Sicherung dieser Werte bestimmt. […] Aufgrund der Verpflichtungen, die der Ungarischen Volksrepublik daraus erwachsen, dass sie sich der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte angeschlossen hat, ist es angezeigt, die Rechte gemäß folgender Systematik zu gliedern: 4.1. Die Persönlichkeitsrechte Die Verfassung soll das Recht jedes Menschen (jeder, der Rechtshoheit des ungarischen Staates unterstehenden Person) anerkennen auf a) Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person und Menschenwürde; b) freie Entfaltung der Persönlichkeit; c) Rechtssubjektivität; d) Gleichheit vor dem Gesetz, vor Gericht oder einer anderen Behörde; e) seinen guten Ruf; f) die Unverletzlichkeit der privaten Geheimsphäre (Postsendungen, Fernsprecher, Privatgespräch) und der Privatwohnung; g) Schutz der persönlichen Daten. Auf Grund des verfassungsmäßigen Rechts auf Leben ist eine Erklärung zu erwägen, dass die Anwendung der Todesstrafe mit diesem Recht nicht vereinbar ist. 4.2. Die Freiheitsrechte Die Verfassung soll im Bereich der Freiheitsrechte das Recht jedes Menschen anerkennen auf a) Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; b) Pressefreiheit und die Freiheit der Meinungsäußerung; c) Versammlungsfreiheit (friedliche Versammlung); d) Vereins- und Koalitionsfreiheit; e) Zugehörigkeit zu einer nationalen, religiösen, sprachlichen Minderheit; f) Freiheit der Wissenschaft und der Kunst; g) Zugang zu Informationen von allgemeinem Interesse; h) freie Wahl des Aufenthaltsortes (Wahl des Wohnortes, Auswanderung, Rückkehr in den Heimatstaat, Repatriierung); i) Eigentum und Erbrecht; j) Eheschließung; k) im Falle von Rechtsverletzung oder Interessenverletzung auf Anrufung eines Gerichts oder einer anderen Behörde und auf Rechtsmitteleinlegung; l) im Falle von Verfolgung aus politischen, nationalen (ethnischen) sprachlichen, religiösen oder rassischen Gründen auf Beantragung von Asylrecht.

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4.3. Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte Im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte soll die Verfassung das Recht jedes Menschen anerkennen auf a) Arbeit, freie Wahl des Berufs und des Arbeitsplatzes; b) würdige und angemessene Arbeitsbedingungen, Streik; c) Freizeit und Erholung; d) staatliche Versorgung im Falle von Alter, Krankheit, Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit; e) körperliche und seelische Gesundheit; f) menschenwürdige Umwelt; g) Schutz der Familie; h) Unterricht und Bildung; i) Teilnahme am kulturellen Leben; h) Schutz des wissenschaftlichen und künstlerischen Werks. 4.4. Die staatsbürgerlichen Rechte Die Verfassung soll – auf der Grundlage von Artikel 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – unter Anwendung der Grundregel des Abstammungsprinzips und der ergänzenden Regel des Territorialprinzips das Recht auf ungarische Staatsbürgerschaft statuieren, ferner auf Änderung der Staatsangehörigkeit, und das Verbot einer willkürlichen Aberkennung der Staatsbürgerschaft sowie der Ausweisung eines ungarischen Staatsbürgers aus Ungarn aussprechen. Im Anschluss an die Grundrechte betreffend die Staatsbürgerschaft soll die Verfassung das Recht jedes ungarischen Staatsbürgers anerkennen auf a) Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten; b) Übernahme eines öffentlichen Amtes; c) das Wahlrecht; d) auf im Ausland von Ungarn zu gewährenden Schutz. 4.5. Die Nationalitätenrechte Die Nationalitätenrechte sind solche individuellen bzw. kollektiven Rechte, die ungarischen Staatsbürgern, die sich einer der in Ungarn lebenden Nationalitäten zugehörig bekennen, über die sonstigen, in der Verfassung allgemein garantierten Menschen- und Staatsbürgerrechte hinaus zustehen. Die Verfassung hat den aktiven Schutz der Minderheiten durch den Staat widerzuspiegeln und hat als kollektives Recht der Nationalitäten die Bewahrung und Entfaltung ihrer Nationalität anzuerkennen. Die grundlegenden Nationalitätenrechte (das Recht auf Gebrauch der Muttersprache vor Gerichten und Behörden, das Recht auf Unterricht und Information in der Muttersprache, das Recht, Beziehungen zur Mutternation, deren Organisationen und deren Staatsbürger zu unterhalten) müssen in der Verfassung geregelt werden, die Ausformung in einzelne Berechtigungen und die vom Staat zu erbringenden not-



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wendigen Voraussetzungen für die Geltendmachung dieser Rechte hingegen in einem gesonderten Gesetz. Ebenfalls auf Verfassungsebene sind die Rahmenbedingungen für die Gewährleistung des Interessenschutzes der Nationalitäten zu schaffen. Dies kann in Form der Bildung eines von den Nationalitäten gewählten Nationalitätenrates (als eines ständigen Organs der Regierung mit beratender und gutachtender Funktion) geschehen, ferner in der Form der Institution eines ebenfalls von den Nationalitäten gewählten Ombudsmanns (Beauftragten) für Nationalitätenangelegenheiten und Nationalitätenrechte, dessen Rechte und Pflichten den Bestimmungen über den Ombudsmann zum Schutz der staatsbürgerlichen Rechte [Bürgerbeauftragter] entsprechend geregelt werden sollten. (Die Wahl eines Ombudsmanns für Nationalitätenangelegenheiten kann auch dann begründet sein, wenn die Institution eines Ombudsmanns zum Schutz der staatsbürgerlichen Rechte [Bürgerbeauftragter] – gemäß den weiter unten skizzierten Varianten – nicht geschaffen wird.) 4.6. Die Verankerung der Rechte in der Verfassung In der neuen Verfassung ist besonderes Gewicht auf die Bestimmung der Garantien für die Rechte zu legen. Die wichtigste Garantie liegt – wie dies auch die internationalen Konventionen vorschreiben – darin, dass diese Rechte ausschließlich durch Gesetz und nur unter festgesetzten Bedingungen eingeschränkt werden dürfen. […] 4.7. Die staatsbürgerlichen Pflichten […] Wir empfehlen die verfassungsmäßige Regelung untenstehender staatsbürgerliche Pflichten: a) die Achtung vor dem Mitmenschen, der Familie und der Gesellschaft; b) die Pflicht zur Vaterlandsverteidigung, bei gleichzeitiger Garantie der Möglichkeit zum Militärdienst ohne Waffe bzw. zum Zivildienst; c) die Pflicht zum allgemeinen Schutz von Eigentum (Achtung und Schutz des gemeinschaftlichen und des individuellen Eigentums); d) den Schutz der Naturschätze und kulturellen Werte des Landes; e) die Schulpflicht (obligatorische Teilnahme am Unterricht in der Grundstufe); f) die Beteiligung an den öffentlichen Lasten. 5. Die territoriale Gliederung des Staates In der Verfassung ist die territoriale Gliederung des Staates festzuhalten: Das Staatsgebiet Ungarns gliedert sich in die Hauptstadt, Komitate, Städte und Gemeinden; die Hauptstadt und die größeren Städte können in Bezirke untergliedert werden. Es ist notwendig auch darauf zu verweisen, dass die Festsetzung der Gebietseinheiten des Landes und der Hauptstadt durch Gesetz geregelt wird.

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6. Das Parlament Das Parlament ist Träger fundamental wichtiger, ihm auf der Grundlage des Prinzips der Volkssouveränität übertragener Rechte. Die Gesamtheit der aus der Volkssouveränität abgeleiteten Rechte liegt jedoch keinesfalls bei ihm und wird nicht ausschließlich von ihm ausgeübt. Notwendig ist eine wirkliche Macht verkörpernde, regelmäßig arbeitende Versammlung, die jedoch die operative Lenkung des Staatslebens nicht als ihre Aufgabe betrachtet – und nach den Bestimmungen der Verfassung auch nicht betrachten kann. Durch Regelungen hinsichtlich der Organisation des Parlaments bzw. des Wahlsystems kann gewährleistet werden, dass die Interessengruppen, die in der Gesellschaft vorhanden sind, repräsentiert werden. […] Gemäß dem oben Ausgeführten hat als grundlegendes Ordnungsprinzip zu gelten, dass das Parlament allein die ihm von der Verfassung garantierten Befugnisse wahrnimmt und den verfassungsmäßigen Kompetenzbereich anderer Organe – z. B. des Ministerrats – nicht an sich ziehen darf. Dementsprechend erscheint im Vergleich zur gegenwärtigen realen und rechtlichen Situation einerseits die Erweiterung des Kompetenzbereichs des Parlaments in bestimmten Fragen, andererseits in bestimmter Hinsicht wiederum eine Kompetenzeinengung begründet. Wichtigste Aufgabe des Parlaments ist die Rechtschöpfung. Damit das Parlament diese Rolle vollständig ausfüllen kann, müssen die Gegenstände der Gesetzgebung festgesetzt werden, d. h. jene Lebensverhältnisse, Fragen, über die primär das Gesetz Bestimmungen treffen kann; des Weiteren ist es notwendig, unter diesen die Gegenstandsbereiche hervorzuheben, für die Gesetze mit Verfassungsrang anstehen. […] Über die Aufgaben der Gesetzgebung und der Entscheidung in Personalfragen hinaus, bestimmt das Parlament die Hauptrichtung der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik, kontrolliert die Tätigkeit der Regierung, versieht seine wichtigsten Aufgaben im Bereich der internationalen Beziehungen und ordnet im Bedarfsfall die Volksabstimmung an. […] 7. Der Präsident der Republik Zur Wahrnehmung der Aufgaben des Staatsoberhaupts ist an Stelle des Präsidialrats der Volksrepublik (kollektives Staatsoberhaupt) die Institution des Staatsoberhaupts in einer Person, das Amt des Präsidenten der Republik (im weiteren der Präsident) zu schaffen. […] Mit der Schaffung dieses Amtes würde sich die öffentlich-rechtliche Stellung des Parlaments nicht verändern, das auch im weiteren das oberste Organ der Staatsgewalt, der Volksvertretung und der Gesetzgebung bliebe. Der Präsident stünde an der Spitze der Republik und würde die Rechte des Staatsoberhauptes ausüben. […] Nach unserem Vorschlag sollte eine Präsidialmacht mittlerer Stärke geschaffen werden, deshalb weisen die Lösungen, die in diesem bzw. den übrigen Abschnitten vorgeschlagen werden, in diese Richtung. […]



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Wird der Präsident als ein starker oder mittlerer Machtfaktor in der Staatsorganisation bestimmt, ist es begründet, dass ihn die Wahlbürger unmittelbar wählen. Die Amtsdauer sollte sechs bis sieben Jahre betragen, eine Wiederwahl auf zwei Amtsperioden beschränkt werden. Zum Präsidenten kann jeder ungarische Staatsbürger gewählt werden, der das 40. Lebensjahr vollendet hat und das Wahlrecht besitzt. […] Der Präsident kann nicht Mitglied des Parlaments oder einer anderen staatlichen Repräsentativkörperschaft, der Regierung oder des Verfassungsgerichts sein, kann kein anderes staatliches Amt ausüben, darf nicht Richter sein, kein führendes Parteiamt innehaben und nicht Mitglied des Führungsgremiums irgendeiner Partei sein. […] 8. Das Verfassungsgericht […] Einen besonderen Teil des Schutzes der Verfassung stellt das Verfassungsgericht dar, das seine Aufgabe nur dann erfüllen kann, wenn es gesondert von der traditionellen Organisation der Rechtspflege als eigenständiges Gremium errichtet wird bzw. arbeitet, und seine Richter vom Parlament gewählt werden. Das Verfassungsgericht entscheidet in den ihm vorgelegten Fällen in erster und zugleich letzter Instanz. Es besteht aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten, den Richtern und dem ihm zugeordneten Behördenapparat. […] Hauptbefugnis des Verfassungsgerichts ist die nachträgliche Normenkontrolle. Im Falle der Feststellung einer Verfassungswidrigkeit setzt es den Vollzug eines förmlichen Gesetzes aus, erklärt eine Rechtsnorm niedrigen Rangs für ungültig. Im Falle der Aussetzung entscheidet das Parlament auf seiner nächsten regulären Sitzung mit qualifizierter Mehrheit über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. […] Auf Antrag des Parlaments oder des Präsidenten der Republik kann das Verfassungsgericht auch vor der Verkündung eines Gesetzes zu dessen Vereinbarkeit mit der Verfassung Stellung nehmen, des gleichen zur Übereinstimmung solcher internationaleren Verträge mit dem ungarischen Rechtssystem, deren Verkündung nicht per Gesetz geschieht. Das Verfassungsgericht kann eine Verletzung der Verfassung auch dergestalt feststellen, dass verabsäumt wurde, die im Interesse der Erfüllung der Verfassung notwendigen Normen zu erlassen, und kann das betreffende Rechtsetzungsorgan zur Verabschiedung der Rechtsnorm aufrufen. Zu seinem Kompetenzbereich können ferner gehören: Der Schutz der in der Verfassung verbürgten Grundrechte; die Registrierung der politischen Parteien, die nachträgliche Feststellung von deren verfassungswidriger Tätigkeit, im Bedarfsfall ihre Auflösung; die authentische Auslegung der Verfassung; die Mitwirkung am Strafverfahren gegen den Präsidenten der Republik; die Aufsicht über die Wahlen und die Volksabstimmung; des Weiteren die Entscheidung von Kompetenzstreitigkeiten zwischen den staatlichen Organen verschiedenen Typs. […]

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9. Der Staatliche Rechnungshof […] Hauptaufgabe des Obersten Rechnungshofs ist die Kontrolle der Durchführung des Haushalts und der Verwendung des Staatsvermögens, sowie die Mitwirkung an der parlamentarischen Kontrolle der wirtschaftspolitischen Tätigkeit der Regierung. […] 10. Der Ministerrat […] Der Ministerrat setzt sich aus dem Ministerpräsidenten, den Staatsministern und den Ministern zusammen. […] Um zu garantieren, dass das Verbot des Kompetenzentzugs auch in der Beziehung zwischen Parlament und Ministerrat zur Geltung kommt, ist die verfassungsmäßige Festlegung der Aufgaben und Befugnisse des Ministerrats von Bedeutung. Es ist angebracht, folgende Bestimmungen allgemeinen Charakters in die Verfassung aufzunehmen: Der Ministerrat a) bestimmt und leitet im Rahmen des vom Parlament bewilligten Regierungsprogramms die allgemeine Politik des Staates und trägt dafür die Verantwortung; b) leitet im Geiste der allgemeinen Politik des Staates, innerhalb des gesetzlich bestimmten Rahmens die öffentliche Verwaltung; c) schützt und sichert die staatliche und gesellschaftliche Ordnung; d) arbeitet die Wirtschaftspolitik des Staates aus und sorgt für die Durchführung des vom Parlament bewilligten Volkswirtschaftsplans und Staatshaushalts; e) bestimmt im Rahmen seiner gesetzlich festgelegten Kompetenzen die Regulierung der Wirtschaft; f) trifft im Rahmen seiner gesetzlich festgelegten Kompetenzen Maßnahmen und Anordnungen über Eingriffe ins Wirtschaftsleben, setzt die Voraussetzungen hierfür fest und lenkt die hierauf gerichtete Tätigkeit der Staatsverwaltungsorgane; g) regelt und leitet die angemessene Nutzung des staatlichen Vermögens; h) sorgt in seinem gesetzlich bestimmten Kompetenzbereich für die Wahrnehmung der Aufgaben der Sozialversicherung; i) sorgt für die Ausführung der Gesetze; j) koordiniert die wirtschaftliche, kulturelle und soziale Tätigkeit des Staates; k) lenkt die Außenpolitik des Landes; l) lenkt die Landesverteidigung, bestimmt deren Generallinie; m) koordiniert die Tätigkeit der Minister und der Staatssekretäre; n) arbeitet mit den gesellschaftlichen Organisationen zusammen, deren Tätigkeit für die allgemeine Politik des Staates von Bedeutung ist oder mehrere



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Verwaltungszweige berührt, und bestimmt im Einvernehmen mit den betroffenen gesellschaftlichen Organisationen die Bereiche und Formen dieser Zusammenarbeit. […] Der Ministerpräsident leitet die Tätigkeit der Regierung. Er vertritt offiziell die Regierung. […] Es ist die Pflicht des Ministerpräsidenten, die Regierung zu bilden und diese dem Parlament vorzustellen (in einer anderen Variante: einen Vorschlag für die Zusammensetzung der Regierung zu unterbreiten) sowie das Regierungsprogramm vorzulegen. Dem Ministerpräsidenten steht das Recht zur Gesetzesinitiative in jedem Sachbereich zu. Der Ministerpräsident kann von Fall zu Fall ein Mitglied der Regierung nach seiner Wahl mit einzelnen in seinen Kompetenzbereich gehörenden Aufgaben betrauen. Der Ministerpräsident kann in Wahrnehmung seiner Aufgaben Verordnungen erlassen, deren Inhalt nicht in Widerspruch zu den Rechtsnormen höheren Ranges stehen darf. […] 11. Die Rechtspflege Es ist Voraussetzung der Rechtsstaatlichkeit, dass die Rechtspflege ausschließlich von den Gerichten ausgeübt wird. Die Kapitelüberschrift „Die Rechtspflege“ drückt das Bestreben aus, in Zukunft die Rechtspflege ausschließlich den förmlichen Gerichten vorzubehalten. Da die Verfassung nicht alle Einzelnormen zur richterlichen Gewalt enthalten kann, ist es gerechtfertigt, in der Verfassung selbst darauf zu verweisen, dass die detaillierten Regelungen der Gerichtsverfassung durch ein besonderes Gesetz mit Verfassungsrang – das Gesetz über die Gerichte festgesetzt werden. […] Die Verfassung muss die verschiedenen Elemente des Systems der Gerichtsorganisation bestimmen, d. h. welche Gerichte auf welcher Ebene die Rechtspflege ausüben. Die Ausgestaltung der Gerichtsorganisation hängt auch davon ab, wie die Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie die Arbeits- und Militärgerichtsbarkeit in das System der Rechtspflege eingebaut werden, bzw. wie das Rechtsmittelsystem im Straf- und im Zivilverfahrensrecht gestaltet wird. […] Es ist notwendig, in der Verfassung festzuhalten, dass der Richter in der Ausübung seines Richteramtes unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen ist. Die persönlichen und organisatorischen Garantien hierfür müssen ebenfalls in der Verfassung enthalten sein. An erster Stelle muss ausgesprochen sein, dass die Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit gesetzlich streng geahndet wird. […] Folgende Prinzipien der Rechtsprechung müssen in die Verfassung aufgenommen werden: a) das Prinzip des rechtlichen Gehörs beider Seiten; b) das Prinzip der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit; c) der Gebrauch der Muttersprache (die Sprache der gerichtlichen Verfahren ist das Ungarische; wegen der Nichtbeherrschung des Ungarischen darf jedoch

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niemandem ein Nachteil erwachsen; im gerichtlichen Verfahren kann jedermann seine Muttersprache verwenden); d) das Prinzip der freien Beweisführung und der freien Beweiswürdigung; e) die Öffentlichkeit der gerichtlichen Verhandlung (von dieser allgemeinen Regel kann das Gesetz aus übergeordneten Gründen eine Ausnahme machen); f) der Anspruch auf Vertretung bzw. in Strafverfahren auf Verteidigung. […] 12. Die Staatsanwaltschaft […] Davon ausgehend, dass die Staatsanwaltschaft nur über Befugnisse im Zusammenhang mit dem Strafverfahren verfügen würde, und von diesen auch einige mit der Schaffung der Institution des Untersuchungsrichters sowie des Amts eines Generalinspekteurs der Strafvollzugsanstalten überflüssig würden, der Untersuchungsrichter würde die Aufsicht über die Gesetzlichkeit der Ermittlung führen bzw. in bestimmten Fällen selbst ermitteln und bei Gericht amtieren; der Generalinspekteur würde – vollständig separiert von der Organisation des Strafvollzugs, in direkter Unterstellung unter den Justizminister – mit weit gefassten Aufsichtsbefugnissen ausgestattet), bestünde kein Bedarf für einen selbstständigen Apparat der Staatsanwaltschaft. Der Generalstaatsanwalt wäre als einer der Stellvertreter des Justizministers tätig, und die Staatsanwaltschaft hätte im Wesentlichen nur die Aufgabe der Anklagevertretung wahrzunehmen. […] 13. Die Räte Die Repräsentativorgane der lokalen (regionalen, territorialen) Selbstverwaltung sind die Räte. Eine umfassende, zeitgemäße Neuregelung der Verfassungsbestimmungen über die Räte ist unerlässlich für eine Dezentralisierung der Macht sowie dafür, dass das autonome Handeln der Staatsbürger wirksamer miteinbezogen wird in die Bewältigung lokaler öffentlicher Aufgaben. Daher muss auch die neue Verfassung ein gesondertes Kapitel über die Räte bzw. die regionale Selbstverwaltung enthalten, und wäre es angebracht, in dieses Kapitel auch die Bestimmungen über die kommunalen Rätewahlen aufzunehmen. Zur Ausführung der allgemeinen Verfassungsbestimmungen über die Räte sollen Gesetze dienen, unter anderem das Rätegesetz, das als Gesetz mit Verfassungsrang zu konzipieren ist, bzw. möglicherweise zwei für die Kommunalund die Regionalebene unterschiedliche Gesetze über die Räte. […] Die Einwohner der Kommunen nehmen einerseits mittelbar über die Räte als Selbstverwaltungsorgane, andererseits – in Angelegenheiten von herausragender Wichtigkeit – unmittelbar über den Volksentscheid (Referendum) an der Wahrnehmung der örtlichen öffentlichen Aufgaben teil. Der Rat übt seine Selbstverwaltungsrechte und -pflichten, seine Aufgaben und Befugnisse in seinem territorialen Zuständigkeitsbereich aus und regelt bzw. lenkt



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und kontrolliert die in seinen Verantwortungsbereich fallenden öffentlichen Angelegenheiten. Er übt seine Tätigkeit im Rahmen der zentralen normativen Lenkung aus; entsprechend den Rechtsvorschriften nimmt er auch Behördenfunktionen wahr. […] Es ist notwendig, in der Verfassung zu statuieren, dass der Rat in seinem Wirkungsbereich jede öffentliche Aufgabe wahrnehmen kann, die nicht durch gesetzliche Bestimmung in den Aufgaben-und Kompetenzbereich eines anderen Organs fällt. Obligatorisch wahrzunehmende Aufgaben und Kompetenzen wiederum können dem Rat nur durch Gesetz zugewiesen werden. In den Bereichen solcher – mit der Versorgung der Bevölkerung zusammenhängenden Pflichtaufgaben ist der Rat für die Versorgung verantwortlich, in anderen Aufgabenbereichen, die für die Bevölkerung von Interesse sind, trägt der örtliche Rat seinen Möglichkeiten entsprechend zur Versorgung und Bereitstellung von Dienstleistungen bei, stützt sich aber in großem Maße auf den materiellen Beitrag der betroffenen Bevölkerung. Vor zentralen Entscheidungen, die einen weiten Kreis örtlicher Räte betreffen, sind die betroffenen Räte bzw. deren Interessenvertretungsorgane zu hören. Grundlegende Aufgaben und Befugnisse der Räte sind: die Artikulation und Vertretung der Interessen der Bevölkerung, die Gebiets- und Siedlungsentwicklung, die Organisation der Versorgung und der Dienstleistungen für die Bevölkerung, die Mitwirkung an der Sicherung der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. In Wahrnehmung seiner Aufgaben schafft und lenkt der Rat die notwendigen Einrichtungen, arbeitet mit den staatlichen Organen außerhalb der Räte sowie den Kollektiven der Bevölkerung zusammen. Aufgrund der Ermächtigung durch Gesetz oder Ministerratsverordnung erlassen die Räte Verordnungen zur Festsetzung von detaillierten, den örtlichen Gegebenheiten entsprechenden Regelungen oder Bestimmungen über – durch Rechtsnormen höheren Rangs nicht geregelte – gesellschaftliche Verhältnisse. […] 14. Grundsätze des Wahlrechts […] Bei den grundlegenden Normen des Wahlsystems muss ausgeführt werden: a) jeder volljährige Ungar und jede volljährige Ungarin kann wählen und ist wählbar; b) kein Wahlrecht hat, wer – geisteskrank ist, – wem das Gericht die staatsbürgerlichen Rechte entzogen hat, – wer eine Freiheitsstrafe verbüßt; c) das Wahlrecht ist allgemein und gleich; die Wahl ist geheim und kann gemäß den in der Verfassung festgelegten Bedingungen direkt oder indirekt erfolgen; d) jeder Wahlberechtigte hat eine Stimme; das Wahlrecht kann nur persönlich ausgeübt werden; e) den Wahlbürgern und ihren Kollektiven (Organisationen) steht gemäß den Bestimmungen des Wahlgesetzes das Recht der Kandidatennominierung zu;

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f) bei Einwendungen im Zusammenhang mit dem Wahlrecht entscheidet das Gericht; g) die Wahlbürger haben das Recht, von den von ihnen gewählten Abgeordneten, Ratsmitgliedern, Ratsvorsitzenden Rechenschaftslegung zu fordern und sie abzuberufen. […] 15. Die nationalen Symbole des Landes In diesem Kapitel sind Bestimmungen zu treffen über das Wappen, die Flagge und die Hauptstadt des Landes sowie über die übrigen Symbole, die für das Identitätsbewusstsein der Nation stehen. Als solche kommen in Betracht: die Hymne, [...] außerdem – nicht als königliche Insignien oder religiöse Reliquien, sondern als exemplarische materielle Zeugnisse unserer historischen Vergangenheit – die Krone, das Zepter, der Reichsapfel, der Mantel und „Die Heilige Rechte“. Es sprächen gute Gründe dafür, das gegenwärtige Landeswappen – das keinerlei Tradition hat – zu verändern und ein die ungarische Staatlichkeit besser symbolisierendes neues Wappen zu schaffen oder auf eines der früher gebrauchten Wappen zurückzugreifen. Als mögliche Varianten empfehlen die Heraldiker zum einen das mehr als sechshundert Jahre alte sogenannte Kronenwappen, welches niemals das Königtum, sondern den Staat symbolisierte, zum anderen das Kossuth-Wappen, welches viermal für kurze Zeit als Symbol des Staates diente. Unter rein wappenkundlichen Gesichtspunkten wäre die Annahme der ersten Variante angemessen. […] Quelle: Magyar Hírlap, 23. Februar 1989, S. 7–13. Ungekürzt veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Kathrin Sitzler, Die Konzeption einer neuen ungarischen Verfassung (Dokumentation). In: Südosteuropa 38 (1989), H. 7/8, S. 449–486; Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herderinstitut.de/go/UV-9739b8 (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Kathrin Sitzler

Dokument 26 Gesetz Nr. VII des Jahres 1989 über den Streik, verabschiedet vom ungarischen Parlament am 22. März 1989 Nachdem die ungarische Führung bereits unter Ministerpräsident Károly Grósz in der Absicht, die unterschiedlichen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Interessenlagen in der Bevölkerung offenzulegen, den Gedanken an die Gewährung eines Streikrechts aufgeworfen hatte und es bereits zu illegalen Streiks (z. B. Bergarbeiterstreik im MecsekGebirge im südungarischen Komitat Baranya am 23./24. August 1988) gekommen war,



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verabschiedete das ungarische Parlament am 22. März 1989 ein Streikgesetz, das mit seiner Verkündung am 12. April 1989 in Kraft trat. Im Rahmen dieses Gesetzes, das von der Regierung und dem Landesrat der Gewerkschaften (SZOT) ausgehandelt wurde, werden insbesondere die – bis dahin in der Volksrepublik Ungarn nicht gegebenen – Möglichkeiten, einen Streik zu initiieren, sowie die Frage nach der Rechtmäßigkeit bzw. Widerrechtlichkeit eines Streiks bzw. ihrer Feststellung geregelt. Das Gesetz bildete eine weitere wichtige Grundlage für die Umsetzung des politischen und ökonomischen Transformationsprozesses in Ungarn und einen Gradmesser für den Fortschritt des politischen Pluralisierungsprozesses. *** Gesetz Nr. VII des Jahres 1989 über den Streik § 1 (1) Den Arbeitnehmern steht zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessen – gemäß den in diesem Gesetz festgelegten Bedingungen – das Recht auf Streik zu. (2) Die Teilnahme an einem Streik ist freiwillig, niemand darf dazu gezwungen werden, daran teilzunehmen bzw. sich der Teilnahme zu enthalten. Gegenüber den an einem legalen Streik teilnehmenden Arbeitnehmern darf nicht mit Zwangsmitteln zur Beendigung der Arbeitseinstellung aufgetreten werden. (3) Bei der Ausübung des Streikrechts müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammenarbeiten. Ein Missbrauch des Streikrechts ist verboten. (4) Den Gewerkschaften steht das Recht, einen Solidaritätsstreik zu initiieren, zu. Im Falle eines Solidaritätsstreiks ist eine vorhergehende Schlichtung (§ 2, Abs. 1) nicht notwendig. § 2 (1) Ein Streik kann initiiert werden, wenn a) das Schlichtungsverfahren in der umstrittenen Frage (Arbeitsgesetz § 66/A, Abs. 2–5) innerhalb von sieben Tagen zu keinem Ergebnis führt oder b) das Schlichtungsverfahren aus Gründen, die dem Initiator nicht anzulasten sind, nicht zustande kommt. (2) Wenn der von der Streikforderung betroffene Arbeitgeber nicht festzustellen ist, dann entscheidet der Ministerrat innerhalb von fünf Tagen über seinen am Schlichtungsverfahren teilnehmenden Vertreter. Im Falle eines Streiks, der mehrere Arbeitgeber betrifft, sind sie – auf Antrag – verpflichtet, Vertreter zu bestimmen. (3) Während der Zeit der in den Absätzen 1 und 2 erwähnten Schlichtung kann zu einer Gelegenheit ein Streik abgehalten werden, seine Dauer darf allerdings zwei Stunden nicht übersteigen. § 3 (1) Der Streik ist widerrechtlich: a) im Falle der Nichteinhaltung der Bestimmungen von § 1, Abs. 1 und § 2, Abs. 1, b) im Falle eines Ziels, das nicht mit der Verfassung vereinbar ist,

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c) im Falle einer individuellen Maßnahme oder Unterlassung des Arbeitgebers, deren Abänderung in den Kompetenzbereich eines Gerichts gehört, d) zur Änderung einer Vereinbarung, die in einem Tarifvertrag festgehalten ist, während der Geltungsdauer des Vertrags. (2) Bei den Organen der Rechtsprechung, bei den Streitkräften, bei den bewaffneten Körperschaften und bei den Ordnungskräften gibt es keine Möglichkeit zu einem Streik. Bei den Organen der Staatsverwaltung kann das Streikrecht entsprechend den spezifischen Bestimmungen, die in einer Vereinbarung des Ministerrats und der betroffenen Gewerkschaft festgehalten sind, ausgeübt werden. (3) Es gibt keine Möglichkeit für einen Streik, wenn dieser das Leben, die Gesundheit, die körperliche Unversehrtheit oder die Umwelt unmittelbar und stark gefährdet oder die Abwehr von Elementarschäden behindert. § 4 (1) Während des Streiks setzen die Seiten mit ihren gegensätzlichen Interessen die Schlichtungsgespräche zur Überwindung der strittigen Fragen fort und sind verpflichtet, für Personen- und Vermögensschutz zu sorgen. (2) Bei Arbeitgebern, die Aufgaben verrichten, die die Bevölkerung in grundlegender Weise betreffen, so insbesondere auf dem Gebiet des öffentlichen Massenverkehrs und des Fernmeldewesens sowie außerdem bei Körperschaften, die für die Strom-, Wasser-, Gas- und sonstige Energieverwaltung zuständig sind, darf der Streik nur so ausgeübt werden, dass dadurch eine noch hinreichende Versorgungsleistung nicht verhindert wird. Das Ausmaß der Leistung und ihre Bedingungen bilden Gegenstand der Schlichtung vor dem Streik. § 5 (1) Um eine Feststellung der Rechtmäßigkeit bzw. Unrechtmäßigkeit eines Streiks (§ 3) kann derjenige ersuchen, der ein juristisches Interesse an der Feststellung der Rechtmäßigkeit bzw. Unrechtmäßigkeit hat. Der Antrag muss bei demjenigen Arbeitsgericht eingereicht werden, das gemäß dem Sitz (Wohnort) des Antragstellers zuständig ist. Wenn die Feststellung der Rechtmäßigkeit bzw. Unrechtmäßigkeit eines Streiks mehrere Arbeitsgerichte betrifft, dann ist das Hauptstädtische Arbeitsgericht für die Entscheidung des Antrags zuständig. (2) Das Arbeitsgericht entscheidet innerhalb von fünf Tagen in einem Verfahren ohne Prozess, falls notwendig, nach Anhörung der Parteien. Gegen das Urteil kann Einspruch erhoben werden. § 6 (1) Die Initiative zu einem Streik bzw. die Teilnahme an einem rechtmäßigen Streik gilt nicht als Verletzung von Pflichten, die aus dem Arbeitsverhältnis hervorgehen. Deswegen darf gegenüber dem Arbeitnehmer keine nachteilige Maßnahme getroffen werden. (2) Arbeitnehmer, die an einem rechtmäßigen Streik teilnehmen, stehen – mit Ausnahme der in Absatz 3 festgehaltenen Bestimmung – die aus dem Arbeitsverhältnis hervorgehenden Rechte zu. (3) Für die Arbeitszeit, die wegen des Streiks ausfällt, stehen dem Arbeitnehmer – wenn nicht anders vereinbart – keine Bezahlung und keine andere, für die Arbeit gebührende Leistungen zu.



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(4) Für die mit dem Arbeitsverhältnis verbundenen Sozialversicherungsrechte und -pflichten sind die Rechtsnormen der Sozialversicherung maßgeblich, wobei die Dauer eines rechtmäßigen Streiks als Dienstzeit berücksichtigt werden muss. § 7 (1) Dieses Gesetz tritt am Tage seiner Verkündung in Kraft. (2) § 70 von Verordnung Nr. 18 des Jahres 1979 über die gerichtliche Vollstreckung wird um folgenden Absatz 5 ergänzt: „§ 70 (5) Die im Streikfonds einer Gewerkschaft verwahrte Summe ist von der Vollstreckung befreit.“ Quelle: Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 22, 12. April 1989, S. 431–432. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UW-ca9a89 (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 27 Bericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest an das Auswärtige Amt vom 29. März 1989 über die Einführung des Streikrechts in Ungarn Eine Woche nach der Verabschiedung des Streikgesetzes (siehe Dokument 26) im ungarischen Parlament verfasste der bundesdeutsche Botschafter in Budapest Alexander Arnot einen Bericht über das ungarische Streikrecht für das Auswärtige Amt. Darin geht Arnot auf die wesentlichen Bestimmungen des Gesetzes ein und äußert seine Einschätzung, dass dem Streikrecht eine gesellschaftliche „Ventilfunktion“ zukommen solle und es vor dem Hintergrund der äußerst angespannten Wirtschaftslage zu einem „vermehrten streikbedingten Arbeitsausfall“, den die Regierung aber in Kauf nehme, führen könne. Offenbar mit Blick auf zukünftige Investitionen deutscher Unternehmen in Ungarn lässt Arnot seinen Bericht auch dem Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft zukommen. *** […]43 Zur Unterrichtung 1. Das ungarische Parlament verabschiedete am 22.03.1989 fast einstimmig ein in der Geschichte des sozialistischen Ungarn bisher unbekanntes Streikrecht. Der von den

43  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.

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Volksvertretern angenommene Entwurf basiert auf einem von Regierung und Gewerkschaften ausgehandelten Kompromiss. Entgegen dem ursprünglichen Regierungsentwurf sieht er die Möglichkeit des Solidaritätsstreiks vor. Das relativ umfassende neue Streikrecht wird lediglich für den öffentlichen Dienst und das Gesundheitswesen eingeschränkt, um deren Funktionsfähigkeit zu gewährleisten. Berechtigt zur Initiierung eines Streiks sind sowohl Gewerkschaften als auch Arbeitnehmer. Streikende wie Organisatoren von Streiks werden durch das neue Gesetz vor Repressalien und Benachteiligungen geschützt. Gesetzwidrige Streiks werden mit Sanktionen belegt; politische Streiks sind nicht statthaft. Das Gesetz ermöglicht grundsätzlich die Lohnfortzahlung und die Einrichtung eines Streikfonds, der vertraulich behandelt werden und damit der Besteuerung enthoben sein soll. Die Urabstimmung kann geheim sein, es besteht jedoch dazu keine Verpflichtung. 2. Der Vorsitzende des Staatlichen Amtes für Arbeit und Löhne, Staatssekretär Csaba Halmos, erklärte bei der Präsentation des Gesetzentwurfs vor dem Parlament, dass die Regierung kein Streikrecht einschränkender Natur wünsche. Streiks seien nicht Ursache, sondern Folge von ökonomischen Spannungen und ein übertrieben eingeschränktes Streikrecht würde diese Spannungen eher verschärfen. Das Ziel des Streikrechts sei letztlich die Koordinierung der Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, seine Ausübung müsse dabei die Ausnahme bleiben. 3. Wertung Die Regierung hat sich in der Frage des Streikrechts kompromissbereit gezeigt. Sie ist den Forderungen des Gewerkschaftsverbands (SZOT) entgegengekommen, indem sie den Solidaritätsstreik schließlich zugelassen und die Lohnfortzahlung ermöglicht hat. Der Schutz der Arbeitnehmer vor Repressalien oder gar Entlassung, die Möglichkeit des Streikaufrufs auch durch Arbeitnehmergruppen und die Errichtung einer Streikkasse ohne Eingriff des Fiskus sind wichtige Errungenschaften des neuen Streikrechts. Die Regierung hat ihre Auffassung durchgesetzt, dass das neue Streikrecht gesetzlich geregelt werden sollte und damit einen Rahmen setzen können für künftige Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Es ist nicht auszuschließen, dass die größere Rechtssicherheit des neuen Streikrechts im Verein mit der weiterhin sehr prekären wirtschaftlichen Lage vorerst zu vermehrtem streikbedingten Arbeitsausfall führen wird. Dies wird jedoch in Kauf genommen, der Ventilfunktion eines ausbalancierten Streikrechts dürfte dabei eine nicht unbedeutende Rolle beigemessen werden. Offen bleibt, wie extensiv die Regierung die Definition des „politischen Streiks“ auslegen wird. Die Gewerkschaften werden zweifellos weiter für die Akzeptanz des



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Streiks gegen wirtschaftspolitische Entscheidungen streiten, die den Lebensstandard der Bevölkerung weiter beeinträchtigen könnten. gez. [Alexander] Arnot Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

Dokument 28 Bericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest an das Auswärtige Amt vom 19. April 1989 über die jüngsten Entwicklungen auf dem Gebiet des Gewerkschaftswesens in Ungarn In ihrer Darlegung unterrichtet die bundesdeutsche Botschaft das Auswärtige Amt über die jüngsten Entwicklungen im Bereich der ungarischen Gewerkschaften, wobei sie sich nicht nur mit dem offiziellen Landesrat der Gewerkschaften (SZOT), sondern auch mit den unabhängigen Gewerkschaften, insbesondere der Demokratischen Gewerkschaft der Werktätigen der Wissenschaft (TDDSZ), auseinandersetzt. Bezüglich der TDDSZ geht der von Legationsrat Heinz-Peter Behr verfasste Bericht auf die Ziele und Organisation der im Mai 1988 gegründeten Gewerkschaft ein und schreibt den „neuen, politisch unverbrauchten“ Gewerkschaften für den Fall, dass sie nicht übermäßig stark Partikularinteressen vertreten, „realistische Überlebenschancen“ zu. Hinsichtlich des SZOT streicht der Bericht die demonstrativen Bemühungen der offiziellen Gewerkschaftsbewegung heraus, sich zu reformieren bzw. sich von einem „Transmissionsriemen“ der Partei zu einer „genuinen Interessenvertretung der Arbeitnehmer“ zu entwickeln. Abschließend empfiehlt die Botschaft dem Auswärtigen Amt, den Deutschen Gewerkschaftsbund bzw. Einzelgewerkschaften zu einer Kontaktaufnahme und „Unterstützung bescheidenen Ausmaßes“ der TDDSZ und der Dachorganisation Demokratische Liga der Unabhängigen Gewerkschaften zu bewegen. Wie bereits im Falles des Streikgesetzes (siehe Dokument 27) war natürlich auch die Frage der zukünftigen Rolle der ungarischen Gewerkschaften für potenzielle Investoren aus der Bundesrepublik keineswegs belanglos. Die zukünftige Struktur und Funktion der ungarischen Gewerkschaften war überdies auch ein Indikator für den Stand des ungarischen Demokratisierungspro­ zesses. *** […]44

44  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.

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Zur Unterrichtung [1.] Die Gewerkschaftsszene in Ungarn ist in Bewegung geraten. Neben dem offiziellen Landesverband (sic!)45 der Gewerkschaften (SZOT) haben sich im Laufe des vergangenen Jahres mehrere unabhängige Gewerkschaften gegründet. Die im Mai 1988 gegründete „Demokratische Gewerkschaft der Werktätigen der Wissenschaft“ (TDDSZ) hat mit 4.000–5.000 Mitgliedern bisher zumindest numerisch den größten Erfolg erzielt. Die TDDSZ bemüht sich um die Aufwertung der wissenschaftlichen Tätigkeit und eine soziale Besserstellung der „Werktätigen in der Sparte Wissenschaft“, will jedoch keine reine Gruppengewerkschaft sein und ermöglicht die Mitgliedschaft auch von Interessenten anderer Branchen. Die TDDSZ erklärt, Äquidistanz zu allen Parteien – auch zu den neu entstehenden – halten zu wollen, um deren Einflussnahme auf gewerkschaftliche Aktivitäten zu minimieren. Ein Nationalkomitee aus 52 Mitgliedern repräsentiert 9 Branchenkomitees und ca. 200 lokale Gruppierungen. Diese örtlichen Zellen operieren weitgehend unabhängig vom Nationalkomitee, lediglich Fragen von zentraler Bedeutung werden in diesen diskutiert und entschieden. Beklagt werden die schwierige finanzielle Lage der Gewerkschaft und das bisher unbefriedigende Presseecho. Jedes Mitglied führt ein Prozent seines Nettogehalts an die Gewerkschaft ab, ein Beitrag wird von Rentnern, Arbeitslosen und Behinderten lediglich auf freiwilliger Basis erhoben. Bescheidene Sachspenden – Fotokopierer, gebrauchter Computer – erhielt man bislang von der „Sürös-Foundation“ (sic!)46 eines Exilungarn in den USA. Man hält es für möglich, dass der SZOT bei der Bereitstellung eines Gebäudes Unterstützung leisten wird. Die TDDSZ will sich um enge Kontakte zu ausländischen Gewerkschaften bemühen – zur polnischen „Solidarität“ bestehen bereits intensive Beziehungen – und hofft auf Unterstützung insbesondere seitens der österreichischen und deutschen Gewerkschaftsbewegung. Gemeinsam mit den kleineren Gewerkschaften der Pädagogen (PDS), der Pä­dagogen im Dienste geistig Behinderter (Humanitas) und der Filmarbeiter (Modest) hat sich die TDDSZ in der „Demokratischen Liga der unabhängigen Gewerkschaften“ zusammengeschlossen. 2. Vor wenigen Monaten gründete sich in der Hüttenstadt Dunaújváros die erste unabhängige reine Arbeitergewerkschaft „Solidarität“, die zur Zeit etwa 1.000 bis 2.000 Mitglieder zählen dürfte. Gerechnet wird mit der Gründung einer Gewerkschaft der „Ambulanzfahrer“ sowie der „Gebäudereiniger“.

45  Richtig: Landesrat. 46  Richtig: Soros-Foundation.



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3. Der offizielle „Landesverband der Gewerkschaften“ (SZOT) versucht, von den Tendenzen zur Diversifizierung in der Organisierung der Arbeitnehmerschaft nicht abgehängt zu werden. Er bemüht sich um mehr inneren Pluralismus und Offenheit und will den verschiedenen Branchen die Möglichkeit einräumen, sich als „Föderationen“ unterhalb des Dachverbandes zu organisieren und ihnen somit ein stärkeres Eigengewicht beimessen. Die hierzu erforderlichen neuen Statuten sollen 1990 verabschiedet werden. In Gesprächen wird geäußert, die Gewerkschaft dürfe nicht mehr „Transmissionsriemen der Partei“ sein, sondern müsse zu einer genuinen Interessenvertretung der Arbeitnehmer werden. Die enge personelle Verknüpfung zwischen der USAP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] und dem Gewerkschaftsverband müsse aufgehoben werden. Der „demokratische Zentralismus“ gehöre der Vergangenheit an. Auch der SZOT will seine Beziehungen zu den westeuropäischen Gewerkschaftsverbänden intensivieren, die Kontakte zu den RGW-Gewerkschaftsverbänden sind nach Aussagen von Gewerkschaftsfunktionären von unterschiedlicher Qualität. Die Mitgliedschaft in einem „System“ sei eine Sache, die Güte der Beziehungen eine völlig andere. Anlässlich der Wiederzulassung gratulierte SZOT-Generalsekretär Sándor Nagy der polnischen „Solidarität“. 4. Die alternativen Gewerkschaften – allen voran die TDDSZ – betrachten das vom ungarischen Parlament am 22.03.1989 […] verabschiedete Streikrecht als einen ersten bedeutenden Erfolg ihres Engagements. Der offizielle Gewerkschaftsbund SZOT ist nach Auffassung dieser Kreise erst relativ spät auf den fahrenden Zug aufgesprungen, augenfällig motiviert durch den Wunsch, sich der Bevölkerung als die wahre Interessenvertretung der Arbeitnehmer anzudienen. Man hält den SZOT weiterhin für von Dogmatikern beherrscht, wenn auch eingeräumt wird, dass diese in die Defensive geraten sind. Keineswegs jedoch gehöre der „demokratische Zentralismus“ bereits der Vergangenheit an. 5. Wertung: Der offizielle Gewerkschaftsbund SZOT bemüht sich um eine Neugestaltung seines Profils. Bei den jüngsten Debatten um das Streikrecht, Lohn- und Preisfragen oder die soziale Problematik hat er seine Stimme zugunsten der Arbeitnehmerschaft erhoben und zu zeigen versucht, dass ihm deren echte Interessenvertretung durchaus ein Anliegen ist. Der akkumulierte Vertrauensverlust sollte dennoch nicht unterschätzt werden und neue, politisch unverbrauchte Gewerkschaften wie die TDDSZ haben vermutlich eine realistische Überlebenschance, wenn sie nicht allzu sehr Partikularinteressen frönen. Diese Gefahr scheint bei der TDDSZ relativ gering zu sein, signalisiert sie doch Offenheit auch gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen als ausschließlich gegenüber der ihrer Gründungsmitglieder. Neben den neu formierten politischen Parteien verdienen h. E. [hiesigen Erachtens] auch diese gewerkschaftlichen Gruppierungen unsere Aufmerksamkeit. Sie können dazu beitragen, Anstöße zu geben für die

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innere Reformierung des SZOT wie auch die Interessenvertretung der Arbeitnehmerschaft schlagkräftiger zu gestalten. Die Botschaft möchte anregen, dass das Auswärtige Amt gegenüber dem DGB [Deutscher Gewerkschaftsbund] bzw. der einen oder anderen Einzelgewerkschaft (GEW [Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft], Medien etc.) Interesse an einer Kontaktaufnahme zum TDDSZ bzw. zum Koordinationsforum „Demokratische Liga der Unabhängigen Gewerkschaften“ zu wecken versucht. Eine Unterstützung bescheidenen Ausmaßes z. B. in den Bereichen Bürotechnik oder Veröffentlichungen würde sehr geschätzt werden und politischen „good will“ fördern. gez. [Heinz-Peter] Behr Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

Dokument 29 Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident Miklós Németh vom 20. April 1989 über die Haltung westdeutscher Politiker und Experten zu den wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in Ungarn In seinem Schreiben vom 20. April 1989 legte der ungarische Botschafter in Bonn István Horváth dem ungarischen Regierungschef Miklós Németh seine wesentlichen Erfahrungen dar, die er während zahlreicher Gespräche mit führenden Vertretern der westdeutschen Politik, Wirtschaft und Finanzwelt in den vorangegangenen Wochen gewonnen hatte. Wie aus dem Brief hervorgeht, zeigte die westdeutsche Seite „ohne Ausnahme großes Interesse“ an den Veränderungsprozessen in Ungarn und unterbreitete eine Reihe von – teils hinsichtlich Inhalt und Tempo grundlegend voneinander abweichenden – Vorschlägen, wie die Bekämpfung der gravierenden Wirtschaftsprobleme und insbesondere der Übergang Ungarns zu einem marktwirtschaftlichen System in Angriff genommen werden könnten bzw. müssten. Das Schreiben offenbart zugleich, dass die westdeutsche Seite teils Überstürzung, teils Unentschlossenheit und insgesamt zahlreiche Widersprüchlichkeiten in der ungarischen Wirtschaftspolitik wahrnahm. Um diese Situation zu überwinden, wurde in Bonn nicht nur die Entwicklung einer neuen, einheitlichen Wirtschaftsstrategie, sondern grundsätzlich die Verkündung eines neuen politisch-wirtschaftlichen Programms eines neuen Kabinetts mit einheitlich gesinnten Regierungsmitgliedern empfohlen. ***



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Genossen Miklós Németh Mitglied des Politbüros der MSZMP Vorsitzender des Ministerrats Budapest Bonn, 20. April 1989 Lieber Genosse Németh! In den vergangenen Wochen führte ich zahlreiche Gespräche mit führenden Politikern sowie Wirtschafts- und Finanzexperten der BRD. Diese Führungspersönlichkeiten zeigten ohne Ausnahme großes Interesse an dem in unserem Land stattfindenden Wandlungsprozess, aber selbstverständlich haben sie aufgrund ihrer verschiedenen politischen Fähigkeiten und Interessen unterschiedliche Meinungen über unsere Perspektiven und die möglichen Wege unserer Entfaltung. Den Kern der Gespräche versuche ich im Folgenden zusammenzufassen: Die ungarische Wirtschaft habe in den folgenden Jahren zwei organisch miteinander zusammenhängende, unter dem Aspekt ihrer Verwirklichbarkeit aber teils gegeneinander wirkende Probleme zu lösen: die Handhabung der schweren wirtschaftlichen Gleichgewichtsprobleme und die beträchtliche Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft in Ungarn. Im Interesse des letzteren Erfordernisses würden zwar – vor allem im vergangenen Jahr – Schritte erfolgen, die Wirtschaft funktioniere – so die Mehrheit der Meinungen – im Wesentlichen aber auch unter der Grósz-Regierung gemäß dem traditionellen volkswirtschaftlichen Instrumentarium und der traditionellen Steuerungsauffassung. Diese sei zeitweise durch Überstürzung, zeitweise durch unentschlossene Schritte gekennzeichnet. Die besseren Exportergebnisse des vergangenen Jahres hätten zwar ein günstiges internationales Echo ausgelöst, sosehr die Zahlen aber auch „Achtung“ hervorrufen würden, so könnten sie die Wahrheit dennoch nicht bemänteln. Die hiesigen Wirtschaftskreise urteilen, dass wir in den folgenden zwei bis drei Jahren noch die Chance hätten, durch die Fortsetzung der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik eine Stundung zu vermeiden. Der Tourismus verspreche noch Reserven […] und auch unsere im Interesse des Exports „stromlinienförmig“ gemachte Wirtschaft verberge noch gewisse Möglichkeiten, hauptsächlich in der Sphäre der Klein- und Mittelbetriebe. All dies könne – zusammen mit den nicht ausgeschöpften, beschränkten Kreditmöglichkeiten – bedeuten, dass wir die folgenden paar Jahres „durchstehen“ könnten. Das Problem werde nach hiesiger Beurteilung in erster Linie dadurch verursacht, dass sich der politisch-wirtschaftliche Wandel nicht mit der erwünscht kraftvollen Lenkung und angemessen effektiven Wirtschaftsstrategie paare. Diese seien die unverzichtbaren Voraussetzungen einer Leistungssteigerung. Wir würden unter einem „Zieldefizit“ leiden, weswegen wir eine Reihe von Problemen auch weiterhin vor uns herschieben würden.

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Es sei Tatsache, dass es die sich im Wesentlichen auf das Gleichgewicht und so auf die Steigerung der Deviseneinnahmen ausrichtende Politik unverzichtbar mache, die früheren Strukturen zu bewahren, bzw. dass sie nur vorsichtige Veränderungen anrege. Einem Teil unserer Schuldendienstverpflichtungen könnten wir auch weiterhin nur durch ersatzweise Kreditaufnahmen nachkommen, was die Möglichkeiten der Modernisierung der Wirtschaft eingrenze. Der Zufluss von Auslandskapital könne eine Ersatzquelle bedeuten, die vielen inneren Unsicherheitsfaktoren in Verbindung mit dem allgemeinen Wandel und die sich rasant verändernden Bedingungen […] würden aber nur langsam die Atmosphäre herbeiführen, die für potenziell Interessierte eine wirkliche Anziehung bedeuten könnte. Der Importbedarf der dennoch langsam wachsenden Zahl von ausländischen Unternehmen […] werde voraussichtlich einige Jahre lang zunehmen, was unsere Zahlungsbilanz neuen Belastungen aussetzen werde. Die Lasten des strukturellen Wandels, der sich aufgrund unserer gegenwärtigen Möglichkeiten vollziehe (Subventionsabbau, Konsumeinschränkungen usw.), ziehe sich lange Zeit hin, die Ergebnisse – an denen die Mehrheit der Bevölkerung zweifle – würden sich erwartungsgemäß erst in ferner Zukunft zeigen. Dies gefährde die innenpolitische Stabilität und die kurzfristigen Wirtschaftsinteressen (wir seien z. B. auch auf unwirtschaftlichen Export angewiesen), die zur Quelle von Gegenwirkungen würden, die das Tempo der Entfaltung verlangsamen würden. In den vergangenen Wochen verwiesen immer mehr Stimmen darauf, dass das Ausland – trotz unserer häufig als „atemberaubend“ bezeichneten innenpolitischen Veränderungen – durch die Tatsache, dass sich die Vorstellungen und Ziele bezüglich des politischen und wirtschaftlichen Wandels in Ungarn noch immer nicht hinreichend geklärt hätten, ziemlich beunruhigt sei und man zur Vorsicht mahne. Aus den häufig widersprüchlichen Äußerungen unserer führenden Politiker schließen sie, dass noch nicht entschieden sei, in welche Richtung sich das Land entwickeln wolle und mit welchem Instrumentarium die Ziele erreicht werden sollten. Hinter den politischen Schritten werden vorläufig noch keine wirklichen Veränderungen gesehen. In Verbindung mit dem Mehrparteiensystem ist in den Führungskreisen gleichzeitig Begeisterung, Bewunderung und stille Zurückhaltung zu spüren. Letzteres Verhalten speist sich aus der Meinung, dass sich ein wirkliches Mehrparteiensystem auf die pluralistischen Verhältnisse in der Gesellschaft stütze und diese durch den Platz und die Rolle, die die Individuen der Gesellschaft in der Wirtschaft einnehmen würden, gestaltet und formiert würden. Oder anders ausgedrückt: Der auf einem Mehrparteiensystem fundierende politische Pluralismus könne sich nur auf einem auf der Unternehmung basierenden wirtschaftlichen Pluralismus entwickeln. Hierzu sei eine vollständige und radikale Neubewertung der Ideologie des Gesellschaftssystems notwendig. In dieser Hinsicht sei Ungarn – so die hiesige Beurteilung – am weitesten gelangt, aber die politisch-ideologischen Schranken der Öffnung und des Wandels würden sich bereits jetzt abzeichnen. Die Politik habe das Prinzip des Mehrparteiensystems so verkündet, dass in der Wirtschaft die Demokratisierung gerade erst begon-



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nen habe und die MSZMP nach der Bewahrung des Machtmonopols strebe. Laut den hiesigen Meinungen scheine dies durch die Diskussion in der Frage des „Bewahrens oder Beendens“ der Positionen der MSZMP in den Ämtern, bei den bewaffneten Kräften und in den Betrieben sowie durch die jüngste Erklärung von [Károly] Grósz in diesem Zusammenhang bestätigt zu werden. Die Unsicherheiten bezüglich des politischen Wandels und das Fehlen eines konkreten „Maßnahmenprogramms“ für die Übergangszeit paare sich mit Desinteresse und Gleichgültigkeit der Mehrheit der Bevölkerung. Die politische Unsicherheit spiegle sich auch in der Regierungsarbeit wider. Es wird auf zahlreiche widersprüchliche und unverständliche Maßnahmen und Regierungserklärungen verwiesen (Zollbestimmungen für die Bevölkerung, Forintabwertung oder die Erklärung von [Miklós] Raft und [Tamás] Beck bezüglich der EG und der EFTA usw.). Diese würden das Fehlen eines durchdachten politischwirtschaftlichen strategischen Maßnahmenprogramms zu beweisen scheinen. Diese Phänomene würden auch das Kapital zu größerer Vorsicht mahnen. Das Unsicherheitsgefühl des Kapitals werde weiter dadurch verstärkt, dass wir vorläufig kein Rezept für unser Verhältnis zum RGW (und vor allem zur Sowjetunion), der eine bestimmende Rolle für unsere Versorgung und unseren Verkauf spiele, finden könnten. Der RGW werde immer mehr nicht nur zu einem Faktor des Entzugs der Kraftquellen, sondern auch zu einem Faktor, der uns durch seine Auswirkungen auf die Preise, die Struktur und die Arbeitsmoral zurückwerfe und das Konvertibilitätsgleichgewicht belaste. Die Beziehung zum RGW trage kurz- und auch langfristig immer mehr Unsicherheitsfaktoren in unsere Wirtschaft. […] Aufgrund der bisherigen Erfahrungen und Tendenzen wird – vor allem in den Finanzkreisen – der Schluss gezogen, dass die ungarische Wirtschaft mit den bisherigen Lösungen aus eigener Kraft kaum fähig sein werde, ein wünschenswertes Niveau des äußeren Gleichgewichts herzustellen. Folge sei wahrscheinlich, dass wir auf dem Weg in Richtung der Spitzenjahre der Tilgung eine Stundung nicht würden vermeiden können. Deren ungünstige wirtschaftliche, politische und psychologische Auswirkungen (auf das internationale Finanz- und Produktionskapital) seien offensichtlich. Die Gefährlichkeit der Situation werde dadurch nur noch gesteigert, dass wir wohl in einer Situation unsere Handlungsfähigkeit beschränken müssten, in der sich auch das gegenwärtige, für uns günstige internationale wirtschaftlich-politische Bedingungssystem nachteilig verändern könne. Die sich rasant verändernde weltwirtschaftliche Umwelt zwinge uns zu einer ständigen Anpassung. Aufgrund des schnellen Wandels der Kräfteverhältnisse verschlechtere sich unsere Wettbewerbsposition weiter. Dies gelte nicht nur für die entwickelten und die sogenannten Schwellenländer, sondern auch für die Entwicklungsländer, die mit ähnlich schweren Problemen wie die unseren kämpfen würden, die aber über wesentlich größere Reserven verfügen würden. Politisch sei es sehr wahrscheinlich, dass zahlreiche (vor allem osteuropäische) innere Spannungen, die wegen ihrer destabilisierenden Wirkung unsere Bewertung sowohl im Westen als auch seitens der Sowjetunion – besonders, wenn wir die ver-

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sprochenen Ergebnisse schuldig bleiben würden – in negative Richtung relativieren könnten, die sich im Ganzen verbessernde welt- und europapolitische Sphäre weiter belasten würden. […] Fragen, die in den politisch-wirtschaftlichen Führungskreisen ständig auf der Tagesordnung stehen, sind: Macht es Sinn, dass die BRD weiterhin Polen und überhaupt Osteuropa finanziert? Denn diese Staaten würden wegen ihrer „Einbettung“ auch weiterhin eine wirkliche politisch-wirtschaftliche Wende schuldig bleiben. Sind diese Veränderungen nicht nur oberflächliche Reformschritte, die ein Überleben der herrschenden Parteien und eine Konservierung der Gesellschaftsordnungen bezwecken? Heute teilen sich die Meinungen der politisch-wirtschaftlichen und Finanzkreise in der BRD hinsichtlich der Frage, welche Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsstrategie die ungarische Führung verfolgen müsse, um aus der Krise herauszukommen. Die Mehrzahl der Wirtschaftsexperten und ein Teil der Politiker sehen die langfristige Lösung nur in einem – vom Westen politisch und auch finanziell unterstützten – radikalen und schnellen, mit einer Währungsreform verknüpften Übergang zu einer sozialen Marktwirtschaft ähnlich wie in Österreich und der BRD. Die Finanzexperten – vor allem Bankiers – und die Mehrzahl der Politiker (die das Eintreten der Zahlungsunfähigkeit und die Gefahren einer unerwünschten politischen Explosion befürchten) sehen die Möglichkeit der Krisenüberwindung in einem langsameren Wandel. […] In den wirtschaftlichen und politischen Kreisen gibt es aber noch eine dritte Gruppe. Die hierzu gehörenden Personen (z. B. [Helmut] Kohl, [Lothar] Späth, [Helmut] Haussmann, [Otto Graf] Lambsdorff und [Theo] Waigel) sehen auch auf der Grundlage unserer wirtschaftlichen Möglichkeiten sowie unserer politischen und ideologischen Einstellungen und der in den vergangenen 40 Jahren entstandenen sozialpolitischen Auffassungen eine Möglichkeit zur Entfaltung. Sie gehen davon aus, dass man in Ermangelung entsprechender Kraftquellen keinen makroökonomischen Strukturwandel erzwingen dürfe, weil dies zu weiteren Spannungen führen und damit die in die richtige Richtung angelaufenen politisch-wirtschaftlichen Prozesse neuen Kraftproben aussetzen würde. […] Laut den Experten verfüge die ungarische Wirtschaft […] über bedeutende Reserven. Diese würden sich z. B. aus dem niedrigen Niveau der Kapazitätsausnutzung, aus der ungenügenden Arbeitsdisziplin, aus dem schlechten Wirkungsgrad der Betriebsorganisation usw. ergeben. Diese Reserven müssten als erste mobilisiert werden, was natürlich nur bei ungebundenen, funktionsfähigen Marktmechanismen (einschließlich einer möglichst kraftvollen außenwirtschaftlichen Öffnung) vorstellbar sei. Deshalb sei nur ein Wandel zu empfehlen, der – selbst wenn er auch mittelfristig in den gegenwärtigen Strukturen erfolgen würde – ausschließlich von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zugelassen werden würde. Ein Wandel sei also notwendig, der hauptsächlich die Rationalität erzwingen und die gewünschten Veränderungen in der Mikrosphäre einleiten würde. Unter Berücksichtigung der verschiedenen Aspekte dürfe – ihrer Meinung nach – die ungarische Führung in der gegenwärtigen Phase nur mit einer Wirtschaftspolitik, die



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sich auf ein durchdachtes politisch-wirtschaftliches Programm stütze, konsequent sei und in einem ausgeglichenen Tempo zusammen mit ihren negativen Seiten ausgeführt werde, operieren. Hierzu sei eine radikale Veränderung des Lenkungssystems notwendig, die allerdings auch eine drastische Trennung der politischen und der wirtschaftlichen Strukturen voraussetze. Das Programm würde mittels der maximalen Verschärfung des Unternehmenswettbewerbs die Leistungssteigerung in den Mittelpunkt des wirtschaftspolitischen Handelns rücken und langfristiger versuchen, eine Lösung unserer Gleichgewichtsprobleme in Zusammenhang mit dem Vorherigen zu finden. In den Wirtschafts- und Finanzkreisen wurde in jüngster Zeit die Idee aufgeworfen […], dass wir für die Durchführung einer neuen wirtschaftsstrategischen Wende – eventuell im Voraus abgestimmt mit einigen Ländern bzw. mit internationalen Finanzorganisationen – zusätzliche Finanzquellen in Anspruch nehmen könnten. Hierzu würden wir in der BRD außer vom Kanzler sicherlich Unterstützung vom mit uns außerordentlich sympathisierenden neuen Finanzminister [Theo] Waigel, der zugleich auch CSU-Vorsitzender ist, erhalten. […] Das neue – nennen wir es – Arbeitsprogramm zur Rationalisierung und Erneuerung würde die folgenden wichtigeren Elemente enthalten: 1. Bestimmung einer neuen Wirtschaftsstrategie. 4 bis 5 Jahre lang sollte ausschließlich die wirtschaftliche Leistung der Wertmaßstab sein. Dementsprechend müssten wir uns weniger darauf konzentrieren, wie man von der Versorgungsseite her die gegebene Struktur handhaben könnte, sondern mit welchen Mitteln man eine beschleunigte Liberalisierung der Wirtschaft herbeiführen und dadurch eine größere Leistung erzwingen könnte. 2. Eine radikalere Neuorientierung der ungarischen Wirtschaft als bisher auf die Marktwirtschaft. Diese setze zum Teil eine Stärkung des Privateigentums voraus, auf alle Fälle aber eine Verschärfung des Wettbewerbs zwischen den Unternehmen mittels der Beendigung der Monopolpositionen. Es sei zweckmäßig, die Veränderungen in erster Linie in der Kategorie der kleineren und mittleren Unternehmen anzuregen. Es sei wesentlich, dass sich die Einkommen ihrer Leiter und Angestellten ausschließlich in Abhängigkeit von den Unternehmensergebnissen entwickeln würden. Das Einkommen der Leiter und Angestellten von dauerhaft defizitären bzw. subventionierten Unternehmen sollte sich in Übereinstimmung mit der Unternehmenssituation verringern. 3. Hierzu wäre die Einführung eines differenzierten, langfristig berechenbaren und motivierenden Steuersystems notwendig. 4. Bestimmung der notwendigen Rahmenbedingungen zur Betreibung der Wirtschaft als Ganzes und zur Sicherstellung der Stabilität der Rahmenbedingungen. Entwicklung des Instrumentariums einer streng monetären Politik und der außenwirtschaftlichen Öffnung. 5. Ankündigung der Absicht, die Konvertibilität des Forints (wenn auch nur teilweise) herbeiführen zu wollen. Ohne diese könnten wir keine engeren

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Beziehungen zum Weltmarkt entwickeln und die positiven Impulse von dort würden nur indirekt und abgeschwächt zu uns gelangen. Ein solcher Schritt wäre auch ein wesentliches antreibendes Element zur erfolgreichen Einbeziehung von Auslandskapital. 6. Strenge Sparsamkeit und Überprüfung diskutierbarer Investitionen. 7. Neubewertung unserer Beziehungspolitik. Pfeiler unserer außenwirtschaftlichen Bestrebungen müsse die Beschleunigung der Anpassung an die entwickelte westliche Welt, vor allem an Westeuropa sein. In der Beziehung zum RGW müssten wir uns auf eine umfassende Verschlechterung der Bedingungen vorbereiten. Deshalb sollten wir nach Möglichkeit danach streben, die Dollar-Rubel-Konversion in den sozialistischen Beziehungen zurückzuentwickeln bzw. in eine Konstruktion mit freien Devisen zu überführen. (Dies würde auch für das Auslandskapital eine größere Anziehungskraft bedeuten.) Der sich verringernde Import aus dieser Region müsse in andere (hauptsächlich sich entwickelnde) Relationen verlegt werden. […] 8. Aufhebung jeglicher Hindernisse, die die Tätigkeit des Auslandskapitals in Ungarn behindern (fremdenpolizeiliche Vorschriften, Möglichkeiten zum Immobilienerwerb usw.). 9. Das Programm, das zur allgemeinen Leistungssteigerung der Wirtschaft durchzuführen sei, setze eine radikale Veränderung der Beschäftigungspraxis und der beschäftigungspolitischen Praxis, die Regelung der Tätigkeit von politischen Parteien sowie ein Überdenken der Grundprinzipien des Systems der Interessenvertretung voraus. Ich weiß, dass die Regierungspolitik hinsichtlich eines guten Teils der im Programm vorgeschlagenen Punkte bereits begonnen hat, bei einem Teil von ihnen ist es noch notwendig, einen politischen Standpunkt zu entwickeln. Die Betonung in dem Vorschlag liegt aber – über die Entwicklung einer neuen Wirtschaftsstrategie – auf der Verkündung eines „neuen Programms einer neuen Regierung“, dass man über die Medien für das In- und Ausland angemessen bekannt machen müsste. Das ist auch dann notwendig, wenn es offensichtlich die Kritik eines Teils der Massen hervorruft. Regierungen können aber ohne ein politisch-wirtschaftliches Programm nicht verantwortungsvoll handeln. Und es ist auch klar, dass nicht jedermann die Tätigkeit der einzelnen Regierungen gleich bewertet. Die Mehrheit interessiert sich aber nicht nur für die Ergebnisse, sondern auch für die Konsequenz des Handelns. Ein Ergebnis kann aber nur dann erwartet werden, wenn die Regierungsmitglieder das jeweilige Programm mit einer einheitlichen Anschauung durchführen. In der Hoffnung, auch einige verwertbare Gedanken geliefert zu haben (Dr. István Horváth) Quelle: Privatarchiv von Dr. István Horváth, ehemaliger ungarischer Botschafter in Bonn. (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Dr. István Horváth, Budapest).



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Veröffentlicht in: István Horváth/ András Heltai, A magyar–német játszma. Emlékezés és dokumentumok [Die ungarisch-deutsche Partie. Erinnerung und Dokumente]. Budapest 2015, S. 242–251 (Dokument Nr. 31). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 30 Bericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest an das Auswärtige Amt vom Mai 1989 über den Stand des politischen Veränderungsprozesses in Ungarn Der Botschaftsbericht wurde ganz offensichtlich nach der (darin aufgeführten) ZK-Sitzung vom 8. Mai 1989, aber noch vor der Umbildung des Kabinetts von Ministerpräsident Németh am 10. Mai 1989 verfasst. In dem Dokument werden drei Hauptbereiche des politischen Wandels hervorgehoben, nämlich „1. Verfassungsentwicklung, Gesetzesvorhaben“, „2. Aufarbeitung 1956“ und „3. Identitätssuche der USAP“, also der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Bezüglich Punkt 1 wird vor allem auf die Arbeiten an der neuen ungarischen Verfassung, die zur Schaffung einer „freiheitlichen, demokratischen Ordnung des weiterhin sozialistischen Ungarn“ führen soll, und auf die von den Machthabern geplanten, aber noch nicht begonnenen Konsultationen mit den „alternativen Gruppen“ über die zentralen Gesetzgebungsvorhaben (Parteiengesetz, Wahlgesetz usw.) eingegangen. Punkt 2 befasst sich mit der für den 16. Juni 1989 geplanten Wiederbestattung von Imre Nagy, mit dem Ausscheiden János Kádárs aus allen seinen Parteiämtern sowie mit der Vermutung, dass es „unausgesprochen“ die „Verabredung“ zwischen allen politischen Kräften gebe, vergleichbare Ereignisse wie 1956 zu verhindern. Punkt 3 erörtert den inneren Wandel der MSZMP und konstatiert, dass eine „Annäherung an sozialdemokratische Leitlinien“ bislang noch nicht erfolgt sei. Auch wenn der Bericht auf zahlreiche Unklarheiten, Widersprüche usw. verweist, so kommt er dennoch zu dem Fazit, dass sich Ungarn „zur Zeit und auf Sicht eindeutig auf Reformkurs“ befinde. Auf eine nähere Analyse der im Februar 1989 im Zentralkomitee verabschiedeten und veröffentlichten Verfassungsprinzipien verzichtet der Bericht. *** Botschaft Budapest

Bonn, im Mai 1989 UPOLREFS

Stand der politischen Reformen in Ungarn Sachstand Die politische Entwicklung in Ungarn ist zur Zeit und auf Sicht eindeutig auf Reformkurs, dies trotz vielfältiger Unklarheiten, Widersprüche, Verzögerungen und Verzettelungen im Einzelnen.

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Der Reformkurs ist an drei Hauptkomponenten abzulesen: – Verfassungsentwicklung – Aufarbeitung 1956 – Identitätssuche der USAP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] 1. Verfassungsentwicklung, Gesetzgebungsvorhaben Nach dem Grundsatzbeschluss der Partei (ZK am 10./11.02.1989), das Mehrparteiensystem einzuführen, werden zur Zeit ein Parteiengesetz, ein Gesetz zur Wahl der Nationalversammlung und ein Gesetz über den Staatspräsidenten vorbereitet und voraussichtlich vor der Sommerpause vom Parlament verabschiedet werden. Gleichzeitig wird weiterhin an der Verfassung gearbeitet. In Ihren Grundzügen ist sie durch Beschlüsse der Partei (ZK vom 20./21.02.1989) bereits umrissen: – freiheitliche, demokratische Ordnung des weiterhin sozialistischen Ungarn; – pluralistische Parteienstruktur (d. h. Verzicht der USAP auf verfassungsmäßig garantierte Führungsrolle); – Gewaltenteilung; – Einführung des (voraussichtlich politisch wichtigen) Amtes des Staatspräsidenten (bisher Präsidialrat, dessen Vorsitzender Repräsentationsfigur). Die politische Diskussion kreist zur Zeit um die Frage, ob das bestehende Parlament legitimiert ist, die neue Verfassung zu verabschieden. Es zeichnet sich die Linie ab, den Verfassungstext vom gegenwärtigen Parlament zwar fertigstellen zu lassen, sie dann aber nach einem Referendum vom neuen Parlament endgültig zu verabschieden. Führende Persönlichkeiten der USAP treten dafür ein, auf einer zum Frühherbst vorgesehenen Parteikonferenz die Führung zu erneuern sowie ein zugkräftiges Wahlprogramm auszuarbeiten und dann, einem ursprünglichen Wunsch der Alternativen folgend, Ende des Jahres Wahlen zum Parlament abzuhalten und gleichzeitig in einer besonderen Volkswahl den Staatspräsidenten wählen zu lassen. Eine konsolidierte Auffassung der USAP zum Kalender der politischen Reformen gibt es jedoch zur Zeit nicht. Einig ist sich die Führung der Partei, dass alle Gesetzesvorhaben der politischen Reform mit den alternativen Gruppen – die sich um einen Runden Tisch zusammengefunden haben – zu konsultieren. Dieses Gespräch kommt jedoch einstweilen aus scheinbar prozeduralen Gründen, in Wirklichkeit wegen eines Gerangels um Machtausgangspositionen nicht zustande. [Imre] Pozsgay hat nunmehr vorgeschlagen, statt der USAP möge die Regierung das Gespräch mit den Alternativen führen. Eine Lösung ist in diesen Tagen noch nicht in Sicht. Dadurch könnte sich die Annahme der Reformgesetze verzögern. Allerdings gibt es Politiker wie [Miklós] Németh, die notfalls auf die Alternativen nicht warten und die genannten drei Gesetze (Parteien, Wahlen, Präsident) in den nächsten Wochen durchsetzen wollen.



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Was die Wahlen selbst betrifft, kann man nicht ausschließen, dass sich die Stimmung wieder zugunsten von Wahlen im Jahre 1990 wendet, nachdem nunmehr bei den Alternativen die Furcht überwiegt, im Herbst 1989 noch nicht genügend formiert und öffentlich bekannt zu sein, so dass sie keine wirkliche Chance hätten, die Wahlen zu gewinnen. 2. Aufarbeitung 1956 Am 16. Juni wird die „rehabilitierende“ Bestattung von Imre Nagy stattfinden. Eine der zentralen Problemfiguren um die Ereignisse von 1956, János Kádár, wurde am 08. Mai vom Zentralkomitee aus seinen Parteiämtern entfernt, womit die USAP Ballast abwerfen und Profil als Reformpartei der Zukunft gewinnen will. Noch sitzen im Parlament Verfolger des Volksaufstandes vom Oktober 1956. Jedoch ist bereits einzelnen Abgeordneten unter diesem Vorwurf nach Initiative aus der Bevölkerung (Unterschriftensammlung) ihr Mandat genommen worden. Die Aufstellung der Kandidaten zur bevorstehenden Wahl wird auch ihr Verhalten während des Oktoberaufstandes 1956 und der Zeit danach berücksichtigen müssen. Es bleibt bemerkenswert, wie sehr USAP und auch alternative politische Gruppen unter dem Trauma 1956 stehen und vorsichtig auch im Umgang miteinander sind. Es scheint unter allen unausgesprochen die Verabredung zu gelten, es nicht noch einmal zu vergleichbaren Ereignissen kommen zu lassen. 3. Identitätssuche der USAP – Unter internem Druck, nicht von der Führung gewährt, entwickeln sich in den USAP demokratische Prozesse. Es bilden sich Reformgruppen, Bezirksverbände treten mit Forderungen (Rücktritt [Károly] Grósz) an die Öffentlichkeit. – Das Politbüro hat den Verzicht auf die Nomenklatura, die Besetzung der Staatsposten mit Parteikadern, empfohlen. – Die Partei hat nach Schätzungen im vergangenen Reformjahr etwa ein Viertel (200.000 von 800.000) Mitglieder verloren. Ihre Hoffnung, hiermit nicht nur Verluste, sondern die Umstrukturierung ihres politischen Potenzials zu erleben, ist bisher gering. Insbesondere die jungen Jahrgänge halten sich zurück. – Die Politik von Partei und der von ihr gestellten Regierung richtet sich merkbar darauf aus, nach Wahlen künftig in einer Koalition zu regieren. Dies zeigte sich zuletzt an der wirtschaftlich problematischen, aber sicher populären Entscheidung, das Projekt der Staustufe Nagymaros zu stornieren. Die Kritik dagegen hatte bisher die Opposition im Lande zusammengeführt. Die Neuorientierung auf einen sozialistischen Reformkurs in Annäherung an sozialdemokratische Leitlinien ist in der Partei durchaus noch nicht vollzogen. Eine

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grundlegende Parteiversammlung (noch offen ist, ob als Landesparteikonferenz entsprechend der „Reformkonferenz“ vom 23. Mai 1988, als vorgezogener Parteitag, oder als eine Sonderparteikonferenz) im Frühherbst des Jahres soll nach Absicht der Reformgruppe hierfür weitere Entscheidungen im Programm und möglicherweise auch in der Besetzung der Führung bringen. Quelle: PA AA Zwischenarchiv, Bd. 139.939, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin). 5.3

5.3 Dokumente 31 bis 54 (Frühjahr 1989 bis Herbst 1989) Dokument 31 Offizielle Mitteilung über die Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei am 8. Mai 1989, veröffentlicht am 10. Mai 1989 Auf seiner Sitzung am 8. Mai 1989 traf das Zentralkomitee eine Reihe von Beschlüssen, die grundlegende Bedeutung für die Fortsetzung des politischen Veränderungsprozesses hatten. So nahm es unter anderem die Prinzipien des zukünftigen Parteiengesetzes an, sprach sich für die baldmöglichste Aufnahme von Gesprächen mit den oppositionellen Bewegungen aus und stimmte der Beendigung der Kaderkompetenzen der Partei zu. Darüber hinaus bewertete es erstmals die Aktivitäten der sogenannten Reformzirkel an der Basis der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) positiv, plädierte für Meinungs- und Gewissensfreiheit ihrer Mitglieder und begrüßte die Bildung eines neuen, parteinahen Jugendverbandes (DEMISZ). Neben der Neuregelung der Aufgaben der Arbeitermiliz als „freiwillige bewaffnete Körperschaft“ im Rahmen der Verteidigungsorganisation Ungarns und unter der Kontrolle der Regierung befürwortete das Gremium auch die Absicht von Ministerpräsident Miklós Németh, seine Regierung umzubilden und verzichtete dabei auf sein bisheriges Nominierungsrecht. Die Ergebnisse der Sitzung des Zentralkomitees, die den „Startschuss“ für die zweite, entscheidende Phase des politischen Systemwechsels in Ungarn gaben, wurden am 10. Mai 1989 im Parteiorgan „Népszabadság“ (Volksfreiheit) veröffentlicht. *** Offizielle Mitteilung über die Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei am 8. Mai 1989 I. 1. Das Zentralkomitee diskutierte die Prinzipien des Gesetzes über die politischen Parteien und nahm sie als Grundlage der weiteren Arbeit an. Es nahm Stellung dazu, dass



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die Sicherstellung der Vereinigungsfreiheit der Staatsbürger und ihrer politischen Rechte sowie die demokratische Offenlegung und Durchsetzung der verschiedenen Interessen und Werte in der Gesellschaft die Verabschiedung des Gesetzes begründen. Es befürwortet, dass das Verfassungsgericht die Aufgabe der Registrierung der politischen Parteien und die Verfassungsaufsicht über ihre Tätigkeit versieht. Es stimmt zu, dass über die Unterstützung der Parteien aus dem Haushalt und über ihre Wirtschaftsweise per Gesetz verfügt wird. Das Zentralkomitee empfiehlt dem Ministerrat, den Gesetzentwurf – auch unter Berücksichtigung der Vereinbarungen zwischen der MSZMP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] und den Verhandlungsgruppen der anderen politischen Kräfte und Bewegungen – möglichst bald fertigzustellen und dem Parlament vorzulegen. 2. Das Gremium hörte den Informationsbericht über die bisherige Arbeit der Verhandlungsgruppe des ZK der MSZMP. Es betrachtet es als notwendig, dass möglichst bald Verhandlungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Organisationen beginnen. Hierzu initiiert es die Gründung eines politischen Abstimmungsforums. Seinen Vorschlag publiziert es zeitgleich mit der offiziellen Mitteilung. II. 1. Das Zentralkomitee überprüfte die Kompetenzen der MSZMP in personellen Fragen. Es regt an, dass der Ministerrat die diesbezüglichen Rechtsnormen außer Kraft setzt. Die MSZMP will in Zukunft ihre Interessen und ihren Einfluss bei der Besetzung der wichtigsten staatlichen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sonstigen Führungsfunktionen sowie bei der Wahl der Abgeordneten und Rätemitglieder nur mit politischen Mitteln zur Geltung bringen. Zur Annahme ihrer Kandidaten betreibt sie vor der breiten Öffentlichkeit politische Überzeugungsarbeit. Das Zentralkomitee und die Parteiausschüsse entscheiden in Zukunft nur über die Besetzung der in ihren Kompetenzbereich fallenden Parteiämter. Sie nehmen keine vorherige Stellung zur Wahl der Funktionäre der von ihnen geleiteten Parteiorgane. Das Zentralkomitee empfiehlt dem Ministerrat, die staatliche Personalpolitik zu überprüfen und die notwendigen Veränderungen durchzuführen. 2. Das Zentralkomitee begrüßt, dass die Basisverbände und gewählten Gremien der Partei immer aktiver werden und immer mehr Initiativen ergreifen, damit sich die MSZMP in eine moderne Reformpartei mit marxistischem Geist wandelt. Das Zustandekommen der Reformzirkel und ihre sich entfaltenden Aktivitäten bewertet es als Teil dieses Prozesses. Es ist die Überzeugung des Zentralkomitees, dass die Gewissens- und Meinungsfreiheit der Mitglieder für das demokratische Funktionieren der Partei unabdingbar

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ist. Die Vertreter gleicher Werte und einer gleichen Meinung – Strömungen und Plattformen – können ihre Ansichten auf den Foren der Partei frei zum Ausdruck bringen. Das Gremium ist zum Schutz der Handlungsfähigkeit der Partei aber gegen Bestrebungen der Plattformen, sich organisatorisch abzusondern. Zur Erneuerung ist ein Zusammenschluss der progressiven Kräfte der Partei notwendig. Das Zentralkomitee hält fest: In einer demokratischen Partei darf es keine Dogmen und unabänderliche Mehrheitsmeinungen geben. Neben der Anerkennung des Entscheidungsrechts der gewählten Gremien und der Pflicht zur Durchführung der Beschlüsse hat jedes Parteimitglied das Recht, seinen Standpunkt beizubehalten. 3. Das Zentralkomitee begrüßt die Gründung des Ungarischen Demokratischen Jugendverbandes [DEMISZ] und das von ihm angenommene Programm. Es stimmt zu, dass der DEMISZ ohne direkte Parteilenkung selbstständig tätig sein will. Es hält es für wichtig, dass die Mitglieder der Jugendorganisationen in möglichst großer Zahl auch als Mitglieder der Partei an der Arbeit der MSZMP teilnehmen. Die MSZMP strebt danach, auf der Grundlage gemeinsamer Werte und politischer Interessen mit den Organisationen des DEMISZ zusammenzuarbeiten. Sie entwickelt ihre Beziehungen zu den Mitgliedsorganisationen des Verbandes auf unterschiedliche Weise und in Kenntnis ihrer Programme und Aktivitäten. Die MSZMP ist sich bewusst, dass die politischen und wirtschaftlichen Reformen nicht ohne eine Einbeziehung der Jugend zum Erfolg gebracht werden können. Das Zentralkomitee schlägt vor, dass aus dem Kreis der Vertreter des Zentralkomitees der MSZMP und Verbandsrates des DEMISZ eine Verhandlungsgruppe ins Leben gerufen wird, die einen gemeinsamen Standpunkt über die Hauptaufgaben der Gesellschaftspolitik in unseren Tagen entwickelt und die neuen Inhalte und praktischen Aufgaben der Zusammenarbeit bestimmt. Das Zentralkomitee ersucht die Parteimitglieder, Parteiorganisationen und Parteiausschüsse, Konsultationen mit den lokalen Gruppen der Mitgliedsorganisationen des DEMISZ über die Möglichkeiten der gemeinsamen Arbeit und über die zukünftige Vertretung der Jugend in den Parteigremien zu organisieren. Das Zentralkomitee nimmt zur Kenntnis, dass junge Parteimitglieder in ihren Parteiorganisationen die Gründung von Jugendsektionen initiieren. III. Das Zentralkomitee nahm Stellung zur Tätigkeit der Arbeitermiliz und zu ihren zukünftigen Aufgaben. Es stellte fest, dass die Arbeitermiliz in den vergangenen Jahrzehnten auf breiter gesellschaftlicher Grundlage, freiwillig, in demokratischem Geist und im Rahmen der Gesetze tätig war. Ihre Mitglieder leisteten anerkennenswerte Arbeit in der Wirtschaft, bei ihrem Dienst und im öffentlichen Leben. Die Arbeitermiliz bekennt sich zu den Reformbestrebungen der Gesellschaft, sie will sich den Veränderungen in Politik und öffentlichem Leben anpassen. Sie ist als



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freiwillige bewaffnete Körperschaft, integriert in das Verteidigungssystem der Volksrepublik Ungarn, unter der Aufsicht des Ministerrats tätig. Das Zentralkomitee setzt die früheren Parteibeschlüsse über die Lenkung der Arbeitermiliz durch die Partei außer Kraft und ersucht den Vorsitzenden des Ministerrats, eine neue Rechtsnorm bezüglich der Körperschaft auszuarbeiten und zu erlassen. Darin ist es notwendig, die Aufgaben der Arbeitermiliz bei der Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung, bei der Stärkung der Sicherheit des Landes, bei der Hinterland- und Gebietsverteidigung, beim Katastrophenschutz, beim Schutz von Leben und Vermögen sowie bei der Bewahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit festzulegen. IV. Das Zentralkomitee unterstützt den Vorschlag von Ministerpräsident Miklós Németh zur Regierungsumbildung. Es nahm Stellung, dass es im Parlament nicht von seinem Recht bezüglich der Nominierung der Minister Gebrauch macht. Sein früherer diesbezüglicher Beschluss wird außer Kraft gesetzt. […] Das Zentralkomitee ruft – auch unter Abwägung der Initiativen der Parteimitglieder – für Herbst 1989 eine Landeskonferenz der MSZMP ein. Deren genauer Termin, ihre Tagesordnung und der Modus der Delegiertenwahl wird in nächster Zukunft beschlossen. Quelle: MNL OL, 288. f.4/260–261. ő. e., fol. 457–436. Veröffentlicht: Népszabadság, 10. Mai 1989, S. 3. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 32 Rede von Ministerpräsident Miklós Németh im Parlament am 10. Mai 1989 aus Anlass seiner geplanten Regierungsumbildung Am 10. Mai 1989 legte Regierungschef Miklós Németh, nachdem sich seine Kandidaten in den Parlamentsausschüssen vorgestellt hatten, dem Parlamentsplenum seine Vorschläge für eine radikale personelle Erneuerung seines Kabinetts vor. Zuvor war es zu einer Reihe von „Betriebsstörungen“ und Konflikten zwischen den Anhängern radikaler Veränderungen und den bremsenden Kräften innerhalb des Kabinetts, das Németh am 24. November 1988 von Károly Grósz übernommen hatte, gekommen. Zu den neuen Ministern zählten unter anderen Gyula Horn (Äußeres), László Békesi (Finanzen) und Ferenc Glatz (Kultur). In seiner Parlamentsrede am 10. Mai 1989 erläuterte Németh seinen Vorschlag zur Regierungsumbildung den Abgeordneten. Diesbezüglich hob er insbesondere die Notwendigkeit hervor, die „Einheit von Anschauung und Handlung in der Regierung zu stärken“ und einen Generationenwechsel durchzuführen. Damit

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sollten letztlich die personellen Voraussetzungen für den politischen und wirtschaftlichen „Modellwechsel“ bzw. zur Durchführung entsprechender Programme geschaffen werden. *** Miklós Németh, Vorsitzender des Ministerrats: Verehrtes Parlament! Ich habe darum um das Wort gebeten, um meinen Vorschlag zur Regierungsumbildung zu begründen. Ich weiß, dass auch sehr viele von Ihnen der Meinung sind, dass ich die Regierung bereits früher hätte umbilden sollen. Nicht aus formaler Höflichkeit, sondern aufgrund der Erfahrungen der vorangegangenen Monate sage ich: Sie haben recht. Vielleicht hätte ich den Vorschlag, den Károly Hellner bei meiner Wahl [am 24. November 1988] machte, annehmen sollen und ich hätte dann – sozusagen – mit meiner eigenen Regierung an die Sache herangehen können. Es ist möglich, dass das besser gewesen wäre. Ich formuliere deshalb im Konjunktiv, weil es nicht sicher ist, dass es so ist. Ich hätte damals nämlich meine einleitenden Worte, dass ich Sie um Unterstützung für meine [Minister-] Nominierungen bitte, nicht so sagen können. Heute ist die Situation hingegen eine andere, weil der Prozess der Verselbständigung der Regierung bzw. des Regierungschefs das jetzt möglich macht. Ihnen werden der Vorschlag bzw. die vorgeschlagenen Personen nicht erst jetzt vorgestellt. Es ist endlich gelungen, auch hier voranzukommen, und es hat sich die Möglichkeit eröffnet, dass die zuständigen Ausschüsse des Parlaments die Kandidaten kennenlernen, sich ihre Vorstellungen anhören und erfahren, mit welcher Einstellung sich die Kandidaten darauf vorbereiten, ihre Aufgaben zu versehen. Mit einer Ausnahme nahm auch ich an den Ausschusssitzungen teil und ich hatte die Gelegenheit, meine Vorschläge in Verbindung mit einzelnen Personen zu begründen. Ich muss sagen, dass es auf diesen Sitzungen zu einem inhaltsreichen und nützlichen Gedankenaustausch kam. Dort verlauteten auch zahlreiche wertvolle und zu beherzigende Bemerkungen zur Tätigkeit der Regierung. Bevor ich die Gründe für die Veränderungen und jene Gesichtspunkte, die bei der Kandidatur ausschlaggebend waren, vorstelle, erlauben Sie mir, dass ich auch an dieser Stelle den Kollegen, die aus der Regierung ausscheiden, für ihre Arbeit danke. Denjenigen, die einen anderen Posten erhalten, wünsche ich eine erfolgreiche Arbeit, und denjenigen, die in den Ruhestand gehen, Kraft und Gesundheit. Unter denjenigen, deren Entlassung vorgeschlagen wurde, sind solche Personen, die selbst um ihre Entbindung baten, und in den meisten Fällen traf sich dies auch mit meinen Absichten, bei anderen war die Veränderung durch die Notwendigkeit, die Arbeit zu verbessern, begründet.



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Bei der Nominierung der neuen Personen war es ein Gesichtspunkt, die Einheit von Anschauung und Handlung in der Regierung zu stärken, damit Diskussionen innerhalb der Regierung unsere Energie nicht stärker als notwendig binden. Ich musste der Tatsache entgegensehen, dass auch in der Regierung ein Generationswechsel erfolgt. Den zweifellos steinigen Weg der vor uns stehenden schweren Periode will nicht jedes Regierungsmitglied zu Ende gehen und es ist daher begründet, eine belastbare, unternehmerische und zugleich ausgezeichnet vorbereitete, für eine Führungsausgabe nachweislich reife und zu gewinnende jüngere Altersklasse in die Leitung der Regierung einzubeziehen. Dies war auch deshalb notwendig, damit ich – unter Anpassung an die sich wandelnde Rolle der Regierung – den Ministerrat mit Personen verstärken kann, die – neben der notwendigen fachlichen Eignung – eine Politikernatur haben, zum Dialog mit anderen Kräften fähig sind und auf den Foren der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und des politischen Lebens auftreten können. Ich musste auch daran denken, dass dem Parlament bald ein aus mehreren Maßnahmen bestehendes Planpaket vorgelegt werden muss, das zur Verbesserung der Gleichgewichtsverhältnisse in der Wirtschaft notwendig geworden ist. Es ist zweckmäßig, dass an der Vollendung dieses Plans bereits die neue Truppe teilnimmt, damit auch bei der Umsetzung die unverzichtbare Einheit vorhanden ist. Ein weiterer Gesichtspunkt [der Regierungsumbildung] war die Absicht, die mehrjährige Strategie des Modellwechsels und die sich daraus ergebenden Aufgaben unter entsprechenden personellen Voraussetzungen zu entwickeln. Das sogenannte Planpaket wird dem Parlament Ende Mai [1989] und die Regierungsstrategie für den Übergang voraussichtlich Anfang Herbst [1989] von der Regierung vorgelegt werden. Viele Menschen werfen die Frage auf, ob es sich hier um einen einfachen Ministerwechsel oder um eine Umgestaltung, die auch die Funktion der Regierung betrifft, handelt. Es ist offensichtlich, dass es Letzteres war, was die Veränderungen im Arbeitscharakter der Regierung bzw. in der politischen Rolle der Regierung notwendig gemacht hat. In diesem Jahr hat sich die Zahl der Angelegenheiten, Entscheidungen und Beschlüsse, die vor die Regierung gelangen, in einem ungeheuren Maße erhöht. Verglichen mit früheren Perioden haben wir wesentlich mehr Gesetze vorbereitet oder bereiten sie vor. Dies bedeutet ein außerordentlich angespanntes Arbeitstempo. Neben der quantitativen Zunahme hat sich auch der Charakter der Regierungsarbeit verändert. Diese Regierung ist nicht mehr eine einfache Vollstreckerin der politischen Beschlüsse der MSZMP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei], sondern die tatsächliche Gestalterin der politischen Entscheidungen. In diesem Sinne haben wir einen großen Schritt in Richtung der Beendigung des Parteistaats unternommen. Es wurde auch eine Etappe im Verhältnis von MSZMP-Führung, Regierung und Parlament abgeschlossen. Früher basierte ein Regierungsbeschluss in fast allen Fällen auf einem Parteibeschluss und so war die Tätigkeit der Regierung auf eine exekutive Rolle beschränkt. Bei der Regierungsarbeit kam das Prinzip der möglichst geringen Öffentlichkeit zur Geltung. Über die Sitzungen erschien eine formelle Mitteilung, und die Beschlüsse des Ministerrats wurden in ihrer überwältigenden Mehrheit nur in einem

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ganz engen Kreis bekannt. In heiklen Fragen entschieden anstelle der Regierung Regierungsausschüsse, so in der Angelegenheit von Großinvestitionen oder – ich darf es sagen – des Bauxitbergwerks von Nyirád. Die Regierung akzeptierte das Parlament im Laufe der Zeit nicht einmal mehr als Kontrollorgan und selbst als gleichrangigen Partner nicht. 1988 begannen auf diesem Gebiet Veränderungen und die Situation hat sich in diesem Jahr radikal gewandelt. Die MSZMP lenkt die Regierung nicht mehr operativ. Die Regierung hat so die Möglichkeit, ihre Strategie selbstständig zu gestalten und tatsächlich zu entscheiden. Hierüber muss sie gegenüber dem Parlament Verantwortung übernehmen und Rechenschaft ablegen. Folge, aber auch Ergebnis dessen ist, dass in der Regierung in großen und in Detailfragen gleichermaßen heftige Diskussionen geführt werden. Die Regierung ist in einer zugespitzten Situation tätig und es gibt zumeist nur solche Entscheidungsalternativen, deren Wahl immer mit der ernsten Verletzung von Interessen einhergeht. Verehrtes Haus! Im Prozess des [politischen] Modellwechsels ist eine eigentümliche politische Situation entstanden. Bei der Umgestaltung der früheren Machtstrukturen sind wir an einem Punkt angelangt, an dem die konservativen Kräfte nicht mehr in der Lage sind, die Uhr zurückzudrehen, und die Reformkräfte noch nicht in der Lage sind, die entscheidende Wende herbeizuführen. Es besteht die Gefahr, dass die Krise des politischen Systems gleichzeitig zu einer Krise der Regierung, der Staatsorganisation und der öffentlichen Gewalt wird. In dieser Lage bildet die Existenz einer starken und den Reformen verpflichteten Regierung ein nationales Interesse. Die bitteren Erfahrungen der vergangenen sechs Monate beweisen, dass politisches Handeln, selbst wenn es von den besten Absichten geleitet ist, wenig ist, wenn dahinter kein angemessener Sachverstand steht, wenn es zu keiner Willens- und Handlungseinheit der Personen, die zur Umsetzung [der Politik] berufen sind, kommt und wenn die Politik nicht erkennt, dass sie bei der selbstständigen Entwicklung der Wirtschaft und der – im weitesten Sinne verstandenen – Kultur erstrangiger Helfer und nicht Befehlshaber sein muss. Es ist verständlich, dass demokratische politische Mechanismen und praktische Fragen immer wieder in den Mittelpunkt des Lebens und des Interesses treten, wenn die praktische und theoretische Ausgestaltung eines langfristig funktionsfähigen Gesellschaftsmodells die wichtigste Aufgabe bildet. Die gesellschaftlichen und politischen Organisationen, Parteien und Gewerkschaften müssen sich naturgemäß in erster Linie mit der politischen Entwicklung beschäftigen, und es ist ihre gemeinsame Verantwortung, dass sie durch die Sicherstellung friedlicher Methoden und Formen der politischen Umgestaltung eine Verringerung der Spannungen herbeiführen. Hierzu trägt auch die Regierung bei, indem sie das System der rechtlichen Voraussetzungen des Wandels mit einer korrekten fachlichen Arbeit untermauert. Eine besondere Schwierigkeit der gegenwärtigen Situation ist, dass wir die Funktions- und Entwicklungsfähigkeit des Landes gleichzeitig sicherstellen müssen.



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Sie können mit Recht sagen, dass sie bereits mit der Funktionsfähigkeit zufrieden wären. Es ist aber einer der Hauptgründe unserer gegenwärtigen Schwierigkeiten, dass wir auf dem Altar der Sicherstellung der tagtäglichen Funktionsfähigkeit so viele Träume, so viele Ziele, so viele Talente und so viel Zukunftsstreben aufgeopfert haben, dass unser Überwasserbleiben jetzt in den Augen vieler unserer Landsleute bereits fraglich geworden ist. Auch ich glaube, dass der Erhalt der Funktionsfähigkeit unseres wirtschaftlichen und geistigen Lebens nicht nur eine elementare Pflicht, sondern auch eine Existenzfrage ist. Wenn die Funktionsfähigkeit infrage gestellt wird, dann kann unsere Bewegung einem Erstickungsanfall ähnlich werden. Und der Erstickende ist nicht in der Lage, seine Atemtechnik, seinen Stil zu verbessern. Wir hingegen müssen unsere Funktionsfähigkeit bewahren und uns Schritt für Schritt weiterentwickeln. Die Regierung will sich deshalb entschieden auf das Parlament stützen. Sie betrachtet es als ihre wichtigste Aufgabe, die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft aufrechtzuerhalten, das Programm des [wirtschaftlichen] Strukturwandels konsequent durchzuführen, die Voraussetzungen für demokratische Wahlen, für die Tätigkeit politischer Parteien und für die Durchsetzung des Volkswillens zu schaffen und gleichzeitig Frieden und Ruhe in der Gesellschaft zu gewährleisten. Die Regierung empfindet in der Tat das Gefühl, dass sich in der formierenden pluralistischen Gesellschaft die Verhältnisse möglichst schnell klären sollen. Es soll sichtbar werden, wer wer ist, wer was vertritt und wer was will. Und nachdem er für sich, mit sich und mit anderen gekämpft hat, soll er sich mit sich selbst identifizieren und ein berechenbarer Partner für die Anderen sein. Die Regierung will auch hierzu Unterstützung bieten. Wir arbeiten an einer Vorlage, die bezweckt, dass die Regierung den sich formierenden, bildenden und wiederbelebenden Parteien materielle Unterstützung zur Schaffung der materiellen Voraussetzungen für ihre Tätigkeit bietet. Auch damit möchten wir zur Stabilisierung der Verhältnisse und zur Schaffung der Voraussetzungen für eine ruhige Zusammenarbeit beitragen. Verehrtes Parlament! Nur eine vom Parlament unterstützte Regierung kann das Reformzentrum bilden, das den Inhalt, die Richtung und die Dynamik der Reformen bestimmt. Eine natürliche Stütze der gegenwärtigen Regierung ist die MSZMP, in der die Positionen der Reformkräfte eindeutig erstarken. Und gleichzeitig sucht sie Verbündete unter allen verantwortlichen, der Reform verpflichteten politischen Kräften. Aber welche Basis hat die Reform in der Gesellschaft? Ist es wahr, dass – wie einige politische Analysten wiederholt behauptet haben – bei uns die Menschen reformfeindlich sind? Ich meine, das ist nicht wahr. Dieses Volk ist Anhänger der Reformen und hat auch in den vergangenen schweren Jahren seine diesbezügliche Prüfung mit „hervorragend“ abgelegt. Es ist ausreichend, wenn ich darauf verweise, wie mutig es – auch unter oftmals unsicheren Bedingungen – mit [der Gründung von] Unternehmen begonnen hat. Dieser Schritt stellt ein Befürworten der Reformen dar. Die Befürwortung offenbart sich in Taten, auch wenn gewisse Vorbehalte zu spüren

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sind. Hat sich die Regierung diesen Reformen wirklich endgültig verpflichtet? Diesen Vorbehalt müssen wir zerstreuen. Der Markt ist mit all seinen Widersprüchen in unserem Leben in Erscheinung getreten und wir akzeptieren die Folgen davon oft nur schwer. Das kommt daher, dass wir die tatsächlichen Werte des Marktes jahrzehntelang verleugneten bzw. den Markt selbst durch eine komplizierte wirtschaftliche und behördliche Struktur ersetzen wollten. Unsere Entscheidung, die Schaffung einer Marktwirtschaft zu fördern, die die soziale Situation und die Eigenarten unserer Nation berücksichtigt, ist in der tagtäglichen Praxis nur schwer nachzuvollziehen. Manchmal haben wir das Gefühl, der Tempowechsel ist nicht kontinuierlich, in den am wenigsten erwarteten Augenblicken holpert der Wagen plötzlich nach vorne und noch öfter schüttelt er sich durch das Zurückschalten. Das Übel liegt wahrscheinlich in unserem Geschwindigkeitsgefühl und in der Über- und Unterschätzung der Leistungsfähigkeit des Motors. Wenn die Wirkung des Marktes ungünstig ist, wird sofort im Chor gefordert, den Leerlauf einzulegen. So geschieht es oft, dass sich der Motor im Leerlauf befindet und Treibstoff verbraucht, aber keine Leistung bringt. Einer der Punkte, von dem aus wir dem Druck der Wirtschaftslage entgehen können, ist sicherlich der, dass wir uns fragen, wie wir in den mikrowirtschaftlichen Zellen ein kontinuierliches, unmittelbares und dauerhaft wirkendes Interesse der Menschen, die bereit und fähig zum Unternehmertum sind, sicherstellen können. Einer der größten Fehler der Regierung war, dass ihr Denken und Handeln Gefangene der makroökonomischen Lage und der Absicht, diese zu verändern, blieben. Veränderungen, die die gesamte Wirtschaftsstruktur beeinflussen, können aber nur so verwirklicht werden, wenn der Wandel in den Basiszellen beginnt. Eine der Hauptschwierigkeiten ist aber gerade die, dass es nur wenige Basiszellen gibt, die in der Lage sind, selbstständig unternehmerisch zu handeln, und es viele große Organisationen gibt. Diese Situation ist in den folgenden drei Jahren vor allem anderen abzuändern. Die Regierung muss die Zahl der großen wirtschaftlichen Einheiten mit den Instrumenten des Marktes verringern und für die vorläufig wenigen kleinen und mittleren Unternehmen, die vom Gesichtspunkt der Zukunft aber eine Schlüsselposition haben, Sicherheit schaffen. Die nächste Periode muss ein Zeitalter der individuellen Initiative und der Genossenschaften sein. Die Eigentümerfrage wird jetzt von vielen Menschen so verstanden, dass die krankhaft funktionierenden großen Organisationen um jeden Preis und unter Einsatz jedes ideologischen Arguments erhalten werden müssen. Ich denke, dass derjenige Eigentümer, der sich nicht den wahren wirtschaftlichen Per­ spektiven stellen will, ein schlechter Wirt ist. In den vergangenen Wochen hat der Fall der Schiffswerft von Óbuda große Wellen geschlagen. Darin haben sich Zeichen von Zuversicht und Bedenken zugleich offenbart. Zuversichtlich stimmt, dass sich die Leiter eines Großbetriebs, der sich in einer schwierigen Lage befindet, dem Problem der unumgänglichen Strukturveränderung stellen. Die Leiter der Mehrheit der Betriebe, die sich in einer derartigen



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Situation befinden, stellen sich nämlich nicht dem Problem, sondern begeben sich in den Windschatten und ersuchen die Regierung um Geld. Es stimmt zuversichtlich, dass es Unternehmensleiter gibt – und sie werden immer mehr –, die in Rechnung stellen, dass es eine reale Möglichkeit gibt, im Wettbewerb zu bestehen, und die nach einem Weg suchen, das Eigentum lebendig und nutzbar zu machen. Sie nehmen dies auch dann in Kauf, wenn die Lasten und Risiken dieser schweren Entscheidungsreihen riesig sind. Beängstigend ist hingegen, wenn es abgelehnt wird, der Situation ins Auge zu sehen. Auch diese Haltung trat in den Diskussionen zum Vorschein. Es werden der öffentlichen Meinung falsche Gegensatzpaare vorgesetzt. Was ist das für eine Situation, wenn – so fragen sie beispielsweise – auch ehrliche Menschen ihre Arbeit verlieren? Wer so etwas fragt, lässt außer Acht, dass die Existenz eines Betriebs oder Arbeitsplatzes nicht davon abhängt, ob dort ehrliche Menschen arbeiten, sondern davon, ob erfolgreich und gewinnbringend produziert wird. Wenn die Situation nämlich nicht so ist, dann lässt die riesige Zahl von Menschen, die einer verlustreichen Tätigkeiten nachgehen, das Einkommen, das eine riesige Zahl von ehrlichen, einer gewinnbringenden Tätigkeit nachgehenden Menschen produziert, verschwinden. (Beifall.) Und dann ist zwar der Arbeitsplatz von niemandem in Gefahr, alle werden aber ehrliche, arme Menschen sein. Und das kann nicht unser Ziel sein. Es handelt sich um einen Standpunkt, der sich an den unumgänglichen Schritten des Strukturwandels nicht mit konkreten, positiven Vorschlägen beteiligen will, der, indem er sich an den Glauben und die Strukturen einer vergangenen Epoche klammert, auf ein Wunder hofft. Es lohnt sich aber nicht, auf solche Wunder zu hoffen. Deshalb stellt sich uns die Frage, wie können wir den Glauben derjenigen, die handeln und die Dinge in eine gute Richtung verändern wollen, stärken? Diese Bestärkung verstehe ich natürlich nicht auf die alte Art und Weise, sondern so, dass man die vereinigten Kräfte, die sich für positive Bestrebungen und Wertverpflichtungen einsetzen, klar sichtbar und entscheidend machen muss. In Verbindung mit konkreten Fällen soll sich herausstellen, wer der Reformer, der verantwortungsvolle Eigentümer und der Bürger des Landes, der auch auf seinem Stück Boden die Inte­ ressen der gesamten Nation verwirklicht, ist, und wer derjenige ist, der die Interessen der Nation als nachrangig betrachtet und nur seine eigenen Interessen durchsetzt. Ausgehend hiervon muss einer der Eckpunkte des dreijährigen Aktionsprogramms, das gerade im Entstehen ist und Ihnen im Herbst vorgelegt werden wird, die Beantwortung der Frage sein, wie wir es erreichen können, dass die Teilnahme, das Interesse, die Motivation und die Verpflichtung in der Mikrosphäre gestärkt werden. Es ist meine Überzeugung, dass ohne dies die Angespanntheit in der Gesellschaft und in den einzelnen Menschen bestehen bleibt, auch auf dem Spielplatz des Ulti-Kartenspiels am Sonntagnachmittag oder beim missvergnügten Schweigen während des Abendessens in der Familie – anstelle, dass diese Spannungen zu Triebkräften der tatsächlichen praktischen Veränderungen in der örtlichen Umgebung werden. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit daher in Richtung der Mikrosphäre, der Bewegungen der autonomen, sich von unten organisierenden Gemeinschaften und

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dem Wandel der Interessensverhältnisse zuwenden. Wir dürfen nicht an der alten, leider auch heute noch angewandten Methode der linearen Restriktion, die Menschen und Moral vernichtet, festhalten. Das ist so, wie wenn in einem Luftschiff alle Passagiere gleichzeitig herunterblicken, anstelle, dass sie entscheiden, welcher Sandsack abgeworfen werden muss. Das Ergebnis ist spürbar: Das Luftschiff sinkt weiter. Es muss hingegen erreicht werden, dass es um jeden Preis steigt. Verehrtes Parlament! Die bisherige Phase meiner Tätigkeit als Regierungschef wird beinahe ganz von einer Losung umschlossen, die – so meine ich – bei Weitem nicht schmeichlerisch gemeint ist. Die Losung lautet „Verwalter“. Ich nehme die Verwalterrolle auf mich und füge gleich hinzu, dass diese Rolle jetzt jeder verantwortliche Mensch an seinem eigenen Platz übernehmen muss. Was mich betrifft, haben mir meine Vorgänger die Erledigung von Aufgaben überlassen, die Angelegenheiten des Landes sind und die bisher niemand erledigt hat. Und wenn niemand versucht, diese Aufgaben zu übernehmen, dann wird dadurch die Zukunft des Landes und des Volkes endgültig zerstört. Es handelt sich um heikle Angelegenheiten, um eine große Bankrottmasse, deren Liquidierung nicht so vollzogen werden kann, dass wir die glückliche Bevölkerungsmasse ununterbrochen mit einem weißen Glacé-Handschuh anfassen. Was jetzt getan werden muss, wird bei den Menschen keinen Beifall finden. Und ich verstehe, dass derjenige, der auf Beifall wartet, am liebsten abwartet, dass die Dinge erledigt werden, und er danach von einer konsolidierten Basis aus eine glücklichere Zukunft verkünden kann. Nun, und solange? Bis dahin dürfen keine populären, sondern es müssen sinnvolle Maßnahmen getroffen werden. Es muss eine Lösung gefunden werden, damit wir aus der Schuldenfalle herauskommen, damit wir die defizitären Tätigkeiten beenden, damit wir die Inflation bremsen, damit wir dem Niedergang des Lebensniveaus Einhalt gebieten und damit wir den Unterricht, das Gesundheitswesen, die Kultur und die Moral verbessern. Solange müssen wir die Marktwirtschaft aufbauen, die Eigentumsverhältnisse umgestalten, die Rechtsstaatlichkeit herbeiführen, das Land in eine wirkliche Demokratie überführen und solange – nebenbei – auch für die Funktionsfähigkeit des Landes sorgen. Nun, das sind also die Dinge, zu deren Erledigung die Regierung berufen ist. Damit sie das mit Erfolg machen kann, muss sie es auf sich nehmen, die Lage schonungslos aufzudecken, die öffentliche Meinung einzuweihen und offen Bilanz darüber zu ziehen, wie das Land in die gegenwärtige Situation geraten ist. Wir müssen jegliches unverantwortliche Versprechen vermeiden. Nach einem solchen würden sich die Menschen vielleicht auch gar nicht so sehnen, wenn sie glaubwürdige, allgemein verständliche Erklärungen auf ihre Fragen erhalten würden. Bisher haben sie nur Halbwahrheiten und Teilerklärungen, die Teilinteressen entsprechen, gehört. Ich bekenne mich dazu: kein Herumerklären, für alles eine ehrliche Begründung. Und zu einer solchen muss ganz bis zu den Wurzeln gegriffen werden. Danach zu streben, Lehrsätze von Gedankengebäuden unmittelbar praktisch zu verwirklichen, ist auch im Allgemeinen ein verfehltes Unterfangen. Aber wenn diese Idee dann noch deformiert wird und für Andere zur Pflicht gemacht wird, ist dies eine



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sichere historische Sackgasse. Dieses Land hat lange Zeit diesen Weg beschritten. Es musste nach Glaubenssätzen gelebt werden, so, als ob es sich um objektive Gesetze handeln würde. Auf wirtschaftlichem Gebiet beispielsweise wurden als Grundgesetz des Sozialismus der ungebrochene Anstieg des Lebensniveaus, die Verringerung der Preise infolge der Erhöhung der Produktivität, die Vollbeschäftigung und so weiter verkündet. Bei der Verteilung kam es zu unerfüllbaren Aufgabenstellungen und übermäßigen Versprechungen ohne wirtschaftliche Grundlage: kostenloser Unterricht und kostenloses Gesundheitswesen, Leistungen der Gesellschaftsversicherung als staatsbürgerliches Recht und noch vieles mehr. Die Gangbarkeit dieses – von anderen bestimmten – Weges ist schon ziemlich früh in vielerlei Hinsicht bezweifelt worden. Es wurde auch versucht, den Weg gangbar zu machen. Die Reform von 1968 versuchte dies. Da aber kein neuer Weg gewählt wurde, sondern nur der alte Pfad da und dort ausgebessert wurde, führte die Reform nach kurzer Zeit in den Graben. Und diejenigen, die sie dahin brachten, versuchten dann nachzuweisen, dass eine Reform gar nicht notwendig sei. Und das kann vor dem Volk am besten so bewiesen werden, dass sich das Lebensniveau nur ohne Reform wirklich erhöhen werde. Es war in der Tat ein teuflischer Plan, die Reformideen vor den Menschen so zu diskreditieren, dass die Abkehr von den Reformen durch eine Erhöhung des Lebensniveaus ohne Deckung belohnt wurde. Und es erfolgten der von 1973 bis 1978 andauernde schnelle Anstieg des Lebensniveaus sowie eine zumeist mit zentraler Hilfe bzw. Subventionen gewährleistete stabile Entwicklung der Unternehmen, während sich in der Welt die Leistung der ungarischen Wirtschaft aufgrund der – bis zur Langeweile bekannten – Veränderungen auf dem Weltmarkt rasant entwertete. Es trat eine Situation ein, dass das Volk materiell aufstieg, während die Leistungen des Landes auf der Waage des internationalen Wettbewerbs immer weniger wogen. Und obwohl die damalige Führung diesen Widerspruch Ende der 1970er Jahre erkannte, glaubte sie noch immer, dass ein Lebensniveau, das nicht durch Leistung gestützt wird, verteidigt werden könne, dass man die Produktionsstrukturen ohne Opfer umgestalten könne und dass man die Wirtschaft ohne eine Veränderung des Systems der politischen Institutionen erneuern könne. Infolge dieser schweren Irrtümer – und während man fast tödliche Illusionen verbreitete – häufte sich eine gewaltige Schuldenmasse an, die heute eine riesige Belastung darstellt. Diese legt unsere Hände beinahe in Fesseln und schreibt uns in zahlreichen Bereichen eine Zwangsbahn vor. Die Zins- und Tilgungslast dieser Schulden ist eine Summe, die gegenwärtig jährlich 3 Milliarden Dollar übersteigt. Darüber hinaus müssen wir für den Import aus kapitalistischen Staaten etwa 5 ½ Milliarden Dollar zahlen, was zusammen bereits eine Ausgabe von 8 ½ bis 9 Milliarden Dollar bedeutet. Dem steht eine Exporteinnahme von ungefähr 6 Milliarden Dollar entgegen. Die für ein Gleichgewicht fehlende Summe kann verringert werden, wenn die Bilanz des Fremdenverkehrs aktiv ist, das Übrige können wir aber nur durch neuerliche Kreditaufnahmen begleichen. Wir müssen jährlich also 2

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½ bis 3 Milliarden Dollar Kredit nur deshalb aufnehmen, damit wir die Lasten unserer Schulden zahlen können. Und hiervon kommt der Entwicklung nichts zugute. Das ist also der Kern der geerbten Situation. Heutzutage kann man viel darüber hören, dass die gegenwärtige Führung nur dann glaubwürdig sein kann, wenn sie sich vom Erbe der Vergangenheit distanziert. Was wir als Fehler oder Verbrechen der Vergangenheit beurteilen, davon müssen und können wir uns in der Tat distanzieren. Das gilt sowohl für die Politik als auch für die Wirtschaft. Wir können das Erbe aber nicht zurückweisen, wir müssen seine Lasten noch lange Zeit mit uns tragen. Es hängt nicht davon ab, ob wir Vertrauen bekommen, weil wir uns von unseren Vorgängern distanzieren, sondern davon, dass wir mit unseren Taten beweisen, dass wir anderes wollen und auch anderes machen. In der gegenwärtigen Situation müssen wir uns – unter Vereinigung aller verantwortlichen Kräfte – zum Erbe der Vergangenheit bekennen, und zwar so, dass wir uns zugleich eindeutig von den Fehlern der Vergangenheit distanzieren. Das wird auch die Aufgabe bei der Entscheidung über das Kraftwerk von Bős–Nagymaros sein. Wir alle wissen, dass es schon lange nicht mehr nur um das Kraftwerk geht. Bős– Nagymaros wurde zum Symbol eines zur Überwindung verurteilten Modells. Das ist völlig verständlich. Seit Mitte der 1970er Jahre wiederholte die politische Führung nämlich die wirtschaftspolitischen Fehler der 1950er Jahre. Viele staatliche Großinvestitionen, die die enge Parteiführung beschloss oder absegnete, sind Bankrott gegangen. Auch die Entscheidung über das Wasserkraftwerk von Bős–Nagymaros fügt sich in diese Reihe ein. Diese Entscheidung wurde auf antidemokratische Art und Weise gefällt. (Beifall!) Ich gebe allen Recht, die das beanstanden, und sage zusammen mit ihnen, dass endgültig mit diesem schlechten Entscheidungsmechanismus gebrochen werden muss. Aber auch mit diesem Erbe müssen wir mit Anstand kämpfen. Die Frage „wie?“ droht bereits damit, die Nation zu spalten. Und zwar müssen wir eine Lösung finden, die das Land nicht in eine politische Krise treibt, unsere Umwelt nicht mit einer Katastrophe bedroht und unseren internationalen Beziehungen keine nicht mehr zu behebenden Schäden zufügt. Bei der Formulierung der letzten Entscheidung wird die Regierung nicht von Gesichtspunkten des Prestiges geleitet werden. Wir wollen auch in dieser Frage mit Anstand und Achtung in der nächsten Sitzungsperiode vor das Parlament und vor das Volk treten. Verehrtes Parlament! Ich möchte kurz auch darüber sprechen, aufgrund welcher Gesichtspunkte die Regierung die Modernisierung der organisatorischen Ordnung der zentralen Staatsverwaltung weiterführt bzw. sie vorbereitet. Die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte entwickelte Staats- und Staatsverwaltungstätigkeit und die rechtlichen Regelungen, die ihren Rahmen absteckten, gingen von der Allmächtigkeit von Staat und Recht aus und institutionalisierten Lenkungsformen, -mittel und -methoden, die sich bereits überlebt hatten. Gleichzeitig binden sie in der zentralen, regionalen und örtlichen Staatsverwaltung sowie außerdem in den Institutionen und



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Unternehmen einen beträchtlichen Personalbestand und leben so Lohn- und sonstige Kosten auf. Die Anschauung, die eine Allmächtigkeit der Staatsverwaltung voraussetzt, und die dementsprechende Praxis müssen durch eine wesentlich gemäßigtere zentrale Intervention abgelöst werden. Wir überprüfen die den wirtschaftlich-gesellschaftlichen Zielen nicht entsprechenden, veralteten und wirkungslosen Lenkungsinstrumente und -methoden und werden einen beträchtlichen Teil von diesen beenden. In Bereichen, in denen auch weiterhin ein gewisses Maß an staatlicher Intervention begründet ist, werden wir Formen der Einflussnahme entwickeln, die mit den Erfordernissen einer modernen, demokratischen Gesellschaftsordnung und der Marktwirtschaft in Einklang stehen. Die Vorbereitung dieser Reformen ist in erster Linie eine Aufgabe der Regierung und der zentralen Staatsverwaltungsorgane. Die bisherigen Erfahrungen beweisen aber, dass die Aufgabe alleine mit organisatorischen Maßnahmen oder personellen Veränderungen nicht erfolgreich zu lösen ist. Ein radikaler Wandel erfordert ein überlegtes Handeln in mehrere Richtungen. Dementsprechend ist eine Überprüfung der geltenden rechtlichen Regelungen, die die Linderung der übermäßigen bürokratischen Bindungen und die Auflösung überkommener Rechtsinstitutionen bewirken soll, im Gange. Die Regierung möchte das Budget der zentralen Staatsverwaltungsorgane für Verwaltungszwecke kürzen, um auch auf diese Weise eine Rationalisierung der Organisationen und ihrer Tätigkeit zu fördern oder gar zu erzwingen. Ich möchte an dieser Stelle ankündigen, dass der Vorschlag, das Staatsamt für Kirchenangelegenheiten aufzulösen, auf der Tagesordnung des Ministerrats steht. (Beifall!) Darüber wird in nächster Zukunft entschieden. Bei der Ausarbeitung des Vorschlags berücksichtigen wir die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen der jüngsten Vergangenheit. Staatliche Kirchenpolitik wird es auch in Zukunft geben, diese werden wir aber nicht mit den Mitteln der öffentlichen Gewalt, sondern in erster Linie mit politischen Mitteln ausüben. Wir werden uns jedes bürokratischen Eingriffs, der die Autonomie der verschiedenen Kirchen und Konfessionen verletzt und im Widerspruch zur Durchsetzung der Gewissensfreiheit steht, enthalten. Das Verhältnis von Staat und Kirche muss auf einem regelmäßigen Dialog und partnerschaftlichen Verhältnis beruhen. In der letzten Zeit wurde die Tätigkeit des Staatsamts für Jugend und Sport auf verschiedenen Foren mit sehr bedeutender und intensiver Kritik bedacht. Viele forderten Rechenschaft in erster Linie über die im Interesse der Jugend unternommenen Maßnahmen bzw. über deren Ausbleiben, aber auch die Sportverwaltung stieß auf Kritik. Es ist zwar zweifellos Tatsache, dass das vermeintliche oder tatsächliche Scheitern nicht eindeutig auf die Rechnung des dafür verantwortlichen Organs geschrieben werden kann, heute können wir aber bereits eindeutig feststellen und müssen es offen sagen, dass die Schaffung des Staatsamts für Jugend und Sport damals eine falsche Entscheidung war. (Beifall!) Das Amt konnte den zuvor gestellten

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Erwartungen nicht gerecht werden. Hauptsächlich blieb es bei seinen Aktivitäten im Interesse der Jugendlichen hinter den Erwartungen zurück. Zu seiner Ehrenrettung sei gesagt, dass ihm auch nicht die Instrumente, die für einen Erfolg unverzichtbar gewesen wären, zur Verfügung standen. Dementsprechend überprüfen wir auch die Reorganisationsmöglichkeiten auf diesem Gebiet der Verwaltung. Die Arbeiten in diese Richtung sind im Gange, soviel ist aber schon sicher, dass die Erledigung der Aufgaben in Verbindung mit der Jugend aus dem Aufgabenkreis des Amts genommen wird, da sie zur Verantwortung der gesamten Regierung gehören. Die Berücksichtigung der besonderen Situation der Jugend, die Verbesserung der Umstände der Studenten, Berufsanfänger und Familien gründenden Jugendlichen bzw. der Aufbau eines institutionellen Systems, das dies sicherstellt, kann nicht Aufgabe eines zentralen Staatsorgans sein. Die spezielle Situation der Schicht, die die zukünftige Erwachsenengeneration bildet, muss auf allen Gebieten von sämtlichen zentralen Organen im Zuge der von ihnen getroffenen Maßnahmen aufmerksam verfolgt werden. Die Probleme der Jugend können nur durch eine komplexe staatliche Tätigkeit überwunden werden. Wir untersuchen auch, ob die Organisationen der zentralen Wirtschaftslenkung und die von ihnen versehenen Aufgaben in Einklang mit den veränderten Umständen und mit unseren wirtschaftlichen Zielsetzungen stehen. In diesem Bereich ist es besonders wahr, dass nicht nur die eine oder andere kleinere Neuausrichtung notwendig ist, sondern eine Veränderung der Verwaltungsphilosophie, die den Erfordernissen einer Marktwirtschaft mit gemischtem Eigentum adäquat ist. Die ersten Schritte hierzu wollen wir in Anpassung an den Rahmen der Budget- und Planungsreform unternehmen. Ihre Details arbeiten wir bis zum Ende des Jahres aus. In beträchtlichem Maße ändern sich Ausmaß und Inhalt der staatlichen Aktivitäten in Verbindung mit Fragen, die zum Bereich von Preis, Lohn, Wettbewerb sowie Arbeitsangelegenheiten gehören, es ändern sich aber auch die sich in diesem Bereich offenbarenden gesellschaftlichen Ansprüche. Es ist offensichtlich, dass dieser inhaltlichen Veränderung auch von organisatorischer Seite her nachgekommen werden muss. Die wünschenswerte Organisation muss allerdings gemäß der Aufgabe gestaltet werden und nicht umgekehrt. Wir dürfen nicht – wie es früher mehrmals geschehen ist – dem Fehler verfallen, dass wir zuerst eine Organisation ins Leben rufen und ihr dann einen Aufgabenbereich zuteilen. Gerade deshalb wäre es noch verfrüht, über konkrete Vorstellungen zu sprechen, die Arbeiten in diese Richtung sind nämlich noch im Stadium der Vorbereitung. Verehrtes Parlament! Ich denke, dass die Tätigkeit des Parlaments, die in der letzten Zeit aktiver geworden ist, zugleich auch eine verstärkte Kontrolle der Regierungsarbeit bedeutet. Die Ausschüsse lernen im Zuge ihrer Tätigkeit die Arbeit der Regierung auch im Detail kennen und kontrollieren sie. Und auf den Plenarsitzungen entscheiden sich in der Kompetenz des Parlaments die besonders wichtigen Fragen unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens sowie unserer politischen Ordnung. Ich fühle, dass sich – trotz des angespannteren Arbeitstempos und der



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von Zeit zu Zeit an die Oberfläche tretenden Schwächen der Vorbereitungsarbeit – die Zusammenarbeit zwischen dem Parlament und der Regierung in der vergangenen Zeit verbessert hat. Dennoch glaube ich, dass es begründet ist, die Institution des Misstrauensantrags und der Misstrauensabstimmung gegenüber der Regierung in unsere Geschäftsordnung aufzunehmen. Diese würden im Falle der Vermutung von Fehlern der Regierung dem verehrten Parlament die Möglichkeit eröffnen, die Kompetenz der Regierung infrage zu stellen, und zugleich eine Methode schaffen, die Unterstützung der Aktionen der Regierung durch das Parlament zu stärken. Ich vertrete die Meinung, dass diese in der Praxis erprobte Konstruktion die Kooperation von Parlament und Regierung unterstützen würde. Die Regierung ist bereit, sich von Zeit zu Zeit dieser Form der Beurteilung zu stellen. Die Regierung in ihrer – so hoffe ich – neuen Zusammensetzung will sich der Situation entschieden und verantwortungsbewusst stellen und alles unternehmen, um die Verfallsprozesse aufzuhalten. Sie will die Funktionsfähigkeit unserer Gesellschaft bewahren, damit wir uns gleichzeitig auch auf den neuen Entwicklungspfad begeben können. Ich bin mir bewusst, dass sämtliche Bemühungen der Regierung zu wenig sein werden, um das Ziel zu erreichen, wenn wir nicht die Unterstützung der reformverpflichteten Kräfte der Gesellschaft erhalten. Ich bin mir auch bewusst, dass das gegenwärtige politische Kräftemessen und die gegenwärtigen politischen Kämpfe gerade diejenigen Menschen, die der Sache der Nation am stärksten verpflichtet sind, in verschiedene Lager führen. Ich will nicht Teil, aber auch nicht Opfer irgendeines von individuellen oder Gruppeninteressen geleiteten Machtkampfes werden. Wenn ein solcher Kampf unser öffentliches Leben beherrschen würde, dann würden sich selbst verstümmelnde Kräfte in den politischen Kampf, der mit tatsächlichen und sauberen Mitteln auszufechten ist, ziehen. Dieser Kampf würde die Kraft der Nation schwächen und die Chance des Aufstiegs verschlechtern. Die schöpferische Energie der Nation würde sich in unwürdigen Positionskämpfen zerreiben. Wir müssen verhindern, dass sich diejenigen Kräfte, die etwas füreinander und für das Volk tun können, gegeneinanderstellen. Dieses Volk verdient und fordert zu Recht eine verantwortliche Politik, selbstverständlich nicht nur vom Parlament und von der ihm verantwortlichen Regierung, sondern auch von allen anderen politischen Kräften. In jüngster Zeit ist es Mode geworden, die politische Glaubwürdigkeit gegenseitig infrage zu stellen. Es wäre schlimm, wenn man die politische und moralische Glaubwürdigkeit nicht mit Taten, sondern mit Worten beweisen wollte. Die Regierung ersucht die Gesellschaft nicht um einen ungedeckten Kredit. Seit 1948 ist dies die erste Regierung, über deren Taten auf demokratischem Wege, im Rahmen des Parlaments, Rechenschaft verlangt werden kann. Dies erfolgt regelmäßig sowohl im Parlament als auch auf sonstigen Foren der Öffentlichkeit. Diese Regierung hängt tatsächlich vom Werturteil des Parlaments und der Wähler ab, insbesondere in Zukunft. Unsere Verantwortung ist gemeinsam; deshalb rufe ich Sie auf, die vergängliche Zeit

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nicht aus unseren Händen rinnen zu lassen. Ergreifen wir gemeinsam die historische Chance und machen wir unter demokratischen Rahmenbedingungen, mit gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Verantwortung und unter Konzentration der besten Kräfte der Nation das, was das Interesse unserer Nation erfordert. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Starker Beifall.) Quelle: Az Országgyűlés 45. ülése, 1989. május. 10., szerda [45. Sitzung des Parlaments, Mittwoch, 10. Mai 1989]. In: Országgyűlési értesítő 1985–1990 [Parlamentsmitteilungen 1985–1990]. Budapest 1990, S. 3769–3779. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UX-3ed053 (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 33 Länderaufzeichung Ungarn der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt vom 29. Mai 1989 Anderthalb Wochen vor dem Kurzbesuch von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher in Ungarn (am 9. Juni 1989) erstellte die bundesdeutsche Botschaft in Budapest eine sogenannte Länderaufzeichnung Ungarn für das Auswärtige Amt. Die darin enthaltenen Ausführungen zur ungarischen Innenpolitik verweisen darauf, dass die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei – auch wenn sie am Ziel eines „sozialistischen Staatswesens“ festhalte – ein freiheitliches und demokratisches System anstrebe und „eine Vielzahl kleiner Fortschritte“ im Demokratisierungsprozess gemacht habe, wobei insbesondere auf die „weitgehende Pressefreiheit“ verwiesen wird. Hinsichtlich der Außen- und Sicherheitspolitik thematisiert das Dokument das Ziel Ungarns, seine Beziehungen zu Westeuropa auszubauen, einvernehmlich mit der Sowjetunion zu handeln und weiterhin im Warschauer Pakt zu verbleiben. Bezüglich der Wirtschaftspolitik stellt die Aufzeichnung die ungarischen Bemühungen heraus, „marktwirtschaftlichen Kriterien im ungarischen Wirtschaftsleben zu mehr Spielraum zu verhelfen und Ungarn für ausländische Unternehmen attraktiver zu machen“. Mit Blick auf den Außenhandel wird einerseits – in Richtung Westen – auf dessen Liberalisierung verwiesen, andererseits – aufgrund des Scheiterns einer Reform des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe – das ungarische Bemühen betont, die bilateralen Wirtschaftskontakte zu den Staaten des östlichen Lagers zu entwickeln. Der Absatz „Kulturpolitik“ macht auf deren Dezentralisierung und Liberalisierung aufmerksam, weist aber gleichzeitig auch auf die Finanzierungsprobleme in diesem Bereich bzw. die nachteiligen Folgen – auch für die ungarndeutsche Minderheit – hin. Und bezüglich der Beziehungen zur Bundesrepublik stellt das Dokument die herausragende politische und wirtschaftliche Bedeutung West-



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deutschlands heraus, führt die wichtigsten Wirtschaftsabkommen auf und bezeichnet die Ereignisse vom März 1988 (westdeutsche Kulturwoche in Ungarn und Eröffnung des Goethe-Instituts in Budapest) als bisherigen Höhepunkt der Kulturbeziehungen.

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Innenpolitik Ungarn befindet sich im Umbruch vom Einparteienstaat zu einem Verfassungssystem mit Orientierung an den demokratischen westlichen Staaten. Der Reformkurs der USAP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] zielt auf ein freiheitliches, demokratisches, aber weiterhin sozialistisches Staatswesen, in dem die Partei ihren verfassungsrechtlich garantierten Führungsanspruch aufgibt und sich künftig in einem Mehrparteiensystem ihren Platz allein mit politischen Mitteln zu behaupten suchen wird. Auf die Verflechtung zwischen Partei und Staat (Nomenklatura) und die administrative Durchsetzung ihrer politischen Absichten will sie künftig verzichten. Diese Absichten der Reformer innerhalb der Partei sind allerdings dort noch nicht vollständig durchgesetzt. Ein Sonderparteitag im Frühherbst 1989 wird voraussichtlich nach der Reformparteikonferenz im Mai 1988 eine weitere Weichenstellung bringen. Schon heute aber hat sich in Ungarn durch eine Vielzahl kleiner Fortschritte eine politische und Verfassungswirklichkeit herausgebildet, die noch zu Beginn 1988 undenkbar schien. Die weitgehende Pressefreiheit ist heute ebenso selbstverständlich wie die Möglichkeit der alternativen Gruppen und Parteien, sich, auch durch Verbreitung mittels der staatlichen Nachrichtenagentur, öffentlich bekanntzumachen. Eine Zensur im herkömmlichen Sinn existiert nicht mehr. Im Verlauf des Jahres 1988 hat auch die verdeckte Presselenkung stark abgenommen. In den elektronischen Medien kommen die oppositionellen Gruppen ebenfalls zu Wort. Allerdings ist dort ein gewisses Übergewicht der USAP weiter vorhanden. Auffallend ist das gestiegene Selbstbewusstsein der ung. Journalisten. Es gibt praktisch keine Tabuthemen mehr. Im geplanten Informationsgesetz soll das Recht auch zur Gründung privater Rundfunkanstalten festgeschrieben werden. Eine verfassungsmäßige Garantie der Meinungsfreiheit im westlichen Sinne wird von der in Vorbereitung befindlichen neuen Verfassung erwartet. Die Jugendorganisation der USAP hat sich auf ihrem 12. Kongress im April 1989 selbst aufgelöst. Statt des kommunistischen (KISZ [Kommunistischer Jugendverband]) gibt es nun einen „Demokratischen Jugendverband“ (DEMISZ), der als lockere Organisation verschiedener Einzelgruppen in größerer Distanz zur Partei arbeiten soll. Die offizielle Mitgliederzahl (ca. 380.000) reflektiert nur sehr unvollkommen

47  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle und Übersichtsdaten zu Ungarn und seiner Geschichte.

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den tatsächlichen Einfluss der Organisation auf die ungarische Jugend. Da in der Vergangenheit eine quasi-Zwangsmitgliedschaft auf vielen Ebenen bestand, wird sich unter den neuen Gegebenheiten eine realistische Einschätzung der Anhängerschaft von DEMISZ erst nach einer gewissen Übergangsphase finden lassen. Schärfster Konkurrent der von vielen Jugendlichen immer noch mit großer Skepsis gesehenen ehemaligen Parteijugend ist der unabhängige Jugendverband FIDESZ [Bund Junger Demokraten] (ca. 3.000 Mitglieder), eine oppositionelle, sehr aktive Gruppe. Bisher hauptsächlich von Schülern und Studenten getragen, sucht FIDESZ Zugang zu Jugendlichen aus allen sozialen Schichten, um die verbreitete Skepsis und Politikfeindlichkeit der jungen Menschen zu überwinden. Es gibt inzwischen, noch vor Erlass der neuen Verfassung, im politischen Leben Elemente der Demokratisierung und Gewaltenteilung. Das Parlament und in ihm eine Gruppe unabhängiger Abgeordneter, gewinnen zunehmend an kritischem Selbstbewusstsein gegenüber der Regierung. Einzelne Abgeordnete mussten sich einem Misstrauensvotum ihrer Wähler beugen und das Mandat abgeben. In Vorbereitung einer Kabinettsumbildung im Mai 1989 verzichteten Partei und Patriotische Volksfront demonstrativ auf Einflussnahme. Die individuellen Freiheitsrechte (Reisefreiheit, Schutz vor obrigkeitlichen Übergriffen) werden zunehmend selbstverständlich. Gleichwohl verharrt die Bevölkerung gegenüber der politischen Entwicklung in vorsichtigem Abwarten. Außenpolitik Auch in seiner Außenpolitik sucht Ungarn die Öffnung unter gleichzeitiger Absicherung des Reformkurses bei der Vormacht Sowjetunion, aber nimmt zunehmend weniger Rücksicht auf die sozialistischen Nachbarn. Die ungarische Politik ist bestimmt von dem Wunsch, möglichst enge Verbindungen zum wirtschaftlich prosperierenden Westeuropa herzustellen und auch so die gewünschte Identität als mitteleuropäischer Staat mit westlicher Orientierung zu vertiefen. Ungarn blickt besorgt auf die Perspektive eines westeuropäischen Binnenmarktes und sucht nach Möglichkeiten, sein Entree dorthin institutionell abzusichern. Das Handelsabkommen vom Herbst 1988 wird als erster Schritt einer Annäherung an die Europäischen Gemeinschaften verstanden. Die angestrebte Mitgliedschaft im Europarat ist ein Beispiel für den ungarischen Wunsch, die Verknüpfung mit Westeuropa möglichst breit anzulegen. Im Blick auf das eigene Bündnis sieht die ungarische Außenpolitik allein die Notwendigkeit, sich mit der Vormacht Sowjetunion einvernehmlich zu bewegen und jeden Verdacht eines Sonderweges aus dem Warschauer Pakt hinaus zu vermeiden. Der ungarische Wunsch nach Lösung aus dem Bündnis durch Auflösung der Bündnisse wird aber offen ausgesprochen. In seinen Reformabsichten sieht sich Budapest auf einer Achse mit Moskau-Warschau. Die Mitgliedschaft im RGW, die gesamte Austauschstruktur zwischen den RGW-Partnern empfindet die ungarische Politik als überholt und den Erfordernissen der eigenen Wirtschaftsreform abträglich. Früher



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verfolgte Absichten zur Modernisierung des RGW werden in Budapest angesichts des anhaltenden Widerstandes anderer Partner – DDR, ČSSR und Rumänien – inzwischen aufgegeben. Die ungarische Wirtschaftspolitik konzentriert sich vielmehr auf die jeweils bilateralen Beziehungen und mit der Absicht, diese künftig in konvertibler Währung zu gestalten und so in das gesamte Außenhandelssystem einzupassen. Die Beziehungen zum Nachbarn Rumänien sind nachhaltig gestört. Das Streitthema zur Behandlung der ungarischen Minderheit in Rumänien bleibt hierbei ein wesentlicher Faktor. Auch zum Nachbarn Tschechoslowakei gibt es in den Beziehungen zunehmend belastende Elemente, zuletzt die Auseinandersetzung um das Staudammprojekt Nagymaros. Zur DDR hat sich das Verhältnis weiter abgekühlt. Die gegenseitige Systemkritik bleibt zwar verhalten, aber auch hier zeigt die ungarische Politik, dass sie mit ihrer Öffnung nach Westen, z. B. mit dem demonstrativen Abbau der Grenzanlagen, keine besondere Rücksicht auf die kleineren WP-Partner nimmt. Sicherheitspolitik Die ungarische Sicherheitspolitik ist unverändert in den Warschauer Pakt eingebettet. Die Stärke der ungarischen Volksarmee beträgt z. Zt. etwa 105.000, die der Grenztruppen, die dem Innenministerium unterstehen, etwa 15.000 Mann. Die Wehrpflicht beträgt 18 Monate. Begrenzte Mittel – knapp 5% des BSP [Bruttosozialprodukt] – werden für Verteidigungszwecke aufgewandt; sie zwingen, 1989 beginnend, zu einer Verringerung des Personals um zunächst 9.500 Mann, Beschaffungsvorhaben wurden gestreckt. Auf Grund des ungarisch-sowjetischen Stationierungsvertrages vom Mai 1957 ist in Ungarn die Südgruppe der Truppen (SGT) disloziert. Im Zuge des angekündigten sowjetischen Teilabzugs wird sie bis 1990 um etwa 10.400 Mann verringert werden. Im Anschluss wird ihre Stärke bei etwa 62.000 Mann liegen (3 Divisionen und mehr als 6 Regimenter Luftstreitkräfte). Wie alle sowjetischen Truppen im Vorfeld sind diese Kräfte aus dem Stande einsatzbereit und verfügen über modernste Bewaffnung und Ausrüstung. Wie in den übrigen WP-Hauptstädten gibt es auch in Budapest zusätzlich einen hochrangigen sowjetischen Vertreter des Oberkommandos der Vereinten Streitkräfte des WP. Die militärische Bedeutung Ungarns beruht auch auf seiner geographischen Lage als „strategischer Drehscheibe“ in Südosteuropa, mit Blickrichtung sowohl nach Westen als auch nach Süden. Wirtschaft Im Berichtszeitraum wurde eine Reihe von Maßnahmen verabschiedet, die darauf abzielen, marktwirtschaftlichen Kriterien im ungarischen Wirtschaftsleben zu mehr Spielraum zu verhelfen und Ungarn für ausländische Unternehmen attraktiver zu machen. Das Gesellschaftsgesetz vom Oktober 1988 sieht vor, dass ab 01.01.1989 eine Reihe von Unternehmensformen westlichen Musters von der OHG [Offene Handels-

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gesellschaft] bis zur AG [Aktiengesellschaft] möglich werden, die unterschiedlichen Eigentumsformen (staatlich, genossenschaftlich, privat, ausländisch) sind gleichberechtigt und untereinander kombinierbar, die Aktienemission durch Staatsunternehmen an Private ist ebenso möglich wie Unternehmen in 100%igem ausländischem Eigentum. Im November 1988 erfolgte die Einführung einer einheitlichen Unternehmensgewinnsteuer von 50% (bzw. 40% bei einem Jahresgewinn unter 3 Mio. Ft [Forint]) und im Dezember ein Gesetz über ausländische Investitionen, das die Vorschriften und Vergünstigungen für ausländische Direktinvestitionen in Ungarn zusammenfasst und ausländischen Investoren größere Sicherheit (auch durch Transfergarantie) vermitteln soll. Stufenweise wird eine Bankenreform durchgeführt. Zunächst wurde die Nationalbank auf eine Notenbankfunktion und die Ausübung des Devisenmonopols beschränkt. Geschäftsbanken übernahmen das Bankgeschäft mit der Unternehmenskundschaft, seit 01.01.1989 können Geschäftsbanken auch Privatkunden betreuen. Seit dem 01.03.1989 existiert ein begrenzter Devisenmarkt und die Nationalbank hat mit Offenmarktoperationen begonnen. Die Nationalbank strebt eine Festlegung des Wechselkurses sowie der Zinsraten durch Marktkräfte an. Angesichts des noch in embryonalem Zustand befindlichen Kapitalmarktes – der geringe Umsatz und die fehlende Konvertibilität wirken hemmend – herrscht Skepsis bezüglich der Erfolgsaussichten der Budapester Börse. Die 1988 etwas überhastet eingeführte Einkommensteuer und Mehrwertsteuer sind zwar auf heftige Kritik seitens der Bevölkerung gestoßen, jedoch war die Steuerehrlichkeit der Ungarn im Berichtszeitraum auch für das Finanzministerium unerwartet hoch. Etwa 6 Mrd. Forint höher als erwartet waren die Einnahmen des Fiskus. Seit Anfang 1989 soll eine neu geschaffene Arbeitslosenunterstützung die als Folge der Reformen auftretenden sozialen Härten zumindest teilweise auffangen. Der ungarische Außenhandel wird weniger als früher vom Staat kontrolliert. Den Unternehmen ist es nun gestattet, selbständig Außenhandel gegen konvertible Währungen zu betreiben. Das Interesse von Unternehmen an Kompensationsgeschäften ist weiterhin groß. Etwa 40% der ungarischen Hartwährungseinfuhren dürfen seit dem 01.01.1989 ohne Genehmigung importiert werden. 1988 konnte das ungarische Leistungsbilanzdefizit um ca. 250 Mio. US-$ auf 592 Mio. US-$ (1987: 846 Mio.) reduziert werden. Dieses Ergebnis wurde vor allem dank einer erstmals seit 1985 positiven Handelsbilanz (495 Mio. US $) erzielt, die von den relativ günstigen Terms of Trade für Ungarns traditionelle Exportgüter profitierte. Der enorme Devisenabfluss (etwa 630 Mio. US $) durch den ungarischen Konsumtourismus, vor allem nach Österreich, schmälerte jedoch den potentiell positiven Effekt auf die Leistungsbilanz. Die erhöhten Zinszahlungen an das westliche Ausland (1,05 Mrd. US $ statt 885 Mio. US $ im Vorjahr) taten ein Übriges.



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1988 wurde kein Wirtschaftswachstum erzielt, die Industrieproduktion stagnierte auf dem Niveau von 1987. Mit 17,4 Mrd. US $ Bruttoauslandsverschuldung in konvertibler Währung zum 31.12.1988 (netto – nach Abzug von Gold- und Devisenreserven sowie Auslandsforderungen – 11,07 Mrd. US $) ist Ungarn weiterhin das pro Kopf der Bevölkerung am höchsten verschuldete Land Osteuropas. Rund 57% der Ausfuhrerlöse in Hartwährung mussten 1988 für den Schuldendienst aufgebracht werden. Das ungarische Bemühen um intensive Beziehungen zu den westlichen Ländern fand am 26.09.1988 einen vorläufigen Höhepunkt mit dem Abschluss des Handelsund Kooperationsabkommens mit der EG, das den beschleunigten Abbau der Mengenbeschränkungen bis Ende 1992 vorsieht. Kulturpolitik Im Zuge der politischen Veränderungen hat sich die Kulturpolitik in Ungarn dezentralisiert und damit auch liberalisiert. Die Selbständigkeit der Universitäten und Schulen wurde ausgebaut und hat zu regen Aktivitäten besonders im Bereich der Kontaktaufnahme zu westlichen Ländern geführt, unter denen die Bundesrepublik Deutschland einen herausragenden Platz einnimmt. Andererseits hat die schlechte wirtschaftliche Situation des Landes zu einer Instabilität geführt, die sich im Kulturbereich z.B. durch eine sinkende Zahl von wissenschaftlichen Publikationen, reduzierte Neuanschaffungen von ausländischen Büchern in den Bibliotheken, schlechten baulichen Zustand öffentlicher Bildungseinrichtungen und Mangel an technischen Geräten für Forschung und im Gesundheitswesen negativ bemerkbar macht. Die deutsche Minderheit verfügt nunmehr über weitgehende theoretische Möglichkeiten, ihre Sprache und Kultur zu pflegen, stößt jedoch in der Praxis teilweise noch auf eine gewisse Zurückhaltung bei ihren Mitgliedern auf der einen Seite, wegen mangelnder finanzieller Ressourcen andererseits auf Grenzen beim Ausbau des ungarndeutschen Schulwesens und beim Aufbau von eigenen Kulturhäusern sowie bei Austauschvorhaben im Bereich von Schüler- und Städtepartnerschaften. Die deutsche Sprache wurde im ungarischen Erziehungswesen aufgewertet, vor allem durch die Einführung des sog. zweisprachigen Unterrichts (Deutsch als Unterrichtssprache in bestimmten Fächern) an Grundschulen und Gymnasien. Ungarn hat sich im Bereich des Films, der bildenden Kunst und des Balletts (Győr) einen internationalen Ruf geschaffen; im deutschen Sprachraum meldet sich auch die ung. Literatur mehr und mehr zu Wort. Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland a) Politisch Ungarn sieht in der Bundesrepublik Deutschland den wichtigsten westlichen Partner und die Brücke nach Westeuropa. Es erwartet von uns positives Interesse, Mitdenken

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mit dem Reformprozess und Verständnis gegenüber der anhaltend problematischen Wirtschaftslage des Landes. Am intensiven Besuchsaustausch sind die Bundesländer, besonders Bayern und Baden-Württemberg, erheblich beteiligt. In berlinpolitischen Fragen, ebenso wie gegenüber den Versuchen von Deutschen aus der DDR, über Ungarn in den Westen zu gelangen, ist die ungarische Bereitschaft spürbar, uns im Rahmen der Obliegenheiten gegenüber den sozialistischen Partnern entgegenzukommen. In der Behandlung der deutschen Minderheit sieht die ungarische Politik einen Posten der umfassend positiven Bilanz in den bilateralen Beziehungen, – zugleich auch ein Vorzeige-Beispiel gegenüber Rumänien. b) Wirtschaftlich Der Umsatz des Warenverkehrs war 1988 gegenüber dem Vorjahr um 1,1% rückläufig. Die deutschen Ausfuhren nach Ungarn waren im Berichtszeitraum um 5,1% geringer, die Einfuhren um 4,1% höher als im Jahr zuvor. Der deutsche Exportüberschuss – 1986 auf Rekordhöhe von 915,2 Mio. DM – hat dementsprechend um 43,3% abgenommen. Unter den Handelspartnern der Bundesrepublik Deutschland in Osteuropa wurde Ungarn von Polen überrundet und nimmt jetzt den 3. Platz ein. Aus ungarischer Sicht ist die Bundesrepublik Deutschland zweitwichtigster Handelspartner nach der Sowjetunion. Ihr Anteil an der ungarischen Gesamtausfuhr stieg von 9,9% (1987) auf 10,9%, der Anteil an der Gesamteinfuhr stagnierte bei 13,9%. Der Jahresumsatz 1988 betrug 5,022 Mrd. DM. Ein wesentliches Charakteristikum der deutsch-ungarischen Wirtschaftsbeziehungen ist die hohe Zahl der Kooperationen, an denen auf deutscher Seite vor allem die mittelständische Wirtschaft beteiligt ist (nach letzten Angaben etwa 300). Im Bereich der Gemischten Gesellschaften nimmt die Bundesrepublik Deutschland mit etwa 70 Unternehmen von 300 vor Österreich die erste Position ein. Der Strom der Ungarnreisenden aus der Bundesrepublik Deutschland ist auch 1988 wieder angeschwollen. 1.278.000 Personen wurden gezählt – Vorjahr: 1.097.100 – eine Steigerungsrate von 16,5%. Die Botschaft erteilte 1988 für Reisende aus Ungarn in die Bundesrepublik Deutschland 314.160 Visa (+ 47,3%). Wirtschaftsabkommen: Protokoll vom 27.07.1957 über den Warenverkehr (noch gültiger Briefwechsel über Filmwirtschaft); Abkommen vom 11.11.1974 über wirtschaftliche, industrielle und technische Zusammenarbeit, mit Unterzeichnung in Kraft; Abkommen vom 18.07.1977 zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, seit 27.10.1979 in Kraft;



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Abkommen über die steuerliche Behandlung von Straßenfahrzeugen im internationalen Verkehr, am 12.02.1981 unterzeichnet, ab 12.03.1981 angewendet, in Kraft seit 11.06.1982; Deutsch-ungarische Vereinbarung über Erleichterung der Arbeitsaufnahme im Rahmen wirtschaftlicher Zusammenarbeit vom 23.07.1981 (Notenwechsel vom 23.07.1981); Vertrag vom 30.04.1986 über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen, in Kraft seit 07.11.1987; Abkommen vom 07.10.1987 über Zusammenarbeit in der wissenschaftlichen Forschung und technologischen Entwicklung, mit Unterzeichnung in Kraft; Abkommen vom 15.01.1988 über die Binnenschifffahrt, noch nicht ratifiziert; Vereinbarung zwischen der Deutschen Bundespost und der Ungarischen Postverwaltung auf dem Gebiet des Post- und Fernmeldewesens vom 1. März 1988, mit Unterzeichnung in Kraft; Abkommen über Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes vom 12.12.1988; Werkvertragsabkommen vom 17.01.1989. c) Kulturell Die Kulturbeziehungen zwischen der Bundesrepublik und Ungarn konnten auf der Grundlage des Kulturabkommens von 1977 und durch zunehmendes Inte­ resse auf beiden Seiten stetig ausgebaut werden. Sichtbares Zeichen dafür war die Eröffnung eines Goethe-Institutes in Budapest im März 1988. Die Gründung eines ungarischen Kulturinstituts ist in Vorbereitung. Die Umsetzung der „Erklärung zur Förderung der Ungarndeutschen“ in der Form zahlreicher breitgefächerter Sprachförderungsmaßnahmen ist 1988 erstmals angelaufen und wird 1989 fortgesetzt, vorbereitet durch eine weitere Sitzung der Unterkommission für das Jahr 1989 im November 1988. Herausragendes Ereignis in den deutsch-ungarischen Kulturbeziehungen war die Kulturwoche der Bundesrepublik Deutschland in Ungarn vom 09. bis 15. März 1988. Insgesamt laufen im kulturellen Bereich die gegenseitigen Kontakte direkt und reibungslos, im Wesentlichen lediglich von Fall zu Fall behindert durch finanzielle Engpässe auf ungarischer Seite. Eine wichtige Rolle in den Beziehungen spielt der kulturelle Austausch initiiert durch verwandtschaftliche Bindungen der ungarndeutschen Minderheit in die Bundesrepublik Deutschland. Die offiziellen Kontakte werden durch zahlreiche Besuche insbesondere auf Länderebene belebt, vor allem im Bereich des Austausches von Schülern und Studenten durch Vermittlung von Schul-Partnerschaften einerseits, durch die Vorbereitung eines Äquivalenzabkommens andererseits. Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

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Dokument 34 Gesetz Nr. XIII des Jahres 1989 über die Umwandlung von Wirtschaftsorganisationen und Wirtschaftsgesellschaften, verabschiedet vom ungarischen Parlament am 30. Mai 1989 (gekürzt) Das Gesetz, das am 13. Juni 1989 veröffentlicht wurde und am 1. Juli 1989 in Kraft trat, sieht im Kontext des Übergangs zu einer Marktwirtschaft in Ungarn bzw. in Anknüpfung an das Gesetz über die Wirtschaftsgesellschaften vom Oktober 1988 die Möglichkeit vor, die Organisationsformen von Wirtschaftsgesellschaften und Wirtschaftsorganisationen umzuwandeln. Eine besondere Rolle spielt dabei die Umwandlung der sozialistischen Staatsunternehmen in kapitalistische Wirtschaftsgesellschaften. Zweck des Gesetzes war es letztlich, Interesse am Unternehmensvermögen zu schaffen sowie ausländisches und einheimisches Kapital in größerem Maße ins ungarische Wirtschaftsleben einzubeziehen. Neben dem Zweck und der Gültigkeit des Gesetzes (I. Kapitel) beschäftigt sich die Rechtsnorm mit den allgemeinen Regelungen, die für alle sich umwandelnden Gesellschaften bzw. Organisationen gelten (II. Kapitel), sowie mit den speziellen Reglungen für die Umwandlung von Staatsunternehmen in Wirtschaftsgesellschaften (III. Kapitel). Darüber hinaus werden in den folgenden Kapiteln die Regelungen der Umwandlung von Genossenschaften in Wirtschaftsgesellschaften sowie der Umwandlung von einer Form der Wirtschaftsgesellschaft in eine andere Form festgelegt, also z. B. die Umwandlung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) in eine Aktiengesellschaft (AG). Das Gesetz bildete eine wesentliche Grundlage des ungarischen Privatisierungsprozesses, war allerdings in der Öffentlichkeit und in Fachkreisen – auch wegen seiner wirtschaftlich-sozialen Auswirkungen – heftig umstritten. *** Gesetz Nr. XIII des Jahres 1989 über die Umwandlung von wirtschaftenden Organisationen und Wirtschaftsgesellschaften Das Parlament verabschiedet – in Anerkennung, dass zur Weiterentwicklung der wirtschaftenden Organisationen die Schaffung von Interesse am Vermögen und die Einbeziehung von äußerem – inländischem und ausländischem – Kapital sowie zu all dem die Anwendung angemessener Organisationsformen notwendig ist; – unter Berücksichtigung, dass Wirtschaftsgesellschaften die Möglichkeit einer organischen Entwicklung, die sich den Erfordernissen des Marktes anpasst, sowie eine störungsfreie Umwandlung von einfacheren Gesellschaftsformen in komplexere Formen und umgekehrt benötigen; – unter Beachtung, dass es in der ungarischen Rechtsordnung gegenwärtig keine diesbezüglichen Regelungen gibt;



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– ausgehend von § 339 des Gesetzes Nr. VI über die Wirtschaftsgesellschaften (Ges. G.), der die Regelung dieser Fragen an ein gesondertes Gesetz verweist; im Interesse der Förderung der für die erwähnten Zwecke erfolgenden Umwandlung das folgende Gesetz: Erster Teil Einführungsbestimmungen I. Kapitel Zweck und Gültigkeit des Gesetzes § 1 Ziel dieses Gesetzes ist es, unter Erklärung der allgemeinen Rechtsnachfolge Regelungen zur Umwandlung der unter seine Gültigkeit fallenden wirtschaftenden Organisationen in Wirtschaftsgesellschaften sowie zur Umwandlung der Wirtschaftsgesellschaften untereinander zu treffen, einschließlich der Fusion und Entflechtung letzterer. § 2 (1) Unter die Gültigkeit dieses Gesetzes fallen: a) Staatsunternehmen, b) sonstige staatliche Wirtschaftsorgane, c) Unternehmen einzelner juristischer Personen, d) Tochtergesellschaften, e) Genossenschaften, f) Wirtschaftsgesellschaften mit den in Absatz (3) festgehaltenen Beschränkungen und g) Kleingewerbetreibende und private Händler in den in § 3 bestimmten Fällen und Bereichen. (2) Nicht unter die Gültigkeit des Gesetzes fallen: a) Gesellschaften der Wasserwirtschaft und b) Arbeitsgemeinschaften mit juristischer Persönlichkeit. (3) Auf Vereinigungen (Kapitel IV des Ges. G.) beziehen sich nur die Bestimmungen der Kapitel II, V und IX dieses Gesetzes. § 3 Wenn sich der Kleingewerbetreibende oder private Händler bei der Steuerbehörde als Steuersubjekt gemäß Gesetz Nr. IX des Jahres 1988 anmeldet, kann er sich mit seinem gesonderten Vermögen zu einer Einpersonengesellschaft mit beschränkter Haftung umwandeln. § 4 Die Bestimmungen des Gesetzes sind nicht auf die unter seine Gültigkeit fallenden Organisationen, die sich in Liquidation oder freiwilliger Liquidation befinden, anzuwenden.

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II. Kapitel Gemeinsame Regelungen § 5 (1) Die sich umwandelnde Organisation ist verpflichtet, a) einen Umwandlungsplan oder einen Vereinigungsvertrag (§ 61) zu erstellen sowie b) eine Vermögensbilanz gemäß einer gesonderten Rechtsnorm anzufertigen. Diese Vermögensbilanz muss – wenn ein solcher in der Organisation tätig ist – durch den Aufsichtsrat (Kontrollausschuss) und in jedem Fall durch einen Buchprüfer geprüft werden; der ständige Buchprüfer der Wirtschaftsgesellschaft ist hierzu nicht befugt. (2) Wenn die sich umwandelnde Organisation seine Vermögensobjekte (Sachvermögen, Rechte mit Vermögenswert, Wertpapiere usw.) neu bewertet, dann muss sie die Differenz zwischen dem Wert gemäß der Buchführungsbilanz und dem Wert gemäß der Vermögensbilanz mit dem akkumulierten Vermögen verrechnen. (3) Es ist verboten, den Wert des Vermögens höher als den vom Buchprüfer festgestellten Wert zu bestimmen. (4) Die Bilanz der umgewandelten Gesellschaft kann das Stammkapital (Grundkapital) und das Vermögen über dem Stammkapital (Grundkapital) bzw. das Gründervermögen, das akkumulierte Vermögen und das Rücklagevermögen enthalten. Im Zuge der Umwandlung darf der Wert des Rücklagevermögens nicht erhöht werden. § 6 Der Umwandlungsplan muss enthalten: a) Bestimmung des wirtschaftlichen Ziels, das mit der Umwandlung erreicht werden soll, b) Absichtserklärung der neuen Mitglieder c) Entwurf des Gesellschaftsvertrags (der Satzung) der neuen Gesellschaft, d) alles, was dieses Gesetz für den Fall der Umwandlung in eine der Gesellschaftsformen vorschreibt. § 7 Die Entscheidung bezüglich der Umwandlung muss vom entscheidungsberechtigten Organ und im Falle einer Genossenschaft von der Leitung (§ 35, Abs. 1) in einer offiziellen Zeitung – zweimal hintereinander in einem Abstand von mindestens 15 Tagen – veröffentlicht und den bekannten Gläubiger auch unmittelbar zugestellt werden. Die diesbezügliche Bekanntmachung muss die wichtigsten Angaben über den Umwandlungsplan und die Vermögensbilanz enthalten. § 8 (1) Die im Zuge der Umwandlung gegründete Wirtschaftsgesellschaft ist allgemeiner Rechtsnachfolger der umgewandelten (fusionierten) Organisation(en). (2) Rechtsinhaber der vor der Umwandlung erteilten behördlichen Genehmigungen wird die neue Gesellschaft sein, bei laufenden Angelegenheiten muss die neue Gesellschaft als Rechtsinhaber aufgeführt werden. Die neue Gesellschaft ist verpflichtet, die Umwandlung den die Genehmigungen erteilenden Behörden unverzüglich mitzuteilen.



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§ 9 (1) Die Umwandlung führt nicht zum Verfall der gegenüber der sich umwandelnden Organisation bestehenden Forderungen. (2) Im Falle der Umwandlung zu einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder einer Aktiengesellschaft können die Gläubiger, deren nicht abgelaufene Forderungen gegenüber der sich umwandelnden Gesellschaft vor der ersten Veröffentlichung der Entscheidung über die Umwandlung entstanden sind, von der sich umwandelnden Organisation eine Sicherheit gemäß des Zivilgesetzbuches bis zur Höhe ihrer Forderungen verlangen, und zwar innerhalb von 30 Tagen nach der zweiten Veröffentlichung der Entscheidung. Ein Versäumen dieser Frist geht mit einem Rechtsverlust hinsichtlich der Forderung der Sicherheit einher. § 10 Sofern dieses Gesetz keine anderen Bestimmungen festschreibt, müssen im Zuge der Umwandlung (Fusion) die Regelungen des Gesetzes über die Wirtschaftsgesellschaften bezüglich der Gründung der einzelnen Wirtschaftsgesellschaften angewendet werden. § 11 (1) Die aufgrund dieses Gesetzes erfolgende Umwandlung (Fusion) lässt keine Steuerpflicht sowie – mit Ausnahme der Gerichtskosten – keine Abgabenpflicht entstehen. (2) Wenn die Summe der Beteiligung einer natürlichen Person am Gründervermögen der umgewandelten Gesellschaft größer ist, als sie vor der Umwandlung war, dann muss für den Teil der Differenz, der aus den früher akkumulierten Vermögen gedeckt wurde, Einkommenssteuer bei der Herausnahme des Vermögens aus der Gesellschaft gezahlt werden, vorausgesetzt, dass a) die umgewandelte Gesellschaft diesen Vermögensanteil gesondert registriert und b) über die Geldeinlage kein Inhaberwertpapier ausgestellt wurde. Zweiter Teil Umwandlung einzelner wirtschaftender Organisationen zu Wirtschaftsgesellschaften § 12 (1) Ein Staatsunternehmen, ein sonstiges staatliches Wirtschaftsorgan, ein Unternehmen einzelner juristischer Personen, eine Tochtergesellschaft und eine Genossenschaft können sich zu einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder zu einer Aktiengesellschaft umwandeln. (2) Ein Geldinstitut bzw. eine Sparkasse kann nur in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden. III. Kapitel Umwandlung von Staatsunternehmen in eine Wirtschaftsgesellschaft § 13 Die sich auf die Umwandlung von Staatsunternehmen beziehenden Regelungen sind auch für die Umwandlung von sonstigen staatlichen Wirtschaftsorganisatio-

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nen, einschließlich – mit Ausnahme der Spargenossenschaften und der Tochtergeldinstitute – der nicht in Gesellschaftsform tätigen Geldinstitute, sowie – mit den in diesem Kapitel festgehaltenen Abweichungen – von Unternehmen einzelner juristischer Personen und Tochterunternehmen richtungsweisend. 1. Titel Organisations-, Kompetenz- und Verfahrensregeln Staatliche Vermögensverwaltungsorganisationen § 14 Hinsichtlich des in diesem Gesetz bestimmten Teils der Geschäftsanteile (Aktien), die das Vermögen der zu einer Wirtschaftsgesellschaft umgewandelten Staatsunternehmen verkörpern, üben die staatlichen Vermögensverwaltungsorganisationen die Rechte der Mitglieder (Aktionäre) aus. § 15 Über die Gründung der staatlichen Vermögensverwaltungsorganisationen sowie über die Anerkennung nichtstaatlicher juristischer Personen als staatliche Vermögensverwaltungsorganisationen und über die Regelung all dessen verfügt ein gesondertes Gesetz. Kompetenzregelungen § 16 (1) Über die Umwandlung eines unter Aufsicht der Staatsverwaltung stehenden staatlichen Unternehmens zu einer Wirtschaftsgesellschaft entscheidet – unter Einholung der Meinung des Unternehmens und mit Zustimmung des Finanzministers bzw. im Falle eines Trusts des Ministerrats – das Gründungsorgan. Die Umwandlung kann auch vom Unternehmen beim Gründungsorgan initiiert werden. (2) Bei der Umwandlung eines Trust-Unternehmens entscheidet das Gründungsorgan unter Zustimmung des Trusts. (3) Die in Absatz (1) festgeschriebenen Bestimmungen müssen auch zur Umwandlung von Unternehmen einzelner juristischer Personen angewendet werden, mit der Abweichung, dass zur Entscheidung des Gründungsorgans die Zustimmung des Finanzministers nicht notwendig ist. § 17 Über die Umwandlung eines unter der allgemeinen Leitung des Unternehmensrats und der Vollversammlung (Delegiertenversammlung) der Beschäftigten des Unternehmens tätigen staatlichen Unternehmens zu einer Wirtschaftsgesellschaft entscheidet der Unternehmensrat (die Vollversammlung, die Delegiertenversammlung) mit Zweidrittel-Stimmenmehrheit. (2) Wenn sich der Unternehmensrat (die Vollversammlung, die Delegiertenversammlung) zugunsten der Umwandlung entscheidet, dann ist das Unternehmen verpflichtet, den Umwandlungsplan der staatlichen Vermögensverwaltungsorganisation zu schicken. Das Unternehmen und die Vermögensverwaltungsorganisation können zur Unterstützung der Umwandlung auch einen Umwandlungsausschuss in Anspruch nehmen.



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(3) Das Unternehmen und die Vermögensverwaltungsorganisation können eine Vereinbarung über die Bedingungen und über die Art und Weise der Umwandlung treffen. Wenn innerhalb von 60 Tagen nach der Empfangnahme des Umwandlungsplans keine Vereinbarung zustande kommt und die Seiten die Frist nicht in einer gemeinsamen Übereinkunft verlängern, dann sind für die Bedingungen und die Art und Weise der Umwandlung die in § 19, Absätze (1) und (2), § 21, Absatz (1), § 22, Absatz (19 und (2) sowie in den §§ 23 und 24 festgehaltenen Bestimmungen richtungsweisend. § 18 Über die Umwandlung einer Tochtergesellschaft zu einer Wirtschaftsgesellschaft entscheidet der Direktor (der Direktionsrat), im Falle einer genossenschaftlichen Tochtergesellschaft entscheidet die Genossenschaftsvollversammlung sowie im Falle der Tochtergesellschaft eines Budgetorgans und eines Tochtergeldunternehmens das Gründungsorgan. Voraussetzung und Art und Weise der Umwandlung § 19 (1) Voraussetzung für die Umwandlung eines Staatsunternehmens, das unter der allgemeinen Leitung des Unternehmensrats und der Vollversammlung (Delegiertenversammlung) der Beschäftigten tätig ist, ist, dass die Summe des Stammkapitals (Grundkapitals) der zustande kommenden Wirtschaftsgesellschaft die Summe des in der Vermögensbilanz ausgewiesenen Unternehmensvermögens mindestens um 20 Prozent oder 100 Millionen Forint übersteigt und externe Unternehmer bis zu Höhe des Mehrbetrags eine Beteiligung am Unternehmen übernehmen. Der Mehrbetrag muss auf das Stammkapital (Grundkapital) angerechnet werden. (2) Die Geschäftsanteile (Aktien) der aus einem Staatsunternehmen gebildeten Wirtschaftsgesellschaft gelangen gemäß dem – mit dem Stammkapital (Grundkapital) in Beziehung gesetzten – Anteil der Beteiligung in das Eigentum der in Absatz (1) erwähnten externen Unternehmer. (3) Es ist keine Voraussetzung für die Umwandlung eines unter Aufsicht der Staatsverwaltung stehenden Staatsunternehmens, eines sonstigen staatlichen Wirtschaftsorgans, eines Unternehmens einer juristischen Person und einer Tochtergesellschaft, dass externe Unternehmer eine Beteiligung an der Gesellschaft übernehmen. § 20 Wenn im Falle eines Staatsunternehmens, das unter der allgemeinen Leitung des Unternehmensrats und der Vollversammlung (Delegiertenversammlung) der Beschäftigten des Unternehmens tätig ist, das geplante Stammkapital (Grundkapital) der Gesellschaft niedriger als 80 Prozent der in der Buchführungsbilanz des Unternehmens angegebenen Summe ist, dann kann die staatliche Vermögensverwaltungsorganisation innerhalb von 30 Tagen nach dem Scheitern der in § 17, Absatz (3) erwähnten Vereinbarung Einspruch erheben und ist in diesem Fall berechtigt, die Obergrenze der Vermögensminderung zu bestimmen.

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§ 21 (1) Vom Stammkapital (Grundkapital) einer Wirtschaftsgesellschaft, die sich aus einem unter der allgemeinen Leitung des Unternehmensrats und der Vollversammlung (Delegiertenversammlung) der Beschäftigten tätigen Staatsunternehmen umwandelte, steht ein 20 Prozent entsprechender Geschäftsanteil (Anteilsschein), der auf das in der Vermögensbilanz aufgeführte Geschäftsvermögen entfällt, der staatlichen Vermögensverwaltungsorganisation zu, der Geschäftsanteil (Anteilsschein), der dem in der Vermögensbilanz des sich umwandelnden Unternehmens aufgeführten Wert des kommunalen Boden entspricht, steht dem gemäß der Lage des Bodens zuständigen örtlichen Rat zu. Im Rahmen der in § 17, Absatz (3) erwähnten Vereinbarung darf von dieser sich auf den Boden beziehenden Bestimmung nicht abgewichen werden. (2) Im Falle der Umwandlung eines unter der Aufsicht der Staatsverwaltung stehenden Unternehmens und eines sonstigen wirtschaftenden Organs stehen – wenn externe Unternehmer keinen Anteil übernehmen – sämtliche Geschäftsanteile (Aktien) der staatlichen Vermögensverwaltungsorganisation zu. Im Falle der Umwandlung eines Trust-Unternehmens stehen die Geschäftsanteile (Aktien) dem Trust zu. (3) Im Falle der Umwandlung eines Unternehmens einzelner juristischer Personen und einer Tochtergesellschaft steht – wenn externe Unternehmer keinen Anteil übernehmen – die gesamten Geschäftsanteile (Aktien) dem Gründungsorgan zu. § 22 (1) Die in § 21, Absatz (1) erwähnten Unternehmen dürfen die Geschäftsanteile (Aktien), die auf das gemäß den dort festgeschriebenen Regeln verringerte Unternehmensvermögen entfallen, frei veräußern. 80 Prozent des eingenommenen Gegenwerts stehen der staatlichen Vermögensverwaltungsorganisation, 20 Prozent dem sich umwandelnden Unternehmen bzw. der Gesellschaft zu, das bzw. die damit sein bzw. ihr Vermögen über das Stammkapital (Grundkapital) hinaus erhöht. (2) Bis zur Höhe des in Absatz (1) erwähnten Vermögenswerts können die Gläubiger des Unternehmens zur Befriedigung ihrer Ansprüche eine Beteiligung an der Wirtschaftsgesellschaft übernehmen. Diesbezüglich darf die Bestimmung zur Aufteilung des Gegenwerts nicht angewandt werden. (3) Im Falle der in § 21, Absatz (2) und (3) aufgezählten Unternehmen steht das Veräußerungsrecht der staatlichen Vermögensverwaltungsorganisation, dem Trust bzw. dem Gründungsorgan zu. Das Verfahren gemäß Absatz (2) kann auch in diesem Falle angewandt werden. § 23 (1) Eine Wirtschaftsgesellschaft, die aus einem unter der allgemeinen Leitung des Unternehmensrats und der Vollversammlung (Delegiertenversammlung) der Beschäftigten tätigen Staatsunternehmen hervorgegangen ist, darf die Geschäftsanteile (Aktien), die dem Vermögenswert entsprechen, der gemäß den obigen Regelungen nicht an externe Unternehmen, an die staatliche Vermögensverwaltungsorganisation bzw. an den örtlichen Rat gelangt ist, maximal drei Jahre lang behalten. Während dieser drei Jahre darf sie die Geschäftsanteile (Aktien) veräu-



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ßern; die nicht veräußerten Geschäftsanteile (Aktien) stehen nach Ablauf der drei Jahre der staatlichen Vermögensverwaltungsorganisation zu. (2) 80 Prozent des Gegenwerts der von der Gesellschaft gemäß Absatz (1) veräußerten Geschäftsanteile (Aktien) stehen der staatlichen Vermögensverwaltungsorganisation, 20 Prozent der Gesellschaft zu. Der der Gesellschaft zustehende Teil erhöht das über dem Stammkapital (Grundkapital) liegende Vermögen, aus dem im Falle einer Aktiengesellschaft gemäß den Regelungen von § 244 des Gesellschaftsgesetzes Arbeitnehmeraktien ausgegeben werden müssen. § 24 (1) Zum Treffen der Maßnahmen, die laut Gesellschaftsgesetz zur Umwandlung eines Unternehmens in eine Wirtschaftsgesellschaft notwendig sind, ist im Falle eines unter der allgemeinen Leitung des Unternehmensrats und der Vollversammlung (Delegiertenversammlung) der Beschäftigten tätigen Staatsunternehmen der Unternehmensdirektor verpflichtet und im Falle eines unter Aufsicht der Staatsverwaltung stehenden Unternehmens, eines Unternehmens einzelner juristischer Personen und einer Tochtergesellschaft das Gründungsorgan. (2) Für Verbindlichkeiten eines Unternehmens einzelner juristischer Personen oder einer Tochtergesellschaft (eines Tochtergeldinstituts), die vor der ersten Veröffentlichung der Entscheidung über die Umwandlung entstanden sind, haftet das Gründungsorgan fünf Jahre lang, außer für den Fall, dass eine Rechtsnorm eine kürzere Verjährungsfrist festsetzt. § 25 (1) Wenn das Vermögen gemäß Buchführungsbilanz eines unter der allgemeinen Leitung des Unternehmensrats und der Vollversammlung (Delegiertenversammlung) der Beschäftigten tätigen Staatsunternehmen zu mehr als 50 Prozent aus Beteiligungen an Wirtschaftsgesellschaften besteht, dann ist das Unternehmen innerhalb von zwei Jahren verpflichtet, sich zu einer Wirtschaftsgesellschaft umzuwandeln, und zwar gerechnet von dem Zeitpunkt an dem es das erwähnte Maß erreicht. (2) Wenn das Unternehmen seinen Verpflichtungen gemäß Absatz (1) nicht gerecht wird, dann kann das Gründungsorgan das Unternehmen – gemäß den für unter der Aufsicht der Staatsverwaltung stehenden Unternehmen maßgeblichen Regelungen – in eine Wirtschaftsgesellschaft umwandeln. In diesem Falle ist es nicht notwendig, dass externe Unternehmer eine Beteiligung an dem Unternehmen erwerben. (3) Wenn sich das Vermögen gemäß Buchführungsbilanz eines unter der allgemeinen Leitung des Unternehmensrats und der Vollversammlung (Delegiertenversammlung) der Beschäftigten tätigen Staatsunternehmen im Vergleich zu irgendeinem Jahr der vorangegangenen beiden Kalenderjahre um 20 Prozent verringert hat, dann kann das Gründungsorgan das Unternehmen – unter Anwendung der in Absatz (2) festgelegten Regelungen – in eine Wirtschaftsgesellschaft umwandeln. [§ 26–34] […]48

48  Das IV. Kapitel (§§ 35–45) behandelt die Umwandlung von Genossenschaften in Wirtschaftsgesellschaften, das V. Kapitel (§§ 46–48) enthält gemeinsame Regelungen für die Umwandlung einer

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Quelle: Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 38, 13. Juni 1989, S. 665–668. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 35 Aktennotiz des Auswärtigen Amts vom 5. Juni 1989 über den Sachstand bezüglich des ungarischen Vorhabens der Errichtung eines Donaukraftwerks bei Nagymaros Nachdem die ungarische Führung – im Zuge ihrer Austeritätspolitik – eine Überprüfung von kostenintensiven Großprojekten eingeleitet und sich wachsender Protest gegen das Staudammprojekt bei Nagymaros organisiert hatte, verfügte die Regierung unter Ministerpräsident Miklós Németh am 13. Mai 1989 eine sofortige vorläufige Einstellung der Bauarbeiten an der Donaustaustufe. Die Aktennotiz des Auswärtigen Amts weist darauf hin, dass das Staudammprojekt damit wohl auch endgültig als eingestellt betrachtet werden könne und Ungarn – bei einseitiger Suspendierung des Gabčíkovo-NagymarosVertrags vom 16. September 1977 – mit hohen Schadensersatzforderungen aus Österreich und der Tschechoslowakei rechnen müsse. Die Aktennotiz berichtet zugleich von einer positiven Reaktion von Bundesumweltminister Klaus Töpfer auf den Beschluss der ungarischen Regierung. *** […]49 Großprojekt Donaukraftwerk Nagymaros Sachstand Am 13. Mai 1989 hat die ungarische Regierung einen sofortigen vorläufigen Baustopp für das seit langem umstrittene Kraftwerkprojekt Nagymaros verfügt. Es gilt als so gut wie sicher, dass der Staudamm am Donauknie ca. 40 km nördlich von Budapest auch endgültig nicht gebaut werden wird. Damit ist nach dem Verzicht Österreichs auf den Bau der Staustufe bei Hainburg bereits das 2. Großprojekt an der Donau am Widerstand der Umweltschützer gescheitert. Ein Zusammenhang mit Hainburg

Wirtschaftsgesellschaft in eine andere Form von Wirtschaftsgesellschaft, das VI. Kapitel (§§ 49–51) für die speziellen Regelungen für die Umwandlung in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, das VII. Kapitel (§§ 52–55) die Regelungen für eine Umwandlung in eine Aktiengesellschaft, das VIII. Kapitel (§§ 56–58) die Sonderbestimmungen für die Umwandlung in eine Offene Handelsgesellschaft oder Kommanditgesellschaft, das IX. Kapitel (§§ 59–70) die Fusion bzw. Entflechtung von Wirtschaftsgesellschaften. Abschließend werden verschiedene und Schlussbestimmungen (§§ 71–80) aufgeführt. 49  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.



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besteht auch insofern, als seinerzeit der Auftragsverlust für österreichische Firmen über eine Beteiligung an dem ungarischen Großprojekt ausgeglichen werden sollte: Das Auftragsvolumen für österreichische Firmen aus dem Bau von Nagymaros soll ca. 4 Mrd. ÖS [Österreichische Schillinge] betragen; Leistungen im Wert von ca. 1,5 Mrd. ÖS wurden bereits erbracht. Finanzierung war über langfristige Stromlieferungen (ab 1996 bis zum Jahr 2015) Ungarns an Österreich vorgesehen. Schadensersatzforderungen noch unbekannter Höhe drohen auch seitens der ČSSR: Das bei Gabčíkovo (40 km südöstlich von Hainburg) bereits weitgehend fertiggestellte slowakische Donaukraftwerk (geplante Inbetriebnahme am 01.07.1990) benötigt von seiner Konzeption als Spitzenkraftwerk her einen Ausgleichsdamm auf ungarischer Seite, um den stark schwankenden Wasserdurchlauf aufzufangen. Als reguläres Laufwerk mit weitgehend konstanter Leistung wäre Gabčíkovo für die ČSSR nur noch von beschränktem Nutzen. Diese Konzeption wäre gleichzeitig auch für die gewaltigen Umwelteingriffe des Nagymaros-Projekts verantwortlich gewesen (Umleitung der Donau in ein künstliches Flussbett mit bis zu 20 m hoch aus der Landschaft herausragenden seitlichen Dammbauten). In den bereits eingeleiteten Verhandlungen über eine „mögliche Revision“ des ungarischen Projekts hat die ČSSR bisher hart auf Erfüllung des Gabčíkovo-Nagymaros-Vertrags vom 16.09.1977 bestanden und bei einseitiger Suspendierung durch Ungarn Schadensersatzforderungen auf Grundlage der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 angekündigt. (Informell wurde ein Betrag von umgerechnet ca. 7,5 Mrd. DM genannt.) Die ungarische Seite verfolgt derzeit gegenüber Wien und Prag offenbar das Ziel, eine internationale Untersuchung der „ökologischen und wirtschaftlichen Aspekte“ des Staudammprojekts bzw. seiner Einstellung einzuleiten. BM [Bundesminister] [Klaus] Töpfer hat den vorläufigen Baustopp in einer Presseerklärung vom 22.05.1989 als „wichtige Vorentscheidung“ und „deutliches Signal für den Naturschutz“ begrüßt und auf seine bereits bei früheren bilateralen Kontakten diskret vorgebrachten Bedenken gegen Nagymaros hingewiesen. Deutsche Industrieunternehmen, die als Zulieferer (wie z. B. Siemens) von einer Einstellung des Projekts ebenfalls betroffen wären, haben sich bisher nicht öffentlich geäußert. Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

Dokument 36 Westdeutsch-ungarische Vereinbarung über die Errichtung eines ungarischen Kulturzentrums in der Bundesrepublik Deutschland vom 9. Juni 1989 Nachdem die Bundesrepublik Deutschland und Ungarn bereits im Oktober 1987 ein Abkommen über die gegenseitige Errichtung von Kultur- und Informationszentren

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geschlossen hatten (siehe Dokument 4) und das westdeutsche Zentrum bereits im März 1988 in Budapest eröffnet worden war, wurde mit diesem gesonderten Abkommen die Einrichtung eines entsprechenden ungarischen Kulturinstituts in Stuttgart vereinbart. Auf die Landeshauptstadt Stuttgart war die Wahl vor allem deshalb gefallen, weil sich in Baden-Württemberg viele ungarndeutsche Vertriebene und ungarische Emigranten niedergelassen hatten und so enge kulturelle Bande zu Ungarn bestanden. (Bereits im Herbst 1986 war eine offizielle Städtepartnerschaft zwischen der baden-württembergischen Stadt Fellbach und der ungarischen Stadt Pécs (Fünfkirchen) geschlossen worden.) Die Vereinbarung selbst beschäftigt sich unter anderem mit Organisation, Tätigkeit, Aufgaben, Finanzierung und Personal des Instituts. Die Eröffnung des Zentrums, das bis in die Gegenwart eine wichtige Rolle im deutsch-ungarischen Kulturaustausch spielt, erfolgte knapp ein Jahr später, Ende Mai 1990. *** Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ungarischen Volksrepublik über die Errichtung eines Kultur- und Informationszentrums der Ungarischen Volksrepublik in der Bundesrepublik Deutschland Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und die Regierung der Ungarischen Volksrepublik – auf der Grundlage des Artikels 1 Absatz 3 der Vereinbarung vom 7. Oktober 1987 über die gegenseitige Errichtung von Kultur- und Informationszentren – haben folgendes vereinbart: Artikel 1 (1) Das Kulturinstitut der Ungarischen Volksrepublik in der Bundesrepublik Deutschland wird den Namen „Kultur- und Informationszentrum der Ungarischen Volksrepublik“ (im Weiteren: „Kulturinstitut“) führen. Diese Bezeichnung wird z. B. auf Schildern, in Korrespondenz, Stempeln, Programmen usw. in gleicher Weise benutzt. (2) Das Kulturinstitut hat seinen Sitz in Stuttgart. Seine Tätigkeit übt es auf dem ganzen Gebiet der empfangenden Seite aus. (3) Das Kulturinstitut wird seine Tätigkeit unter den in dieser Vereinbarung festgelegten Bedingungen und in Übereinstimmung mit den Gesetzen und Rechtsvorschriften der empfangenden Seite ausüben. (4) Der ungehinderte Zugang der Öffentlichkeit zu dem Kulturinstitut sowie der normale Betrieb werden sichergestellt.



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Artikel 2 Das Kulturinstitut wird im Geltungsbereich dieser Vereinbarung insbesondere folgende Aufgaben wahrnehmen: 1. Es unterhält eine Bibliothek/ Mediothek, in der Bücher, gedruckte und vervielfältigte Materialien, einschließlich Zeitschriften, Tageszeitungen, Ton- und Bildträger den Interessenten zur Verfügung gestellt werden; 2. es führt kulturelle und wissenschaftliche Veranstaltungen, Vorträge, Schriftstellerlesungen, Seminare, Symposien, Ausstellungen, Filmaufführungen, Konzerte und Theateraufführungen sowie andere künstlerische Darbietungen durch; 3. es führt Sprachkurse durch und unterstützt die Ungarischlehrer und diejenigen, die die ungarische Sprache erlernen möchten; 4. es fördert die wissenschaftlichen Forschungen, die sich mit dem Leben, der Vergangenheit und der Gegenwart des ungarischen Volkes befassen: es unterstützt die Hungarologie; 5. es verbreitet Publikationen und Informationsmaterialien über Ungarn. Artikel 3 Im Einklang mit den geltenden Gesetzen und Rechtsvorschriften kann das Kulturinstitut ein Geschäft eröffnen, in dem Volkskunstgegenstände und Kulturartikel verkauft werden. Artikel 4 Die zuständigen Institutionen beider Seiten werden die Arbeit des Kulturinstituts bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben nach den Artikeln 2 und 3 unterstützen und fördern. Artikel 5 (1) Das Kulturinstitut wird von einem aus der Ungarischen Volksrepublik entsandten Direktor geleitet. (2) Außer dem Direktor können aus der Ungarischen Volksrepublik andere Mitarbeiter für die Bereiche Kultur und Kunst, Wissenschaft und Technologie sowie Verwaltung, Bibliothek/ Mediothek entsandt werden. (3) Erleichterungen für den Direktor und die entsandten Mitarbeiter werden durch Notenwechsel geregelt. Im gegenseitigen Einvernehmen können die im Notenwechsel enthaltenen Regelungen erweitert werden. (4) Der Direktor bzw. sein Beauftragter kann in Fragen der Tätigkeit des Kulturinstituts mit den zuständigen Institutionen der empfangenden Seite – nach deren innerstaatlichen Rechtsbestimmungen – unmittelbar verkehren.

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Artikel 6 Neben dem entsandten Personal kann das Kulturinstitut auch Ortskräfte einstellen. Deren Arbeitsverhältnisse richten sich nach den geltenden Gesetzen und Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland. Artikel 7 (1) Die Ausstattung, einschließlich der technischen Gerate, und das Vermögen des Kulturinstituts sind Eigentum der Ungarischen Volksrepublik. (2) Die finanziellen Lasten für Ausstattung und Betrieb des Kulturinstituts trägt die Ungarische Volksrepublik. (3) Die zuständigen Stellen der empfangenden Seite leisten Unterstützung bei der Unterbringung des Direktors und der entsandten Mitarbeiter des Kulturinstituts. Artikel 8 (1) Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland gewährt im Rahmen ihrer geltenden Gesetze und Rechtsvorschriften Befreiung von Zöllen und Abgaben – für die einzuführenden Ausstattungsgegenstände und Kraftfahrzeuge des Kulturinstituts sowie für andere Gegenstände, die für die Tätigkeit des Kulturinstituts bestimmt sind, – für persönliches Umzugsgut einschließlich Kraftfahrzeugen von entsandten Mitarbeitern sowie deren im Haushalt lebenden Angehörigen. (2) Die Bundesrepublik Deutschland gewährt dem Kulturinstitut für die von ihm erbrachten Leistungen Umsatzsteuerbefreiung im Rahmen ihrer geltenden Gesetze und Rechtsvorschriften. Artikel 9 Die steuerliche Behandlung des entsandten Personals des Kulturinstituts richtet sich nach den Bestimmungen des Abkommens vom 18. Juli 1977 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Ungarischen Volksrepublik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern von Einkommen, Ertrag und Vermögen sowie nach den geltenden Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland. Artikel 10 (1) Die entsandten Mitarbeiter des Kulturinstituts und deren Familienangehörige (Ehegatten und ledige minderjährige Kinder) erhalten von den zuständigen Behörden eine längerfristige Aufenthaltserlaubnis möglichst innerhalb von 14 Tagen nach Antragstellung. Für die Dauer ihrer Gültigkeit berechtigt die Auf-



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enthaltserlaubnis, die unter Vorlage von Nachweisen über den vorgesehenen Beschäftigungszeitraum bei der zuständigen Ausländerbehörde zu beantragen ist, zu mehrmaligen Ein- und Ausreisen. Die für die erste Einreise erforderliche Aufenthaltserlaubnis in der Form des Sichtvermerks (Visum) erteilt die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest innerhalb von 8 Arbeitstagen. (2) Die bei dem Kulturinstitut beschäftigten entsandten Arbeitnehmer bedürfen keiner Arbeitserlaubnis zur Ausübung ihrer Beschäftigung. Artikel 11 Soweit in dieser Vereinbarung nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt wird, gilt für das Kulturinstitut der Ungarischen Volksrepublik die Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ungarischen Volksrepublik über die gegenseitige Errichtung von Kultur- und Informationszentren vom 7. Oktober 1987. Soweit zur Herstellung der Gegenseitigkeit im Zusammenhang mit der vorliegenden Vereinbarung Veränderungen der Vereinbarung vom 7. Oktober 1987 erforderlich sind, werden beide Seiten hierüber übereinkommen. Artikel 12 Entsprechend dem Viermächte-Abkommen vom 3. September 1971 wird diese Vereinbarung in Übereinstimmung mit den festgelegten Verfahren auf Berlin (West) ausgedehnt. Artikel 13 Diese Vereinbarung tritt an dem Tag in Kraft, an dem beide Seiten einander mitgeteilt haben, dass die erforderlichen innerstaatlichen Voraussetzungen für das Inkrafttreten erfüllt sind. Artikel 14 (1) Diese Vereinbarung wird für die Dauer von fünf Jahren geschlossen. Danach verlängert sich die Gültigkeit um jeweils weitere fünf Jahre, sofern sie nicht von einer der beiden Vertragsparteien spätestens ein Jahr vor Ablauf der jeweiligen Geltungsdauer schriftlich gekündigt wird. (2) Im Falle der Kündigung dieser Vereinbarung wird das Kulturinstitut seine Tätigkeit an dem Tag einstellen, an dem die Vereinbarung außer Kraft tritt. Geschehen zu Budapest am 9. Juni 1989 in zwei Urschriften, jede in deutscher und ungarischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist. Für die Regierung der Bundesrepublik Deutschland: Hans-Dietrich Genscher

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Für die Regierung der Ungarischen Volksrepublik: Gyula Horn Quelle: United Nations Treaty Series, Vol. 1706, I-29500. New York 1993, S. 190–194.

Dokument 37 Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Grünen zur politischen Entwicklung in Ungarn, angenommen vom Deutschen Bundestag am 22. Juni 1989 Vor dem Hintergrund der rasanten Demokratisierungsprozesse in der ersten Jahreshälfte 1989 und dem schrittweisen Übergang zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung in Ungarn setzten die im Bundestag vertretenen Fraktionen am 21. Juni 1989 einen Antrag zu den politischen Entwicklungen in Ungarn auf die Tagesordnung der Volksvertretung. Der Antrag stellt im Wesentlichen fest, dass sich Ungarn auf dem Weg zu einer pluralistischen und rechtsstaatlichen Demokratie befinde, seine Wirtschaft „in Richtung auf mehr Marktwirtschaft“ umgestalte sowie eine aktive und positive außenpolitische Linie verfolge. Aufgrund dieser Entwicklungen wird die Bundesregierung unter anderem dazu aufgerufen, die Zusammenarbeit mit Ungarn auf internationaler Ebene fortzusetzen, auch weiterhin die ungarndeutsche Minderheit finanziell und ideell zu fördern, die Umstrukturierung der ungarischen Wirtschaft weiter zu unterstützen und sich in der Europäischen Gemeinschaft für eine „volle Ausschöpfung des Abkommens zwischen der EG und Ungarn“ einzusetzen. Darüber hinaus wird an die Wirtschaft der Bundesrepu­ blik appelliert, ihre Kooperations- und Fördermaßnahmen zu verstärken. Einen Tag nach der Vorlage des Antrags, am 22. Juni 1989, nahm der Bundestag das Dokument, das von besonderer symbolischer Bedeutung für das – bereits vor der Grenzöffnung vom 10. September 1989 – außerordentlich gute Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn war, einstimmig an. *** Deutscher Bundestag Drucksache 11/4840 11. Wahlperiode 21.06.89 Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN zur politischen Entwicklung in Ungarn Ungarn hat eine grundlegende Reform des politischen Systems eingeleitet, die zu einer parlamentarischen Demokratie mit mehreren Parteien, zu gesicherten Menschenrechten und Gewaltenteilung, zu Rechtsstaatlichkeit, Institutionenpluralismus, Medienvielfalt und Transparenz des öffentlichen Lebens führen soll. Neue politische Parteien und gesellschaftliche Institutionen haben sich konstituiert oder sind im Ent-



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stehen begriffen. Regierung und Opposition haben einen umfassenden politischen Dialog begonnen, um den Umgestaltungsprozess auf eine breite Basis zu stellen. Gleichzeitig ist Ungarn dabei, seine Wirtschaft in Richtung auf mehr Marktwirtschaft umzugestalten. Die hierfür notwendigen Gesetze sind teilweise bereits in Kraft getreten, weitere Schritte sind in Vorbereitung. Ausländischen Unternehmen werden neue Beteiligungsmöglichkeiten eröffnet. Ungarn strebt eine engere Verflechtung mit der Weltwirtschaft an. Parallel zum Reformprozess im Inneren hat sich Ungarn auch außenpolitisch geöffnet und die Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn erheblich erweitert. Ungarn gewährt seinen Bürgern weitgehende Freizügigkeit einschließlich des Rechts, ins Ausland zu reisen. Es hat an seiner Westgrenze die menschenverachtenden Grenzsperren des Eisernen Vorhangs teilweise beseitigt. Seinen ethnischen Minderheiten wird schon seit langem ein politischer Status der Gleichberechtigung gewährt, der es diesen ermöglicht, ihre kulturelle Identität zu wahren. Diese Politik ist richtungsweisend auch für andere Länder in Osteuropa. Der Bundestag wolle beschließen: Der Deutsche Bundestag begrüßt die aktive und ausgleichende Rolle, die Ungarn in multilateralen Foren, insbesondere im KSZE-Prozess, und im Rahmen der Vereinten Nationen spielt. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die bisherige gute Zusammenarbeit mit Ungarn im internationalen Rahmen fortzusetzen und zu intensivieren. Der Deutsche Bundestag begrüßt besonders die aktive Beteiligung Ungarns an der interparlamentarischen Zusammenarbeit im Rahmen der Interparlamentarischen Union. Er heißt die parlamentarischen Vertreter Ungarns herzlich willkommen, die in Kürze neben Jugoslawien, Polen und der Sowjetunion als Gäste in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates mitarbeiten werden. Der Deutsche Bundestag begrüßt und unterstützt diese Entwicklung zu demokratischen und pluralistischen Verhältnissen als wichtigen Beitrag zur Vertrauensbildung zwischen Ost und West und zur Förderung der systemöffnenden Zusammenarbeit im Sinne der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Der Deutsche Bundestag hat mit Befriedigung davon Kenntnis genommen, dass Fragen des Umweltschutzes einen hohen Stellenwert in der ungarischen Politik einnehmen. Er begrüßt, dass die ungarische Regierung beschlossen hat, das Donaustauwerk Nagymaros nicht zu bauen. Der Deutsche Bundestag begrüßt die nachdrückliche Unterstützung des Prozesses der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Demokratisierung, Pluralisierung und Öffnung in Ungarn durch die Bundesregierung. Er äußert seine Befriedigung über den Stand der deutsch-ungarischen Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet. Die deutsch-ungarische Zusammenarbeit hat Modellcharakter für partnerschaftliche Beziehungen zwischen Staaten verschiedener

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Gesellschaftsordnungen. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, auch weiterhin der in Ungarn lebenden deutschen Volksgruppe finanzielle und ideelle Unterstützung für die Pflege ihrer Traditionen und ihrer Kultur zu gewähren. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die notwendige Umstrukturierung der ungarischen Wirtschaft im Rahmen ihrer Möglichkeiten weiter zu fördern. Der Deutsche Bundestag hat mit Befriedigung den Abschluss des Kooperations- und Handelsabkommens mit der EG zur Kenntnis genommen, das einen festen Rahmen für die Aufhebung mengenmäßiger Handelsbeschränkungen vorsieht. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, einen Antrag Ungarns auf Aufnahme des politischen Dialogs mit den Zwölf im Rahmen der EPZ [Europäische Politische Zusammenarbeit] zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich in der EG für eine volle Ausschöpfung des Abkommens zwischen der EG und Ungarn einzusetzen und darauf hinzuwirken, dass – die Handelsbeschränkungen möglichst schnell abgebaut werden, – der Vertretung der Ungarischen Volksrepublik bei der Europäischen Gemeinschaft eine ihren Aufgaben voll angemessene personelle Besetzung ermöglicht wird, – die Volksrepublik Ungarn frühzeitig über die Entwicklung von EG-Normen informiert wird, – zügige Verhandlungen mit EGKS [Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl] aufgenommen werden können mit dem Ziel, ein bilaterales Abkommen zu erreichen, das den Handelsaustausch auch in diesem Bereich fördert, – der Agrarhandel in beiden Richtungen intensiviert werden kann und Ungarn bei bestimmten Produkten von Fall zu Fall bessere Marktzugangschancen in der EG erhält, – die Europäische Investitionsbank Finanzierungsmöglichkeiten für Investitionsprojekte in Ungarn prüft, – Ungarn die Möglichkeit erhält, sich an einzelnen EUREKA-Projekten [Projekte der European Research Coordination Agency] zu beteiligen. Der Deutsche Bundestag begrüßt die Intensivierung der Kooperation zwischen deutschen und ungarischen Unternehmen, auch und gerade im Bereich der Mittelund Kleinbetriebe. Insbesondere Joint Ventures können einen wertvollen Beitrag für die Entwicklung Ungarns leisten. Der Deutsche Bundestag fordert die Deutsche Wirtschaft auf, die Zusammenarbeit mit Ungarn zu intensivieren und dabei auch die Ausbildung betrieblicher Fach- und Führungskräfte in Ungarn zu fördern, sowie die Direktinvestitionen zu verstärken. Bonn, den 21. Juni 1989 Dr. [Alfred] Dregger, Dr. [Wolfgang] Bötsch und Fraktion Dr. [Hans-Jochen] Vogel und Fraktion



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[Wolfgang] Mischnick und Fraktion Dr. [Helmut] Lippelt (Hannover), Frau [Jutta] Oesterle-Schwerin, Frau Dr. [Antje] Vollmer und Fraktion Quelle: Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/4840, 21. Juni 1989, S. 1–3.

Dokument 38 Jahresbericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth für Außenminister Gyula Horn vom 26. Juni 1989 Der Botschafterbericht vom 26. Juni 1989 für das zweite Halbjahr 1988 und das erste Halbjahr 1989 befasst sich – neben den inneren Entwicklungen in Westdeutschland und den Grundlinien der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland – mit den wesentlichen Aspekten der bilateralen Beziehungen, die in diesem Zeitraum in besonderem Maße durch die Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozesse in Ungarn beeinflusst wurden. In diesem Zusammenhang hebt Horváth die besondere Bedeutung der positiven Beurteilung der Vorgänge in Ungarn durch die Bundesrepublik für die Verwirklichung der Ziele der ungarischen Führung hervor. Der Bericht geht detailliert auf die durchweg positiven Entwicklungen auf allen Gebieten der westdeutsch-ungarischen Beziehungen ein und legt die große Unterstützungs- und Kooperationsbereitschaft der bundesdeutschen Seite, auch auf internationaler Ebene, dar. Im Einzelnen werden die Bereiche „politische Beziehungen“, „Wirtschaftsbeziehungen“, „Beziehungen in Kultur und Unterricht“, „Massenmedien“, „Wissenschaft, Technik und Umweltschutz“, Sport-, Jugend- und gesellschaftliche Beziehungen, Beziehungen zur Emigration, „konsularische Arbeit“ und „Städtepartnerschaften“ behandelt. Abschließend unterbreitet der Botschaftsbericht „Vorschläge für die Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen“, wobei insbesondere die „Fortführung des politischen Dialogs auf höchster Ebene“ und die Vertiefung der bilateralen Beziehungen, insbesondere auf Vertragsebene, herausgestellt werden. Als besonderes Ziel wird schließlich formuliert, mit Hilfe der Bundesrepublik die „Beziehungen in Richtung der europäischen Institutionen zu stärken“. Wie die weiteren Entwicklungen im bilateralen Verhältnis zeigten, gab der Bericht Horváths den Handlungsträgern der ungarischen Außenpolitik zweifellos bedeutende Impulse. *** Botschaft der Ungarischen Volksrepublik Dr. Gyula Horn Außenminister Budapest

Streng geheim! Gültig bis auf Widerruf! Bonn, 26. Juni 1989

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Botschafterbericht 1988/1989 I. Die innere Situation der BRD und ihre Außenpolitik […]50 II. Die ungarisch-westdeutschen Beziehungen Die Ereignisse in Ungarn wirken sich auf allen Gebieten der bilateralen Beziehungen in entscheidender Weise aus. Wegen der Beschleunigung der politisch-wirtschaftlichen Prozesse wuchs das sich mit Sympathie und Unterstützungsbereitschaft verbindende Interesse gegenüber unserem Land sowohl in Regierungs- als auch in Oppositionskreisen. Die von führenden Politikern – [Hans-Dietrich] Genscher, [Lothar] Späth, [Max] Streibl, [Björn] Engholm – geführten Delegationen schätzen die demokratischen Veränderungen in Ungarn sowie die Möglichkeit von Treffen mit Vertretern der alternativen Organisationen hoch. Neben der Analyse des Wandlungsprozesses interessierte die politisch-wirtschaftliche Führung der BRD in letzter Zeit vor allem, ob die ungarische politische Führung und die Opposition angemessene Schlüsse aus den Veränderungen in Polen gezogen haben bzw. ob die chinesischen Ereignisse in unserem Land eine spürbare Auswirkung haben werden. In den politischen Kreisen wirkte sich die Rede von Miklós Németh im Verteidigungsministerium vom 19. Mai [1989] beruhigend aus. In dieser bekräftigte er, dass keine politische Kraft die Armee zu politischen Zwecken benutzen wolle. Das disziplinierte, auf eine „nationale Versöhnung“ verweisende Verhalten beim Begräbnis von Imre Nagy und die – abgesehen von der einen oder anderen dissonanten Rede – Bezeugung größeren Realitätssinns der Mehrheit wurde mit Befriedigung aufgenommen. Die positive Beurteilung bzw. ihre Bewahrung und Ausnutzung ist unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichung unserer politischen Zielsetzungen von erstrangiger Wichtigkeit. Unabhängig von seiner Größe nimmt unser Land im System der Außenbeziehungen der BRD einen besonderen Platz ein. Das Verhältnis zu unserem Land wird als modellhaft betrachtet, beim Aufbau der Beziehungen zu den anderen sozialistischen Ländern wird es als Etalon betrachtet. Dies hat der Bundestag in der von der [ungarischen] Botschaft [in Bonn] initiierten „Ungarn-Diskussion“ vom 22. Juni 1989 eindeutig zum Ausdruck gebracht und die Bundesregierung aufgerufen, in Zukunft die politisch-wirtschaftlichen Reformen in Ungarn stärker als jemals zuvor zu unterstützen. Nach dem unter dem Aspekt der [bilateralen] Beziehungen als „Durchbruch“ geltenden Jahr 1987 bemühten wir uns im Berichtzeitraum, die Zusammenarbeit auf allen

50  Die Ausführungen zur innere Situation der BRD und ihrer Außenpolitik werden ausgelassen.



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Gebieten auszubauen und die Vertragsbeziehungen auszuweiten. In diesem Zusammenhang kamen im Dezember 1988 das Umweltschutzabkommen und Anfang 1989 die Vereinbarung über Arbeitsfragen sowie Ende letzten Jahres das Protokoll über die Zusammenarbeit der Außenministerien zustande. Die Vorbereitungen des sogenannten Äquivalenzabkommens über die Gleichwertigkeit der Diplome und Urkunden nähern sich ihrem Abschluss, und es finden Verhandlungen über den Abschluss eines Verkehrs- und Luftfahrtabkommens sowie über ein Zollabkommen statt. Es wurden Vorbereitungen für die Einrichtung des ungarischen Generalkonsulats in München und für das Stuttgarter Kulturinstitut [Ungarns] unternommen. Neben dem traditionell ausgezeichneten Verhältnis zu den beiden südlichen Bundesländern haben sich unsere Beziehungen zu Niedersachsen und Bremen gut entwickelt und seitens der Länderregierungen von Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Hamburg zeigt sich die Bereitschaft zu einer stärkeren Zusammenarbeit als bisher. Die 1987, nach 30-jähriger SPD-Regierung in Hessen an die Macht gekommene CDU durchlebt ihre „Anlernzeit“, weswegen ihr wegen innerer Harmonisierungsprobleme wenig Zeit bleibt, die Außenbeziehungen zu pflegen. Gleichzeitig besteht auch seitens der von [Walter] Wallmann geführten Regierung die Absicht, die Zusammenarbeit zu entwickeln. Im Vergleich zu früher hat sich das Verhältnis zu den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Saarland nicht verändert. Die Führung der BRD schätzt die konsequenten und mutigen außenpolitischen Schritte Ungarns sehr und zeigt weitgehende Bereitschaft zur Zusammenarbeit auf zahlreichen Gebieten der internationalen Politik. Neben der Verwirklichung unserer Vorstellungen bezüglich der EG erhielten wir auch auf anderem Gebiet von der BRD wirksame Unterstützung. Diese ermöglichte es, dass wir im Europarat und im Europäischen Rat der Verkehrsminister (CEMT) den Gast- bzw. Beobachterstatus erhielten und dass wir außerdem unsere Beziehungen zum Europäischen Parlament und zur Nordatlantischen Vollversammlung ausbauen konnten. Der europäischen „Bindung“ dient auch, dass unsere Botschaft eine Zusammenarbeit mit der bundesrepublikanischen Gesellschaft „Europa-Union“ aufgebaut hat. In diesem Zeichen erhielt ich (als erster unter den sozialistischen Botschaftern) eine Einladung und sprach auf der jährlichen Vollversammlung der Gesellschaft in Baden-Baden. Wir pflegen gute Beziehungen auch zu der zur Gesellschaft gehörenden sogenannten Europäischen Akademie (Otzenhausen, Marienburg). Die zum Verlag Europa-Union gehörende „Europäische Zeitung“ veröffentlicht im September 1989 eine Ungarn-Beilage. 1. Politische Beziehungen Die zur BRD entwickelten politischen Beziehungen sind regelmäßig, hochrangig und konstruktiv. Die häufigen Treffen kennzeichnen eine freundschaftliche Atmosphäre, ehrliche Hilfsbereitschaft und das Streben nach konkreten Zielen. In Zusammenhang mit den inneren politischen und wirtschaftlichen Prozessen [in Ungarn] entwickeln sich die Beziehungen auf allen Ebenen dynamisch.

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Die Beziehungen zwischen den Parlamenten wurden weiter ausgebaut. In der betreffenden Zeit erfolgten der Ungarn-Besuch des Präsidenten des Bundestags, der Delegation der bundesdeutsch-ungarischen Freundessektion und des Präsidenten des Bundesrats ([Philipp] Jenninger, [Otto] Schily, [Björn] Engholm). Im Zuge der Entwicklung der Beziehungen betrachten wir es – neben konkreten Initiativen zur Ausweitung der Kooperation – als unsere grundlegende Aufgabe, die Beziehungen zwischen der Botschaft und den Funktionären, Fraktionen und Abgeordneten des Parlaments weiter zu vertiefen. Der Erfolg der Arbeit wurde durch die Veränderung in der Person des [Parlaments-] Präsidenten nicht wesentlich beeinflusst. Frau [Rita] Süssmuth betonte wiederholt bei unseren Treffen ihr Interesse an der Weiterentwicklung der Zusammenarbeit. Diese Absicht drückte sich in der Bekräftigung einer früheren, seitens des Außenpolitischen Ausschusses des Bundestags übergebenen Einladung und der Überreichung von Einladungen seitens der Bundestagsausschüsse, die für Fragen des Umweltschutzes bzw. des Unterrichts und der Wissenschaft zuständig sind, aus […]. Mit dem Ziel, Verständnis und die notwendige Unterstützung für unsere innere Lage und für unsere innen- und außenpolitischen Bestrebungen zu gewinnen, richteten wir besondere Aufmerksamkeit auf die kontinuierliche Kontaktpflege zu befreundeten Sektionen, Fraktionen und den Parlamentsmitgliedern, die die BRD in Organisationen der europäischen Integration – Europaparlament, Europarat – vertreten. Als neue und – unseren Erfahrungen nach – erfolgreiche Form hierfür sind die regelmäßigen monatlichen Informationsgespräche der Botschaft mit führenden Mitarbeitern der Fraktionen, die in den Fraktionen gehaltenen Vorträge und – in Verbindung mit dem einen oder anderen wichtigeren Ereignis – die Einladung der die Bundesländer vertretenden Gruppen im Parlament zu betrachten. Als herausragende Aufgabe der kommenden Phase betrachten wir die Fortsetzung der obigen Arbeit und die Durchführung der wechselseitigen Besuche der Ausschüsse. Wir schlagen vor, dass es – entsprechend der Einladung – im Herbst 1989 zum Bonn-Besuch der ungarisch-bundesdeutschen Freundesgruppe des [ungarischen] Parlaments kommt. Die Kontinuität der Beziehungen zwischen den Regierungen wurde vor allem durch das persönliche Treffen der beiden Regierungschefs sichergestellt. Die Haager Besprechungen von Kanzler Kohl und Miklós Németh – in Verbindung mit der internationalen Umweltschutzkonferenz – kräftigten auch die persönlichen Beziehungen der beiden Staatsmänner. Dies wird sicherlich mit dem für Herbst 1989 offiziell angesagten Ungarn-Besuch von Kanzler Kohl eine nützliche Fortsetzung haben. Unter den Ministerbesuchen ragen die BRD-Besuche von Imre Pozsgay, Rezső Nyers und Gyula Horn bzw. die Ungarn-Reisen von Außenminister Genscher und der Ministerpräsidenten der Länder Späth, Engholm und Streibl heraus. Die Reise des Letzteren hat auch deshalb eine besondere Bedeutung, weil die erste Auslandsreise des bayerischen Ministerpräsidenten ihn in unser Land führte.



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Die Reihe konnte mit den Besuchen von zahlreichen Fachministern fortgesetzt werden. Tamás Beck, Ernő Kemenes, Ferenc Horváth und Csaba Hütter besuchten im Frühjahr 1989 die BRD. Westdeutscherseits sind die Besuche von Forschungsminister [Heinz] Riesenhuber, Umweltminister [Klaus] Töpfer und Unterrichtsminister [Jürgen] Möllemann zu erwähnen. Die offene, ehrliche Atmosphäre des Meinungsaustausches sowie das Vertrauen und die Sympathie gegenüber unserem Land haben erneut bewiesen, dass die Entwicklung der Beziehungen zwischen unseren Ländern in der Tat eine neue Qualitätsstufe erreicht hat. Hierauf verweist die Einschaltung der früher als Tabu geltenden Bereiche – Inneres, Vereidigung, NATO, Nordatlantische Vollversammlung – in die Zusammenarbeit. Innenminister István Horváth besuchte im Sommer 1988 die BRD, Staatssekretär im Verteidigungsministerium [Lothar] Rühl verhandelte – in Verbindung mit einer internationalen Konferenz – mit seinen ungarischen Partnern in Budapest, während Gyula Horn im November 1988 als erster Vertreter eines WarschauerPakt-Staates an einer Konferenz der Nordatlantischen Vollversammlung in Hamburg teilnahm und dort eine Rede hielt. Die Treffen der Außenminister sind regelmäßig. Die Kooperation zwischen den beiden Außenministerien ist durch Konsultationen der zuständigen Hauptabteilungsleiter ergänzt worden. Auf der Grundlage des Protokolls, das die Zusammenarbeit regelt, trafen sich die UNO-Abteilungsleiter in Bonn. Sehr gut ist auch die Zusammenarbeit zwischen unseren Delegationen, die in internationalen Organisationen arbeiten. Regelmäßig sind auch die offiziellen Konsultationen zwischen den politischen Direktoren. Diese Praxis muss fortgesetzt werden. Unsere Beziehungen zu den Regierungs- und Oppositionsparteien sind unverändert gut und wechselseitig nützlich. Der Beschluss zur Einführung des Mehrparteiensystems und das Zustandekommen verschiedener alternativer und oppositioneller Parteien und Gruppierungen haben die Parteien in der BRD vor eine neue Situation gestellt. Sie werden angeregt, Kontakte zu Organisationen und Parteien mit jeweils ähnlichem [politischen] Profil zu suchen. Die MSZMP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] hat aufgrund ihrer führenden Rolle und ihres Gewichts in der Gesellschaft sowie der guten Zusammenarbeit aus früheren Jahren unverändert ausgezeichnete Beziehungen zu den Unionsparteien und zur FDP. Dies bezeugt, dass auf dem multilateralen Budapester Treffen im Mai 1989 CDU und FDP offiziell vertreten waren. Die Regierungsparteien der BRD und die Opposition schätzen gleichermaßen hoch ein, dass die MSZMP sich bewusst zum Pluralismus bekannt hat, also zum politischen Wettbewerb bereit ist. Mit großer Aufmerksamkeit wird – vor allem in SPD-Kreisen – die Entwicklung eines neuen Profils der MSZMP und die Tätigkeit der Reformzirkel verfolgt. Zwar verschließt sich die SPD nicht der Kontaktaufnahme mit der MSZDP [Sozialdemokratische Partei Ungarns], sie betrachtet aber unverändert die MSZMP als ihren Hauptpartner in Ungarn. Erfreulich entwickeln sich die Beziehungen zwischen den [bundesdeutschen] parteinahen Stiftungen und den ungarischen Partnerinstitutionen. Hierdurch hat

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sich der Kreis der [ungarischen] Politiker, Experten und Journalisten, die die BRD besuchen, bedeutend erweitert. Die internationalen Veranstaltungen der Stiftungen eröffnen auch die Möglichkeit, dass wir unseren Standpunkt in für uns wichtigen Fragen zum Ausdruck bringen. Aufgrund der entwickelten fruchtbaren Zusammenarbeit gelangten die Stiftungen zu dem Gedanken einer qualitativen Weiterentwicklung der Kontakte. Als erstes Zeichen hierfür eröffnete die FDP-nahe Friedrich-NaumannStiftung am 9. Juni – in Anwesenheit von Genscher und [Wolfgang] Mischnick – ein Büro in Budapest. (Einen ähnlichen Schritt planen auch die Friedrich-Ebert-Stiftung, die Konrad-Adenauer-Stiftung und die Hanns-Seidel-Stiftung.) Von der Arbeit des Büros erwartet man sich, dass es im Demokratisierungsprozess die in der BRD angehäuften Erfahrungen auf diesem Gebiet vermitteln wird. Im Verhältnis zur DKP [Deutsche Kommunistische Partei] hat der Wandlungsprozess in Ungarn sichtbare Spuren hinterlassen. Die der DDR nahestehende Ansichten vertretende Führung unserer Bruderpartei, die durch innere Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten gespalten ist, kann die Veränderungen in Ungarn nur schwer „verarbeiten“. Die mit der sowjetischen Perestroika und auch mit uns sympathisierende Minderheit (ca. ein Drittel der Mitglieder) haben keinen maßgeblichen Einfluss in der Führung. Trotzdem (bzw. gerade deshalb) meinen wir, dass es zweckmäßig wäre, den seit langem fälligen Ungarn-Besuch des DKP-Präsidiums zu realisieren. Auf der Basis des Zustandekommens von MISZOT [Landesrat der Ungarischen Jugendbewegungen] und DEMISZ [Demokratischer Ungarischer Jugendverband] muss die Zusammenarbeit mit den JUSOs [Jungsozialisten in Deutschland] und den Jugendorganisationen der Regierungsparteien verstärkt werden. Auch spezifische Bereiche der Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten, nämlich die militärpolitischen Beziehungen, müssen erwähnt werden. Es scheint so, dass hier zwischen unseren Ländern, während die BRD auf diesem Gebiet ihre Kontakte zur Sowjetunion und zur DDR schrittweise ausbaut, trotz der Einrichtung der Militärattaché-Dienststellen kein wesentlicher Fortschritt erfolgt ist. Ich und meine Mitarbeiter pflegen gute Beziehungen zu den obersten Führungskreisen der Bundeswehr und halten regelmäßig Vorträge für Offiziere über Ungarn und über die ungarischen sicherheitspolitischen Bestrebungen. Unsere Erfahrungen zeigen, dass seitens der BRD Bereitschaft besteht, die Beziehungen auszuweiten. Meine Zusammenarbeit mit Militärattaché György Gyenei ist von wechselseitiger Hilfsbereitschaft geprägt und störungsfrei. 2. Wirtschaftsbeziehungen Verantwortliche westdeutsche politische und wirtschaftliche Akteure vertreten die Meinung, dass die ungarische Führung trotz der unvermeidlichen Umwege und Stag­ nation versucht, wo es nötig ist, durch eine Korrektur der begangenen Fehler die angestrebten Wirtschaftsreformen zu verwirklichen. Im vergangenen Jahr kristallisierten sich definitiv jene Aufgaben heraus, deren Lösung unabdingbare Voraussetzungen



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der radikalen Umgestaltung unseres Wirtschaftssystems bilden, und wurden in konsistenter Form in ein Programm gefasst. Die Erkenntnis, dass ohne tiefgreifende politische Reformen – gerade wegen der unverändert bestehenden Dominanz der Politik in der Wirtschaft – die geplante Umgestaltung der Wirtschaft nicht erfolgreich durchgeführt werden kann, wird als sehr wichtig beurteilt. Unsere spürbar positive Beurteilung in breiten Kreisen der BRD und die daraus hervorgehende gutwillige und hilfsbereite Kooperationsbereitschaft haben konkrete Impulse durch die wichtigen politischen, wirtschaftlichen sowie personellen Entscheidungen, die im Berichtzeitraum getroffen wurden, erhalten. Natürlich sind für eine längere Periode hauptsächlich von unserer Seite unternommene weitere Kraftanstrengungen notwendig, damit die Voraussetzungen der bilateralen Beziehungen in greifbaren Ergebnissen Gestalt annehmen. Der Gesamtumsatz des Außenhandels des Jahres 1988 (5,022 Mrd. DM) entwickelte sich im Wesentlichen auf dem Niveau des Vorjahres. Der [Negativ-] Saldo beträgt 496 Mio. DM, was eine Verbesserung von mehr als 200 Mio. DM gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Dies kann zum Teil damit erklärt werden, dass sich der innere Verbrauch und die Veräußerungsmöglichkeiten im RGW aufgrund der Maßnahmen der Regierung für die Unternehmen verringerten und sie deswegen ihre Exportaktivitäten steigerten, zum anderen damit, dass sich die Marktpreise bei einigen voluminösen Gütern (vor allem Metallurgie-Erzeugnisse) verbesserten. Hinter den positiven Phänomenen ist der Strukturwandel, der in Richtung Leistungserhöhung oder Modernisierung wirkt, in nur sehr bescheidenem Maße nachweisbar. Die Initiative und Risikobereitschaft der Unternehmen wird durch die Unsicherheiten des internen Zahlungssystems gebremst. Von ihnen sind mehrere in eine schwierige Lage geraten, weswegen sich die allgemeine Zahlungsdisziplin verschlechtert hat und so häufig auch besser arbeitende Unternehmen nicht rechtzeitig zu den für ihr Wirtschaften notwendigen Finanzmitteln gelangt sind. In den ersten Monaten verstärkten sich die Exportaktivitäten trotz der Schwierigkeiten, und die Ausfuhr erreichte eine mehr als zehnprozentige Steigerung. Dies beweist auch, dass die ungarische Wirtschaft auch unter den gegenwärtigen Strukturen über mobilisierbare Reserven verfügt. Aufgrund von Erhebungen und Vertragsabschlüssen ist in diesem Jahr mit einer ca. sechsprozentigen Exportdynamik zu rechnen. Der Import lässt sich schwer kalkulieren, weil ungewiss ist, wie die Auswirkung der Importliberalisierung auf Jahresniveau sein wird. Eine wichtige und effektive Möglichkeit zur dynamischen Entwicklung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen hat das Ende des vergangenen Jahres angenommene Gesellschaftsgesetz eröffnet. Dieses wurde als Ergebnis bewusster und vielschichtiger Arbeit in den maßgeblichen politischen und wirtschaftlichen Kreisen in der BRD und sogar in der breiteren Öffentlichkeit allgemein bekannt. Als Ergebnis der mit den einheimischen Organen abgestimmten und im Verein mit der Handelsvertretung durchgeführten Aktion machten wir potenziellen Interessenten die Daten von 50 Industrieunternehmen, die eine Zusammenarbeit mit ausländischen Investoren entwickeln

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wollen, zugänglich. Das Echo auf die Initiative war sehr positiv. Teils durch uns vermittelt, meldeten sich mehrere Interessenten mit konkreten Kooperationsabsichten bei den ungarischen Unternehmen. Die Erfahrungen der erwähnten Aktion zeigen, dass sich die Implementierung dieser Absicht – obwohl wir einen wichtigen Schritt nach vorne zur Einbeziehung internationalen Kapitals unternommen haben – aufgrund der Ungeordnetheit unserer inländischen Verhältnisse in der Praxis langsamer und weniger zügig verwirklicht, als es aufgrund unserer Situation wünschenswert wäre. Einerseits ist die Regierung bestrebt, günstige rechtliche und politische Bedingungen sicherzustellen, andererseits leistet ein beträchtlicher Teil der Unternehmensleiter Widerstand gegen diese Konstruktion, insbesondere wenn beabsichtigt wird, eine Mehrheitsbeteiligung der ausländischen Investoren herbeizuführen. Gleichzeitig hat in Zusammenhang damit die Pressekampagne, die sich gegen den sogenannten Ausverkauf des Landes entfaltet hat, [in der BRD] Überraschung und Unverständnis ausgelöst. Gemäß der hiesigen allgemeinen Auffassung können wir die Stabilisierung und Modernisierung unserer Wirtschaft und den Ausbau des geplanten Marktes nur durch die kraftvolle Einbeziehung von ausländischem Kapital durchführen. Die Experten aus der Finanzwelt sowie aus Industrie und Wirtschaft sind der Meinung, dass das Schuldenmanagement der ungarischen Wirtschaft, langfristig nur auf die eigenen Kraftquellen gestützt, nicht zu verwirklichen ist. Dies ist nur durch einen kraftvolleren Zustrom von Auslandskapital, im Falle einer 25- bis 30-prozentigen Beteiligung, zu lösen. Diese Beteiligung würde unsere Einschaltung in den EG-Markt unter Vermeidung weiterer größerer sozialer Spannungen und gar im Wesentlichen unter Wahrung unserer bisherigen „Errungenschaften“ möglich machen, und wir könnten innerhalb absehbarer Zeit mit dem Herauskommen aus der wirtschaftlichen Stagnation beginnen. Damit tatsächlich beträchtliches Betriebskapital in unser Land strömt, ist es – neben der Überwindung der auch heute noch teilweise existierenden und bekannten rechtlichen und administrativen Hindernisse – eine grundlegende Voraussetzung, dass wir die heute noch bestehenden ideologischpsychologischen Bremsen lösen und in unserer Wirtschaft jene Zwangsmechanismen, die die ungarischen Unternehmen kraftvoll in Richtung dieser Lösung führen, entwickeln. Wir müssen Kraftanstrengungen unternehmen, damit sich die Kontakte zwischen den ungarischen und westdeutschen Klein- und Mittelbetrieben auf einen möglichst breiten Kreis erstrecken. Dies wird auch von den westdeutschen politischen und wirtschaftlichen Kreisen stark unterstützt. Dasselbe bezieht sich auch auf diejenigen Unternehmen, die nicht auf der Liste der für eine Zusammenarbeit empfohlenen 50 Unternehmen aufgeführt sind, die aber potenziell als Partner ausländischer Investoren in Frage kommen. So muss z. B. auch die Suche nach Partnern für Nebenbetriebe landwirtschaftlicher Unternehmen, die Tätigkeiten in Industrie und Dienstleistungsgewerbe nachgehen, betrieben werden. Die allgemeine hiesige Meinung ist, dass die Annahme des Umwandlungsgesetzes und die Verwirklichung des verkündeten Regierungsprogramms dieser wichtigen Form der Zusammenarbeit



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einen bedeutenden Impuls geben kann – sofern es gelingt, die ungarischen „Verkrampfungen“ zu lösen. Die Beurteilung unserer Kreditfähigkeit ist nicht unabhängig von der allgemeinen Meinung, die sich in den maßgeblichen politischen und Finanzkreisen bezüglich der osteuropäischen sozialistischen Staaten entwickelt hat. Deren Kern ist, dass – alle Staaten der Region mit einer schweren politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise kämpfen; – einige von ihnen versuchen, mittels Reformen aus ihrer schwierigen Situation herauszukommen; diese Bestrebungen können seitens der BRD mit Unterstützung rechnen, da es auch im Interesse des Westens liegt, dass die Reformen verwirklicht werden und sich die betroffenen Staaten politisch und wirtschaftlich konsolidieren; – die am früheren Modell festhaltenden Staaten weniger mit Hilfe rechnen können. Die Krisenzustände und Schuldenprobleme, die für die osteuropäische Region charakteristisch sind, haben in den Finanzkreisen eine Art allgemeine Zurückhaltung ausgelöst. Diese wird in letzter Zeit aber durch eine beginnende differenziertere Beurteilung abgelöst. Nur diejenigen Staaten, die beabsichtigen, Reformen durchzuführen, können mit Hilfe rechnen. Deren Ausmaß und Art und Weise wird stark durch die Eigenarten der einzelnen Staaten beeinflusst. Die Beurteilung unseres Landes ist – in erster Linie aufgrund der in letzter Zeit erfolgten Veränderungen in unserem Land – günstig und dadurch zu erklären, dass wir im vergangenen Jahr unsere Kreditpläne in dieser Relation restlos erfüllen konnten und wir auch in diesem Jahr nicht mit Stockungen rechnen müssen. Die positive Meinung über uns nährt sich aus zwei Quellen: – Auf dem Weg der wirtschaftlichen und politischen Reformen sind wir am weitesten gelangt und wir haben sie am konsequentesten verwirklicht. – Eines der Ziele unserer Wirtschaftspolitik mit herausragender Wichtigkeit ist die Bewahrung unserer Zahlungsfähigkeit. In den Finanzkreisen sorgte in letzter Zeit allerdings die Nachricht, wonach Berater der ungarischen Regierung einen Vorschlag für eine Stundung zur Erwägung vorgelegt hätten, für Unruhe. Gemäß der hiesigen Meinung würde ein solcher Schritt – hauptsächlich aus psychologischen Gründen – nicht nur in Expertenkreisen, sondern auch in den politischen Zirkeln einen Schock auslösen und die mit uns kooperierende Finanz- und Wirtschaftssphäre zu einer Neubewertung ihrer Ungarnpolitik zwingen. Das verkündete Planpaket wird als nützlich und verwirklichbar beurteilt, insbesondere dann, wenn wir dazu auch einen größeren ausländischen Kapitalzufluss sicherstellen. Bei einer konsequenten Durchführung des Planpakets wird auch das „Management“ unserer Schulden für lösbar gehalten. In diesem Fall ist die BRD bereit, weitere beträchtliche Unterstützung zur Verwirklichung unserer wirtschaftlichen Zielsetzungen zu leisten.

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In erster Linie können wir für Tätigkeiten, die sich auf die Dynamisierung der Produktion, auf ihre Rationalisierung und auf die Entwicklung des Geschäftssinns richten, mit Hilfe rechnen, so z. B. für Aktivitäten, die in der Sphäre der kleinen und mittleren Unternehmen ein Stärkung der Zusammenarbeit bezwecken, die Einbeziehung von Auslandskapital in Ungarn fördern, sich auf gut fundierte und Rentabilität versprechende Zielinvestitionen richten sowie die Positionen der Privatwirtschaft kräftigen. Im vergangenen Jahr haben wir auf Initiative der Botschaft begonnen, Verhandlungen mit den [westdeutschen] Arbeitsbehörden zu beginnen. Als Ergebnis unterzeichneten beide Staaten Anfang des Jahres eine Arbeitsvereinbarung. Diese hat den früheren, nur in einer Verbalnote festgehaltenen Rahmen für [ungarische] Arbeitnehmer von 1.700 Personen auf 2.500 angehoben und auch das arbeitsrechtliche Verfahren vereinfacht. Die Tatsache, dass es trotz der hiesigen äußerst angespannten Beschäftigungssituation gelungen ist, das Abkommen zustande zu bringen, kann als Anerkennung der Vorgänge in Ungarn bewertet werden. […] Die führende Rolle der BRD auf dem Gebiet des Fremdenverkehrs ist unbestreitbar, sie ist in weltweiter Hinsicht und auch bezüglich des Westtourismus im Falle unseres Landes bestimmend. Die Zahl der Einreisen näherte sich 1988 1,3 Millionen Personen an, was ein Zuwachs von 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahr ist. Unsere Einnahmen aus dem Tourismus in harten Valuten stammen zur Hälfte aus dieser [westdeutschen] Relation. […] Dem sich auf Ungarn richtenden Tourismus würde es einen bedeutenden Antrieb geben und die Deviseneinnahmen sprunghaft erhöhen, wenn wir z. B. unsere veralteten fremdenpolizeilichen Vorschriften neu erwägen würden (Streichung der Meldepflicht) oder wenn wir mit entsprechenden Regelungen die Beschränkungen des Immobilienerwerbs für Ausländer aufheben würden. Bei der Entwicklung unserer Wirtschaftsbeziehungen gilt es als wichtiges Ereignis, dass in verschiedenen Bundesländern in der vergangenen Zeit mit Fachausbildungen und Managerausbildung begonnen wurde. Gemäß den hiesigen Meinungen ist die relativ kleine Zahl von hoch qualifizierten Managern und Experten eines der schwächsten Kettenglieder des ungarischen Umwandlungsprozesses. In Einklang mit unseren politischen, wirtschaftlichen sowie wissenschaftlichen Zielen müssen wir auch in Zukunft Anstrengungen unternehmen, die Zahl der Teilnehmer an Fach- und Spezialausbildungen in der Bundesrepublik weiter zu erhöhen. […] Im Interesse der Ausweitung der Vertragsbeziehungen werden gegenwärtig Verhandlungen über ein Zoll- sowie über ein Verkehrs- und Luftfahrtabkommen geführt. […] 3. Beziehungen in Kultur und Unterricht Bei unseren Kultur- und Unterrichtsbeziehungen zur BRD zeigten wir im vergangenen Zeitraum – in Übereinstimmung mit den außenpolitischen Bestrebungen unseres Landes – große Aktivität im Interesse der Weiterentwicklung der Zusammenarbeit



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und bemühten uns, die zahlreichen Formen und Methoden zur Ausweitung der Kontakte auszunutzen. Wir sind der Meinung, dass dieser Kontakt – als organischer Bestandteil unseres Beziehungsgefüges zu den westeuropäischen Staaten – zugleich auch der Verwirklichung unserer außenpolitischen Bestrebungen diente: Er kräftigte das Vertrauen und Verständnis zwischen den beiden Völkern und Staaten, erfüllte eine bedeutende Rolle für die positive Entwicklung des Ungarnbildes in der BRD und trug auf diese Weise auch zur Vertiefung unserer politischen und wirtschaftlichen Beziehungen bei. Hierbei signalisierte der Kulturkontakt nicht nur einmal auch Zugkraft für diese Beziehungen. Bei unserer Arbeit berücksichtigten wir die Tatsache, dass sich der westeuropäische Integrationsprozess nicht nur in der Politik und Wirtschaft beschleunigt hat, sondern auch auf anderen Gebieten, und dies wirft für unser Land die Notwendigkeit der Entwicklung der kulturellen und Unterrichtskooperation immer dringlicher auf. Die von unserer Botschaft organisierten großen Veranstaltungen (Juni 1988: Heimführung der Asche von Béla Bartók, 10. November 1988: Feier für den Heiligen Stephan in Aachen) haben ein großes Echo ausgelöst. Unser Ziel damit war die Dokumentation unseres Europäertums und die anschauliche Darlegung unserer gemeinsamen geschichtlichen Vergangenheit. Im Laufe des vergangenen Jahres erfolgten zahlreiche quantitative Veränderungen und diese hoben unsere Kultur- und Unterrichtsbeziehungen zusammen auf ein qualitativ neues Niveau. Das zwischenstaatliche Kulturabkommen fördert die Entwicklung unserer Beziehungen gut. Der Verwirklichung der im Abkommen festgehaltenen Ziele dient der Arbeitsplan für die Jahre 1988/89. Seine Erneuerung für weitere zwei Jahre, wobei die ungarischen Interessen weitgehend zu berücksichtigen sind, stellt eine wichtige Aufgabe für die zweite Jahreshälfte dar. Die Rahmenbedingungen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit werden nützlich durch Vereinbarungen zwischen den Ressorts, Institutionen, Stiftungen und durch sonstige Vereinbarungen, durch die persönlichen Kontakte von Kultur- und Wissenschaftsexperten sowie durch gemeinsame Forschungen ergänzt. Bei der Unterrichtskooperation schreiben wir dem Abkommen über die Gleichwertigkeit der Universitäts- und Hochschuldiplome sowie der wissenschaftlichen Grade auch politisch eine große Bedeutung zu. Mit seiner Unterzeichnung rechnen wir in der zweiten Hälfte 1989. Ein schönes Beispiel für unsere Kooperation stellt die vor kurzem gegründete ungarisch-baden-württembergische Arbeitsgruppe dar, die – auch vom kulturpolitischen Standpunkt aus betrachtet – Methoden für die zu anderen Bundesländern entwickelten Beziehungen und ihre Koordination liefern kann. Wir sind der Überzeugung, dass der Beginn der Tätigkeit des Ungarischen Kulturinstituts in Stuttgart einen qualitativ neuen Abschnitt unserer institutionellen Zusammenarbeit bedeuten wird. Wir schlagen vor, dass eine Persönlichkeit an die Spitze des Instituts gelangt, die in der BRD bekannt, international angesehen und fachlich anerkannt ist und die aus dem Bereich von Kultur oder Wissenschaft stammt. Ein neues Element der Hochschulbeziehungen ist die Unterzeichnung einer Vereinbarung zwischen der Karl-Marx-Universität für Wirtschaftswissenschaft und der

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Universität Mannheim sowie die Einrichtung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe. Im Zuge der Kooperation können wir insbesondere mit schnellen Ergebnissen auf dem Gebiet der Managerausbildung hoffen. Auf dem Gebiet der Hungarologie betrachten wir es auf alle Fälle für bedeutend, dass seit April dieses Jahres ein neuer ungarischer Lektor seine Tätigkeit am Institut für Finnougristik an der Universität München begonnen hat. Wir erachten es für zweckmäßig, die Universitätskontakte zur BRD auszuweiten und die Kooperation zu entwickeln, vor allem deshalb, weil dies zu einer Modernisierung unseres Unterrichtssystems und zu einer Überwindung der angehäuften Rückständigkeit beitragen kann. Ein wichtiges Element der institutionellen Rahmenbedingungen bildet der von Vertretern beider Staaten gegründete Ständige Unterausschuss für Nationalitäten. Auf der letzten, im November stattfindenden Sitzung des Gremiums, das aufgrund der 1987 unterzeichneten Gemeinsamen Erklärung ins Leben gerufen wurde, wurde bereits über die Verwirklichung konkreter Projekte gesprochen. Die Erledigung der staatlichen Aufgaben kann auf diesem Gebiet auch gut durch die auf gesellschaftlicher Grundlage gebildeten beiden Kulturstiftungen mit Sitz in Budapest bzw. Stuttgart ergänzt werden. Deren Tätigkeit muss ebenfalls in den Dienst der immer vollständigeren Befriedigung der Ansprüche der Minderheiten gestellt werden. Auf dem Gebiet der Bildenden Kunst betrachten wir die am 29. März 1989 unterzeichnete Vereinbarung über die Gründung des Ludwig-Museums in Ungarn für eine bedeutende Station. Von der Einrichtung des Museums für Moderne Künste erwarten wir eine Erhöhung der touristischen Anziehungskraft der ungarischen Hauptstadt und eine aktive Integration der zeitgenössischen ungarischen Künstler in den internationalen Blutkreislauf. Unter den Verhandlungen auf hoher Ebene zwischen den beiden Staaten sticht der Ungarn-Besuch von Jürgen W. Möllemann, Minister für Unterricht und Wissenschaft, vom 15. bis 18. März 1987 heraus. 4. Unsere Beziehungen auf dem Gebiet der Massenmedien Unsere Beziehungen bei den Massenmedien sind auch weiterhin als gut und ausgewogen zu betrachten. Ihre Intensität entspricht unseren auf den übrigen Gebieten entwickelten bilateralen Beziehungen und der in weiterem Sinne verstandenen politischen Zusammenarbeit der beiden Länder. […] Insgesamt entsprechen die Beziehungen auf dem Gebiet der Massenmedien zwischen unserem Land und der BRD gemäß den hiesigen Auffassungen dem Geist des Helsinki-Prozesses. Die Offenheit Ungarns für ausländische Journalisten spiegelt sich positiv in der lokalen Presse wider. Die Aufhebung der Drehgenehmigung und die flexible Visapraxis haben bei den hiesigen Presseorganen eindeutige Anerkennung ausgelöst. Im Berichtszeitraum besuchten nach unseren Schätzungen etwas mehr als 1.000 Journalisten aus der BRD unser Land, die Zahl der offiziellen Reisen kann mit 250 bis 300 angesetzt werden. […]



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5. Beziehungen in den Bereichen Wissenschaft, Technik und Umweltschutz Unser Bestreben nach wissenschaftlich-technischer Zusammenarbeit bildet einen außerordentlich wichtigen Teil unserer sich belebenden Beziehungen zum Westen, denn die Zunahme der jetzt bereits beträchtlichen technologischen Kluft auf einzelnen Gebieten bedroht uns mit dem Schrecken eines vollständigen Abfallens. Die traditionell deutsch orientierte technische Kultur in Ungarn und das gute politische Verhältnis zwischen unserem Land und der BRD schafft zuverlässige Grundlagen für die Weiterentwicklung der lebhaften westdeutschungarischen wissenschaftlich-technologischen Beziehungen. Zu dieser Arbeit dient das im Herbst 1987 unterzeichnete zwischenstaatliche Wissenschafts- und Technikabkommen als Rahmen. Während seiner Reise [nach Ungarn] konnte sich Forschungsminister [Heinz] Riesenhuber persönlich von der – auf gewissen Gebieten europäisches Niveau erreichende – Leistungsfähigkeit der ungarischen Wissenschaft und Technik überzeugen. Der Erfolg des Besuchs bekräftigte die Kooperationsbereitschaft der westdeutschen Seite. Nach der ersten Sitzung des gemischten Ausschusses für Wissenschaft und Technik setzte sich eine lebhafte Organisationstätigkeit in Gang. Als deren Ergebnis können wir über die Entfaltung des Kooperationsprojekts sowie über die Erweiterung des Abkommens durch neue Themen und Fachgebiete berichten. Aufgabe der Verhandlungsrunde im Herbst 1989 wird die Selektion auf der Grundlage unserer Entwicklungsprioritäten und die verstärkte Durchsetzung unserer Interessen sein. Eine neuartige, auch die Unternehmenssphäre berührende unmittelbare Zusammenarbeit entwickelt sich mit den wichtigsten Bundesländern der BRD. Unter dieser ist die zu Baden-Württemberg entwickelte Beziehung, die über die wissenschaftliche Forschung hinaus auch Expertenberatungen umfasst, hervorzuheben. Auf dem Gebiet des Umweltschutzes haben wir im Dezember [1988] mit der als führender europäischer Macht geltenden BRD nach intensiven Vorbereitungsverhandlungen ein zwischenstaatliches Umweltschutzabkommen unterzeichnet. Die westdeutsche Seite bemüht sich bei den sich entwickelnden Beziehungen zu Ungarn um eine inhaltsreiche Zusammenarbeit. Sie signalisierte gleich ihre Bereitschaft zu einer Weiterentwicklung des Abkommens (Zusammenarbeit mit Projektcharakter). Die Regierung der BRD begrüßte auch offiziell die Entscheidung der ungarischen Regierung, den Bau des Kraftwerks bei Bős–Nagymaros einzustellen. […] Wichtiger Teil der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit der beiden Länder ist der Stipendiatenaustausch, der in verschiedenen Formen verwirklicht wird. Die Universitäten und Forschungsinstitute in der BRD sehen gerne ungarische Experten, die für die Möglichkeit zu Forschungen auf hohem Niveau mit ihren Ideen „bezahlen“. […]

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6. Staatliche Jugendbeziehungen, Beziehungen der gesellschaftlichen und Massenorganisationen, Sportbeziehungen […] Ein bedeutendes Ereignis im Berichtszeitraum war die erste Sitzung des gemischten Ausschusses für den ungarisch-bundesdeutschen Jugendaustausch, die zwischen dem 10. und 14. Oktober 1988 in Bad Münstereifel stattfand. Die Sitzung diente dem Kennenlernen der jugendpolitischen Arbeit der beiden Länder und der Kräftigung der Beziehungen. In einigen konkreten Fragen wurden Vereinbarungen getroffen. […] Die Sportbeziehungen zwischen unserem Land und der BRD sind außerordentlich intensiv. Sie sind auch weiterhin durch Regelmäßigkeit und Häufigkeit gekennzeichnet. Unter den Veranstaltungen gibt es auch mehrere internationale Wettbewerbe mit traditionell hohem Niveau. Im vergangenen Jahr kam es auf Auswahlebene in vierzig Sportsparten zu etwa 170 Treffen. Gegenwärtig sind 18 Trainer sowie 26 Sportler aus Ungarn bei westdeutschen Vereinen aktiv. […] 7. Emigrationspolitik Für unsere etwa 70.000 in der BRD lebenden ungarischen Landsleute sind 1989 zwei Aspekte von entscheidender Bedeutung: Der eine ist der beschleunigte Demokratisierungsprozess in unserem Land, der andere die Situation der ungarischen Minderheit in Rumänien. Die Organisationen der in der BRD lebenden Ungarn, die sich in vielen Fällen zu voneinander abweichenden politischen Ansichten bekennen, haben die Veränderungen in unserem Land, die Reiseerleichterungen, die Einstellung des Staustufenbaus sowie die unsere Interessen betonende Innen- und Außenpolitik mit Freude aufgenommen. Die Leiter und Mitglieder der Vereine, die engen Kontakt zu unserer Botschaft halten, brachten bei Empfängen und in persönlichen Gesprächen bei mehreren Gelegenheiten ihr Einverständnis und ihre Freude über die Veränderungen zum Ausdruck. Wir stellten wachsendes Interesse seitens der hier lebenden ungarischen Geschäftsleute und Unternehmer fest, gemischte Unternehmen in Ungarn zu gründen und die Geschäftsbeziehungen auszubauen. Die Bestrebungen unterstützten und förderten wir. […] 8. Konsularische Arbeit Das im März 1988 in Kraft getretene Abkommen für Visaerleichterungen hat die Formalitäten der Visaausgabe beträchtlich verringert und die Visaausgabeordnung für Personen, die aus offiziellen Gründen häufig reisen, wesentlich vereinfacht. Nach Startschwierigkeiten […] hat sich die Zahl von Problemfällen auf ein Minimum verringert. Unsere Konsularabteilung gab 1988 562.861 Visa aus. Dies bedeutet eine Steigerung von 8,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. […]



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9. Städtepartnerschaften Bei der Entwicklung der Städtepartnerschaften bedeuteten die Jahre 1988/89 einen wirklichen Durchbruch. Die Zahl der genehmigten Partnerschaften stieg von 12 auf 33 und augenblicklich kann – so unsere Informationen – die Zahl der Städte und Gemeinden in der BRD, die eine Partnerschaft anstreben, mit 40 bis 50 angesetzt werden. Bei der schnellen Entwicklung spielten die Gründung und der Beginn der Stiftung Ungarndeutsche eine bedeutende Rolle. […] Wir halten [allerdings] die Umständlichkeit der Genehmigung der Städtepartnerschaften unverändert für inakzeptabel. […] 10. Vorschläge für die Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen und für den Besuchsplan 1989/90 In Übereinstimmung mit unseren allgemeinen politischen und außenwirtschaftlichen Zielsetzungen müssen wir auch in der folgenden Zeit danach streben, unsere Beziehungen zur BRD auf allen Gebieten des Lebens zu vertiefen. Dementsprechend müssen wir unverändert starkes Gewicht auf die Fortführung des politischen Dialogs auf höchster Ebene legen. Diese Treffen sollen wir dazu nutzen, die Ziele und Ergebnisse des politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesses in Ungarn aufzuzeigen und Vereinbarungen, die die Zusammenarbeit regeln, zu unterschreiben. Wir sollen besondere Kraftanstrengungen zur Vorbereitung der sich in einem fortgeschrittenen Stadium befindenden Äquivalenz-, Verkehrs-, Luftverkehrs- und Zollvereinbarungen sowie zu ihrer Unterzeichnung in der zweiten Jahreshälfte 1989 unternehmen. Unter Berufung auf den erreichten hohen Stand unserer Beziehungen, die sich erfreulich dynamisch ausweitenden Tourismus- und Jugendbeziehungen, die Häufigkeit der menschlichen Kontakte und ihre [positive] Atmosphäre sollen wir Schritte für den Abschluss von Gesundheits- und Postabkommen unternehmen. Unter Ausnutzung unserer positiven politischen Beurteilung sollen wir mit Hilfe der BRD danach streben, unsere Beziehungen in Richtung der europäischen Institutionen zu stärken, und dafür sorgen, dass das mit der EG geschlossene Abkommen mit Inhalten gefüllt wird und die darin festgelegten Fristen bedeutend vorgezogen werden. In diesem Zusammenhang haben wir ein Treffen des ungarischen Außenministers mit den Außenministern der europäischen Zwölf initiiert. [Zum Besuchsplan 1989/90:] – Für Herbst 1989 sollen wir – entsprechend unseren früheren Vorstellungen – den offiziellen Ungarn-Besuch von Kanzler Kohl vorbereiten. – Entsprechend unseren früheren Vorstellungen sollen wir in Abhängigkeit von der Entwicklung der politischen Prozesse in Ungarn Schritte unternehmen, um den Gegenbesuch des Vorsitzenden des Präsidialrats [in der BRD] vorzubereiten. – Der Parlamentspräsident soll – in Abhängigkeit vom Besuch des Staatschefs – in der zweiten Jahreshälfte 1990 oder in der ersten Hälfte 1991 den Besuch

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des Bundestagspräsidenten vom September 1988 und des Bundesratspräsidenten vom Mai 1989 erwidern. – Wir sollen den Dialog mit den führenden Politikern der im Bundestag vertretenen Parteien und ihrer Fraktionen fortsetzen. Der Besuch des SPD-Vorsitzenden [Hans-Jochen] Vogel und des Präsidenten der Sozialistischen Internationale [Willy] Brandt in Ungarn soll in der geplanten Zeit stattfinden. Auch der Fraktionschef der CDU [Alfred] Dregger soll zu einem Besuch in Ungarn eingeladen werden. Bezüglich der Einladung der jüngeren „Politikergeneration“ unterbreiten wir in Abhängigkeit von den finanziellen Möglichkeiten Vorschläge. – Wir sollen mit Hilfe der verschiedenen Stiftungen und politischen Unterrichtsinstitutionen sowie unter Nutzung der gesellschaftlichen und Pressebeziehungen die Repräsentanten der verantwortlich denkenden alternativen Parteien und Bewegungen dabei unterstützen, ihre Aktivitäten hier [in der Bundesrepublik] vorzustellen und internationale Kontakte zu entwickeln. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass eine breitere internationale Per­ spektive günstige Auswirkungen auf das Denken dieser Parteien hat. – Entsprechend der vorausgehende Abstimmung besucht Außenminister [Gyula] Horn im September 1989 Bonn. Wir sollen den Besuch – unter anderem – dazu nutzen, unsere Vorstellungen bezüglich der EG vorzustellen und den geplanten Kanzlerbesuch vorzubereiten. Der Außenminister soll überdies den Vorsitzenden des Präsidialrats bzw. den Präsidenten der Republik bei seinem BRD-Besuch begleiten. – Im Rahmen des Kooperationsprotokolls soll die bewährte Praxis der Konsultationen [der Außenministerien] fortgesetzt werden. […] – Bei der Planung der Besuche der Fachminister müssen in erster Linie die Ausarbeitung bzw. Unterzeichnung der sich in Vorbereitung befindenden Dokumente berücksichtigt werden. – Dementsprechend sollen der Besuch von Verkehrsminister András Derzsi in Bonn und der Besuch von Gesundheitsministerin[Ursula] Lehr in Budapest stattfinden. Wir müssen mit dem offiziellen Besuch von Handelsminister Tamás Beck und von Justizminister Kálmán Kulcsár [in der BRD] sowie mit der Reise von Finanzminister László Békesi im Jahre 1990 rechnen. Wirtschaftsminister [Helmut] Haussmann trifft sich im Rahmen der Budapester Sitzung des gemischten Ausschusses mit seinen Partnern. Eine gültige Einladung hat auch Innenminister [Wolfgang] Schäuble. […] [Unterschrift] (Dr. István Horváth) Botschafter Quelle: MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/C), fol. 90–128. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer



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Dokument 39 Verschlüsseltes Fernschreiben des bundesdeutschen Botschafters in Budapest Alexander Arnot an das Auswärtige Amt vom 4. August 1989 Vor dem Hintergrund der dramatischen Entwicklungen, die sich aus der Tatsache ergaben, dass sich im Sommer 1989 mehrere Zehntausend DDR-Bürgern in Ungarn sammelten, die nicht nach Ostdeutschland zurückkehren wollten und in wachsender Zahl Fluchtversuche nach Österreich (und Jugoslawien) über die „grüne Grenze“ unternahmen, kam es am 4. August 1989 – auf Anweisung des Auswärtigen Amts – zu einem Besuch von Botschafter Alexander Arnot beim ungarischen Innenminister István Horváth. Wie aus dem Fernschreiben hervorgeht, übte Arnot ungewohnt heftige Kritik am Verhalten Ungarns in der Flüchtlingsfrage. In Anspielung auf die widersprüchliche Praxis bei der Behandlung der DDR-Bürger wies er darauf hin, dass durch die entstandene Situation der Ruf Ungarns als Protagonist der Öffnung in Gefahr geraten und dies „mit schwerwiegenden Folgen insbesondere für unsere bilateralen Beziehungen“ einhergehen könne. Anschließend warf Arnot die Frage auf, ob in Ungarn alles zur Lösung des Problems getan werde, „was rechtlich geboten oder praktisch möglich“ sei, und drängte auf die Einhaltung der aus der UN-Flüchtlingskonvention hervorgehenden Verpflichtungen sowie auf die „Unterlassung der Übermittlung von Daten an die DDR“. Horváth verwies in seiner Antwort auf die Komplexität der Problematik und auf die gewaltigen Herausforderungen, vor denen Ungarn im Zuge der rasanten Veränderungsprozesse stehe, und betonte die Bemühungen seines Landes, die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention umzusetzen. Abschließend sagte der Innenminister zu, die von der bundesdeutschen Seite aufgeworfenen Kritikpunkte zu überprüfen und die Botschaft über die Ergebnisse der Untersuchung in Kenntnis zu setzen. *** […]51 Ich habe am 04.08. weisungsgemäß Demarche bei Innenminister Horváth unternommen und dabei Folgendes gesagt: – Die Bundesregierung ist sich bewusst, dass die Angelegenheit auch für die ungarische Seite ein heikles Thema ist. Problem wird deshalb von uns mit größter Umsicht und mit Verständnis auch für die ungarische Situation angegangen. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Tagen mehrfach deutlich vor einem illegalen Verlassen der Volksrepublik Ungarn gewarnt.

51  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.

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– Dennoch hat sich die Situation Deutscher aus der DDR in Ungarn in den vergangenen Tagen weiter zugespitzt. Es gibt immer mehr Fälle gescheiterter Fluchtversuche und zunehmende Resonanz in der Öffentlichkeit. – In den letzten Monaten hat die ungarische Führung in unserer Öffentlichkeit den Ruf erworben, mit Umsicht und Augenmaß einen unumkehrbaren Kurs auf die Öffnung des Landes zu verfolgen. Dieser Ruf gerät jetzt in ernste Gefahr, mit schwerwiegenden Folgen insbesondere für unsere bilateralen Beziehungen, aber auch für die Beziehungen Ungarns mit dem Westen insgesamt. – Angesichts der schwierigen Lage stellt sich immer deutlicher die Frage, ob von ungarischer Seite alles getan wird, was rechtlich geboten oder praktisch möglich ist. – Die Bundesregierung appelliert nachdrücklich an die ungarische Seite, ihre durch die Zeichnung der UN-Flüchtlingskonvention eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten. – Insbesondere sollten Flüchtlinge ein überprüfbares Anerkennungsverfahren durchlaufen und nicht ohne weiteres aus der Volksrepublik Ungarn in ihr Ursprungsland abgeschoben werden, wo ihnen Verfolgung droht. – Die deutsche Öffentlichkeit und die Bundesregierung haben den Eindruck und sind erstaunt, dass Ungarn gerade jetzt seine Grenzkontrollen verstärkt und das Verfahren bei aufgegriffenen Flüchtlingen verschärft hat. Die Bundesregierung bedauert sehr, dass es inzwischen in Einzelfällen auch zu Übergriffen von ungarischen Grenzorganen an Deutschen aus der DDR gekommen ist. Sie bittet die ungarische Seite, dafür Vorsorge zu treffen, dass sich derartige Vorfälle nicht wiederholen. – Die Bundesregierung appelliert noch einmal eindringlich an die ungarische Seite, alles zu tun, damit den betroffenen Menschen geholfen werden kann, insbesondere: – Duldung des Aufenthalts der betroffenen Personen in der Volksrepublik Ungarn bis zur Durchführung eines ordnungsgemäßen Anerkennungsverfahrens gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention. Wir gehen davon aus, dass die, die sich nicht bei uns [in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest] festgesetzt haben, ebenfalls keine Schwierigkeiten haben. – Unterlassung der Übermittlung von Daten an die DDR über die betroffenen Personen, was dort ihre Bestrafung zur Folge hat. – Der Bundesregierung liegt daran, dass Ungarn mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen eng zusammenarbeitet. Dass die Delegation nunmehr am Sonntag nach Ungarn reisen wird. Auf den Vortrag der Demarche antwortete Innenminister Horváth zunächst mit längeren Ausführungen allgemeiner Art über den guten Stand der deutsch-ungarischen Beziehungen, die als „bemerkenswert“ charakterisierten Kontakte zwischen dem



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Bundesministerium des Inneren und dem ungarischen Innenministerium sowie seine Reise in die Bundesrepublik auf Einladung von Bundesminister [Friedrich] Zimmermann. Zur Sache erklärte er Folgendes: – Das Thema „Flüchtlinge aus der DDR“ sei durch Presseveröffentlichungen in der Bundesrepublik aufgeputscht worden. Das mache die Sache noch schwieriger. Im Verlauf des anschließenden Gesprächs gab Horváth in anderem Zusammenhang zu, dass auch in der ungarischen Öffentlichkeit inzwischen Kritik an der offiziellen Haltung geübt werde. – Die Bundesregierung solle die Lage Ungarns verstehen und keine Ungeduld aufkommen lassen. Eine jahrzehntelange Praxis könne nicht von einem Tag auf den anderen geändert werden. Ungarn könne auch mit seinen Reformen nicht auf allen Gebieten gleichmäßig vorangehen. – Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde von Ungarn nicht wegen der Flüchtlinge aus Rumänien unterschrieben. Dieser Flüchtlingsstrom habe die Unterschrift lediglich beschleunigt. Ungarn habe damit eine große Last auf sich genommen. – Ungarn sei nicht auf die Konsequenzen aus der Unterzeichnung der Konvention und insbesondere auf die Probleme mit den DDR-Flüchtlingen vorbereitet gewesen: Rechtliche Regelungen fehlen, bestehende Regelungen dienen der Zusammenarbeit mit anderen sozialistischen Ländern. Das gelte auch grundsätzlich für Rumänien. Immerhin sei auf seine (Horváths) Initiative seit 1983 der Schusswaffengebrauch an der Grenze verboten. Ungarns praktische Probleme resultierten daraus, dass es keine Flüchtlingslager, kein ausgebildetes Personal, keine ausreichenden Erfahrungen und auch nicht genügend Geld gegeben habe. (In einem gewissen Widerspruch zu diesen Ausführungen steht die Behauptung Horváths, Ungarn sei sich von vorneherein darüber im Klaren gewesen, dass die Konvention auf alle Flüchtlinge anzuwenden sei.) – „Ungarn wird kein Trampolin nach Westen für Flüchtlinge aus sozialistischen Ländern“. Es sei gut, dass die Bundesregierung öffentlich von der Flucht über Ungarn abrate. Ungarn könne da auch nicht „mitmachen“, schon „aus materiellen Gründen“. – Ungarn betone im Warschauer Pakt den politischen Charakter des Bündnisses, suche eine Art und Weise der Mitgliedschaft, die es nicht vom übrigen Europa trenne und strebe gute Beziehungen zu – allen – Nachbarn an. Ungarn wolle eine Brückenfunktion zwischen Ost und West und sich nicht vom Westen abgrenzen. – Die „harten Worte“ der Demarche nahm Horváth zum Anlass, zu unterstreichen, dass Ungarn sich sehr wohl an die Verpflichtungen aus der Genfer Konvention halte. Er gab zu, dass „noch nicht alles durchführbar“ sei. Ungarn habe seine Grenzkontrollen aber keineswegs verschärft. (Auf meinen Einwand, dass die Zahl der aufgegriffenen Personen ständig steige und schon

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weit vor der Grenze intensive Kontrollen durchgeführt würden, erwiderte er, das sei schon immer so gewesen.) Horváth beschrieb die aktuelle Situation anhand folgender Zahlen: Bis Ende Juni 1989 waren bereits ca. 400.000 Besucher aus der DDR nach Ungarn gekommen. Davon hätten ca. 500 versucht, die Grenze illegal zu überschreiten. 1988 seien es im Ganzen Jahr so viele gewesen. In den letzten Tagen hätten manchmal 40 bis 50 Fluchtversuche pro Tag stattgefunden. Fünf Personen aus der DDR hätten Anträge auf Asyl gestellt. – Horváth betonte nachdrücklich, die Situation der Flüchtlinge aus Rumänien und der DDR sei nicht vergleichbar. Nicht alle DDR-Urlauber, die in Ungarn einen illegalen Grenzübertritt versuchten, hätten politische Motive, das treffe höchstens auf einige zu. Das Abkommen mit der DDR verpflichte Ungarn bei kriminellen Taten die andere Seite zu informieren. Der illegale Grenzübertritt sei eine solche Tat. Horváth deutete in allgemeinen Wendungen eine eventuelle Prüfung des Abkommens an. – Zur Genfer Konvention führte Horváth aus: Ein Flüchtlingsgesetz ist in Vorbereitung. Der Entwurf soll noch im August der Regierung vorgelegt werden. Es sei noch unklar, wie die Frage der Prüfung von Anträgen auf Anerkennung politischer Flüchtlinge gelöst werde (Prüfung durch Gerichte, Polizei, Verwaltung (Fragezeichen)). Bis zur Verabschiedung einer Regelung werden nach Horváths Aussage „noch einige Monate“ vergehen. (Der Chef der Landeszentralbehörde für Ausländerkontrolle Nagy erklärte ebenfalls heute gegenüber ARD-Team, ein Gesetz sei bis 01.10. zu erwarten.) Horváth verwies auf Schwierigkeiten in der Bundesrepublik mit dem Asylbewerberstrom. Auf meinen Einwand, dass DDR-Flüchtlinge in Ungarn keine dauernde Zuflucht, sondern lediglich vorübergehende Duldung und die Möglichkeit zur Weiterreise suchten, ging Horváth nicht ein. Das Gespräch mit Innenminister Horváth dauerte eine Stunde. Der Minister sagte zu, die angesprochenen Themen prüfen zu lassen. Eine Antwort sei jetzt noch nicht möglich. Die Problematik werde zur Zeit intensiv von einem besonderen, seit dem 03. 08. tätigen Stab geprüft. Horváth fasste seine Ausführungen abschließend wie folgt zusammen: Ungarn nimmt seine Verpflichtungen aus der Genfer Konvention ernst und wird in diesem Sinne weiter voranschreiten. Ungarische Regierung sei bestrebt, die bestmögliche Lösung zu finden, die aber auch für die DDR akzeptabel sein müsse. Er wiederholte, dass bundesdeutsche Medien wahrscheinlich immer noch etwas auszusetzen haben würden. Horváth deutete an, man werde in Einzelfällen von DDRFlüchtlingen, die sich in der Botschaft festgesetzt haben, nach einer „schnelleren Lösung“ suchen. Er machte aber zugleich klar, eine pauschale Lösung auch nur für die „über 100“ in der Botschaft befindlichen Personen scheide aus. Die Bundesregierung solle mit der DDR eine Lösung suchen. Als Begründung für die Ablehnung einer wie auch immer gearteten pauschalen Lösung wies Horváth auf die Möglichkeit hin,



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auch aus der Sowjetunion, Bulgarien oder anderen sozialistischen Ländern könnten sich dann Flüchtlinge melden, die über den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen ihre Ausreise bewirken wollen. Auf die Fälle von Übergriffen gegen DDR-Flüchtlinge und auf den bevorstehenden Besuch des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in Budapest ging Horváth nicht ein. Trotz freundlicher allgemeiner Wendungen über das bilaterale Verhältnis deutete Horváth keine Bereitschaft der ungarischen Seite zu einem Durchbruch an. Horváth sagte abschließend zu, Ergebnis der Prüfung mitzuteilen. Er bat um Benennung eines für diese Fragen zuständigen Mitarbeiters der Botschaft, machte aber bezüglich des Zeithorizonts keine Andeutungen. Ich bat ihn noch einmal, auf die Bitte der Bundesregierung um ordnungsgemäße Anerkennungsverfahren, um Duldung des Aufenthalts bis zur Durchführung dieser Verfahren sowie um Unterlassung der Übermittlung von Daten einzugehen und sagte, ich erwarte seine Antwort. [Alexander] Arnot Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.734 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

Dokument 40 Aufzeichnung des ungarischen Innenministers István Horváth vom 4. August 1989 über seine Unterredung mit dem bundesdeutschen Botschafter Alexander Arnot Die am 4. August 1989 angefertigte Aufzeichnung des ungarischen Innenministers über das Treffen mit dem bundesdeutschen Botschafter Arnot, die auch dem ungarischen Außenminister Gyula Horn zugesandt wurde, bildet das „ungarische Gegenstück“ des Berichts von Arnot an das Auswärtige Amt (siehe Dokument 39). Horváth verweist darin auf die – hier wesentlich weniger scharf widergegebene – Kritik Arnots am ungarischen Verhalten in der Flüchtlingsfrage und vor allem auf den Vorwurf, das ungarische Handeln widerspreche den politischen Deklarationen der Budapester Führung. Anschließend führt er die einzelnen Ersuchen Arnots bzw. Bonns auf, darunter das Anliegen, keine Informationen über aufgegriffene DDR-Bürger an Ostberlin weiterzugeben, und legt seine Reaktion auf die Ausführungen Arnots dar. In diesem Zusammenhang betont er, dass er die Formulierung über einen Unterschied in der „verkündeten und der praktizierten Linie“ der ungarischen Politik zurückgewiesen habe, und verweist auf die Komplexität der Angelegenheit der Flüchtlinge und die komplizierte Lage Ungarns. Außerdem kündigt er eine eingehende Behandlung der „weitverzweigten Probleme“ an, über deren Ergebnisse die Botschaft in Kürze informiert werde. ***

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Aufzeichnung Am heutigen Tag empfing ich auf dringliches Ersuchen des Außenministeriums Herrn Dr. Alexander Arnot, den Budapester Botschafter der BRD, der – unter Berufung auf eine Anweisung aus der Bonner Zentrale – [zuvor] signalisiert hatte, dass für sie das Treffen, das auf alle Fälle gegen Ende der Woche stattfinden solle, von außerordentlicher Wichtigkeit sei, da es sich um eine unaufschiebbare Angelegenheit handle. Bei dem Treffen sprach der Botschafter im Namen seiner Regierung mit Anerkennung über die bedeutenden Veränderungen und über die Entwicklung, die im politisch-gesellschaftlichen Leben Ungarns feststellbar seien. Anschließend ging er auf die Angelegenheit, die mit der Zusammenkunft verbunden war, ein, und zwar auf die Frage der DDR-Staatsbürger, die von Ungarn aus in die BRD gelangen wollen. Diesbezüglich äußerte er, dass das damit verbundene Verfahren der zuständigen ungarischen Organe in der Bundesrepublik Deutschland und auch in der Bundesregierung Unverständnis hervorrufe, und sich, da man einen Unterschied zwischen der politischen Praxis, die die ungarische Politik verkünde, und der tatsächlich umgesetzten politischen Praxis sehe, Fragen hinsichtlich der Ernsthaftigkeit unserer Deklarationen aufwerfen würden. Er unterbreitete die folgenden konkreten Ersuchen: 1. Er bat darum, dass die mehr als 100 DDR-Staatsbürger, die sich seit geraumer Zeit im Gebäude der Budapester Botschaft der BRD aufhalten würden, mit Wissen der ungarischen Behörden die Botschaft verlassen dürften, und sich bei gegenseitiger Diskretion in Budapester Privatwohnungen aufhalten dürften, bis die zuständigen ungarischen Organe ihre Ersuchen im Geiste der Genfer Flüchtlingskonvention beurteilen würden, also ob sie als Flüchtlinge zu betrachten seien oder nicht. 2. Er ersuchte auch darum, dass die ungarischen Organe im Falle aller sich in Ungarn aufhaltenden DDR-Staatsbürger, die in die BRD ausreisen wollten, entsprechend verfahren sollten, auch im Falle derjenigen, die sich nicht in der Botschaft aufhalten würden. 3. Ein weiteres Ersuchen war, dass wir der DDR keine Informationen über DDRStaatsbürger, die Ungarn ohne Reisepapiere verlassen wollten und aufgegriffen worden seien, übermitteln sollten, weil man sie dort zur Verantwortung ziehen würde und sie eine Strafe erwarte. 4. Schließlich ersuchte er darum, dass wir mit dem UNO-Hochkommissar, der in diesen Tagen Ungarn besuche, in der besagten Angelegenheit zusammenarbeiten sollten. Als Antwort auf die vom Botschafter zur Sprache gebrachten Punkte erklärte ich, dass es für die Regierung und auch für das Innenministerium eine erfreuliche Tatsache darstelle, dass sich die Beziehungen zwischen unserem Land und der BRD auf allen Gebieten erfolgreich entwickeln würden. Es sei für uns wichtig, dass die ungarischen Bestrebungen seitens der Bundesrepublik von Verständnisbereitschaft und



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Unterstützung begleitet würden. Ich hielte das dringliche Bestreben in der Angelegenheit der DDR-Staatsbürger für verständlich. Die Formulierung, die auf einen Unterschied zwischen der von der ungarischen Politik verkündeten und der praktizierten Linie verweise, würde ich allerdings nicht verstehen und für ungewöhnlich halten, auch deshalb, weil sie keinerlei Grundlage habe. Hier ginge es um etwas Anderes, um eine komplizierte Angelegenheit, was man auch in der Bundesrepublik wohl wisse. Und zwar darum, dass die neuen politischen Initiativen und das dementsprechende Verfahren uns oft in eine Situation bringen würden, in der wir sämtliche mögliche Konsequenzen unserer Entscheidungen im Voraus nicht absehen könnten bzw. in der wir nicht sofort über alle notwendigen Voraussetzungen zur Verwirklichung unserer Entschlüsse verfügen würden. Und diese könnten wir im Laufe der Verwirklichung erst kontinuierlich schaffen. So verhalte es sich auch in der Frage, die mit der Flut von siebenbürgischen und rumänischen Flüchtlingen nach Ungarn begonnen habe. Und zur Handhabung dieser Frage seien wir dazu übergegangen, die Praxis eines angemessenen Verfahrens hinsichtlich der Flüchtlingsabkommen zu entwickeln. All dies werfe Fragen auf, die in der einheimischen Rechtsregelung, mit Blick auf die betroffenen verbündeten Staaten und in Verbindung mit unseren geltenden Abkommen auf eine Klärung warten würden. Diese sei jetzt im Gange. Es handle sich um eine Angelegenheit, zu deren Lösung eine gewisse Zeit und auch Erfahrungen notwendig seien. Hier müsse aber auf alle Fälle berücksichtigt werden, dass Ungarn für die DDRStaatsbürger nicht das Sprungbrett für eine rechtswidrige Ausreise in die Bundesrepublik sein könne. Und es sei auch schwer vorzustellen, dass die anderthalb bis zwei Millionen DDR-Staatsbürger, die jedes Jahr Ungarn besuchen würden, alle politische Flüchtlinge seien. In Kenntnis der Praxis der Aufnahmepolitik in den westeuropäischen Staaten habe ich ihm versichert, dass sich auch Ungarn in ähnlicher Art und Weise auf die Einhaltung der Prinzipien der Flüchtlingskonvention vorbereite. Bezüglich der konkreten Fragen des Botschafters signalisierte ich, dass hier weitverzweigte Probleme aufgeworfen würden und sich meine Mitarbeiter, das Außenministerium sowie die anderen zuständigen ungarischen Organe seit Wochen eingehend mit diesen Fragen befassen würden. Über unsere Antworten würden wir in Kürze informieren. Budapest, 4. August 1989 Verteiler: Genosse Károly Grósz, Genosse Miklós Németh, Genosse Géza Kótai, Genosse Gyula Horn, Genosse Ferenc Somogyi. Quelle: MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 145–151. Veröffentlicht in ungarischer Sprache: Andreas Schmidt-Schweizer/ Tibor Dömötörfi, „Kijelentette: nem érdekük, hogy az NDK-ból tömegesen meneküljenek az NSZK-ba.“ Két dokumentum a Magyarországra menekült keletnémet állampolgárok és a nyugatnémet–magyar kapcsolatok történetéhez 1989. augusztus elején [Er erklärte: „Es stehe

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nicht in ihrem Interesse, dass sie massenweise aus der DDR in die BRD fliehen.“ Zwei Dokumente zur Geschichte der nach Ungarn geflohenen DDR-Staatsbürger und der westdeutsch-ungarischen Beziehungen Anfang August 1989] In: Történelmi Szemle, 51 (2009) H. 2, S. 295–310, hier S. 307–309. Veröffentlicht in deutscher Sprache: Andreas Schmidt-Schweizer/ Tibor Dömötörfi, Eine merkwürdige Episode der westdeutsch-ungarischen diplomatischen Beziehungen in der ersten Augustwoche 1989 in Zusammenhang mit der Fluchtwelle der DDRStaatsbürger in Ungarn. In: György Gyarmati/ Krisztina Slachta (Hrsg.), Das Vorspiel für die Grenzöffnung. Das Paneuropäische Picknick in Sopron am 19. August 1989. Sopron/ Budapest 2014, S. 109–127, hier S. 124–127. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 41 Aufzeichnung von Ferenc Somogyi, Staatssekretär im Außenministerium, vom 7. August 1989 über das Gespräch mit dem bundesdeutschen Botschafter in Budapest Alexander Arnot Nachdem der bundesdeutsche Botschafter Alexander Arnot bereits am 4. August 1989 die Problematik der ostdeutschen Flüchtlinge und die Kritik des Auswärtigen Amts an der diesbezüglichen Politik Ungarns gegenüber Innenminister István Horváth zum Ausdruck gebracht hatte (siehe Dokumente 39 und 40), sprach Arnot am 7. August 1989 auch bei Ferenc Somogyi, Staatssekretär im Außenministerium, in dieser Angelegenheit vor. Auch bei dieser Unterredung betonte Arnot, dass man hinsichtlich der Flüchtlingsproblematik in Ungarn in der Bundesrepublik einen Widerspruch zwischen den Erklärungen der ungarischen Politik und ihrer tatsächlichen Praxis sehe. Zusätzlich betonte Arnot, dass es nicht im Interesse der Bundesrepublik liege, dass die DDR-Bürger „massenhaft aus der DDR in die BRD flüchten“. Wie bereits Horváth legte auch Somogyi die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Situation und die gewaltigen Herausforderungen, vor denen Ungarn in dieser Übergangszeit stand, dar. Darüber hinaus wies er auch auf die mittlerweile von Ungarn ergriffenen „überbrückenden“ Maßnahmen hin. In seiner Antwort begrüßte Arnot unter anderem, dass der Tatbestand eines illegalen Grenzübertrittsversuchs nicht mehr durch einen Stempel in den Pässen der DDR-Bürger vermerkt werde, und brachte – laut Somogyi – die Hoffnung zum Ausdruck, dass zumindest das Problem der Flüchtlinge in der Botschaft mittels der sogenannten VogelLösung52 behoben werden könne. *** 52  Die mit dem Namen des ostdeutschen Rechtsanwalts Wolfgang Vogel verbundene Lösung basierte auf dem Angebot Ostberlins für die DDR-Flüchtlinge, dass sie in die DDR zurückkehren und dort einen Ausreiseantrag stellen sollten, der dann wohlwollen behandelt werden würde.



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Außenministerium Streng geheim! Dr. Ferenc Somogyi Gültig: Bis auf Widerruf 002106/1/1989 Ausgefertigt: 11 Exemplare Verteiler: […] Aufzeichnung Gegenstand: Besuch des bundesdeutschen Botschafters Dr. Alexander Arnot Am heutigen Tag empfing ich auf sein Ersuchen hin Herrn A. Arnot, den Budapester Botschafter der BRD, der – unter Hinweis auf seine Zentrale [d. h. des Auswärtigen Amts] – ein Gespräch in der Angelegenheit der DDR-Staatsbürger, die ohne Genehmigung aus Ungarn in der BRD reisen wollen, anregte. Als Gesprächseinleitung informierte er [mich] detailliert über seinen Besuch bei Genossen Innenminister Dr. István Horváth am 4. August [1989] und über seine dort vorgetragenen Ersuchen. (Die über diese Unterredung erstellte Aufzeichnung ist beigefügt.53) Der Botschafter betonte, dass die Regierung und öffentliche Meinung der BRD das [Problem der DDR-Flüchtlinge] mit Besorgnis erfülle, es sei ihrer Einschätzung nach ein sehr schwerwiegendes Problem. Man sehe einen Widerspruch zwischen den früheren Erklärungen der ungarischen Regierung und der gegenwärtigen Praxis, die in dieser Frage verfolgt werde. Man erkenne den heiklen und komplexen Charakter des Problems an, man wünsche aber, dass die Angelegenheit auf eine für jedermann akzeptable Art und Weise baldmöglichst abgeschlossen werde, und ersuche hierzu um die effiziente Mitarbeit der ungarischen Zuständigen. Er verwies darauf, dass sie ihrerseits mit nüchternen Erklärungen versuchen würden, die DDR-Staatsbürger zu besserer Einsicht zu bewegen, damit eine weitere Verschlechterung der Situation vermieden werde. Er erklärte: Es liege nicht in ihrem Interesse, dass sie massenhaft aus der DDR in die BRD flüchten. In meiner Antwort machte ich den Botschafter darauf aufmerksam, dass in Übereinstimmung mit den sich in unserem Land entfaltenden Prozessen auch unser Standpunkt bezüglich der Fragen des Menschenrechts und Humanitätsfragen bedeutende Veränderungen erfahren habe. Als Ergebnis davon hätten wir auch weitere internationale Verpflichtungen auf uns genommen, gleichzeitig seien wir aber noch nicht in der Lage gewesen, in allen Punkten angemessene innere Rechtsnormen für die neue Politik und für diese internationalen Verpflichtungen zu schaffen. Auch hinsichtlich der konkreten Probleme seien wir in einer Übergangssituation, die mindestens bis zum Erlass der Verordnung über die Anwendung der Flüchtlingskonvention bzw. bis zur geplanten Änderung des StGB [Strafgesetzbuches] dauern werde. Auch in dieser Periode würden wir uns aber darum bemühen, die Widersprüche und

53  Siehe Dokument 40.

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Probleme, die sich aus den gegenwärtig geltenden inneren Rechtsnormen und den bilateralen internationalen Abkommen ergeben würden, unter Berücksichtigung der Aspekte der Menschlichkeit zu überbrücken. Als Zeichen unseres flexiblen Verhaltens erwähnte ich die Behandlung der ursprünglich als Straftat geltenden verbotenen Grenzübertrittsversuche als Ordnungswidrigkeit, die Einstellung der Praxis der Zurückschickung der betroffenen DDR-Staatsbürger mit Flugzeugen sowie das Festhalten der Tatsache der Ausweisung in einer Art und Weise, die keine Spuren in den Reisedokumenten hinterlässt.54 In diesem Zusammenhang erinnerte ich daran, dass wir bislang in keiner Form zur Sprache gebracht hätten, dass die Budapester Botschaft der BRD im Widerspruch zu den Bestimmungen des Wiener Vertrags sich tatkräftig an der Aufnahme von DDR-Staatsbürgern beteiligt habe. Wir hätten vielmehr mittels der sofortigen Erteilung der notwenigen Genehmigung möglich gemacht, dass drei westdeutsche Diplomaten zur Erledigung der mit der Angelegenheit verbundenen Aufgaben einreisen können. Gleichzeitig betonte ich, dass wir von Anfang an davon geleitet worden seien, unsere Kontakte weder zur BRD noch zur DDR zu verschlechtern, was eine sehr schwierige Aufgabe sei, weil beide Staaten auf der Grundlage unterschiedlicher Beweggründe von uns ein diametral entgegengesetztes Verhalten erwarten würden. Hinzu komme noch die Tatsache, dass kein einziges souveränes Land auf den Schutz seiner Grenzen bzw. auf sein Recht verzichten könne, Ausländer, die seine Gesetze nicht in Ehren halten würden, auszuweisen. Ich verwies auch darauf, dass die immer häufigeren offiziellen Erklärungen und Pressemitteilungen der Handhabung der Angelegenheit, die grundsätzlich Diskretion, Geduld und Verständnis erfordere, nicht dienlich wären. Wir würden zwar die zu Besonnenheit mahnenden Erklärungen schätzen, wir würden aber auch Erklärungen wie die jüngste Äußerung von Außenminister Genscher, der auf eine Einstellung der Praxis des „Stempelns“55 drängte, für sich negativ auswirkend halten. Diese Erklärungen könnten leicht den Eindruck erwecken, dass wir unsere positiven Schritte auf westdeutschen Druck hin unternehmen würden. Noch mehr Schwierigkeiten würden verschiedene ungenaue Äußerungen oder einseitig-tendenziöse Zeitungsnachrichten und Kommentare verursachen. In Zusammenhang mit Letzterem machte ich den Botschafter darauf aufmerksam, dass die vollständige Anwendung der Vorschriften der Flüchtlingskonvention in Ungarn sehr bedeutende Veränderungen im Verfahren zur Feststellung des Flüchtlingsstatus bringen werde, es sei aber zu erwarten, dass die überwiegende Mehrheit der DDR-Staatsbürger den in der Konvention festgelegten Kriterien nicht entsprechen

54  Der Vermerk der Ausweisung wurde auf einem gesonderten Beiblatt angebracht, das natürlich jederzeit unmerklich aus dem Dokument entfernt werden konnte. 55  Also die Anbringung eines – nicht entfernbaren – „Fluchtstempels“ im Pass der DDR-Staatsbürger, die einen erfolglosen Fluchtversuch unternommen hatten.



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werde. Ich versicherte dem Botschafter, dass – obwohl das Gesetz, dessen Verabschiedung anstehe, wahrscheinlich auf einer engen Auslegung des Flüchtlingsstatus basieren werde – die Kriterien keineswegs strenger sein würden, als die beispielsweise in der BRD, der Schweiz oder anderen westeuropäischen Staaten formulierten und geltend gemachten Anforderungen. Ich erinnerte daran, dass wir bereits bei unserem Beitritt zur Konvention festgestellt hätten: Wir wollen kein Ausreisekanal für Flüchtlinge der osteuropäischen Staaten sein. Schließlich informierte ich den Botschafter darüber, dass der geplante Besuch des Hohen Kommissars für Flüchtlingsfragen der UNO bzw. der gegenwärtige Besuch einer Expertendelegation des Hochkommissariats bereits seit langem auf der Tagesordnung stünden und es keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der Angelegenheit der DDR-Bürger, die über unser Land ohne Genehmigung in der BRD zu reisen beabsichtigen würden, gebe. Der Botschafter bedankte sich für die detaillierten Informationen über die ungarische Lagebeurteilung und über unsere gestenhaften Schritte und drückte seine Übereinstimmung mit den wichtigsten Feststellungen aus. Besonders positiv bewertete er die Möglichkeit einer Lösung, dass der Tatbestand der Ausweisung von DDR-Staatsbürgern, die während eines rechtswidrigen Grenzübertrittsversuchs verhaftet worden seien, nicht in den Reisedokumenten der betreffenden Personen festgehalten werde. Er brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass – sollten wir zu einer solchen Praxis übergehen – dann die traditionelle Lösung des Problems der sich in der Botschaft der BRD aufhaltenden Personen auf dem – mit dem Namen des Rechtsanwalts Vogel verbundenen – Wege möglich werde. Gemäß seinen Vorstellungen sei die Mehrzahl der Fälle in dieser Form bis September [1989] zu lösen. Und anschließend müsse man nur mehr eine Lösung für das Problem einiger Personen, die sich auch einer vorübergehenden Rückkehr in die DDR strikt verschließen, finden. (Er teilte mit, dass die – sich infolge von Heimkehr bzw. neuerlicher Niederlassung ständig ändernde – Gesamtzahl der DDR-Staatsbürger, die sich in der Botschaft aufhalten würden, heute Morgen 162 Personen betragen habe.) Abschließend stellte der Botschafter in Aussicht, dass er voraussichtlich im Laufe des Septembers erneut bei Genossen Horn oder bei mir in der Angelegenheit vorstellig werden werde. Budapest, 7. August 1989 Quelle: MNL OL, 288.f.32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 115–121. Veröffentlicht in ungarischer Sprache: Andreas Schmidt-Schweizer/ Tibor Dömötörfi, „Kijelentette: nem érdekük, hogy az NDK-ból tömegesen meneküljenek az NSZKba.“ Két dokumentum a Magyarországra menekült keletnémet állampolgárok és a nyugatnémet–magyar kapcsolatok történetéhez 1989. augusztus elején [Er erklärte: „Es stehe nicht in ihrem Interesse, dass sie massenweise aus der DDR in die BRD fliehen.“ Zwei Dokumente zur Geschichte der nach Ungarn geflohenen DDR-Staats-

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bürger und der westdeutsch-ungarischen Beziehungen Anfang August 1989] In: Történelmi Szemle, 51 (2009) H. 2, S. 295–310, hier S. 304–307. Veröffentlicht in deutscher Sprache: Andreas Schmidt-Schweizer/ Tibor Dömötörfi, Eine merkwürdige Episode der westdeutsch-ungarischen diplomatischen Beziehungen in der ersten Augustwoche 1989 in Zusammenhang mit der Fluchtwelle der DDRStaatsbürger in Ungarn. In: György Gyarmati/ Krisztina Slachta (Hrsg.), Das Vorspiel für die Grenzöffnung. Das Paneuropäische Picknick in Sopron am 19. August 1989. Sopron/ Budapest 2014, S. 109–127, hier S. 121–124. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 42 Verschlüsseltes Fernschreiben des bundesdeutschen Botschafters in Budapest Alexander Arnot an das Auswärtige Amt vom 8. August 1989 betreffend der Zuflucht suchenden Deutschen aus der DDR Das „deutsche Gegenstück“ zur Aufzeichnung von Staatssekretär Ferenc Somogyi über das Gespräch mit dem bundesdeutschen Botschafter vom 7. August 1989 (siehe Dokument 41) bildet das Fernschreiben von Alexander Arnot, das dieser einen Tag nach der Unterredung nach Bonn schickte. In diesem zieht Arnot Bilanz über seine Gespräche mit Innenminister István Horváth und Staatssekretär im Außenministerium Somogyi, wobei er einerseits betont, dass Ungarn bemüht sei, sein Rechtssystem und seine Rechts­praxis an die aus dem Beitritt zur Genfer Flüchtlingskonvention hervorgehenden Verpflichtungen anzupassen, andererseits hervorhebt, dass es seitens des – zuständigen – ungarischen Innenministeriums „zumindest einiger Zeit und auch einigen Umdenkens“ bedürfe, bis ein Politikwandel eintrete. Vor dem Hintergrund der Flüchtlingsproblematik, wie sie sich Ende der ersten Augustwoche 1989 darstellte, unterbreitet Arnot anschließend Empfehlungen für das Auswärtige Amt. Insbesondere spricht er sich dafür aus, der ungarischen Seite nun Zeit für eine Reaktion auf die bundesdeutschen Anliegen zu geben, setzt auf anstehende Verhandlungen zwischen Ungarn und den Vereinten Nationen und bezeichnet es als „optimale Lösung“, die Ostdeutschen mittels eines „verkürzten Verfahrens“ des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen über Ungarn in die Bundesrepublik ausreisen zu lassen, wobei er allerdings auch auf die verschiedenen Problematiken einer derartigen Entscheidung hinweist. *** […]56

56  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.



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Zur Unterrichtung 1.) Nach meinen Demarchen bei Innenminister Horváth am vergangenen Freitag […] und meiner gestrigen Demarche bei Staatssekretär des Außenministeriums, Somogyi (Bezug), ergibt sich für die Botschaft die folgende vorläufige Bilanz: 1.1) Die ungarische Regierung hat die Absicht, die UN-Flüchtlingskonvention im Sinne ihrer Statuten anzuwenden und [hat] hierzu die erforderlichen Verfahren eingeleitet. Bis diese umgesetzt und die Konvention in Ungarn praktisch umgesetzt sind (sic!), wird es jedoch noch Wochen dauern. 1.2) Auf unser Petitum nach einer Regelung für die Deutschen aus der DDR, die bis zur Anwendung der Flüchtlingskonvention im Lande bleiben wollen, eine Regelung zu erlaubtem Aufenthalt zu schaffen, haben wir bisher keine Antwort erhalten. 1.3) Auf unser Petitum, nach gescheiterten Fluchtversuchen an der ungarischen Grenze von einem Stempel mit Landesverweis in den Reiseunterlagen abzusehen, scheint Ungarn einzugehen, wenn auch mit bisher uneinheitlicher Praxis. Einerseits sprachen noch heute Morgen Flüchtlinge in der Botschaft vor, die diesen Stempel erhalten haben, andererseits ist aus den Medien zu erfahren, dass deutsche Journalisten in Wien Belege dafür erhielten, dass Ungarn den mit dem Stempeleindruck unmittelbaren Hinweis an die DDR über einen Fluchtversuch beendet hat. Es bleibt allerdings der Verdacht, dass derartige Hinweise direkt zwischen den Nachrichtendiensten Ungarns und der DDR weiterhin gegeben werden […]. 1.4) Es muss auch vermutet werden, dass in einer konservativen Behörde wie dem ungarischen Innenministerium es zumindest einiger Zeit und auch einigen Umdenkens bedarf, bevor eine neue und liberalere Haltung gegenüber Flüchtlingen aus der DDR sich durchsetzt. Hierbei ist auch zu bedenken, dass die gesamte Regelungsstruktur des ungarischen Innenministeriums auf Reiseverkehr innerhalb des sozialistischen Lagers eingerichtet war und umgestellt werden muss. So hat diese Behörde, auch unter einem reformorientierten Minister wie Herrn Horváth, einen längerfristigen Prozess zu durchlaufen, in dem auch ein gewisser Widerstand des Apparats zu überwinden ist. 1.5) Insgesamt kann gesagt werden, dass die ungarische Führung entschlossen ist, das Rechtssystem und seine Praktizierung an die Verpflichtungen aus der Konvention anzupassen. Uns wurde auch gesagt, dass demnächst Verhandlungen mit der DDR aufgenommen werden sollen, um die bilateralen Absprachen entsprechend zu modifizieren. 2.) Für die fluchtwilligen Deutschen aus der DDR bedeutet dies jedoch bei weitem noch nicht die Erfüllung ihrer Wünsche und für uns die Lösung der aus der Besetzung der Botschaft resultierenden Probleme.

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2.1) Nur eine geringe Zahl der Fluchtwilligen wird unter den Voraussetzungen der UN-Flüchtlingskonvention von ungarischer Seite als Flüchtlinge akzeptiert werden. 2.2) Eine zunehmende Zahl der in der Botschaft Ausharrenden verlässt sich auf keinerlei Zusagen mehr und beharrt auf direkte Ausreise in die Bundes­ republik. 3.) In dieser Situation ist zu erwägen: 3.1) Gegenüber der ungarischen Regierung haben wir klare Wünsche geäußert und um Antwort gebeten. Wir sollten ihr nun angemessen Zeit lassen, auf unsere Anliegen zu reagieren. 3.2) Der zunehmenden Zahl der Gäste, die auch nach Zusage die Botschaft nicht verlassen wollen, müsste gesagt werden können, dass diese Zusage verbindlich erteilt werden kann und wir ihre Einhaltung garantieren. Botschaft wäre für Weisung dankbar, ob dieses erklärt werden, ob gegebenenfalls eine derartige Weisung den Gästen gezeigt werden kann. 3.3) Eine […] aus Genf […] angedeutete Lösung, die Gäste der Botschaft, die sich auf keine Zusage einlassen und die Botschaft nur mit direktem Weg in die Bundesrepublik verlassen zu wollen, mit Hilfe des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen mit einmaligem Verfahren diesen Weg zu ermöglichen, muss unter folgenden Gesichtspunkten überdacht werden: – Gegenüber allen, die bisher der Auskunft der Botschaft glaubten, etwas Besseres als die Zusage sei nicht zu erhalten, werden wir unglaubwürdig. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird der „Gruppenschub“ mit der UNHCR-Hilfe in den Medien bekannt werden. – Außer den Menschen in der Botschaft warten im Lande Untergetauchte in hier unbekannter Zahl auf eine „UNHCR-Lösung“ und werden sich mit diesem Anspruch in der Botschaft melden. – Somit würde die einmal geräumte Botschaft in Kürze wieder erneut besetzt sein, die erhoffte „Einmal-Lösung“ würde ein Prozess mit zumindest einiger Dauer. – Mit Ferienende in der DDR würde sich für einen „Gruppenschub“ die erste Septemberhälfte anbieten. Allerdings könnte eine unvorhergesehene Lage der Botschaft eine schnellere Lösung erforderlich machen. 4.) Im Ergebnis wäre es aus hiesiger Sicht natürlich eine optimale Lösung, wenn Deutsche aus der DDR, ähnlich wie in Jugoslawien, mit einem verkürzten UNHCR-Verfahren über Ungarn in die Bundesrepublik gelangen könnten. Hierbei bleibt unberücksichtigt die Sorge, dass die DDR dann ihre Grenze zur ČSSR schließt und den etwa 1,2 Millionen DDR-Touristen das Urlaubsland Ungarn verloren geht. Aus hiesiger Sicht erscheint auch wenig wahrscheinlich, dass Ungarn eine solche Lösung gegenüber seinen sozialistischen Partnern einschlagen kann. Wir müssen bedenken, dass dieser



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Bereich ungarischer Außenpolitik bereits erheblich belastet ist und wir mit derartigen Anliegen dem ungarischen Partner eine zusätzliche erhebliche Bürde aufladen, mit der wir unsere deutschen Probleme auf ungarische Schultern verlagern. 5.) Falls keine andere Weisung erfolgt, beabsichtige ich, in etwa 2 Wochen erneut beim Innenminister vorzusprechen, sofern bis dahin von dort keine Antwort hier eintrifft und im Übrigen nach Rückkehr von Außenminister Horn aus seinem Urlaub (14.8.) eine Gelegenheit zu nutzen, um mit ihm Problem und Fortgang nach beiden Demarchen zu erörtern. [Alexander] Arnot Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.734 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

Dokument 43 Aufzeichnung von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher über die Unterredung von Bundeskanzler Helmut Kohl mit dem ungarischen Minister­ präsidenten Miklós Németh und Außenminister Gyula Horn am 25. August 1989 Als das Problem der ostdeutschen Flüchtlinge in Ungarn im Sommer 1989 einen kritischen Höhepunkt erreichte, beschloss die ungarische Regierung am 22. August 1989, die sich in Ungarn aufhaltenden DDR-Bürger, die nicht zu einer Rückkehr nach Ostdeutschland bereit waren, in den Westen ausreisen zu lassen. Nachdem Budapest bereits am 24. August 1989 im Zuge eines „einmaligen humanitären Akts“ die Ausreise von 108 Botschaftsflüchtlingen mit Papieren des Internationalen Roten Kreuzes ermöglicht hatte, besuchten der ungarische Ministerpräsident Miklós Németh und Außenminister Gyula Horn am 25. August 1989 insgeheim die Bundesrepublik und führten dort zwei protokollierte Gespräche (siehe auch Dokument 44). Beim ersten Gespräch der beiden ungarischen Politiker mit Bundeskanzler Helmut Kohl (BK) und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher legte Ministerpräsident Németh (MP) die politisch spannungsgeladene Situation in Ungarn dar, wobei er auf die Zustände innerhalb der herrschenden Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei verwies, und thematisierte die wirtschaftlich äußerst problematische, durch eine hohe Verschuldung gekennzeichnete Situation seines Landes, das – nach vierzigjähriger Misswirtschaft – gleichzeitig den Übergang zur Marktwirtschaft schaffen müsse. Darüber hinaus äußerte sich Németh zu den jüngsten Geschehnissen beim Gipfel des Warschauer Pakts in Bukarest und stellte fest, dass sein Land (und Polen) im östlichen Militärbündnis verbleiben wollten. Abschließend kritisierte Németh, dass der Westen – abgesehen von der Bundesrepublik und Österreich – „nur mit Worten“ helfe, und appellierte an den Bundeskanzler, er solle sich für die Unterstützung des ungarischen „Reformkurs“ nicht nur in der Bundesrepublik, sondern

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im „ganzen Westen“ einsetzen. Hierauf legte Kohl „drei Ebenen des Handelns“ (Bundesrepublik, Europäische Gemeinschaft und USA) dar und erklärte, diesbezüglich mit Präsident George Bush zu sprechen. Genscher regte unter anderem an, Ungarn solle schriftlich darlegen, welche Erwartungen es gegenüber der Bundesrepublik, der EG und der USA habe und kündigte an, in Bezug auf die EG mit dem französischen Außenminister Roland Dumas zu sprechen. Im weiteren Verlauf erörterten die vier Politiker die Frage der konventionellen Abrüstung und des Truppenabzugs, wobei Németh die Hoffnung zum Ausdruck brachte, dass die sowjetischen Soldaten bis 1992 aus Ungarn abziehen könnten. Das Thema „Grenzöffnung“ findet in der Aufzeichnung keine Erwähnung. *** Vermerk des Bundesministers Genscher über das Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Ministerpräsident Németh und Außenminister Horn. Schloss Gymnich, 25. August 1989 Teilnehmer: Ministerpräsident [Miklós] Németh, Außenminister [Gyula] Horn, Bundeskanzler [Helmut] Kohl, Außenminister [Hans-Dietrich] Genscher, ungarische Dolmetscherin Németh erläutert die Entwicklung in der Volksrepublik Ungarn. Es sei die Taktik der Oppositionsparteien, die USAP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] für die Gesamtentwicklung verantwortlich zu machen, was ja auch nicht gänzlich unbegründet sei. Innerhalb der Partei laufe eine heftige Diskussion zwischen Reformern und Reformgegnern. Auch innerhalb der Reformer gebe es solche, die lieber mit den Reformgegnern zusammengingen, als den Reformprozess fortzusetzen, z. B. Grósz. Der Partei drohe eine Spaltung. Er halte es für möglich, dass links von der USAP eine kommunistische Partei gegründet werde, der sich von den 700.000 etwa 200.000 anschließen würden. Man solle darüber nicht beunruhigt sein, das könnte sogar der USAP eine größere Akzeptanz in der Bevölkerung geben. Man wolle verhindern, dass seiner Partei ein ähnliches Schicksal drohe wie der polnischen PVAP [Polnische Vereinigte Arbeiterpartei]. Die Entwicklung in Ungarn und Polen werde von den anderen Bündnispartnern aufmerksam beobachtet. Beim Gipfel in Bukarest hätte Ungarn sein neues Konzept des Zusammenlebens im Warschauer Pakt vorgestellt. Das sei von allen, auch von [Eduard] Schewardnadse, zurückgewiesen worden. Als [Michail] Gorbatschow dazugekommen sei, habe dieser sich das zu eigen gemacht, es sei dann schließlich akzeptiert worden. In den ungarischen Oppositionsparteien werde auch die Frage der Neutralität diskutiert; das sei nicht das Ziel seiner Partei. Wenn allerdings der Versuch gemacht werden sollte, durch Einfluss von außen die Reformentwicklung zu verhindern, werde sich diese Frage auch für seine Partei neu stellen.



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[Nicolae] Ceauşescu habe im Blick auf Warschau einen Gipfel verlangt. Ohne Zweifel habe er dabei auch Ungarn im Auge gehabt. Gorbatschow habe eine solche Konferenz zu diesem Thema strikt abgelehnt, natürlich auch Budapest. Er stehe in einem engen Kontakt mit [Mieczysław] Rakowski. Über das Telefonat Rakowski/ Gorbatschow könne er folgendes sagen: 1. Rakowski habe erklärt, Polen werde sich nicht aus dem WP lösen; 2. Rakowski habe zur Lage der PVAP gesagt, sie sei nicht in der Lage, ihre Forderungen gegenüber Solidarność durchzusetzen. Gorbatschow habe dazu gesagt, die PVAP verfüge über alle Machtmittel, mit denen sie die Teilnahme an der Macht durchsetzen müsse. Er, Németh, wolle dazu sagen, die Entwicklung in Polen bringe Gorbatschow in eine schwierige Lage, er habe auch in Moskau einen schweren Stand. Es sei das Ziel der ungarischen Regierung, alles zu tun, um den Erfolg der Gorbatschow-Politik zu sichern. Németh sagte, man sei in einer schweren ökonomischen Krise in Ungarn. Gleichzeitig müsse man die Umstellung zur Marktwirtschaft bewirken, und es würden auch sofortige Ergebnisse erwartet. Die Zahnräder dieses Prozesses fügten sich noch nicht richtig ineinander. Er habe sich seit 20 Jahren mit Wirtschaftspolitik befasst, er erkenne immer mehr, welchen Schaden die letzten 40 Jahre Ungarn zugefügt hätten. Es habe 6,5 Mrd. Schulden, von denen 3 Mrd. nicht eintreibbar seien. 2 Mio. Ungarn lebten unter dem Existenzminimum. Im Grunde sollte man die Exporte nach Osten einschränken, um die Versorgung zu verbessern; dann müsse man aber mit Retorsionen der Sowjetunion rechnen, vor allen Dingen bei der Energieversorgung. Neulich habe es schon einen Stromausfall gegeben. Im Übrigen sei die Exportkapazität zu stark auf COMECON und die dort geringen Ansprüche ausgerichtet. Er erinnere an das, was er Genscher in Budapest gesagt habe, der Westen dürfe nicht nur mit Worten, sondern müsse auch mit Taten handeln. Das könnten sie nur bei Österreich und der Bundesrepublik feststellen, alle anderen hätten nur Worte. Er hätte seinen Ohren nicht getraut, als er im Fernsehen den Bericht über eine Pressekonferenz des amerikanischen Senators [Alan] Cranston in Budapest gehört habe, wonach mit Hilfe der USA nur zu rechnen sei, wenn es in Ungarn zu einer Koalitionsregierung komme. Sie brauchten Erfolge vor ihrem Parteitag am 6.10., damit sie ihren Kurs in der Partei fortsetzen könnten. Vor allem sei es wichtig, dass die USA auf eine größere Flexibilität des IWF hinwirkten. BK erklärt, er wolle am Dienstag oder Mittwoch mit Präsident [George] Bush reden. Er wolle ihm sagen, wie falsch solche Erklärungen seien – Bush denke auch nicht so –, und ihn bitten, Ungarn zu unterstützen. Man dürfe keine Entwicklung überhasten. Er habe BM [Bundesminister] [Norbert] Blüm, der heute nach Polen gereist sei, gebeten, sowohl [Lech] Wałęsa als auch dem neuen Ministerpräsidenten zu sagen, sie sollten die gegebenen Handlungsgrenzen beachten, um nicht das Ganze zu gefährden.

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[Ministerpräsident Németh:] Seine Regierung stehe in Ungarn nicht schlecht da. Gallup habe eine Meinungsumfrage gemacht und dabei Folgendes festgestellt: 87% anerkennen die Presse, 77% die Kirche, 67% die Regierung und nur 30–35% die Parteien, einschließlich der USAP und Opposition, an letzter Stelle stünden die Gewerkschaften. Man müsse sich fragen, an wen man sich wenden könne wegen Hilfe: An Gorbatschow? Nein, an COMECON? Nein; man könne sich nur an den Westen wenden. „Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler, können wir auf Ihre Unterstützung rechnen? Ich meine nicht nur die Bundesrepublik, sondern den ganzen Westen. Wollen Sie den Reformkurs unterstützen, oder heißt die Devise ‚abwarten‘? Wir brauchen Ihre Entscheidung vor unserem Parteitag am 6. Oktober.“ BK sieht drei Ebenen des Handelns: 1) Was kann die Bundesrepublik Deutschland tun? Hier können wir eine Antwort geben innerhalb der ersten Septemberhälfte. 2) Was kann die EG tun? 3) Was können die USA tun? Darüber werde er mit Bush sprechen. MP [Ministerpräsident]: USA sollten in IWF helfen. Ihr Problem sei, dass die Regierung Grósz zum 1.1.1988 den Weltpass für Ungarn geschaffen hätte. Danach könne alle drei Jahre jeder Ungar bis zu 350 US-Dollar umtauschen. Das würden nicht nur diejenigen tun, die reisen, sondern auch die, die dableiben. Diese Auswirkung habe er, Grósz, nicht übersehen. Wenn er, Németh, das zurücknähme, werde er gestürzt. Durch diese Entwicklung hätte man eine negative Zahlungsbilanz, obwohl die Handelsbilanz mit 600—700 Mio. Dollar positiv sei. Bei der Bedienung der Verbindlichkeiten ergebe sich jährlich ein Defizit von 1–1,2 Mrd. Dollar. Bei deutschen Banken habe man – bei insgesamt 4 bis 5 Großbanken – je 400–500 Mio. Schulden. Man habe sich überlegt, ob nicht ein Weg zur Erledigung dieses Problems sein könne, dass deutsche Unternehmen vorhandene Unternehmen in Ungarn ganz oder teilweise kaufen, dass aber der Kaufpreis nicht nach Ungarn transferiert, sondern zur Bedienung der Bankschulden verwendet wird. BK erklärt, das übersteige die Kompetenz der Bundesregierung. Er werde Herrn [Alfred] Herrhausen von der Deutschen Bank bitten, zur Erörterung dieser Fragen nach Ungarn zu reisen. Er wolle darüber auch mit dem Präsidenten des Bankenverbandes, Herrn [Wolfgang] Röller von der Dresdner Bank, sprechen. Genscher bittet, eine Auflistung der Unternehmen vorzunehmen, die zum Verkauf in Frage kommen, und regt im Übrigen an, dass drei Papiere im Laufe der nächsten Woche gefertigt werden: 1) Was erwartet man von der Bundesrepublik Deutschland? 2) Was von der EG? 3) Was von den USA?



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Soweit es die EG angehe, wolle er mit [Roland] Dumas sprechen. Die Zuleitung der Papiere wird zugesagt. Es soll über Botschafter [István] Horváth an Genscher persönlich erfolgen. Horváth sei in alles eingeweiht. MP kam auf Abrüstung zu sprechen. Man habe Gorbatschow gebeten, den sowjetischen Truppenabzug schneller vorzunehmen und nach Möglichkeit bis 1992 die letzten sowjetischen Soldaten aus Ungarn abzuziehen. Horn sagte, USA und SU seien sich offensichtlich einig, dass bis Anfang der 90er Jahre eine grundsätzliche politische Einigung über konventionelle Abrüstung erzielt sein müsse, die technische Abwicklung könne dann erörtert werden. Man müsse sich fragen, ob nicht der Truppenabzug aus Ungarn auch dadurch erleichtert werden könne, dass Amerikaner wesentliche Truppen aus Europa abziehen. Man könne sich z. B. vorstellen, dass alle sowjetischen Truppen aus Ungarn, ČSSR und Polen abgezogen werden würden und nur Verbände in der DDR verblieben. Genscher erklärte dazu, dass ganz sicher vom Abzug auch amerikanische Verbände betroffen seien, dass aber ein unverändertes Verbleiben sowjetischer Streitkräfte in der DDR ein Bedrohungsfaktor ersten Ranges sei. Bekanntlich sei der westliche Vorschlag, dass eigene Truppen und fremde Truppen in einem bestimmten Verhältnis stehen sollten, exakt auf DDR gemünzt. BK sagt, man könne das insgesamt prüfen, aber unter Beachtung dieser Gesichtspunkte. Quelle: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. München 1998, S. 377–380.

Dokument 44 Aufzeichnung über die Unterredung von Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit dem ungarischen Minister­ präsidenten Miklós Németh und Außenminister Gyula Horn am 25. August 1989 Beim zweiten Gespräch, das der ungarische Regierungschef und sein Außenminister bei ihrem geheimen Arbeitsbesuch am 25. August 1989 in der Bundesrepublik Deutschland führten (siehe auch Dokument 43), standen die jüngsten Entwicklungen in den osteuropäischen Staaten Polen, DDR, Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien, ihre Einstellung zu den Transformationsprozessen sowie das deutsch-polnische Verhältnis im Mittelpunkt. Die Aufzeichnung, die von Axel Hartmann, stellvertretender Leiter des Ministerbüros beim Chef des Bundeskanzleramts, verfasst wurde, enthält ebenfalls keine Informationen zum Thema „Grenzöffnung“. ***

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Gespräch des Bundeskanzlers Kohl und des Bundesministers Genscher mit Ministerpräsident Németh und Außenminister Horn während des Mittagessens. Schloss Gymnich, 25. August 1989 Betr.: Arbeitsbesuch des ungarischen Ministerpräsidenten [Miklós] Németh am 25. August 1989 auf Schloss Gymnich hier: Gespräch während des Mittagessens Der Herr Bundeskanzler erkundigt sich nach der Entwicklung in Polen. MP [Ministerpräsident] Németh erklärt, er habe kürzlich ein längeres Gespräch mit Generalsekretär [Mieczysław] Rakowski geführt. Rakowski habe hierbei Optimismus ausgestrahlt, gleichzeitig aber eingeräumt, dass man in der Vergangenheit eine Reihe Fehler gemacht habe. Ein Fehler sei gewesen, dass die Führung sich zu sehr auf die Lageberichte des Apparates verlassen habe. Ein weiterer Fehler sei gewesen, dass man in der Bauernpartei eine Art „Laufburschen“ gesehen habe. Er, Németh, sei von vornherein davon ausgegangen, dass [Czesław] Kiszczak nicht reüssieren könnte. Im Übrigen sei es wohl so, dass die Bauernpartei ihre bisherige Rolle sattgehabt habe. [Wojciech] Jaruzelski, mit dem er ebenfalls gesprochen habe, habe ihm erklärt, dass man 1981 zwar militärisch gewonnen, aber politisch verloren habe. Der Wunsch Ungarns sei es, dass die neue polnische Regierung erfolgreich sein werde. Die schwerste Aufgabe, die vor ihr liege, sei es, dem Land den Glauben an sich selbst zurückzugeben. In den letzten zehn Jahren habe Polen eine Art Wende zum Nihilismus vollzogen. MP Németh verweist als Beispiel auf die Rolle, die ausländische Devisen in der polnischen Wirtschaft spielen. AM [Außenminister] Horn fügt hinzu, aus seiner Sicht sei es ein „Wahnsinn“, dass der Innen- und der Verteidigungsminister unmittelbar dem Präsidenten unterstünden. Die neue Regierung werde mit Sicherheit keine Wunder vollbringen können, wenn man bedenke, dass Armee und Polizei weiterhin dem Staatspräsidenten unterstünden. Dies könne zu einem schizophrenen Zustand führen. Der Bundeskanzler erklärt, auch er sei voller Skepsis, was die weitere Entwicklung angehe. Man müsse sehen, dass die „Solidarität“ keine Partei sei, sondern in Gruppen zerfiele. Im Übrigen sei „Solidarität“ bisher nur stark im „Nein“ gewesen. Was die deutsch-polnischen Beziehungen angehe, so wollten wir jetzt rasch zu einem Abschluss der Verhandlungen kommen. Es habe bei uns eine unnütze Diskussion über seine Reise nach Polen gegeben. Man habe ihm geraten, sofort zu fahren. Dies habe er abgelehnt. Die deutsch-polnischen Beziehungen seien äußerst kompliziert. Das gelte nicht erst jetzt oder seit 1933, sondern dies habe sich schon in der Weimarer Republik gezeigt. Nach Abschluss des Warschauer Vertrages 1970 sei man voller Hoffnung hinsichtlich der weiteren Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen gewesen. Diese Hoffnungen hätten sich nachher nicht erfüllt. Dies dürfe sich nicht wiederholen. Es dürfe keine zweite Enttäuschung im deutsch-polnischen Verhältnis geben.



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Wir sähen die deutsch-polnischen Beziehungen auch als einen Beitrag zur Stabilisierung in Europa. Wir wollten unter keinen Umständen eine Destabilisierung. Deswegen sei die Entwicklung in Polen und Ungarn, aber auch in der DDR, für uns so wichtig. Was die DDR angehe, so glaube er allerdings, dass sich mit der derzeitigen Führung nichts ändern werde. MP Németh erklärt, er habe seinerzeit als verantwortlicher Sekretär für Wirtschaft im ZK der USAP [Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei] ein langes Gespräch mit Honecker geführt und ihm die ungarische Position dargelegt. Honecker habe zwar zugehört, ihm aber dann drei Bücher überreicht, dessen Lektüre er ihm dringend nahegelegt habe. Es habe sich einmal um seine Reden, dann um Materialien über den letzten SED-Parteitag und das Programm der SED gehandelt. Der Bundeskanzler wirft ein, man müsse sehen, dass Honecker unter allen Umständen im Amt bleiben wolle. Jede Reform würde ihn sein Amt kosten. Auch wenn er das persönlich ablehne, könne man hierfür ein gewisses Verständnis aufbringen. Was er hingegen nicht verstehe, sei die Entwicklung in der ČSSR. [Lubomír] Strougal habe ihm seinerzeit bei seinem Besuch in Prag erklärt, welche Reformen man durchführen müsse. Auf seine Frage, wann er an die Durchsetzung dieser Reformen gehe, habe Strougal nur mit den Achseln gezuckt. Völlig unverständlich sei die Politik der tschechoslowakischen Regierung gegenüber der katholischen Kirche. AM Horn erklärt, man dürfe nicht vergessen, dass nach 1968 das Leben von 1 Mio. Menschen in der ČSSR radikal verändert worden sei. An der Spitze der Säuberungen habe seinerzeit [Miloš] Jakeš gestanden. Auf die entsprechende Frage von BM Genscher, welche Rolle [Jozef] Lenárt spiele, erklärt AM Horn, dieser sei „von der gleichen Sorte“. MP Németh erklärt, Strougal sei ein sehr vernünftiger Mann gewesen. Man müsse sehen, dass die derzeitige Führung die Vergangenheit – 1968 – nicht bewältigen könne. Andererseits habe er den Eindruck, dass die Tschechen für eine Reformpolitik offener seien als die Slowaken. Er sei im Übrigen überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit sei, dass auch in der Tschechoslowakei die Reformdiskussion weitergehe. Es dürfe allerdings nicht zu einer Explosion kommen. Der Bundeskanzler wirft ein, genau diese Gefahr sei aber gegeben. Der Bundeskanzler fragt, wie die ungarische Seite die Entwicklung in Rumänien beurteile. MP Németh erklärt, er habe [Nicolae] Ceauşescu auf dem Gipfel in Bukarest als einen psychisch kranken Mann erlebt. Er belegt dies an einer Reihe von Einzelheiten des Verhaltens von Ceauşescu während der Konferenz. Im Übrigen sei die Lage der Bevölkerung in Rumänien bedrückend. Auf die Frage des Bundeskanzlers nach [Todor] Schiwkow und der Entwicklung in Bulgarien erklärt MP Németh, die Wirtschaft dort werde ständig umorganisiert. Es gebe daher erhebliche wirtschaftliche Probleme. MP Németh erwähnt sodann, dass das bulgarische Politbüro wiederholt einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Sowjetunion gestellt habe.

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Der Bundeskanzler erklärt, unsere Politik orientiere sich daran, dass Ungarn, aber auch ein Land wie Österreich, Teil Europas seien. Die internationale Politik habe heute zwei Bezugspunkte, einmal die Abrüstung, zum anderen die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Es gebe allerdings noch ein drittes Element, das leider immer wieder zu kurz komme, das sei die Kultur. Europa dürfe nicht nur ökonomisch ausgerichtet sein. Auch in den deutsch-ungarischen Beziehungen müsse diese kulturelle Identität – ungeachtet der zweifelsohne prioritären wirtschaftlichen Probleme – eine wichtige Rolle spielen. [Axel] Hartmann Quelle: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. München 1998, S. 380–382.

Dokument 45 Aktenvermerk des Auswärtigen Amts vom 5. September 1989 über ein Gespräch mit zwei Vertretern der reaktivierten Sozialdemokratischen Partei Ungarns Nachdem die vormalige Sozialdemokratische Partei Ungarns (MSZDP) im Januar 1989 damit begonnen hatte, sich erneut zu organisieren und ein politisches Profil zu entwickeln, interessierte sich im Sommer 1989 auch die bundesdeutsche Politik für die reaktivierte Partei. Vermutlich Anfang September 1989 führte ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amts mit zwei Vertretern der Partei eine Unterredung. Bei diesem legten die ungarischen Sozialdemokraten die politisch-programmatischen Ziele ihrer Partei dar, verwiesen auf ihre Organisations- und Finanzprobleme und bezeichneten die herrschende Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei als „unzuverlässig, zögerlich und möglicherweise unehrlich“.

[…]57

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Vermerk Betr.: Gespräch RL 212 mit Herrn Dr. György Ruttner und Herrn Dr. Gyula David von der Sozialdemokratischen Partei Ungarns 1. Die von Inter Nationes betreuten Gäste äußerten sich zur inneren Lage in Ungarn und insbesondere zu den Entwicklungsmöglichkeiten der im Januar 1989 neugegründeten Sozialdemokratischen Partei Ungarns (SDP). Sie baten, dem Herrn Bundes-

57  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.



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kanzler Grüße und den Wunsch zu übermitteln, anlässlich seiner Reise nach Ungarn mit ihm zusammenzutreffen. 2. Die ungarischen Gesprächspartner hoben die Oppositionsrolle ihrer Partei im gegenwärtigen ungarischen politischen System hervor. Die SDP trete für den Übergang Ungarns zu einer parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung ein. Als politische Kraft nehme sie am Dreiecksdialog („Runder Tisch“) mit der USAP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] und anderen gesellschaftlichen Kräften teil. Die Partei befinde sich im frühen Organisationsstadium. Sie habe mit geringen Finanzen, Infrastrukturmängeln sowie einer ungenügenden Zahl von Parteiaktivisten zu kämpfen. Vor allem aber habe sie unter der fehlenden politischen Kultur und Apathie der Bevölkerung zu leiden, die sich als Ergebnis der 40-jährigen Herrschaft der USAP in Ungarn zeige. Nichtsdestoweniger gebe es einen Bedarf für eine große sozialdemokratische Partei westlicher Prägung. Die SDP könne bei guter Entwicklung Kristallisationspunkt einer großen Mitte-Links-Partei werden, die zwar mit dem Demokratischen Forum als großer Mitte-Rechts-Partei um die Gunst der Wähler werben, aber auch mit ihr koalieren könne. Programmatisch wolle man sich für eine Orientierung Ungarns nach Westeuropa (Integration in den Gemeinsamen Markt, Wertegemeinschaft mit dem Westen) bemühen. Innenpolitisch sehe man sich den „Arbeitnehmern“, aber auch Intellektuellen (Journalisten, Lehrern usw.) verbunden. Arbeitsplätze sollten humaner und effektiver gestaltet werden. Privateigentum soll gesichert werden. Bei der Forderung nach einer humanitären Lösung für Flüchtlingsprobleme sehe man sich mit der Bundesrepublik Deutschland einig. Immerhin habe sich die Haltung der USAP zu diesen Fragen auch erst auf innenpolitischen Druck (ethnische Ungarn in Rumänien) verändert. 3. Die Gesprächspartner bezeichneten die USAP als unzuverlässig, zögerlich und möglicherweise unehrlich hinsichtlich des proklamierten Veränderungswillens. Es herrsche Konfusion, da verschiedene Parteiführer unterschiedliche Meinungen äußerten. Auf Rückfrage nach den politischen Perspektiven für die nähere Zukunft, insbesondere den bevorstehenden Parteitag im Oktober, führten beide SDP-Politiker aus, dass eine Spaltung der USAP notwendig sei, um die geschwundene Glaubwürdigkeit der Partei wiederzubeleben. Eine Namensänderung reiche nicht aus. Da Kommunismus und sogar Sozialismus in Ungarn nicht populär seien, werde sich ohne Spaltung kein Koalitionspartner für den progressiven Teil der USAP finden. Wegen der Zersplitterung der ungarischen politischen Landschaft sei aber auf alle Fälle mit einer Koalitionsregierung nach den Wahlen 1990 zu rechnen. Die Gefahr eines Putsches der „Betonköpfe“, gestützt auf Armee und Sicherheitsapparat, bezeichneten die Gesprächspartner als nicht ganz auszuschließen, aber wenig wahrscheinlich. Die einzige Organisation, die nicht über alle Zweifel erhaben sei, sei die Miliz, diese hätte jedoch zu wenig Rückhalt in der Gesellschaft.

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Hinsichtlich des weiteren Verlaufes des Dreieckdialoges sollte möglichst bald Einigung über ein neues Wahlrecht und ein Parteiengesetz erzielt werden. Die Diskussion einer neuen Verfassung habe Zeit bis nach den Wahlen, wenn ein breit legitimiertes Parlament die Dinge in Angriff nehmen könne. Die SDP müsse für diese Wahlen möglichst bald die Parteibasisorganisationen bilden. Im Vergleich zu Polen sei dies in Ungarn jedoch sehr viel schwieriger, da die Opposition zersplittert und eine Mobilisierung der noch immer eingeschüchterten Bevölkerung schwierig sei. Derzeit liege die Stärke der SDP in einer schonungslos offenen Analyse aller zutage tretenden Mängel. (Nikel) Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

Dokument 46 Stellungnahme der Regierung der Volksrepublik Ungarn vom 10. September 1989 in Verbindung mit der Möglichkeit der Weiterreise der sich in Ungarn aufhaltenden DDR-Staatsbürger Nachdem die Situation aufgrund der massiven Flüchtlingswelle von DDR-Bürgern in Ungarn unhaltbar geworden war und die ungarische Regierung keine Möglichkeit einer deutsch-deutschen Lösung des Problems mehr sah, entschloss sie sich am 22. August 1989, die Grenzen Ungarns für eine Ausreise der Ostdeutschen in den Westen zu öffnen. Über diesen Schritt informierte sie – beim Treffen von Ministerpräsident Miklós Németh und Außenminister Gyula Horn mit Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher am 25. August 1989 auf Schloss Gymnich bei Bonn – auch die westdeutsche Seite. In ihrer Stellungnahme vom 10. September 1989 legt sie die Hintergründe ihrer Entscheidung dar, weist jegliche Verantwortung für die entstandene Situation zurück und betont die Bedeutung der „Prinzipien des Menschenrechts und von humanitären Gesichtspunkten“ für ihre Entscheidung. *** Die Regierung der Volksrepublik Ungarn beschäftigte sich in den vergangenen Wochen kontinuierlich mit der Situation der DDR-Staatsbürger, die sich in Ungarn aufhalten und in die Bundesrepublik Deutschland übersiedeln wollen. Sie führte bei mehreren Gelegenheiten Verhandlungen mit den Behörden der Bundesrepublik Deutschland; sie betonte dabei, dass sie sich eine Lösung von den beiden deutschen Staaten erhoffe. Die Gespräche zwischen der DDR und der BRD führten aber zu keinem Ergebnis. Währenddessen nahm in Ungarn die Zahl der DDR-Staatsbürger, die ihre Heimkehr in die DDR ver-



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weigerten und beabsichtigten, in die BRD zu reisen, ständig zu. Auch an der ungarischösterreichischen Grenze entstand eine beunruhigende Situation, die Fälle von illegalen Grenzübertritten häuften sich und in Verbindung damit kam es zu Gewalthandlungen. Für die entstandene Situation trägt die Volksrepublik Ungarn keinerlei Verantwortung. Eine Beurteilung der Gründe für das Problem ist nicht Aufgabe der ungarischen Regierung. Bei der Lösung der Angelegenheit der Personen, die übersiedeln wollen, wurde die Regierung der Volksrepublik Ungarn von Anfang an von den Prinzipien des Menschenrechts und von humanitären Gesichtspunkten, die in der allgemein akzeptierten internationalen und in ihrer eigenen Politik zu Geltung kommen, geleitet. Aufgrund der unhaltbar gewordenen Situation hat die ungarische Regierung beschlossen, die Geltung der betreffenden Punkte des 1969 geschlossenen Regierungsabkommens zwischen Ungarn und der DDR vorläufig zu suspendieren und es den DDR-Staatsbürgern, die sich in Ungarn aufhalten und nicht heimkehren wollen, zu ermöglichen, in jedes Land auszureisen, das bereit ist, sie durch ihr Territorium durchzulassen oder sie aufzunehmen. Die Entscheidung der Regierung tritt am 11. September 1989 um 0 Uhr in Kraft. Quelle: Magyar Külpolitikai Évkönyv 1989 [Ungarisches Außenpolitisches Jahrbuch 1989]. Budapest 1989, S. 277. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/NU-6f9aee (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 47 Interview mit dem ungarischen Außenminister Gyula Horn im Ungarischen Fernsehen am 10. September 1989 in Verbindung mit der Ausreisegenehmigung für die DDR-Staatsbürger Nachdem Außenminister Gyula Horn am 10. September 1989 im Namen der ungarischen Regierung die Entscheidung bekannt gegeben hatte, den Staatsbürgern der DDR die Möglichkeit zu eröffnen, am 11. September 1989 um 0 Uhr aus Ungarn auszureisen, erläuterte er diesen Schritt in einem Interview im Programm „Die Woche“ des Ungarischen Fernsehens. Darin hob er insbesondere hervor, dass die unhaltbaren Zustände in Ungarn aufgrund der Flüchtlingswelle sowie das Scheitern der diesbezüglichen deutsch-deutschen bzw. ostdeutsch-ungarischen Verhandlungen zu dieser einseitigen, humanitär motivierten Entscheidung der Németh-Regierung geführt hätten. Das von westdeutschen Presseorganen verbreitete Gerücht, Ungarn erhalte hierfür ein Kopfgeld, bezeichnete Horn als „völligen Blödsinn“. ***

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Reporter: Bei ihrer Entscheidung beruft sich ihre Regierung auf eine Vereinbarung, deren Gültigkeit sie in einigen Punkten vorübergehend suspendiert. Für welchen Zeitraum gilt diese Entscheidung? Dr. Gyula Horn: Wir haben die Gültigkeit gewisser Punkte des 1969 unterzeichneten Reiseverkehrsabkommens zwischen Ungarn und der DDR suspendiert. Die Vereinbarung verpflichtete uns bislang, dass wir, wenn ein Drittstaat die Reisedokumente der DDR akzeptiert und ein Einreisevisum erteilt, dieses nicht zur Kenntnis nehmen. […] Die Dauer der Vorläufigkeit kann ich nicht bestimmen, es ist aber gewiss, dass es sich nicht um 24 Stunden handelt. Reporter: Die offizielle Mitteilung lautet, dass die ungarische Regierung diese Entscheidung getroffen habe. Daraus lässt sich heraushören, dass es nicht gelungen ist, eine Vereinbarung mit der Partnerregierung zu treffen und dass der Schritt einseitig ist. Dr. Gyula Horn: Ja, es ist ein einseitiger ungarischer Schritt, in erster Linie mit Rücksicht auf die entstandene außerordentliche Situation. Ungarn konnte es nämlich nicht auf sich nehmen – und das haben wir mehrfach betont –, dass es zu einem Flüchtlingslager wird; wir können dies weder aus wirtschaftlichen, noch aus sonstigen Gesichtspunkten auf uns nehmen. Wir haben im Zuge der Verhandlungen auch deutlich gemacht, dass es Lösungen gibt, die für uns inakzeptabel sind. Worauf verweise ich hier? Beispielsweise darauf, dass wir die Personen, die nicht beabsichtigen, heimzukehren – auch wenn die ungarischen Behörden sie auffordern, heimzukehren – nicht mit Gewalt abschieben. Eine gewaltsame Heimschaffung stünde nicht nur im Gegensatz zum humanen Charakter der ungarischen Politik, sondern auch zu den internationalen Erwartungen und Verpflichtungen. Außerdem können wir sie nicht gegen ihren Willen als Flüchtlinge qualifizieren; kein einziger DDR-Staatsbürger ersuchte die ungarischen Behörden um einen Flüchtlingsstatus. Ihr Ziel ist die Übersiedlung in die BRD und nicht, sich längere Zeit als Flüchtlinge in Ungarn aufzuhalten. Wir können die Zustände, die an der ungarisch-jugoslawischen Grenze, hauptsächlich aber an der ungarisch-österreichischen Grenze entstanden sind, nicht unendlich konservieren. Dort hat sich die Ordnung beinahe aufgelöst und diese Situation gefährdet bereits die Sicherheit des Staates. Wenn es zu massenhaften Fällen von illegalen Grenzübertritten mit gewaltsamen Atrozitäten (sic!) kommt, dann würde dies unserem Land schweren Schaden zufügen. Und was schließlich sehr wichtig ist, ist zu betonen, dass die ungarischen Behörden die Gültigkeit von BRD-Pässen für DDR-Bürger nicht anerkennen können, und zwar deshalb nicht, weil dies der DDR schwere politische Prestigeschäden verursachen würde, weil es so wäre, als ob wir die Hoheit der BRD für DDR-Staatsbürger anerkennen würden und wir folglich der DDR als Staat ihr Hoheitsrecht über ihre eigenen Staatsbürger rauben würden.



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All diese Lösungen haben wir also ausgeschlossen. Darüber äußerte ich den Führern der DDR unsere Meinung am 31. August [1989] in Berlin. Reporter: Wenn die ungarische Regierung jetzt zu einem einseitigen Schritt gezwungen ist, dann haben Sie am 31. August keine zufriedenstellende Antwort erhalten. Dr. Gyula Horn: Ich habe detailliert dargelegt, wie unhaltbar die Situation für Ungarn ist. Ich habe auch gesagt, dass die Volksrepublik Ungarn keinerlei Verantwortung treffe: Wir haben niemanden aufgefordert, nach Ungarn zu kommen, und noch weniger dazu, hier zu bleiben. Diese Situation sei aufgrund von Ursachen entstanden, die außerhalb unseres Einflusses liegen würden. Wir sahen, dass die Verhandlungen zwischen beiden deutschen Staaten zu keinem Ergebnis führten. Am 31. August bat ich daher, dass die DDR-Behörden versprechen sollten, dass, wenn die sich hier aufhaltenden DDR-Staatsbürger – die jetzt nicht heimkehren wollen – doch in ihre Heimat zurückgehen, sie nicht nur Straffreiheit genießen, sondern dass auch ihre Anträge auf Übersiedlung in die BRD positiv entschieden werden. Reporter: Das wäre die gleiche Lösung wie im Falle der Personen, die sich in der Berliner provisorischen Vertretung der BRD (sic!)58 aufhielten und heimkehrten? Dr. Gyula Horn: Es wäre im Wesentlichen die gleiche Lösung gewesen, aber dennoch mit einem anderen Charakter, weil es dort nur um einige Hundert Menschen ging und in ihrem Interesse ein unabhängiger Rechtsanwalt – der Anwalt [Wolfgang] Vogel – einschritt. Dieser erledigt seit langen Jahren ähnliche Angelegenheiten und ist daneben eine Persönlichkeit, deren Wort für die DDR-Staatsbürger eine Garantie betreffend die positive Behandlung ihres weiteren Schicksals bedeuten kann. Reporter: Hier wäre aber eine andere Art von Garantie, also eine Garantie auf staatlicher Ebene, notwendig gewesen. Wurde darum ersucht? Dr. Gyula Horn: Wir schlugen den Führern der DDR vor, nicht nur Straffreiheit zu versprechen, sondern auch eine Garantie zuzusagen. Das konnten sie nicht versprechen. Ich teilte die entschlossene Absicht der ungarischen Regierung mit, dass wir die heute angekündigte Maßnahme am 4. September in Kraft setzen würden. Die Vertreter der DDR betonten, dass dies ein sehr ernster einseitiger Schritt wäre und wir uns diesen also überlegen sollten. Ich erklärte, wir hätten ihn sehr ernst erwogen, und legte erneut die Außergewöhnlichkeit der entstandenen Lage dar.

58  Richtig: Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Deutschen Demokratischen Republik in Ostberlin.

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Reporter: Mit welchen Argumenten versuchten sie, Sie von diesem Schritt abzuhalten? Dr. Gyula Horn: Sie ersuchten uns darum, im Kreise der sich hier aufhaltenden Staatsbürger eine entsprechende Kampagne durchführen zu dürfen, um sie zur Heimkehr zu bewegen. Reporter: Wurde deshalb die Entscheidung der Regierung vom 4. auf den 10. [September 1989] verschoben? Dr. Gyula Horn: Wir vereinbarten im Zeichen und Interesse dessen einen einwöchigen Aufschub. Ich muss sagen, dass sich die Situation innerhalb dieser einen Woche nicht verbesserte, sie verschlechterte sich vielmehr. Reporter: Ja, man erlaubt nämlich den Touristen unverändert, aus der DDR auszureisen […]. Dr. Gyula Horn: Ja, und wir können es nicht machen, unsere Grenzen zu schließen, denn dies wäre inhuman. Reporter: Obendrein würde es so scheinen, als ob wir diejenigen wären, die verhindern würden, dass sie weiterreisen können, während die DDR alles erlaubt? Dr. Gyula Horn: Ja, das wäre auf alle Fälle der Anschein gewesen. Reporter: In der westdeutschen Presse wurde mittlerweile das Gerücht verbreitet, dass Ungarn, die ungarische Regierung, für die herausgelassenen DDR-Bürger, die die Grenze nach Österreich überschreiten, ein Kopfgeld bekommt. Ist das wahr? Dr. Gyula Horn: Das ist völliger Blödsinn. Und ich kann sagen, dass dieses Gerücht nicht nur die Regierung, sondern auch die ungarische Bevölkerung verletzt. Die Regierung ging in maximalem Maß davon aus, dass es unser grundlegendes Interesse ist, die Interessen des Landes zu schützen. Diese Interessen sind nicht irgendwelche egoistischen oder selbstsüchtigen Interessen, denn sie stehen in voller Übereinstimmung mit den internationalen Normen und Verpflichtungen. Reporter: Halten Sie es nicht für ein irrationales oder abenteuerliches Verhalten, dass sich Tausende Menschen mit Kindern, unvorbereitet und durch ein in der Angelegenheit schuldloses Land hindurch in die Welt aufmachen? Dr. Gyula Horn: Es ist nicht meine Aufgabe und ich möchte auch nicht jene Gründe bewerten, wegen denen Massen von DDR-Bürgern nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen.



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Reporter: Kann ihrer Meinung nach damit gerechnet werden, dass sich in Zusammenhang mit dieser Angelegenheit die Beziehungen zwischen Ungarn und der DDR verschlechtern? Dr. Gyula Horn: Ich hoffe darauf, dass sich die Beziehungen der beiden Staaten nicht verschlechtern werden; es gibt nämlich eine vielseitige, sehr vielschichtige Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten, in der viel größere Interessen und Werte als diese Angelegenheit eine ernsthafte Rolle spielen. Ich vertraue darauf, dass diese Interessen auch in der folgenden Zeit entscheidend sein werden. Quelle: Magyar Külpolitikai Évkönyv 1989 [Ungarisches Außenpolitisches Jahrbuch 1989]. Budapest 1989, S. 277–280. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/NU-6f9aee (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 48 Vereinbarungen vom 18. September 1989 zwischen der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, den Oppositionsbewegungen und der Dritten Seite am Nationalen Runden Tisch über Modalitäten des politischen Systemwechsels in Ungarn Nachdem sich Vertreter der Ungarischen Sozialistischen Partei, der Oppositionsparteien und der sogenannten Dritten Seite (Massenverbände, Gewerkschaften usw.) am 13. Juni 1989 zu Ausgleichsgesprächen zusammengesetzt hatten, wurden diese drei Monaten später mit einer – von der überwiegenden Mehrheit der Teilnehmer unterzeichneten – Vereinbarung abgeschlossen. In Zuge der Verhandlungen, bei denen es in erster Linie um die Klärung der Modalitäten des Übergangs zu einer demokratischen Ordnung und um die konkrete Ausgestaltung der zukünftigen politischen Ordnung ging, wurden sechs Gesetzentwürfe ausgearbeitet, die anschließend dem Parlament zur Verabschiedung zugeleitet wurden. Unter diesen hatte der Gesetzentwurf über die Verfassungsänderung eine herausragende Bedeutung, da er die Grundlage für die Totalrevision der ungarischen Verfassung einen Monat später bildete. Darüber hinaus einigten sich die drei Verhandlungsparteien auf eine Reihe weiterer politischer Vereinbarungen, so z. B. auf die „politische bzw. persönliche Unverletzlichkeit“ der Teilnehmer des Rundtisches, auf die Suspendierung polizeilicher Zwangsmaßnahmen während der Übergangsperiode bis zu den freien Wahlen sowie auf die finanzielle Unterstützung der neuen Parteien und der bei den Parlamentswahlen antretenden Kandidaten. Und schließlich vereinbarte man, die noch offenen Fragen des „friedlichen Übergangs“ zu behandeln. Aspekte des Übergangs zu einer Marktwirtschaft und Regelungen für soziale Fragen fanden, da sie ent-

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gegen den ursprünglichen Ankündigungen nicht verhandelt wurden, keinen Eingang in die Vereinbarungen. Die Tatsache, dass der Bund Freier Demokraten (SZDSZ), der Bund Junger Demokraten (Fidesz) und die Sozialdemokratische Partei Ungarns (MSZDP) die Vereinbarung nicht unterzeichneten, schwächte den Kompromisscharakter der Vereinbarung und offenbarte den Zerfall der oppositionellen Einheit bzw. des sogenannten Oppositionellen Runden Tisches. Der Wortlaut der Vereinbarung wurde am 19. September 1989 in der Tageszeitung „Népszabadság“ (Volksfreiheit) veröffentlicht. *** Vereinbarung über den friedlichen Übergang zwischen den Organisationen, die an den Rundtisch-Verhandlungen teilnahmen, Budapest, 18. September 1989 Die Vertreter der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, der Organisationen, die zum Oppositionellen Runden Tisch gehören, sowie der Organe und Bewegungen, die die Dritte Verhandlungsseite bilden, stellen fest, dass der etwa dreimonatige Abschnitt der am 13. Juni 1989 begonnenen Verhandlungen abgeschlossen wurde und Ergebnisse erzielt wurden. Die Verhandlungsparteien erklären, dass die Verhandlungen entsprechend den in der Grundsatzvereinbarung festgehaltenen Prinzipien zur Schaffung der politischen und rechtlichen Voraussetzungen des friedlichen Übergangs, zur Entwicklung eines auf dem Mehrparteiensystem gründenden demokratischen Rechtsstaats sowie zur Suche nach einem Ausweg aus der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise dienten. 1. Die Parteien stellen fest, dass es als Ergebnis der Besprechungen zu einem politischen Einverständnis zwischen den Teilnehmer in den wesentlichen, kardinalen Fragen des friedlichen Übergangs gekommen ist. Dieses Einvernehmen nimmt in den folgenden sechs Gesetzesvorlagen Gestalt an: – Gesetzentwurf über die Verfassungsänderung; – Gesetzentwurf über das Verfassungsgericht; – Gesetzentwurf über die Tätigkeit und Wirtschaftsweise der Parteien; – Gesetzentwurf über die Wahl der Parlamentsabgeordneten; – Gesetzentwurf über die Änderung des Strafgesetzbuches; – Gesetzentwurf über die Änderung des Strafverfahrensgesetzes. Die Parteien schicken die aufgezählten und der Vereinbarung beigefügten Dokumente, die mit ihren politischen Zielen übereinstimmen, dem Vorsitzenden des Ministerrates. Sie ersuchen darum, dafür zu sorgen, dass die Regierung die Gesetzesvorschläge entsprechend den Bestimmungen von Gesetz Nr. XI des Jahres 1987 über die Gesetzgebung dem Parlament vorlegen. Die in den Entwürfen aufgeführten alternativen Lösungen werden von der authentischen Bekanntgabe des Standpunkts der Unga-



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rischen Sozialistischen Arbeiterpartei und der Dritten Verhandlungsseite begleitet. Sie nehmen zur Kenntnis, dass die in den Entwürfen festgehaltenen abweichenden Standpunkte, die vom oppositionellen Rundtisch unterbreitet wurden, die Form einer Erklärung annehmen. Die Parteien bekräftigen ihre Entschlossenheit, die Vereinbarungen in ihren eigenen Organisationen durchzusetzen, sie vor der Öffentlichkeit zu vertreten und außerdem zu ihrer Durchsetzung alle ihnen zur Verfügung stehenden politischen Mittel bereitzustellen. 2. Die Delegationen der drei Verhandlungsparteien schließen in einigen weiteren Fragen, die aufgrund ihres Charakters keine selbstständige rechtliche Bestimmung erfordern, eine gesonderte politische Vereinbarung. Die Aufzählung enthält teils die Verpflichtungsübernahme der Verhandlungsparteien, teils Empfehlungen für die betroffenen staatlichen Organe bzw. für die Justizorgane. Die Parteien nehmen zur Kenntnis bzw. schlagen vor, dass – der friedliche Übergang vom Beginn der Verhandlungen bis zur konstituierenden Sitzung des neuen Parlaments, das aus freien Wahlen hervorgeht, andauert. Die politischen Vereinbarungen beziehen sich auf diesen Zeitraum; – die Teilnehmer an den dreiseitigen Ausgleichsverhandlungen genießen politische bzw. persönliche Unverletzlichkeit hinsichtlich ihrer Tätigkeit in Zusammenhang mit den Besprechungen. Für ihre hier gemachten Erklärungen schulden sie ausschließlich jenen Organen Verantwortung, die sie delegiert haben. (Die Parteien ersuchen den Innenminister, den Justizminister, den Präsidenten des Obersten Gerichts und den Obersten Staatsanwalt, den Betroffenen diese Unverletzlichkeit zu gewähren.); – jegliche Diskriminierung am Arbeitsplatz oder politischer Natur verletzt den Geist der Grundvereinbarung sowie die Auffassung der Parteien über die Rechtsstaatlichkeit und über die Geltendmachung der staatsbürgerlichen Rechte; – die Suspendierung der Anwendung von Zwangsmaßnahmen durch die Polizeibehörden in der Übergangsperiode ist ein wichtiger Schritt der Vertrauensstärkung. (Die Parteien ersuchen den Innenminister, dafür zu sorgen, dass die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden.); – in Übereinstimmung mit dem Standpunkt, der im Ausschuss zur Beilegung von Verhandlungsstreitigkeiten entwickelt wurde, ist es notwendig, den auf dem Parlament und seinen Mitgliedern lastenden Druck aufzuheben. Hierzu sollen die Abgeordneten nach Möglichkeit von unbegründeten Rückberufungen und von der Aufforderung zum Rücktritt verschont bleiben; – die politische Institution des Mehrparteiensystems darf für die Gesellschaft im Wesentlichen keine höheren materiellen Belastungen bedeuten, als die Einparteienstruktur;

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– die staatlichen Aktivitäten, die sich auf die Schaffung der notwendigen billigen Voraussetzungen für die Tätigkeit der neuen bzw. ihre Tätigkeit erneuernden gesellschaftlichen Organisationen und Parteien richten, sind zu beschleunigen. (Die Parteien ersuchen den Vorsitzenden des Amtes des Ministerrats, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.); – die MSZMP legt auf dem Gebiet des [Partei-] Haushalts ein Zeugnis für ihre Selbstbeschränkung ab. Zur gesellschaftlichen Nutzung, einschließlich der Sicherstellung der Voraussetzung für die Tätigkeit der Parteien, überträgt sie aus dem von ihr verwalteten Vermögen Immobilien im Wert von zwei Milliarden Forint an die Regierung; außerdem zahlt sie aus der laufenden Unterstützung aus dem Budget 50 Millionen an den Staatshaushalt zurück; – für den Wahlkampf der Kandidaten der Wahl der Parlamentsabgeordneten sind aus dem staatlichen Haushalt etwa 100 Millionen Forint, die zwischen den Kandidaten bzw. den Kandidaten aufstellenden Parteien und Organisationen auf normativer Grundlage verteilt werden, notwendig. (Die Parteien ersuchen den Finanzminister, dafür zu sorgen, dass die genannte Summe zur Verfügung gestellt wird.); – bei der Arbeit der nationalen Informationseinrichtungen soll das Prinzip der Parteilosigkeit vollständig zur Geltung kommen. Hierzu soll ein unparteiischer Informationsausschuss eingerichtet werden, der sich aus Persönlichkeiten, die von den Organisationen der drei Seiten vorgeschlagen werden, zusammensetzt; – zur Förderung der politischen Stabilität ist es wünschenswert, den Präsidenten der Republik in diesem Jahr zu wählen. 3. Die Parteien stellen fest, dass die Arbeit zur Regelung der den friedlichen Übergang betreffenden, noch offenen Fragen auf der Grundlage der bisher erreichten Ergebnisse fortgesetzt werden muss. Die Expertenausschüsse sollen sich darum bemühen, Vereinbarungen hinsichtlich der folgenden Themen vorzubereiten: – das Wahlsystem für den Präsidenten der Republik; – der ethische Kodex der Wahlen; – die Regeln der Öffentlichkeit der Wahlen; – das neue Informationsgesetz; – das Informatikgesetz; – das Verbot der Diskriminierung am Arbeitsplatz im Arbeitsgesetzbuch; – Fragen in Verbindung mit der Umwandlung der Arbeitermiliz (Vorschläge des Oppositionellen Runden Tisches zum Abbau der Arbeitermiliz); – der Ausschluss der gewaltsamen Lösung von politischen Fragen. Die Delegationen der Plenarsitzung bevollmächtigen den Ausschuss der mittleren Ebene, der sich mit den Fragen des politischen Übergangs befasst, die notwendigen Vereinbarungen in den erwähnten Themenbereichen zu schließen.



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Die Vertreter der drei Verhandlungsparteien erklären, dass die Prinzipien und Regeln, die der Verwirklichung des friedlichen Übergangs dienen, zusammen und einheitlich als politische Vereinbarung anzusehen sind. Sie bringen ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass sie mit der Unterzeichnung des vorliegenden Dokuments einen wichtigen Schritt zur Schaffung eines auf dem Parlamentarismus basierenden demokratischen Ungarns und auf dem Weg zur Verbesserung des Schicksals der Nation unternehmen. In Vertretung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei: Rezső Nyers, Imre Pozsgay In Vertretung des Oppositionellen Runden Tisches: Endre-Bajcsy-Zsilinszky-Freundesgesellschaft: Dr. Károly Vígh, Dr. Zsolt Zétényi Unabhängige Partei der Kleinlandwirte, Landarbeiter und Bürger: Dr. Imre Boross, István Prepeliczay Christdemokratische Volkspartei: Dr. Tibor Füzessy, Dr. János Teleki Ungarisches Demokratisches Forum: Dr. József Antall, Dr. György Szabad Ungarische Volkspartei: Csaba Varga, László Kónya Sozialdemokratische Partei Ungarns (mit besonderer Klausel59): Tibor Baranyai, István Gaskó In Vertretung der gesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen, die die Dritte Verhandlungspartei bilden: Linksalternative Vereinigung: Dr. Csaba Kemény Patriotische Volksfront: Dr. Nándor Bugár Ungarischer Demokratischer Jugendverband: Imre Nagy Bund Ungarischer Widerstandskämpfer und Antifaschisten: Dr. Sándor Sárközi Bund Ungarischer Frauen: Judit Asbót-Thorma Ferenc-Münnich-Gesellschaft: Ferenc Berényi Quelle: Népszabadság, 19. September 1989, S. 5. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UY-9b9b40 (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

59  Nicht veröffentlicht.

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Dokument 49 Stellungnahme des XIV. Parteitags der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei vom 7. Oktober 1989 über die Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei Nachdem die „Reformzirkel“ an der Basis der – in zunehmendem Maße durch politische Meinungsverschiedenheiten und persönliche Konflikte geprägten – Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) im Sommer 1989 zur stärksten „Plattform“ geworden waren, setzten sie die vorzeitige Einberufung des XIV. Parteitags der MSZMP zum 6. Oktober 1989 durch. Auf diesem beschlossen die Delegierten am zweiten Tag die Selbstauflösung der im Herbst 1956 ins Leben gerufenen Staatspartei und kündigten – unter Wahrung der Rechtskontinuität – die Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) an. Die Stellungnahme des Parteitags vom 7. Oktober 1989 über dieses spektakuläre, in der Geschichte der herrschenden kommunistischen Parteien bis dahin einzigartige Ereignis wurde zwei Tage später in der Tageszeitung „Népszabadság“ (Volksfreiheit) veröffentlicht. In dieser distanziert sich die neue Partei von ihrer parteistaatlichen, bürokratisch-zentralistischen Vorgängerin, knüpft aber am „Erbe der Reformbestrebungen innerhalb der MSZMP“ und an den „beständigen Traditionen der sozialistischen und kommunistischen Bewegung“ an. Politisch bekennt sie sich zu den Werten Freiheit, Demokratie und Humanismus sowie zur parlamentarischer Demokratie, zum Mehrparteiensystem und zur sozialer Marktwirtschaft. Als „moderne linke sozialistische Bewegung“ verpflichtet sie sich gleichzeitig den „Zielen des demokratischen Sozialismus“ und schreibt dem „System des gemischten Eigentums“ und dem Prinzip der Selbstverwaltung besondere Bedeutung bei. Überdies setzt sie sich zum Ziel, nicht zuzulassen, dass „die unkontrollierten Kräfte des Marktes Oberhand über die sozialen und kulturellen Werte“ bekommen. *** Stellungnahme des XIV. Parteitags über die Ungarische Sozialistische Partei. 7. Oktober 1989 In der Geschichte unseres Landes hat die Epoche, die durch den Namen der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei gekennzeichnet ist, ihr Ende gefunden. Die bisherige Konzeption des Sozialismus, das System Stalin’scher Herkunft, hat alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und moralischen Reserven aufgelebt, es ist ungeeignet, mit der Entwicklung der Welt Schritt zu halten. Damit findet die Geschichte der MSZMP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] als Staatspartei ihr Ende. Für die umfassende und radikale gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Erneuerung ist es unverzichtbar, dass sich aus ihr eine neue Partei entwickelt. Die auf dem Parteitag gegründete neue Partei blickt mit schonungsloser Ehrlichkeit auf die Vergangenheit ihrer Vorgängerin. Sie distanziert sich von den Verbrechen und von den Prinzipien und Methoden, die sich als falsch erwiesen haben. Sie



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bricht mit dem System des bürokratischen Parteistaates und mit dem Grundsatz des demokratischen Zentralismus. Die entstehende neue Partei betrachtet sich allerdings als Erbe der Reformbestrebungen innerhalb der MSZMP. Sie bekennt sich uneingeschränkt zu den universellen Werten der menschlichen Entwicklung, zum Humanismus, zur Freiheit, zur Demokratie sowie zur Achtung der wertschöpfenden Arbeit. Sie setzt die beständigen Traditionen der sozialistischen und kommunistischen Bewegung fort und bekennt sich dazu, dass die Ideale der Solidarität, der gesellschaftlichen Gerechtigkeit und der menschlichen Freiheitsrechte nicht gegeneinandergestellt werden können. Es darf auch nicht zugelassen werden, dass die unkontrollierbaren Kräfte des Marktes Oberhand über die sozialen und kulturellen Werte bekommen. Die Partei ist eine Erbin der besten Bestrebungen der ungarischen Progression, der Ideale von Heimat und Fortschritt und des Gedankens der Schicksalsgemeinschaft der Donauvölker. Sie will enge und organische Beziehungen sowohl zu den mittel- und osteuropäischen linken Parteien, die nach Reformen streben, unterhalten, als auch zu den reformkommunistischen, sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien der Welt. Die neue Reformpartei ist die Partei derjenigen, die ihr Einkommen anhand ihrer eigenen Arbeit verdienen, der Kleinunternehmer sowie unserer ungarischen und anderen Nationalitäten angehörenden Landsleute. Zu den Prinzipien ihrer Tätigkeit gehören weltanschauliche und politische Toleranz sowie das freie und freiwillige Bündnis der [politischen] Strömungen. Unsere Partei entwickelt sich von der Staatspartei zu einer modernen linken sozialistischen Bewegung, zu einer von den Parteimitgliedern kontrollierten politischen Massenpartei, die allen demokratischen und progressiven ungarischen Kräften die Hand reicht und die sich als organischer Teil der europäischen Linken betrachtet. Sie ist bereit, den Zielen des demokratischen Sozialismus zu folgen, die Gesetze des Rechtsstaates zu jeder Zeit in Ehren zu halten und sich mit allen kooperationsbereiten Kräften zu verbünden, damit das Land aus der Krise herauskommt. Sie möchte zum Aufbau einer parlamentarischen Demokratie mit einem Mehrparteiensystem, die sich auf ein System des gemischten Eigentums, der Sozialen Marktwirtschaft und der Selbstverwaltungen stützt, beitragen. Der Parteitag will die radikale politische Erneuerung auch durch die Namensgebung für die Partei zum Ausdruck bringen. Er kündigt unter Wahrung der Rechtskontinuität die Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei an. Die Ungarische Sozialistische Partei will all jene, die mit ihrem Programm einverstanden sind und die Statuten akzeptieren, an sich binden und in ihre Reihen rufen. Nach dem Parteitag soll die Eintragung der Ungarischen Sozialistischen Partei erfolgen. Die Gründung der MSZP [Ungarische Sozialistische Partei] berührt auch das Mitgliedsverhältnis. Deshalb müssen bis zum 31. Oktober 1989 die Basisverbände einberufen werden. Wer die Grundsätze der Statuten und der Programmerklärung der Partei akzeptiert und dies mit seiner Unterschrift bestätigt, der bekräftigt, dass er Mitglied der Ungarischen Sozialistischen Partei ist.

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Die Mitglieder der MSZP rufen bis zum 10. September 1989 auf der Grundlage freier Wahlen – im Bedarfsfall – ihre Basisorganisationen ins Leben und beginnen mit der Mitgliederrekrutierung und der Organisation der neuen Partei. Auf den Mitgliederversammlungen sollen Mitgliederregister erstellt, die neuen Parteibücher übergeben, die Leiter und Delegierten gewählt und die Art und Weise der Vorbereitung auf die Wahlen erörtert werden. Budapest, 7. Oktober 1989 Quelle: Népszabadság, 9. Oktober 1989, S. 2. Veröffentlichung in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/UZ-dd3d3e (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 50 Bericht des Auswärtigen Amts vom Oktober 1989 zur politischen Situation in Ungarn und zur Lage der politischen Parteien Das vom Referat 215 des Auswärtigen Amtes offenbar kurz nach der Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) am 7. Oktober 1989, aber noch vor der Proklamation der „Republik Ungarn“ am 23. Oktober 1989 erstellte Dokument behandelt im ersten Teil die dynamischen, hinsichtlich ihres Ausgangs noch nicht absehbaren Wandlungsprozesse in der Sowjetunion, Polen und Ungarn und ihre Auswirkungen auf die Einheit des Warschauer Pakts. Im zweiten Teil befasst es sich eingehend mit den „deutlich an Dynamik und Kontur“ gewinnenden politischen Entwicklungen in Ungarn. In diesem Zusammenhang verweist das Dokument auf die Auflösung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei bzw. die Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei, die dem „System des Einheitssozialismus“ eine Absage erteilt habe und sich zu den „Prinzipien des demokratischen Sozialismus“ bekenne, die allerdings innerlich stark gespalten sei und noch „grundlegende Strukturfragen“ zu klären hätte. Dann wird auf die sich „rekonstituierenden“ politischen Parteien und Gruppierungen eingegangen, die allerdings „bislang personell, organisatorisch und finanziell überwiegend noch nicht gefestigt“ seien und eine offene Konfrontation mit der herrschenden Partei vermieden bzw. sich zu Gesprächen am Nationalen Runden Tisch bereitgefunden hätten. Die anstehenden Parlamentswahlen bezeichnet der Bericht als für den weiteren Weg Ungarns entscheidenden „Wendepunkt“ und spricht – vor dem Hintergrund mehrerer, für die Opposition erfolgreicher Nachwahlen – die Möglichkeit an, dass die Opposition eine „regierungsfähige Mehrheit“ gewinnen könnte. Abschließend verweist das Dokument auf die Verschärfung der politischen Probleme durch die schwierige Wirtschaftslage in



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Ungarn und auf die Bemühungen der ungarischen Führung, den Wandlungsprozess „in evolutionären Bahnen“ zu halten. *** […]60 I. Ausgangslage im östlichen Bündnis Im Zuge der Reformprozesse in der Sowjetunion, Polen und Ungarn hat in Mittel- und Osteuropa ein Prozess des Wandels und der Auflösung [der] aus der Nachkriegsordnung resultierenden starren politischen und ideologischen Strukturen eingesetzt, dessen Endpunkt heute noch nicht im Einzelnen absehbar ist. In Frage gestellt wird ein System der Machtausübung und ideologischen Durchdringung von Staat- und Gesellschaft, das über vierzig Jahre lang durch Ausschluss demokratischer Formen der Mitwirkung und Transparenz und durch Entpolitisierung und Kontrolle der Bevölkerung den kommunistischen Parteien weitgehend problemlose Alleinherrschaft garantierte. In den Außenbeziehungen der WP-MS [Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes] werden mit der Aufweichung bzw. freiwilligen Aufgabe des sowjetischen Hegemonieanspruchs und dem Zerfall der ideologischen Basis die verklebten Konflikte der Vorkriegszeit wieder sichtbar. Die Beziehungen der WP-MS untereinander werden mehr und mehr von der jeweiligen Haltung in der Reformfrage bestimmt. Verschärft wird diese Krise durch einen dramatischen wirtschaftlichen Niedergang und daraus resultierende verschärfte soziale Spannungen. Von dieser Entwicklung sind die in verschiedenen Reformstadien befindlichen Staaten nur scheinbar stärker betroffen, als die noch in der alten Ordnung beharrenden. Die Reformprozesse in den einzelnen sozialistischen Staaten sind im starken Maße abhängig von der Entwicklung in der Sowjetunion und der Bewertung der Reformen durch die sowjetische Führung. Bislang hat Moskau den Reformen in Ungarn und Polen sein Placet gegeben, jedoch nicht erkennen lassen, dass von der grundsätzlichen sozialistischen Orientierung von Staat und Gesellschaft und von der Einheit des bestehenden Bündnissystems abgegangen werden kann. II. Lage in Ungarn: Der Prozess umfassender und tiefgreifender pluralistisch-demokratischer Umgestaltung und Öffnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens in Ungarn hat in den vergangenen Monaten deutlich an Dynamik und Kontur gewonnen. Er befindet sich gegenwärtig in einer wichtigen Zwischenphase. Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der

60  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.

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Menschenrechte, Institutionen- und Parteienpluralismus, parlamentarische Mitgestaltung, Medienvielfalt, Transparenz und Freizügigkeit zeichnen sich als Zielpunkte und Eckpfeiler des künftigen politischen und sozialen Systems in Ungarn ab, über dessen Gestaltung die aus den vorgesehenen Parlamentswahlen hervorgehende Nationalversammlung entscheiden soll. Der politische und gesellschaftliche Reformprozess wird ergänzt und gestützt durch die stufenweise marktwirtschaftliche Neuordnung und Öffnung des ungarischen Wirtschaftssystems. Der Reformprozess, der von gravierenden Wirtschaftsproblemen (Strukturkrise der Industrie, hohe Auslandsverschuldung) und wachsenden sozialen Spannungen (Verarmung weiter Teile der Bevölkerung, drohende Massenarbeitslosigkeit im Zuge der Restrukturierung der Industrie) begleitet wird, hat zu einem Zustand der inneren und äußeren Labilität geführt. 1. Die von den Reformkräften durchgesetzte Ablösung der USAP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] durch die an Prinzipien des demokratischen Sozialismus orientierte „Ungarische Sozialistische Partei“ auf dem Parteikongress vom 6. bis 10.10.1989 ist ein wichtiger Schritt auf dem Wege vom System der kommunistischen Einparteienherrschaft zu einem demokratisch-pluralistischen Parteiensystem. Sie unterstreicht die ungarische Vorreiterrolle unter den Reformländern Mittel- und Osteuropas. Die USP [Ungarische Sozialistische Partei] will fortan Regierungs-, nicht Staatspartei sein. Im Verlaufe des Parteikongresses der USP waren deutliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen Reformflügeln („Plattformen“) der Partei zutage getreten. Die radikalen Reformer, die einen bedingungslosen Bruch mit der Vergangenheit gefordert hatten, konnten sich dabei nur um den Preis personeller und programmatischer Kompromisse mit den gemäßigten Flügeln behaupten. Die Delegierten des USP-Kongresses wählten mit überwältigender Mehrheit den als Integrationsfigur geltenden gemäßigten Reformer Rezső Nyers zum ersten USPPräsidenten. Nyers dürfte allerdings – nicht zuletzt angesichts seines Alters – kaum mehr als eine Übergangsfigur bleiben. In das 25-köpfige Parteipräsidium, in dem die radikalen und gemäßigten Reformer dominieren, wurden auch die prominenten USAP-Reformpolitiker MP [Ministerpräsident] [Miklós] Németh, StM [Staatsminister] [Imre] Pozsgay und AM [Außenminister] [Gyula] Horn gewählt. Ausgeschieden ist hingegen der frühere USAP-GS [Generalsekretär] [Károly] Grósz. 2. In seinen Programmaussagen folgte der USP-Parteitag dem in den Vormonaten erarbeiteten USAP-Manifest: Absage an das System des Einheitssozialismus, Rechtsund Verfassungsstaat, Mehrparteiensystem, gemischte Eigentumsformen und unabhängige Außenpolitik bei grundsätzlichem Verbleib im Bündnissystem sind die Kernaussagen des USP-Parteikongresses. Grundlegende Strukturfragen ließ der Parteikongress unbeantwortet: insbesondere das weitere Schicksal des Parteivermögens und der umfangreichen Parteibürokratie der USAP harrt einer Klärung. Konservative



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Kräfte in der USP bezweifeln zudem die Legalität der erfolgten Umwandlung der USAP in eine sozialistische Partei. Die innere Lage der USP nach ihrem Gründungskongress ist delikat. Mit der USAP teilt sie die tiefgreifenden, zum Teil unversöhnlichen Spannungen zwischen den gemäßigten und radikalen Reformflügeln. Zur Belastung dürfte auch das Verbleiben reformkritischer Kräfte in der Partei werden. Die Organisationsstruktur der neuen Partei auf der mittleren und unteren Ebene und ihre Präsenz in der Region bedürfen der Festigung. 3. Die im Zuge der innenpolitischen Öffnung und Pluralisierung konstituierten bzw. nach Jahrzehnten der Unterdrückung rekonstituierten Parteien und Gruppierungen sind bislang personell, organisatorisch und finanziell überwiegend noch nicht gefestigt. Ihre Führungen rekrutieren sich vorwiegend aus den intellektuellen Dissidenten der Kádár-Ära und Mitgliedern der alten bürgerlichen Parteien (Überalterung!). Von diesen Gruppierungen hat bislang insbesondere das „Ungarische Demokratische Forum“, eine sich nicht als Partei verstehende Gruppierung von Intellektuellen der bürgerlichen Mitte, politische Bedeutung gewonnen. Bei der Bildung einer schlagkräftigen Struktur ist die ungarische Opposition auf die administrative und finanzielle Unterstützung durch die von der USAP kontrollierten Staatsorgane angewiesen, die offenbar nur zähflüssig gewährt wird. 4. Die Oppositionsparteien und -gruppierungen haben bislang eine offene politische Herausforderung der herrschenden Partei vermieden und sich auf Drängen der USAP zu Gesprächen am „Runden Tisch“ nach poln. [polnischem] Vorbild bereitgefunden. Ein wichtiger Durchbruch gelang dabei mit der Vereinbarung eines Wahlmodus am 27. August 1989 (zwei Wahlgänge in einem kombinierten System von Persönlichkeits- und Verhältniswahl). Die Vereinbarung zwischen USAP und sechs der neun Oppositionsparteien und -gruppen vom 18.09.1989 hat den Weg in ein Mehrparteiensystem auf konstitutioneller Grundlage geebnet und die wesentlichen Instrumente hierzu geschaffen. 5. Die für Anfang 1990 vorgesehenen Parlamentswahlen werden aller Voraussicht nach ein Wendepunkt der ung. [ungarischen] Nachkriegsgeschichte sein und über die weitere Entwicklung des ung. Reformweges entscheiden. Das aus ihnen hervorgehende Parlament soll die Grundlagen der künftigen staatlichen und verfassungsmäßigen Struktur eines pluralistisch-demokratischen Ungarn legen. Der Ausgang dieser Wahlen wird daher von besonderer Bedeutung sein. Bei vier Nachwahlen zum derzeitigen Parlament hatte die Opposition, namentlich das Demokratische Forum in den vergangenen Monaten deutliche Siege über die USAP errungen. Es scheint nicht ausgeschlossen, dass angesichts der weitgehenden Diskreditierung des alten Systems in der Bevölkerung und trotz einiger durchaus populärer Parteiführer (Pozsgay, Nyers, Németh), die Opposition über eine regie-

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rungsfähige Mehrheit verfügen und die USP in die Opposition (Schätzungen 5–20% der Stimmen) geraten könnte. Die USP-Führung rechnet zwar mit etwa einem Drittel der Stimmen und einer (entscheidenden) Rolle in einer künftigen Koalitionsregierung, gibt sich aber bereit, im Falle einer schweren Niederlage auch in die Opposition gehen. Die Opposition ist dabei, sich durch Zweckbündnisse auf die Parlamentswahlen vorzubereiten. 6. Verschärft werden die politischen Probleme Ungarns durch die schwierigere Wirtschaftslage des Landes; Äußerungen von GS [Generalsekretär] Grósz von Anfang Mai über die mögliche Ausrufung eines wirtschaftlichen Notstandes machen deutlich, dass Ungarns Wirtschaft eine schmerzhafte Anpassungsphase durchläuft. Ein unerwartet hohes Haushaltsdefizit, die sich verschlechternde außenwirtschaftliche Position, hohe Auslandsverschuldung und zunehmende inflationäre Spannungen waren der Regierung Anlass, am 13. Mai 1989 ein auf drei Jahre ausgelegtes Maßnahmenpaket zu verabschieden. Für die ungarische Bevölkerung ist die Austeritätspolitik mit erheblichen Preissteigerungen bei dahinter zurückbleibenden Lohn- und Einkommenszuwächsen, d. h. mit der Verringerung des (nach RGW-Maßstäben weit überdurchschnittlichen) Lebensstandards verbunden. Die Einkommensunterschiede nehmen dabei zu, von der Regierung werden Vorkehrungen für eine erwartete spürbare Arbeitslosigkeit getroffen. Wachsende soziale Spannungen haben sich in ersten lokalen Streiks in den Industrierevieren um Miskolc und Fünfkirchen entladen. Fazit: Angesichts der erheblichen Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten, die mit den Reformbemühungen in Ungarn verbunden sind, muss die Führung ihre Bemühungen darauf konzentrieren, den Prozess in evolutionären Bahnen zu halten. Das wird erhebliche Energien absorbieren. Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

Dokument 51 Protokoll des Landesbüros der Ungarischen Sozialistischen Partei vom 16. Oktober 1989 über die Besprechung des Parteivorsitzenden Rezső Nyers mit dem Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Hans-Jochen Vogel Eine Woche nach der Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei kam es am 14. Oktober 1989 in Budapest zu einer Unterredung zwischen dem MSZP-Vorsitzenden Rezső Nyers und dem SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel. Über dieses Treffen ließ das Landesbüro der MSZP zwei Tage später ein Gedächtnisprotokoll erstellen. Im Mittelpunkt der Gespräche standen – neben Themen der internationalen Politik (Situation



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in der Sowjetunion, in Polen und in der DDR) – zum einen die jüngsten politischen Entwicklungen in Ungarn sowie das politische Profil der MSZP und ihre zukünftige Rolle in der ungarischen Innenpolitik. Zum anderen wurden die Beziehungen der MSZP zur deutschen Sozialdemokratie und zur Sozialistischen Internationale thematisiert. Hinsichtlich der ungarischen Innenpolitik wies Nyers auf die kritische Lage im Vorfeld der parlamentarischen Umsetzung der „Eckgesetze“, also der wesentlichen Ergebnisse der Rundtischgespräche, hin und kritisierte deren „Torpedierung“ durch die liberalen Oppositionsparteien. Bezüglich des politischen Charakters der neuen Partei betonte Nyers ihre Zugehörigkeit zur „sozialistischen Bewegung“ und nicht zur „kommunistischen Bewegung“ und sprach sich mit Blick auf ihre bessere Profilierung und auf die „rechte Gefahr“ in Ungarn zugunsten der Gründung einer kommunistischen Partei aus. In Reaktion auf die Absicht der MSZP-Führung, der Sozialistischen Internationale beizutreten, wies Parteichef Vogel darauf hin, dass der „Platz der ungarischen Vertretung“ dort besetzt sei, nämlich durch die Sozialdemokratische Partei Ungarns. Im Folgenden bekräftigten beide Seiten ihre Absicht, die Beziehungen auch weiterhin pflegen zu wollen bzw. eine Zusammenarbeit zwischen der SPD und der MSZP herbeizuführen. In diesem Zusammenhang äußerte sich Nyers auch positiv bezüglich der Eröffnung eines Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Budapest. *** Ungarische Sozialistische Partei Landesbüro

Streng geheim! Erstellt: in 2 Exemplaren

Gedächtnisprotokoll über die Besprechung von Genossen Rezső Nyers mit Dr. HansJochen Vogel Genosse Rezső Nyers empfing am 14. Oktober 1989 Dr. Hans-Jochen Vogel, den Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, und einige Mitglieder seiner Begleitung, [darunter] die Bundestagsabgeordneten Wolfgang Roth, Dr. Norbert Wieczorek und Margitta Terborg sowie Magdalena Hoff, Abgeordnete des Europaparlaments, Sepp Binder, Sprecher der SPD-Parlamentsfraktion, und Dr. Jutta Tiedtke, Osteuropa-Referentin der SPD-Parlamentsfraktion. Seitens der MSZP waren bei der Besprechung die Genossen István Dégen und Árpád Székely anwesend. In seiner Einleitung erklärte Dr. Vogel, dass er den auf dem Parteitag der MSZMP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] bzw. der MSZP [Ungarische Sozialistische Partei] getroffenen Beschlüssen große Achtung entgegenbringe. Seiner Meinung nach habe es noch kein Beispiel dafür gegeben, dass eine regierende Partei eine derartige Entscheidung getroffen habe. Als ähnliches Beispiel würde er die KPI [Kommunistische Partei Italiens] nennen, aber die italienischen Kommunisten seien in keiner Regierungsposition gewesen.

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Dr. Vogel stellte eine Reihe von Fragen in Bezug auf die innenpolitische Situation in Ungarn. Bei seinen Fragen interessierte er sich in erster Linie dafür, ob es eine kommunistische Partei in Ungarn geben werde, welche innenpolitischen Aussichten die MSZP habe und was in der ungarischen Innenpolitik zu erwarten sei. In seiner Antwort erklärte Genosse Nyers, dass die Gründung einer kommunistischen Partei seiner Meinung nach in Ungarn unumgänglich sei. Eine derartige Entwicklung würde nicht nur die Bestrebungen der MSZP vor der Öffentlichkeit markanter machen, sondern sie sei auch deshalb notwendig, weil es eine rechte Gefahr im Land gebe. Nach dem MSZP-Parteitag sei die Mitgliederschaft vorläufig gespalten. Das Parteipräsidium sei arbeitsfähig. Die mit dem 16. Oktober beginnende Woche werde vom Gesichtspunkt der Innenpolitik kritisch, da das Parlament dann die sogenannten Eckgesetze verhandle. Deren Annahme sei deshalb wichtig, weil das Land ohne sie in den Zustand eines dreivierteljährigen Fiebertraums geraten würde, was mit unberechenbaren politischen Bewegungen einhergehen würde. Gleichzeitig würden der SZDSZ [Bund Freier Demokraten] und auch der FIDESZ [Bund Junger Demokraten] außerhalb des Parlaments damit beginnen, die am Nationalen Runden Tisch erreichten Vereinbarungen zu torpedieren, indem sie den Zeitpunkt für die Präsidentenwahl verschieben wollten. Die Situation in Ungarn sei heute die, dass eine Wiederherstellung selbst des Zustands vor dem Parteitag unmöglich sei. Andernfalls bestünde die Gefahr der Destabilisierung. Deshalb komme unseren internationalen Beziehungen eine besondere Bedeutung zu. Der Parteitag habe die Position der neuen Partei in dieser Hinsicht eindeutig bestimmt: Wir sind kein Teil der kommunistischen Bewegung, sondern betrachten uns der sozialistischen Bewegung zugehörig. Wir würden daher nach einer Kontaktaufnahme zur Sozialistischen Internationale streben. Perspektivisches Ziel sei, eine Mitgliedschaft zu erreichen. Wir würden unsere Beziehungen zu den kommunistischen Parteien, so auch zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, aufrechterhalten, weil wir glauben würden, dass auch sie irgendwann den Weg der Reformen beschreiten werden. Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei und die Kommunistische Partei Italiens würden wir als unsere Verbündeten betrachten. Ein großes Hindernis stelle gegenwärtig die Rumänische Kommunistische Partei dar; dort sei die Lage vorläufig hoffnungslos. Auch in der DDR sei die Situation kompliziert, obwohl eine Reformpolitik in erster Linie im Kreise der Intellektuellen Unterstützung finden würde. Auch in der Tschechoslowakei sei die Situation nicht einfach, die Aussichten auf eine Erneuerung seien aber etwas besser als in der DDR. Es sei ein großes Problem, dass die Perestroika in der Sowjetunion immer größeren Problemen gegenüberstehe. Gorbatschow benötige eine Ausweitung der Führungsbasis, eine Auswechslung des Apparats. Wegen der Handhabung der Nationalitätengegensätze bestehe auch die Gefahr, dass Gorbatschow eventuell mit dem Zerfall der Sowjetunion diffamiert (sic!)61 würde.

61 Gemeint ist wohl „konfrontiert“.



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Gorbatschow benötige außenpolitische Öffentlichkeit und aus der Offenheit hervorgehende Ergebnisse, denn daraus speise sich seine Innenpolitik. Dr. Vogel erklärte – teils die Aussagen von Genossen Nyers reflektierend –, dass er im Allgemeinen die Gründung neuer kommunistischer Parteien nicht begrüße, in Ungarn wäre dies in der gegenwärtigen Situation allerdings ausgesprochen gut. Sie seien daran interessiert, dass in Ungarn tiefgreifende Veränderungen erfolgen, es sei aber auch wichtig, dass all dies in einer ruhigen, spannungsfreien Atmosphäre erfolge. Es sei offensichtlich, dass man Prozesse, die den sich in Ungarn abspielenden Veränderungen von großer Tragweite ähnlich seien, nicht an einem Tisch planen könne, ein Chaos müsse aber verhindert werden. Er habe viele Gespräche mit Vertretern verschiedener politischer Richtungen geführt und den Eindruck gewonnen, alle seien sich ihrer eigenen Verantwortung im Klaren und würden ihre Möglichkeiten und Grenzen kennen. Die Prozesse in Ungarn müssten in einem breiteren internationalen Zusammenhang gesehen werden (Sowjetunion, Polen und neuerdings DDR). Dies erhöhe die Verantwortung der Ungarn. Rumänien habe in den sechziger und siebziger Jahren eine konstruktive Rolle in den internationalen Beziehungen gespielt. Diese Phase sei allerdings abgeschlossen, da das Land zu einem stalinistischen System verknöchert sei. Aus seinen Gesprächen in Polen (Vogel kam aus Warschau nach Budapest) und mit M. [Mieczysław] Rakowski sei er zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei dem Vorbild der Ungarischen Sozialistischen Partei folge. Mit der Lageanalyse von Genossen Nyers über die Tschechoslowakei stimme er überein. In der DDR sei die Lage sehr kompliziert geworden. Das von der SPD zusammen mit der SED ausgearbeitete strategische Kooperationsdokument von 1987 existiere heute nur mehr auf dem Papier. Die SED sei wahrscheinlich vor ihrem eigenen Wagemut erschrocken. Auf alle Fälle würden heute Zehntausende von Jugendlichen in verschiedenen Städten der DDR auf der Straße protestieren. (Vogel drückte seinen Dank für den humanitären Schritt der Ungarn, der die Übersiedlung von mehreren Zehntausend DDR-Bürgern ermöglicht habe, aus.) Im innenpolitischen Leben der DDR sei der 6. Oktober ein dunkler Tiefpunkt gewesen. Die Feierrede von E. [Erich] Honecker habe eindeutig eine Enttäuschung verursacht. Gorbatschow [hingegen] habe überlegt und klug gesprochen. Die Geste Gorbatschows, vor seiner Reise aus der DDR dem Zweiten Deutschen Fernsehen, dem ZDF, ein Interview zu geben, habe man als ein auffälliges Zeichen beurteilt. Es sei ein positives und gleichfalls auffälliges Phänomen, dass der Aufruf an die demonstrierenden Jugendlichen in Leipzig – neben Künstlern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – auch von Repräsentanten des SED-Ausschusses des Bezirks Leipzig unterzeichnet worden sei. Gleichzeitig sei es eigenartig, dass man gerade Kurt Hager an die Spitze der gegenwärtigen Veränderungen in der DDR gestellt habe.

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Laut Dr. Vogel müsse sich die SED-Führung nicht derart vor dem Volk fürchten, wie sie dies heute tue. Es sei vorstellbar, dass übrigens schneller personelle Veränderungen eintreten, als man sich heute vorstellen würde. Der Funke der deutschen nationalen Gefühle sei heute in beiden deutschen Staaten groß. In der gegenwärtigen Situation dürfe man aber den Gefühlen nicht nachgeben. Deshalb betone man, dass auch weiterhin der Grundlagenvertrag von 1972, der das Verhältnis der beiden deutschen Staaten regle, gültig sei. Die Staatlichkeit der DDR bestünde noch lange Zeit, daneben müsse aber das Selbstbestimmungsrecht der in der DDR lebenden Menschen sichergestellt werden. Was auch immer die Entscheidung sein werde, man werde sie in der BRD akzeptieren. Ein deutscher Staat mit 80 Millionen wäre in der Tat groß. Auch deshalb müssten in erster Linie die europäischen Prozesse beobachtet werden. Dr. Vogel stimmte der Beurteilung der innenpolitischen Situation in der Sowjetunion zu und ergänzte, dass es auch dort Ergebnisse gebe, die nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten. Ein eventueller Sturz Gorbatschows wäre tragisch. Leider würde Vieles den Konservativen in die Hände spielen, in der BRD, in Ungarn und auch in der Sowjetunion, und dies erschwere die Lage Gorbatschows sehr. Seine Popularität sei im Ausland größer als in seiner Heimat. Ein beträchtlicher Teil des Westens sei bereit, dem Führer Nummer 1 der Sowjetunion zu helfen, aber Geld alleine kann keine Lösung bieten. Auf alle Fälle sei es notwendig, den Apparat in der Sowjetunion zu beschränken. Reagierend auf die Aufnahme von Beziehungen zwischen der MSZP und der Sozialistischen Internationale erklärte Dr. Vogel, dass im Allgemeinen in jedem Land nur eine Partei Mitglied der Sozialistischen Internationale sein könne. Mit Blick auf Ungarn sei die Mitgliedschaft der Sozialdemokratischen Partei Ungarns niemals beendet worden, der Platz der ungarischen Vertretung sei also besetzt. Von dieser Regel würden im Falle von drei Ländern auch Ausnahmen gemacht werden: Italien, Israel und Japan. Für die Aufnahme der zweiten Partei sei es auf alle Fälle eine Voraussetzung, dass die bereits über eine Mitgliedschaft verfügende Partei ihre Zustimmung gebe. Die Entwicklungen seien heute noch nicht mit völliger Gewissheit abzusehen. Hinsichtlich der Zusammenarbeit von SPD und MSZMP sei man zufrieden gewesen. Deshalb wolle man die Pflege der Beziehungen auch zur neuen Partei fortsetzen. Es wäre seltsam, wenn man gerade jetzt, wo sich die MSZP zu auch zu sozialdemokratischen Werten bekenne, nicht dazu gewillt wäre. Nach den Wahlen sei man auch bereit, die Zusammenarbeit der Arbeitsgruppen weiter intensiv fortzusetzen. In seiner Antwort nahm Genosse Nyers den Standpunkt der SPD bezüglich der Sozialistischen Internationale zur Kenntnis und fügte hinzu, dass die MSZP die gegenwärtigen Identifikationsprobleme der Sozialdemokratischen Partei Ungarns verstehe. Die Wirklichkeit erfordere aber einen Zusammenschluss der Linken, insbesondere auch deshalb, weil heute die Rechte in Ungarn besser integriert sei. Auch wir würden eine Zusammenarbeit von MSZP und SPD wünschen. Was man in dieser Hinsicht tun könne, dass würden wir bereits vor den Wahlen tun, danach aber in intensiverer Form.



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Wir würden die Eröffnung eines Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Budapest begrüßen. Es sei unser Wunsch, die bisherige Zusammenarbeit zwischen der Stiftung und dem Gesellschaftswissenschaftlichen Instituts auszuweiten. Dr. Vogel erklärte, er sehe eine einmalige Chance, dass die Fehler der Arbeiterbewegung – hier verwies er in erster Linie auf die Thesen Stalins vom Sozialfaschismus – gut gemacht und sich die beiden Flügel der Bewegung einander wieder annähern würden. Hierzu sei viel wechselseitige Geduld notwendig. Laut Marx habe 1848 das Gespenst des Kommunismus Europa heimgesucht, heute, 1989, sei es das Gespenst des demokratischen Sozialismus. Die SPD sei früher oft in der BRD wegen ihrer Kontakte zur SED angegriffen worden. Dieser Dialog habe aber nicht zur Folge gehabt, dass aus der SPD eine kommunistische Partei wurde, sondern umgekehrt. Gegen Ende des Gesprächs bemerkte der Abgeordnete W. [Wolfgang] Roth, dass er bei seinem Polenbesuch mit allen Gesprächspartnern fast ausschließlich über die wirtschaftliche Lage verhandelt habe. Es sei jetzt mehr als eine Stunde vergangen und es sein kein Wort über die ungarische Wirtschaft gefallen. János Fekete habe in dem Gespräch, das er mit ihm geführt habe, festgestellt, dass es an der Zeit sei, die Vergleiche zwischen der polnischen und der ungarischen Wirtschaft zu beenden. Ob das seinerseits Zweckoptimismus gewesen sei? Genosse Nyers verwies darauf, dass die ungarische Wirtschaft auch heute funktionsfähig sei. Gegenwärtig benötige man zwei Dinge besonders: 1) eine dreijährige Stand-by-Vereinbarung mit dem IWF; 2) eine Lösung der Haushaltsprobleme. Die Vorstellungen und Forderungen des IWF seien vom Standpunkt der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit berechtigt. Man würde aber nicht immer richtig erkennen, wie viel das Land bei der jährlichen Korrektur des Budgets aushalten könne. Der Abgeordnete Dr. [Norbert] Wieczorek bemerkte, dass er die ungarischen Verständigungsbemühungen mit dem IWF unterstütze. Er habe aber eine Befürchtung. Bei seinen letzten Verhandlungen in Washington habe er aus den Gesprächen mit Privatbankiers den Eindruck gewonnen, dass die Abwertung der ungarischen Wertpapiere in Tokio ein schlechtes Zeichen dargestellt habe. Ein weiteres ungünstiges Zeichen sei die wegen des Einkaufstourismus abfließende Valuta. Es wäre ein großer Fehler, wenn die Regierung in dieser Frage bis März warten würde. Das Zögern könnte – neben anderen Faktoren – möglicherweise zu einem Liquiditätsproblem führen. Dr. Vogel erkundigte sich schließlich nach der Möglichkeit einer Senkung der Ausgaben für die Landesverteidigung. Das in ungebundener, freundschaftlicher Atmosphäre stattfindende Gespräch dauerte 75 Minuten. Budapest, 16. Oktober 1989 Quelle: MNL OL, 288. f. 32/1989/58. ő. e. (NSZK/1989/A), fol. 575–581. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

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Dokument 52 Gesetz Nr. XXX des Jahres 1989 über die Auflösung der Arbeitermiliz, verabschiedet vom ungarischen Parlament auf seiner Sitzung am 17. Oktober 1989 Im Zuge der Liquidierung des ungarischen Volksaufstandes vom Herbst 1956 war von der damaligen Parteiführung um János Kádár 1957 eine sogenannte Arbeitermiliz aufgebaut worden. Im Zuge des ungarischen Demokratisierungsprozesses wurde die Existenz der Arbeitermiliz, die 30 Jahre lang ihre Funktion als „Parteiarmee“ zur Sicherung der kommunistischen Herrschaft wahrgenommen hatte, in zunehmendem Maße grundsätzlich in Frage gestellt. Nachdem Stimmen außerhalb und auch innerhalb der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei im Frühjahr/ Sommer 1989 mit Nachdruck die Auflösung der Miliz gefordert hatten, verwarf die ungarische Regierung unter Miklós Németh Pläne für ihre Umwandlung in eine Art Katastrophenschutz und legte dem Parlament Mitte Oktober 1989 einen Gesetzentwurf zu ihrer Auflösung vor. Das vom Parlament verabschiedete Gesetz bildete eine der zahlreichen, von der Németh-Regierung initiierten Rechtsnormen zum Abbau des Parteistaates. *** Gesetz Nr. XXX des Jahres 1989 über die Auflösung der Arbeitermiliz Die Angehörigen der Arbeitermiliz haben mehr als drei Jahrzehnte hindurch ihren freiwilligen Dienst ehrenhaft erfüllt. Die in der Gesellschaft eingetretenen Veränderungen begründen es allerdings nicht, dieses bewaffnete Organ zu unterhalten. Deshalb beschließt das Parlament, geleitet von der nationalen Angelegenheit des friedlichen Übergangs zu einem demokratischen Rechtsstaat mit Mehrparteiensystem, folgendes Gesetz: § 1 Die Arbeitermiliz wird aufgelöst. § 2 (1) Dieses Gesetz tritt am Tage seiner Verkündung in Kraft. Gleichzeitig verlieren Gesetzesdekret Nr. 13 des Jahres 1957 über die Arbeitermiliz sowie Verordnung Nr. 49/1978 (vom 19. X. 1978) ihre Gültigkeit. (2) Dieses Gesetz wird vom Ministerrat vollstreckt. Im Zuge der Vollstreckung sorgt er für die Regelung der Situation des berufsmäßigen und zivilen Personalstandes der Arbeitermiliz, für die Übergabe ihrer militärtechnischen Mittel an die Ungarische Volksarmee und über die angemessene Nutzung ihres sonstigen Vermögens. Über den Verteidigungsminister sorgt er dafür, dass die Aufgaben der Territorialverteidigung, die der Arbeitermiliz zufielen, von der Ungarischen Volksarmee versehen werden. Quelle: Törvények és rendeletek hivatalos gyűjteménye 1989 [Offizielles Kompendium der Gesetze und Verordnungen 1989], Bd. 1. Budapest 1990, S. 130. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer



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Dokument 53 Revidierte Verfassung der Republik Ungarn vom 23. Oktober 1989 Das Gesetz über die Verfassungsänderung, dem für den staatsrechtlichen Transformationsprozess in Ungarn eine zentrale Bedeutung zukommt, wurde vom ungarischen Parlament während seiner Sitzung vom 17. bis 20. Oktober 1989 angenommen. Das Gesetz, das im Wesentlichen auf den Ergebnissen der Verhandlungen am „Nationalen Runden Tisch“ basiert, bestimmt eine Totalrevision der ungarischen Verfassung aus dem Jahre 1949 und bildet die Grundlage für den Text der – bis 2011 gültigen – Verfassung der Republik Ungarn. Die modifizierte Verfassung spricht sich eingangs für den „friedlichen politischen Übergang“ zu einem Rechtsstaat bzw. zu einem Mehrparteiensystem, zur parlamentarischen Demokratie und zur sozialen Marktwirtschaft aus und weist auf den provisorischen Charakter der Verfassung hin. Das folgende I. Kapitel behandelt den Grundcharakter des Gesellschaftssystems. Diesbezüglich wird festgestellt, dass die Republik Ungarn einen unabhängigen, demokratischen Rechtsstaat darstelle, „in dem die Werte der bürgerlichen Demokratie und des demokratischen Sozialismus gleichermaßen zur Geltung“ kämen, und eine Marktwirtschaft bilde, „die auch die Vorteile der Planung“ nutze. In den folgenden Kapiteln werden die Grundinstitutionen der politischen Ordnung behandelt: Parlament (II.), Präsident der Republik (III.), Verfassungsgericht (IV.), Ombudsmann für Staatsbürgerrechte (V.), Staatlicher Rechnungshof (VI.), Ministerrat, d. h. Regierung (VII.), bewaffnete Kräfte und Polizei (VIII.), Räte, d. h. örtliche Selbstverwaltung (IX.), Gerichtsorganisation (X.) und Staatsanwaltschaft (XI.). Dann folgen die Grundrechte und -pflichten (XII.), die Grundprinzipien der Wahlen (XIII.), die Symbole und Hauptstadt der Republik Ungarn (XIV.) sowie schließlich die Schlussbestimmungen (XV.). Letztere regeln unter anderem das Inkrafttreten der Verfassungsänderungen mit ihrer Verkündung. Zu dieser kam es am 23. Oktober 1989, dem Jahrestag des Ausbruchs des Volksaufstandes von 1956. *** Verfassung der Republik Ungarn Text von Gesetz Nr. XX des Jahres 1949 über die Verfassung der Republik Ungarn, der zusammen mit den durchgeführten Änderungen in eine einheitliche Fassung gebracht wurde, 23. Oktober 1989 Zur Förderung des friedlichen politischen Übergangs zu einem Rechtsstaat, der das Mehrparteiensystem, die parlamentarische Demokratie und die soziale Marktwirtschaft in die Tat umsetzt, legt das Parlament – bis zur Verabschiedung einer neuen Verfassung für unser Land – den Text der Verfassung Ungarns folgendermaßen fest:

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I. Kapitel Allgemeine Bestimmungen § 1 Ungarn ist eine Republik. § 2 (1) Die Republik Ungarn ist ein unabhängiger, demokratischer Rechtsstaat, in dem die Werte der bürgerlichen Demokratie und des demokratischen Sozialismus gleichermaßen zur Geltung kommen. (2) In der Republik Ungarn geht alle Macht vom Volk, das die Volkssouveränität durch seine gewählten Abgeordneten sowie unmittelbar ausübt, aus. (3) Die Tätigkeit keiner Organisation der Gesellschaft, keines staatlichen Organs und keines Staatsbürgers darf darauf ausgerichtet sein, sich die Macht mit Gewalt zu verschaffen bzw. sie ausschließlich in Besitz zu nehmen. Jedermann ist berechtigt und zugleich verpflichtet, auf gesetzmäßigem Weg gegen derartige Bestrebungen vorzugehen. § 3 (1) In der Republik Ungarn dürfen sich Parteien unter Achtung der Verfassung und der verfassungsmäßigen Rechtsnormen frei bilden und betätigen. (2) Die Parteien wirken bei der Formulierung und Artikulation des Volkswillens mit. (3) Die Parteien dürfen die öffentliche Gewalt nicht unmittelbar ausüben. Dementsprechend darf keine Partei irgendein Staatsorgan leiten. Im Interesse der Trennung von Parteien und öffentlicher Gewalt wird per Gesetz bestimmt, welche Funktionen und öffentlichen Ämter ein Parteimitglied oder Parteifunktionär nicht besetzen darf. § 4 Die Gewerkschaften und andere Interessenvertretungen schützen und vertreten die Interessen der Arbeitnehmer, der Genossenschaftsmitglieder und der Unternehmer. § 5 Der Staat der Republik Ungarn schützt die Freiheit und Macht des Volkes, die Unabhängigkeit und territoriale Integrität des Landes sowie seine in internationalen Verträgen festgeschriebenen Grenzen. § 6 (1) Die Republik Ungarn lehnt Krieg als Mittel zur Lösung von Streitigkeiten zwischen Nationen ab und enthält sich der Anwendung von Gewalt gegen die Unabhängigkeit oder territoriale Integrität anderer Staaten bzw. der Androhung von Gewalt. (2) Die Republik Ungarn strebt nach Zusammenarbeit mit allen Völkern und Staaten der Welt. (3) Die Republik Ungarn fühlt sich für das Schicksal der außerhalb ihrer Grenzen lebenden Ungarn verantwortlich und fördert die Pflege ihrer Beziehungen zu Ungarn. § 7 (1) Die Rechtsordnung der Republik Ungarn erkennt die allgemein akzeptierten Regeln des internationalen Rechts an und gewährleistet außerdem die Übereinstimmung von internationalen Rechtsverpflichtungen und innerstaatlichem Recht. (2) Die Ordnung der Rechtssetzung regelt ein Gesetz mit Verfassungsrang.



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§ 8 (1) Die Republik Ungarn erkennt die unverletzlichen und unveräußerlichen Grundrechte der Menschen, deren Achtung und Schutz eine erstrangige Pflicht des Staates ist, an. (2) Normen, die sich auf grundlegende Rechte und Pflichten beziehen, dürfen ausschließlich durch Gesetze mit Verfassungsrang festgelegt werden. (3) Die Ausübung der Grundrechte darf nur solchen, in einem Gesetz mit Verfassungsrang geregelten Beschränkungen unterworfen werden, die für die Sicherheit des Staates, für die innere Ordnung, die öffentliche Sicherheit, die allgemeine Gesundheit, die allgemeine Moral und für den Schutz der Grundrechte und Freiheiten anderer notwendig sind. (4) Die Grundrechte, die in den §§ 54–56, in § 57, Absatz (2)–(4), in § 60, in den §§ 66–69 und in § 70/E festgeschrieben sind, dürfen auch zur Zeit eines Ausnahmezustands, eines Notstands oder einer Gefahrensituation nicht eingeschränkt oder aufgehoben werden. § 9 (1) Die Wirtschaft Ungarns ist eine Marktwirtschaft, die auch die Vorteile der Planung nutzt. In ihr sind öffentliches und privates Eigentum gleichberechtigt und genießen gleichen Schutz. (2) Die Republik Ungarn anerkennt und unterstützt das Recht auf Unternehmung und die Freiheit des Wettbewerbs gemäß dem Prinzip der Wettbewerbsneutralität. Diese dürfen nur durch Gesetze mit Verfassungsrang beschränkt werden. § 10 (1) Das Eigentum des ungarischen Staates stellt nationales Vermögen dar. (2) Der Bereich des ausschließlichen Staatseigentums sowie der ausschließlichen staatlichen Wirtschaftstätigkeit wird durch ein Gesetz mit Verfassungsrang festgelegt. § 11 Die staatlichen Unternehmen und Wirtschaftsorgane wirtschaften selbstständig auf gesetzlich festgelegte Art und Weise und mit gesetzlich geregelter Verantwortung. § 12 (1) Der Staat unterstützt die auf freiwilligem Zusammenschluss gründende Genossenschaftsbewegung und erkennt die Selbstständigkeit der Genossenschaften an. (2) Der Staat erkennt das Zustandekommen und die Tätigkeit des Eigentums der Produktionsselbstverwaltung und der Selbstverwaltung an. § 13 Eigentum darf nur ausnahmsweise und nur in öffentlichem Interesse in gesetzlich geregelten Fällen und auf gesetzlich geregelte Weise bei vollständiger, unbedingter und sofortiger Entschädigung enteignet werden. § 14 Die Verfassung gewährleistet das Erbrecht. § 15 Die Republik Ungarn schützt die Institutionen Ehe und Familie. § 16 Die Republik Ungarn trägt besondere Sorge für die Existenzsicherheit, für den Unterricht und für die Erziehung der Jugend und schützt die Interessen der Jugend. § 17 Die Republik Ungarn sorgt sich mittels weitreichender sozialer Maßnahmen um die Bedürftigen.

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§ 18 Die Republik Ungarn erkennt das Recht jedes Menschen auf eine gesunde Umwelt an und setzt es durch. II. Kapitel Das Parlament § 19 (1) Das Parlament ist das höchste Organ der Staatsmacht und der Volksvertretung der Republik Ungarn. (2) Mittels der Ausübung der aus der Volkssouveränität erwachsenden Rechte sichert das Parlament die verfassungsmäßige Ordnung und bestimmt die Organisation, die Richtung und die Bedingungen des Regierens. (3) Im Rahmen dieser Befugnis a) verabschiedet das Parlament die Verfassung der Republik Ungarn; b) beschließt Gesetze und Gesetze mit Verfassungsrang; c) beschließt den gesellschaftlich-wirtschaftlichen Plan des Landes; d) stellt die Haushaltsbilanz fest, billigt den Staatshaushalt und dessen Durchführung; e) entscheidet über das Regierungsprogramm; f) schließt internationale Verträge ab, die unter dem Aspekt der Außenbeziehungen der Republik Ungarn von herausragender Bedeutung sind; g) entscheidet über die Ausrufung des Kriegszustands und über die Frage des Friedensschlusses; h) verkündet im Falle des Kriegszustandes oder der unmittelbaren Gefahr des bewaffneten Angriffs einer fremden Macht (Kriegsgefahr) den Ausnahmezustand und ruft den Verteidigungsrat ins Leben; i) verkündet bei bewaffneten Handlungen, die auf den Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung oder auf die ausschließliche Machterlangung gerichtet sind, außerdem bei schweren gewalttätigen Handlungen, die mit Waffengewalt oder bewaffnet begangen werden und die Sicherheit von Leben und Vermögen der Staatsbürger in massenhaftem Ausmaß gefährden, sowie im Falle eines Elementarereignisses oder eines Industrieunglücks (im Weiteren zusammenfassend: Notlage) den Notstand; j) entscheidet über den Einsatz der bewaffneten Kräfte im In- oder Ausland; k) wählt den Präsidenten der Republik, den Ministerrat, die Mitglieder des Verfassungsgerichts, den Ombudsmann für die Staatsbürgerrechte, den Präsidenten des Staatlichen Rechnungshofes und seine Vizepräsidenten, den Präsidenten der Ungarischen Nationalbank, den Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes und den Obersten Staatsanwalt; l) löst auf Vorschlag des Ministerrats jenen Rat [d. h. jedes örtliche Vertretungsorgan], dessen Tätigkeit verfassungswidrig ist, auf; m) übt das Amnestierecht aus.



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(4) Für Entscheidungen, die in Absatz (3) unter den Punkten g), h), i) und j) festgeschrieben sind, ist eine Zweidrittelmehrheit der Parlamentsabgeordneten notwendig. (5) Das Parlament kann eine landesweite Volksabstimmung anordnen. Die Bestimmungen für eine Volksabstimmung bestimmt ein Gesetz mit Verfassungsrang. § 19/A (1) Wenn das Parlament verhindert ist, diese Entscheidungen zu treffen, dann ist der Präsident der Republik berechtigt, den Kriegszustand zu erklären, den Ausnahmezustand zu verkünden und den Verteidigungsrat einzurichten sowie außerdem den Notstand auszurufen. (2) Das Parlament ist dann daran gehindert, diese Entscheidungen zu fällen, wenn es nicht tagt und wenn seine Einberufung wegen der Kürze der Zeit oder außerdem wegen der Ereignisse, die den Kriegszustand, den Ausnahmezustand oder den Notstand hervorgerufen haben, auf unüberwindbare Hindernisse stößt. (3) Die Tatsache der Verhinderung sowie außerdem die Begründetheit der Verkündung des Ausnahmezustandes oder des Notstandes wird vom Parlamentspräsidenten, vom Vorsitzenden des Verfassungsgerichts und vom Vorsitzenden des Ministerrats gemeinsam festgestellt. (4) Das Parlament überprüft auf der ersten Sitzung nach dem Ende seiner Verhinderung die Begründetheit der Erklärung des Kriegszustands, des Ausnahmezustands oder des Notstands und entscheidet über die Rechtmäßigkeit der angewandten Maßnahmen. Für diese Entscheidung ist eine Zweidrittelmehrheit der Parlamentsabgeordneten notwendig. § 19/B (1) Zur Zeit des Ausnahmezustands entscheidet der Verteidigungsrat über den Einsatz der bewaffneten Kräfte im In- oder Ausland sowie über die Einleitung außerordentlicher Maßnahmen, die in einem gesonderten Gesetz festgehalten werden. (2) Vorsitzender des Verteidigungsrates ist der Präsident der Republik, seine Mitglieder sind die Führer der Abgeordnetengruppen der Parteien, die im Parlament vertreten sind, ein Bevollmächtigter der parteilosen Abgeordneten, der Präsident und die Mitglieder des Ministerrats sowie der Chef des Generalstabs der Ungarischen Volksarmee. (3) der Verteidigungsrat übt folgende Rechte aus: a) die ihm vom Parlament übertragenen Rechte; b) die Rechte des Präsidenten der Republik; c) die Rechte des Ministerrats. (4) Der Verteidigungsrat kann Verordnungen erlassen, mit denen er die Anwendung einzelner Gesetze suspendieren bzw. von den gesetzlichen Bestimmungen abweichen kann sowie außerdem sonstige besondere Maßnahmen treffen. Die Anwendung der Verfassung darf er hingegen nicht suspendieren.

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(5) Eine Verordnung des Verteidigungsrates verliert mit der Beendigung des Ausnahmezustands ihre Gültigkeit, ausgenommen, wenn das Parlament die Gültigkeit der Verordnung verlängert. (6) Die Tätigkeit des Verfassungsgerichts darf auch während der Zeit des Ausnahmezustands nicht eingeschränkt werden. § 19/C (1) Bei Verkündigung des Notstandes entscheidet der Präsident der Republik im Falle der Verhinderung des Parlaments über den Einsatz der bewaffneten Kräfte. (2) Zur Zeit des Notstands werden die in einem gesonderten Gesetz festgelegten außerordentlichen Maßnahmen durch den Präsidenten der Republik auf dem Verordnungsweg eingeleitet. (3) Der Präsident der Republik informiert den Präsidenten des Parlaments unverzüglich über die eingeleiteten außerordentlichen Maßnahmen. Zur Zeit des Notstands tagt das Parlament – im Falle seiner Verhinderung der Verteidigungsausschuss des Parlaments – permanent. Das Parlament bzw. der Verteidigungsausschuss des Parlaments kann die Anwendung der durch den Präsidenten eingeführten außerordentlichen Maßnahmen suspendieren. (4) Die auf dem Verordnungsweg eingeleiteten außerordentlichen Maßnahmen bleiben 30 Tage lang gültig, ausgenommen das Parlament – im Falle seiner Verhinderung der Verteidigungsausschuss des Parlaments – verlängert ihre Gültigkeit. (5) Für den Notstand sind übrigens die Regelungen, die für den Ausnahmezustand gelten, anzuwenden. § 19/D Die zu Zeiten des Ausnahmezustands und des Notstands anzuwendenden detaillierten Regelungen legt ein Gesetz mit Verfassungsrang fest. § 20 (1) Das Parlament wird für einen Zeitraum von vier Jahren gewählt. (2) Die Abgeordneten des Parlaments verrichten ihre Tätigkeit im Interesse der Allgemeinheit. (3) Ein Parlamentsabgeordneter kann ohne Zustimmung des Parlaments nicht verhaftet werden und es kann kein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet werden – außer, wenn er auf frischer Tat ertappt wird. (4) Dem Parlamentsabgeordneten stehen ein seine Unabhängigkeit garantierendes Honorar sowie außerdem bestimmte Vergünstigungen und eine Aufwandsentschädigung zur Deckung seiner Unkosten zu. Die Höhe des Honorars und der Aufwandentschädigung sowie der Bereich der Vergünstigungen werden per Gesetz mit Verfassungsrang festgelegt; darin kann die Auszahlung der Gesamtsumme des Honorars an Bedingungen geknüpft werden. (5) Ein Abgeordneter darf nicht Präsident der Republik, Mitglied des Verfassungsgerichts, Ombudsmann für Staatsbürgerrechte, Präsident, Vizepräsident oder Rechnungsführer des Staatlichen Rechnungshofs, Richter, Staatsanwalt, Mitglied eines staatlichen Verwaltungsorgans – mit Ausnahme der Mitglieder der Regierung und der politischen Staatssekretäre – und außerdem kein berufsmäßiges



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Mitglied der bewaffneten Kräfte, der Polizei und der Sicherheitsorgane sein. Ein Gesetz mit Verfassungsrang kann weitere Fälle der Inkompatibilität feststellen. (6) Über die Rechtsstellung der Parlamentsabgeordneten entscheidet ein Gesetz mit Verfassungsrang. § 20/A (1) Das Mandat eines Parlamentsabgeordneten endet a) mit dem Ende der Tätigkeit des Parlaments, b) mit dem Tod des Abgeordneten, c) mit der Verkündung der Inkompatibilität, d) mit dem Rücktritt, e) mit dem Verlust des Wahlrechts. (2) Wenn sich hinsichtlich eines Abgeordneten im Zuge der Ausübung seiner Tätigkeit ein Grund für eine Inkompatibilität aufkommt (§ 20, Absatz 5), dann kann das Parlament auf Antrag irgendeines Abgeordneten die Inkompatibilität aussprechen. (3) Der Abgeordnete kann mit einer an das Parlament gerichteten Erklärung sein Mandat niederlegen. Für die Gültigkeit des Rücktritts ist keine Zustimmungserklärung des Parlaments notwendig. § 21 (1) Das Parlament wählt den Präsidenten, den Vizepräsidenten und die Schriftführer aus den Reihen seiner Mitglieder. (2) Das Parlament bildet aus dem Kreise seinen Mitgliedern ständige Ausschüsse und kann zur Untersuchung jeglicher Frage einen Ausschuss einsetzen. (3) Jeder ist verpflichtet, die von den Parlamentsausschüssen geforderten Angaben zur Verfügung zu stellen bzw. vor ihnen eine Aussage zu machen. § 22 (1) Das Parlament hält jährlich mindestens zwei Sitzungsperioden ab: jedes Jahr vom 1. Februar bis zum 15. Juni bzw. vom 1. September bis zum 15. Dezember. (2) Die konstituierende Sitzung des Parlaments wird – zu einem Zeitpunkt innerhalb von einem Monat nach den Wahlen – vom Präsidenten der Republik einberufen; im Übrigen sorgt der Parlamentspräsident für die Einberufung der Sitzungsperiode des Parlaments und – innerhalb dieser – der einzelnen Sitzungen. (3) Auf schriftlichen Antrag des Präsidenten der Republik, des Ministerrats oder eines Fünftels der Abgeordneten muss das Parlament zu einer außerordentlichen Sitzungsperiode oder außerordentlichen Sitzung einberufen werden. In dem Antrag müssen der Grund der Einberufung, der vorgeschlagene Zeitpunkt und die Tagesordnung genannt werden. (4) Der Präsident der Republik kann eine Parlamentssitzung während einer Sitzungsperiode einmal – für höchstens 30 Tage – vertagen. (5) Während der Dauer der Vertagung ist der Parlamentspräsident verpflichtet, auf schriftlichen Antrag eines Fünftels der Abgeordneten – zu einem Zeitpunkt von nicht mehr als acht Tagen nach Übernahme des Antrags – das Parlament einzuberufen. § 23 Die Sitzungen des Parlaments sind öffentlich. Auf Antrag des Präsidenten der Republik, des Ministerrats sowie außerdem jedes Abgeordneten kann das Parla-

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ment mit einer Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten auch die Abhaltung einer geschlossenen Sitzung beschließen. § 24 (1) Das Parlament ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte der Abgeordneten anwesend ist. (2) Das Parlament trifft seine Entscheidungen mit der Stimme von mehr als der Hälfte der anwesenden Abgeordneten. (3) Zur Änderung der Verfassung und zur Herbeiführung von einzelnen, in der Verfassung festgeschriebenen Beschlüssen, sowie außerdem zur Verabschiedung von Gesetzen mit Verfassungsrang ist eine Zweidrittelmehrheit der Parlamentsabgeordneten notwendig. (4) In der Geschäftsordnung legt das Parlament die Regeln seiner Tätigkeit und die Verhandlungsordnung fest. § 25 (1) Ein Gesetz kann vom Präsidenten der Republik, vom Ministerrat, von allen Parlamentsausschüssen und von jedem Parlamentsabgeordneten initiiert werden. (2) Das Recht der Gesetzgebung steht dem Parlament zu. (3) Ein vom Parlament angenommenes Gesetz wird vom Parlamentspräsidenten unterschrieben und an den Präsidenten der Republik übersandt. § 26 (1) Für die Verkündung eines Gesetzes sorgt der Präsident der Republik innerhalb von fünfzehn Tagen nach seiner Zustellung – auf Dringlichkeitsantrag des Parlamentspräsidenten innerhalb von fünf Tagen. Das zur Verkündung zugesandte Gesetz wird von ihm unterzeichnet. Das Gesetz muss im Amtsblatt veröffentlicht werden. (2) Wenn der Präsident der Republik mit dem Gesetz oder mit irgendeiner seiner Bestimmung nicht einverstanden ist, kann es dem Parlament vor der Unterzeichnung innerhalb der in Absatz (1) angegebenen Frist unter Mitteilung seiner Überlegungen zur Überarbeitung zurückschicken. (3) Das Parlament verhandelt das Gesetz erneut und entscheidet erneut über seine Annahme. Das Gesetz, das danach vom Parlamentspräsidenten zugestellt wird, muss vom Präsidenten der Republik unterschrieben und innerhalb von fünf Tagen verkündet werden. (4) Der Präsident der Republik schickt das Gesetz vor seiner Unterzeichnung innerhalb der in Absatz (1) erwähnten Frist zur Begutachtung an das Verfassungsgericht, wenn er irgendeine Bestimmung davon für verfassungswidrig erachtet. (5) Wenn das Verfassungsgericht – im Zuge eines außerordentlichen Verfahrens – eine Verfassungswidrigkeit feststellt, dann schickt der Präsident der Republik das Gesetz an das Parlament zurück. Andernfalls ist er verpflichtet, das Gesetz zu unterzeichnen und innerhalb von fünf Tagen zu verkünden. § 27 Die Mitglieder des Parlaments können in jeder zu ihrem Aufgabenbereich gehörenden Angelegenheit eine Anfrage an den Präsidenten der Republik, an den Ombudsmann für Staatsbürgerrechte, an den Präsidenten des Staatlichen Rechnungshofes und an den Präsidenten der Ungarischen Nationalbank sowie eine



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Interpellation oder Anfrage an den Ministerrat, an jedes Mitglied des Ministerrates und an den Obersten Staatsanwalt richten. § 28 (1) Das Mandat des Parlaments beginnt mit der konstituierenden Sitzung. (2) Das Parlament kann seine Auflösung auch vor Ablauf seines Mandats erklären. (3) Der Präsident der Republik kann das Parlament zeitgleich mit der Ausschreibung der Wahlen auflösen, wenn das Parlament innerhalb von zwölf Monaten – während ein und derselben Mandatszeit des Parlaments – in mindestens vier Fällen a) dem Ministerrat das Vertrauen entzieht oder b) dem sich vorstellenden Ministerrat kein Vertrauen schenkt. (4) Der Präsident der Republik kann während seiner Amtszeit höchstens zweimal von dem in Absatz (3) festgeschriebenen Recht Gebrauch machen. (5) Der Präsident der Republik ist verpflichtet, vor der Auflösung des Parlaments die Meinung des Vorsitzenden des Ministerrats und des Parlamentspräsidenten, der Leiter der Abgeordnetengruppen der im Parlament vertretenen Parteien und des Beauftragten der zu keiner Partei gehörenden Abgeordneten einzuholen. (6) Innerhalb von drei Monaten nach Ablauf des Mandats des Parlaments oder nach seiner Auflösung oder seiner Selbstauflösung muss ein neues Parlament gewählt werden. Die Tätigkeit des Parlaments dauert bis zur konstituierenden Sitzung des neuen Parlaments. § 28/A (1) Während eines Ausnahmezustands oder Notstands darf das Parlament nicht seine Auflösung erklären und darf nicht aufgelöst werden. (2) Wenn das Mandat des Parlaments während eines Ausnahmezustands oder Notstands abläuft, verlängert sich das Mandat bis zur Beendigung des Ausnahmezustands oder Notstands. (3) Der Präsident der Republik kann das Parlament, das aufgelöst wurde oder sich selbst aufgelöst hat, im Falle des Kriegszustands, der Kriegsgefahr oder eines Notstands erneut einberufen. Über die Verlängerung seines Mandats entscheidet das Parlament selbst. III. Kapitel Der Präsident der Republik § 29 (1) Staatsoberhaupt Ungarns ist der Präsident der Republik, der die Einheit der Nation zum Ausdruck bringt und über die demokratische Tätigkeit der Staatsorganisation wacht. (2) Der Präsident der Republik ist der Oberbefehlshaber der bewaffneten Kräfte. § 29/A (1) Der Präsident der Republik wird vom Parlament auf vier Jahre gewählt. (2) Zum Präsidenten der Republik kann jeder über das Wahlrecht verfügende Staatsbürger, der am Tag der Wahl das 35. Lebensjahr vollendet hat, gewählt werden.

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(3) Der Präsident der Republik kann in dieses Amt maximal einmal wiedergewählt werden. § 29/B (1) Der Wahl des Präsidenten der Republik geht eine Kandidatur voraus. Für die Geltendmachung der Kandidatur ist die schriftliche Empfehlung von mindesten 50 Mitgliedern des Parlaments notwendig. Die Kandidatur muss beim Parlamentspräsidenten vor der Anordnung der Abstimmung eingereicht werden. Jedes Mitglied des Parlaments darf nur einen Kandidaten vorschlagen. Sämtliche Vorschläge derjenigen Person, die mehrere Kandidaten vorschlägt, sind ungültig. (2) Das Parlament wählt den Präsidenten der Republik in geheimer Abstimmung. Bei Bedarf finden mehrere Abstimmungen statt. Bei der ersten Abstimmung wird derjenige zum Präsidenten der Republik gewählt, der eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordnetenstimmen erhält. (3) Wenn bei der ersten Abstimmung keiner der Kandidaten diese Mehrheit erhält, dann muss gemäß Absatz (1) anhand eines neuen Vorschlags erneut eine Abstimmung abgehalten werden. Zur Wahl im zweiten Wahlgang ist ebenfalls eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordnetenstimmen notwendig. (4) Wenn bei der zweiten Abstimmung keiner der Kandidaten die erforderliche Mehrheit erringt, dann muss ein dritter Wahlgang abgehalten werden. Bei dieser Gelegenheit kann nur für die beiden Kandidaten gestimmt werden, die bei der zweiten Abstimmung die meisten Stimmen erhalten haben. Bei der dritten Abstimmung wird derjenige zum Präsidenten der Republik gewählt, der – unbeachtet der Zahl der an der Abstimmung teilnehmenden Personen – die Mehrheit der Stimmen erhält. (5) Das Abstimmungsverfahren muss innerhalb von höchstens drei aufeinanderfolgenden Tagen abgeschlossen sein. § 29/C (1) Der Präsident der Republik muss mindestens 30 Tage vor Ablauf des Mandats des vorherigen Präsidenten oder – wenn das Mandat vorzeitig endet – innerhalb von 30 Tagen nach der Beendigung des Mandats gewählt werden. (2) Die Wahl des Präsidenten wird vom Parlamentspräsidenten festgesetzt. § 29/D Der gewählte Präsident der Republik tritt sein Amt bei Ablauf des Mandats des früheren Präsidenten bzw. – im Falle der vorzeitigen Beendigung des Mandats – am achten Tag nach der Verkündung des Ergebnisses der ausgeschriebenen Wahl an. Vor seinem Amtsantritt legt er vor dem Parlament einen Eid ab. § 29/E (1) Im Falle einer vorübergehenden Verhinderung des Präsidenten der Republik oder einer vorzeitigen Beendigung des Mandats des Präsidenten der Republik aus irgendeinem Grund übt der Parlamentspräsident die Befugnisse des Präsidenten der Republik bis zum Amtsantritt des neuen Präsidenten der Republik mit der Einschränkung aus, dass er dem Parlament kein Gesetz zur Überarbeitung bzw. dem Verfassungsgericht zur Überprüfung übersenden darf, er das Parlament nicht auflösen darf und das Begnadigungsrecht nur zugunsten rechtskräftig verurteilter Personen ausüben darf.



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(2) Zur Zeit der Vertretung des Präsidenten der Republik darf der Parlamentspräsident seine Abgeordnetenrechte nicht ausüben. An seiner Stelle versieht ein vom Parlament bestimmter Vizepräsident die Aufgaben des Parlamentspräsidenten. § 30 (1) Das Amt des Präsidenten der Republik ist mit allen anderen staatlichen, gesellschaftlichen und politischen Ämtern oder Mandaten unvereinbar. Der Präsident der Republik darf keiner anderen Erwerbstätigkeit nachgehen und darf für seine sonstigen Tätigkeiten – mit Ausnahme von Tätigkeiten, die unter den Urheberrechtsschutz fallen – keine Vergütung annehmen. (2) Das Ehrengehalt des Präsidenten der Republik, die ihm zustehenden Vergünstigungen und die Summe der ihm gebührenden Aufwandsentschädigung regelt ein Gesetz mit Verfassungsrang. § 30/A (1) Der Präsident der Republik a) vertritt den ungarischen Staat, b) schließt im Namen der Republik Ungarn internationale Verträge; wenn der Vertragsgegenstand in den Zuständigkeitsbereich der Gesetzgebung fällt, ist eine vorherige Zustimmung des Parlaments notwendig, c) beauftragt und empfängt die Botschafter und Gesandten, d) schreibt die Parlaments- und Rätewahlen aus, e) kann an den Sitzungen des Parlaments und der Parlamentsausschüsse teilnehmen und dort das Wort ergreifen, f) kann dem Parlament einen Vorschlag für eine Maßnahme unterbreiten, g) kann eine Volksabstimmung initiieren, h) ernennt und entlässt – auf einen über den Vorsitzenden des Ministerrates unterbereiteten Vorschlag des zuständigen Ministers – die Staatssekretäre, i) ernennt und entlässt auf Vorschlag von Organen, die in einem gesonderten Gesetz bestimmt werden, die Vizepräsidenten der Ungarischen Nationalbank und die Universitätsprofessoren; er beauftragt und entlässt die Rektoren der Universitäten; er ernennt und befördert die Generäle; er bestätigt den Präsidenten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in seinem Amt, j) er verleiht die gesetzlich geregelten Titel, Orden und Auszeichnungen und genehmigt ihr Tragen, k) er übt das Recht der individuellen Begnadigung aus, i) er entscheidet in Fragen der Staatsbürgerschaft, m) er entscheidet in allen Angelegenheiten, die ein gesondertes Gesetz in seinen Zuständigkeitsbereich verweist. (2) Für alle in Absatz (1) festgelegten Maßnahmen und Verfügungen benötigt der Präsident der Republik – mit Ausnahme der in den Punkten a), d), f) und g) festgelegten Angelegenheiten – die Gegenzeichnung des Vorsitzenden des Ministerrats oder des zuständigen Ministers. § 31 (1) Das Mandat des Präsidenten endet: a) mit Ablauf der Dauer des Mandats, b) mit dem Tod des Präsidenten,

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c) mit einem Zustand, der die Erledigung seiner Aufgaben über neunzig Tage hinaus unmöglich macht, d) mit der Erklärung der Inkompatibilität, e) mit dem Rücktritt, f) mit der Amtsenthebung als Präsident. (2) Tritt gegenüber dem Präsidenten der Republik während der Ausübung seines Amtes ein Inkompatibilitätsgrund (§ 30, Absatz 1) hervor, entscheidet das Parlament auf Antrag eines jeden Abgeordneten über die Verkündung der Inkompatibilität. Für die Beschlussfassung ist eine Zweidrittelmehrheit der Stimmen der Abgeordneten notwendig. Die Abstimmung ist geheim. (3) Der Präsident der Republik kann mit einer an das Parlament gerichteten Erklärung von seinem Mandat zurücktreten. Für die Gültigkeit des Rücktritts ist eine Zustimmungserklärung des Parlaments notwendig. Das Parlament kann den Präsidenten der Republik innerhalb von 15 Tagen ersuchen, seinen Entschluss zu überdenken. Wenn der Präsident der Republik an seiner Entscheidung festhält, dann darf das Parlament die Kenntnisnahme des Rücktritts nicht verweigern. (4) Der Präsident der Republik kann seines Amtes enthoben werden, wenn er während der Amtsausübung die Verfassung oder irgendein anderes Gesetz vorsätzlich verletzt. Für diese Entscheidung ist eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordnetenstimmen notwendig. § 31/A (1) Die Person des Präsidenten der Republik ist unverletzlich, ihren strafrechtlichen Schutz garantiert ein gesondertes Gesetz. (2) Verstößt der Präsident der Republik während der Ausübung seines Amtes gegen die Verfassung oder gegen irgendein anderes Gesetz, dann kann ein Fünftel der Parlamentsabgeordneten den Antrag stellen, ihn zur Verantwortung zu ziehen. (3) Zur Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung der Verantwortlichkeit ist eine Zweidrittelmehrheit der Stimmen der Abgeordneten notwendig. Die Abstimmung ist geheim. (4) Beginnend mit der Beschlussfassung des Parlaments bis zum Abschluss des Verfahrens zur Feststellung der Verantwortlichkeit darf der Präsident seine Kompetenzen nicht ausüben. (5) Die Beurteilung der Handlung gehört in den Kompetenzbereich eines Spruchrates, der vom Parlament aus den Reihen seiner eigenen Mitglieder gewählt wird und aus zwölf Personen besteht. (6) Wenn der Spruchrat als Ergebnis des Verfahrens die Tatsache der Gesetzesverletzung feststellt, dann unterbreitet er dem Parlament den Vorschlag, den Präsidenten von seinem Amt zu entbinden. § 32 (1) Wenn gegen den Präsidenten der Republik das Verfahren zur Feststellung der Verantwortlichkeit wegen einer Handlung, die er während seiner Amtszeit in Zusammenhang mit seiner Amtstätigkeit begangen hat und die strafrechtlich zu verfolgen ist, eingeleitet wird, dann müssen während des Verfahrens auch



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die grundlegenden Bestimmungen des Strafverfahrens angewendet werden. Die Anklage vertritt der Oberste Staatsanwalt. (2) Wegen einer sonstigen Handlung kann ein Strafverfahren gegen den Präsidenten der Republik erst nach Ablauf seines Mandats eingeleitet werden. (3) Gegen den Präsidenten der Republik kann jede im Strafgesetzbuch für die entsprechende Handlung festgelegte Strafe und Maßnahme verhängt werden. Wenn der Spruchrat die Schuld des Präsidenten der Republik wegen einer vorsätzlich begangenen Straftat feststellt, dann verhängt er eine Strafe bzw. wendet eine Maßnahme an und er kann außerdem dem Parlament vorschlagen, den Präsidenten seines Amtes zu entheben. IV. Kapitel Das Verfassungsgericht § 32/A (1) Das Verfassungsgericht überprüft die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsnormen bzw. nimmt die ihm per Gesetz in seinen Kompetenzbereich verwiesenen Aufgaben wahr. (2) Das Verfassungsgericht hebt Gesetze und andere Rechtsnormen für den Fall, dass ihre Verfassungswidrigkeit festgestellt wird, auf. (3) Ein Verfahren des Verfassungsgerichts kann von jedermann in den gesetzlich festgelegten Fällen initiiert werden. (4) Die fünfzehn Mitglieder des Verfassungsgerichts werden vom Parlament gewählt. Zur Wahl der Mitglieder des Verfassungsgerichts ist eine Zweidrittelmehrheit der Stimmen der Parlamentsabgeordneten notwendig. (5) Die Mitglieder des Verfassungsgerichts dürfen keine Mitglieder einer Partei sein und sie dürfen keiner politischen Tätigkeit, die außerhalb der sich aus ihrem Kompetenzbereich ergebenden Aufgaben liegt, nachgehen. (6) Die Organisation und die Tätigkeit des Verfassungsgerichts werden in einem Gesetz mit Verfassungsrang geregelt. V. Kapitel Der Ombudsmann für Staatsbürgerrechte § 32/B (1) Aufgabe des Ombudsmanns für Staatsbürgerrechte ist es, Missstände, die ihm in Verbindung mit Verfahren, welche die verfassungsmäßigen Rechte berühren, zur Kenntnis gelangt sind, zu untersuchen oder untersuchen zu lassen sowie zu ihrer Abhilfe allgemeine oder individuelle Maßnahmen zu ergreifen. (2) Ein Verfahren des Ombudsmanns kann von jedermann in den gesetzlich festgelegten Fällen initiiert werden. (3) Der Ombudsmann wird auf Vorschlag des Präsidenten der Republik vom Parlament gewählt. Zum Schutz einzelner verfassungsmäßiger Rechte kann das Parlament auch einen eigenen Beauftragten wählen.

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(4) Der Ombudsmann erstattet dem Parlament jährlich Bericht über die Erfahrungen bei seiner Tätigkeit. (5) Die sich auf den Ombudsmann beziehenden Detailregelungen legt ein Gesetz mit Verfassungsrang fest. VI. Kapitel Der Staatliche Rechnungshof § 32/C (1) Der Staatliche Rechnungshof ist das finanziell-wirtschaftliche Kontrollorgan des Parlaments. Er kontrolliert in seinem Aufgabenbereich die Wirtschaftsführung des Staatshaushaltes und in diesem Rahmen die Fundiertheit der staatlichen Haushaltsvorlagen, die Notwendigkeit der Aufwendungen und ihre Zweckmäßigkeit, er zeichnet die Verträge zur Kreditaufnahme des Haushalts gegen, er überprüft im Voraus die Gesetzmäßigkeit der Verwendung des Staatshaushaltes, er überprüft die Abschlussrechnung über die Durchführung des Staatshaushaltes, er kontrolliert die Handhabung des staatlichen Vermögens und die vermögenserhaltende und vermögensmehrende Tätigkeit der sich in staatlichem Eigentum befindenden Unternehmen und Unternehmungen und er versieht sonstige, per Gesetz in seinen Zuständigkeitsbereich verwiesene Aufgaben. (2) Der Staatliche Rechnungshof führt seine Kontrollaufgaben nach den Gesichtspunkten der Gesetzmäßigkeit, der Zweckmäßigkeit und der Effektivität durch. Der Staatliche Rechnungshof informiert das Parlament in einem Bericht, den er über die Kontrollen abgefasst. Der Bericht muss veröffentlicht werden. Der Präsident des Staatlichen Rechnungshofes legt den Bericht über die Kontrolle der Abschlussrechnung zusammen mit der Abschlussrechnung dem Parlament vor. (3) Der Präsident und die Vizepräsidenten des Staatlichen Rechnungshofes werden vom Parlament gewählt; die mit der Abrechnung beauftragten Personen werden vom Präsidenten des Staatlichen Rechnungshofes angestellt. (4) Die Organisation und Tätigkeit des Staatlichen Rechnungshofes wird von einem Gesetz mit Verfassungsrang bestimmt. VII. Kapitel Der Ministerrat § 33 (1) Der Ministerrat (die Regierung) setzt sich a) aus dem Vorsitzenden des Ministerrates, b) aus den Staatsministern und c) aus den Ministern zusammen. (2) Der Vorsitzende des Ministerrates wird von dem von ihm bestimmten Staatsminister vertreten.



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(3) Zur Regierungsbildung erteilt der Präsident der Republik nach der Anhörung der Leiter der Abgeordnetengruppen der im Parlament vertretenen Parteien und außerdem des Beauftragten der keiner Partei angehörenden Abgeordneten den Auftrag. Über die Wahl des Ministerrats und über die Annahme seines Programms entscheidet das Parlament gleichzeitig. Das Mandat des Ministerrates dauert bis zum Amtsantritt des neuen, vom Parlament gewählten Ministerrats. (4) Über die Wahl und Entlassung der einzelnen Minister entscheidet das Parlament anhand des Vorschlags des Vorsitzenden des Ministerrats. (5) Die Mitglieder des Ministerrats legen nach ihrer Wahl vor dem Parlament einen Eid ab. § 34 Die Aufzählung der Ministerien der Republik Ungarn ist in einem Gesetz mit Verfassungsrang enthalten. § 35 (1) Der Ministerrat a) schützt die verfassungsmäßige Ordnung und schützt und gewährleistet die Rechte der Staatsbürger; b) sorgt für die Durchführung der Gesetze; c) leitet die Arbeit der Ministerien und der sonstigen, ihm unmittelbar unterstellten Organe und koordiniert ihre Tätigkeiten; d) versieht die Gesetzlichkeitsaufsicht über die Räte; e) gewährleistet die Ausarbeitung der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Pläne und sorgt sich um ihre Verwirklichung; f) entscheidet über die staatlichen Aufgaben der wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklung und stellt die zu ihrer Verwirklichung notwendigen Bedingungen sicher; g) entscheidet über das staatliche System der Sozial- und Gesundheitsversorgung und kümmert sich um die finanzielle Deckung der Versorgung; h) leitet den Einsatz der bewaffneten Kräfte, der Polizei und der Ordnungsorgane; i) unternimmt die notwendigen Maßnahmen zur Abwendung von Naturkatastrophen und ihren Folgen, die die Sicherheit von Leben und Vermögen der Staatsbürger gefährden (im Folgenden: Gefahrensituation), sowie zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit; j) wirkt bei der Gestaltung der Außenpolitik mit und schließt im Namen der Regierung der Republik Ungarn internationale Verträge; k) versieht alle Aufgaben, die per Gesetz in seinen Kompetenzbereich verwiesen werden. (2) Der Ministerrat erlässt in seinem eigenen Aufgabenbereich Verordnungen und fasst Beschlüsse. Diese unterzeichnet der Vorsitzende des Ministerrats. Verordnungen und Beschlüsse des Ministerrats dürfen nicht in Widerspruch zum Gesetz stehen. Die Verordnungen des Ministerrats müssen im Amtsblatt veröffentlicht werden.

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(3) In einer Gefahrensituation darf der Ministerrat auf der Grundlage einer Ermächtigung durch das Parlament Verordnungen erlassen und Maßnahmen treffen, die von den Bestimmungen einzelner Gesetze abweichen. Die in einer Gefahrensituation anwendbaren Bestimmungen legt ein Gesetz mit Verfassungsrang fest. (4) Der Ministerrat hebt – mit Ausnahme von Rechtsnormen – alle Beschlüsse oder Maßnahmen von untergeordneten Organen auf oder verändert sie, wenn sie gegen ein Gesetz verstoßen. § 36 Im Zuge der Durchführung seiner Aufgaben arbeitet der Ministerrat mit den betroffenen gesellschaftlichen Organisationen zusammen. § 37 (1) Der Vorsitzende des Ministerrats leitet die Sitzungen des Ministerrats und sorgt für die Durchführung der Verordnungen und Beschlüsse des Ministerrats. (2) Die Minister leiten entsprechend den Bestimmungen der Rechtsnormen und den Beschlüssen des Ministerrats die zu ihrem Aufgabenbereich gehörenden Zweige der Staatsverwaltung und lenken die ihnen unterstellten Organe. (3) Der Vorsitzende und die Mitglieder des Ministerrats können im Rahmen der Erledigung ihrer Aufgaben Verordnungen erlassen. Diese dürfen aber nicht im Widerspruch zu den Gesetzen oder zu den Verordnungen und Beschlüssen des Ministerrats stehen. Die Verordnungen müssen im Amtsblatt veröffentlicht werden. § 38 Der mit der Leitung eines Organs mit landesweiten Kompetenzen beauftragte Staatssekretär kann – in einem vom Ministerrat bestimmten Aufgabenbereich – Anordnungen erlassen, die für die Staatsbürger, die Staatsorgane und die Wirtschaftsorganisationen verbindlich sind. Diese müssen im Amtsblatt veröffentlicht werden. Diese Anordnungen dürfen nicht im Widerspruch zu den vom Parlament und vom Ministerrat verabschiedeten Rechtsnormen sowie zu den Verordnungen der Minister stehen. § 39 (1) Der Ministerrat ist dem Parlament für seine Tätigkeit verantwortlich. Über seine Arbeit muss er dem Parlament regelmäßig Bericht erstatten. (2) Die Mitglieder des Ministerrats sind dem Ministerrat und dem Parlament gegenüber verantwortlich und sie sind verpflichtet, dem Ministerrat und dem Parlament Bericht über ihre Tätigkeit zu erstatten. Die Rechtsstellung der Mitglieder des Ministerrats und der Staatssekretäre, ihre Entlohnung und die Art und Weise, wie sie zur Verantwortung gezogen werden, regelt ein Gesetz mit Verfassungsrang. (3) Die Mitglieder des Ministerrats können an den Sitzungen des Parlaments teilnehmen und dort das Wort ergreifen. § 39/A (1) Mindestens ein Fünftel der Abgeordneten kann gegen den Ministerrat oder jedes seiner Mitglieder einen Misstrauensantrag einreichen. Ein gegen den Vorsitzenden des Ministerrats eingereichter Misstrauensantrag ist als Misstrauensantrag gegen den Ministerrat zu betrachten.



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(2) Die Debatte und Abstimmung über den Antrag dürfen frühestens drei Tage nach der Einreichung des Antrags und müssen innerhalb von acht Tagen nach ihrer Einreichung abgehalten werden. (3) Der Ministerrat kann – über seinen Vorsitzenden – eine Vertrauensabstimmung gemäß den in Absatz (2) vorgeschriebenen Fristen vorschlagen. (4) Der Ministerrat kann – über seinen Vorsitzenden – auch vorschlagen, dass die Abstimmung über eine von ihm eingebrachte Vorlage zugleich eine Vertrauensabstimmung sein soll. § 39/B (1) Im Falle des Vertrauensentzugs bleibt der Ministerrat bis zur Wahl eines neuen Ministerrats im Amt und übt alle Rechte aus, die dem Ministerrat zustehen; er darf allerdings keine internationalen Verträge schließen und Verordnungen nur aufgrund einer ausdrücklichen Vollmacht per Gesetz in unaufschiebbaren Fällen erlassen. (2) Das Parlament entscheidet über die Wahl eines neuen Ministerrats innerhalb von vierzig Tagen nach dem Vertrauensentzug. § 40 (1) Der Ministerrat kann zur Erledigung bestimmte Aufgabenbereiche Regierungskommissionen einsetzen. (2) Der Ministerrat kann in jeglicher, zum Aufgabenbereich der Staatsverwaltung gehörender Angelegenheit unmittelbar oder durch eines seiner Mitglieder Maßnahmen treffen. (3) Der Ministerrat ist berechtigt, jeden Zweig der Staatsverwaltung unter seine unmittelbare Aufsicht zu stellen und dazu eigene Organe zu schaffen. VIII. Kapitel Die bewaffneten Kräfte und die Polizei § 40/A (1) Grundlegende Pflicht der bewaffneten Kräfte (Ungarische Volksarmee, Grenzschutz) ist die militärische Verteidigung des Landes. Die Aufgaben der bewaffneten Kräfte und die sich auf sie beziehenden Detailregelungen regelt ein Gesetz mit Verfassungsrang. (2) Grundlegende Aufgabe der Polizei ist der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der inneren Ordnung. Die Detailbestimmungen in Verbindung mit der Polizei und der Sicherheit des Staates legt ein Gesetz mit Verfassungsrang fest. § 40/B (1) Die bewaffneten Kräfte dürfen die Staatsgrenzen – mit Ausnahme von Manövern, die auf geltenden internationalen Verträgen basieren, bzw. von friedenserhaltenden Tätigkeiten, die auf Ersuchen der Organisation der Vereinten Nationen durchgeführt werden, ohne vorherige Zustimmung des Parlaments nicht überschreiten. (2) Die bewaffneten Kräfte können im Falle von bewaffneten Handlungen, die auf den Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung oder auf die alleinige Aneignung der Macht ausgerichtet sind, sowie im Falle von schweren, mit Waffengewalt oder bewaffnet verübten Gewalttaten, die in massenhaftem Ausmaß die Sicherheit

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von Leben und Vermögen der Staatsbürger gefährden, während des gemäß den Verfassungsbestimmungen verkündeten Notstands eingesetzt werden, wenn der Einsatz der Polizei hierfür nicht ausreicht. (3) Zur Leitung der bewaffneten Kräfte sind – wenn dies durch internationale Verträge nicht anders bestimmt wird – ausschließlich das Parlament, der Präsident der Republik, der Verteidigungsrat, der Ministerrat und der zuständige Minister im in der Verfassung und einem gesondert geregelten Rahmen befugt. (4) Für die Aktivitäten der im Dienst stehenden Mitglieder der bewaffneten Kräfte und der Polizei in einer Partei stellt ein Gesetz mit Verfassungsrang Beschränkungen fest. § 40/C (1) Fremde bewaffnete Kräfte dürfen – sofern durch geltende internationale Verträge nicht anders geregelt – ohne vorherige Zustimmung des Parlaments auf dem Gebiet des Landes nicht durchmarschieren sowie nicht eingesetzt und nicht stationiert werden. (2) Internationale, die Landesverteidigung betreffende Verträge müssen per Gesetz bekräftigt und öffentlich verkündet werden. IX. Kapitel Die Räte § 41 (1) Das Gebiet der Republik Ungarn gliedert sich in Hauptstadt, Komitate, Städte und Gemeinden. (2) Die Hauptstadt und die Städte können in Bezirke gegliedert werden. § 42 (1) In der Hauptstadt, in den Komitaten, in den Bezirken der Hauptstadt, in den Städten und in den Gemeinden sind Räte tätig. Städte und Gemeinden bzw. mehrere Gemeinden können auch gemeinsam einen Rat bilden. (2) Die Räte werden für einen Zeitraum von vier Jahren gewählt. (3) Der Rat versieht seine Aufgaben unter aktiver Mitwirkung der Bevölkerung, er stützt sich bei seiner Arbeit unmittelbar auf die gesellschaftlichen Organisationen und arbeitet mit Organen, die keine Räte sind, zusammen. (4) Die Mitglieder der Räte sind verpflichtet, ihren Wählern über die Arbeit des Rats und über ihre eigene Tätigkeit regelmäßig Bericht zu erstatten. § 43 (1) Der Rat a) vertritt die Interessen der Bevölkerung und bildet in seinem Tätigkeitsgebiet das Selbstverwaltungsorgan der Bevölkerung, b) kümmert sich um die Verwirklichung der zentralen staatlichen und örtlichen Ziele, um die selbstständige Erledigung der in seinen Zuständigkeitsbereich verwiesenen Aufgaben und um die Durchführung der Rechtsnormen, c) bestimmt – unter Berücksichtigung des gesellschaftlich-wirtschaftlichen Plans des Landes und des Staatshaushalts – seine Pläne und seinen Haushalt, leitet und kontrolliert die Durchführung der Pläne und die Verwendung des Budgets und wirtschaftet mit seinen materiellen Mitteln selbstständig,



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d) kümmert sich um die Gebiets- und Siedlungsentwicklung und um die Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung, e) wirkt beim Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung mit. (2) In seinem Tätigkeitsbereich kann der Rat Verordnungen erlassen oder Beschlüsse fassen. Diese dürfen allerdings nicht im Widerspruch zu den Gesetzen, den Verordnungen oder den Beschlüssen des Ministerrats, den Verordnungen der Minister, den Verfügungen der Staatssekretäre oder den Verordnungen der übergeordneten Räte stehen. § 44 (1) Der Rat wählt einen Exekutivausschuss, bildet Ausschüsse und ruft Organe der Fachverwaltung ins Leben. Er kann Unternehmen und Institutionen gründen. (2) Die sich auf die Räte beziehenden Detailregelungen werden in einem Gesetz mit Verfassungsrang festgelegt. X. Kapitel Die Gerichtsorganisation § 45 (1) In der Republik Ungarn wird die Rechtsprechung vom Obersten Gericht der Republik Ungarn, vom Hauptstädtischen Gericht und von den Komitatsgerichten sowie von den örtlichen Gerichten ausgeübt. (2) Das Gesetz kann für bestimmte Gruppen von Angelegenheiten auch die Einrichtung von besonderen Gerichten anordnen. § 46 Die Gerichte treffen ihr Urteil in Räten, die sich aus Berufsrichtern und Schöffen zusammensetzen. Das Gesetz kann Ausnahmen von dieser Regelung zulassen. § 47 Das Oberste Gericht der Republik Ungarn übt die prinzipielle Leitung über die richterliche Tätigkeit und Rechtsprechung aller Gerichte aus. Die Richtlinien und prinzipiellen Beschlüsse des Obersten Gerichts sind für alle Gerichte verpflichtend. § 48 (1) Der Präsident des Obersten Gerichts wird auf Vorschlag des Präsidenten der Republik vom Parlament gewählt, seine Stellvertreter werden auf Vorschlag des Präsidenten des Obersten Gerichts vom Präsidenten der Republik ernannt. (2) Die Berufsrichter werden vom Präsidenten der Republik auf gesetzlich vorgeschriebene Art und Weise ernannt. (3) Die Richter können ihres Amtes nur aus einem gesetzlich festgeschriebenen Grund und im Rahmen eines gesetzlich festgeschriebenen Verfahrens enthoben werden. § 49 Außer Kraft gesetzt. § 50 (1) Die Gerichte der Republik Ungarn schützen und gewährleisten die verfassungsmäßige Ordnung, die Rechte der Staatsbürger und ihre gesetzmäßigen Interessen und bestrafen diejenige, die strafbare Handlungen begehen. (2) Die Gerichte kontrollieren die Gesetzmäßigkeit von Verwaltungsbeschlüssen. (3) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz untergeordnet. Richter dürfen keiner Partei angehören und keiner politischen Tätigkeit nachgehen.

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(4) Die die Gerichte betreffenden Bestimmungen regelt ein Gesetz mit Verfassungsrang. XI. Kapitel Die Staatsanwaltschaft § 51 (1) Der Oberste Staatsanwalt der Republik Ungarn und die Staatsanwaltschaft sorgen für den Schutz der Rechte der Staatsbürger sowie für die konsequente Verfolgung aller Handlungen, die die verfassungsmäßige Ordnung sowie die Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes verletzen oder gefährden. (2) Die Staatsanwaltschaft führt in den gesetzlich festgeschriebenen Angelegenheiten Ermittlungen durch, übt die Aufsicht über die Gesetzmäßigkeit der Ermittlungen aus, vertritt im Gerichtsverfahren die Anklage und übt die Aufsicht über die Gesetzmäßigkeit des Strafvollzugs aus. (3) Die Staatsanwaltschaft trägt dazu bei zu gewährleisten, dass alle Organisationen der Gesellschaft, alle staatlichen Organe und alle Staatsbürger die Gesetze einhalten. Im Falle einer Gesetzesverletzung tritt sie – in den gesetzlich geregelten Fällen und auf gesetzlich festgelegte Art und Weise – zum Schutz der Gesetzmäßigkeit auf. § 52 (1) Der Oberste Staatsanwalt der Republik Ungarn wird auf Vorschlag des Präsidenten der Republik vom Parlament gewählt, die Stellvertreter des Obersten Staatsanwalts werden auf Vorschlag des Obersten Staatsanwalts vom Präsidenten der Republik ernannt. (2) Der Oberste Staatsanwalt ist dem Parlament gegenüber verantwortlich und ist verpflichtet, über seine Tätigkeit Bericht zu erstatten. § 53 (1) Die Staatsanwälte werden vom Obersten Staatsanwalt der Republik Ungarn ernannt. (2) Die Staatsanwälte dürfen keine Mitglieder einer Partei sein und keine politische Tätigkeit verfolgen. (3) Die staatsanwaltschaftliche Organisation leitet und lenkt der Oberste Staatsanwalt. (4) Die sich auf die Staatsanwaltschaft beziehenden Regelungen werden durch ein Gesetz mit Verfassungsrang festgelegt. XII. Kapitel Grundrechte und -pflichten § 54 (1) In der Republik Ungarn hat jeder Mensch ein angeborenes Recht auf Leben und Menschenwürde. Diesem Recht darf niemand willkürlich beraubt werden. (2) Niemand darf Folterung, grausamer, unmenschlicher und demütigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen werden. Es ist insbesondere untersagt,



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an Menschen ohne ihre Zustimmung medizinische oder wissenschaftliche Versuche durchzuführen. § 55 (1) In der Republik Ungarn besitzt jedermann das Recht auf Freiheit und persönliche Sicherheit. Niemand darf anders als aus den gesetzlich festgeschriebenen Gründen und in einem gesetzlich festgeschriebenen Verfahren seiner Freiheit beraubt werden. (2) Derjenige, der ungesetzlich das Opfer einer Verhaftung oder Inhaftierung geworden ist, hat Anspruch auf Entschädigung. § 56 In der Republik Ungarn ist jeder Mensch rechtsfähig. § 57 (1) In der Republik Ungarn ist jedermann vor Gericht gleich und jeder hat das Recht, dass ein unabhängiges und unparteiisches, durch Gesetz geschaffenes Gericht jede gegen ihn erhobene Anklage oder seine Rechte und Pflichten in einem Prozess bei einer gerechten und öffentlichen Verhandlung beurteilt. (2) In der Republik Ungarn darf niemand als schuldig angesehen werden, bis seine strafrechtliche Verantwortung durch einen rechtskräftigen Beschluss eines Gerichts festgestellt wurde. (3) Personen, die einem Strafverfahren unterworfen sind, steht in jeder Phase des Verfahrens das Recht auf Verteidigung zu. Der Verteidiger darf für seine Meinung, die er während des Verfahrens zum Ausdruck gebracht hat, nicht zur Verantwortung gezogen werden. (4) Niemand darf wegen einer Handlung, die zur Tatzeit nach ungarischem Recht keine Straftat darstellte, für schuldig erklärt und bestraft werden. (5) In der Republik Ungarn kann jedermann entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen gegen die Beschlüsse von Gericht, Verwaltung und anderen Behörden, die sein Recht oder sein berechtigtes Interesse verletzen, Rechtsmittel einlegen. § 58 (1) Jedermann, der sich rechtmäßig auf dem Gebiet Ungarns aufhält, steht – mit Ausnahme gesetzlich festgeschriebener Fälle – das Recht auf freie Bewegung und auf die freie Wahl des Aufenthaltsorts zu, einschließlich des Rechts auf Verlassen des Wohnorts oder des Landes. (2) Ausländer, die sich rechtmäßig auf dem Gebiet Ungarns aufhalten, dürfen nur aufgrund eines gemäß den Gesetzen getroffenen Beschlusses ausgewiesen werden. § 59 In der Republik Ungarn steht jedermann das Recht auf einen guten Leumund, auf die Unverletzlichkeit der Privatwohnung sowie auf den Schutz der Privatgeheimnisse und persönlichen Daten zu. § 60 (1) In der Republik Ungarn hat jedermann das Recht auf Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit. (2) Dieses Recht umfasst die freie Wahl oder Annahme einer Religion oder einer anderen Gewissensüberzeugung sowie die Freiheit, einen Glauben oder eine Überzeugung auf dem Wege der Praktizierung religiöser Handlungen und Rituale oder auf sonstige Art und Weise sowohl individuell als auch gemeinschaftlich

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mit anderen öffentlich oder in privatem Kreise zu verkünden, die Verkündung zu unterlassen, auszuüben oder zu lehren. (3) In der Republik Ungarn ist die Kirche getrennt vom Staat tätig. § 61 (1) In der Republik Ungarn hat jedermann das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie dazu, Informationen von öffentlichem Interesse zu erhalten bzw. zu verbreiten. (2) Die Republik Ungarn erkennt die Pressefreiheit an und schützt sie. § 62 Die Republik Ungarn erkennt das Recht auf friedliche Versammlung an und sichert seine freie Ausübung. § 63 (1) In der Republik Ungarn hat jedermann aufgrund des Vereinigungsrechts das Recht, zu einem gesetzlich nicht verbotenen Zweck Organisation zu gründen bzw. sich diesen anzuschließen. (2) Politischen Zielen dienende bewaffnete Organisationen dürfen auf der Grundlage des Vereinigungsrechts nicht gegründet werden. § 64 In der Republik Ungarn hat jedermann das Recht, alleine oder zusammen mit anderen einen Antrag oder eine Beschwerde bei den zuständigen Staatsorganen einzureichen. § 65 (1) Die Republik Ungarn gewährt – gemäß den gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen – jenen ausländischen Staatsbürgern, die in ihrer Heimat, bzw. jenen Heimatlosen, die an ihrem Aufenthaltsort aus rassischen, religiösen, nationalen, sprachlichen oder politischen Gründen verfolgt werden, ein Asylrecht. (2) Personen, die das Asylrecht genießen, dürfen nicht an andere Staaten ausgeliefert werden. § 66 (1) Die Republik Ungarn stellt die Gleichberechtigung von Männern und Frauen hinsichtlich aller bürgerlichen und politischen sowie wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sicher. (2) In der Republik Ungarn muss den Müttern vor und nach der Kindergeburt – gemäß gesonderten Bestimmungen – Unterstützung und Schutz gewährt werden. (3) Bei der Ausübung der Arbeit gewährleisten auch gesonderte Bestimmungen den Schutz der Frauen und der Jugendlichen. § 67 (1) In der Republik Ungarn steht jedem Kind seitens der Familie, des Staates und der Gesellschaft das Recht auf Schutz und Fürsorge, der bzw. die zu seiner angemessenen körperlichen, geistigen und moralischen Entwicklung notwendig ist, zu. (2) Den Eltern steht das Recht zu, die Erziehung ihrer Kinder zu wählen. (3) Die staatlichen Aufgaben in Verbindung mit der Situation und dem Schutz der Familien und der Jugend werden in gesonderten Bestimmungen festgehalten. § 68 (1) Die in der Republik Ungarn lebenden nationalen und ethnischen Minderheiten sind Teilhaber an der Macht des Volkes, sie sind staatsbildende Faktoren. (2) Die Republik Ungarn lässt den nationalen und sprachlichen Minderheiten Schutz zuteilwerden. Sie gewährleistet ihre kollektive Teilnahme am öffentlichen Leben, die Pflege ihrer eigenen Kultur, die Verwendung ihrer Muttersprache, den



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muttersprachlichen Unterricht und den Gebrauch des Namens in der eigenen Sprache. § 69 (1) In der Republik Ungarn darf niemand willkürlich seiner ungarischen Staatsbürgerschaft beraubt oder ein ungarischer Staatsbürger aus dem Gebiet der Republik Ungarn ausgewiesen werden. (2) Ein ungarischer Staatsbürger darf jederzeit aus dem Ausland heimkehren. (3) Jeder ungarische Staatsbürger ist dazu berechtigt, während eines legalen Aufenthalts im Ausland den Schutz der Republik Ungarn in Anspruch zu nehmen. § 70 (1) Jeder volljährige ungarische Staatsbürger hat das Recht, bei den Parlamentsund Rätewahlen – wenn sein ständiger Wohnsitz in Ungarn liegt – zu wählen oder gewählt zu werden. (2) Diejenige Person, die unter einer ihre Handlungsfähigkeit beschränkenden oder ausschließenden Vormundschaft steht bzw. die durch ein rechtskräftiges Urteil von der Ausübung öffentlicher Angelegenheiten ausgeschlossen ist, sowie diejenige Person, die eine rechtskräftige Freiheitsstrafe verbüßt oder die sich zu einer – aufgrund einer im Zuge eines Strafverfahrens rechtskräftig verhängten – Zwangsheilbehandlung in einer Anstalt befindet, ist vom Wahlrecht ausgeschlossen. (3) Bei der Wahl der Mitglieder der örtlichen Räte steht – gemäß einem gesonderten Gesetz – das Wahlrecht auch nicht-ungarischen Staatsbürgern zu, die sich dauerhaft in Ungarn niedergelassen haben. (4) Jeder ungarische Staatsbürger hat das Recht, an der Ausübung öffentlicher Angelegenheiten teilzunehmen sowie entsprechend seiner Eignung, seiner Ausbildung und seines Fachwissens ein öffentliches Amt zu bekleiden. § 70/A (1) Die Republik Ungarn gewährt jeder sich auf ihrem Gebiet aufhaltenden Person die Menschen- bzw. Staatsbürgerrechte ohne jede Unterscheidung nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder anderer Meinung, nationaler oder sozialer Herkunft sowie Vermögens-, Geburts- oder sonstiger Situation. (2) Jegliche Diskriminierung von Menschen gemäß Absatz (1) wird vom Gesetz streng bestraft. (3) Die Republik Ungarn fördert die Verwirklichung der Rechtsgleichheit auch durch Maßnahmen, die die Überwindung der Chancenungleichheit bezwecken. § 70/B (1) In der Republik Ungarn steht jedermann das Recht auf Arbeit sowie auf freie Wahl von Arbeit und Beruf zu. (2) Für gleiche Arbeit steht jedermann – ohne jede Unterscheidung – das Recht auf gleichen Lohn zu. (3) Jede arbeitende Person hat das Recht auf ein Einkommen, das der Quantität und Qualität der von ihr verrichteten Arbeit entspricht. (4) Jedermann hat das Recht auf Erholung, Freizeit und regelmäßigen, bezahlten Urlaub.

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§ 70/C (1) Jedermann hat das Recht, zum Zwecke des Schutzes seiner wirtschaftlichen und sozialen Interessen zusammen mit anderen Personen eine Organisation zu gründen oder sich ihr anzuschließen. (2) Das Streikrecht darf im Rahmen der dieses Recht regelnden Gesetze ausgeübt werden. § 70/D (1) Personen, die auf dem Gebiet der Republik Ungarn leben, haben das Recht auf eine höchstmögliche körperliche und seelische Gesundheit. (2) Dieses Recht verwirklicht die Republik Ungarn mittels der Organisation von Arbeitsschutz, Gesundheitseinrichtungen und ärztlicher Versorgung sowie durch den Schutz der bebauten Umwelt. § 70/E (1) Die Staatsbürger der Republik Ungarn haben ein Recht auf soziale Sicherheit; im Falle von Alter, Krankheit, Invalidität, des Witwen- bzw. Witwerstandes und der Waisenschaft sowie der unverschuldeten Arbeitslosigkeit sind sie zu einer für ihr Auskommen erforderlichen Versorgung berechtigt. (2) Die Republik Ungarn verwirklicht das Recht auf Versorgung auf dem Wege der Sozialversicherung und durch ein System sozialer Institutionen. § 70/F (1) Die Republik Ungarn gewährleistet den Staatsbürgern das Recht auf Bildung. (2) Die Republik Ungarn verwirklicht dieses Recht durch die Ausweitung und allgemeine Gewährleistung der Bildung, durch die kostenlose und verpflichtende Grundschule, durch einen für jedermann auf der Grundlage seiner Fähigkeiten zugänglichen Mittel- und Hochschulunterricht sowie durch die materielle Unterstützung der am Unterricht teilnehmenden Personen. § 70/G (1) Die Republik Ungarn achtet und unterstützt die Freiheit des wissenschaftlichen und künstlerischen Lebens, die Freiheit zu Lehren und die Freiheit der Lehre. (2) Ausschließlich Wissenschaftler haben die Berechtigung, in Fragen der wissenschaftlichen Wahrheit zu entscheiden und den wissenschaftlichen Wert von Forschungen festzustellen. § 70/H (1) Jeder Staatsbürger der Republik Ungarn hat die Pflicht, seine Heimat zu verteidigen. (2) Alle Staatsbürger leisten auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht bewaffneten oder unbewaffneten Militärdienst bzw. gemäß den gesetzlich festgelegten Voraussetzungen Zivildienst. § 70/I Jeder Staatsbürger der Republik Ungarn ist verpflichtet, sich gemäß seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen an den öffentlichen Lasten zu beteiligen. § 70/J In der Republik Ungarn sind die Eltern und Sorgeberechtigten verpflichtet, für die Unterrichtung ihrer minderjährigen Kinder zu sorgen. § 70/K Ansprüche, die wegen der Verletzung grundlegender Rechte entstanden sind, sowie Beschwerden gegen staatliche Entscheidungen, die in Verbindung mit der Erfüllung von Pflichten getroffen wurden, können vor Gericht geltend gemacht werden.



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XIII. Kapitel Grundprinzipien der Wahlen § 71 (1) Die Abgeordneten des Parlaments sowie die Mitglieder der Gemeinderäte, der Stadträte und der hauptstädtischen Bezirksräte (die örtlichen Ratsmitglieder) werden auf der Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechts der Wahlbürger in unmittelbarer und geheimer Wahl gewählt. (2) Die Mitglieder des hauptstädtischen Rats, die Mitglieder der hauptstädtischen Bezirksräte, die Komitatsräte und die städtischen und Gemeinderäte werden in geheimer Abstimmung gewählt. (3) Die Wahl der Parlamentsabgeordneten und der Ratsmitglieder wird in einem gesonderten Gesetz festgelegt. § 72 Außer Kraft gesetzt. § 73 Außer Kraft gesetzt. XIV. Kapitel Symbole und Hauptstadt der Republik Ungarn § 74 Die Hauptstadt der Republik Ungarn ist Budapest. § 75 Die Hymne der Republik Ungarn ist die Dichtung mit dem Titel „Hymne“ von Ferenc Kölcsey mit der Musik von Ferenc Erkel. § 76 Über das Wappen, die Flagge und ihre Verwendung entscheidet ein Gesetz mit Verfassungsrang. XV. Kapitel Schlussbestimmungen § 77 (1) Die Verfassung ist das Grundgesetz der Republik Ungarn. (2) Die Verfassung und die verfassungsmäßigen Rechtsnormen sind für sämtliche Organisationen der Gesellschaft, für alle staatlichen Organe und Staatsbürger gleichermaßen verpflichtend. (3) Außer Kraft gesetzt. § 78 (1) Die Verfassung der Republik Ungarn tritt am Tage ihrer Verkündung in Kraft; für ihre Durchführung sorgt der Ministerrat. (2) Der Ministerrat ist verpflichtet, die zur Durchführung der Verfassung notwendigen Gesetzentwürfe dem Parlament zu unterbreiten. Quelle: A Magyar Köztársaság Alkotmánya. A Magyar Köztársaság Alkotmányáról szóló 1949. évi XX. törvény módosításokkal egységes szerkezetbe foglalt szövege. Közzétéve a Magyar Közlöny 1989. október 23-i, 74. számában [Die Verfassung der Repu­ blik Ungarn. Vereinheitlichter Text von Gesetz Nr. XX. des Jahres 1949 über die Verfas-

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sung der Republik Ungarn mit Änderungen. Veröffentlicht im Ungarischen Amtsblatt Nr. 74 vom 23. Oktober 1989]. Kaposvár 1989. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/U0-306685 (Zugriff: 06.11.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 54 Politischer Halbjahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest für das Bonner Auswärtige Amt vom 31. Oktober 1989 Der Halbjahresbericht der bundesdeutschen Botschaft in Budapest befasst sich vor dem Hintergrund der Selbstauflösung der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZMP) bzw. der Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) sowie der radikalen Revision der ungarischen Verfassungsordnung eingehend mit den innenpolitischen Entwicklungen in Ungarn. Diesbezüglich stellt die Botschaft fest, dass das „Reformwerk in Ungarn zunehmend festen Boden“ gewinne, wobei sie auf mehrere „Indizien“ verweist, darunter auf den Wandel des alten „Einparteien-Parlaments“ zu einer „konstituierenden Versammlung“, die Schaffung eines „Expertenkabinetts“ durch Ministerpräsident Miklós Németh zur beschleunigten Durchsetzung des Transformationsprozesses sowie die Entwicklung politischer Konturen und „regierungsfähiger Gruppierungen“ im neuen Parteiensystem. Hinsichtlich der Außenpolitik hebt der Bericht hervor, dass Ungarn – trotz seiner Mitgliedschaft im Warschauer Pakt und im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe – eine „autonome Außenpolitik“ verfolge und mit dem „endgültigen Ziel“ einer Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft den Beitritt zu „westeuropäischen Zusammenschlüssen“ suche. Außerdem strebe das Land danach, den Westen zu einer umfangreichen ökonomischen Unterstützung für den Transformationsprozess zu bewegen, wozu allerdings nur die Bundesrepublik und Österreich gewillt seien. Hinsichtlich der ungarischen Wirtschaft verweist der Bericht vor allem auf deren besorgniserregende Lage und hebt in diesem Zusammenhang unter anderem das Haushalts- und Leistungsbilanzdefizit sowie den Schuldenstand hervor. Bezüglich der Medienlandschaft verweist der Bericht auf deren dynamische Entwicklung und stellt fest, dass sich „die Pressefreiheit in Ungarn […] weiter gefestigt“ habe. Bezüglich der ungarischen Kulturpolitik spricht der Bericht davon, dass man die „Umrisse einer neuen kulturpolitischen Konzeption“ unter dem neuen Kultusminister Ferenc Glatz erkennen könne, wobei der Unterricht westlicher Fremdsprachen einen „deutlichen Schwerpunkt“ bilde. Wie abschließend aus dem Bericht hervorgeht, bildeten die Förderung der deutschen Sprache sowie die Unterstützung der ungarndeutschen Minderheit einen Schwerpunkt der Arbeit der bundesdeutschen Botschaft. Eine Analyse der bilateralen Beziehungen, die in den vorangegangenen



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Berichten einen zentralen Punkt bildete, fehlt auffälliger Weise in diesem Halbjahresbericht. *** Politischer Halbjahresbericht Ungarn Stand vom 31.10.1989 Nur zur Unterrichtung des Auswärtigen Amtes I. Zusammenfassender Überblick Seit dem 23.10.89 ist Ungarn nicht länger „Volksrepublik“. An diesen Tag, dem Gedenktag zum Beginn des Volksaufstandes 1956, rief Interimspräsident [Mátyás] Szűrös die „Republik“ Ungarn aus, nachdem das Parlament eine Verfassungsänderung hierzu und zur Einführung der wesentlichen Vorschriften für einen demokratischen, pluralistischen Rechtsstaat beschlossen hatte. Die frühere Staatspartei USAP [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] gründete sich auf ihrem Parteitag vom 06.–10.10.89 neu zur reformsozialistischen USP [Ungarische Sozialistische Partei]. Über die Zukunft der kommunistischen Parteigänger, in Weiterführung der USP oder in einer neuen Partei, herrscht noch Unsicherheit. Die Oppositionsparteien formieren sich zunehmend in zwei Gruppen: – Als mögliche Koalitionspartner der USP bieten sich an: Das Ungarische Demokratische Forum als zur Zeit wohl stärkste politische Gruppe, die Sozialdemokratische Partei Ungarns, aber auch die Christliche Partei62, die Volkspartei63 und die Partei der Kleinen Landwirte.64 – Als radikale Opposition dagegen verstehen sich die Allianz65 der Freien Demokraten sowie die Jugendorganisation FIDESZ [Bund Junger Demokraten]. Insgesamt tun sich die oppositionellen Gruppen und Parteien nach wie vor schwer, Breitenwirkung im Lande zu gewinnen. Zu den Schwierigkeiten aus ihrem eigenen Charakter: Einerseits Nostalgieparteien mit überalterter Führung, andererseits lose Gruppierungen Budapester Intelligenz, [hinzu] kommt für alle der Vorbehalt, zuweilen das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber Parteiwesen und Parteiarbeit nach 40-jähriger Erfahrung mit der Einheitspartei. Zum Aufbau der Parteiapparate fehlen neben Mitgliedern zur Basisarbeit auch Geld und Organisation.

62  Richtig: Christdemokratische Volkspartei (KDNP). 63  Vollständig: Ungarische Volkspartei (MNP). 64  Vollständig: Unabhängige Partei der Kleinlandwirte, Landarbeiter und Bürger (FKGP). 65  Richtig: Bund Freier Demokraten (SZDSZ).

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In der Wirtschaftspolitik nahmen im vergangenen Halbjahr Krisenmomente zu. Erste Erfolge in der Handelsbilanz wogen dagegen gering. Nach dem Besuch des amerikanischen Präsidenten im Juli und dem darauffolgenden Weltwirtschaftsgipfel in Paris hofft Ungarn auf wirksame, konzentrierte Aktionen des Westens für Strukturhilfen, weist jedoch Bedarf für Krediterleichterungen (Aufschub, Umschuldungen) weiterhin von sich. Die Erwartungen richten sich auch in Zukunft in erster Linie an die europäischen Partner, hier überwiegend an die Bundesrepublik und Österreich. Im Verhältnis zu den osteuropäischen Wirtschaftspartnern sucht Ungarn unterhalb der Struktur des COMECON die bilateralen Beziehungen, die durch entsprechende Entwicklung (Umstellung von Rubel auf Devisenstandard) mit den Wirtschaftsbeziehungen des Landes zum Westen und zur übrigen Welt integriert werden können. Außenpolitisch sucht Ungarn weiterhin breite Annäherung an den Westen. Mit Rücksicht auf die SU bleibt das Land aber bis auf weiteres im Warschauer Pakt. Die ungarische Führung sucht diesen zu einem mehr politischen Abstimmungsmechanismus umzugestalten und mit weiteren Abrüstungsfortschritten ihn als Notwendigkeit letztlich, ebenso wie die NATO, zu überwinden. Ein Ziel ungarischer Außenpolitik ist die möglichst vielfältige, auch institutionelle Westbindung, so jüngst entworfen von AM [Außenminister] Horn bei seinem Besuch in Schweden: Mitgliedschaft in der EG über die Vorform einer Teilnahme an der EFTA. II. Innenpolitik Die Nationalversammlung verabschiedete Ende Oktober 1989 eine Reihe von Gesetzen zur Verfassungsreform, nach denen Ungarn, die „Republik Ungarn“, nunmehr ein demokratischer Verfassungsstaat nach westlichem Modell wird. Die Verfassungsreform entspricht im Wesentlichen der Vereinbarung, die am 18.09. d. J. zwischen der damaligen USAP und dem Oppositionellen Rundtisch sowie den gesellschaftlichen Organisationen getroffen worden war. Die USAP wandelte sich inzwischen auf ihrem Parteitag vom 06.–10.10.1989 von der Kommunistischen Arbeiterpartei zur „Ungarischen Sozialistischen Partei“ (USP) mit reformsozialistischer Orientierung. Der neue Parteipräsident [Rezső] Nyers gilt allgemein als Vertreter eines gemäßigten Reformkurses, gegen den die Radikalreformer der Partei ([Imre] Pozsgay, [Miklós] Németh, [Gyula] Horn) sich auf dem Parteitag mit einem Kompromiss arrangieren mussten. Es wird vom Wahlerfolg der neuen Partei abhängen, ob die USP eine weitere Wende wird vollziehen müssen. Mit dieser Frage ist auch das künftige Schicksal des Parteipräsidenten Nyers verbunden. Seine bisherigen Initiativen, die etwa 700.000 Mitglieder der bisherigen USAP für die neue Partei zu gewinnen, sind bisher wenig erfolgreich. Dies ist aber noch kein sicheres Indiz gegen die Zukunft der USP. Auch die anderen Parteien agieren zur Zeit noch ohne gesicherte Mitglieder-Basis.



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Insgesamt gewinnt das Reformwerk in Ungarn zunehmend festen Boden. Indizien hierfür sind: 1. Politisches Reformwerk im Parlament: Die Verfassungsänderungen für die „Republik Ungarn“ als demokratischer Verfassungsstaat nach westlichem Modell wurden fast einstimmig verabschiedet (mit geringen Abweichungen handelte es sich um die in den bilateralen Verhandlungen USAP-Opposition-Gesellschaftliche Organisationen Mitte September ausgehandelten Texte). Das alte „Einparteien-Parlament“ wandelte sich, in gleicher Besetzung, zu einer konstituierenden Versammlung für eine neue Grundordnung des Staates. Im Parlament gibt es bisher keine Fraktionsbildung alter Kommunisten zum Widerstand gegen die politischen Reformen. Nach Auflösung der USAP hat sich von ihren 250 Abgeordneten nur ein Teil, etwa 100, zur neuen USP geschlagen. Die übrigen ehemaligen USAP-Abgeordneten sind noch oder bleiben bis zum Ablauf der Legislaturperiode Anfang 1990 parteilos. Die Fraktion der USP ist daher gegenüber den parteilosen Abgeordneten in der Minderheit. Zur Zeit erscheint die Nationalversammlung als wohl unzeitgemäßes Beispiel eines erheblich parteiunabhängigen Parlamentarismus. 2. Die Regierung: MP [Ministerpräsident] Németh stellt seine Mannschaft als Expertenkabinett zurecht. Am 19.10. wurde dort intern beschlossen, dass es den Ministern überlassen bleibt, ob sie der neuen USP beitreten, sich anderen Parteien anschließen oder parteilos bleiben wollen: Németh verstärkt seinen Kurs, die politische Reform des Landes mit seiner Regierung durchzusetzen und es der USP zu überlassen, ob sie ihm folgen kann. Nachdem er und die übrigen Radikalreformer (Pozsgay, Horn) auf dem Parteitag (06.–10.10.) ihren Kurs nur unter Kompromissen und Abstrichen gebilligt sahen und ihnen Schlüsselstellungen in der Partei vorenthalten blieben, setzt Németh für seine politische Zukunft zunehmend auf die Regierungsarbeit, die mit konkreten, für die Wähler spürbaren Erfolgen, für Stabilität sorgen und im übrigen Wirrwarr der Parteien den Politiker Németh am Ruder halten wird (in einem Interview hat sich Németh als Premier für die aus den Wahlen im März 1990 hervorgehende Regierung ange­ boten). Mit seinem jüngst in der Verfassungsdebatte des Parlaments gezeigten Selbstbewusstsein, energischen und ideenreichen Stil gewinnt er zunehmend Vertrauen im Land. Hierzu hat der Erfolg seiner Initiative beigetragen, die Arbeitermiliz ersatzlos und sofort aufzulösen. 3. Das Parteienspektrum gewinnt Konturen: – Die USP trägt noch immer erheblich an dem Verdacht gegen die „Kommunisten im Schafspelz“. Doch haben der Verlauf des Parteitages, die Regie-

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rungsarbeit des Reformers Németh, die Verfassungsgesetze des Parlaments und, nicht zuletzt, die offene Bestrebung zur Gründung einer neuen Kommunistischen Partei der Wende der USP zu einer reformsozialistischen Partei Glaubwürdigkeit gewonnen. – Die Opposition gliedert sich zunehmend deutlich an eine der USP zugewandte und in eine radikale Gruppe: – Die größte Oppositionspartei, das [Ungarische] Demokratische Forum, erhielt zum Parteitag (20.–22.10.) eine Grußbotschaft von MP Németh, in der dem MDF [Ungarisches Demokratisches Forum] „nationale Verantwortlichkeit“ und „konstruktive Opposition“ bescheinigt werden. Gegen dieses durchaus nicht ungefährliche Kompliment „von falscher Seite“ hat sich das MDF bisher nicht gewehrt, vielmehr seine kompromissbereite Haltung in den Verhandlungen mit der (früheren) USAP herausgestellt und auf dem Parteitag die Radikalopposition der Freien Demokraten als „überhitzt“ und destabilisierend angegriffen. Das MDF sieht sich als künftig vielleicht stärkste, zur Regierungsfähigkeit des Landes auf jeden Fall mit entscheidende Kraft und als möglicher Koalitionspartner der USP. Hierfür spricht sein Programm und auch seine bisherige Geschichte: 1987 noch in der Illegalität gegründet, wurde das MDF von Beginn an vom damaligen Präsidenten der Patriotischen Volksfront und späteren Staatsminister Pozsgay gefördert. Der Reformer der USAP half damit schon frühzeitig, einen Faktor für das geplante Mehrparteiensystem und einen späteren Koalitionspartner zu schaffen. – Die Christdemokratische Volkspartei und die Volkspartei haben sich personell konsolidiert. Die Partei der Kleinen Landwirte und weitere Gründungen stehen noch im Führungsstreit zwischen den „alten Herren“ und der nachrückenden Generationen. Alle diese Parteien, die übrigens zu einer Koalition mit dem MDF neigen, zeigen organisatorische Schwächen und leiden unter Geldmangel. – Die Sozialdemokratie Ungarns zerfleischt sich immer noch in internen Flügelkämpfen und kann für ihr Renommee bisher nur auf die Treue ihrer Anhänger im Lande und der Sozialistischen Internationale (eindrucksvoll demonstriert durch SPD-Vorsitzenden [Hans-Jochen] Vogel bei seinem Besuch in Budapest, 12.–14.10.) verweisen. – Die radikale Opposition wird zur Zeit durch die „Allianz der Freien Demokraten“66 und die Jugendorganisation FIDESZ [Bund Junger Demokraten] gestellt. Ihre Radikalität hat Konturen: Sie propagieren das Misstrauen gegen den Reformsozialismus der früheren Kommunisten, was in der Bevölkerung noch wählerwirksam ist. Sie verweigern eine spätere (nach

66  Richtig: Bund Freier Demokraten (SZDSZ).



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den Wahlen) Regierungszusammenarbeit mit der USP mit dem Argument, nicht in die „Compagnie der Bankrotteure“ eintreten zu wollen. Sie fordern die vollständige Befreiung vom Sozialismus, die radikale Reform Ungarns zu einem Staat nach westeuropäischem Modell. FIDESZ proklamierte auf ihrem jüngsten (ersten) Kongress (13.–15.10.89) die politische und militärische Unabhängigkeit Ungarns, eine Verringerung der militärischen Bedeutung des Warschauer Paktes, Verkürzung des Wehrdienstes von 18 auf 6 Monate. Die „Allianz der Freien Demokraten“ hat frühere nationalistische Töne, besonders gegen Rumänien, zuletzt gedämpft. Die Tendenz dazu ist aber geblieben. 4. Die Parteiengliederung nach heutigem Stand bietet die Voraussetzungen für die Entwicklung eines Mehrparteiensystems mit regierungsfähigen Gruppierungen. Noch gibt es freilich keine zuverlässige Schätzung der wirklichen Kräfteverteilung. Die Wahlvorhersagen sind äußerst unsicher und nur mit Vorbehalt der rasanten Entwicklung insgesamt abzugeben. Vorhersagen für die USP schwanken zur Zeit zwischen 15 und 25 v.H. [von Hundert], das Demokratische Forum sieht sich bei etwa 30 v.H., die Allianz der Freien Demokraten erwartet um die 15 v.H., die Christdemokraten ebenso, FIDESZ erhofft sich 5–8 v.H., die Sozialdemokraten sehen sich „stark“. 5. Die Bevölkerung verhält sich weiterhin zurückhaltend. Darin liegt Stabilisierendes und Verunsicherndes zugleich. Noch können die Regierung, die bisher herrschende Partei, die Intellektuellen in der Hauptstadt frei nach ihren Vorstellungen und Erwartungen planen und schalten. Die Menschen sind gegenüber allem Politischen vorsichtig, aus Erfahrung gewarnt, sich vorzeitig zu engagieren und im Übrigen voll damit beschäftigt, ihren Lebensunterhalt zu sichern. In den ersten freien (Nach-) Wahlen im August 89 kam im ersten Wahlgang in drei Wahlbezirken die erforderliche Wahlbeteiligung von 50 v.H. nicht zustande. Andererseits aber zeigten die etwa 200.000 Unterschriften von Oktober 89 für ein Referendum über verschiedene Fragen einschließlich der Präsidentenwahl, dass die Bevölkerung politisch durchaus ansprechbar ist. Die zum Jahresende geplanten, im Augenblick aber wegen des drohenden Referendums unsicheren Präsidentschaftswahlen würden die nächste Möglichkeit bieten, zu erkennen, ob die Bevölkerung zur Demokratie bereit ist. Die Parteien einschließlich der USP haben diese Bereitschaft bereits bewiesen. III. Außenpolitik 1. Ungarn verfolgt trotz Mitgliedschaft im WP und RGW, von denen es sich innerlich weitgehend gelöst hat, eine autonome Außenpolitik. Dabei sucht es, wo immer dies möglich ist, schon heute Mitglied westeuropäischer Zusammenschlüsse zu werden. Sein endgültiges Ziel ist die Mitgliedschaft in der EG. Auf dem Wege dazu fasst es den

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Beitritt zur EFTA ins Auge, so AM [Außenminister] Horn im NWG67, Ende Oktober 1989 (große Zurückhaltung der EFTA-Staaten dazu). Die Zuwendung zum Westen ist umso augenfälliger, als nur er (Programm der 24 sowie nationale Anstrengungen westlicher Staaten) Ungarn Hilfe für die Umstrukturierung seiner Wirtschaft gewährt, (die östlichen Nachbarn wären schon wegen der eigenen Notlage dazu außerstande). Für die Hinwendung zum Westen in der zweiten Jahreshälfte waren zwei politische Momente bezeichnend: die Abschaffung der Staatsform „Volksrepublik“ und zuvor die Gewährung freier Durchreise für alle DDR-Bürger ab Mitte September 1989. Beide Vorgänge sind in der westlichen Öffentlichkeit als „Eintrittskarte“ nach Europa begrüßt worden. Die Entscheidung bezüglich der DDR-Flüchtlinge hat darüber hinaus in der Bundesrepublik Deutschland zu allererst, aber auch in Westeuropa und den USA, emotionales Engagement für Ungarn verstärkt. Ungewollt hat Ungarn mit seiner humanitären Geste auch eine der Ursachen für die Ende Oktober ausgelösten Veränderungen in der DDR gesetzt. Die ungarische Außenpolitik befindet sich – nach der Gründung der USP und angesichts von deren vitaler politischer Schwäche – in der Übergangszeit bis zu den Parlamentswahlen in den nächsten Monaten wesentlich in den Händen der nunmehr zum Teil aus Parteilosen bestehenden Regierung (vor allem AM Horn und MP Németh). Sie wird in den Grundzügen von allen Oppositionsparteien gestützt. 2. Bei aller seiner Zuwendung zum Westen empfindet sich Ungarn – trotz zahlreicher und wiederholter konstruktiver Erklärungen westlicher Staatsmänner – doch nicht ausreichend von ihm gestützt. Besonders vermisst Ungarn einen massiven ökonomischen Beitrag einzelner westeuropäischer Staaten, insbesondere Frankreichs und Großbritanniens. Anerkannte und öffentlich herausgestellte, in Gesprächen immer wieder gewürdigte Ausnahmen sind die Bundesrepublik Deutschland sowie Österreich. Auch die Stützungsabsichten kleinerer Länder wie Finnland werden dankbar vermerkt. Die Haltung der USA wird mit Aufmerksamkeit und angesichts seines mageren bisherigen Engagements sogar über Gebühr verfolgt. Dabei wirkt – nicht nur aus Gründen der Höflichkeit – der Besuch Präsident [George] Bushs, bis dahin protokollarischer Höhepunkt des Jahres, nach. Auf ungeteilte Zustimmung ist dagegen die Initiative der 24 gestoßen. Ungarn drängt auf deren rasche Implementierung. 3. Ungeachtet seines Autonomieanspruchs folgt Ungarn in der Rüstungskontrollpolitik den Initiativen der SU. In den Verhandlungsforen in Wien zeigt es freilich immer mehr eigenes Profil. Die sowjetische Politik gegenüber dem Westen, der Verzicht Gorbatschows auf Vorherrschaft gegenüber Osteuropa, die explizite Bestätigung der Nichtexistenz der Breschnew-Doktrin durch [Eduard] Schewardnadse in der OS

67 Konnte nicht aufgelöst werden.



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Rede [Rede vor dem Obersten Sowjet] im Oktober sowie der Fortgang des Umbaus in der SU haben bisher auf östlicher Seite die Herausbildung eines pluralistischen Systems in Ungarn mit ermöglicht. Heute glauben schon manche ungarischen Politiker, dass die SU auch nach einem Scheitern der Reformen und nach einem Abgang Gorbatschows wegen der Lähmung durch die eigenen Verhältnisse zu einer Intervention nicht mehr in der Lage wäre. Umgekehrt herrscht in der Regierung die Überzeugung vor, dass die erfolgreiche Einführung des parlamentarischen Systems sowie der begonnene Aufbau der sozialen Marktwirtschaft in Ungarn Gorbatschow in seinen inneren Kämpfen bestätigen kann. Ungarn strebt – bei veränderten ökonomischen Beziehungen – ein möglichst gutes und störungsfreies Verhältnis zur SU an (darin sind sich Regierung und die Opposition – mit Ausnahme der Allianz der Freien Demokraten und FIDESZ – vollkommen einig). Antisowjetischen Tönen in der öffentlichen Diskussion (am 23. Oktober 1989) tritt die Regierung entschieden entgegen. Teile der Opposition suchen durch Gesten die Beziehung zur SU aufzuhellen (Einladung des oppositionellen Rundtisches im Sommer an den sowjetischen Botschafter, Einladung [Boris Iwanowitsch] Stukalins zum Parteitag des Ungarischen Demokratischen Forums, Gespräch eines sowjetischen Vizeaußenministers mit Vertretern der Opposition im Oktober). Das Bewusstsein einer prinzipiellen Nähe wird nicht nur der reformorientierten Sowjetunion (bei tiefer Abneigung gegen die Russen und die Sowjets als Interventen vor allem von 1956), sondern auch den Polen entgegengebracht. Im Rhythmus des emanzipatorischen Prozesses und der Beseitigung des Stalinismus dort wird sich ein solches Bewusstsein auch gegenüber den neuen Kräften in der DDR einstellen. Ungarn empfindet die in der DDR ausgelöste Bewegung als Erleichterung seines Standes in der Gesellschaft der mittel- und osteuropäischen Regierungen und Regime. Andererseits verschärfen sich seine Beziehungen in höchst unterschiedlichen Graden zu Rumänien, der Tschechoslowakei und zu Bulgarien, je weiter es selbst in seiner Politik voranschreitet. Sonderprobleme (Staudamm GabčikovoNagymaros und ungarische nationale Minderheit im Verhältnis zur Tschechoslowakei, das Schicksal der 2 Millionen Ungarn in kompaktem Wohngebiet in Rumänien) schaffen zusätzliche Reizungen. Ungeachtet dessen bemüht sich Ungarn, auch diese gespannten Beziehungen nicht völlig abzuschreiben. Dies ist folgerichtig, weil es die wirtschaftlichen Verbindungen des RGW auf bilaterale Grundlage umzustellen sucht (Austausch gegen konvertible Währungen). Und es ist auch geboten, weil Ungarn den WP in ein hauptsächlich politisches Forum umgewandelt sehen möchte. Die Zurückdrängung des militärischen Faktors hat ihre Logik. Ungarn versteht sich – anders als Polen – für die Sicherheitsinteressen der SU nicht als entscheidend. Es sähe die sowjetischen Streitkräfte lieber heute als morgen in die Heimat zurückkehren. Und es befreundet sich immer mehr mit der Vision eines neutralen Status – auch wenn es sich rational selbst vorhält, dass er nur nach einer Auflösung der Allianzen hergestellt werden könnte.

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IV. Wirtschaftspolitik Die Lage der ungarischen Volkswirtschaft ist weiterhin besorgniserregend. Das Leistungsbilanzdefizit liegt bereits 70–80% über dem für das gesamte Jahr vorgesehenen (400–500 Mio. US Dollar geplant) Limit. Das Haushaltsdefizit (etwa 20 Mrd. Forint) liegt ebenfalls über dem für das gesamte Jahr geplanten Niveau (18.0 Mrd. Ft.), verursacht durch geringere Steuereinnahmen und höhere Ausgaben für Subventionen. Der IWF setzte die Zahlung der letzten Tranche des Bereitschaftskreditabkommens aus und forderte Ungarn zu drastischen Maßnahmen auf. Im Juni wurden erste Haushaltskürzungen in den Bereichen Verteidigung und Verwaltung in Höhe von ca. 6 Mrd. Forint beschlossen. Weitere Einsparungen könnten durch Subventionskürzungen erreicht werden. Aus Sorge vor sozialen Spannungen zögert die Regierung jedoch weiterhin. Ungarn benötigt dringend Risikokapital zur Modernisierung seiner Wirtschaft und zur Verbesserung der für den Weltmarkt bestimmten Produkte. Das im Mai beschlossene Umwandlungsgesetz hat zwar den Weg der Reprivatisierung im Prinzip freigemacht, jedoch zeigt die Praxis bisher nur sehr wenige ermutigende Auswirkungen. Die Inflation wird die 20%-Grenze vermutlich bald überschreiten, die Reallöhne und -einkommen sinken weiter, allerdings in einem langsameren Rhythmus als 1988, da die Regierung deutliche Lohnerhöhungen zuließ. Die von der Regierung beschlossene Importliberalisierung wurde ab 01.01.1989 konsequent durchgeführt. 45% der Importe sind jetzt liberalisiert, weitere Schritte sind für 1990 und 1991 angekündigt worden. Das Volumen der Industrieproduktion sank um 1,1% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, wohingegen der Plan eine Abnahme um 1% vorgesehen hatte. An der Spitze lag mit einer Steigerung um 4% das Hüttenwesen, gefolgt von der Elektroindustrie (+1,4%). Der Bergbau nahm um 5,6% ab. Die Beschäftigung ging schneller zurück als die Produktion, wodurch geringfügige Produktivitätsfortschritte erzielt wurden. Die landwirtschaftliche Erzeugung sank um 0,8%. Im Außenhandel gegen konvertible Währungen wurde ein Exportüberschuss von ca. 310.4 Mio. US Dollar erzielt (August 89), was im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (ca. 200 Mio. US Dollar) eine weitere Verbesserung darstellt. Den Dollar-Werten nach nahmen die Ausfuhren um ca. 6,3%, die Einfuhren um ca. 2,3% zu. Die höchste Steigerungsrate beim Export erzielten Rohstoffe, Komponenten und landwirtschaftliche Erzeugnisse (zwischen 12,2 und 18,7%), beim Import Maschinen (22,8%) und Verbrauchsgüter (24,1%). Eine Neugestaltung der Außenhandelsstruktur wurde somit erneut nicht erzielt. Im Export gegen Rubelverrechnung erzielte Ungarn um 13% höhere Einnahmen als im Vorjahreszeitraum, wohingegen die Importe – entgegen den ungarischen Absichten – nur um 4,5% stiegen. Eine deutliche Importsteigerung wurde nur bei Konsum-



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gütern (+10,8%) erreicht, die Exportsteigerung beruht vor allem auf einer Zunahme der Ausfuhr von Energie (+18,3%). Maschinenexporte gingen um 1% zurück. Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes hat unser Außenhandel mit Ungarn in der Periode Januar bis Juli 1989 bei der Ausfuhr um 31,1%, bei der Einfuhr um 22,9% zugenommen. (Umsatz +22,5%). Im Fremdenverkehr verzeichnete Ungarn im Zeitraum Januar-September 1989 eine Zunahme der Einnahmen um 15%, jedoch eine Ausgabensteigerung um 275%. Etwa 24 Mio. Touristen bereisten Ungarn (+23%), davon entfielen ca. 13 Mio. (+37,3%) auf Besucher aus RGW-Staaten, ca. 1,1 Mio. auf Besucher aus Jugoslawien (+78%) und ca. 6,1 Mio. auf Reisende aus nichtsozialistischen Staaten (+22%). Etwa 11,1 Mio. Reisen von Ungarn ins Ausland wurden im Berichtszeitraum registriert, davon etwa 4,4 Mio. nach Österreich. Vor allem aufgrund dieser Einkaufsreisen betrug das Tourismusbilanzdefizit etwa 400 Mio. US Dollar (Einnahmen: 270 Mio. US Dollar, Ausgaben: 670 Mio. US Dollar). Die ungarische Brutto-Auslandsverschuldung in konvertiblen Währungen betrug im September 1989 16,57 Mrd. US Dollar. Die kurzfristigen Verbindlichkeiten belaufen sich auf 2,21 Mrd. US Dollar, die langfristigen auf 14,36 Mrd. US Dollar. Die Schuldendienstquote betrug 43%. Zinszahlungen beliefen sich 1988 auf 1,04 Mrd. US Dollar, bis September 1989 wurden ca. 900 Mio. US Dollar gezahlt. Die Geldeinkünfte der Bevölkerung aus Quellen haben im (geschätzten) Berichtszeitraum um 19,6% zugenommen. Bei einem (geschätzten) Anstieg der Verbraucherpreise um ca. 20% hatte sie damit erneut einen Realeinkommensrückgang um ca. 0,4% zu verkraften. Ende Juli wurden erneut Preiserhöhungen z. B. für Fleisch (30%) verkündet, die die Bevölkerung zusätzlich belasten. Das Defizit des Staatshaushalts liegt nach Schätzungen bei etwa 20 Mrd. Forint, obwohl für das ganze Jahr nicht mehr als 18 Mrd. Forint angestrebt waren. Geringere Steuereinnahmen und weiterhin hohe Subventionen für marode Staatsbetriebe verursachten diese gravierenden, vom IWF bemängelten Haushaltsverfehlungen. Im Juni beschlossene Ausgabenkürzungen in den Bereichen Verteidigung und Verwaltung in Höhe von ca. 6 Mrd. Forint sind als Signal positiv zu bewerten, reichen jedoch bei Weitem nicht aus. Solange die veraltete Subventionsvergabestrategie als Sozialpolitik missverstanden wird, werden sowohl der Staatshaushalt bluten als auch der Leidensdruck der Bevölkerung wachsen. Das im Mai 1989 beschlossene Umwandlungsgesetz lässt erkennen, dass Partei und Regierung nicht gewillt sind, dem Privateigentum völlig freien Lauf zu lassen. Eine gewisse staatliche Kontrolle wird gewährleistet durch die Einrichtung von Holdinggesellschaften, in die ein variierender Anteil des Wertes der umzuwandelnden Unternehmen einfließt. Die Reprivatisierung verläuft im Übrigen bisher schleppend, nur wenige Unternehmen wurden durch Einschießen von frischem Kapital in private Hände überführt. Für 1990 ist ein weiteres Gesetz über die Privatbetriebe in Vorbereitung. Die Gesetze über die „Wirtschaftsgesellschaften“, über die „Investitionen der Ausländer“ sowie die ab 01.01.1989 einsetzende und bisher zu ca. 45% durchgeführte

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Importliberalisierung stießen bei der deutschen Wirtschaft auf erkennbares Interesse. Die Zahl der schriftlichen Anfragen und der in der Handelsförderungsstelle geführten Beratungsgespräche über Kooperations- und Investitionsmöglichkeiten nahm stark zu. Ein weiterer Beleg ist die vom ungarischen Handelsminister Mitte Oktober genannte Zahl von nunmehr ca. 200 beim Firmengericht registrierten deutsch-ungarischen Joint Ventures (Stand 31.12.88: ca. 65), womit die Bundesrepublik Deutschland vor Österreich weiterhin die Spitzenposition bei der Zahl der Gemischten Unternehmen einnimmt. Seit 01.01. d.J. [dieses Jahres] ist Ausländern – gegen Devisen – der grundbuchliche Erwerb von und der Handel mit Immobilien zu Geschäftszwecken gestattet. Dies betrifft auch Grundstücke und Gebäude in staatlichem oder genossenschaftlichem Eigentum. Der Preis soll frei vereinbart werden können. Dessen ungeachtet ist bei staatlichem Eigentum von Grundstücken die Frage der Verfügungsgewalt (welches staatliche Organ?) in vielen Fällen schwer zu klären. V. Zur Entwicklung der Medienlandschaft in Ungarn 1. Presse Im Berichtszeitraum hat die Zahl der in Ungarn publizierten Zeitungen und Zeitschriften erheblich zugenommen. Das Spektrum reicht dabei von kleinen Fachblättern einer Auflage von nur wenigen hundert Exemplaren, bis zu neuen Massenblättern von mehreren hunderttausend Exemplaren Auflage. Es gibt allein 22 neue politische Wochenzeitungen, 2 neue politische Tageszeitungen („Mai Nap“ und „Képújság“, Auflage 100.00 bzw. 150.000), 8 neue Jugendzeitschriften, 23 Hobby-, Sport- und Frauenzeitschriften, 29 Fach- und Kulturblätter sowie eine Vielzahl weiterer Neuerscheinungen rein regionalen oder lokalen Charakters. Besonders hervorzuheben ist die politische Wochenzeitung „Világ“, die seit Mai 1989 publiziert wird und sich durch besonders unbefangenen Umgang mit bisherigen Tabuthemen auszeichnet. Ganz allgemein gilt, dass die Pressefreiheit in Ungarn sich weiter gefestigt hat. Unbeschadet dieser erfreulichen Entwicklung sind die wichtigsten seriösen Tageszeitungen nach wie vor von den hinter ihnen stehenden Organisationen abhängig (Patriotische Volksfront, Gewerkschaftsbund SZOT [Landesrat der Gewerkschaften], USAP, Regierung). Dort muss mit politischer Einflussnahme, wenn auch wohl mit abnehmender Tendenz gerechnet werden. Wirklich unabhängige Tageszeitungen sind bisher nur die neuen Boulevardblätter, die jedoch den Bedarf der Intelligenz nach einem ernst zu nehmenden politischen Organ nicht befriedigen können. 2. Elektronische Medien Oppositionelle Kreise kritisieren immer noch das „Monopol“ von Regierung und USAP auf Rundfunk und Fernsehen. In der Tat steht einem bemerkenswerten Zuwachs an



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Zugangsmöglichkeiten weiterhin die personell eindeutige Dominanz der USP-Vertreter – zumindest im Fernsehbereich – gegenüber. Die Möglichkeiten oppositioneller Meinungsäußerungen in den elektronischen Medien sind in den letzten 6 Monaten besser geworden. Es fehlt jedoch noch eine institutionalisierte Kontrolle. Infolgedessen werden Sendungen regierungs- bzw. USP-kritischen Zuschnitts häufig in ungünstige Sendezeiten verlegt. Mit einer durchgreifenden Verbesserung ist erst nach Parlamentswahlen im Februar/ März 1990 zu rechnen. Eine frühere Einigung ist jedoch in der Frage des Zugangs zu Sendezeiten im Wahlkampf zu erwarten. Im Rundfunkbereich haben sich im vergangenen Halbjahr bemerkenswerte Entwicklungen ergeben. Korrespondenten von Radio Free Europe/ Radio Liberty wurden regelmäßig zu Pressekonferenzen – auch von Regierung und USP – eingeladen und erhalten Interviews von den führenden Politikern. Noch im Herbst 1989 ist die Eröffnung eines Büros von RFE/RL in Budapest vorgesehen. Die ungarischen staatlichen Rundfunkprogramme haben im Berichtszeitraum mehr Selbstständigkeit erhalten, die sie unter anderem durch verstärkten Ausbau von Kontakten zu westlichen Rundfunkanstalten nutzen. Dabei werden zunehmend auch deutsche und österreichische Privatsender einbezogen. Radiobrücken, unter anderem auch mit „Voice of America“, werden immer häufiger. 3. Nachrichtenagentur MTI [Ungarische Nachrichtenagentur] Die Nachrichtenagentur MTI hält noch faktisches Monopol inne. Trotz der Einrichtung eines zusätzlichen, landesweiten Informationsdienstes, der unzensiert alle eingereichten Meldungen und Informationen in ungarischer Sprache verbreitet, ist die Macht der staatlichen Nachrichtenagentur noch weitgehend ungebrochen. Ausnahmen, wie der deutschsprachige Feriensender „Radio Danubius“, der sich für seine (recht mageren) Nachrichten ausschließlich auf DPA [Deutsche Presseagentur] und APA [Austria Presse Agentur] verlässt, bestätigen die Regel. Vor allem finanzielle Gründe verhindern den – rechtlich möglichen – Bezug westlicher Agenturen durch ungarische Medien. 4. Ausblick Bei kontinuierlichem Fortgang des politischen Dialogs zwischen Regierung und Opposition ist mit einer weiteren Annäherung der ungarischen Medienlandschaft an westliche Maßstäbe zu rechnen. Ungarische Journalisten zeigen weiterhin großes Interesse am Erfahrungsaustausch mit ihren westlichen – insbesondere deutschen – Kollegen. Rege Kontakte zwischen Journalistenverbänden, einzelnen Publikationsorganen, aber auch zwischen Verlagen oder einzelnen Journalisten, können den Fortgang der Liberalisierung und ihre endgültige Verfestigung fördern. Der Fortfall vieler Kontrollmechanismen gibt andererseits ein großes Maß an Verantwortung in die Hände der Redaktionen und einzelnen Reporter. Die unlängst erfolgte Abschaffung der Reste der Zensur (Aufhebung der Genehmigungspflicht für Bücher durch das Kulturministerium) wurde in Ungarn außer von den unmittelbar Betroffenen nicht

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als das bedeutende Ereignis empfunden, das es war. Von verschiedenen Kritikern der Entwicklung werden bereits einige Erscheinungen (Verbreitung von Boulevardblättern, Pornografie etc.) als „Auswüchse“ angeprangert. Angesichts des erheblichen Nachholbedarfs an freier Meinungsäußerung in der ungarischen Gesellschaft ist aber sowohl die Geschwindigkeit, als auch die relative Reibungslosigkeit des Umgestaltungsprozesses in der Medienlandschaft anerkennenswert. In Zukunft wird vor allem die Entwicklung des politischen Zeitungsmarktes zu beobachten sein. Ob und in welchem Ausmaß Parteizeitungen der neuen Parteien eine Chance und einen Markt haben werden, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch schwer abzuschätzen. VI. Kulturpolitik In den letzten Monaten sind nunmehr auch in der Kulturpolitik Anzeichen einer Wende eingetreten. Diese ist auch nach außen hin durch eine Ablösung des Ministers für Kultur [Tibor] Czibere durch den Historiker Ferenc Glatz gekennzeichnet, in deren Folge eine Umstrukturierung der mit Kultur befassten Behörden begonnen hat. Damit lassen sich auch Umrisse einer neuen kulturpolitischen Konzeption erkennen, die vor allem durch eine Dezentralisierung und zunehmende Tendenz, das Recht auf Selbstverwaltung einzuräumen, gekennzeichnet ist. Ein Indiz dafür ist die Auflösung des Staatlichen Amts für Jugend und Sport, dessen Kompetenzen teilweise den großen Sportverbänden selbst übertragen werden. Das Bemühen um eine Lösung der virulenten Probleme im Kulturbereich – z. B. das Versprechen einer Erhöhung der Lehrer- und Hochschullehrergehälter – steht freilich noch vor der Bewährungsprobe in finanzieller Hinsicht, denn auch in diesem Bereich kosten Reformen Geld, das der Staat weiterhin immer weniger zur Verfügung hat. So hält sich der Optimismus auf tiefgreifende Veränderungen zwar in Grenzen, doch hat das Interesse breiter Schichten der geistigen Intelligenz, sich zu engagieren, zugenommen, wenngleich das Thema Nr. 1 nicht die Kultur per se ist, sondern die politischen Reformen. Vor diesem Hintergrund hat die Gründung des ersten Sekretariats einer politischen Stiftung, nämlich der Friedrich-Naumann-Stiftung, die im Juni in Anwesenheit von BM [Bundesminister] Genscher in Budapest stattfand, eine äußerst positive Perspektive. Im deutsch-ungarischen Besucherverkehr ist außerdem der Besuch von Bundesminister [Jürgen] Möllemann im Februar hervorzuheben. Die neue kulturpolitische Führung in Ungarn setzt einen deutlichen Schwerpunkt auf den Ausbau der Fremdsprachenkenntnisse im Erziehungssystem, einerseits durch Abschaffung von Russisch als Pflicht-Fremdsprache, das durch westliche Fremdsprachen je nach Wunsch und Personalsituation ersetzt werden kann, andererseits durch Gründung von neuen Fremdsprachenabteilungen an Hochschulen sowie durch obligatorische Fremdsprachenprüfungen bei Universitätsabschlüssen. Die finanzielle und sachliche Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland in diesem Bereich im Rahmen der Vereinbarung zur Förderung der Ungarndeutschen vom Oktober 1987 wird weiterhin in Form von ca. 200 Stipendien einer Reihe von anderen Sprachförde-



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rungsmaßnahmen voll in Anspruch genommen, ja sogar auf Initiative der Botschaft durch den Plan einer Entsendung von weiteren sog. deutschen Gastlehrern erweitert. Das hiesige Goethe-Institut hat im vergangenen Zeitraum mit einer Reihe von Veranstaltungen seinen Beitrag zu dem politischen Reformprozess zu leisten versucht. So diskutierte unter anderen [Daniel] Cohn-Bendit über die 68er Bewegung, Günter Grass las aus seinen Werken, und aus Anlass des vierzigsten Jahrestags fand ein Kolloquium zur Verfassung der Bundesrepublik Deutschland statt. Die Zusammenarbeit mit Deutschlehrern und entsprechenden Institutionen konnte weiter intensiviert werden. Der Vertrag zur Errichtung eines ungarischen Kulturinstituts in Stuttgart wurde im Juni in Budapest durch beide Außenminister unterzeichnet. Arbeitsschwerpunkte der Vertretung Es bleibt zu hoffen, dass eine baldige Unterzeichnung der Vereinbarung über Äquivalenzen den Studenten- und Wissenschaftleraustausch erleichtern wird, da kurzfristig dem ungarischen Wunsch auf Einbeziehung in das Erasmus-Programm nicht entsprochen werden kann. Die Koordinierung der kulturpolitischen Tätigkeit von immer mehr Mittlerorganisationen durch Entsendung von Personal vor Ort (GoetheInstitut, Zentralstelle für das Auslandsschulwesen, DAAD [Deutscher Akademischer Austauschdienst], Friedrich-Naumann-Stiftung, eventuell Friedrich-Ebert-Stiftung, ICM [Zentrum für Internationale Kooperation & Mobilität]) wird den Aufgabenbereich der Botschaft weiter vergrößern. Daneben wird die Förderung der ungarndeutschen Minderheit weiterhin einen Schwerpunkt der Arbeit darstellen. Hier geht vor allem darum, die zahlreichen Maßnahmen zu koordinieren und dafür zu sorgen, dass Geräte- und Bücherspenden vor Ort sinnvoll genutzt werden. Seit Schuljahresbeginn 1989/90 sind 21 Gastlehrer aus Baden-Württemberg, vor allem in ungarndeutschen Gemeinden, tätigt, bei deren Vermittlung die Botschaft behilflich war und mit derer Bedeutung sie weiterhin befasst sein wird. Von besonderer Bedeutung sind die beiden von deutscher Seite mit hohen Zuschüssen bedachten ungarndeutschen Institutionen Lenau-Haus und Bildungszentrum Baja, deren Arbeit im ersteren Fall zu unterstützen, deren Baufortgang im letzteren Fall von der Botschaft zu kontrollieren ist. Auch die endgültige Unterbringung des Goethe-Instituts hat noch keine wesentlichen Fortschritte erzielt. Insgesamt dürfte die Entwicklung in den genannten Arbeitsschwerpunkten positiv verlaufen angesichts des guten politischen Klimas zwischen beiden Ländern. Weiterhin wird allerdings die Entwicklung der bilateralen kulturellen Beziehungen von finanziellen Aspekten abhängen. Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.936 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin). 5.4

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5.4 Dokumente 55 bis 75 (Herbst 1989 bis Herbst 1990) Dokument 55 Aktenvermerk des Auswärtigen Amts vom 27. November 1989 über das Gespräch von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh Bei seiner Budapest-Visite am 23./24. November 1989, die etwas mehr als drei Wochen vor dem offiziellen Staatsbesuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Ungarn erfolgte, kam Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher am ersten Tag zu einem Gespräch mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh zusammen. Wie aus der vom Auswärtigen Amt verfassten Aktennotiz hervorgeht, signalisierte Genscher gegenüber Németh, dass der Westen in Kürze bedeutende Unterstützungsmaßnahmen für Osteuropa verabschieden werde. Einen Schwerpunkt der Unterredungen bildete – nachdem der Demokratisierungsprozess mit der Verkündung der radikalen Verfassungsänderungen am 23. Oktober 1989 einen Höhepunkt erreicht hatte – der wirtschaftliche Transformationsprozess in Ungarn. Diesbezüglich legte Ministerpräsident Németh seine Pläne zur Schaffung der „Eckpfeiler für die Marktwirtschaft“ vor und verwies dabei unter anderem auf mehrere Gesetzesvorhaben (Privatisierungsgesetz, Kapitalmarkt-Gesetz, Bodengesetz usw.) sowie auf ein „umfangreiches Deregulierungsgesetz“. Darüber hinaus betonte Németh die Bedeutung des Engagements führender westdeutscher Politiker für ungarische Interessen, auch auf internationaler Ebene. Einen weiteren Schwerpunkt der Unterredung bildeten die Entwicklungen in der Sowjetunion, wobei Németh den desolaten Zustand der sowjetischen Wirtschaft hervorhob und betonte, dass Moskau – auch zur Stützung der Reformen Gorbatschows – „jede nur mögliche Hilfe“ (auch Kredite für Konsumgüter) benötige. Darüber hinaus legte Németh die ihm bekannten sowjetischen Vorstellungen für das Treffen von Malta (unter anderem Vorschläge zur Abrüstung und zur Intensivierung der Kontakte zwischen NATO und Warschauer Pakt) dar. Genscher brachte erneut die Dankbarkeit der Bundesregierung und der deutschen Bevölkerung für die Grenzöffnung zum Ausdruck. Hinsichtlich der Entwicklungen in Ostdeutschland nach dem Mauerfall am 9. November, der die Frage der deutschen Einheit auf die Tagesordnung der internationalen Politik gerückt hatte, unterstrich er, dass es sich bei den Deutschen um eine Nation handle, Bonn keinen – nicht mit den europäischen Entwicklungen zusammenhängenden – „Sonderweg“ anstrebe und man „keine Explosion in der DDR“ wünsche. Németh signalisierte währenddessen, dass sich Ungarn ein „organisches Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten vorstellen“ könne. *** […]68

68  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.



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Vermerk69 Betr.: Gespräch BM [Bundesminister] mit dem ungarischen Ministerpräsidenten [Miklós] Németh, Budapest, am 23. November 1989 von 18.00 Uhr bis 19.00 Uhr Nach einleitenden Bemerkungen des MP [Ministerpräsident] [Miklós Németh] sprach BM [Bundesminister] [Hans-Dietrich Genscher] den Zusammenhang zwischen den verschiedenen zur Zeit stattfindenden Entwicklungen in Europa an. BM erläuterte die verschiedenen Bemühungen im Westen. Er erwähnte die bei dem Gipfeltreffen in Paris diskutierte Bank für Europa, die als mittel- und langfristiges Instrument der Zusammenarbeit sehr wichtig sei. Am 13.12.1989 werde man in Brüssel im Kreise der 24 auf der Ebene der Außenminister ein politisches Signal geben. Es sei wichtig, dass sich dabei alle 24 Teilnehmerstaaten klar engagierten. Das Treffen habe auch den Zweck, auf den Internationalen Währungsfonds einzuwirken, damit er seine große Verantwortung erkenne. Es gehe hier um eine Aufgabe des IWF, die in einem konkreten Zeitraum und unter spezifischen Bedingungen gelöst werden müsse. MP unterstrich, dass in Ungarn jetzt die Bevölkerung und das Parlament begriffen hätten, dass es sich um eine historische Chance handele. Es gebe aber immer noch einige, die nicht verstehen wollten, dass es eine Sünde sei, wenn man diese Chance vertue. Die Regierung und das Parlament verfolgten entschlossen einen klaren Kurs. Man habe jetzt ein demokratisches Gebäude errichtet, damit man nun den Kurs auf wirtschaftliche Reformen nehmen könne. Mit den politischen Reformen habe man es eilig gehabt, damit durch die neue Verfassung der Reformprozess unumkehrbar gemacht werde. [Michail] Gorbatschow habe 1985 einen Fehler gemacht, als er versucht habe, Reformbewegungen zu bremsen. Einen ähnlichen Fehler habe [János] Kádár gemacht; dies habe allerdings den positiven Effekt gehabt, dass der Wunsch nach Reformen nur noch stärker geworden sei. Die ungarische Führung sei überzeugt, dass man nur auf einer erneuerten demokratischen Basis wirtschaftliche Reformen vornehmen könne. Nachdem die Reformen im politischen Bereich in Gang gesetzt seien, bemühe man sich jetzt, auch in Kontakten mit der Opposition, um wirtschaftliche Reformen. Es gehe darum, Eckpfeiler für die Marktwirtschaft zu errichten. Dabei sei man sich darüber im Klaren, dass es sich nicht um eine Reform, sondern um einen Systemwechsel handele. Dabei wolle er unterstreichen, dass ihm sehr daran gelegen sei, ideologische Diskussion zu vermeiden. Er befasse sich nicht mit der Frage einer Definition von „Sozialismus“; dies überlasse er den Politologen, Soziologen und Philosophen. Ihm gehe es um die Praxis. Jetzt gehe es um folgende praktische Fragen:

69  Auf dem Vermerk befindet sich die Anmerkung: „Vom BM [Bundesminister] noch nicht ge­ nehmigt“.

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– Ein Gesetz über die Reform des Eigentums. Es gehe um eine Neudefinition von Privateigentum und darum, Privateigentum in jeder Beziehung gleich zu behandeln mit anderen Eigentumsformen. Besonders dies sei ein klares Element eines Systemwechsels. – Ein Gesetz über die Privatisierung. Die ungarische Wirtschaft sei „überverstaatlicht“. Den staatlichen Bereich müsste man jetzt auf ein richtiges Niveau zurückschrauben. – Ein Gesetz zur Regelung des Kapitalmarktes. Hier gehe es darum, neue Formen zu schaffen; z. B. auch Miteigentumsrechte für Arbeiter. In diesem Zusammenhang wolle man die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern neu formieren und zu einer ähnlichen Struktur der Sozialpartner kommen wie in der Bundesrepublik Deutschland. – Ein Gesetz über die Selbstverwaltung. Hier gehe es darum, durch Stärkung der Kommunen und anderer Organisationsformen einen „Verbürgerlichungsprozess“ einzuleiten. Dadurch solle auch das Übergewicht der staatlichen Organisation zurückgeschraubt werden. – Ein Gesetz über Grund und Boden. In diesem Bereich gingen die Meinungen am weitesten auseinander. Innerhalb der Regierung habe er hierzu gerade eine Einigung erzielt. Das bestehende System dürfe nicht zerschlagen werden. Andererseits sollten diejenigen Landwirte, die bei der Kollektivierung ihr Land hätten abgeben müssen, das Recht erhalten, ihr Land zurückzuverlangen. Es werde damit gerechnet, dass etwa 50.000 bis 100.000 Landwirte von dieser Möglichkeit Gebrauch machen würden. Im Ergebnis solle sich dann ein echter Wettbewerb herstellen zwischen landwirtschaftlichen Betrieben, die von einem einzelnen Bauern geführt würden, und Kooperativen. – Schließlich plane die Regierung bis Mai ein umfangreiches Deregulierungsprogramm, um die Bürokratisierung der Wirtschaft abzubauen. Nachdem der politische Fahrplan mit den ersten freien Wahlen im Frühjahr festgelegt sei, gehe es jetzt darum, die wirtschaftlichen Reformen im gleichen Tempo wie die politischen Reformen durchzuziehen. Dies sei die Aufgabe dieser Regierung und dieses Parlaments. Darüber hinaus habe die Regierung noch eine (dritte) Aufgabe: Sie müsste in einem Krisenmanagement die Aktionsfähigkeit des Landes erhalten. Im Hinblick auf diese großen Aufgaben wolle er das Engagement des Bundeskanzlers, des Bundesministers aber auch den Ministerpräsidenten verschiedener Bundesländer hervorheben; das gelte sowohl für das Eintreten für ungarische Inte­ ressen innerhalb der Bundesregierung, als auch im internationalen Rahmen. Er bitte die Verantwortlichen der Bundesrepublik Deutschland zu bedenken, dass Hilfe die jetzt gegeben werde, nicht nur Hilfe für diese Regierung sei, sondern Hilfe für das ungarische Volk. Die naheliegende Frage, wie es weitergehen solle, wenn das Programm der gegenwärtigen ungarischen Führung scheitere, könne er auch nicht beantworten.



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Abschließend wolle er hervorheben, dass er die sich heute abzeichnenden Folgen der ungarischen Entscheidung, die eigenen Grenzen für DDR-Bürger zu öffnen, in ihrer weitreichenden Wirkung damals nicht erkannt habe. Er müsse allerdings einräumen, dass Außenminister Horn, auf die weitreichenden Folgen der damaligen Entscheidung hingewiesen habe. BM erwiderte, diese ungarische Entscheidung sei nicht nur bei der Bundesregierung, sondern auch bei der Bevölkerung unseres Landes unvergessen. Wir wollten unseren Dank auch nicht nur symbolisch abstatten. Im Sommer habe die ungarische Regierung europäische Geschichte gemacht. Wenn er die Ausführungen des MP zum Arbeitsprogramm seiner Regierung mit Überlegungen an anderen Stellen vergleiche, so sei es offenkundig, dass Ungarn eine klare Konzeption habe. Es gebe aber keine isolierte Entwicklung in einem Lande, alles hänge zusammen. Die Bundesregierung werbe auch bei ihren Partnern dafür, diese Zusammenhänge zu erkennen. Daraus ergebe sich dann auch die Schlussfolgerung, dass man nicht nur Zuschauer dieser Vorgänge sein dürfe. Was sich jetzt an Reformen entwickle, das werde teuer, und zwar sowohl für die betroffenen Länder, als auch für uns. BM erläuterte sodann, dass er von seiner Reise aus Washington ermutigt zurückgekehrt sei. Auf die Entwicklung in der DDR übergehend unterstrich BM erneut den Gesamtzusammenhang der verschiedenen Reformprozesse. Für die Entwicklung in Deutschland sei wichtig, welche Signale jetzt in Moskau empfangen würden. Die Vorgänge der letzten Wochen hätten es für jeden deutlich gemacht, dass es sich um eine Nation handele. Wir wünschten keinen Sonderweg. Wir wollten aber auch nicht auf einen Sonderweg in der Weise gedrängt werden, dass die Trennung Europas überwunden werde, die Trennung der Deutschen jedoch unverändert bleibe. MP äußerte sich sodann zur Entwicklung in der Sowjetunion. Die Perestroi­ka befinde sich in einer sehr schwierigen Phase. Der Zustand der Wirtschaft sei desolat, insbesondere im Bereich der Energieversorgung und des Verkehrs, aber auch hinsichtlich der Versorgung mit Konsumgütern. Die Sowjetunion habe aus Ungarn im laufenden Jahr in solchem Ausmaß Waren bezogen, dass in der Zahlungsbilanz ein Saldo zugunsten Ungarns in Höhe von 1 Mrd. Rubel bestehe. Er wolle nur nebenbei erwähnen, der IWF verlange, dass dieser Saldo sofort abgebaut werde. Dies zeige nur, in welchem Maße die IWF-Forderung sich außerhalb der politischen Realität bewegt. Solle Ungarn etwa alle Lieferungen in die Sowjet­ union sofort einstellen? Im wirtschaftlichen Bereich brauche die Sowjetunion jede nur mögliche Hilfe. Er beobachte bereits einen deutlichen Trend zur Rückentwicklung zum alten System. Die Wirtschaftsreformen würden zum Teil bereits wieder zurückgedreht. Die sowjetische Führung fürchte eine Preisreform. Die Veränderungen im Genossenschaftsbereich seien ein klarer Schritt zurück. Falls weitere Rückschritte und Rückschläge erfolgten, scheine ihm die Rückkehr zu einem straffen wirtschaftlichen Zentralismus

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möglich. Gorbatschow wolle eine solche Entwicklung sicher nicht, er könne aber dazu gezwungen sein. Aus ungarischer Sicht könne man in drei Bereichen gegensteuern: 1. Schnellerer Rüstungsabbau. Hierzu habe Gorbatschow im wesentlichen Rückendeckung der Militärs, obwohl einige personelle Veränderungen im militärischen Bereich noch notwendig seien. 2. Den Unionsrepubliken solle im größeren Maße wirtschaftliche Autonomie eingeräumt werden. 3. Insgesamt müssten die Zügel der zentralen wirtschaftlichen Führung wesentlich lockerer gelassen werden. Ihm scheine, dass die Sowjetunion einen großen Fehler gemacht habe: Sie habe versucht, die Reformen der Industrie und der Landwirtschaft gleichzeitig durchzuführen. Wenn die Leute nicht genug zu essen hätten, werde es keine Unterstützung für Reformen geben. Hinzu komme der Widerstand im Apparat der Wirtschaftsführung. Außerdem dürfe man nicht die Härte der ideologischen Auseinandersetzung unterschätzen. Die Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa verliefen nicht einheitlich. Wichtig sei jedoch, dass die Anerkennung der Souveränität der Staaten jedem einen Spielraum einräume. Die Sowjetunion nehme das Selbstbestimmungsrecht heute ernst. Er wolle allerdings einschränken, dass dies mit Sicherheit für Gorbatschow gelte, für andere führende Persönlichkeiten der Sowjetunion, z. B. [Jegor] Ligatschow, gelte das aber nicht. Auch deshalb sei es so wichtig, dass Gorbatschow bleibe. Auf die Frage von BM, welche Aktionsfelder MP für die westliche Politik im Hinblick auf die Probleme der Sowjetunion sehe, antwortete MP: Er könne sich einen langfristigen westlichen Kredit in Höhe von 3 bis 4 Mrd. DM für den Import von Konsumgütern vorstellen. Die Akzeptierung Gorbatschows durch die sowjetische Bevölkerung habe zu tun mit vollen Regalen in den Kaufhäusern. Ein Kredit in der von ihm genannten Größenordnung könne selbstverständlich nur eine vorübergehende Hilfe darstellen, aber dies könne Gorbatschow in der schwierigsten Phase des Übergangs entlasten. Gorbatschow fühle sich offensichtlich zunehmend veranlasst, den Sozialismus zu verteidigen. Es wäre deswegen eine große Hilfe für Gorbatschow, wenn im Westen nicht dauern davon geredet werde, der Sozialismus sei endgültig gescheitert. Stattdessen solle man die Bemühungen um eine moderne Gestaltung des Sozialismus hervorheben. Über verbale Aussagen zu diesem Thema hinaus könne man sich jedoch auch praktische in diese Richtung gehende Schritte vorstellen. Warum werde nicht versucht, dreiseitige Zusammenarbeit zu etablieren, z. B. zwischen Ungarn, der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion oder zwischen der Bundesrepu­ blik Deutschland, der DDR und der Sowjetunion. Er glaube, dass Ungarn in den jetzt ablaufenden Prozessen manche Erfahrungen vermitteln könne. So werde er bei dem bevorstehenden Gipfeltreffen des RGW in Sofia Ministerpräsident [Hans] Modrow die deutsche Übersetzung der ungarischen wirtschaftlichen Reformgesetze übergeben. Auf die Frage von BM, ob er bei der sowjetischen Führung Nervosität hinsichtlich der Entwicklung in der DDR spüre, antwortete MP, ohne eine abrupte Veränderung des



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Kräfteverhältnisses könne er sich ein organisches Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten vorstellen. Man solle die sowjetische Führung spüren lassen, dass man nicht eine Lösung um jeden Preis suche, sondern auf einen Entwicklungsprozess eingestellt sei. Der Bundeskanzler habe ihm bei seinem Gespräch am Sonntag (19.11.1989) gesagt, dass man die Kontakte mit der DDR auf eine neue Stufe anheben wolle. BM unterstrich, dass wir keine Explosion in der DDR wünschen. Modrow habe in seiner Regierungserklärung von einer Vertragsgemeinschaft gesprochen. Ähnliche Gedanken enthalte das aide memoire, das die DDR vor dem EPZ-Gipfel [Gipfel für Europäischen Politische Zusammenarbeit] in Paris und bei der Kommission in Brüssel übergeben habe. Auffallend sei, dass die Regierungserklärung Modrows [vom 17. November 1989] noch keine Vorstellungen zu Einzelheiten des Wirtschaftsprogramms enthalte. Bedauerlich sei auch, dass er die wichtige Frage der Wahl nicht konkret angesprochen habe; andererseits seien auch die Vorstellungen bei der Opposition in der DDR noch im Entwicklungsstadium. Wir jedenfalls machten der sowjetischen Führung ganz klar, dass wir keine Destabilisierung der DDR wünschen (Einwurf MP: Es ist sehr wichtig). Wichtig sei jetzt auch, dass man bei der Abrüstung schnell Ergebnisse erziele. MP ging dann auf ihm bekannte Elemente der sowjetischen Überlegungen im Hinblick auf das Malta-Treffen [am 2./3. Dezember 1989] ein: 1. Die Sowjetunion wolle eine weitere Reduzierung von Truppen und Rüstungen vorschlagen. Hierzu wolle er ergänzend bemerken, dass Ungarn Anfang Dezember einen großen Schritt in dieser Richtung ankündigen werde: Bis Ende 1991 sollten die ungarischen Truppen um 35% reduziert werden. Die Wehrpflicht solle von 18 auf 12 Monate gekürzt werden. Schließlich sollten die Streitkräfte organisatorisch verselbstständigt, d. h. nicht weiterhin dem Verteidigungsministerium unterstellt sein. 2. Die Sowjetunion wolle in Malta vorschlagen, dass die Kontakte zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO intensiviert werden sollten. Dabei solle das Ziel sein, beide Vertragssysteme stufenweise abzubauen. Hierzu wolle er anmerken, dass in Ungarn in letzter Zeit drei Verteidigungsminister von NATO-Staaten zu Gast gewesen seien. Der ungarische Generalstabschef habe eine Einladung in die USA erhalten. Bundesminister [Gerhard] Stoltenberg sei nach Ungarn eingeladen. Dies seien alles Etappen auf einem Weg, den man Schritt für Schritt zurücklegen müsse. 3. Die Sowjetunion wolle eine Bestätigung der bestehenden Grenzen vorschlagen, und zwar durch eine Bekräftigung der Helsinki-Erklärungen. 4. Außerdem sei die Sowjetunion bereit zu einer Erklärung der beiden Großmächte, nach der alles, was in Europa vor sich gehe, eine souveräne Angelegenheit der betroffenen Länder sei. Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

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Dokument 56 Fernschreiben der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt vom 1. Dezember 1989 über das ungarische Presseecho auf die Zehn-Punkte-Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl Nachdem Bundeskanzler Helmut Kohl am 28. November 1989 im Bundestag überraschend ein Zehn-Punkte-Programm zur Einheit Europas und Deutschlands verkündet hatte, löste dieser Schritt in den folgenden Tagen auch in Ungarn ein intensives Echo aus. Hierüber informierte die bundesdeutsche Botschaft in Budapest das Auswärtigen Amt. Das verschlüsselte Telegramm berichtet einerseits von den Reaktionen in den ungarischen Medien sowie über die dortige Wiedergabe des internationalen Echos, andererseits weist es auf die allgemein „geringe Kommentierung“ ungarischerseits sowie auf den Sachverhalt hin, dass keine spezifisch ungarischen Befürchtungen oder Bedenken bezüglich einer deutschen Vereinigung vorgebracht worden seien. Gleichzeitig wird aber auch festgestellt, dass die ungarischen Medien diverse Hindernisse für die Verwirklichung der deutschen Vereinigung, darunter die sowjetischen Sicherheitsinte­ ressen, thematisiert hätten. *** […]70 1. Rede des Bundeskanzlers vor dem Bundestag (10 Punkte) fand in der ungarischen Presse am 29./30.11. starken Niederschlag. Fernsehnachrichten brachten in Abendsendung kurzen Film-Beitrag (BK [Bundeskanzler] im Bundestag). Internationales Echo wird sehr ausführlich wiedergegeben, eigene Kommentierung ung. [ungarischen] Tageszeitungen – auch gemessen an hiesigen Gepflogenheiten – gering. Kommentare sind überwiegend verhalten positiv, als Hindernisse auf dem Weg zur deutschen Einheit werden übereinstimmend aufgeführt: Vier-Mächte-Verantwortung,71 sowjetische Sicherheitsinteressen (WP), europäische Integration. Es ist auffallend, dass in den ung. Medien praktisch keine eigenen, aus ungarischen Interessen abgeleitete Befürchtungen oder Bedenken einer deutschen Wiedervereinigung gegenüber vorgebracht werden. 2. Regierungsnahe Zeitung Magyar Hírlap berichtet am 30.11. auf Seite 1 über Reaktionen in der Bundesrepublik und in der DDR (Zitate BFM [Bundesfinanzminister] [Theo] Waigel, [Egon] Krenz). Warnungen aus Moskau, Bonn möge „sein Realitätsgefühl nicht verlieren“, werden an hervorgehobener Stelle, aber ohne eigene Kommen-

70  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle. 71  Viermächteverantwortung für Deutschland als Ganzes und Berlin.



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tierung, zitiert. Die Zeitung macht sich in vorsichtiger Form Hinweise von polnischer Seite zu eigen, die Wiedervereinigung könne nicht nur von den beiden deutschen Staaten entschieden werden. USP-Zeitung [Zeitung der Ungarischen Sozialistischen Partei] „Népszabadság“ konstatiert tiefgreifende politische und wirtschaftliche Auswirkungen in Europa bei möglicher Verwirklichung der 10 Punkte. In der Bundesrepublik sei der Gedanke der Wiedervereinigung immer lebendig gewesen, bisher jedoch nicht in Form eines wirklichen Programms formuliert worden. Zustimmung aller Bundestagsparteien in wesentlichen Fragen des zukünftigen deutsch-deutschen Verhältnisses wird als besonders bemerkenswert hervorgehoben. Zeitung der Patriotischen Volksfront „Magyar Nemzet“ betont, die „Neuvereinigung“ könne nicht detailliert geplant werden; es sei nicht möglich, einen „Kalender“ aufzustellen. In diesem Sinne seien die 10 Punkte des BK nur als Vorbereitung einer künftigen Entwicklung zu verstehen; niemand könne z. Z. Ausgang vorhersagen. Von sowjetischen Stimmen werden [Wadim W.] Sagladijn (sic!)72 und [Nikolai S.] Portugalow73 zitiert. Auswahl der Zitate erweckt den Eindruck weniger starker Ablehnung der Wiedervereinigung als Zusammenstellung in „Népszabadság“. „Magyar Nemzet“ führt darüber hinaus an, der Rede des BK seien Gespräche zum Thema mit Bush und Gorbatschow vorausgegangen. Im Auftrag [Martin] Eberts Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.729, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

Dokument 57 Aufzeichnung des Auswärtigen Amts vom 1. Dezember 1989 über das Gespräch von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit dem Vorsitzenden des Ungarischen Demokratischen Forums József Antall am 23. November 1989 Bei seinem Ungarn-Besuch am 23./24. November 1989 traf Außenminister Hans-Dietrich Genscher auch mit József Antall, Vorsitzender des Ungarischen Demokratischen Forums (MDF), der herausragenden bürgerlich-nationalen Kraft und – ganz offensichtlich – stärksten Oppositionsbewegung, zusammen. Bei dem Gespräch, das einige Tage vor dem Referendum in Ungarn, in dem unter anderem über den Modus für die Wahl des

72  Auch: Sagladin. Sowjetischer Politikwissenschaftler und persönlicher Berater von Michail Gorbatschow. 73  KGB-General und oberster Berater der internationalen Abteilung im Zentralkomitee der KPdSU.

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Präsidenten der Republik abgestimmt werden sollte, stattfand, wurden – gemäß einem Bericht des Büros von Außenminister Genscher – vor allem die innenpolitische Lage in Ungarn und die politischen Kräfteverhältnisse thematisiert. Diesbezüglich äußerte Antall – vor allem vor dem Hintergrund der wachsenden Wirtschaftsprobleme und steigenden Arbeitslosenzahlen – Besorgnis über die Gefahr der politischen Radikalisierung der Bevölkerung und plädierte für baldige Parlamentswahlen, spätestens im Frühjahr 1990. Hinsichtlich der Opposition stellte er fest, dass diese „unorganisiert und zerstritten“ sei, ging gleichzeitig aber – „unter großen Vorbehalten“ – davon aus, dass sein Ungarisches Demokratisches Forum 40 bis 50 Prozent der Stimmen erringen könnte und aus innen- und außenpolitischen Gründen dann die Bildung „einer Koalition mit dem Reformflügel der Sozialistischen Partei“ notwendig sein werde. Darüber hinaus ersuchte Antall im wirtschaftlichen Bereich um „jede Form der Hilfe“, insbesondere im Bereich der Infrastruktur (Telekommunikation), von der Europäischen Gemeinschaft und der Bundesrepublik und sprach sich dafür aus, dass die „Deutsche Einheit sich im europäischen Rahmen verwirklichen müsse“. Überdies brachte er zum Ausdruck, dass Ungarn hoffe, aufgrund der „dramatischen Entwicklungen“ in Ostdeutschland „von der Bundesrepublik nicht vergessen zu werden“. *** – Ministerbüro –

Bonn, den 01.12.1989

Betr.: Gespräch BM [Bundesminister] [Hans-Dietrich Genscher] mit dem Präsidenten des Ungarischen Demokratischen Forums, Herrn József Antall (Frühstück) am 23.11.1989 1. Teilnehmer BM, Herr Antall, VLR I [Bernd] Mützelburg74 (Notetaker) 2. A [Antall] eröffnete Gespräch mit Hinweis, dass Ungarn hoffe, über dramatische Entwicklungen in DDR von Bundesrepublik nicht vergessen zu werden. BM unterstrich, dass sein Besuch gerade Zweck diene, fortdauernde Unterstützung der Bundesregierung für ungarischen Reformprozess zu unterstreichen. Auf Bitte BMs um Lageeinschätzung kurz vor Referendum über Wahl Staatsoberhauptes führte A aus: Lage sei konfus; insbesondere bestehe Gefahr der Radikalisierung der Bevölkerung. GS [Generalsekretär] [Károly] Grósz habe Reformentwicklung bis in den Sommer hinein sabotiert; Reformflügel der USP [Ungarischen Sozialistischen Partei] unter [Imre] Pozsgay und [Miklós] Németh habe sich erst dann stärker durchsetzen

74  Stellvertretender Leiter des Ministerbüros des Bundesaußenministers.



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können. Jedoch habe Grósz bis zum Zusammentreten des Runden Tisches Schwierigkeiten gemacht. Heute sei das ungarische Volk antikommunistisch und antisowjetisch eingestellt. Wegen Gefahr der Radikalisierung, die auch auf Hintergrund schlechter wirtschaftlicher Lage zu sehen [sei], sei timing der Parlamentswahlen besonders wichtig. Er trete für Wahlen spätestens im März/ April ein, während Regierung späteren Termin, etwa Juni, vorziehe. Da bis zur Wahl neuen Parlaments politische und wirtschaftliche Grundsatzentscheidungen unmöglich seien, befürchte er, dass politische und wirtschaftliche Lage umso schwieriger werde, je später Wahlen stattfänden. Frage der Präsidentenwahl, insbesondere Frage, ob Präsident von Volk oder vom Parlament gewählt würde, sei s. E. [seines Erachtens] nebensächlich. Mit Debatte solcher Nebenprobleme verliere Ungarn unnötigerweise viel Zeit. Andererseits sehe er, dass Opposition nach 40 Jahren Kommunismus unorganisiert und zerstritten sei. Konflikte innerhalb Opposition daher unvermeidlich. Unvermeidlich sei weiterhin, sich für eine Übergangszeit auf den Sachverstand und die Kenntnis der bisherigen Funktionsträger, der Beamten, staatlichen Angestellten, etc. abzustützen, da nach 40 Jahren Kommunismus nicht genügend Sachverstand außerhalb der USP vorhanden, um alle Personen auszutauschen. Auf Frage BMs, wie er Ergebnis der Wahlen einschätzen würde, falls im März gewählt würde, antwortete A: Vorausschätzungen nur unter großen Vorbehalten möglich. Er gebe demokratischem Forum zwischen 40 und 50% der Stimmen, bei zunehmender Radikalisierung der Bevölkerung weniger. Die USP werde wohl nicht mehr als 15%, die orthodoxen Kommunisten allenfalls 4% erhalten. Freie Demokraten und Fidesz sehe er jeweils bei ca. 10%. Voraussagen seien vor allem deshalb sehr schwer, weil niemand wirklichen Einfluss auf Arbeiter habe. Zunehmende Wirtschaftsprobleme – Arbeitslosigkeit könne bis auf 40% steigen – könnten sehr schnell zur Radikalisierung in der Schwerindustrie führen. Prioritäres Problem sei daher, Wirtschaft zu stabilisieren und weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern sowie soziales Netz zur Dämpfung der schlimmsten Folgen der Arbeitslosigkeit zu schaffen. Beides sei nur mit Hilfe westlichen Auslandes möglich. Auf Frage BMs nach Rolle der Armee: Armee sei traditionell apolitisch und könne nicht gegen Volk eingesetzt werden. Es gebe auch keinen ungarischen Jaruzelski; der derzeitige Verteidigungsminister sei unpopulär. Auch Oberst [Pál] Maléter habe keine Tendenz zu politischer Einflussnahme des Offizierskorps begründet, das den Primat der Politik respektiere. Andererseits bestehe Konsens, dass auch nach russischem Abzug Fortbestehen einer ungarischen Armee erforderlich sei. A erwähnte in diesem Zusammenhang ausdrücklich rumänische Bedrohung. Auf Frage BMs nach Herkunft der Anhänger und Wähler des [Ungarischen] Demokratischen Forums:

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DF [Ungarisches Demokratisches Forum] sei zunächst Bewegung der Intelligenz gewesen, habe aber zwischenzeitlich seine Basis zu einer Volkspartei verbreitern können, die jedoch nach wie vor von Intellektuellen dominiert werde. Hauptproblem des DF sei fehlende Infrastruktur im Lande. Bei deren Aufbau (bisher 150 lokale Büros) seien Geld- und Sachmittel erforderlich, über die DF (anders etwa als die Freien Demokraten) nicht verfügte. Auf Frage BMs nach Möglichkeiten und Formen einer Unterstützung: Jede Form der Hilfe, privat aber auch offiziell, werde begrüßt und sei möglich. Auf Frage BMs nach möglichen Koalitionen nach den Wahlen: Vor der Wahl sei keine Koalition beabsichtigt. Nach den Wahlen sehe DF aus außenpolitischen (Sowjetunion!), aber auch aus innenpolitischen Gründen die Notwendigkeit einer Koalition mit dem Reformflügel der Sozialistischen Partei. Auch eine Dreierkoalition sei denkbar. Er wisse, dass diese Position das DF dem Vorwurf der Kollaboration aussetze. Die Realpolitik erfordere jedoch eine derartige Festlegung. Sein Leben und das Leben seiner Parteifreunde in der jahrzehntelangen Opposition sei hinreichende Gewähr dafür, dass sie nie „Kollaborateure“ würden. Auf Frage BMs nach dem Ansehen der derzeitigen Regierungsmitglieder in der Öffentlichkeit: Pozsgay sei bisher am populärsten gewesen, habe jedoch überzogen. PM [Premierminister] Németh sei eher ein Manager-Typ, der die Bevölkerung nicht mitreiße. AM [Außenminister] [Gyula] Horn werde von ihm sehr geschätzt, sei innenpolitisch jedoch nicht sehr bekannt. [Mátyás] Szűrös halte zwar jetzt patriotische Reden, habe jedoch ein Glaubwürdigkeitsproblem. [Rezső] Nyers sei verhältnismäßig unpopulär, der frühere GS [Generalsekretär] [Károly] Grósz sei letztlich schlimmer als [János] Kádár gewesen und habe keine politische Zukunft mehr. Auf Frage BMs welche Hilfe Antall von der EG und der Bundesrepublik erwarte: Ungarn könne jede Form der Hilfe im wirtschaftlichen Bereich gebrauchen. Bei Hilfszusagen gegenüber der jetzigen Regierung bitte er jedoch darum, diese mit der politischen Bedingung freier Wahlen im Frühjahr, spätestens im April, zu verknüpfen. Sonst verliere man den Sommer für ein wirtschaftliches Sanierungsprogramm. Eine neu gebildete Regierung wäre sofort mit den Versorgungsschwierigkeiten des Winters konfrontiert. Im Verhältnis zur EG wünsche er sich langfristig eine Mitgliedschaft; realistischer Weise strebe man jedoch zunächst nur eine Assoziierung ähnlich etwa der Türkei an. Er hoffe, dass Ungarn von der in der Diskussion befindlichen europäischen Entwicklungsbank für Osteuropa profitieren könne. Am wichtigsten sei für Ungarn Infrastrukturhilfe, besonders im Bereich der Telekommunikation. Außerdem sei Ausbildungs- und Managementhilfe erforderlich, nicht zuletzt um die 40 Jahre kommunistischer Regierung zu korrigieren, die die Bevölkerung ‚infantilisiert‘ habe. Eine Gesundschrumpfung nach Thatcher-Muster sei für Ungarn nicht möglich, da das Land über keinerlei Reserven verfüge. Die entstehenden sozialen Probleme würden zu einer explosiven Situation führen.



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Abschließend äußerte sich A zur Deutschen Einheit: Das DF befürworte die Deutsche Einheit und setze sich selbstverständlich für das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes ein, wobei es davon ausgehe, dass die Deutsche Einheit sich im europäischen Rahmen verwirklichen müsse. A fragte, ob jetzt nicht die Zeit für einen Friedensvertrag gekommen sei. BM antwortete, dass die Zeit, in der die Vier über das deutsche Schicksal bestimmten, hinter uns liege. Jetzt spreche die Bevölkerung der DDR. Wir wollten diese nicht bevormunden. Uns gehe es darum, Bedingungen zu schaffen, in denen der Wille der DDR-Bevölkerung frei zu Ausdruck kommen könne. Falls es der Wunsch der Bevölkerung der DDR sei, mit uns zusammenzukommen, würden wir dies unterstützen. Abschließend forderte BM Herrn Antall auf, ihm einen Besuch abzustatten, falls er nach D käme. A dankte. Sein Platz sei jetzt jedoch in Ungarn. Er übergab abschließend ein programmatisches Papier des DF (siehe Anlage).75 [Unterschrift] ([Bernd] Mützelburg) Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 139.939 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

Dokument 58 Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an den ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh vom 4. Dezember 1989 über die Bonner Reaktionen auf die Volksabstimmung vom 26. November 1989 In seinem eine Woche nach der sogenannten Vier-Ja-Volksabstimmung (bei der die Ungarn unter anderem über die Modalitäten der Wahl des Präsidenten abgestimmt hatten) verfassten Brief berichtet Botschafter István Horváth dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh von der Reaktion – nicht genannter – Bonner Politiker auf das Referendum und sein Ergebnis. Laut den Ausführungen Horváths habe man in Bonn heftige Kritik an der Notwendigkeit bzw. an der Initiative zur Abhaltung der Abstimmung geübt. Diese hätte mit ihrem Ergebnis „einen Großteil der Kompromisse“, die am Runden Tisch ausgehandelt worden seien, „außer Kraft gesetzt“ und damit verhindert, dass Ungarn in einer wirtschaftlichen und politischen Krisensituation – in der Person von Imre Pozsgay – einen unmittelbar vom Volk gewählten Präsidenten bzw. einen „effektiven und handlungsfähigen politischen Führer“ erhalten könne. Anschließend behandelt Horváth die Bonner Meinungen über die ungarischen Wähleraktivitäten

75  Die Anlage befindet sich nicht in den Akten.

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und über die politischen Kräfteverhältnisse in Ungarn. Bezüglich der für Frühjahr 1990 anstehenden Wahlen würden sich „selbst die eingehendsten Analysen auf keine Prophezeiungen“ einlassen. Im Interesse eines friedlichen Übergangs werde aber darauf verwiesen, dass die neue Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) Teil einer zukünftigen Koalition sein müsse. Schließlich geht Horváth darauf ein, wie der bundesdeutsche Botschafter Alexander Arnot Bundesaußenminister Genscher bei dessen Budapest-Besuch am 23./24. November 1989 über die innenpolitische Lage in Ungarn informiert habe. Laut Arnot könne mit einer Koalition aus Sozialistischer Partei (MSZP) und Demokratischen Forum (MDF) gerechnet werden, und Bonn müsse aufgrund der außenpolitischen Interessen „auch weiterhin in erster Linie der Partner der MSZP“ bleiben. *** Miklós Németh Vorsitzender des Ministerrats der Republik Ungarn Budapest Bonn, 4. Dezember 1989 Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! In Bonner politischen Kreisen brachten viele in Verbindung mit dem Ergebnis der Volksabstimmung und mit den Umständen des Zustandekommens der Volksabstimmung selbst ihre Besorgnis zum Ausdruck und stellten die Frage: War diese überhaupt notwendig? In den Führungskreisen ist man davon überzeugt, dass diese nur scheinbar zur Stärkung der Demokratie beigetragen habe, da der SZDSZ [Bund Freier Demokraten] und der FIDESZ [Bund Junger Demokraten] praktisch auf antidemokratischem Umweg einen Großteil der Kompromisse, die bei den dreiseitigen politischen Ausgleichsverhandlungen zuvor erreicht worden seien, außer Kraft gesetzt hätten. In einer sich verschärfenden wirtschaftlichen und politischen Situation hätten sie verhindert, dass Ungarn in der Person eines unmittelbar vom Volk gewählten Präsidenten der Republik einen effektiven und handlungsfähigen politischen Führer in dieser krisenhaften Phase des Aufbaus einer [neuen] wirtschaftlichen und politischen Struktur bekomme. Dementsprechend urteilen sie, dass sich, wenn die Kandidaten der Linken ([Imre] Pozsgay, [Mátyás] Szűrös, [Kálmán] Kulcsár) endgültig von der politischen Bühne abtreten, die Chancen der MSZP [Ungarischen Sozialistischen Partei], die Prozesse des zukünftigen pluralistischen politischen Systems zu beeinflussen, beträchtlich verringern würden. (In Bonn vertritt man die Meinung, dass Pozsgay bedeutende taktische und große politische Fehler begangen habe, man sieht aber noch die Möglichkeit, dass er wieder auf die Beine kommt.) Die Volksabstimmung weise zugleich auch auf einige Phänomene hin, aus denen alle politischen Kräfte dringend eine Lehre ziehen müssten. Das erste und wichtigste sei,



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dass die Wahlbeteiligung von 58 Prozent – trotz des Boykottaufrufes des MDF [Ungarisches Demokratisches Forum] – zeige, dass die ungarische Bevölkerung keineswegs so passiv ist, wie man das aufgrund der vorherigen Signale hätte erwarten können. Sie sei vielmehr eine aktive, empfindsam-rezipierende Sphäre, die aber in riesigem Ausmaß desorientiert sei. Deshalb bestehe die Gefahr, dass im Falle einer ungleichen Wahlpropaganda der politischen Kräfte das Ergebnis einer weiteren Volksabstimmung auch nicht die wirklichen Interessenverhältnisse widerspiegeln werde. Die Volksabstimmung scheine aber zugleich auch zu bestätigen, dass SZDSZ und FIDESZ langfristig nur einen Scheinsieg errungen hätten. Sie hätten keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten und würden nur an die Proteststimmen, die auf alle Fälle einen größeren Erfolg verheißen würden, appellieren. Von den möglichen nahezu 8 Millionen Stimmen hätten sie etwas mehr als 2 Millionen gewonnen, es stelle sich aber die Frage, ob diese alle für SZDSZ und FIDESZ bzw. ihre Verbündeten gestimmt hätten oder ob sie nur einfach nicht einen mit dem alten (kommunistischen) System verbundenen Präsidenten der Republik wählen wollten. Es stehe zu vermuten, dass ein großer Teil von Letzteren bei den Parlamentswahlen den Kandidaten des MDF bevorzugen werde. Es könne auch nicht eindeutig festgestellt werden, ob die 4 Millionen ferngebliebenen Wahlbürger gänzlich Sympathisanten des MDF seien. Es müsse auch mit einer nicht zu vernachlässigenden Zahl von politisch indifferenten oder noch zu keiner Entscheidung gelangten Staatsbürgern gerechnet werden. Die Aufdeckung dieser Frage würde eine sofortige Meinungsforschungsarbeit erfordern. Das Ergebnis würde wahrscheinlich zeigen, dass man nicht eindeutig von einer MDF-Niederlage sprechen dürfe. Entgegen den vorherigen Erwartungen habe die Volksabstimmung für die MSZP, die gar etwas mehr als 2 Millionen Stimmen errungen habe, ein relativ günstiges Ergebnis gebracht. Der marginale Stimmenunterschied zwischen ihr und SZDSZ und FIDESZ zeige, dass die neue Partei die erste Hürde gut genommen habe und sie – so die Bonner Einschätzungen – noch die Möglichkeit habe, ihre Position zu verbessern. Damit habe sich die Gefahr, dass Ungarn ohne eine hinreichend starke demokratische Linke bleibt, beträchtlich vermindert. Auch könne man heute das Verhalten der Wähler im ländlichen Ungarn noch nicht klar einschätzen. Die [Patriotische] Volksfront würde zwar – so die hiesige Einschätzung – auch im ländlichen Ungarn über die am besten ausgebaute Infrastruktur verfügen, sie würde vorläufig aber keine bedeutende politische Kraft repräsentieren. Sie sei keine registrierte politische Partei und hinsichtlich der Zahl ihrer Anhänger eine ungewisse politische Kraft, da sie von vielen als oppositionelles Relikt einer früheren politischen Struktur mit bitterem Geschmack betrachtet werde. In Bonn nahm man mit großer Beruhigung den 95-prozentigen positiven Stimmenanteil für die anderen drei Fragen zur Kenntnis. Daraus gehe hervor, dass die sich neu organisierende MSZMP76 [Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei] zahlenmäßig zwar eine

76  Nach der Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) im Oktober 1989 riefen Politiker

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große Mitgliederzahl habe, ihr Einfluss auf die Wähler aber gering sei. Die Bevölkerung habe sich eindeutig dafür ausgesprochen, dass die Reformen nicht mehr rückgängig zu machen seien. Es habe sich die Tendenz offenbart, dass sich die Bevölkerung immer mehr von allen Dingen und Politikern, die die Last der Vergangenheit mit sich tragen, abwenden wolle. Dem könnten auch die mutigsten Reformpolitiker zum Opfer fallen. Deshalb bleibe die Frage offen, welche Chancen der gegenwärtige Regierungschef im Falle einer Koalition gegenüber József Antall hätte. Die Regierung habe jetzt auf alle Fälle Zeit gewonnen und die Lenkung der Reformpolitik, die sie auch bisher – ohne tatsächliche parlamentarische Basis – alleine vorangebracht habe, während die jungen Parteien langsam Demokratie „eingeübt“ hätten, sei in ihren Händen verblieben. Der Regierung fehle noch die Zustimmung des Parlaments zu ihrem strengen Wirtschaftsprogramm. Von diesem hänge allerdings die Unterstü­ tzung des IWF ab. Diese habe man aber wegen des nahenden Winters und der geplanten restriktiven Maßnahmen sehr notwendig. Mit Blick auf die schlechte Stimmung der Bevölkerung wolle allerdings keine Partei ihre Zustimmung zu einer weiteren Einschränkung des Konsums und zu einer Verschärfung [der Bestimmungen] der Devisennutzung geben. Ohne diese werde Ungarn aber kaum die erwartete Unterstützung des IWF erhalten. Praktisch trage dieser Widerspruch die Gefahr in sich, dass sich die Situation in Ungarn innerhalb von Wochen verändern könne. Bezüglich des Ausgangs der Wahlen lassen sich selbst die eingehendsten Analysen auf keine Prophezeiungen ein. Die meisten Regierungsberater betonen, die Regierung der BRD müsse an einem friedlichen Übergang interessiert sei und dies setze voraus, dass die MSZP als Kraft, die die Linke vereinige, in einer Koalition bleiben müsse. Hierzu könne die gegenwärtige Regierung das Meiste tun, teilweise damit, dass sie auch weiterhin daran arbeite, die Wählern glauben zu machen, dass sie nicht mit dem früheren Regime identisch sei. Dies könne sie mit Regierungsmaßnahmen, spektakulären personellen Konsequenzen und – nicht zuletzt – mit einer geschickten Wahlkampagne im verbleibenden Zeitraum zum Ausdruck bringen. Hierzu schlagen sie vor, auch den Rat von ausländischen Experten in Anspruch zu nehmen. (Der SZDSZ nahm z. B. den unabhängigen Politikberater Dr. Schröder in Anspruch.) Nur das effektive Zusammenwirken dieser drei Faktoren könne bewirken, dass bei den Wahlen eine angemessene Punktzahl erreicht werde. Im Zuge des jüngsten Ungarn-Besuchs von Genscher informierte der Budapester Botschafter der BRD [Alexander] Arnot den Außenminister folgendermaßen über die innenpolitische Lage unseres Landes: In Ungarn beginnen sich drei größere politische Kräfte eindeutig abzuzeichnen, das MDF, die MSZP und SZDSZ-FIDESZ. Alle drei Kräfte genießen die Unterstützung

der einstigen Staatspartei, die sich mit dem radikalen Bruch mit den Prinzipien des Realsozialismus der Ära Kádár nicht abfinden wollten, darunter Károly Grósz und János Berecz, unter dem alten Namen „Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei“ (MSZMP) eine „neue“ (kommunistische) Partei ins Leben.



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von ca. einem Viertel der Bevölkerung. Der verbleibende Rest entfällt auf die übrigen Parteien und Gruppierungen. Gegenwärtig kann nach den Parlamentswahlen mit einer MSZP-MDF-Koalition gerechnet werden. Diese wird die einflussreichste politische Kraft des Landes sein, auch dann noch, wenn diese Koalition zur Gewinnung der Mehrheit im Parlament eventuell dazu gezwungen ist, einen dritten kleineren Verbündeten zu suchen. Die besten Aussichten hat das MDF, es steht aber zu erwarten, dass auch die MSZP ihre Lage noch verbessern kann. Diese ist jetzt nicht mehr so schlecht, wie die vorangegangenen örtlichen Wahlen dies vermuten ließen. Die außenpolitischen Interessen der BRD erfordern daher, dass Bonn auch weiterhin in erster Linie der Partner der MSZP ist. Genscher ließ sich dementsprechend im Zuge seiner Treffen mit der „Opposition“ in keine ernsthafteren politischen Gespräche ein. Er informierte sie allgemein über die Bestrebungen der BRD und dankte für die Unterstützung in Verbindung mit den DDR-Flüchtlingen. Herzliche Grüße [Unterschrift] (Dr. István Horváth) Quelle: Privatarchiv von Dr. István Horváth, ehemaliger ungarischer Botschafter in Bonn. (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Dr. István Horváth, Budapest). Veröffentlicht in: István Horváth/ András Heltai, A magyar–német játszma. Emlékezés és dokumentumok [Die ungarisch-deutsche Partie. Erinnerung und Dokumente]. Budapest 2015, S. 255–258. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 59 Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident Miklós Németh vom 11. Dezember 1989 in Zusammenhang mit dem offiziellen Staatsbesuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Ungarn vom 16. bis 18. Dezember 1989 In seinem Brief informiert Botschafter Horváth den ungarischen Regierungschef im Vorfeld des offiziellen Staatsbesuchs von Bundeskanzler Helmut Kohl über die „revolutionären Veränderungen in der DDR“, ihre europa- und deutschlandpolitischen Auswirkungen und über den dynamischen Prozess des „Zusammenwachsens“ der beiden deutschen Staaten. Anschließend unterbreitet er eine Reihe von Vorschlägen, die von Németh bei seinen Verhandlungen mit Bundeskanzler Kohl aufgegriffen werden sollen, um eine weitere Intensivierung der (west)deutsch-ungarischen Beziehungen herbeizuführen und um negative Auswirkungen des deutschen Vereinigungsprozesses abzuwenden. Im Mit-

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telpunkt der Anregungen stehen die Schaffung eines „deutsch-ungarischen Forums“ zur Institutionalisierung der bilateralen Beziehungen, die Vertiefung der Finanzkooperation durch die Etablierung deutscher Banken in Ungarn, eine erneute Kreditgewährung zur Sanierung und Transformation der ungarischen Wirtschaft, die Entwicklung des ungarischen Fremdenverkehrs mit bundesdeutscher Hilfe, eine Unternehmenskooperation in der Dritten Welt sowie die Ausweitung der Vertragsbeziehungen unter anderem im Verkehrssektor und die Intensivierung der Kooperation im Hochschulbereich und bei der Sprachausbildung. Darüber hinaus schlägt Horváth vor, Bonn zu signalisieren, dass Budapest für den Fall, dass sich die Entwicklungen in der DDR ungünstig auf die ungarisch-ostdeutschen Beziehungen auswirken würden, die Bundesrepublik um eine – nicht näher ausgeführte – „Garantie“ bzw. Hilfe ersuchen würde.

Herrn Miklós Németh Ministerpräsident Budapest

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Bonn, 11. Dezember 1989 Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Der nahende Besuch von Kanzler Kohl in Ungarn fällt in eine Phase, die – mit besonderem Blick auf die in der DDR eingetretenen Veränderungen – das Aufwerfen zahlreicher Fragen aktuell macht. Der innere Wandlungsprozess in Ungarn und die auch international anerkannte Tätigkeit der ungarischen Außenpolitik trugen nicht wenig zum radikalen qualitativen Wandel in den Ost-West-Beziehungen bei. Dies hat in der oberen politischen und wirtschaftlichen Führung der BRD sowie auch in breiten Bevölkerungskreisen einmütige Sympathie gegenüber unserem Land ausgelöst. Die BRD anerkennt und betont die entscheidende Rolle Ungarns in Osteuropa und – innerhalb dieser – für die in der DDR eingetretenen Veränderungen. Die revolutionären Veränderungen in der DDR und ihre Auswirkungen auf die Ost-West-Beziehungen projizieren die Konturen einer völlig neuen europäischen Zusammenarbeit. In diesem Prozess spielt das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander eine entscheidende Rolle. Unabhängig von den auf dem Gipfeltreffen von Malta verwendeten Formulierungen und von der Meinung und vom Willen der verschiedenen ost- und westeuropäischen Politiker wird der Prozess des faktischen „Zusammenwachsens“ der beiden deutschen Staaten – dadurch, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu einer tatsächlichen Praxis geworden ist – aufgrund der objektiven Umstände voraussichtlich weitaus schneller verlaufen, als dies von den Außenstehenden angenommen wird. Dieser „Prozess des Zusammenwachsens“, dessen Anzeichen bereits jetzt spürbar sind, beginnt infolge der katastrophalen Lage in der DDR auf sozialem Gebiet. Die DDR-Staatsbürger melden



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sich z. B. massenhaft zu Krankenhausbehandlungen in der BRD. Es ist nicht notwendig, die ferneren Auswirkungen dieser Situation auszuführen (unentgeltliche Krankenhaus- und Medikamentenversorgung, kostenlose Unterbringung der Besucher in Hotels usw.). Infolge der schwierigen inneren Wirtschaftslage der DDR lastet ein außerordentlich großer Druck auf der DDR-Mark (sic!). Die Ausweitung der Beziehungen (freies Reisen, Beendigung des Zwangsumtausches usw.) wird in der Praxis die Anerkennung der BRD-Mark (sic!) als allgemeines Zahlungsmittel erzwingen. Aufgrund dessen wirft sich bereits heute die Notwendigkeit einer Währungsreform auf. Abweichend von den politischen Vorstellungen der BRD – die ein langsameres, aber ausgeglicheneres, die internationalen politischen Zusammenhänge stärker berücksichtigendes, synchron zu den gesamteuropäischen Prozessen verlaufendes und nicht zwanghaft beschleunigtes „Zusammenwachsen“ voraussetzen – wird wegen der schweren politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise in der DDR seitens der Bevölkerung immer kraftvoller die Forderung nach Vereinigung der beiden deutschen Staaten zum Ausdruck gebracht. Dieser Prozess ist unserer Meinung nach von außen nur minimal zu beeinflussen, er kann von der politischen Führung in den beiden deutschen Staaten bestenfalls verlangsamt, aber nicht aufgehalten werden. Die sehr schnelle wirtschaftliche Umgestaltung der DDR wirft Fragen auf wie z. B. die Erfüllung der wirtschaftlichen Verpflichtungen der DDR gegenüber den benachbarten RGW-Staaten, und so gegenüber unserem Land, oder die Auswirkung der qualitativen Veränderung der Beziehungen der DDR zur EG auf die übrigen RGW-Staaten. Infolgedessen wird die EG nicht weniger gezwungen sein, den Charakter ihrer Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu den kleinen osteuropäischen Staaten neu zu formulieren. Es ist nämlich schwer vorstellbar, dass die veränderten EG-Beziehungen der DDR (de facto eine Mitgliedschaft) keine Neuerwägung der Beziehung Polens zur EG nach sich ziehen werden. Berücksichtigt man diese Tendenzen, dann diktieren es die elementaren Inte­ ressen unseres Landes, dass wir unsere Beziehungen zur BRD weiter vertiefen und dass wir eine Art „Garantie“ dafür erhalten, dass Ungarn keine Nachteile wegen der entstandenen neuen Situation erleidet. Deshalb empfehlen wir, zu erwägen, die folgenden Vorschläge aufzuwerfen: – Schaffung eines ungarisch-deutschen Forums, das einen regelmäßigen und zugleich breiten Meinungsaustausch auf hoher Ebene sicherstellt. Das primäre Ziel dieses Forums ist es, die Beziehungen auf den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sonstigen Gebieten zu institutionalisieren. […] – Die Regierung der BRD soll die Präsenz von bundesdeutschen Geldinstituten in Ungarn – nicht nur in Form von Vertretungen, sondern als wirkliche Banken – politisch kraftvoller als bisher ermutigen. – Welche Möglichkeiten bestehen seitens der BRD, um dem Sanierungs- und Strukturveränderungsprogramm für die ungarische Wirtschaft auf Regie-

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rungsebene Hilfe zu leisten: Gibt es z. B. die Möglichkeit der Gewährung eines nicht deklarierten Überbrückungskredits oder einer Unternehmenskonversion, die mit dem Kredit zusammenhängt, zum Zwecke unserer fälligen Schuldentilgung? Wir sollen signalisieren, dass sich die veränderte Situation der DDR eventuell ungünstig auf die ungarisch-ostdeutschen Beziehungen auswirkt. Um dem entgegenzuwirken, ersuchen wir die BRD um Hilfe. Als Ergebnis der erfreulichen Veränderung der politischen Lage wirft das 1990 und später bedeutend zunehmende touristische Interesse an unserem Land die Notwendigkeit auf, dass sich die BRD stärker an der Sphäre des Fremdenverkehrs beteiligt. Zusammenarbeit in der Dritten Welt. Seitens des Ministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit der BRD, das die Zusammenarbeit mit der Dritten Welt koordiniert, erhalten wir regelmäßig das Signal, dass die Möglichkeit der Unterstützung Ungarns [in diesem Bereich] untersucht werde. In diesem Zusammenhang haben wir initiiert, dass die BRD mittels der Überprüfung der Regelungen für Subunternehmer die Einschaltung ungarischer Unternehmen in verschiedene Projekte weiter erleichtert bzw. dass in größerem Maße ungarische Arbeitskraft in die Verwirklichung dieser Projekte einbezogen wird. Auf dem Gebiet von Kultur und Unterricht – soll die Hochschulkooperation ausgeweitet werden; es soll ermöglicht werden, dass ungarische Studenten an Universitäten in der BRD ein vollwertiges Studium absolvieren; – soll die Möglichkeit, DAAD-Stipendien [Stipendien des Deutschen Akademischen Austauschdienstes] in Anspruch zu nehmen, ausgeweitet werden; – soll nach Möglichkeiten gesucht werden, ungarische Spitzensportler zu sponsern; – sollen wir die Möglichkeiten der bundesdeutschen Unterstützung in Verbindung mit dem Sprachunterricht untersuchen und innerhalb dieser Hilfe die Möglichkeit einer kraftvolleren kulturellen und sprachlichen Unterstützung der deutschen Nationalität in Ungarn seitens der BRD. Wir sollen unser Interesse an der Ausweitung der Vertragsbeziehungen bekräftigen (Betreibung des Zustandekommens von Äquivalenz-, Gesundheits-, Straßen- und Luftverkehrsabkommen). Eine wichtige Zwischenstation auf dem Weg zur vollständigen Streichung des Visazwangs könnte sein (und dies würde der Kräftigung der zweiseitigen menschlichen und wirtschaftlichen Kontakte dienen), dass ungarische Staatsbürger ohne jegliche administrativen Hindernisse ein mindestens 48-stündiges Durchreisevisum an bestimmten bundesdeutschen Grenzstationen (z. B. in Straßburg/Kehl, Salzburg/Bad Reichenhall, Suben, Helmstedt)



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erhalten. (Sollte die BRD eventuell die Frage der vollständigen Visafreiheit aufwerfen, dann dürfen wir dies nicht zu einem Gegenstand wirtschaftlicher Erwägungen bezüglich der Visa-Einnahmen machen.) – In internationaler Hinsicht sollen wir die Absicht der Entwicklung unserer politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zur EG bekräftigen. Wir sollen die BRD um wirksamere Unterstützung zur Entwicklung unserer Beziehungen zur EG und zu anderen europäischen Organisationen (Europarat, Europäisches Parlament, Nordatlantische Vollversammlungen) und für unsere Teilnahme an europäischen Projekten (ERASMUS, EUREKA) ersuchen. Herzliche Grüße (Dr. István Horváth) Quelle: Privatarchiv von Dr. István Horváth, ehemaliger ungarischer Botschafter in Bonn. (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Dr. István Horváth, Budapest.) Veröffentlicht in: István Horváth/ András Heltai, A magyar–német játszma. Emlékezés és dokumentumok [Die ungarisch-deutsche Partie. Erinnerung und Dokumente]. Budapest 2015, S. 259–262 (Dokument Nr. 34). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 60 Aufzeichnung des Auswärtigen Amts vom 19. Dezember 1989 über das Gespräch von Bundeskanzler Helmut Kohl mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh Vom 16. bis 18. Dezember 1989 stattete Bundeskanzler Helmut Kohl – nachdem er zuvor Polen besucht hatte – Ungarn einen ungarischerseits lange erwarteten offiziellen Staatsbesuch ab und führte bei dieser Gelegenheit eine ausführliche Unterredung mit Ministerpräsident Miklós Németh. Im diesbezüglichen Aktenvermerk des Auswärtigen Amts, der sich auf Informationen „aus der Umgebung“ des Bundeskanzlers stützt, wird an erster Stelle über die Gespräche hinsichtlich der „Lage in Ungarn“ berichtet. Auf ungarische „Sorgen wegen der Energieversorgung“ demonstrierte Kohl weitgehende Hilfsbereitschaft. Németh, der im Parlament den – mit weiteren Sparmaßnahmen verbundenen – Haushalt für 1990 verabschieden lassen musste, gab sich bezüglich eines Erfolgs „vorsichtig optimistisch“. Bezüglich der „deutschen Frage“ erläuterte Kohl ausführlich die schwierige innenpolitische Lage in der DDR sowie sein Zehn-PunkteProgramm, das „den Menschen in der DDR eine Perspektive“ aufzeigen sollte. Németh verwies unter anderem auf die negative Haltung Moskaus und Warschaus bezüglich einer deutschen Vereinigung. Außerdem unterrichtete Németh Kohl über die ungarischen Abrüstungsvorhaben, Kohl sprach sich für die Streichung der Visumspflicht zwi-

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schen beiden Staaten aus. Die Aufzeichnung endet mit dem Hinweis auf den erfolgten Abschluss von fünf bilateralen Abkommen. *** […]77 Vermerk Betr.: BK-Reise [Reise des Bundeskanzlers] nach Budapest hier: Gespräch mit MP [Ministerpräsident] [Miklós] Németh am 16.12.1989 Über das obige Gespräch wurden wir auf Arbeitsebene aus der Umgebung von BK [Bundeskanzler] wie folgt unterrichtet: 1. Lage in Ungarn MP Németh habe an seinen Besuch bei BK in Ludwigshafen Mitte November angeknüpft und sei auf seine Sorgen wegen der Energieversorgung während des bevorstehenden Winters zurückgekommen. Er habe die Lage insgesamt etwas optimistischer als beim letzten Treffen beurteilt. BK sagte Hilfe im Rahmen unserer Möglichkeiten zu, falls Ungarn in eine akute Versorgungskrise geraten sollte. Er werde sich für diesen Fall auch innerhalb der EG für weitere Hilfsmaßnahmen einsetzen. Németh habe sich auch vorsichtig optimistisch zu seinen Aussichten geäußert, für das neue Haushaltsgesetz mit seinen zahlreichen Einschränkungen für die Bevölkerung (Subventionsabbau) im Parlament eine Mehrheit zu erhalten. Über die Oppositionsparteien habe Németh besorgt geäußert, dass sie zu den aktuellen Problemen des Landes teilweise sehr wenig realistische Vorstellungen äußerten. BK hat auf die Perspektiven in Europa hingewiesen und an Ungarn appelliert, in jeder vernünftigen Form eine möglichst enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der EG zu suchen. 2. Deutsche Frage BK hat die Lage in der DDR ausführlich erläutert. Es gebe Elemente, die jetzt Vergeltung forderten. In dieser Situation sei es wichtig, die Verantwortlichen in der DDR zu Ruhe und Verantwortungsbewusstsein zu ermuntern. Dies werde er, BK, tun, wenn er am 19. 12. 1989 nach Dresden reise. Ein akutes Problem sei der Autoritätsverlust von Staat und Partei in der DDR. Die Partei verfüge über kein Konzept zur Regelung der Wirtschaftsprobleme. BK habe MP [Hans] Modrow geraten, sich über die diesbezügliche Gesetzgebung der ung. Regie-

77  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.



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rung zu informieren. MP Németh wird im Januar 1989 (sic!)78 in die DDR reisen und die ung. Position zur Wirtschaftspolitik erläutern. BK hat sein Zehn-Punkte-Programm im Einzelnen dargestellt (kein Kalender, kein mechanischer Ablauf). Ein Grundmotiv für dieses Programm sei, den Menschen in der DDR eine Perspektive aufzuzeigen. MP Németh berichtete, dass beim WP-Gipfel nach dem informellen Treffen Bush/ Gorbatschow in Malta die Deutsche Frage eine wesentliche Rolle gespielt habe. Gorbatschow und auch Polen hätten sich deutlich negativ geäußert. MP [Hans] Modrow habe erklärt, dass er mit den Punkten eins bis vier des BK keine Schwierigkeiten habe. Zur Grenzfrage habe BK deutlich gemacht, dass er nicht für ein wiedervereinigtes Deutschland Aussagen zur Westgrenze Polens machen könne. Er habe aber erläutert, wir seien uns bewusst, dass in den Gebieten östlich von Oder und Neiße in dritter Generation Polen lebten. Eine erneute Vertreibung dürfe es nicht geben. Er sei überzeugt, dass im Falle einer Föderation von D und DDR die polnische Westgrenze nicht in Frage gestellt werde. 3. Abrüstung/ Rüstungskontrolle Beide Seiten haben sich über einen Besuchsaustausch der beiden Verteidigungsminister verständigt. MP Németh berichtete über die Absicht der ung. Regierung, die Streitkräfte in den nächsten zwei Jahren um 35% zu reduzieren. Der Wehrdienst solle von 18 auf 12 Monate verkürzt werden. Als Verteidigungsminister solle demnächst ein Zivilist fungieren. 4. Helsinki II BK habe erklärt, ein solches Treffen müsse sorgfältig vorbereitet werden. Dabei müssten konkrete Ergebnisse erzielt werden. Der gesamteuropäische Prozess solle weiter gefestigt werden. Auch bei der Abrüstung seien neue Impulse nötig. 5. Bilaterale Beziehungen BK teilte in der Pressekonferenz am 18. 12. 1989 mit, er werde sich für baldmögliche Verhandlungen über die Aufhebung der gegenseitigen Sichtvermerkspflicht einsetzen und sei nach Ausschöpfung der Expertenebene bereit, über diese Frage mit den Schengener Partnern auf Regierungschefebene zu sprechen. BK äußerte seine Hoffnung, den ung. MP im kommenden Jahr in der Bundesrepublik Deutschland begrüßen zu können.

78  Gemeint ist 1990.

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Anlässlich des BK-Besuchs wurden fünf Abkommen unterzeichnet (Luftverkehr, Straßengüterverkehr, Gastarbeitnehmervereinbarungen). gez. Dr. [Christoph] Derix Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.716 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

Dokument 61 Aufzeichnung des ungarischen Außenministeriums vom 16. Januar 1990 über die Nachfrage des bundesdeutschen Botschafters in Budapest Alexander Arnot nach den ungarischen Abhörregelungen Zehn Tage nach Ausbruch des sogenannten Donau-Gate-Skandals, also der Aufdeckung der auch weiterhin fortgeführten Bespitzelung der Oppositionsparteien bzw. von führenden Oppositionellen durch die ungarischen Staatssicherheitsorgane, sprach der bundesdeutsche Botschafter in Budapest Alexander Arnot gegenüber einem ungarischen Diplomaten den Vorfall an und erkundigte sich über die ungarische Abhörregelung und Abhörpraxis in Bezug auf ausländische Diplomaten. Über diese „Erkundigung“ verfasste ein Hauptabteilungsleiter des ungarischen Außenministeriums79 am 16. Januar 1990 eine Notiz. *** Aufzeichnung Gegenstand: Erkundigung des Botschafters der BRD nach den ungarischen Abhörregelungen Am 15. Januar 1990, auf dem Empfang des luxemburgischen Botschafters, erwähnte der Botschafter der BRD A. [Alexander] Arnot die Angelegenheit der Abhörung der Oppositionsparteien. Diesbezüglich erkundigte er sich, welche Regelung und Praxis hinsichtlich der in Budapest tätigen diplomatischen Vertretungen gültig seien. Er erklärte, dass dies das diplomatische Korps beschäftige. Er würde gerne wissen, ob sie in der Botschaft der BRD bzw. in ihrer Residenz mit einem ständigen Abhören oder einer anderen ständigen Form der Beobachtung rechnen müssten. Er erwähnte, dass bei seiner Ankunft in der Botschaft der dort Dienst leistende Polizist immer aus dem

79  Tádé Alföldi.



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Haus komme. Er würde dies nicht verlangen und, sollte dies nicht durch Sicherheitsgründe erforderlich sein, gerne davon absehen. Der Botschafter brachte nachdrücklich zum Ausdruck, dass man wünsche, sich in Ungarn als Mission eines befreundeten Landes fühlen zu können. Ich versicherte dem Botschafter, dass die zuständigen ungarischen Dienste immer auf der Grundlage unserer bestehenden internationalen Verpflichtungen bzw. der Umstände, die mit der Sicherheitslage der Botschaften zusammenhängen, handeln würden. Unsere Beziehungen würden sich auf allen Gebieten erfolgreich entwickeln und er könne sicher sein, dass die freundschaftlichen Beziehungen auch in den Arbeitsbedingungen der Botschaften zur Geltung kommen würden. Ich schlage vor, dass die Sicherheitsabteilung [des Außenministeriums] eine entsprechende Antwort ausarbeitet und diese dem BRD-Botschafter bei passender Gelegenheit mitteilt. Budapest, 16. Januar 1990 Quelle: MNL OL, XIX-J-1-k 1990, 70. d., ohne Paginierung. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 62 Gesetz Nr. IV des Jahres 1990 über die Gewissens- und Glaubensfreiheit sowie über die Kirchen, verabschiedet vom Parlament auf seiner Sitzung vom 23. bis 26. Januar 1990 Im Zuge des politischen Systemwechsels gelangte auch die Frage der Glaubens- und Gewissensfreiheit, des Verhältnisses von Staat und Kirche und der Tätigkeit der Kirchen in Ungarn auf die Tagesordnung der Politik. Nach mehrmonatigen Vorarbeiten konnte der im Mai 1989 in die Németh-Regierung berufene Kultusminister Ferenc Glatz dem Parlament zu seiner Januar-Sitzung einen entsprechenden Gesetzentwurf, der mit großer Mehrheit angenommen wurde, vorlegen. Das Gesetz weist eingangs zum einen auf die besondere Rolle der ungarischen Kirchen, Konfessionen und Glaubensgemeinschaften in der ungarischen Gesellschaft hin, zum anderen auf die Bedeutung der Gewissensund Glaubensfreiheit. Im ersten Kapitel legt das Gesetz die Bestimmungen hinsichtlich des „grundlegenden Menschenrechts“ der Gewissens- und Glaubensfreiheit dar, wobei unter anderem darauf verwiesen wird, dass niemand „wegen seines Glaubens, seiner Überzeugung oder des Ausdrucks seines Glaubens oder seiner Überzeugung irgendeinen Nachteil erleiden oder irgendeinen Vorteil genießen“ dürfe. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den Voraussetzungen für die Registrierung der Kirchen und Kirchenverbände, mit den Beziehungen zwischen Kirche und Staat (Trennung von Kirche und Staat), mit der (außerkirchlichen) Tätigkeit der Kirchen sowie mit ihrem Wirtschaftsgebahren und mit ihrer Auflösung. Die Schlussbestimmungen regeln in erster Linie die

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Registrierung der bereits bestehenden und anerkannten Kirchen usw., das Inkrafttreten des Gesetzes mit seiner Verkündung (am 12. Februar 1990) und über den mit dem Inkrafttreten verbundenen Gültigkeitsverlust früherer Rechtsnormen. *** Gesetz Nr. IV des Jahres 1990 über die Gewissens- und Glaubensfreiheit sowie über die Kirchen Die Kirchen, Konfessionen und Glaubensgemeinschaften in Ungarn sind Kräfte der Gesellschaft, die von herausragender Bedeutung sind, besondere Werte in sich tragen und eine gemeinschaftsbildende Funktion haben. Neben ihren Tätigkeiten, die in den Kreis des Glaubenslebens gehören, erfüllen sie auch mit ihren Aktivitäten im Bereich von Kultur, Bildung und Unterricht, Soziales und Gesundheit sowie bei der Pflege des Nationalbewusstseins eine bedeutende Rolle in Leben des Landes. Im Interesse der Durchsetzung der Gewissens- und Glaubensfreiheit und der Förderung von Verhaltensweisen, die die Überzeugung der anderen in Ehren halten und das Prinzip der Toleranz verwirklichen, und – als Garantie hierfür – zum Zwecke der Gewährleistung der Selbstständigkeit der Kirchen und der Regelung ihrer Beziehungen zum Staat verabschiedet das Parlament – in Übereinstimmung mit der Verfassung und den internationalen Verpflichtungen der Republik Ungarn – das folgende Gesetz mit Verfassungsrang: I. Kapitel Das Recht auf Gewissens- und Glaubensfreiheit § 1 Die Gewissens- und Glaubensfreiheit ist ein jedem Menschen zustehendes grundlegendes Menschenrecht, dessen ungestörte Ausübung die Republik Ungarn gewährleistet. § 2 (1) Das Recht auf Gewissens- und Glaubensfreiheit umfasst die freie Wahl oder Annahme einer Religion oder einer anderen Gewissensüberzeugung sowie die Freiheit, dass jeder seinen Glauben und seine Überzeugung auf dem Wege von Glaubenshandlungen und Glaubensritualen oder auf sonstige Art und Weise – individuell oder gemeinschaftlich – in der Öffentlichkeit oder in privatem Kreise vertreten kann oder auf eine Vertretung verzichten kann, und dass jeder Mensch seinen Glauben und seine Überzeugung ausüben und lehren darf (§ 60, Absatz 2 der Verfassung). (2) Die Verbreitung eines Glaubens oder einer anderen Gewissensüberzeugung kann auch auf dem Wege der Massenkommunikationsmittel erfolgen. In diesem Falle müssen die Bestimmungen des Gesetzes, das sich auf die Information bezieht, angewendet werden.



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§ 3 (1) Niemand darf wegen seines Glaubens, seiner Überzeugung oder des Ausdrucks seines Glaubens oder seiner Überzeugung irgendeinen Nachteil erleiden oder irgendeinen Vorteil genießen. (2) Eine staatliche (behördliche) Registrierung von Daten bezüglich des Glaubens oder einer anderen Überzeugung ist untersagt. Über derartige Daten, die bereits registriert wurden, darf nur die betroffene Person oder – nach ihrem Tode – die Verwandtschaft ersten Grades informiert werden. § 4 Niemand darf in der Ausübung der Gewissens- oder Glaubensfreiheit behindert werden, die Ausübung des Rechts befreit allerdings – wenn gesetzlich nicht anderweitig verfügt – nicht von der Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten. § 5 Eltern und Vormund haben das Recht, über die moralische und religiöse Erziehung der minderjährigen Kinder zu entscheiden und entsprechend dafür zu sorgen. § 6 Die individuelle oder gemeinschaftliche Religionsausübung muss Personen, die in Sozial-, Gesundheits-, Kinder- und Jugendschutzeinrichtungen betreut werden sowie in Strafvollzugsanstalten untergebracht sind, möglich gemacht werden. § 7 (1) Personen, die militärischen Dienst in Militäreinrichtungen leisten, dürfen ihren Glauben – in Übereinstimmungen mit den Dienstbestimmungen – individuell frei ausüben. (2) Außerhalb militärischer Einrichtungen darf die Militärdienst leistende Person in ihrer individuellen oder gemeinschaftlichen Religionsausübung nicht behindert werden. § 8 (1) Personen, die gleichen Glaubensprinzipien folgen, dürfen zum Zwecke der Ausübung ihrer Religion selbstverwaltete Glaubensgemeinschaften, religiöse Konfessionen und Kirchen (im Folgenden: Kirche) gründen. (2) Eine Kirche darf zum Zwecke jeder religiösen Tätigkeit, die nicht im Widerspruch zur Verfassung steht und die nicht mit den Gesetzen kollidiert, gegründet werden. II. Kapitel Die Kirchen Die Registrierung der Kirchen § 9 (1) Die Kirche wird vom Komitatsgericht bzw. vom Hauptstädtischen Gericht (im Folgenden beide: Gericht) gemäß ihrem Sitz registriert, wenn a) die Kirche von mindestens 100 natürlichen Personen gegründet wurde, b) die Kirche ihre Satzung verabschiedet hat, c) die geschäftsführenden und repräsentativen Gremien gewählt wurden und d) die Gründer eine Erklärung abgeben, dass die von ihnen geschaffene Organisation den Bestimmungen von § 8 entspricht. (2) Die Satzung oder die internen Gesetze und Regeln (im Folgenden: Satzung) müssen Folgendes enthalten:

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a) Name, Sitz und organisatorischen Aufbau der Kirche, b) wenn eine organisatorische Einheit der Kirche eine juristische Person ist, dann deren Bezeichnung. (3) Die Bezeichnung der Kirche darf nicht identisch oder verwechselbar mit der Bezeichnung einer bereits registrierten Kirche sein. § 10 (1) Den Antrag auf Registrierung der Kirche kann eine zur Vertretung der Kirche berechtigte Person einreichen. (2) Der Anmeldung müssen die angenommene Satzung und eine Erklärung gemäß § 9, Absatz 1, Punkt d) beigefügt werden. Außerdem müssen die Namen der Personen, die zur Vertretung der Kirche berechtigt sind, mitgeteilt werden. § 11 Die Registrierung der Kirche kann verweigert werden, wenn diese den Bestimmungen von § 8 nicht gerecht wird bzw. wenn die Gründer den Bestimmungen der §§ 9 und 10 nicht Genüge geleistet haben. § 12 (1) Das Gericht entscheidet über die Registrierung der Kirche in einem nicht gerichtlichen Verfahren innerhalb von sechzig Tagen nach Eintreffen der Anmeldung. (2) Wenn die Satzung der Kirche hinsichtlich der in § 9, Absatz 2 festgehaltenen Bestimmungen geändert wird bzw. wenn eine neue Person zur Vertretung berechtigt wird, dann muss dies der Vertreter innerhalb von dreißig Tagen nach der Veränderung bei Gericht anmelden. § 13 (1) Mit der Registrierung wird die Kirche zu einer juristischen Person und mit ihrer Streichung verliert sie ihren Status als juristische Person – am Tage der jeweiligen Beschlussfassung. (2) Die Kirche und – wenn die Satzung dies so verfügt – die selbstständigen, über ein Vertretungsorgan verfügenden organisatorischen Einheiten (Organisation, Institution, Kirchengemeinde usw.) sind juristische Personen. (3) Eine selbstständige, zu religiösen Zwecken gegründete Organisation (Mönchsorden usw.) wird dann zu einer juristischen Person, wenn sie – aufgrund des Antrags eines Vertreters – gerichtlich registriert wird. Bei der Anmeldung muss der Sitz der Organisation sowie das geschäftsführende und vertretende Organ benannt werden. Der Anmeldung muss eine Erklärung des zuständigen Kirchenorgans beigefügt werden, dass die Organisation gemäß der Satzung der Kirche gebildet wurde und im Rahmen der Kirche tätig ist. Bei der Registrierung muss im Übrigen gemäß den Bestimmungen von § 12, Absatz 1 und 2 vorgegangen werden. Die Kirchenverbände § 14 (1) Das Gericht registriert einen von Kirchen gegründeten Verband, wenn die gründenden Kirchen die Satzung angenommen haben, die geschäftsführenden und vertretenden Organe gewählt haben und die zur Vertretung berechtigte Person den Antrag zur Registrierung bei Gericht eingereicht hat. Der Verband wird mit der Registrierung zu einer juristischen Person.



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(2) In der Satzung des Kirchenverbandes muss das Ziel, der Name, der Sitz und die Organisation des Verbandes geregelt werden. Ein Kirchenverband darf nicht in erster Linie mit dem Ziel, eine wirtschaftlich-unternehmerische Tätigkeit zu verrichten, gegründet werden. (3) Das Gericht verweigert die Registrierung des Kirchenverbandes, wenn dessen Ziele im Widerspruch zur Verfassung oder zu den Bestimmungen anderer Gesetze stehen, bzw. wenn die Gründer den Bestimmungen von Absatz 1 und 2 nicht Genüge geleistet haben. (4) Fragen, die in den Abschnitten 1 bis 3 nicht geregelt werden, sind gemäß den sich auf die Registrierung, Tätigkeit, Aufsicht und Auflösung der Kirchen beziehenden Bestimmungen festzulegen. Die Beziehungen zwischen Kirche und Staat § 15 (1) In der Republik Ungarn ist die Kirche getrennt vom Staat tätig (§ 60, Absatz 3 der Verfassung). (2) Zur Durchsetzung der inneren Gesetze und Regelungen der Kirche darf kein staatlicher Zwang angewendet werden. (3) Den Kirchen stehen gleiche Rechte und Pflichten zu. § 16 (1) Der Staat darf kein Organ zur Lenkung und Kontrolle der Kirchen einrichten. (2) Im Falle einer Rechtsverletzung durch eine kirchliche juristische Person leitet der Staatsanwalt einen Prozess gegen die kirchliche juristische Person ein. Die Tätigkeit der Kirchen im Bereich von Kultur, Soziales und Gesundheit § 17 (1) Eine kirchliche juristische Person darf allen Tätigkeiten im Bereich von Erziehung und Unterricht, Kultur, Soziales, Gesundheit und Sport bzw. Kinder- und Jugendschutz nachgehen, die nicht durch Gesetz ausschließlich für den Staat oder für ein staatliches Organ (Institut) vorbehalten sind. (2) Eine kirchliche juristische Person kann in Erziehungs- und Unterrichtseinrichtungen, die vom Staat unterhalten werden, gemäß den Wünschen der Schüler und Eltern Religionsunterricht mit nicht verpflichtendem Charakter (als fakultatives Lehrfach) abhalten. Das Wirtschaftsgebaren der Kirchen § 18 (1) Das Vermögen einer kirchlichen juristischen Person setzt sich in erster Linie aus den Spenden natürlicher Personen, juristischer Personen und Organisationen ohne Rechtspersönlichkeit und sonstigen Beiträgen bzw. aus Beiträgen für kirchliche Leistungen zusammen. Eine kirchliche juristische Person kann – gemäß den internen Gesetzen und Bestimmungen der Kirche und ohne eigene Genehmigung – Spenden sammeln.

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(2) Eine kirchliche juristische Person kann – zur Schaffung der notwendigen wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Verwirklichung ihrer Ziele – wirtschaftlichunternehmerischen Aktivitäten nachgehen. Sie kann gemäß den Regelungen bezüglich der gesellschaftlichen Organisationen (§§ 70 bis 73 des Zivilgesetzbuches) Unternehmen bilden und außerdem Wirtschaftsgesellschaften gründen bzw. sich an diesen beteiligen. (3) Es ist nicht als wirtschaftlich-unternehmerische Aktivität zu werten, wenn eine kirchliche juristische Person a) Institutionen im Bereich der Kultur, der Erziehung und Bildung, des Sozialund Gesundheitswesens und des Kinder- und Jugendschutzes betreibt, b) für das Glaubensleben notwendige Publikationen und Devotionalien herstellt und vertreibt, c) für kirchliche Zwecke bestimmte Gebäude teilweise verwertet, d) einen Friedhof unterhält. § 19 (1) Der Staat leistet zur Betreibung von Institutionen im Bereich der Erziehung und Bildung, des Sozial- und Gesundheitswesens, des Sports und des Kinderund Jugendschutzes – gemäß den gesetzlichen Bestimmungen – eine Unterstützung aus dem Haushalt, die auf normative Weise bestimmt wird und das gleiche Ausmaß hat, wie bei ähnlichen staatlichen Institutionen. (2) Zur Unterstützung sonstiger Aktivitäten von kirchlichen juristischen Personen, die in Absatz 1 nicht erwähnt werden, kann staatliche Unterstützung gewährt werden. Diese legt das Parlament – bei der Annahme des jährlichen Staatshaushalts – nach den einzelnen Kirchen und konkreten Zielen fest. Einen Antrag auf Unterstützung kann das oberste Organ der Kirche in Ungarn beim Kultusminister einreichen. Die Streichung der Kirchen aus dem Register § 20 (1) Das Gericht streicht auf Ersuchen des obersten Organs der Kirche in Ungarn die Kirche im Falle einer Vereinigung mit einer anderen Kirche oder der Spaltung in zwei oder mehrere Kirchen oder, wenn die Kirche ihre Auflösung verkündet, aus dem Register. Diese Bestimmung muss auch im Falle einer registrierten juristischen Person gemäß § 13, Absatz 3 angewandt werden, und zwar mit dem Zusatz, dass die Streichung aus dem Register – über die juristische Person selbst hinaus – auch ein zuständiges Kirchenorgan im Falle des Widerrufs der Erklärung, die es bei ihrer Eintragung abgegeben hat, verlangen kann. (2) Das Gericht kann auf Ersuchen des Staatsanwalts diejenige Kirche oder kirchliche juristische Person aus dem Register streichen, deren Tätigkeit gegen § 8, Absatz 2 verstößt, wenn sie diese Tätigkeit trotz einer gerichtlichen Aufforderung nicht beendet. (3) Das Gericht stellt die Auflösung einer Kirche fest und streicht sie aus dem Register, wenn sie ihre Tätigkeit einstellt und über kein Vermögen verfügt.



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(4) Wenn die Rechtsverletzung im Zuge der Tätigkeit einer organisatorischen Einheit der Kirche oder einer – gemäß § 13, Absatz 3 errichteten – eigenständigen Organisation erfolgt, dann richtet das Gericht die Aufforderung gemäß Absatz 2 an das oberste Organ der Kirche in Ungarn. § 21 (1) Das Vermögen einer Kirche gelangt im Falle der Vereinigung einer Kirche mit einer anderen bzw. ihrer Trennung in zwei oder mehrerer Kirchen in das Eigentum der die Rechtsnachfolge antretenden Kirche. Im Falle einer Trennung bestimmt die Kirche das Verhältnis der Vermögensaufteilung. (2) Wenn sich die Kirche auflöst bzw. das Gericht ihre Auflösung feststellt, dann muss ihr Vermögen – nach der Befriedigung der Forderungen der Gläubiger – für die in § 17, Absatz 1 aufgezählten oder für andere gemeinnützige Ziele verwendet werden. (3) Wenn sich die Kirche auflöst bzw. das Gericht ihre Auflösung feststellt, und sie – innerhalb von neunzig Tagen nach ihrer Auflösung – nicht über ihr Vermögen verfügt, und außerdem, wenn die Kirche gemäß § 20, Absatz 2 aus dem Register gestrichen wird, dann muss aus dem Vermögen eine Stiftung (Stiftungen) eingerichtet werden, deren Zweck vom Ministerrat, der gleichzeitig auch den Stifter einsetzt, bestimmt wird. Wenn die Größe des Vermögens die Einrichtung einer Stiftung nicht möglich macht, dann gerät es in staatliches Eigentum und der Kultusminister sorgt dafür, dass es für gemeinnützige Zwecke verwendet wird. Die Art und Weise der Nutzung des Vermögens muss in beiden Fällen der Öffentlichkeit bekannt gegeben werden. III. Kapitel Schlussbestimmungen § 22 Über die Registrierung der bei Inkrafttreten dieses Gesetzes gesetzlich als Kirche oder als eingetragener Orden anerkannten Organisationen sorgt ein Gericht – aufgrund einer Vorlage des Kultusministers – bis zum 30. Juni 1990 und benachrichtigt die eingetragene Organisation darüber. § 23 (1) Gesetz Nr. I des Jahres 1968 über die Ordnungswidrigkeiten wird durch den folgenden § 103/A ergänzt: „Die Verletzung des Rechts auf Religionsausübung § 103/A Wer an Orten, die für die Rituale der registrierten Kirchen bestimmt sind, einen öffentlichen Skandal auslöst bzw. Gegenstände religiösen Ansehens oder Gegenstände, die der Durchführung der Rituale dienen, an dem für die Rituale bestimmten Ort oder außerhalb dieses schändet, kann mit einer Geldstrafe von bis zu 10.000 Forint bestraft werden.“ (2) Gesetz Nr. IV des Jahres 1978 über das Strafgesetzbuch (Btk.) wird durch den folgenden § 174/A ergänzt: „Verletzung der Gewissens- und Glaubensfreiheit § 174/A Wer gegenüber anderen Personen

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a) die Gewissensfreiheit mit Gewalt oder Drohung beschränkt, b) die freie Ausübung der Glaubensfreiheit mit Gewalt oder Drohung behindert, begeht eine Straftat, die mit einem Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren bestraft wird.“ (3) Der erste Satz von § 3 des geänderten Gesetzes Nr. IX. des Jahres 1988 über die Unternehmensgewinnsteuer wird nach dem Ausdruck „gesellschaftliche Organisationen“ durch den Textteil „die Kirche“ ergänzt. § 24 (1) Dieses Gesetz tritt am Tage seiner Verkündung in Kraft. (2) Der Ministerrat wir dazu ermächtigt, die Regelungen der finanziellen Rechnungslegung, der Buchführung und der Rechenschaftslegung der kirchlichen juristischen Personen, die Unterstützung aus dem Staatshaushalt erhalten und außerdem einer steuerpflichtigen Tätigkeit nachgehen, sowie die Regelungen der Feststellung des aus der wirtschaftlich-unternehmerischen Tätigkeit stammenden Ergebnisses festzulegen. (3) Der Justizminister wird dazu ermächtigt, die Durchführungsregelung für die Registrierung der Kirchen festzulegen. (4) Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes verlieren folgende Rechtsnormen ihre Gültigkeit: Gesetz Nr. XLIII des Jahres 1895 über die freie Religionsausübung, Gesetz Nr. XXXIII. des Jahres 1947 über die Beendigung der zulasten der anerkannten Konfessionen bestehenden Unterschiede zwischen den etablierten und den anerkannten Konfessionen, Verordnung Nr. 5 des Jahres 1949 mit Gesetzeskraft über den Religionsunterricht, die noch geltenden Bestimmungen der Verordnung Nr. 22 des Jahres 1957 mit Gesetzeskraft über die notwendige staatliche Genehmigung zur Besetzung kirchlicher Positionen, Verordnung Nr. 14 des Jahres 1989 über die notwendige staatliche Genehmigung zur Besetzung kirchlicher Positionen und über die Auflösung des Staatsamts für Kirchenangelegenheiten, Verordnung Nr. 17 des Jahres 1989 mit Gesetzeskraft über die Tätigkeit der Orden, Regierungsverordnung Nr. 21/1957 (vom 24. III. 1957) über den Religionsunterricht und die Anweisung 39/1957 (M.K. 5.) des Kultusministers über ihre Durchführung. Quelle: Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 12, 12. Februar 1990, S. 205–209. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/YP-76d92a (Zugriff: 12.12.2015). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer



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Dokument 63 Verschlüsseltes Fernschreiben des bundesdeutschen Botschafters in Budapest Alexander Arnot vom 5. Februar 1990 an das Auswärtige Amt bezüglich der Haltung Ungarns zur deutschen Einheit Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos Anfang Februar 1990 nahm der stellvertretende Ministerpräsident Péter Medgyessy öffentlich Stellung zur Haltung Ungarns bezüglich der deutschen Vereinigung. Wie aus einem – sich auf eine Meldung der ungarischen Nachrichtenagentur MTI stützenden – Fernschreiben des bundesdeutschen Botschafters Alexander Arnot hervorgeht, bezeichnete Medgyessy die deutsche Vereinigung als „einen unvermeidlichen Prozess“, der von Ungarn als Realität angesehen werde und der graduell und kontrolliert vollzogen werden müsse. In seinem Telegramm geht Arnot zudem auf die Bemühungen Ungarns ein, die regionale Kooperation (mit Österreich, Ungarn, Jugoslawien und Italien) zu intensivieren, und bemerkt, dass die von Ungarn betriebenen Regionalkooperationen nun auch bezwecke, die europäischen Kräfte gegenüber einem vereinigten und starken Deutschland „auszutarieren“. *** […]80 Betr.: Haltung Ungarns zur deutschen Frage Zur Unterrichtung 1. Nach Bericht der ungarischen Nachrichtenagentur MTI vom 03.02.1990 äußerte sich stellvertretender Ministerpräsident Medgyessy auf dem Weltwirtschaftsforum Davos auch zur deutschen Frage: Die deutsche Wiedervereinigung sei ein unvermeidlicher Prozess und [werde] von Ungarn als Realität erachtet. Zunächst sei es aber entscheidend, dass dieser Wandel, der den gesamten politischen und wirtschaftlichen Charakter Europas verändern werde, graduell, ohne Brüche und unter Kontrolle, vollzogen werde. Die unmittelbaren Anstrengungen kleinerer Staaten zu Integrationen miteinander seien in dieser Situation von besonderer Bedeutung. Dies schließe auch die ungarische Initiative zur Deklaration vom vergangenen November in Budapest zur Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Österreich, Ungarn, Jugoslawien und Italien ein. Gleichfalls bezeichnend hierfür seien die Anstrengung unter RGW-Staaten zu verstärkter Zusammenarbeit, so z. B. zwischen Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen.

80  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.

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2. Durch die Äußerungen Medgyessys stellt die ungarische Politik die von ihr betriebenen Regionalkooperationen nicht nur, wie bisher, in den Zusammenhang bestmöglichen Zusammengehens auf dem Wege nach Europa, sondern auch eines möglichen Austarierens der Kräfte gegenüber einem vereinigten und starken Deutschland. [Alexander] Arnot Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.729 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

Dokument 64 Darlegungen des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth vom 20. April 1990 zur Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland Das aus der Hand von Botschafter Horváth stammende Dokument wurde im Auftrag des ungarischen Außenministeriums kurz vor dem Regierungswechsel für die zukünftigen, mit deutsch-ungarischen Fragen befassten Minister und insbesondere für den designierten Außenminister Géza Jeszenszky (MDF) erstellt. Die Darlegungen enthalten einen Rückblick auf die äußerst dynamische Entwicklung der bilateralen Beziehungen sowie auf die gegenüber Ungarn geleisteten Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen der Bundesrepu­blik in den vergangenen Jahren. Außerdem skizzieren sie die grundlegenden Aufgaben der ungarischen Diplomatie gegenüber der Bundesrepublik Deutschland vor dem Hintergrund der anstehenden deutschen Vereinigung. Bezüglich Letzterem wird insbesondere darauf verwiesen, dass das vereinigte Deutschland langfristig „eine wichtigere Rolle als jemals zuvor“ spielen werde und in entscheidendem Maße zur Einbeziehung Ungarns in den europäischen Integrationsprozess beitragen könne. Mit Blick auf die Bedeutung der Beziehungen Ungarns zu Deutschland schlägt Horváth insbesondere ein baldiges Treffen der Regierungschefs und der Außenminister vor und regt an, dass die neuen ungarischen Minister baldmöglichst in Kontakt zu ihren bundesdeutschen Amtskollegen treten sollten. Auf dem Gebiet der Wirtschaft sei „das Hinüberretten der mit der DDR entwickelten Zusammenarbeit in die Zeit nach der Vereinigung eine der wichtigsten Fragen“. Bei den Kultur- und Unterrichtsbeziehungen wird vor allem auf die Bedeutung der Aktivitäten des ungarischen Kulturinstituts in Stuttgart und auf die Anerkennung der Äquivalenz der Abiturzeugnisse verwiesen. Darüber hinaus unterbreiten die „Überlegungen“ zahlreiche weitere Kooperationsvorschläge, darunter in den Bereichen Technologie und Wissenschaft, Umweltschutz, Medien und Tourismus, und greifen den – bereits früher entwickelten – Vorschlag der Gründung eines jährlich einmal tagenden „Deutsch-Ungarischen Forums“ zur „regelmäßigen und umfassenden Überprüfung“ der bilateralen Beziehungen auf. ***



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Überlegungen zur Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen Ungarn und der Bundesrepublik In den außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Beziehungen Ungarns wird kurzfristig die BRD [d. h. Westdeutschland], bzw. mittel- und langfristig das vereinigte Deutschland eine wichtigere Rolle als jemals zuvor spielen. Sowohl die BRD als auch das in Zukunft zustande kommende einheitliche Deutschland können in entscheidendem Maße das Bestreben unseres Landes beeinflussen, zu versuchen, uns in die politischen und wirtschaftlichen Hauptströmungen Westeuropas einzuschalten bzw. uns in Übereinstimmung mit unserer geopolitischen Lage schrittweise in den europäischen Integrationsprozess einzubauen. Die BRD war in den vergangenen Jahren auf Seiten des Westens im Wesentlichen das einzige Land, das den osteuropäischen „Reformstaaten“ – wobei sie Ungarn Priorität einräumte – nicht nur die bedeutendste materielle Hilfe, sondern auch politische Unterstützung, die den Sieg der Reformkräfte und damit den Systemwechsel förderte, bot. Zur Erinnerung einige Beispiele: – als Ergebnis der konsequenten und effektiven Intervention der Regierung der BRD konnten wir im Herbst 1988 die für uns so wichtige Vereinbarung mit der EWG unterzeichnen; – die Regierung der BRD leistete uns effektive Unterstützung beim Aufbau von Beziehungen zu den westeuropäischen Institutionen; – die BRD war derjenige Staat, der unser Land in der schwierigsten finanziellen Situation mit einem einzigartigen zweimaligen Kredit von 1 Milliarde DM, der für die internationale Finanzwelt Signalwirkung hatte, Hilfe leistete; (Es sei bemerkt, dass hinsichtlich der Kredite für Ungarn der BRD – neben Japan – ein entscheidender Anteil zukommt.) – auch bei der Gründung von gemischten Unternehmen in Ungarn stehen BRDUnternehmen an der Spitze. Mit dem Systemwechsel wurde ein entscheidendes prinzipiell-ideologisches Hindernis aus dem Weg geräumt, damit Ungarn schrittweise die Voraussetzungen dafür schafft, innerhalb absehbarer Zeit Teil der westlichen Wertegemeinschaft zu werden. Die sich infolge der Wahlen vom März/ April [1990] abzeichnende Regierungskoalition bedeutet eine Garantie dafür, dass die Aktivitäten zur Kontaktentwicklung in Richtung der BRD, die in den vergangenen Jahren bedeutende Ergebnisse zeitigten, fortgesetzt werden. Wohl bindet der Prozess der deutschen Vereinigung auf westdeutscher Seite bedeutende geistige und materielle Kraftquellen, die BRD ist aber unverändert in der Lage und bereit, den Wandlungsprozess in Ungarn aktiv zu unterstützen. Im Hinblick darauf, dass die BRD in vielerlei Hinsicht das „Musterland“ des von uns angestrebten Modells, der Sozialen Marktwirtschaft, ist, wird sich in der kommenden Phase von ungarischer Seite noch stärker die Absicht nach Adaption offenbaren.

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Unter Berücksichtigung all dessen muss der Ausbau des institutionellen Systems der Kontakte fortgesetzt werden und ihre gesellschaftliche Basis gestärkt und ausgeweitet werden. Aufgaben: 1) Politische Beziehungen Aufgrund des Platzes, den die BRD im internationalen Beziehungssystem unseres Landes einnimmt, ist es eine wichtige Aufgabe der sich konstituierenden Regierung, aus erster Hand Informationen über ihre Vorstellungen zu liefern. Die Leiter der wichtigeren Ressorts sollen baldmöglichst in Kontakt zu ihren bundesdeutschen Partnern treten – zumindest per Brief! a) Zum Treffen der Regierungschefs, das im Bedarfsfall kurz sein und Arbeitscharakter haben kann, soll es noch in der ersten Jahreshälfte 1990 kommen. b) Ein Treffen der Außenminister soll innerhalb kurzer Zeit nach der Regierungsbildung erfolgen. Zweck: – Vorbereitung des Treffens der Regierungschefs. – Überprüfung der zukünftigen Gebiete der Zusammenarbeit und Bestimmung der Aufgaben. c) Beziehungen zwischen den Parlamenten – Empfang des Bundestagspräsidenten (geplanter Zeitpunkt: 5.–6. Juni 1990). – Kontaktaufnahme auf Ausschussebene (Äußeres, Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft. Kultur, Umweltschutz, Recht). Die Ausschussvorsitzenden sollen mit ihren Partnern in der BRD per Brief in Kontakt treten. – Kontaktaufnahme zwischen den Freundschaftsgruppen der Parlamente. – Kontaktaufnahme mit den wichtigsten westdeutschen Abgeordneten des Europaparlaments. d) Beziehungen zu den Bundesländern – Umgestaltung bzw. Ausbau der Beziehungen zu Bayern, Rheinland-Pfalz und Hessen nach dem baden-württembergischen Muster. 2. Wirtschafts- und Finanzbeziehungen Auf dem Gebiet der Wirtschaft ist das Hinüberretten der mit der DDR entwickelten Zusammenarbeit in die Zeit nach der Vereinigung eine der wichtigsten Fragen. (Wir schlagen vor, dieses Thema bereits im Juni [1990] auf der in Budapest stattfindenden Sitzung der Gemischten Kommission und davor auch brieflich gegenüber Wirtschaftsminister [Helmut] Haussmann aufzuwerfen.) a) Weitere Themen, die mit Blick auf die wirtschaftliche und finanzielle Kooperation zwischen beiden Ländern als wichtig erachtet werden:



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– Im Rahmen der Gemischten Kommission sollen wir vorschlagen, die Möglichkeit zu überprüfen, in welchem Ausmaß und mit welchen Mitteln sich die Wirtschaft der BRD auf direkte oder indirekte Weise am ungarischen wirtschaftlichen Systemwechsel beteiligen könnte. – Strukturwandel; – Entwicklung einer Zusammenarbeit zur Unterstützung der Sphäre der kleinen und mittleren Unternehmer. Beispielsweise finden mit der Ausgleichsbank bereits Gespräche zur Einleitung eines gemeinsamen Programms (Existenzgründung) statt; – auf Regierungsebene muss untersucht werden, welche weitere staatliche und finanzielle Hilfe notwendig ist, um die Kreditkonstruktion, die mit Baden-Württemberg und Bayern entwickelt wurde und die die Schaffung kleiner und mittlerer Unternehmen unterstützt, effektiver genutzt werden kann. – Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und Ungarn. – Überprüfung der Kooperationsmöglichkeiten bei der Ausbildung von Finanz- und Steuerexperten sowie von Managern. b) auf dem Gebiet des Bauwesens – Überprüfung der Verwirklichung der 1989 geschlossenen Vereinbarung im Baugewerbe. – Möglichkeit der weiteren Einbeziehung ungarischer Unternehmen und Arbeitnehmer in den Boom im Baugewerbe, den die in der DDR notwendigerweise anlaufenden Infrastrukturinvestitionen wahrscheinlich verstärken werden. c) auf dem Gebiet des Arbeitswesens – Vertiefung der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Facharbeiterausbildung. Beispielsweise regelmäßige Entsendung von Fachleuten mit dem Ziel des Erwerbs von Betriebspraxis nach [dem Beispiel] der früheren DDR-Praxis. d) im Bereich des Verkehrswesens – Überprüfung der Verwirklichung dessen, was in den vertraglichen Beziehungen festgehalten wurde (Luftverkehr, Straßenverkehr, Binnenschifffahrt), bzw. Unterzeichnung der Kooperationsvereinbarung zwischen den Ressorts, die sich in Vorbereitung befindet. Darüber hinausgehende Vorschläge Weitere Stärkung der Beziehungen zwischen den Interessenverbänden zum Zweck der Entwicklung der Infrastruktur in Ungarn. – Einladung von Delegationen (BJU [Bund Junger Unternehmer] […] usw.) zu Ungarn-Reisen, die sich zum Teil bereits in der Vorbereitungsphase befinden.

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– Die inhaltliche Ausfüllung der vom DIHT [Deutscher Industrie- und Handelstag] angebotene Möglichkeit (Hilfeleistung bei der Neuorganisation der Wirtschaftskammer). – Mitwirkung an der Schaffung einer Partnerorganisation der Deutsch-Ungarischen Wirtschaftsvereinigung in Ungarn. 3) Kultur- und Unterrichtsbeziehungen – – – –

Beginn der Tätigkeit des ungarischen Kulturinstituts in Stuttgart; Anerkennung der Gleichwertigkeit der Abiturzeugnisse; Verabschiedung eines entsprechenden Abkommens; Erhöhung der Effektivität der Zusammenarbeit beim Fachunterricht und bei der Managerausbildung (Beauftragung eines Koordinators).

4) Technologisch-wissenschaftliche Beziehungen – Ausweitung der Kooperation, Einleitung neuer Projekte (Gemischte Kommission); – Propagieren der ungarischen Forschungs- und Entwicklungsleistungen; – Schaffung von Kooperation bei Forschung und Produktion mit industriellem Charakter (Zusammenarbeit bei Luft- und Raumfahrt; Unterstützung der Kontaktbemühungen des VOSZ [Landesverband der Unternehmer und Arbeitgeber]). 5) Umweltschutz – Inanspruchnahme auch der Hilfe der BRD, damit Budapest zum Sitz der internationalen Umweltschutzorganisationen, zum europäischen Zentrum wird; – Forschungskooperation und Expertenaustausch; – Initiative zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der großstädtischen (hauptsächlich Budapester) Luftverschmutzung (möglicherweise ein Projekt zur Modernisierung der Heizsysteme oder des Autoparks). 6) Information Es ist in der vergangenen Zeit stärker als erwartet gelungen, die gedruckte und elektronische Presse der BRD auf Ungarn und auf die Interpretation der wichtigeren Ereignisse, die sich unter dem Gesichtspunkt der Außenpolitik und Außenwirtschaft mit Ungarn befassen, einzustimmen. Auch infolgedessen haben die deutschen Medien in großem Maße nicht nur im deutschen Sprachgebiet, sondern auch darüber hinaus in ganz Westeuropa dazu beigetragen, Interesse an Ungarn zu wecken, das Ungarnbild



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positiv zu verändern sowie die ungarischen außen- und innenpolitischen Bestrebungen besser verständlich zu machen. Deshalb muss die ungarische Regierung der Beschäftigung mit den deutschen Medien herausragende Beachtung schenken. Hierzu können die deutschen Pressevertretungen und Verlage, die bereits aktiv in Ungarn tätig sind, gut genutzt werden. 7) Vertrags- und Rechtsbeziehungen, Kontakte der Strafverfolgungsorgane – mit der Streichung des Visumszwangs wird der Fremdenverkehr zwischen beiden Staaten erwartungsgemäß mit all seinen Konsequenzen weiter zunehmen. Daher initiieren wir den Abschluss eines Abkommens über die Gesundheitsversorgung (wechselseitige unentgeltliche Arztbehandlung und Medizinversorgung); – der Tourismus, die Ausweitung der ungarischen Arbeitsübernahme in der BRD usw. machen es notwendig, ein Rechtshilfeabkommen zu verabschieden (die Frage der [deutschen] Staatsbürgerschaft ist kein Hinderungsgrund mehr); – die Zusammenarbeit der zuständigen Organe im Kampf gegen den Terrorismus und den Drogenhandel soll weiter fortgesetzt werden; – die Verhandlungen über die Zusammenarbeit der Zollorgane und – zwischen den Innenministerien – über eine Vereinbarung über die Verhinderung illegaler Grenzübertritte. 8) Beziehungen zwischen den Verteidigungsministerien – der Dialog zwischen den beiden Verteidigungsministerien soll fortgesetzt werden, der neue Verteidigungsminister soll die Einladung [Gerhard] Stoltenbergs bekräftigen. 9) Beziehungen auf kommunaler Ebene – Streichung des Genehmigungssystems, das den Ausbau der Städtepartnerschaften behindert; – Streben nach Beziehungen zwischen den Bezirken in den BRD-Bundesländern und den ungarischen Komitaten und Verwaltungseinheiten. 10) Jugendkontakte – Unterstützung der Kontaktbestrebungen der jüngst gegründeten Jugendund Kinderorganisationen (z. B. Pfadfinder, Jugendorganisationen der Kirchen); – Streben nach Jugendaustausch im Rahmen der Städtepartnerschaften;

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– wir halten die Gründung einer ungarisch-deutschen Stiftung zur Entwicklung des Jugendaustausches nach Muster der deutsch-französischen Jugendstiftung (Jugendwerk) für überlegenswert. 11) Tourismus In Zukunft, aber bereits auch 1990 wird zu spüren sein, dass die Funktion Ungarns als Treffpunkt für die Ost- und Westdeutschen ein Ende findet. Deshalb ist es notwendig, zu untersuchen, wie der sich auf Ungarn richtende deutsche Tourismus auf dem bisherigen Niveau gehalten werden kann bzw. wie er mit politischen und wirtschaftlichen Mitteln gesteigert werden kann. Den Anzeichen nach ist die Streichung des Visumszwangs ein bedeutender Faktor zur Steigerung des Tourismus. Wir schlagen vor, zu untersuchen, wie sich die BRD noch besser an Investitionen in Ungarn beteiligen kann, einschließlich z. B. der Ausweitung des Netzes von Tankstellen mit bleifreiem Benzin und der Ausbildung von Fremdenverkehrs-, Hotel- und Gastgewerbefachkräften. Sonstige Vorschläge – Zur regelmäßigen und umfassenden Überprüfung der Situation der ungarisch-westdeutschen bzw. deutschen Beziehungen soll ein jährlich an unterschiedlichen Orten zusammentretendes „Deutsch-Ungarisches Forum“ ins Leben gerufen werden (früherer Vorschlag). – Einbeziehung der ungarischen Emigration gemäß der neuen Situation in die Arbeit der Kontaktknüpfung. – Gründung eines einheitlichen deutschen Referats im Außenministerium. – Die Abteilung für Internationale Rechtsangelegenheiten des Außenministeriums soll unsere gesamten, mit der DDR geschlossenen Verträge überprüfen und einen Vorschlag unterbreiten, welche Verträge mit dem vereinten Deutschland erneuert werden müssten (vorausgesetzt, dass die Vereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes der BRD durchgeführt wird und die mit der BRD abgeschlossenen internationalen Verträge so quasi automatisch in Kraft bleiben). Bonn, 20. April 1990 Quelle: MNL OL, XIX-J-1-k 1990, 73. d., 7672-7, ohne Paginierung. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer



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Dokument 65 Aufzeichnung des ungarischen Außenministeriums über die Auswirkungen der deutschen Vereinigung auf Europa und Ungarn und die diesbezüglichen Aufgaben des Ministeriums vom 24. Mai 1990 Als sich nach dem Fall der Berliner Mauer immer deutlicher offenbarte, dass die deutsche Frage unweigerlich auf die Tagesordnung der internationalen Politik rücken wird, setzte das ungarische Außenministerium eine „deutsche Arbeitsgruppe“ ein, die sich mit den Herausforderungen des deutschen Vereinigungsprozesses für Europa im Allgemeinen und für Ungarn im Speziellen beschäftigte. Im Rahmen der Arbeitsgruppe wurden zwei Dokumente erstellt, die am 3. Mai 1990 einer Diskussion unterzogen und am 24. Mai 1990, unter Berücksichtigung der Diskussionsergebnisse, ergänzt bzw. korrigiert wurden. Die beiden Dokumente, die zur Information der Führung des Außenministeriums erstellt wurden, legen die besondere Relevanz und Dringlichkeit des Themas dar und schlagen eine Reihe allgemeiner Maßnahmen vor. Das erste Dokument (Anlage Nr. 1) befasst sich mit den Aufgaben, mit denen die ungarische Regierung und das Außenministerium mit Blick auf die deutsche Vereinigung konfrontiert wurden. Diesbezüglich wird vor allem auf die Notwendigkeit einer eingehenden Analyse der Situation, die sich aufgrund der deutschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ergebe, sowie auf die sich daraus ergebenden Aufgaben verwiesen. Im Vorfeld der Ausarbeitung einer „umfassenden Regierungspolitik“ müsse auch „die frühere Dynamik des ungarisch-deutschen (in erster Linie des ungarisch-ostdeutschen) Beziehungssystems wiederbelebt werden“. Als zentrale Aufgabe des Außenministeriums werden die Herbeiführung von Gesprächen mit beiden deutschen Staaten über die Zukunft der Beziehungen, die Entwicklung eines „prinzipiellen Standpunkts bezüglich der deutschen Vereinigung“ sowie die Ausarbeitung einer – darauf aufbauenden – außenpolitischen Konzeption (mit besonderem Blick auf die Neuregelung der vertraglichen Beziehungen) vorgeschlagen. Als weitere Aufgabe wird zudem die Untersuchung der Folgen der deutschen Vereinigung auf die ungarische Europapolitik thematisiert. Das zweite Dokument (Anlage Nr. 2) geht von der deutschen Einheit als unumgänglichen „objektiven Prozess“ aus und verweist darauf, dass es nun „um die Art und Weise der Vereinigung und um ihren Zeitpunkt“ gehe. Dann thematisiert das Dokument unter anderem folgende – europa- bzw. ungarnbezogene – Entwicklungen bzw. Herausforderungen: die Entwicklung eines neuen Systems der europäischen Sicherheit, die Entstehung einer gesamtdeutschen „Wirtschaftsmacht neuer Qualität“ und der Aufstieg des vereinigten Deutschlands zum wichtigsten Wirtschaftspartners Ungarns. Anschließend formuliert die Aufzeichnung einen Vorschlag zum ungarischen Standpunkt bezüglich der deutschen Einheit (deutsche Vereinigung unter Berücksichtigung der Anliegen der europäischen Staaten usw.) und skizziert drei Ebenen der zukünftigen bilateralen Kooperation: 1) die Ebene der „Makrostrukturen“ in Zusammenhang mit der europäischen Integration, wobei Ungarn die bilateralen Beziehungen hier als „konkretes Sprungbrett“ zur Weiterentwicklung seiner Beziehungen zur „westeuropäischen Integration“ nutzen sollte; 2) die Ebene der „klassischen bilatera-

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len zwischenstaatlichen Kontakte“, die stabilisiert, erneuert und ausgeweitet werden sollten; 3) die Mikroebene (Bundesländer, Städte und „Landschaftseinheiten“) mit ihrer wachsenden Bedeutung. Abschließend geht das Dokument auf die vermutliche Entwicklung (Probleme und Chancen) der bilateralen Beziehungen auf dem Gebiet von Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Unterricht ein und spricht die Modellhaftigkeit des Übergangs zur sozialen Marktwirtschaft in Ostdeutschland für Ungarn an. *** […]81 Aufzeichnung Gegenstand: Die Auswirkungen der deutschen Vereinigung auf Europa und Ungarn; die Aufgaben der ungarischen Regierung und des Außenministeriums Die deutsche Arbeitsgruppe [im Außenministerium] behandelte am 3. Mai [1990] die in dieser Angelegenheit erstellte Vorlage. Sie stellte fest, dass der Problemkreis erhöhte Aufmerksamkeit erfordert. Die Veränderungen, die in der ungarischen Regierungsstruktur stattfinden, dürfen das Ergreifen der notwendigen Schritte nicht weiter verzögern, da ihr Ausbleiben Ungarn (im Vergleich zu den übrigen Staaten) hinsichtlich Deutschlands in eine nachteilige Lage bringen würde, was bedeutende politische und wirtschaftliche Schäden hervorrufen kann. Die deutsche Arbeitsgruppe diskutierte die Vorlage über die operativen Aufgaben der Regierung und des Außenministeriums und schlägt vor, dass die Leitung des Außenministeriums diese dringlich behandeln soll (siehe Anlage 1). Die deutsche Arbeitsgruppe beurteilte und ergänzte die Analyse über die Auswirkungen der deutschen Vereinigung auf Europa und Ungarn (siehe Anlage 2). Budapest, 24. Mai 1990 [unleserliche Unterschrift] Anlage Nr. 1 Die in Verbindung mit der deutschen Vereinigung zu lösenden Aufgaben der ungarischen Regierung und des Außenministeriums Erstellt von Péter Györkös82

81  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle. 82  Deutschlandreferent im Außenministerium der Republik Ungarn. Györkös ist seit November 2015 ungarischer Botschafter in Berlin.



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Diskutiert von der deutschen Arbeitsgruppe am 3. Mai 1990 Die deutsche Vereinigung ist zum entscheidenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Prozess Europas geworden. Der umfassende, gesamteuropäische Charakter des Problems sowie die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der ungarisch-deutschen Beziehungen und das Gewicht der Beziehungen erfordert, dass die ungarische Regierung die Auswirkung der Vereinigung auf Ungarn auf allen Gebieten baldmöglichst analysiert, den Kreis der operativen, mittelfristigen und strategischen Aufgaben bestimmt und dringend mit ihrer Durchführung beginnt. Es ist ein grundlegendes ungarisches Interesse, dass sich unsere Beziehungen in der gegenwärtigen Übergangsphase – insbesondere im Hinblick auf die DDR – nicht zurückbilden, keinen dauerhaften Schaden nehmen und dass sich bis zum Ende der Übergangsphase die Struktur der bilateralen Beziehungen in ihren Grundzügen gemäß den Bedingungen der Zukunft herausbildet. Die bisherigen Erfahrungen des Vereinigungsprozesses zeigen, dass auf die Ungarn betreffenden Herausforderungen wir selbst die Antwort finden müssen und dass hierzu eine wesentlich größere ungarische Aktivität und Initiative als bisher hinsichtlich der beiden deutschen Staaten und des entstehenden einheitlichen Deutschlands, das allen Anzeichen nach Partner Nr. 1 unseres Landes sein wird, notwendig sind. Aufgaben der Regierung Aufgrund der Tiefe und des Spektrums der Beziehungen [zu Deutschland] ist es unverzichtbar, die Aufgaben auf Regierungsebene zu bestimmen. Hierzu ist es notwendig, dass die allgemeine Situation der Beziehungen zu Deutschland, die Perspektiven der Weiterentwicklung und der Kreis der dringenden operativen Fragen nach Ressorts untersucht und analysiert werden. Wir schlagen vor, dass es noch vor der Sommerferienzeit hierzu kommt (der Tag der Einführung der deutschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ist der 2. Juli [1990]83), und zwar gemäß folgenden Gesichtspunkten: 1) Was sind die Bereiche, in denen die ungarisch-deutsch-deutsche Zusammenarbeit praktisch in unveränderter Form erhalten bleibt? 2) Was sind die Bereiche, in denen die traditionellen Beziehungen ein Ende finden? 3) Was sind die Bereiche, in denen beträchtliche Veränderungen und Überprüfungen notwendig sind? 4) Wo tauchen qualitativ neue Bereiche in der Zusammenarbeit auf? In einzelnen Fragen wird erwartungsgemäß eine Abstimmung der Ressorts bzw. die Bildung von gemischten Ausschüssen der Ressorts notwendig sein.

83  Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion trat am 1. Juli 1990 in Kraft.

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Bis zur Ausarbeitung einer umfassenden Regierungspolitik muss die frühere Dynamik des ungarisch-deutschen (in erster Linie des ungarisch-ostdeutschen) Beziehungssystems wiederbelebt werden. Seitens beider deutschen Staaten ist eine große Verhandlungsbereitschaft zu verspüren. Seitens der DDR ist man zu Treffen der Staatschefs, der Parlamentspräsidenten, der Regierungschefs und der Außenminister bereit. Wir schlagen vor, dies wegen der Konvertierung (sic!) der DDR-Beziehungen anzunehmen. Hinsichtlich der BRD stehen ein Treffen der Parlamentspräsidenten sowie die Budapest-Visite von [Bundes-] Wirtschaftsminister [Helmut] Haussmann und die Besuche der neuen ungarischen Minister für Wirtschaft und für Kultur auf der Tagesordnung. Wir halten es für zweckmäßig, die Beziehungen auf Regierungs-, Parlaments- und Parteienebene gleichermaßen zu beleben. Wir schlagen vor, dass die Leiter der Ressorts möglichst bald, zumindest in Briefform, Kontakt zu ihren Partnern in der DDR und BRD aufnehmen. Die ungarisch-deutschen Beziehungen können in mehreren regionalen und gesellschaftlichen Formen aktiviert werden ([Arbeitsgemeinschaft] Alpen-Adria, Beziehungen zu den Bundesländern, städtepartnerschaftliche und regionale Beziehungen usw.). In der Übergangszeit wäre es nützlich, wenn es im Falle der Ressorts zu dreiseitigen (Ungarn-DDR-BRD) Konsultationen über die Zukunft, Weiterführbarkeit und Erneuerung der Beziehungen kommen würde. Es ist zweckmäßig, kurzfristig derartige Verhandlungen in erster Linie auf dem Gebiet von Außenpolitik, Wirtschaft und Technik sowie Kultur und Unterricht zu initiieren. Wir schlagen vor, die Tätigkeit der fachlichen gemischten Ausschüsse Ungarns und der DDR sowie Ungarns und der BRD aufeinander abzustimmen und zu verschmelzen. Aufgaben des Außenministeriums Aufgabe des Außenministeriums ist es, die Notwendigkeit der Ausarbeitung der Konzeption aufzuwerfen und die übrigen Ressorts dazu anzuregen, die deutschen Beziehungen gründlich zu überprüfen und die Zusammenarbeit zwischen den Ressorts zu entwickeln. Das Außenministerium soll auf seinem Gebiet einen prinzipiellen Standpunkt bezüglich der deutschen Vereinigung und der zu verfolgenden politischen Linie entwickeln und die Aufgaben, vor denen Ungarn steht, skizzieren. Das Außenministerium soll ungarisch-ostdeutsche, ungarisch-westdeutsche sowie dreiseitige Verhandlungen (in erster Linie auf der Ebene der Außenminister) über die Zukunft der Beziehungen, über ihre Erneuerung, über die Umgestaltung der Vertragsbeziehungen und über Fragen, die im Zuge der Vereinigung problematisch werden, anregen und solche in seinem Bereich organisieren. Das Außenministerium soll unter Leitung der Gebietshauptabteilung und unter Einbeziehung unserer Vertretungen in Deutschland und Brüssel einen Arbeitsausschuss ins Leben rufen, dessen Aufgabe es wäre, die Zusammenhänge zwischen der deutschen Vereinigung und der Integrationsprozesse aus dem Blickwinkel und



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im Interesse der Stärkung der Beziehungen zwischen unserem Land und der Europäischen Gemeinschaft zu untersuchen. Bei den zukünftigen ungarisch-deutschen Verhandlungen sollen die Vertreter des Außenministeriums die deutsche Seite [zum einen] kontinuierlich um Informationen über die Erfahrungen und Probleme der Integration der DDR ersuchen, zum anderen sollen sie von Anfang an danach streben, die Unterstützung der deutschen Partner zur Förderung unserer Annäherung an die verschiedenen Organisationen der EG und an die Integrationsprozesse sowie zur Förderung unserer Mitgliedschaft in diesen Organisationen aufrechtzuerhalten. Die Hauptabteilung für Internationales Recht und die Hauptabteilung für Konsularfragen sollen einen Bericht über den Zustand des ungarisch-deutsch-deutschen Vertragssystems und über die wegen der Vereinigung bestehenden und zu erwartenden Probleme erstellen sowie einen Vorschlag zur Erneuerung der Vertragsordnung und über die zu verfolgende ungarische Haltung unterbreiten. Eventuell kann ein Festhalten der Grundprinzipien der ungarisch-deutschen Beziehungen in einem Vertrag (eine Art Grundvertrag) aufgeworfen werden. In der Übergangszeit ist im Falle der DDR und Westberlins darauf zu achten, dass wir bis zum international rechtsverbindlichen Zustandekommen der Vereinigung nur solche Maßnahmen treffen, die die Interessen der Großmächte nicht verletzen. Es ist unerlässlich, dass die Gespaltenheit bei der Behandlung und Lenkung der deutschen Beziehungen sowie die existierenden parallelen Aktionen beendet werden. Unabhängig vom Zeitpunkt einer eventuellen Reorganisation des Außenministeriums ist es baldmöglichst zweckmäßig, die beiden deutschen Referate (und Relationen) zusammenzuziehen, der Leitung einer Organisationseinheit und eines aufsichtführenden Leiters zu unterstellen und sie an einem gemeinsamen Ort unterzubringen. Formell kann die Trennung von DDR und BRD – solange beide Staaten bestehen – beibehalten werden. Im Interesse der Beendigung der in vielen Fälle parallelen, nicht wirklich koordinierten Botschaftstätigkeit schlagen wir vor, dass die Kurierabteilung, die Technische Abteilung sowie die Finanzabteilung [des Außenministeriums] untersuchen sollen, wie eine unmittelbare Radio- bzw. Kurierbeziehung zwischen der Berliner und der Bonner Botschaft hergestellt werden kann, und einen Vorschlag zur Durchführung des Vorhabens vorlegen sollen. Wegen des globalen Charakters der deutschen Vereinigung und dringenden Aufgaben im Inland und – innerhalb dieser – im Außenministerium würde es zweckmäßig erscheinen, wenn wir ein Rundtelegramm an unsere europäischen und nordamerikanischen Vertretungen schicken würden, in dem wir auf folgende Fragen um eine Antwort ersuchen: 1) Welche prinzipielle Politik entwickelt das jeweilige Land und welche konkreten Maßnahmen werden hinsichtlich der Entwicklung eines einheitlichen Deutschlands vorbereitet? 2) Welche Schritte sind bei der organisatorischen, personellen und wirtschaftlichen Arbeit der jeweiligen Außenministerien auf dem Wege der einheitlichen

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Behandlung der deutschen Beziehungen geschehen und wie stellen sie sich das Vertretungssystem in einem einheitlichen Deutschland vor? Die Tatsache der Vereinigung macht es bereits kurzfristig notwendig, eine neue, an den sich verändernden Umständen ausgerichtete Struktur unseres Vertretungssystems in Deutschland auszuarbeiten. Unter Berücksichtigung der neuen ungarischen Wirtschafts- und Kulturdiplomatie sowie der neuen Aspekte der nationalen Sicherhalt müssen unter Einbeziehung der Partnerorgane möglichst bald eine Übergangsstruktur, die in Richtung des endgültigen Vertretungssystems weist, und ihre personellen und wirtschaftlichen Bezüge ausgearbeitet werden. Die in der DDR stattfindenden Prozesse erfordern vom ungarischen Standpunkt aus und unter mehreren Aspekten eine tiefere Analyse: In welcher Form und unter welchen Umständen erfolgt die Umstellung der planwirtschaftlichen Ordnung der DDR auf marktwirtschaftliche Grundlagen? In welcher Form wird die Integration der DDR in die Europäische Gemeinschaft verwirklicht? Und welche Probleme werfen die deutsche Vereinigung und die sich entwickelnden neuen europäischen Strukturen für die ungarische Außen- und Wirtschaftspolitik auf? Im Interesse der wissenschaftlichen Analyse und Untersuchung dieses Fragenkreises und dem Ziehen von verwertbaren Schlussfolgerungen für die ungarische Regierungsarbeit schlagen wir vor, dass das Außenministerium unter Einbeziehung der Partnerministerien (insbesondere des Ministeriums für Internationale Wirtschaftsbeziehungen) einen gewissen Geldfonds bildet und das Institut für Außenpolitik dazu ersucht, eine projektmäßige Forschung zu diesem Themenkreis zu organisieren sowie Teilstudien und eine umfassende Analyse zu erstellen. Das Gewicht der Beziehungen zu Deutschland macht es notwendig, dass es gelingt, dass die ungarischen politischen Kräfte in den grundlegenden Fragen einen Konsens und eine Zusammenarbeit entwickeln, um hier ein effektives Handeln zu erreichen. Wir schlagen vor, dass das Außenministerium einen Gedankenaustausch über die Zukunft des ungarisch-deutschen Beziehungssystems mit dem Ausschuss für Außenpolitik des Parlaments und unter Einbeziehung der Abgeordneten der Parlamentsparteien initiiert. Langfristig soll das Außenministerium – parallel zu den Fortschritten des deutschen Vereinigungsprozesses – kontinuierlich dessen Auswirkungen auf unsere bilateralen Beziehungen und auf die ungarische Europapolitik untersuchen. Es wäre zweckmäßig, konzeptionell zu untersuchen, wie sich die Beziehungen zu Deutschland auf die ungarische Sicherheitspolitik, auf unsere Integrationsbemühungen, auf unsere regionalen Kooperationsgebiete sowie auf unsere Osteuropa-Politik auswirken und auf welche Art und Weise sie hierfür genutzt werden können. Budapest, 24. Mai 1990



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Anlage Nr. 2 Die allgemeinen Auswirkungen der deutschen Vereinigung auf Europa und Ungarn Erstellt von Péter Györkös Diskutiert von der deutschen Arbeitsgruppe am 3. Mai 1990 Das staatssozialistische System der DDR stürzte infolge der durch die Perestroi­ka geschaffenen äußeren und inneren Atmosphäre, des westdeutschen Einwirkens und der Vertiefung der inneren Krise im Herbst 1989 mit unerwarteter Schnelligkeit zusammen. Wegen des Platzes, den die DDR in Europa und innerhalb des Warschauer Vertrags einnahm, bilden die angelaufenen Prozesse eine strategische Herausforderung und beeinflussen die Entwicklung der politischen, sicherheitspolitischen, militärischen und wirtschaftlichen Struktur des neuen Europas in seinen Grundlagen. Das Tempo des Zusammenbruchs des „sozialistischen deutschen Staates“, für das die am 10. September 1989 angekündigte Entscheidung der ungarischen Regierung eine bedeutende Rolle spielte, rückte innerhalb kurzer Zeit die Möglichkeit und Unumgänglichkeit der Schaffung der deutschen Einheit in den Vordergrund. Die deutsche Vereinigung ist heute bereits als ein objektiver Prozess zu betrachten, die innerdeutsche bzw. internationale Diskussion geht um die Art und Weise der Vereinigung und um ihren Zeitpunkt. Die europäischen und bilateralen Auswirkungen des Prozesses können heute lediglich erst skizzenhaft umrissen werden. Dennoch ist es wichtig, dass alle Staaten, darunter auch unser Land, einen prinzipiellen Standpunkt in Verbindung mit der deutschen Vereinigung, mit den neuen europäischen Strukturen bzw. mit den daraus hervorgehenden Problemen und Herausforderungen, die der ungarischen Außenpolitik dringliche Aufgaben stellen, entwickeln. I. Die allgemeinen europäischen Herausforderungen der deutschen Vereinigung Der Zusammenbruch der DDR, das Erscheinen der deutschen Frage auf der Tagesordnung und die Erschütterung des deutschen und des darauf basierenden Status Quo trafen die Großmächte und die übrigen europäischen Staaten unerwartet und unvorbereitet. In den vergangenen Jahrzehnten wagten es die Großmächte nicht, die Gleichgewichtsrisiken einer deutschen Vereinigung auf sich zu nehmen, und richteten sich mit der deutschen (und europäischen) Teilung auf einen vermuteten dauerhaften Zustand ein. Das Erscheinen der deutschen Frage auf der Tagesordnung macht ein für alle Mal die Entwicklung einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur notwendig und diese Frage verbindet die Prozesse, die im zukünftigen Deutschland bzw. im sich neuformierenden Europa stattfinden, organisch miteinander. Die Verbindung zwischen deutscher Einheit und europäischer Sicherheit wird heute erneut zu einem Bewusstseinsfaktor. Um der neuen Situation gerecht zu werden zu können, benötigen die Großmächte in erster Linie Zeit und eine gründliche Vorbereitung. Die Überraschung ist nur ein Grund hierfür. Der andere Grund ist, dass bei den Machtfaktoren, die das frühere

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Gleichgewicht aufrechterhielten, bedeutende Veränderungen eingetreten sind. Die Sowjetunion und der Warschauer Vertrag sind nicht mehr in der Lage, eine ihrem früheren Gewicht entsprechende Rolle bei der Gestaltung der neuen europäischen Strukturen zu übernehmen. All dies projiziert die Tatsache, dass die deutschen und europäischen Fragen nicht mehr auf die herkömmliche Weise, auf der Grundlage der früheren Machtaspekte und Kräfteverhältnisse behandelt und gelöst werden können. Die unerwarteten Probleme, ihre Neuartigkeit und das darin beinhaltete große Risiko liefern zusammen eine Erklärung dafür, dass der Ausgang des deutschen (und europäischen) Wandels heute schwer zu prognostizieren ist. Die Großmächte sind in einem Zustand der unproduktiven Ratlosigkeit. Ein Großteil der Konzeptionen kann nur mosaikartig angewendet werden. Der innere Prozess der deutschen Vereinigung geht hingegen immer planmäßiger voran und hat sich gegenwärtig zu einem entscheidenden Faktor entwickelt. Dieser Prozess zwingt die Großmächte erwartungsgemäß [noch] 1990, zumindest in den grundlegenden Fragen, zu einer Antwort. 1. Die sicherheitspolitischen und militärischen Auswirkungen der deutschen Vereinigung Die Grenze zwischen dem Warschauer Vertrag und der NATO drückte in erster Linie auf militärischem Gebiet die traditionelle Teilung und Gegenüberstellung in Europa aus und spiegelte zugleich auf konzentrierte Weise auch die traditionellen Gleichgewichtszustände wider. Der Gleichgewichtszustand ist heute praktisch zusammengebrochen, während sich ein neuartiges Gleichgewicht noch nicht entwickelt hat. Die NATO steht heute mit einer unveränderten Militärmacht von ca. 900.000 Mann nur mehr der westlichen sowjetischen Armeegruppe (ca. 390.000 Mann) gegenüber. Die im Wesentlichen auf der DDR gründende sowjetische Warschauer-Vertrags-Politik hat den Boden unter den Füßen verloren, was Moskau zu einer radikalen Veränderung seiner Außen- und Sicherheitspolitik zwingt. Die Sowjetunion sucht (auch) in Deutschland neue Rahmenbedingungen zur Wahrung ihrer militärischen und wirtschaftlichen Macht. […] 2. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der deutschen Vereinigung In Europa findet eine allgemeine sicherheitspolitische Reorganisation statt. Die bipolare militärische Sicherheit wird durch eine multilaterale wirtschaftliche Sicherheit abgelöst. Hinsichtlich der zukünftigen europäischen Rolle Deutschlands ist dies von besonderer Bedeutung. Die Schaffung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion hat bedeutende Probleme aufgeworfen. Über den tatsächlichen Zustand der DDR-Wirtschaft liegen keine zuverlässigen Informationen vor. Im Interesse der Vermeidung einer eventuellen Krise ist es allerdings wichtig, dass möglichst schnell Maßnahmen ergriffen werden. Unter westdeutscher Leitung erfolgt diese Arbeit in hohem Tempo. Trotz zahlloser Fragezeichen kann damit gerechnet werden, dass die Wirtschaft der BRD zur Sanierung der über beträchtliche Reserven verfügenden DDR-Wirtschaft und zu ihrer Aufrichtung



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fähig sein wird. Dies wird vermutlich damit einhergehen, dass sich das deutsche Wirtschaftspotenzial kurzfristig grundlegen nach innen richtet. Insofern die BRD diese Frage bis 1992 löst, muss mit der Entwicklung einer Wirtschaftsmacht mit neuer Qualität gerechnet werden, die auf die Wirtschaftsgeografie sowohl West- als auch Osteuropas von entscheidendem Einfluss sein wird. […] II. Die Auswirkungen der deutschen Einheit auf Ungarn 1) Die deutsche Vereinigung und die ungarische Europapolitik Ungarn wird von der Behandlung und Lösung der durch die deutsche Vereinigung aufgeworfenen Probleme insofern berührt, als dass sich im Falle eines positiven Ausgangs die europäische Annäherung in beträchtlichem Maße beschleunigen kann und sich die traditionellen europäischen Strukturen schneller auflösen können. Eine ungünstige Wende der Ereignisse würde hingegen die Entwicklung einer neuartigen gesamteuropäischen Zusammenarbeit ernsthaft behindern. Andererseits muss davon ausgegangen werden, dass die BRD der zweitwichtigste und die DDR der drittwichtigste Wirtschaftspartner unseres Landes ist und nach der Veränderungsphase Deutschland aller Gewissheit nach der wichtigste Partner Ungarns sein wird. Deshalb ist es zweckmäßig, die Beziehungen bereits in der „frühen“ Phase unter Berücksichtigung des zukünftigen europäischen Gewichts Deutschlands zu entwickeln. Es muss berücksichtigt werden, dass Ungarn infolge seiner geografischen Lage und politischen Situation in den Einzugsbereich Deutschlands gehören wird; aufgrund seiner historischen Rolle sowie seines politischen und geografischen Gewichts kann Ungarn keinen beträchtlichen Einfluss auf den Prozess der deutschen Vereinigung ausüben; Ungarn ist kein unmittelbarer Nachbar Deutschlands, sodass gewisse Befürchtungen die Entwicklung unserer Beziehungen nicht belasten; die Struktur des ungarisch-deutsch-deutschen Beziehungssystems kann in bedeutendem Maße modernisiert werden; die Politik der ungarischen Regierung war bisher in beiden deutschen Staaten anerkannt und populär. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren schlagen wir zur Entwicklung unseres Standpunktes bezüglich der deutschen Vereinigung folgende Gesichtspunkte vor: – die Verwirklichung der Selbstbestimmung ist ein natürliches Recht des deutschen Volkes, hierbei müssen aber die Ansprüche und Erwartungen der europäischen Staaten berücksichtigt werden; – die deutsche Frage muss unter Einbeziehung aller betroffenen Seiten ausgehend von der heutigen geschichtlichen Situation möglichst bald gelöst werden; – bezüglich des militärischen Status des vereinigten Deutschlands ist gegenwärtig aus dem Blickwinkel Ungarns der Gorbatschow-Plan eine akzeptable Alternative. Mittelfristig hingegen muss danach gestrebt werden, dass wir auf die im Zuge der Vereinigung hervortretenden sicherheitspolitischen Probleme mittels der Europäisierung der deutschen Frage Lösungen im Rahmen

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des auf ein höheres Niveau gehobenen und erneuerten KSZE-Prozesses finden; – für die Anerkennung der Grenzen muss eine angemessene und eindeutige rechtliche Formel gefunden werden; – Ungarn kann nicht zu einem Faktor der Beeinflussung des Vereinigungsprozesses werden, weswegen es nicht zweckmäßig ist, bei prinzipiellen Stellungnahmen selbstständig weiter zu gehen oder dem Prozess jegliche Hindernisse in den Weg zu stellen. Für bedeutendere ungarische Aktivitäten eröffnet sich im Zuge des Europäisierungsprozesses sowie bezüglich der Wirtschaft und der Menschenrechte eine Möglichkeit. Die Entwicklung und Ausgestaltung der ungarisch-deutschen Beziehungen kann in Zukunft auf drei Ebenen skizziert werden. Auf der Ebene der Makrostrukturen müssen wir davon ausgehen, dass sich dem über ein neues politisches Profil verfügenden Ungarn bei der Weiterentwicklung des Beziehungssystems zur BRD bzw. zu Deutschland neue Möglichkeiten eröffnen; diese Beziehung bildet ein konkretes Sprungbrett zur Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen Ungarn und der westeuropäischen Integration. Für uns ist es besonders wichtig, dass wir den Prozess der Integration der DDR in die EG gemäß den ungarischen Interessen be- und ausnu­t­ zen und dass wir alle Elemente dieses Prozesses (insofern sie unseren heimischen Umständen angepasst werden können), die Ungarn auf dem Weg zur westeuropäischen Integration weiterbringen, übernehmen. Die deutsche Politik wird erwartungsgemäß daran interessiert sein, die institutionellen Rahmenbedingungen der paneuropäischen (sic!) Zusammenarbeit möglichst bald auszugestalten und sie wird hierzu – ausgehend von ihrem zukünftigen wirtschaftlichen und politischen Gewicht – auch über angemessenen Einfluss verfügen. Auf allen Gebieten des KSZE-Prozesses können wir mit dem zukünftigen Deutschland als Partner von herausragender Wichtigkeit rechnen. Die zweite Ebene ist das Gebiet der klassischen bilateralen zwischenstaatlichen Kontakte, wo parallel zur Vereinigung zahllose neue Kooperationsbereiche und die Erneuerung der traditionellen Formen auf der Tagesordnung erscheinen können. Hier tritt heute gleichzeitig die Aufgabe des Bestanderhalts und der bewahrenden Erneuerung hervor. Auf der dritten Ebene spielt die regionale und die unmittelbare gesellschaftliche Zusammenarbeit eine Rolle. Dort wäre nicht das gesamte Deutschland der Partner, sondern erwartungsgemäß ihre über eine große Autonomie verfügenden Bundesländer, Städte und Landschaftseinheiten. Diese Mikroebene der Beziehungen kann eine bewegliche, flexiblere und leichter zu konvertierende Zusammenarbeit bewirken (Alpen-Adria, gemischte Unternehmen, deutsche Minderheit, Städtepartnerschaften, Sportbeziehungen usw.). Herausragende Bedeutung kommt der Analyse zu, welche Rolle das zukünftige Deutschland innerhalb Mitteleuropas spielen wird und auf welche Art und Weise sich das ungarisch-deutsche Beziehungsgefüge auf das Verhältnis zwischen Ungarn



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und seine Nachbarstaaten auswirken kann. Deutschland wird erwartungsgemäß – insbesondere mit wirtschaftlichen Mitteln – über bedeutenden Einfluss in unserer Region verfügen. Ein ungarisch-deutsches Beziehungssystem auf hoher Ebene muss nicht automatisch eine Zunahme der Möglichkeiten zur Durchsetzung der ungarischen Interessen in Mittel- und Osteuropa bedeuten, es kann aber dazu geeignet sein, dass es unserem Land eine entscheidend westliche Orientierung vermittelt und in bestimmten Fragen einzelne Bestrebungen der ungarischen Außenpolitik unterstützt. Die ungarische Regierung muss eine Politik des „Stehens auf mehreren Füßen“ ausarbeiten. Es ist aber unverzichtbar, zwischen den außenpolitischen Richtungen Akzente zu setzen. Die Tatsachen zeigen, dass die Beziehung zu Deutschland für unser Land entscheidend sein wird. Es muss allerdings alles dafür getan werden, dass eine Wiederholung der einseitigen Orientierung unmöglich wird. Es scheint eine Möglichkeit zu sein, dass wir die folgenden Bereiche besonders betonen: – unmittelbare Beziehungen zu den wirtschaftlichen und politischen Organisationen der EG. – regionale Kooperationsformen ohne deutsche Beteiligung; – die Aktivierung der bilateralen Beziehungen zu den übrigen europäischen Staaten sowie zu den USA, Japan, Südkorea usw. 2) Die Auswirkungen der deutschen Vereinigung auf die Entwicklung der bilateralen Beziehungen Die ungarisch-deutschen Beziehungen verfügen über bedeutende historische Wurzeln und sind auch gegenwärtig sehr breit gefächert. Abgesehen von einzelnen Phasen der Geschichte gingen diese Beziehungen mit beträchtlichen Vorteilen für Ungarn einher, wobei sie die anderen westlichen Beziehungen bei Weitem überflügelten. Zu all dem trugen die relative geografische Nähe, der Mangel bedeutender politischer Vorbehalte, die kontinuierliche Erneuerbarkeit der Struktur der bilateralen Beziehungen sowie das wechselseitige Interesse an ihrer Erneuerung bei. Es ist ein wichtiger Faktor, dass das Deutsche unter den westlichen Sprachen in unserem Land sehr verbreitet und anwendbar ist. Unsere Beziehungen haben sich auch in der jüngsten Vergangenheit dynamisch entwickelt, auch wenn sich in der bipolaren Relation eine gewisse Asymmetrie entwickelt hat. Das asymmetrische Beziehungssystem muss kurzfristig ausgeglichen gestaltet werden. Infolge der allgemeinen politischen Linie der ungarischen Regierung und einzelner ihrer konkreten Maßnahmen gestaltete sich die Beurteilung unseres Landes sehr positiv. Ausgehend davon, dass die Beziehungen zu Deutschland für unser Land sowohl auf europäischer als auch auf regionaler und bilateraler Ebene die dynamischsten sind, ist es unbedingt notwendig, dass diese Beziehungen sich auch in der Übergangsphase nicht verringern und keinen dauerhaften Schaden erleiden. Es muss berücksichtigt werden, dass alle zur DDR und zur BRD aufgebauten Positionen innerhalb kurzer Zeit konvertierbar werden. Und in der BRD gibt es Aussichten auf eine wirtschaftliche Konjunktur. Die Tatsache, dass sich Deutschland

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insbesondere in Bezug auf die DDR nach innen wendet, erschwert es, das Niveau der Beziehungen zu halten. Es muss, insbesondere im Falle der DDR, mit einem gewissen Abbau gerechnet werden. In dieser Phase muss Ungarn als Initiator auftreten. All dies erfordert auf allen Ebenen eine größere ungarische Aktivität. Seitens der BRD ist auch weiterhin eine große Initiativbereitschaft zu spüren und in vielen Fällen ist die ungarische Seite nicht in der Lage, angemessen darauf zu reagieren. Solange es nicht zu spät ist, müssen wir unsere relativen Positionsvorteile, die durch die ungarische Entscheidung vom September 1989 geschaffen wurden, sowie die Tatsache, dass in unserem Land wegen der Vereinigung die wenigsten politischen Befürchtungen geäußert wurden, ausnutzen und gebrauchen. [2.] 1. Unsere politischen Beziehungen Unsere politischen Beziehungen sind als gut zu bewerten und für ihre Wahrung bestehen auch nach der ungarischen und deutschen Regierungsumbildung alle Chancen. In diesem Bereich ist es wichtig, dass wir die Intensität der Beziehungen zur BRD bewahren und die Beziehungen zur DDR – in erster Linie aus wirtschaftlichen Erwägungen – aktivieren. Neben der bilateralen Ebene müssen wir danach streben, die ungarisch-deutschen Beziehungen auf dem Gebiet unserer Annäherung in Richtung der Institutionen der EG zu nutzen, und wir müssen den Prozess der Integration der DDR sowohl auf politisch-theoretischer als auch auf praktischer Ebene im Interesse unserer eigenen Integrationsziele nutzen. Es ist auch zweckmäßig, die Möglichkeiten der Ausnutzung der Kontakte zu Deutschland zur Erreichung anderer außenpolitischer Ziele Ungarns zu untersuchen. Bedeutende Möglichkeiten verbergen sich in der ungarisch-deutschen politischen Zusammenarbeit im Rahmen des KSZE-Prozesses (z. B. Beschleunigung der Ost-West-Annäherung, Minderheitenfrage usw.). Auch auf politischer Ebene kann und muss jede regionale Form der ungarisch-deutschen Beziehungen unterstützt werden. Die schnelle Kontaktaufnahme muss gleichermaßen auf Regierungs-, Parlaments- und Parteienebene gefördert werden. [2.] 2. Unsere wirtschaftlichen Beziehungen Deutschland wird – besonders auf dem Gebiet der Wirtschaftsbeziehungen – vermutlich sowohl hinsichtlich der west- als auch der osteuropäischen Länder eine Aufwertung erfahren und in Richtung des deutschen Marktes wird sich ein intensiver Wettbewerb entwickeln. Die ungarisch-deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen sind auch für unser Land von herausragender Wichtigkeit. Die Vereinigung und das folgende, übergangsweise in sich gekehrte Verhalten Deutschlands wirft für uns mehrere Probleme auf: Wir müssen verhindern, dass es in unseren Beziehungen zu einem bedeutenden Abbau und zu einem Markt- und Partnerverlust kommt, und wir müssen nach neuen, sich aus der Situation ergebenden Möglichkeiten suchen. Es muss eine aktive ungarische außenwirtschaftliche Tätigkeit auf deutschem Territorium entfaltet werden (gemischte Unternehmen, Subunternehmertätigkeit im Montagegewerbe, Zulieferung usw.). Da dieser Bereich der wichtigste, zugleich aber



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auch der komplizierteste ist, ist es unerlässlich, dass das Problem baldmöglichst auf die Regierungsebene gelangt und abgestimmte Maßnahmen ergriffen werden. Es ist davon auszugehen, dass das bisherige Niveau der ungarisch-deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen Ungarn bedeutende Möglichkeiten eröffnete; die bilateralen Beziehungen werden voraussichtlich die erstrangigen Kontakte für unser Land darstellen; die Beziehungen zu Deutschland können ein wichtiges Sprungbrett in Richtung EG bilden; mittelfristig kann damit gerechnet werden, dass eine Expansion der deutschen Wirtschaft in Richtung Osteuropa einsetzt; im Bereich der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen muss übergangsweise mit bedeutenden (finanziellen, Abrechnungs- und Vertragserfüllungs-) Problemen gerechnet werden, insbesondere in Bezug auf die DDR. [2.] 3. Kultur- und Unterrichtsbeziehungen sowie technisch-wissenschaftliche Beziehungen Auch auf diesem Gebiet haben sich entwickelte Beziehungen zwischen unseren Ländern ausgebildet. Es ist wichtig, diese in erster Linie auf der Ebene von Unterricht und Ausbildung auszuweiten. Es liegt nicht in unserem Interesse, die in der DDR erfolgende Ausbildung abzubauen, denn an den Universitäten und Hochschulen der DDR wird bald das westliche Unterrichtssystem eingeführt. Es ist notwendig, neue Stipendien und Ausbildungsformen zu organisieren, den Unterricht der deutschen Sprache in Ungarn zu entwickeln sowie die ungarisch-deutsche Kulturdiplomatie auf neue Grundlagen zu stellen. Die Beziehungen zu Deutschland können [zum einen] im Interesse unserer politischen Bestrebungen, die auf eine Lockerung der CoCom-Liste ausgerichtet sind, genutzt werden, zum anderen bieten sie eine unmittelbare Anknüpfungsmöglichkeit an eine technisch hoch entwickelte Wirtschaft. Nach Verwirklichung der deutschen Einheit wird das neue Staatsgebilde vermutlich seine Aufmerksamkeit unverändert auf die deutsche Minderheit richten und dies kann auch in Bezug auf unser Land eine beachtenswerte Anknüpfungsform bedeuten. [2.] 4. Modellhaftigkeit und ihre Anwendbarkeit [auf Ungarn] Das streng planwirtschaftliche System der Wirtschaftslenkung der DDR wird innerhalb kurzer Zeit auf die Bedingungen der sozialen Marktwirtschaft umgestellt. Sosehr all dies auch unter spezifischen Bedingungen geschieht, so wird dieser Prozess für die ost- und mitteleuropäischen Länder, die vor ähnlichen Aufgaben stehen, auf alle Fälle Modellcharakter haben. Seine einzelnen Etappen werden allgemeinen Charakter haben und sich auch in diesen Ländern wiederholen. Es ist daher unser grundlegendes Interesse, dass wir die sich in der DDR abspielenden Prozesse auf der politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlich-sozialen, kulturellen usw. Ebene mit wissenschaftlichen Mitteln und Kräften beobachten und analysieren und sie für die heimische Regierungspolitik nutzbar machen. Ähnlich müssen wir auch hinsichtlich der Integration der DDR in die EG vorgehen.

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Die andere wichtige Eigenheit der deutschen Vereinigung ist, dass mit der „Umstellung“ der DDR das westdeutsche geistige Potenzial das sogenannte sozialistische Wirtschaftssystem von innen kennenlernt. Seinen Abbau wird die BRD als erste auf der Welt durchführen. Dadurch werden sich die BRD und die deutsche Regierung einzigartige Erfahrungen verschaffen, für deren Nutzung in Osteuropa ein riesiger Bedarf bestehen wird. Über diese Erfahrungen wird in Westeuropa nur die BRD verfügen. Budapest, 24. Mai 1990 Quelle: MNL OL, XIX-J-1-j 1990, 53. d., 0077/28/1990, ohne Paginierung. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 66 Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident József Antall vom 31. Mai 1990 bezüglich der gegenüber der Bundesrepublik zu vertretenden ungarischen Anliegen Im Vorfeld des offiziellen Staatsbesuchs des neuen ungarischen Ministerpräsidenten József Antall in der Bundesrepublik vom 19. bis 21. Juni 1990 verfasste Botschafter Horváth ein Schreiben an den Regierungschef, in dem er Vorschläge zur Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen unterbreitet. Der Brief bringt drei ungarische Anliegen gegenüber der Bundesrepublik, deren Thematisierung Horváth dem Ministerpräsidenten empfiehlt, zum Ausdruck. Erstens regt der Botschafter an, um eine verstärkte finanzielle Unterstützung Ungarns durch die Bundesrepublik – in Form von Finanzhilfen, Krediten und Kreditbürgschaften – zu ersuchen und zu diesem Zweck ein „konkretes kurzfristiges Wirtschaftsprogramm“ auszuarbeiten bzw. dieses Bonn zu übermitteln. Zweitens plädiert Horváth dafür, der Ministerpräsident solle sich für eine Fortführung der Verträge, die Ungarn mit beiden deutschen Staaten bezüglich der ungarischen Arbeitskräftekontingente geschlossen hatte, sowie für eine Kontingenterhöhung einsetzen. Und drittens rät Horváth dem Ministerpräsidenten, bei Bundeskanzler Helmut Kohl den Wunsch nach bundesdeutscher Unterstützung der ungarischen Bemühungen zur Reform der örtlichen und regionalen Selbstverwaltung sowie des ungarischen Polizeiwesens zu äußern. *** […]84

84  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.



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Unter Bezugnahme auf unsere Vereinbarung bei unserem letzten Treffen in Berlin85 möchte ich Sie darüber informieren, dass ich die Leiter der Ressorts, die unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der ungarisch-bundesdeutschen Beziehungen bedeutsam sind, in einem Schreiben über die aktuelle Situation unserer bilateralen Beziehungen und über die in Verbindung mit der deutschen Vereinigung zu erwartenden Probleme informiert sowie Vorschläge zu den möglichen Modalitäten zu ihrer Lösung unterbreitet habe.86 Ich schlage vor, dass Herr Ministerpräsident vor seinem Besuch in der BRD vom 19. bis 21. Juni 1990 Bundeskanzler Helmut Kohl in einem Brief über die wichtigsten Vorstellungen der ungarischen Regierung bezüglich der Entwicklung der bilateralen Zusammenarbeit und über die besonders wichtigen Elemente unserer damit verbundenen Anliegen informiert.87 Hierbei würde ich es für besonders wichtig erachten, unsere Ersuchen in den folgenden drei Bereichen konkret zu formulieren: 1. Um die von der Regierung der BRD erwarteten Unterstützungen zu erhalten, ist es notwendig, ein konkretes kurzfristiges Wirtschaftsstrategieprogramm auszuarbeiten, wobei die Aufwendungen, die parallel zur Privatisierung auftreten und mit dem Strukturwandel einhergehen, und die inneren und äußeren Geldquellen, die dem Land zur Verfügung stehen, aufgeführt werden sollten. Man könnte um die Unterstützung der Regierung der BRD zur Finanzierung eines Teils der numerisch ausgearbeiteten Differenz ersuchen. Unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes könnte die neue ungarische Regierung um die wirtschaftlich-finanzielle Unterstützung der Regierung der BRD für folgende Ziele ersuchen: Gewährung eines langfristigen Kredits von 0,5 bis 1,0 Milliarde DM mit einer deutschen Regierungsgarantie zur Schaffung eines Sozialfonds (eventuell unter Einbeziehung deutscher Versicherungsgesellschaften), damit wir die infolge der Privatisierung und des Strukturwandels auftretenden zusätzlichen Sozialausgaben decken können. Gewährung eines größeren Finanzrahmens zu Zwecken der Existenzgründung unter besonderer Berücksichtigung der strukturellen Unterstützung von kleinen und mittleren Unternehmen. Deren politisch-wirtschaftliche Bedeutung ist in der BRD bekannt. Deutscherseits besteht die Bereitschaft, ein Pilotprojekt unter Mitwirkung der „Ausgleichsbank“88 in Gang zu setzen. Wir schlagen vor, das Programm in einer

85  Antall hielt sich am 26./27. Mai 1990, wenige Tage nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten, zu einem inoffiziellen Kurzbesuch in Berlin auf. 86  Siehe hierzu Darlegungen des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth vom 20. April 1990 zur Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland (Dokument 64). 87  Vor seinem offiziellen Deutschland-Besuch verfasste Ministerpräsident Antall am 8. Juni 1990 zwei Briefe an Bundeskanzler Helmut Kohl (siehe Kapitel 4.4.5). 88  Die im Mai 1950 – unter anderem Namen – gegründete Deutsche Ausgleichsbank hatte ursprünglich die Aufgabe, Investitionskredite an Vertriebene und Kriegsgeschädigte zu vergeben. Seit Mitte

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Größenordnung von ca. 100 Millionen DM einzuleiten, und diesen Rahmen in Abhängigkeit von den Ergebnissen in den folgenden fünf Jahren zu verdoppeln oder zu verdreifachen. Schaffung eines Fonds – auch in Zusammenarbeit mit den Bundesländern – zur Finanzierung inländischer Unterrichtszentren. Das Programm würde auch die Entsendung deutscher Fachleute und die Lieferung deutscher Mittel nach Ungarn einschließen. Zur eventuellen „Auffüllung“ der Reserven der MNB [Ungarischen Nationalbank] Aufnahme eines größeren langfristigen, durch eine Regierungsgarantie abgesicherten, frei verfügbaren Kredits. Ich hielte es für erwägenswert, vorzuschlagen, eine gemeinsame deutsch-ungarische Bank mit einem größeren Grundkapital zu gründen. Diese würde bei der wirtschaftlichen Reorganisation die mit dem Obigen verbundenen konkreten Aufgaben wahrnehmen. Ich hielte es für erwägenswert, zur Finanzierung der Vorbereitung der anstehenden Weltausstellung Wien-Budapest und zu ihrer Durchführung die Hilfe der deutschen Regierung zur Schaffung einer aus Banken und Unternehmen bestehenden Vereinigung in Anspruch zu nehmen. 2. Mit Blick auf die Linderung der Arbeitskräfteprobleme, die es in der ungarischen Wirtschaft gibt und die sich vermutlich verstärken werden, ist es für uns von großer Bedeutung, auch weiterhin – neben der Ausnutzung des in der BRD im Rahmen von Unternehmensverträgen beschäftigten, vertraglich festgelegten Kontingents (4.700 Personen) – die Beschäftigung der in der DDR tätigen, 3.000 Personen umfassenden Arbeitskraft sicherzustellen. Hierzu sollten wir Kanzler Kohl vorschlagen, die Gewährung eines insgesamt 7.700 Personen umfassenden Arbeitskräftekontingents in einem einheitlichen Vertrag festzuhalten. Gleichzeitig sollten wir – unter Berufung auf den in der DDR zu erwartenden Investitionsboom und den daraus hervorgehenden zusätzlichen Bedarf an Arbeitskräften sowie auf unsere schweren sozialen Probleme infolge der Zunahme der inneren Arbeitslosigkeit – um die Anhebung des Kontingents auf 10.000 Personen ersuchen. 3. Eine der herausragenden Aufgaben der ungarischen Innenpolitik wird es sei, eine den ungarischen Traditionen und der Praxis der demokratischen Staaten in Europa

der 1980er Jahre unterstützte sie in erster Linie Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung im Bereich des gewerblichen Mittelstands und der freien Berufe sowie auf dem Gebiet von Umweltschutz und Sozialem. Seit 1989 förderte sie zudem Existenzgründungen in der Dritten Welt sowie Beratungsprogramme in den osteuropäischen Transformationsstaaten. 2003 ging die Bank in der Kreditanstalt für Wiederaufbau auf.



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entsprechende Reform der Selbstverwaltung auszuarbeiten. Auf dem Gebiet der Ausgestaltung der Selbstverwaltungsrechte der verschiedenen Regionen, Bundesländer, Städte und Gemeinden sowie ihrer effektiven praktischen Umsetzung verfügt die BRD unter den europäischen Staaten über die umfangreichsten und am ehesten nutzbaren Erfahrungen. Die BRD ist auch auf diesem Gebiet zu einer engen Kooperation, zu regelmäßigen Fachkonsultationen und zum Erfahrungsaustausch bereit. Ich schlage daher vor, Kanzler Kohl um seine Unterstützung zu bitten, damit Deutschland seine Erfahrungen bei der Schaffung des Selbstverwaltungsgesetzes weitergibt und Verwaltungsexperten bereitstellt. Im Zuge des Aufbaus des Selbstverwaltungssystems müssen wir auf dem Gebiet der Umgestaltung des Apparats des Innenministeriums und der Reorganisation der Polizeiarbeit bedeutende Aufgaben lösen. Als Teil der Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen den Innenministerien ersuchen wir die Regierung der BRD, uns bei der Verwirklichung der folgenden konkreten Aufgaben zu unterstützen. Entwicklung der fachlichen Zusammenarbeit zwischen der Bundeskriminalpolizei der BRD (KRIPO) und dem Landespolizeipräsidium auf der Grundlage eines detaillierten Arbeitsplans. Diese würde sich auf die relevanten Gebiete bei der Bekämpfung der internationalen Kriminalität, des Drogenhandels und des Terrorismus (z. B. Personen- und Katastrophenschutz) erstrecken, einschließlich der hierzu notwendigen Kaderausbildung und der Unterstützung der Beschaffung der für die Arbeit notwendigen technischen Instrumente. Vermittlung von Kenntnissen und Erfahrungen bezüglich der Tätigkeit, des Aufbaus, der Kompetenzen und der parlamentarischen Kontrolle der deutschen Bundes- und Landespolizeiorgane. Regelmäßige Ausbildung eines bestimmten Kreises von Leitern und Untergebenen der ungarischen Polizei in der Bundesrepublik sowie Sicherstellung der fachlichen Praxis in Deutschland. Fachliche Weiterbildung von Kriminologen und Polizeioffizieren in entsprechenden Unterrichtsinstitutionen der BRD bzw. Sicherstellung der Einbeziehung der Mitarbeiter der ungarischen Polizei in postgraduelle Unterrichtsformen. Abschließend schlage ich vor, dass die Übergabe des Briefs von Herrn Ministerpräsidenten an Kanzler Kohl auf dem Weg über die Botschaft erfolgen soll. Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Ich hoffe, dass ich bei meinem Aufenthalt in Ungarn in Verbindung mit dem Besuch einer Delegation des Bundestags89 die Möglichkeit zu einem persönlichen Treffen mit Ihnen haben werde, damit wir einen Meinungsaustausch auch über Detailfragen in

89  Der Ungarn-Besuch der Delegation des Deutschen Bundestags erfolgte vom 4. bis 6. Juni 1990.

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Zusammenhang mit der Vorbereitung des Bonner Ministerpräsidententreffens und mit dem Inhalt meines Briefes führen können. (Dr. István Horváth) Quelle: István Horváth, Az elszalasztott lehetőség. A magyar–német kapcsolatok 1980–1991 [Die verpasste Chance. Deutsch-ungarische Beziehungen 1980–1991]. Budapest 2009, S. 213–215. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 67 Schreiben des Generalsekretärs des Demokratischen Verbandes der Deutschen in Ungarn Géza Hambuch an Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher vom 13. Juni 1990 bezüglich der zukünftigen Unterstützung der Ungarndeutschen In dem Schreiben, das der Generalsekretär des Demokratischen Verbandes der Deutschen in Ungarn (MNDSZ) Géza Hambuch am 13. Juni 1990, eine Woche vor dem offiziellen Staatsbesuch des neuen ungarischen Ministerpräsidenten in der Bundesrepublik, in deutscher Sprache an Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (sowie an Bundeskanzler Helmut Kohl und den ungarischen Ministerpräsidenten József Antall) richtete, weist er auf die Gefahr der vollständigen Assimilierung der Ungarndeutschen hin und ersucht um (weitere) wirksame Unterstützung, um den Erhalt der deutschen Identität sicherzustellen. *** Budapest, den 13. Juni 1990 Sehr geehrter, lieber Herr Genscher! Im Hinblick auf Ihre bevorstehenden Verhandlungen mit dem ungarischen Ministerpräsidenten, Herrn József Antall, erlaube ich mir, mich an Sie zu wenden. Mögen die Begegnungen für beide Seiten, somit auch für uns Ungarndeutsche, erfolgreich verlaufen. Es freut mich, dass wir in den Beziehungen zwischen beiden Ländern eine zunehmend wichtige und positive Rolle spielen dürfen. Wir suchen unser Glück in unserer angestammten Heimat, in Ungarn. Hier wollen wir Deutsche bleiben. Ohne größere eigene Anstrengungen sind wir als Volksgruppe verloren. Verloren sind wir aber auch ohne unentbehrliche rechtliche Garantien (Minderheitengesetz) und institutionelle Voraussetzungen wie echte deutsche Kindergärten, Schulen, Medien, deutschen Gottesdienst. Ungarn muss nach meiner Auffassung seine Minderheitenpolitik von Grund auf umstellen. Bisher hatte sie die weitgehende



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Assimilierung der Ungarndeutschen und anderer Volksgruppen zur Folge, weil die Voraussetzungen für unseren Fortbestand – trotz unserer wiederholten Bitten – nicht geschaffen worden sind. Von der neuen Ordnung, die wir mit errungen haben, erhoffen wir uns neue Möglichkeiten, eine wesentlich größere Hilfe für unser Weiterleben als Volksgruppe. Ich sage Ihnen und der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland herzlichen Dank für die bisherige Unterstützung. Diese Hilfe und das Gefühl, von der Mutternation nicht vergessen zu sein, sind für uns auch künftig unentbehrlich. Gestatten Sie mir, auf einige wichtige Vorhaben unserer Volksgruppe hinzuweisen. Zur Bewahrung bzw. Rückgewinnung unserer Muttersprache brauchen wir ein echtes deutsches Schulsystem, wesentlich bessere Voraussetzungen für die Pflege unserer Kultur, deutsche Gottesdienste, wirksamere deutsche Medien. Wir erwarten weitere Gastlehrer aus Deutschland. Ähnlich wie das Lenau-Haus in Fünfkirchen wollen wir auch in anderen Städten Kulturzentren der Ungarndeutschen einrichten. Es sollte ermöglicht werden, dass möglichst viele junge Leute in Deutschland einen Beruf erlernen, Stipendien für Teil- oder Vollstudien an deutschen Universitäten und Hochschulen erhalten, dass junge und ältere Personen die Selbstverwaltung der deutschen Kommunen sowie auch das freie Unternehmertum kennenlernen. Auch die Möglichkeit, in Deutschland zeitweilig ein Arbeitsverhältnis einzugehen, wäre für die Ungarndeutschen sowohl in fachlicher als auch sprachlicher und bewusstseinsmäßiger Hinsicht vorteilhaft. Um die noch bestehenden deutschen Gemeinschaften in den Siedlungen zu erhalten, müssten bessere Infrastrukturen geschaffen werden. Wir sind bemüht, weitere Gemeinde- und Städtepartnerschaften mit anzubahnen. In Budapest planen wir ein Deutsches Haus (Dienstleistungen u. a. für Wirtschaft, Handel, Fremdenverkehr und Kultur) sowie die Gründung einer Ungarndeutschen Bank, die auch Vorhaben unserer Volksgruppe finanzieren würde. Ich halte es für erwägenswert und sinnvoll, die den Ungarndeutschen zu gewährende Unterstützung in einer weiteren gemeinsamen Erklärung festzuhalten und sie in einschlägige zwischenstaatliche Verträge einzubringen. Ich versichere Ihnen, dass wir, die Ungarndeutschen, nach wie vor zur konstruktiven Zusammenarbeit bereit sind. Haben Sie herzlichen Dank für Ihr Verständnis und Ihre Hilfe. Mit vorzüglicher Hochachtung und freundlichen Grüßen [Unterschrift] Géza Hambuch Generalsekretär PS: Schreiben ähnlichen Inhalts habe ich an Ministerpräsident József Antall und Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl gerichtet.

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Quelle: MNL OL, XIX-J-1-k 1990, 71. d., ohne Paginierung (Dokument in deutscher Sprache).

Dokument 68 Gesetz Nr. XL des Jahres 1990 über die Änderung der Verfassung der Republik Ungarn, angenommen vom ungarischen Parlament auf seiner Sitzung am 19. Juni 1990 Nach dem Regierungswechsel in Ungarn im Mai 1990 ließ die neue Koalitionsregierung unter dem bürgerlich-konservativen Ministerpräsidenten József Antall eine umfangreiche Verfassungsänderung vorbereiten. Im Zuge dieser sollten „sozialistische Relikte“ aus der Verfassung entfernt, ihre Bestimmungen an die veränderte innenpolitische Lage angepasst sowie Regelungen zur Förderung der Stabilität der Regierung und der politischen Ordnung aufgenommen werden. Das Gesetz streicht hinsichtlich der politischen Ordnung den Verweis auf den „demokratischen Sozialismus“ und bezüglich der Marktwirtschaft die Bezugnahme auf die „Vorteile der Planung“ aus der Verfassung. Darüber hinaus zieht es – neben einer Reihe weiterer Änderungen – einen Schlussstrich unter die – noch immer anhaltende – Diskussion über den Wahlmodus des Staatspräsidenten und bestimmt seine Wahl durch das Parlament, legt nach bundesdeutschem Vorbild das Prinzip des konstruktiven Misstrauensvotums gegenüber dem Regierungschef fest, weitet die Kompetenzen des Staatspräsidenten aus und bestimmt, in welchen Bereichen Gesetze bzw. Gesetzesänderungen nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit verabschiedet werden können. *** Gesetz Nr. XL des Jahres 1990 über die Änderung der Verfassung der Republik Ungarn Das – mehrfach geänderte – Gesetz Nr. XX des Jahres 1949 über die Verfassung der Republik Ungarn (im Folgenden: Verfassung) wird gemäß folgenden Punkten modifiziert: § 1 An die Stelle von § 2, Absatz 1 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(1) Die Republik Ungarn ist ein unabhängiger und demokratischer Rechtsstaat.“ § 2 An die Stelle von § 7, Absatz 2 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(2) Die Ordnung der Gesetzgebung regelt ein Gesetz, zu dessen Annahme die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig sind.“ § 3 (1) An die Stelle von § 8, Absatz 2 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(2) In der Republik Ungarn legt ein Gesetz die Regelungen bezüglich der Grundrechte und Grundpflichten fest, es darf allerdings den wesentlichen Inhalt der Grundrechte nicht beschränken.“



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(3) An die Stelle von § 8, Absatz 4 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(4) Zur Zeit eines Ausnahmezustands, eines Notstands oder einer Gefahrensituation kann die Ausübung der Grundrechte – mit Ausnahme der in den §§ 54 bis 56, § 57, Absatz 2 bis 4, § 60, §§ 66–69 und § 70/E festgeschriebenen Grundrechten – suspendiert oder beschränkt werden.“ § 4 An die Stelle von § 9 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „§ 9 (1) Die Wirtschaft Ungarns ist eine Marktwirtschaft, in der das Gemeineigentum und das Privateigentum gleichberechtigt sind und gleichen Schutz genießen. (2) Die Republik Ungarn anerkennt und unterstützt das Recht auf Unternehmung und die Freiheit des wirtschaftlichen Wettbewerbs.“ § 5 An die Stelle von § 10, Absatz 2 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(2) Den Kreis des ausschließlichen Eigentums des Staates sowie seiner ausschließlichen Wirtschaftstätigkeit regelt ein Gesetz.“ § 6 An die Stelle von § 11 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „§ 11 Die Unternehmen und Wirtschaftsorganisationen, die sich im Eigentum des Staates befinden, wirtschaften auf gesetzlich festgeschriebene Weise und mit gesetzlich festgeschriebener Verantwortung selbstständig.“ § 7 (1) An die Stelle von § 12 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „§ 12 (1) Der Staat unterstützt Genossenschaften, die auf einer freiwilligen Vereinigung gründen, und erkennt die Selbstständigkeit der Genossenschaften an. (2) Der Staat achtet das Eigentum der Selbstverwaltungen.“ (2) § 13 der Verfassung wird durch den folgenden Absatz 1 ergänzt und der gegenwärtige Text erhält gleichzeitig die Kennzeichnung „(2)“: „(1) Die Republik Ungarn gewährleistet das Recht auf Eigentum.“ § 8 (1) An die Stelle von § 19, Absatz 3, Punkt b) der Verfassung tritt folgende Bestimmung: (In diesem Kompetenzbereich) „b) verabschiedet das Parlament Gesetze;“ (2) An die Stelle von § 19 Absatz 3, Punkt k) der Verfassung tritt folgende Bestimmung: (In diesem Kompetenzbereich) „das Parlament wählt den Präsidenten der Republik, den Ministerpräsidenten, die Mitglieder des Verfassungsgerichts, den Parlamentarischen Ombudsmann für die Rechte der Staatsbürger sowie der nationalen und ethnischen Minderheiten, den Präsidenten und die Vizepräsidenten des Staatlichen Rechnungshofes, den Präsidenten des Obersten Gerichts und den Obersten Staatsanwalt.“ (3) An die Stelle von § 19 Absatz 5 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(5) Das Parlament kann eine landesweite Volksabstimmung anordnen. Zur Annahme des Gesetzes über die Volksabstimmung sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 9 An die Stelle von § 19/B, Absatz 2 der Verfassung tritt folgende Bestimmung:

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„(2) Der Vorsitzende des Verteidigungsrats ist der Präsident der Republik, seine Mitglieder sind die folgenden Personen: der Parlamentspräsident, die Leiter der Abgeordnetengruppen der im Parlament vertretenen Parteien, der Ministerpräsident, die Minister, der Befehlshaber der Ungarischen Landesverteidigung sowie der Generalstabschef.“ § 10 An die Stelle von § 19/D der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „§ 19/D Zur Annahme des Gesetzes über die detaillierten Regelungen, die zur Zeit des Ausnahmezustands und des Notstands anzuwenden sind, sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 11 (1) An die Stelle des zweiten Satzes von § 20, Absatz 4 der Verfassung tritt der folgende Satz: Zur Annahme des Gesetzes über die Höhe des Honorars und der Aufwandsentschädigung sowie über den Kreis der Vergünstigungen sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ (2) An die Stelle des zweiten Satzes von § 20, Absatz 5 der Verfassung tritt der folgende Satz: „Das Gesetz stellt auch sonstige Fälle der Inkompatibilität fest.“ (3) An die Stelle von § 20, Absatz 6 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(6) Zur Annahme des Gesetzes über die Rechtsstellung der Parlamentsabgeordneten sind die Stimmen von zwei Dritteln der Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 12 An die Stelle von § 21, Absatz 1 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(1) Das Parlament wählt aus seinen Reihen den Präsidenten, die Vizepräsidenten und die Schriftführer.“ § 13 An die Stelle von § 22, Absatz 1 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(1) Das Parlament hält jährlich zwei ordentliche Sitzungsperioden ab: vom 1. Februar bis zum 15. Juni sowie vom 1. September bis zum 15. Dezember.“ § 14 An die Stelle von § 24, Absatz 3 und 4 der Verfassung treten folgende Bestimmungen: „(3) Zur Änderung der Verfassung sowie zur Verabschiedung einzelner in der Verfassung bestimmter Beschlüsse sind die Stimmen von zwei Dritteln der Parlamentsabgeordneten notwendig. (4) Das Parlament legt in der mit zwei Dritteln der Stimmen der anwesenden Parlamentsabgeordneten angenommenen Hausordnung die Funktionsregeln und die Verhandlungsordnung fest.“ § 15 An die Stelle von § 27 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „§ 27 Die Mitglieder des Parlaments können in allen Angelegenheiten, die zu ihrem Aufgabenbereich gehören, Anfragen an den Parlamentarischen Ombudsmann für die Rechte der Staatsbürger sowie der nationalen und ethnischen Minderheiten, an den Präsidenten des Staatlichen Rechnungshofes und an den Präsidenten der Ungarischen Nationalbank sowie Interpellationen oder Anfragen an jedes Mitglied der Regierung und an den Obersten Staatsanwalt richten.“



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§ 16 (1) An die Stelle von § 28, Absatz 3 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(3) Der Präsident der Republik kann mit der Ausschreibung der Wahlen gleichzeitig das Parlament auflösen, wenn a) das Parlament – zur Zeit des Mandats desselben Parlaments – innerhalb von zwölf Monaten der Regierung mindestens in vier Fällen das Vertrauen entzogen hat oder b) im Falle der Beendigung des Mandats der Regierung die vom Präsidenten der Republik als Ministerpräsident vorgeschlagene Person nicht innerhalb von 40 Tagen nach der Unterbreitung des ersten Personalvorschlags gewählt wird.“ (2) An die Stelle von § 28, Absatz 5 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(5) Vor der Auflösung des Parlaments ist der Präsident der Republik verpflichtet, die Meinung des Ministerpräsidenten, des Parlamentspräsidenten und der Leiter der Abgeordnetengruppen der im Parlament vertretenen Parteien einzuholen.“ § 17 An die Stelle von § 29/A, Absatz 1 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(1) Das Parlament wählt den Präsidenten der Republik auf fünf Jahre.“ § 18 Die Verfassung wird um den folgenden neuen § 29/B ergänzt: „§ 29/B (1) Der Wahl des Präsidenten der Republik geht eine Kandidatur voraus. Für eine gültige Kandidatur ist der schriftliche Vorschlag von mindestens 50 Mitgliedern des Parlaments notwendig. Die Kandidatur muss vor Anordnung der Abstimmung beim Präsidenten des Parlaments eingereicht werden. Jedes Mitglied des Parlaments darf nur einen Kandidaten vorschlagen. Alle Vorschläge desjenigen Abgeordneten, der mehrere Kandidaten vorschlägt, sind ungültig. (2) Das Parlament wählt den Präsidenten der Republik in geheimer Abstimmung. Es ist eine – im Vergleich zum Notwendigen – mehrfache Wahl möglich. Aufgrund der ersten Wahl ist derjenige der gewählte Präsident der Republik, der die Stimmen von zwei Dritteln der Abgeordneten erringt. (3) Wenn keiner der Kandidaten bei der ersten Wahl diese Mehrheit erringt, dann muss die Abstimmung aufgrund eines Absatz 1 entsprechenden neuen Vorschlags erneut abgehalten werden. Auch bei der zweiten Wahl sind die Stimmen von zwei Dritteln der Abgeordneten notwendig. (4) Wenn bei der zweiten Wahl keiner der Kandidaten die notwendige Mehrheit erringt, muss eine dritte Abstimmung durchgeführt werden. bei dieser Gelegenheit kann nur über die beiden Kandidaten abgestimmt werden, die im zweiten Wahlgang die meisten Stimmen erhielten. Der aufgrund der dritten Abstimmung gewählte Präsident der Republik ist derjenige, der – ohne Berücksichtigung der Zahl der an der Abstimmung beteiligten Personen – die Stimmenmehrheit erringt. (5) Der Abstimmungsvorgang muss innerhalb von drei aufeinanderfolgenden Tagen abgeschlossen werden.“ § 19 An die Stelle von § 29/C der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „§ 29/C (1) Der Präsident der Republik muss innerhalb von 30 Tagen vor Ablauf des Mandats des vorherigen Präsidenten gewählt werden. Wenn das Mandat vor-

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zeitig endet, dann muss er innerhalb von 30 Tagen nach dem Amtsende gewählt werden. (2) Die Präsidentenwahl wird vom Parlament ausgeschrieben.“ § 20 An die Stelle von § 30, Absatz 2 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(2) Zur Annahme des Gesetzes über das Honorar und die Vergünstigungen für den Präsidenten der Republik sowie über die Summe der ihm zustehenden Aufwandsentschädigung sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 21 An die Stelle von § 30/A, Absatz 1, Punkt h) und i) der Verfassung tritt folgende Bestimmung: (Der Präsident der Republik) „h) ernennt und enthebt – gemäß den in einem gesonderten Gesetz bestimmten Regelungen – die Staatssekretäre; i) ernennt und entlässt auf Vorschlag der in einem gesonderten Gesetz benannten Personen oder Organe den Präsidenten und die Vizepräsidenten der Ungarischen Nationalbank sowie die Universitätsprofessoren; er beauftragt und entlässt die Rektoren der Universitäten; er ernennt und befördert der Generäle; er bekräftigt den Präsidenten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in seinem Amt,“ § 22 An die Stelle von § 31/A, Absatz 5 und 6 der Verfassung treten folgende Bestimmungen: „(5) Die Beurteilung der Handlung fällt in den Kompetenzbereich des Verfassungsgerichts. (6) Wenn das Verfassungsgericht als Ergebnis seines Verfahrens die Tatsache der Gesetzesverletzung feststellt, dann kann sie dem Präsidenten der Republik seinen Titel entziehen.“ § 23 (1) An die Stelle von § 32/A, Absatz 4 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(4) Die 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts werden vom Parlament gewählt. Für die Mitglieder des Verfassungsgerichts unterbreitet ein Nominierungsausschuss, der sich aus jeweils einem Mitglied der Abgeordnetengruppen der im Parlament repräsentierten Parteien zusammensetzt, einen Vorschlag. Zur Wahl der Mitglieder des Verfassungsgerichts sind die Stimmen von zwei Dritteln der Parlamentsabgeordneten notwendig.“ (2) An die Stelle von § 32/A, Absatz 6 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(6) Zur Annahme des Gesetzes über die Organisation und Tätigkeit des Verfassungsgerichts sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 24 (1) An die Stelle des Titels von Kapitel V der Verfassung tritt folgender Titel: „Der Parlamentarische Ombudsmann für die Staatsbürgerrechte und der Parlamentarische Ombudsmann für die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten“ (2) An die Stelle von § 32/B der Verfassung tritt folgende Bestimmung:



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„32/B (1) Aufgabe des Parlamentarischen Ombudsmanns für Staatsbürgerrechte ist es, Missstände, die ihm in Verbindung mit den verfassungsmäßigen Rechten zur Kenntnis gelangt sind, zu untersuchen oder untersuchen zu lassen, und zu ihrer Überwindung allgemeine oder individuelle Maßnahmen zu initiieren. (2) Aufgabe des Parlamentarischen Ombudsmanns für die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten ist es, Missstände, die ihm in Verbindung mit den Rechten der nationalen und ethnischen Minderheiten zur Kenntnis gelangt sind, zu untersuchen oder untersuchen zu lassen, und zu ihrer Überwindung allgemeine oder individuelle Maßnahmen zu initiieren. (3) Ein Ombudsmann-Verfahren kann jedermann in den gesetzlich festgelegten Fällen einleiten. (4) Der Parlamentarische Ombudsmann für Staatsbürgerrechte bzw. der Parlamentarische Ombudsmann für die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten wird auf Vorschlag des Präsidenten der Republik vom Parlament mit den Stimmen von zwei Dritteln der Abgeordneten gewählt. Das Parlament kann zum Schutze einzelner verfassungsmäßiger Rechte auch einen eigenen Beauftragten wählen. (5) Der Kompetenzbereich des Parlamentarischen Ombudsmanns für die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten wird von einem aus jeweils einem Vertreter der einzelnen nationalen und ethnischen Minderheiten bestehenden Gremium, das von den Organisationen der nationalen und ethnischen Minderheiten nominiert und vom Parlament gewählt wird, ausgeübt. (6) Der Parlamentarische Ombudsmann berichtet dem Parlament jährlich über die Erfahrungen bei seiner Arbeit. (7) Zur Annahme des Gesetzes über die parlamentarischen Ombudsmänner sind die Stimmen von zwei Dritteln der Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 25 (1) An die Stelle des Titels von Kapitel VI der Verfassung tritt folgender Titel: „Der Staatliche Rechnungshof und die Ungarische Nationalbank“ (2) An die Stelle von § 32/C, Absatz 3 bis 4 der Verfassung treten folgende Bestimmungen: „(3) Zur Wahl des Präsidenten und der Vizepräsidenten des Staatlichen Rechnungshofes sind die Stimmen von zwei Dritteln der Parlamentsabgeordneten notwendig. (4) Zur Annahme des Gesetzes über die Grundprinzipien der Organisation und der Tätigkeit des Staatlichen Rechnungshofes sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 26 Nach § 32/C wird die Verfassung um den folgenden § 32/D ergänzt: „§ 32/D (1) Die Aufgabe der Ungarischen Nationalbank sind die Emission des gesetzlichen Zahlungsmittels, der Schutz der Wertbeständigkeit des nationalen Zahlungsmittels sowie die Regelung des Geldumlaufs auf eine in einem eigenen Gesetz geregelte Art und Weise. (2) Den Präsidenten der Ungarischen Nationalbank ernennt der Präsident der Republik auf sechs Jahre.

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(3) Der Präsidenten der Ungarischen Nationalbank berichtet dem Parlament jährlich über die Tätigkeit seiner Bank.“ § 27 Die Verfassung wird um den folgenden § 33/A ergänzt: „§ 33/A Das Mandat der Regierung endet: a) mit dem Zusammentreten des neu gewählten Parlaments, b) mit dem Rücktritt des Ministerpräsidenten bzw. der Regierung, c) mit dem Tode des Ministerpräsidenten sowie d) wenn das Parlament entsprechend den Bestimmungen von § 39/A, Absatz 1 dem Ministerpräsidenten das Vertrauen entzieht und einen neuen Ministerpräsidenten wählt.“ § 28 An die Stelle des zweiten Satzes von § 35, Absatz 3 der Verfassung tritt folgender Satz: „Zur Annahme des Gesetzes über die in einer Gefahrensituation anwendbaren Regelungen sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 29 An die Stelle des zweiten Satzes von § 39, Absatz 2 der Verfassung tritt folgender Satz: „Die Rechtsstellung der Regierungsmitglieder und Staatssekretäre, ihre Entlohnung sowie die Art und Weise ihrer Verantwortlichmachung ist durch ein Gesetz zu regeln.“ § 30 (1) An die Stelle von § 39/A, Absatz 1 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „Mindestens ein Fünftel der Abgeordneten kann gegen den Ministerpräsidenten schriftlich – unter Benennung der mit dem Amt des Ministerpräsidenten betrauten Person – einen Misstrauensantrag einreichen. Der Misstrauensantrag, der gegen den Ministerpräsidenten eingereicht wurde, ist als Misstrauensantrag gegen die Regierung zu betrachten. Wenn die Mehrheit der Parlamentsabgeordneten aufgrund des Antrags das Misstrauen ausspricht, dann ist die als neuer Ministerpräsident nominierte Person als gewählt zu betrachten.“ (2) § 39/A der Verfassung wird durch den folgenden Absatz 5 ergänzt: „(5) Wenn das Parlament der Regierung in den in Absatz 3 bis 4 festgehaltenen Fällen nicht das Vertrauen ausspricht, dann ist die Regierung verpflichtet, zurückzutreten.“ § 31 An die Stelle von § 39/B der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „§ 39/B Wenn das Mandat der Regierung endet, bleibt die Regierung bis zur Bildung der neuen Regierung im Amt und übt all jene Rechte aus, die der Regierung zustehen; sie darf allerdings keine internationalen Verträge abschließen und darf Verordnungen nur aufgrund einer ausdrücklichen Bevollmächtigung durch Gesetz und in unaufschiebbaren Fällen erlassen.“ § 32 (1) An die Stelle des zweiten Satzes von § 40/A, Absatz 1 der Verfassung tritt der folgende Satz:



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„Zur Annahme des Gesetzes über die Aufgaben der bewaffneten Kräfte und über die sich auf sie beziehenden detaillierten Regelungen sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ (2) An die Stelle des zweiten Satzes von § 40/A, Absatz 2 der Verfassung tritt der folgende Satz: „Zur Annahme des Gesetzes über die Polizei und über die detaillierten Regelungen in Zusammenhang mit der Tätigkeit der Staatssicherheit sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 33 An die Stelle von § 40/B, Absatz 4 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(4) Über die Tätigkeit der Mitglieder des faktischen Bestandes der bewaffneten Kräfte und der Polizei in einer Partei können mit den Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten Beschränkungen festgelegt werden.“ § 34 An die Stelle von § 44, Absatz 2 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(2) Zur Annahme des Gesetzes über die Räte sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 35 (1) An die Stelle von § 48, Absatz 1 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(1) Das Parlament wählt den Präsidenten des Obersten Gerichts auf Vorschlag des Präsidenten der Republik. Seine Vizepräsidenten werden auf Vorschlag des Präsidenten des Obersten Gerichts vom Präsidenten der Republik ernannt. Zur Wahl des Präsidenten des Obersten Gerichts sind die Stimmen von zwei Dritteln der Parlamentsabgeordneten notwendig.“ (2) An die Stelle von § 50, Absatz 4 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(4) Zur Annahme des Gesetzes über die Gerichte sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 36 (2) An die Stelle von § 53, Absatz 4 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(4) Die sich auf die Staatsanwaltschaft beziehenden Regelungen legt ein Gesetz fest.“ § 37 An die Stelle von § 55, Absatz 2 der Verfassung tritt folgende Bestimmung, gleichzeitig ändert sich die Nummerierung des gegenwärtigen Absatzes 2 auf Absatz 3: „(2) Eine Person, die dem Begehen einer Straftat bezichtigt wird und in Haft genommen wurde, muss innerhalb kürzester Zeit entweder freigelassen oder einem Richter vorgeführt werden. Der Richter ist verpflichtet, die vorgeführte Person anzuhören und unverzüglich in einer schriftlichen, mit einer Begründung versehenen Entscheidung über ihre Freilassung oder Verhaftung zu entscheiden.“ § 38 § 58 der Verfassung wird durch folgenden Absatz 3 ergänzt: „(3) Zur Annahme des Gesetzes über die Reise- und Niederlassungsfreiheit sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 39 § 59 der Verfassung wird um den folgenden Absatz 2 ergänzt, gleichzeitig ändert sich die gegenwärtige Nummerierung auf Absatz 1:

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„(2) Zur Annahme des Gesetzes über den Schutz der Persönlichkeitsdaten sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 40 § 60 der Verfassung wird um den folgenden Absatz 4 ergänzt: „(4) Zur Annahme des Gesetzes über die Gewissens- und Religionsfreiheit sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 41 § 61 der Verfassung wird um die folgenden Absätze 3 und 4 ergänzt: „(3) Zur Annahme des Gesetzes über die Öffentlichkeit von Daten in allgemeinem Interesse sowie des Gesetzes über die Pressefreiheit sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig. (4) Zur Annahme des Gesetzes über die Aufsicht über das öffentlich-rechtliche Radio, Fernsehen und über die öffentlich-rechtliche Nachrichtenagentur sowie über die Ernennung ihrer Leiter, und außerdem des Gesetzes über die Genehmigung des kommerziellen Radios und Fernsehens bzw. über die Verhinderung von Informationsmonopolen sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 42 § 62 der Verfassung wird um den folgenden Absatz 2 ergänzt und die Nummerierung des gegenwärtigen Textes ändern sich auf Absatz 1: „(2) Zur Annahme des Gesetzes über das Vereinigungsrecht sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 43 § 63 der Verfassung wird um den folgenden Absatz 3 ergänzt: „(3) Zur Annahme des Gesetzes über das Vereinigungsrecht sowie über die Tätigkeit und Wirtschaftsweise der Parteien sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 44 § 65 der Verfassung wird um den folgenden Absatz 3 ergänzt: „(3) Zur Annahme des Gesetzes über das Asylrecht sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 45 An die Stelle von § 68 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „§ 68 (1) Die in der Republik Ungarn lebenden nationalen und ethnischen Minderheiten sind Teilhaber an der Macht des Volkes, sie sind staatsbildende Faktoren. (2) Die Republik Ungarn gewährt den nationalen und ethnischen Minderheiten Schutz. Sie stellt ihre kollektive Teilnahme am öffentlichen Leben, die Pflege ihrer eigenen Kultur, die Verwendung ihrer Muttersprache, den muttersprachlichen Unterricht und das Recht zur Namensverwendung in der eigenen Sprache sicher. (3) Die Gesetze der Republik Ungarn garantieren den auf dem Territorium des Landes lebenden nationalen und ethnischen Minderheiten eine Vertretung. (4) Zur Annahme des Gesetzes über die nationalen und ethnischen Minderheiten sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“



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§ 46 § 69 der Verfassung wird um folgenden Absatz 4 ergänzt: „(4) Zur Annahme des Gesetzes über die Staatsbürgerschaft sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 47 (1) § 70/C der Verfassung wird um den folgenden Absatz 3 ergänzt: „(3) Zur Annahme des Gesetzes über das Streikrecht sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ (2) An die Stelle von § 70/D, Absatz der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(2) Dieses Recht verwirklicht die Republik Ungarn mittels der Organisation des Arbeitsschutzes, der Institutionen des Gesundheitswesens und der ärztlichen Versorgung, mittels der regelmäßigen Körpererziehung sowie mittels des Schutzes der bebauten und natürlichen Umgebung.“ § 48 § 70/H der Verfassung wird um den folgenden Absatz 3 ergänzt: „(3) Zur Annahme des Gesetzes über die Wehrpflicht sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 49 An die Stelle von § 71, Absatz 3 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „(3) Zur Annahme der Gesetze über die Wahl der Parlamentsabgeordneten und der Rätemitglieder sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 50 An die Stelle von § 76 der Verfassung tritt folgende Bestimmung: „§ 76 (1) Die Fahne der Republik Ungarn besteht aus drei gleichbreiten, waagrechten Streifen in den Farben Rot, Weiß und Grün. (2) Zur Annahme des Gesetzes über das Wappen und die Fahne der Republik Ungarn sowie über seine bzw. ihre Verwendung sind die Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig.“ § 51 (1) Dieses Gesetz tritt – mit Ausnahme von § 26 – am Tage seiner Verkündung in Kraft; gleichzeitig verlieren § 8, Absatz 3, § 28, Absatz 4, § 31/A Absatz 7 und 8 der Verfassung, Gesetz Nr. XXXV des Jahres 1989 über die Wahl des Präsidenten der Republik sowie Gesetz Nr. XVII des Jahres 1990 über die parlamentarische Vertretung der in der Republik Ungarn lebenden nationalen und sprachlichen Minderheiten ihre Gültigkeit. (Dort, wo die Verfassung den Verfassungsrechtsrat erwähnt, dort ist darunter das Verfassungsgericht, dort, wo die Verfassung bzw. sonstige Rechtsnormen von Ministerrat sprechen, ist die Regierung zu verstehen.) (3) Über das Inkrafttreten von § 26 dieses Gesetzes verfügt ein eigenes Gesetz. Quelle: Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 59, 25. Juni 1990, S. 1261–1265. Veröffentlicht in deutscher und ungarischer Sprache: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985-1990“, bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest). Kurz-URL: http://www.herder-institut.de/go/YM-89ddb9 (Zugriff: 12.09.2016). Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

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Dokument 69 Bericht des ungarischen Außenministeriums vom 26. Juni 1990 über den Besuch von Ministerpräsident József Antall in der Bundesrepublik Deutschland Seine erste offizielle Auslandsreise vom 19. bis 22. Juni 1990 stattete der neu gewählte Ministerpräsident József Antall (MDF) der Bundesrepublik Deutschland ab. Während seiner Reise besuchte er neben Bonn die Landeshauptstädte München und Stuttgart und führte Gespräche mit Bundeskanzler Helmut Kohl und den Ministerpräsidenten Max Streibl (Bayern) und Lothar Späth (Baden-Württemberg) sowie mit weiteren führenden Bundes-, Landes- und Parteipolitikern und Vertretern der Wirtschafts- und Finanzwelt. Der Bericht über den Besuch wurde von Staatssekretär Ferenc Somogyi auf der Grundlage einer Vorlage von Botschafter István Horváth90 erstellt und von Horváth sowie von Regierungschef Antall genehmigt.91 Der ungarische Regierungschef legte – so der Bericht des Außenministeriums – gegenüber der westdeutschen Seite die Situation in Ungarn und die Ziele seiner Regierung dar und kündigte die Absicht Ungarns an, aus dem Warschauer Vertrag auszutreten. Westdeutscherseits brachte man gegenüber Antall den Dank der Deutschen für die Rolle Ungarns im Prozess der deutschen Vereinigung zu Ausdruck und informierte den Ministerpräsidenten über den gegenwärtigen Stand der Angelegenheit. Ein zentrales Thema der Unterredungen bildeten konkrete Fragen und Probleme der bilateralen Zusammenarbeit. Hierbei thematisierte die ungarische Seite in erster Linie die Vorstellungen, die der ungarische Botschafter István Horváth in Bonn Ende Mai 1990 in seinem Schreiben an den Ministerpräsidenten formuliert hatte (siehe Dokument 66) bzw. die in der Vorlage des ungarischen Außenministeriums vom Juni 1990 für das Gespräch von Ministerpräsident Antall mit dem Bundeskanzler entwickelt worden waren, also – unter anderem – die Ersuchen um weitere finanzielle Unterstützung Ungarns in verschiedenen Bereichen und um eine enge Kooperation im Bereich der Reform der ungarischen Selbstverwaltung und des Polizeiwesens. Westdeutscherseits wurden die ungarischen Wünsche sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene durchwegs mit Wohlwollen aufgenommen und – auch hinsichtlich neuer Kredite – weitestgehende Kooperations- und Hilfsbereitschaft demonstriert. Der Bericht schließt mit einer Zusammenstellung der wichtigsten konkreten Aufgaben der ungarischen Regierung in Bezug auf die Entwicklung der bilateralen Kontakte. *** […]92

90  Bei dem Bericht, der vom damaligen Botschafter István Horváth veröffentlicht wurde (Horváth, Az elszalasztott lehetőség, S. 219–224), handelt es sich offensichtlich um diese Vorlage. 91  Die Grundlage der Quellenpublikation bildet ein Telegramm der ungarischen Botschaft in Bonn vom 26. Juni 1990, das die genehmigte Fassung des Berichts enthält. 92  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.



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Bericht für den Ministerrat Ministerpräsident Dr. József Antall stattete der BRD vom 19. bis 22. Juni 1990 auf Einladung von Bundeskanzler H. [Helmut] Kohl einen offiziellen Besuch ab. Am 19. und 20. führte er in München bzw. in Stuttgart Gespräche mit dem bayerischen Ministerpräsidenten [Max] Streibl, dem bayerischen Wirtschaftsminister [August] Lang und dem Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg [Lothar] Späth, dann in Bonn am 21. Juni mit Bundespräsident [Richard] von Weizsäcker, Kanzler Kohl, Außenminister [Hans-Dietrich] Genscher, Finanzminister [Theo] Waigel sowie mit dem Vorsitzenden der Freien Demokratischen Partei [Otto Graf] Lambsdorff und dem Vorsitzenden der Deutschen Sozialdemokratischen Partei [Hans-Jochen] Vogel. Im Verlauf des Programms traf er sich im Rahmen von Veranstaltungen in München, Stuttgart und Bonn mit Vertretern des Wirtschafts- und Finanzlebens der BRD, die er über die wichtigsten Elemente des ungarischen Regierungsprogramms informierte. Der bayerische Ministerpräsident Streibl betonte, dass sich die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen sowie die Handelsbeziehungen zwischen dem Freistaat Bayern und Ungarn entsprechend den Traditionen dynamisch und zur Zufriedenheit der Führungen der beiden Länder entwickeln würden. Streibl unterstrich, dass die Führung und Bevölkerung Bayerns und das deutsche Volk die mutige Entscheidung der ungarischen Regierung vom 10. September 1989 nie vergessen würden. Die bayerische Führung vertritt die Meinung, dass Ungarn unter den osteuropäischen Staaten die größten Chancen in der Region habe, auf dem Weg der Demokratie fortschreitend parallel zur politischen Entwicklung auch auf dem Gebiet der Wirtschaft am schnellsten Ergebnisse zu erzielen. Streibl brachte seine Freude zum Ausdruck, dass als Ergebnis der Wahlen in Ungarn eine Schwesterpartei der CDU an die Macht gekommen sei. Dies werde auch auf dem Gebiet der Zusammenarbeit Veränderungen herbeiführen. Der Ministerpräsident erklärte in Zusammenhang mit den Wirtschaftsbeziehungen, dass [die Verwendung des] zur Unterstützung der bayerisch-ungarischen Kleinund Mittelbetriebe gewährten Kredits von 250 Millionen DM langsamer als erwartet erfolge. Laut ihren Informationen sei der Grund hierfür der hohe Zinsfuß in Ungarn. In Zusammenhang mit dem Kredit haben wir darum ersucht, seine Verwendung auch auf die Gründung ungarischer Klein- und Mittelbetriebe auszuweiten. Streibl stimmte dem Vorschlag prinzipiell zu und erklärte, sie seien im Falle einer angemessen schnellen Verwendung bereit, eine Erhöhung des Kreditrahmens um 100 Millionen DM zu überprüfen. Bei den Unterredungen betonten Ministerpräsident Streibl und auch Wirtschaftsminister Lang, dass sie eine beschleunigte Verwirklichung der Reprivatisierung in Ungarn bzw. die Ausarbeitung der Bedingungen der Reprivatisierung für wichtig erachten würden.

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Ohne diese Schritte werde der Zustrom von Auslandskapital nach Ungarn auch weiterhin nur schleppend erfolgen. Gegenseitig stellte man fest, dass die begonnene Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Unterricht und Managerausbildung gut voranschreite. Sorge bereite aber, dass ungarischerseits weder die für die Facharbeiterausbildung noch für die Managerausbildung zur Verfügung stehenden Rahmen angemessen ausgeschöpft würden. Streibl hob das Interesse der bayerischen Regierung an einer Intensivierung der Tätigkeit von Siemens in Ungarn hervor und ersuchte darum, dass wir den Aktivitäten der Firma in Ungarn in Verbindung mit der Einrichtung von Telefonzentralen besondere Aufmerksamkeit schenken. Er betonte, dass sich die Geschäftspolitik des Konzerns in Richtung Ungarn verändert habe und dies auch die zahlreichen, auf die Gründung von gemischten Unternehmen gerichteten Verhandlungen beweisen würden. Streibl brachte das Interesse der bayerischen Regierung an einer Mitarbeit an der Weltausstellung Wien–Budapest 1995 zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang wurde die Möglichkeit der Einrichtung eines selbstständigen bayerischen Pavillons aufgeworfen, die bayerische Wirtschaft sei insgesamt aber auch bereit, sich in die Investitionen in Verbindung mit der Weltausstellung einzuschalten. Er teilte mit, dass man an einer Auslagerung von Kapazitäten der bayerischen Baubranche nach Ungarn interessiert sei. Er kündigte die Absicht an, ein bayerisches Außenhandelsbüro in Budapest aufzustellen. Ungarischerseits schlugen wir die Einrichtung einer bayerisch-ungarischen Bank, deren primäre Ziele die Vertiefung der bayerisch-ungarischen Unternehmensbeziehungen und die Anregung von Investitionen des bayerischen Kapitals in Ungarn seien, vor. Die beiden Ministerpräsidenten vereinbarten, dass zur Koordinierung der Verwirklichung der bilateralen Zusammenarbeit und der bei den Verhandlungen aufgeworfenen Vorschläge ein Regierungsexperten-Ausschuss, dessen erste Sitzung in naher Zukunft stattfinden solle, eingerichtet werde. Der baden-württembergische Ministerpräsident Späth bewertete die Situation der Beziehungen zwischen dem Bundesland und Ungarn positiv. Sie würden der wirtschaftlichen Zusammenarbeit herausragende Bedeutung zuschreiben. Er stellte fest, dass die Verwendung des vom Bundesland gewährten Kreditrahmens von 250 Millionen DM stocke. Die Gründe würden mit denjenigen, die bei er Verwendung des bayerischen Kredits erwähnt worden seien, übereinstimmen. In Verbindung mit dem Vorschlag zur Ausweitung des Kreditrahmens versprach er, dies zu überprüfen, er signalisierte aber, dass er es, da es die Bedingung für die Zustimmung des Landesparlaments gewesen sei, den Kreditrahmen für die Gründung von gemischten Unternehmen zu verwenden, für unwahrscheinlich halte, dass das Parlament einer Ausweitung zustimmen werde.



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Eine Erhöhung der Summe des Kreditrahmens hielt er in Abhängigkeit von seiner Verwendung für vorstellbar. Bei den Unterredungen übergab Späth den Vorschlag der Landesregierung zur Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen den beiden Innenministerien (Weiterbildung des ungarischen Polizeioffiziers- und Angestelltenpersonals, Möglichkeiten der konkreten Hilfeleistung). Es wurde eine Vereinbarung darüber getroffen, dass der ungarische Innenminister seinem baden-württembergischen Partner einen unmittelbaren Vorschlag über die konkrete Art und Weise der Verwirklichung der Vorschläge unterbreitet. Bei den Unterredungen wurde das Thema der baden-württembergischen Handelszentrale, die in Budapest errichtet wird, angesprochen. Späth bekräftigte die Absicht, dass es, wenn wir ungarischerseits bereit seien, ein Gebäude mit 2.500 bis 3.000 Quadratmeter Grundfläche zur Verfügung zu stellen (Kauf oder Pacht), innerhalb kurzer Zeit zur Eröffnung der Zentrale kommen könne. Ungarischerseits machten wir das Versprechen, Ministerpräsident Späth innerhalb von zwei Wochen unsere Vorschläge zu übermitteln. Späth kündigten wir die Absicht der ungarischen Regierung an, in Stuttgart ein ungarisches Generalkonsulat einzurichten. Die Absicht nahm Späth mit Freude auf und signalisierte, bei der Auswahl eines angemessenen Gebäudes behilflich sein zu wollen. Er schlug vor, zu erwägen, ein Gebäude zu mieten oder zu kaufen, in dem gleichzeitig auch das Kulturinstitut untergebracht werden könne. Die Abwicklung der verschiedenen Veranstaltungen des Kulturinstituts und des Konsulats an einem Ort könne für uns eine bedeutende Kosteneinsparung bedeuten. Späth erklärte, dass man seitens Baden-Württembergs bereit sei, im Interesse der erfolgreichen Durchführung der Reform der ungarischen Verwaltung ungarische Kommunalexperten zum Zwecke der Ausbildung aufzunehmen. Wir baten Späth darum, die Möglichkeit der Gründung einer baden-württembergischen Bank in Budapest zu prüfen. Der Ministerpräsident versprach, die Frage zu prüfen. Mit Staatschef [Richard von] Weizsäcker stellten wir fest, dass die Beziehungen der beiden Staaten seit dem Systemwechsel in Ungarn immer mehr durch eine qualitative Zusammenarbeit von Staaten, die zu einem gleichen Wertesystem gehören, charakterisiert würden. Wir informierten den Staatschef detailliert über den ungarischen Standpunkt bezüglich der in Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien stattfindenden Prozesse. Staatschef Weizsäcker versicherte der ungarischen Regierung seine Solidarität für ihre politischen und humanitären Kraftanstrengungen zur Verbesserung der Lage der ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten. Beim Gespräch mit Kanzler Kohl informierten wir kurz über die aktuelle ungarische innenpolitische Situation und über die jüngste Moskauer Gipfelkonferenz des Warschauer Vertrags.

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Der Kanzler hob nachdrücklich hervor, dass er Ungarn auch im Vergleich zu früher gesondert und hervorgehoben behandle. Die deutsche Regierung und das deutsche Volk würden dem ungarischen Volk dafür, dass es in entscheidendem Maße zur Wiedervereinigung des deutschen Volkes beitrage, ewigen Dank schulden. Ausgehend hiervon sei die deutsche Regierung jederzeit bereit, der ungarischen Regierung Hilfe zu leisten. Besonders große Bedeutung schreibe man der Tatsache zu, dass in Ungarn eine Schwesterpartei der CDU an der Macht sei. Hierdurch sei es möglich geworden, die Zusammenarbeit zwischen den beiden Regierungen auf qualitativ neue Fundamente zu stellen. Die Besprechungen, in deren Rahmen wir auf die Hauptelemente des vor dem Besuch an Kanzler Kohl geschriebenen Briefes eingingen, erfolgten in einer außerordentlich vertrauensvollen und freundschaftlichen Atmosphäre. Auf seiner Grundlage baten wir darum, die Regierung der BRD möge der ungarischen Regierung [in folgenden Fragen] behilflich sein: – bei der Schaffung eines sozialen Netzes [zur Linderung] der Arbeitslosigkeit, die infolge des Strukturwandels der Wirtschaft auftritt, eventuell mittels der Einrichtung eines Sozialfonds; – bei der Gewährung eines größeren finanziellen Rahmens zu Zwecken der Existenzgründung mit besonderer Hinsicht auf die Schaffung und Stärkung kleiner und mittlerer Unternehmensstrukturen. Hierzu ersuchten wir um die Schaffung eines Kreditrahmens in Höhe von 100 bis 200 Millionen DM; – die Regierung der BRD soll zur Überbrückung der schwierigen, unabhängig von uns aus objektiven Gründen eingetretenen Finanzsituation einen mit einer Regierungsgarantie ausgestatteten Kreditrahmen von 800 Millionen DM gewähren; – bei der Einrichtung einer gemeinsamen deutsch-ungarischen Bank mit größerem Grundkapital; – bei der Organisation der Weltausstellung Wien–Budapest 1995 (Zusammenarbeit mit deutschen Banken und Unternehmen); – Aufnahme des in der DDR beschäftigten ungarischen Arbeitskräftekontingents in die mit der BRD abgeschlossene Vereinbarung; – Hilfe bei der Ausarbeitung der Selbstverwaltungsreform einschließlich finanzieller Hilfe; – bei der Schaffung eines Fonds zur Einrichtung von Unterrichtszentren in Ungarn. Kanzler Kohl gab zur Erfüllung aller unserer Ersuchen ein Versprechen ab. In Verbindung mit unserem Ersuchen nach einer Kreditgewährung von 800 Millionen DM teilte er mit, dass nach Vorstellung der Regierung der BRD die BRD aus der Kreditsumme 500 Millionen DM übernehmen würde, 300 Millionen würden andere Staaten gewähren.



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Die Regierung der BRD wolle damit gegenüber der Finanzwelt demonstrieren, dass die europäischen Staaten Vertrauen in die ungarische Regierung hätten und auch weiterhin bereit seien, die Verwirklichung des Programms der ungarischen Regierung aktiv zu unterstützen. Die Vorstellung werde von Kanzler Kohl auf der anstehenden Gipfelkonferenz mit den betroffenen Regierungen abstimmen. Wir kamen überein, eine kleinere strategische Gruppe zu gründen. Deren Aufgabe werde es, die aufgeworfenen Vorschläge detailliert zu prüfen und ein Aktionsprogramm zu ihrer Verwirklichung auszuarbeiten. Zur Koordinierung der Angelegenheiten wurde deutscherseits H. [Horst] Teltschik und ungarischerseits Staatssekretär György Matolcsy beauftragt. Kanzler Kohl machte abschließend das entschiedene Versprechen, die Regierung der BRD werde jede Unterstützung dazu gewähren, damit die sich aus der Wiedervereinigung ergebende Rekonstruktion der ungarisch-ostdeutschen Beziehungen keine bedeutenderen Verluste für die ungarische Wirtschaft bewirkt. Mit Außenminister Genscher behandelten wir kurz die Entwicklung der bilateralen Beziehungen und aktuelle Fragen der internationalen Situation. Die ungarisch-deutschen Beziehungen bewertete Genscher als ausgezeichnet. Er betonte, dass die Deutschen großen Dank gegenüber dem ungarischen Volk für die Unterstützung der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten verspüren würden. Er informierte kurz über die aktuelle innenpolitische Lage in Deutschland in Verbindung mit der Wiedervereinigung und ihre internationalen Zusammenhänge. Er erklärte, dass er es aufgrund der Gespräche mit [dem sowjetischen Außenminister Eduard] Schewardnadse so sehe, dass der frühere zurückhaltendere sowjetische Standpunkt immer konstruktiver werde. Er betonte, dass die deutsche Führung die Wiedervereinigung ausschließlich als Teil des gesamteuropäischen Vereinigungsprozesses und unter Beibehaltung der NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands verwirklichen wolle. Hierzu erhalte er seitens des Außenministers der USA [James] Baker maximale Unterstützung und auch die europäischen NATO-Mitgliedsstaaten würden die Vorstellungen der BRD weitgehend unterstützen. Es herrsche Übereinstimmung, dass die Vereinigung der beiden deutschen Staaten möglichst schnell geschehen müsse. Nach Meinung Genschers habe die innenpolitische Lage in der Sowjetunion starke Rückwirkungen auf die Entwicklung des sowjetischen Standpunkts bezüglich der Wiedervereinigung. Es sei das Ziel, dass die Sowjetunion nicht spüre, dass sich ihre weltpolitische Rolle verringere und dass sich nach ihrem Abzug aus Europa der Einfluss der NATO einseitig verstärke. Hierzu müsse die Sowjetunion möglichst stark in die gesamteuropäischen Prozesse eingebunden werden.

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Wegen der außerordentlich verschärften inneren Lage in der Sowjetunion sei die BRD bereit, Gorbatschow bedeutendere wirtschaftliche und finanzielle Hilfe zu leisten. […] Bei dem Gespräch informierten wir über das jüngste Gipfeltreffen des Warschauer Vertrags in Moskau und brachten den Standpunkt der ungarischen Regierung hinsichtlich unserer Absicht, aus dem Warschauer Vertrag auszutreten, zum Ausdruck. Wir betonten, dass wir den Austritt unter weitgehender Berücksichtigung der gesamteuropäischen Sicherheitsaspekte vorbereiten und seine Etappen innerhalb der internationalen Prozesse in Übereinstimmung mit den Interessen des Westens verwirklichen wollten. […] Beim Gespräch mit Otto Graf Lambsdorff informierten wir kurz über die wirtschaftliche und politische Situation in Ungarn. In Verbindung mit der deutschen Wiedervereinigung hoben wir die sich aus der Umgestaltung der ostdeutsch-ungarischen Beziehungen für die ungarische Wirtschaft ergebenden negativen Wirkungen hervor. Lambsdorff interessierte sich lebhaft für die innere Finanzlage Ungarns und für unsere internationalen Finanzbeziehungen. Er betonte, dass die deutsche Regierung und das deutsche Volk eine Art und Weise finden werde, Ungarn zu helfen. Als ehemaliger Wirtschaftsminister und Experte für Wirtschaftsfragen sowie ausgehend davon, dass er Vorsitzender jener Partei sei, die im Besitz des Wirtschaftsressorts sei, werde er alles unternehmen, damit die Wiedervereinigung für Ungarn mit den kleinstmöglichen negativen Folgen einhergehe. […] [Hans-Jochen] Vogel, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, […] erklärte in Zusammenhang mit den Systemwechselprozessen in Osteuropa, dass für sie die Beurteilung der Zusammenarbeit mit den gegründeten kommunistischen Nachfolgeparteien eine Schwierigkeit bedeute, da sich jede dieser Parteien als sozialdemokratisch bekenne. […] Der Besuch des Ministerpräsidenten trug erfolgreich dazu bei, die Beziehungen zwischen den beiden Staaten und Regierungen zu vertiefen und die zukünftigen Aufgaben der Zusammenarbeit zu bestimmen. Die Unterredungen haben bewiesen, dass die Regierung der BRD – trotz der bedeutenden, sich aus der Wiedervereinigung ergebenden Aufgaben und in Anerkennung der bedeutenden Schritte, die Ungarn im Interesse der Schaffung der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und damit zugleich zur Überwindung der europäischen Teilung tat, und [aufgrund] der konsequenten Durchführung des Demokratisierungsprozesses – auch weiterhin bereit ist, unser Land aktiv und konkret zu unterstützen. Der Besuch eröffnete uns die Möglichkeit, unsere innere Situation und unsere außenpolitischen Bemühungen vorzustellen sowie das, was durch die BRD bereits früher in Aussicht gestellt wurde, zu konkretisieren.



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Aufgrund der Vereinbarungen, die im Zuge der Verhandlungen geschlossen wurden, ergeben sich aus dem Besuch folgende Aufgaben: 1) Der Regierungschef soll seine bayerischen und baden-württembergischen Partner in einem Brief über die Einsetzung einer Regierungsexperten-Kommission unterrichten und einen Zeitpunkt für die Abhaltung der beiden Expertenkonsultationen in Budapest vorschlagen. 2) Der Innenminister soll seine baden-württembergischen Partner in einem Brief über unsere Vorstellungen in Zusammenhang mit dem übergebenen Kooperationsvorschlag und über die Modalitäten [der Übergabe] der versprochenen technischen Mittel informieren. 3) Der Außenminister soll seinen deutschen Partner in einem Brief über die ungarische Absicht, in Stuttgart ein Generalkonsulat zu eröffnen, unterrichten. Gleichzeitig soll er unsere Bereitschaft zum Ausdruck bringen, das Gebäude der deutschen Botschaft aus der Zeit vor dem Krieg zurückzugeben. 4) Auf der Grundlage der Vereinbarung mit dem Kanzler soll eine neben dem ungarischen Ministerpräsidenten tätige strategische Gruppe eingerichtet werden und darüber die BRD informiert werden. 5) Entsprechend der Vereinbarung mit dem Kanzler soll es innerhalb kurzer Zeit zur Ausarbeitung eines kurzfristigen Programms, das die Vorstellungen bezüglich der Umgestaltung der ungarischen Wirtschaft enthält, kommen. Dieses soll die konkreten Ziele, das Instrumentarium der Umsetzung und die zur Verfügung stehenden (externen und internen) Finanzquellen […] enthalten. Auf dieser Grundlage formulieren wir die konkrete Hilfe, um die wir Regierung der BRD ersucht haben. 6) Innerhalb kurzer Zeit informieren wir die BRD über die ungarische Konzeption zur Ausrichtung der Weltausstellung 1995. Unter Herausstellung ihres kommerziellen Charakters ersuchen wir darum, dass die Regierung der BRD einen Vorschlag über Personen oder unternehmerische Gruppen unterbreitet, die über angemessene Erfahrungen bei der Durchführung solcher Aufgaben verfügen. 7) Die Minister für Finanzen, Soziales und Internationale Wirtschaftskooperation sollen Kontakt zu ihren Partnern in der BRD aufnehmen und zur Verwirklichung der im Zuge des Besuchs aufgeworfenen Vorschläge den Beginn von Konsultationen zwischen den Ressorts anregen. 8) Gemäß unseres Späth gegebenen Versprechens soll dringend ein alternativer Vorschlag für das Gebäude des baden-württembergischen Wirtschaftszentrums, das in Budapest eröffnet werden soll, ausgearbeitet werden. Der Bericht wurde zusammengestellt von: Dr. Ferenc Somogyi, Staatssekretär

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Genehmigt von: Dr. József Antall, Ministerpräsident Budapest, 25. Juni 1990 Dr. István Horváth, Botschafter Bonn, 25. Juni 1990 Quelle: MNL OL, XIX-J-1-j 1990, 53. d., 002417, ohne Paginierung. Veröffentlicht in: János Sáringer (Hrsg.), Iratok az Antall-kormány külpolitikájához és diplomciához (1990. május – 1990. december) [Akten zur Außenpolitik und Diplomatie der Antall-Regierung (Mai 1990 – Dezember 1990)], Bd. 1. Budapest 2015, S. 271–278. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 70 Aufzeichnung des Auswärtigen Amts vom 26. Juni 1990 über die Vorsprache des ungarischen Botschaftssekretärs József Czukor bezüglich der Fortführung von Verträgen zwischen der DDR und Ungarn Während des Besuchs von Ministerpräsident József Antall sprach der Sekretär der ungarischen Botschaft in Bonn József Czukor am 21. Juni 1990 im Referat 501 des Auswärtigen Amts vor. Hierbei führte Czukor vor dem Hintergrund des deutschen Vereinigungsprozesses aus, dass Ungarn die Fortführung bzw. entsprechende Modifizierung des mit der DDR geschlossenen Rechtshilfe- und des Sozialvertrags für notwendig erachte. Referatsleiter Legationsrat Graeve sagte zu, die Informationen an die zuständigen Stellen weiterzuleiten, und beide Seiten kamen überein, engen Kontakt in der Angelegenheit zu halten. *** 501 – 505.27/4 DDR

26. Juni 1990 HR: 2523

Vermerk Betr.: Fortführung von Verträgen zwischen der DDR und Ungarn 1. Am 21.06.90 sprach Botschaftssekretär [József] Czukor (Polit. Abteilung) bei Ref. 501 vor. Nach seinen Ausführungen hält die ungarische Seite die Fortführung – unter Vornahme notwendiger Modifikationen – insbesondere der beiden folgenden Verträge für dringend erforderlich: 1. den Rechtshilfevertrag, der Rechtshilfe sowohl in Straf- wie in Zivilsachen betreffen soll,



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2. einen Vertrag über Sozialpolitik. Dieser Vertrag regle vor allem die Versorgung von ungarischen bzw. DDR-Staatsangehörigen im Krankheitsfall im jeweils anderen Lande. Die Kosten würden zwischen den beiden Staaten verrechnet und die Spitzenbeträge in den Landeswährungen ausgeglichen. Ungarn sehe sich außerstande, den Ausgleich in DM vorzunehmen. Daher werde die Änderung dieses Vertrages bereits mit Wirkung vom 1. Juli 1990 dringend erforderlich. 2. Die ungarische Seite ist sich bewusst, dass bis zur Herstellung der deutschen Einheit die DDR der Vertrags- und damit – rechtlich gesehen – der eigentliche Ansprechpartner bleibt. Sie hält jedoch trilaterale Gespräche zwischen den Fachleuten für möglich. Herr Czukor hat zugesagt, Ref. 501 die Vertragstexte zuzuleiten. Meinerseits habe ich ihn über den allgemeinen Sachstand unterrichtet und ihm zugesagt, die fachlich zuständigen Stellen zu informieren. Wir kamen überein, in der Frage in engem Kontakt zu bleiben. 3. Nach den Feststellungen des Ref. 501 handelt es sich um folgende Verträge: 1. Vertrag vom 30.10.1957 zwischen der DDR und der Ungarischen Volksrepu­ blik über den Rechtsverkehr in Zivil-, Familien-und Strafsachen Laufzeit 5 Jahre, Verlängerung um jeweils 5 Jahre 2.  Auslegungsprotokoll vom 23.09.1968 zum Rechtshilfevertrag vom 30.10.1957 3. Protokoll vom 10.02.1977 zu dem am 30.10.1957 unterzeichneten Vertrag über den Rechtsverkehr in Zivil-, Familien- und Strafsachen 4. Abkommen vom 30.01.1960 über die Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Sozialpolitik Laufzeit 5 Jahre, Verlängerung um jeweils 5 Jahre. gez. Graeve Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.716 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

Dokument 71 Jahresbericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth für Außenminister Géza Jeszenszky vom 5. Juli 1990 Der Bericht, den der ungarische Botschafter wenige Tage nach dem Inkrafttreten der Währung-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen beiden deutschen Staaten für den neuen Außenminister Géza Jeszenszky (MDF) verfasste, behandelt die Entwicklungen in den bilateralen Beziehungen im zweiten Halbjahr 1989 und im ersten Halbjahr 1990. Im ersten Abschnitt legt Horváth die Außen- und Innenpolitik der Bundesrepublik dar, wobei er insbesondere auf die in Richtung der Vereinigung der beiden deutschen

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Staaten weisenden rasanten Entwicklungen und auf die diesbezüglichen grundlegenden Entscheidungen und politischen Schritte der Regierung Kohl eingeht. Im zweiten Abschnitt erörtert Horváth den Stand und – mit Blick auf den Vereinigungsprozess – die Perspektiven der ungarisch-bundesdeutschen Beziehungen in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Verkehrs- und Nachrichtenwesen, Umweltschutz, Kultur, Massenmedien, innere Sicherheit, Rechts- und Justizwesen, Konsularfragen und Fremdenverkehr, Auslandsungarn, Verteidigung sowie Sport. Hierbei geht der ungarische Botschafter eingangs auf die herausragende – bisherige und zukünftige – politische und wirtschaftliche Bedeutung der Bundesrepublik für Ungarn ein und legt die dringende Notwendigkeit dar, „eine ungarische Konzeption für die zukünftige Zusammenarbeit zu entwickeln“. Hinsichtlich der politischen Beziehungen verweist er auf die symbolische Bedeutung der ersten offiziellen Auslandsreise des neuen ungarischen Ministerpräsidenten József Antall in die Bundesrepublik und auf die jüngsten positiven Entwicklungen im Bereich der Parlaments- und Parteibeziehungen sowie der Kontakte zwischen den beiden Außenministerien. Hinsichtlich der Wirtschaftskooperation hebt Horváth hervor, dass das „entstehende vereinte Deutschland […] aller Wahrscheinlichkeit nach der Wirtschaftspartner Nr. 1 unseres Landes“ werde und Ungarn aufgrund der Wirtschaftskraft, der traditionellen Interessen und der Sympathien der Deutschen vor allem „aus dieser Relation mit einer effektiven Unterstützung“ für seine wirtschaftlich-gesellschaftlichen Vorhaben rechnen könne. Anschließend zeigt er eine Reihe von Problemen bei der Entwicklung der bilateralen Wirtschaftskontakte auf (Bürokratie, Rechtsentwicklung usw.) und thematisiert konkrete Schwerpunkte der Kooperation (Bauwesen, Infrastruktur). Hinsichtlich der übrigen Kooperationsfelder weist Horváth auf den hohen Stand der Zusammenarbeit im Verkehrswesen (Abschluss grundlegender Verträge 1988/89) und auf die Perspektiven im Bereich der Telekommunikation hin. Mit Blick auf die Kulturbeziehungen betont er die Notwendigkeit, die vertraglichen Vereinbarungen auch in der Übergangszeit zu bewahren und später einen „einheitlichen Rechtsvertrag“ mit dem vereinten Deutschland abzuschließen. Darüber hinaus plädiert Horváth unter anderem für die – durch die neuen politischen und internationalen Rahmenbedingungen mögliche – Entwicklung der Beziehungen der Innen-, Justiz- und Verteidigungsministerien. Der letzte Abschnitt des Berichts betrifft die Beziehungen der ungarischen Botschaft in Bonn zum ungarischen Außenministerium bzw. zu den übrigen betroffenen Ressorts unter den Bedingungen des System- und Regierungswechsels. *** […]93

93  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.



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Gegenstand: Botschafterbericht der Jahre 1989/1990 In der zweiten Hälfte des Jahres 1989 und in der ersten Hälfte des Jahres 1990 erfolgten sowohl in Ungarn als auch in der DDR sowie im Verhältnis der beiden deutschen Staaten und Ungarns Veränderungen von historischer Bedeutung. Im Jahresbericht wollen wir uns gerade deshalb auf jene Aspekte konzentrieren, die die Zukunft der bilateralen Beziehungen beeinflussen und auch nicht ohne Auswirkung auf die innere und äußere Umgebung der beiden Staaten bleiben. I. Die Außen- und Innenpolitik der BRD und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten Die innen- und außenpolitischen Aktivitäten der Regierung der BRD wurden im Berichtszeitraum durch die Möglichkeit der Überwindung der deutschen Teilung und durch die sich daraus ergebenden sehr bedeutungsvollen historischen Aufgaben bestimmt. Mit der Öffnung der deutsch-deutschen Grenzen am 9. November [1989] eröffnete sich nach dem Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal eine reale Möglichkeit zur Herbeiführung der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und damit zur Überwindung der Teilung Europas. Da sie die tatsächliche Größenordnung und die Folgen der Veränderungen in Ostmitteleuropa, in der Sowjetunion sowie in der DDR erkannte, konnte die Kohl-Regierung diese historische Chance nutzen. Die Entscheidung der ungarischen Regierung vom 10. September [1989], durch die eine Übersiedlung der DDR-Staatsbürger in die BRD möglich wurde, sowie die massenhafte Übersiedlung, die sich infolgedessen bis zu den Wahlen am 18. März [1990] entfaltete, wirkten in der DDR als Katalysator zur Entwicklung einer Massenbewegung, die sich für die Schaffung einer demokratischen Gesellschaftsordnung und für die Wiederherstellung der grundlegenden Freiheitsrechte einsetzte, sowie für das Aufkommen der friedlichen gesellschaftlichen Revolution. Der schnelle Sturz der Honecker-Führung und dann die mutlosen und widersprüchlichen Reformschritte der Regierung Modrow konnten den sich beschleunigenden Prozess der gesellschaftlichen Erosion nicht aufhalten. Deshalb reduzierte sich die Chance auf ein Minimum, dass die deutsche Vereinigung – in Übereinstimmung mit den Systemtransformationen in Ostmitteleuropa, mit den Reformen in der Sowjetunion sowie mit den Integrationsplänen der EG – in einem langsameren, ausgeglicheneren Tempo vonstattengeht. Zwischen Oktober 1989 und März 1990 nahm die Übersiedlung derartige Ausmaße an (im Durchschnitt verließen täglich 3.000 bis 5.000 Personen die DDR), dass diese Entwicklung die DDR mit einem völligen Zusammenbruch, der mit unabsehbaren Folgen für die europäische Stabilität einhergegangen wäre, bedrohte. So gelangte die Regierung Kohl seit September/ Oktober vergangenen Jahres in mehreren Phasen und innenpolitischen Diskussionen, gelegentlich nach scharfen Diskussionen innerhalb der Koalition, zu der Erkenntnis, dass die Schaffung der staatlichen Einheit nicht nur in erreichbare Nähe gerückt sei, sondern ihre möglichst baldige Herstellung auch

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eine unverzichtbare Voraussetzung für eine stabile europäische Entwicklung darstelle, und dass die gesamte politische Aktivität der Regierung daher der nationalen geschichtlichen Aufgabe, der Schaffung der Einheit, untergeordnet werden müsse. In der Innenpolitik bildete der im November vergangenen Jahres ausgearbeitete 10-Punkte-Plan von Kanzler Kohl eine wichtige Station der Entwicklung. Dieser rechnete allerdings auf der Grundlage einer Vertragsgemeinschaft der beiden deutschen Staaten, nach einer Zusammenarbeit in Form einer Konföderation, nur mit einer mittelfristigen Perspektive der Schaffung der Einheit. […] Mit dem 10-Punkte-Plan führte der Kanzler und die von ihm geführte Koalition eine erfolgreiche Wende herbei: Dieser führte dazu, dass Kohl und die Regierungskoalition bei der Bestimmung des Tempos und des Fahrplans der Einheit zum einzigen determinierenden politischen Faktor wurden. Mit der Februar-Krise der Regierung Modrow, dem Austritt der Ost-CDU aus der Koalition und mit dem Vorziehen der Wahlen in der DDR fand die reelle politische Möglichkeit, die Einheit auf der Grundlage des 10-Punkte-Plans zu verwirklichen, ein Ende und der Plan wurde danach von der Tagesordnung genommen. Die DDR-Wahlen vom 18. März [1990], die zu einem überwältigenden Sieg der christlichen Parteien führten, machten dann eindeutig klar, dass die überwältigende Mehrheit der DDR-Wähler – trotz der bekannten Risiken – für eine schnelle Verwirklichung der Vereinigung stimmte. Nach den Wahlen ging die DDR-Regierung daher daran, einen Staatsvertragsentwurf zur Schaffung der Finanzgemeinschaft und der wirtschaftlichen und sozialen Einheit der beiden Staaten auszuarbeiten, um die praktischen Schritte und den Fahrplan zur Schaffung der staatlichen Einheit auszuarbeiten. […] Im Mittelpunkt der außenpolitischen Aktivitäten der Regierung der BRD standen im vergangenen Jahr natürlich die günstige Gestaltung der internationalen – äußeren – Bedingungen der Vereinigung und die Unterstützung der inneren Prozesse der Vereinigung. Gleichzeitig veränderten die aktuellen Aufgaben in Verbindung mit der deutschen Einheit die außenpolitischen Prioritäten der BRD nicht. So haben für die BRD auch weiterhin die Beziehungen zu den USA und zu den europäischen NATOVerbündeten sowie zu den EG-Mitgliedsstaaten herausragende Bedeutung. Zur Schaffung der äußeren Voraussetzungen der Vereinigung erfolgten – beginnend mit dem EG-Gipfel von Straßburg und dem Gipfeltreffen Bush-Gorbatschow – zahlreiche Konsultationen mit den USA bzw. den EG-Mitgliedsstaaten. Infolge der außenpolitischen Aktivitäten der BRD eröffnete sich in den vergangenen Monaten in schnellem Tempo die Möglichkeit eines Kompromisses, der – neben des westlichen Verbündeten – auch für die Sowjetunion, die über entscheidenden Einfluss bei der Bestimmung der äußeren Voraussetzungen der Vereinigung verfügt, akzeptabel erscheint und der das Zustandekommen der deutschen Einheit mit der Schaffung eines neuen Verhältnisses zwischen den Militärbündnissen, mit der Beendigung der Konfrontation, mit der Institutionalisierung der KSZE sowie mit dem Voranschreiten der konventionellen und nuklearen Abrüstung verbindet. […]



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II. Die ungarisch-bundesdeutschen Beziehungen Im vergangenen Jahr war es eine der wichtigsten Aufgaben der Botschaft, mit den spezifischen Mitteln der Diplomatie im Gastland zur Sicherstellung des außenpolitischen Hintergrunds des friedlichen Systemwechsels beizutragen. Die Entwicklung der bilateralen Beziehungen im vergangenen Jahr wurde in entscheidender Weise durch die Entscheidung der ungarischen Regierung vom 10. September 1989 beeinflusst. Die Bundesregierung und die öffentliche Meinung in der BRD bewerteten die Öffnung der Grenzen für die Staatsbürger der DDR nicht einfach als weiteren Beweis für die politischen Reformen in Ungarn, sondern als einen Schritt von großer Bedeutung, der unmittelbarer Auslöser des explosionsartigen Wandels in Osteuropa war und der gleichzeitig den Weg zur Überwindung der Teilung des Kontinents und zur Schaffung des vereinten Europas öffnete. Die Entscheidung der ungarischen Regierung hat – wie dies Bundeskanzler Kohl auch in seiner Rede im ungarischen Parlament am 18. Dezember 1989 betonte – eine neue Situation zur Entwicklung der bilateralen Beziehungen geschaffen. In dieser ist die Regierung der BRD auch in einem das bisherige übertreffenden Maße bereit, Hilfe zur erfolgreichen Fortsetzung des Umgestaltungsprozesses in Ungarn und zur Verwirklichung des Systemwechsels und des Regierungsprogramms – nach Möglichkeit ohne größere Erschütterungen – zu leisten. Das Verhalten der Bundesregierung und der Koalitionsparteien gegenüber unserem Land war seit September 1989 von einer Doppelheit, die mit den ungarischen innenpolitischen Ereignissen zusammenhing, geprägt. Die Regierung Kohl hielt es eine gewisse Zeit lang für ihre moralische Pflicht, der Németh-Regierung, die die schwere Aufgabe der Vorbereitung des Systemwechsels auf sich genommen hatte, politische und wirtschaftliche Unterstützung zu gewähren, sie verzichtete aber auch nicht auf die Unterstützung der anderen politischen Kräfte des sich abzeichnenden neuen demokratischen Gesellschaftssystems. Eine bisher in den internationalen Beziehungen ungewöhnliche, aber mit Blick auf die damaligen innenpolitischen Verhältnisse in unserem Land unbedingt notwendige Form der politischen Unterstützung für die Németh-Regierung war beispielsweise die Rede von Kohl in der Haushaltsdebatte des Parlaments oder der Beschluss des Bundestags vom 21. Juni 1989 über die Notwendigkeit der Unterstützung der Reformprozesse in Ungarn, dessen Text unter aktiver Mitarbeit der [ungarischen] Botschaft vollendet wurde. Die führenden Politiker der BRD und ihre Parlamentsparteien legten bei ihren Konsultationen mit den ungarischen Partnerparteien großes Gewicht darauf, die Partner zur Bezeugung eines konstruktiven Oppositionsverhaltens zu ersuchen, wodurch sie zur Verwirklichung des Systemwechsels auf friedlichem Wege beitrugen. Politisch motiviert und sich auf die gesamte ungarische öffentliche Meinung positiv auswirkend war auch die Entscheidung der Regierung der BRD, die Vereinbarung über die Beendigung des Visazwangs unmittelbar vor den Wahlen zu unterschreiben.

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Die wichtigsten Elemente der wirtschaftlichen Unterstützung waren: Im November 1989 übernahm die Bundesregierung – indem sie sich einer von den Länderregierungen Baden-Württembergs und Bayerns bzw. den Banken unter aktiver Mitwirkung der [ungarischen] Botschaft ausgearbeiteten Kreditaktion anschloss – eine Regierungsgarantie für einen erneuten und ungebundenen Bankkredit über 500 Millionen DM. Sie wirkte aktiv an der Festlegung der von der EG zur Verfügung gestellten Hilfe und des entsprechenden Kreditrahmens sowie an ihrer bzw. seiner Akzeptanz mit. Auf ihre Initiative hin wurden die Mengenbeschränkungen bezüglich der Lieferung eines bestimmten Kreises ungarischer Waren – unter Vorziehung der in unserem Abkommen mit der EG festgelegten Fristen – aufgehoben. Als die Parlamentswahlen näher rückten, begannen die in der Bundesregierung und im Parlament vertretenen Parteien – parallel zu den obigen Aktivitäten und zur störungsfreien Sicherstellung der zukünftigen Zusammenarbeit – damit, die Beziehungen zu den ungarischen Partnerparteien auszubauen. Im Zuge der Parteienkooperation leisteten die Parteien der BRD politische und materielle Hilfe in einem nicht zu vernachlässigenden Maße zur organisatorischen Stärkung der Parteien (MDF [Ungarisches Demokratisches Forum], SZDSZ [Bund Freier Demokraten], FIDESZ [Bund Junger Demokraten], MSZDP [Sozialdemokratische Partei Ungarns], MSZP [Ungarische Sozialistische Partei]), zur Entwicklung ihrer internationalen Beziehungen und zur erfolgreichen Abwicklung der Wahlkampagnen der Parteien. Die Botschaft legte – neben der Erledigung ihrer sich aus den bilateralen Beziehungen ergebenden Aufgaben und der Vorbereitung der stattgefundenen Besuche auf oberer und mittlerer Ebene ([Helmut] Kohl, [Hans-Dietrich] Genscher, [Lothar] Späth, [Max] Streibl, [Rita] Süssmuth, [Tamás] Beck und [Kálmán] Kulcsár) – großes Gewicht auf die Vorstellung der Parteien der demokratischen Opposition in der BRD und auf die Unterstützung ihrer Kontaktaktivitäten und ihres Erfahrungserwerbs (Initiative zu und Vorbereitung von Verhandlungen, Sicherstellung von Stipendien, Organisation von Pressekonferenzen und Angebot von Konsultationsmöglichkeiten in der Botschaft). Zur Vorbereitung des politischen Systemwechsels und der Schaffung der Rechtsstaatlichkeit sowie zur institutionalisierten Sicherstellung der Weitergabe der Erfahrungen initiierte die Botschaft noch 1988 selbstständig bei den Vorsitzenden der Parlamentsparteien der BRD und bei den Leitern der parteinahen Stiftungen die Einrichtung von Vertretungen in Ungarn. Als Ergebnis dieser Arbeit eröffneten die FriedrichNaumann-Stiftung (FDP) im Mai 1989 sowie die Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD), die Hanns-Seidel-Stiftung (CSU) und die Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU) in der ersten Jahreshälfte 1990 Büros in Budapest. Unserer Meinung nach hat die Initiative die an sie geknüpften Erwartungen erfüllt und die Stiftungen werden auch in Zukunft eine beachtenswerte Katalysatorrolle bei der Entwicklung der bilateralen Beziehungen und der Kooperation zwischen den Parteien spielen.



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Die nahe Vereinigung der beiden deutschen Staaten schafft eine völlig neue Situation hinsichtlich der bilateralen Zusammenarbeit. In Anbetracht dessen, dass die BRD bzw. das sich vereinigende Deutschland in den außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Beziehungen Ungarns eine wichtigere Rolle als jemals zuvor spielen wird und dass das Land auch in Zukunft vorbehaltlose Bereitschaft zeigen wird, die erfolgreiche Verwirklichung des ungarischen Regierungsprogramms im Rahmen seiner Möglichkeiten mit politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Mitteln zu unterstützen, ist es dringend notwendig, eine ungarische Konzeption für die zukünftige Zusammenarbeit zu entwickeln. Die Botschaft entwickelte vor dem Besuch von Ministerpräsident Dr. József Antall in der BRD vom 19. bis 22. Juni [1990] zur erfolgreichen Abwicklung der Visite und zur Unterstützung der Ausarbeitung der obigen Konzeption Vorschläge, die in Briefform dem Ministerpräsidenten und den vom Gesichtspunkt der Entwicklung der bilateralen Beziehungen wichtigsten Ressorts zugeschickt wurden. Auch an dieser Stelle halte ich es für wichtig, zu betonen, dass die Gewinnung der notwendigen Unterstützung zur Bekämpfung der einheimischen Probleme und die Ausnutzung der Vorteile, die aus der positiven Beurteilung des Landes in der BRD hervorgehen, nur so sichergestellt werden kann, wenn wir auf der Grundlage eines konkreten kurzfristigen Wirtschaftsstrategieprogramms zum Ausdruck bringen, auf welchem Gebiet und mit welchem Ziel wir die Unterstützung der Regierung der BRD wünschen. 1) Politische Beziehungen Die politischen Beziehungen der beiden Staaten sind regelmäßig und hochrangig. Ihr Charakter und ihre Praxis entwickeln sich nach dem Systemwechsel in unserem Land noch günstiger als zuvor. Den herausragenden Platz, den die BRD im internationalen Beziehungsgefüge unseres Landes einnimmt, bestätigt, dass die erste offizielle Auslandsreise von Ministerpräsident József Antall dorthin führte. Die persönlichen Kontakte der beiden Regierungschefs wurden durch den – in seiner Funktion als Parteichef – im Februar [1990] abgestatteten Bonn-Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten und durch seine Visite auf dem Deutschen Katholikentag in Berlin im Mai dieses Jahres wohl fundiert. Neben dem regelmäßigen Treffen der Regierungschefs schlagen wir vor, auch einen Besuch des Präsidenten der Republik Ungarn nach den gesamtdeutschen Wahlen vorzusehen. Ein angemessenes Timing und eine angemessene inhaltliche Vorbereitung der regelmäßigen hochrangigen Treffen können dazu beitragen, dass wir im internationalen Beziehungssystem der BRD unseren relativen Vorteil gegenüber den anderen osteuropäischen Staaten bewahren. Seitens der BRD werden unsere Initiativbereitschaft und unsere bahnbrechende Rolle hoch geschätzt. In diesem Geiste wurde auch die ungarische Entscheidung bezüglich der gleichzeitigen Akkreditierung des Bonner Botschafters in Berlin gewertet.

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a) Parlaments- und Parteienbeziehungen Wir bewerten die Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen den legislativen Gremien als erfolgreich. Herausragendes und die Grundlagen der zukünftigen Zusammenarbeit bestimmendes Ereignis der Kontakte war der Budapest-Besuch des Präsidiums des Bundestags vom 4. bis 6. Juni 1990. Neben der Ausweitung der Beziehungen zwischen den Ausschüssen (Umweltschutz) betrachten wir es als einen bedeutenden Fortschritt, dass es zu einer Kontaktaufnahme der Parlamentsapparate und – innerhalb dieser – zu einem BRD-Besuch des Generalsekretärs des Parlaments ­gekom­men ist. Die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen den Parlamenten wird nach der Schaffung der deutschen Einheit in außerordentlichem Maße zunehmen. Ausgehend davon muss – neben den regelmäßigen Treffen der Leiter der beiden Parlamente – der regelmäßigen, unmittelbaren und informellen Zusammenarbeit der Fraktionen, der Parlamentsausschüsse, der Freundschaftsgruppen und der Apparate der Parlamente größeres Gewicht zugeschrieben werden. Durch die Herbeiführung eines regelmäßigen Informationsaustausches können wir in die Lage geraten, unsere internen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ziele verständlich zu machen und durchzusetzen sowie die Entscheidung des dortigen Parlaments über unser Land entsprechend den ungarischen Interessen zu beeinflussen. In der vergangenen Phase hat sich eine enge Zusammenarbeit zwischen den entscheidenden Parlamentsparteien der beiden Staaten entwickelt. Diese können problemlos auch auf die Ebene der Fraktionen ausgeweitet werden. Die Parteien der BRD sind bereit, in verschiedenen Formen, z. B. mittels der Gewährung von Stipendien, ihre Erfahrungen im Bereich der Organisation der Fraktionsarbeit zu vermitteln. Nach einer internen Abstimmung schlagen wir vor, als weiteren Schritt der Zusammenarbeit zwischen den Parteien das Zustandekommen von Arbeitsausschüssen zur Sicherstellung eines kontinuierlichen Meinungsaustausches und kontinuierlicher Konsultationen zu initiieren (bei den internationalen Kontakten der Parteien der BRD wird diese Praxis seit langem verfolgt), als ersten Schritt in den für uns wichtigsten Bereichen (Europapolitik, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Sicherheitspolitik, Menschenrechts- und ethnische Fragen). […] Bei den parlamentarischen Kontakten der beiden Staaten würde es einen wichtigen Fortschritt bedeuten, die Beziehungen schrittweise auf die deutschen Bundesländer auszuweiten bzw. diese regelmäßig zu machen. Wir schlagen vor, dass die im Parlament vertretenen Parteien nach der für Herbst geplanten Schaffung der DDRBundesländer damit beginnen, Beziehungen zu den Länderparteiorganisationen in der DDR aufzubauen. Damit würden wir einen ersten wichtigen Schritt zur Zusammenarbeit mit den Regierungen der sich neu bildenden Länder unternehmen. b) Beziehungen der beiden Außenministerien Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Außenministerien und die Kontakte zwischen den einzelnen Hauptabteilungen und Sektionen sind fruchtbar und weisen



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eine wachsende Tendenz auf. Die Konsultationspraxis, die durch das Kooperationsprotokoll geregelt ist, wird von beiden Seiten als nützlich erachtet. Mit Blick auf die Wichtigkeit der Beziehungen würden wir es für zweckmäßig halten, wenn es baldmöglichst zu einem Besuch unseres Außenministers in der BRD kommen würde. Bei diesem Treffen könnte man sich einen Überblick über die Möglichkeiten der Weiterentwicklung des bilateralen Verhältnisses und über die sich aus der neuen Situation ergebenden Aufgaben verschaffen. Der Konsultationsaustausch muss auch auf der Ebene der Staatssekretäre und Hauptabteilungsleiter fortgesetzt werden. 2) Wirtschaftsbeziehungen Das entstehende vereinte Deutschland wird aller Wahrscheinlichkeit nach der Wirtschaftspartner Nr. 1 unseres Landes werden. Aufgrund der wirtschaftlichen Kraft des Landes, seines traditionellen Interesses an Mittel- und Südosteuropa sowie der auf den historischen Traditionen fußenden Sympathie der Deutschen für unser Land, können wir auch in Zukunft in erster Linie aus dieser Relation mit einer effektiven Unterstützung unserer grundlegenden wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftspolitischen Vorstellungen rechnen. Unter dem Gesichtspunkt der weiteren Sicherstellung dieser Unterstützung schreibe ich der Tatsache, dass der ungarische Regierungschef aus Anlass seines Besuchs im Juni die Regierung der BRD detailliert über unsere kurzfristigen wirtschaftlich-sozialen Strategiepläne, über das Instrumentarium der Umsetzung und über die damit zusammenhängenden Probleme informierte, eine entscheidende Bedeutung zu. Hinsichtlich der Entwicklung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen möchte ich die Aufmerksamkeit auf Folgendes lenken: Mit dem Staatsvertrag, den die Finanzminister der beiden deutschen Regierungen am 18. Mai 1990 paraphierten und der am 1. Juli in Kraft trat, erreichte der Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Staaten eine neue Phase. Die Schaffung des vereinten Deutschlands ist in greifbare Nähe gerückt. Der Staatsvertrag bestimmt bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten, [also] nur für eine Übergangszeit (vermutlich bis zum Jahresende), die Regeln bezüglich der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialunion von BRD und DDR, ihre Bestimmungen werden aber auch unmittelbare Auswirkungen auf die Entwicklung der ungarisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen haben. Aufgrund der von den beiden deutschen Regierungen im Staatsvertrag festgehaltenen Grundprinzipien haben wir die Möglichkeit, bilaterale Gespräche zu beginnen und die günstigen Bedingungen der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem sich vereinigenden Deutschland und Ungarn zu bewahren und weiterzuentwickeln. Wir würden vorschlagen, die ungarischen Ersuchen entschiedener als bisher zu formulieren. Die Entwicklung unserer bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zum sich vereinigenden Deutschland hängen in bedeutendem Maße von der Geschwindigkeit unseres Übergangs zur Marktwirtschaft und von ihren Qualitätsmerkmalen ab. Interesse von deutschen Investoren an unserem Land besteht, greifbare Ergebnisse gibt es auch, unsere Aktivitäten bleiben vorläufig aber hinter dem Erwünschten zurück. Nach Meinung

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maßgeblicher Repräsentanten der [deutschen] Wirtschaft ist hierfür nicht das Maß der Steuervergünstigungen in Ungarn oder die Forderung nach mehr Unterstützung durch die Regierung der BRD für Aktivitäten im Ausland (z. B. Kreditvergünstigungen) der Grund. Die deutsche Wirtschaft sei genug kapitalkräftig und konkurrenzfähig, um dort, wo die Investitionsbedingungen und Investitionsaussichten anziehend seien, auch ohne Gewährung besonderer Vergünstigungen in Erscheinung zu treten. Die Erklärung für die Zurückhaltung sei in erster Linie, dass man zum einen ständig auf die aus der Vergangenheit geerbte und mit dem Übergang verbundene Bürokratie sowie auf jene rechtlichen Unzulänglichkeiten stoße, die den freien Kapitalfluss unverändert behindern würden. Ihre Überwindung sei kein realistisches Ziel, es gebe aber einige Probleme, deren Lösung hinsichtlich der zukünftigen intensiven Entwicklung der Beziehungen nicht weiter aufgeschoben werden können. Dies seien die Folgenden: – Das zur marktkonformen Entwicklung der Eigentumsverhältnisse notwendige Bedingungssystem muss mittels einer zielgerichteten Gesetzgebungsarbeit verbessert werden. In Zusammenhang damit ist baldmöglichst ein modernes Immobilien- und Bodengesetz notwendig. – Kraftvolle Maßnahmen sind notwendig, um die Service-Dienstleistungen, die den Zustrom von Auslandskapital fördern, auszubauen (Informationsdatenbank). Die Initiativen bleiben oft bereits bei der Informationssuche und wegen der Schwäche der Partnervermittlung stecken. An dieser Aufgabe muss sich, solange die autonomen gesellschaftlichen Strukturen nicht erstarken, auch der Staat beteiligen. – Es müssen ein einheitliches Aktionsprogramm der Regierung und eine einheitliche Ausdrucksweise der Regierung, das bzw. die mit den in Verbindung mit der Bewegung des Auslandskapitals formulierten Prinzipien stehen, entwickelt werden. Die deutsche Vereinigung kann – neben vielen sonstigen Gebieten – besonders starke Auswirkungen auf die Konjunktur des Baugewerbes haben. Das Ministerium für Bauwesen der BRD und sein ungarisches Partnerressort haben im Herbst 1989 eine interministerielle, die Kooperation regelnde Vereinbarung geschlossen. Es wäre zweckmäßig, seine Geltung mit der Vereinigung auch auf die DDR auszuweiten. Im Zuge früherer Konsultationen machten die deutschen Partner das Versprechen, zu untersuchen, in welchem Maße die ungarischen Unternehmen und Arbeitnehmer zur Befriedigung der wachsenden Ansprüche des Baugewerbes in der BRD herangezogen werden können. Zur Klärung unserer weiteren Möglichkeiten ist die Erhebung der Kapazitäten unter Einbeziehung der Länder angelaufen. Wir rechnen mit dem Beginn einer umfassenden Rekonstruktion in der DDR, in erster Linie auf dem Gebiet der Infrastruktur (Straßen, Eisenbahn, Kanalisation usw.). In Zusammenhang damit wäre es eine dringende Aufgabe, die Abwägung der wegen des Strukturwandels freiwerdenden einheimischen Kapazitäten des Baugewerbes abzuschließen (Personalstärke, Maschinenpark) und dann nach einer Abstimmung mit dem Arbeitsressort den Abschluss einer gesonderten Vereinbarung zu initiieren.



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Es wäre zweckmäßig, im Falle der Notwendigkeit, die Energie- und Rohstoffquellen umzugruppieren, die technischen Möglichkeiten und finanziellen Voraussetzungen einer Hilfeleistung der BRD zu untersuchen. Anschließend schlage ich vor, Unterredungen auf Regierungsebene zu initiieren. 3) Verkehrs- und Nachrichtenwesen Unsere Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland sind auch auf diesem Gebiet sowohl auf der Ebene der Staatsverwaltung als auch auf der Unternehmensebene traditionell eng. Bedeutendere deutsche Großunternehmen wie z. B. Siemens, MAN, ITT-SEL und Mercedes-Benz haben früher schon eine aktive Rolle bei der Modernisierung des ungarischen Verkehrs- und Fernmeldewesens übernommen. Mit Blick auf die inländischen Rekonstruktionsvorhaben haben wir ein bedeutendes Interesse an der Vertiefung der Beziehungen. Hierzu besteht deutscherseits – wie auch die Gründungen von gemischten Unternehmen durch ITT-SEL und Siemens signalisieren – unveränderte Bereitschaft. Die Beziehungen zwischen den Ressorts und die Vertragsbeziehungen haben sich in der Verkehrssphäre erfolgreich entwickelt. – 1988 kam es zur Unterzeichnung des bilateralen Binnenschifffahrtsabkommens. – Ende 1989 schlossen wir eine Luftverkehrsvereinbarung, die die Zahl der Städte, in die MALÉV [staatliches Ungarisches Flugunternehmen] Flüge starten kann, bedeutend ausgeweitet hat. – Ebenfalls 1989 unterzeichneten wir ein Straßenverkehrsabkommen, das den ungarischen Spediteuren eine derartige Kontingenterhöhung gewährte, dass für uns im Straßentransport praktisch sämtliche Beschränkungen aufgehoben wurden. – Das jetzt in der BRD eingeführte neue Straßenmautsystem bedeutet für unsere Spediteure allerdings eine bedeutende Belastung. Das Verkehrsministerium der BRD und die Vertreter des Ministeriums für Verkehr, Nachrichten- und Bauwesen haben eine Vereinbarung zur Entwicklung der Zusammenarbeit ausgearbeitet. Diese stellt regelmäßigen Konsultationen und eine Zusammenarbeit zur Weiterentwicklung unserer Beziehungen zur EG und zur BRD auf dem Gebiet des Verkehrs sowie der wissenschaftlich-technischen Forschung und Entwicklung in Aussicht. Zur Unterzeichnung der Vereinbarung wäre es Ende April dieses Jahres in Budapest gekommen, sie unterblieb allerdings wegen Verhinderung von Minister [Friedrich] Zimmermann. […] Eine herausragend wichtige Frage, die in unseren Tagen aktuell wird, ist, was mit dem Zustandekommen der Einheit mit unseren Abkommen, die mit der DDR in Kraft sind, passieren wird. Unsere Straßen-, Luft- und Eisenbahnverkehrsabkommen usw. garantieren den ungarischen Spediteuren viel bessere Tarife, als in Relation zur BRD. […] Auf dem Gebiet des Fernmeldewesens war die Zusammenarbeit nicht derart intensiv. Dies hängt mit den sich bis in die Gegenwart hinziehenden Unsicherheiten

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der ungarischen Entwicklungskonzeption zusammen. […] Wegen der zu erwartenden ungarischen Rekonstruktionstätigkeit nahm das Interesse des westdeutschen Kapitals in Richtung unseres Landes zu. Die in der Einleitung erwähnten gemischten Unternehmen sind zum Teil im Zeichen dieser Aktivitäten zustande gekommen. Dieser Umstand sowie auch unser Interesse an der Rekonstruktion der Telekommunikation in der DDR begründet es, die Beziehungen auf interministerieller Ebene zu stärken. […] 4) Umweltschutz Auf dem Gebiet des Umweltschutzes ist die führende Rolle der BRD in Europa eindeutig. Ihre Bestrebungen trafen infolge der Erkenntnis der mit großen Gefahren drohenden Umweltschäden in den meisten europäischen Ländern auf ein Echo. Die BRD hat eine entwickelte Umweltschutzstruktur und eine exportorientierte Umweltschutzindustrie entwickelt. Aufgrund ihrer geografischen Lage und der historischen Bande ist sie an der Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Ländern beim Umweltschutz sehr interessiert. Die Grundlage der bilateralen Beziehungen beim Umweltschutz bildet das im Dezember 1988 vom [ungarischen] Umweltschutzministerium und vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) unterzeichnete Umweltschutzabkommen. […] 5) Kulturbeziehungen In den vergangenen Jahren setzte eine bedeutende Entwicklung unserer Kultur- und Unterrichtsbeziehungen mit beiden deutschen Staaten ein. Die rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen wurden ausgeweitet und die Kooperationsbeziehungen vertieft. Die Grundlage der auf diesem Gebiet erfolgenden Zusammenarbeit mit beiden deutschen Staaten bilden die 1977 (BRD) und 1978 (DDR) geschlossenen Verträge, wobei Letzterer am 31. Dezember 1990 ausläuft. Im Zuge der Ausarbeitung der Prinzipien der zukünftigen Beziehungen ist für uns von grundlegender Wichtigkeit, dass wir die aus unserem Blickwinkel wesentlichen Elemente des abgeschlossenen bilateralen Abkommen auch in der Übergangsphase bewahren, bis die Voraussetzungen zu einer Regelung der Zusammenarbeit in einem einheitlichen Rechtsvertrag reifen. Ich schlage vor, zu erwägen, das mit der DDR geschlossene Abkommen nicht zu verlängern, und bei der Kooperation im Bereich von Kultur und Unterricht die auf der Grundlage der mit der BRD geschlossenen Abkommen (z. B. Nationalitäten-Vereinbarung, Sprachlehreraustausch, Facharbeiterund Managerausbildung) entwickelte Praxis als „Ordnungsprinzip“ anzuwenden. […] Neben der Einhaltung unserer Verpflichtungen, die wir in den Regierungsabkommen und im Arbeitsplan eingegangen sind, ist es notwendig, die Beziehungen in beträchtlichem Maße zu diversifizieren. Dies wäre mittels der Institutionalisierung der Beziehungen zu den Kultur- und Unterrichtsministerien der Bundesländer – einschließlich der entstehenden Bundesländer in der DDR – und der Festschreibung der Kooperationsgebiete und -formen in Vereinbarungen lösbar. […]



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Die Schaffung der deutschen Einheit wirft die Notwendigkeit einer Neuerwägung der Aufgaben unserer in Berlin und Stuttgart tätigen Kulturinstitute und die Überprüfung der über die Institute geschlossenen Abkommen auf. In Zustimmung zum Vorschlag des Außenministeriums der BRD schlage ich vor, Verhandlungen zur Regelung des Status des Direktors und des Personals des Stuttgarter Instituts zu beginnen. Das jetzt eröffnete Stuttgarter Institut muss bei seiner Tätigkeit – über die Popularisierung der ungarischen Kultur und Wissenschaft und die Präsentation unserer Leistungen hinaus – auch die glaubwürdige Repräsentation des allgemeinen politischen Profils unseres Landes übernehmen. Ausgehend davon halte ich es für grundlegend wichtig, dass das Institut von einem dynamischen, auch über politisches Gefühl verfügenden Experten geleitet wird. Dies könnte auch so gelöst werden, dass nach der Eröffnung des geplanten Stuttgarter Konsulats […] der örtliche Generalkonsul die Leitung der politischen Arbeit des Kulturinstituts übernehmen würde. 6) Beziehungen zwischen den Medienorganen beider Staaten Auf dem Gebiet der Massenmedien verlaufen die Kontakte, die auf bereits früher abgeschlossenen Verträgen beruhen, ohne Störungen. Bei den Kontakten außerhalb dieser Verträge ist allerdings eine scharfe Wende eingetreten. Im vergangenen Jahr wurden die sogenannten (protokollarischen) Führungsvisiten fast vollständig beendet und an ihre Stelle traten harte Geschäftsverhandlungen. Die Vertreter zahlreicher ungarischer Zeitungen besuchten die BRD bzw. empfingen zuhause Delegationen, in erster Linie zum Zweck der Einbeziehung von Kapital aus der BRD. […] 7) Beziehungen zwischen den Innenministerien Auf der Grundlage der historischen Traditionen, der gegenüber den Deutschen empfundenen Sympathie und der entschiedenen Absicht der deutschen Seite ergeben sich auch auf dem Gebiet der Zusammenarbeit der Innenministerien neue Möglichkeiten zur Entwicklung der Beziehungen. Um die daraus hervorgehenden Vorteile möglichst schnell auszuschöpfen, wäre es notwendig, die Vorstellungen [der ungarischen Regierung] zur Entwicklung der bilateralen Beziehungen nach Möglichkeit in schnellem Tempo auszuarbeiten. Wir haben folgende Vorschläge: – Entwicklung einer auf einem detaillierten Arbeitsplan basierenden fachlichen Zusammenarbeit zwischen der Bundeskriminalpolizei der BRD (KRIPO) und dem Landespolizeipräsidium, die sich auf die Gebiete internationale Kriminalität, Kampf gegen Drogen und Terrorismus und andere Gebiete von gemeinsamen Interesse (z. B. Personenschutz, Katastrophenschutz usw.) erstrecken würde, einschließlich der dazu notwendigen Kaderausbildung und der Unterstützung der Beschaffung der für die Durchführung der Arbeit notwendigen technischen Mittel. – Mit Blick auf die Entwicklung der ungarischen Polizeiverwaltung wäre es begründet, die BRD zu ersuchen, ihre Kenntnisse über die Tätigkeit der deut-

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schen Bundes- und Länderpolizeiorgane, über ihren Aufbau, über ihre Kompetenzen und über ihre parlamentarische Kontrolle zu übergeben. – Eine ungarische Initiative, die sich auf die regelmäßige Ausbildung des Führungspersonals der ungarischen Polizei in der BRD und die Abhaltung von fachlichen Übungen in Deutschland richten würde, würde auf positive deutsche Resonanz treffen. Deshalb schlagen wir der deutschen Seite vor, für Kriminologen und Polizeioffiziere eine Fachausbildung in entsprechenden Unterrichtsinstitutionen der BRD zu ermöglichen bzw. die Mitarbeiter der ungarischen Polizei an postgraduellen Unterrichtsformen teilnehmen zu lassen. Eine der herausragenden Aufgaben der ungarischen Innenpolitik wird es sein, eine Reform der Selbstverwaltung entsprechend den ungarischen Traditionen und der Praxis der europäischen demokratischen Staaten auszuarbeiten. Unter den europäischen Staaten verfügt die BRD auf dem Gebiet der Ausgestaltung der Selbstverwaltungsrechte der verschiedenen Regionen, Bundesländer, Städte und Gemeinden und ihrer Anwendung über die umfassendsten und am besten nutzbaren Erfahrungen. Die BRD ist auch auf diesem Gebiet zu einer engen Zusammenarbeit, zu regelmäßigen Fachkonsultationen und zum Erfahrungsaustausch bereit, weswegen ich vorschlage, dass wir in der Vorbereitungsphase für das Selbstverwaltungsgesetz Fachkonsultationen mit dem Innenministerium der BRD (Einladung von Stipendiaten in die BRD) anregen. 8) Justiz- und Rechtsbeziehungen Die ungarisch-westdeutschen Justiz- und Rechtsbeziehungen sind vielseitig. Zwischen den Ministerien und zwischen den Gerichts- und Anwaltsorganisationen findet eine erfolgreiche Zusammenarbeit statt. Diese Beziehungen haben sich insbesondere in der Phase der Vorbereitung der Verfassung der Republik Ungarn und anderer besonders wichtiger Rechtsnormen wie z. B. des Gesetzes über das Verfassungsgericht vertieft und intensiviert. 1989 kam es zu zahlreichen Besuchen auf hoher Ebene. Die Besuche trugen wesentlich dazu bei, dass sich die Justiz-, Gerichts- und Anwaltsorganisationen der BRD anhand von Informationen aus erster Hand über unser Rechtswesen, über seine Erfolge und Probleme, informieren konnten. Gleichzeitig konnte auch die ungarische Seite sehr nützliche Erfahrungen, die wir auch bei unserer Rechtsschöpfung nutzen konnten, gewinnen. Über die Zusammenarbeit auf oberer Ebene erstreckten sich die Beziehungen auch auf sonstige Expertentreffen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Tätigkeit der deutsch-ungarischen Juristenvereinigung. Zur Aufrechterhaltung bzw. Weiterentwicklung der entwickelten Kontakte schlage ich vor, die früher ausgesprochenen Einladungen zu bekräftigen, darunter in erster Linie die Einladung von Bundesjustizminister Hans A. Engelhard. Ich empfehle, die Ausweitung der bisherigen Beziehungen auf die postgraduelle Ausbildung von Wirtschaftsjuristen zu erwägen. Die deutsche Seite würde auf einen derartigen Vorschlag



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positiv reagieren. Die Weiterbildung ungarischer Juristen wäre eine große Hilfe beim Übergang der ungarischen Wirtschaft zu einer sozialen Marktwirtschaft. Ich halte die Entwicklung unserer Vertragsbeziehungen zum in Kürze zustande kommenden vereinigten Deutschland und ihre Anpassung an die neuen Erfordernisse für außerordentlich wichtig. Zum Zwecke des Interessenschutzes unserer Staatsbürger, die sich in beiden deutschen Staaten in großer Zahl niedergelassen haben oder sich für kürzere oder längere Zeit dort aufhalten, wäre es notwendig, dass wir uns bemühen, unter den mit der DDR geschlossenen Verträgen das 1958 unterzeichnete und 1977 geänderte Abkommen über die zivile, familienrechtliche und strafrechtliche Rechtshilfe beizubehalten bzw. auf das Gebiet des vereinigten Deutschlands auszuweiten. […] 9) Konsular- und Fremdenverkehrsbeziehungen Die Botschaft schickte im Februar dieses Jahres eine detaillierte Analyse über die Konsularbeziehungen nach Hause. Wir bewerten es so, dass sich auch diese Beziehungen erfolgreich entwickeln. Der demokratische Wandel in Ungarn erhöhte sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den offiziellen Organen weiter die Sympathien gegenüber unserem Land. Die Behörden der BRD handhaben die Probleme ungarischer Staatsbürger im Wesentlichen hilfsbereit und wohlwollend. Abgesehen von einigen Fällen ist ihre Einstellung positiv und die Zusammenarbeit bei konkreten Fällen gut. […] Mit dem Ende des Visazwangs zwischen beiden Ländern zum 1. Mai [1990] trat eine qualitative Veränderung in den Konsularbeziehungen ein. […] Die Befürchtungen, dass sich mit der Öffnung der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten der Touristenverkehr aus der BRD ach Ungarn verringern werde, hat sich nicht bestätigt. Die Daten des ersten Vierteljahres zeugen vom Gegenteil. Die Beendigung des Visazwangs erwies sich also auch in wirtschaftlicher Hinsicht als nützlich. Eine weitere bedeutende Entwicklung der Konsularbeziehungen wird die wechselseitige Eröffnung der Generalkonsulate bedeuten. […] 10) Beschäftigung mit den im Ausland lebenden Ungarn Der Systemwechsel hat auch auf diesem wichtigen Gebiet eine neue Situation geschaffen. Neben dem von vorneherein günstigen Hintergrund der ausgezeichneten ungarisch-westdeutschen Beziehungen sind jetzt auch die ideologischen Hindernisse für die Pflege guter Kontakte zur Urheimat verschwunden. Die Zusammensetzung der neuen Regierung, ihre politische ars poetica und ihr Programm haben bei den hier lebenden Ungarn ein Vertrauen geschaffen, auf das bei der internationalen Förderung der Verwirklichung der Zielsetzungen unbedingt aufgebaut werden muss. […] 11) Beziehungen zwischen den Verteidigungsministerien Aufgrund der historischen Traditionen, der Sympathie der Deutschen – darunter des Generalstabs und des Offizierskorps – für die Ungarn und der diesbezüglichen Bereit-

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schaft der deutschen Seite können sich auch bei der Zusammenarbeit der bewaffneten Kräfte beider Länder neue Möglichkeiten ergeben. […] Auf oberer Ebene kam es bisher zu vier Treffen. Der Staatssekretär im ungarischen Verteidigungsministerium führte zweimal einen Meinungsaustausch mit seinem westdeutschen Kollegen und einmal mit einem Mitglied des Verteidigungsausschusses des Bundestags. Der ungarische Generalstab und der Generalinspekteur der Bundeswehr trafen sich zu Jahresbeginn in Wien […]. Vom 9. bis 12. Juli 1990 findet der Besuch von Verteidigungsminister [Gerhard] Stoltenberg in Ungarn statt. Gemäß den von der Führung der Bundeswehr erhaltenen Informationen kann nach dem Ministertreffen mit der Entwicklung von Vorstellungen über die breitere Zusammenarbeit zwischen den beiden Armeen begonnen werden. Nach den prinzipiellen Vereinbarungen auf Ministerebene wäre es zweckmäßig, die Modalitäten der Zusammenarbeit in einzelnen Teilgebieten auf dem für Oktober geplanten Budapester Treffen der beiden Generalstabschefs zu bestimmen. Es würde einen Markstein in den Beziehungen der beiden Armeen bedeuten, wenn unter den Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrags ungarische Offiziere als erste die Möglichkeit bekommen würden, auf der Führungsakademie der Bundeswehr zu studieren. Auf militärischem Gebiet ist Verteidigungsminister Stoltenberg für die Entscheidung zuständig. 12) Sportbeziehungen Die Regelung der Sportkooperation zwischen unserem Land und der BRD auf höchster Ebene erfolgte zuletzt in dem am 4. Mai 1988 in Budapest unterzeichneten bilateralen Abkommen. Die für fünf Jahre geltende Vereinbarung hält sowohl auf dem Gebiet des Massensports als auch des Wettkampfsports die wesentlichen Elemente der erwünschten Zusammenarbeit fest. Die praktische Zusammenarbeit verwirklicht sich im Geiste dieser Urkunde. die Zusammenarbeit ist störungsfrei. […] III. Unsere Beziehungen zur Zentrale Die Beziehungen der Botschaft sowohl zum Außenministerium als auch zu den übrigen Ressorts halte ich – trotz des Regierungswechsels – für störungsfrei und unsere Zusammenarbeit für erfolgreich. Durch unsere breiten Beziehungen, die sich im Prozess der demokratischen Umgestaltung zu den verschiedenen Parteien entwickelt haben, gelang es uns schnell, Kanäle der Zusammenarbeit zu den Führungen der im Parlament vertretenen Parteien und zu den Funktionsträgern des Parlaments aufzubauen. Unsere hiesige erfolgreiche Tätigkeit wird durch die fruchtbare, zum Kabinett des Ministerpräsidenten entwickelte Arbeitsbeziehung in beträchtlichem Maße unterstützt. […] Die Mehrzahl der Botschaftsmitarbeiter hat eine reform-orientierte Einstellung. Aufgrund der Verpflichtung gegenüber den notwendigen Veränderungen spürte ich nach dem Systemwechsel keine bedeutendere Verunsicherung im Personalbestand.



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Dabei spielte wahrscheinlich eine entscheidende Rolle, dass die neue politische Führung die Leitung der Botschaft in ihrer Position bestätigte und mit der doppelten Akkreditierung meiner Person gar besonderes Vertrauen entgegenbrachte. Infolge des Systemwechsels in Ungarn findet ein qualitativer Wandel in allen Gebieten der ungarisch-deutschen Beziehungen statt. Die ehrenvolle Aufgabe der koordinierten Vertretung der ungarischen Interessen in der BRD und der DDR schafft im Hinblick auf den Personalbestand eine neue Situation. […] [Unterschrift] (Dr. Horváth István) Botschafter Quelle: MNL OL, XIX-J-1-j 1990, 54. d., 42/Sz.T./1990., ohne Paginierung. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 72 Informationsbericht über die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland, eingegangen im ungarischen Außenministerium Anfang Oktober 1990 Der undatierte Informationsbericht, der vermutlich Ende September/ Anfang Oktober 1990 von der ungarischen Botschaft in Bonn erstellt wurde, informiert zum einen über die dynamische Entwicklung des westdeutsch-ungarischen Handels im Jahre 1989 und Anfang 1990, über die Kooperation zwischen westdeutschen und ungarischen Firmen sowie über den „Durchbruch“ bei der Gründung von Joint Ventures im Jahre 1989. Zum anderen beschäftigt er sich mit dem liberalisierten Zugang für ungarische Produkte auf dem westdeutschen Markt, mit dem Kontakt führender (Wirtschafts-) Politiker beider Länder 1989 und mit der Ausbildung ungarischer Manager in der Bundesrepublik. *** Information über die ungarisch-westdeutschen Wirtschaftsbeziehungen 1. Entwicklung des Warenverkehrs und der Kooperationsbeziehungen Die Bundesrepublik Deutschland ist im Kreise der entwickelten Industriestaaten der wichtigste Wirtschaftspartner unseres Landes. Ihr Anteil am Export unseres Landes betrug 1989 11,9%, am Import 16,1%. Dieser Anteil wuchs in den ersten 4 Monaten 1990 auf 17% bzw. 17,6%. Der Wert des ungarischen Exports in Richtung BRD betrug – gemäß der Eintragung des [westdeutschen] Statistischen Bundesamts – 1989 2.677 Mio. DM, 18,3%

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mehr als ein Jahr zuvor, der Wert des aus der BRD stammenden ungarischen Imports machte 3.651 Mio. DM aus, das sind 32,3% mehr als 1988. Das Jahr 1989 galt in beiderlei Hinsicht als Rekordjahr. Der Gesamtwert des gegenseitigen Warentransports überstieg erstmals 6 Mrd. DM, das ungarische Passiv des Umsatzes überstieg alles Vorherige und betrug 984 Mio. DM. Für den Exportzuwachs spielten die günstige Konjunktur der westdeutschen Wirtschaft und die Belebung der Exportaktivitäten der ungarischen Unternehmen, in erster Linie der kleineren Organisationen, eine entscheidende Rolle. Und auch die in Ungarn produzierenden gemischten Unternehmen trugen in wachsendem Maße zur Ausweitung der Ausfuhr in die BRD bei. Für den herausragenden Zuwachs des Imports im vergangenen Jahr war die Liberalisierung der Einfuhr von Investitionsgütern von entscheidender Bedeutung; die günstiger werdenden Bedingungen wurden in wachsendem Maß von den westdeutschen Firmen, die Maschinen und Einrichtungen liefern, ausgenutzt. Im ersten Vierteljahr 1990 stagnierte der aus der BRD stammende Import, er betrug 776 Mio. DM, insgesamt [nur] 4% mehr als in den ersten 3 Monaten des Jahres 1989. Währenddessen belebten sich die Exportaktivitäten der ungarischen Firmen weiter. Der Umsatz der ersten drei Monate übertraf mit 711 Mio. DM die Basis des vergangenen Jahres um 20,5%. Das Passiv des ersten Vierteljahres betrug insgesamt 65 Mio. DM, sodass damit gerechnet werden kann, dass sich unser Jahresimportüberschuss auf das Niveau der früheren Jahre (1988) verringern wird. Die Zusammensetzung unseres Exports ist durch den relativ hohen Anteil (um 46%) von Grundstoffen, Halbfertigprodukten und Energieträgern gekennzeichnet. Der Anteil der Agrarprodukte beim ungarischen Export in die BRD betrug nahezu 23%, der der Industrieartikel für den Konsum 23% und der der Maschinen 11%. Bei unserer Einfuhr überstieg der Anteil der Produkte mit Materialcharakter 64%, der der Maschinen nähert sich 25%. Unser gesamter Import von Industriewaren für den Konsum und von landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus der BRD machte im vergangenen Jahr 11% aus. Seit den 70er Jahren bilden die Kooperationsbeziehungen zwischen Unternehmen einen wichtigen Teil unserer bilateralen Wirtschaftsbeziehungen. Innerhalb unserer Kooperationsbeziehungen dominiert die Maschinenindustrie, ihr folgt die Leicht- und die chemische Industrie. Unter den Wirtschaftsbeziehungen sind die Kooperation von MEZŐGÉP-CLAAS in der Größenordnung von jährlich mehreren 10 Millionen DM, der Hydraulikunternehmen DANUVIA und MANNESMANN REXROTH sowie in der Schuhindustrie die Zusammenarbeit mit der Firma SCHÖN, die auf einen Weg von zwei Jahrzehnten zurückblickt, herausragend. Relativ neu und viele Reserven in sich bergend ist die Zulieferung von ungarischen Industrieunternehmen für westdeutsche Automobilunternehmen (z. B. PEMÜ-ITT Alfred TEVES GmbH). Beim Export der Leichtindustrie, insbesondere bei der Textilbekleidung und in der Schuhindustrie, ist der Anteil der Lohnarbeit hoch, allerdings hat sich die Anziehungskraft dieser Konstruktion in letzter Zeit für die westdeutschen Firmen verringert.



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Die Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit auf Drittmärkten haben sich in erster Linie wegen der dauerhaften Finanzprobleme der Entwicklungsländer bedeutend verschlechtert. Geschäfte mit bedeutenderem Volumen auf neuen Drittmärkten kamen 1989 zwischen Unternehmen beider Staaten kamen gar nicht zustande. Bei den Gründungsaktivitäten von gemischten Unternehmen erfolgte 1989 ein bedeutender Durchbruch. Nach dem Inkrafttreten des Gesellschaftsgesetzes und des Gesetzes über die Investitionen von Ausländern [in Ungarn] sind mehrere Hundert Joint Ventures mit Sitz in Ungarn mit westdeutscher Beteiligung gegründet worden. Gleichzeitig verfügt der überwiegende Teil dieser Unternehmen [nur] über solide (sic!) [gemeint ist: geringe] Kapitalkraft und spielt auch bei der Erhöhung des Exports keine entscheidende Rolle. Einige bedeutendere Beispiele: Bei den Unternehmen der ungarischen Stahlindustrie übernahmen die Firmen Korf, Max Eicher und Primary Kapitalanteile, die Firma Messer Griesheim gründete mit der Oxigén és Dissousgyár [Oxygen- und Dissousfabrik], Siemens mit der Telefongyár [Telefonfabrik] und ITT SEL mit Videoton gemischte Unternehmen, letztere [beiden] zur Fabrikation von digitalen Telefonzentralen. Knorr-Bremse gründete ein gemischtes Unternehmen mit der Fabrik SZIM in Kecs­ kemét zur Herstellung von Bremssystemen, die Firma Schaeffer-INA mit den Magyar Gördülőcsapágy Művek [Ungarische Kugellager-Werke] zur Produktion von Kugellagern sowie AEG mit Remix, EMO und den Bakony Művek [Bakony-Werke] zur Herstellung von Produkten der Autoelektronik. Der Stoffdruck-Betrieb KBC Hungária nahm seine Tätigkeit auf. Die Allianz, Europas größte Versicherungsgesellschaft erwarb – für 80 Mio. DM – eine Minderheitsbeteiligung an der Hungária Versicherung und der Tengelmann-Konzern eine Minderheitsbeteiligung an Skála Coop. Anfang 1990 wurde mit dem Bau des Budapester Hotels der Hotelkette Kempinski begonnen. Zur Entwicklung ihrer Kontakte in Ungarn haben bisher etwa 100 westdeutsche Firmen eine selbstständige Handelsvertretung eingerichtet, die überwältigende Mehrheit von ihnen im Jahre 1989. Mitarbeiter des vormaligen Handelsministeriums und der in der BRD tätigen Handelsvertretung und der Außenhandelsbüros hielten in Zusammenarbeit mit der Ungarischen Wirtschaftskammer in mehreren Städten der BRD (Bonn, Bremen, Frankfurt, Hamburg, Kassel, Malente,94 Mannheim, München, Stuttgart und Würzburg) Informationsveranstaltungen zum Zweck der Vorstellung der Voraussetzungen für die Gründung von gemischten Unternehmen in Ungarn ab. 2. Voraussetzungen für den Marktzugang, zwischenstaatliche Ereignisse Die handelspolitischen Bedingungen für den Export in die BRD werden seit September 1988 durch das mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft unterzeichnete Abkommen über Handels- und Wirtschaftskooperation bestimmt. Wir müssen feststellen, dass die westdeutsche Regierung das Zustandekommen der Vereinbarung

94  Gemeinde in Schleswig-Holstein.

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aktiv unterstützte, gleichsam eine Vermittlerrolle zwischen Budapest und Brüssel übernahm und aktiv dazu beitrug, dass mit Wirkung zum 1. Januar 1990 die diskriminierenden Beschränkungen gegenüber Ungarn aufgehoben wurden, den ungarischen Produkten eine Präferenz-Zollbehandlung gewährt wurde und die Möglichkeiten des Markzugangs für unsere Agrarerzeugnisse verbessert wurden. Die führenden Vertreter des ungarischen und des westdeutschen politischen und wirtschaftlichen Lebens stehen in einem regelmäßigen Kontakt zueinander. 1989 kam es zu mehreren Unterredungen der Regierungschefs. Darüber hinaus sind auch die Beziehungen zu den Regierungschefs der einzelnen Bundesländer von herausragender Bedeutung; 1989 kamen der baden-württembergische Ministerpräsident [Lothar] Späth und der bayerische Ministerpräsident [Max] Streibl mehrmals nach Ungarn (Unterzeichnung des Kreditabkommens über 2x250 Mio. DM, Eröffnung der bayerischen Landesausstellung in Budapest usw.). Die Wirtschaftsminister der westdeutschen Bundesländer sind regelmäßige Besucher der Budapester Internationalen Frühjahrsmesse (1990 kam es zum Besuch von 3 Ministern und 2 Staatssekretären auf der Frühjahrsmesse). Unter den Bundesländern sind – teils infolge der geografischen Lage, teils aufgrund der wirtschaftlichen Gegebenheiten der Bundesländer – Bayern (der Wert des ungarisch-bayerischen Warenverkehrsüberstieg 1989 1,5 Mrd. DM), Baden-Württemberg und – als Hauptlieferant für Maschinen und Einrichtungen – Nordrhein-Westfalen von herausragender Bedeutung. Ein relativ neues Element unserer bilateralen Beziehungen ist die Zusammenarbeit bei der Weiterbildung ungarischer Manager. Auch auf diesem Gebiet haben wir in erster Linie auf der Bundesländerebene Ergebnisse erzielt. Interessanter Weise erzielten wir bei der Managerausbildung mit den norddeutschen Bundesländern die meisten konkreten Ergebnisse. Niedersachsen, Bremen, Hamburg und SchleswigHolstein haben sich bislang am intensivsten an der Ausbildung ungarischer Fachleute in der BRD beteiligt. Quelle: MNL OL, XIX-1-J-1-k 1990, 73. d., 4881-5, ohne Paginierung. Übersetzung: Andreas Schmidt-Schweizer

Dokument 73 Glückwunschtelegramm des ungarischen Ministerpräsidenten József Antall vom 3. Oktober 1990 an Bundeskanzler Helmut Kohl aus Anlass der deutschen Vereinigung Aus Anlass der deutschen Vereinigung bzw. des deutschen Nationalfeiertags am 3. Oktober 1990 sendete der ungarische Ministerpräsident József Antall Bundeskanzler Helmut Kohl ein deutschsprachiges Glückwunschtelegramm, in dem er auch auf den Beitrag Ungarns zu diesem Ereignis hinweist. ***



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Telegramm Seiner Exzellenz dem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Herrn Dr. Helmut Kohl Bonn Ich erlaube mir, Ihnen anlässlich des Nationalfeiertages der Bundesrepublik Deutschland, des Tages der Wiederherstellung der deutschen Einheit, im Namen der Regierung der Republik Ungarn und in eigenem Namen meine besten Wünsche zu übermitteln. Der 3. Oktober 1990 ist ein herausragendes Datum der Geschichte des deutschen Volkes und des modernen Europas. Am heutigen Tag ist der jahrzehntelange Wunsch des deutschen Volkes, seine staatliche Einheit und volle Souveränität durch freie Selbstbestimmung wiederzuerlangen, Wirklichkeit geworden. Ich freue mich sehr, dass die ungarische Regierung und das ungarische Volk zur Erfüllung dieses Wunsches auch einen Beitrag leisten konnten. Ich bin fest davon überzeugt, dass [sich] die Beziehungen zwischen unseren Regierungen und Völkern auf der Basis der wertvollen Traditionen der jahrzehntelangen (sic!) gemeinsamen geschichtlichen Vergangenheit in der Zukunft über jedes bisher erreichte Niveau hinaus weiterentwickeln, und damit den gemeinsamen Inte­ ressen von Ungarn, Deutschen und allen europäischen Völkern dienen werden. Ich wünsche Ihnen zur weiteren erfolgreichen Erfüllung Ihrer geschichtlichen Mission viel Kraft, gute Gesundheit und persönliches Wohlergehen. Dr. József Antall Ministerpräsident der Republik Ungarn Quelle: MNL OL, XIX-J-1-k 1990, 72. d., 7941, ohne Paginierung (Text in deutscher Sprache).

Dokument 74 Fernschreiben des bundesdeutschen Botschafters Alexander Arnot an das Auswärtige Amt vom 4. Oktober 1990 über die Ereignisse am Tag der deutschen Einheit in Budapest In einem verschlüsselten Fernschreiben der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland unterrichtete Botschafter Alexander Arnot das Auswärtige Amt in Bonn über die Ereignisse aus Anlass des Tages der deutschen Einheit in Budapest. Das Dokument spiegelt die breite Zustimmung in der neuen politisch-gesellschaftlichen Elite zur deutschen Vereinigung wider. ***

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[…]95 Betr.: Begehung des Tags der deutschen Einheit in Budapest Zur Unterrichtung 1. Am Vormittag des 03.10. überreichte ich die Botschaft des Herrn Bundeskanzlers dem ungarischen MP [Ministerpräsidenten] [József] Antall. In einem betont freundschaftlichen Gespräch äußerte er sich in herzlicher Weise zur deutschen Vereinigung und würdigte die ungarisch-deutschen Beziehungen. MP Antall zeigte sich beeindruckt von seinem Zusammentreffen mit dem Herrn Bundeskanzler am 01.10.1990 in Hamburg und vom Vereinigungsparteitag der CDU insgesamt. 2. Am Empfang zum Tag der deutschen Einheit nahmen Staatspräsident [Árpád] Göncz, MP Antall und Parlamentspräsident [György] Szabad sowie das gesamte zur Zeit in Budapest anwesende Kabinett teil, und zwar während der gesamten Dauer. Ebenfalls zugegen waren der Kardinalprimas von Ungarn, katholische Bischöfe, alle Bischöfe der reformierten, der evangelisch-lutherischen Kirche, die Leitung der jüdischen Gemeinde und prominente Vertreter der Führung der Streitkräfte. In großer Zahl waren Politiker sowie Repräsentanten des kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens erschienen. 3. Im Anschluss an den Empfang trafen sich Deutsche aus den neuen und alten Bundesländern zu einem geselligen Beisammensein in den Räumen der früheren DDRBotschaft. Eingeladen hatte ein Organisationskomitee von Deutschen aus beiden Teilen des Landes unter Beteiligung der Botschaft. An diesem Abend nahmen über 1.000 Personen, zumeist junge Menschen, teil, auf meine Einladung kam MP Antall zu Beginn der Veranstaltung für kurze Zeit hinzu. Er hielt eine Ansprache, in der er die deutsch-ungarischen Beziehungen würdigte und erneut Glückwünsche zur deutschen Einheit aussprach. Seine Worte wurden mit Ovationen beantwortet. 4. Am Vorabend des 3. Oktober hatte ein ökumenischer Gottesdienst stattgefunden, den die Pfarrer der deutschsprachigen katholischen und evangelischen Gemeinde hielten. Die Kirche war mit Gläubigen beider Konfessionen aus der deutschen Kolonie überfüllt. [Alexander] Arnot Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.729 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

95  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.



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Dokument 75 Schreiben der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt vom 9. Oktober 1990 über die Ereignisse am Tag der deutschen Einheit in Pécs (Fünfkirchen) In dem Schreiben des Aufbaustabes für das Generalkonsulat in Pécs (Fünfkirchen) der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest wird das Auswärtige Amt in Bonn (Referat 214) über die Ereignisse während des Tags der deutschen Einheit mit lokalem Bezug zu Pécs informiert. Dabei kommen nicht nur die dortigen ausschließlich positiven Reaktionen, sondern auch Startschwierigkeiten beim Aufbau des Generalkonsulats zur Sprache. *** […]96 Zur Unterrichtung 1. Zum Tag der deutschen Einheit gab es ohne Ausnahme nur positive Reaktionen im Amtsbezirk. Die Komitatszeitungen, die keine Leitartikel kennen, berichteten sachlich meist auf der ersten Seite mit einem Foto aus Berlin. Interviews des Generalkonsulats im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit wurden korrekt wiedergegeben. Das Informationsmaterial aus Deutschland kam leider sehr spät. Allenfalls in den Fragen, was denn aus den bisherigen guten Beziehungen zur DDR werden wird, klangen leichte Besorgnisse an. Die Ungarndeutschen, die keine überdurchschnittliche Anteilnahme zeigten, wollten wissen, was die Vereinigung für sie als Volksgruppe bringen werde. Erfreulich waren einige Glückwunschschreiben erster persönlicher Kontakte. Auch in persönlichen Gesprächen wurde nie versäumt, zunächst unserem Land für die Zukunft alles Gute zu wünschen. 2. Da das Generalkonsulat sich noch immer in provisorischen Räumen ohne Erstausstattung und ein funktionierendes Telefonsystem befindet, daher auch seinen Dienstbetrieb für die Öffentlichkeit noch nicht voll aufgenommen hat, habe ich auf einen Empfang aus diesem Anlass leider verzichten müssen. Entscheidend dabei war auch die Tatsache, dass zwischen zwei Wahlgängen keine politischen Ansprechpartner vorhanden waren. Daher habe ich mich auf einen Umtrunk für die hier lebenden Deutschen und Ungarndeutschen sowie für einige ungarische Deutschlehrer beschränkt. Das war vielleicht gut so, da man in der neuen Umgebung erst einige kuriose Erfahrungen sammeln muss. Auf 120 namentliche Einladungen kamen 160 Gäste, die die

96  Die Auslassung betrifft formale Angaben in der Kopfzeile der Quelle.

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Veranstaltung wohl eher als ein offenes Haus betrachteten. Das mir empfohlene Hotel erwies sich der recht bescheidenen Aufgabe nicht ganz gewachsen usw. Dennoch war die Hauptaufgabe erfüllt, den recht verunsicherten bisherigen DDR-Bürgern zu sagen, dass sie in Zukunft mit allen Rechten und Pflichten zu uns gehören. Die übrigen Gruppen, Deutschlehrer, Ungarndeutsche, ungarische Persönlichkeiten aus allen Lebensbereichen, die verschiedenartige Interessen haben, wird man zunächst getrennt ansprechen müssen, ehe ein hoffentlich voll funktionierendes Generalkonsulat alle Kreise zum deutschen Nationalfeiertag einladen kann. [unleserliche Unterschrift] Quelle: PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 140.729 E, ohne Paginierung (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Auswärtigen Amts, Berlin).

6 Chronologie 1987 1987, 23. Juni Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP): Gemäß der Vorlage des Politbüros vom 19. Juni 1987 beschließt das ZK eine Reihe von personellen Veränderungen in Staat und Partei, darunter die Ablösung des bisherigen Vorsitzenden des Ministerrats (Ministerpräsident) György Lázár durch Károly Grósz, Mitglied des Politbüros und Erster Sekretär des Budapester Parteiausschusses, sowie die Ernennung von Miklós Németh zum ZK-Sekretär für Wirtschaftspolitik. Die Übernahme des Amts des Regierungschefs durch Grósz wird am 25. Juni 1987 vom Parlament bestätigt. 1987, 2. Juli Verabschiedung der ZK-Stellungnahme zum Programm der wirtschaftlichgesellschaftlichen Entfaltung (Dokument 1): Das sogenannte Entfaltungsprogramm sieht neben Maßnahmen zur ökonomischen Krisenbekämpfung und Stabilisierung der ungarischen Wirtschaft wesentliche Schritte in Richtung einer marktwirtschaftlichen Ordnung mit entsprechenden Eigentumsformen und unter Einbeziehung von (westlichem) Auslandskapital vor. 1987, 21./22. Juli Treffen von Außenminister Péter Várkonyi mit Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) in Bremen: Die beiden Ressortchefs erörtern die jüng­ sten internationalen Entwicklungen, vor allem die Verbesserung der Ost-West-Beziehungen, den neuen politischen Kurs der sowjetischen Führung und die Abrüstungsverhandlungen in Genf. Außerdem führen sie Besprechungen über den geplanten Besuch des neuen ungarischen Regierungschefs Károly Grósz in der Bundesrepublik und über die bei dieser Gelegenheit vorgesehene Unterzeichnung mehrerer Abkommen und Vereinbarungen. 1987, 26.–30. August Besuch des ZK-Sekretärs für Agitation und Propaganda János Berecz in der Bundesrepublik: Während einer gemeinsamen Kulturveranstaltung der Stadt Iserlohn (Nordrhein-Westfalen) und der ostungarischen Stadt Nyíregyháza trifft sich Berecz mit Ministerpräsident Johannes Rau (SPD). Bei seinem anschließenden Besuch in Bonn führt er Gespräche mit herausragenden Vertretern der bundesdeutschen Politik. Die Politiker, darunter Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble (CDU) und der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel, bringen ihre Sympathien und ihre Unterstützungsbereitschaft für die wirtschaftlichen und politischen Vorhaben Ungarns zum Ausdruck und betonen gleichzeitig, nicht in die inneren Angelegenheiten Ungarns eingreifen und die sozialistischen Staaten gegeneinander „ausspielen“ zu wollen. 1987, 16.–19. September Sitzung des ungarischen Parlaments: Das Gremium beschließt das „Arbeitsprogramm des Ministerrates“, das auf dem EntfaltungsproDOI 10.1515/9783110488890-005

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gramm vom 2. Juli 1987 basiert, und verabschiedet die Gesetze über die Einführung der Mehrwert- und der Einkommenssteuer zum 1. Januar 1988. 1987, 27. September Treffen von national-volkstümlichen Intellektuellen in Lakitelek: Bei dem Treffen, an dem auch der Vorsitzende der Patriotischen Volksfront Imre Pozsgay teilnimmt, werden gravierende gesellschaftliche Probleme und „nationale Schicksalsfragen“ Ungarns erörtert. Es kommt zur Gründung des Ungarischen Demokratischen Forums (MDF) als Diskussionsforum ohne feste organisatorische Strukturen. 1987, 27.–29. September Ungarn-Besuch von Johannes Rau, stellvertretender SPDVorsitzender und Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen: Rau führt Gespräche mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten József Marjai und der stellvertretenden Ministerpräsidentin Judit Csehák sowie mit Regierungschef Károly Grósz und den ZK-Sekretären Miklós Németh und Mátyás Szűrös. Rau würdigt die „historische Bedeutung“ des Wirtschaftsprogramms der ungarischen Regierung und bringt die Hoffnung auf eine weitere Intensivierung der bilateralen Beziehungen durch den anstehenden Besuch von Ministerpräsident Grósz in der Bundesrepublik zum Ausdruck. Ungarischerseits werden vor allem die Herausforderungen des neuen Wirtschaftsprogramms und der „politischen Wegsuche“ thematisiert. 1987, 5. Oktober Streng geheimer Bericht des Oberbefehlshabers des ungarischen Grenzschutzes Generalmajor János Székely über den „Eisernen Vorhang“ an der ungarisch-österreichischen Grenze: Székely bezeichnet den Eisernen Vorhang als technisch und moralisch veraltet und – auch wegen des Imports von rostfreiem Draht aus dem Westen – als schwer finanzierbar. Knapp anderthalb Jahre später, im Februar 1989, beschließt das Politbüro, die Grenzsicherungsanlagen an der ungarisch-österreichischen Grenze abbauen zu lassen. 1987, 7.–10. Oktober Staatsbesuch von Károly Grósz, Vorsitzender des Ministerrats, in der Bundesrepublik Deutschland (Dokumente 5 und 6): Grósz besucht bei seiner ersten offiziellen Westreise als Regierungschef Bonn, München und Stuttgart und führt Gespräche mit seinem Gastgeber Bundeskanzler Helmut Kohl sowie mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher und führenden Politikern aller Bundestagsparteien. Außerdem trifft er sich mit den Ministerpräsidenten von vier Bundesländern und führenden Vertretern der deutschen Wirtschaft und Bankenwelt. Während Grosz in erster Linie die Herausforderungen darlegt, vor denen Ungarn steht, versichert die westdeutsche Seite der ungarischen Regierung ihre allgemeine Sympathie und Unterstützungsbereitschaft für die Vorhaben der ökonomischen Krisenbekämpfung und Umstrukturierung sowie für die politischen Reformpläne. Die Bonner Regierung übernimmt die Bürgschaft für einen zinslosen Kredit über 1 Milliarde DM von der Deutschen Bank, der an die Ungarische Nationalbank überwiesen wird. Beide Staaten treffen Abkommen über die wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit (Dokument 2) und über die wechselseitige Errichtung von Kultur- und Informationszentren (Dokument 4). Darüber hinaus unterzeichnen sie eine Regierungser-



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klärung über die Unterstützung der Kultur der Ungarndeutschen und der deutschen Sprache in Ungarn (Dokument 3). 1987, 14.–16. Oktober Sitzung der gemeinsamen parlamentarischen Arbeitsgruppe für Wirtschaftsfragen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei in Bonn: Die von Rezső Nyers und Wolfgang Roth geleiteten Delegationen befassen sich mit den Möglichkeiten zur Wiederbelebung der Weltwirtschaft, mit der Intensivierung der Ost-West-Kooperation im Bereich von Forschung, Entwicklung und Technologie sowie – in diesem Zusammenhang – mit der Problematik des Austausches von Hochtechnologie bzw. mit den Exportrestriktionen aufgrund der sogenannten CoCom-Liste. 1987, 8. Dezember Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP): Das Parteigremium trifft vor dem Hintergrund wachsender innerparteilicher Kritik an der zögerlichen Politik von Parteichef János Kádár und seiner „alten Garde“ die Entscheidung, im Frühjahr 1988 eine außerordentliche Parteikonferenz einzuberufen. 1987, 9. Dezember Unterzeichnung eines westdeutsch-ungarischen kulturellen Kooperationsprogramms für die Jahre 1988 und 1989. 1987, 8.–10. Dezember Gipfeltreffen des US-Präsidenten Ronald Reagan und des sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow in Washington: Beide Seiten unterzeichnen die sogenannten INF-Verträge (Washingtoner Verträge) über nukleare Mittelstrecken-Waffensysteme, die die Vernichtung aller nuklearen Flugkörper mittlerer und kürzerer Reichweite und einen entsprechenden Produktionsstop vorsehen. Die Verträge treten am 1. Juni 1988 in Kraft.

1988 1988, 1. Januar Einführung eines weltweit gültigen Reisepasses für die ungarischen Staatsbürger bzw. Fortfall der bislang obligatorischen Ausreisegenehmigung für jede einzelne Reise gemäß einem Politbüro-Beschluss vom Mai 1987. 1988, 1. Januar Inkrafttreten des Gesetzes über die Rechtssetzung (Gesetz Nr. XI des Jahres 1988): Mit dem zwei Wochen zuvor vom ungarischen Parlament verabschiedeten Gesetz wird das Recht des Präsidialrats, das Parlament zu vertreten und Rechtsnormen zu setzen (Erlass von „Verordnungen mit Gesetzeskraft“, auch „Gesetzesdirektiven“ genannt), radikal beschnitten und damit die politisch-legislative Rolle des Parlaments wesentlich gestärkt. 1988, 6. Januar Unterzeichnung einer Erklärung des Kulturvereins Nikolaus Lenau, der Stadt Fellbach (Baden-Württemberg) und der südungarischen Stadt Pécs (Fünf-

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kirchen) über den Bau und die Nutzung des Lenau-Hauses in Pécs: Die Unterzeichner bekräftigen ihren Willen, das Lenau-Haus als geistig-kulturelles Zentrum und Begegnungsstätte von Ungarndeutschen, Ungarn und Deutschen zu fördern. Bezüglich der Finanzierung und Organisation übernimmt der „Förderkreis Lenau-Haus“ in der Bundesrepublik eine zentrale Rolle. Zwischen Pécs und Fellbach besteht bereits seit dem Besuch von Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Oktober 1986 eine offizielle Städtepartnerschaft. 1988, 11. Januar Bericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Staatssekretär Gyula Horn (Dokument 7): Im Mittelpunkt des Berichts stehen die Reaktionen von Vertretern der bundesdeutschen Politik und Wirtschaft auf das wirtschaftlich-gesellschaftliche Entfaltungsprogramm vom Sommer 1987. 1988, 11./12. Januar Budapest-Besuch von Hans-Otto Thierbach, Vorsitzender der ungarischen Sektion des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft: Thierbach führt Gespräche mit führenden ungarischen Wirtschaftspolitikern, darunter Ferenc Havasi, József Marjai, Tamás Beck, János Fekete und Miklós Németh. Dabei werden unter anderem die Chancen der Einführung eines neuen Verrechnungssystems innerhalb des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe sowie die Möglichkeit der Ausbildung ungarischer Wirtschaftsmanager in der Bundesrepublik erörtert. 1988, 2. Februar Gespräch zwischen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und Außenminister Péter Várkonyi in Genf: Bei der Unterredung werden die Fortschritte in den westdeutsch-ungarischen Beziehungen, unter anderem der Abschluss eines Abkommens über die Binnenschifffahrt, thematisiert. Genscher bekräftigt die bundesdeutsche Unterstützung der ungarischen Positionen bezüglich des Abbaus der Exportrestriktionen bei den Verhandlungen zwischen Ungarn und der Europä­ ischen Wirtschaftsgemeinschaft. 1988, 2./3. Februar Besuch einer Delegation des Auswärtigen Amts in Ungarn: Bei den Verhandlungen in der Konsularabteilung des Außenministeriums wird eine Vereinbarung über die Visafreiheit von Personen mit Diplomatenpass zum 1. März 1988 getroffen. Personen mit Dienstpässen erhalten ein für ein Jahr gültiges Visum. 1988, 4. Februar Gespräch zwischen György Aczél, Leiter des ZK-Instituts für Gesellschaftswissenschaft und langjähriger Vertrauter von Parteichef János Kádár, und dem geschäftsführenden Direktor der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung Lothar Kraft in Budapest: Beide Seiten kommen zu einem allgemeinen Meinungsaustausch zusammen, plädieren für eine langfristige, breite und vertrauensfördernde intellektuell-wissenschaftliche Kooperation und vereinbaren einen Briefwechsel zur Entwicklung der konkreten Kontakte. 1988, 9. Februar Brief von Ministerpräsident Károly Grósz an Bundeskanzler Helmut Kohl: Grósz berichtet Kohl über die stockenden Verhandlungen zwischen Ungarn und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in der Angelegenheit des Handels- und



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Wirtschaftsabkommens und ersucht den Bundeskanzler um Unterstützung der ungarischen Standpunkte. 1988, 15.–17. Februar Erstmalige Sitzung des Ständigen Unterausschusses zur Klärung von Fragen bezüglich der Regierungserklärung vom 7. Oktober 1987 über die Unterstützung der Ungarndeutschen und der deutschen Sprache: Der im Rahmen des Gemeinsamen Ausschusses für Kulturfragen tätige Unterausschuss bezweckt, praktische Fragen der finanziellen Unterstützung der Bundesrepublik für kulturelle Investitionen zu klären. Auf der Sitzung des Unterausschusses wird ein gemeinsames Protokoll, in dem die Bundesrepublik für das Jahr 1988 eine Unterstützung von 2 Millionen DM in Aussicht stellt, angenommen. 1988, 23.–27. Februar Besuch von Miklós Németh, ZK-Sekretär für Wirtschaftsfragen, in der Bundesrepublik (Dokument 8): Németh führt Gespräche mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (CSU) und dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth (CDU) sowie mit Bundeskanzler Helmut Kohl und führenden Vertretern von Wirtschaft und Finanzwelt. Während des Meinungsaustauschs mit den westdeutschen Politikern stehen die Ziele und Fortschritte des Entfaltungsprogramms der ungarischen Regierung sowie das sich wandelnde Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion im Mittelpunkt. Bei den Gesprächen mit Wirtschaftsvertretern geht es um die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten Ungarns infolge des geplanten Abkommens mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, um neue Investitionsmöglichkeiten westdeutscher (vor allem bayerischer und baden-württembergischer) Unternehmen auf der Grundlage des geplanten Gesetzes über die Wirtschaftsgesellschaften sowie um die Ausbildung ungarischer Manager in der Bundesrepublik. 1988, 29. Februar–10. März Besuch des Generalsekretärs des Demokratischen Verbandes der Ungarndeutschen (MNDSZ) Géza Hambuch in der Bundesrepublik: Hambuch, der sich auf Einladung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in der Bundesrepublik aufhält, berichtet seinen Gastgebern über die Geschichte, die aktuelle Lage sowie die Perspektiven der Ungarndeutschen und spricht in diesem Zusammenhang auch das Grundproblem der fortgeschrittenen Assimilierung der Ungarndeutschen an. Seitens der Gastgeber wird der Wille zur politischen und materiellen Unterstützung der Ungarndeutschen unterstrichen. 1988, 1. März Inkrafttreten der Visaerleichterungen für Inhaber von Diplomaten- und Dienstpässen zwischen Ungarn und der Bundesrepublik. 1988, 1. März Politischer Halbjahresbericht der bundesdeutschen Botschaft in Budapest (Dokument 9): Der Bericht befasst sich vor allem mit den innenpolitischen Entwicklungen und Spannungen seit der Regierungsübernahme durch Károly Grósz, mit der besonders aktiven Außenpolitik Ungarns gegenüber dem Westen und mit den Spannungen im ungarisch-rumänischen Verhältnis. Darüber hinaus kommen die

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Probleme und ersten Ergebnisse der neuen ungarischen Wirtschaftspolitik und die grundlegenden Veränderungen in den bilateralen Kulturbeziehungen zur Sprache. 1988, 10. März Feierliche Eröffnung des bundesdeutschen Kultur- und Informationszentrums (später Goethe-Institut genannt) in Budapest im Rahmen der vom 9. bis 17. März stattfindenden Kulturwoche der Bundesrepublik in Anwesenheit von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. 1988, 11. März Unterzeichnung der Gründungsurkunde der vom Landesrat der Pa­triotischen Volksfront sowie vom ungarischen Unterrichts- und Innenministerium ins Leben gerufenen „Stiftung Ungarndeutsche“ in Budapest in Anwesenheit des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth. 1988, 17. März Antwortschreiben von Bundeskanzler Helmut Kohl auf den Brief von Ministerpräsident Károly Grósz vom 9. Februar 1988: Kohl sichert Grósz die weiterhin aktive Unterstützung Bonns in der Frage eines Abkommens mit der Europäischen Gemeinschaft zu und signalisiert, dass auch die bislang zögerlichen EG-Mitgliedsstaaten dem schrittweisen Abbau der Mengenbeschränkungen für Ungarn im Falle von Kompromissen in den noch offenen Fragen zustimmen könnten. 1988, 24. März Informationsbericht des Auswärtigen Amts in Bonn über den Stand der politischen Reformen in Ungarn (Dokument 10): Der Bericht legt die politischideologischen Rahmenbedingungen des Veränderungsprozesses dar und fasst den Stand der politischen Reformen, die in Ungarn in den vergangenen Jahrzehnten implementiert wurden und die im Laufe der 1980er Jahren eine sichtliche Beschleunigung erfuhren, zusammen. 1988, 30. März Gründung des Bundes Junger Demokraten (FIDESZ) als alternative Jugendbewegung zum Kommunistischen Jugendverband. 1988, 25. April Publikation eines Interviews des Wochenmagazins „Der Spiegel“ mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Károly Grósz: Der Regierungschef spricht sich für Reformen im Rahmen des Sozialismus aus, wobei auch die führende Rolle der Partei überdacht werden müsse. Ein Mehrparteiensystem in Ungarn bezeichnet Grósz als „theoretisch“ möglich, in der politischen Praxis aber als „nicht aktuell“. 1988, 4. Mai Unterzeichnung eines Abkommens zur Regelung der Sportbeziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn: Die für fünf Jahre abgeschlossene Vereinbarung formuliert die wichtigsten Ziele der Kooperation beider Staaten sowohl auf dem Gebiet des Wettkampf- als auch des Breitensports. 1988, 4.–7. Mai Studienreise einer Delegation des ungarischen Instituts für Kulturbeziehungen nach Bonn und München auf Einladung der CSU-nahen Hanns-SeidelStiftung: Im Mittelpunkt der Gespräche, die dem gegenseitigen Kennenlernen dienen, stehen – neben weltpolitischen Themen – die Möglichkeiten, die Beziehungen beider Länder weiterzuentwickeln.



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1988, 20.–22. Mai Landeskonferenz der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei: Während der MSZMP-Konferenz kommt es zur erwarteten Ablösung von Generalsekretär János Kádár durch Ministerpräsident und Politbüro-Mitglied Károly Grósz sowie zu einer radikalen Neubesetzung des Politbüros. Außerdem verabschiedet die Konferenz im Zeichen des „sozialistischen Pluralismus“ ein politisches Reformprogramm (Dokument 11) und bestätigt unter der Bezeichnung „sozialistische Marktwirtschaft“ die grundlegenden Ziele des Entfaltungsprogramms vom 2. Juli 1987. 1988, 24.–26. Mai Sitzung der gemeinsamen Abgeordnetengruppe der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) in Budapest: Auf der von Rezső Nyers, jüngst ins Politbüro zurückgekehrter „Vater der Wirtschaftsreformen von 1968“, und Wolfgang Roth, Mitglied des SPD-Präsidiums und stellvertretender Fraktionsvorsitzender, geleiteten Sitzung werden Fragen der internationalen Finanzkrise, die Wirtschaftsreformen in den sozialistischen Staaten sowie die Situation der MSZMP nach ihrer Landeskonferenz erörtert. Die SPD-Abgeordneten unterstreichen die Signalwirkung des ungarischen Veränderungsprozesses und der Entscheidungen der Landeskonferenz für andere sozialistische Staaten. 1988, 27. Mai Demonstration gegen das Donaukraftwerk bei Gabčikovo-Nagymaros in Budapest. 1988, 8. Juni Gespräch zwischen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und Außenminister Péter Várkonyi während der Wiener Abrüstungsverhandlungen: Várkonyi informiert Genscher über die geplanten innen-, wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen in Ungarn nach der Ablösung János Kádárs. 1988, 13. Juni Politische Entscheidung des Ministerrats der Europäischen Gemeinschaft über den Abschluss eines Handels- und Kooperationsabkommens mit Ungarn. 1988, 16. Juni Demonstration von ungarischen Oppositionellen in Budapest zum 30. Todestag von Imre Nagy, Polizeieinsatz gegen die Demonstranten und vorübergehende Verhaftung mehrerer führender „Andersdenkender“. 1988, Mitte Juni Erneuter Besuch von ZK-Sekretär Miklós Németh in der Bundesrepublik: Der im Mai 1988 ins Politbüro aufgestiegene Németh informiert Bundeskanzler Helmut Kohl sowie führende Vertreter der westdeutschen Wirtschafts- und Finanzwelt über den Beschluss radikaler Reformen im Zeichen des sozialistischen Pluralismus und über die Fortsetzung der Wende in der Wirtschaftspolitik. 1988, 25. Juni Gemeinsame Erklärung der Europäischen Gemeinschaft und des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe über die Aufnahme offizieller Beziehungen. 1988, 27. Juni Oppositionelle Massenprotestkundgebung mit rund 30.000 Teilnehmern auf dem Budapester Heldenplatz: Die maßgeblich vom Ungarischen Demokratischen Forum (MDF) organisierte Demonstration richtet sich gegen die rumänische

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Minderheitenpolitik und gegen das „Dorfzerstörungsprogramm“ des CeauşescuRegimes. Die ungarischen Sicherheitsorgane greifen nicht in die Veranstaltung ein. 1988, 27. Juni Jahresbericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Außenminister Péter Várkonyi (Dokument 12): Der Bericht befasst sich vor allem mit dem jüngsten „Durchbruch“ bei den Kulturbeziehungen, in der Frage der ungarndeutschen Minderheit und bei der wissenschaftlich-technologischen Zusammenarbeit. Außerdem hebt er die Bedeutung des Besuchs von Regierungschef Grósz in der Bundesrepublik für die bilateralen Kontakte hervor und unterbreitet Vorschläge zur Weiterentwicklung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen. 1988, 4.–7. Juli Besuch des ungarischen Innenministers István Horváth in der Bundesrepublik: Horváth, der als erster Innenminister der Volksrepublik Ungarn die Bundesrepublik besucht, führt Gespräche mit seinem Amtskollegen Friedrich Zimmermann (CSU), mit Bundesstaatsanwalt Kurt Rebmann und mit dem bayerischen Innenminister August Lang (CSU). Im Mittelpunkt der Unterredungen stehen Fragen der inneren Sicherheit (Terrorismus) und des Ausbaus der diesbezüglichen Kooperation. Die bundesdeutsche Seite informiert die ungarische Delegation über die Struktur und Tätigkeit der Organe der inneren Sicherheit und des Grenzschutzes. 1988, 5.–6. Juli Moskaureise von Generalsekretär Károly Grósz: Bei den Verhandlungen mit Michail Gorbatschow legt Grósz die politischen Vorhaben der neuen ungarischen Führung dar. Gorbatschow unterstützt die radikalen politischen Reformvorhaben im Zeichen des sozialistischen Pluralismus und der sozialistischen Marktwirtschaft. 1988, 6. Juli Bericht der bundesdeutschen Botschaft in Budapest über Ereignisse während der Budapester Demonstrationen vom 16. und 27. Juni 1988 (Dokument 13). 1988, 6.–8. Juli Konsultationen von Vertretern der Bundesrepublik und Ungarns im Budapester Außenministerium: Bei den Gesprächen der Diplomaten bringt die ungarische Seite ihren Dank für die Bonner Unterstützung beim – bevorstehenden – Abschluss des Abkommens zwischen Ungarn und der Europäischen Gemeinschaft zum Ausdruck. Außerdem werden zukünftige Besuchsvorhaben wie die UngarnVisite von Bundeskanzler Helmut Kohl im nächsten Jahr und die Weiterentwicklung der Vertragsbeziehungen, darunter der Abschluss eines Umweltschutzabkommens, thematisiert. 1988, 31. Juli Politischer Halbjahresbericht der bundesdeutschen Botschaft in Budapest (Dokument 14): Im Mittelpunkt des Berichts stehen die auf der MSZMP-Landeskonferenz herbeigeführten politischen und personellen Veränderungen, die Prioritäten der ungarischen Außenpolitik sowie die Wirtschaftspolitik der Grósz-Regierung und die – teils problematischen – Entwicklungen in der ungarischen Wirtschaft. Ein weiteres Hauptthema bildet die Eröffnung des bundesdeutschen Kulturzentrums in Budapest.



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1988, 8. August Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Volksrepublik Ungarn und der Europäischen Gemeinschaft. 1988, 23./24. August Illegaler 20-stündiger Streik der Belegschaft des Kohlebergwerks im Mecsek-Gebirge im südungarischen Komitat Baranya. 1988, 25. August Treffen zwischen György Aczél, Leiter des ZK-Instituts für Gesellschaftswissenschaft und langjähriger Vertrauter von Ex-Parteichef János Kádár, und Gottfried Wüst, Geschäftsführer Ausland der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung: Zweck des Besuches von Wüst ist die Suche nach einem Kooperationspartner für seine Stiftung und nach Themen einer möglichen Zusammenarbeit. 1988, 28.–31. August Besuch des ehemaligen Bundeswirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff (FDP) auf Einladung des stellvertretenden Ministerpräsidenten József Marjai in Ungarn: Bei den Gesprächen steht die Situation der ungarischen und deutschen Minderheit in Rumänien im Mittelpunkt, wobei sich Lambsdorff für eine Politik des Drucks und gleichzeitigen Dialogs gegenüber Rumänien ausspricht. 1988, 3. September Umwandlung des Ungarischen Demokratischen Forums (MDF) von einem Diskussionsforum in eine politische Organisation mit national-konservativen Zielsetzungen. 1988, 18. September Massendemonstration in Budapest gegen das Donau-Staustufenprojekt bei Gabčikovo-Nagymaros. 1988, 19.–22. September Ungarn-Besuch von Axel Zarges (CDU), Abgeordneter der Bundesrepublik Deutschland im Europäischen Parlament: Zarges führt Gespräche mit dem ZK-Sekretär für Wirtschaftspolitik Miklós Németh über das Verhältnis zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Ungarn. 1988, 22. September Brief des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an ZK-Sekretär Miklós Németh (Dokument 15): Horváth informiert Németh über die Beurteilung der Wirtschaftsbeziehungen durch das Bundeskanzleramt. 1988, 26. September Unterzeichnung des „Abkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Ungarischen Volksrepublik über den Handel und die handelspolitische und wirtschaftliche Zusammenarbeit“. 1988, 28. September–1. Oktober Ungarnbesuch von Bundestagspräsident Philipp Jenninger (CDU): Bei den Gesprächen Jenningers mit seinem Amtskollegen István Stadinger stehen Fragen der Organisation und Funktion der beiden Parlamente im Mittelpunkt. 1988, 5.–7. Oktober Sitzung des ungarischen Parlaments: Das Gremium spricht sich für den Weiterbau des Donau-Kraftwerks bei Gabčikovo-Nagymaros aus und verabschiedet das Gesetz über die Wirtschaftsgesellschaften.

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1988, 10. Oktober Verkündung des Gesetzes über die Wirtschaftsgesellschaften (Gesetz Nr. VI des Jahres 1988) (Dokument 16): Das Gesetz, das sich an der deutschen Wirtschaftsgesetzgebung orientiert und am 5. Oktober 1988 vom ungarischen Parlament angenommen wird, ermöglicht ab dem 1. Januar 1989 die Gründung von modernen kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaften. 1988, 16.–20. Oktober Besuch von FDP-Fraktionschef Wolfgang Mischnick mit einer Delegation der Freien Demokratischen Partei in Ungarn: Die Delegation triff sich mit hochrangigen ungarischen Politikern, darunter Politbüro-Mitglied Imre Pozsgay und Außenminister Péter Várkonyi, und wird von Partei(ehren)präsident János Kádár und von Generalsekretär Károly Grósz empfangen. Mischnick spricht den Wunsch aus, die Beziehungen seiner Partei zu Ungarn auszubauen, ein Büro der FDP-nahen FriedrichNaumann-Stiftung in Budapest zu eröffnen und in Kontakt zu neuentstehenden politischen Bewegungen, die der FDP ideell nahestehen, zu treten. 1988, 29. Oktober–1. November Budapest-Visite von Heinz Riesenhuber (CDU), Bundesminister für Forschung und Technologie: Riesenhuber verhandelt mit Vertretern des ungarischen Landesausschusses für Forschung und Technologie über Möglichkeiten der Zusammenarbeit in den Bereichen Forschung und Technologie auf der Grundlage des Abkommens vom 7. Oktober 1987. 1988, 13. November Gründung des liberal-urbanen Bundes Freier Demokraten (SZDSZ). 1988, 14.–16. November Baden-Württembergische Technologietage in Budapest unter Anwesenheit des baden-württembergischen Ministers für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie Martin Herzog (CDU). 1988, 14.–17. November Teilnahme von Staatssekretär Gyula Horn an der NATO-Vollversammlung in Hamburg: In seiner Rede kritisiert Horn das lange Festhalten des Warschauer Pakts an der konventionellen Aufrüstung, bezeichnet die Präsenz sowjetischer Truppen in Ungarn als Anachronismus und thematisiert die Problematik der ungarischen Minderheiten in Rumänien. Darüber hinaus spricht er sich für die Aufnahme von Kontakten zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO aus und unterbreitet diesbezüglich konkrete Vorschläge. 1988, 18. November Reaktivierung der historischen Unabhängigen Kleinlandwirtepartei (FKGP). 1988, 24. November Wahl von Miklós Németh zum Vorsitzenden des Ministerrats (Ministerpräsident) der Volksrepublik Ungarn: Németh, bislang ZK-Sekretär für Wirtschaftspolitik, löst Károly Grósz als Regierungschef ab. Grósz bleibt Generalsek­retär, Németh behält seinen Sitz im Politbüro. 1988, 24. November Politische Grundsatzrede von Staatsminister und PolitbüroMitglied Imre Pozsgay vor dem ungarischen Parlament über die geplanten Verände-



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rungen im politischen System (Dokument 17): Pozsgay legt bei dieser Gelegenheit den Abgeordneten eine Reihe von politischen Vorhaben dar, die teils die Konzeption des sozialistischen Pluralismus konkretisieren, teils deutlich darüber hinausgehen. 1988, 29. November Rede von Generalsekretär Károly Grósz in der Budapester Sporthalle: In seiner Rede warnt Grósz vor „konterrevolutionären Kräften“, die eine „bürgerliche Restauration“ sowie die Zerstörung des Sozialismus und der östlichen Bündnisordnung anstreben würden. Im „Klassenkampf“ gegen die „feindlichen konterrevolutionären Kräfte“ müsse diesen entschieden entgegengetreten werden, da sonst ein „weißer Terror“ drohe. 1988, 3.–6. Dezember Besuch von Staatsminister und Politbüro-Mitglied Imre Pozsgay in der Bundesrepublik Deutschland: Im Zuge seines Aufenthalts spricht sich Pozsgay vor der Evangelischen Akademie Arnoldshain für eine Überwindung der Spaltung Europas aus und führt Gespräche mit Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher sowie mit den FDP-Spitzenpolitikern Otto Graf Lambsdorff und Wolfgang Mischnick über Fragen der europäischen Integration und der politischen Veränderungen in Ungarn. 1988, 11./12. Dezember Besuch von Klaus Töpfer (CDU), Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Während der Visite wird das in den vorangegangenen Monaten von Experten ausgearbeitete Abkommen über Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn unterzeichnet. 1988, 14./15. Dezember Budapest-Besuch von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher: Genscher kommt zu Gesprächen mit MSZMP-Generalsekretär Károly Grósz, mit dem neu gewählten Ministerpräsidenten Miklós Németh und mit ZK-Sekretär Mátyás Szűrös zusammen. Während die ungarische Seite ihre innen-, außen- und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen erläutert, versichert Genscher Ungarn die entschiedene Unterstützung der Bundesrepublik für die politischen und wirtschaftlichen Wandlungsprozesse in Ungarn. Während der Verhandlungen wird eine Vereinbarung über die wechselseitige Eröffnung von Konsulaten in Pécs (Fünfkirchen) und München getroffen. Beide Seiten sprechen sich für eine Thematisierung der rumänischen Minderheitenpolitik auf internationalen Foren aus. Darüber hinaus unterzeichnen sie eine Vereinbarung über regelmäßige Konsultationen der beiden Außenministerien. 1988, 20.–22. Dezember Sitzung des ungarischen Parlaments: Die Abgeordneten nehmen unter anderem das Gesetz über Investitionen von Ausländern in Ungarn (Gesetz Nr. XXIV des Jahres 1988) (Dokument 18) an.

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1989 1989, 1. Januar Einführung der Arbeitslosenhilfe in Ungarn. 1989, 10./11. Januar Sitzung des ungarischen Parlaments: Die Abgeordneten stimmen den Gesetzen über das Vereinigungsrecht (Gesetz Nr. II des Jahres 1989) und über das Versammlungsrecht (Gesetz Nr. III des Jahres 1989) (Dokumente 19 und 20) zu. Die beiden Rechtsnormen, die am 24. Januar 1989 verkündet werden und in Kraft treten, ermöglichen die Gründung von Vereinigungen und die Abhaltung von Versammlungen gemäß westlichen Demokratien entsprechenden Regelungen. 1989, 28. Januar Radio-Interview mit Politbüro-Mitglied und Staatsminister Imre Pozsgay (Dokument 21): Pozsgay bezeichnet die Ereignisse vom Herbst 1956 unter Berufung auf die Untersuchungsergebnisse des vom Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei eingesetzten „Historischen Unterausschusses“ – anstelle von „Konterrevolution“ – als „Volksaufstand“. Die Neuinterpretation erregt im In- und Ausland großes Aufsehen und löst innerhalb der Partei heftige Debatten aus. 1989, 29. Januar–1. Februar Besuch der im Vorjahr gegründeten deutsch-ungarischen Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestags unter Leitung von Otto Schily (SPD) in Ungarn: Die sechs Abgeordneten verschaffen sich ein Bild über die Situation der aus Rumänien nach Ungarn geflüchteten Personen. 1989, 31. Januar Politischer Halbjahresbericht der bundesdeutschen Botschaft in Budapest (Dokument 22): Der Bericht befasst sich vor allem mit dem offensichtlichen Scheitern der Konzeption des sozialistischen Pluralismus bzw. mit den dynamischen innenpolitischen Entwicklungen in Ungarn. Darüber hinaus thematisiert er die – sehr positiv bewerteten – außenpolitischen Aktivitäten der Budapester Führung, erörtert die geringen Fortschritte bei der Umstrukturierung der ungarischen Wirtschaft und verweist auf die Beendigung der bisherigen „autoritären Kulturpolitik“ Ungarns. 1989, Februar Ablösung von Hans Alfred Steger durch Alexander Arnot als Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Budapest. 1989, 5.–9. Februar Verhandlungen des ungarischen Handelsministers Tamás Beck und einer ungarischen Wirtschaftsdelegation in der Bundesrepublik: Beck und seine Delegation treffen sich mit Vertretern der westdeutschen Wirtschaft und Politik, darunter der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen Hans Albrecht (CDU) und Siegfried Mann, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Bei den Gesprächen legt Beck die ungarische Wirtschaftspolitik dar und wirbt für eine vollständige oder teilweise Übernahme von 50 ungarischen Staatsunternehmen, die in Aktiengesellschaften umgewandelt werden sollen, durch westdeutsche Unternehmen. Deutscherseits wird davor gewarnt, dass der politische Wandel die Auf-



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merksamkeit von den Wirtschaftsprozessen ablenken könne, und die noch unklare Regelung der Eigentumsverhältnisse in Ungarn beanstandet. 1989, 10./11. Februar Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) (Dokument 23): Das ZK spricht sich für die schrittweise Akzeptanz eines Mehrparteiensystems aus und bezeichnet die Ereignisse des Jahres 1956 als „Volksaufstand“, bei dem es auch zu „konterrevolutionären Handlungen“ gekommen sei. Außerdem wird die Aufnahme von Gesprächen mit den Oppositionsbewegungen beschlossen. 1989, 15./16. Februar Budapest-Besuch des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth (CDU): Späth führt Verhandlungen mit Vertretern der ungarischen Wirtschaft, wobei es in erster Linie um Möglichkeiten für Investitionen badenwürttembergischer Unternehmen in Ungarn geht. 1989, 15.–18. Februar Ungarnbesuch von Jürgen Möllemann (FDP), Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Im Mittelpunkt des Besuchs von Möllemann bei seinem Amtskollegen Tibor Czibere steht die Erörterung des Standes und der Per­ spektiven der Kooperation in den Bereichen Unterricht und Hochschulwesen. 1989, 20. Februar Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Gyula Horn, Staatssekretär im Außenministerium (Dokument 24): Horváth berichtet Horn über die Reaktionen der bundesdeutschen Politik auf die Ergebnisse der ZKSitzung vom 10./11. Februar 1989, also auf die Entscheidungen zugunsten des Mehrparteiensystems und der Neuinterpretation von 1956. 1989, 23. Februar Veröffentlichung der vom Zentralkomitee angenommenen Prinzipien für eine neue Verfassung (Dokument 25): Die Prinzipien verwerfen eindeutig die Grundsätze der bisherigen „realsozialistischen“ Verfassung und sehen eine konstitutionelle Ordnung für Ungarn vor, die auf den Grundgedanken des politischen Pluralismus, des Parlamentarismus und der Marktwirtschaft beruhen soll. 1989, 28. Februar Sitzung des Politbüros der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP): Das Politbüro entscheidet, den „Eisernen Vorhang” an der Grenze zu Österreich abbauen zu lassen, und unterstreicht damit auch symbolisch die Westöffnungspolitik Ungarns. 1989, 2./3. März Arbeitsbesuch von Ministerpräsident Miklós Németh in Moskau: Bei den Gesprächen von Németh mit Generalsekretär Michail Gorbatschow und Ministerpräsident Nikolai Ryschkow werden die politischen und wirtschaftlichen Veränderungsprozesse in der Sowjetunion und in Ungarn erörtert. Die sowjetische Seite betont einerseits, Pluralismus und Demokratie im Rahmen des Einparteiensystems verwirklichen zu wollen, bringt andererseits aber keine Vorbehalte bezüglich der ungarischen Entscheidung, ein Mehrparteiensystem zu akzeptieren, zum Ausdruck.

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1989, 4. März Kurzmeldung im Parteiorgan „Népszabadság“ (Volksfreiheit) über den geplanten Abbau des „Eisernen Vorhangs“ an der Grenze zu Österreich. 1989, 14. März Beitritt Ungarns zur Genfer Flüchtlingskonvention: Ungarn deponiert seine Beitrittsurkunde zur Flüchtlingskonvention bei den Vereinten Nationen in New York. 1989, 15. März Genehmigte Feiern der ungarischen Oppositionsbewegungen zum Jahrestag der Revolution von 1848 parallel zu den offiziellen Veranstaltungen. 1989, 19.–23. März Ungarn-Besuch von Peter Glotz, Mitglied des SPD-Vorstands und Herausgeber der Zeitschrift „Die Neue Gesellschaft“: Glotz trifft sich mit dem ZKSekretär für Agitation und Propaganda János Berecz, führt einen Meinungsaustausch mit den Herausgebern der Zeitschrift „Társadalmi Szemle“ (Gesellschaftliche Rundschau) und informiert sich über die Rolle der alternativen politischen Bewegungen. Glotz erklärt, die SPD wolle mit politischen Kräften, die ihr nahestehen, in Kontakt treten und diesen organisatorische Hilfe leisten, ohne dabei das Verhältnis zur Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) zu beeinträchtigen. 1989, 22. März Bildung des „Oppositionellen Runden Tischs“: Die ungarischen Oppositionskräfte schließen sich auf Initiative des Unabhängigen Juristenforums erstmals politisch-organisatorisch zusammen und stimmen ihr Auftreten gegenüber der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) ab. 1989, 22. März Verabschiedung des Streikgesetzes (Gesetz. Nr. VII des Jahres 1989) im ungarischen Parlament (Dokument 26): Das Gesetz, das am 12. April 1989 verkündet wird, sieht erstmals seit der kommunistischen Machtübernahme 1948/49 wieder ein Streikrecht vor. 1989, 29. März Bericht der bundesdeutschen Botschaft in Budapest über die Verabschiedung des Streikgesetzes durch das ungarische Parlament am 22. März 1989 (Dokument 27): Der Bericht befasst sich mit den wesentlichen Inhalten des Gesetzes und schreibt dem Streikrecht eine gesellschaftliche „Ventilfunktion“ zu. 1989, 19. April Bericht der bundesdeutschen Botschaft in Budapest über Veränderungen im ungarischen Gewerkschaftswesen (Dokument 28): Der Bericht befasst sich mit den Reformbestrebungen innerhalb der offiziellen Gewerkschaftsbewegung sowie mit den Zielen und Perspektiven der neuen, unabhängigen Gewerkschaften. 1989, 20. April Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident Miklós Németh (Dokument 29): Der Brief, der sich mit den westdeutschen Reaktionen auf die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in Ungarn befasst, weist auf das große bundesdeutsche Interesse an der politischen und wirtschaftlichen Wende in Ungarn hin, führt eine Reihe westdeutscher Vorschläge zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise und zum Übergang zur Marktwirtschaft auf und



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thematisiert gleichzeitig westdeutscherseits wahrgenommene Widersprüche in der ungarischen Wirtschaftspolitik. 1989, Mai Bericht der bundesdeutschen Botschaft in Budapest bzw. des Auswärtigen Amts in Bonn über den Stand der politischen Veränderungen in Ungarn (Dokument 30): Der Bericht legt die innenpolitischen Entwicklungen in Ungarn detailliert dar und kommt zu dem Schluss, dass sich Ungarn trotz zahlreicher Unklarheiten und Widersprüche „eindeutig auf Reformkurs“ befinde. 1989, 2. Mai Offizielle Bekanntgabe des Vorhabens, den „Eisernen Vorhang“ an der ungarisch-österreichischen Grenze abzubauen, auf einer internationalen Pressekonferenz. 1989, 5./6. Mai Besuch des bayerischen Ministerpräsidenten Max Streibl (CSU) in Ungarn: Streibl führt Gespräche mit Ministerpräsident Miklós Németh und Handelsminister Tamás Beck über die Weiterentwicklung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen und nimmt an der Eröffnung einer Ausstellung des Freistaats Bayern in Budapest teil. 1989, 7.–10. Mai Ungarn-Besuch des Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein und Bundesratspräsidenten Björn Engholm (SPD): Engholm und die ihn begleitenden Delegationsmitglieder führen Unterredungen mit Staatsminister und PolitbüroMitglied Imre Pozsgay, Handelsminister Tamás Beck, Parlamentspräsident Mátyás Szűrös und Ministerpräsident Miklós Németh. Während die ungarische Seite vor allem die vollzogenen und geplanten Veränderungen im politischen System Ungarns erläutert, bringt der Bundesratspräsident Sympathie und Hilfsbereitschaft für Ungarn zum Ausdruck. Engholm bietet zudem wirtschaftliche Unterstützung durch die norddeutschen Bundesländer und eine Intensivierung der Kooperation an. 1989, 8. Mai Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP): Das Zentralkomitee trifft eine Reihe von Entscheidungen zur Demokratisierung der politischen Ordnung in Ungarn, darunter der Verzicht auf die weitere Ausübung der Kaderkompetenzen und die innerparteiliche Demokratisierung. Außerdem stimmt es dem Beginn von Verhandlungen mit der Opposition und der Umbildung der Regierung zu, ohne auf die personellen Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Die offizielle Mitteilung über die ZK-Sitzung wird am 10. Mai im Parteiorgan „Népszabadság“ (Volksfreiheit) veröffentlicht (Dokument 31). 1989, 8. Mai Suspendierung des schwerkranken János Kádár vom Posten des (Ehren-) Vorsitzenden der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP). 1989, 10. Mai Rede von Ministerpräsident Miklós Németh im ungarischen Parlament aus Anlass seiner Kabinettsumbildung (Dokument 32): Németh begründet die personellen Veränderungen und skizziert seine politischen Vorhaben. Neuer Außenminis-

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ter wird Gyula Horn, Ferenc Glatz wird Kultusminister und László Békesi Finanzminister. 1989, 10. Mai Annahme des Gesetzes über den Misstrauensantrag und die Misstrauensabstimmung (Gesetz Nr. VIII des Jahres 1989) im ungarischen Parlament: Die Abgeordneten erhalten – im Sinne einer parlamentarischen Demokratie – das Recht, einen Misstrauensantrag gegen den Ministerpräsidenten bzw. die gesamte Regierung oder gegen einzelne Minister zu stellen. 1989, 13. Mai Verfügung eines sofortigen Baustopps für das Donau-Staudammprojekt bei Nagymaros durch die ungarische Regierung. 1989, 14./15. Mai Eröffnung des Lenau-Hauses als ungarndeutsches Kulturzentrum in Pécs (Fünfkirchen). 1989, 17. Mai Ungarn-Besuch des bayerischen Ministers für Wirtschaft und Verkehr August Lang (CSU) im Rahmen der Budapester Internationalen Ausstellung: Beim Meinungsaustausch zwischen Lang und Handelsminister Tamás Beck stehen die Frage der Veränderung der ungarischen Produktionsstrukturen durch Einbeziehung von Auslandskapital, die Ausbildung ungarischer Manager in Bayern sowie konkrete Vorschläge für die Kooperation von bayerischen und ungarischen Unternehmen im Mittelpunkt. Lang wirft die Idee der Produktion von BMW-Motorrädern in Ungarn auf. 1989, 20./21. Mai Landeskonferenz der sogenannten Reformzirkel innerhalb der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP). 1989, 25.–27. Mai Besuch von Imre Pozsgay, Mitglied des Politbüros und Staatsminister, in Westberlin: Pozsgay hält an der Europäischen Akademie Berlin einen Vortrag zum Thema „Die Perspektiven des Gemeinsamen Europäischen Hauses aus ungarischer Sicht“ und führt Gespräche mit dem regierenden Berliner Oberbürgermeister Walter Momper (SPD) sowie mit dessen Amtsvorgänger Eberhard Diepgen (CDU) über die Westberlin-Problematik und ihre mögliche Lösung in gesamteuropäischem Rahmen. 1989, 29. Mai Länderaufzeichnung Ungarn der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt in Bonn (Dokument 33): Das für die Ungarn-Visite von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher am 9. Juni 1989 verfasste Dokument legt die jüngsten Entwicklungen in der ungarischen Innen-, Außen- und Sicherheitspolitik sowie in der Wirtschafts- und Kulturpolitik dar und verweist auf eine Reihe von Fortschritten im Demokratisierungsprozess. Außerdem behandelt es den Stand der westdeutsch-ungarischen Beziehungen in Politik, Wirtschaft und Kultur. 1989, 30. Mai–2. Juni Sitzung des ungarischen Parlaments: Das Gremium nimmt das Gesetz über die Volksabstimmung und Volksinitiative (Gesetz Nr. XVII des Jahres 1989) an und ermöglicht damit – erstmals in einem Land des „Ostblock“ – die Ausübung direkter Demokratie. Außerdem verabschiedet es das sogenannte Umwand-



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lungsgesetz (Gesetz Nr. XIII des Jahres 1989) (Dokument 34), das am 1. Juli 1989 in Kraft tritt und die Änderung der Rechtsformen von Unternehmen, die Umwandlung von Staatsunternehmen und Genossenschaften in Kapitalgesellschaften sowie die Fusion und Aufteilung von Wirtschaftsgesellschaften regelt. Das Gesetz dient auch der Einbeziehung von in- und ausländischem Kapital in den ungarischen Wirtschaftskreislauf. 1989, 4. Juni Überwältigender Wahlsieg der Gewerkschaftsbewegung „Solidarität“ (Solidarność) bei den Parlamentswahlen in Polen. 1989, 5. Juni Aktennotiz des Auswärtigen Amts in Bonn über den Sachstand bezüglich des Staudammprojekts von Nagymaros (Dokument 35): Das Auswärtige Amt geht von der endgültigen Einstellung des Großprojekts durch die Németh-Regierung aus. 1989, 9. Juni Eröffnung eines Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung in Budapest: Bei der Einweihung des Büros der FDP-nahen Stiftung, die sich als erste der bundesdeutschen Stiftungen in Ungarn niederlässt, halten Bundesaußenminister HansDietrich Genscher sowie der Stiftungsvorsitzende und FDP-Parlamentarier Wolfgang Mischnick Reden. Während Genscher eine außenpolitische Grundsatzrede zum Thema „Europa auf dem Wege zu einer dauerhaften Friedensordnung“ hält, lobt Mischnick die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in Ungarn und stellt die Bereitschaft der deutschen Liberalen heraus, die Wandlungsprozesse aktiv, durch gemeinsame Programme, zu unterstützen. Genscher führt bei dieser Gelegenheit auch Gespräche mit Außenminister Gyula Horn und Staatsminister Imre Pozsgay und wird von Ministerpräsident Miklós Németh und Generalsekretär Károly Grósz empfangen. 1989, 9. Juni Unterzeichnung der Vereinbarung über die Errichtung eines ungarischen Kultur- und Informationszentrums in der Bundesrepublik (Dokument 36): Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und sein Amtskollegen Gyula Horn schaffen – auf der Basis des Regierungsabkommens vom 7. Oktober 1987 – die rechtliche Grundlage für die Einrichtung eines ungarischen Kulturinstituts in Stuttgart. 1989, 12. Juni Inkrafttreten des Beitritts Ungarns zur Genfer Flüchtlingskonvention. 1989, 13. Juni Beginn der Ausgleichsgespräche am „Nationalen Runden Tisch“: Bei den Verhandlungen zwischen der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP), den vereinigten Oppositionsbewegungen und der sogenannten Dritten Seite (parteinahe Massenbewegungen, Vereinigungen usw.) wird über die konkrete Ausgestaltung der zukünftigen politischen Ordnung und über die Modalitäten des „Übergangs“ verhandelt. Die Gespräche werden am 18. September 1989 mit der Unterzeichnung einer Vereinbarung abgeschlossen. 1989, 12.–15. Juni Staatsbesuch von Michail Gorbatschow in der Bundesrepublik Deutschland: Während des Besuchs führt Gorbatschow mehrstündige Gespräche mit Bundeskanzler Helmut Kohl und zieht einen demonstrativen Schlussstrich unter die

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Vergangenheit („Ende der Nachkriegszeit“). Während des Besuchs werden zahlreiche Kultur- und Wirtschaftsabkommen unterzeichnet. In ihrer Gemeinsamen Erklärung signalisieren beide Seiten den Beginn eines „neuen Kapitels“ in ihren Beziehungen, das auch eine zentrale Bedeutung für Europa und das Ost-West-Verhältnis haben soll. 1989, 16. Juni Trauerakt für Imre Nagy auf dem Budapester Heldenplatz: Bei der von oppositionellen Kräften organisierten Massenveranstaltung für den 31 Jahre zuvor hingerichteten Ministerpräsidenten des ungarischen Volksaufstandes und seine Mitstreiter halten Oppositionelle und Angehörige der Hingerichteten Reden. Auch Vertreter der Regierung sind bei der friedlich verlaufenden Veranstaltung anwesend. 1989, 20. Juni Inoffizieller Besuch des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth (CDU) in Budapest: Späth, der von Vertretern der Wirtschaft seines Bundeslandes begleitet wird, führt Gespräche mit Ministerpräsident Miklós Németh, Außenminister Gyula Horn und Handelsminister Tamás Beck. Der Ministerpräsident kündigt Hilfsmaßnahmen für die ungarische Wirtschaft an, darunter die Finanzierung von Investitionen, Firmenkooperationen und die Gründung einer Bankfiliale in Budapest. Gleichzeitig signalisiert er, sich auch im Ausland für die Unterstützung der ungarischen Wirtschaft einsetzen zu wollen. Späth verwirft einen Austritt Ungarns aus dem Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe und dem Warschauer Pakt und plädiert für ein partnerschaftliches Verhältnis mit Moskau. Außerdem bringt er Bedenken über das hohe Tempo der ungarischen Veränderungsprozesse zum Ausdruck und spricht sich für den Vorrang der wirtschaftlichen Stabilisierungsmaßnahmen aus. 1989, 20.–23. Juni Bonn-Besuch von Politbüro-Mitglied und Staatsminister Rezső Nyers: Nyers führt Gespräche mit SPD-Führungspolitikern, darunter Johannes Rau und Wolfgang Roth, hält einen Vortrag über die „Wirtschaftsreformen in Ungarn“ und trifft sich mit Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und Kanzlerberater Horst Teltschik. Er erörtert die Frage von Investitionen der deutschen Wirtschaft in Ungarn mit führenden Wirtschaftsvertretern, darunter der Präsident der Industrieund Handelskammer Otto Wolf von Amerongen und der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie Siegfried Mann. 1989, 22. Juni Annahme einer Gemeinsamen Erklärung der Bundestagsfraktionen über die Lage in Ungarn durch den Deutschen Bundestag (Dokumente 37): Die Bundestagsfraktionen bringen in der am Vortag als Antrag im Parlament eingereichten Erklärung einstimmig ihre Sympathie gegenüber den politischen Entwicklungen in Ungarn zum Ausdruck und rufen die Bundesregierung auf, die wirtschaftliche Umgestaltung Ungarns und seine Annäherung an die Europäische Gemeinschaft zu unterstützen sowie finanzielle Hilfe zu leisten. Außerdem spricht sich der Bundestag dafür aus, die bisherige gute Zusammenarbeit mit Ungarn im internationalen Rahmen fortzusetzen und zu intensivieren.



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1989, 23./24. Juni Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP): Mit der Wahl von Rezső Nyers zum Parteivorsitzenden, der Schaffung eines vierköpfigen Parteipräsidiums und der Ersetzungen des Politbüros durch einen Politischen Verwaltungsausschuss wird die Parteispitze grundlegend umgebaut. Damit werden auch die „politischen Bremser“ um Generalsekretär Károly Grósz entmachtet. 1989, 26. Juni Jahresbericht des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Außenminister Gyula Horn (Dokument 38): Der Bericht legt die überaus positive Entwicklung der bilateralen Beziehungen dar, hebt die große Bedeutung einer anerkennenden Beurteilung der politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in Ungarn durch die Bundesrepublik hervor und unterbreitet Vorschläge zur Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen. 1989, 27. Juni Symbolisches „historisches“ Durchschneiden des Grenzzauns an der ungarisch-österreichischen Grenze durch den österreichischen Außenminister Alois Mock und seinen ungarischen Amtskollegen Gyula Horn. 1989, 28. Juni Schreiben von Bundeskanzler Helmut Kohl an den amerikanischen Präsidenten George Bush: Kohl informiert Bush über seine Politik gegenüber Ungarn und Polen. Hinsichtlich Ungarn spricht der Bundeskanzler das beispielhaft gute bilaterale Verhältnis an und kündigt einen weiteren Kredit in Höhe von 1 Milliarde DM an. Außerdem setzt er sich für eine internationale Koordinierung der Politik bzw. Hilfsprojekte gegenüber beiden Staaten ein. 1989, 6. Juli Tod János Kádárs und offizielle Rehabilitierung von Imre Nagy durch den Obersten Gerichtshof in Ungarn. 1989, 7./8. Juli Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts: In der abschließenden Erklärung wird das Recht jedes Volkes, sein politisches und wirtschaftliches System selbst zu wählen, explizit herausgestellt. 1989, 14.–16. Juli Gewährung von Wirtschaftshilfe für Ungarn und Polen durch die sieben führenden Industrienationen auf dem G7-Gipfeltreffen in Paris. 1989, 4. August Vorsprache des bundesdeutschen Botschafters Alexander Arnot bei Innenminister István Horváth (Dokumente 39 und 40): Arnot ersucht Horváth im Auftrag des Auswärtigen Amts um ein Gespräch über die Problematik der sich in Ungarn aufhaltenden DDR-Flüchtlinge und erklärt, die Bundesregierung sehe einen Widerspruch in der verkündeten und praktizierten Politik der ungarischen Regierung, der die Aufrichtigkeit der ungarischen Erklärungen fraglich erscheinen lasse und zu einer Belastung des Verhältnisses führen könne. Horváth weist den Vorwurf der widersprüchlichen Haltung Ungarns zurück und verweist auf die Komplexität und Vielzahl der Herausforderungen im Transformationsprozess.

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1989, 7. August Vorsprache des bundesdeutschen Botschafters Alexander Arnot bei Staatssekretär Ferenc Somogyi (Dokumente 41 und 42): Arnot greift gegenüber Somogyi erneut die Frage des Schicksals der DDR-Bürger in Ungarn auf und wiederholt den Eindruck Bonns bezüglich der Widersprüchlichkeit der Politik der ungarischen Regierung. Wie Horváth so verweist auch Somogyi auf die „Übergangssituation“ in seinem Land. Darüber hinaus stellt er den Versuch der Budapester Führung heraus, eine Lösung des Problems zu suchen und dabei weder die Beziehungen zu Ostberlin noch zu Bonn zu belasten. 1989, 16. August Einrichtung je eines Lagers für ostdeutsche Flüchtlinge in Budapest (Zugliget) und am Plattensee (Zánka). 1989, 19. August Veranstaltung des „Paneuropa-Picknicks“ an der ungarisch-österreichischen Grenze: Während des Picknicks, das von der von Otto von Habsburg geleiteten Paneuropa-Bewegung im Zeichen der österreichisch-ungarischen Freundschaft abgehalten wird, kommt es zu einer Massenflucht von Ostdeutschen nach Österreich. Ein Einschreiten des ungarischen Grenzschutzes erfolgt nicht. 1989, 23./24. August Ungarn-Besuch von Volker Rühe, stellvertretender CDU/CSUFraktionsvorsitzender im Bundestag: Rühe (CDU) führt Gespräche mit führenden Politikern der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP), darunter Rezső Nyers und Imre Pozsgay, sowie mit Außenminister Gyula Horn. Die ungarische Seite stellt den Stand und „Fahrplan“ des politischen Systemwechsels vor und betont die Bedeutung ihres bevorstehenden Parteitags für die Entstehung einer demokratischen und koalitionsfähigen Sozialistischen Partei. Rühe lobt die Transformationspolitik Ungarns und die Neubewertung der jüngsten ungarischen Geschichte durch die Partei. Beide Seiten signalisieren ihren Wunsch nach einer Koalitionsregierung unter Beteiligung der Sozialisten nach den freien Wahlen. Hauptthema der Besprechungen mit Horn ist die Fluchtbewegung der DDR-Bürger und die sich dadurch ergebene schwierige Lage für Ungarn. Horn versichert Rühe die Bereitschaft Ungarns, zur Lösung der Flüchtlingsfrage eng mit Bonn zusammenzuarbeiten. Rühe trifft sich zudem mit Vertretern des Ungarischen Demokratischen Forums (MDF) und der Christdemokratischen Volkspartei (KDNP), wobei er betont, dass ohne die Reformkräfte der MSZMP in Ungarn keine radikalen Veränderungen erfolgt wären. 1989, 24. August Ausreise von 108 sich in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest aufhaltenden DDR-Bürgern mit Papieren des Internationalen Roten Kreuzes aus Ungarn. 1989, 25. August Besprechungen von Ministerpräsident Miklós Németh und Außenminister Gyula Horn mit Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf Schloss Gymnich bei Bonn: Beim ersten Gespräch der Politiker legt die ungarische Seite die politischen Spannungen und großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten Ungarns dar und ersucht die Bundesrepublik um weitere Unterstüt-



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zung, auch gegenüber den anderen westlichen Staaten und Institutionen (Dokument 43). Bei der zweiten Unterredung stehen die Entwicklungen in den übrigen osteuropäischen Staaten im Mittelpunkt (Dokument 44). Bei den geheimen Verhandlungen sagt die ungarische Seite außerdem zu, die DDR-Bürger nicht gegen ihren Willen in die DDR zurückzuschicken, und kündigt ihre Absicht an, die Grenze zur Lösung des Flüchtlingsproblems zu öffnen. 1989, 1. September Schreiben von Ministerpräsident Miklós Németh an Bundeskanzler Helmut Kohl: Németh legt Kohl die mit dem Transformationsprozess in Ungarn verbundenen ökonomischen Probleme dar, unterbreitet Vorschläge für die zukünftige bilaterale Kooperation und ersucht Bonn um Unterstützung der ungarischen Belange gegenüber der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und den Vereinigten Staaten. Die Antwort von Bundeskanzler Kohl erfolgt am 4. Oktober 1989. 1989, 4. September Beginn der Montagsdemonstrationen in Leipzig, die sich in den folgenden Monaten auch auf andere Städte in der DDR ausdehnen. 1989, 5. September Treffen eines Mitarbeiters des Auswärtigen Amts in Bonn mit zwei Vertretern der reaktivierten Sozialdemokratischen Partei Ungarns (MSZDP) (Dokument 45): Die ungarischen Politiker legen die politischen Ziele ihrer Partei sowie deren Organisations- und Finanzprobleme dar. 1989, 10. September Ankündigung der Öffnung der ungarischen Grenze für die Flüchtlinge aus der DDR durch Außenminister Horn im ungarischen Fernsehen: Den DDR-Bürgern, die sich in Ungarn aufhalten, aber nicht in die DDR zurückkehren wollen, wird am 11. September 1989 um 0 Uhr die Möglichkeit der Ausreise in den Westen eröffnet. In einer Stellungnahme und einem Interview mit Außenminister Gyula Horn legt die Regierung am 10. September die Gründe für ihre Entscheidung dar (Dokumente 46 und 47). Bis zum Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 gelangen etwa 50.000 DDR-Bürger auf dem Weg über Ungarn in die Bundesrepublik. 1989, 11.–13. September Bremer Bundesparteitag der Christlich Demokratischen Union: Bundeskanzler Helmut Kohl kann die ungarische Grenzöffnung zur Stärkung seiner innerparteilichen Position nutzen und sich gegen seine Rivalen um Lothar Späth durchsetzen. 1989, 18. September Unterzeichnung der Abmachungen des Nationalen Runden Tischs über die konkrete Ausgestaltung der demokratischen Verfassungsordnung Ungarns und über den friedlichen Übergang (Dokument 48). 1989, 18.–22. September Besuch von Justizminister Kálmán Kulcsár in der Bundesrepublik: Kulcsár nimmt in Westberlin an einer Verfassungsrechtskonferenz teil und führt in Bonn Gespräche mit Bundesjustizminister Hans A. Engelhard (FDP) und Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Im Mittelpunkt der Unterredungen stehen

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die ungarische Justiz- und Verfassungsreform sowie Fragen der bilateralen Zusammenarbeit im Bereich des Rechtswesens. 1989, 19. September Unterredung des ungarischen Botschafters István Horváth mit dem Chef des Bundeskanzleramts Rudolf Seiters in Bonn: Während der Besprechung schildert Horváth die schwierige internationale Situation seines Landes nach der Grenzöffnung. Hierbei verweist er zum einen auf den wachsenden antiungarischen Druck aus den „orthodoxen“ sozialistischen Staaten sowie zum anderen – unter ausdrücklicher Ausnahme der Bundesrepublik – auf das deutliche Missfallen, das der am Status quo in Europa orientierte Westen den Transformationsprozessen in Ungarn entgegenbringe. Aufgrund der drohenden Isolierung Ungarns ersucht Horváth Bonn um Unterstützung für sein Land und den „Reformflügel“ der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP). Er weist auf die symbolische Bedeutung eines baldigen Besuchs von Bundeskanzler Helmut Kohl in Budapest und auf die Wichtigkeit von wirtschaftlich-finanziellen Hilfsmaßnahmen für sein Land hin. Seiters versichert dem Botschafter die „große Sympathie“ seines Landes für Ungarn und sagt zu, Hilfsmaßnahmen zu ergreifen und Ungarn auch international zu unterstützen. 1989, 26.–28. September Sitzung des ungarischen Parlaments: Das Gremium nimmt ein neues Reise- und Passgesetz (Gesetz Nr. XXVIII des Jahres 1989) und das Gesetz über die Ein- und Auswanderung (Gesetz Nr. XXIX des Jahres 1989) an. 1989, 27. September Gespräch von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit seinem Amtskollegen Gyula Horn am Rande der UN-Vollversammlung in New York: Genscher zeigt sich tief bewegt über die ungarische Grenzöffnung vom 11. September 1989 und kündigt an, dass sich der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft in Kürze mit dem Thema der Hilfen für Ungarn und Polen befassen werde. Horn teilt Genscher mit, dass die DDR die Wiederherstellung des Abkommens von 1969 über den Reiseverkehr verlange, Budapest diese Forderung aber ablehne. 1989, 4. Oktober Antwortschreiben von Bundeskanzler Helmut Kohl auf den Brief des ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh vom 1. September 1989: Kohl unterstreicht die kontinuierliche Bereitschaft der Bundesrepublik zur Unterstützung der – gesamteuropäisch bedeutungsvollen – Transformationsprozesse in Ungarn und bringt seine Sympathie für die Entscheidung der Németh-Regierung „gegen trennende Grenzen und für Freizügigkeit aller Bürger“ zum Ausdruck. Kohl erklärt die prinzipielle Bereitschaft Bonns, zusammen mit den Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg Ungarn einen weiteren Milliardenkredit zur Verfügung zu stellen und die ungarischen finanziellen Anliegen gegenüber der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds zu unterstützen. 1989, 5./6. Oktober Ungarn-Besuch des bayerischen Ministerpräsidenten Max Streibl (CSU) und des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth (CDU): Streibl und Späth führen Verhandlungen mit Ministerpräsident Miklós Németh und



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unterzeichnen eine Vereinbarung über den von den beiden Bundesländern verbürgten Kredit über 500 Millionen DM. 1989, 7. Oktober Offizielle Stellungnahme zur Selbstauflösung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) und Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) unter Führung von Rezső Nyers (Dokument 49). 1989, 7. Oktober Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik: Am Rande der offiziellen Feiern demonstrieren Tausende DDR-Bürger für eine Demokratisierung der DDR. Der Protest wird von den Sicherheitskräften gewaltsam unterdrückt. 1989, 9. Oktober Erste große Montagsdemonstration in Leipzig: An der Demonstration nehmen rund 70.000 Personen teil, ein Eingreifen der Sicherheitsorgane erfolgt nicht. 1989, 12.–14. Oktober Besuch von Außenminister Gyula Horn in der Bundesrepublik: Im Mittelpunkt der Unterredungen Horns mit Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher stehen der Stand des politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesses und die innenpolitische Situation Ungarns nach der Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP). 1989, 14. Oktober Treffen des Vorsitzenden der neugegründeten Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) Rezső Nyers mit dem SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel (Dokument 51): Im Zentrum der Besprechung stehen – neben den jüngsten Entwicklungen in der Sowjetunion, in Polen und in der DDR – die aktuellen innenpolitischen Entwicklungen in Ungarn sowie die zukünftige Rolle der neugegründeten Ungarischen Sozialistischen Partei in der ungarische Politik und das Verhältnis der MSZP zur bundesdeutschen Sozialdemokratie und zur Sozialistischen Internationale. 1989, Mitte Oktober Bericht des Auswärtigen Amts in Bonn über die politische Lage und die Situation der Parteien in Ungarn (Dokument 50): Im Mittelpunkt des Berichts stehen die Auflösung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) bzw. die Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) sowie die Entwicklungen innerhalb der oppositionellen Organisationen. Die vorgesehenen Parlamentswahlen werden als „Wendepunkt“ des politischen Veränderungsprozesses beurteilt. 1989, 17.–20. Oktober Verabschiedung grundlegender Gesetze des politischen Transformationsprozesses durch das ungarische Parlament: Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Verhandlungen am Nationalen Runden Tisch verabschiedet das Parlament die „Eckgesetze“ über die Verfassungsreform (siehe 23. Oktober 1989), über die Wahl der Parlamentsabgeordneten (Gesetz Nr. XXXIV des Jahres 1989) und über die Wahl des Staatspräsidenten (Gesetz Nr. XXXV des Jahres 1989) sowie das Parteiengesetz (Gesetz Nr. XXXIII des Jahres 1989) und das Gesetz über das Verfassungsgericht

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(Gesetz Nr. XXXII des Jahres 1989). Außerdem stimmt es der Gesetzesvorlage zur Auflösung der Arbeitermiliz zu (Gesetz Nr. XXX des Jahres 1989) (Dokument 52). 1989, 18. Oktober Sturz Erich Honeckers und Wahl von Egon Krenz zum General­ sekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). 1989, 21. Oktober Wahl von József Antall zum Vorsitzenden des Ungarischen Demokratischen Forums (MDF). 1989, 23. Oktober Proklamation der „Republik Ungarn“ und Inkrafttreten einer neuen, demokratisch-pluralistischen Verfassungsordnung im Zuge der Totalrevision der bisherigen Verfassung mittels des Gesetzes über die Verfassungsreform (Gesetz Nr. XXXI des Jahres 1989) (Dokument 53). 1989, 23. Oktober Interview des Wochenmagazins „Der Spiegel“ mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh: Im Mittelpunkt der Ausführungen Némeths stehen die Entwicklungen und Motive, die zur Grenzöffnung vom 11. September 1989 führten, wobei der Regierungschef „rein humanitäre Erwägungen“ und die Ziele des ungarischen Systemwechsels hervorhebt. 1989, 30. Oktober Inkrafttreten der Gesetze über das Verfassungsgericht (Gesetz Nr. XXXII des Jahres 1989), über die Parteien (Gesetz Nr. XXXIII des Jahres 1989) und über das Wahlrecht (Gesetz Nr. XXXIV des Jahres 1989). 1989, 30. Oktober–1. November Sitzung des ungarischen Parlaments: Das Gremium nimmt das Gesetz über den Staatlichen Rechnungshof (Gesetz Nr. XXXVIII des Jahres 1989) an und schreibt für den 26. November 1989 eine von der liberalen Opposition initiierte Volksabstimmung aus. 1989, 31. Oktober Politischer Halbjahresbericht der bundesdeutschen Botschaft in Budapest (Dokument 54): Im Mittelpunkt des Berichts stehen der „zunehmend festen Boden“ gewinnende politische Transformationsprozess in Ungarn, die eindeutig Richtung Westen ausgerichtete „autonome Außenpolitik“ des Landes und die besorgniserregende Lage der ungarischen Wirtschaft. 1989, 4. November Großdemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz unter Teilnahme von rund 500.000 Personen. 1989, 9. November Fall der Berliner Mauer. 1989, 13. November Wahl von Hans Modrow zum Ministerpräsidenten der DDR. 1989, 16. November Antrag Ungarns auf Vollmitgliedschaft im Europarat. 1989, 20. November Geheimer Kurzbesuch von Ministerpräsident Miklós Németh in der Bundesrepublik: Németh führt eine vierstündige Unterredung mit Bundeskanzler Helmut Kohl in dessen Privathaus in Ludwigshafen. Im Mittelpunkt der Gespräche stehen eine drohende Gefährdung der ungarischen Energieversorgung aus der



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Sowjetunion sowie die unnachgiebige Haltung des Internationalen Währungsfonds gegenüber Ungarn. Der Bundeskanzler sagt Németh in beiden Angelegenheiten volle Unterstützung zu. 1989, 23./24. November Besuch von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher in Budapest auf Einladung seines Amtskollegen Gyula Horn: Während seiner UngarnVisite führt Genscher Gespräche mit dem Vorsitzenden der neu gegründeten Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) Rezső Nyers, mit Regierungschef Miklós Németh (Dokument 55), mit seinem Amtskollegen Gyula Horn sowie mit dem provisorischen Staatsoberhaupt Mátyás Szűrös und Vertretern der Oppositionsparteien, darunter József Antall vom Ungarischen Demokratischen Forum (MDF) (Dokument 57). Im Mittelpunkt der Unterredungen Genschers mit den ungarischen Politikern stehen – neben den Dankesbekundungen für die „historische Entscheidung“ der Grenzöffnung – zum einen die Ost-West-Beziehungen, die Situation in der Sowjetunion und die Entwicklungen in Ostmitteleuropa, zum anderen der Stand der wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in Ungarn und das bilaterale Verhältnis. Genscher bekräftigt den Willen Bonns zur wirtschaftlich-finanziellen Hilfe für Ungarn (Kredit­ abkommen) und zur Unterstützung der ungarischen Anliegen in der internationalen Politik bzw. gegenüber dem Internationalen Währungsfonds. 1989, 24. November Kreditabkommen eines bundesdeutschen Bankenkonsortiums mit der Ungarischen Nationalbank. 1989, 26. November Volksabstimmung in Ungarn über die Auflösung der Arbeitermiliz, die Offenlegung des Vermögens der ehemaligen Staatspartei, das Verbot von Parteiorganisationen am Arbeitsplatz und über den Modus der Präsidentenwahl: Das Ergebnis der Volksabstimmung, an dem sich 58,03 Prozent der Wahlbürger beteiligt, bedeutet eine Niederlage für die Sozialisten und macht die Wahl ihres Kandidaten Imre Pozsgay zum Staatspräsidenten chancenlos. 1989, 28. November Unterbreitung des „Zehn-Punkte-Programms zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ durch Bundeskanzler Helmut Kohl vor dem Deutschen Bundestag. 1989, 1. Dezember Verschlüsseltes Fernschreiben der bundesdeutschen Botschaft in Budapest an das Auswärtige Amt in Bonn über das Presseecho in Ungarn auf das „Zehn-Punkte-Programm“ von Bundeskanzler Helmut Kohl (Dokument 56): Das Telegramm weist darauf hin, dass in Ungarn keine besonderen Bedenken bezüglich einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten bestünden. 1989, 4. Dezember Demonstrative Unterstützung der Vereinigungspolitik von Bundeskanzler Helmut Kohl durch die USA auf dem Gipfeltreffen der NATO-Staaten. 1989, 4. Dezember Schreiben des ungarischen Botschafters István Horváth an Ministerpräsident Miklós Németh (Dokument 58): Horváth verweist in seinem Brief auf

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negative Bonner Reaktionen auf die Volksabstimmung vom 26. November 1989 und legt die dortige Meinung dar, die neugegründete Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) müsse im Interesse eines friedlichen Übergangs an einer zukünftigen Regierung beteiligt werden. 1989, 11. Dezember Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident Miklós Németh (Dokument 59): Horváth informiert Németh über die Entwicklungen bezüglich der Vereinigung Deutschlands und unterbreitet in Zusammenhang mit dem Staatsbesuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Ungarn Vorschläge für eine weitere Intensivierung der bilateralen Beziehungen. 1989, 13. Dezember Verabschiedung des Programms „Poland and Hungary Assistance to Economic Restructuring“ (PHARE) durch den Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft: Ziel des Programms ist es, Polen und Ungarn finanziell langfristigen bei der Bewältigung der Herausforderungen des sozialen und wirtschaftlichen Transformationsprozesses zu unterstützen. 1989, 16. Dezember Verhandlungen der von Industrieminister Ferenc Horváth und Otto Schlecht, (parteiloser) Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, geführten Delegationen zur Diskussion von Wirtschaftsfragen: Im Mittelpunkt der Gespräche steht die Frage der verstärkten Einbeziehung von deutschem Kapital in den ungarischen Wirtschaftskreislauf bzw. die Gründung von Gemischten Unternehmen, unter anderem im Bereich der Elektronik sowie des Maschinen- und Fahrzeugbaus. Horváth begrüßt den erfolgreichen Abschluss von Verträgen mit den deutschen Firmen Siemens und SEL auf dem Gebiet der Telekommunikation, Schlecht signalisiert, Bonn werde auf eine Überprüfung der restriktiven CoCom-Liste hinwirken. 1989, 16.–18. Dezember Offizieller Staatsbesuch von Bundeskanzler Helmuth Kohl in Ungarn: Kohl, der von Führungspersönlichkeiten aus der bundesdeutschen Politik und Wirtschaft begleitet wird, verhandelt mit Ministerpräsident Miklós Németh und wird von Parlamentspräsident István Fodor und dem provisorischen Staatsoberhaupt Mátyás Szűrös empfangen. Der Kanzler hält außerdem eine Ansprache vor dem ungarischen Parlament, in der er sich für die Verabschiedung des Haushalts 1990 einsetzt. Im Mittelpunkt der Unterredungen von Kohl und Németh (Dokument 60) stehen Fragen eines Kredits der Europäischen Gemeinschaft für Ungarn sowie die jüngsten Entwicklungen in der „deutsche Frage“, wobei sich beide Politiker für die Einbettung der deutschen Vereinigung in die gesamteuropäischen Prozesse aussprechen. Außerdem thematisieren sie die Zukunftsperspektiven Europas und die Aussichten des Systemwechsels in Ungarn. Im Rahmen des Besuchs werden fünf Abkommen unterzeichnet, darunter Verträge über den Luft- und Straßengüterverkehr. 1989, 18.–21. Dezember Sitzung des ungarischen Parlaments: Das Gremium beschließt seine Selbstauflösung zum 16. März 1990 und nimmt die Vorlage von Ministerpräsident Miklós Németh für den Haushalt des Jahres 1990 an.



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1990 1990, 1. Januar Beginn der Tätigkeit des Verfassungsgerichts und des Staatlichen Rechnungshofes in Ungarn. 1990, 5. Januar Ausbruch des sogenannten Donau-Gate-Skandals: Politiker der liberalen Opposition decken die fortdauernde Bespitzelung Oppositioneller durch die ungarischen Staatssicherheitsbehörden auf. In der Folge kommt es zum Rücktritt von Innenminister István Horváth und führender Mitarbeiter der Staatssicherheit sowie zu einer intensiven Diskussion über die zukünftige Rolle der Staatssicherheitsorgane. 1990, 10. Januar Besuch von Außenminister Gyula Horn in der Bundesrepublik Deutschland: Horn erhält in Mainz eine Auszeichnung der Stresemann-Gesellschaft in Anerkennung seiner Verdienste bei der Vertiefung der Solidarität und Zusammenarbeit der Völker in Europa. In Bonn führt Horn Gespräche mit Bundesaußenminister HansDietrich Genscher und Bundeskanzler Helmut Kohl über die Perspektiven des ungarischen Systemwechsels, der deutschen Einheit und der bilateralen Beziehungen. 1990, 15. Januar Erkundigungen des bundesdeutschen Botschafters in Budapest Alexander Arnot bei einem ungarischen Diplomaten über die ungarischen Abhörregelungen (Dokument 61). 1990, 23.–26. Januar Sitzung des ungarischen Parlaments: Das Parlament nimmt ein Gesetz zur übergangsweisen Neuregelung der Tätigkeit der Staatssicherheitsdienste (Gesetz Nr. X des Jahres 1990) sowie das Gesetz über die Glaubens- und Gewissensfreiheit und über die Kirchen (Gesetz Nr. IV des Jahres 1990) (Dokument 62) an. 1990, 1. Februar Vorstellung des Vereinigungsplans „Deutschland – einig Vaterland“ durch DDR-Ministerpräsident Hans Modrow: Ziel des Modrow-Plans ist es, einen für alle politischen Kräfte in West- und Ostdeutschland akzeptablen, schrittweise zu vollziehenden Weg der deutschen Vereinigung zu finden. 1990, 1. Februar Beginn der ungarisch-sowjetischen Verhandlungen über den vollständigen Abzug der Roten Armee aus Ungarn. 1990, 3. Februar Stellungnahme des stellvertretenden Ministerpräsidenten Péter Medgyessy zur deutschen Einheit (Dokument 63): Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos bezeichnet Medgyessy die deutsche Vereinigung als „einen unvermeidlichen Prozess“, der von Ungarn als Realität angesehen werde und graduell vollzogen werden müsse. 1990, 6. Februar Zustimmung von Bundeskanzler Helmut Kohl zur Wirtschafts- und Währungsunion mit der DDR. 1990, 10. Februar Verkündung der Aufgabe der sowjetischen Zwei-Staaten-Theorie durch Generalsekretär Michail Gorbatschow.

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1990, 1. März Eröffnung eines Büros der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung in Budapest. 1990, 1. März Einrichtung der Staatlichen Vermögensagentur (ÁVÜ) in Ungarn. 1990, 10. März Unterzeichnung des Vertrags über den vollständigen Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn bis Mitte 1991. 1990, 14. März Gewährung eines für die Wahrung der Zahlungsfähigkeit Ungarns existentiellen Bereitschaftskredit durch den Internationalen Währungsfonds. 1990, 17. März Warschauer Tagung der Außenminister des Warschauer Pakts: Die Außenminister sprechen sich für die Vereinigung Deutschland aus. Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei unterstützten überdies – trotz sowjetischer Ablehnung – eine zukünftige NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands. 1990, 18. März Volkskammerwahlen in der DDR: Nach dem Wahlsieg der von der CDU (Ost) geführten „Allianz für Deutschland“ löst Lothar de Maizière Hans Modrow als Ministerpräsident ab. Das Wahlergebnis signalisiert auch den Willen der ostdeutschen Bevölkerung, eine schnelle Vereinigung herbeizuführen. 1990, 18.–21. März Besuch des stellvertretenden ungarischen Kultusministers Károly Mannherz in der Bundesrepublik: Während des Besuchs wird die Unterzeichnung des Abkommens über die Ausbildung von ungarischen Wirtschaftsexperten in der Bundesrepublik, der Vereinbarung zur Entsendung von Deutschlehrern nach Ungarn, des Äquivalenzabkommens über die Gleichwertigkeit der Hochschulabschlüsse sowie der Vereinbarung über die Kooperation Ungarns mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst vorbereitet. 1990, 24. März Kurzbesuch von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher in Budapest: Während der Visite wird das Abkommen über die Streichung der Visapflicht zwischen beiden Staaten sowie das Abkommen „über die Anerkennung von Gleichwertigkeit im Hochschulbereich“ unterzeichnet. Genscher verleiht Außenminister Gyula Horn außerdem das Großkreuz des Bundesverdienstordens. 1990, 25. März/ 8. April Erster bzw. zweiter Wahlgang der ungarischen Parlamentswahlen: Aus den ersten freien Parlamentswahlen seit November 1945 geht das Ungarische Demokratische Forum als Wahlsieger hervor. Das MDF erringt 164 der insgesamt 386 Sitze, gefolgt vom Bund Freier Demokraten (SZDSZ) mit 94 Sitzen und der Kleinlandwirtepartei (FKGP) mit 44 Sitzen. Die Sozialistische Partei (MSZP) erringt 33 Mandate, der Bund Junger Demokraten (FIDESZ) 22 und die Christdemokraten (KDNP) 21. 6 Sitze gehen an sonstige Kandidaten. 1990, 20. April Aufzeichnung des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth zur Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen (Dokument 64): Das Dokument enthält einen Rückblick auf die äußerst dynamische Entwicklung der westdeutsch-



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ungarischen Beziehungen in den vergangenen Jahren, bezeichnet den weiteren Ausbau der institutionellen Kontakte als grundlegende Aufgabe und plädiert für die Sondierung weiterer Möglichkeiten, die deutsche Wirtschaft in den ökonomischen Systemwechsel in Ungarn „einzuspannen“. 1990, 25. April Übergabe des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen an den scheidenden ungarischen Außenminister Gyula Horn. 1990, 2. Mai Konstituierende Sitzung des neuen ungarischen Parlaments. 1990, 5. Mai Beginn der Zwei-plus-Vier-Gespräche über die deutsche Vereinigung. 1990, 6. Mai Erste freie Kommunalwahlen in der DDR. 1990, 18. Mai Unterzeichnung des Vertrags über die Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, der am 1. Juli 1990 in Kraft tritt. 1990, 23. Mai Wahl von József Antall (MDF) zum Ministerpräsidenten der Republik Ungarn durch das Parlament und Bildung der national-konservativen Koalitionsregierung aus dem Ungarischen Demokratischen Forum (MDF), der Unabhängigen Kleinlandwirtepartei (FKGP) und der Christdemokratischen Volkspartei (KDNP). 1990, 24. Mai Verabschiedung einer Studie des ungarischen Außenministeriums über die Auswirkungen der deutschen Vereinigung und die diesbezüglichen Aufgaben der Regierung (Dokument 65): Die sich aus zwei Dokumenten zusammensetzende Studie befasst sich vor allem mit der Notwendigkeit einer umfassenden Situationsanalyse, thematisiert die zahlreichen Herausforderungen der deutschen Einheit für Ungarn und Europa und skizziert drei Ebenen der zukünftigen bilateralen Kooperation. 1990, 26./27. Mai Inoffizielle Kurzvisite des neuen ungarischen Ministerpräsidenten József Antall in Berlin: Bei seiner ersten Auslandsreise trifft sich Antall in Westberlin mit Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl sowie in Ostberlin mit Ministerpräsident Lothar de Maizière. Im Mittelpunkt der Gespräche steht der Prozess der deutschen Vereinigung. Antall nimmt außerdem an einer Veranstaltung des Deutschen Katholikentags teil. 1990, 26./27. Mai Eröffnung des Ungarischen Kultur- und Informationszentrums in Stuttgart unter Anwesenheit des neuen ungarischen Kultusministers Bertalan Andrásfalvy (MDF). 1990, 31. Mai Schreiben des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Ministerpräsident József Antall (Dokument 66): In seinem Brief legt der Botschafter Vorschläge zur Weiterentwicklung der deutsch-ungarischen Beziehungen dar. Hierbei bringt er drei gegenüber der Bundesrepublik zu vertretende ungarische Anliegen vor, nämlich eine verstärkte Finanzhilfe für Ungarn, die Fortführung der mit den beiden deutschen Staaten geschlossenen Verträge über die ungarischen Arbeitskräftekontin-

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gente bzw. die Erhöhung dieser Kontingente sowie die Unterstützung der Reform der örtlichen und regionalen Selbstverwaltung in Ungarn. 1990, 4.–6. Juni Besuch einer Delegation des Deutschen Bundestags in Budapest: Die Mitglieder des Präsidiums des Bundestags vereinbaren mit Vertretern des ungarischen Parlaments eine Intensivierung der Beziehungen der Ausschüsse beider Parlamente. Gleichzeitig kommt es auch zu ersten Kontakten zwischen dem Budapester und dem Bonner Apparat der Volksvertretungen. 1990, 7. Juni Gipfeltreffen der Warschauer-Pakt-Staaten in Moskau: Als erster Mitgliedsstaat kündigt Ungarn seinen Austritt aus dem östlichen Militärbündnis an. 1990, 8. Juni Übergabe einer ungarischen Verbalnote an das Auswärtige Amt: Die Antall-Regierung gibt ihre Absicht bekannt, ihren Botschafter in Bonn auch in Ostberlin zu akkreditieren. Nach positiven Reaktionen in beiden Hauptstädten vertritt István Horváth vom 18. Juli bis zum 3. Oktober 1990 Ungarn in beiden deutschen Staaten. 1990, 13. Juni Schreiben des Generalsekretärs des Demokratischen Verbandes der Deutschen in Ungarn Géza Hambuch an Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (Dokument 67): Hambuch weist in seinem Brief, den er mit ähnlichem Inhalt auch an Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident József Antall schickt, auf die Gefahr des vollständigen Identitätsverlusts der Ungarndeutschen hin und ersucht um Unterstützung, um diesen Prozess aufzuhalten bzw. rückgängig zu machen. 1990, 19. Juni Annahme des Gesetzes über die Änderung der Verfassung (Gesetz Nr. XL des Jahres 1990) (Dokument 68) durch das neue ungarische Parlament: Mit der Verfassungsrevision wird vor allem bezweckt, die konstitutionelle Ordnung Ungarns von „sozialistischen Relikten“ zu säubern und die Regierungsfähigkeit sicherzu­ stellen. 1990, 19.–21. Juni Offizieller Staatsbesuch von Ministerpräsident József Antall in der Bundesrepublik Deutschland (Dokument 69): Antall führt Gespräche mit den Ministerpräsidenten Max Streibl (Bayern) und Lothar Späth (Baden-Württemberg) sowie mit Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und Bundeskanzler Helmut Kohl. Im Mittelpunkt des Gesprächs mit Kohl steht unter anderem das Verhältnis beider Länder zu Polen, der deutsche Vereinigungsprozess sowie die Situation Ungarns nach den Parlamentswahlen. 1990, 21. Juni Ratifizierung des Staatsvertrags „über die Schaffung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion“ durch die Parlamente der beiden deutschen Staaten. 1990, 21. Juni Vorsprache des Botschaftssekretärs József Czukor im Auswärtigen Amt in Bonn bezüglich der Fortführung von Verträgen zwischen der DDR und Ungarn (Dokument 70): Czukor betont hierbei die Bedeutung der Weiterführung der mit der DDR geschlossenen Rechtshilfe- und Sozialverträge für Ungarn.



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1990, 21. Juni Eröffnung der Budapester Börse. 1990, 29./30. Juni Spitzentreffen der Christdemokratischen Internationale in Budapest: Während des Treffens führen Bundeskanzler Helmut Kohl, der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki und der ungarische Ministerpräsident József Antall Gespräche. Im Mittelpunkt der Unterredungen stehen die wirtschaftlichen Probleme der beiden Transformationsstaaten. 1990, 1. Juli Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik: Grundlage der Union ist der Staatsvertrag vom 18. Mai 1990, der von den Finanzministern Theo Waigel (CSU) und Walter Romberg (SPD) unterzeichnet wurde. Aufgrund der Währungsunion wird die westdeutsche Mark zum alleinigen Zahlungsmittel, die Wirtschaftsunion führt das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft auch in der DDR ein und die Sozialunion strukturiert die sozialen Grundlagen in der DDR nach bundesdeutschem Muster. 1990, 5. Juli Jahresbericht 1989/1990 des ungarischen Botschafters in Bonn István Horváth an Außenminister Géza Jeszenszky (Dokument 71): In seinem Bericht legt Horváth die dringende Notwendigkeit dar, die Zusammenarbeit Ungarns mit dem vereinten Deutschland konzeptionell zu fundieren, unterstreicht die ökonomische Bedeutung der Bundesrepublik für Ungarn und legt zahlreiche Vorschläge zur Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen vor. 1990, 9.–11. Juli Besuch von Bundesverteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (CDU) mit einer Delegation in Ungarn: Bei den Besprechungen mit dem neuen ungarischen Verteidigungsminister Lajos Für (MDF) stehen der Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn, die ungarischen Abrüstungspläne und die organisatorische Modernisierung der ungarischen Armee sowie das Verhältnis Ungarns zum Warschauer Pakt und die geplante neue ungarische Verteidigungsdoktrin im Mittelpunkt. Außerdem werden Fragen einer zukünftigen bilateralen Kooperation auf militärischem Gebiet erörtert. 1990, 11. Juli Eröffnung des Generalkonsulats der Republik Ungarn in München. 1990, 14.–16. Juli Besprechungen von Bundeskanzler Helmut Kohl mit der sowjetischen Führung: Im Mittelpunkt der Besprechungen stehen Fragen der deutschen Vereinigung, die vor allem militärische Aspekte (NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands) und finanzielle Zusicherungen der deutschen Seite betreffen. 1990, 3. August Wahl von Árpád Göncz, Mitglied des Bundes Freier Demokraten (SZDSZ), zum Präsidenten der Republik Ungarn. 1990, 14. August Verkündung des Gesetzes über die örtlichen Selbstverwaltungen (Gesetz Nr. LXV des Jahres 1990): Das vom ungarischen Parlament am 3. August 1990 angenommene Gesetz regelt den Aufbau, die Funktion und Kontrolle der kommuna-

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len Selbstverwaltungen und unternimmt damit den entscheidenden Schritt zur Institutionalisierung der vertikalen Gewaltenteilung in Ungarn. 1990, 23. August Beschluss der Volkskammer der DDR über den Beitritt Ostdeutschlands zur Bundesrepublik gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes. 1990, 31. August Unterzeichnung des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag): Der Vertrag regelt die Auflösung der Deutschen Demokratischen Republik bzw. ihren Beitritt zum Geltungsbereich des bundesdeutschen Grundgesetzes am 3. Oktober 1990. 1990, 12. September Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags in Moskau. 1990, 20. September Zustimmung der DDR-Volkskammer zum Einigungsvertrag. 1990, 30. September Erste Runde der Kommunalwahlen in Ungarn: Bei den Wahlen, deren zweite Runde am 14. Oktober 1990 stattfindet, werden in erster Linie unabhängige Kandidaten, zu einem kleineren Teil auch ehemalige (kommunistische) Ratsvorsitzende bzw. Rätemitglieder, gewählt. 1990, Oktober Ungarischer Bericht über die Entwicklung der westdeutsch-ungarischen Wirtschaftsbeziehungen im Jahre 1989 und in den ersten Monaten des Jahres 1990 (Dokument 72): Der Bericht verweist auf eine Reihe von positiven Entwicklungen in den deutsch-ungarischen Wirtschaftsbeziehungen, so bei der Gründung von Gemischten Unternehmen. 1990, 1. Oktober Teilnahme des Ministerpräsidenten und MDF-Vorsitzenden József Antall am Vereinigungsparteitag der west- und ostdeutschen Christdemokraten (CDU) in Hamburg. 1990, 3. Oktober Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes bzw. Vereinigung der beiden deutschen Staaten: Aus Anlass der Herbeiführung der deutschen Einheit übersendet der ungarische Ministerpräsident József Antall Bundeskanzler Helmut Kohl ein Glückwunschtelegramm (Dokument 73). Neben den Feierlichkeiten in der „neuen“ Bundesrepublik kommt es auch in Ungarn zu zwei von der deutschen Botschaft organisierten Veranstaltungen (Dokumente 74 und 75).

7 Literaturverzeichnis 7.1 Publizierte Quellensammlungen und Chronologien Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1949/50. München 1997. Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1967, Bd. 1. München 1998. Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1969, Bd. 2. München 2000. Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1970, Bd. 2. München 2001. Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1977, Bd. 2. München 2008. Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1979, Bd. 2. München 2010. Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1982, Bd. 1. München 2013. Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1984, Bd. 1. Berlin/ München/ Boston 2015. Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramts 1989/90. München 1998. Magyar Külpolitikai Évkönyv 1989 [Ungarisches Außenpolitisches Jahrbuch 1989]. Budapest 1989. Magyar Külpolitikai Évkönyv 1990 [Ungarisches Außenpolitisches Jahrbuch 1990]. Budapest 1990. Országgyűlési értesítő, 1985–1990 [Parlamentsmitteilungen 1985–1990], Budapest 1989. Bd. 2. Budapest 1989. Országgyűlési értesítő, 1985–1990 [Parlamentsmitteilungen 1985–1990], Budapest 1989. Bd. 3. Budapest 1989. Országgyűlési értesítő, 1990–1994 [Parlamentsmitteilungen 1990–1994], Budapest 1990. Bd. 1. Budapest 1990. Törvények és rendeletek hivatalos gyűjteménye 1972 [Offizielles Kompendium der Gesetze und Verordnungen 1972]. Budapest 1973. Törvények és rendeletek hivatalos gyűjteménye 1987 [Offizielles Kompendium der Gesetze und Verordnungen 1987]. Budapest 1988. Törvények és rendeletek hivatalos gyűjteménye 1988 [Offizielles Kompendium der Gesetze und Verordnungen 1988]. Budapest 1989. Törvények és rendeletek hivatalos gyűjteménye 1989 [Offizielles Kompendium der Gesetze und Verordnungen 1989]. Budapest 1990. United Nations Treaty Series, Vol. 983. New York 1975. United Nations Treaty Series, Vol. 1555. New York 1990. United Nations Treaty Series, Vol. 1706. New York 1993. United Nations Treaty Series, Vol. 1909. New York 1996. Ágh, Attila/ Géczi, József/ Sipos, József (Hrsg.): Rendszerváltók a baloldalon. Reformerek és reformkörök 1988–1989. Válogatott dokumentumok [Transformer auf der Linken. Reformer und Reformzirkel 1988–1989. Ausgewählte Dokumente]. Budapest 1999. Baráth, Magdolna/ Rainer, János M. (Hrsg.): Gorbacsov tárgyalásai magyar vezetőkkel. Dokumentumok az egykori SZKP és MSZMP archívumaiból 1985–1991 [Gorbatschows Verhandlungen mit ungarischen Führern. Dokumente aus den einstigen KPdSU- und MSZMPArchiven 1985–1991]. Budapest 2000. Borhi, László (Hrsg.): Magyar–amerikai kapcsolatok 1945–1989. Források [Ungarisch-amerikanische Beziehungen 1945–1989. Quellen]. Budapest 2009. Bozóki, András/ Ripp, Zoltán/ Kalmár, Melinda u.a. (Hrsg.): A rendszerváltás forgatókönyve. Kerekasztal-tárgyalások 1989-ben [Drehbuch des Systemwechsels. Rundtisch-Verhandlungen 1989], Bd. 1. Budapest 1999.

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8 Namensregister Ábrahám, Kálmán 43 Aczél, György 89, 277, 287, 700, 705 Adam-Schwaetzer, Irmgard 132 Adenauer, Konrad 13, 15–17, 19, 21, 23–24, 201 Ágh, Attila 99 Albrecht, Ernst 107, 247, 708 Alföldi, Tádé 618 Amerongen, Otto Wolff von 61, 138, 261, 714 Andrásfalvy, Bertalan 725 Antal, László 99 Antall, József 175–176, 179–180, 187, 189–194, 196, 198–206, 209–213, 543, 603–607, 610, 648–649, 652–654, 664–665, 672, 674, 679, 692–694, 720–721, 725–728 Arnot, Alexander 113, 141–144, 146, 168–169, 174, 212, 439, 441, 511, 515–516, 518–519, 522, 525, 608, 610, 618, 627–628, 693–694, 708, 715–716, 723 Bahr, Egon 26, 42 Baker, James 669 Ballai, László 35, 42, 44 Bartha, Ferenc 240, 328 Bartók, Béla 505 Beck, István 23 Beck, János 17 Beck, Tamás 106–107, 137, 417, 447, 499, 510, 678, 700, 708, 711–712, 714 Behr, Heinz-Peter 441, 444 Beitz, Berthold 21, 43 Békesi, László 120, 123, 457, 510, 712 Berecz, Frigyes 93, 120 Berecz, János 42, 71, 93, 99, 109, 118–119, 188, 276–277, 317, 394, 610, 697, 710 Berend, Iván T. 24, 96, 384–385 Bihari, Mihály 91, 99 Binder, Sepp 551 Bíró, József 26, 29, 34 Bíró, Zoltán 94 Blüm, Norbert 527 Bokros, Lajos 59, 99, 124, 325 Brandt, Willy 26, 28, 34, 38, 42, 88, 159, 510 Brentano, Heinrich von 17 Broek, Hans van den 279 Brückner, Hardo 28 Bucher, Ewald 19 Bush, George 40, 129, 134, 155, 157, 526–528, 588, 603, 617, 676, 715 DOI 10.1515/9783110488890-007

Cassens, Johann-Tönjes 329 Ceauşescu, Nicolae 80, 84, 104, 143, 166, 173, 399, 527, 531, 704 Chruschtschow, Nikita 26 Cohn-Bendit, Daniel 595 Cranston, Alan 527 Craxi, Bettino 40 Csehák, Judit 123, 698 Czibere, Tibor 107, 405, 594, 709 Czukor, József 206, 672–673, 726 Dávid, Gyula 532 Degen, István 551 Delors, Jacques 165 Derix, Christoph 289, 618 Derzsi, András 510 Diepgen, Eberhard 712 Dizdarević, Raif 279 Döring, Wolfgang 16 Dregger, Alfred 494, 510 Dumas, Roland 526, 529 Dunai, Imre 402 Ebert, Martin 603 Ehmke, Horst 42 Engelhard, Hans 686, 717 Engholm, Björn 107, 496, 498, 711 Eörsi, István 329 Erhard, Ludwig 15, 201 Erler, Fritz 19 Ertl, Josef 43 Etzel, Piet-Jochen 261 Fabius, Laurent 105 Fejti, György 79, 93 Fekete, János 240, 326, 555, 700 Fock, Jenő 21 Fodor, István 722 Friderichs, Hans 34 Für, Lajos 727 Gáspár, Sándor 73 Glatz, Ferenc 120, 125, 158, 163, 185, 457, 582, 594, 619, 712 Glotz, Peter 109, 710 Glück, Alois 328 Gorbatschow, Michail 46–48, 55, 79, 93, 102–103, 106, 112, 129, 132–133, 164, 173, 182, 195, 244, 251, 265–266, 278, 318, 320, 322, 397–398, 416, 526–529,

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 Namensregister

552–554, 588–589, 596–597, 600, 603, 617, 643, 670, 676, 699, 704, 709, 713, 723 Göncz, Árpád 190, 205, 212, 694, 727 Grass, Günter 595 Gromyko, Andrei A. 319 Grósz, Károly 56, 61–66, 68–70, 72–76, 78–81, 83, 87–88, 90–94, 97–99, 101–103, 106, 111–112, 119–121, 129, 180, 188, 202, 227, 232, 234, 239–240, 242–243, 245–246, 248–252, 264, 266, 268, 270, 273–278, 280–281, 287, 305–306, 308, 318–325, 329, 359, 393–394, 397–399, 410, 413, 415–417, 436, 445, 447, 453, 457, 517, 526, 528, 548, 550, 604–606, 610, 697–698, 701–704, 706–707, 713, 715 Gyenei, György 500 Gyenes, András 42 Györkös, Péter 636, 641 Habsburg, Otto von 716 Halmos, Csaba 440 Hambuch, Géza 205–206, 652–653, 701, 726 Hámori, Csaba 309 Hartmann, Axel 529, 532 Haussmann, Helmut 448, 510, 630, 638 Havas, Henrik 385 Havasi, Ferenc 49, 51, 57, 73, 700 Heck, Bruno 328 Hecker, Martin 165 Heinemann, Gustav 19 Hellner, Károly 458 Hennig, Ottfried 278 Herrhausen, Alfred 61, 528 Herzog, Martin 261, 706 Hoff, Magdalena 551 Hofmann, Gerd 283 Honecker, Erich 147, 170, 245, 531, 553, 675, 720 Hoós, János 42 Hoppe, Hans-Günter 132 Horn, Gyula 42, 46, 48–49, 52, 61, 80, 82, 93, 101–105, 111–112, 120, 128–129, 135, 137, 139, 144–146, 148–149, 153, 156, 164–166, 174–175, 178, 212, 253–254, 277, 280, 397, 414, 457, 492, 495, 498–499, 510, 515, 517, 521, 525–526, 529, 530–531, 534–539, 548, 584, 588, 599, 606, 700, 706, 709, 712–719, 721, 723–725 Hornhues, Karl-Heinz 328 Horváth, Ferenc 499, 722

Horváth, István (Botschafter) 41, 46–52, 60–62, 64, 68–69, 75, 78, 81–84, 89, 111–112, 114–118, 125, 133, 135–136, 138, 152, 154, 159, 166–168, 177, 180–184, 188, 194, 196–200, 204–205, 207–210, 212, 253–254, 261, 305–306, 316, 330–331, 334, 414, 417, 444, 450, 495, 510, 529, 607–608, 611–612, 615, 628, 648–649, 652, 664, 672–674, 686, 700, 704–705, 709–710, 715, 718, 721–722, 724–727 Horváth, István (Innenminister) 82, 121, 141–142, 169, 499, 511–515, 518–519, 522–523, 704, 715–716, 723 Hütter, Csaba 499 Jakeš, Miloš 531 Jakowlew, Alexander N. 398 Jaruzelski, Wojciech 266, 277, 530, 605 Jaumann, Anton 261, 263 Jenninger, Philipp 240, 244, 308, 498, 705 Jeszenszky, Géza 193–194, 198, 205, 207–209, 213, 628, 673, 727 Kádár, Béla 208–209 Kádár, János 18–21, 23–25, 27, 30, 33–35, 38–42, 44–46, 48–49, 56, 59–60, 63, 69–74, 79, 86, 88–89, 94, 96, 98, 120, 148–149, 188, 215, 239–240, 245, 264, 266, 274, 276, 278–279, 285–286, 289, 318–319, 321, 384, 389, 394, 451, 453, 556, 597, 606, 610, 699–700, 703, 705–706, 711, 715 Kapolyi, László 268 Karádi, Gyula 21 Kárpáti, Ferenc 93 Kemenes, Ernő 499 Kiesinger, Kurt Georg 26 Kiszczak, Czesław 530 Klein, Hans 263 Klestil, Thomas 105 Kok, Wim 279 Konrád, György 329 Kopper, Hilmar 261 Koschnik, Hans 109 Kótai, Géza 109, 517 Kovács, László 180, 231, 239–240, 249 Köpeczi, Béla 405 Kraft, Lothar 89, 700 Kreisky, Bruno 33 Krenz, Egon 602, 720 Kulcsár, Kálmán 90, 93, 97, 119–120, 418, 510, 608, 678, 717

Namensregister  Kurtán, Sándor 17 Lahr, Rolf 26–27 Lambsdorff, Otto Graf 34, 43, 61, 84, 105, 118, 138, 202, 261, 448, 665, 670, 705, 707 Lang, August 82, 137, 665, 704, 712 László, Jenő 140 László, Péter 385 Lázár, György 33, 41, 43, 56, 697 Lenárt, Jozef 531 Lehr, Ursula 510 Lengyel, László 59, 99, 325 Ligatschow, Jegor K. 600 Lippelt, Helmut 495 Maizière, Lothar de 724–725 Mádl, Ferenc 213 Maléter, Pál 605 Mann, Siegfried 61, 107, 138, 261–263, 270, 708, 714 Mannherz, Károly 185, 724 Marjai, József 275, 280, 698, 700, 705 Martens, Wilfried 40 Matolcsy, György 59, 203, 210, 325, 669 Mazowiecki, Tadeusz 727 Medgyessy, Péter 93, 175–176, 275, 327, 396, 627–628, 723 Mellor, David 279 Mende, Erich 16 Mirbach, Dietrich von 23 Mischnick, Wolfgang 89–90, 105, 135–136, 240, 245–246, 262, 271, 495, 500, 706–707, 713 Mitterrand, François 40, 246 Mock, Alois 139, 324, 715 Modrow, Hans 171, 173, 600–601, 616–617, 675–676, 720, 723–724 Momper, Walter 712 Möllemann, Jürgen 107, 330, 499, 506, 594, 709 Mützelburg, Bernd 604, 607 Nádor, György 89 Nagy, Imre (Jugendverband) 543 Nagy, Imre (Ministerpräsident) 18, 85, 87, 130–131, 316–317, 322, 329, 386–387, 451, 453, 496, 703, 714–715 Nagy, István K. 17 Nagy, János 30 Nagy, Sándor 320, 443 Németh, Károly 73, 277 Németh, Miklós 46, 57, 59, 61–62, 68–70, 72, 77, 79, 81–83, 91–93, 95, 98, 101–107,

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110–112, 114–123, 125, 129, 137, 145–148, 153–154, 156–157, 160–163, 166–169, 174–177, 179–184, 186, 190–191, 193, 196–197, 202, 212–213, 215, 262–263, 266, 271–272, 330–331, 348, 351, 393–394, 414, 416–417, 444–445, 451–452, 454, 457–458, 486, 496, 498, 517, 525–531, 534–535, 548–549, 556, 582, 584–586, 588, 596–597, 604, 606–608, 611–612, 615–619, 677, 697–698, 700–701, 703, 705–707, 709–711, 713–714, 716–718, 720–722 Ney, György 385 Nyers, Rezső 72, 93, 120–121, 129, 138, 158–159, 174, 394, 396, 413, 498, 543, 548–555, 584, 606, 699, 703, 714–716, 719, 721 Oesterle-Schwerin, Jutta 495 Olesen, Kjeld 33 Orosz, József 385 Papandreou, Andreas 280 Péter, János 26, 29 Pfeifer, Anton 278, 283 Pflügler, Friedbert 180 Portugalow, Nikolai S. 603 Pozsgay, Imre 71–72, 90–93, 95–96, 98, 105, 107, 111, 119–121, 137, 154, 167–169, 276, 288, 348–349, 384–385, 390, 394, 396, 409, 412, 416, 452, 498, 543, 548–549, 584–586, 604, 606–608, 698, 706–708, 711–713, 716, 721 Puja, Frigyes 33, 38, 40, 42–43 Rademacher, Willy Max 19 Raft, Miklós 447 Rákosi, Mátyás 163, 387, 388 Rakowski, Mieczysław 66, 129, 527, 530, 553 Rau, Johannes 277, 697–698, 714 Reagan, Ronald 46, 265, 699 Rebmann, Kurt 82, 277, 704 Rickal, Elisabeth 283 Riesenhuber, Heinz 82, 231, 248, 400, 499, 507, 706 Romberg, Walter 727 Roth, Wolfgang 109, 261, 263, 271–272, 551, 555, 699, 703, 714 Röller, Wolfgang 528 Ruttner, György 532 Rühe, Volker 42, 138–139, 145, 152, 157, 168, 716 Rühl, Lothar 499 Ryschkow, Nikolai I. 103, 319, 322, 709

744 

 Namensregister

Sagladin, Wadim W. 603 Schamir, Jitzchak 105 Schäuble, Wolfgang 510, 697 Scheel, Walter 16, 29, 33 Schewardnadse, Eduard 526, 588, 669 Schiller, Karl 29, 32 Schily, Otto 106, 132, 246, 400, 498, 708 Schiwkow, Todor 531 Schlecht, Otto 261, 263, 269, 722 Schlesinger, Helmut 61, 261–263, 270 Schlett, István 99 Schoppe, Waltraud 246 Schreiber, Hans-Ludwig 328 Schröder, Gerhard 21 Schwann, Hermann 16 Seiters, Rolf 154, 718 Simonet, Henry 33 Sinowatz, Fred 40 Sólyom, László 161 Somogyi, Ferenc 142, 144, 517–519, 522–523, 664, 671, 716 Späth, Lothar 51, 63, 69, 107, 118, 137, 155, 202, 247, 262, 268–269, 271, 448, 496, 498, 664–667, 671, 678, 692, 701–702, 709, 714, 717–718, 726 Stadinger, István 705 Steger, Hans Alfred 251, 708 Stoltenberg, Gerhard 205, 601, 633, 688, 727 Strauß, Franz Josef 34, 63–64, 69, 246, 262, 266–267, 271, 305, 316, 701 Streibl, Max 107, 155, 194, 202, 261, 496, 498, 664–666, 678, 692, 711, 718, 726 Strougal, Lubomír 531 Stukalin, Boris I. 589 Sudhoff, Jürgen 114 Süssmuth, Rita 498, 678 Szabad, György 190, 212, 543, 694 Székely, Árpád 551 Székely, János 698 Szijártó, Károly 277 Szilágyi, Béla 26 Szokai, Imre 126–128, 168

Szűrös, Mátyás 42, 84, 93, 106–107, 151, 276, 278, 286, 317, 399, 583, 606, 608, 698, 707, 711, 721–722 Tabajdi, Csaba 126–128 Teltschik, Horst 47–49, 61, 64–65, 138, 153, 160, 169, 203, 212, 261, 263, 669, 714 Terborg, Margitta 551 Tétényi, Pál 231, 240, 248 Thierbach, Hans-Otto 261, 700 Tiedtke, Jutta 551 Tietmeyer, Hans 61, 261 Thatcher, Margret 40, 112, 606 Töpfer, Klaus 106, 400, 486–487, 499, 707 Uecker, Günter 283 Unland, Hermann Josef 261 Vályi, Péter 32 Vance, Cyrus 33 Várkonyi, Péter 40, 47, 52, 62, 68, 75, 84, 89, 105–106, 120, 305, 324, 397, 697, 700, 703–704, 706 Verheugen, Günter 131 Villányi, Miklós 120 Vogel, Bernhard 247 Vogel, Hans-Jochen 42, 62, 159, 240, 245, 272, 494, 510, 550–555, 586, 665, 670, 697, 719 Vogel, Wolfgang 142, 518, 521 537 Vollmer, Antje 495 Vranitzky, Franz 105, 279 Waigel, Theo 448–449, 602, 665, 727 Wallmann, Walter 497 Wałęsa, Lech 113, 527 Warnke, Jürgen 277–278 Weizsäcker, Richard von 47, 50–52, 60, 63, 206, 232, 240, 244, 315, 665, 667, 700, 725 Wehner, Herbert 16, 19, 34, 42 Well, Günter van 29 Wieczorek, Norbert 551, 555 Whitehead, John C. 280 Wolff von Amerongen, Otto 61, 138, 261 Wulff, Otto 131 Wüst, Gottfried 89, 705 Zarges, Axel 50, 261, 705 Zimmermann, Friedrich 82, 513, 683, 704