Puerto Rico zwischen beiden Amerika: Bd. I: Zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur einer Nation im territorialen Niemandsland (1898-1998) 9783964564696

1998 jährt sich zum 100. Mal die Intervention der USA auf Puerto Rico. Seitdem besitzt die Insel den Status eines '

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Puerto Rico zwischen beiden Amerika: Bd. I: Zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur einer Nation im territorialen Niemandsland (1898-1998)
 9783964564696

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
Kapitel 1. Die Vorgeschichte: vom militärischen Vorposten des spanischen Imperiums zur autonomen Provinz Spaniens [1493-1898]
Kapitel 2. Annexion und „Amerikanisierung": von der Euphorie über die Desillusion zur ambivalenten Kollaboration [1898-1930]
Kapitel 3. Konzessionen und Repression: von der kulturellen Selbstbehauptung und nationalistischen Agitation zum Sieg des autonomismo über den independentismo [1930-1952]
Kapitel 4. Der Estado Libre Asoäado: „Schaukasten" des American Way ofLife oder eine hispanoamerikanische Nation im territorialen Niemandsland [1952-1998]
Bibliographie

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Frauke Gewecke Puerto Rico zwischen beiden Amerika Bandl Zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur einer Nation im territorialen Niemandsland [1898-1998]

Frauke Gewecke

Puerto Rico zwischen beiden Amerika Band I

Zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur einer Nation im territorialen Niemandsland [1898-1998]

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1998

Gedruckt mit Unterstützung des Instituto de Cultura Puertorriqueña Impreso con la generosa ayuda del Instituto de Cultura Puertorriqueña

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gewecke, Frauke: Puerto Rico zwischen beiden Amerika / Frauke Gewecke. - Frankfurt am Main : Vervuert Bd. I. Zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur einer Nation im territorialen Niemandsland [1898-1998].-1998 ISBN 3-89354-102-0 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1998 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Einleitung Kapitel 1 Die Vorgeschichte: vom militärischen Vorposten des spanischen Imperiums zur autonomen Provinz Spaniens [1493-1898] Kapitel 2 Annexion und „Amerikanisierung": von der Euphorie über die Desillusion zur ambivalenten Kollaboration [1898-1930] Kapitel 3 Konzessionen und Repression: von der kulturellen Selbstbehauptung und nationalistischen Agitation zum Sieg des autonomismo über den independentismo [1930-1952] Kapitel 4 Der Estado Libre Asoäado: „Schaukasten" des American Way ofLife oder eine hispanoamerikanische Nation im territorialen Niemandsland [1952-1998] Bibliographie

Vorwort Am 25. Juli 1998 jährte sich zum hundertsten Mal - von der Weltöffentlichkeit kaum beachtet - die Invasion US-amerikanischer Truppen auf Puerto Rico, in jener Zeit von der Mehrheit der Puertoricaner enthusiastisch begrüßt, hofften doch die meisten auf eine schnelle Eingliederung als Bundesstaat in die Union. Doch kaum einer dieser Enthusiasten der ersten Stunde konnte voraussehen, daß (trotz der sukzessiven Zugeständnisse innerer Selbstverwaltung in bestimmten Bereichen) der zunächst der Insel zugesprochene, in der US-amerikanischen Verfassung gar nicht vorgesehene Status eines unincorporated territory — eines, völkerrechtlich gesehen, territorialen Niemandslandes oder schlicht: einer kolonialen Besitzung - über ein Jahrhundert andauern würde. Dieser Centenario besonderer Art wurde zum Anlaß genommen, der für Puerto Rico auf dem deutschen Buchmarkt bestehenden Informationslücke entgegenzuwirken und auch einem nicht spezialisierten Publikum die Problematik dieses territorialen Niemandslandes nahezubringen. Unter Bezug auf fundierte puertoricanische und US-amerikanische soziohistorische Studien wird der Frage nachgegangen, warum die Entwicklung in Puerto Rico so ganz anders verlief als in den übrigen ehemaligen spanischen Besitzungen. Gleichzeitig verfolgt das Projekt das Ziel, beim deutschen (und des Spanischen unkundigen) Leser Interesse zu wecken für eine überaus reiche Literatur, die in ihren thematischen Konstanten relativ homogen ist, indem sie in der Auseinandersetzung mit der konfliktiven Wirklichkeit einer hispanoamerikanischen Nation unter US-amerikanischer Herrschaft der genuin puertoricanischen Identität nachzuspüren und diese zu bewahren sucht. Uber die herausragenden Autoren Puerto Ricos, jeweils unter Berücksichtigung ihrer ideologischen und politischen Positionierung, wird der Leser bereits in diesem Band informiert; doch besteht die besondere Attraktivität dieses weitergreifenden Projekts in der gewiß ungewöhnlichen Kombination mit einem gleichzeitig erscheinenden zweiten Band — Konßktive Wirklichkeit im Spiegel der puertoricanischen Literatur - , in dem eine Anthologie von 26 Texten in deutscher Ubersetzung, vom politischen Essay und testimonio über Gedichte, Erzählungen, Romane und ein Theaterstück (z.T. in Auszügen), zusammengestellt und mit einer Einführung sowie einleitenden Kommentaren versehen wurden. Diese Textsammlung verleiht ebenjenen Auto-

8 ren eine Stimme, die uns aus ihrer Sicht als Betroffene die Binnenperspektive vermitteln. Beide Bände, thematisch verknüpft durch den gemeinsamen Obertitel - Puerto Rico %wischen beiden Amerika [1898 - 1998] - ergänzen sich, ermöglichen aber auch getrennt voneinander, zu einem Verstehen einer uns möglicherweise fernen und fremden Lebenswirklichkeit und Literatur beizutragen. (Die in dem vorliegenden Band genannten Autoren, die mit einem oder mehreren Beiträgen, in der Regel durch Titelnennung präzisiert, in der Anthologie vertreten sind, wurden zwecks leichterer Orientierung mit einem * versehen.) Danken möchte ich den puertoricanischen Freunden, vor allem Luce López-Baralt, Arturo Echavarría und Carmen Dolores Hernández de Trelles, die mich in meinem wissenschaftlichen Interesse wie auch in meinem persönlichen Engagement für die spezifische Problematik Puerto Ricos unterstützt und motiviert haben. Und nicht zuletzt gilt mein besonderer Dank Cornelia Funk-Leiva, Sabine Bersch und Elke Sagenschneider für ihre hilfreiche und kompetente redaktionelle Mitarbeit.

Einleitung Als am 12. Mai 1898 San Juan Bautista de Puerto Rico von der offenen See her durch einen gänzlich überraschend vor der Küste erschienenen Flottenverband unter Beschuß genommen wurde, geschah dies nicht zum ersten Mal in der nahezu 400jährigen Geschichte des für die Sicherung der spanisch-amerikanischen Besitzungen so bedeutenden Vorpostens in der Karibischen See. Doch dieses Mal handelte es sich nicht, wie in vergangenen Jahrhunderten, um Freibeuter oder Piraten, die im Auftrag einer europäischen Großmacht Spanien einen Teil seines überseeischen Imperiums abzujagen oder die Stadt nur zu plündern suchten. Am 12. Mai 1898 kam der feindliche Ubergriff von seiten der Vereinigten Staaten von Amerika, die durch ihr drei Wochen zuvor erfolgtes Eingreifen in den kubanischen Unabhängigkeitskampf zwar mit Spanien offiziell Krieg führten, deren Präsident, William McKinley, aber verkündet hatte, daß die USA mit ihrem militärischen Engagement allein den Freiheitswillen der Kubaner unterstützen wollten und eine eigene territoriale Expansion, die als „kriminelle Aggression" zu verurteilen wäre, nicht beabsichtigten.1 Für die Puertoricaner kam die Offensive der Vereinigten Staaten, die von der militärisch vorzüglich gesicherten Stadt problemlos zurückgeschlagen werden konnte, um so überraschender, als sie dem Unabhängigkeitskampf der Kubaner relativ wenig Beachtung geschenkt hatten, waren sie selbst doch gerade damit beschäftigt, die - nach Jahrzehnten des geduldigen Hoffens - im Jahr zuvor von Spanien gewährte Autonomie zu organisieren. Doch immerhin hatte die Kriegserklärung der USA an Spanien bewirkt, daß sich die Bewohner Puerto Ricos, dank der Autonomie den Bewohnern der spanischen Halbinsel rechdich gleichgestellt, auf ihren Spanien gebührenden Patriotismus besannen. Und so meldeten sich in San Juan wie auch in anderen Städten in großer Zahl Freiwillige zur Verteidigung der möglicherweise bedrohten spanischen naäonalidad: „eine festgefügte Menschenmasse", wie ein in Utuado gegründeter Verteidigungsausschuß pries, „ein einig denkender Geist und ein einig Herz, das voller Enthusiasmus für die Liebe schlägt,

1 Carr 1984:27.

10 die es der glorreichen spanischen Nation, seinem wahren Vaterland, entgegenbringt"2. Als dann aber nur wenige Wochen später, am 25. Juli, in Guänica im ungeschützten Süden der Insel US-amerikanische Truppen landeten und, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, das Land in kürzester Zeit besetzten, wurden sie, wie unzählige zeitgenössische Zeugnisse belegen, auf ihrem Vormarsch von Teilen aller Bevölkerungsschichten willkommen geheißen und vielfach bejubelt. Und derselbe Verteidigungsausschuß von Utuado, dessen Mitglieder sich noch im Juni als „ehrenhafte Spanier" angeschickt hatten, „Maßnahmen zur Verteidigung und Sicherung des Territoriums" zu ergreifen, bereitete den Anfang August eintreffenden US-amerikanischen Soldaten einen geradezu triumphalen Empfang und sandte dem Oberbefehlshaber der Truppen ein Telegramm, in dem es hieß: „ewige Dankbarkeit schulden die Bürger dieses Ortes der Regierung der Amerikanischen Union und dem erlauchten General Stone, da er als erster in dieser Stadt das Sternenbanner hißte"3. Der Jubel war nicht von Dauer. In dem am 10. Dezember 1898 ausgehandelten, jedoch erst am 11. April 1899 vom US-amerikanischen Kongreß ratifizierten Friedensvertrag von Paris wurde die Entscheidung über den künftigen politischen Status Puerto Ricos, dessen Abtretung an die Vereinigten Staaten Präsident McKinley als Ausgleich für die im Krieg erlittenen menschlichen und materiellen Verluste und damit de facto als Kriegsbeute eingefordert hatte, dem US-amerikanischen Kongreß übertragen. Doch dieser entsprach keineswegs der Erwartung oder Hoffnung breiter Sektoren der puertoricanischen Bevölkerung, den Puertoricanern sogleich die USamerikanische Staatsbürgerschaft zu gewähren und die Insel möglichst bald als Bundesstaat in die Vereinigten Staaten zu integrieren. Die Status-Frage — ob estadidad bzw. statehood, Autonomie oder Unabhängigkeit - war seit 1898 die Streitfrage, an der sich die politische Diskussion in Puerto Rico im wesentlichen orientierte und entzündete. Sie ist bis heute ungelöst, denn noch für den 1952 vom US-amerikanischen Kongreß gewährten Status des 'Estado Libre Asoäado de Puerto Rico oder Commonwealth of Puerto Rico gilt, was im April 1900 der republikanische Senator Joseph B. 2

La Correspondencia de Puerto Rico vom 13. 6. 1898; zitiert nach Picó 1987:45. (Hier und im folgenden wurden die fremdsprachlichen Zitate von der Verf. übersetzt.)

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Zitiert nach Picó 1987:74, 75.

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Foraker, Vorsitzender des gerade gegründeten Committee Ott the Pacific Islands and Puerto Rico, im Kongreß äußerte: „Puerto Rico gehört den Vereinigten Staaten, aber es ist nicht die Vereinigten Staaten und auch kein Teil der Vereinigten Staaten."4 Doch um die politische Entwicklung Puerto Ricos seit 1898 ebenso wie den tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Wandel, den das Land seit Beginn des Jahrhunderts erlebte, nachzuvollziehen, bedarf es eines Rückgriffs auf die Vorgeschichte seit Beginn der Kolonialzeit. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem 19. Jahrhundert gewidmet sein, in dem sich jene sozialen und mentalen Strukturen herausbildeten, die bewirkten, daß Puerto Rico — „Schaukasten" des American Way of Life in der Karibik für die einen, Szenario des US-amerikanischen Kolonialismus und Imperialismus für die anderen - nie die völkerrechtliche Unabhängigkeit erlangte und, ginge es nach dem Willen der überwältigenden Mehrheit der Puertoricaner heute, nie erlangen wird.

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Zitiert nach Fernandez 1996:2.

Kapitel 1 Die Vorgeschichte: vom militärischen Vorposten des spanischen Imperiums zur autonomen Provinz Spaniens [1493-1898] Die von den Einheimischen Borinquen oder Boriquen genannte Insel wurde von Christoph Kolumbus auf seiner zweiten Reise im November 1493 unter dem Namen San Juan Bautista für die spanische Krone in Besitz genommen. Doch erst 15 Jahre später erfolgte durch Juan Ponce de Leon, 1509 zum Gouverneur ernannt, die Kolonisierung des Territoriums, das bei Ankunft der Spanier von 30.000 bis 50.000 Tainos vom Volk der Aruak oder Arawak besiedelt war.1 Wie auf den meisten Inseln der Karibik wurde auch auf San Juan Bautista durch von den Spaniern eingeschleppte Krankheiten, durch faktische Versklavung und durch Massaker anläßlich des durchaus geleisteten Widerstands die indigene Bevölkerung in kurzer Zeit so drastisch dezimiert, daß bereits im 16. Jahrhundert afrikanische Sklaven eingeführt wurden, um die Nachfrage nach Arbeitskräften für den in bescheidenem Umfang begonnenen Zuckerrohranbau zu befriedigen. Doch anders als etwa auf Kuba und Hispaniola konnte sich ein Teil der indigenen Bevölkerung dem Zugriff durch die Spanier über den Rückzug in das gebirgige Landesinnere entziehen, wo 1787 entsprechend einer offiziellen Erhebung noch 2.302 Indios überlebt hatten.2 Nachdem die nur wenig ergiebigen Goldminen erschöpft waren und sich die Nachrichten von den fabulösen Reichtümern des Kontinents auch auf San Juan Bautista verbreitet hatten, erlebte die Insel, wie Hispaniola und Kuba gleichermaßen, in den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts eine massive Abwanderung der im wesentlichen auf schnellen Reichtum bedachten spanischen Eroberer - trotz Verbots und drastischer Maßnahmen von seiten der Administration, die nicht zögerte, zwecks Abschreckung den (mißglück1 Die diesbezüglichen Schätzungen der verschiedenen Autoren gehen weit auseinander; gänzlich unrealistisch erscheint die Angabe bei Abbad y Lasierra, der in seiner 1782 fertiggestellten Historia für Puerto Rico vor Ankunft der Spanier eine Bevölkerung von mehr als 600.000 Indios angibt (1959:151). 2 Brau 1983:173.

14 ten) Fluchtversuch eines Ausreisewilligen mit dem Amputieren von Gliedmaßen oder dem Galgen zu bestrafen. 1530 wurden auf der Insel 327 weiße Siedler und 2.292 schwarze Sklaven gezählt, und am Ende des Jahrhunderts hatte sich die (amtlich erfaßte) Bevölkerung nur unwesentlich, auf insgesamt 3.600 Personen, erhöht. 3 Bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts reduzierte sich für Spanien der Wert seiner Besitzung, mittlerweile umgetauft in Puerto Rico — der Name, der ursprünglich dem heutigen San Juan gegeben worden war - , auf ihre strategisch günstige Position. Allein die im Norden gelegene Hafenstadt San Juan, neben Kuba die wichtigste Zwischenstation für die mit Edelmetallen beladenen, folglich besonders gefährdeten Flottenverbände auf ihrem Rückweg nach Spanien und daher zum Schutz gegen die zahlreichen Angriffe von außen zur Festung ausgebaut, genoß als administratives und militärisches Zentrum die Aufmerksamkeit der Metropole, die sich allerdings ab 1586 ihre diesbezüglichen Anstrengungen durch den situado, eine vom Vizekönigreich Neu-Spanien (Mexiko) zu leistende jährliche Ausgleichszahlung, subventionieren ließ. Das Hinterland, bis heute als Gegenpol zur Hauptstadt San Juan „die Insel" genannt, erfuhr hingegen keinerlei Förderung. Hier lebten die Menschen unter prekären Bedingungen auf kleinen isolierten Parzellen in Subsistenzwirtschaft, und ihr Uberleben sicherten sie schließlich unter Umgehung des spanischen Handelsmonopols durch den Schmuggel — Tausch von Tierhäuten, Tabak oder Holz gegen lebensnotwendige, über den Handel mit Spanien nur teuer zu erwerbende Waren - mit Ausländern und denselben Freibeutern oder Piraten, gegen deren Übergriffe sie sich oft genug zur Wehr setzen mußten. Alejandro O'Reylly, Sondergesandter des spanischen Königs, nannte nach einer 1765 unternommenen Inspektionsreise in seiner Memoria die auf der Insel lebenden Menschen „die ärmsten, die es in Amerika gibt"4. Und das erste historiographische Werk über Puerto Rico, die Historia Geográfica, Civily Natural de la Isla de San Juan Bautista de Puerto Rico (1788) des Klerikers Fray Agustín Iñigo Abbad y Lasierra, die, ebenso wie die Memoria von O'Reylly, detaillierte Hinweise auf dringend notwendige Reformen, insbesondere die zwecks Unterbindung des Schmuggels angezeigte Liberalisierung des Außenhandels, enthält, betont, daß die Bewohner der Insel ohne diese Reformen „in derselben Armut und Trostlosigkeit le-

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Silén 1980:52, 54. O'Reylly 1957:248.

15 ben werden wie bisher, und dies zu Lasten des Staates, wo doch diese Insel eine der reichsten Besitzungen der spanischen Krone sein könnte"5. Die Mahnungen und dringenden Empfehlungen O'Reyllys und Abbads wurden von der Metropole durchaus ernst genommen. Nach und nach verfugte die Krone eine Liberalisierung der Handelsbeschränkungen, eine Lokkerung der bis dahin für Ausländer geltenden restriktiven Einwanderungsbestimmungen und eine Förderung der exportorientierten Agrarproduktion, vornehmlich von Zucker, Tabak und Kaffee: eine Politik, die den merkantilistischen Interessen der Metropole entsprach und überdies hoffen ließ, die administrativen Kosten der Kolonie endlich aus eigenen Steuer- und Zolleinnahmen decken zu können. Und dies stellte 1810 ein geradezu existentielles Problem dar, da Mexiko im Gefolge der politischen Unruhen, welche das Land in die Unabhängigkeit führen sollten, die Zahlung des situado verweigerte. Die in diesem Zusammenhang — und für die politische wie soziale Entwicklung des 19. Jahrhunderts - folgenreichste Maßnahme war die 1815 erlassene Cedula de Graäas, die (u.a.) für kapitalkräftige (katholische) Immigranten neben Steuervergünstigungen die kostenlose Zuteilung eines beträchtlichen Stücks bebaubaren, im Besitz der Krone befindlichen Landes vorsah. Es kamen Tausende: Katalanen, Mallorquiner, Franzosen, Korsen und andere Europäer. Es kamen aber auch zahllose Immigranten aus den kontinentalen spanischen Besitzungen, insbesondere aus Venezuela, die sich den Unabhängigkeitsbestrebungen dort widersetzten und sich als loyale Untertanen der spanischen Krone in Puerto Rico niederließen, wo der Kampf auf dem Kontinent zwar in Teilen der Bevölkerung auf Sympathie stieß, ein das System gefährdendes Ubergreifen des revolutionären Funkens aber aufgrund der starken militärischen Präsenz der Metropole und nicht zuletzt auch aufgrund der eingeleiteten Reformen nicht erwartet wurde.6

5 Abbad y Lasierra 1959:193. 6 Kurz nach ihrer Unabhängigkeit planten (u.a.) Mexiko und Groß-Kolumbien, Puerto Rico und Kuba durch eine militärische Aktion gleichermaßen von spanischer Herrschaft zu befreien, doch wurde dies durch die Intervention Englands, insbesondere aber der Vereinigten Staaten verhindert. Denn die USA waren zu diesem Zeitpunkt noch an der Aufrechterhaltung des status quo in Puerto Rico wie in Kuba interessiert, da ihnen eine zukünftige Annexion oder auch ein Kauf der beiden Inseln, in ihr politisches Kalkül bereits einbezogen, schwerer durchsetzbar erschien, wenn Puerto Rico und Kuba unabhängig waren, statt noch

16 Der Zuzug frischen Kapitals und die Maßnahmen der Verwaltung, die auf eine Konzentration des Landbesitzes und damit auf die Herausbildung von Plantagen und Hazienden ebenso wie auf die durch Zwangsverpflichtung gesicherte Bereitstellung eines stets verfügbaren Heeres von Tagelöhnern abzielten, verfehlten ihre Wirkung nicht. Bereits mit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts setzte ein regelrechter Zuckerboom ein, mit dem 1871 69% der Exporterlöse erwirtschaftet werden konnten. Mit dem letzten Drittel des Jahrhunderts aber geriet die Zuckerproduktion in eine Krise, bedingt durch die Konkurrenz des billigeren europäischen Rübenzuckers und den endemischen Mangel an einheimischem Kapital, der die notwendige Modernisierung der Produktion verhinderte. Zwar wurde das Produktionsvolumen kaum reduziert, doch die Exporterlöse — um 1880 29% und 1896 nur noch 21% des Gesamtvolumens — blieben weit hinter denen des Kaffees zurück, dessen Anbau seit Mitte der 50er Jahre — mit einem Anteil am Exporterlös von 55% um 1880 und sogar 77% für 1896 — zum dynamischsten Sektor der Agrarwirtschaft aufsteigen konnte, wurde er doch vor allem in Europa aufgrund seiner hohen Qualität besonders geschätzt.7 Doch die extreme Ausrichtung der landwirtschaftlichen Produktion auf den Export bewirkte neben der Abhängigkeit von den Weltmarktpreisen und der Gefährdung durch mögliche Importbeschränkungen von seiten der traditionellen Abnehmerländer eine weitere, noch schwerer wiegende Folgeerscheinung: die allmähliche Verdrängung der kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaft, die 1827 noch über mehr als 70%, am Ende des Jahrhunderts hingegen nur noch über ca. 35% der Anbauflächen verfügte. 8 So kam es zu einer zunehmenden Verknappung von Nahrungsmitteln auf dem einheimischen Markt, die bereits seit Mitte des Jahrhunderts durch steigende Importe ausgeglichen werden mußte. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erlebte Puerto Rico ein ungeheures Bevölkerungswachstum, initiiert durch die Immigrationswellen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Während Abbad y Lasierra für das Jahr 1776 etwa 70.000 Einwohner errechnete, belief sich deren Zahl 1820 bereits auf über 230.000, um bis zum Jahr 1899 nahezu 1 Million zu

unter der Herrschaft einer Kolonialmacht zu stehen, deren endgültiger Niedergang voraussehbar war (Gömez Robledo 1958:75ff.). 7 Dietz 1992:44. 8 Quintero Rivera 1988:37.

17 erreichen. 9 D o c h blieb Puerto Rico bis zum Ende des Jahrhunderts ländlich geprägt; nur etwa 15% der Gesamtbevölkerung lebten in Ortschaften mit mehr als 2.000 Einwohnern, und San Juan beherbergte 1899 mit 3,3% in etwa denselben Bevölkerungsanteil wie 1827. 10 Diese Gesellschaft, die noch am Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund des Fehlens einer angemessenen Infrastruktur und aufgrund gravierender Klassenunterschiede weit davon entfernt war, sich als nationale Gemeinschaft zu formieren, brachte jedoch, gebunden an unterschiedliche Lebensräume und Produktionsweisen, spezifische Lebensformen hervor, die der politischen Artikulation der verschiedenen Fraktionen entscheidende Impulse vermittelten. In den Küstenebenen dominierte die auf den Anbau von Zuckerrohr ausgerichtete Plantagenwirtschaft, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts noch wesentlich auf Sklavenarbeit beruhte 1 1 , in der zweiten Hälfte dann auf die billigere Lohnarbeit vonjornaleros (oder Tagelöhnern) zurückgriff, welche in der Regel nur während der ömonatigen Erntezeit auf der Plantage beschäftigt (und entlohnt) wurden. In der montana, dem gebirgigen Hinterland, entwickelte sich im Umfeld mittlerer, auf den Kaffeeanbau spezialisierter Hazienden hingegen eine auf dem Grundrecht basierende, relativ stabile patriarchalische oder semi-feudale Gesellschaftsstruktur, in welcher der hacendado als padre de agrego dem Pächter oder agregado gegen Arbeitsleistungen ein Stück Land zur Eigenbewirtschaftung überließ, ihn aber gleichzeitig als billige Arbeitskraft dadurch an sich band, daß das informelle Vertragsverhältnis jederzeit widerrufen werden konnte und der agregado verpflichtet war, sich in der dem hacendado gehörenden tienda de raya — zu überhöhten Preisen und in der Regel über Schuldverschreibungen - mit den notwendigen Waren zu versorgen. Einen Großteil der ländlichen Bevölkerung der montana stellten zunächst die unabhängigen Kleinbauern, die im wesendichen für den eigenen Ver9 Abbad y Lasierra 1959:151,153;Dietz 1992:48. 10 Pico 1987:23; Quintero Rivera 1988:39, 40. 11 Der Anteil der schwarzen Sklaven an der Gesamtbevölkerung erreichte in Puerto Rico nie die Ausmaße anderer Kolonien in der Karibik wie etwa Kuba und Haiti. Nach Abbad y Lasierra (1959:153) lebten 1776 etwa 6.500 Sklaven (= wenig über 9% der Gesamtbevölkerung) auf der Insel. Bis 1846 erhöhte sich ihre Zahl auf etwa 51.000 (= knapp 12% der Gesamtbevölkerung); bei Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1873 stellten die Sklaven mit etwa 30.000 Personen nur noch gerade 5% der Gesamtbevölkerung (Blanco 1985:116; Dietz 1992:53).

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brauch produzierten, jedoch zunehmend Kaffee in kleineren Mengen für den lokalen Markt oder auch den Export lieferten. Auch sie bildeten eine spezifische Lebensform heraus, die des jíbaro12: eine Lebensform, die trotz der durch extreme Armut, Mangel- und Fehlernährung, Analphabetismus und endemische Krankheiten geprägten Lebensbedingungen die Menschen über enge familiäre Bindungen und das Beziehungsgeflecht des compadrazgo zu einer Solidargemeinschaft zusammenfügte und die im 20. Jahrhundert als Inbegriff der puertorriqueñidad, der puertoricanischen Identität, gelten sollte. Doch die auf eine den Agroexport fördernde Konzentration des Grundbesitzes abzielenden Maßnahmen der zentralen Verwaltung — Umwandlung von Gemeindeland in Privatbesitz, Forderung des (von den Kleinbauern häufig nicht erbringbaren) Nachweises von Besitztiteln, Erhebung bzw. Erhöhung von Grundsteuern — waren die Ursache dafür, daß viele kleinbäuerliche Familien im Verlauf des 19. Jahrhunderts ihr Land verloren und sich als agregados in die Abhängigkeit eines hacendado begeben mußten oder als jornaleros zum Landproletariat degradiert wurden. Allerdings war der jíbaro, der sich mit der Befriedigung seiner bescheidenen Ansprüche begnügte, in der Regel nur schwer dazu zu bewegen, sich als Tagelöhner in ein dauerhaftes, zudem schlecht bezahltes Arbeitsverhältnis zu begeben. So sah sich die koloniale Verwaltung mehrfach veranlaßt, über rigide Arbeitsverordnungen den vermeindich „indolenten" jíbaro, der keiner geregelten Arbeit nachging, zum Landstreicher zu erklären und unter Androhung von Strafe in ein Arbeitsverhältnis zu zwingen. 13 Die Großgrundbesitzer, insbesondere die hacendados der montaña, einst von der zentralen Verwaltung gefördert, sollten im letzten Drittel des Jahr12 ,Jibaro" bezeichnete ursprünglich eine der auf Puerto Rico lebenden indigenen Gruppen, die sich vor dem Zugriff durch die Spanier in das gebirgige Hinterland geflüchtet hatten. 13 Die weitreichendste, 1849 edassene und erst 1873 wieder aufgehobene Verordnung verpflichtete jeden männlichen Arbeitsfähigen über 16 Jahre, der nicht über Kapitaleinkünfte verfugte oder ein Gewerbe betrieb, sich in seiner Gemeinde registrieren zu lassen und stets eine äbreta mit sich zu fuhren, mit der er ein Arbeitsverhältnis nachzuweisen hatte. Besonders verhaßt war das System der libreta dadurch, daß auf ihr auch die dem jeweiligen Arbeitgeber geschuldeten Geldsummen verzeichnet wurden, ein Wechsel des Dienstverhältnisses aber erst dann möglich war, wenn diese Schulden getilgt waren, so daß sich die Verfügungsgewalt des bacendado über seinen jornalero auch in besonders niedrigen Löhnen niederschlagen mochte.

19 hunderts zur sozial fuhrenden — und mit der Metropole in Konflikt geratenden - Klasse aufsteigen. Doch auch ihre wirtschaftliche Potenz war eingeschränkt, da sie mit ihrer exportorientierten Agrarproduktion vom Außenhandel abhingen und zudem in der Regel über wenig Kapital verfugten. Der Außenhandel und die Kreditvergabe aber lagen in der Hand der peninsulares bzw. Europaspanier, die von der Zentralverwaltung mit diesbezüglichen Privilegien ausgestattet waren und insbesondere ihr Monopol der Kreditvergabe dazu nutzten, die Kleinbauern ebenso wie die Großgrundbesitzer durch Wucherzinsen in ihre Abhängigkeit zu zwingen, und so für erheblichen sozialen Zündstoff sorgten. Die bereits von Abbad y Lasierra für das 18. Jahrhundert festgestellte Unterscheidung von peninsulares bzw. Europaspaniern - „Menschen von jenseits des Meeres" - und criollos bzw. Kreolen — „all jene, die auf der Insel geboren sind, ohne Ansehen der Kaste oder Rassenmischung, der sie entstammen"14 - manifestierte sich im 19. Jahrhundert auf politischer Ebene in dem Gegensatz zwischen Konservativen und Liberalen, die sich aber erst Anfang der 70er Jahre mit der Gründung von Parteien einen institutionellen Rahmen schufen. Zu den Konservativen, vorwiegend peninsulares, zählten neben Vertretern der kolonialen Verwaltung, des Militärs und des Klerus die den Außenhandel beherrschenden Kaufleute und einige für den spanischen Absatzmarkt produzierende Großgrundbesitzer. In ihren auf den wirtschaftlichen Fortschritt ausgerichteten Ideen gaben sie sich liberal, was den (zunächst widersprüchlich erscheinenden) Namen ihrer 1871 als Partido Uberal Conservadorgegründeten Partei in den Augen der Zeitgenossen durchaus rechtfertigte. Entscheidend für ihre ideologische und politische Positionierung aber war die bedingungslose Identifizierung mit der Metropole — sichtbar in der 1880 erfolgten Umbenennung der Partei in Partido Espanol sin Condiäones oder Partido Incondicional Espanol —, die sie dazu bewog, sich jedem Ansatz administrativer oder gar politischer Reformen zu widersetzen. Die Liberalen, vorwiegend criollos, die sich aus dem Kreis der kleineren, auf den Binnenhandel ausgerichteten Kaufleute, der mittleren, auf die Erschließung neuer Märkte zielenden Grundbesitzer und der Vertreter der freien Berufe wie Anwälte, Arzte, Lehrer und Journalisten rekrutierten, zeigten sich in ihren programmatischen Aussagen weniger konsequent. Zunächst plädierten sie für eine Gleichbehandlung mit den Provinzen im Mutterland und damit für eine vollständige Assimilierung an Spanien. Mit Beginn der 14 Abbad y Lasierra 1959:181.

20 80er Jahre aber wuchs die Zahl derer, die - unter gleichzeitiger Betonung auch ihrer Loyalität gegenüber der Metropole — eine Autonomie anstrebten, was sich schließlich 1887 darin manifestierte, daß sich die 1870 als Partido Liberal Reformista gegründete Partei in Partido Autonomista Puertorriqueño umbenannte. Allerdings war man sich zunächst nicht einig darüber, ob diese Autonomie nur rein administrative oder auch politische Reformen beinhalten sollte. Die innenpolitische Konstellation war während des gesamten 19. Jahrhunderts eng an die turbulenten Wechselfälle der politischen Ereignisse in Spanien gebunden. Die liberale Verfassung von Cádiz - in den Cortes, dem spanischen Parlament, das die Verfassung 1812 verabschiedete, war Puerto Rico mit einem Deputierten, dem Liberalen Ramón Power y Giralt, vertreten — hatte die Insel, bereits kurz zuvor zur spanischen Provinz erklärt, wie alle überseeischen Gebiete der Metropole rechtlich gleichgestellt und in ihrem ersten Artikel erklärt: „Die spanische Nation ist der Zusammenschluß aller Spanier beider Hemisphären." 15 Doch die Phasen einer verfassungskonformen Politik, in der die Liberalen dominierten, waren nur kurz. Entsprechend den sich wandelnden politischen Konstellationen im Mutterland und den daraus resultierenden reaktionären Verfassungen, die eine Regierung der „Provincias de Ultramar" über Sondergesetze und keine Vertretung derselben in den Cortes vorsah, erlebte Puerto Rico über lange Perioden eine absolutistische Herrschaft meist unfähiger Gouverneure, die unter der Schirmherrschaft der Katholischen Kirche eine fortschreitende Militarisierung von Politik und Gesellschaft bewirkten16 und unter denen die Libera-

15 In: Esteban 1988:46. Bereits kurz nach Eröffnung der Cortes, im Oktober 1810, war durch die Initiative des puertoricanischen Deputierten diese entscheidende Feststellung in einem Dekret vorweggenommen worden. Darin hieß es, „die spanischen Besitzungen in beiden Hemisphären bilden ein und dieselbe Monarchie, ein und dieselbe Nation und eine einzige Familie, und demzufolge sind diejenigen, die aus den besagten europäischen oder überseeischen Besitzungen stammen, denen der Halbinsel rechtlich gleichgestellt". (Zitiert nach Bayrón Toro 1979:17). 16 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts verwendete die Verwaltung allein 43% ihres Budgets auf den Unterhalt der in Puerto Rico stationierten Truppen (Jiménez de Wagenheim 1992:50). Für die öffentliche Erziehung blieb hingegen wenig Geld: So wurde gegen Ende des Jahrhunderts dreimal soviel für kirchliche Belange ausgegeben wie für das gesamte Erziehungswesen, und dieses kostete die

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len die bevorzugten Opfer politischer Verfolgung waren, so daß sie ihre Ziele nicht durchzusetzen vermochten. 17 Ab Mitte der 70er Jahre, wenige Jahre nachdem Puerto Rico per Dekret wieder in die spanischen Cortes integriert worden war, beherrschten die Konservativen oder incondidonales die politische Szene: ein homogener Block, der, favorisiert durch die koloniale Verwaltung, aus den Wahlen zu den Cortes, wenn auch häufig nur durch Manipulation und Betrug, meist als Sieger hervorging. Die Liberalen oder autonomistas, durch permanente Wahlniederlagen desillusioniert, durch massive Verfolgung in ihrer Organisation gefährdet 18 , schließlich auch durch interne Widersprüche und Fraktionskämpfe geschwächt, waren als Partei beständig von Spaltung oder Auflösung bedroht. Von den Konservativen wurden die Liberalen separatistischer Bestrebungen verdächtigt; dies jedoch völlig zu Unrecht, denn wie die Konservativen strebten auch sie — mit Ausnahme der wenigen ins Exil gezwungenen Befürworter der Unabhängigkeit wie Ramón Emeterio Betances oder Eugenio María de Hostos - zu keinem Zeitpunkt danach, den „Pakt" mit Spanien aufzukündigen. Und so verurteilten Konservative wie Liberale gleichermaßen jede Form einer auf die Unabhängigkeit abzielenden Aktion — wie etwa den einzigen, 1868 mit dem sogenannten „Grito de Lares" unternommenen, jedoch kläglich gescheiterten Versuch, eine unabhängige Republik Puerto Rico zu errichten.19 Verwaltung gerade einmal soviel wie das Gehalt des Gouverneurs (Lewis 1963:55). 17 Der einzige Erfolg, den die Liberalen bis gegen Ende des Jahrhunderts erzielen konnten, war die bereits ab 1867 von ihnen geforderte und schließlich 1873 Spanien war vorübergehend Republik - von den Cortes verfugte Abschaffung der Sklaverei, die zu diesem Zeitpunkt ihre Bedeutung als wirtschaftlicher Faktor ohnehin längst eingebüßt hatte. 18 Die massivste Verfolgung, die vielen Verhaftung, Folter und Exil einbrachte, erlebten die Liberalen im „año terrible" 1887 infolge der ihnen (als Partei zu Unrecht) zur Last gelegten Aktionen verschiedener durch Privatinitiative gegründeter Geheimgesellschaften, welche die Bevölkerung (nicht ohne Erfolg) zum Boykott von Europaspaniem gehörenden Geschäften aufriefen, um die einheimische Produktion und den einheimischen Handel zu stärken. 19 Der von Ramón Emeterio Betances aus dem Exil inspirierte und vor Ort von kreolischen hacendados angeführte Aufstand, an dem zwischen 500 und 1000 Personen, vor allem kleine Kaufleute, Kleinbauern, Tagelöhner und auch Sklaven, beteiligt waren, scheiterte im wesentlichen aus zwei Gründen: Zum einen war Betances, der auf St. Thomas darauf wartete, sich rechtzeitig zu dem verab-

22 Mit Beginn der 90er Jahre des Jahrhunderts sollten sich nun aber, bedingt durch die gestärkte wirtschaftliche Position der Kreolen sowie die aktuellen politischen Konstellationen in Spanien, die Machtverhältnisse in Puerto Rico radikal zugunsten der autonomistas verschieben. Die treibende Kraft war Luis Muñoz Rivera, Herausgeber der einflußreichen Zeitung La Democraäa, der in einer wahren Pressekampagne unermüdlich für seine Idee warb, die Autonomie über einen Pakt mit einer metropolitanen Partei durchzusetzen. 1896 gelang es ihm, mit dem Vorsitzenden des Partido Liberal Fusionista Español, Práxedes Mateo Sagasta, einen solchen Pakt zu vereinbaren: Der Partido Autonomista Puertorriqueño schloß sich der Partei Sagastas an und nannte sich fortan Partido Liberal Fusionista Puertorriqueño; dafür versprach Sagasta eine weitgehende Autonomie, falls er, der sich gerade in der Opposition befand, wieder an die Macht gelangen sollte — was angesichts der turbulenten, durch den permanenten Wechsel liberaler und konservativer Regierungen geprägten innenpolitischen Lage in Spanien durchaus realistisch war. Im Oktober 1897, nach der Ermordung des konservativen Regierungschefs Cánovas del Castillo durch einen Anarchisten, gelangte Sagasta in der Tat wieder an die Macht, und bereits in der ersten Ministerratssitzung seiner neuen Regierung verfugte er für Kuba und Puerto Rico eine weitgehende Autonomie. Allerdings erfolgte dieses Zugeständnis sicher nicht allein zwecks Einlösung des den puertoricanischen Liberalen gegebenen Versprechens, sondern vorrangig in dem verzweifelten Versuch, den militärisch für Spanien ungünstig verlaufenden kubanischen Unabhängigkeitskrieg doch noch zu Gunsten der Metropole zu entscheiden: durch eine politische Kompromißlösung, die schließlich auch den Vereinigten Staaten den argumentativen Boden für eine mögliche Intervention entziehen würde. Die am 25. November 1897 von der Regentin María Cristina unterzeichnete Carta Autonómica erbrachte für Puerto Rico nicht nur die (neuerliche) rechtliche Gleichstellung mit den Provinzen in Spanien; sie verfügte — neben redeten Termin mit seinen Gefolgsleuten und Waffen einzuschiffen, durch Intervention der spanischen Behörden an der Ausreise gehindert worden, und da durch einen unglücklichen Zufall das geplante Datum der Erhebung der Polizei bekannt geworden war, mußte der Aufstand, nunmehr ohne die Beteiligung der von Betances rekrutierten Männer, vorvedegt werden; zum andern stieß die Bewegung in der Bevölkerung nicht auf die notwendige Unterstützung, so daß sie von den spanischen Truppen in kurzer Zeit zerschlagen werden konnte.

23 der Einsetzung eines vom König zu ernennenden Gouverneurs als Repräsentant der spanischen Krone - die Einrichtung eines aus zwei Kammern bestehenden insularen Parlaments, das befugt war, die innenpolitischen Belange eigenverantwortlich zu regeln, den Haushalt ebenso wie Steuern und Zölle selbst zu bestimmen und aus Eigeninitiative mit anderen Staaten Handelsabkommen zu vereinbaren, die allerdings der Zustimmung der Metropole bedurften. Für die Interessen der hacendados besonders förderlich war die Verfugung der lokalen Autonomie der Munizipien sowie das (die Frauen ausschließende) allgemeine Wahlrecht, denn die Munizipien standen weitgehend unter ihrer Kontrolle, und die von ihrem Wohlwollen abhängenden agregados, jornaleros und auch Kleinbauern (in der Regel Analphabeten) bei der Stimmabgabe in ihrem Sinne zu beeinflussen dürfte den hacendados nicht schwer gefallen sein. Und schließlich wurde festgelegt, daß eine Änderung der neuen Verfassung nur „kraft eines Gesetzes und auf Ersuchen des insularen Parlaments" erfolgen konnte.20 Die im März 1898 anberaumten Parlamentswahlen erbrachten einen überwältigenden Sieg für die Partei Muñoz Riveras, der als Vorsitzender des Ministerrats die Führung der neuen Regierung übernahm. Am 17. Juli trat das neugewählte Parlament zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen; doch bereits eine Woche später landeten die ersten US-amerikanischen Invasionstruppen, und kurz darauf wurde das Parlament formlos aufgelöst. Damit endete die ephemere politische Vorherrschaft der kreolischen Elite: eine Vorherrschaft, auf die sie geduldig hingearbeitet hatte und die endlich ihrer während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts erlangten wirtschaftlichen Potenz entsprochen hatte.21 Ihre in diesem Zeitraum entwickelten Ziele und Strategien, die sich nach der US-amerikanischen Inva20 In: García Martínez 1996:113. Diese Bestimmung, auf die sich die Puertoricaner in der Folgezeit beständig berufen sollten, war als Zusatzartikel der Verfassung beigefügt; sie erscheint zwar stets abgedruckt als Bestandteil der Carta Autonómica, wurde aber aufgrund der Kriegsereignisse nicht mehr von den Cortes, wie erforderlich, ratifiziert (Bothwell 1988:45). 21 Diese Konstellation manifestierte sich in eindrucksvoller Weise in dem Aufstieg der im Süden des Landes gelegenen, sich mit aristokratischem Gepräge schmükkenden Stadt Ponce, wichtigster Ausfuhrhafen und Bastion jener kreolischen hacendados, denen es gelang, auch im Außenhandel Fuß zu fassen und die das Autonomieprojekt Muñoz Riveras - nicht zufällig erschien seine Zeitung La Democraäa in Ponce und nicht in San Juan — entscheidend unterstützten. (Vgl. hierzu Quintero Rivera 1988:37ff.).

24 sion kaum wesentlich ändern sollten, hatten sich gegenüber Spanien mit der Carta Autonómica als durchsetzbar und realistisch erwiesen. Ihr vorrangiges Ziel war stets die Beteiligung an der Macht, und dazu bedurfte es zunächst der Zustimmung der Metropole, die im Zentrum der Aufmerksamkeit stand und deren Wohlwollen zu gewinnen einen Großteil der politischen Energien absorbierte. Doch war man durchaus auch bemüht, das eigene Anliegen dem puertoricanischen Volk als „nationales Projekt" nahezubringen, dies allerdings, wie Luis Muñoz Rivera richtig erkannte, ohne Erfolg: „denn nach 25 Jahren beharrlicher Bemühungen ist es uns noch immer nicht gelungen, die Massen aufzurütteln, um das Eis ihrer Teilnahmslosigkeit zu brechen und in ihren Herzen das geheiligte Feuer des Patriotismus zu entfachen" 22 . Patriotismus war das Losungswort der Stunde. Er richtete sich nicht gegen die Metropole, sondern gegen die peninsulares im Lande selbst, womit gewissermaßen die eigene Konkurrenz als anti-nationale Kraft für den Zustand der Kolonie verantwortlich gemacht wurde, nicht aber die existierenden Klassengegensätze, die schließlich das Fundament der für die hacendados so vorteilhaften ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen bildeten. So war es nur konsequent, daß das „nationale Projekt" der kreolischen Elite keinerlei Ansätze zu einem sozialpolitischen Reformprogramm beinhaltete. Doch über der Frage, mit welchen politischen Kräften in der Metropole paktiert werden sollte, war es zu einer Spaltung der autonomistas gekommen. Während Luis Muñoz Rivera für ein Bündnis mit der monarchistischen Partei Sagastas plädierte, befürwortete José Celso Barbosa als Antagonist Muñoz Riveras, der auch in den nachfolgenden Jahren eine führende Rolle spielen sollte, ein Bündnis mit den Republikanern unter Francisco Pi y Margall. Mit dem (durchaus realistischen) Argument, daß eine Republik in Spanien derzeit undenkbar war und die Republikaner — seit dem Ende der „Ersten Republik" 1874 in den Cortes eine unbedeutende Minderheit — kaum als machtvolle Verbündete für die Durchsetzung der eigenen Ziele gelten konnten, vermochte sich Muñoz Rivera innerhalb des Partido Uberai durchzusetzen. Barbosa, gefolgt von den republikanisch gesinnten Vertretern der freien Berufe, verließ daraufhin die Partei und gründete den Partido Autonomista Ortodoxo oder Puro y Radical, unterlag aber bei den ersten unter der neuen Verfassung anberaumten Wahlen zu den spanischen Cortes 1898 mit knapp 16%

22 „Las causas del mal (1)" (1891); in: Muñoz Rivera 1925:1, 24.

25 der abgegebenen Stimmen der Partei Muñoz Riveras, die nahezu 81% erreichte und nunmehr vorrangig die Interessen der hacendados vertrat. 23 Die Spaltung des Partido Liberal bewirkte mit Blick auf die nachfolgende Entwicklung eine Schwächung der kreolischen Elite. Der Sieg Muñoz Riveras, dessen Strategie sich schließlich als erfolgreich erwiesen hatte, zeigt aber auch ein besonderes Kennzeichen dessen, was man die „politische Kultur" dieser Elite nennen kann, eine politische Kultur oder nur machtpolitischem Kalkül gehorchende Strategie, von der sie auch in der Folgezeit nicht abrücken wird: der sogenannte posibilismo, das Streben nach - oder Sichbegnügen mit — dem Machbaren, dem, was (mit dem Ziel des eigenen Machterwerbs oder Machterhalts) gegenüber der Metropole durch pragmatische — oder auch opportunistische — Politik durchzusetzen war. 24 Erwogen wurden stets nur zwei Optionen: asimilación oder autonomía, Optionen, die sich im übrigen, wie die Carta Autonómica bewies, durchaus miteinander vereinbaren ließen. Die Hoheitsgewalt oder soberanía Spaniens wurde zu keinem Zeitpunkt von der kreolischen Elite in Puerto Rico in Frage gestellt, und so gelang es dieser auch, die gegenüber Spanien erfolgreich erprobten Strategien dem „Wechsel der soberanía", wie die Inbesitznahme durch die Vereinigten Staaten entsprechend dem noch heute geläufigen offiziellen Sprachgebrauch genannt wird, problemlos anzupassen.

23 Unmittelbar nach Gewährung der Carta Autonómica hatten sich beide Parteien, gedrängt von der Metropole, unter dem Namen Partido Unión Autonomista Liberal zusammengeschlossen. Doch aufgrund interner Querelen und persönlicher Rivalitäten war dieser Zusammenschluß nur von kurzer Dauer, so daß liberales und ortodoxos dann doch getrennt zu den Wahlen antraten. Gespalten hatten sich auch die incondicionales, die bei den Wahlen zu den spanischen Cortes insgesamt unter 4% erreichten und nach 1898 als eigenständige politische Kraft verschwanden. Aus den Wahlen zum insularen Padament gingen schließlich neben zwei Vertretern des incondiäonalismo 25 liberales und fünf ortodoxos als Sieger hervor. 24 Als Pragmatiker erwiesen sich schließlich auch die traditionell Reformen strikt ablehnenden incondidonales, indem sie ab 1894 gleichermaßen eine (allerdings auf rein administrative Belange beschränkte) Autonomie forderten. Und daß Opportunismus von den Zeitgenossen durchaus nicht als politische Untugend verstanden wurde, erhellt die Namensgebung einer kurz nach der Gewährung der Carta Autonómica vom Partido Incondiáonal Español abgespaltenen Gruppierung: Sie nannte sich Agrupaáón Autonómica Oportunista.

Kapitel 2 Annexion und „Amerikanisierung": von der Euphorie über die Desillusion zur ambivalenten Kollaboration [1898-1930] Am 18. Oktober 1898 erfolgte in einer feierlichen Zeremonie — unter Einziehen der spanischen und Hissen der US-amerikanischen Fahne — die offizielle Übergabe Puerto Ricos an die Vereinigten Staaten von Amerika, die zunächst über eine Militärregierung die Sicherung und Reorganisation des puertoricanischen Gemeinwesens in Angriff nahmen. Die Erwartungen der einheimischen Eliten orientierten sich an zu jener Zeit in ganz Lateinamerika gängigen Vorstellungen: Im Gegensatz zu Spanien, dessen kulturelles Erbe man zwar nicht verleugnen mochte, dessen Herrschaft sich aber durch Autoritarismus, Militarismus und wirtschaftlichen Egoismus ausgezeichnet und auf unfähige, selbstherrliche Gouverneure gestützt hatte, galten die Vereinigten Staaten von Amerika als Inbegriff politischer Freiheit und wirtschaftlichen Fortschritts, als Garant für eine demokratische und zum Wohle aller funktionierende Gesellschaftsordnung. Alle politischen Kräfte in Puerto Rico hofften, wie von den USA bei ihrer kontinentalen Expansion im 19. Jahrhundert praktiziert, zunächst als incorporated territoiy dem Staatenbund angegliedert und nach einer Übergangsphase der „Erprobung" als neuer Bundesstaat in die Union aufgenommen zu werden.1 Ihre diesbezüglichen Hoffnungen sahen die Puertoricaner genährt durch die (immer wieder beschworenen) Worte des Oberbefehlshabers der in Guanica gelandeten Truppen, Generalmajor Nelson A. Miles, die dieser in einer Proklamation nur drei Tage nach der Invasion an die Einwohner von Ponce gerichtet hatte: Wir sind nicht gekommen, um gegen das Volk eines Landes Krieg zu führen, das über Jahrhunderte unterdrückt wurde, sondern, im Ge1

Diese stufenweise Integration erlebten die über Ausgleichszahlungen erworbenen Gebiete Louisiana und Oklahoma (1803), Florida (1821) und Alaska (1867) ebenso wie die 1848 von Mexiko eroberten Gebiete New Mexico, Arizona, Colorado und Kalifornien. Doch mußten einige dieser Territorien eine sehr lange „Probezeit" durchlaufen; und so waren etwa Oklahoma, Arizona, New Mexico und Alaska zum Zeitpunkt der Inbesitznahme Puerto Ricos durch die USA noch nicht zum Bundesstaat avanciert.

28 genteil, um euch Schutz zu gewähren, nicht nur für euch selbst, sondern auch für euer Eigentum, um euren Wohlstand 2x1 mehren und um euch die besonderen Vorteile und Segnungen der liberalen Institutionen unserer Regierung zu verschaffen. 2 Diese in der spezifischen Situation der militärischen Okkupation möglicherweise nur als Beschwichtigung verstandene Erklärung wurde von den Puertoricanern durchaus ernst genommen. So rechnete man mit der baldigen Einsetzung demokratischer Institutionen und dem (für die einheimische Elite der hacendados höchst erstrebenswerten) freien Zugang zum USamerikanischen Markt — eine Perspektive, die einen optimistischen Journalisten zu der Prognose verführte: „Es wird vielfach kolportiert, daß unser Land in 'Richland' (reiches Land) umbenannt werden wird. Besagter Name wird unter der amerikanischen Administration bald wohlverdient sein." 3 Die führenden Köpfe der politischen Gruppierungen waren bemüht, durch die Entsendung von Kommissionen oder auch durch Eigeninitiative bei der US-amerikanischen Administration wie in der US-amerikanischen Öffentlichkeit für ihr Anliegen zu werben, allen voran Luis *Muñoz Rivera, der aufgrund seiner Position unter der Autonomieregierung als Sprachrohr puertoricanischer Interessen eine besondere Legitimation besaß und der in seinen ersten Stellungnahmen, trotz eindeutiger Befürwortung der estadidad oder statehood-Lösung — also der Integration Puerto Ricos als Bundesstaat in die US-amerikanische Föderation —, der Euphorie seiner Landsleute doch eine gewisse Zurückhaltung entgegensetzte mit dem Verweis darauf, daß Puerto Rico von Spanien ja bereits eine weitgehende Autonomie gewährt worden war, die von den Vereinigten Staaten auf keinen Fall auch nur in Teilbereichen zurückgenommen werden sollte. Unterstützt wurden die Bemühungen der insularen Politiker durch die einflußreichen Vertreter der in New York organisierten puertoricanischen Exilierten. Diese hatten noch 1895, als sie sich zwecks Unterstützung des kubanischen Unabhängigkeitskampfes mit der Sección Puerto Rico dem drei Jahre zuvor von José Martí gegründeten Partido RevoLudonario Cubano anschlössen, eindeutig für die Unabhängigkeit nicht nur Kubas, sondern auch Puerto Ricos votiert und in einem feierlichen Akt die einsternige puertoricanische Fahne - nach dem Vorbild der Fahne der kubanischen Freiheits-

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In: García Martínez 1996:127f.

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La Comspondencia de Puerto Rico vom 20. 8.1898; zitiert nach Picó 1987:10.

29 kämpfer - als Symbol eines unabhängigen Puerto Rico geschaffen. Doch befanden sich unter ihnen auch zahlreiche Befürworter eines Anschlusses Puerto Ricos an die Vereinigten Staaten, die unter dem Einfluß des Arztes José Julio Henna, bereits seit über zwei Jahrzehnten US-amerikanischer Staatsbürger und Vorsitzender der Secäon Puerto Rico, von ihrer ursprünglichen Zielsetzung abwichen, um sich wie Henna noch vor der Invasion für den „Anschluß an die mächtige Amerikanische Republik" auszusprechen.4 Doch erhoben sich aus dem Kreise derer, die unter spanischer Herrschaft im Exil für die Unabhängigkeit Kubas und Puerto Ricos eingetreten waren, auch Stimmen der Kritik und des Protests. Zu ihnen zählte Ramon Emeterio Betances, Initiator des „Grito de Lares", der bereits 1868 darauf verwiesen hatte, daß die Unabhängigkeit des Landes das einzige Mittel sein würde, „um dem amerikanischen Minotaurus zu entrinnen"5. Er erkannte als Beauftragter des Partido Revolucionario Cubano in Paris sehr wohl, daß José Julio Henna, „bedauerlicherweise ein ausgeprägter Yankee", „allein darum besorgt war, die Insel den Händen der Spanier zu entreißen, auch wenn sie dann als Territorium in die Hände der Amerikaner fallen würde"6, und kurz vor seinem Tod im September 1898 brachte er angesichts der die Truppenbewegungen der Spanier behindernden US-amerikanischen Seeblockade und der offensichtlich bevorstehenden Invasion Puerto Ricos seine Strategie und seine Haltung gegenüber einer möglichen Anbiederung an die Vereinigten Staaten noch einmal eindeutig zum Ausdruck:

4 José Julio Henna in einem Brief vom 14. 3. 1898; zitiert nach Maldonado-Denis 1980:54. Eine den Anschluß an die Vereinigten Staaten befürwortende, allerdings kaum durch besondere Aktionen hervorgetretene Bewegung gab es seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts auch in Puerto Rico selbst, getragen von einem kleinen Sektor der kreolischen Großgrundbesitzer und Kaufleute, die vor allem den Handel mit den USA auszuweiten suchten. Die anexionistas im New Yorker Exil trugen auf jeden Fall durch der US-amerikanischen Regierung zur Verfügung gestelltes umfangreiches Material zu den topographischen Gegebenheiten der Insel wie zur Truppenstärke und -Verteilung der Spanier zum Erfolg der Invasion bei, an der sich einige sogar, vornehmlich als Dolmetscher, beteiligten. Allerdings glaubten auch einige derer, die mit der US-amerikanischen Regierung kollaborierten, die Vereinigten Staaten würden Puerto Rico von spanischer Herrschaft befreien, um die Insel dann in die Unabhängigkeit zu führen. 5

Zitiert nach Bonafoux 1970:24.

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Betances in einem Brief an Eugenio Maria de Hostos vom 7. 6. 1898; in: Betances 1975:260, 259.

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Was unternehmen die Puertoricaner? Warum nutzen sie nicht die günstige Gelegenheit der Blockade, um sich in Massen zu erheben? Es ist dringend geboten, daß, wenn die Vorhut der amerikanischen Streitkräfte eintrifft, diese von puertoricanischen Kräften, welche die Fahne der Unabhängigkeit mit sich fuhren, empfangen wird, und diese müssen es sein, die sie begrüßen. Sollen die Nordamerikaner ruhig zur Erlangung unserer Freiheit beitragen; aber das Land darf nicht die Annexion unterstützen. Wenn Puerto Rico nicht schnellstens handelt, wird es auf immer und ewig eine nordamerikanische Kolonie sein.7 Gleichermaßen kritisch äußerte sich Eugenio María de *Hostos, der sich in ganz Lateinamerika durch seine wissenschaftlichen, pädagogischen und nicht zuletzt auch politischen Aktivitäten, durch die er wie Betances eine Kuba, Puerto Rico und die Dominikanische Republik umspannende Antillanische Konföderation propagierte, ein ungeheures intellektuelles und moralisches Prestige erworben hatte und der nach Beendigung der spanischen Herrschaft aus dem Exil nach Puerto Rico zurückkehrte. Er ließ sich zwar dazu bewegen, in einer offiziellen Mission dem US-amerikanischen Präsidenten das mehrheitliche Anliegen seiner Landsleute vorzutragen, doch bestand er auf einem Zusatz als persönlicher Stellungnahme, in dem er sich — trotz seiner andernorts geäußerten generellen Bewunderung für die „amerikanische Zivilisation, die nach meinem Dafürhalten die vollkommenste ist, die gegenwärtig existiert"8 — unmißverständlich für die (nach einer Übergangszeit zu gewährende) Unabhängigkeit Puerto Ricos aussprach. Hostos zog sich in Erkenntnis der Tatsache, daß er unter seinen Zeitgenossen auf verlorenem Posten stand, aus dem politischen Tagesgeschehen zurück, um sich fortan der „acción cívica", d.h. konkreten, vorrangig auf eine Anhebung des Bildungsniveaus der Bevölkerungsmehrheit ausgerichteten Aktivitäten zu widmen, als deren Forum er die mit einer dezidiert „revolutionären Zielsetzung"9 konzipierten Liga de Patriotas gründete. Doch auch die Gegner der Unabhängigkeit erlebten ihre erste Enttäuschung durch die zunächst erfolgte, ihnen unverständliche Beibehaltung der Militärregierung, die faktisch der Aufrechterhaltung des Kriegszustands gleichkam; dies 7

Zitiert aus dem undatierten Fragment eines Briefes von Betances an José Julio Henna; in: Betances 1975:242f.

8 9

Hostos 1939:V, 17. Hostos 1939:V, 24.

31 in einem Land, das der militärischen Besetzung schließlich nicht den geringsten Widerstand entgegengebracht hatte und von dem ein solcher Widerstand, wie nun allseits beteuert und von den Vereinigten Staaten durchaus anerkannt, auch künftig nicht erwartet wurde.10 Diesem eklatanten Widerspruch verlieh denn auch anläßlich des ersten Jahrestages der Invasion ein Journalist, augenscheinlich in Kenntnis einer allgemein verbreiteten Desillusionierung, offen Ausdruck: Wir, die wir die weisen Institutionen des amerikanischen Volkes bewunderten und die Bürde einer tyrannischen Herrschaft ertrugen, glaubten, daß die Nachfahren Jeffersons sich im Namen der entwürdigten Menschheit in einen unkalkulierbaren Krieg gestürzt hatten und daß sie kommen würden, um in unserem Vaterland der unabweislichen Stimme des Völkerrechts Gehör zu verschaffen. Wir bereiteten ihnen einen begeisterten Empfang. Wir erboten ihnen unsere Gastfreundschaft. Wir unterstützten sie bei ihrem Siegeszug... Das war gestern. Heute... Wir verzichten darauf, Näheres darüber zu berichten, was der puertoricanischen Bevölkerung ohnehin bekannt ist. 11 Die auf US-amerikanischer Seite offenkundige Unentschlossenheit, die Militärregierung durch eine zivile Regierung zu ersetzen und damit auch eine Entscheidung hinsichdich des politischen Status Puerto Ricos herbeizufuhren oder zumindest zu präjudizieren, gründete zunächst in der Tatsache, daß die Vereinigten Staaten zum ersten Mal in ihrer Geschichte mit Puerto Rico über eine überseeische Besitzung verfugten, mit der umzugehen ihnen die Erfahrung fehlte.12 10 In den ersten Monaten nach der Invasion kam es, auch aufgrund des zunächst entstandenen Machtvakuums, in den ländlichen Gebieten zu Unruhen und bewaffneten Übergriffen. Doch richteten sich diese „partidas sediciosas" nicht, wie gelegentlich von US-amerikanischer Seite geäußert, gegen die Präsenz der USA, sondern ausschließlich gegen Einheimische, vorrangig die Oligarchie, zunächst die peninsulans, sodann auch die Kreolen, und besaßen, trotz gelegentlicher Ansätze zu einer sozialpolitischen Motivation, im wesentlichen den Charakter eines Rache- und Beutefeldzugs. 11 El Combate vom 25. 7.1899; zitiert nach Pico 1987:79. 12 Dasselbe galt für die anderen überseeischen Gebiete, welche die Vereinigten Staaten im Zusammenhang mit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg in Besitz nahmen: die Philippinen, die (allerdings gegen den heftigen Widerstand der einheimischen Bevölkerung) zunächst besetzt und dann von Spanien für 20 Mil-

32 Puerto Rico wieder aufzugeben, kam aus handelspolitischen und — mit der Perspektive der bevorstehenden Eröffnung des Panamakanals geradezu existentiellen — strategischen Erwägungen nicht in Frage. Bis etwa 1830 hatten die Vereinigten Staaten, als sie eine Fortsetzung der kontinentalen Unabhängigkeitskämpfe in Kuba und Puerto Rico verhinderten, hinsichtlich eigener hegemonialer Ambitionen in der Karibik noch Zurückhaltung gezeigt. Doch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts war ihr wirtschaftliches und strategisches Interesse an den Inseln der Karibischen See, die sie fortan als Mare Nostrum betrachten sollten, beständig gewachsen, wobei allerdings ihr Interesse an Kuba — um 1895 gingen allein 95% der kubanischen Zuckerexporte in die USA13 - das an Puerto Rico bei weitem übertraf. Theodore Roosevelt Jr., von 1929 bis 1932 Gouverneur Puerto Ricos, schrieb in seinem 1937 veröffentlichten Buch Colonial Polides of the United States mit Blick auf Puerto Rico und die Philippinen: „als wir den Krieg erklärten, hatten wir an sie nicht gedacht"14. Doch ist wohl eher dem Zeugnis des damaligen Senators Henry Cabot Lodge Glauben zu schenken, der in seinem bereits 1899 publizierten Buch The War with Spain versicherte: „Die Insel Puerto Rico, die östlichste und schönste der Großen Antillen, mit ihrer hohen Bevölkerungszahl und ihrer beherrschenden strategischen Position war der Armee ebenso wie der Marine stets präsent von dem Augenblick an, da der Krieg begann." Denn schließlich war das Ziel des Spanisch-Amerikanischen Krieges, so Lodge, die endgültige Vertreibung Spaniens aus dem US-amerikanischen Einflußbereich, „der geeignete Schlußstrich unter den lange währenden Kampf zwischen dem Volk, das für bürgerliche und religiöse Freiheit eintrat, und denen, welche Bigotterie und Tyrannei verkörperten und deren Schreckensherrschaft jeder anderen vergleichbar war, die je die Menschheit heimgesucht hat" 15 . Theodore Roosevelt Jr. hatte, wollte man denn die neuen Besitzungen, Puerto Rico und die Philippinen, nicht wiederhergeben, gewiß in einem Punkt recht: „In keinem Fall hatten wir die

lionen Dollar erworben wurden; Guam, die größte Insel der Marianen im Pazifik, die 1898 von Spanien an die USA abgetreten wurde; sowie die unabhängige Republik Hawaii, die bereits im Verlauf des Krieges aus strategischen Gründen annektiert worden war. 13 Dietz 1992:96, Anm. 2. 14 Roosevelt 1937:84. 15 Lodge 1899:168,1.

33 Absicht geäußert, sie zu befreien, als wir den Krieg erklärten. Daher bestand das Problem lediglich darin, welchen Status sie erhalten sollten."16 Bis zum Februar 1900 war der US-amerikanische Kongreß unablässig mit ebendiesem Problem beschäftigt. Gegen den von den Puertoricanern gewünschten Status des incorporated territory, der entsprechend der Praxis ja die statehood-Lösung in Aussicht stellte und in der Regel nach sich zog, wurden im wesentlichen drei Argumente vorgebracht. Zum einen hielt man die Puertoricaner aufgrund der hohen Analphabetenrate der Bevölkerung und der noch geringen demokratischen Erfahrung ihrer politischen Führung — der man in diesem Zusammenhang sogar den Mangel an revolutionärem Geist und Freiheitsliebe zur Last legte — für politisch unmündig und daher (noch) nicht geeignet, die beschränkte Selbstverwaltung, die ein solcher Status gewährte, in vernünftige Politik umzusetzen. Zum andern besaßen sie eine fremde Sprache und eine fremde Kulturtradition, welche nicht, wie etwa in den von Mexiko eroberten Gebieten geschehen, durch massive Einwanderung von Angloamerikanern zurückgedrängt und neutralisiert werden konnten. Und schließlich fehlte auch nicht, vorgetragen vom Senator aus Tennessee, das Argument ihrer (vorgeblichen) rassischen Minderwertigkeit, verknüpft mit dem Verweis auf bei solchen Völkern — gemeint waren Puerto Rico und die Philippinen gleichermaßen - anzutreffenden barbarischen Sitten, die schließlich eine gefährliche Infizierung des gesunden Volksempfindens der US-Amerikaner bewirken mochten: Was wird unter diesen neuen Gegebenheiten der Expansion mit den Philippinen und Puerto Rico geschehen? Werden sie zu Bundesstaaten werden, mit Abgeordneten hier bei uns, die diese Länder vertreten, diese heterogene Masse von Mischlingen, aus denen sich ihre Bevölkerung zusammensetzt? Das Volk dieses Landes wird sich dem tunlichst widersetzen und Einhalt gebieten, bevor das geschieht. [Jefferson war der eifrigste Anhänger einer Expansionspolitik], aber weder sein Beispiel noch sein Vorbild liefern eine Rechtfertigung für die Expansion, wenn es sich um Völker handelt, die unfähig sind, sich selbst zu regieren, um Religionen, die dem Christentum feindselig gegenüberstehen, und um Wilde, die Kannibalismus und Kopfjagd betreiben, wie das bei einigen dieser Inselbewohner der Fall ist.17 16 Roosevelt 1937:84. 17 Zitiert nach Maldonado-Denis 1980:84f. Bei der Debatte um den künftigen Status der neuen Besitzungen ging es vorrangig um die Philippinen, deren stra-

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So entschied sich der von den Republikanern dominierte Kongreß schließlich für den (bis dahin unbekannten) Status eines unincorporated territory, der dem einer Kolonie gleichkam, was gegen den Einspruch der in der Opposition stehenden Demokraten geschah, welche die Legitimität eines solchen Verfahrens in Frage stellten, da ihrer Meinung nach der Besitz von Kolonien nach dem Vorbild Englands oder Frankreichs mit der Verfassung der Vereinigten Staaten nicht vereinbar war. Der am 12. April 1900 von Präsident McKinley unterzeichnete, nach seinem Initiator, dem Senator Joseph B. Foraker, benannte Foraker Act ist denn auch Zeugnis der Vorbehalte der Mehrheit des Kongresses hinsichtlich der politischen Reife der puertoricanischen Politiker und potentiellen Wähler. Das Gesetz erbrachte zwar endlich die geforderte zivile Regierung, doch das entscheidende Instrument von Exekutive und Legislative, der Consejo Ejecutivo oder Executive Counál\ gleichzeitig Kabinett des Gouverneurs und in der Funktion eines Senats das wichtigste gesetzgebende Organ, unterstand strikter US-amerikanischer Kontrolle, da seine elf Mitglieder - davon dem Gesetzestext nach „mindestens", in der Praxis jedoch nie mehr als fünf Puertoricaner — ebenso wie der Gouverneur als Chef der Exekutive vom US-amerikanischen Präsidenten ernannt wurden. Dem Consejo Ejecutivo zur Seite gestellt wurde ein vom Volk zu wählendes Repräsentantenhaus, das aber nur über eine begrenzte gesetzgebende Gewalt verfügte, da seine Entscheidungen durch ein Veto des Gouverneurs blockiert werden konnten und ohnehin der Zustimmung durch den US-amerikanischen Kongreß bedurften. Die Interessenvertretung der Puertoricaner im Kongreß oblag einem vom puertoricanischen Volk zu wählenden Comisionado Residente oder Resident Commissioner, der dem Repräsentantenhaus zugeordnet wurde, dort aber über kein Stimmrecht verfügte, denn die Puertoricaner zahlten keine tegischer Wert höher eingeschätzt wurde als der Puerto Ricos, und so wollte man vermeiden, daß mit einer möglichen Konzession des territorialen Status an Puerto Rico mit Blick auf die Philippinen ein Präzedenzfall geschaffen wurde. Denn mochten die Puertoricaner noch weitgehend als weiß und überdies friedfertig gelten, wurden die sich der Vereinnahmung durch die USA mit Waffengewalt widersetzenden Filipinos als unregierhar und überdies rassisch besonders minderwertig angesehen - wie es ein Kongreßabgeordneter formulierte: „in ihrer physischen Konstitution Schwächlinge von niedrigem Wuchs mit schwarzer Haut, dichtgekräuseltem Haar, platten Nasen, dicken Lippen und großen klobigen Füßen... Bastarde aus dem Osten... mit Haremsbräuchen" (zitiert nach Carr

1984:35).

35 Bundessteuern, so daß sie, sozusagen im Umkehrschluß, das Opfer jenes geheiligten, auf die US-amerikanische Vergangenheit verweisenden Grundsatzes wurden, der besagte: „without taxation no representation"18. Mit dem Foraker Act degradierten die sich ihrer Liberalität und ihrer demokratischen Praktiken rühmenden Vereinigten Staaten die Puertoricaner zu einer rechtlosen Kolonie - nachdem das autokratische Spanien sie mit denselben Rechten wie die metropolitanen Provinzen ausgestattet und ihnen eine Autonomie gewährt hatte, über welche dieselben Provinzen nicht verfugten. So war es nur allzu verständlich, daß in Puerto Rico der neue Status von allen politischen Gruppierungen als Erniedrigung und Kränkung empfunden wurde. Für die in der Partei Muñoz Riveras versammelte Elite der hacendados erwiesen sich überdies zwei weitere von der Carta Autonómica abweichende Verfugungen als höchst ärgerlich, da ihren Interessen besonders abträglich: die Aufhebung der Selbstverwaltung der Munizipien, in denen sie sich eine bedeutende lokale Machtposition geschaffen hatten, und die Beschränkung des Wahlrechts auf diejenigen männlichen Puertoricaner über 21 Jahre, die lesen und schreiben konnten und in der Lage waren, einen für die Zulassung als Wähler unabdingbaren, nicht unbeträchtlichen Geldbetrag zu entrichten. Da die Alphabetisierungsrate der Gesamtbevölkerung bei 22,7% lag und hierunter fast nur Männer fielen, wurde somit neben allen Frauen etwa die Hälfte der männlichen Bevölkerung von Wahlen ausgeschlossen, und dieser Ausschluß betraf in einem noch weitaus höheren Maße die traditionelle Wählerschaft der hacendados", die ländliche Bevölkerung, die nur zu etwa 13% alphabetisiert war und die zudem nur selten über die geforderte Geldsumme verfugte.19 Und schließlich ergab sich zwangsläufig ein ausgesprochenes Kuriosum: Da der US-amerikanische Kongreß die Puertoricaner nicht zu US-amerikanischen Staatsbürgern erklären mochte, mußte für dieses Volk ohne eigenen Staat eine akzeptable Formel gefunden werden; und so erklärte man die Bewohner der Insel zu „Citizens of Porto

18 Zunächst war dem Comisionado Residente der Zugang zu den Sitzungsräumen des Kongresses verwehrt, so daß er sein lobbying im Treppenhaus des Kapitols betreiben mußte. Sodann gestattete man ihm immerhin, an den Sitzungen des Repräsentantenhauses teilzunehmen, dies jedoch ohne das Recht, seine Stimme zu erheben; erst 1904 wurde ihm edaubt, sich an Debatten, nicht jedoch an Abstimmungen, zu beteiligen. 19 Zu den Zahlen vgl. Quintero Rivera 1986:49.

36 Rico" 20 , die nun allerdings, ohne völkerrechtlich anerkannten Status — „als politische Waisen in den Limbus eines unincorporated territory verwiesen", wie es ein moderner Historiker formulierte21 — weder über konsularische Vertretungen noch über das Recht verfügten, einen Paß zu erwerben und auf legalem Wege, es sei denn durch eine Sondergenehmigung, die Insel zu verlassen.22 Die ersten, gleich nach der Okkupation in die Wege geleiteten Maßnahmen der US-amerikanischen Administration richteten sich vorrangig auf den Ausbau der Verkehrswege und eine Verbesserung des Gesundheits- wie des Schulwesens, wo auch in kurzer Zeit erhebliche Erfolge erzielt wurden, die bei den Puertoricanern durchaus Anerkennung fanden. Doch ergab sich gleich zu Beginn für die Puertoricaner ein höchst sensibler Konfliktpunkt aus der mit missionarischem Eifer von der neuen Kolonialmacht betriebenen „Amerikanisierung" der Insel, die nun nicht allein, was die Puertoricaner durchaus akzeptieren mochten, auf eine Erziehung im Geiste jener demokratischen Institutionen und Traditionen abzielte, für welche die Vereinigten Staaten schließlich gerühmt wurden, sondern die den ganzen Menschen, seine Sitten und Gebräuche, seine ethisch-moralischen Werte, seinen geistigen Habitus und schließlich sogar seine psychische Verfaßtheit amerikanischen Idealvorstellungen zu assimilieren suchte. „Amerikanisierung" hieß, wie es Victor S. Clark, der Leiter der noch 1898 gegründeten zentralen Schulbehörde, im selben Jahr in einem Bericht an seinen Vorgesetzten formulierte, „daß die Insel in ihren Vorlieben, ihren Ansichten und in ihrer Einstellung gegenüber dem Leben wie gegenüber der Regierung grundlegend amerikanisch werden wird". Und die entscheidende Voraussetzung für

20 Die offizielle Namensänderung der Insel - „Porto Rico" — verfugte entsprechend der den US-Amerikanem geläufigeren Aussprache der erste USamerikanische Gouverneur, Generalmajor John R. Brooke; sie wurde erst 1932 durch einen Beschluß des US-amerikanischen Kongresses wieder zurückgenommen. 21 Carr 1984:279. 22 Daß diese Konstruktion rechtlich unhaltbar war, bestätigte 1901, allerdings ohne daß sich daraus Konsequenzen ergaben, ein Richter des Obersten Bundesgerichts der Vereinigten Staaten, der die Position Puerto Ricos als „ein körpedoser Schatten in einem Zwischenstadium von zweifelhafter Existenz" beschrieb (zitiert nach Morales Carrion 1991:50).

37 das Gelingen dieses Vorhabens war, so derselbe Clark, „daß die Schulen zu amerikanischen Schulen gemacht werden". 23 Die öffentliche Schule als probates Mittel der Umerziehung der Puertoricaner zu „guten Amerikanern" — als „Agenturen des Amerikanismus", die „in den Herzen unserer Kinder den Geist Amerikas verankern sollen", wie der erste puertoricanische Bevollmächtigte für das Erziehungswesen, Juan B. Huyke, noch 1921 betonte 24 - wurde auf vielfältigen Wegen genutzt. Das Schulsystem ebenso wie die Lehrinhalte wurden dem US-amerikanischen System angepaßt, wobei die Schüler aus den importierten Schulbüchern etwa über die Geographie und die Geschichte der Vereinigten Staaten mehr erfuhren als über die Geschichte und die Geographie des eigenen Landes; und über bestimmte, allmorgendlich zu vollziehende Rituale — Aufziehen der US-amerikanischen Nationalflagge, Absingen der US-amerikanischen Nationalhymne und Ableisten des Eids auf die US-amerikanische Verfassung25 - sollten die Schüler ganz im Sinne der Vereinigten Staaten zu verantwortungsbewußten und vor allem loyalen Bürgern herangezogen werden, auch wenn ihnen der verfassungsmäßige Status eines US-amerikanischen Staatsbürgers verwehrt blieb. Das schwerwiegendste und für die Puertoricaner schmerzlichste Problem aber ergab sich aus der 1902 per Gesetz erlassenen Verpflichtung, das Englische, das neben dem Spanischen als gleichberechtigte Amtssprache anerkannt war, als alleinige Unterrichtssprache in den Schulen durchzusetzen. Zunächst scheiterte man an den mangelhaften oder fehlenden Englischkenntnissen der verfügbaren einheimischen Lehrer - ein Mißstand, dem man dadurch begegnete, daß man in großer Zahl US-amerikanische Lehrer importierte und die puertoricanischen Lehrer Intensivkursen und beständigen Kontrollen unterzog. Dies führte angesichts der Verpflichtung, im Unterricht gänzlich auf die eigene Sprache zu verzichten, bei den sich häufig re23 Zitiert nach Morris 1995:26. 24 Zitiert nach Negrön de Montilla 1990:194. 25 Ein Problem ergab sich aus der Tatsache, daß, wie ein Journalist wenige Tage nach der Invasion vermerkte, Generalmajor Miles nicht die außerordentliche Nachfrage nach US-amerikanischen Fahnen bedacht und entsprechend vorgesorgt hatte. So wurde über verschiedene offizielle Kanäle bis hin zum Kriegsministerium alles in Bewegung gesetzt, um schließlich der Initiative eines Veteranenclubs aus New York stattzugeben, welcher sich erbot, alle 546 öffentlichen und 38 privaten Schulen in Puerto Rico mit der unerläßlichen US-amerikanischen Fahne auszurüsten (Pico 1987:198, Anm. 63).

38 nitent oder auch nur hilflos zeigenden einheimischen Lehrern jedoch nicht unbedingt zu einem akzeptablen Niveau ihrer Englischkenntnisse und bewirkte überdies eine generelle qualitative Absenkung des Unterrichts, nicht zuletzt auch dadurch bedingt, daß die angestrebte Alphabetisierung, insbesondere in den ländlichen Regionen ein vorrangiges Projekt, in einer ihnen gänzlich unverständlichen Sprache die Kinder schlicht überforderte. Die Schulpolitik und insbesondere der Streit um die Unterrichtssprache sollte Politiker wie Intellektuelle und Literaten über Jahrzehnte beschäftigen. Schließlich galt auch zu bedenken, daß der Prozeß der „Amerikanisierung" auf einer für die Puertoricaner nicht gerade schmeichelhaften Prämisse basierte: der in den Augen der neuen Kolonialmacht zweifelsfrei erwiesenen Minderwertigkeit ihrer kulturellen Ausdrucksformen, die ja auch die Diskussion um den politischen Status Puerto Ricos im Kongreß in erheblichem Maße beeinflußt hatte. Doch die Irritation angesichts der ohne jede Zurückhaltung von den US-Amerikanern vorgeführten Demonstration kultureller Überlegenheit vermochte die politischen Kräfte in Puerto Rico ebenso wenig auf Dauer zu einen wie die Enttäuschung über den Foraker Act, so daß die zunächst gemeinsam erlittene Desillusionierung schon bald in einen erneuten Antagonismus der verschiedenen Fraktionen mündete. Die Frage einer möglichen Kollaboration im Sinne der unter spanischer Herrschaft erprobten Politik des posibilismo löste José Celso *Barbosa auf seine Weise. Der aus dem Partido Autonomista Ortodoxo hervorgegangene, im Juli 1899 gegründete Partido Republicano Puertorriqueño schrieb die folgenden zwei Grundprinzipien in sein Programm: „Definitiver und wahrhaftiger Anschluß Puerto Ricos an die Vereinigten Staaten. Erklärung Puerto Ricos zu einem regulären Territorium, um dann als Bundesstaat in die Union aufgenommen zu werden."26 Um dieses Ziel zu erreichen, war Barbosa bereit, jede Initiative des Gouverneurs zu unterstützen und geduldig darauf hinzuarbeiten, daß die Vereinigten Staaten eines Tages die somit unter Beweis gestellte „Mündigkeit" zumindest seiner Partei honorieren würden. In diesem Sinne profilierte er sich auch als Wortführer der von den USA so massiv vorangetriebenen „Amerikanisierung", wobei die anzustrebende Ablösung des Spanischen durch das Englische als Amts- und Verkehrssprache dem Partido Republicano besonders wünschenswert erschien, „um für das Land

26 Zitiert nach Pagán 1972:1, 34.

39 günstigere Bedingungen zu schaffen, damit es bald ein neuer Staat der Föderation wird"27. Luis Muñoz Rivera, der nach Auflösung des Partido Liberal mit dem im Oktober 1899 gegründeten Partido Federal ein wiederum im wesentlichen von den hacendados sowie Vertretern der freien Berufe dominiertes politisches Forum schuf, ließ zunächst kaum Unterschiede zu den Positionen Barbosas erkennen. So hieß es im Programm der neuen Partei: „Der Partido Federal erklärt, daß er den Umstand der Annexion als Ergebnis des Krieges akzeptiert und begrüßt, da er der Ansicht ist, daß Puerto Rico im Schatten der amerikanischen Fahne und unter dem Schutz der bundesstaadichen Institutionen ein gedeihendes und glückliches Volk sein wird." Und als langfristiges, nach der zunächst zu erfolgenden Integration als Territorium anvisiertes Ziel wurde benannt, „daß Puerto Rico in der Zukunft ohne jede Einschränkung ein Staat wie alle anderen der Föderation sein wird"28. Doch der Unwille des US-amerikanischen Kongresses, den Wünschen der Puertoricaner zu entsprechen, bewirkte bei Muñoz Rivera - anders als bei Barbosa - eine starke Distanzierung, und so veröffendichte er zum zweiten Jahrestag der Invasion folgende Erklärung: D E R 25. JULI Warum wir ihn nicht feiern. Die amerikanische Regierung traf in Puerto Rico auf eine Autonomie, die umfassender war als die Kanadas. Sie hätte sie respektieren oder noch erweitern müssen, und sie wollte und konnte sie nur zerschlagen... Aus diesem Grund und aufgrund dessen, was verschwiegen und im Dunkeln bleibt, feiern wir den 25. Juli nicht. Weil wir glaubten, daß eine Ära der Freiheit anbrechen würde, und wir Zeugen wurden einer ungeheuren Absorption. Weil wir annahmen, daß man uns wenigstens zu einem Territorium erklären würde, und man uns nicht einmal zu einer Kolonie erklärt. Weil uns nichts gewährt wurde von dem, was man uns versprach, und weil unser Status der von Sklaven ist, Sklaven unter fremder Herrschaft im eigenen Land.29

27 Zitiert nach Pagán 1972:1, 36. 28 Zitiert nach Pagán 1972:1, 49f. 29 Zitiert nach Bothwell 1988:91.

40 In den ersten Jahren nach Inkrafttreten des ForakerAct dominierte im Rahmen der den Puertoricanern eingeräumten bescheidenen Möglichkeiten politischer Partizipation der Partido Republicano, der, von den US-Amerikanern ob seiner bedingungslosen Loyalität favorisiert, innerhalb der Administration sämtliche den Einheimischen zugängliche Positionen besetzte. Ihre Vormachtstellung suchte die Partei darüber hinaus durch das Mittel der Gewalt zu festigen, die sich, von Polizeikräften kaum behindert, in Aufmärschen und Straßenschlachten, den sogenannten „turbas republicanas", gegen die federales und insbesondere gegen die Person Muñoz Riveras richtete. Dieser sah sich 1901 gezwungen, das Land zu verlassen, und ging nach New York, wo er mit der von ihm gegründeten Zeitung The Puerto Rico Herald seinen Feldzug gegen den Foraker Act fortsetzte. Der Partido Federal, aufgrund des Wahlrechts in seiner Machtbasis ohnehin geschwächt, entschied sich für den Wahlboykott. Somit war jene politische Kraft, die am Vorabend der Invasion die hegemoniale Elite der hacendados repräsentiert hatte, faktisch ausgeschaltet zu einem Zeitpunkt, da die Vereinigten Staaten sich anschickten, die wirtschaftlichen Strukturen des Landes von Grund auf neu zu gestalten. Diese Umstrukturierung der puertoricanischen Wirtschaft, orientiert einzig an den Bedürfnissen des US-amerikanischen Marktes, erfolgte in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit und Effizienz. Bis 1898 war der Kaffeeanbau, der im Exportgeschäft die höchsten Erlöse erzielte, der dynamischste Sektor der Volkswirtschaft gewesen, Basis für den Aufstieg der kreolischen Elite während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts. Nach 1898 aber gingen traditionelle Absatzmärkte wie Spanien und Kuba verloren, und auf dem US-amerikanischen Markt hatte der hochwertige, von den US-amerikanischen Konsumenten jedoch nicht geschätzte puertoricanische Kaffee gegenüber den billigen brasilianischen Importen keine Chance. Der erste Einbruch erfolgte, als im August 1899 die gesamte Insel durch den Hurrikan „San Ciríaco" verwüstet wurde, der 80% der Kaffeernte vernichtete und - was noch gravierender war - bis zu 60% der Kaffeesträucher wie auch der notwendigen schattenspendenden Bäume zerstörte.30 Die Katastrophe traf die in geringerem Umfang produzierenden Kleinbauern ebenso wie die hacendados, die alle in der Regel nicht über das erforderliche Kapital verfügten, um neue Pflanzungen anzulegen und die vier bis sechs Jahre der Wartezeit, bis junge Sträucher die ersten Früchte tragen, zu überbrücken. 30 Dietz 1992:116.

41 Hinzu kam, daß nun nicht mehr nur der erzielte Gewinn, sondern bereits der Grundbesitz besteuert wurde: Abgaben, die weder von den Kleinbauern, noch von den hacendados ohne Aufnahme von Krediten geleistet werden konnten, so daß die Verschuldung in einer Weise zunahm, die schließlich für viele Betroffene nur noch den Verkauf oder die Pfändung des Besitzes zuließ. Die faktische Enteignung eines Großteils der unabhängigen Kleinbauern wie der kleinen und mittleren hacendados entsprach einem Kalkül, das jenen Wirtschaftszweig begünstigte, der neben der Förderung des Tabakanbaus die zentralen Interessen des US-amerikanischen Marktes tangierte: die Zukkerproduktion, die vor 1898 in einer Krise gesteckt hatte, die nun aber dank des Niedergangs im Kaffeesektor, der die Ausweitung der Anbauflächen für Zuckerrohr begünstigte, und dank des für die Modernisierung der Produktionsmethoden erforderlichen Zustroms US-amerikanischen Kapitals - einen wahren Boom erlebte. Während vor 1898 Zucker nur etwa 20%, Kaffee hingegen um 77% der puertoricanischen Exporterlöse erzielt hatten, stieg der Anteil des Zuckers bereits im Jahr 1901 auf 55%, während der des Kaffees auf 20% zurückging, um gegen Ende der 20er Jahre trotz einer Zunahme des Produktionsvolumens nur noch 2,5% der Exporterlöse zu erwirtschaften.31 Diese Umorientierung der Agrarproduktion hatte für die Gesamtwirtschaft ebenso wie für die gesellschaftlichen Strukturen schwerwiegende Konsequenzen. Die fortschreitende Ausweitung der Anbauflächen für die exportorientierte Zuckerproduktion verstärkte die bereits im 19. Jahrhundert aufgetretene Notwendigkeit des Imports von Nahrungsmitteln. Die Exporte gingen vorwiegend in die Vereinigten Staaten, und diese fanden in Puerto Rico für ihre Produkte einen privilegierten Absatzmarkt, so daß sich die fundamentale Abhängigkeit der puertoricanischen von der US-amerikanischen Wirtschaft schließlich auch darin zeigte, daß das Handelsvolumen im Austausch mit den USA, das vor 1898 gerade knapp 20% des gesamten puertoricanischen Außenhandels ausgemacht hatte, bereits 1900 auf 68% und, nachdem 1902 der von den Puertoricanern ersehnte Freihandel verfügt worden war, bis zum Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts auf 94% stieg.32 Auf gesellschaftlicher Ebene ergaben sich im wesentlichen zwei Konsequenzen: die weiter fortschreitende Proletarisierung der Kleinbauern, 31 Ebd.:118. 32 Ebd.:138.

42 die als Heer von billigen Arbeitskräften für den Zuckersektor zunächst in die Küstenebenen, sodann in die Städte und sogar, in einer ersten Emigrationswelle, nach Hawaii oder Kuba abwanderten; und der wirtschaftliche Niedergang der kleineren und mittleren hacendados, die in den ersten Jahren nach 1898 politisch zunächst nicht präsent waren, deren Überlebenskampf dann aber - in offenem Konflikt oder auch im Bemühen um opportune Zusammenarbeit mit der Administration - für die politische Auseinandersetzung bis zum Ende der 20er Jahre bestimmend werden sollte. Anfang des Jahres 1904 kehrte Luis Muñoz Rivera aus den Vereinigten Staaten nach Puerto Rico zurück. Auf einer nur wenig später einberufenen Generalversammlung des Partido Federal wurde unter seiner Federführung die Partei aufgelöst und an ihrer Stelle unter dem Namen Unión de Puerto Rico eine „Vereinigung von Patrioten" gegründet, die fortan — nicht zuletzt aufgrund des 1904 (für die männliche Bevölkerung) wieder eingeführten allgemeinen Wahlrechts - in Puerto Rico die politische Szene beherrschen sollte. Der Name, den sich die neue Partei gab, signalisierte bereits ihr zentrales Anliegen, sich als Sammelbecken und politische Heimat alier Puertoricaner, ungeachtet ihrer Haltung zur Status-Frage, anzubieten und zu profilieren. Dementsprechend hieß es in ihrem Programm: Wir erklären, wir halten es für durchführbar, daß sich die Insel Puerto Rico den Vereinigten Staaten von Nordamerika anschließt unter der Bedingung, daß sie ein Staat der amerikanischen Union wird, wodurch uns das self-government zuerkannt werden kann, das wir benötigen und um das wir ersuchen; und wir erklären auch, daß die Insel Puerto Rico zu einer unabhängigen Nation unter dem Protektorat der Vereinigten Staaten erklärt werden kann, wodurch uns gleichermaßen das self-government zuerkannt werden kann, das wir benötigen und um das wir ersuchen.33 Dieser zweite Passus, die berühmte „base quinta", durch den zum ersten Mal in der Geschichte Puerto Ricos die Option der Unabhängigkeit — wenn auch nur als eine von mehreren Möglichkeiten — in einem Parteiprogramm festgeschrieben wurde, ging auf die Initiative José de * Diegos zurück, der sich fortan innerhalb der Partei als streitbarer Gegenspieler Muñoz Riveras profilieren sollte. Zwar zögerte er nicht, als Anwalt US-amerikanischer Kapitalgesellschaften auch US-amerikanischen Interessen zu dienen; doch in

33 Zitiert nach Pagán 1972:1,107.

43 seiner politischen Arbeit ebenso wie in seinen programmatischen Schriften vertrat er dezidiert und überzeugend sein Ideal eines unabhängigen Puerto Rico, das durchzusetzen ihm zwar nicht gelang, das zu propagieren ihm aber das Verdienst einbrachte, die Idee der Unabhängigkeit im öffentlichen Bewußtsein als mögliche Alternative — und als Druckmittel gegenüber den USA — verankert zu haben. 1913 gelang es de Diego sogar, auf einem außerordentlichen Parteitag die Unión dazu zu bewegen, die statehood-Lösung aus dem Parteiprogramm zu streichen und die Unabhängigkeit — „die Gründung eines freien Vaterlandes, das in der Gegenwart und in der Zukunft absolut uneingeschränkt eigene Souveränität besitzt" — nun nicht mehr nur als eine von mehreren Optionen zuzulassen, sondern zum „höchsten Ideal der Unión" zu erklären.34 Doch Muñoz Rivera, seit 1910 Comisionado Residente in Washington und bei weitem der Mann in der Partei, der über den größten Einfluß verfugte, konterte den ihm inopportun erscheinenden Beschluß zwei Jahre später durch die Herbeiführung eines gegenläufigen Beschlusses, mit dem allen Abgeordneten der Partei untersagt wurde, öffentlich für die Unabhängigkeit einzutreten, und ihre Befürworter aus dem Parteivorstand ausgeschlossen wurden. Mit seiner Initiative wollte Muñoz Rivera die im US-amerikanischen Kongreß nach Jahren der Indifferenz gegenüber den Eingaben und Klagen der Puertoricaner neu entfachte Diskussion um mögliche Reformen nicht durch allzu radikal erscheinende Forderungen negativ beeinflussen. Und so erwies er sich wieder einmal als Pragmatiker und Taktiker, der sich gelegendich einer die Unabhängigkeit preisenden patriotischen Rhetorik bediente, gelegentlich aber auch die Vorteile der estadidad rühmte, im Grunde aber die Autonomie favorisierte: eine angesichts seiner politischen Vergangenheit durchaus konsequente Haltung, die ihn auch dazu bewog, sich aus politischem Kalkül nicht festzulegen. So erklärte er 1911 in einem Vortrag vor US-amerikanischem Publikum zur Status-Frage Puerto Ricos: Es gibt drei Lösungen: die Erklärung zum Bundesstaat, wodurch wir mit euch im Leben der Nation eins werden würden; die Zuerkennung des Home Rule, wodurch wir uns euch über gefühlsmäßige Bande der Dankbarkeit und reale Bande des Warenaustauschs verbunden fühlen würden; die Erklärung der Unabhängigkeit durch ein Gesetz eures Kongresses, wodurch wir endgültig unser Geschick selbst bestimmen würden. 34 Zitiert nach Pagán 1972:1,156.

44 Von diesen drei Möglichkeiten bevorzugen wir die erste, ersuchen um die zweite und behalten uns die dritte vor als ein letztes Refugium für unsere Ehre und unser Recht.35 Dieselbe Ambivalenz zeigte die Haltung Muñoz Riveras, hier durchaus repräsentativ für viele seiner Zeitgenossen, in der Diskussion um die Frage der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft für die „Citizens of Porto Rico" — eine Frage, die den US-amerikanischen Kongreß nach dem Amtsantritt des demokratischen Präsidenten Woodrow Wilson und verstärkt am Vorabend des Eintritts der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg beschäftigte. Seit 1900 hatten zunächst alle politischen Fraktionen in Puerto Rico die USamerikanische Staatsbürgerschaft gefordert, und 1910 hatten der Partido Republicano und die Unión diese Forderung sogar in einem gemeinsam verfaßten Petitionsschreiben dem (für Puerto Rico zuständigen) Kriegsminister übermittelt. 1914 aber übersandte das von der Unión dominierte insulare Repräsentantenhaus dem US-amerikanischen Präsidenten und Kongreß eine Erklärung, in der es hieß: Wir beharren entschieden und loyal auf unserem Widerstand dagegen, unter Mißachtung unseres ausdrücklichen Wunsches oder ohne unsere ausdrückliche Zustimmung zu Bürgern irgendeines Landes erklärt zu werden, das nicht unser eigener geliebter Grund und Boden ist, welchen Gott uns als unveräußerliches Geschenk und unbezwingbares Recht gegeben hat. [...] Wir, Puertoricaner, Spanisch-Amerikaner, von lateinischer Wesensart, durch mehr als 400 Jahre und über 1200 Meilen von Ihnen getrennt, mit einer unterschiedlichen historischen Entwicklung, einer andersartigen Sprache, unterschiedlichen Sitten und Gebräuchen... — könnten wir uns in jenem spirituellen Sinn, den die Idee der Staatsbürgerschaft fordert, in amerikanische Staatsbürger verwandeln und fühlen, denken, wollen und sprechen wie Sie und in der Form mit Ihnen übereinstimmen, wenn es um die Lebensauffassunggeht, die Erinnerung, die Hoffnung, die Ideale...?36 Der Beweggrund für die Ablehnung der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft seitens der Unión war offensichtlich, würde diese doch die Entscheidung über den endgültigen Status der Insel präjudizieren, denn für die 35 Vortrag Muñoz Riveras, gehalten am 20. 10. 1891 und abgedruckt in La Democracia vom 28.10.1911; Nachdruck in: Muñoz Rivera 1925:111, 239-251; hier S. 250f. 36 Zitiert nach Morris 1995:31.

45 Mitglieder des US-amerikanischen Kongresses stand außer Frage, daß Puerto Rico, ausgestattet mit dem Privileg der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft, von den Vereinigten Staaten niemals aufgegeben werden würde oder, wie es ein Mitglied des Repräsentantenhauses gegenüber Muñoz Rivera zum Ausdruck brachte: „Sie werden sie annehmen für sich selbst und die Kinder Ihrer Kinder auf immer und ewig"37. Bei der Anhörung im Committee on Insular Affairs des US-amerikanischen Repräsentantenhauses während der ersten Monate des Jahres 1916 verwickelte sich Muñoz Rivera in dieser Frage in mancherlei Widersprüche, welche die Mitglieder des Komittees zum Teil erheblich irritierten. Einerseits akzeptierte er die USamerikanische Staatsbürgerschaft unter der Bedingung, daß Puerto Rico als Bundesstaat in die Union aufgenommen werden würde: „Gebt uns die estadidad, und Ihre glorreiche Staatsbürgerschaft wird von uns und unseren Kindern willkommen geheißen."38 Andererseits lehnte er sie ab mit dem Hinweis darauf, daß „das Streben meiner Partei letztlich auf den Nationalismus gerichtet ist, mit oder ohne nordamerikanisches Protektorat, und nach dem Verständnis des puertoricanischen Volkes wird die Verleihung der Staatsbürgerschaft mit seinem Streben nach Unabhängigkeit in Konflikt geraten" — eine Vorstellung, die der Vorsitzende des Kommitees schlicht als „müßige Träumerei" vom Tisch wischte.39 Mit dem im März 1917 von Präsident Wilson unterzeichneten Jones Act wurde den Puertoricanern trotz Einspruchs seitens ihrer Mehrheitspartei die US-amerikanische Staatsbürgerschaft verliehen40, und bereits im Juni des37 Zitiert nach Carr 1984:53. Andererseits beinhaltete nach US-amerikanischem Verständnis die Verleihung der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft an die Puertoricaner kein Präjudiz in der Status-Frage und bedeutete schon gar nicht, wie 1922 der Oberste Gerichtshof (u.a.) fiir Puerto Rico betonte, „eine Absicht, diese fernen ozeanischen Gemeinwesen, die eine andere Herkunft und eine andere Sprache als die unserer kontinentalen Bevölkerung aufweisen, in die Union zu integrieren" (zitiert nach Morales Carrion 1991:54, 67). 38 Zitiert nach Bothwell 1988:116. 39 Zitiert nach Maldonado-Denis 1980:102. 40 Das Gesetz sah durchaus die Wahlmöglichkeit vor; das heißt, jeder Puertoricaner konnte sich im Prinzip dafür entscheiden, die US-amerikanische Staatsbürgerschaft abzulehnen und die puertoricanische, die nun aber keinen international gültigen staatsrechtlichen Status besaß, beizubehalten. Hiervon machten 288 Puertoricaner Gebrauch; doch indem sie automatisch alle politischen Rechte einbüßten, wurden sie zu Rechtlosen und Fremden im eigenen Land.

46 selben Jahres wurden die ersten puertoricanischen Wehrpflichtigen, Männer zwischen 21 und 31 Jahren, eingezogen. In Abänderung des Foraker Act verfugte der Jones Act einige weitere Reformen — so bestand die Legislative nunmehr aus zwei vom Volk zu wählenden Kammern, dem Repräsentantenhaus und dem Senat. Doch verblieb die Exekutive unter der Kontrolle der Vereinigten Staaten, konnte der Gouverneur, weiterhin ein vom USamerikanischen Präsidenten ernannter „kontinentaler" US-Bürger, ebenso wie der Präsident und der Kongreß der USA gegen sämtliche vom Inselparlament verabschiedeten Gesetzesvorlagen ihr Veto einlegen.41 Den Foraker Act liberalisierte der Jones Act in nur unwesentlichen Punkten, und die entscheidende Frage des Status blieb ungelöst, so daß ein US-amerikanischer Journalist kommentierte: Puerto Rico gewähren wir nicht den Status eines Territoriums, den wir Hawaii zugestanden haben, das immerhin zu einem großen Teil von Chinesen und Japanern bewohnt wird... Das Volk wird weiterhin gegängelt. Der Vertreter Puerto Ricos in Washington ist kein Kongreßabgeordneter, sondern ein Resident Commissioner. In diesem Punkt behandeln wir Puerto Rico sehr viel schlechter, als es Spanien tat, denn die Puertoricaner waren in den Cortes in Madrid mit Abgeordneten vertreten, die unter denselben Bedingungen antraten wie die übrigen Abgeordneten. 42 Die Puertoricaner waren zutiefst enttäuscht, doch man fugte sich (wieder einmal) dem Willen der Metropole und verstand es sogar, mit Blick auf die Wähler durchaus geschickt, die eigene Niederlage in einen Sieg umzumünzen. So kommentierte Muñoz Rivera die Gesetzesvorlage, als ihre Ratifizierung bereits gesichert schien, „als einen Schritt nach vorn in die richtige Richtung und als eine Reform, die den Weg bereiten wird für eine weitere, befriedigendere Reform, die etwas später kommen wird, sofern meine Landsleute ihre Befähigung unter Beweis stellen können: die Befähigung, die sie besitzen, sich selbst zu regieren"43. Und die Unión ging noch einen Schritt weiter, indem sie, nachdem das Gesetz verabschiedet war, erklärte: 41 Das Veto des Gouverneurs konnte zwar mit einer 2/3-Mehrheit beider Kammern des Padaments überstimmt werden, doch blieb auch nach dem Jones Act die endgültige Entscheidung stets dem US-amerikanischen Kongreß vorbehalten. 42 Zitiert nach Bothwell 1988:120, Anm. 422. 43 Muñoz Rivera im März 1916; in: Dalmau Canet 1917:366.

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Sie feiert als echten Erfolg ihrer Anstrengungen und ihrer Hingabe das neue Grundgesetz..., kraft dessen die Puertoricaner eine weitreichende Selbstverwaltung genießen... Sie begrüßt und empfängt als eine besondere Ehre, die der politischen Würde des Landes gezollt wird, die amerikanische Staatsbürgerschaft, welche die Stellung Puerto Ricos innerhalb des nationalen und internationalen Rechts klärt, ohne daß dadurch die endgültige Festlegung unseres Status präjudiziell: wird.44 Nach dem Tod José de Diegos 1918 — Luis Muñoz Rivera war bereits zwei Jahre zuvor gestorben — verloren die Befürworter der Unabhängigkeit innerhalb der Union immer mehr an Einfluß, so daß unter dem neuen Vorsitzenden, Antonio R. Barceló, 1922 die „base quinta", mit der nahezu zwei Jahrzehnte zuvor die Unabhängigkeit als eine annehmbare Option in die politische Diskussion eingeführt worden war, aus dem Parteiprogramm gestrichen wurde. Statt dessen propagierte man, wenn auch nur als kurzlebiges Programm, eine Formel, die zuerst ein Mitglied des US-amerikanischen Repräsentantenhauses, Philipp P. Campbell, eingebracht hatte und die drei Jahrzehnte später erneut - und diesmal mit Erfolg - für die Status-Frage bemüht werden sollte: die Formel des „Estado Libre Asociado" oder, wie es in der Resolution der Union hieß, „die Schaffung in Puerto Rico eines Staates, eines Volkes oder einer Gemeinschaft, die frei ist und die den Vereinigten Staaten von Amerika assoziiert ist [...], wodurch auf ehrenvolle, zufriedenstellende und definitive Weise das — immer noch einer Lösung harrende — Problem geklärt wird, wie die Beziehungen zwischen beiden Völkern auszusehen haben"45. Die meisten Befürworter der Unabhängigkeit innerhalb der Unión zeigten sich konsequent: Sie verließen die Partei, um im selben Jahr 1922 mit dem Ziel der Errichtung einer „in Einklang mit dem Nationalitätenprinzip freien, souveränen und unabhängigen Republik"46 den

44 La Democracia vom 7. 5. 1917; zitiert nach Bothwell 1988:119. Der Zusatz „ohne daß dadurch die endgültige Festlegung unseres Status präjudiziert wird" wurde erst aufgrund eines Antrags von José de Diego in die Erklärung aufgenommen. 45 Zitiert nach Pagán 1972:1, 212f. 46 Ebd.:I, 214.

48 Partido Naäonalista zu gründen, der allerdings erst Anfang der 30er Jahre öffentlichkeitswirksam in Erscheinung treten sollte.47 Der Partido Republicano, die zweite bedeutende politische Kraft dieser Zeit, war hinsichtlich der sozialen Schichtung seiner Mitglieder weitaus heterogener als die Unión. So fanden sich unter ihnen neben den vom Zuckerboom profitierenden Plantagenbesitzern und Repräsentanten der lokalen Administration Mitglieder der aufstrebenden städtischen Mittelschichten wie Anwälte, Agronome und Ingenieure, die in staatlichen Programmen oder in großen US-amerikanischen Unternehmen beschäftigt waren und im Zuge des Wirtschaftswachstums an Zahl und Bedeutung zunahmen.48 Alle verdankten ihre Position der neuen Ordnung, und so zeigte sich der Partido Repubücano während der ersten zwei Jahrzehnte in seinen programmatischen Aussagen weitaus beständiger, ließ die Partei doch nie auch nur den geringsten Zweifel darüber aufkommen, daß sie beharrlich darauf hoffte, nach einer angemessenen Zeit des Übergangs für Puerto Rico die estadidad zu erreichen. Dabei muß Barbosa als herausragendem Kopf der Partei zugute gehalten werden, daß er, der sich zur Zeit der spanischen Herrschaft im Ringen um die Autonomie dem Pakt mit den Monarchisten verweigert hatte, als überzeugter Republikaner handelte. Denn in dem Anschluß an die Vereinigten Staaten und in einer weitgehenden „Amerikanisierung" im öffentlichen wie im privaten Bereich sah er die Gewähr für eine freiheitliche, demokratische Gesellschaftsordnung und damit die Überwindung jener patriarchalischen oder semi-feudalen Strukturen, die am Ausgang des 19. Jahrhunderts die Machtbasis der hacendados und autonomistas gebildet hatten und um deren Erhalt ein Großteil der Parteigänger der Unión verzweifelt bemüht war.

47 Bereits 1912 hatte sich unter Führung von Rosendo Matienzo Cintrón, seit den Tagen der Carta Autonómica ein enger Weggefährte Muñoz Riveras, ein Flügel der Unión abgespalten, um eine erste, dezidiert für die Unabhängigkeit eintretende Partei, den Partido de la Independenda de Puerto Rico, zu gründen. Ihr politischer Einfluß war gering, und mit dem Tod Matienzo Cintróns ein Jahr nach Gründung der Partei ging diese unter. 48 Durch die Person Barbosas, der - in dieser Hinsicht eine der wenigen Ausnahmeerscheinungen unter den führenden Politikern der Zeit — ein Schwarzer war, gewann der Partido Republicano auch Sympathien unter den Farbigen des städtischen Kleinbürgertums, ohne daß sich diese aber in jedem Fall mit den Zielen der Partei identifizierten.

49 Doch wie die Union in der Status-Frage über zwei Jahrzehnte im wesentlichen aus wahltaktischem Kalkül auf keine der drei Optionen und damit auch nicht auf die der Unabhängigkeit verzichten mochte — dies schließlich auch nicht ohne Erfolg, war sie doch bis 1924 die dominierende politische Kraft —, sah sich nun der Partido Republicano genötigt, seinem bei manchem Wähler nicht unbedingt förderlichen Image als die den neuen Kolonialherren (gewissermaßen als neue incondiáonaks) bedingungslos ergebene Partei dadurch entgegenzuwirken, daß man ebenfalls die Unabhängigkeit zum Ziel erklärte, allerdings in einer ganz eigenen Interpretation. So hieß es in der Präambel des Parteiprogramms von 1920: „Das einzige, immerwährende und unwandelbare Ideal des Partido Republicano ist: die wahre Unabhängigkeit unseres Vaterlandes, die Anerkennung der vollen Souveränität unseres Volkes, sanktioniert und garantiert durch den Eintritt Puerto Ricos in den Schoß der Familie freier und souveräner Republiken, aus denen sich der Verbund der Vereinigten Staaten zusammensetzt [.,.]"49 Und die angestrebte estadidad definierte die Partei nun als „Souveränität innerhalb der Souveränität"50. Damit signalisierte der Partido Republicano eine gewisse Annäherung an die Unión, und angesichts der Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit, die letztere bereits bewiesen hatte, mochte es nicht überraschen, daß die traditionell antagonistischen Parteien sich 1924 — wiederum aus machtpolitischem Kalkül — zu einem Wahlbündnis, der Alianza Puertorriqueña, zusammenschlössen. Denn beiden drohte Gefahr von seiten einer dritten Kraft, des Partido Soäalista, mit der sie lange Zeit nicht gerechnet hatten. Bereits 1899 hatte Santiago Iglesias Pantín, ein aus Galizien stammender Handwerker, der sich als Autodidakt mit dem Gedankengut der radikalen europäischen Arbeiterbewegung vertraut gemacht hatte, mit dem Partido Obrero Soäalista eine Partei gegründet, die zum ersten Mal gezielt die Interessen der Arbeiterschaft: vertrat und sich als politischer Arm der gleichermaßen 1899 ins Leben gerufenen Gewerkschaft Federación Ubre de los Trabajadores de Puerto Rico verstand. Die Ziele der Gewerkschaft wie der Partei, die beide die estadidad befürworteten, ohne allerdings die Status-Frage zu einem zentralen Programmpunkt zu erheben, richteten sich auf die Durchsetzung einer für das ländliche wie das städtische Proletariat annehmbaren Arbeitsgesetzgebung, die sie allein durch die Bindung an die Vereinigten Staaten 49 Zitiert nach Bothwell 1988:164. 50 Ebd.: 164, Anm. 542.

50 garantiert sahen. Dominant war zunächst die Gewerkschaft, die sich der gemäßigt agierenden American Federation of Labor von Samuel Gompers anschloß, womit Santiago Iglesias, der bereits 1900 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, als deren Repräsentant in Puerto Rico (und Kuba) nunmehr seinen radikalen Positionen entsagte. Über die Unterstützung von Streiks insbesondere in den Küstenregionen konnte die Federación Libre de los Trabajadores, wenn auch in bescheidenem Umfang, Verbesserungen der Arbeitsbedingungen erreichen, doch stellte sie zu keiner Zeit das Prinzip der kolonialen Abhängigkeit in Frage und bestreikte mit besonderer Unnachgiebigkeit vorrangig die einheimischen „Zuckerbarone", während mit den US-amerikanischen Kapitalgesellschaften, die keinesfalls bessere Arbeitsbedingungen boten, häufig unter Umgehung von Streiks eine (für die Arbeiter nicht immer vorteilhafte) schnelle Einigung erzielt wurde. Dank der Ausweitung der Produktion im Zuckersektor, aber auch in der Tabakindustrie, wo die zu jener Zeit als Avantgarde der Arbeiterbewegung geltenden tabaqueros die Basis der Sozialisten stellten, konnte die Partei, 1915 als Partido Soäalista neu gegründet, bei den Wahlen 1917 bereits 14% und 1920 sogar knapp 24% der abgegebenen Stimmen erringen, was schließlich die beiden traditionellen Parteien zu ihrem Wahlbündnis bewog. Doch die „Allianz" zwischen dem die estadidad anstrebenden Partido Republicano und den autonomistas der Unión, die denn auch erwartungsgemäß 1924 und 1928 die Wahlen gewann, blieb nicht das einzige, wohl aus machtpolitischen, nicht aber aus ideologischen Erwägungen nachvollziehbare Parteienbündnis. Im selben Jahr 1924 schlössen sich zwei Gruppierungen zu einer „Koalition" zusammen, die zwar beide die estadidad befürworteten, jedoch in der gesellschaftlichen Macht- und Werteskala die entgegengesetzten Pole repräsentierten: auf der einen Seite mit den „Zuckerbaronen" die reaktionärsten Kräfte der Republikaner, die sich in ihrer kompromißlosen Unterwerfung unter die US-amerikanische Administration von der eigenen Partei nicht mehr vertreten sahen und sich als Partido Republicano Puro von dieser abgespalten hatten; auf der anderen Seite der Partido Sotiaästa, der nun nicht mehr die einheimische Oligarchie, sondern die US-amerikanischen Kapitalgesellschaften, die absentistas, die ihren Profit außer Landes trugen, zum wahren Feind des Volkes erklärte und überdies seine unter dem Einfluß der reformistischen American Federation of Labor ohnehin nur schwach

51 ausgeprägte sozialistische Programmatik längst dem eigenen Machtstreben geopfert hatte. Drei Jahrzehnte US-amerikanischer Herrschaft unter der Ägide eines gegenüber Puerto Rico zutiefst indifferenten Kongresses hatten bewirkt, daß die Euphorie, mit der man 1898 die Invasoren willkommen geheißen und die Eingliederung in die Vereinigten Staaten von Amerika herbeigesehnt hatte, in Desillusion und offene Kritik umgeschlagen war und in breiten Sektoren der Bevölkerung nicht mehr nur die Autonomie gefordert, sondern auch - was selbst vier Jahrhunderte spanischer Herrschaft nicht erreicht hatten - die Unabhängigkeit als Option ernsthaft in Erwägung gezogen wurde. Die Vereinigten Staaten zeigten sich unnachgiebig, wenn es darum ging, die nach Ansicht der politischen Elite längst unter Beweis gestellte Befähigung der Puertoricaner zum self-government endlich anzuerkennen. Dabei waren die US-Amerikaner gewiß im Unrecht, denn alle politischen Fraktionen hatten - trotz gelegentlicher Unmuts äußerungen oder gar Proteste - ihre Fähigkeit bewiesen, sich bereitwillig und dienstbar den von der neuen Metropole vorgegebenen Mustern und Regeln der politischen Praxis anzupassen. Die öffentliche Diskussion in dieser Zeit wurde beherrscht von den Vertretern der politischen Parteien, die sich in programmatischen Erklärungen oder journalistischen Artikeln zu Wort meldeten. Doch zu dieser „Generación del Tránsito y del Trauma" 51 zählen auch die Literaten, die, vorwiegend in der Lyrik und im Roman, die Folgen der US-amerikanischen Invasion in kritischer Perspektive beleuchteten. Die Lyrik stand zunächst unter dem Einfluß des Modernismus nach dem Vorbild des 1888 erschienenen Bandes A.%ul des Nicaraguaners Rubén Dario und strebte in seinem Gefolge nach einer spezifischen, fundamentalen Erneuerung der poetischen Sprache und Sensibilität. Diese erste Phase des in ganz Lateinamerika propagierten Modernismus kennzeichnete die Flucht in exotische, exquisit aus51 So die von Manrique Cabrera (1986) geprägte Bezeichnung für die Generation, die man - analog zur spanischen „98er Generation" - gleichermaßen als „Generación del 98" bezeichnen kann. Zur genaueren essayistischen und insbesondere der (hier vernachlässigten) literarischen Aufarbeitung des Traumas von 1898 als „Generationenerlebnis" vgl. die Ausführungen der Verf. in dem im Herbst 1998 erscheinenden, den „98em" vorwiegend in Spanien, aber auch in Lateinamerika gewidmeten Doppelheft 70/71 der Zeitschrift Iberoamericana (Frankfurt/M.: Vervuert).

52 gestaltete, der eigenen Wirklichkeit ferne und allein der künstlerischen Freiheit verpflichtete Szenarien; und José de Diego, selbst ein herausragender Vertreter des Modernismus, warf mit Blick auf die gesamtlateinamerikanische Literatur dieser Spielart des Modernismus vor, daß sie „die Inspiration und das Streben der in diesen beklagenswerten Ländern geborenen Dichter von der Heimaterde, der Lebenswelt und den vaterländischen Gefühlen und Idealen entfernte"52. Die puertoricanischen Modernisten wandten sich in ihrer Mehrheit dezidiert der eigenen Wirklichkeit zu, um als Gegenreaktion zu kolonialer Herrschaft und „Amerikanisierung" für die Unabhängigkeit und das hispanische bzw. lateinamerikanische Erbe einzutreten: etwa José de Diego selbst, der sich in seinem Kampf für die Unabhängigkeit in seiner patriotischen Lyrik ebenso streitbar zeigte wie in seinen politischen Reden; oder Luis *Lloréns Torres, der bedeutendste Dichter dieser Zeit, der etwa in seinem Gedicht „El patito feo" („Das häßliche Entlein") US-amerikanische Überheblichkeit subtil-ironisch demaskierte und ihr selbstbewußt den Wert der eigenen, spanisch-amerikanischen, Kultur entgegensetzte. Der Roman stand zunächst hinter der Lyrik zurück, was auch mit den schwierigeren Publikationsmöglichkeiten zusammenhing. Doch wurden auch hier, wie etwa bei Ramón Julia Marin, die Folgen der von den Vereinigten Staaten im Agrarbereich herbeigeführten strukturellen Veränderungen überaus kritisch beleuchtet und, wie im Roman Redentores (Die Erlöser) von Manuel *Zeno Gandia, dem ersten herausragenden puertoricanischen Romancier, die Protagonisten der im Lande herrschenden politischen (Un-) Kultur mit bitterböser Ironie ins Blickfeld genommen: die in ihrer Haltung inkonsequenten und in ihrem Handeln (wie zu Zeiten der spanischen Herrschaft) allein auf die Metropole fixierten lokalen Politiker ebenso wie die inkompetenten und selbstherrlichen Vertreter der US-amerikanischen Administration, welche die Puertoricaner moralisch pervertieren, obgleich sie doch einst als „Erlöser" gekommen und willkommen gewesen waren.

52 José de Diego im Prolog zu seinen 1916 publizierten Cantos de rebeldía (zitiert nach de Diego 1970:318).

Kapitel 3 Konzessionen und Repression: von der kulturellen Selbstbehauptung und nationalistischen Agitation zum Sieg des autonomismo über den independentismo [1930-1952] Zu Beginn der 30er Jahre befand sich Puerto Rico in einer Krise von bis dahin nie gekannten Ausmaßen. Das traditionelle Spektrum der politischen Parteien hatte durch die konzeptionslosen, in sich widersprüchlichen „Allianzen" und „Koalitionen", in ihrer Funktion als reine Wahlvereine klar erkennbar, bei den nun keineswegs mehr als unmündig einzustufenden Wählern an Glaubwürdigkeit verloren. Das von den Vereinigten Staaten aufgezwungene, im wesentlichen auf der monokulturellen Zuckerproduktion basierende Modell wirtschaftlicher Entwicklung drohte, auch infolge der die USA in besonderer Weise tangierenden Weltwirtschaftskrise, zu kollabieren, und durch den Hurrikan „San Felipe" von 1928 wurde, wie schon durch „San Ciriaco" 1899, die mittlerweile in bescheidenem Maße wieder aufgeblühte Kaffeeproduktion erneut ruiniert. Als der von Präsident Herbert C. Hoover ernannte neue Gouverneur Theodore Roosevelt Jr., einer der wenigen Repräsentanten der US-amerikanischen Administration, der Puerto Rico und seinen Menschen mit Interesse und Sympathie begegnete, 1929 sein Amt antrat, stellte er fest, daß „Armut weitverbreitet und Hunger, fast am Rande des Hungertods, alltäglich war"1. Der Niedergang der einstigen kreolischen Elite der hacendados war besiegelt, und die Mehrheit der Bevölkerung vermochte bei einer Arbeitslosenquote von annähernd 60%, hervorgerufen (u.a.) durch die fortgeschrittene Mechanisierung im Zuckersektor ebenso wie in der Tabakmanufaktur2, allein durch die Hilfsprogramme zu überleben, die der demokratische Präsident Franklin D. Roosevelt ab 1933 im Rahmen seines Konzepts des New Deal mit nicht unbeträchtlichen Summen finanzierte. Doch diese Programme, koordiniert durch die Puerto Vacan Emergency Relief Administration (PRE1

Roosevelt 1937:108.

2

Quintero Rivera 1986:152, Anm. 50.

54 RA) und die Puerto Rican Reconstruction Administration (PRRA), bei der Bevölkerung als Synonym für ihre Armut und demütigende Situation als Almosenempfanger verhaßt, vermochten die Not der Menschen nur vorübergehend und in bescheidenem Ausmaß zu lindem.3 1935 resümierte der für die Territorien und überseeischen Besitzungen der Vereinigten Staaten nunmehr verantwortliche Innenminister Harold Ickes treffend, was drei Jahrzehnte US-amerikanischer Präsenz in Puerto Rico bewirkt hatten: Puerto Rico wurde das Opfer der laisse^Jaire-Wirtschaft, die zu einer rapiden Ausweitung großer, von nicht im Lande ansässigen Kapitaleignern betriebener Zuckerfabriken geführt hat, und diese haben viel Land absorbiert, das kleinen, unabhängigen Pflanzern gehörte, die infolgedessen faktisch in die Knechtschaft gezwungen wurden. Die für Puerto Rico verfügte Aufhebung unserer Zollschranken war für die Aktionäre dieser Gesellschaften höchst vorteilhaft, doch die Gewinne wurden nicht an die Masse der Puertoricaner weitergeleitet. Diese mußten, im Gegenteil, erleben, daß das Land, das sie früher für den eigenen Lebensunterhalt bebaut hatten, für die Zuckerproduktion beansprucht wurde und sie selbst nach und nach gezwungen wurden, all ihre Grundnahrungsmittel zu importieren, wofür sie aufgrund der Zölle teuer bezahlen müssen. Heute herrscht in Puerto Rico in weit größerem Umfang Not und Elend und eine weit größere Arbeitslosigkeit, als dies je zuvor in der Geschichte des Landes der Fall gewesen ist.4

3 Als das Programm der PRERA 1934 anlief, erhielten innerhalb eines Jahres 42% der Bevölkerung Hilfsleistungen. Nach Schätzung einer Regierungsstudie erfüllten im selben Zeitraum aber 80% der Puertoricaner die Bedingungen, um in den Genuß von Sozialleistungen zu gelangen, die jedoch aufgrund der unzureichendenfinanziellenAusstattung der PRERA nicht gewährt werden konnten. Wie ungleichgewichtig die Zuteilungen von der zentralen Federal Emergeng ReliefAdministration in Washington vorgenommen wurden, zeigen die folgenden Zahlen: Die im Durchschnitt pro Einwohner geleisteten Zahlungen beliefen sich 1936 für Puerto Rico auf 57$, für Hawaii auf 142$, für die (1917 von England gekauften) Virgin Islands auf 282$ und für die US-amerikanischen Bundesstaaten im Durchschnitt auf 223$ (Femandez 1996:116,131). 4 Zitiert nach Lewis 1963:92. Erst 1934 war die Zuständigkeit für Puerto Rico sowie die anderen Territorien und insularen Besitzungen der Vereinigten Staaten vom Kriegsministerium auf das Innenministerium übergegangen: Ausdruck eines Wandels in der Haltung der US-Administration, die nun eine gezielte und

55 Die allgemeine Krise erfaßte nun aber auch das kollektive Selbstverständnis, die Frage nationaler Werte und nationaler Identität. Diese in der Perspektive von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu reflektieren, sollte sich die sogenannte „Generación del 30" - auch als Abwehr gegen die weiterhin aggressiv betriebene „Amerikanisierung" der Insel — zur Aufgabe machen. Den Anstoß hierzu gab die im Mai 1929 erschienene zweite Nummer der von Antonio S. Pedreira, Vicente Géigel Polanco u.a. herausgegebenen Zeitschrift Indice, indem sie unter den fuhrenden Intellektuellen der Zeit ein Meinungsbild zu der Frage „Wer sind wir, und wie sind wir?" erstellte.5 Die Antworten gingen in der Regel über rein persönlich gehaltene, eine objektive Fundierung der Argumentation gar nicht erst vorgebende Impressionen nicht hinaus, doch das Echo der Umfrage schuf ein intellektuelles Klima, das die von Pessimismus und Apathie beherrschten Intellektuellen zu gesteigerter schriftstellerischer Betätigung beflügelte. Die beiden bedeutendsten in diesem Zusammenhang publizierten Werke sind der Essayband Insularismo (Insularismus) von Antonio S. *Pedreira, der Teile seines Werkes bereits als Leitartikel in Indice veröffentlicht hatte, sowie der mit Prontuario histórico di Puerto Rico (¿Abriß der puertoricanischen Geschichte) betitelte Essay von Tomás * Blanco, der sein Werk als Replik auf das Pedreiras verstand, diesem aber nicht wesentlich widersprach. Hinsichtlich der puertoricanischen kollektiven Identität, derpuertorriqueñidad, war sich die „Generación del 30" mit zahlreichen Vertretern der vorangegangenen Generation wie José de Diego, Luis Lloréns Torres oder auch den Verfassern der zitierten Stellungnahme der Unión gegen die US-amerikanische Staatsbürgerschaft einig: Sie wurzelte im spanischen Erbe, im Geist der Latinität, eingebettet in die Gemeinschaft der hispanoamerikanischen Staaten und Kulturen, geprägt durch ihre Geschichte und ihre Sprache als Ausdruck einer spezifischen, (nach Pedreira) an geistigen und moralischen Werten gemessenen Kultur, die der am materiellen Fortschritt gemessenen

verantwortliche Politik der wirtschaftlichen und sozialen Förderung ihrer kolonialen Besitzungen anvisierte. 5 Die Herausgeber lieferten zwecks Präzisierung der Problematik einen kurzen Fragenkatalog: „1. Glauben Sie, daß unsere Persönlichkeit als Volk vollständig herausgebildet ist? - 2. Gibt es eine Wesensart, die auf unverwechselbare und unverfälschte Weise puertoricanisch ist? - 3. Welches sind die definitorischen Merkmale unseres kollektiven Charakters?" (Indice 1979:18).

56 US-amerikanischen Zivilisation weit überlegen war. 6 Die Essenz ebenso wie das Ferment derpuertorriqueñidad vermeinte man in dem Campesino der montaña auszumachen: dem jíbaro, der, mit dem eigenen Stück Land zutiefst verbunden, die ihm von den spanischen Vorfahren überlieferten Werte und Lebensformen weitgehend bewahrt hatte, ohne von dem mit US-amerikanischem Materialismus und Utilitarismus identifizierten Lebensstil der Küste infiziert zu sein. Wie schon ansatzweise in dem Werk El Gibaro (1849/1882) von Manuel A. Alonso Pacheco, einer Sammlung von Genrebildern und Skizzen über die Sitten und Gebräuche der Campesinos, geschehen, wurde der jíbaro als authentischer Ausdruck einer puertoricanischen Identität oder naäonalidad zu einem den Essay wie die fiktionale Literatur beherrschenden Gegenstand. Doch während bei Alonso Pacheco, den Vorgaben des costumbrismo entsprechend, trotz einer gewissen gesellschaftskritischen Intention das Anekdotische und Pittoreske noch überwog, trat nun die reflexiv-kritische Behandlung der Überlebensstrategien des jíbaro bei der thematischen Schwerpunktsetzung in den Vordergrund: etwa die Agonie eines vor Hunger Sterbenden, eingebettet in die Solidarität der Gemeinschaft der compadres in der Erzählung „Santigua de Santigüero" („Das Gebet eines Gebetsheilers") von Emilio S. * Beiaval; oder die liebevoll-ironisch geschilderte Hilflosigkeit eines Dorfschullehrers gegenüber der verordneten „Amerikanisierung" des Unterrichts in Abelardo *Díaz Alfaros Erzählung „Peyo Mercé enseña inglés" („Peyo Mercé unterrichtet Englisch"); oder die apokalyptische Vision der montaña und der in ihrer Nacktheit und Schutzlosigkeit mit ihr identifizierten Menschen in dem Poem Barro (Lehm) von Evaristo * Ribera Chevremont. Und schließlich wurde in dem Roman La llamarada (Der Feuersturm) von Enrique A. *Laguerre, gewissermaßen als Synthese, die individuelle und kollektive Hölle der verschiedenen in die Zuckerproduktion an der Küste involvierten Personen und Gruppen — als Negativfolie des Lebensraums der montaña — in Szene gesetzt: das Leiden der von ihrem Land vertriebenen jiba-

6 Bei Pedreira wie auch einigen seiner Zeitgenossen findet sich hier ein spätes Echo des 1900 publizierten und unter den Intellektuellen in ganz Lateinamerika über Jahrzehnte als genuiner Ausdruck der eigenen Wesensart gefeierten kulturphilosophischen Essays Ariel des Uruguayers José Enrique Rodò, der bei aller Bewunderung für bestimmte Errungenschaften der US-amerikanischen Zivilisation ein - durchaus auch als kompensatorisch zu begreifendes - Idealbild der als überlegen gewerteten spanisch-amerikanischen Kultur entwarf.

57 ros als hilflose, selbst ihrer Würde beraubte Opfer des US-amerikanischen Ausbeutungssystems; die gleichermaßen erniedrigende Verarmung und Entrechtung der einheimischen hacendados in ihrer systemimmanenten Abhängigkeit von den US-amerikanischen Zuckerfabriken; und letztlich auch die vom Ideal des wirtschaftlichen Fortschritts - und der Aussicht, an diesem teilzuhaben - geblendeten Vertreter des aufsteigenden Kleinbürgertums, repräsentiert durch den Protagonisten des Romans, der sich als Verwalter in Diensten einer mächtigen US-amerikanischen Gesellschaft zunächst zu deren Komplicen macht, dann aber die dem vermeintlichen Fortschritt zugrunde liegenden Mechanismen der Ausbeutung und Entfremdung erkennt, um am Ende das „Fremde" zugunsten des „Eigenen" aufzugeben und auf die Kaffeefarm der Familie in der montaña zurückzukehren. Den Vertretern der „Generación del 30" war es zweifellos gelungen, ohne den bis dahin stets als unvermeidlich geltenden Rekurs auf die StatusFrage das Bewußtsein für nationale Probleme zu schärfen und das Studium der nationalen Wirklichkeit wie der nationalen Kultur zu fördern.7 Und sie trugen nicht unwesentlich dazu bei, daß sich auch innerhalb der USamerikanischen Administration die Einsicht von der Unmöglichkeit, die Puertoricaner in authentische US-Amerikaner zu verwandeln, durchsetzte — so wie es der Gouverneur Roosevelt formulierte: „Eine Sache für einen Spanier ist es, in die Vereinigten Staaten zu kommen, um dort zu leben und sich durch seine alltäglichen Kontakte unserer Art zu denken anzupassen. Etwas ganz anderes ist es zu versuchen, mit einer Handvoll Beamter ein ganzes Volk in dem Land, in dem es geboren ist, zu ändern."8 Doch ist für die „Generación del 30" auch Kritik anzumelden. Zum einen implizierte die Bindung nationaler Identität an den jíbaro eine Ausblendung eines Teils der Bevölkerung und ihrer afroamerikanischen Kulturtradition9, der Luis * Palés Matos etwa mit seinem Gedicht „Plena del 7

Eine herausragende Rolle spielte hierbei das 1927 gegründete Departamento de Estudios Hispánicos der Universidad de Puerto Rico in Rio Piedras und das von diesem 1928 ins Leben gerufene Publikationsorgan Revista de Estudios Hispánicos. An diesem Institut wurde schließlich 1933, drei Jahrzehnte nach Gründung der Universität, zum ersten Mal ein Kurs zur puertoricanischen Literatur angeboten: nach dem Verständnis der Initiatoren ein längst fälliges Zeichen für die gescheiterte „Amerikanisierungs"-Politik des Erziehungsministeriums. 8 Roosevelt 1937:115. 9 Ihren höchsten Anteil an der Gesamtbevölkerung Puerto Ricos erreichten die Farbigen 1820 mit knapp 56%. Im Verlauf des Jahrhunderts reduzierte sich

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menéalo" („Schwing die Hüften [Plena]") als unverzichtbarer Teil puertoricanischer Identität und als effiziente Waffe gegen den US-amerikanischen (Kultur-) Imperialismus — zudem in faszinierender sinnlich-erotischer Bildgestaltung — zu einer angemessenen Aufwertung verhalf. Zum andern entsprach die Stilisierung des mit seinem Stück Land aufs innigste verbundenen, trotz extremer Armut in einer funktionierenden Solidargemeinschaft lebendenjíbaro schon seit langem nicht mehr der Wirklichkeit, besaßen doch nur noch etwa 20% der ländlichen Bevölkerung eigenen Grund und Boden10, waren mitderweile durch die verschiedenen Migrationswellen jíbaros als verelendetes Proletariat in den Städten Puerto Ricos ebenso zu finden wie in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Mystifizierung des jíbaro war der rückwärtsgewandte Reflex einer intellektuellen Elite, die sich mit der nostalgisch verklärten Vision der einst hegemonialen, nun dekadenten Klasse der hacendados identifizierte: nach dem Urteil moderner puertoricanischer Autoren „ein ideologischer Archaismus", „eine kompensatorische Ideologie"11. Auf der Ebene der politischen Auseinandersetzung standen die 30er Jahre als eine Folge der wirtschaftlichen und sozialen Krise ebenso wie der Rückbesinnung auf „nationale" Werte und Eigenschaften ganz im Zeichen des Ringens um die Unabhängigkeit. Und sie wurden geprägt von zwei charismatischen Persönlichkeiten: Pedro Albizu Campos und Luis Muñoz Marín, die beide über drei Jahrzehnte die öffendiche Meinung beherrschen sollten, die aber, nach anfänglicher Ubereinstimmung, hinsichtlich ihrer ideologischen Ziele, ihrer politischen Praxis und ihrer Fortune antagonistische Positionen repräsentierten. Albizu Campos war 1921 nach Abschluß seines Jurastudiums in Harvard nach Puerto Rico zurückgekehrt und hatte sich zunächst jener Fraktion der Unión angeschlossen, die für die Unabhängigkeit und die sofortige Einberufungeiner Verfassunggebenden Versammlung plädierte. Nachdem die Unión dieser Prozentsatz kontinuierlich, um sich 1897 nur noch auf 35% (8% Schwarze, 27% Mulatten) zu belaufen. (Rowe 1975:102; Carroll 1899:183). Heute geht man hinsichtlich der (keinesfalls immer eindeutig zu bestimmenden und in der Selbst- und Fremdeinschätzung möglicherweise differierenden) ethnischen Struktur allgemein von folgenden Zahlen aus: etwa 75% Weiße, 20% Mulatten, 5% Schwarze. 10 José Juan Beauchamp, in: Martinez Masdeu 1994:365. 11 Ebd.:334, 345.

59 sich endgültig von dem Ziel der Unabhängigkeit verabschiedet hatte, trat er 1 9 2 4 in den Partido Naäonalista ein. Doch innerhalb der gerade erst zwei Jahre zuvor gegründeten Partei, deren Mitglieder zwar hinsichtlich des anzustrebenden Ziels, nicht aber hinsichtlich der anzuwendenden Strategien übereinstimmten, erwies sich Albizu aufgrund seiner kompromißlosen Haltung gegenüber der US-amerikanischen Administration — möglicherweise auch aufgrund seiner Hautfarbe, war er doch einer der wenigen Farbigen innerhalb der politischen Klasse — nicht als konsensfähig, so daß man beschloß, ihn vorerst dadurch zu neutralisieren, daß man ihn auf eine mehrjährige Reise durch lateinamerikanische Länder schickte, auf der er für die Unabhängigkeit Puerto Ricos werben sollte. Nach seiner Rückkehr 1930 vermochte sich Albizu Campos innerhalb des Partido Naäonalista sogleich durchzusetzen, wurde zum Vorsitzenden gewählt und verhalf der Partei durch seine spektakulären, von einer bis dahin nicht gekannten verbalen Radikalität geprägten Auftritte in der Öffentlichkeit zu einer Resonanz, die sich zwar nicht in einem günstigen Wahlergebnis niederschlug - der Partido Naäonalista erhielt 1 9 3 2 bei den einzigen Wahlen, zu denen er jemals antrat, nur etwas mehr als 5.000 von über 380.000 abgegebenen Stimmen - , die aber die Unabhängigkeit für das gesamte politische Spektrum zu einer diskussionswürdigen Option machte. 1 9 3 0 hatte die Partei auf einer Generalversammlung bereits angekündigt, daß sie sich möglicherweise nicht darauf beschränken würde, wie die independentistas vor ihnen ihr Ziel auf dem Verhandlungswege anzustreben. „Laßt uns hier feierlich geloben", so lautete der am Ende von allen Delegierten geleistete Schwur, „daß wir das Ideal des Nationalismus verteidigen und, falls erforderlich, unseren Besitz und unser Leben für die Unabhängigkeit unseres Vaterlandes opfern werden." 12 Und so erschien es nach dem Wahldebakel von 1 9 3 2 nur folgerichtig, daß die nacionalistas, die sich als die einzigen legitimen Erben jener Patrioten sahen, die mit dem „Grito de Lares" 1 8 6 8 Puerto Rico mit Waffengewalt von spanischer Herrschaft befreien wollten, und die sich die einst als Symbol des Unabhängigkeitskampfes geschaffene einsternige Fahne als Emblem der Partei erwählten, außerhalb des konstitutionellen Rahmens zu agieren suchten, wobei sie sich in ihrer antikolonialistischen und antiimperialistischen Haltung zunehmend radikalisierten und in ihrer Strategie die direkte, auch bewaffnete Konfrontation mit den Vertretern der verhaßten Kolonialmacht nicht scheuten. 12 Albizu Campos 1975:1, 87.

60 Zunächst unterstützte der Partido Nacionalista die vorwiegend gegen die US-amerikanischen Kapitalgesellschaften gerichteten Streiks auf den Zukkerrohrfeldern, wo er den Einfluß des Partido Socialista, mittlerweile als Handlanger US-amerikanischer Wirtschaftsinteressen gänzlich diskreditiert, verdrängte. Im Oktober 1935 kam es anläßlich einer Demonstration auf dem Campus der Universität in Rio Piedras zu einem ersten bewaffneten Zusammenstoß zwischen Anhängern Albizus und der Polizei, bei dem vier junge nadonalistas getötet wurden. Die Rede, die Albizu anläßlich der Beisetzung der Opfer vor etwa 8.000 Menschen hielt, geriet zu einer leidenschaftlichen Abrechnung mit dem System, wobei sich Albizu nicht scheute, als einen der Verantwortlichen für das „Massaker von Rio Piedras" den Polizeichef von Puerto Rico, Colonel Francis E. Riggs, zu benennen, und er angesichts einer aufgebrachten Menschenmenge gelobte, „daß dieser Mord nicht ungesühnt bleiben wird". 13 Nur wenige Monate später, im Februar 1936, wurde Riggs auf offener Straße von zwei nadonalistas erschossen, die ihrerseits kurz nach ihrer Verhaftung bei einem Fluchtversuch, wie offiziell verlautete, von Polizeikräften getötet wurden. Albizu und andere führende Mitglieder des Partido Nacionalista, unter ihnen Juan Antonio Corretjer, langjähriger Weggefährte Albizus und bedeutender Lyriker, wurden sogleich unter Anklage gestellt, indem man ihnen (u.a.) vorwarf, mit Waffengewalt den Sturz der Regierung der Vereinigten Staaten geplant zu haben. Während eines ersten Verfahrens, bei dem die Jury sich aus sieben Puertoricanern und fünf (kontinentalen) USAmerikanern zusammensetzte, vermochte sich diese aufgrund des Einspruchs der Puertoricaner zu keiner Verurteilung durchzuringen. Erst in einem zweiten Prozeß, für den als Geschworene nunmehr zehn USAmerikaner und nur zwei (in ihren Wirtschaftsinteressen eng an die USamerikanische Administration gebundene) Puertoricaner ausgewählt wurden, fand die Jury zu einem einhelligen Schuldspruch, und so wurde Albizu zu 10 Jahren Haft verurteilt, die er im Gefängnis von Atlanta, wohin er im Juni 1937 überführt wurde, verbüßen sollte. Die Aburteilung Albizus und anderer Mitglieder des Partido Nacionalista, die ähnliche Freiheitsstrafen erhielten, war eindeutig das Ergebnis eines politischen Prozesses, mit dem die Vereinigten Staaten, in Puerto Rico zum ersten Mal mit einer nicht nur verbalen Herausforderung konfrontiert, die Gefahr einer weitergreifenden Rebellion zu bannen suchten. Dieses Faktum 13 El Mundo vom 26. 10. 1935; auszugsweise in: Bothwell González 1979:11, 499.

61 war den führenden Köpfen aller Parteien bewußt, und so hatten sie in einer gemeinsamen Aktion — allerdings vergeblich — Präsident Roosevelt per Kabel ersucht, zwecks Einstellung des Verfahrens zu intervenieren. Und daß hier keinesfalls Gerechtigkeit geübt worden war, wurde dem Präsidenten schließlich auch von einem der (kontinentalen) US-amerikanischen Jurymitglieder bestätigt: „Meine Mitgeschworenen", so schrieb dieser an Roosevelt, „schienen alle durch ein starkes oder auch massives Vorurteil gegen die Nationalisten eingenommen zu sein und bereit, sie ungeachtet der Beweislage zu verurteilen."14 Die US-amerikanische Administration, von einer gewissen Nervosität befallen, war entschlossen, jeden rebellischen Funken auch unter Einsatz völlig unangemessener Mittel im Keim zu ersticken, und so kam es zu den noch heute von vielen Puertoricanern als traumatisch erinnerten Ereignissen vom Palmsonntag 1937 in Ponce, wo eine angemeldete, dann kurzfristig untersagte friedliche Demonstration von nacionalistas durch Polizeikräfte zusammengeschossen wurde und 19 Tote sowie über 100 Verletzte, unter ihnen viele gänzlich Unbeteiligte, zu beklagen waren. 1943 wurde Albizu Campos auf Bewährung vorzeitig aus der Haft entlassen, durfte aber erst 1947 nach Puerto Rico zurückkehren, wo er bei seiner Ankunft von einer ihn als Helden und Märtyrer feiernden Menschenmenge begeistert empfangen wurde. Sogleich machte er sich daran, die Partei zu reorganisieren, und *Albizu fuhr fort, mit derselben Radikalität, die ihn seit seinen politischen Anfängen kennzeichnete, und mit derselben Eloquenz und Rhetorik, die auch Menschen, die nicht zu seinen Parteigängern gehörten, mitrissen, die Öffentlichkeit gegen die Vereinigten Staaten ebenso wie gegen deren Statthalter in Puerto Rico zu mobilisieren. Ende Oktober 1950 mündeten die Aktivitäten der nadonalistas in die sogenannte „Revolution von 1950", bei der es in zahlreichen Ortschaften zu bewaffneten Aktionen kam. Die spektakulärste dieser Aktionen war der bewaffnete Ubergriff auf „La Fortaleza", den Sitz des Gouverneurs, am 30. Oktober; und nur zwei Tage später erfolgte der Anschlag auf „Blair House", die zeitweilige Residenz von Präsident Harry S. Truman in Washington. Die Bundesbehörden wie die insularen Ordnungskräfte initiierten daraufhin eine in ihrer Brutalität bis dahin nicht gekannte Welle der Repression gegen jeden, der des Separatismus verdächtig war. Albizu wurde wieder in Haft genommen, zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, jedoch 1953 aus Krankheitsgründen begnadigt, um bereits 1954 im Zusammenhang mit neuerlichen 14 Zitiert nach Fernandez 1996:128.

62 bewaffneten Aktionen der nacionalistas — darunter der von einem kleinen Trupp im März 1954 unternommene Beschuß der Abgeordnetenränge im US-amerikanischen Repräsentantenhaus, bei dem fünf Abgeordnete verletzt wurden — wieder inhaftiert und erst 1965, kurz vor seinem Tod, als schwerkranker Mann auf freien Fuß gesetzt zu werden. Über zwei Jahrzehnte verbrachte Pedro Albizu Campos in US-amerikanischen Haftanstalten, und dieses Faktum hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, daß seiner Person noch heute ein Tribut gezollt wird, der seiner faktischen Bedeutung im politischen Kräftespiel der Zeit nicht entspricht. Er verkörperte wie kein anderer puertoricanischer Politiker ein Ideal, das der Nation jene Würde zu verleihen versprach, die sie durchaus mitverantwortlich aufs Spiel gesetzt hatte, das aber in der Praxis umzusetzen der überwiegenden Mehrheit der Puertoricaner unmöglich erschien. Albizu, der wohl Massen begeistern konnte, vermochte für seine Partei, der vorwiegend Vertreter des Kleinbürgertums angehörten, zu keinem Zeitpunkt eine breite Basis in der Bevölkerung zu gewinnen. Hinzu kam, daß seine geradezu mystische Verklärung des mit dem Katholizismus identifizierten spanischen Erbes für die Farbigen ebenso wie für die mittlerweile auf etwa 20% der Bevölkerung angewachsenen Mitglieder protestantischer Kirchen und Sekten US-amerikanischer Provenienz eine diskriminatorische Komponente beinhaltete und er zudem für die drängenden sozialen Probleme kaum Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen bemüht war. Und gerade die Frage notwendiger wirtschaftlicher und sozialer Reformen sollte - unter Hintanstellung der Status-Frage - schließlich der zweiten heraus ragenden Persönlichkeit zur Macht verhelfen, die neben Albizu Campos seit Beginn der 30er Jahre die öffentliche Meinung mobilisierte: Luis Muñoz Marín, der sich zwar ideologisch als weniger konstant erwies, der aber in der politischen Praxis weitaus erfolgreicher war. Für die Persönlichkeitsentwicklung wie für die politische Laufbahn Luis Muñoz Manns waren zunächst zwei Faktoren entscheidend. Der erste dieser Faktoren war die übermächtige Präsenz seines Vaters, Luis Muñoz Rivera, der ihn in seinem Denken stark beeinflußte, gegen dessen politisches Erbe er nach dessen Tod aber auch (vorübergehend) rebellierte, und dessen Namen, von der Partei wie von der Öffentlichkeit als Präjudiz für eine erfolgreiche politische Karriere eng mit seiner Person assoziiert, er zunächst als Last empfand, dann aber schließlich doch in politisches Kapital umzumünzen verstand. Der zweite Faktor waren seine literarischen Ambitionen

63 und sein stark ausgeprägter Hang zur New Yorker Boheme, die ihn lange von der politischen Bühne in Puerto Rico fernhielten, ihm aber nicht den erhofften literarischen Ruhm einbrachten. Seinen Einstieg in das öffentliche Leben vollzog Muñoz Marín 1915 ganz in der väterlichen Tradition als Journalist, zunächst in der Redaktion der von Muñoz Rivera gegründeten Zeitung ha Democraäa, offizielles Organ der Unión. Nach dem Tod des Vaters 1916 trat er in die Partei ein, nicht zuletzt aufgrund des Umstands, daß er, ohne Beruf und ohne Vermögen, auf finanzielle Zuwendungen der Parteifreunde des Vaters angewiesen war. Seine Aktivitäten innerhalb der Partei, wo er dem für die Unabhängigkeit eintretenden Flügel angehörte, hielten sich in Grenzen, suchte er doch zu dieser Zeit noch, vorwiegend in New York, seine literarischen Ambitionen zu verwirklichen. Doch in seinen gelegentlichen politischen Stellungnahmen äußerte er sich ganz im Sinne der Partei und seines Vaters, etwa zur Frage der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft: Nachdem diese den Puertoricanern verliehen worden war, forderte er, wie es sein Vater getan hätte, seine Landsleute auf, sie im Geist des Patriotismus anzunehmen, denn schließlich repräsentiere sie „die höchste Stufe der Zivilisation, die heute in der Welt zu finden ist: die amerikanische Zivilisation"15. Im Jahre 1920 erfolgte eine (erste) Wende in der ideologischen Ausrichtung Muñoz Maríns, die von modernen Biographen als Versuch gewertet wurde, sich aus dem Schatten des Vaters zu lösen, die aber durchaus einem - auch in seinem (nicht sehr umfangreichen) literarischen Werk spürbaren sozialen Engagement entsprach. Zum Entsetzen seiner Gönner innerhalb der Unión stellte er sich nach einer vor der Parteiversammlung aggressiv vorgetragenen und in einen politischen Skandal mündendenprofession defoi in den Dienst des Partido Socialista von Santiago Iglesias, für den er als unermüdlicher, radikal-sozialistisches Gedankengut propagierender Redner in den Wahlkampf zog. Doch dieses Engagement war nur von kurzer Dauer. Als sich die Möglichkeit einer Koalition zwischen dem Partido Soáalista und dem Partido Republicano Purv, der reaktionärsten Gruppierung innerhalb des gesamten Parteienspektrums, abzuzeichnen begann, zog er sich aus dem Wahlkampf zurück, vertrat aber weiterhin seine radikalen Positionen. Zurückgekehrt in die Vereinigten Staaten, wo er sich (wieder einmal) von der Politik der Literatur zuwandte, erfolgte dann die neuerliche Wende. Eine Erklärung lieferte Muñoz Marín Jahrzehnte später in einem 1975 gegebenen 15 La Democracia vom 20. 3. 1917; zitiert nach Rosario Natal 1989:40.

64 Interview: „Ich blieb auch weiterhin Sozialist, aber ich entfernte mich immer mehr von dogmatischen Positionen." 16 Aufschlußreicher aber ist ein Brief, den Muñoz Marin 1922 an einen Freund in San Juan schrieb und in dem es heißt: „ohne auch nur für einen Augenblick mein politisches Wirken in meinem Land zu bereuen, so bereue ich doch von ganzem Herzen den lächerlichen und aggressiven Fanatismus, mit dem dieses Wirken verbunden war." Und er bat den Adressaten, den ehemaligen Parteifreunden und Gönnern der Unión zu übermitteln, daß er sein Verhalten ihnen gegenüber, „meine Handlungsweise, die gänzlich unbegreiflich war", zutiefst bedauere. 17 Die von Muñoz Marin — vermudich auch aufgrund seiner äußerst prekären finanziellen Lage — bewußt betriebene Wiederannäherung an die Union eröffnete ihm denn auch den neuerlichen Zugang zur Redaktion der Demacrada, wo er zwar zunächst nur unter Pseudonym veröffentlichen durfte, jedoch in wenigen Jahren, wenn auch nur für kurze Zeit, zum Herausgeber avancierte. Gleichzeitig publizierte er in der US-amerikanischen Presse vorrangig zu puertoricanischen Themen, wobei er sich besonders durch einen überaus kritischen und gut dokumentierten Artikel, der den als programmatische Aussage verstandenen Titel „Porto Rico: the American Colony" trug, in den Vereinigten Staaten wie in Puerto Rico als Journalist Respekt verschaffte. 18 Anfang der 30er Jahre kehrte Muñoz Marin, nunmehr entschieden, die sich ihm bietenden Chancen einer politischen Karriere zu nutzen, endgültig nach Puerto Rico zurück. Er schloß sich zunächst keiner Partei an und proklamierte in zahlreichen Interviews seine Unabhängigkeit, seine Position „außerhalb jeglicher parteipolitischer Orientierung". Gleichzeitig bezeichnete er sich als „radikalen Nationalisten", unterstützte „jenen Teil des Wirtschaftsprogramms des puertoricanischen Sozialismus, der nicht darauf abzielt, die gegenwärtige moralische Souveränität Puerto Ricos einzuschränken oder seine künftige effektive Souveränität zu blockieren" 19 ; und auf die Fra16 Zitiert nach Rosario Natal 1989:139. 17 Ebd.: 141. 18 Der Artikel erschien im April 1925 in The Nation. Einem breiteren Publikum wurde er dadurch bekannt, daß er - unter gleichlautendem Titel - in den 1923-24 von Emest Gruening herausgegebenen zweibändigen Sammelband These United States. A Symposium aufgenommen wurde, in dem alle Staaten, Territorien und Besitzungen der USA vorgestellt wurden. 19 La Democracia vom 12.11. 1931; zitiert nach Rosario Natal 1989:214.

65 ge, für wen er bei den 1932 anstehenden Wahlen stimmen würde, antwortete er: „Ich werde für den Partido Unión stimmen und für Don Pedro Albizu Campos. Für den Partido Unión, weil er eindeutig und entschieden für die Unabhängigkeit eintritt. [...] Wenn der Partido Unión die Unabhängigkeit aus seinem Programm streicht, was unwahrscheinlich ist, oder ihrer Substanz beraubt, dann stimme ich für den Partido Nacionalista."20 Und so mochte es am wenigsten ihn selbst überraschen, daß die Unión, der Partido Soäalista und der Partido Nacionalista mit Albizu an der Spitze sich um ihn als Parteimitglied und Kandidaten bemühten, wobei er seinerseits bemüht war, gleichzeitig auch zu dem amtierenden Gouverneur Theodore Roosevelt Jr. freundschaftliche Beziehungen zu unterhalten. Luis Muñoz Marín — und hier erwies er sich durchaus als gelehriger Schüler seines Vaters — entschied sich gewiß aus politischer Uberzeugung, aber auch aus pragmatischen Gründen für dessen ehemalige Weggefährten, die sich nach dem Auseinanderbrechen der ,^Allianz" 1929 für die Wahlen 1932 unter Führung von Antonio R. Barceló in einem neuen Partido Liberal zusammengeschlossen hatten: auf jeden Fall die Partei, die immer noch die einflußreichste politische Kraft repräsentierte und die ihm schließlich auch einen Sitz im Senat verschaffte. Die neue Gruppierung propagierte kompromißlos die Unabhängigkeit. So hieß es im ersten Abschnitt ihres Grundsatzprogramms: Demzufolge erklärt der Partido Liberal: Daß er beabsichtigt, die sofortige Anerkennung der Souveränität Puerto Ricos einzufordern und sie über die schnellsten, zweckmäßigsten und direktesten Mittel und Wege in die Tat umzusetzen, um so in der Solidargemeinschaft aller Nationen die absolute Unabhängigkeit Puerto Ricos zu erreichen.21 Muñoz Marín seinerseits wandte sich in einem Schreiben an den Gouverneur Roosevelt im selben Jahr 1932 vehement gegen die Autonomie, die nach seinem Dafürhalten nichts anderes repräsentiere als den Status einer Kolonie „an der langen Leine". Und er präzisierte den eigenen Standpunkt wie folgt: „Ich bin radikaler Nationalist: dies aus Gründen der Moral und des kollektiven Stolzes, die nicht zur Diskussion stehen, und aus wirtschaftlichen Gründen, über die ich jederzeit zu diskutieren bereit bin."22 20 El Mundo vom 27. 2. 1932; zitiert nach Pagán 1972:11, 21. 21 Zitiert nach Pagán 1972:11, 23. 22 Zitiert nach Maldonado-Denis 1980:114.

66 Die nachfolgenden Jahre waren geprägt von der Rivalität zwischen Barceló und Muñoz Marín um die Vorherrschaft in der Partei und für die eigene Positionierung Muñoz Maríns von der Frage, ob die notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Reformen, wie er noch 1932 gegenüber Gouverneur Roosevelt geäußert hatte, nur in einem unabhängigen Puerto Rico durchzusetzen waren oder ob zunächst (mit Hilfe der Vereinigten Staaten) die wirtschaftliche Unabhängigkeit erreicht und erst in einem zweiten Schritt die politische Unabhängigkeit angestrebt werden sollte. Diese brisante Frage erhielt unerwarteten Zündstoff durch einen Gesetzentwurf, den der demokratische Senator von Maryland und Vorsitzende des Committee on Territories and Insular Affairs des Senats, Miliard Tydings, 1936 vorlegte und der in Puerto Rico in einigen Sektoren zwar zunächst Zustimmung erhielt, dann aber bei nahezu allen politischen Fraktionen auf erbitterten Widerstand stieß. Tydings, ein persönlicher Freund des im Februar 1936 erschossenen Colonel Riggs, vertrat unter Verweis auf das Attentat die Ansicht, „daß in Puerto Rico das amerikanische System nicht hinlänglich funktioniert"23, und er schlug vor, den Puertoricanern die - zu diesem Zeitpunkt ja nahezu von allen politischen Fraktionen geforderte - Unabhängigkeit unverzüglich in Aussicht zu stellen und sie über diese Frage in einem Referendum abstimmen zu lassen. Die Ablehnung, auf die Tydings' Plan in Puerto Rico stieß, war durchaus verständlich. Beklagt wurde zunächst, daß die statehoodLösung als Option nicht vorgesehen war; den vehementesten Protest aber rief der Umstand hervor, daß die Ablösung von den Vereinigten Staaten in einem Zeitraum von nur vier Jahren erfolgen sollte, was angesichts der totalen Abhängigkeit der einheimischen von der US-amerikanischen Wirtschaft und aufgrund des dann sicheren Verlusts des freien Zugangs zum US-amerikanischen Markt zu einem Desaster führen würde, wodurch das Votieren für die Unabhängigkeit in dem geplanten Referendum einem wirtschaftlichen und sozialen Selbstmord gleichkommen würde. Der Tydings-Plan wurde von den Puertoricanern schlicht als Strafaktion empfunden, nach dem Urteil eines der zeitgenössischen führenden politischen Köpfe „Produkt eines momentanten Zorns auf die Puertoricaner, ausgelöst durch die Ermordung von Riggs"24; und er wurde schließlich durch den Einspruch des US-amerikanischen Kongresses blockiert. Doch 23 El Mundo vom 24. 4.1936; in: Bothwell González 1979:11, 528. 24 Zitiert nach Pagán 1972:11, 76. (Bolívar Pagán war führendes Mitglied des Partido Socialista)

67 immerhin enthielt Tydings' Initiative eine Warnung, die ein moderner Historiker so umschrieb: „Agitiert weiter für die Unabhängigkeit, und wir geben euch frei: frei, um euch der wachsenden Armut zu erfreuen, die 1936 Amerikas koloniale Verheißung war." 25 Muñoz Marín mochte diese Warnung sehr wohl verstanden haben, und so verlagerte sich die Präferenz seiner politischen Zielvorgaben im Verlauf des Jahres 1936, in dem sich zudem die parteiinternen Auseinandersetzungen zuspitzten, von der Status-Frage auf die Frage der — allein mit massiver Unterstützung der Vereinigten Staaten durchsetzbaren — wirtschaftlichen und sozialen Reformen, so daß mancher seiner Weggefährten bei ihm den zuvor so überzeugend vorgetragenen Einsatz für die Unabhängigkeit vermißte. Deudich wird dies durch ein persönliches Schreiben von Vicente *Géigel Polanco, der sich im Umfeld der Zeitschrift Indice als herausragender Intellektueller und in der Gefolgschaft Muñoz Maríns als vehementer Befürworter der Unabhängigkeit profiliert hatte und der sich nun bemüßigt fühlte, diesen an die Chance zu erinnern, die für ihn wie für die Partei darin bestand, sich als wichtigste politische Kraft an die Spitze der im Lande zu diesem Zeitpunkt existierenden breiten Front von Befürwortern der Unabhängigkeit zu stellen. Noch einmal ließ sich * Muñoz Marín zu einer eindeutigen Stellungnahme für die Unabhängigkeit bewegen. Doch im Vorfeld zu den Wahlen von 1940 entschied er sich endgültig, die Status-Frage und damit auch den Kampf um die Unabhängigkeit zugunsten eines wirtschaftlichen und sozialen Reformprogramms und damit auch zugunsten einer nunmehr verstärkten Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Administration zurückzustellen. 1938 gründete Muñoz Marin, nachdem er bereits zuvor einen Versuch unternommen hatte, seine Position innerhalb des Partido Liberal durch die Institutionalisierung einer eigenständigen Bewegung zu stärken, jedoch aus der Partei ausgeschlossen worden war, den Partido Popular Democrático (PPD), der fortan über nahezu drei Jahrzehnte Politik und Gesellschaft in Puerto Rico dominieren sollte. Wie schon zuvor sein Vater mit der Gründung der Unión unter Umgehung der die Nation spaltenden Status-Frage ein Sammelbecken für alle politischen Kräfte hatte schaffen wollen, suchte auch er die Spaltung zu überwinden, indem er, die Unabhängigkeit zwar nach wie vor nicht ausschließend, sein Reformprogramm in den Vordergrund rückte. Von diesem sollten im Prinzip alle Sektoren der Bevölkerung profitieren; es 25 Fernandez 1996:127.

68 war aber — mit der Losung „Pan, Tierra y Libertad" („Brot, Land und Freiheit") und der Silhouette eines jíbaro mit dem für diesen typischen Strohhut als Emblem — vorrangig an die landlosen Campesinos und das vom Lande abgewanderte städtische Proletariat gerichtet und beinhaltete als dringlichsten Programmpunkt eine Agrarreform. Die Rechnung Muñoz Manns ging auf: Ihm folgte der größte Teil der liberales, Gegner wie Befürworter der Unabhängigkeit; und ihm folgten zahlreiche Anhänger des Partido Sotialista sowie Gewerkschafter, die sich in einer neuen Gruppierung, der Confederación General de Trabajadores, zusammengeschlossen hatten und die in ihm nun keineswegs (mehr) den großen Strategen der Unabhängigkeit, sondern eher einen Garanten dafür sahen, daß sich Puerto Rico künftig noch stärker an die Vereinigten Staaten binden würde. Die Wahlen 1940 vermochten die populares nur mit einem knappen Vorsprung zu gewinnen; 1944 hingegen erreichten sie mit annähernd 65% der abgegebenen Stimmen ein geradezu sensationelles Ergebnis, das sie vor allem den Besitzlosen, dem ländlichen und städtischen Proletariat, aber auch einem Großteil der immer noch dem Ideal der Unabhängigkeit verpflichteten Intellektuellen verdankten. Entscheidend für seinen Erfolg war, daß Muñoz Marín sich ab 1940 in der Tat daran machte, wenn auch noch in bescheidenem Umfang und mit oft nur als symbolische Geste verstandenen Reformen, einige seiner Wahlversprechen einzulösen. Während des Zweiten Weltkriegs verschärfte sich zunächst die Wirtschafts- und Versorgungskrise dadurch, daß Puerto Rico aufgrund der Einschränkungen im Seeverkehr von den dringend benötigten Nahrungsmittellieferungen aus den Vereinigten Staaten nahezu völlig abgeschnitten war und sich die Preise auf dem einheimischen Markt extrem erhöhten. Der Krieg bewirkte aber auch, daß sich die US-amerikanische Administration der besonderen strategischen Bedeutung ihrer Besitzung, auf welcher der größte Marinestützpunkt der Hemisphäre entstehen sollte, stärker bewußt wurde und zu der Einsicht gelangte, daß der Gefahr einer Revolte oder gar Revolution am besten entgegengewirkt werden konnte, indem man die wirtschaftliche und soziale Situation der Menschen entscheidend verbesserte. So entsandte Innenminister Ickes 1942 seinen Sonderbeauftragten William A. Brophy nach Puerto Rico, um die Lage vor Ort prüfen zu lassen, und Brophy war auch durchaus der Ansicht, daß Hilfe dringend erforderlich war. Doch kam er hinsichtlich der Erfolgsaussichten eines Förderprogramms zu dem Schluß: „Puerto Rico ist ein verlustreiches Unter-

69 nehmen — nur radikale Maßnahmen allein können es retten, und ob es den Menschen nun gefällt oder nicht, sie müssen weniger Kinder haben oder diese früher sterben lassen." 26 Immerhin war die US-amerikanische Administration bereit, das Reformprogramm Muñoz Manns zunächst dadurch zu unterstützen, daß für den Import eines bestimmten puertoricanischen Produkts in die Vereinigten Staaten Sonderkonditionen gewährt wurden, die für die lokalen Finanzen äußerst einträglich waren: Rum, der seit dem kriegsbedingten Ausfall der einheimischen Produktion alkoholischer Getränke auf dem US-amerikanischen Markt eine schmerzlich empfundene Lücke füllte und der somit einen Teil der v o n Muñoz Marín begonnenen Reformen finanzieren half Die öffentlichkeitswirksamste unter diesen Reformen war zweifellos die während des Wahlkampfs 1940 als Kernstück des Reformprogramms der populares verkündete Agrarreform, die vorsah, das schon im Foraker Act wie im Jones Act verankerte, jedoch nie befolgte Gesetz zur Beschränkung v o n Landbesitz auf 500 Acres ( - ca. 200 ha) durchzusetzen, indem die Regierung Land aufkaufte, um es in kleinen Parzellen an die landlosen Bauern zu verteilen — gemäß der Präambel der 1941 v o m US-amerikanischen Gouverneur unterzeichneten Ley de Tierras, in der es hieß: „Es ist ein politischer Grundsatz der Regierung v o n Puerto Rico, daß jedem, der ein Stück Land bebaut, dieses Land, das ihn ernährt, auch gehört." 27 Gerichtet war diese Maßnahme vorrangig gegen die im Besitz US-amerikanischer Kapitaleigner befindlichen Gesellschaften in der Zuckerindustrie, die, als absentistas zu anti-nationalen Elementen stilisiert, die bevorzugte Zielscheibe anti-amerikanischer Ressentiments waren und deren — überdies durch die US-amerikanische Rechtsprechung gedeckte — teilweise Enteignung öffentlichkeitswirksam als Rückgewinnung nationalen Territoriums gefeiert werden konnte. 2 8 26 Zitiert nach Femandez 1996:145. 27 Zitiert nach Dietz 1992:212. 28 Um 1930 wurden etwa 60% des Zuckerareals - neben 80% der Anbauflächen füir Tabak - von US-amerikanischen Kapitalgesellschaften kontrolliert, um 1935 nahezu 50% allein von vier Konsortien (Lewis 1963:88, 72f.). Als besonders extremes Beispiel für die Konzentration von Landbesitz in der Hand einer USamerikanischen Kapitalgesellschaft nennt Femandez (1996:132) die „Central Aguirre", die 1937 potentielle Investoren damit anzulocken suchte, daß sie erklärte, in Puerto Rico 22.000 Acres an Land zu besitzen und darüber hinaus 17.000 Acres zu kontrollieren - Land, das in der Regel von mittleren und kleineren hacendados oder colonos bewirtschaftet wurde, welche zwar nominell noch

70 Gleichzeitig wurde ab 1941 eine erste, noch begrenzte Phase der Industrialisierung eingeleitet, in der zunächst in einigen ausgewählten Sektoren von Regierungsseite Fabriken eingerichtet wurden, die auf eine Importsubstitution und damit auf einen Abbau der Abhängigkeit vom US-amerikanischen Markt abzielten. Doch den großen Industrialisierungsschub brachte erst Ende der 40er Jahre die gleichermaßen von insularen Regierungsstellen, nunmehr aber mit massiver Unterstützung der Bundesbehörden initiierte Operación Manos a la Obra (etwa: „Operation Frisch ans Werk") oder Operation Bootstrap („Operation Steigbügel"). Die entscheidende Idee bestand darin, US-amerikanisches Kapital anzulocken, das dem endemischen Mangel an einheimischem Kapital abhelfen würde. Anreize für US-amerikanische Investoren gab es bereits, und es kamen neue hinzu: Wie bereits in Art. 14 des Foraker Act und in Art. 9 des Jones Act vorgesehen, waren Gewinne, die von US-Amerikanern in Puerto Rico erzielt wurden, von Bundessteuern befreit; die für Kapitalgesellschaften fälligen insularen Steuern wurden aufgrund der 1947 verabschiedeten Ley de Incentivos Industriales für einen bestimmten Zeitraum, in der Regel 10 Jahre, erlassen; und schließlich wurden besondere Leistungen wie Infrastruktur, Schulung von Arbeitskräften und sogar schlüsselfertige Fabrikanlagen unentgeltich bereitgestellt. Überdies konnte man darauf verweisen, daß die Löhne in Puerto Rico trotz Festsetzung eines Mindestlohns weitaus niedriger waren als in den Vereinigten Staaten — um 1950 betrug das durchschnittliche Einkommen in der verarbeitenden Industrie in Puerto Rico gerade einmal 28% des vergleichbaren Durchschnittslohns auf dem Kontinent.29 Und schließlich konnten potentielle Investoren zusätzlich durch den Verweis auf die politische, Arbeitskämpfe in der Regel ausschließende Stabilität motiviert werden, die nicht zuletzt durch die massive Präsenz des USamerikanischen Militärs garantiert wurde. Auch politisch vermochte Muñoz Marín in den 40er Jahren einige beachtliche Erfolge zu erzielen. 1946 wurde mit Jesús T. Piñero, zu diesem Zeitpunkt Comisionado Residente in Washington, zum ersten Mal kein (kontinentaEigentümer waren, aber von den Zuckemriihlen der „Central Aguirre" in einem Maße abhängig waren, daß sie sich den Vorgaben der Zuckerfabrik fügen und bei restriktiven Auflagen etwa hinsichtlich der Menge des abzuliefernden Zukkerrohrs fortschreitend verschulden mußten, bis sie ihr Land schließlich verloren. 29 Dietz 1992:266.

71 ler) US-Amerikaner, sondern ein Puertoricaner zum Gouverneur ernannt. Ein Jahr später wurden die entscheidenden Gesetzesinitiativen in Richtung auf eine größere Selbstverwaltung auf den Weg gebracht, die nicht zuletzt dem intensiven lobbying Muñoz Manns im Kongreß, aber auch dem Entgegenkommen des demokratischen Präsidenten Harry S. Truman zu verdanken waren. So hatte nun der Gouverneur das Recht, sein Kabinett aus eigener Initiative zu ernennen, blieb allerdings weiterhin dem Veto des Präsidenten und des Kongresses unterworfen; und schließlich wurde — ein entscheidender Schritt hin zur Autonomie — durch eine Änderung des Jones Act verfugt, daß der Gouverneur nun nicht mehr vom US-amerikanischen Präsidenten ernannt, sondern von den Puertoricanern selbst durch Wahlen bestimmt werden sollte. 1948 wurde denn erwartungsgemäß Luis Muñoz Marín, dessen Partei 61% der abgegebenen Stimmen erhielt, der erste gewählte Gouverneur Puerto Ricos. Der Triumph Muñoz Manns war gewiß Ausdruck seiner ungeheuren Popularität; von den Zeitgenossen wurde die Entscheidung für ihn aber auch als Entscheidung über die reaktualisierte Fragp des künftigen Status von Puerto Rico gewertet, in deren Zusammenhang er dezidiert, allerdings mit vorherigen Positionen in Konflikt geratend, Stellung bezogen hatte. Während der 40er Jahre war Muñoz Marín durchaus bemüht, durch öffentlichkeitswirksame, mit einem starken symbolischen Wert behaftete Entscheidungen eine relative Unabhängigkeit Puerto Ricos gegenüber den Vereinigten Staaten zu demonstrieren. So entschied er 1949 per Erlaß den seit langem schwelenden Sprachenstreit, indem er — entgegen den Vorgaben der US-amerikanischen Administration - für alle öffentlichen Schulen das Spanische zur alleinigen Unterrichtssprache und das Englische zur ersten Fremdsprache erklärte; und bereits zwei Jahre zuvor war Puerto Rico - ein bis heute erbittert verteidigtes Privileg — dem Internationalen Olympischen Komitee beigetreten mit dem Anspruch, bei allen internationalen Wettbewerben mit einer eigenen Mannschaft und einer eigenen Fahne anzutreten. (Bei den Olympischen Spielen 1948 wurde die puertoricanische Mannschaft allerdings gezwungen, unter der Olympischen Fahne aufzumarschieren.) Doch spätestens 1946 konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß Muñoz Marin, nicht zuletzt aufgrund der mit dem Industralisierungsprozeß mittlerweile einhergegangenen verstärkten Verflechtung mit US-amerikanischen Kapitalinteressen, der Idee der völkerrechtlichen Unabhängigkeit Puerto Ricos (zumindest für die absehbare Zukunft) keine Chance mehr

72 gab. In zwei unter dem Titel „Nuevos caminos hacia viejos objetivos" („Neue Wege zu alten Zielen") publizierten Artikeln erläuterte er zur Frage des politischen Status Puerto Ricos zunächst, daß das Konzept „modernisiert" und der aktuellen Realität angepaßt werden müßte - „der Realität, die existiert, und nicht der, die nicht existiert, und auch nicht der, von der wir nostalgisch wollten, daß sie existiert" - , um sodann die estadidad ebenso wie die independenda für nicht realisierbar zu erklären und (wie vor ihm sein Vater) für die Autonomie zu plädieren, die er zunächst unter den Begriff des „Pueblo Asociado de Puerto Rico" faßte. 30 So stilisierten Muñoz Marín und die populares die für sie so erfolgreichen Wahlen von 1948 denn auch zu einem Plebiszit für die Autonomie, die Muñoz Marín während der nachfolgenden Jahre durch energischen Einsatz und Beharrlichkeit in der Form des Estado Ubre Asociado (ELA) für die Mehrheit der Puertoricaner als eine zumindest zum damaligen Zeitpunkt akzeptable Lösung der Status-Frage zu propagieren verstand. 31 Der 1952 in Kraft getretene ELA-Status sollte die politische, wirtschaftliche und soziale Praxis der nachfolgenden Jahrzehnte bestimmen, und die bereits zuvor initiierte Industrialisierung sollte dem Land jenen Entwicklungsschub bringen, der Puerto Rico von einer vorwiegend agrarisch geprägten Gesellschaft in eine moderne Industriegesellschaft verwandelte. Doch das „Modell Puerto Rico", von den Vereinigten Staaten auch andernorts in der Karibik 30 In: Bothwell González 1979:111, 496ff.; hier S. 496 und 503. Die Gründe, die Muñoz Marín für die Ablehnung der estadidad wie der independenda anführte, sollten nach ihm andere beständig wiederholen: Die estadidad würde Puerto Rico um die so dringend benötigten Finanzspritzen bringen, „40 Millionen an Bundesmitteln jährlich" (III, 501); und die independenda ohne die von den Vereinigten Staaten kaum zu erwartenden „wirtschaftlichen Sonderbedingungen" würde zu einem Kollaps der insularen Wirtschaft fuhren „und folglich der Zivilisation, vielleicht sogar des Lebens in Puerto Rico überhaupt" (III, 499). 31 Nachdem Muñoz Marin endgültig seine Positionen abgesteckt hatte, verließen die independentistas innerhalb des Partido Popular Democrático die Partei, um mit Sympathisanten des durch die Inhaftierung von Albizu Campos geschwächten Partido Nadonaästa 1946 den Partido Independentista Puertorriqueño (PIP) zu gründen, der bei den Wahlen 1948 10% der abgegebenen Stimmen erhielt und damit hinter dem Partido Popular Democrático Muñoz Manns und dem Partido Estadista Puertorriqueño, Nachfolgeorganisation (nach diversen Namensänderungen) des Partido Republicano Barbosas, nunmehr vor dem Partido Sodaästa die dritte politische Kraft im Lande darstellte.

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zur Nachahmung empfohlen, offenbarte bereits in seinen Anfängen jene Elemente, die zu einer fundamentalen Fehlentwicklung fuhren sollten. So entsprach die Agrarreform keineswegs in jedem Punkt den Bedürfnissen der Campesinos und den dringenden Erfordernissen einer Umstrukturierung und Förderung der Landwirtschaft. Zum einen wurde die Mehrheit derer, die in den Genuß der Zuteilung von Land kommen sollten, nicht zu Eigentümern, sondern bewirtschafteten mit dem Recht auf Gewinnbeteiligung staatseigene Güter, wodurch weder die Produktion gesteigert noch die materielle Situation der Campesinos wesentlich verbessert wurde.32 Zum andern richtete sich die Beschränkung von Landbesitz auf 500 Acres nicht gegen das Latifundium an sich, sondern allein gegen die im Besitz USamerikanischer Kapitaleigner befindlichen Gesellschaften vorwiegend in der Zuckerindustrie, die sich, von der Zukunft dieses Produktionszweiges als lohnendem Investitionsobjekt ohnehin nicht mehr sonderlich überzeugt, die „sanfte" Enteignung zu überhöhten Preisen willig entschädigen ließen. Und schließlich führte die Parzellierung von Großgrundbesitz nicht zu einer Diversifizierung der Anbauprodukte und damit zu einer nennenswerten Verringerung der Nahrungsmittelimporte.33 Die anfänglichen, von der insularen Regierung geförderten Versuche einer importsubstituierenden Industrialisierung waren aufgrund mangelnder Produktivität bereits nach kurzer Zeit gescheitert, und so setzte man alle Hoffnungen auf die Operation Bootstrap, die wohl eine Produktionssteigerung erbrachte, aber weder auf eine langfristige Entlastung des Arbeitsmarktes noch auf eine sich selbst tragende Entwicklung der puertoricanischen Volkswirtschaft angelegt war. Die ersten, eher nach dem Zufallsprinzip ins Land geholten US-amerikanischen Investoren richteten ihr Interesse vorrangig auf die Maximierung ihrer Gewinne, so daß sich die Zahl der neugeschaffenen, zudem an Billiglöhne gebundenen Arbeitsplätze in Grenzen hielt und abzusehen war, daß sie spätestens dann wieder wegfallen würden, 32 Wie wenig die Agrarreform dazu beitrug, die propagierte Umverteilung des Landbesitzes zugunsten derer, die das Land bebauten, zu bewirken, zeigen die folgenden Zahlen: 1952 verfugten 3% aller landwirtschaftlichen Betriebe über 56,8% des genutzten Bodens, 94% der Betriebe hingegen nur über 33% (Nohlen 1989:567). 33 Noch 1949/50 dominierte der Anbau von Zuckerrohr mit einer Gesamtanbaufläche von 47,7% des bebauten Ackerlandes; für Kaffee, der ausschließlich für den heimischen Markt produziert wurde, blieben 22,9%, für Tabak 3,5%, für Bananen 2,0% und für Reis 0,7% der bebauten Fläche (Dietz 1992:216).

74 wenn nach Ablauf der Frist, in der die fiskalischen Anreize die angestrebten Gewinne garantierten, die Fabrikanlagen wieder geschlossen werden würden. Überdies blieben die US-amerikanischen Unternehmen in Wirtschaftsenklaven von der insularen Wirtschaft isoliert mit dem Ergebnis, daß weder auf puertoricanische Zulieferbetriebe rekurriert, noch Gewinne im Land selbst reinvestiert wurden. Von dem wirtschaftlichen Aufschwung profitierte besonders eine sich nunmehr herausbildende breitere Mittelschicht, nicht jedoch die Mehrheit der Bevölkerung. Viele versuchten, wie in dem Theaterstück La carreta (Der Karren) von René *Marqués eindrücklich in Szene gesetzt, dadurch zu überleben, daß sie emigrierten: zunächst vom Land in die Stadt, wo die Campesinos, von dem industriellen Boom angelockt, das Heer der Arbeitslosen nur noch vergrößerten und angesichts der hohen, dem US-amerikanischen Standard angepaßten Lebenshaltungskosten als städtisches Proletariat in die Elendsviertel abgedrängt oder sogar kriminalisiert wurden;34 schließlich von Puerto Rico in die Vereinigten Staaten, wo sie, gleichermaßen marginalisiert, den zusätzlichen Verlust der Heimat oder sogar der eigenen Identität verkraften mußten35 - gewiß wenig berührt von der Tatsache, daß nach Einschätzung moderner Kritiker die Emigration oder der (von staatlicher Seite massiv geförderte) „Export" von Arbeitslosen in die USA als „Ventil" das puertoricanische „Wirtschaftswunder" recht eigentlich erst ermöglichte.

34 Allein in dem Jahrzehnt von 1940 bis 1950 erhöhte sich der Anteil der städtischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung von 30,3% auf 40,5% (Dietz 1992:245). 35 Zwischen 1940 und 1949 emigrierten, wenn auch mehr als zwei Drittel nur vorübergehend, über 660.000 Puertoricaner in die Vereinigten Staaten, davon allein 65% ab 1947, dem Jahr, in dem im Rahmen der Operation Bootstrap die ersten US-amerikanischen Fabriken in Puerto Rico eröffnet wurden (Dietz 1992: 246).

Kapitel 4 Der Estado Ubre Asociado'. „Schaukasten" des American Way ofLife oder eine hispanoamerikanische Nation im territorialen Niemandsland [1952-1998] A m 25. Juli 1952, dem 54. Jahrestag der US-amerikanischen Invasion, wurde der neuausgehandelte Status des Estado Libre Asoäado (ELA) oder Commonwealth of Puerto Rico1 in einer feierlichen Zeremonie ins Leben gerufen und die eindringlich beschworene neue Qualität der Verbindung zwischen Puerto Rico und den Vereinigten Staaten dadurch demonstriert, daß der Gouverneur Luis Muñoz Marín in einem symbolisch bedeutsamen Akt neben der US-amerikanischen Fahne jene Fahne hißte, die einst von den puertoricanischen Exilierten in New York als Emblem des Unabhängigkeitskampfes geschaffen und sodann von Pedro Albizu Campos für seinen Partido Nacionatista vereinnahmt worden war und die fortan auf allen öffendichen Gebäuden gleichberechtigt neben dem Sternenbanner der USA wehen sollte. Und nach

1 Die Wahl der Bezeichnung im Spanischen — „Estado Libre Asociado" — war den puertoricanischen Unterhändlern problemlos erschienen, bei der Wahl der Bezeichnung im Englischen hatte man aber durchaus Probleme gesehen. In einer von der Verfassunggebenden Versammlung verabschiedeten und der Verfassung beigefügten Resolution wurde die englische Version „Associated Free State" — aus Rücksichtnahme auf die im US-amerikanischen Kongreß vorherrschende Aversion gegen die statehood-Löswag — mit dem Argument zurückgewiesen, daß „der Begriff 'state' in den Vereinigten Staaten im alltäglichen Sprachgebrauch die Staaten bezeichnet, aus denen die Union besteht" (in: Garría Martínez 1996:256). So entschied man sich für den (völkerrechtlich nun keinesfalls adäquaten) Terminus „Commonwealth of Puerto Rico", der dann in die Verfassung aufgenommen wurde. Gelegentlich wird jedoch eine wörtliche Übersetzung ins Englische gewählt, wobei sich allerdings — für die inhaltliche Bestimmung des Status wesentliche — Unterschiede ergeben: Die korrekte Übersetzung lautet „Associated Free State" = „[den USA] assoziierter freier Staat"; doch hat sich die der US-amerikanischen Sichtweise angemessenere, aber unkorrekte Übersetzung „Free Associated State" = „[den USA] frei assoziierter Staat" durchgesetzt.

76 der US-amerikanischen Nationalhymne erklang „La Borinqueña", seit dem 19. Jahrhundert in Puerto Rico als heimliche, mit dem „Grito de Lares" assoziierte Nationalhymne gefeiert und von dem neuen Inselparlament nunmehr zur offiziellen Hymne Puerto Ricos erklärt.2 Muñoz Marín hatte lange Zeit auf diesen Moment hingearbeitet, und er profitierte von den am Ende des Zweiten Weltkriegs weltweit einsetzenden Entkolonisierungsbestrebungen sowie dem Bemühen der Vereinigten Staaten, sich über das Zugeständnis des self-government an Puerto Rico, das 1946 von den Vereinten Nationen auf die Liste der non-self-governing territories gesetzt worden war, vor den Augen der Weltöffentlichkeit von dem Makel einer Kolonialmacht zu befreien. Der Einsetzung des ELA-Status war ein langwieriges Verfahren vorausgegangen. Im Juli 1950 unterzeichnete der US-amerikanische Präsident Harry S. Truman das Public Law 600, in dem den Puertoricanern das Recht zugestanden wurde, eine eigene Verfassung zu erarbeiten. Am 4. Juni 1951 wurde dieses Gesetz in einem Referendum zur Abstimmung gestellt, bei dem sich — unter weitgehender Enthaltung der independentistas, die zu diesem Zeitpunkt in Puerto Rico immerhin die zweitstärkste politische Kraft waren - 76,5% derer, die ihre Stimme abgaben, für eine neue Verfassung aussprachen. Kurz darauf erfolgte die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung, bei der sich (ohne Beteiligung der independentistas) 70 der 92 gewählten Mitglieder aus den Reihen des Partido Popular Democrático rekrutierten. Im Februar 1952 wurde die neue Verfassung verabschiedet und sodann am 3. März in einem Referendum mit 81,5% der abgegebenen Stimmen — bei einer Stimmenthaltung von 41% — von den Puertoricanern angenommen. Doch der US-amerikanische Kongreß, dem schließlich der Verfassungsentwurf zur Ratifizierung vorgelegt werden mußte, hatte noch einige Anderungswünsche anzumelden, denen die nochmals einberufene Verfassunggebende Versammlung ohne lange Diskussion zustimmte. Die neue Verfassung — ergänzt durch den Federal Relations Act oder Ley de Relaciones Federales con Puerto Rico, der den Jones Act von 1917 ablösen sollte, ihn in den entscheidenden Passagen aber schlicht reproduziert3 - bescherte 2 Für einen Vergleich der als revolutionäres Kampflied konzipierten Fassung mit der nun offiziellen, ihrer politischen Aussage gänzlich entkleideten Version der Borinquena siehe die Textauszüge S. 113f., Anm. 71. 3 So heißt es in Art. 4 des Public Law 600, daß mit Ausnahme der Verfugungen zur lokalen Verwaltung der Jones Act von 1917 in Kraft bleibt und mithin nur eine neue Bezeichnung erhält (Garcia Martinez 1996:206).

77 den Puertoricanern eine weitgehende innere Autonomie. Und Muñoz Marín kommentierte stolz: Die vom Volk nunmehr gebilligte Verfassung [...] bezeugt auf eloquente Weise die demokratische Reife des Volkes von Puerto Rico ebenso wie die demokratische Gerechtigkeit der Vereinigten Staaten. Sie tilgt in Puerto Rico jede Spur eines gesetzlich verankerten Kolonialismus, da die Beziehung zwischen den nordamerikanischen Bürgern unseres Gemeinwesens und dem Kontinent jetzt auf einem Gesetz basiert, das vom Kongreß in Form einer Übereinkunft verabschiedet und vom puertoricanischen Volk per Abstimmung ratifiziert wurde. 4 Die Interpretation der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Puerto Rico durch Muñoz Marín als Resultat einer zwischen beiden Parteien getroffenen „Übereinkunft" entsprach durchaus dem Text sowohl des Public Law 600 als auch der Verfassung selbst. Doch beinhaltete diese „Übereinkunft" - im Englischen bewußt nicht als „contract", sondern als „compact" bezeichnet - nicht, wie Muñoz Marín stets zu betonen suchte, eine einklagbare gleichberechtigte Partnerschaft und die eigene Souveränität - „Souveränität im Rahmen von Souveränität" 5 - , denn jede diese „Übereinkunft" betreffende gesetzgeberische Maßnahme und damit jeder Versuch einer Änderung des politischen Status der Insel bedurfte weiterhin der Zustimmung des US-amerikanischen Kongresses, wodurch die Souveränität der Vereinigten Staaten über Puerto Rico nicht in Frage gestellt war. Doch „Souveränität" definierte Muñoz Marín schlicht nach dem eigenen Willen wie dem Gebot politischer Opportunität; und so entgegnete er einem Journalisten, der ihm die gängige Begriffsbestimmung von „Souveränität" entgegenhielt, kategorisch: „Was ich als politischer Führer mit Souveränität bezeichne, was die politische Führung in Puerto Rico als Souveränität bezeichnet, das ist gleichbedeutend mit dem, was Souveränität für das puertoricanische Volk beinhaltet." 6 Bei den im November 1952 abgehaltenen ersten Wahlen unter dem neuen ELA-Status wurde Muñoz Marín mit der überwältigenden Mehrheit von 65% der abgegebenen Stimmen in seinem Amt als Gouverneur bestätigt. Und er versuchte sogleich, sich seine eigene, mit der Sichtweise des US4 Zitiert nach Pagán 1972:11, 311. 5 El San Juan Star vom 7.12.1962; zitiert nach Carr 1984:81. 6 Ebd.

78 amerikanischen Kongresses nicht übereinstimmende Interpretation des ELA-Status dadurch bestätigen zu lassen, daß er bereits kurz nach seinem Amtsantritt die US-amerikanische Administration drängte, den „Fall Puerto Rico" vor die Vereinten Nationen zu bringen mit der Forderung an die UNO, Puerto Rico nunmehr von der Liste der noti-self-governing territories zu streichen. Bereits 1950, im Vorfeld der Verhandlungen über den neuen Status, hatte Muñoz Marín — entgegen seiner in jüngeren Jahren vertretenen Position — vor dem US-amerikanischen Kongreß erklärt, „daß die Handlungsweise der Bundesregierung nicht nur förderlich war, sondern daß sie darüber hinaus, gemessen an allen modernen Definitionen dessen, was Kolonialismus beinhaltet, in Puerto Rico nicht einer kolonialen Politik entsprach"7. So war es nur konsequent, unter Verweis auf das Puerto Rico gewährte self-government die Vereinigten Staaten nunmehr auch vor der Weltöffentlichkeit von dem Vorwurf kolonialer Herrschaft freizusprechen. Der US-amerikanische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Henry Cabot Lodge, betonte gleichermaßen ganz im Sinne Muñoz Manns, daß die Anbindung Puerto Ricos schließlich freiwillig geschehen, überdies vom Volk bestätigt worden sei und somit nicht als Ausdruck einer kolonialen Abhängigkeit gewertet werden könne; und er fugte hinzu, daß, „würde das Parlament von Puerto Rico eines Tages eine Resolution zugunsten größerer oder sogar völliger Unabhängigkeit verabschieden" 8 , Präsident Eisenhower den US-amerikanischen Kongreß sofort ermuntern würde, diese Unabhängigkeit zu gewähren — was allerdings den US-amerikanischen Kongreß nicht unbedingt beeindrucken mußte. Die Vereinten Nationen entsprachen dem Antrag der USA, womit sie Puerto Rico als autonomes politisches Gebilde anerkannten.9 Somit war es 7 Zitiert nach Femandez 1996:19. 8 Zitiert nach Pagän 1972:11, 340. 9 Vor dem 1961 gegründeten Entkolonisierungsausschuß der Vereinten Nationen unternahm Kuba zusammen mit den puertoricanischen independentistas immer wieder den Versuch, diesen dazu zu bewegen, den „Fall Puerto Rico" auf die Tagesordnung der Vollversammlung der UNO zu bringen mit der Forderung, den kolonialen Status Puerto Ricos festzustellen und das Recht des Landes auf Selbstbestimmung und völkerrechtliche Unabhängigkeit anzuerkennen. Die Vereinigten Staaten ihrerseits waren permanent bemüht, dies zu verhindern und gleichzeitig zu unterbinden, daß der Entkolonisierungsausschuß selbst sich in dem geforderten Sinne äußerte. Diese Bemühungen gipfelten schließlich in konkreten Drohungen gegenüber den Mitgliedern des Entkolonisierungsaus-

79 den Vereinigten Staaten gelungen, sich vor der Weltöffentlichkeit und insbesondere den zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden Kolonien in Afrika und Asien wie in der anglophonen Karibik als Verbündeter im Kampf gegen den Kolonialismus (der europäischen Mächte) zu profilieren. Luis Muñoz Marín und damit auch Puerto Rico nutzte dies jedoch wenig. Denn was die USA vor den Vereinten Nationen aus Gründen der politischen Opportunität verschwiegen, äußerten sie ohne Vorbehalte im Kongreß: Puerto Rico blieb ein unincorporated territory der Vereinigten Staaten, und da die Machtposition des Kongresses ungebrochen war, änderten sich die Bedingungen der insularen Verwaltung „in nur geringfügiger Hinsicht". 10 Der Partido Popular Democrático blieb bis 1968 die führende politische Kraft, die aus Wahlen stets mit einer komfortablen Mehrheit hervorging, und Luis Muñoz Marin, der nicht müde wurde, entsprechend seiner Interpretation des Commonwealth-Status als bindende Übereinkunft zwischen gleichberechtigten Partnern die politische Entscheidungsfreiheit Puerto Ricos gegenüber dem US-amerikanischen Kongreß zu betonen, war bemüht, den nun nicht mehr als nur vorübergehend, sondern als dauerhaft angesehenen Status zu erweitern bzw. zu „vollenden". Doch Muñoz Marin war hier in zweifacher Hinsicht wenig erfolgreich. Zum einen stieß er mit seiner Interpretation des Commonwealth-Status — „Wir haben eine andere Form der Freiheit gewählt, sie wird nur nicht Unabhängigkeit genannt." 11 - auf den heftigen Widerstand des US-amerikanischen Kongresses, denn, wie es ein Senatsmitglied unter Berufung auf die Verfassung ihm gegenüber deutlich machte: „der schusses, propagiert etwa von Patrick Moynihan, 1975 US-amerikanischer Botschafter bei den Vereinten Nationen, der das probateste Mittel, den Vorstoß der Kubaner zu untedaufen, darin sah, „die Mitglieder des Entkolonisierungsausschusses in ihren Hauptstädten davon in Kenntnis zu setzen, daß wir ein Votum gegen uns in dieser Sache als unfreundlichen Akt betrachten würden" (zitiert nach Femandez 1996:242). Und ein solcher „unfreundlicher Akt" konnte sich schließlich für das betreffende Land etwa in der Frage der Vergabe von Krediten durch die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds durchaus negativ auswirken. Dennoch wurden durch den Entkolonisierungsausschuß - allerdings ohne jede Konsequenz für die Vereinigten Staaten — immer wieder Resolutionen verabschiedet, in denen „das unveräußerliche Recht des puertoricanischen Volkes auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit" festgestellt wurde (zitiert nach der Resolution von 1983; in: Berrios Martinez 1983:99). 10 Zitiert nach Femandez 1996:184. 11 Ebd.:193.

80 Kongreß hat weiterhin die Macht, bei Territorien oder anderen Besitzungen der Vereinigten Staaten alle notwendigen Richtlinien und Verfugungen zu entscheiden und zu erlassen"12. Zum andern wurden zwar von mehreren US-amerikanischen Präsidenten Kommissionen zur Prüfung einer möglichen „Vollendung" des Commonwealth-Status eingesetzt, doch mochte sich keine dieser Kommissionen, gewiß in Kenntnis der unbeugsamen Haltung des Kongresses, da2u entschließen, wesentliche Erweiterungen vorzuschlagen - weder die geforderte Möglichkeit, auch mit anderen Staaten Handelsverträge abzuschließen, noch die gewünschte Partizipation bei Entscheidungen von bundespolitischer Tragweite. Diese erschöpfte sich auch weiterhin, wie zu Zeiten des Jones Act, in der Entsendung eines nicht stimmberechtigten Resident Commissioner als Vertreter Puerto Ricos im Repräsentantenhaus; und eine Teilnahme der Puertoricaner an den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen blieb gleichermaßen ausgeschlossen. Im August 1964 verkündete Luis Muñoz Marín - nach 16 Jahren im Amt des Gouverneurs — seinen Rückzug ins Privatleben, doch ließ er sich von seinen Parteifreunden überreden, zumindest einen Sitz im Senat zu übernehmen, um weiterhin, wenn auch nicht mehr an vorderster Front, bei den anstehenden Entscheidungen mitzuwirken und bei den Wählern sein Prestige und sein Charisma zum Wohl der Partei einzusetzen. Über die Gründe seines Rücktritts wurde vielfach spekuliert, ebenso wie seine keinesfalls geradlinig verlaufene ideologische Entwicklung eine Vielzahl von Biographen beschäftigte. Den einen galt (und gilt) Luis Muñoz Marín in seiner ideologischen Ausrichtung als wankelmütig und widersprüchlich und schließlich als Verräter an seinen ursprünglichen Idealen; und wie sein Vater Luis Muñoz Rivera steht er für jenen Pragmatismus oder posibiäsmo, der die Haltung der politischen Klasse in Puerto Rico — mit Ausnahme einiger weniger wie Betances, Hostos oder Albizu Campos — gegenüber der Kolonialmacht Spanien ebenso wie gegenüber der Kolonialmacht USA entscheidend geprägt hat. Die anderen hingegen bewunderten (und bewundern) an ihm seine Offenheit wie seine Flexibilität angesichts sich wandelnder globaler Konstellationen und - was er in einer Rede 1951 für sich selbst in Anspruch nahm - die Fähigkeit, stets hinzuzulernen, und die Ehrlichkeit, früheren Positionen abzuschwören, was nun aber (nach Muñoz Marín) nicht zu werten war als Eingeständnis von Irrtümern, sondern als „natürliche Weiterentwicklung

12 Ebd.

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des Geistes eines redlichen Menschen angesichts der historischen Situation dieses großartigen puertoricanischen Volkes" 13 . Wie kaum ein Politiker vor ihm war Muñoz Marín aber auch angetreten, um mit seinem Reformprogramm dem Land die „wirtschaftliche Freiheit" als Voraussetzung für die politische Freiheit und den Menschen soziale Gerechtigkeit als Voraussetzung für ein humanes Leben zu verschaffen. Er erreichte ein für die Region geradezu spektakuläres Wachstum des Bruttosozialprodukts und des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens ebenso wie eine Verbesserung etwa der medizinischen und schulischen Versorgung. Der Abhängigkeit der puertoricanischen von der US-amerikanischen Wirtschaft und der ungerechten Verteilung der nationalen Ressourcen entgegenzuwirken, gelang ihm hingegen nicht. Und schließlich gelang ihm auch nicht, den ELA-Status weiterzuentwickeln und zu „vervollkommnen": ein Bestreben, in dem er bei persönlichen Gesprächen besonders von Präsident John F. Kennedy unterstützt, dann aber in der Auseinandersetzung mit dem Kongreß — zu seiner größten Enttäuschung — von demselben im Stich gelassen worden war, und das ihn letztlich an die Grenzen jenes von ihm praktizierten posibilismo geführt hatte. So interpretierte er im Endeffekt den von ihm durchgesetzten Status in einer Weise, die weder die Menschen in Puerto Rico auf Dauer überzeugen noch den US-amerikanischen Kongreß zur Zustimmung bewegen mochte, die aber, indem sie alle drei Optionen miteinander zu harmonisieren vorgab, auch die eigenen politischen Widersprüche zu harmonisieren suchte: Seinem Wesen nach ist der Status Puerto Ricos [ELA] folgender: entweder der einer unabhängigen Republik, die mit den Vereinigten Staaten die Staatsbürgerschaft teilt, die ihre internationalen Beziehungen wie die übrigen von US-amerikanischen Staatsbürgern gebildeten politischen Gemeinschaften über die Regierung der amerikanischen Union unterhält, mit den Vereinigten Staaten Freihandel betreibt und ihre eigene verfassungsmäßige Regierung hat; oder der eines Staates der Union, der keine Bundessteuern entrichtet und daher im Kongreß über keine stimmberechtigte Vertretung verfugt.14 Die Regelung der Nachfolge Muñoz Maríns ergab keine Probleme. Als Kandidat für das Amt des Gouverneurs für die Ende 1964 anstehenden Wahlen wurde sein langjähriger, in Verwaltungsfragen versierter Sekretär Roberto 13 Rede vom 26. 12.1951. In: hos gobernadores electos de Puerto Rico 1973:1, 340. 14 Zitiert nach Rivera 1996:41.

82 Sánchez Vilella nominiert, dem es - nicht zuletzt aufgrund der Mithilfe des sich auch weiterhin im Wahlkampf für die Partei einsetzenden Muñoz Marín — mühelos gelang, mit knapp 60% der abgegebenen Stimmen für sich und den Partido Popular Democrático den Sieg zu erringen. Das am 23. Juli 1967 abgehaltene Referendum zur Status-Frage - der US-amerikanische Kongreß hatte sich, wie zu erwarten war, geweigert, das Ergebnis, wie immer es auch ausfallen würde, anzuerkennen — ergab hinsichtlich des Abschneidens der den ELA-Status vertretenden populares keine Überraschung: Sie erreichten mit etwas über 60% der abgegebenen Stimmen ein den Wahlen von 1964 vergleichbares Ergebnis. Uberraschend war hingegen das Abschneiden der estadistas (oder estadoistas) mit 39%, womit diese das Ergebnis der voraufgegangenen Wahlen um etwa 5% verbessern und gegenüber ihren nur bescheidenen knapp 13% anläßlich der Wahlen von 1952 ihren Stimmenanteil auf das Dreifache erhöhen konnten. Das überaus schlechte Abschneiden der independentistas aber war - trotz ihrer Kampagne für einen Boykott des Referendums und einer Beteiligung von nur etwas mehr als 66% der Stimmberechtigten - die größte Überraschung. Anläßlich der Wahlen von 1952 hatten sie sich noch mit 19% Stimmenanteil als zweitwichtigste politische Kraft im Land profilieren können, bei den nachfolgenden Wahlen hatten sie jedoch immer mehr an Stimmen eingebüßt, um nun mit einem Anteil von gerade einmal 0,6% gewissermaßen nur noch als Nullgröße zu figurieren. Die Gründe für den Niedergang der independentistas als legal operierende politische Kraft sind vielfältig, und sie bedürfen einer genaueren Analyse, da sie auf das in Puerto Rico seit dem Ausgang der 40er Jahre herrschende innenpolitische Klima und den Umgang der lokalen Ordnungskräfte wie der Bundesbehörden mit der außerhalb wie innerhalb der Legalität tätigen Opposition ein bezeichnendes Licht werfen. 1948 war es auf dem Campus der Universität in Rio Piedras zu vehementen Protesten und Streiks der Studenten gekommen. Sie richteten sich vorrangig gegen den auch für Puertoricaner obligatorischen Wehrdienst und ihren möglichen Einsatz an Kriegsschauplätzen, wie dies während der zwei Weltkriege geschehen war - und wie es wenige Jahre später unter besonders hohen Verlusten der Puertoricaner während des Korea-Krieges, sodann in Vietnam und noch 1991 während des Golfkriegs, in dem 15.000 puertoricanische Soldaten zum Einsatz kamen, geschehen sollte. Diese auf einen nur kleinen, allerdings traditionell mit den independentistas und Albizu Cam-

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pos sympathisierenden Bevölkerungssektor beschränkten Unruhen nahm das insulare Parlament zum Anlaß, mit der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 53, der sogenannten „Ley de la Mordaza" (wörtlich: Knebelgesetz), gegen jede des independentismo oder naäonalismo verdächtige Person vorzugehen. Auf diese erste Welle der Repression, die sich noch im wesentlichen auf Bespitzelungen und Einschüchterungsversuche beschränkte, folgte anläßlich der „Revolution von 1950" eine zweite, die um so härter und weitreichender operierte, als die Aktionen Albizus ja nicht allein gegen die Vereinigten Staaten, sondern auch gegen die Einführung des ELA-Status und direkt gegen Muñoz Marín gerichtet waren. Überdies konnten so auch des independentismo unverdächtige, aber anderweitig lästige Personen unter dem Verdacht des Kommunismus — in den Vereinigten Staaten befand sich die antikommunistische Hetzjagd McCarthys gerade auf dem Höhepunkt — als subversive Elemente ausgeschaltet werden. Als einzige für die Unabhängigkeit eintretende Partei hatte sich seit dem Wahldebakel des Partido Nacionalista 1932 der 1946 von dem independentistaFlügel des Partido Popular Democrático gegründete Partido Independentista Puertorriqueño (PIP) trotz gelegentlichen Boykotts an Wahlen und Referenden beteiligt. 1959 gründete ein abtrünniger Teil des Partido Independentista, unzufrieden mit dem, wie die Dissidenten meinten, selbstverschuldeten Niedergang der Partei, eine neue Unabhängigkeitsbewegung, das Movimiento Pro Independenäa (MPI), dessen Vertreter sich zwar einer stärkeren verbalen Radikalität bedienten, sich aber wie der Partido Independentista strikt im Rahmen der Legalität bewegten.15 1957 wurde die „Ley de la Mordaza" abgeschafft, und kurz darauf traten — verdeckt — die Bundesbehörden in Aktion, konkret das FBI, das alle nur erdenklichen Taktiken bis hin zur „dirty tricks variety" anwendete, um in15 Während der 'Partido Independentista Puertorriqueño unter seinem gegenwärtigen Vorsitzenden Rubén Berríos Martínez sozialdemokratisch ausgerichtet ist und das Gros der für die independentistas abgegebenen Stimmen auf sich vereint, gibt

sich der 1972 aus dem Molimiento Pro Independenäa hervorgegangene neue Partido

Soáalista Puertorriqueño - die 1915 von Santiago Iglesias gegründete alte Sozialistische Partei hatte sich 1952 aufgelöst - unter seinem Generalsekretär Juan Mari Brás im marxistisch-leninistischen Sinne klassenkämpferisch und erhält bei Wahlen nur einen minimalen Zuspruch. In der Öffentlichkeit präsent ist die Partei aber vor allem durch ihre Wochenzeitung Claridad, von der nach Angaben der Herausgeber jeweils 20.000 Exemplare (wie böse Zungen behaupten, hauptsächlich aufgrund des informativen Sportteils) verkauft werden.

84 nerhalb der Unabhängigkeitsbewegung Zwist zu säen und eine Allianz beider Parteien unter allen Umständen zu verhindern. Mit diesem Ziel inszenierte das FBI über Pamphlete, Anzeigen und eine Flut anonymer Briefe eine wahre Hetzkampagne und verbreitete Verleumdungen bis hin zur Anschuldigung sexueller Beziehungen zwischen Partnern der jeweils anderen Partei, was in der Tat bewirkte, daß innerhalb der Parteien wie zwischen denselben ein Klima des Mißtrauens und der Feindschaft entstand, was wiederum eine Lähmung zur Folge hatte und Einzelaktionen der beiden Gruppen wie auch ein gemeinsames Vorgehen behinderte. 16 So war die Schwächung der independentistas nicht allein auf einen Verlust an Attraktivität ihrer Option bei den Wählern zurückzufuhren, sondern auch auf die von staatlicher Seite über einen langen Zeitraum verfolgte Strategie der Spaltung und auf das gleichzeitig in der Bevölkerung systematisch verbreitete Klima der Einschüchterung und Furcht, von dem katholischen Bischof Antulio Parrilla apostrophiert als „Kultur des Schweigens" und „Sozialisation der Angst" 17 : Angst vor jenen, denen eine ausgeprägte Gewaltbereitschaft zugeschrieben wurde, und Angst vor den möglichen Folgen der Unabhängigkeit, die entsprechend der Regierungspropaganda nur in ein politisches und wirtschaftliches Desaster münden würde.

Den Partido Popular Democrático mochte der Einbruch der independentistas anläßlich des Referendums 1967 kaum tangieren, geriet er doch anläßlich der Wahlen im Jahr darauf selber in eine Krise, die mit einem Schlag nahezu drei Jahrzehnte unumstrittener Vorherrschaft der populares beendete. Die Wahlniederlage war jedoch voraussehbar und auf parteiinterne wie parteiexterne Faktoren zurückzuführen. Die „alte Garde" der Parteiführer zeigte sich nicht bereit, die angestammten Machtpositionen zu räumen und den Jungen, die auf politische und wirtschaftliche Reformen drängten, den zu ihrer Durchsetzung notwendigen Spielraum zuzugestehen. Der parteiinterne Dissens offenbarte sich aber auch in der Unfähigkeit, über eine eigens gegründete Kommission den ELA-Status in seiner von Muñoz Marin als Erbe hinterlassenen Interpretation eines „sich fortwährend vervollkommnenden Commonwealth" klar 16 Zu den diesbezüglichen Aktivitäten des FBI, an denen der Leiter der Behörde, John Edgar Hoover, persönlich höchst interessierten Anteil nahm, vgl. Femandez 1996:212ff., 220ff. (mit weiterfuhrenden bibliographischen Angaben). 17 Zitiert nach Carr 1984:173.

85 zu definieren und — was noch dringlicher und schwieriger war, wie schließlich ja auch Muñoz Marin hatte erfahren müssen — dieses Konzept dem USamerikanischen Kongreß nahezubringen. Dort herrschte dieselbe Unsicherheit in der Status-Frage wie in Puerto Rico, wie der langjährige Vorsitzende des Committee on Territorial and Insular Affairs des Repräsentantenhauses, Leo W. O'Brien, im Verlauf der von 1964 bis 1966 geführten diesbezüglichen Debatten erklärte: Niemand, weder innerhalb noch außerhalb des Kongresses, weder innerhalb noch außerhalb Puerto Ricos, weiß genau, was der Commonwealth of Puerto Ria? ist. Es gibt dazu viele Meinungen, einige sind sehr bestimmt und laut. [...] Manche Leute haben uns gesagt, daß das, was wir hier 1950 gemacht haben [= Diskussion und Verabschiedung des Public Law 600\, sinnlose Rhetorik und, rechtlich gesehen, Augenwischerei war. Sie beharren darauf, daß Puerto Rico faktisch immer noch eine Kolonie, eine Besitzung, ist, daß die von uns gewährte Autonomie illusorisch ist und je nach Laune des Kongresses augenblicklich widerrufen werden kann. Andere behaupten, wir seien, als wir das erste und einzige Commonwealth unter der amerikanischen Fahne schufen, einen unwiderruflichen Vertrag eingegangen, von dem ein Rücktritt unmöglich ist, und wir hätten eigentlich eine souveräne Nation in das Amerikanische Mosaik eingebaut.18 Erschwerend mochte zumindest für den US-amerikanischen Kongreß hinzukommen, daß die Jungen innerhalb des Partido Popular Democrático nunmehr darauf bestanden, sich nicht mehr nur verbal ihres spanischen Erbes und ihrer puertorriqueñidad zu versichern, sondern konkrete Schritte zu unternehmen, die, motiviert durch die gemeinsame Sprache und das gemeinsame Kulturerbe, eine politische Annäherung an die hispanoamerikanischen Nachbarstaaten bewirken würden. Unter den parteiexternen, jedoch von der Partei zu verantwortenden Faktoren für das Wahldebakel der populares 1968 ist zunächst die wirtschaftliche und soziale Lage zu nennen, die Mitte der 60er Jahre weiter denn je davon entfernt war, den Puertoricanern die von Muñoz Marin versprochene „wirtschaftliche Freiheit" und soziale Gerechtigkeit zu bescheren. Beides war endgültig dem Diktat der Produktionssteigerung geopfert worden. Nach den eher mißlichen Erfahrungen der Frühphase der Industrialisierung waren während der 50er und 60er Jahre gezielt und selektiv kapitalintensive Indu18 Zitiert nach Carr 1984:86.

86 strieunternehmen vor allem in den Bereichen Petrochemie und Pharmazeutik angeworben worden, die bewirkten, daß das Bruttosozialprodukt von 1950 bis 1960 mit einer durchschnittlichen jährlichen Zuwachsrate von 8,3% um mehr als das Doppelte zunahm und sich in der Dekade 1960-1970 sogar nahezu verdreifachte, wodurch das durchschnittliche jährliche ProKopf-Einkommen von 342$ (1950) auf 1.729$ (1970) stieg. 19 Doch waren die Einkommen überaus ungleich verteilt: So bezogen etwa im Jahre 1963 die 2 0 % der wohlhabendsten Familien 5 1 % der Gesamteinkünfte aller privaten Haushalte, während nur 5 % auf die 2 0 % der ärmsten Familien entfielen. Noch aussagekräftiger ist die Zahl derer, die während des Jahres 1966 auf staatliche Unterstützung in Form von Lebensmittelzuteilungen angewiesen waren: 910.502 Personen, und das hieß in etwa jeder dritte auf der Insel lebende Puertoricaner. 20 Die Unzufriedenheit derer, die zwar Arbeit hatten, aber unzureichend verdienten, und die Hoffnungslosigkeit derer, die nicht einmal über Arbeit verfugten und unter größter Not in den beständig wachsenden Elendsvierteln der Städte ihr Überleben zu sichern suchten, verleitete in erheblichem Maße zu einer Protestwahl gegenüber einer Partei, deren Strukturen sich über die langen Jahre der Machtausübung verkrustet hatten und von der man kaum neue Impulse erwartete. Hinzu kam, daß die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die mit ihr zusammenarbeitenden Aktivisten gegen den Vietnam-Krieg und die Neue Linke während der zweiten Hälfte der 60er Jahre das nationale Selbstverständnis der Vereinigten Staaten in eine tiefe Krise stürzten, welche ihrerseits auch auf das Verhältnis der Puertoricaner zu den USA nicht ohne Auswirkungen blieb. E s kam erneut zu heftigen, häufig auch gewaltsam ausgetragenen Protesten von seiten der Studenten, die vornehmlich gegen den Vietnam-Krieg und die mögliche Zwangsrekrutierung von Puertoricanern gerichtet waren. So konnte es nicht ausbleiben, daß sich der Protest auch gegen die US-amerikanischen Militärstützpunkte im eigenen Land richtete, das die US-Administration in ein gigantisches Experimentierfeld für militärische Operationen verwandelt hatte.

19 Dietz 1992:262f. 20 Maldonado-Denis 1980:163. Ein Vergleich mit den von Dietz (1992:247) für die Jahre 1950 und 1955 genannten Zahlen zeigt, daß sich die diesbezüglichen Relationen während der Hochkonjunktur des puertoricanischen „Wirtschaftswunders" kaum veränderten.

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Bereits Ende der 30er Jahre hatten die Vereinigten Staaten, nachdem man sich zunächst mit einem Übungsgelände auf der im Osten der Hauptinsel vorgelagerten kleinen Insel Culebra begnügt hatte, auf dem gesamten puertoricanischen Territorium mit dem Bau eines riesigen, der Marine unterstellten Militärkomplexes begonnen mit der Idee, wie es General George Catlett Marshall als vielversprechende Zukunftsvision formulierte, „aus Puerto Rico das Gibraltar der Karibik zu machen" 2 1 . Immer wieder war der Bau, wenn niemand mehr von seiner Notwendigkeit überzeugt war, eingestellt worden, um, sobald jemand von neuem seine Unverzichtbarkeit für die Aufrechterhaltung der Nationalen Sicherheit betonte, wiederaufgenommen zu werden. Und stets hatte man versprochen, daß das konfiszierte Land, wenn denn der Krieg vorüber wäre, zurückgegeben würde. Inzwischen sind nahezu 300 km 2 des puertoricanischen Territoriums militärisches Sperrgebiet, und der Hauptkomplex, nach dem Präsidenten Franklin D. Roosevelt „Roosevelt Roads" benannt, ist mit seinen über 130 km 2 der größte Marinestützpunkt der Welt, Angelpunkt sämtlicher flottengestützter Operationen im Atlantik und in der Karibischen See, Ausgangspunkt etwa der US-amerikanischen Invasionen in der Dominikanischen Republik 1965 und in Grenada 1983. 2 2 Das extremste Beispiel für die direkten Auswirkungen auf die Bevölkerung ist die in den „Roosevelt Roads"-Komplex integrierte Insel Vieques, etwa 15 km vor der Ostküste der Hauptinsel gelegen, wo es in der zweiten Hälfte der 60er Jahre (und noch danach) ebenfalls zu gewalttätigen Protesten kam. Nachdem man Ende der 30er Jahre beschlossen hatte, die Insel aufgrund ihrer Nähe zum Operationszentrum von „Roosevelt Roads" bei Ceiba gleichermaßen als militärisches Übungsgelände zu nutzen, erwog man 21 Zitiert nach Maldonado-Denis 1980:74. 22 Als unverzichtbar gelten die Anlagen auf Puerto Rico nicht nur aus strategischen, sondern auch aus sicherheitspolitischen Gründen, sind sie doch nach dem Urteil eines hochrangigen Marinekommandeurs in der Karibik „der einzige vedäßliche Ort", da die US-amerikanische Präsenz in Panama nach den von Präsident Carter 1977 abgeschlossenen Verträgen (im Prinzip) 1999 endet und für den Stützpunkt Guantänamo auf Kuba (nach dem Urteil desselben Kommandeurs) ohnehin gilt, daß „auf lange Sicht immer Unsicherheit besteht" (zitiert nach Humberto Garcia Muniz; in: Melendez/Melendez 1993:53). So haben die Vereinigten Staaten auch stets betont, daß sie, sollte Puerto Rico jemals die völkerrechtliche Unabhängigkeit zugestanden werden, ihre Militärstützpunkte unter keinen Umständen räumen würden.

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mehrfach, sämtliche Bewohner, etwa 10.000 an der Zahl, zu evakuieren — mit der Auflage, so wurde präzisiert, daß sie auch ihre Friedhöfe auslagern müßten, da schließlich unter keinem Vorwand, auch nicht dem der Ehrung der Toten, zivilen Personen der Zutritt zur Insel gestattet werden dürfte. Von den rund 130 km2 Gesamtfläche wurden Anfang der 40er Jahre über drei Viertel, vorwiegend das fruchtbare, einst für den Anbau von Zuckerrohr genutzte Land, für militärische Übungszwecke enteignet, und die puertoricanische Bevölkerung wurde auf einem kleinen Streifen Landes zusammengezogen, wo sie außer durch gelegentliche Hilfsarbeiten auf dem Marinestützpunkt nur durch den spärlichen, da gleichermaßen durch Sperrgebiete eingeschränkten Fischfang, vor allem aber durch die — gleichermaßen spärlichen — Sozialleistungen überleben kann und überdies durch permanente Manöver und Bombardements in ihrer ohnehin geringen Lebensqualität zusätzlich beeinträchtigt wird.23 Der von Luis Muñoz Marín ausgehandelte und von den Puertoricanern im wesentlichen mit seiner Person identifizierte Status des Estado Libre Asoäado repräsentierte seit seiner Einsetzung 1952 und bis zum Wahldebakel des Partido Popular Democrático 1968 für die Mehrheit der Puertoricaner — nicht zuletzt aufgrund des erfolgten Industrialisierungs- und Modernisierungsprozesses und des immensen Zustroms von Bundesdgeldern — in der StatusFrage die akzeptabelste Option. Doch waren die dem „Modell Puerto Rico" inhärenten Fehlentwicklungen und Widersprüche allzu offensichtlich, als daß sie nicht jene auf den Plan rufen mußten, die im Gegensatz zu den direkt Betroffenen in der Öffentlichkeit über eine Stimme verfugten und diese auch wirksam einzusetzen wußten: die Literaten, die sich bereits seit den 40er Jahren und dann verstärkt ab den 50er Jahren - in Abkehr von der einer längst vergangenen ländlich geprägten Epoche verpflichteten „Generación del 30" - den aktuellen Problemen sowie der daraus resultierenden Gewalt in sozialkritischer, bisweilen militant nationalistischer oder auch marxistischer Perspektive zuwandten. Und dies war vorrangig die städtische Lebenswelt, konkret die alltägliche Wirklichkeit derer, die an dem wirt23 Es erheben sich mittlerweile sowohl in San Juan als auch in Washington vielfach Stimmen, die eine Räumung von Vieques durch die US-Marine und einen das ökologische Gleichgewicht wiederherstellenden Umbau und Wiederaufbau der Insel fordern, wofiir nicht zuletzt das 1993 gegründete Comité Pro Rescate y Desarrollo de Vieques aufgrund seiner zahlreichen, oft spektakulären und somit auch in San Juan wahrgenommenen Aktivitäten verantwortlich zeichnet.

89 schaftlichen Aufschwung nicht partizipiert hatten, die Welt der Verlierer: ob als Angehörige des in den Elendsvierteln der Städte in bitterer Armut dahinvegetierenden Subproletariats, das zu einem großen Teil, vom eigenen Stück Land vertrieben und angelockt vom trügerischen „Wirtschaftswunder", in die Stadt abgewandert war, dort aber nur das Heer der Arbeitslosen vergrößert hatte; oder als Immigranten in den Vereinigten Staaten, vornehmlich in New York, die sich, gleichermaßen wirtschaftlich und sozial marginalisiert, überdies einer rassischen Diskriminierung ausgesetzt sahen, die selbst jene traf, welche in Puerto Rico aufgrund ihrer nur wenig ausgeprägten negroiden äußeren Merkmale als Weiße galten. Für die Autoren, die sich zumeist aus persönlicher Erfahrung auch der Dualität der Lebenswelten in Puerto Rico und in New York bewußt waren, galt, was Pedro Juan Soto, ein herausragender Vertreter dieser Generation, einmal sagte: „Wir alle begannen im Schatten des Estado Libre Asociado zu schreiben, und wir alle rebellierten."24 Wegweisend insbesondere für die Erzählung, aber auch für den Roman war José Luis * González, der als erster die Forderung vertrat, die Literatur gewissermaßen zu „verstädtern" und der unter dem programmatischen Titel El hombre en la calle (Der Mann auf der Straße) 1948 einen Erzählband publizierte, der diesem Programm dezidiert entsprach. Unter dem Einfluß des Dominikaners Juan Bosch und US-amerikanischer Autoren wie etwa Hemingway, Faulkner und Steinbeck bewirkte er auch eine Erneuerung des Erzählstils, der nun der weitschweifigen oder gar pittoresken Beschreibung von Ambiente und Handlungspersonen, bezeichnend für den bis dahin weitgehend vorherrschenden costumbrismo, entsagte, um sich unter Verwendung sparsamster Mittel, in einer knappen, bisweilen nahezu lakonisch anmutenden, die Distanz des Erzählers (und Autors) zum Erzählten markierenden Diktion auf den Kern der Aussage zu konzentrieren. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist die Erzählung „En el fondo del caño hay un negrito" („Ein negrito auf dem Grunde des Grabens") mit seiner kurzen Momentaufnahme vom Uberlebenskampf einer Campesino-Familie in dem berüchtigten Elendsviertel „La Perla" in San Juan, welcher der Rückweg in die montaña — wie noch für die Handlungs figuren in dem Theaterstück La carreta von René Marqués - nicht mehr möglich ist: eine streng durchkomponierte, auch als Prosagedicht zu lesende Augenblicksgeschichte mit einer überraschenden Wendung, deren tödlicher Ausgang durch die Darstellung aus der 24 Zitiert nach Norma Piazza; in: Martínez Masdeu 1994:581.

90 Perspektive eines kleinen Kindes, das in Unkenntnis der Gefahr dem Tod mit einem Lächeln begegnet, den Leser um so stärker berührt. Ein ausgeprägtes sozialkritisches und gegen den US-amerikanischen Kolonialismus gerichtetes Engagement kennzeichnet auch die Erzählungen und Romane von René *Marqués. Doch die Handlung oder das handlungsauslösende Moment - in der Erzählung „La sala" („Das Wohnzimmer") ist es die mit der „Ley de la Mordaza" eingeleitete Verfolgung der naäonalistas in den 50er Jahren und die daraus resultierende „Kultur des Schweigens" — fuhrt Marqués zu einer psychologisch fundierten, vorzugsweise über den inneren Monolog und den Bewußtseinsstrom der zentralen Handlungspersonen vollzogenen Charakterisierung von Individuen, die in ihrer quälenden metaphysischen Angst, ihrem Mißtrauen und ihrer Kommunikationslosigkeit wohl ein privates Schicksal repräsentieren, gleichzeitig aber auch auf die nationale Wirklichkeit verweisen und darüber hinaus eine universelle Projektion menschlicher Grunderfahrungen beinhalten. Auch bei Emilio *Diaz Valcarcel stand neben der häufig mit bitterer Ironie gezeichneten Darstellung sozialer Ungerechtigkeit und Diskriminierung die Analyse des individuellen, jedoch auch für das Kollektiv geltenden Bewußtseins im Vordergrund, konkret im Zusammenhang mit dem in seinen ersten Erzählungen thematisierten, aber auch später immer wieder aufgegriffenen, von persönlichen Erfahrungen geprägten Thema des KoreaKrieges, in welchem der Puertoricaner innerhalb der Militäreinheiten als minderwertiges Menschenmaterial diskriminiert und häufig an vorderster Front eingesetzt wurde. Der Krieg mochte ihm — wie dem Protagonisten in „Napalm" („Napalm") - überdies unmotiviert und sinnentleert erscheinen: ein Krieg, in dem der puertoricanische Soldat schließlich nicht mehr den Feind auszumachen weiß, da dieser Krieg nicht der seine ist. Dem besonders konfliktiven Komplex der US-amerikanischen Militärpräsenz auf Vieques widmete sich Pedro Juan *Soto mit seinem Roman Usmail (Usmaity. ein dem Genre des Entwicklungsromans verwandtes Werk, in dem der Protagonist, unehelicher Sohn einer Farbigen aus Vieques und eines US-amerikanischen Funktionärs der PRERA, auf der Suche nach seiner personalen Identität schließlich nur über einen Akt der Gewalt, den Mord an einem US-amerikanischen marine, gleichbedeutend einem Vateroder Tyrannenmord, zu sich selbst findet. Doch ist die Suche des Protagonisten nach seiner Identität auch symbolhaft verknüpft: mit der Situation des Kollektivs und Reflex der durch den US-amerikanischen Kolonialismus

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hervorgerufenen Entfremdung und moralischen Fäulnis, die das Leben in Vieques - durchaus Spiegelbild der Hauptinsel Puerto Rico - charakterisiert. Eine geradezu fulminante und in der puertoricanischen Öffentlichkeit vehement diskutierte Abrechnung mit der Wirklichkeit des Estado Libre Asociado — und der psychologischen Verfaßtheit des Puertoricaners, die keinesfalls angeboren, sondern durch die historische Entwicklung bedingt ist lieferte schließlich René *Marqués mit seinem Essay „El puertorriqueño dócil" („Der gefugige Puertoricaner"). „Docilidad" im Sinne von Gefügigkeit oder Unterwürfigkeit war nun aber für Marqués kein isoliertes, etwa auf den privaten Bereich beschränktes Phänomen, sondern der entscheidende Schlüsselbegriff, mit dem er das öffentliche Leben in Puerto Rico als krankhaften Zustand beschrieb, der alle führenden politischen Kräfte im Angesicht der Kolonialmacht USA zu Apathie und Selbstaufgabe getrieben hatte. Die Wahlen von 1968, die mit dem Partido Nuevo Progresista (PNP) zum ersten Mal in der Geschichte Puerto Ricos den Befürwortern der estadidad die politische Vorherrschaft bescherten, markierten eine Wende. Zunächst verdankten die novoprogresistas ihren Sieg zwar vorrangig der Tatsache, daß die seit langem schwelenden Machtkämpfe innerhalb des Partido Popular Democrático darin gipfelten, daß der Gouverneur Sánchez Vilella, nachdem ihm die „alte Garde", allen voran Muñoz Marín, aufgrund allzu großer Eigenständigkeit eine neuerliche Nominierung verweigert hatte, die Partei verließ, um eine neue Gruppierung, den Partido del Pueblo, zu gründen, und somit die Anhängerschaft der populares in zwei Lager spaltete, die zusammen immerhin noch etwa 49% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinten. Doch es war unübersehbar, daß bei einem wachsenden Teil der Bevölkerung der ELA-Status, ohnehin uneindeutig definiert, an Überzeugungskraft verloren hatte und die Operación Manos a la Obra in den Augen derer, die nicht von ihr hatten profitieren können, als gescheitert galt. Und während der Partido Popular Democrático sich in internen Streitigkeiten erschöpfte, war es dem Partido Nuevo Progresista, der sich als Nachfolgeorganisation des Partido Estadista Puertorriqueño erst 1967 als Partei konstituiert hatte, gelungen, sich für breite — allerdings eher antagonistische - Sektoren der Bevölkerung als innovative politische Kraft zu profilieren. Angeführt wurde der Partido Nuevo Progresista von dem vermögenden Industriellen Luis A. Ferré, der die kleine Schicht der einheimischen Großbourgeoisie, aber auch die oberen Mittelschichten vertrat, die ihren Aufstieg der Anbindung an US-amerikanische Unternehmen und Agenturen ver-

92 dankten. Doch gelang es der Partei auch, breite Sektoren der marginalisierten Bevölkerung insbesondere in den städtischen Slums für sich zu gewinnen, indem sie dieser in Aussicht stellte, daß die estadidad einen unermeßlichen Zustrom an öffendichen Geldern aus den verschiedenen Hilfsprogrammen der Bundesregierung, auf die man jetzt noch keinen Anspruch hatte, nach sich ziehen würde. Zwar müßten die Puertoricaner — wie der Mitbegründer des Partido Nuevo Progresista (und spätere zweimalige Gouverneur) Carlos Romero Barceló in seinem 1972 veröffentlichten Band ha Estadidad es para los pobres (Die Estadidad' ist für die Armen) das Programm seiner Partei zusammenfaßte - als vollwertige Bürger der Vereinigten Staaten auch Bundessteuern zahlen, doch würden diese im Vergleich zu denen anderer Bundesstaaten nur sehr gering ausfallen. „Gleichzeitig", so fuhr er fort, „würden die Zuwendungen, die uns entsprechend der Bevölkerungszahl aus den Hilfsprogrammen der Bundesregierung zufließen würden, höher sein als die jedes anderen Staates der Union." 25 Und schließlich suchte die Partei der estadistas auch dem ihr entgegengebrachten Verdacht einer allzu bereitwilligen kulturellen Assimilierung an die USA dadurch entgegenzuwirken, daß sie das Konzept einer estadidad jíbara propagierte, die es Puerto Rico auch als US-amerikanischem Bundesstaat erlauben würde, die eigene kulturelle Identität zu bewahren.26 Für den neuen Gouverneur Ferré hatte sich zunächst stabilisierend ausgewirkt, daß 1971 der republikanische Präsident Richard Nixon verkündete, das Bundesprogramm der food stamps für die Armen würde auch auf Puerto Rico ausgedehnt. Doch schließlich half ihm dies für seine neuerliche Kandidatur wenig, da die versprochenen Gelder erst Jahre später flössen, als Ferré bereits wieder aus dem Amt geschieden war. Denn für die Wahlen 1972 25 Zitiert nach der englischen Ausgabe, Romero-Barcelo 1978:87. 26 Für seine Definition der estadidad jíbara unterschied Luis A. Ferré zwischen „Vaterland" ( = Puerto Rico) und „Nation" ( = Vereinigte Staaten von Amerika), mit welcher die Puertoricaner durch die Staatsbürgerschaft und durch Loyalität verbunden seien, um sodann für seine Partei festzustellen: „[Unser Ziel] ist, im Rahmen dieser dauerhaften Verbindung die Identität unseres Volkes, unsere Sprache, unsere Traditionen und unsere Persönlichkeit zu bewahren. Dieses Ziel beinhaltet, ein guter Puertoricaner zu sein, indem man ein guter Amerikaner ist, und ein guter Amerikaner zu sein, indem man ein guter Puertoricaner ist. Dieses Ziel bedeutet auch, sich im Rahmen unserer Loyalität gegenüber der amerikanischen Nation weiterhin dem puertoricanischen Vaterland verpflichtet zu fühlen." (Zitiert nach Meléndez 1993:185).

93 hatte sich der Partido Popular Democrático unter seinem Kandidaten für den Gouvemeursposten Rafael Hernández Colón reorganisieren und die internen Streitigkeiten beilegen können; und der Partido Nuevo Progresista hatte sich durch eine Reihe von Skandalen, in denen hochrangige Regierungsmitglieder der Korruption und Vetternwirtschaft bezichtigt wurden, bei den Wählern in starkem Maße diskrediert. So erfolgte 1972 mit dem Wahlsieg der populares wiederum ein Wechsel der Regierungspartei, wodurch sich die bis heute andauernde Praxis der wechselseitigen Ablösung von Partido Popular Democrático und Partido Nuevo Progresista gewissermaßen institutionalisieren sollte.27 Die Herausbildung eines Zweiparteiensystems analog zu der politischen Konstellation in den Vereinigten Staaten — die populares pflegten stets besonders enge Beziehungen zu den Demokraten, die der statehoodLösung zustrebenden Parteien wie die novoprogesistas hingegen zu den Republikanern - ging eindeutig zu Lasten der die Unabhängigkeit vertretenden Parteien, die bei Wahlen allenfalls noch etwa 5% der abgegebenen Stimmen erreichen und als politische Kraft nur gelegentlich durch spektakuläre Aktionen von Untergrundorganisationen auf sich aufmerksam machten. 28 27 Der Partido Popular Democrático stellte seit den Wahlen 1972 mit Rafael Hernández Colón dreimal (1972, 1984, 1988), der Partido Nuevo Progresista seit 1968 fünfmal den Gouverneur (1968 mit Luis A. Ferré, 1976 und 1980 mit Cados Romero Barceló, 1992 und 1996 mit Pedro Rosselló). 28 Zu diesen Untergrundorganisationen gehören bzw. gehörten — neben den Comandos Amados de Liberado» (CAL) und dem Movimiento Independentista Revoludonario Armado (MIRA) - als aktivste Gruppierungen die Fuerzas Armadas de Liberadón National (FALN), die während der 70er und 80er Jahre über 100 Bombenanschläge für sich reklamierten, sowie die Gruppe Ejérdto Popular Boricua (EPB), auch Los Macheteros genannt, die in den 80er Jahren an den gewalttätigen Protesten auf Vieques beteiligt war und besonders durch den spektakulären Überfall auf einen Geldtransporter der Wells Fargo Company in West Hartford, Connecticut, im Jahre 1983, bei der sie über 7 Millionen Dollar erbeutete, weltweit Aufmerksamkeit erregte. In Puerto Rico selbst edebte die größte Resonanz, zudem mit erheblichen politischen Konsequenzen verbunden, ein zunächst relativ unbedeutend erschienener Zwischenfall: der sogenannte „Fall Cerro Maravilla". Am 25. Juli 1978 waren zwei junge independentistas, darunter Roberto Soto Arriví, Sohn des Schriftstellers Pedro Juan Soto, von Polizisten erschossen worden, als sie - vorgeblich - versuchten, die Radio- und Femsehstation auf dem Cerro Maravilla im Zentrum der Insel in die Luft zu sprengen. Die näheren Umstände der Todesfalle wurden zunächst vertuscht; doch 1983 kam es zu einem Verfahren, in dessen Vedauf sich zweifelsfrei herausstellte, daß die jungen Leute die Station nur hatten besetzen wollen, um landesweit ei-

94 Das politische Programm der beiden dominierenden Parteien orientierte (und orientiert) sich entlang der Status-Frage: Beibehaltung des status quo für die einen, dagegen vollständige Integration in die Vereinigten Staaten für die anderen. Hinsichtlich ihrer Wirtschafts- und Sozialprogramme unterschieden (und unterscheiden) sie sich jedoch nur wenig. Beide Parteien verfolgten weiterhin die Strategie einer forcierten Industrialisierung vorrangig über fiskalische Anreize für ausländische Investoren. Trotz eines gewissen Rückgangs der Investitionen — nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß unter dem Druck US-amerikanischer Gewerkschaften 1981 auch in Puerto Rico der für die gesamten USA geltende Mindestlohn eingeführt wurde und damit zahlreiche, insbesondere arbeitsintensive Betriebe vorrangig der Textilbranche in andere Billigjohnländer abwanderten - waren weiterhin beachtliche Wachstumsraten zu verzeichnen: So betrug das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen 1985 in Puerto Rico 4.510$, d.h. annähernd das Doppelte Mexikos, das Dreifache Brasiliens und das Sechsfache der Dominikanischen Republik.29 Doch wurden die strukturellen Fehlentwicklungen immer gravierender, insbesondere die extreme Vernachlässigung der Landwirtschaft, die um 1980 nur noch einen knapp 4%igen Beitrag (gegenüber 17,5% 1950) zum Bruttosozialprodukt leistete und nur 5% der Arbeitnehmer (gegenüber 36% 1950) beschäftigte.30 Damit verschärfte sich das endemische Problem der Arbeitslosigkeit, zumal durch die bevorzugte Anwerbung kapitalintensiver nen Aufruf zur Unterstützimg der Unabhängigkeitsbewegung zu senden, und von insularen Polizeikräften (möglicherweise mit Unterstützung des FBI) in eine Falle gelockt und regelrecht exekutiert worden waren. Die öffentliche Anhörung im puertoricanischen Senat, die die Verurteilung mehrerer Polizeiangehöriger nach sich zog, wurde in voller Länge im Femsehen ausgestrahlt und bewirkte — fünf Jahre nach den Ereignissen — eine landesweite Empörung, die sich in den Ergebnissen der Wahlen 1984 zuungunsten des 1978 regierenden

Partido Nuevo Prognsista niederschlug, welcher — auch aufgrund einer parteiinter-

nen Spaltung — die Wahlen mit dem niedrigsten Ergebnis seit 1972 verlor.

29 Dietz 1992:334. Der Vergleich des durchschnittlichen jährlichen Pro-KopfEinkommens Puerto Ricos im Gesamtkontext der Vereinigten Staaten sieht hingegen anders aus. So belief es sich im selben Jahr 1985 auf nur 27% des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens aller Bundesstaaten (Dietz 1992: 334); und noch 1992 betrug es, mittlerweile angestiegen auf 6.360$, weniger als die Hälfte des Pro-Kopf-Einkommens von Mississippi (14.088$), nach offizieller Statistik der ärmste Bundesstaat der USA (Morris 1995:65). 30 Dietz 1992:274, 278.

95 Industriebetriebe nicht hinreichend neue Arbeitsplätze geschaffen wurden. So betrug der Beitrag des Industriesektors zum Bruttosozialprodukt 1980 zwar 48% (gegenüber 16% 1950), wurde die Zahl der hier Beschäftigten von 1940 bis 1980 nahezu verdoppelt; doch diese lag 1980 immer noch unter 20% der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung.31 Daraufhin verfielen alle Regierungen auf ein Heilmittel, das ihnen kurzfristig zusätzliche Wählerstimmen, langfristig aber eine immens hohe Verschuldung eintrug: die Schaffung einer Flut neuer Arbeitsplätze in der Verwaltung, wodurch die öffentliche Hand bereits 1980 mit etwa 24% aller Beschäftigten (gegenüber knapp 8% 1950) zum größten Arbeitgeber wurde. 32 Den entscheidenden Beitrag zu einer relativen Verbesserung der Lebensverhältnisse der ärmeren und ärmsten Bevölkerungsschichten — und damit auch zu einem Anwachsen der Befürworter der estadidad entsprechend dem von Romero Barcelo und den novoprogmistas propagierten Slogan „Die Estadidad ist für die Armen" - leisteten die Hilfsprogramme der Bundesregierung, insbesondere die Lebensmittelkarten, die food stamps oder cupones, auf die 1973 entsprechend den in Washington festgelegten Bedingungen insgesamt 75% der puertoricanischen Bevölkerung Anspruch hatten und deren Kosten sich allein im ersten Jahr der Durchführung des Programms (1974/75) von 24 Millionen auf 800 Millionen Dollar erhöhten.33 Zwar kamen insbesondere aufgrund bürokratischer Hürden nicht alle, die Anspruch auf Sozialleistungen hatten, auch in deren Genuß, wurden überdies die Gelder ab 1981 stark gekürzt; doch immerhin bewirkte das Programm der Lebensmittelhilfe, die ab 1982 nicht mehr über food stamps, sondern in Form von Schecks geleistet wurde, eine gewisse Erleichterung für die arbeitslose Bevölkerung. Allerdings waren die Folgen für die nationale Wirtschaft katastrophal. Zum einen wurde durch die food stamps vorrangig der Konsum importierter, in gigantischen Supermärkten feilgebotener Waren gefördert, wodurch sich nicht nur die Konsumgewohnheiten der Puertoricaner US-amerikanischen Standards anpaßten, sondern auch die einheimische Produktion und der Kleinhandel erhebliche Einbußen erlitten.34 Zum andern erschien es trotz 31 32 33 34

Ebd.: 274, 277, 278. Ebd.:278. Richard Weisskoff, in: Heine 1983:136. Während der Beitrag der einheimischen Landwirtschaft zum Konsum von Nahrungsmitteln 1950 noch 55% betrug, war er 1975 bereits auf 13% gesunken

96 einer gewissen psychologischen Hemmschwelle vielen Puertoricanern attraktiver, statt für einen monatlichen Durchschnittslohn von 800$ einer Arbeit nachzugehen, sich als Arbeitsloser von der Sozialhilfe zu ernähren, die für eine Familie mit vier Kindern bei etwa 1.200$ lag und die schließlich auch noch durch illegale kleinere Jobs aufgebessert werden konnte, mit der Folge, daß sich eine Schattenwirtschaft etablierte. „Die food stamps in Puerto Rico", so ein moderner Wirtschaftswissenschaftler, „füngierten als 'Rettungsaktion' für die gpsamte Wirtschaft des Commonwealth." Das Ergebnis war so etwas wie „eine pervertierte Form von 'food jAz/i^x-Wohlstand'", „eine Fassade von Wohlstand und eine Illusion von Wohlergehen".35 Überdies bewirkten die Sozialleistungen der Bundesbehörden, wie es eine andere Autorin formulierte, daß in Puerto Rico die Arbeitslosigkeit „institutionalisiert" wurde. 36 Und wer schließlich weder Arbeit fand, noch auf Unterstützung rechnen konnte, dem blieb weiterhin das „Ventil" der Abwanderung in die Vereinigten Staaten — bereits um 1976 lebten dort etwa 2,5 Millionen Puertoricaner37 - , zumal auch den qualifizierten Arbeitskräften durch die massive Zuwanderung von Exilkubanern, besonders stark im Bereich der Medien und der Werbung vertreten, Konkurrenz erwachsen war.38

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(Dietz 1992:318). 1985 stand Puerto Rico auf der Liste der Abnehmer USamerikanischer Produkte weltweit an fünfter Stelle (Femandez 1996:250); und ein geradezu absurdes Indiz für die Fehlentwicklung in der Produktionsplanung wie im Konsumverhalten ist die Tatsache, daß bereits 1963 91% der in Puerto Rico hergestellten Textilien in die USA exportiert, dagegen 87% der in Puerto Rico (zu höheren Preisen) gekauften Textilien aus den USA importiert wurden P i e t z 1992:291). Richard Weisskoff; in: Heine 1983:137. Maria Merrill-Ramirez; zitiert nach Dietz 1992:317. José Juan Beauchamp; in: Martinez Masdeu 1994:323. Unter den Immigranten stieg auch die Zahl der Dominikaner, die Schätzungen variieren zwischen 60.000 und 200.000. Viele waren bereits ab den 40er Jahren während der Diktatur Rafael Leonidas Trujillos nach Puerto Rico geflüchtet und hatten sich problemlos in ihre neue Heimat integriert. In neuerer Zeit aber sind unzählige Dominikaner, zumeist illegal als sogenannte boatpeople, ins Land gekommen, die unter den Puertoricanern eine beträchtliche Fremdenfeindlichkeit haben entstehen lassen, vergleichbar der Haltung der Dominikaner gegenüber den in ihrem eigenen Land lebenden Haitianern. Die Dominikaner halten sich in der Regel von den innenpolitischen Auseinandersetzungen fem. Die anti-castristischen Exilkubaner erfüllen dagegen mittlerweile die Rolle, welche im 19. Jahrhundert die aus den ehemaligen spanischen Kolonien nach Puerto Rico

97 Mit der fortschreitenden Krise des ELA-Status, bedrängt von den estadistas, die in Puerto Rico an Sympathie dazugewonnen und zu einer gleichberechtigten politischen Kraft herangereift waren, fühlten sich die Intellektuellen, vornehmlich independentistas, veranlaßt, nun auch auf der Ebene der sozio-ökonomischen wie der kulturellen Analyse das „Modell Puerto Rico" vehement zu hinterfragen. So entstanden eine Reihe wissenschaftlich fundierter Studien, die sich der offiziellen Vertuschungs- und Täuschungspolitik entgegenstellten, um mit Hilfe eindeutig belegbarer Daten und Fakten die Illusion des puertoricanischen „Wirtschaftswunders" zu entlarven und der von den Befürwortern des ELA-Status wie von den estadistas gleichermaßen genutzten „Sozialisation der Angst" dadurch entgegenzuwirken, daß sie Perspektiven aufzeigten, die auf eine autozentrierte wirtschaftliche Entwicklung abzielten, welche nach einer von den Vereinigten Staaten als Ausgleich für die jahrzehntelange Ausbeutung der puertorcanischen Ressourcen gerechterweise zu gewährenden Übergangszeit die Unabhängigkeit des Landes zu einer realistischen Option machen würde. Eine historisch fundierte Revision auch des puertoricanischen Kulturerbes unternahm José Luis ""González mit seinem Essay „El país de cuatro pisos" („Das Land der vier Stockwerke"), in dem er über die verschiedenen historischen Etappen hinweg die während der ersten drei Jahrhunderte der Kolonialzeit im wesentlichen von den schwarzen Sklaven geprägte „Kultur der Unterdrückten" von der „Kultur der Unterdrücker" unterschied, welche sich seit den Immigrationswellen des 19. Jahrhunderts über die US-amerikanische Invasion und den ersten Industrialisierungsschub der 40er Jahre bis heute zu einer hybriden, die „Modernisierung der dependenäa" reflektierenden kulturellen Ausdrucksform entwickelte. In der fiktionalen Literatur gaben sich die jüngeren Autoren in der Regel weit weniger aggressiv als ihre Vorgänger. Zwar verzichteten viele nicht auf die Darstellungsmittel des kritischen Realismus; doch bedienten sich andere wiederum der indirekten, über die Strategien der Parodie, Satire, Ironie oder Karikatur verfremdeten Kritik, die häufig — etwa im Romanschaffen von Luis Rafael Sánchez und in den Chroniken von Edgardo Rodríguez Juliá geflüchteten incondiäonales gegenüber der Kolonialmacht Spanien eingenommen hatten, indem sie gegenüber der neuen Kolonialmacht USA eine gleichermaßen kritiklose Politik verfolgen und vehement für die Option der estadidad eintreten. Ohne ihre etwa 20.000 Stimmen, so Raymond Carr (1984:264), wäre zumindest Romero Barcelö nicht an die Macht gelangt.

98 mit spielerisch und besonders in der Sprache originell verwobenen Elementen der „cultura popular" umgesetzt wurde. Auch hinsichtlich der Themen suchten die jüngeren Autoren neue Wege. Zwar stigmatisierten auch sie gelegentlich die durch das „Entwicklungsmodell Puerto Rico" keineswegs überwundenen Klassengegensätze oder die karikatureske Assimilierung insbesondere der oberen Mittelschichten an den American Way of Life-, doch die vor allem in den Erzählungen — ein in Puerto Rico bevorzugtes Genre — auftretenden Handlungsfiguren, nun nicht mehr Bewohner der Elendsviertel, sondern vorzugsweise der kleinbürgerlichen Vorstadtsiedlungen, werden - wie in „Etc." („Etc.") von Luis Rafael Sánchez — vorrangig in ihrer sinnentleerten, ritualisierten, obskuren Existenz geschildert. Bei einigen (wenigen) Autoren finden sich aber auch Ansätze, gerade jene Zeit des „Traumas" und des „Ubergangs" zu thematisieren, die im Jahre 1898 ihren Ausgang nahm: so etwa bei Rosario * Ferré in ihrem Kurzroman Maldito amor (Kristallzucker), in dem — über eine kunstvoll fragmentierte Erzählweise - der Widerstand eines die alte patriarchalische Ordnung repräsentierenden „Zuckerbarons" gegen die mit der militärischen Invasion vordringenden US-amerikanischen Kapitalgesellschaften geschildert wird; oder bei Edgardo * Rodríguez Juliá in seinem testimonio „El cruce de la bahía de Guánica" („Die Durchquerung der Bucht von Guánica"), in dem der Erzähler an den Ort der Invasion von 1898 zurückkehrt: dies nicht in der Absicht, des Geschehens zu gedenken, dann aber doch, gewissermaßen malgré lui, dazu verfuhrt, die selbst nach nahezu einem Jahrhundert spürbare kollektive Emotion einzufangen, welche nun aber als Zeichen der Impotenz und Perspektivlosigkeit entlarvt wird. Ebendiese Perspektivlosigkeit beherrschte auch das politische Panorama der 80er und 90er Jahre: eine allgegenwärtig spürbare Stagnation, in der die anhaltende Diskussion um den politischen Status die Parteien ihrer Dynamik beraubte und unter der Bevölkerung eine weit verbreitete Desillusionierung bewirkte. Der ELA-Status, den Muñoz Marín ursprünglich als Übergangslösung konzipiert, schließlich aber als die angemessenste Form einer dauerhaften Anbindung an die Vereinigten Staaten propagiert hatte und den zu „vollenden" nicht gelungen war, erschien einer zunehmenden Zahl von Puertoricanern als unbefriedigend, deklassierte er sie doch, auch wenn er ihnen finanzielle Vorteile verschaffte, zu US-Bürgern „zweiter Klasse". Immer häufiger wurde im Zusammenhang mit der Status-Frage von allen politischen Fraktionen in Puerto Rico der von US-amerikanischer Seite bis

99 dahin offiziell zurückgewiesene Vorwurf des „Kolonialismus" vorgebracht. Bereits 1975 konstatierte ein Angehöriger der puertoricanischen Mission in Washington, der bestehende Commonwealth- oder ELA-Status sei ein „unvollkommenes politisches System, mit dem praktisch alle Puertoricaner unglücklich sind... zu wenig greifbar und zu verworren, um verstanden zu werden", und — so fuhr er fort — stimme der Kongreß keiner Erweiterung zu, so werde Puerto Rico „in einem Schwebezustand ziellos dahintreiben".39 Doch bei allem guten Willen der Parteien, die anläßlich jeder Wahl das Versprechen gaben, bei einem eventuellen Sieg ein Referendum zur endgültigen Lösung der Status-Frage anzuberaumen, bewegte sich nichts. Denn der USamerikanische Kongreß blieb in seiner Haltung, Referenden nur als Meinungsumfragen zu werten und allenfalls als Ausdruck des politischen Willens der Puertoricaner zur Kenntnis zu nehmen, unflexibel und nicht geneigt, eine Änderung des politischen Status Puerto Ricos in die eine oder die andere Richtung zuzulassen. Die Unzufriedenheit mit dem status quo sollte sich für den seit 1984 wieder in der Opposition befindlichen Partido Nuevo Progresista anläßlich der Wahlen 1992 in einem erheblichen Stimmenzuwachs auszahlen. Mit ihrem Kandidaten für den Gouverneursposten Pedro Rosselló gewann die Partei mit 49% der abgegebenen Stimmen; und 1996 gelang es Rosselló sogar, seine Partei mit einem Stimmenanteil von rund 51% zu einem „historischen" Sieg zu führen — ein Ergebnis, das eine Journalistin der Tageszeitung El Nuevo Día mit Blick auf die einst von Muñoz Marín erzielten Ergebnisse zu dem (überzogenen) Kommentar verleitete: „Rosselló etablierte sich in der politischen Geschichte Puerto Ricos als echtes 'Phänomen', vergleichbar den erdrutschartigen Siegen Luis Muñoz Maríns in den 50er Jahren."40 Dem Partido Nuevo Progresista war es wiederum gelungen, ihre traditionelle Wählerschaft der einheimischen Großbourgeoisie und oberen Mittelschichten ebenso wie die Armen und Ärmsten zu mobilisieren, denen die Partei in Aussicht stellte, daß die estadidad den Puertoricanern, wie akribisch errechnet wurde, zusätzliche 6,5 Milliarden Dollar an Bundesgeldern einbringen würde.41 Ein weiterer sich zumindest psychologisch zugunsten der estadistas auswirkender Faktor war bei manchen Puertoricanern, selbst wenn sie die estadidad nicht wünschten, die beharrliche Weigerung des US-amerika39 Zitiert nach Carr 1984:95f. 40 El Nuevo Día vom 31. 12.1996, S. 4. 41 Fernandez 1996:261.

100 nischen Kongresses, ihnen diese zuzugestehen, was mit besonderem Groll registriert wurde, da Alaska und Hawaii mittlerweile längst als 49. und 50. Bundesstaat in die Union aufgenommen worden waren. 42 Doch wie sich herausstellte, waren die positiven Wahlergebnisse für den Partido Nuevo Progresista gewiß ein Indiz für den Zugewinn an Attraktivität der statehood-Lösung bei manchen Wählern, jedoch nicht unbedingt auch ein Indiz dafür, daß diejenigen, die den novoprogresistas ihre Stimme gaben, auch in jedem Fall die estadidad befürworteten. So erbrachte das am 14. November 1993 anberaumte Referendum - bei einer Beteiligung von nahezu 7 5 % der Stimmberechtigten — für die estadistas nur einen Stimmenanteil von 4 6 , 2 % (gegenüber 4 9 % bei den Wahlen 1992), während auf die Befürworter des ELA-Status 4 8 , 4 % und auf die independentistas 4 , 4 % entfielen. Und eine noch größere Differenz ergibt sich, vergleicht man den bei den Wahlen 1996 vom Partido Nuevo Prvgpesista errungenen Stimmenanteil von 5 1 % mit einer Umfrage des Fernsehsenders Telemundo, der wenige Monate zuvor bei einer repräsentativen Auswahl von Bürgern ausschließlich nach der Präferenz des politischen Status geforscht hatte: Nur 4 3 , 2 % der Befragten sprachen sich für die statehood-Lösung

aus, 4 5 , 2 % hingegen für die Beibehaltung

des ELA-Status und schließlich sogar 5 , 6 % für die Unabhängigkeit. 43 So vermag niemand vorauszusagen, wie das für 1998 in Aussicht gestellte Re42 Die Situation auf den Philippinen war eine gänzlich andere als auf Puerto Rico. Ihnen hatten die Vereinigten Staaten — auch zwecks Eindämmung der nach dem Ende des „Philippinisch-Amerikanischen Krieges" weiterhin bestehenden, 1936 sogar in einen blutigen Aufstand mündenden Unabhängigkeitsbewegung bereits 1935 den Commonivealtb-Stitds gewährt; und die Befürworter der Unabhängigkeit, die an der Regierung beteiligt waren, hatten bei der wirtschaftlichen Entwicklung des Archipels gezielt darauf hingearbeitet, daß die Philippinen auch als souveräner Staat überleben könnten. Nach der Besetzung durch die Japaner und deren Kapitulation im August 1945 wurden die Philippinen dann knapp ein Jahr später unabhängig. Guam, gleichermaßen im Gefolge des Krieges mit Spanien in US-amerikanischen Besitz gelangt und mittlerweile zu einem bedeutenden, ein Drittel des Inselterritoriums umfassenden Militärstützpunkt ausgebaut, wurde wie Puerto Rico zu einem unincorporated territoiy erklärt, dessen rund 150.000 Einwohner 1950 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erhielten und über eine beschränkte innere Autonomie verfügen, ohne daß ihnen jedoch bislang vom US-amerikanischen Kongreß der angestrebte CommonwealtbStatus gewährt wurde. 43 Latin American Regional Reports/Caribbean & Central America Report vom 3. 10. 1996, S. 8.

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ferendum, so es denn stattfindet, ausgehen wird: gewiß nicht zugunsten der independentistas, die, um die estadidad zu verhindern, möglicherweise für den status quo stimmen werden — auch wenn sie durchaus ihren Stimmenanteil erhöhen könnten, hatte doch bereits 1974 Samuel Halper, langjähriger Herausgeber des Time Magazine und enger Berater Präsident Carters, als sehr guter Kenner der puertoricanischen Wirklichkeit in seinem Bericht an den Präsidenten festgestellt, daß „unter den Puertoricanern eine starke, unbewußte, Neigung zur Unabhängigkeit vorhanden ist"44. Doch daß die völkerrechtliche Unabhängigkeit Puerto Ricos in der Form, wie sie den Puertoricanern von Repräsentanten der US-amerikanischen Administration gelegentlich - in wohlmeinender oder eher abschreckender Absicht — in Aussicht gestellt wurde, für ein Leben in angemessenem Wohlstand und Würde taugt, daran mögen nur wenige Puertoricaner glauben. Die im Vergleich zu anderen Ländern der Region eindrucksvollen wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren verdankt Puerto Rico nicht einer an den eigenen Ressourcen orientierten und auf die eigenen Bedürfnisse ausgerichteten autonomen wirtschaftlichen Entwicklung. Denn das „Wachstumsmodell" Puerto Rico, so ein moderner Politikwissenschaftler, wird — verständlicherweise, wie er betont — „unter dem Schlagwort 'Puertorikanisierung' mit der Vorstellung extrem abhängiger kapitalistischer Entwicklung auf Kosten der Lohnarbeiter und der nationalen Selbstbestimmung in den grundlegenden sozioökonomischen und politischen Fragen verbunden und dementsprechend stigmatisiert".45 Zwar wurde das Investitionsförderungsprogramm, insbesondere aufgrund des Rückgangs der Wachstumsraten und mit Blick auf die nunmehr dringend notwendige Förderung einer auf den einheimischen Markt gerichteten Entwicklung, einigen Reformen unterzogen, indem neuerlich eine importsubstituierende Industrialisierung angekurbelt und die Ausfuhr von Kapitalgewinnen mit Steuern belegt wurde. Doch halfen diese Maßnahmen nur wenig. Zum einen mangelt es den potentiellen einheimischen Investoren an Kapital ebenso wie an unternehmerischer Initiative, so daß der weitaus größte Teil des vor allem im industriellen Sektor investierten Kapitals, insgesamt etwa 90%, auch weiterhin aus den Vereinigten Staaten stammt. Zum andern konnte die Kapitalausfuhrsteuer von multinationalen Unternehmen ganz legal dadurch umgangen werden, daß die Summen nicht direkt in die 44 Zitiert nach Femandez 1996:233. 45 Dieter Nohlen; in: Nohlen/Nuscheler 1995:661.

102 Vereinigten Staaten transferiert, sondern über Guam, gleichermaßen von Bundessteuern befreit, umgeleitet wurden. Eine andere Neuerung wird nun allerdings die puertoricanische Wirtschaft in größerem Ausmaß tangieren: der vom US-amerikanischen Kongreß verfugte Wegfall der im Passus 936 der Bundessteuern- und Abgabenverordnung geregelten fiskalischen Vergünstigungen, die schließlich die Operaäoti Manos a la Obra erst ermöglicht hatten. Er läßt nunmehr den Industrialisierungsprozeß ins Stocken geraten, da bereits zahlreiche Fabriken, vor allem im Textilsektor, aber auch in der Elektronikindustrie, ihre Produktion in andere Länder der Region verlegt haben, die nicht nur mit Steuererleichterungen, sondern auch mit niedrigeren Löhnen werben. Die Regierung versucht, der schleichenden Rezession unter anderem durch die Förderung des Tourismus entgegenzuwirken; doch obgleich die Kapazitäten durch den Bau neuer Hotelkomplexe beträchtlich erhöht werden konnten, gelingt es kaum, neben den vorherrschenden kontinentalen US-amerikanischen Touristen neue, vor allem europäische Märkte zu erschließen, da die zum Teil exorbitanten Hotelpreise mit den Billigangeboten benachbarter Karibikstaaten nicht konkurrieren können. Auf dem Arbeitsmarkt sind die Auswirkungen der Krise bereits zu spüren: Nach Entlassungen auch im Kleinhandel, der sich nicht gegen die nach US-amerikanischem Vorbild errichteten gigantischen Supermärkte durchzusetzen vermag, sowie in der Administration insbesondere der hochverschuldeten Munizipien und schließlich auch infolge der Privatisierung von staatlich gelenkten Unternehmen, die sogar den Bereich der medizinischen Versorgung und - in den Vereinigten Staaten ein durchaus übliches Verfahren — die Einrichtungen des Strafvollzugs tangiert, stieg die Arbeitslosenquote nach offiziellen Angaben von Januar 1997 bis Januar 1998 von 12,6% auf 14,5%*. Und traditionell trifft die Arbeitslosigkeit mit besonderer Härte

46 ElNuevo Dia v o m 11. 3 . 1 9 9 8 , S. 4. Als Protest gegen die geplante, bzw. bereits eingeleitete Privatisierung der puertoricanischen Telefongesellschaft, die von Massenentlassungen begleitet sein wird, kam es Mitte Juni 1998 zu einem von mehreren Gewerkschaften organisierten Streik der Arbeiter und Angestellten, der unter der Bevölkerung einen so starken Rückhalt fand, daß es am 7. und 8. Juli (zum ersten Mal seit 1934) zu einem Generalstreik kam, der das Land nahezu paralysierte. Auffallend war, daß sich dieser Generalstreik jeder parteipolitischen Einflußnahme entzog und manche Beobachter von einer Art Bürgerrechtsbewegung sprechen,

103 die Jugendlichen47, die mittlerweile in großer Zahl in illegale Aktivitäten wie den Drogenhandel abgedrängt werden — San Juan ist heute (nach Angaben der US-amerikanischen Drogenbehörde DEA) mit der Einfuhr von geschätzten 8 bis 14 Tonnen Kokain monatlich48 nach Mexiko der zweitwichtigste Umschlagplatz für das in die Vereinigten Staaten gelangende kolumbianische Kokain. Die gewöhnliche Kriminalität, favorisiert durch den auch in Puerto Rico geltenden freien Zugang zu Feuerwaffen, die San Juan den zweifelhaften Ruf einbrachte, in den USA nach Washington die Stadt mit der höchsten Kriminalitätsrate zu sein, versucht man neuerdings zumindest in der (von Touristen besonders frequentierten) Altstadt von San Juan durch massiv verstärkten Polizeieinsatz einzudämmen. Die dem „Modell Puerto Rico" inhärenten Fehlentwicklungen hatten zur Folge, daß für das Land auch heute noch gilt, was Gordon K. Lewis bereits 1963 in einer griffigen, nach ihm von zahlreichen Sozialwissenschaftlern beständig wiederholten Formel feststellte und 1980 noch einmal betonte: „Es handelt sich um eine koloniale Wirtschaft, die produziert, was sie nicht konsumiert, und die konsumiert, was sie nicht produziert."49 Aufrechterhalten wird dieses System im wesendichen durch zwei Faktoren: durch die massive Abwanderung Arbeitsloser in die Vereinigten Staaten, für Lewis gleichermaßen Indiz einer klassischen Kolonie, „die ihre Waren importiert und ihre Menschen exportiert"50; und durch die exorbitanten Summen der Bundes-

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die den traditionellen Parteien möglicherweise eine neue politische Kraft entgegensetzen könnte. 1986 waren nach offizieller Statistik 21% der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos, eine Zahl, die aufgrund der weitverbreiteten Unterbeschäftigung das wahre Ausmaß des Problems nicht erfaßt. Unter den 20- bis 24jährigen lag der Prozentsatz bei 40, unter den 16- bis 19jährigen sogar bei 53 (Femandez 1996: 249). Gegenüber 1992 bedeuten diese Zahlen einen Anstieg von etwa 25%. Die insularen Behörden bezweifeln jedoch die von der DEA publizierten, nur ungenügend untermauerten Schätzungen ebenso wie die gleichermaßen ungenügend bewiesene Behauptung, daß über die gesamte Insel verteilt unzählige „Zellen" von Kolumbianern mit Unterstützung vor allem von Dominikanern das Drogengeschäft kontrollieren (EINuew Dia vom 17. 3.1998, S. 4). Gordon K. Lewis; in: Johnson 1980:VII. Ebd.: VI.

104 behörden — etwa 10 Milliarden Dollar jährlich 51 —, die zum Ausgleich der immens hohen öffentlichen Verschuldung 52 ebenso wie im Rahmen der verschiedenen Hilfsprogramme gezahlt werden, die allein 1975 mit 20% zum puertoricanischen Bruttosozialprodukt beitrugen 53 und die zu einem erheblichen Teil für die so gelobten Zuwachsraten des durchschnitdichen ProKopf-Einkommens der Puertoricaner verantwortlich sind, für die Entwicklung der einheimischen Wirtschaft aber ohne positive Auswirkungen blieben. Denn noch heute gilt, was im Zusammenhang mit den US-amerikanischen Hilfsleistungen im Rahmen des New Deal Präsident Roosevelts ein zeitgenössischer US-amerikanischer Sozialwissenschaftler feststellte: „die Hilfszahlungen der Bundesbehörden [...] waren im wesentlichen Almosen. Sie trugen nur wenig dazu bei, die Basis der Wirtschaft dauerhaft zu stärken oder die immanenten wirtschaftlichen Probleme zu lösen." 54 So sprechen auch jüngere Autoren für die Gegenwart von einem „Blendwerk wirtschaftlichen Reichtums" und für mindestens zwei Drittel der Bevölkerung von einem „trügerischen Wohlstand der cuponef"}s Die enormen Summen, mit denen die Vereinigten Staaten ihr „show window looking south" am Leben erhalten, waren nun aber im Kongreß mit der Zeit auch auf erheblichen Unmut gestoßen, und wie vor ihm schon Präsident Ronald Reagan war auch Bill Clinton auf die Idee verfallen, daß eine Kürzung der Zahlungen an Puerto Rico oder auch die Eliminierung des Passus 936 der Bundessteuern- und Abgabenverordnung hilfreich sein konnten, um das eigene Haushaltsdefizit zu reduzieren. Puerto Rico gänzlich aufzugeben, mag in den führenden politischen Kreisen der Vereinigten Staaten kaum jemand ernsthaft in Erwägung ziehen, erscheint die Insel doch aufgrund wirtschaftlicher wie militärischer Überlegungen - als „Faktorei und strategischer Brückenkopf' 5 6 — unverzichtbar. Doch wuchs im Kongreß wie 51 El San Juan Star vom 5. 3. 1998, S. 7. Bei einer Integration Puerto Ricos in die Vereinigten Staaten als 51. Bundesstaat wird allgemein mit zusätzlichen Summen von 3 bis 4 Milliarden Dollar gerechnet. 52 Nach neuesten offiziellen Angaben übersteigt die öffentliche Verschuldung 23,6 Milliarden Dollar; und das sind mehr als 6.335 Dollar für jeden der gegenwärtig 3.725.000 Einwohner Puerto Ricos (ElNuevo Dia vom 21. 2. 1998, S. 8). 53 Femandez 1996:231. 54 Harvey Pedoff; zitiert nach Dietz 1992:199. 55 Zitiert nach Dietz 1992:317, 319. 56 Maldonado-Denis 1980:157.

105 innerhalb der Regierung auch ein gewisses Unbehagen ob der Status-Frage. Denn es gilt ja weiterhin, was Senator Joseph B. Foraker im Jahre 1900 festgestellt hatte: „Puerto Rico gehört den Vereinigten Staaten, aber es ist nicht die Vereinigten Staaten und auch kein Teil der Vereinigten Staaten."57 Unter diesem Blickwinkel befand sich der Commonwealth-Status eindeutig im Konflikt mit der US-amerikanischen Verfassung, und Zbigniew Brzezinski, ein enger Berater Präsident Carters, der bereits 1977 den Verdacht geäußert hatte, daß „der frei assoziierte Staat genaugenommen ein Widerspruch in sich sein könnte", führte in einem Memorandum aus: [...] aus US-amerikanischer Perspektive mögen Puerto Ricos freie Wahlen auf eine unabhängige Demokratie hindeuten; aus der Perspektive seiner karibischen Nachbarn oder anderer, erst seit jüngster Zeit unabhängiger kleiner Entwicklungsländer erscheint die besondere Beziehung Puerto Ricos zu den USA hingegen ohne jeden Zweifel als eine besondere Spielart des Neokolonialismus.58 So war es nur konsequent, daß der republikanische Abgeordnete Don Young aus Alaska bei dem von ihm eingebrachten Projekt eines für 1998 geplanten Referendums zur Status-Frage in seiner ersten Fassung die Option des Commonwealth zunächst ausschloß - eine Vorentscheidung, die nach vehementem Protest von puertoricanischer Seite jedoch zurückgenommen wurde, so daß bei der dem Repräsentantenhaus dann schließlich zur Abstimmung präsentierten Gesetzesvorlage 856, dem „Puerto Rico Political Status Act", wieder die traditionellen drei Optionen - ELA-Status, statehood und Unabhängigkeit - zur Diskussion standen. Das Projekt Don Youngs stellte in mancherlei Hinsicht eine Neuerung dar. Zum einen wurde zum ersten Mal in der 100-jährigen Geschichte der Beziehungen zwischen Puerto Rico und den Vereinigten Staaten die Initiative zu einem Referendum von diesen selbst ergriffen und in Aussicht gestellt, daß das Ergebnis nicht nur (wie noch 1967 und 1993) als Meinungsumfrage gewertet, sondern vom US-amerikanischen Kongreß wie vom Präsidenten zwar nicht zwingend, wohl aber dem allseits artikulierten politischen Willen entsprechend, abgesegnet werden würde. Zum andern provozierte es im Vorfeld der Abstimmung in den Vereinigten Staaten eine öffentliche Diskussion, in der sich die führenden Politiker unter den Republikanern wie unter den Demokraten, allen voran Präsident Clinton 57 Zitiert nach Femandez 1996:2. 58 Ebd.:243.

106 selbst, offen für die Akzeptanz der statehood-Lösung, so die Puertoricaner sie mehrheitlich wünschen sollten, aussprachen und sich zugleich offen zu dem bekannten, was Fidel Castro über Jahrzehnte vergeblich im Entkolonisierungsausschuß der Vereinten Nationen zu erreichen gesucht hatte: das Eingeständnis einer kolonialen Politik gegenüber Puerto Rico auch unter dem ELA-Status oder, wie es der Speaker des Repräsentantenhauses, Newt Gingrich, zwecks Unterstützung der statehood-Lösung formulierte: „Eine Kolonie aufrechtzuerhalten ist im 21. Jahrhundert eine sehr gefährliche Vorstellung."59 Die im Repräsentantenhaus am 4. März 1998 über weit mehr als 10 Stunden von den exponierten Befürwortern und Gegnern des Projekts - vor einem nahezu leeren Haus 60 — hitzig geführte Debatte mündete in ein gänzlich überraschendes Ergebnis. Zwar wurde die Gesetzesvorlage entsprechend den allseits geschürten Erwartungen angenommen, dies jedoch nur mit einer Stimme Vorsprung 209 Abgeordnete stimmten dafür, 208 dagegen. 61 Der endgültigen Entscheidung vorausgegangen waren Abstimmungen über zahlreiche Änderungsanträge, die deudich machten, daß die Debatte 59 Zitiert nach ElNuevo Dia vom 12. 3. 1998, S. 34. 60 Das offen demonstrierte Desinteresse der Mehrheit der Abgeordneten im Repräsentantenhaus, die allenfalls zu den Abstimmungen erschienen, entspricht durchaus einem in den Vereinigten Staaten weit verbreiteten Desinteresse an Puerto Rico und den Puertoricanem. Zudem befürworten nach einer jüngst veröffentlichten Meinungsumfrage des angesehenen Gallup-Instituts nur 30% der (kontinentalen) US-Amerikaner die Eingliederung Puerto Ricos als 51. Bundesstaat der Union (ElNuevo Dia vom 17. 3. 1998, S. 53). Dasselbe Desinteresse bewiesen auch die Puertoricaner selbst, die, teils aus Indifferenz, teils auch aus Unsicherheit und Unkenntnis dessen, was die Gesetzesvorlage Don Youngs beinhaltete, der in Puerto Rico über mehrere Femsehkanäle in voller Länge ausgestrahlten Debatte kaum Beachtung schenkten. Und nach einer Blitzumfrage der Zeitung El Nuevo Dia vom 4. 3. (S. 7) sprachen sich nur 33% für das zur Diskussion stehende Referendum, aber 35% dagegen aus; 33% der Befragten äußerten, hierzu keine Meinung zu haben. 61 Fast wäre das Projekt noch in letzter Minute gescheitert, da knapp vor Ablauf der Abstimmungsfrist ein demokratischer Abgeordneter aus North Dakota die eingetretene Patt-Situation zu retten suchte, indem er mit der Abgabe seiner roten Karte gegen die Gesetzesvorlage stimmte, sich dann aber, massiv bedrängt von den Befürwortern des Projekts, dazu bewegen ließ, seine rote gegen seine grüne Karte auszutauschen, wodurch allein seine — wohl kaum einer fundierten Überzeugung entsprechende — Stimme den Ausschlag gab.

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i m wesentlichen u m die staiehood-hösung

kreiste: jene O p t i o n , die in der G e -

setzesvorlage, s o der berechtigte V o r w u r f d e s weiterhin d e n E L A - S t a t u s vertretenden u n d mit einem B o y k o t t des R e f e r e n d u m s d r o h e n d e n Parüdo

Populär Democrätico, eindeutig favorisiert w u r d e . 6 2 H i e r erwies sich der v o n d e m republikanischen A b g e o r d n e t e n aus N e w Y o r k G e r a l d S o l o m o n eingebrachte Ä n d e r u n g s a n t r a g als b e s o n d e r s brisant. E r beinhaltete, d a ß in Z u k u n f t für die g e s a m t e n Vereinigten Staaten v o n A m e r i k a u n d s o m i t auch für P u e r t o R i c o die englische S p r a c h e als alleinige A m t s s p r a c h e gelten sollte — ein A n t r a g , der mit großer Mehrheit abgeschmettert w u r d e , d a d a s Prinzip 62 So wird in der Gesetzesvodage der Estado Ulm Asociado, an dessen Definition außer D o n Young vor allem Befürworter der estadidad wie der Comisionado Residente Romero Barcelö, aber auch Vertreter des Weißen Hauses beteiligt waren, so eindeutig als kolonialer Status disqualifiziert, daß während der Debatte keiner der Abgeordneten für ihn einzutreten wagte. Dabei wird in der Vorlage Bezug genommen auf die 1960 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete Resolution 1541, von den Vereinigten Staaten über Jahrzehnte beharrlich ignoriert, in der es heißt, daß für die anzustrebende vollkommene Selbstverwaltung von Territorien nur drei Möglichkeiten gegeben sind: „die nationale Unabhängigkeit, die freie Assoziation auf der Basis der getrennten Souveränität oder die auf dem Prinzip der Gleichheit basierende vollständige Integration in eine andere Nation". Die Verfassung des Estado Libre Asociado aber „bestimmte die Struktur für die verfassungsmäßige Verwaltung im Bereich der internen Angelegenheiten, ohne jedoch die fundamentale politische, soziale und wirtschaftliche Beziehung zu den Vereinigten Staaten zu verändern und ohne die Autorität des Kongresses entsprechend der Territorialklausel zu beschränken, die eine Anwendung der Bundesgesetze auf Puerto Rico zuläßt [...] D e r Estado Libre Asociado bleibt ein nicht inkorporiertes Territorium und besitzt nicht den Status der 'freien Assoziation' mit den Vereinigten Staaten, wie dieser entsprechend dem Gesetz der Vereinigten Staaten oder der internationalen Praxis definiert ist." Und wie sehr die Gesetzesvodage D o n Youngs — ein Jahrhundert nach der Vereinnahmung Puerto Ricos als US-amerikanische Kolonie — von kolonialer Praxis abzurücken sucht, zeigt sich überdies darin, daß ein Passus enthalten ist, in dem festgehalten wird, daß mindestens alle 10 Jahre ein neuerliches Referendum anberaumt werden muß, bis sich die Puertoricaner für die statehood-Lösung oder die „getrennte Souveränität" entschieden haben, wobei allerdings unter Verweis auf die 4,4%, welche die Option der Unabhängigkeit anläßlich des Referendums von 1993 erhielt, deutlich gemacht wird, daß die U S A nicht Gefahr laufen, selbst über das mit der Gesetzesvodage demonstrierte Entgegenkommen ihre Besitzung zu verlieren. (Zitiert wurde aus der spanischen Fassung der Gesetzesvodage, abgedruckt als Sonderbeilage in: El Nuevo Dia vom 4. 3. 1998.)

108 des „English only", vom Senat wie von Präsident Clinton abgelehnt, gewissermaßen als Garantie dafür galt, daß das Projekt im Senat scheitern würde und in Puerto Rico selbst so mancher Befürworter der estadidad unter der Bedingung des „English only" dieser seine Stimme verweigern würde.63 Warum nun das Projekt Don Youngs mit einer so unerwartet knappen Mehrheit verabschiedet wurde, mag mit verschiedenen Faktoren zusammenhängen. Spätestens seit dem Amtsantritt des Gouverneurs Pedro Rosselló, der weit aggressiver als seine gleichermaßen die estadidad anstrebenden Amtsvorgänger in die amerikanische Union drängt, haben sich die Beziehungen der puertoricanischen Parteien zu den US-amerikanischen Parteien gewandelt. Rosselló suchte die Unterstützung der Demokraten - er ist, selber Demokrat, gegenwärtig Vorsitzender der Vereinigung der US-amerikanischen demokratischen Gouverneure — und verlor damit die Fürsprache der Mehrheit der Republikaner, die seit Jahrzehnten, besonders unter den Präsidenten Ronald Reagan und George Bush, die puertoricanischen estadistas protegiert hatten. Und so war es denn doch nicht verwunderlich, daß im Repräsentantenhaus 165 Demokraten für und 31 gegen das Projekt Don Youngs stimmten, wogegen 177 gegen 43 Republikaner diesem, obgleich von einem Republikaner eingebracht, die Zustimmung versagten. Hinzu kommt als weiterer Faktor, der das Stimmverhalten der in der Debatte weniger exponierten, vor allem republikanischen Abgeordneten be63 In der Verfassung der Vereinigten Staaten ist keine für alle Bundesstaaten verbindliche Regelung hinsichtlich der Amtssprache enthalten. 1996 hatte das Repräsentantenhaus mit überwältigender Mehrheit das „English only" für alle Bundesstaaten beschlossen, doch war die Entscheidung vom Senat nicht bestätigt worden. Der nunmehr vom Repräsentantenhaus verabschiedete Gesetzentwurf sieht vor, daß der Englisch-Unterricht in Puerto Rico künftig intensiven: werden soll mit der Zielvorgabe, daß bis zum Ablauf der für die estadidad anvisierten Übergangszeit von 10 Jahren jedes Kind bis zum 10. Lebensjahr das Englische vollständig beherrscht. Wie von den oppositionellen populäres betont und moniert wurde, bedeutet diese Zielvorgabe, will man sie denn erreichen, daß das Englische in den öffentlichen Schulen zumindest in ausgewählten Fächern zur Unterrichtssprache avanciert, womit die einst von den Vereinigten Staaten verfolgte Politik der „Amerikanisierung" und Assimilierung gewissermaßen eine Neuauflage erfährt - was den Vorsitzenden des Partido Populär Democrdtico, Anibal Acevedo Vila, nach der Abstimmung im Repräsentantenhaus zu der kategorischen Feststellung bewog, daß bereits mit der Verabschiedung der Gesetzesvorlage Don Youngs die von den novoprognsistas proklamierte „estadidad jibara" „gestorben ist" (zitiert nach ElNuevo Dia vom 5. 3. 1998, S. 8).

109 einflußt haben mag, die Tatsache, daß mit der Aufnahme Puerto Ricos in die Union ein Bundesstaat entstehen würde, dessen Amtssprache (neben dem Englischen) das Spanische ist, was etwa Florida oder Bundesstaaten im Südwesten der USA, wo das Spanische zumindest als Verkehrssprache gleichermaßen dominiert, als Präzedenzfall nutzen könnten. Damit wird die Furcht vor einer extremen „Überfremdung" geschürt, denn die in den Vereinigten Staaten ansässigpn Hispanics werden bereits in naher Zukunft die Zahl von 30 Millionen erreichen, um in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts nach den Schwarzen die bedeutendste Minderheit in den USA zu bilden und, so die Voraussagen, im Jahre 2050 ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung der Vereinigten Staaten von heute 1 1 % auf 2 4 % erhöhen — gegenüber einer gleichzeitig zu erwartenden Abnahme der weißen Bevölkerung nicht hispanischer Herkunft von heute 7 3 % auf 5 3 % . 6 4 Die angloamerikanische Elite, personifiziert in den WASP's (White Anglo-Saxon Protestants), die - entgegen dem ursprünglichen Konzept vom melting pot - die US-amerikanische Gesellschaft vorzugsweise durch die Assimilierung des Fremden an das Eigene zu gestalten sucht, sieht zweifelsohne eine Bedrohung der kulturellen Einheit der Vereinigten Staaten — auch wenn Bill Clinton öffentlich erklärte, die Vereinigten Staaten seien nun einmal „eine Nation mit einer immer größer werdenden Vielfalt" und er halte es für „ungerecht", die hispanoamerikanische Kulturtradition der Puertoricaner zum Anlaß zu nehmen, „ihnen das Wahlrecht oder die Übernahme von Verantwortung in unserem Land zu verweigern". 65 Schließlich befürchten die Republikaner, daß die statehood-Lösung für Puerto Rico den Demokraten, von den in den

64 The World Almanac and Book oJFaäs 1998 (1997:376f.). 65 Zitiert nach El Nuevo Dia vom 4. 3. 1998, Sonderbeilage, S. 7. Die diesbezüglichen Äußerungen Clintons, vorgetragen auf der jährlich zwecks Anwerbung von Wahlkampfgeldem veranstalteten und in diesem Jahr von dem Gouverneur Puerto Ricos präsidierten Gala der Vereinigung demokratischer Gouverneure, wurden von zahlreichen Kommentatoren als unzulässige Einmischung in ein noch schwebendes Verfahren gewertet; und es wurde die Vermutung geäußert, daß die massiv vorgetragene Unterstützung des Projekts von Don Young und der statehood-Lösung für Puerto Rico nicht nur mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen gezielt an die Hispanics gerichtet waren, sondern daß Clinton sich von dem Scheck in Höhe von 2,8 Millionen Dollar beeinflussen ließ, den Pedro Rossellö ihm an diesem Abend als Parteispende überreichte (El Nuevo Dia vom 24. 2. 1998, S. 8).

110 USA stimmberechtigten Puertoricanern mehrheitlich gewählt66, einen weiteren, die Positionen der Republikaner stark gefährdenden Stimmenzuwachs bringen könnte. Mit den einem Bundesstaat Puerto Rico zustehenden sechs Abgeordneten und zwei Senatoren würde der Einfluß der bereits starken Fraktion der Hispanics im Kongreß sicherlich weiter zunehmen. 1993 hatte der Comisionado Residente und vormalige Gouverneur Puerto Ricos, Carlos Romero Barcelö, der durch sein engagiertes lobbying zur Verabschiedung der Gesetzesvorlage Don Youngs im Repräsentantenhaus entscheidend beitrug, vor dem Committee on Foreign Affairs des US-amerikanischen Repräsentantenhauses erklärt: „Dem Wortlaut der Verfassung nach, entsprechend dem Standpunkt der USA, ist [Puerto Rico] ein Territorium. Vom internationalen Standpunkt aus ist es eine Kolonie. Aber für mich ist das ein und dasselbe. Territorium oder Kolonie, wo, zum Teufel, liegt da der Unterschied." 67 Diese leicht zynisch anmutende Äußerung des estadista Romero Barcelö, einziger amtlicher Repräsentant Puerto Ricos im USamerikanischen Kongreß, mochte die Mehrheit der Puertoricaner nicht sonderlich berühren, entsprach sie doch durchaus der Realität und dem Bewußtsein vieler, daß Puerto Rico sich auch unter dem ELA-Status als unincorporated territory in einem territorialen Niemandsland befindet und jene wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Deformationen aufweist, die für eine kolonisierte Gesellschaft charakteristisch sind. Als aber derselbe Romero Barcelö während der Diskussion um das Projekt Don Youngs im Repräsentantenhaus — in dem Bemühen, ebenjene zu beschwichtigen, die aufgrund der spanischen Sprache und der hispanoamerikanisch geprägten Kultur Puerto Ricos die staatehood-Lösung als Gefährdung der dominant angelsächsisch geprägten nationalen Identität der Vereinigten Staaten erachten - nicht nur fälschlicherweise angab, 80% der Puertoricaner seien des Englischen mächtig, sondern sich noch dazu hinreißen ließ zu behaupten, „Puerto Rico ist keine Nation, sondern eine Community**' - und das heißt: 66 So votierten von den 5 Millionen Hispanics, die bei den Wahlen 1996 ihre Stimme abgaben, bei den Präsidentschaftswahlen 72% fiir den Demokraten Clinton und bei den Wahlen für das Repräsentantenhaus nur 26% für die Republikaner (EI San Juan Star vom 14. 3.1998). 67 Zitiert nach Femandez 1996:229. 68 Zitiert nach ElNuevo Dia vom 5. 3. 1998, S. 6. Kurioserweise war es dann ausgerechnet Gerald Solomon, der — in dem Bemühen, über die Forderung des „English only" das Projekt zu Fall zu bringen - den Charakter Puerto Ricos als

111 eine Community von US-amerikanischen Staatsbürgern, die (zufällig) in Puerto Rico ansässig sind - , da traf er das Selbstverständnis der Puertoricaner in einer Weise, die er wohl kaum bedacht hatte und die ihn eilig dazu bewog, seine Aussage dadurch zu entschärfen, daß er, enigmatisch, zugab, Puerto Rico sei immerhin doch „soziologisch" eine Nation. Puerto Rico ist ohne jeden Zweifel eine Nation, keine völkerrechtlich unabhängige Staatsnation, sondern eine naäön colonia, der es - trotz massiver Anstrengungen seitens der Vereinigten Staaten, mit jenem dem Kolonialismus eigenen Missionseifer die als unterlegen erachteten Lebensformen des Kolonisierten den Lebensformen des Kolonisators anzupassen - gelungen ist, die im 19. Jahrhundert bereits in Ansätzen herausgebildeten Äußerungsformen einer nationalen Identität weiterzuentwickeln und zu einem authentischen Ausdruck nationaler Lebensweise und Kultur zu gelangen. Gewiß: Insbesondere in Kreisen der Großbourgeoisie und der Mittelschichten hat im Konsumverhalten ebenso wie in der Freizeitgestaltung eine starke Assimilierung an den (weltweit verbreiteten) American Way of Life stattgefunden, angeregt und gefördert durch den erzwungenen Warenimport, das US-amerikanische Monopol in den Massenmedien und schließlich auch durch den Einfluß derer, die nach einem längeren Aufenthalt in den Vereinigten Staaten auf die Insel zurückkehren, sich, da von ihren Wurzeln entfremdet, nur mühsam zurechtfinden und die möglicherweise mangelnde Akzeptanz und Anerkennung durch Verhaltensweisen zu kompensieren suchen, die sie als Prototyp des pitiyanqui, des schon in grotesken Ausmaßen assimilierten oder kolonisierten Subjekts, zum beliebten Opfer des kollektiven Spotts werden lassen. Doch Puerto Rico ist eine dominant hispanoamerikanisch geprägte Kulturnation, auch wenn es nicht unbedingt leicht fiel (und fällt), die Fundamente dieser kollektiv erfahrenen kulturellen Identität zu bestimmen. Nationsbildungsprozesse speisen sich aus den verschiedensten Faktoren, und Vorstellungen nationaler Identität sind in der Regel (möglicherweise interessensbedingte) Entwürfe von (möglicherweise wechselnden) Machtund/oder Werteeliten und damit auch im Zusammenhang mit deren politischer und sozialer Praxis zu beurteilen. Eine aus dem europäischen 19. Jahrhundert überlieferte Sentenz benennt in ironisch distanzierter Formulierung zwei Momente, die nationsbildend wirken können (und häufig auch in Nation hervorhob: „Puerto Rico ist eine Nation. Sie ist einzigartig und hat das Recht, ihre Kultur und ihre Sprache zu bewahren." (Ebd.).

112 diese Richtung gewirkt haben): „Eine Nation ist eine Gruppe von Menschen, die durch einen gemeinsamen Irrtum hinsichtlich ihrer Abstammung und eine gemeinsame Abneigung gegen ihre Nachbarn geeint ist!"69 Der erstgenannte Faktor, die Frage der gemeinsamen Abstammung, die noch während der 30er Jahre dieses Jahrhunderts in dem ausschließlichen Rückbezug auf das spanische Erbe apostrophiert wurde und damit den schwarzafrikanischen Beitrag zur puertorriqueñidad ignorierte, mochte lange Zeit als „gemeinsamer Irrtum" für eine vorwiegend weiße Elite identitätsbildende Funktion haben. Doch spätestens seit den Essays von Tomás Blanco und José Luis González ebenso wie den fiktionalen Werken und Chroniken von Luis Palés Matos, Luis Rafael Sánchez und Edgardo Rodríguez Juliá hat der Beitrag der Afro-Amerikaner zur Herausbildung der puertoricanischen personalidad eine angemessene Würdigung erfahren, so daß heute, auch bei einer Betonung der zweifellos existierenden Dominanz des spanischen Erbes, dieser „Irrtum" als überwunden gelten kann. Der zweite als nationsbildend genannte Faktor, die gemeinsame Abneigung gegen den Nachbarn, ist für Puerto Rico eine überaus problematische Größe, war doch der „Nachbar" über fünf Jahrhunderte eine Kolonialmacht: zunächst die Metropole Spanien, der man sich kulturell verpflichtet fühlte und trotz Unzufriedenheit und Drang nach Autonomie stets als loyal erwies; sodann die Vereinigten Staaten, denen gegenüber man sich zwar kulturell als „anders", ja sogar als überlegen empfand, jedoch in der Regel zunächst keinesfalls eine „Abneigung" entwickelte, war man doch bemüht, in den Genuß gerade jener Errungenschaften — Demokratie und materieller Fortschritt — zu gelangen, für die ja die Vereinigten Staaten als Paradigma galten und für deren Durchsetzung eine „Abneigung" gegenüber der Macht, die diese allein gewährleisten konnte, auch wenn man ihr gegenüber zumindest kulturelle Eigenständigkeit zu demonstrieren suchte, nicht nur unangemessen, sondern auch ausgesprochen kontraproduktiv gewesen wäre. Für den Nationsbildungsprozeß mag nun aber auch die gemeinsame Geschichte - als „Lehrmeisterin" der Nation - wirksam werden, ja sogar unverzichtbar sein. Die stärksten Beweggründe für das „Empfinden eines Nationalgefühls", so bereits John Stuart Mill in seinen Considerations on Repräsentative Government (1861), sind „die Identität politischer Geschehnisse in der Vergangenheit; der Besitz einer nationalen Geschichte und die sich daraus ergebende Gemeinsamkeit der Erinnerungen; das kollektive Empfinden von 69 Zitiert nach Deutsch 1972:9.

113 Stolz und Demütigung, Freud und Leid, verknüpft mit denselben Ereignissen der Vergangenheit". 70 Doch die Geschichte Puerto Ricos, die gewiß bedeutende Staatsmänner und Intellektuelle hervorgebracht hat, ist arm an Persönlichkeiten und Ereignissen, die ebenjenen Stolz begründen könnten, der sich für alle Puertoricaner in einer Identifikationskette kollektiver Erfolgserlebnisse und heroischer Leitfiguren kristallisieren mochte. Wohl lassen sich im kulturellen Gedächtnis gespeicherte diesbezügliche Sinnzusammenhänge durch Symbole wie die einsternige Fahne und die Hymne „La Borinquena" aktualisieren. Doch ist nicht davon auszugehen, daß die Mehrheit der Puertoricaner mit der einsternigen Fahne dieselben Sinnzusammenhänge verknüpft, die zu ihrer Erschaffung geführt haben; und die als Hymne auf den „Grito de Lares" verfaßten Verse der „Borinquena" sind in ihrer aktuellen Version ihrer ursprünglichen politisch-revolutionären Botschaft gänzlich entkleidet. 71 70 Mill 1977:546. 71 „La Borinqueña" erlangte im 19. Jahrhundert zunächst als Tanzlied mit romantischen Liebesversen große Popularität. Wie berichtet wird, gefiel die Melodie der berühmtesten puertoricanischen Dichterin des 19. Jahrhunderts, Lola Rodríguez de Tió, die aufgrund aufrührerischer Aktivitäten von der spanischen Kolonialmacht vielfach verfolgt und ins Exil gezwungen wurde, und sie beschloß, das Tanzlied zu einer revolutionären Hymne umzuschreiben. Hier einige Auszüge: „Erwache, Borinqueño, / denn gegeben ist das Signal! / Erwache aus deinem Schlaf, / denn gekommen ist die Zeit zu kämpfen. [...] Fürchtet euch nicht, riqueños, / vor dem Donnern der Kanonen; / denn das Vatedand zu retten / ist des Herzens Pflicht. / Wir wollen keine Despoten mehr! / Der Tyrann soll endlich fallen! / Auch die unzähmbaren Frauen / werden zu kämpfen wissen. / Wir wollen die Freiheit, / und unsere Machete wird sie uns geben. / Machen wir uns endlich auf, borinqueños, / denn es erwartet uns / sehnsüchtig die Freiheit, die Freiheit ..." Nach 1898 fühlten sich die führenden politischen Kreise verpflichtet, dem mittlerweile als heimliche Nationalhymne allgemein anerkannten Lied einen neuen, den veränderten Umständen angepaßten und somit gänzlich unpolitischen Text zu verschreiben. Diese bis heute gültigen Verse verfaßte Manuel Fernández Juncos, Journalist, Literat und als Politiker Vertreter des autonomismo\ hier zum Vergleich seine nun wahrlich politisch unverdächtige, die Schönheit Puerto Ricos zudem in einem nur blassen Reflex einfangende Version: „Das Land von Borinquen, / in dem ich geboren bin, / ist ein blühender Garten / von magischer Schönheit. // Ein stets klarer Himmel / dient ihm als Baldachin, / und sanft wiegen sich / die Wellen zu seinen Füßen. // Als Kolumbus an seine Ufer kam, / rief er voll der Bewunderung: / Oh, oh, oh! Dies ist das schöne / Land, das ich suche. // Borinquen ist die Tochter, die

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Bleibt schließlich als zentrales, die puertoricanische Nation in ihrer spezifischen Ausprägung kennzeichnendes Moment die Kultur: Kultur, wie sie sich in allen Handlungsbereichen menschlicher Tätigkeit, im individuellen Lebensentwurf ebenso wie in der sozialen Interaktion, sinnstiftend und handlungsorientierend offenbart. Hier hat nach puertoricanischem Verständnis die spanische Sprache die Bedeutung eines zentralen Identitätszeichens angenommen; und sie wird gewiß auch deshalb so vehement und kompromißlos verteidigt, weil sie in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts von der US-amerikanischen Administration mit drastischen Mitteln unterdrückt wurde und heute auf subtileren Wegen, etwa über die Werbung oder über die Ausstrahlung nicht spanisch synchronisierter US-amerikanischer Filme und Fernsehserien, zwar nicht verdrängt, wohl aber korrumpiert zu werden droht. Seit Beginn der „Amerikanisierungs"-Kampagne waren sich nahezu alle Intellektuellen und politischen Fraktionen darin einig, daß die englische Sprache zwar gefördert und neben dem Spanischen durchaus als zweite Amtssprache akzeptiert werden sollte, daß sie aber keinesfalls, wie auf den Philippinen und auf Hawaii geschehen 72 , die eigene Sprache verdrängen durfte, denn schließlich war diese genuiner Ausdruck der kollektiven kulturellen Identität, die aufzugeben nur wenige bereit waren. Der „Sprachenstreit", insbesondere der auch noch nach Einsetzung des ELA-Status mehrfach unternommene Versuch der US-amerikanischen Administration, etwa bei Gerichtsverfahren nur das Englische als Verhandlungssprache zuzulassen, sorgte regelmäßig für Protest; und auch das Bemühen, die Puertoricaner zur Zweisprachigkeit zu erziehen, scheiterte an dem Mangel an Möglichkeiten und an dem Mangel an Bereitschaft, auch wenn der gelegentliche Einsatz des Englischen in bestimmten Situationen mit sozialem Prestige behaftet ist. 73 Der in der breiteren Öffentlichkeit, besonders aber in den öfTochter / des Meeres und der Sonne, des Meeres und der Sonne ..." (zitiert nach Los símbolos ofiäales de Puerto Rico 1996:14,13). 72 Hier wurde die Durchsetzung des Englischen als alleinige Amts- und Verkehrssprache dadurch begünstigt, daß sie angesichts der vorherrschenden Sprachenvielfalt als „lingua franca" eingesetzt werden konnte. 73 Die angestrebte Zweisprachigkeit erreichen allenfalls jene, die teure Privatschulen besuchen können, wo die Unterrichtssprache in der Regel Englisch ist, oder diejenigen, die sich in den Vereinigten Staaten — zweifellos eine Minderheit — über einen längeren Zeitraum in einem englischsprachigen Milieu bewegen und akzeptiert werden. Bei der letzten Volkszählung 1990 gaben 24% der auf der

115 fentlichen Schulen ausgetragene „Sprachenstreit" bestärkte die Puertoricaner — zumindest jene, die nicht zu der kleinen Schicht der Intellektuellen, Anwälte, Unternehmer oder leitenden Angestellten US-amerikanischer Firmen gehören — in ihrer Haltung, die spanische Sprache, auch wenn sie die estadidad anstreben, als „non-negociable issue", als nicht zur Disposition stehenden identitätsstiftenden Faktor, zu verteidigen. Einen Höhepunkt erreichte die Kontroverse, als der mit dem Partido Popular Democrático regierende Gouverneur Rafael Hernández Colón am 5. April 1991 ein mit Unterstützung der independentistas im insularen Parlament durchgebrachtes Gesetz verkündete, das den seit 1902 geltenden Status des Englischen als zweite Amtssprache aufhob und nunmehr das Spanische zur alleinigen Amtssprache Puerto Ricos erklärte, um, wie es hieß, „einen Anachronismus abzuschaffen und unseren historischen Charakter als spanisch sprechendes Volk ausdrücklich zu bestätigen" 74 . In einem im Fernsehen landesweit ausgestrahlten Festakt wurde das Gesetz - in Gegenwart unzähliger hochrangiger spanischer und lateinamerikanischer Vertreter von Politik und Kultur — feierlich unterzeichnet, und Hernández Colón betonte abermals: „Mit der Unterzeichnung dieses Gesetzes bekräftigen wir noch einmal ausdrücklich unseren Willen, als Land eine eigene Persönlichkeit zu besitzen. Wir erklären unsere Muttersprache zu unserem kostbarsten Identitätszeichen." 75 Die Anerkennung von spanischer Seite erfolgte prompt. Am 19. April wurde unter dem Beifall der gesamten hispanoamerikanischen Welt dem „puertoricanischen Volk" für seine „vorbildliche Entscheidung" der sonst nur herausragenden Schriftstellern vorbehaltene prestigeträchtige Literaturpreis „Principe de Asturias" verliehen: wie in der Urkunde ausdrücklich vermerkt, „einstimmig und im ersten Wahlgang, ein nie dagewesener Fall in der Geschichte dieses Preises". 76

Insel lebenden Puertoricaner an, das Englische nur mit einiger Mühe zu sprechen, 52% aber sagten aus, über keinerlei Englischkenntnisse zu verfügen (Morris 1995:59). Diese Situation hat sich, hält man sich an die im Zusammenhang mit der Diskussion des Projekts von Don Young gemachten emstzunehmenden Angaben, kaum wesentlich geändert. 74 Estado Libre Asociado 1991:1. Ausgenommen blieben die Sitzungen der Bundesgerichte in Puerto Rico, wo auch weiterhin das Englische als Amtssprache zugelassen war. 75 Hemändez Colon 1991. 76 Zitiert nach EiPaisvom 20. 4.1991, S. 25.

116 Hernández Colón betonte sehr wohl, daß das neue Gesetz nicht als politische Entscheidung und mit Blick auf eine endgültige Klärung der StatusFrage nicht als Präjudiz gegen die estadidad zu werten sei, und verwies auf den Text des Gesetzes, in dem es heißt: „auf Grund der engen politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Bande, die uns [mit den Vereinigten Staaten] einen, hat sich das Volk von Puerto Rico verpflichtet, die volle Beherrschung des Englischen als zweite Sprache zu erlangen."77 Doch eine solche sprachpolitische Entscheidung konnte im puertoricanischen Kontext nicht frei von allgemeinen politischen Implikationen aufgenommen werden, erinnerte der US-amerikanische Kongreß doch — lange vor der Verabschiedung des Projekts von Don Young im Repräsentantenhaus - in regelmäßigen Abständen daran, daß nach seinem Dafürhalten die Dominanz des Spanischen in Puerto Rico ein gravierendes Indiz für die Unmöglichkeit der auch weiterhin anzustrebenden „Assimilierung" Puerto Ricos bedeute und daß die statehood-Lösung, sofern sie denn überhaupt in Betracht gezogen werden würde, nur über die Akzeptanz des Englischen als alleiniger Amtssprache denkbar sei. Und so scheiterte Hernández Colón denn auch mit seinem zweiten Projekt einer Festschreibung der puertorriqueñidad, als er noch im Dezember desselben Jahres 1991 ein Referendum besonderer Art abhielt, in dem die Puertoricaner mit einem einfachen „Ja" oder „Nein" darüber entscheiden sollten, ob sie neben der Beibehaltung der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft die politische Selbstbestimmung und die Beibehaltung ihrer kulturellen Identität, unabhängig vom endgültig zu bestimmenden politischen Status, befürworteten. Bei einer Stimmenthaltung von nahezu 40% votierten 55% der Stimmberechtigten mit „Nein" und folgten damit — entsprechend der vorherrschenden „Sozialisation der Angst" — dem Gegenargument der estadistas, die meinten, Hernández Colón wolle sich mit einem deutlichen „Ja" die von den populares angeblich geplante Aufkündigung der so vorteilhaften Beziehungen zu den Vereinigten Staaten bereits vorab legitimieren lassen und die USA ihrerseits würden ein solches Votum auch in diese Richtung interpretieren. So war es nur folgerichtig, daß das von Hernández Colón eingebrachte Gesetz sogleich nach der Machtübernahme der estadistas 1993 vom Gouverneur Pedro Rosselló wieder aufgehoben und in der Sprachenfrage der Zustand von 1902 wiederhergestellt wurde.

77 Zitiert nach Li Monde Diplomatique, März 1992, S. 21.

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Der Ex-Gouverneur Luis A. Ferré hatte 1991 für die estadistas deutlich gemacht, daß die Degradierung der englischen Sprache zur Fremdsprache diese einer für Puerto Rico essentiellen Bedeutung entkleidete: „Sie verdrängte [das Engjische] von seinem würdigen Platz als Symbol unserer loyalen Verbindung mit den Vereinigten Staaten."78 Gleichzeitig betont der Partido Nuevo Progresista aber auch - besonders mit Blick auf das Gros seiner des Englischen kaum mächtigen Wählerschaft der Unterschichten - die Symbolkraft des Spanischen für die nationale Identität und zeigt offiziell keine Bereitschaft, selbst als Bundesstaat der USA auf das Spanische als (zweite) Amtssprache zu verzichten, wie Jahre zuvor der damalige Vorsitzende der Partei, Carlos Romero Barceló, kategorisch erklärt hatte: „unsere Sprache und Kultur stehen nicht zur Disposition!"79 Das „Jubiläumsjahr" 1998 ist in vielerlei Hinsicht mit Erwartungen verbunden. Ob das in Aussicht gestellte Referendum und damit die Möglichkeit für die Puertoricaner, zum ersten Mal nach 100 Jahren US-amerikanischer Okkupation mit Zustimmung des Kongresses über den eigenen politischen Status zu entscheiden, Realität wird, bleibt offen. Denn bereits vor der Abstimmung im Repräsentantenhaus äußerte der Führer der republikanischen Mehrheit im Senat, Trent Lott, er sei skeptisch, ob der Senat noch während der laufenden Legislaturperiode, d. h. bis zu den im November 1998 anstehenden Wahlen, bei denen ein Großteil der Mitglieder des Repräsentantenhauses und ein Drittel der Senatorenposten zur Disposition stehen, die Zeit finden wird, mit der gebotenen Umsicht die dem Projekt Don Youngs entsprechende, von dem republikanischen Senator Larry Craig und dem demokratischen Senator Bob Graham erarbeitete Vorlage zu debattieren. Ob der Möglichkeit, daß das gewünschte Referendum durch die Verzögerungstaktik des Senats nun nicht mehr im Jubiläumsjahr" stattfinden, sondern auf 1999 verschoben werden könnte, zeigte sich der puertoricanische Gouverneur Pedro Rosselló zunächst nicht sonderlich beunruhigt. Denn die so gewonnene Zeit würde er für sich und sein Projekt der estadidad nutzen, indem er, über diverse hochrangige Amter in den fuhrenden Kreisen der Demokratischen Partei ohnehin bestens eingeführt, unter den Demokraten weitere Fürsprecher dadurch zu gewinnen sucht, daß er — wie bereits angekündigt — im bevorstehenden US-amerikanischen Wahlkampf, bei 78 „La gran mentira"; in:

ElNuew Dia vom

1 1 . 4 . 1 9 9 1 , S. 71.

79 Romero-Barcelo 1978:9 (Hervorhebung im Original).

118 dem auch in 36 Bundesstaaten um die Gouverneursposten gestritten werden wird, auf ausgedehnten Reisen insbesondere durch die Bundesstaaten mit einem hohen Anteil an Híspanles die demokratischen Kandidaten unterstützen wird. Und schließlich könnte er nicht nur Demokraten, sondern auch Republikaner für sich gewinnen, indem er die bereits seit geraumer Zeit in den Beziehungen zur anglophonen Karibik angestrebte Führungsposition dadurch zu erweitern sucht, daß er auch in Mittel- und Südamerika, wie durch mehrere geplante Reisen bereits anvisiert, die politischen Kontakte intensiviert, um sich als ein für die Vereinigten Staaten verläßlicher Vermittler zu profilieren. Und so könnte sich die vielbeschworene Rolle Puerto Ricos als „Brücke zwischen beiden Amerika" für die Vereinigten Staaten nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich auszahlen, indem Rosselló, wie es ein Journalist umschrieb, als „inoffizieller Botschafter Washingtons in Wirtschafts fragen"80 in Mittel- und Südamerika für das von Bill Clinton favorisierte Projekt einer die gesamte Hemisphäre umspannenden Freihandelszone wirbt — ein Anliegen, das (auch nach dem Verständnis Rossellós) vorrangig der Ausweitung des US-amerikanischen Handels dient und Puerto Rico nur Vorteile verschaffen wird, wenn es selbst Teil der Vereinigten Staaten ist. Der oppositionelle Partido Popular Democrático mag, so denn die Entscheidung über das Referendum aufgeschoben wird, die Zeit gleichermaßen nutzen, um für die Debatte im Senat den von ihm vertretenen ELA-Status nunmehr klarer zu definieren und vor allem von dem Stigma des Kolonialismus zu befreien. Die Parteispitze ist jedoch zerstritten, nicht zuletzt ob der Frage des Kandidaten für die im Jahr 2000 anstehenden Gouverneurswahlen, wobei sich neben den bereits seit längerem bekannten Aspiranten neuerdings auch die Bürgermeisterin von San Juan, Sila Maria Calderón, zu profilieren sucht. Nach einer Umfrage vom Februar 1998 würden 82% der Puertoricaner eine Frau im Gouverneursamt durchaus akzeptieren81, und die bisher unter Beweis gestellten Leistungen Sila María Calderóns in ihrem derzeitigen Amt werden auch allseits anerkannt. Doch war sie schlecht beraten, als sie auf einer Veranstaltung anläßlich der 100. Wiederkehr des Geburtstags von Luis Muñoz Marín ein vorgeblich neues Konzept des Estado Libre Asoáado vorstellte, das weder von Gespür für die realpolitischen Gegebenheiten noch von politischer Weitsicht zeugte und sich im wesentlichen 80 John Collins, in: ElNuevo Dia vom 17. 3. 1998, S. 92. 81 ElNuevo Dia vom 21. 2.1998, S. 19.

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in einem Aufruf zur Einheit aller Puertoricaner jenseits der Status-Frage erschöpfte — dies allerdings ganz im Sinne Muñoz Maríns zur Zeit der Gründung der Partei vor nunmehr 60 Jahren. Innovativer ist dagegen das von dem ehemaligen Senatspräsidenten Miguel Hernández Agosto als Erweiterung des ELA-Status entwickelte Projekt eines „Tratado de Unión" oder „Unionsvertrags" mit den Vereinigten Staaten, das allerdings, so meinen die Kritiker, Forderungen beinhaltet, die sein Projekt in die Nähe der in der Gesetzesvorlage Don Youngs genannten Möglichkeit einer „Libre Asociación" oder „Freien Assoziation" rücken und auf eine verschleierte Unabhängigkeit Puerto Ricos hinauslaufen: etwa eine eigene Staatsbürgerschaft sowie die Errichtung eigener diplomatischer Vertretungen und damit eine stärkere internationale Präsenz und Unabhängigkeit. Sollten sich die Puertoricaner mehrheitlich für diese Option entscheiden, würde dies zweifellos bewirken, daß sie nicht nur die US-amerikanischen Hilfszahlungen, sondern für die kommenden Generationen auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft einbüßen würden. 82 Zudem ist die Spitze des Partido Popular Democrático uneins darüber, ob sie dem Senat überhaupt eine verbesserte Version des ELA-Status vorlegen soll. Denn es ist in Washington kein Geheimnis, daß die Mehrheit des Senats dem geplanten Referendum ohnehin nicht mit besonderem Wohlwollen gegenübersteht — auch wenn die republikanische Mehrheit wie die Demokraten um die Stimmen der Hispanics wirbt. Verstärkt wird diese negative Tendenz durch das so überaus knapp ausgefallene Abstimmungsergebnis im Repräsentantenhaus ebenso wie durch die in der Vorlage Don Youngs enthaltene starke Favorisierung der statebood-Lösung. So erscheint die Entscheidung im Repräsentantenhaus keineswegs als sicheres Indiz dafür, daß das geplante Referendum überhaupt stattfinden wird; und genauso unsicher ist, ob die statehood-Lösung, sollte sich die Mehrheit der Puertoricaner dafür entscheiden, von den Vereinigten Staaten unter den bislang genannten Bedingungen überhaupt gewahrt werden wird, denn auch wenn die Initiative zum Referendum vom US-amerikanischen Kongreß ausging, und dies ist keinesfalls jedem in Puerto Rico bewußt, bleibt den USA auch nach der Willensäußerung der Puertoricander das Recht vorbehalten, in einem abschließenden Votum des Kongresses selbige zu akzeptieren oder zu ignorieren. Dan Quayle, ehemaliger Vizepräsident und einer der möglichen Kandidaten der Republikaner für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000, 82 El Nuevo Dia vom 14. 3. 1998, S. 7.

120 erklärte bereits anläßlich eines Fernsehauftritts, er werde die statehoodLösung für Puerto Rico nur unter der Bedingung einer „Supermehrheit" akzeptieren und präzisierte: „Wenn zwei Drittel des Volkes für die stateboodLösung stimmen, dann, so glaube ich, könnten wir in Erwägung ziehen, [Puerto Rico] zu einem Bundesstaat zu machen." 83 Und Newt Gingrich, der das Projekt D o n Youngs befürwortet hatte, es aber vorzog, während der Debatte im Repräsentantenhaus nicht zu erscheinen und somit auch nicht abzustimmen, machte deutlich, daß er die Forderung des „English only" vertritt und damit die altbekannte Politik der Assimilation Puerto Ricos verfolgt: Amerika ist in der Lage, eine unglaubliche Anzahl von Menschen von erstaunlich unterschiedlicher Herkunft: zu absorbieren, wenn unser Ziel die Assimilation ist. Wenn die Menschen ermutigt werden, der Assimilation zu widerstehen, wird die Struktur der amerikanischen Gesellschaft schließlich auseinanderbrechen. [...] Das Beharren auf der Assimilation jeder neuen Generation ist das sine qua non unseres Überlebens. Die einzig mögliche Alternative für die unterprivilegierten Schichten Amerikas ist die amerikanische Zivilisation. Und ohne das Englische als gemeinsame Sprache gibt es keine solche Zivilisation. 84 Das Jahr 1998 wird aber nicht nur hinsichtlich des möglichen Referendums zur Status-Frage und der dann sichtbar werdenden Akzeptanz der estadidad innerhalb der Bevölkerung Aufschluß geben. 85 Als höchst interessant wird sich auch erweisen, wie die Puertoricaner das „Jubiläum" begehen und die eigene Geschichte - möglicherweise nunmehr identitätsstiftend - aufarbeiten. Bereits im Vorfeld bildeten sich zahlreiche Kommissionen, die größtenteils unabhängig voneinander und zum Teil auch mit unterschiedlicher Zielsetzung arbeiten, um über eine Vielzahl von Aktivitäten zu informieren oder auch der „llegada", der „Ankunft" der US-amerikanischen Truppen, wie die Invasion häufig in euphemistischer Umschreibung benannt wird, zu gedenken. Die vorwiegend aus Vertretern regierungsamtlicher Stellen und der Privatwirtschaft zusammengesetzte offizielle „Comisión del Centenario 83 Zitiert nach El San Juan Star vom 17. 3.1998, S. 5. 84 Zitiert nach ElNuevo Dia vom 17. 3.1998, S. 55. 85 Bei der Debatte im Repräsentantenhaus war es ausschließlich um die Bedingungen der statehood-Lösung gegangen, so daß man den Eindruck haben konnte, daß die Abgeordneten nicht einmal in Erwägung zogen, die Puertoricaner könnten sich mehrheitlich gegen sie entscheiden.

121 del 98" widmet sich weniger der Invasion selbst als vielmehr den Folgen: „Unser Grundgedanke ist, der hundert Jahre der Verbindung mit den Vereinigten Staaten zu gedenken, zu erinnern an das, was in Puerto Rico ab 98 geschehen ist; das heißt, was 98 geschah, ist nicht unsere zentrale Fragestellung, sondern unser Ausgangspunkt."86 Die am Tag des 25. Juli in Guánica, am Tag und Ort der Invasion, auf der von den regierenden estadistas organisierten zentralen Kundgebung von Gouverneur Rosselló gehaltene Rede mochte dann doch überraschen.87 Zwar wurde mit freundlichen, wenn auch knappen Worten den Vereinigten Staaten für Demokratie und materiellen Fortschritt gedankt; der inhaltliche Schwerpunkt der „Botschaft" des Gouverneurs war aber eher der - hauptsächlich gegen den US-amerikanischen Senat gerichtete - Vorwurf, daß das vor 100 Jahren (vorgeblich) gegebene „Versprechen" und der „besiegelte Vertrag" — gemeint war die Aufnahme Puerto Ricos als Bundesstaat in die Union — immer noch nicht eingelöst seien. Dies forderte der Gouverneur mit Nachdruck, gelegentlich pathetisch, gelegentlich nachgerade aggressiv, und er erklärte, er selbst werde die Initiative ergreifen und das puertoricanische Parlament damit beauftragen, für Dezember 1998 ein Referendum zur Status-Frage anzuberaumen — an das sich die Vereinigten Staaten nun gewiß in keiner Weise, weder politisch noch moralisch, gebunden fühlen müssen (und werden). In Guánica trafen die estadistas, wie vorhersehbar, da in jedem Jahr zelebriert, auf die zentrale Veranstaltung der independentistas, die wohl auf das mit dem Jahr 1898 verbundene Ereignis direkt Bezug nahmen. Doch wird in der wissenschaftlichen und künstlerischen Auseinandersetzung mit der Invasion selbst - ein in Puerto Rico bislang weitgehend ausgesparter Gegenstand der Diskussion — ebenso wie ihrer unmittelbaren Vorgeschichte und der Zeit der US-amerikanischen Militärregierung ein substantieller Beitrag von anderen Kommissionen kommen: von der Historiker-Kommission der Universität von Puerto Rico in Rio Piedras, insbesondere aber von dem traditionsreichsten Kulturinstitut Puerto Ricos, dem Ateneo Puertorriqueño, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, unter dem Motto „Puerto Rico: 86 Interview der Verf. vom 12. 3. 1998 mit Zulma Rosario, der Geschäftsführenden Leiterin der regierungsamtlichen Kommission (die Hervorhebungen stammen von der Interviewerin). 87 „Mensaje del Gobernador Pedro Rosselló durante los actos de Celebración de la llegada de las tropas de los Estados Unidos de América"; über Internet (http://www.fortaleza.govpr.org).

122 1898-1998. 100 Jahre Kolonialismus" über eine ungeheure Vielfalt von Aktivitäten „eine umsichtige und nüchterne Neubewertung der Geschehnisse" zu leisten. Gefordert sind hier auch die Literaten, sich im Bereich der Lyrik, der Erzählung, des Romans, des Theaters oder des Essays an den ausgeschriebenen Wettbewerben mit einem Beitrag zu beteiligen, der ausschließlich den Ereignissen um 1898 gewidmet sein soll. Damit könnte vielleicht endlich gerade diese doch so kurze, aber ganz offensichtlich immer noch als traumatisch erinnerte Zeitspanne eine angemessene Aufarbeitung erfahren, war sie doch bislang weithin tabuisiert — sieht man einmal ab von Autoren wie José Luis González, Luis Hernández Aquino, Luis López Nieves oder neuerdings Roberto Ramos Pérez, der im Rahmen der Aktivitäten des Ateneo sein eigens zum Anlaß des Centenario verfaßtes Theaterstück mit dem Titel Miles: la otra historia del 98 bereits im Mai zur Uraufführung brachte. Zu erwarten wäre möglicherweise auch die Klärung der Frage nach der Existenz einer puertoricanischen „Nationalliteratur", die - ähnlich wie die nationale Geschichte - als „Lehrmeisterin" der Nation identitätsbildende Funktion besitzen kann. Denn wie will man der Tatsache Rechnung tragen, daß gegenwärtig etwa 2,7 Millionen und damit weit über 40% aller Puertoricaner in den Vereinigten Staaten, vornehmlich in New York, leben und die nuyorricans inzwischen eine eigenständige und nicht mehr in jedem Fall die insulare Wirklichkeit reflektierende Literaturtradition in englischer Sprache begründet haben? Ist Puerto Rico heute, wie einige Kritiker meinen, eine fragmentierte Nation mit einer „inner" und einer „outer community" sowie einer insularen und einer kontinentalen Literatur, durch die Sprache als Identitätszeichen an Wert verloren hat? Die meisten insularen Autoren sind sich hinsichtlich der Bestimmung der puertoricanischen „Nationalliteratur" einig: Für sie ist diese - auch wenn etwa Rosario Ferré, die ohne Zweifel zur insularen Literatur gezählt wird, neuerdings ihre Romane zuerst in englischer Sprache publiziert — an die spanische Sprache gebunden; und die in englisch verfaßten Texte der nuyorricans sind nach ihrem Dafürhalten Ausdrucksformen einer spezifisch geprägten US-amerikanischen „ethnic literature", Teil der mitderweile durch den Beitrag der Chícanos wie der Kubaner, Dominikaner und anderer in den Vereinigten Staaten lebender Lateinamerikaner gewachsenen Literatur der Hispanics, die aus der USamerikanischen Literaturszene heute nicht mehr wegzudenken ist. Diesem Komplex ausfuhrlicher nachzugehen ist hier nicht der Ort, ist dieser Band doch der insularen Wirklichkeit und den Autoren gewidmet, die

123 zur „inner Community" zählen und welche die nationale Wirklichkeit, die gewiß für viele die Lebenswelt der nuyorricans mit einschließt, vorrangig aus der insularen Perspektive betrachtet haben. Und für die Mehrheit der Puertoricaner in Puerto Rico herrscht hinsichtlich ihrer keinesfalls als fragmentiert gesehenen nationalen Identität gleichermaßen Einigkeit, wenn es darum geht, die spanische Sprache und ihre trotz spürbarer afrikanischer Einflüsse fundamental hispanoamerikanisch geprägte Kultur gegenüber den Vereinigten Staaten als „non-negptiable issues" zu verteidigen. Mit dieser Frage hatte sich sogar der Entkolonisierungsausschuß der Vereinten Nationen beschäftigt, indem er etwa in seiner bereits zitierten Resolution von 1983 „den eindeutig lateinamerikanischen Charakter und die eindeutig lateinamerikanische Identität des Volkes und der Kultur von Puerto Rico" betonte und mit Blick auf die AssimilierungsStrategien der Vereinigten Staaten hinzufügte: „[Der Entkolonisierungsausschuß] bedauert all jene Maßnahmen, die darauf abzielen, den lateinamerikanischen Charakter und die lateinamerikanische Identität des Volkes und der Kultur von Puerto Rico zu verändern."88 Oder, wie es Ricardo Alegría, der Begründer und langjährige Direktor des in seinen Befugnissen und Aktivitäten einem Kulturministerium vergleichbaren Instituto de Cultura Puertorriqueña, 1991 anläßlich der Verleihung des Premio Prinápe de Asturias formulierte: „Es handelt sich nicht darum zu sagen: ausschließlich Spanisch, sondern Spanisch an erster Stelle. Puerto Rico ist politisch den Vereinigten Staaten assoziiert; aber es will Puerto Rico sein, es will hispanoamerikanisch sein."89

88 In: Beraos Martínez 1983:99. 89 Zitiert nach ElPais vom 20. 4.1991, S. 25.

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