Puerto Rico zwischen beiden Amerika. Band II. Konfliktive Wirklichkeit im Spiegel der puertoricanischen Literatur (1898-1998). 9783964564702

Die Anthologie umfasst 26 Texte herausragender Autoren, in denen die Suche nach einer puertoricanischen Identität eine d

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Puerto Rico zwischen beiden Amerika. Band II. Konfliktive Wirklichkeit im Spiegel der puertoricanischen Literatur (1898-1998).
 9783964564702

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Von Fahnen, jíbaros und anderen Identitätszeichen: Puerto Rico zwischen kolonialer Anpassung und nationaler Selbstbehauptung
Interview der New York Tribüne vom 10. Oktober 1898
Botschaft an den Präsidenten der Vereinigten Staaten [1899]
Kontra-Amerikanisierung
Feuerwehrmänner gegen Sterne
Das häßliche Entlein
Die Erlöser
Insularismus
Abriß der puertoricanischen Geschichte
Das Gebet eines Gebetsheilers
Peyó Mercé unterrichtet Englisch
Lehm
Der Feuersturm
Schwing die Hüften (Plena)
Rede, gehalten am 18. Dezember 1949 auf dem Parteitag des Partido Nacionalista de Puerto Rico in Arecibo
Brief an Luis Muñoz Marín vom 6. Mai 1936
Manifest Luis Muñoz Maríns an die Puertoricaner vom 25. Juni 1936
Der Karren
Ein negrito auf dem Grunde des Grabens
Das Wohnzimmer
Napalm
Usmaíl
Der gefugige Puertoricaner (Literatur und psychologische Realität
Das Land der vier Stockwerke
Etc.
Kristallzucker
Die Durchquerung der Bucht von Guánica und andere Motive der Rührung im Zeichen des Mittelmaßes (25. Juli 1983)

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Frauke Gewecke (Hg.) Puerto Rico zwischen beiden Amerika Band II Konfliktive Wirklichkeit im Spiegel der puertoricanischen Literatur [1898-1998]

Puerto Rico zwischen beiden Amerika Band II

Konfliktive Wirklichkeit im Spiegel der puertoricanischen Literatur [1898-1998]

Eine Anthologie in deutscher Übersetzung, herausgegeben, kommentiert und mit einer Einführung versehen von Frauke Gewecke

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1998

Gedruckt mit Unterstützving des Instituto de Cultura Puertorriqueña Impreso con la generosa ayuda del Instituto de Cultura Puertorriqueña

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Puerto Rico zwischen beiden Amerika / Frauke Gewecke (Hrsg.). - Frankfurt am Main : Vervuert Bd. 2. Konfliktive Wirklichkeit im Spiegel der puertoricanischen Literatur [1898-1998]. - 1 9 9 8 ISBN 3-89354-103-9 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1998 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis Vorwort

7

Frauke Gewecke: Von Fahnen, jíbaros und anderen Identitätszeichen: Puerto Rico zwischen kolonialer Anpassung und nationaler Selbstbehauptung

9

Luis Muñoz Rivera (1859-1916): Interview der New York Tribüne vom 10. Oktober 1898

19

Eugenio María de Hostos (1839-1903): Botschaft an den Präsidenten der Vereinigten Staaten [1899]

25

José Celso Barbosa (1857-1921): Kontra-Amerikanisierung

31

José de Diego (1866-1918): Feuerwehrmänner gegen Sterne

35

Luis Lloréns Torres (1876-1944): Das häßliche Entlein

41

Manuel Zeno Gandia (1855-1930): Die Erlöser

47

Antonio S. Pedreira (1899-1939): Insularismus

67

Tomás Blanco (1897-1975): Abriß der puertoricanischen Geschichte

75

Emilio S. Beiaval (1903-1972): Das Gebet eines Gebetsheilers

81

Abelardo Díaz Alfaro (1919): Peyó Mercé unterrichtet Englisch

89

Evaristo Ribera Chevremont (1896-1976): Lehm

95

Enrique A. Laguerre (1906): Der Feuersturm

103

Luis Palés Matos (1898-1959): Schwing die Hüften (Plena)

119

Pedro Albizu Campos (1891-1965): Rede, gehalten am 18. Dezember 1949 auf dem Parteitag des Partido Nacionalista de Puerto Rico'm.Arecibo

125

Vicente Géigel Polanco (1904-1976): Brief an Luis Muñoz Marín vom 6. Mai 1936

135

Luis Muñoz Marín (1898-1980): Manifest Luis Muñoz Maríns an die Puertoricaner vom 25. Juni 1936

141

6 René Marqués (1919-1979): Der Karren

151

José Luis González (1926-1996): Ein negrito auf dem Grunde des Grabens

165

René Marqués (1919-1979): Das Wohnzimmer

171

Emilio Díaz Valcárcel (1929): Napalm

181

Pedro Juan Soto (1928): Usmaíl

193

René Marqués (1919-1979): Der gefugige Puertoricaner (Literatur und psychologische Realität)

213

José Luis González (1926-1996): Das Land der vier Stockwerke

223

Luis Rafael Sánchez (1936): Etc.

231

Rosario Ferré (1938): Kristallzucker Edgardo Rodríguez Juliá (1946): Die Durchquerung der Bucht von Guánica und andere Motive der Rührung im Zeichen des Mittelmaßes (25. Juli 1983)

239

251

Vorwort Ein Jahrhundert puertoricanischer Literaturgeschichte mit repräsentativen Autoren und Texten in einem Band vorstellen zu wollen, ist ein gewagtes Unternehmen. Uber die Bedeutung der hier vertretenen Autorinnen und Autoren wird gewiß niemand streiten; kritisch anmerken wird vielleicht der eine oder andere kundige Leser die Abwesenheit von Autoren, die auch zum Kanon der puertoricanischen Literatur gehören, deren Texte jedoch dem Zwang einen noch überschaubaren Band zusammenzustellen, geopfert werden mußten.1 Die Auswahl der Texte bzw. Textauszüge fiel nicht in jedem Falle leicht; sie orientierte sich an der zentralen Fragestellung, die mit wenigen Ausnahmen in irgendeiner Form - sei es in der politischen Rede, im wissenschaftlichen Essay, in der Erzählung, dem Roman, dem Gedicht oder dem Theaterstück - allen puertoricanischen Autoren dieses Jahrhunderts gemeinsam ist: der kritische Reflex auf die vor genau 100 Jahren erfolgte Invasion Puerto Ricos durch die Vereinigten Staaten und deren Folgen. Die der Anthologie vorangestellte kurze Einführung kann nicht mehr bieten als einen knappen, für das Verständnis der Texte unverzichtbaren Einblick in den Gesamtkomplex der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklung Puerto Ricos seit 1898; für eine fundierte Darstellung (mit einem kurzen historischen Rückgriff auf die Zeit der spanischen Kolonialherrschaft) wird auf den ersten Band dieses Gesamtprojekts - Zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur einer Nation im territorialen Niemandsland - verwiesen. Den Texten wurde jeweils eine bio-bibliographische Notiz zum Autor vorangestellt. (Zu den Übersetzungen sei angemerkt, daß die unterschiedlichen Stil- und Sprachebenen zwar wiedergegeben werden, jedoch das puertoricanische Spanisch, das als Dialekt oder Soziolekt mit den Normen des in Spanien gesprochenen Spanisch in manchen Fällen nicht übereinstimmt, nicht (wie dies bisweilen geschieht) in einem dialektal eingefärbten oder gar unkorrekten Deutsch wiedergegeben wird.) 1

Durch das besondere Verdienst der Literaturwissenschaftler und Übersetzer Wolfgang Binder und Wilfried Böhringer wurden einige jüngere Autoren, etwa Rosario Ferré, Magali García Ramis und Edgardo Sanabria Santaliz in deutscher Übersetzung vorgelegt. Darüber hinaus wurde schließlich in der Zeitschrift die hören (Nr. 187,1997) ein Überblick über die jüngste Erzählprosa veröffentlicht.

8 Beteiligt an dem Zustandekommen dieses Bandes waren viele, und ihnen allen gilt mein Dank: zunächst den Autorinnen und Autoren bzw. ihren Erben oder den sie vertretenden Verlagen für die überaus entgegenkommend gewährte Genehmigung zum Abdruck der Texte; sodann meinen puertoricanischen Freunden, allen voran Luce López-Baralt und Arturo Echavarría für die Klärung so mancher idiomatischer Probleme und, gemeinsam mit Francisco M. Vázquez vom Verlag Editorial Cultural, für die freundschaftliche Vermitdung hilfreicher Kontakte; schließlich für die großzügige finanzielle Unterstützung zum Druck des Bandes dem Instituto de Cultura Puertorriqueña und seinem Direktor, José Ramón de la Torre, sowie Aixa Ruiz Ellis und Alberto Suárez Martínez, von denen der erste Impuls ausging. Ganz besonderen Dank und Anerkennung verdienen die Ubersetzerinnen und Übersetzer, die im Rahmen des Projekts, das aus einer Seminarreihe heraus entstand, ein Engagement bewiesen, welches weit über das in Seminaren übliche hinausging. Bei der redaktionellen Überarbeitung waren Sabine Bersch, Cornelia Funk-Leiva und Petra Glaser von unschätzbarer Hilfe; Yamilka Cedeño Soto und Amparo Volk sei gedankt für ihre Unterstützung bei der Lösung von Übersetzungsproblemen und Annette Lattermann, Ursula Rinne, Janka Gbiorczyk sowie Helena Gruber für ihre Mithilfe bei der Erstellung des endgültigen Manuskripts; und nicht zuletzt gilt mein Dank Stephen Dörr für seine kompetente Unterstützung in allen Fragen der elektronischen Datenverarbeitung.

Frauke Gewecke Von Fahnen, jíbaros und anderen Identitätszeichen: Puerto Rico zwischen kolonialer Anpassung und nationaler Selbstbehauptung Am 25. Juli 1998 — auf den Tag genau ein Jahrhundert nach der Landung US-amerikanischer Marineinfanteristen in Guánica, einem kleinen Ort im Süden Puerto Ricos - demonstrierte der regierende Partido Nuevo Progresista am Ort des Geschehens vor einer begeistert jubelnden Menge von Parteianhängern in Volksfeststimmung seine ganz besondere Art, dieses „Jubiläumsjahr" zu begehen. Zentraler Programmpunkt der „Feierlichkeiten" anläßlich der „Ankunft" der US-amerikanischen Truppen, wie die Invasion von regierungsamtlicher Seite euphemistisch umschrieben wird, war die „Botschaft" des Gouverneurs Pedro Rosselló, vehementer Fürsprecher der estadidad, des Anschlusses Puerto Ricos an die Vereinigten Staaten, der seine Rede erwartungsgemäß mit den obligaten Dankesworten an die Adresse der USA begann: Vor hundert Jahren erreichte uns an ebendieser Küste, an ebendiesen Gestaden der Ruf, der uns die Befreiung verhieß — mit dem Versprechen von Fortschritt und Demokratie. [...] und über diese Bucht von Guánica gelangte zu uns die Fahne, die in der ganzen Welt die unveräußerlichen Rechte auf das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück verkörpert.1 Ebenfalls auf den Tag genau, nur nahezu ein halbes Jahrhundert zuvor — am 25. Juli 1952 —, richtete ein in seinen politischen Aspirationen gänzlich anders ausgerichteter Gouverneur, Luis Muñoz Marín vom Partido Popular Democrático, anläßlich der Einsetzung des (noch heute gültigen) Status des Estado Libre Asociado (ELA) oder Commonwealth of Puerto Rico ähnliche Worte des Dankes an die Vereinigten Staaten, die der Insel mit dem ELA-Status eine weitgehende Autonomie gewährt hatten; und auch er bemühte das gemeinhin als nationales Identitätszeichen so bedeutungsschwere, wenn auch 1 „Mensaje del Gobernador Pedro Rosselló durante los actos de Celebración de la llegada de las tropas de los Estados Unidos de América" (25. 7. 1998); über Internet (http://www.fortaleza.govpr.org). (Die fremdsprachlichen Zitate wurden hier und im folgenden von der Verf. übersetzt.)

10 in diesem Fall durchaus konfliktbeladene Symbol der Fahne. Denn während einer feierlichen Zeremonie wurde neben dem US-amerikanischen Sternenbanner die kurz zuvor per Dekret des lokalen Parlaments zur Nationalflagge Puerto Ricos erklärte einsternige Fahne gehißt, die fortan gleichberechtigt neben der US-amerikanischen Fahne auf allen öffentlichen Gebäuden wehen sollte: jene so geschichtsträchtige und als Symbol der Freiheit so häufig besungene Fahne mit der „estrella solitaria", die 1895 von Exilierten als Emblem des Kampfes um die Unabhängigkeit von Spanien geschaffen, sodann in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts als Emblem des (auch bewaffneten) Kampfes um die Unabhängigkeit von den USA zunächst von den Nationalisten für sich vereinnahmt und schließlich bei der Mehrheit der puertoricanischen Bevölkerung als heimliche Nationalflagge durchgesetzt worden war. Der symbolisch bedeutsame Akt, der nach Muñoz Marín die neue, nach seinem Verständnis von jedem Makel kolonialer Herrschaft befreite Form der „Partnerschaft" zwischen beiden Ländern demonstrieren sollte, bedurfte nun aber doch, eben aufgrund der mit der einsternigen Fahne verbundenen „subversiven" Geschichte, besonders mit Blick auf die Vereinigten Staaten einer Erläuterung; und so erklärte er: Die puertoricanische Fahne gehört nicht ausschließlich einem engstirnigen Nationalismus und verbietet auch nicht die Liebe und den Respekt... für die anderen Völker der Welt. Sie gehört allen Puertoricanern. Sie gehört jenen, die sich in der Vergangenheit des Terrorismus bedienten, und jenen, die sie in der Gegenwart als ein Zeichen von Frieden und Stärke erhoben haben.2 Am 25. Juli 1998 dachte Pedro Rosselló jedoch - im Vorgriff auf gänzlich ungewisse Entscheidungen - an eine ganz andere Fahne, die er den Puertoricanern (wie auch etwa 260 Millionen US-Amerikanern) als neue Nationalflagge nahezulegen suchte, die er auch gleich hatte entwerfen lassen und die nunmehr in einem überdimensionierten Format vor ihm im Winde flatterte: das Exemplar eines Sternenbanners, auf dem statt der die Bundesstaaten der USA repräsentierenden bislang 50 nun (in einem künstlerisch allerdings wenig überzeugenden Design) 51 Sterne prangten. Denn, so der Gouverneur in seiner zentralen, massiv und nicht selten aggressiv vorgetragenen Argumentationslinie, bei Ankunft der Amerikaner 100 Jahre zuvor „wurde

2

Zitiert nach Nancy Morris, Puerto Rico. Culture, Politics, and Identity. Westport, CT: Praeger 1995, S. 51.

11 dieses Sternenbanner stillschweigend von einem Versprechen begleitet, einem Versprechen der vollkommenen Umsetzung [von Fortschritt und Demokratie], der Hoffnung auf die Zukunft und der Gleichheit zwischen beiden Partnern". Doch dieses „Versprechen", einem „Vertragsabschluß" gleichzusetzen, hätten die Vereinigten Staaten — trotz Verbesserungen etwa im Gesundheits- und im Schulwesen, trotz Gewährung innerer Selbstverwaltung und der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft — nicht eingehalten; und um dieses Versprechen — sprich: die Eingliederung in die USA als Bundesstaat — durchzusetzen, so Rosselló kämpferisch, „sage ich, daß jetzt die Zeit gekommen ist, da wir unsere eigene Revolution machen werden"3. Der Begriff „Revolution", im puertoricanischen Kontext stets mit den nach nationaler Unabhängigkeit strebenden naäonalistas und independentistas assoziiert, die gleichermaßen am selben Tag und am selben Ort ihre alljährliche Demonstration zelebrierten, wird bei jenen gewiß ein anderes Konzept beinhalten als bei Pedro Rosselló. Dieser bediente sich des - nach seinem Verständnis sicher nur entschlossene Initiativ- und Handlungsbereitschaft signalisierenden — Wortes gezielt in provokatorischer Absicht mit Blick auf den US-amerikanischen Senat, welcher eine Gesetzesvorlage blockiert, die im Repäsentantenhaus (mit einer Stimme Mehrheit) bereits verabschiedet wurde. Diese rückt, da sie den gegenwärtigen ELA-Status - nach Jahrzehnten der Dementis — als das koloniale Gebilde beschreibt, das er ist, und die estadidad oder sta&Aooi/-Lösung eindeutig favorisiert, letztere zum ersten Mal in greifbare Nähe, sofern sich die Puertoricaner über das geplante Referendum dafür entscheiden — und sofern der US-amerikanische Kongreß, dem in allen Puerto Rico betreffenden Angelegenheiten das letzte Wort vorbehalten ist, diese Entscheidung denn auch für angemessen und akzeptabel hält. Die keinesfalls leicht zu durchschauende und völkerrechtlich nicht geklärte Frage des politischen Status Puerto Ricos hat die Energien und Phantasien der politischen Führungskräfte des Landes über ein Jahrhundert in einem Maße beschäftigt, daß allein mit Ausnahme von Luis Muñoz Marín - und dies sollte auch seinen Aufstieg als (in seinem Sinne) erfolgreichster Politiker des Landes begründen - niemand sich ernsthaft um ein kohärentes wirtschaftliches und soziales Reformprogramm bemühte. Doch kehren wir zu den Anfängen zurück und zu jenem „Versprechen", das laut Pedro Rosselló die Sieger den Besiegten gemacht haben sollen. 3 Ebd.

12 Als am 25. Juli 1898 unter dem Kommando des Generalmajors Nelson A. Miles die ersten Invasionstruppen in Guánica an Land gingen und ihren Vormarsch begannen, stießen sie nicht nur auf keinen Widerstand, sondern wurden von allen Sektoren der einheimischen Bevölkerung freundlich bis enthusiastisch begrüßt, auch wenn so mancher überrascht gewesen sein mochte, hatte doch der US-amerikanische Präsident William McKinley bei Eintritt der USA in den Spanisch-Kubanischen Krieg erklärt, daß die Vereinigten Staaten allein Kuba zur Unabhängigkeit verhelfen wollten und selber keine territoriale Expansion anstrebten. Doch nach nahezu vier Jahrhunderten einer despotischen, der Entwicklung des Landes nur wenig förderlichen spanischen Kolonialherrschaft erschienen die USA, ohnehin als Hort von Demokratie und materiellem Fortschritt in ganz Lateinamerika gerühmt, höchst willkommen. Denn die weitreichende Autonomie, die Puerto Rico (und Kuba) gerade erst 1897 von der spanischen Metropole gewährt worden war, konnte noch keine sichtbaren positiven Ergebnisse aufweisen; und eine in der Bevölkerung verankerte, schlagkräftige Unabhängigkeitsbewegung hatte sich in Puerto Rico (anders als in Kuba) aufgrund unterschiedlicher historischer Bedingungen während des 19. Jahrhunderts nicht entwickelt. So wurde der „Wechsel der Hoheitsgewalt", wie die Inbesitznahme der Insel durch die Vereinigten Staaten nach offiziellem Sprachgebrauch noch heute genannt wird, von der Mehrheit der Puertoricaner einschließlich der politischen Elite (mit wenigen Ausnahmen) so interpretiert - und gewünscht - , daß die des Kolonialismus gänzlich unverdächtigen USA das neu hinzugewonnene Territorium, wie bereits während der kontinentalen Expansion des 19. Jahrhunderts praktiziert, zunächst als incorporated territory dem Staatenbund anschließen würden, um es nach einer angemessenen Zeit der „Unterweisung" in den demokratischen Spielregeln in die Union aufzunehmen. Auf diese Weise, so hoffte man, würde man am materiellen Fortschritt der Vereinigten Staaten partizipieren; und ein optimistischer Journalist prognostizierte: „Es wird vielfach kolportiert, daß unser Land in 'Riehland' (reiches Land) umbenannt werden wird. Und besagter Name wird unter der amerikanischen Administration bald wohlverdient sein."4 Genährt hatte derlei Hoffnungen Generalmajor Miles mit seiner ersten auf puertoricanischem Boden an das puertoricanische Volk gerichteten Pro4 Zitiert nach Fernando Picó, 1898. La guerra después de ¡a guerra. Río Piedras: Ediciones Huracán 1987, S. 10.

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klamation, in der er diesem versicherte, die Amerikaner seien gekommen, „um euren Wohlstand zu mehren und um euch die besonderen Vorteile und Segnungen der liberalen Institutionen unserer Regierung zu verschaffen"5. Doch der Kongreß der Vereinigten Staaten zeigte sich unschlüssig und unfähig oder unwillig, eine den Erwartungen entsprechende Entscheidung zu fällen, handelte es sich bei den Puertoricanern doch um ein Volk, dessen Mehrheit aus Analphabeten bestand und dessen Elite als politisch unmündig einzustufen war, das eine fremde Sprache sprach und eine fremde Kulturtradition pflegte und das schließlich - auch dieses Argument durfte nicht fehlen — als der angelsächsischen Rasse unterlegen galt. Und so erhielt Puerto Rico den bis dahin gänzlich unbekannten Status eines unincorporated territory, und die dort lebenden Menschen wurden zu „Citizens of Porto Rico" erklärt — was ihnen wenig einbrachte, da „Porto Rico" ebenso wenig wie „Puerto Rico" einen völkerrechtlich anerkannten Status besaß. In den nachfolgenden Jahrzehnten konzedierten die Vereinigten Staaten den Puertoricanern zwar eine nach und nach erweiterte innere Selbstverwaltung und sogar die US-amerikanische Staatsbürgerschaft; an ihrem Status änderte sich jedoch nichts, denn noch heute gilt, was im Jahre 1900 im US-amerikanischen Kongreß ein einflußreicher Senator feststellte: „Puerto Rico gehört den Vereinigten Staaten, aber es ist nicht die Vereinigten Staaten, und es ist auch kein Teil der Vereinigten Staaten."6 Puerto Rico aufzugeben kam nun allerdings auch nicht in Frage: zum einen aus strategischen Erwägungen mit dem Ergebnis, daß die USA die Insel nach und nach zur größten Marinebasis der Welt ausbauten; zum andern aus wirtschaftlichen Erwägungen, die zunächst eine grundlegende, ausschließlich an den Bedürfnissen des US-amerikanischen Marktes orientierte Umstrukturierung der Agrarproduktion bezweckten. Dies wiederum hatte zur Folge, daß die Zuckerproduktion den Kaffeeanbau verdrängte und die kapitalschwachen Grundeigentümer, Besitzer kleinerer und mittlerer Hazienden ebenso wie Kleinbauern, welche weder die geforderten hohen Steuern noch das für die Modernisierung der Produktion erforderliche Kapital aufbringen konnten, in den Ruin getrieben bzw. zum Landproletariat degradiert wurden. Doch realisierte die US-amerikanische Administration auch 5

Abgedruckt in: Alfonso L. García Martínez (Hrsg.), Puerto Rico. Leyes tales. Rio Piedras: Editorial Edil 1996, S. 128.

fundamen-

6 Zitiert nach Ronald Fernandez, The Disenchanted Island: Puerto Rico and the United States in the Twentieth Centuiy. Westport, CT/London: Praeger 2 1996, S. 2.

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durchaus für das Land förderliche Programme, etwa den Ausbau der Infrastruktur und die Verbesserung der gesundheitlichen und schulischen Versorgung. Das Schulsystem war nun ein ganz besonderes Anliegen der mit geradezu missionarischem Eifer vorgehenden Administration, denn das Ziel war, den nun einmal in allen seinen kulturellen Ausdrucks formen als unterlegen betrachteten Puertoricaner zu „amerikanisieren" und damit einer höheren Stufe der Zivilisation zuzuführen. Und das bedeutete für die Schüler zunächst konkret: Unterricht ausschließlich in englischer Sprache, zum Teil vermittelt von kontinentalen US-Amerikanern, und Lehrmaterial, das, aus den USA importiert, etwa über die Geographie und Geschichte der USA, nicht aber Puerto Ricos informierte. Selbstverständlich gehörten dazu auch die im Sinne einer staatsbürgerlichen Erziehung als besonders förderlich erachteten, allmorgendlich zu vollziehenden Rituale wie das Absingen der USamerikanischen Nationalhymne, das Ableisten des Eids auf die USamerikanische Verfassung und das Aufziehen der US-amerikanischen Nationalflagge — wobei sich allerdings anfänglich ein schmerzlich empfundener Mangel an US-amerikanischen Fahnen bemerkbar machte, der erst, nachdem diverse bürokratische Hürden zu nehmen waren, durch die Initiative eines Veteranenclubs aus New York behoben werden konnte. Doch der Prozeß der „Amerikanisierung" verfolgte nicht nur die Ersetzung des Spanischen durch das Englische und die Erziehung der Schüler im Geiste demokratischer Institutionen und Traditionen; er wollte den ganzen Menschen erfassen, seine Sitten und Gebräuche ebenso wie seine ethisch-moralischen Werte mit dem Ziel, wie es von einem Leiter der zentralen Schulbehörde formuliert wurde, „daß die Insel in ihren Vorlieben, ihren Ansichten und in ihrer Einstellung gegenüber dem Leben wie gegenüber der Regierung grundlegend amerikanisch wird"7. Eine Gegenreaktion konnte, auch wenn sie in massiver Form erst mit Beginn der 30er Jahre einsetzte, nicht ausbleiben. Auf kultureller Ebene zeigte sie sich vorrangig in dem Bemühen, die puertorriqueñidad, die kollektive Identität der Puertoricaner, zu bestimmen und ihre kulturellen Leistungen neu zu bewerten. Diese wurzelten eindeutig im spanischen Kulturerbe, gebunden an die spanische Sprache, die als kollektives Identitätszeichen bis heute selbst für die Befürworter der estadidad gegenüber den Vereinigten Staaten als „non-negociable issue" gilt. Zum Inbegriff der puertorriqueñidad 7 Zitiert nach Morris, op. cit., S. 26.

15 erklärte man den jíbaro, den Campesino oder Kleinbauern der montaña, der in dem ihm angestammten Lebensraum des Landesinnern zwar in Armut lebte, jedoch die ererbten Werte und Traditionen in einer noch funktionierenden Solidargemeinschaft bewahrt hatte, während die Küstenregionen aufgrund der Dominanz der großen US-amerikanischen Zuckerfabriken eine solche Lebensweise unmöglich machten. Allerdings, so ist kritisch anzumerken, beinhaltete die Mystifizierung des (weißen) jíbaro eine Ausblendung des afrikanischen Kulturerbes und darüber hinaus, wie es ein puertoricanischer Kritiker formulierte, einen „ideologischen Archaismus" und eine „kompensatorische Ideologie"8, da mit dem jíbaro auch die vor 1898 dominante, nunmehr aber untergegangene Klasse der hacendados und die in der montaña einst vorherrschende paternalistische oder semi-feudale Gesellschaftsordnung nostalgisch verklärt wurden. Auf politischer Ebene manifestierte sich die Reaktion auf die so forciert vorangetriebene „Amerikanisierung" — wie auch auf die Enttäuschung ob der ungeklärten Status-Frage — in einer breiten, alle Sektoren der Bevölkerung umfassenden Bewegung, welche die bereits zuvor als eine von mehreren Möglichkeiten diskutierte, jedoch nie als mehrheitsfähige Option angesehene Unabhängigkeit Puerto Ricos zum Ziel hatte. Der streitbarste Verfechter der Unabhängigkeit war Pedro Albizu Campos, dessen Partido Nacionalista bei den einzigen Wahlen, zu denen die Partei jemals antrat, zwar nur wenig Stimmen erhielt, der aber aufgrund seiner charismatischen Persönlichkeit und spektakulären Auftritte in der Öffentlichkeit die Idee der Unabhängigkeit erst zu einer mehrheits fähigen Option machte. Als die naäonaItstas mit der Ermordung des Polizeichefs von San Juan 1936 zu bewaffneten Aktionen übergingen, reagierte der Staat mit aller Härte: Albizu und andere Mitglieder der Partei wurden in eindeutig politischen Prozessen zu hohen Haftstrafen verurteilt; und am Palmsonntag 1937 wurde in Ponce eine friedliche Demonstration der Nationalisten, noch heute als traumatisch erlebte kollektive Erinnerung lebendig, zusammengeschossen. Noch Anfang der 50er Jahre traten die nadonalistas durch bewaffnete Aktionen in Erscheinung; doch war mittlerweile durch die Bespitzelungsund Repressionsmaßnahmen der lokalen Administration wie des FBI ein Klima des Mißtrauens und der Angst geschaffen worden, das, wie es ein 8 José Juan Beauchamp, in: Edgar Martínez Masdeu (Hrsg.): 22 Conferencias de Literatura Puertorriqueña. San Juan: Ateneo Puertorriqueño/Librería Editorial Ateneo 1994, S. 334 und 345.

16 puertoricanischer katholischer Bischof formulierte, eine „Kultur des Schweigens"9 hervorbrachte und die Attraktivität der Option der Unabhängigkeit unter den Wählern beträchdich gemindert hatte. In dieser Hinsicht entscheidend war aber zweifellos die politische Option und Perspektive, die Luis Muñoz Marín aufzeigte, indem er mit seinem 1938 gegründeten Partido Popular Democrático nicht die Status-Frage, sondern wirtschaftliche und soziale Reformen und besonders vordringlich eine Landreform in den Mittelpunkt stellte, gezielt gerichtet auf die landlosen Campesinos und das vom Lande abgewanderte städtische Proletariat - mit der Losung „Brot, Land und Freiheit" und als Emblem die Silhouette eines jíbaro. Muñoz Marín und die populares beherrschten die politische Szene in Puerto Rico, bis die Partei bei den Wahlen 1968 gegen den kurz zuvor gegründeten Partido Nuevo Progresista verlor. Seitdem hat sich das ZweiParteien-System nach US-amerikanischem Vorbild endgültig etabliert, erreichen die independentistas bei Wahlen in der Regel doch nur bis 5% der abgegebenen Stimmen. Seinen langjährigen Erfolg verdankte Muñoz Marín der Option für eine größere Autonomie, die er 1952 mit dem ELA-Status durchzusetzen vermochte, und der zweifellos errungenen wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, die er Ende der 40er Jahre über die sogenannte „Operation Bootstrap" (Operation „Steigbügel") mit der Schaffung besonderer Anreize für US-amerikanische Investoren initiierte. Doch der Entwicklungsschub, der Puerto Rico in eine moderne Industriegesellschaft verwandelte, erbrachte weder eine wesentliche Entlastung des Arbeitsmarktes noch die Perspektive einer langfristig sich selbst tragenden Volkswirtschaft. Und recht eigentlich wurde das puertoricanische „Wirtschaftswunder" ermöglicht durch zwei wesentliche Faktoren: die massive Emigration von Arbeitslosen in die USA als „Ventil" für den Arbeitsmarkt und der immense Zustrom von Bundesgeldern aus verschiedenen Sozialhilfeprogrammen, insbesondere die Lebensmittelhilfe, auf die nach offiziellen Kriterien Anfang der 70er Jahre 75% der Bevölkerung Anspruch hatten. Die dem „Entwicklungsmodell" Puerto Rico inhärenten Fehlentwicklungen waren ebenso voraussehbar wie die Grenzen, an die der ELA-Status geraten würde in dem Moment, da man entsprechend dem Konzept Muñoz Maríns seine kontinuierliche „Vervollkommnung" anstreben würde. Und so mag man jene Autoren, die sich in ihren Werken kritisch mit diesen Aspek9 Zitiert nach Raymond Carr, Puerto Rico. A Colonial Experiment. New York/London: New York University Press 1984, S. 173.

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ten beschäftigen, als „ELA-Generation" bezeichnen - oder, wie es einer der herausragenden Romanciers dieser Zeit, Pedro Juan Soto, umschrieb: „Wir alle begannen im Schatten des Estado Libre Asociado zu schreiben, und wir alle rebellierten."10 Bei den jüngeren Autoren ist der Gestus der Rebellion zurückhaltender; sie thematisieren vorzugsweise die alltägliche, von einer oberflächlichen Assimilation an US-amerikanische Verhaltensmuster geprägte und damit von ihren Wurzeln entfremdete Realität insbesondere der Mittelschichten, die sich im Verlauf des Industrialisierungsprozesses herausgebildet haben, oder versuchen, durch eine Neuinterpretation der Geschichte der vorherrschenden Perspektivlosigkeit entgegenzuwirken. „Die estadidad ist für die Armen": mit diesem Slogan, propagiert im Titel einer vielfach reproduzierten Broschüre aus der Feder des zweifachen Gouverneurs Carlos Romero Barceló, gelang es dem Partido Nuevo Progresista, weitere Befürworter für seine Option der Eingliederung in die Vereinigten Staaten zu gewinnen, würde man doch dann in den Genuß zusätzlicher Hilfsprogramme kommen, die bislang noch nicht ausgeschöpft werden konnten. Doch war der Partei auch bewußt, daß sie den Faktor der nationalen Identität nicht unberücksichtigt lassen durfte; und so schuf der erste Gouverneur der novoprogresistas, Luis A. Ferré, - wie einst auch Muñoz Marín unter Berufung auf den als gesellschaftliche Gruppe nun zwar nicht mehr existenten, im Bewußtsein der Puertoricaner aber immer noch für die puertorriqueñidad stehenden jíbaro der montaña - das Konzept einer estadidad jíbara, die es Puerto Rico auch als Bundesstaat der USA gestatten würde, die eigene kulturelle Identität zu bewahren. Ferré unterschied, begriffsgeschichtlich wenig überzeugend, zwischen der patria, dem Vaterland, einerseits und der naáón, der Nation, andererseits. Puerto Rico, so Ferré, bleibe stets das „Vaterland"; die „Nation" eines Puertoricaners aber seien die Vereinigten Staaten von Amerika, denen man über die gemeinsame Staatsbürgerschaft und Loyalität verbunden sei. Diese Form der Sprachregelung scheint sich bei den novoprogresistas eingebürgert zu haben, denn auch Gouverneur Pedro Rosselló nannte in seiner Botschaft vom 25. Juli 1998 die Vereinigten Staaten „die Nation", will heißen: „unsere Nation". Doch der Umgang mit dem Begriff „Nation" verlangt im puertoricanischen Kontext extreme Bedachtsamkeit, wie Carlos Romero Barceló, gegenwärtig als Resident Commissioner der (einzige und nicht stimmberechtigte) Repräsentant Puerto Ricos im US-amerikanischen Kongreß, 10 Zitiert nach Norma Piazza, in: Martinez Masdeu, op. cit., S. 581.

18 anläßlich der Debatte im Repräsentantenhaus um das geplante Referendum erfahren mußte. Die Debatte selbst fand in der breiten Öffendichkeit nur ein geringes Echo, anders hingegen eine Äußerung Romero Barcelos, die breite Empörung auslöste: Um die Gegner der statehood-Lösung in den USA, die das Argument der „Überfremdung" durch die Eingliederung weiterer Hispanics — schon ohne die Puertoricaner werden sie bereits in naher Zukunft die Zahl von 30 Millionen erreichen - ins Feld fuhren, zu beschwichtigen, meinte er denn, Puerto Rico sei keine Nation, sondern (nur) eine Communityi, womit er implizit — und so wurde es auch von allen begriffen — Puerto Rico die vielbeschworene „nationale" Identität nahm. Wie die Puertoricaner bei dem geplanten Referendum, so es denn stattfinden wird, abstimmen werden, ist gänzlich ungewiß, lassen doch die so unterschiedlichen Ergebnisse der Umfragen kaum verläßliche Prognosen zu. Im übrigen zeigten die jüngsten Entwicklungen, daß nicht die Status-Frage, sondern die wirtschaftliche Krise, die Puerto Rico gegenwärtig erlebt, die Menschen bewegt — und zum Handeln motiviert. So weitete sich ein gegen die von Regierungsseite geplante Privatisierung der Nationalen Telefongesellschaft gerichteter Streik im Juli 1998 zu einem Generalstreik aus, der das Land zwei Tage praktisch paralysierte — eine Einheitsfront, die Puerto Rico in der Form zum letzten Mal 1934 erlebt hatte. Und obgleich der Generalstreik zwar auch politische, nicht aber die Status-Frage oder die USA direkt betreffende Implikationen besaß, wurde er mit einem eindeutigen Identitätszeichen verbunden: Wehen bei jeder Art öffendicher Veranstaltung normalerweise das US-amerikanische Sternenbanner und die einsternige Nationalflagge Puerto Ricos nebeneinander, so sah man an diesen beiden Tagen nur ein Meer von Fahnen mit der „estrella solitaria".

Luis Muñoz Rivera (1859-1916) Journalist, Lyriker und als Politiker eine der einflußreichsten Figuren während des letzten Jahrzehnts des 19. und der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts; gründete mehrere Zeitungen, darunter La Democracia (1890), Sprachrohr der Liberalen und der Autonomiebewegung unter spanischer Herrschaft, sowie den in New York herausgegebenen Puerto Rico Herald (1901), mit dem er gegenüber der USamerikanischen Regierung um eine größere Autonomie Puerto Ricos warb. Muñoz Rivera begann seine politische Karriere 1887 mit seinem Eintritt in den Partido Autonomista Puertorriqueño, in dem er bald eine führende Position einnahm und 1896 den Pakt mit den spanischen Liberalen durchsetzte, welcher ein Jahr später Puerto Rico das Autonomiestatut und ihm selbst innerhalb der Autonomieregierung die Position des Vorsitzenden des Ministerrats bescherte. Nach der USamerikanischen Invasion gründete er 1899 den Partido Federal und plädierte zunächst für einen Anschluß an die Vereinigten Staaten; doch enttäuscht ob deren mangelnder Bereitschaft, Puerto Rico analog zu der von Spanien konzedierten Carta Autonómica das angestrebte self-government zu gewähren, lehnte er fortan die stateboodLösung ab, um sich für die Autonomie, gelegentlich auch, allerdings eher aus taktischen Gründen denn aus einer inneren Überzeugung heraus, für die Unabhängigkeit auszusprechen. Angesichts der von dem Partido Republicano, den Vereinigten Staaten loyal ergebener Befürworter der estadidad, initiierten und von den lokalen Ordnungskräften geduldeten gewaltsamen Übergriffe auf die federales und insbesondere auf seine Person, sah sich Muñoz Rivera 1901 gezwungen, nach New York zu gehen, wo er sich intensiv journalistisch betätigte. Zu Beginn des Jahres 1905 kehrte er nach Puerto Rico zurück und gründete mit anderen Mitstreitern den Partido Unión, der — nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß die Partei in ihrem Programm (zeitweilig) auch die Option der Unabhängigkeit vertrat — nahezu über drei Jahrzehnte die in Puerto Rico politisch führende Kraft sein sollte. 1910 zum Comisionado Residente in Washington gewählt - ein Amt, das er bis kurz vor seinem Tod innehatte - , trug Muñoz Rivera wesentlich dazu bei, daß der US-amerikanische Kongreß mit dem 1917 verabschiedeten Jones Act den Puertoricanern Zugeständnisse gewährte, die zwar nicht, wie von Muñoz Rivera erhofft, denen der Carta Autonómica entsprachen, wohl aber einige weitergehende Reformen beinhalteten. Werke (Auswahl): Campañas políticas (1925, 3 Bände); Tropicales (Lyrik; 1902); Obras completas (San Juan: Instituto de Cultura Puertorriqueña 1964. 9 Bände).

20 Der abgedruckte Text, der nur in einer kurz nach dem Erscheinen des Interviews in der New York Tribüne in Puerto Rico veröffentlichten spanischen Version verfugbar war, ist der von Reece B. Bothwell González herausgegebenen Anthologie Puerto Rico: Cien años de lucha política. Bd. II: Documentos varios. 1869-1936 (Río Piedras: Editorial Universitaria 1979, S. 108ff.) entnommen.

Interview der New York Tribüne

vom 10. Oktober 1898 NYT: Sie stehen an der Spitze der Regierung der Insel, und das amerikanische Volk hat ein lebhaftes Interesse daran, Ihre Meinung zur Problematik Puerto Ricos zu erfahren. LMR: Ich werde die Fragen, die Sie mir stellen wollen, sehr gern beantworten und meine persönliche Ansicht klar und deudich zum Ausdruck bringen. NYT: Hat das Regierungssystem, das Spanien Puerto Rico aufzwang, Ihrer Meinung nach den Fortschritt des Landes behindert? LMR: Das alte spanische Kolonialsystem lähmte die produktiven Energien des puertoricanischen Volkes und ließ seine intellektuellen Kräfte verkümmern, indem es sie unter der Last eines absurden Despotismus erdrückte und alle Initiativen in der Hand der Regierung konzentrierte. Die Kreolen hatten kaum eine Möglichkeit, ging es um ihre kollektiven Interessen, bei den politischen Entscheidungen mitzuwirken. Die Insel wurde zu einem Monopol für eine politische Clique, die sich im wesentlichen aus der peninsularen Bevölkerung rekrutierte. Vor acht Monaten siegte schließlich die Gerechtigkeit: Es wurde die Autonomie gewährt, und die Söhne der Kolonie übernahmen die Regierungsverantwortung kraft eines überaus weitreichenden Gesetzes, das den Kammern des Inselparlaments das Recht einräumte, uneingeschränkt die Bereiche Steuern, öffendiche Bauten, Erziehung, Post und Fernmeldewesen, Wohlfahrt, Handel, Landwirtschaft und Industrie, also alles, was die inneren Angelegenheiten der Insel betrifft, gesetzlich zu regeln. Im Rahmen einer so weitreichenden Autonomie wurde dann die Entwicklung des Landes eingeleitet, und das hätte in einer kurzen Zeitspanne geleistet werden können. Mit der amerikanischen Invasion wurde dieses Werk jäh gestoppt.

21 NYT: Und was hält man von der Eignung und den Plänen der amerikanischen Regierung, die materiellen oder geistigen Interessen der Insel zu fördern? LMR: Die Insel empfing die Invasionstruppen mit Freudenbekundungen, die ich für verfrüht hielt. Ein Mindestmaß an Klugheit hätte eine würdige, noble Zurückhaltung geboten erscheinen lassen, bis die Gesetzgeber in Washington durch Worte und Taten ihre Absichten deutlich machen würden. Ich kann mir jene Bekundungen nur erklären mit Blick auf die demokratische Tradition, den expansiven Charakter und den großartigen Wohlstand der Vereinigten Staaten - Aspekte, die mit ungeheurer Suggestivkraft auf die leicht zu beeindruckende Masse unseres Volkes einwirken. Zweifellos strömen Ihnen Sympathien entgegen. Nicht nur die Masse, die keine weitreichenden Überlegungen anstellt, sondern auch die klugen und gebildeten Menschen erwarten großen Nutzen von der Entwicklung, die jetzt beginnt, und vertrauen auf einen schnellen Fortschritt dank der Mittel, welche die amerikanische Union einsetzen kann, um die Förderung unseres Reichtums und unserer Kultur voranzutreiben, die Hand in Hand gehen muß mit der Zunahme unserer Freiheiten. Wir besitzen als autonomer Staat eine eigenständige Persönlichkeit, und wir glauben, daß dies respektiert und garantiert werden wird. In Washington muß man bedenken, daß man sich die Sympathie, von der ich sprach, nur erhalten kann, wenn man Puerto Rico neue Horizonte eröffnet und die in kolonialer Abhängigkeit lebenden Menschen so schnell wie möglich zu mündigen Staatsbürgern macht. NYT: Inwieweit wäre Ihrer Meinung nach das puertoricanische Volk in der Lage, sich bereits heute auf ein self-government hin zu bewegen, wie es die Staaten der amerikanischen Union besitzen? In diesem Zusammenhang würden wir gern erfahren, welche Methoden Ihrer Ansicht nach anzuwenden wären, um die Insel zu „amerikanisieren". LMR: Die Frage ist ziemlich komplex. Ich werde dennoch versuchen, auf die zwei wesentlichen Punkte, die sie enthält, einzugehen. Ich bin der Meinung, daß mein Land sich selbst regieren und verwalten kann und daß die gesamte einheimische Bevölkerung danach strebt. Es gibt eine höchst kompetente Führung und ein verständiges, williges Volk, das diese unterstützt. Der Wunsch aller kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Die Zeit der militärischen Besatzung muß kurz sein, sehr kurz, solange in Washington der Kongreß berät; während der militärischen Besatzung Fortdauer der

22 gegenwärtig geltenden Gesetze und der gegenwärtig bestehenden Organe; dann sofort die Erklärung zum Territorium mit einer Gesetzgebung, die der Bundesgesetzgebung angepaßt werden kann, aber niemals mit weniger Autonomie und Freiheit, als wir bereits besitzen; später, innerhalb kurzer Frist, die Erklärung zum Bundesstaat, wodurch dem Streben des Landes vollends entsprochen und die völlige Identifizierung mit dem neuen Vaterland erreicht wäre. Das ist die einfachste und leichteste Methode, Puerto Rico zu „amerikanisieren". Das Volk muß das Gefühl haben, daß seinen Wünschen entsprochen wird; es muß lernen, die Institutionen der großen Republik zu lieben; es muß innerhalb dieser Institutionen eine ehrbare Existenz und ein sicheres Wohlergehen finden; seine Beteiligung an der Regierung darf nicht durch eine Einschränkung des Wahlrechts begrenzt werden; es muß daran gewöhnt werden, in größtmöglicher Ordnung im Rahmen größtmöglicher Freiheit zu leben; ihm müssen Anreize für seine Bereitschaft zur Arbeit geboten werden; und es müssen die Bedingungen geschaffen werden, damit es frei und in Wohlstand leben kann. Ich verbürge mich dafür, daß, wer dies schafft, mit der treuen Gefolgschaft und der tiefen Dankbarkeit unseres Volkes rechnen kann. Wenn man nicht den falschen Weg geht - und Spanien ging immer den falschen Weg —, wird man zum vollen Verständnis der Empfindungen, Interessen und Vorstellungen des anderen gelangen. Und dieses Verständnis ist die einzige Garantie für die nationale Solidarität, die, so nehme ich an, alle Staaten und Territorien der amerikanischen Union für erstrebenswert halten. NYT: Inwiefern wird es für die Bevölkerung der Insel eine Erleichterung sein, wenn ihr nur noch so viele Steuern auferlegt werden, wie für die Ausgaben im Land selbst erforderlich sind? Inwieweit wird sie bestrebt sein, die Erziehung und die Wohnverhältnisse zu verbessern, wenn sie von den Abgaben, die sie bis jetzt leisten mußte, befreit ist? LMR: Wenn die Steuern sinken, steigt natürlich der Reichtum des Landes. Und wenn die wichtigsten Konsumgüter mit Hilfe wohldurchdachter Zollbestimmungen billiger werden, erhöhen sich die Mittel der ärmsten Bevölkerungsschichten, die keine angemessene Wohnung haben, die in ihren Dörfern und auf den Feldern barfüß laufen, die sich schlecht ernähren, die nicht zur Schule gehen können, weil der an sich schon geringe Lohn nicht einmal ausreicht, um das Allernötigste zu kaufen, da die Waren sehr hoch besteuert

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werden, wobei der Steueranteil manchmal höher ist als der Preis, zu dem diese Waren im Ausland eingekauft wurden. Ein gerechtes Zollsystem ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß meine bedauernswerten Landsleute ihre körperlichen und geistigen Kräfte zurückgewinnen können. Sie brauchen gesundes Blut und eine elementare, praxisbezogene Bildung, die ihnen eine Vorstellung vermittelt von der Welt, in der sie vegetieren, von dem Leben, das sie ertragen müssen, und von der Arbeit, die ihre schwindenden Energien endgültig verbraucht. Die Einführung der Grundschule, die allen zugänglich ist: Das ist eine der dringlichsten Aufgaben, mit denen sich die Regierungen Puerto Ricos künftig zu befassen haben. Außerdem müssen dringend Sitte und Moral innerhalb der Familie gefördert werden. Das wird man durch die beharrliche Verkündigung des Evangeliums erreichen, mit welcher dem gefährlichen Verfall der Moral entgegengewirkt werden muß, dem Teile der ländlichen Bevölkerung ausgesetzt sind, möglicherweise ohne zu wissen, welchen Schaden dies bei ihnen verursacht. NYT: Werden die derzeit zu beobachtenden Gegensätze zwischen den Spaniern und den Einheimischen, so wie sie sich in den Ausschreitungen im Zentrum der Insel manifestieren, weiter bestehen bleiben, und werden diese Gegensätze die unteren Schichten in Aufruhr versetzen und das Leben wie das Eigentum der Spanier ernsthaft gefährden? LMR: Auf gar keinen Fall. Ich verurteile diese Manifestationen der Feindseligkeit gegenüber den Spaniern. Und alle vernünftigen Menschen verurteilen sie genauso wie ich. Sie sind der überflüssige Ausdruck eines Grolls, der heute keine Berechtigung mehr hat. Aber in der Perspektive, die Sie ansprechen, sieht niemand darin eine Gefahr, denn jeder weiß, daß die Massen nicht einen einzigen Spanier getötet haben, daß während dieser turbulenten Zeit, die wir erlebten, nicht ein einziges Opfer zu beklagen war und daß Leben und Ehre vom Volk respektiert wurden. Die Unruhen werden vorübergehen. Es wird wieder Ruhe einkehren, und die Spanier werden in Puerto Rico ebenso unbehelligt und erfolgreich leben wie in Buenos Aires oder Mexiko. Bedenken Sie, daß die wenigen, die angegriffen und beschimpft wurden, zu denen gehörten, die ihren Haß gegen das Land zu weit getrieben hatten. Noch vor Ende des Jahres 1898, vielleicht sogar schon vor Ende Oktober, werden die amerikanischen Streitkräfte die öffendiche Ordnung wiederhergestellt haben, und man wird sehen, wie gefugig und regierbar das puertoricanische Volk ist. Es gab Ausschreitungen, da sich die Guardia Crnl zurückgezogen hatte und es in den ländlichen Gebieten keine Polizeikräfte

24 gab. Sobald es wieder eine Polizei und Sicherheitsmaßnahmen gibt, werden die Ausschreitungen ein Ende haben. NYT: Wird das Naturell der Bevölkerung in den kommenden Jahren große Truppenkontingente erfordern, damit mögliche revolutionäre Unternehmungen unterbunden werden können? LMR: Nein, ganz sicher nicht. Natürlich werde ich nicht den Versuch unternehmen, dem Kriegsministerium auch nur im Ansatz Ratschläge zu erteilen. In Washington ist man gut informiert und wird wissen, welches Truppenkontingent für Puerto Rico während der Besatzungszeit erforderlich ist. Aber ich versichere Ihnen, daß ich nicht an die Möglichkeit einer Revolution glaube, nicht einmal an die einer Verschwörung, solange im Geist der Gerechtigkeit und mit demokratischen Verfahrensweisen regiert wird. Dieses Volk ist weder aufrührerisch noch aufsässig, sondern von Natur aus eher friedfertig und duldsam. Hier garantiert man die öffentliche Ordnung mit einer Abteilung von zwölf Mann in jedem Dorf und hundert Mann in jeder Stadt, neben den größeren Truppenkontingenten, die man an bestimmten Standorten zu stationieren gedenkt. Spanien verbrachte zu normalen Zeiten nie mehr als fünftausend Soldaten auf die Insel. NYT: Wie wird sich die Beseitigung der Handelsschranken auf die materiellen Interessen der Insel auswirken? LMR: Ganz großartig. Das Land wünscht den freien Warenaustausch mit der amerikanischen Union. Wenn der Haushalt Puerto Ricos von den Ausgaben für die Marine, das Heer und die nicht am Produktionsprozeß beteiligten Gruppen entlastet wird, reduziert er sich auf einen geringen Betrag. Und dieser Betrag wird von den auf ausländische Produkte erhobenen Zöllen abgedeckt werden können, ohne daß diese Zölle erhöht oder höhere Bewertungen vorgenommen werden müssen. Sie sind schon jetzt zu hoch und müssen korrigiert werden, soweit es die Erfordernisse einer Verwaltung erlauben, die in erheblichem Umfang und unverzüglich Kosten einsparen und vereinfacht werden muß. [...] Nun wissen Sie, Mr. Howard Thompson, wie ich zu den wichtigsten aktuellen Themen stehe. Hoffentlich erweist sich diese Information als nützlich für mein armes Vaterland, das so klein und so gefügig ist, ebenso wie für Ihr Vaterland, das so groß und so mächtig ist. Übersetzt von Ursula Rinne

Eugenio Maria de Hostos (1839-1903) Rechtsgelehrter, Soziologe und Pädagoge, der durch unzählige wissenschaftliche Abhandlungen und essayistische Artikel, zeitweise auch als Hochschullehrer, in zahlreichen Ländern Lateinamerikas als Reformator wirkte; verkörperte den Typus des Universalgelehrten, der sich auch ökonomischen, philosophischen, geographischen, historischen und sogar kunst- und literaturwissenschaftlichen Problemen widmete, der seine Studien jedoch nicht fernab der zeitgenössischen Wirklichkeit verfaßte, sondern diese stets, inspiriert durch ein engagiertes politisches Bewußtsein, in den Dienst eines liberalen erzieherischen Ideals stellte. Ab 1860 widmete sich Hostos in Madrid zunächst dem Studium der Rechtswissenschaften, das er jedoch abbrach, um sich im Umfeld der spanischen Republikaner durch eine intensive journalistische Tätigkeit für die Liberalisierung des Kolonialsystems in Kuba und Puerto Rico und die Abschaffung der Sklaverei einzusetzen. Er verfolgte zunächst das Ziel einer Autonomie für die noch verbliebenen spanischen Kolonien; doch enttäuscht darüber, daß selbst die 1873 an die Macht gekommenen Republikaner der „Ersten Republik" sich genauso wenig wie die Monarchisten willens zeigten, in den Kolonien tiefgreifende Reformen zuzulassen, verließ er Spanien, um fortan für die Unabhängigkeit Kubas und Puerto Ricos und eine die Karibik umspannende „Antillanische Konföderation" zu werben. Seine unermüdlichen Reisen führten ihn von New York, wo er sich an den Aktivitäten der kubanischen Revolutionäre beteiligte, über zahlreiche Länder des lateinamerikanischen Kontinents schließlich in die Dominikanische Republik, wo er ab 1879 vorwiegend als reformerischer Pädagoge tätig war - hier gründete er auch ein Jahr später das erste Lehrerseminar — und wo seine grundlegenden wissenschaftlichen Werke, verfaßt für seine Studenten, entstanden. 1880 wurde er auf einen Lehrstuhl für Verfassungsrecht nach Chile berufen, wo er sich gleichzeitig — seinen ursprünglichen Idealen folgend — intensiv journalistisch betätigte. Nach der US-amerikanischen Invasion kehrte Hostos im September 1898 nach Puerto Rico zurück. In seinem Tagebuch vermerkte er kurz vor seiner Ankunft beim Anblick der Küstenregionen seiner Heimat: „Ich dachte, wie rühmlich es doch gewesen wäre, wenn [Puerto Rico] sich aus eigener Kraft befreit hätte, und wie traurig, bedrückend und beschämend es doch war, mit anzusehen, wie das Land den einen Gebieter gegen den anderen austauschte, ohne jemals sein eigener Gebieter zu sein, und wie es von einer Souveränität zur nächsten wechselte, ohne jemals die eigene Souveränität zu besitzen." (Hostos 1939:11/2, 344). Er bemühte sich zunächst, als Mitglied einer offiziellen Delegation gegenüber den Vereinigten Staaten den puertoricanischen Standpunkt darzulegen. Doch war er, der dezidiert für die Unabhängigkeit Puerto Ricos eintrat und allenfalls eine Übergangszeit zulassen

26 wollte, unter seinen nahezu ausschließlich den sofortigen Anschluß an die Vereinigten Staaten fordernden Zeitgenossen ein Außenseiter, was ihn dazu bewog, sich desillusioniert vom politischen Tagesgeschehen zurückzuziehen. So entsprach er 1900 dem dringenden Appell der dominikanischen Regierung, in die Dominikanische Republik zurückzukehren, wo er sich bis zu seinem Tod als Generalinspektor des Erziehungswesens wiederum vorwiegend pädagogischen Aktivitäten widmete. Werke (Auswahl): Lecäones de derecho constituáonal (1887); Moral social {1988); Tratado de sociohgia (1901); ha peregrinaäon de Bayodn (Roman; 1863); Cuentos a mi hijo (Erzählungen; 1878); Obras completas. Edición conmemorativa del Gobierno de Puerto Rico 1839-1939 (La Habana: Cultural 1939. 20 Bände). Der abgedruckte Text besteht aus zwei Teilen: Die erste Passage ist ein Auszug aus einer Botschaft an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, verfaßt von José Julio Henna, dem einflußreichsten Vertreter des puertoricanischen Exils in New York und Befürworter des Anschlusses an die USA, die dann von den beiden anderen Abgesandten, Manuel Zeno Gandia und Hostos selbst, revidiert und schließlich gemeinsam dem US-amerikanischen Präsidenten überreicht wurde. Die zweite Passage ist eine allein von Hostos verfaßte Zusatzerklärung, die dieser als Sondervotum der Botschaft beifügte. Entnommen sind beide Texte dem von Hostos verfaßten Werk Madre Isla. (Campaña política por Puerto Rico, 1898-1903), in: Hostos 1939:V, 83ff.

Botschaft an den Präsidenten der Vereinigten Staaten [1899] (unter Mitwirkung von José Julio Henna und Manuel Zeno Gandia) Herr Präsident, wir haben die Ehre, uns Euer Exzellenz als Überbringer einer Grußbotschaft des puertoricanischen Volkes vorzustellen und als dessen Wortführer in einer höchst bedeutsamen Angelegenheit zu fungieren, von der unser zukünftiges Glück und Wohlergehen abhängt. Gestatten Sie uns jedoch, bevor wir diese Angelegenheit erörtern, im Zusammenhang mit dem beispiellosen Befreiungskrieg, der unserem Verständnis nach im Namen der Menschheit und aus Liebe zur Menschheit unternommen wurde, auf gewisse Begleitumstände hinzuweisen. Damit meinen wir den herzlichen Empfang, die morali-

27 sehe Unterstützung und die effiziente Mithilfe, die unser Land dem amerikanischen Invasionsheer entgegenbrachte. Kaum war die Vorhut der Invasionstruppen an Land gegangen, war sie zutiefst beeindruckt von der herzlichen Aufnahme durch die Puertoricaner. Dies entsprach nicht einem nur vorübergehenden Enthusiasmus, sondern beruhte darauf, daß uns die Absichten der amerikanischen Regierung bekannt waren, so wie sie General Miles in seinem Aufruf an die Einwohner von Ponce zum Ausdruck gebracht hatte. Da wir nun wußten, daß es die Absicht des amerikanischen Volkes und seiner Regierung war, uns von der tyrannischen Herrschaft Spaniens zu erlösen, beschlossen wir, von unseren revolutionären Plänen abzulassen und uns unter den Schutz unserer Befreier zu begeben. Mit allen Mitteln, die uns zur Verfugung standen, trugen wir dazu bei, den Feind aus unserem Land zu vertreiben: mit dem Ergebnis, daß, nachdem sich unser Volk dem Invasionsheer angeschlossen hatte, die Isolierung der spanischen Truppen, die schnellen Siege der amerikanischen Streitkräfte und das Vermeiden von Blutvergießen im wesentlichen unseren Landsleuten zu verdanken war. Als am 18. Oktober 1898 auf dem Gouverneurspalast in San Juan die amerikanische Fahne gehißt wurde, verkündete man vor aller Welt, - daß ein versklavtes Volk befreit und in den Stand eines freien Volkes erhoben worden war; - daß wir dem amerikanischen Volk als dessen Brüder und Freunde vollkommen gleichgestellt waren; - und daß mit dem Sieg über Spanien und der Befreiung Puerto Ricos im Namen der Menschheit und aus Liebe zur Menschheit die Aufgabe der Streitkräfte erfüllt war. Bis der Kongreß über die endgültige Regierungsform, die unsere Insel erhalten soll, entschieden hat - eine Frage, in der unser Volk davon ausgeht, zu Rate gezogen zu werden —, möchten wir einen Plan für Reformen vorlegen, die von so zwingender Notwendigkeit sind, daß wir ohne ihre sofortige Durchsetzung am Rande des Ruins stehen. Wir fordern: 1. die Ernennung eines zivilen Gouverneurs; 2. ein aus vierzehn gewählten Mitgliedern zusammengesetztes Gremium, das mit jeweils zwei Mitgliedern die sieben Verwaltungsbezirke der Insel vertritt, das die Befugnis hat, in insularen Angelegenheiten Gesetze zu

28 erlassen, das in allen Bereichen der insularen Verwaltung über Finanzhoheit verfugt und das nur dem Veto des Generalgouverneurs unterworfen ist, wodurch der sogenannte Ministerrat abgelöst würde; 3. absolute Autonomie der Munizipien, die allein durch die per Gesetz und Gerichtsentscheid verfügten Einschränkungen beschnitten wird; 4. Anwendung der Menschen- und Bürgerrechte, so wie sie in den Absätzen 2 bis 7 der zweiten Sektion, Artikel 1 der Verfassung der Vereinigten Staaten aufgeführt sind;1 5. Anwendung der Zusatzartikel 1 bis 10 derselben Verfassung; 6. Reduzierung der Besatzungstruppen auf der Insel auf 300 Mann pro Verwaltungsbezirk und Bildung einer einheimischen Miliz; 7. Freihandel mit den Vereinigten Staaten; [...] Ehrerbietig vorgelegt von den Abgesandten Puerto Ricos. (Unterschriften)

Zusatzerklärung von Eugenio María de Hostos Ich wurde speziell damit beauftragt, einer Pflicht nachzukommen, welche die Mehrheit der Puertoricaner als die ihre betrachtet. Unser aller Pflicht ist es, einer falschen Interpretation der Geschehnisse entgegenzuwirken, die sich während der Invasion unserer Insel durch die amerikanischen Steitkräfte ereigneten. Man geht allgemein davon aus, daß Puerto Rico die Herrschaft der Vereinigten Staaten akzeptiert hat, so als wäre dem Land an der eigenen Souveränität nicht gelegen, so als hätte es sich wie ein Sklave dazu entschlossen, sich jedweder Entscheidung über sein Schicksal zu beugen. Dieser Irrtum läßt sich in gewisser Weise erklären. Weit davon entfernt, sich der Invasion der Insel und ihrer Inbesitznahme durch die amerikanischen Streitkräfte zu widersetzen, bereiteten die Puertoricaner diesen einen überaus herzlichen und wohlwollenden Empfang. Diese gewinnende und offenherzige Bereitschaft, den Befreiern zuzujubeln, die von der Geschichte 1 Diese Angabe ist nicht ganz korrekt; sie mag sich allenfalls hinsichtlich des Wahlrechts auf den Art. 1 der Verfassung beziehen. Die Garantie der Grundrechte ist in den ersten zehn Amendments oder Zusatzartikeln der Verfassung („Bill of Rights") festgeschrieben, auf die sich dann die fünfte Forderung bezieht. (Anm. d. Übers.)

29 als leidenschaftliche Verdammung der spanischen Herrschaft dargestellt werden wird, wurde als Verzicht auf eigene Rechte ausgelegt. Das ist nicht der Fall. Wir müssen klarstellen, und dies ein für allemal, daß wir nie eine andere Herrschaftsform, Regierung oder Administration gewollt haben als die, welche uns erlaubt, uns selbst zu regieren. Wir widersetzen uns nicht der vorübergehenden Herrschaft der Vereinigten Staaten auf unserer Insel. Im Gegenteil: Es gibt vielleicht niemanden, weder auf unseren Nachbarinseln, die unsere Sprache sprechen, noch in der Union der Vereinigten Staaten selbst, der besser weiß als wir, wie vorteilhaft für unsere Insel, für die Verbreitung der Freiheit und für die praktische Einübung des Regierens durch alle und für alle die Herrschaft der Vereinigten Staaten über unser Volk sein würde. Aber gerade aufgrund unserer Kenntnis der amerikanischen Institutionen und der Liebe, die wir ihnen entschieden entgegenbringen, möchten wir wie Menschen und nicht wie Vieh regiert werden, mit unserer Zustimmung und nicht gegen sie, nur bedingt, vorübergehend und nicht unbegrenzt. Das heißt, wir möchten in der Weise regiert werden, daß wir immer die Freunde und Verbündeten unseres starken größeren Bruders auf dem Kontinent sein können, und auch in der Weise, daß wir nicht das Leid, die Verbitterung und den Groll der Knechtschaft erdulden müssen. Da der Präsident der Vereinigten Staaten erklärt hat, daß jede „erzwungene Annexion eine kriminelle Aggression" ist; da die Grundlage der Föderation in dem Prinzip besteht, daß die Regierungsgewalt auf der Zustimmung der Regierten beruhen muß; da die größte Wohltat, welche die Amerikaner der Zivilisation gebracht haben, die Erkenntnis ist, daß politische Herrschaft dem Leben, der Freiheit und dem Streben nach Glück zu dienen hat; da seit Beginn der Existenz der Vereinigten Staaten, von [John] Smith bis zum human gesinnten [William] Penn, von Roger Williams bis zu den großen Denkern der Verfassung, niemals Land besetzt wurde, ohne daß zuvor eine vertragliche Abmachung mit den Besitzern erfolgt wäre; da schließlich die erzwungene Annexion Puerto Ricos eine kriminelle Aggression gegen Menschen und nicht nur gegen Grund und Boden bedeuten würde, bitten meine Vollmachtgeber und ich den Präsidenten der Union — und wir tun dies auf ehrerbietigste Weise und mit den größten Hoffnungen —, daß er, wie für Kuba und die Philippinen geschehen, erklären möge, daß die Besetzung Puerto Ricos vorübergehend sein wird, bis das puertoricanische Volk einen gewissen Bildungsstand erreicht und gelernt hat, sich selbst zu regieren.

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Wenn man so verfährt, wird unsere „Mutterinsel" nichts zu bereuen haben, und die amerikanische Union wird die einzige Macht sein, der es in der Geschichte zu Ruhm und Segen gereichen wird, daß sie Macht an Recht und Gerechtigkeit gebunden hat. [...] Übersetzt von Sibylle Goos und Nicole Stangl

José Celso Barbosa (1857-1921) Journalist, Hochschullehrer und als Politiker zuerst Weggefährte, sodann Gegenspieler von Luis Muñoz Rivera; studierte in den Vereinigten Staaten zunächst Ingenieurwissenschaften, wechselte jedoch zum Medizinstudium über, das er mit der Promotion beendete. Um 1882 schloß sich Barbosa der Partei der Liberalen, 1870 in Partido Autonomista Puertorriqueño umbenannt, an, um sich, sehr bald als führendes Mitglied in die Parteispitze aufgestiegen, für die Durchsetzung einer weitgehenden Autonomie von Spanien einzusetzen. Doch als überzeugter Republikaner widersetzte er sich dem 1897 von Muñoz Rivera zwecks Edangung der Autonomie mit den spanischen Monarchisten ausgehandelten Pakt und verließ die Partei, um eine eigene Gruppierung, den Partido Autonomista Ortodoxo oder Puro y Radical zu gründen. Bei den ersten unter der von Spanien gewährten Carta Autonómica anberaumten Wahlen errang seine Partei zwar nur ein bescheidenes Ergebnis; er erklärte sich aber bereit, unter der Autonomieregierung das Amt eines Unterstaatssekretärs zu übernehmen. Die US-amerikanische Invasion wurde von Barbosa enthusiastisch begrüßt, denn in der erhofften Integration Puerto Ricos in die Union als Bundesstaat sah er die einzige Garantie für eine demokratische Verfassung und eine politische Praxis, welche den bis dahin herrschenden feudalen Strukturen der puertoricanischen Gesellschaft ein Ende bereiten würde. Bereits 1899 gründete er zwecks Durchsetzung der estadidad oder statehood-Lösung den Partido Repubäcano und erwies sich den aufeinanderfolgenden US-amerikanischen Administrationen als so loyaler und bedingungsloser Anhänger ihrer Interessen, daß ihm dies auch gelohnt wurde: So wurde er 1900 nach Edaß des ¥ oraker Act, dem ersten, eine zivile Regierung einsetzenden Grundgesetz, vom US-amerikanischen Präsidenten sogleich zu einem der fünf puertoricanischen Mitglieder des in der Mehrzahl von US-Amerikanem besetzten Consejo Ejecutivo ernannt - ein Amt, das er bis zum Edaß des Jones Act 1917 bekleidete, um sodann bis zu seinem Lebensende einen Sitz im neugeschaffenen Senat zu übernehmen. Barbosa galt zweifellos als überzeugter und integrer Demokrat, der über den Anschluß Puerto Ricos an die Vereinigten Staaten die politische (Un-)Kultur des Landes zu reformieren suchte. Doch stieß er bei vielen seiner Zeitgenossen auch auf erhebliche Kritik, indem er der von der US-amerikanischen Administration in den ersten Jahrzehnten aggressiv vorangetriebenen, alle Bereiche der puertoricanischen Gesellschaft umspannenden „Amerikanisierung" in einer Weise das Wort redete, daß er das hispanoamerikanische Kulturerbe einschließlich der spanischen Sprache der als ausgereifter und humaner bewerteten US-amerikanischen Zivilisation zu opfern bereit war.

32 Werke (Auswahl): Orientando alpueblo. 1907-1921 (1939); La obra de José Celso Barbosa (San Juan: Impr. Venezuela/Ed. La Obra de J.C.B. 1937ff. 13 Bände). Der abgedruckte Text, „Contra-Americanización" in der Originalfassung, erschien am 29. 6. 1907 in El Tiempo, dem Sprachrohr des Partido Republicano, und wurde in dem Sammelband Orientando al pueblo nachgedruckt, dem die vorliegende Fassung entnommen ist (in: Bd. IV der Werkausgabe, S. 47ff.). Die Hervorhebungen im Text entsprechen dem Original.

Kontra-Amerikanisierung Richtig! Na und? Puerto Rico will sich amerikanisieren. Puerto Rico strebt an, in vollem Umfang die Rechte der amerikanischen Staatsbürgerschaft zu erlangen, und zwar in demselben Maße, in derselben Form und in der Vollständigkeit, wie sie die Bewohner aller metropolitanen Regionen genießen, die sich Staaten der Amerikanischen Union nennen. Das strebt Puerto Rico an. Das will es. Das wird es erreichen. Was Puerto Rico nicht anstrebt, ist, aus eigener Initiative oder der des Kongresses der Vereinigten Staaten wie unsere Schwesterinsel Kuba eine unabhängige Republik zu werden. Eine solche Lösung kam Puerto Rico nie ernsthaft in den Sinn, nicht einmal zu Zeiten, da die Verzweiflung böse Gedanken inspirieren mochte; zu Zeiten, da von den etablierten Verfechtern der Peitsche für den Bruder Vorsicht und Klugheit nicht als Verhaltensweisen einer ihnen unbegreiflichen Unterwerfung unter den, der ihn %üchtigt, gedeutet wurden, sondern als Verhaltensweisen von zur Hölle Verdammten, die es verdienten, zu den wilden Horden Afrikas gezählt zu werden. Was Puerto Rico nicht anstrebt, ist, vom Kongreß der Vereinigten Staaten - der einzigen Körperschaft, die aufgrund des Vertrags von Paris dazu berechtigt ist — zu einem autonomen Volk erklärt zu werden, wie es dies in der jüngsten Vergangenheit, am Vorabend des spanisch-amerikanischen Krieges, gewesen ist, denn jene traurige und beklagenswerte Erfahrung hat eindeutig gezeigt, daß dies nur eine für das Mutterland selbst zufriedenstellende Lösung war. Als unser Land einschließlich der Menschen von Spanien an die Vereinigten Staaten abgetreten wurde, erschien die Zukunft Puerto Ricos offen für den

33 belebenden, erfrischenden und stärkenden Aufwind der wahren Freiheit und echten Demokratie einer Republik, und wie alle Völker, die unbarmherzig vom Unglück verfolgt wurden, dachte Puerto Rico, daß nun die Stunde der Erlösung gekommen war, und es machte sich vom ersten Augenblick an daran, gewissenhaft daraufhinzuarbeiten, jenes fabulöse Ziel zu verwirklichen, das darin besteht, frei sein, absolut frei innerhalb der großen Föderation freier Staaten, welche die amerikanische Fahne eint und beschützt. Das spanische Puerto Rico blieb bis zum letzten Augenblick seiner Fahne treu. Das amerikanische Puerto Rico fühlt sich der Geschichte der neuen Fahne verpflichtet, zeigt sich treu gegenüber den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die sie garantiert, und tritt dafür ein, daß sein Name eines Tages einen weiteren Stern unter jenen repräsentiert, mit denen das Blau ihrer Farben übersät ist. Puerto Rico bleibt seiner Geschichte treu. Es sucht die Freiheit. Unter der Kolonialmacht, die Puerto Rico abtrat, nannte es sie Autonomie. Unter der Metropole, die Puerto Rico erwarb, nennt es sie Identifikation. Puerto Rico amerikanisiert sich, weil es sich notwendigerweise amerikanisieren muß. Die Metropole hat im Karibischen Meer ein Stück Land erworben, das sie dazu ausersehen hat, zu einem amerikanischen Territorium zu werden. Der Versuch - wie auch immer er geartet sein und woher auch immer er kommen mag —, das Land von dem Weg, den es eingeschlagen hat, abzubringen, ist vergeblich. Keine Macht der Welt vermag den politischen Entwicklungsprozeß des Landes umzukehren und ihn in die verwerflichen Bahnen einer unnützen Aufwiegelung zur Rebellion zu lenken. Dies gelang nicht in Zeiten einer unbegreiflichen Versklavung, nicht einmal mit der Peitsche der Provokation. Und es wird nicht gelingen in Zeiten der Freiheit, des Fortschritts und des materiellen Wohlstands, nicht einmal mit der Provokation der Peitsche. Puerto Rico weiß, wohin es geht. Puerto Rico kennt seine Freunde, ebenso wie es seine Feinde kennt. Puerto Rico amerikanisiert sich und geht seinen Weg, ohne mit Grauen den Blick zurückzuwenden. Es verzeiht großmütig die Kränkungen der Vergangenheit und sehnt sich nach den Wohltaten der Zukunft, taub gegenüber parteiischer Agitation und wendig, wenn es darum geht, mögliche

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Gefahren lächelnd abzuwenden und die bezwingbaren Hindernisse der Gegenwart zu überwinden. Der Prozeß der Amerikanisierung schreitet siegreich voran, und er bedeutet Demokratie und Freiheit. Der Prozeß der Anti-Amerikanisierung wird sich vergeblich abmühen, um das wieder aufleben zu lassen, was rettungslos verloren ist. Übersetzt von Natascha Bieling und Silke Spangler

José de Diego (1866-1918) Lyriker, Essayist, Journalist, Anwalt und als Politiker unter spanischer Herrschaft Befürworter der Autonomie, sodann Verfechter der Unabhängigkeit; studierte ab 1883 in Spanien, wurde 1885 aufgrund satirischer, gegen die spanische Regierung gerichteter Verse zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, 1886 jedoch amnestiert; führte sein Studium der Rechtswissenschaften zunächst in Puerto Rico fort, um es dann 1892 in Havanna — Puerto Rico verfügte noch über keine Universität — mit der Promotion abzuschließen. Endgültig nach Puerto Rico zurückgekehrt, betätigte sich de Diego erfolgreich als Anwalt, gleichzeitig aber auch als kämpferischer Journalist und Politiker in den Reihen der autonomistas und übernahm unter der Autonomieregierung den Posten eines Unterstaatssekretärs. Bei der Gründung des Partido Unión 1904 zeichnete er verantwortlich dafür, daß als eine der drei Optionen in der Status-Frage zum ersten Mal auch die Unabhängigkeit in ein Parteiprogramm aufgenommen wurde; und obgleich er bis zu seinem Tod innerhalb der US-Administration diverse Posten, u.a. den des Senatspräsidenten, innehatte, vertrat er in seinen Reden und Artikeln vehement sein Ideal eines unabhängigen Puerto Rico. Diese kompromißlose Haltung brachte ihn spätestens seit 1914 in Konflikt mit Luis Muñoz Rivera, der angesichts der Bereitschaft des US-amerikanischen Kongresses, Puerto Rico hinsichtlich der inneren Selbstverwaltung Zugeständnisse zu machen, eine direkte Konfrontation mit den Vereinigten Staaten vermeiden wollte. Schließlich kam es zum Bruch zwischen den beiden einstigen Weggefährten, und de Diego zog sich aus der Tagespolitik zurück, um sich fortan, wie vor ihm Hostos, der Propagierung einer Unión Antillana zu widmen, die über die gemeinsame Sprache und das gemeinsame kulturelle Erbe eine Annäherung Puerto Ricos an die anderen hispanoamerikanischen Staaten bewirken sollte und an deren Gründung 1915 er erheblichen Anteil hatte. José de Diego profilierte sich aber nicht nur als kämpferischer Redner und Essayist - mal wortgewaltig und aggressiv, dann wieder subtil-ironisch und poetisch - , sondern auch als herausragender Lyriker. Er war zunächst noch von der Romantik, sodann vom Modemismus beeinflußt, den er allerdings trotz seiner Bewunderung für dessen herausragende Figur, den Nicaraguaner Rubén Dario, für das eigene wie für das nationale literarische Schaffen nur für bedingt geeignet hielt, wenn es weniger um eine Erneuerung der ästhetischen Ausgestaltung seiner Gedichte als um die Repräsentation der ihn bedrückenden nationalen Wirklichkeit ging. Im Prolog zu dem Band Cantos de rebeldía (Gesänge der Rebellion-, 1916), in dem seine zwischen 1913 und 1916 entstandenen Gedichte zumeist patriotischen Inhalts enthalten sind und in dem er sich auch mit dem Modemismus und seinen puertoricanischen Adepten kritisch auseinandersetzt, benennt er sein poetisches Programm, das auch für sei-

36 nen letzten, 1949 postum erschienenen, von einer gewissen Desillusion und Melancholie geprägten Gedichtband Cantos depitim gilt: „Unter diesen Poeten bin ich der letzte, der ich meine Gesänge der Rebeläon, meine Schreie des Protests und des Widerstands gegen den Tyrannen meines Vatedandes in die Lüfte und in das Herz der Welt hinausschreie." (Zit. nach der Ausgabe von 1966 [San Juan: Editorial Cordillera], S. 23.) Werke (Auswahl): Nuevas campañas. Independencia de Puerto Rico - Unión Antillana - Solidaridad Ibero-americana (1916); Pomarrosos (Lyrik; 1904); Cantos de rebeldía (Lyrik; 1916); Cantos de pitim (Lyrik; 1950); Obras completas (San Juan: Instituto de Cultura Puertorriqueña 19701973. 2 Bände). Der abgedruckte Text, „Bomberos contra estrellas" in der Originalfassung, ist die Antwort auf eine vom US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson 1914 vor dem Kongreß gehaltene Rede und entstammt dem Band Nuevas campañas (Barcelona: Sociedad General de Publicaciones 1916, S. 55ff.). Die Hervorhebungen im Text entsprechen dem Original.

Feuerwehrmänner gegen Sterne So, wie man sie zu verstehen hat, ist die Botschaft Präsident Wilsons an den Kongreß im Zusammenhang mit Puerto Rico das Beste, was je ein Präsident dem Bundesparlament gegenüber geäußert hat: ein Dokument, das, wie ein furchtbarer Bannfluch gegen die Republikanische Partei geschleudert, eine weise Mahnung an das Volk der Vereinigten Staaten und eine berechtigte Hoffnung für das puertoricanische Volk beinhaltet. DIE MAHNUNG: „Puerto Rico, Hawaii und die Philippinen gehören den Vereinigten Staaten, aber nicht, damit diese Nation mit ihnen machen kann, was sie will." Verstehe das folgendermaßen, amerikanisches Volk: Du bist eine Republik, kein Kaiserreich; du besitzt einen Magistrat, keinen Cäsar; du bist Befreier, nicht Eroberer. Nur weil du stark bist, kannst du nicht nach Belieben über die Schwachen verfügen und mit ihnen machen, was dir gefällt, sondern allein, was Gott gefällt, der Menschheit, dem Ruhm Amerikas und dem Triumph des Guten.

37 DER BANNFLUCH: „Die genannten Gebiete, die bis vor kurzem lediglich als Besitzungen betrachtet wurden, werden von nun an nicht mehr in eigennütziger Absicht ausgebeutet." Von nun an nicht mehr ausgebeutet zu werden, bedeutet, daß sie bis vor kurzem ausgebeutet wurden, bis zu genau dem Moment, da der donnernde Verweis im Kapitol ertönte. Deudich, hart, scharf und glänzend wie ein Schwert hat dieser Satz fünfzehn Jahre der Finsternis, des Unrechts und der Angst zerfetzt und erhellt. Durch seine Schneide geköpft, wälzen sich nun im Licht seines Glanzes auf dem Grunde der Zeit die Militärregierung, der ForakerAct, der Consejo Ejecutivo, die Anarchie von 1902 und 1903, der Gesetzgebungskonflikt von 1909, die Schmähungen des Präsidenten Taft und die Selbstherrlichkeit der einzelnen Ressorts; und mit dem Fuß in ihrem Nacken erhebt sich unser siegreicher Schmerz in hellem Licht wie der Erzengel über der schwarzen Seele der Abgründe. Die donnernden Worte Präsident Wilsons und der Demokratischen Partei treffen nicht nur die Amerikaner, die auf diese Weise die edlen Prinzipien, die Fundamente der Republik, pervertiert und entehrt haben, sondern auch - und dies ist die bitterste Wahrheit - die unseligen Puertoricaner, die ihnen geholfen und applaudiert haben, die ihre Komplizen waren und - nicht zufrieden damit, sich der Beihilfe schuldig gemacht zu haben sich als Täter der Republikanischen Partei anschlössen und mit ungeheurem Zynismus öffenüich ihre Solidarität mit den Männern und der Partei bekundeten, die unser Vaterland beleidigten und unterdrückten. Sie könnten sich nun in Lobreden auf den erlauchten Demokraten ergehen, der jetzt die Geschicke der amerikanischen Nation lenkt; doch sie verschließen Augen und Ohren, um den harten Tadel nicht zu sehen und die gerechte Verdammung nicht zu hören, die von der erhabenen Rede des Präsidenten der Vereinigten Staaten auf sie niedergeht und aus der Tiefe der Klage des puertoricanischen Volkes zu ihnen emporsteigt. DIE HOFFNUNG: „Sie werden behandelt werden, wie es das öffendiche Bewußtsein und eine zweckdienliche und weise Politik erfordern, wobei dem Volk, das dort lebt, Rechnung getragen und ihm gegenüber mit derselben Vorstellung von Verantwortung gehandelt wird, wie wir sie für uns in unseren eigenen inneren Angelegenheiten übernehmen."

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So spricht der Präsident über Puerto Rico, Hawaii und die Philippinen, wobei er Puerto Rico an erster Stelle nennt: ein feierliches Versprechen von Freiheit und Gerechtigkeit. Das will Puerto Rico ebenso wie sicherlich auch die Philippinen und Hawaii: behandelt werden entsprechend den Vorgaben des öffentlichen Bewußtseins, mit einer zweckdienlichen und weisen Politik und mit derselben Verantwortung, die das amerikanische Volk für seine eigenen Angelegenheiten walten läßt. Dieselbe Politik in den Beziehungen der US-amerikanischen Regierung zu ihrem Volk und zu unserem Volk, das ein andersgeartetes und eigenständiges Volk ist, mit demselben Recht auf Anerkennung seiner Lebensweise, seiner Persönlichkeit, seiner Ehre und seiner Unabhängigkeit wie das amerikanische Volk. Nicht eine Außenpolitik, die feindselig ist oder von der Innenpolitik abweicht, sondern eine einheitliche Politik, die allein auf dem Willen und der Harmonie der Völker basiert. „Ohne Zweifel werden wir Puerto Rico und Hawaii durch das Band der Gerechtigkeit, des gegenseitigen Interesses und der Zuneigung erfolgreich an uns binden." Dieses großartige Konzept kann sich nicht auf die Souveränität beziehen, weil eine in der Zukunft liegende Handlung weder logisch noch grammatikalisch, weder der Idee noch ihrem Ausdruck nach eine Handlung der Vergangenheit berührt, denn das Konzept umfaßt auch Hawaii, das bereits ein Teil der Union ist, das sich folglich nicht erst der amerikanischen Souveränität anschließen muß, das bereits ein Territorium von amerikanischen Staatsbürgern ist, über welches sich die Souveränität der Union erstreckt. Die Gedanken des Präsidenten erheben sich zu einem Gipfel, der über die politische Souveränität hinausgeht: Er drückt die Überzeugung aus, daß die Gerechtigkeit, das gegenseitige Interesse und die Zuneigung jene Brüderlichkeit bestärken, die stets zwischen Völkern bestehen sollte, welche das Schicksal miteinander in Berührung gebracht hat, was auch immer ihr in der Zukunft verborgenes Ziel sein mag. Das meinen auch wir, ohne nur einen Moment von dem Grundgedanken unserer politischen Emanzipation abzuweichen: Wir lieben die Unabhängigkeit unseres Landes nicht aus Haß oder Feindschaft gegenüber den Vereinigten Staaten; wir verlangen einfach nur das, was unser Recht ist und was, eben weil sein Zugeständnis gerecht ist, den Vereinigten Staaten unsere Liebe und Dankbarkeit garantiert. Wir sind bereit, dem amerikanischen Volk so viel einzuräumen, wie es ohne Einschränkung unserer Rechte für die Entwicklung seiner internationalen Beziehungen benötigt, und es kann sich

39 auf ewig unsere Zuneigung bewahren. Aber wie im Austausch zwischen den Menschen die Veräußerung des Lebens oder der Freiheit nicht inbegriffen ist, so ist auch im Austausch zwischen den Völkern in dem, was man verkaufen, verschenken und worauf man verzichten kann, weder das Vaterland noch die Unabhängigkeit enthalten. Sie sind das einzige, was das puertoricanische Volk der amerikanischen Regierung weder überlassen muß, noch überlassen will, noch überlassen kann. „Wir können den Verpflichtungen einer großzügigen Gerechtigkeit gegenüber dem Volk von Puerto Rico nachkommen, indem wir ihm die umfassenden Rechte und Privilegien zugestehen, die wir unseren eigenen Staatsbürgern in unseren eigenen Gebieten zugestanden haben." Diejenigen, deren Verstand durch den selbstmörderischen Wunsch, überall nur das Verschwinden unserer Persönlichkeit zu sehen, getrübt ist, die bemüht sind, den reinsten Hoffnungen unseres Volkes die Zuversicht zu nehmen und seine reinsten Ideale auszulöschen, behaupten und verbreiten die Ansicht, daß die zitierte Passage eine Befürwortung der amerikanischen Staatsbürgerschaft: für die Puertoricaner beinhalte. Genau das Gegenteil ist der Fall: Wenn Präsident Wilson so etwas hätte sagen wollen, dann hätte er es gesagt, ohne Zweideutigkeiten und ohne Umschweife, auf die jemand, der nichts zu verbergen oder zu befürchten hat, sehr gut verzichten kann. Er hätte eindeutig, prägnant und bestimmt gesagt, wie es Roosevelt und Taft vor dem Kongreß geäußert haben: „Ich ersuche darum oder empfehle, daß den Puertoricanern die amerikanische Staatsbürgerschaft gewährt wird." Wozu sollten so viele Worte und so viel Geld aufgewendet werden, um über den Telegraphen eine so einfache Idee wie die Empfehlung der Staatsbürgerschaft zu übermitteln, die seit 1898 von allen Präsidenten vor dem Kongreß der Vereinigten Staaten ausgesprochen wurde? Von allen, außer von Präsident Wilson, der durch den Vergleich und die Analogie der Rechte, welche die Amerikaner in ihrem eigenen Gebiet und die Puertoricaner in dem Ihren genießen, die Differenzierung akzeptiert, denn jeder Vergleich setzt die Existenz von unterschiedlichen Vergleichsgrößen voraus. Puerto Rico wäre, unter welcher Regierungsform auch immer, sogar unter der gegenwärtig gültigen, ein den Vereinigten Staaten angegliedertes Territorium, wenn die Staatsbürgerschaft kollektiv auf seine Bewohner übertragen worden wäre. Und wie der Präsident kurz und bündig sagt: „Ich

40 empfehle eine territoriale Regierungsform für Alaska", hätte er gesagt: „Ich empfehle eine territoriale Regierungsform für Puerto Rico." Wenn man auf intelligente Weise liest, was auf intelligente Weise geschrieben wurde, und so bis zum kristallklaren Grund der Worte vorstößt, kann jeder sie nur in dem Sinne verstehen, daß der Präsident empfiehlt, die Puertoricaner sollten auf ihrer Insel das Recht haben, für die Legislative ihre eigenen Repräsentanten zu wählen, die Exekutivgewalt in Eigenverantwortung auszuüben und sich selbst zu regieren, genauso wie die Bürger der Vereinigten Staaten in ihren eigenen Gebieten. Mit anderen Worten: die Autonomie („home rule"), die von den Puertoricanern mit Nachdruck gefordert wird als ein Mittel, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, und als der Beginn einer Entwicklung in Richtung auf die vollkommene Ausübung der Souveränität. Wenn aber dagegen versucht wird, das heilige Feuer der Herzen, das Licht der Hoffnung und den Stern des Ideals auszulöschen, sollte man ein für allemal wissen, daß, selbst wenn hundert Präsidenten verkünden sollten, Puerto Rico würde auf ewig unter amerikanischer Herrschaft verbleiben, die Verfechter der Unabhängigkeit des Vaterlandes nicht wanken und das in seiner Virtualität unantastbare Recht unseres Volkes unerschrocken einfordern und unablässig dafür kämpfen würden. Dieses Feuer des Ideals ist wie das griechische Feuer, das noch im Wasser brennt: unauslöschlich, wie das Feuer des Ursprungs. Und diejenigen, die versuchen sollten, es zu löschen, wären ebenso lächerlich wie ein Feuerwehrmann, der seinen Wasserschlauch auf die Ewigkeit richtet, um einem Stern seinen Glanz zu rauben. Übersetzt von Natascha Bieling und Silke Spangler

Luis Lloréns Torres (1876-1944) Lyriker, Theaterautor, Essayist, Journalist und Literaturkritiker; nach dem Studium der Rechtswissenschaften und Literaturwissenschaft in Spanien kehrte er um 1901 nach Puerto Rico 2urück, um sich als Anwalt niederzulassen und sich vorwiegend über die Publikation journalistischer Artikel politisch zu betätigen; gehörte zeitweilig dem Partido Unión unter Luis Muñoz Rivera an und war von 1908 bis 1909 Mitglied des Repräsentantenhauses; unterstützte die Partei auch unter der Führung von Luis Muñoz Marín, dem er freundschaftlich verbunden war. Lloréns Torres trat jedoch weniger im Rahmen parteipolitischer Aktivitäten hervor; sein eindeutig auf die Unabhängigkeit Puerto Ricos abzielendes Engagement äußerte sich vorrangig in seiner kulturpolitischen und literarischen Betätigung. So gründete er zahlreiche einflußreiche, wenn auch häufig nur kurzlebige literarische Zeitschriften (u.a. Puerto Rico Ilustrado und die Revista de las Antillas), in denen er seine (nicht als solche deklarierte) modernistische Ästhetik und seine diese transzendierenden avantgardistischen Theorien entwickelte und dezidiert die hispanoamerikanische Identität Puerto Ricos gegen die US-amerikanische Politik der „Amerikanisierung" verteidigte. 1932 zog sich Lloréns Torres, enttäuscht ob der bereits zu diesem Zeitpunkt absehbaren, die Perspektive der Unabhängigkeit zurückstellenden stärkeren Anlehnung Muñoz Manns an die Vereinigten Staaten, aus dem politischen Leben zurück, um sich fortan ausschließlich seinen historischen, literaturkritischen und literarischen Interessen zu widmen. Unter dem nunmehr weitgehenden Verzicht auf avantgardistische Experimente verfaßte er über eine geglückte Symbiose volkstümlicher und literarisch anerkannter Ausdrucksformen Verse, in denen er, wie schon in früheren Gedichten thematisiert, die Lebensweise des jibaro als Essenz der puertomqueiudad in den Mittelpunkt stellte und gleichzeitig die Würde Puerto Ricos als hispanoamerikanische Nation gegen die der „Amerikanisierungs"-Kampagne zugrunde liegende Überheblichkeit der angjoamerikanisch geprägten USA in aggressiver, häufig aber auch subtil-ironischer Weise zu verteidigen suchte. Während die 1914 publizierten Sonetos sinfónicos noch stark modernistisch geprägt waren und über die literarische Elite hinaus kaum rezipiert wurden, gründete sich seine Popularität vorwiegend auf den 1929 erschienenen Band La Canción de las Antillas y otros poemas, hier insbesondere auf das im Titel genannte Gedicht, das ihm den Ehrennamen „Poeta de las Antillas" eintrug. Der gleichermaßen populäre, 1940 publizierte Band Aturas de América enthält als Anthologie im wesentlichen seine bekanntesten, zwischen 1913 und 1940 veröffentlichten Gedichte.

42 Werke (Auswahl): Sonetos sinfónicos (1914); ha Canáón de las Antillas y otros poemas (1929); Voces de la campana mayor (1935); Alturas de América (1940); El Grito de Lares (Theater; uraufgef. 1914; veröff. 1927); América [Estudios históricos yfilológicos](Essay; 1898); Obras completas (San Juan: Instituto de Cultura Puertorriqueña 1969-1973. 3 Bände). Der abgedruckte Text, „El patito feo" in der Originalfassung, ist dem Band Alturas de América (in: Obras completas, Bd. I, S. 309ff.), der die bekanntesten, zwischen 1913 und 1940 veröffentlichten Gedichte enthält, entnommen; er entstand vermutlich 1931.

Das häßliche Entlein Ich weiß nicht, war's ein Däne oder Russe der geniale Dichter, der erzählt, daß ein Schwanenweibchen ein Ei in das Nest einer Ente legte. Und unter Verzicht auf die Phrasen, die man aus gelehrten Geschichten kennt, heißt es, daß ohne größere Umstände die Ente am dreißigsten Tag ihre Brut von neunzehn Entlein ans Licht der Welt gebracht. Laut dieser kurzen Geschichte wuchs die Zwergenschar heran und nannte „häßliches Endein" das Entlein Nummer neunzehn. Das Arme! Nie fand es bei Schnee Zuflucht unter dem Flügel. Und stets irrte es im Vorzimmer seiner achtzehn Geschwister herum, die ihm nach der Ernte kein Korn in den Ähren beließen.

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Bei ihren Streifzügen durch die Fluren erreichte die Schwimmvogelschar dann schließlich die Ufer der Quelle in den Bergen. Welch ein befremdliches und zugleich wohliges Gefühl erfüllte da die Seele der so benannten „häßlichen Ente", als sie auf einmal ihr Bildnis im Spiegel der Quelle erblickte! Da kam aus dem Schatten heraus eine Kette von weißen Schwänen, an deren seidigen Flanken die Gischt in Weiß erstrahlte. (Hier wurde der Autor, der schlief, als er die Geschichte träumte, wach, so heißt es, ergriffen von der bewegenden Schönheit. Und hier folgt oder beginnt, was nach ihm ich dann träumte.) Die spanische Rasse, ein blauer Schwan, legte blind und taub ein Ei in das Nest der fetten nordamerikanischen Ente. Und von meinem Fenster schon seh ich die nordischen Enten mit ihren dunklen, heuchlerischen Schnäbeln, die den Schwan aus Puerto Rico, mit blauem Gefieder und rotem Schnabel, „häßliches Endein" nennen.

44 Volk, das du als Schwan geboren wardst, schau und lächle bei solchem Spott mit dem Lächeln des Quijote und seinem traurigen Blick. Wenn du im Licht der Sonne, die dein Land und Meer in Morgenröte kleidet, dich darauf besinnen willst, daß deine Gestalt ist die des Schwans, dann schau dich im klaren Wasser der Quelle deiner Heimstatt an. Mit der Flamme deines königlichen Siegels, mein puertoricanischer Schwan, entzündest du die rote Glut des Schnabels am Mast des schönen Kandelabers, deinem Hals. Und das Blau des himmlischen Tülls, in dem das Kreuz des Südens seine fünf strahlenden Zierden geeint, zeichnet auf deine Flügel dein standhaftes blaues Dreieck. 1 Lateinisches Gold zeigt sich auf deinem Antlitz und glänzt, von Kastilien in Jahrhunderten gegossen, und vor Kastilien von Rom. Das Volk Mohammeds schmolz es in seinen maurischen Schmieden. Und noch vor Rom, in Athen, spannen Männer wie Homer und Aischylos traumhaft schön den Faden des blauen Geflechts deiner Adern.

1 Die vorangehenden Verse spielen auf die puertoricanische Fahne an, die neben drei waagerechten roten Streifen auf der linken Seite ein Dreieck mit einem weißen Stem auf blauem Grund aufweist. (Hier und im folgenden Anm. d. Übers.)

45 In deiner Geschichte und Religion hast du Gestalt angenommen; denn dir galt das höchste Streben des Juan Ponce de León. 2 Erkenne dich mit ganzem Herzen in deinem noblen Ursprung, in deiner lateinisch-iberischen Sprache, in dem Glauben deiner Altäre und in dem verwegenen Blut, das in Lares Manolo el Leñero3 vergoß. Zwanzig Schwäne so wie du wurden als deine Brüder geboren in den verwandten Vizekönigreichen von Mexiko und von Peru. Unter dem seidig goldenen Himmel der antillanischen Region waren die drei Schwäne des Kolumbus, die drei Glucken-Karavellen, die geflügelten Urheber einer so erhabenen Inkubation.

2 Puerto Rico war 1493 unter dem Namen San Juan Bautista von Kolumbus für die spanische Krone in Besitz genommen, jedoch nicht weiter erforscht worden; die Kolonisierung und Unterwerfung der Indios erfolgte durch Juan Ponce de León, der 1509 zum Gouverneur der Insel ernannt wurde. 3 Manolo el Leñero ist der Protagonist in dem Theaterstück von Lloréns Torres, El Grito de Lares, das den einzigen, 1868 unternommenen, jedoch kläglich gescheiterten Aufstand thematisiert, der auf die Unabhängigkeit von Spanien abzielte.

46 Seele meines Vaterlandes, blauer puertoricanischer Schwan, willst du den Traum von deiner Ehre und deinem noblen Rang leben, dann hör auf die trotzige Stimme deiner geheiligten Unabhängigkeit, wenn sie der karibische Wirbelsturm, der sie mit seinen Blitzen schreibt und mit seinem Donner besingt, in die Lüfte trägt. Schon tauchten aus der Gischt die zwanzig blauen Schwäne hervor, an deren roten Schnäbeln die Nebel sich teilen werden. Ihnen schließt sein Gefieder der Schwan meiner Erzählung an. Denn in den zwanzig schönen Schwänen hat er sein Bildnis erkannt. Denn zu ihnen will er gehören. Denn er will keine Ente sein. Übersetzt von Mariana España und Annette Lattermann

Manuel Zeno Gandía (1855-1930) Romancier, Erzähler, Lyriker, Theaterautor, Essayist, Journalist und Politiker; entstammte einer wohlhabenden konservativen Großgrundbesitzerfamilie; aufgrund verschiedener hoher Regierungsämter des Vaters seit 1864 mehrjähriger Aufenthalt in Spanien, wo er zunächst vorwiegend in liberalen literarischen Zirkeln verkehrte und 1870 das Studium der Medizin aufnahm, das er 1875 beendete; aufgrund finanzieller Schwierigkeiten der Familie kehrte er nach einem längeren Aufenthalt in Frankreich nach Puerto Rico zurück; nach einer neuerlichen ausgedehnten Reise nach Europa ließ er sich 1882 in Ponce als Arzt nieder, um dann aber 1902 seine Praxis aufzugeben und sich fortan ausschließlich seinen journalistischen, literarischen und politischen Aktivitäten zu widmen. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sich Zeno Gandia zunächst der Autonomiebewegung im Rahmen der spanischen Monarchie angeschlossen, hatte sich aber auch bereits vor der US-amerikanischen Invasion für eine stärkere Annäherung an die Vereinigten Staaten ausgesprochen. Den „Wechsel der Hoheitsgewalt" 1898 begrüßte er, präzisierte aber, daß er wohl den Anschluß Puerto Ricos an die Vereinigten Staaten befürworte, dies aber nicht in Form der Inbesitznahme Puerto Ricos durch die Siegermacht als reine „Kriegsbeute". So beteiligte er sich denn auch an einer offiziellen Mission, die 1898 dem US-amerikanischen Präsidenten McKinley entsprechende, auf eine gewisse Autonomie abzielende Forderungen überbrachte (vgl. „Botschaft an den Präsidenten", S. 25ff.). Im selben Jahr trat er dem für den Anschluß an die USA votierenden Partido Repubäcano bei, was ihm auch einige bedeutende Ämter in der neuen Kolonialverwaltung einbrachte. Doch enttäuscht ob der geringen Bereitschaft des US-amerikanischen Kongresses, den Wünschen der Puertoricaner zu entsprechen, verließ er den Partido Repubücano, um mit Luis Muñoz Rivera u.a. die Unión de Puerto Rico zu gründen, in der er sich den Befürwortern der Unabhängigkeit anschloß, dann aber 1912, angesichts des Übergewichts der Wortführer der Autonomie, die Partei verließ, um gemeinsam mit Rosendo Matienzo Cintrón, Luis Lloréns Torres u.a. den Partido de la Independenda de Puerto Rico zu gründen, der im politischen Leben Puerto Ricos allerdings nur auf geringe Resonanz stieß. Die Bedeutung Manuel Zeno Gandias als einer der herausragenden Geister seiner Zeit liegt nun aber weniger in seinen politischen und journalistischen Aktivitäten als in seinem literarischen Schaffen begründet. Er veröffentlichte in zahlreichen Zeitschriften Gedichte und Kurzprosa; seinen Ruhm als der erste herausragende Romancier Puerto Ricos verdankte er schließlich seinem unter dem Titel „Crónicas de un mundo enfermo" („Chroniken einer kranken Welt") publizierten Romanzyklus, der nach eigenen Angaben auf 11 Bände angelegt war, von dem zwischen

48 1894 und 1925 aber nur vier Werke erschienen. Alle Romane sind unabhängig voneinander zu lesen; sie verbindet jedoch ein gemeinsames, über den engen Kontakt mit dem Positivismus und dem französischen Naturalismus entwickeltes Anliegen des Autors, das dieser 1895, kurz nach dem Erscheinen seines ersten Romans, in einem klaren Selbstbekenntnis zum Ausdruck brachte: „Schon immer faszinierte mich diese wunderbare Gabe, die es dem Künstler erlaubt, Wirklichkeit erschaffen. In meinen eigenen Vorlieben gehe ich noch etwas weiter: Ich glaube, daß der Naturalismus unter dem Aspekt der Formgebung, der Zweckdienlichkeit und der Darstellung des Erfahrbaren in der Wirklichkeit die einzig gültige künstlerische Ausdrucksform ist." (Vorwort zum Roman La muñeca von Carmela Eulate Sanjurjo; zitiert nach dem Nachdruck von 1994 [San Juan: Editorial del Instituto de Cultura Puertorriqueña/Editorial de la Universidad de Puerto Rico], S. 118f.). Das Ziel Zeno Gandías war, das gesamte Panorama seiner Epoche in ihrer konfliktiven Realität mit den Mitteln der von ihm bevorzugten, jedoch gelegentlich durch romantisierende Verfahren — etwa in der Darstellung der Natur und der Gefühlswelt der Protagonisten - abgemilderten Ästhetik des Naturalismus zu erfassen, wobei er die ihm als Arzt vertrauten wissenschaftlichen Analyseverfahren besonders in seinem ersten (von der Kritik bevorzugten) Roman La charca (Der Tümpel) nutzte, um den für den ländlichen Bereich festgestellten „riesigen Tümpel der sozialen Fäulnis" erbarmungslos zu sezieren. Während auch noch der zweite Roman (Garduña) dem ländlichen Milieu verhaftet blieb, wandte sich Zeno Gandia in den beiden darauffolgenden Romanen (El negocio und Redentores) der städtischen Wirklichkeit Puerto Ricos zu (mit der Absicht, in einem fünften, unvollendeten Roman unter dem Titel Nueva York die Emigration der Puertoricaner in die USA als Teil der nationalen Wirklichkeit mit einzubeziehen). Die hier abgedruckten Passagen entstammen dem bereits 1917 verfaßten, jedoch erst 1925 veröffentlichten Roman Redentores (Die Erlöser), dessen ironischer Titel auf die enthaltene Kritik an der Politik der US-Amerikaner verweist, die sich den Puertoricanem einst als Befreier und „Erlöser" präsentiert hatten, dann aber Puerto Rico schlicht als Ausbeutungskolonie betrachteten und zu nutzen suchten. Der Autor präsentiert eine Vielzahl von Personen, Intrigen und Konflikten, die im wesentlichen seine kritische Intention zu untermauern suchen, ohne daß nun aber das „Böse" und das „Gute" ausschließlich den antagonistischen Lagern Vereinigte Staaten vs. Puerto Rico zugeordnet werden. So finden sich gerade auf Seiten der US-amerikanischen Bürger neben den zu erwartenden „Bösen" (etwa Elkus Engels als Vertreter der Administration) auch Repräsentanten des „Guten" und Befürworter der puertoricanischen Unabhängigkeit - etwa die aus den Vereinigten Staaten stammende Lehrerin Madelón, Vedobte des Protagonisten. Das Besondere an dem Roman ist zugleich, daß der Verfasser auch die lokale Politik in seine bitterböse Kritik einbezieht: die keinesfalls auf politischen Grundsätzen, sondern vorrangig auf parteipolitischen Interessen beruhenden Fraktionskämpfe, die passive oder gar unterwürfige, von Heuchelei und dem Mangel an Patriotismus geprägte Haltung

49 der Puertoricaner gegenüber den US-Amerikanem, schließlich die persönlichen Ambitionen der führenden Politiker, personifiziert in dem überaus ambivalent gezeichneten Protagonisten Aureo del Sol, der zwar politische Grundsätze vertritt, diese dann aber dem eigenen Machtstreben opfert. Doch zahlt er für seinen Aufstieg — er wird von der US-Administration zum Gouverneur ernannt — den hohen Preis der Vereinsamung, da die einzigen ihm nahestehenden, wie einst auch er dezidiert patriotische Ideale vertretenden Personen - sein Sohn Antonio und seine mit der Sache der Puertoricaner sich identifizierende Vedobte Madelón - seinen letztlich durch Selbstaufgabe erreichten politischen Triumph nicht mit ihm teilen. Werke (Auswahl): La chana (1894); Garduña (1896); Elnegoäo (1922); Redentores (1925); Cuentos (1958); Poesías (1969); Obras completas (San Juan: Instituto de Cultura Puertorriqueña 1973; enthält nur die vier Romane). Die abgedruckten Textauszüge (aus Kap. II, V, VII, VIII und XVII) sind der 1987 (Rio Piedras: Editorial Edil) publizierten Ausgabe der Redentons entnommen.

Die Erlöser [...] Es war fünf Uhr nachmittags. Vor ihnen lag die Kolonie: eine Oase, umgeben von unendlichem Blau. Sie war noch fem, sehr fern, aber die „Coamo" befand sich bereits in den ihr angestammten Gewässern, den tiefsten der Welt, bedeckt mit Teppichen aus Tang, welche die leichten, vom Auf- und Niedertauchen der Delphine entstandenen Wellen gelblich färbten. Alle an Bord sehnten jenen so lichten Horizont herbei, an dem von Zeit zu Zeit gestaldose Gebilde weißer Wolken vorüberzogen, die sich durch die sanften Winde in Spitzengewebe verwandelten. Die Wellen schlugen gegen den Bug des Dampfers. Sie waren hoch, mit Schaumkronen bedeckt, geschmeidig, und beim Schein der bereits im Westen stehenden Sonne waren sie für die Seeleute Zeichen einer ruhigen See, für die Passagiere hingegen Quell unendlicher Langeweile. Paloma und Bermejo unterhielten sich leise. [...] Paloma richtete sich auf und sah in derselben Reihe von Liegestühlen einen Mann, der schlief und dessen Gesicht eine Zeitung bedeckte. „Haben Sie gesehen, wie tief er schläft?", bemerkte sie. „Und wenn er nicht schläft, Gott weiß, an was er denkt." „Ich bewundere diesen Mann. Ich lese seine Schriften immer mit wahrer Hingabe."

50 „Ich auch. Aber da ich wegen meines Studiums außer Landes war, habe ich seine Arbeiten lange nicht mehr verfolgt." „Ein großer Sohn unseres Landes! Ein großer Patriot! Einer, der für unsere Rechte eintritt, immer an vorderster Front, wenn es darum geht, sein Vaterland zu verteidigen." „Ich hoffe, seine Zeitung nun öfter lesen zu können." „Ich lese und sammle sie. Papa sagt, das wird genau die richtige Sammlung sein, die den neuen Generationen beibringen wird, was Patriotismus ist." „Ich merke, daß Sie von ihm sehr begeistert sind." „Bei mir zu Hause mögen wir ihn alle sehr. Er ist uns ein sehr guter Freund. Papa unterstützt ihn finanziell, immer wenn es nötig ist." Ein Windstoß trug die Zeitung davon, die das Gesicht des erwähnten Mannes bedeckt hatte. Dieser erwachte und richtete sich lächelnd auf. Es war Aureo del Sol, Schriftsteller, Journalist, einer der führenden politischen Köpfe, Vorsitzender einer der in der Kolonie viel Wirbel verursachenden Parteien. E r war ein hochgewachsener, sehr blonder Mann mit großen, hellen Augen und einem freundlichen Gesicht, zwischen vierzig und fünfundvierzig Jahre alt. Die offenkundige Milde seines Charakters und seine entschiedene Beredsamkeit hatten ihn in der Kolonie beim Volk beliebt gemacht und ihm eine große Masse an Anhängern eingebracht, die ihn als ihren Anführer betrachteten. E r hob sich ab von den anderen, die wie er politisch agitierten, und die Kampagnen seiner Zeitung wurden von den Schwachen begierig aufgenommen und von den Starken respektiert. Er kam gerade von einer seiner häufigen Reisen in die Vereinigten Staaten zurück, und an Bord hatte der Kapitän ihm im Speisesaal den Platz zu seiner Linken mit einem Kärtchen reservieren lassen, auf dem stand: „Der ehrenwerte Señor Aureo del Sol, Mitglied der Abgeordnetenversammlung". Und der Kapitän hätte ihm den Platz zu seiner Rechten zugewiesen, wäre nicht der ehrenwerte John H. Bums an Bord gewesen, zukünftiger Generalstaatsanwalt, der sich auf dem Weg in die Kolonie befand, um sein Amt in der Justizverwaltung anzutreten. [...] Er war Journalist der Opposition, ein Mann der streitbaren Feder. Auf den Seiten seiner Zeitung führ er häufig schwere Geschütze auf, doch zugleich war er gefangen in einem ihn entmutigenden Pessimismus, der ihm die Hände band und das Feuerwerk der Gedanken verglühen ließ.

51 Bisweilen war er euphorisch, und dann gefiel es ihm, sich wie ein stolzer Krieger zu geben, Lobreden zu hören, sich mit Lorbeeren zu schmücken; doch manchmal bewirkte eine immense Geringschätzung in ihm den Wunsch, sich demonstrativ schweigsam und indifferent zu geben. Er dachte, daß die Mißstände nicht so groß waren, wie sie bisweilen dargestellt wurden. Mal überkamen ihn Anwandlungen der Liebe zur Menschheit, mal des Grolls gegenüber dem Ausland; dann wieder fiel er ernüchtert in seinen Sessel zurück, die feuchte Feder in der Hand, und sagte sich, daß es in besetzten Ländern allein von der Wesensart derer, die sie regieren, abhängt, ob ein Tempel der Liebe oder einer des Hasses errichtet wird. Angesichts jener sternklaren Nacht, der Küste seiner Insel nahe, beflügelten ihn poetische Gedanken, und es schien ihm, als habe sein Talent die Muse gepackt, welche die Massen begeistert und Sturmglocken läutet. Und er sehnte sich danach, wie die Nibelungen als ein der Lobpreisung würdiger Held gefeiert zu werden. Die Überzeugung, daß der Despotismus, der alles zerstört, sich am Ende selbst zerstören wird, erfüllte ihn mit Hoffnung, aber man mußte kämpfen, hart kämpfen. Von was war er umgeben? Von Menschen, so sagte er sich, die, wie Pascal es ausgedrückt hatte, ihr Nichts zwar spüren, es aber nicht kennen. Wenn es darum ging, für sein Vaterland zu kämpfen, stellten sie ihn an die vorderste Front, trieben ihn vorwärts, riefen ihn wie Wilhelm Teil mit Hörnern von den Bergen und erinnerten ihn daran, daß ein römischer Patrizier das Geheimnis der Macht der Schwachen enthüllt hatte: daß die Politik das Volk für sich gewinnen muß. E r wußte vieles. Wie ein durch die Kolonie fegender frischer Wind denunzierte er die Heuchelei. Die Kolonie befand sich in der Gewalt der Heuchler des Krieges und der Heuchler der zweiten Kolonisierung, die man gerade erlebte. Er wollte daher kämpfen, die ganze Kraft seines Intellekts entfalten und sich für sein Land opfern, aber er zögerte angesichts der ungerechtfertigten, falschen und trügerischen Meinungen, von denen so viele in Umlauf waren. Und was konnte hier die Presse, seine Zeitung, ausrichten? Manchmal dachte er, die Presse sei eine Kraft mit mehr kollektiver als individueller Stärke. Eintönige Zeitungen, abgenutzt durch Widersprüche, aufgezogene Uhrwerke der Politik, die sich an heruntergekommene Parteien, an Gruppierungen ohne Prinzipien, ohne Uberzeugungen, ohne Aufrichtigkeit klammern: vor dem Spiegel der Eitelkeit herausgeputzte Schönheiten, deren Agitation reine Zeitverschwendung ist. Das Volk wird ihrer

52 schließlich überdrüssig und schenkt ihnen kein Gehör mehr, und weil es sie nur zu gut versteht, versteht es sie schließlich überhaupt nicht mehr. Was waren gegenüber dieser Presse die uneigennützigen, aufrichtigen Organe wert, die bereit waren, für die Wahrheit und die Vaterlandsliebe die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen? [...] Daran dachte Aureo. An die eigene Unentschlossenheit, an das unruhige Schlingern dieser Kolonialpolitik, die sich die Regierung eines Volkes anmaßte, das selbst eine Kolonie gewesen war und das offenbar mit seinen noch nicht vernarbten Händen eine andere, fremde Kolonie, die zu besitzen ihm beliebte, umformen wollte. Sollte Aureo sich das Herz in Stücke reißen und seinem Vaterland darbringen oder seinem Pferd die Sporen geben und im Galopp seinem Ziel entgegenreiten? In diesem Moment, eingehüllt in das intensive Licht des Dampfers vor dem Dunkel der Nacht und des Meeres, schien es ihm, als sehe er das Symbol seiner Betrachtungen: Licht der Wahrheit in sich selbst und Schatten des Zweifels um ihn herum. Zwei Wege, die man einschlagen konnte. Er analysierte das Werk, das stillschweigend und mit System an den Einheimischen vollzogen wurde. Diese neue Kolonisierung voller Versprechungen und verheißungsvoller Prophezeiungen verfolgte nicht nur die Absicht, die Landwirtschaft, den Handel und die Industrie zu fördern, indem man ein Volk, von dem man annahm, daß es im Elend und in harmloser Barbarei lebte, freundschaftlich unterstützte. Sie verfolgte daneben auch das Ziel, den Menschen der alten Insel umzukrempeln, ihn auszuweiden, ihn zu verbiegen und ihn auszupressen, um ihn in ein gänzlich anderes Wesen zu verwandeln, indem man an ihm eine Seelenumwandlung vollzog, die allein auf den Nutzen und die Vorlieben von Menschen abgestimmt war, die ihn unter Berufung auf einen Krieg gegen andere, den diese verloren hatten, physiologisch verändern und instrumentalisieren wollten, wobei sie die Gefugigen benutzten und diejenigen, die der neuen Genesis widerstanden, zerstörten. [...] Er hatte sich sehr jung in die Politik gewagt: eine der Routine unterworfene Politik, erlernt in der alten Kolonie, eine mit Ressentiments beladene Politik, die zwischen den Gegnern, die manchmal Brüder waren, Feindschaft und Haß schürte. Er dachte an seine Arbeit als oppositioneller Journalist: an die, die er bereits geleistet hatte, und an die, die noch zu leisten er für seine Pflicht hielt. Er sagte sich, daß das politische Milieu alles erstickte, daß die Maschinerie, welche die Politik antrieb, dem Wohl des Volkes entgegenwirkte. Die Einheimischen bekämpften sich mit Hingabe, beschimpf-

53 ten sich und demütigten sich dabei gegenseitig vor den Augen des Volkes und denen der Ausländer, welche die Kolonie regierten. Diese zeigten fast immer Zurückhaltung und Gelassenheit, wenn sie zu ihrer eigenen Politik Stellung bezogen; aber diese Politik war fest auf ein Ziel ausgerichtet und von einem Prinzip geleitet: einigen wenigen helfen, um die Mehrheit zu zerstören. [...] Bei Tagesanbruch befand sich der größte Teil der Reisenden an Deck. Die Festung „El Morro"! Dort sah man „El Morro"! Glücklich atmeten die Einheimischen tief durch, so als hätten sie außerhalb ihres Elements gelebt und würden nun mit Wonne wieder hineintauchen. Die Touristen blickten zutiefst verwundert. War das, was sie sahen, ein Traumland? Die Berichte anderer Reisender waren wahr. Das Wort „nice" sprudelte aus aller Munde und begleitete jeden Blick. Es war wahrhaft ein herrlicher Anblick. Mit eigener Kraft nahm die „Coamo" Kurs auf die Hafeneinfahrt. Steil vorspringende Klippen setzten der Brandung den gepeitschten Torso entgegen. In den Felsen sah man Einschläge von Kanonenkugeln: Spuren einer Bombardierung, die erfolgt war, um die Kolonie zu erlösen, indem man mit Kanonenfeuer begann. [...] In jenen Tagen herrschte aufgrund der politischen Agitation eine vibrierende Atmosphäre. Obwohl noch lange keine Wahlen bevorstanden, begann man bereits, über Kandidaturen und politische Absprachen zu reden, die den Sieg garantieren sollten. Parteigänger wechselten von einer Partei zur anderen. Die Zeitungen brachten täglich Nachrichten über die Hingabe, mit welcher diese Kämpfe ausgetragen und die Übertritte vollzogen wurden. Man wechselte schlicht den Rock, für die einstigen Parteifreunde ein Verbrechen. In den Zeitungen las man häufig Verlautbarungen, die besagten: „Nachdem ich mein ganzes Leben der Partei X angehört habe, fiel es mir endlich wie Schuppen von den Augen, und ich trenne mich von ihr, um mich als Soldat im letzten Glied der großen Partei Y anzuschließen, denn sie ist es, die meinem Vaterland Glück und Segen bringen wird." Von dieser Art Schuppen fiel eine Menge, wobei dahinter häufig der Wunsch stand, einen Posten zu erlangen, oder die Notwendigkeit, im Schatten irgendeiner politischen Größe zu leben, der dem Wandervogel den entsprechenden Wechsel abverlangte. Manche unter den Einheimischen gaben sich in diesen Kämpfen gelassen und bedächtig; andere zeigten sich unversöhnlich, schrieben beleidigende Artikel, brachten diffamierende Flugblätter in Umlauf und ließen sich zu unbeherrschten Gefühlsausbrüchen hinreißen. Sie sprachen von Menschen-

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rechten und gestanden dieselben einander nicht zu; sie verlangten Freiheiten und schränkten sich diese gegenseitig ein; und nur ganz selten erlebte man einen großmütigen Impuls der Eintracht, motiviert durch die ausländischen Regierungsvertreter, die dem Schauspiel gleichmütig zusahen, entweder weil sie der Brudermord nicht berührte oder weil sie nicht wußten, wie Menschen mit einem Herzen und einem Gewissen angesichts solcher Verirrungen handeln, oder vielleicht weil sie dachten, daß sich jenes Volk auf diese Weise zerstören, sich seine Bevölkerungsdichte im Verhältnis zur Ausdehnung des Territoriums verringern und es sich selbst vernichten würde, um schließlich, durch die Eroberung gänzlich verstört, vollends zu verschwinden. Alles war umhüllt von einer Atmosphäre der Zwietracht. Der Niedergang der Ideale, der Ziele und der Geschäfte wurde offenkundig. Das Wort Recht schien außer Gebrauch zu sein, das Wort Macht wurde zur Quintessenz der politischen Gruppierungen und ihrer Querelen. Doch diese vermochten die Vermehrung des fruchtbaren Volkes nicht einen Augenblick aufzuhalten. Die Bevölkerungszahl stieg unaufhörlich, und der Vorsatz, die Bewohner der Kolonie durch Absorbierung oder Vernichtung auszulöschen, fiel in sich zusammen wie ein großes, auf der Basis von Ignoranz, Egoismus und ebenso fehlgeleitetem wie plumpem Ehrgeiz errichtetes Gerüst. Die Kolonie blieb bestehen: beklagenswert, aber sie blieb bestehen. Wie lange würde sie die Macht stützen, die sich selbst eingesetzt hatte und an die sie durch die Ungewißheit über das eigene Schicksal gefesselt war? Uber all das schrieb man aus den Dörfern und Städten der Insel nach San Juan; überall redete man darüber, in den Klubs, den Diskussions runden, den Redaktionen der Zeitungen. In der Redaktion der Patria Ubre herrschte ein hektisches Treiben. Für die erregten Gefühle, die dort zum Ausdruck kamen, war Aureo del Sol die ausgleichende Kraft. Wo Menschen protestierten, mußte die Führung überlegen und mit Bedacht vorgehen. Man sprach von konservativen Bestrebungen, die in der Politik ratsam erschienen, und dieselben, die noch wenige Jahre zuvor mit den konservativen Ideen extrem traurige Erfahrungen gemacht hatten, akzeptierten nun konservative Politik, die fast immer eine Absage an die Freiheit und an die Achtung der Grundrechte war oder der feigen Angst entsprang, materielle Vorteile einzubüßen. Aureo del Sol vollbrachte Wunder an Geschicklichkeit. In den Augen seiner Anhänger hatte er immer recht, irrte sich nie und sah die Dinge, wie außer ihm niemand sie zu sehen verstand: als Widersprüche, die so in Uber-

55 einstimmung gebracht wurden, daß sie nicht mehr als solche zu erkennen waren. [...] Das allgemeine Klima war aufgeheizt. Die einzelnen Cliquen stritten sich um Vorrechte und um ein Lächeln der Regierung. Es gab Opfer und Täter. In den Städten und auf dem Land haßten sich die Anhänger der verschiedenen lokalen politischen Größen und ihrer Fraktionen, und die fanatischsten unter ihnen wurden gelegentlich auch handgreiflich. In San Juan konzentrierte sich das hektische Treiben der verfeindeten Gruppen, und es hagelte Beschwerden auf die Regierung und mit ihnen Proteste ebenso wie Gesuche, daß die Gesetze befolgt würden und die Regierenden reagierten, statt mit kühler Gleichgültigkeit das Schauspiel zu betrachten. Kurz zuvor hatte sich in den Straßen von San Juan ein aufsehenerregender Vorfall ereignet. Der Bürgermeister eines Dorfes hatte geschäftlich in der Stadt zu tun, und da er ein politisch engagierter Mann und bekannt dafür war, daß er gewisse Fraktionen energisch bekämpfte, wiegelten seine Feinde Gruppen von Leuten auf, die dem Bürgermeister durch die Straßen hinterherliefen und ihn auspfiffen, beschimpften und mit Steinen bewarfen. Die Polizei schritt nicht ein. Für sie, die sich stets aus den Parteigängern bestimmter politischer Fraktionen rekrutierte, war der Bürgermeister ein politischer Gegner. Es kam zu einem ungeheuren Aufruhr. Einige Privathäuser und Geschäfte verriegelten ihre Türen. Anhänger des Bürgermeisters liefen zusammen, um ihm zu Hilfe zu kommen; sie verschafften sich Stöcke und Steine und auch ein paar Revolver. Es sah ganz so aus, als würde es zu einem Blutbad kommen. Die Menge gröhlte: „Es lebe die Freiheit! Es lebe die Demokratie!" Und sie dachte zweifellos, daß die Freiheit für alle da sein sollte, außer für den Bürgermeister, der die Dreistigkeit besessen hatte, sich nach San Juan zu wagen, Sitz der Regierung, die der Kolonie vom Kongreß der Vereinigten Staaten zugewiesen worden war. Der Bürgermeister rannte wie vom Teufel besessen, und es gelang ihm, die Straße zum Gouverneurspalast zu erreichen, durch die er wie ein Geschoß hindurchsauste, wobei seine Rockschöße sich in Flügel und sein Zylinder in einen Schornstein verwandelten. Er rannte inmitten des Geschreis, des Gelächters und der Schmähungen und erreichte schließlich das Tor zum Palast des Gouverneurs, der gerade dabei war, eine Rede für die nächste feierliche Begehung des Thanksgiving Day in der Kolonie zu verfassen: den Tag, an dem jeder dem Allmächtigen für die Güte und den Beistand, die der Kolonie im voraufgegangenen Jahr zuteil geworden waren, zu danken hatte.

56 Im Palast fand der Bürgermeister Zuflucht. Die Wache am Tor hielt die aufrührerischen Elemente zurück und ließ die Anhänger des Bürgermeisters ein, die protestierend herbeieilten. Der Gouverneur, der aus Oregon stammte, empfing sie freundlich, und der Dolmetscher übersetzte sein Versprechen, daß für Gerechtigkeit gesorgt werden würde. Er machte der Abordnung Mut. Nein, sie brauchten keine Angst zu haben. Zuweilen bewirke der Enthusiasmus bei politisch denkenden Menschen ein solches Bedürfnis, sich Luft zu machen. Er, der Gouverneur höchstpersönlich, könne ihnen versichern, daß es in Oregon noch schlimmer zuging. [...] Dann war Geschrei aus anderer Richtung zu hören. Die Anhänger der verschiedenen politischen Fraktionen diskutierten die Haltung der Regierung angesichts der Ereignisse des Tages. Einigen galt es als Zeichen einer unparteiischen Einstellung, daß sie es vermieden hatte, in die Unruhen einzugreifen. Mehr Demokratie konnte man nicht verlangen. Zwar war es zu einem öffentlichen Tumult gekommen, zu einem Aufstand mit Stöcken, Steinwürfen, Beschimpfungen, und man hatte doch tatsächlich einer armen Frau mit einem Stock eine Rippe gebrochen, aber warum sollte man in die ureigenen Angelegenheiten der lokalen Politik eingreifen? Die Regierung war unparteiisch, sehr unparteiisch... Andere verurteilten empört eine solche Regierung, die nur die Achseln zuckte angesichts öffendich ausgetragener Streitereien, die auf den wechselseitigen Haß der verschiedenen führenden politischen Köpfe zurückzuführen waren. Das war auf abscheuliche Weise unmoralisch. Indem die Regierung sich während der Unruhen unparteiisch zeigte, begünstigte sie eine der zerstrittenen Fraktionen und ließ die am Aufruhr Beteiligten ungestraft davonkommen. An jenem Tag wanderten einige ins Gefängnis, die nichts mit dem Krawall zu tun hatten, und in dem Elendsviertel „La Perla" hörte man zur selben Zeit viele der wichtigsten Rädelsführer des Aufruhrs lautstark diskutieren. Währenddessen wurden die Zeitungen aggressiver, einige gegen die Regierung, andere zwecks Unterstützung derselben, wobei selbst die schärfsten Gegner ihre Kritik häufig noch beschönigten. Aber die Zeit verging, und das Vergessen ließ die Erinnerung an die Geschehnisse verblassen. Die Politik fuhr fort, sich wie ein Rad zu drehen, das auf ein Hindernis stößt, dieses dann aber doch überwindet, um holpernd seinen Gang fortzusetzen.

57 Laut Gerüchten würde die Regierung bei den kommenden Wahlen jene Fraktion begünstigen, die den Bürgermeister mit Steinen traktiert hatte. Die Wahlen in der Kolonie waren etwas, was die Regierung manipulieren konnte, wie es ihr beliebte. E s hieß, die Regierung der Vereinigten Staaten plane Veränderungen in der Kolonie und es solle ein neuer Gouverneur ernannt werden, wahrscheinlich ein Einheimischer. Die Fraktionen, die für sich beanspruchten, Kandidaten für das Gouverneursamt aufzustellen, waren ob dieser Neuigkeiten außer sich vor Freude. Das Thema war Gegenstand ausführlicher Diskussionen, und in diesem Zusammenhang hatte sich ein reger Briefwechsel zwischen der Kolonie und dem Überseeministerium auf dem Kontinent etabliert: dem Amt, von dem aus die Kolonien regiert wurden, welche die Regierung jener Republik ihr eigen nannte. Uberall wurde intensiv beraten. Einer der Kandidaten für das Gouverneursamt war Aureo del Sol. [...] Andere Kandidaten waren Herren, die nicht wie einst aus den entferntesten spanischen Provinzen kamen, sondern aus den abgelegensten Staaten der amerikanischen Union, und die weder die spanische Sprache beherrschten, noch das geringste Interesse hatten, sie zu erlernen. Man überschlug sich mit eigennützigen Vorschlägen und Anbiederungsversuchen: ein unheilvoller Kampf. Mit dröhnender Resonanz erschallten die Worte Demokratie, Gleichheit, Freiheit... [...] Dort droben, in Barros, gab sich Madeion ganz ihren wehmütigen Erinnerungen hin. Sie lebte bei einer Bauernfamilie, und von dem Balkon des kleinen Hauses aus betrachtete sie wie von einem Logenplatz die üppige Berglandschaft. Zu ihren Füßen sah sie den Wald, der sich leicht im Wind wiegte, eingehüllt in sattes Grün, und wenn die Kaffeesträucher heranreiften, verströmten tiefrote Gehänge ihr herzhaftes Aroma. Bisweilen regnete es ausgiebig, und dann weinte der Wald wie ein riesiger Tropf, und der Platzregen prasselte geräuschvoll auf das Dickicht der dichtbelaubten Bäume. In Rinnen und Gräben stürzte das Regenwasser herab und riß Steinbrocken mit sich fort, die in die Tiefe der Schluchten hinabrollten. Für Madelön war der Wald ein Freund, ihr einsamer Vertrauter. Aus seinem Innern erhoben sich melancholische Klänge von abgestorbenen Baumstümpfen, fröhliche Lieder von Nestern, aus denen Vögel flogen, von Puppen, aus denen Schmetterlinge schlüpften, von Bäumen, die voller schmack-

58 hafter Früchte hingen, von Pflanzen, die die Hügel mit einem Zeltdach oder einem Teppich aus Lianen, Flechten und Blumen überzogen. In der Schule verlief alles mit der Eintönigkeit sich gleichförmig wiederholender Tage. Der Kinderschwarm war Madeion bisweilen eine Last, doch dann wieder nahm ihre selbstlose Seele die Gelegenheit wahr, ihre Gefühle anderen zuteil werden zu lassen. In ihren Augen waren auch die Kinder kleine Blumen der Berge, unruhige Schmetterlinge. Sie glaubte sie ihr eigen; mit mütterlichem Instinkt behütete sie sie fast wie eigene Kinder, Frucht ihrer Vereinigung mit dem Zauber der Landschaft. Und so waren die fröhlichen Kinder, die in den Hügeln herumtollten, für sie wie lebende lyrische Gedichte, Eklogen der Berge, Madrigale der Hoffnung, denn sie waren Poesie, und weil Poesie alles ist, ist Poesie das gesungene Leben, und man ist ein Poet, wenn man in den alltäglichen Dingen des Lebens die Poesie zu suchen und zu ergründen imstande ist. Madelön wußte, daß in allem eine Muse schläft und daß es die Aufgabe des Poeten ist, sie zu erwecken, daß für die Inspiration nichts ohne Bedeutung ist, daß die Poesie nach Aristoteles der Abglanz der Wahrheit und nach Bacon die Lust an der Lüge ist. Und sie verklärte die Kinder zu Poesie, und indem sie sie liebte, war sie ihr Poet. Sie war durchdrungen von einer wahren Ekstase der Gefühle, von der Bewunderung für die poetische Natur der Antillen, von der Liebe zu ihren Schülern, und wenn sie auch im Land des Schnees geboren war, so fühlte sie sich doch in ihren romantischen Empfindungen an die Kolonie gebunden, so als könne sie diese wie eine Einheimische in ihre Arme schließen und wie ihre eigene Mutter liebkosen. In den Stunden, die sie in den Bergen verbrachte, waren ihre Träume stets gegenwärtig: die Liebe zu Aureo, ihrem vollkommenen Ideal, ihr kühnes Beharren darauf, ihn so vollkommen zu machen, wie sie sich ihn ersehnte. Sie schrieb an den Journalisten mehrere Briefe [...]. Es war absolut erforderlich, daß in der Kolonie jemand mutig gegen die herrschenden Mißstände Anklage erhob: das Knallen einer Peitsche, an deren Ende die Wahrheit geknüpft war. Die Kunde von jener Knechtschaft sollte in der ganzen weiten Welt zu hören sein und die Nachricht von dieser ungeheuren Heuchelei verbreiten, die, während sie die erste Kolonie verunglimpfte, die zweite beständig der Folter unterzog. Sie schrieb mehrere Briefe, in denen sie Aureo drängte und ermutigte, doch dieser antwortete mit Ausflüchten, wobei er in seinen Briefen der Liebe den Platz einräumte, den Madeion in den ihren ihrem Anliegen widmete.

59 Schließlich erreichte sie, daß ihr Verlobter nach Barros kam. Es war an einem Sonnabend. Da sie nicht unterrichten mußte, konnte sie auf jenem Balkon sitzen, dem Logenplatz über Abgründen, und sich mit dem für sie so bedeutenden Mann vertraulichen Gesprächen hingeben. Sie gestand ihm ihre Freude darüber, ihn zu sehen. Sie lächelte ihn an, als wollte sie ihm ein noch schöneres Willkommen bereiten. Sie liebte ihn, und sie wollte das auch nicht verbergen; sie hielt ihn für den liebenswertesten Mann der Welt. Daher kämpfte sie, um ihn in eine Form zu pressen, eine ideale Form, die sie sich erträumte und die sie mit der zähen Willenskraft einer Fanatikerin und der Schwäche einer verliebten Frau in ihm auszumachen glaubte. [...] „Wissen Sie immer noch nicht, was ich von Ihnen will? War ich bei anderen Gelegenheiten nicht offen genug, damit Sie mich verstehen? Nun, heute werde ich es sein..." „Sei es, ein für allemal! Ich bitte dich darum. Beseitige diese Hindernisse, die meinem Glück im Wege stehen. Sei eine Frau..., eine Frau, die blind ist, um mit bedingungsloser Zuneigung den Mann zu lieben, den du an die unbezwingbaren Reize deiner Schönheit gefesselt hast. Ich bin dein Sklave, und es gibt kein Opfer, das ich für dich nicht erbringen würde." „Sehr schön... Diese Worte richten Sie in Ihrer Zeitung auch an Ihre Landsleute. Manchmal halte ich Sie für fähig, mit dem englischen Dichter zu sagen: 'Mein Vaterland ist blond und heißt Bertha.' Aber dann wieder sehe ich, daß Sie zögern. Der loyale Mann in Ihnen ringt mit dem unschlüssigen Mann, der auch in Ihnen steckt. Bei diesem Kampf kommen mir Zweifel, und manchmal sind Sie den Beteuerungen, die Sie Ihrer Verlobten gegenüber machen, treu, und dann wieder sind Sie den Beteuerungen, die Sie Ihrem Vaterland gegenüber machen, untreu." „Untreu!" „Hören Sie... Seien Sie nicht verärgert. Eben noch sagten Sie, ich solle ein für allemal offen sein. Dann lassen Sie es mich auch sein." Eine sehr tief hängende Wolke zog an den Liebenden vorüber. Sie war nicht sehr dicht, aber es regnete auf die Hügel unter dem Balkon herab, und nachdem sie kaum spürbar vorübergezogen war, blieben Nebelschwaden zurück, ein flüchtiger zarter Schleier, der den Wald umhüllte. „Sie sind in diesem Land geboren", fuhr Madeion fort, „und ich muß Ihnen zugestehen, daß es Sie liebt. Diese Liebe brachte Sie dazu, mit Ihrem scharfen Verstand und Ihrer streitbaren Feder große Schlachten zu schla-

60 gen. Durch diese wurden Sie populär. Sie gründeten so etwas wie eine politische Partei, die Sie als ihren Papst, als ihren unbestrittenen Anführer, anerkennt. Ihre Anhänger folgen Ihnen in Ihren Entscheidungen und Beschlüssen ohne jede Diskussion. Was immer Sie auch sagen, ist für sie wie ein geheiligtes Wort. Sie gehorchen Ihnen, wenn nicht aus Uberzeugung, dann aus Disziplin; und die Disziplin bedeutet, Ihnen nicht zu widersprechen. Ihre Partei besteht aus Anhängern, die Ihnen begeistert folgen, die aber nicht denken. Wenn einer denkt, dann schweigt er, weil er fürchtet, Sie könnten ihn für unloyal halten. Sie haben eine Glaubensgemeinschaft gegründet, ein Dogma geprägt. Sie haben sich selber zum Gott gemacht, und während Sie vorgaben, den freien Willen Ihrer Anhänger zu respektieren, haben Sie sie durch ein Band der Liebe an sich, an Ihre Person und an Ihre Diktatur gebunden." „Mir scheint, du sezierst hier kaltherzig einen toten Körper!" „Nein, mein geliebter Freund! Mit der Wahrheit mache ich ihn wieder lebendig, erforsche ich ihn, erlöse ich ihn. Sie dachten, die ganze Arbeit, die Sie zum Zwecke der politischen Propaganda all diese Jahre hindurch geleistet haben, sei zum Wohle Ihres Landes, Ihrer Mitmenschen, geschehen. Wenn Sie kämpften, dann geschah das um ihretwillen; wenn Sie litten, waren Sie um ihretwillen zu jedem Opfer bereit. Aber dann hüllten Sie sich in Dunkel. Die einst gerade Linie Ihres Patriotismus verlief in einem Zickzackkurs. Uneindeutigkeit drohte, Ihre Absichten zu trüben. Sie haben Ihre eigene politische Partei... Ihre eigene, denn Sie fuhren sie, wohin Sie wollen. Die Wirklichkeit macht Sie zum Vormund Tausender von Menschen, die mit Ihrem K o p f denken oder Ihnen die Mühe des Denkens überlassen. Die Regierung hier wird bald abgelöst. Meine Landsleute, die ihre eigene Geschichte vergessen haben, schickten, um diese Kolonie zu regieren, gutwillige oder auch böswillige Männer, aber in jedem Fall hatten sie keine Vorstellung von euren Problemen und der komplexen Psychologie eures Volkes. Sie haben eine Zeitung und eine Partei. Sie halten ein Machtmittel in Händen, und wenn es darum geht, dieses Machtmittel gegenüber der Regierung einzusetzen, geraten Sie ins Wanken. Und statt zuerst an Ihr Vaterland zu denken, denken Sie an Ihre Partei. Diese ungeheure kollektive Kraft setzen Sie nicht ein, um die Rechte Ihres Vaterlandes zu erkämpfen, sondern allein zum Wohl der Partei, der Sie vorstehen. [...]" „Ich sehe schon: Du willst, daß ich so bin, wie du es gebietest."

61 „Wie es die Pflicht gebietet. Die Regierung spielt mit euch. Sie hat erkannt, daß es im wesentlichen um Fraktionskämpfe geht, und schürt sie beständig, sie stachelt euch gegeneinander auf. Ihr wollt Macht, Vorherrschaft, wollt euren eigenen Mitbürgern überlegen sein, Autorität und Macht über sie ausüben, sie manchmal sogar demütigen und zugleich für Patrioten gehalten werden, für würdige Erben jenes berühmten Mannes, eures Landsmannes, der, von einem spanischen Generalkapitän mit dem Galgen bedroht, antwortete: 'In der Nacht vor meinem Tod würde ich ruhiger schlafen als Ihr, Herr General.' Ja, ihr wollt regieren; regieren, bevor ihr etwas erschaffen habt; ein Land regieren, das ihr weder mit Blut noch mit Ideen noch mit Gefühlen erlöst habt. Ein Vaterland habt ihr nicht geschaffen, und ihr wollt die Negation ebendieses Vaterlandes regieren. Ihr wollt Macht, das Maß an Einfluß, das sie euch vielleicht für die Konzessionen zugestehen, auf die ihr euch einlaßt, und für die Liebe, die ihr gegenüber dem Gesetz der Stärke bekundet, das euch beherrscht und unterjocht." „Wo hast du das alles gelernt? Ich sehe, daß du nur mit anderen Worten das wiedergibst, was mir meine Gegner vorwerfen." „Weil diese Vorwürfe dieselben sind, die Sie gegen Ihre Gegner erheben. Von Ihnen habe ich sie gelernt. Eure Parteien sind in ihren Ambitionen und ihren Handlungsweisen gleich. Ihre Gegner sagen Ihnen die Wahrheit." „Die Wahrheit?" „Ja. Und wenn Sie ihnen mit jenen kategorischen Artikeln, die Sie schreiben, antworten, sagen Sie ihnen auch die Wahrheit, denn ihr seid identisch, zwischen euch gibt es keinen Unterschied. Die Politik, auf die ihr euch einlaßt, erstickt die individuellen Tugenden, deformiert euren Charakter, hindert euch daran, euch meinem Volk so zu präsentieren, wie ihr es tun solltet, löst bei den Ausländern nur Verachtung aus und bewirkt, daß ein wirrer Haufen von Aktivitäten in endlose Kämpfe mündet, die euer Vaterland ins Verderben führen." Es wurde dunkel. Aureo dachte an die Rückfahrt nach San Juan. Der Nachmittag hatte ihn aufgewühlt, aber jetzt verabschiedete ihn Madeion mit diesen großen durchdringenden und schelmischen Augen. Sie war mit ihren Küssen großzügig gewesen: Aureo konnte sich nicht beklagen. Im allgemeinen war sie zurückhaltend mit ihren Zugeständnissen, doch an diesem Nachmittag war sie verschwenderisch gewesen. Sie hatte ihn gebeten, sie zu küssen, und ihre Zärtlichkeit versüßte ihm seine Qualen. [...]

62 Zur selben Zeit schlug eine Nachricht in der Öffentlichkeit wie eine Bombe ein. Die Bundesregierung hatte beschlossen, einen Einheimischen zum Gouverneur der Kolonie zu ernennen. Die Amtszeit des vom Festland entsandten, gerade amtierenden Gouverneurs war abgelaufen, und die Regierung wollte die Gelegenheit nutzen, um dem unterworfenen Volk als Zeichen seiner Großmut diesen plötzlichen Anflug von Liberalität angedeihen zu lassen. [...] Der Name des Favoriten wurde nicht genannt, doch die Nachricht als solche reichte aus, um im Zentrum wie an der Peripherie der Macht einen wahren Erdstoß auszulösen. Manche Nordamerikaner, die seit Jahren von dem profitierten, was die Inselbewohner an Abgaben zu leisten hatten, hielten die Maßnahme für fahrlässig. Wer sagte denn, daß diese Leute in der Lage waren, ihr Land selbst zu regieren? Man sollte dem Rat der Experten folgen, die im Lande lebten und es folglich kannten. Das Allerschlimmste wäre, sich von Gefühlsduselei und unbedachter Hast leiten zu lassen; kein Einheimischer hegte wahre amerikanische Gefühle. Andere Nordamerikaner hingegen, die sich auf die Seite der Einheimischen stellten, applaudierten. Nahezu alle Zeitungen priesen die Freiheit, die Demokratie und das Kapital, und während sie für die Wahl des ihnen nahestehenden Kandidaten warben, überhäuften sie die möglichen Kandidaten der Gegenparteien mit Spott. Es herrschte ein einziges Gezeter. Es gab Diskussionen, Streitgespräche, Wortgefechte und in den Klubs der verschiedenen Fraktionen Versammlungen, Beratungen in kleinen Zirkeln und Getuschel. Bei manchen Zusammenkünften unter freiem Himmel zeterten die Diskussionsfreudigen und wetterten die Lästermäuler. Alles schien nur auf das Unglaubliche zu warten. Zwei Tage später sprach der Telegraf. Nur wenige Worte sprach er, doch diese erschütterten die Kolonie bis in ihre Kalksteinfelsen und Korallenriffe. Der Präsident übermittelte heute dem Senat die Ernennung von Aureo del Sol zum Gouverneur von ..., etc., etc. So lautete die Depesche, und es galt als sicher, daß der Senat der Ernennung seine Zustimmung erteilen würde. Der Gouverneur rief Aureo zu sich, und indem er ihn beglückwünschte, präsentierte er ihm den offiziellen Bescheid über die Ernennung. Für alle Welt eine ungeheure Sensation! So als hätte der Galiläer die Schwelle Jerusalems überschritten. Die Anhänger Aureos frohlockten lautstark und jubelten. Endlich gab es Gerechtigkeit! Aus allen Himmelsrichtungen kamen Telegramme, die Telegrafendrähte bogen sich unter der Last

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der Depeschen, die Telefone vibrierten unter dem anhaltenden Geläut der Gratulationen, und die Post brachte dem Erwählten ganze Berge von Briefen voller Glückwünsche, Grußadressen und Lobeshymnen. In den politischen Zirkeln wurde heiß diskutiert, und Männer, die sich in einem pathologischen Zustand freiwilliger Sklaverei der Fraktion Aureos ergeben hatten, wähnten sich auf dem Gipfel der Glückseligkeit. Die Zeitungen veröffentlichten Verlautbarungen von Leuten, die erklärten, es sei ihnen nunmehr wie Schuppen von den Augen gefallen und sie hätten endlich erkannt, daß die einzige Partei, die das Land retten würde, die Aureos war..., weshalb sie sich dazu entschlossen hätten, sich bescheiden als Soldat dem letzten Glied seiner Partei anzuschließen. [...] Währenddessen schäumten die Anhänger der anderen Fraktionen vor Wut. Zum Teufel mit der Ungeheuerlichkeit, die sich die Regierung geleistet hatte! Sie waren krank vor Neid. Weder Aureo noch seine Partei waren imstande, in der Kolonie die Freiheit, die Demokratie und die amerikanischen Institutionen zu verteidigen. Keine Regierung hatte jemals einen größeren Fehler begangen. Das Land solchen Leuten zu übergeben bedeutete, mit Blick auf die Amerikanisierung einen Rückschlag zu erleiden und die bereits gemachten Fortschritte bei der Einführung der entsprechenden Methoden zunichte zu machen. Kurzum: Sie tobten und stießen Drohungen aus, sagten gewaltige Katastrophen voraus, beschworen das Unwetter, seine Blitze herabzuschleudern und das Gesindel von Verrätern zu spalten, dem es auf niederträchtige Weise gelungen war, die Regierung zu täuschen... [...] Aureo war in Hochstimmung. Er konnte kaum glauben, daß seine Ernennung sicher war. Er hatte schon zu früheren Zeiten den Plan verfolgt, zu Höherem aufzusteigen, Staatschef zu werden. Damals fürchtete er den spanischen Säbel und bändigte seine Ambitionen. Dann, als die Kolonie mitsamt ihren Menschen dem Kongreß der Vereinigten Staaten unterstellt wurde, sah er den Weg geebnet für die Verwirklichung seines Traums. Gouverneur! Niemand auf der Insel, der über ihm stand! Er verbarg seine Hochstimmung, indem er eine gelassene Bescheidenheit zur Schau stellte, doch jede Stunde, jeden Tag dachte er an die Horizonte, die sich ihm eröffnen würden, und an die Höhen, die sein Streben nach Größe erklimmen würde. E s schien ihm, als hätte sich das Umfeld, in dem er bis dahin gelebt hatte, verändert und als wäre es bereits das Umfeld des Herrn Gouverneur. Seine Gedanken waren mit nichts anderem auf der Welt

64 beschäftigt als mit seiner eigenen Person, so berauscht war er von diesem größten Triumph seines Lebens. [...] Das Bankett nahm seinen Lauf, feierlich begleitet von den Klängen einer Militärkapelle, die im Garten spielte [...] Man hörte die lärmenden Hochrufe: „Es lebe der Gouverneur! Es lebe Aureo del Sol!" Alles ließen die Demonstranten vor dem Gouverneurspalast in ihrer ausgelassenen Freude hochleben. Es wurden Reden gehalten: von Rednern aus dem Volk, von bedeutenden Politikern, von Aureo selbst, dessen Rede wohl aufgehoben schien zwischen den Händen, die ihm unablässig applaudierten. Dann war alles vorbei. Die Kapellen verstummten, die Menschenmenge löste sich auf, die Gäste verabschiedeten sich. Aureo blieb allein zurück, allein im Gouverneurspalast. Die auf seine Befehle wartende Dienerschaft erhielt die Anweisung, sich zurückzuziehen. In den Nischen der Mauern verborgene Lakaien löschten die Lichter. Alles begab sich zur Ruhe. Es war zwei Uhr morgens. In dem prachtvollen Schlafzimmer erkannte Aureo mit unendlicher Schwermut das ganze Ausmaß der nackten Realität. Er war allein! Allein, ohne seinen Sohn, ohne die geliebte Frau. E r fühlte sich niedergeschlagen, abgespannt, ohne schlafen zu können, seine Haut glühte, Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er ging hinaus auf einen Korridor. Im Halbdunkel war alles still. Jene Gemächer bargen die Geheimnisse von Jahrhunderten. Hier schien das Flickwerk einer langen Geschichte vergilbte Seiten zu durchblättern; hier schienen die Klagen vergangener Generationen die Mauern zu erschüttern; hier knarrten unschlüssig und unstet furchterregende Geräusche, welche in großen Gebäuden die Nacht und die Stille grundlos erzeugen. Hier ließen die Sinnestäuschung oder die Angst phantastische Kämpfe sich entfesseln: mit Degen bewaffnete Soldaten, die sich Gefechte lieferten; Monster, die mit gespaltener, Feuer speiender Zunge Brände der Schmähung und Verleumdung entfachten; grausame Aufseher, die Peitschen schwangen, welche auf weißen Rücken und schwarzen Rücken blutige Spuren hinterließen. In diesem furchterregenden Dämmerlicht erhob sich lärmendes Treiben, entspannen sich Wahnvorstellungen und Alpträume. In seiner niedergeschlagenen geistigen Verfassung spürte Aureo ganz deutlich die beklemmende Last jenes Halbdunkels. Und da er noch mehr an seiner Seele, der Seele des ehrgeizigen Träumers, litt, schien es ihm, als ob auf ihm in dieser Einsamkeit das jahrhundertealte Gewicht von Generationen lastete, die längst zu Staub geworden waren, Generationen, die unabläs-

65 sig aufeinander folgten, Jahrhunderte um Jahrhunderte, Sklaven um Sklaven, Leid um Leid. Er drang in immer neue Räume und Korridore vor, bis er zu der mit Rolläden versehenen Rückseite des Gebäudes kam, einer vorspringenden Galerie, die sich zum Meer hin öffnete. Er ging hinaus. Draußen die Nacht und das Meer. Leichte Windstöße aus nördlicher Richtung strichen durch die Dunkelheit. E r atmete tief durch und spürte auf dem Gesicht das angenehme Gefühl von Frische. Sein Blick verlor sich in der Weite der großartigen Szenerie. Die Nacht, das Meer, die unergründliche Ferne. Ein zarter Lichtschein senkte sich in Abständen über das dunkle Wasser und rief fahle Reflexe hervor. [...] Aureo fühlte sich vom Schmerz übermannt, unglücklich, erbärmlich. Welch ein Erwachen für ihn! Ein so wunderschöner Traum, und die Wirklichkeit war nichts als Bitternis! Er war allein, allein ohne Liebe und Zärtlichkeit, allein ohne seinen Sohn, ohne die geliebte Frau, und umgeben von Gefahren, Neidern, Heuchlern, Feinden und Verrätern. Allein in dem fröhlichen Tumult seines Triumphes, allein in dem Jubel um seinen Aufstieg, grenzenlos traurig, grenzenlos verzweifelt. Leise und melancholisch ließ sich ein Klang wie von verwundeter Bronze vernehmen. Es war die Glockenboje, die in der Einsamkeit der Nacht ihr Lied sang. Aureo verspürte um sich herum den rhythmischen Akzent, und er glaubte, ihn verstehen, ihn entziffern zu können, und er begriff das Geheimnis jener schlagenden Zunge. Ja, jetzt begriff er es, sie war in seine eigene Erfahrung eingemeißelt: Wie jene Boje gab es Menschen, die Glocken läuten, während sie an eine Ankerkette gefesselt sind. Vielleicht galt das auch für ihn... Er schloß die Augen, warf den Kopf zurück und versank in Gedanken. Da hörte er, wie durch die geheimnisvollen Lüfte unheilvolle Geräusche galoppierten. Es war die Festung „El Morro", die erbebte, die Meeresströmungen aufeinanderprallen, Wellen emporschießen und Schaumkronen anwachsen ließ. Es war das Meer, das gefürchtete Meer, das sich zornig wand, so als tobte es im Haß der Jahrhunderte, das sich zwischen dem Ansturm der Flut und der Hinfälligkeit der Ebbe in einer riesigen Dünung verlief, das sich der mitreißenden Strömung willig fügte und im Rollen der tobenden Brandung den schaurig heulenden Nordwinden erlag. Es waren das Meer und die Festung, die aus unterdrückter Wut Peitschenhiebe versetzten, düstere Klagelieder

66 herausschrieen, voll des Zorns die Kolonie in ihren Grundfesten erschütterten, als wollten sie sie herausreißen aus ihrem tiefen Schlaf der Knechtschaft... Übersetzt von Kristina Demi und Cornelia Funk-Leiva

Antonio S. Pedreira (1899-1939) Journalist, Literatur- und Kulturkritiker; Studium der Erziehungs- und Literaturwissenschaften in San Juan, New York und Madrid; von 1927 bis zu seinem Tod Hochschullehrer und Leiter des Departamento de Estudios Hispánicos an der Universität von Puerto Rico. Pedreira war unbestritten die intellektuelle Leitfigur der „Generación del 30", deren zentrales Anliegen auf die Erkundung und Behauptung der im spanischen Erbe wurzelnden nationalen Identität gerichtet war. Die 1929 von ihm (in Zusammenarbeit mit Vicente Géigel Polanco u. a.) gegründete Monatszeitschrift Indice wirkte zunächst als Katalysator; der bedeutendste Beitrag Pedreiras in diesem Kontext aber war — neben seiner unermüdlichen Tätigkeit als Hochschullehrer im Bereich der spanischsprachigen und insbesondere der puertoricanischen Literatur sowie seinen in der Tagespresse für ein breiteres Publikum veröffentlichten literatur- und kulturkritischen Beiträgen — sein 1934 publizierter Essayband lnsularismo. Ensayos de interpretación puertorriqueña, der seine Zeitgenossen nachhaltig beeinflußte. Im Vorwort zu lnsularismo betont Pedreira, daß er keine Lösungen der nationalen Probleme liefern, sondern diese Probleme allein in ihrem historischen Entstehungsprozeß aufzeigen und kritisch analysieren wolle, um so der aktuell herrschenden Desorientierung entgegenzuwirken und für die künftige Entwicklung Perspektiven aufzuzeigen, die helfen könnten, den bei ihm selbst wie bei seiner Generation vorherrschenden Pessimismus hinsichtlich der Konfiguration von nationaler Identität und nationaler Realität zu überwinden. Der Titel verweist auf einen der zentralen Faktoren, die Pedreira für die Probleme Puerto Ricos verantwortlich macht: die Insellage und die dadurch bedingten engen geographischen Grenzen, die einem wiederum nur begrenzten menschlichen Potential Platz boten und eine Isolation bewirkten, welche die Entwicklung der Insel stark behinderte. Als entscheidende Faktoren, die dann im 19. Jahrhundert zur Herausbildung der ersten Ansätze einer distinktiven kollektiven personalidad gefuhrt hätten, benennt Pedreira neben den klimatischen Bedingungen die rassisch-biologische Komponente des afrikanischen Bevölkerungsteils, die er dem Bevölkerungsteil europäischer Herkunft als unterlegen entgegenstellt, und das mestizaje, die biologische Vermischung von Weißen und Schwarzen, die weniger als „fusión", denn als „con-füsion" gewirkt habe: Faktoren, die seiner Ansicht nach dafür verantwortlich zeichneten, daß die puertoricanische kollektive personalidad oder Mentalität im wesentlichen durch Kleinmut und Nachgiebigkeit und jene „docilidad" oder Gefügigkeit geprägt sei, die bereits vor ihm, vor allem aber nach ihm auch andere Autoren, etwa René Marqués („Der gefügige Puertoricaner", S. 213ff.), als Essenz der puertorriqueñidad herausstellten.

68 Kritik ist durchaus angebracht: So vermengt Pedreira in seiner Argumentation soziologische mit rassisch-biologischen Komponenten, umgeht eine Diskussion der politischen und ökonomischen Faktoren, welche die von ihm konstatierte Problematik des US-amerikanischen Kultureinflusses bedingten, und vertritt - auch wenn er in dem jíbaro, dem (weißen) Campesino oder Kleinbauern des Landesinnem, den authentischsten Ausdruck der im spanischen Erbe wurzelnden puertorriqueñidad verkörpert sieht — ein elitäres, nur für eine Minderheit geltendes Konzept von „Kultur", das er der als materialistisch und utilitaristisch charakterisierten „Zivilisation" der Vereinigten Staaten entgegenstellt. Dennoch zählt sein Essayband auch nach dem Urteil seiner Kritiker zum Grundbestand jener Texte, die das nationale Selbstverständnis bis heute geprägt haben. Werke (Auswahl): Hostos, dudadano de América (1932); lnsularismo. Ensayos de interpretadón puertorriqueña (1934); IM actualidad deljíbaro (1935); Un hombre del pueblo: Jose' Celso Barbosa (1937); El año terrible del 87. Sus antecedentes y sus consecuenáas (1937); Obras completas (Río Piedras: Editorial Edil 1969. 7 Bände). Die abgedruckten Textauszüge sind dem im Verlag Edil (Río Piedras 1992) erschienenen Nachdruck entnommen (aus: Kapitel III/2, III/3, IV/1 und V/1). Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Insularismus Auf der Suche nach einem Hafen [Während des 19. Jahrhunderts] bewahrte sich der Einheimische stets sein puertoricanisches Spaniertum; er sah sich immer als ein Spanier von hier mit Vorstellungen und Verhaltensweisen, die anders waren als die der Spanier von dort. Die Handvoll Separatisten waren nie eine ernstzunehmende Größe; zahlreich waren hingegen die Liberalen, die Reformisten, die Gegner der Sklaverei und die Befürworter der Autonomie. Manchmal taten sie Spanien unrecht: wenn, was häufig geschah, die spanische Verwaltung auf der Insel in Mißkredit geriet. Und obgleich die Entdeckernation moralisch dazu verpflichtet war, hinter ihren Regierungsvertretern zu stehen, konnte man stets zwischen der Regierung hier und der Regierung dort unterscheiden. Spanien war eine Sache, seine Abgesandten eine andere. Um uns in unserem Handeln zu emanzipieren, mußten wir oftmals beiden Seiten die Stirn bieten. Doch konnten wir es eher ertragen, eine Kolonie als eine Kriegsbeute zu sein.

69 Wir begannen also im 19. Jahrhundert, auf unsere geistige Differenzierung hinzuarbeiten und sie zum Ausdruck zu bringen, wobei die in den vorausgegangenen Jahrhunderten bereits weit fortgeschrittene biologische Differenzierung den Ausgang bildete. Und als es uns gelang, unser kollektives Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, wurde dieses Vorhaben durch den spanisch-amerikanischen Krieg zunichte gemacht, indem er uns auf halbem Wege steckenbleiben ließ und uns vor das mißliche Problem stellte, fortan etwas anderes zu sein. Eine neue gedankliche Ordnung verändert den Kurs unserer noch in der Entwicklung begriffenen Persönlichkeit, und im 20. Jahrhundert tritt unsere Kultur in die Übergangsphase ein, in der wir uns noch immer befinden.

Intermezzo: Ein steuerlos dahintreibendes Schiff Im 20. Jahrhundert pendelt die Magnetnadel unseres Volkes in eine andere Richtung, und es wird ein Wandel eingeleitet, der immer noch mehr äußerlich als innerlich ist, der aber nach und nach unser innerstes Fühlen und Denken verändert. Suchen wir ein wenig abseits der herausragenden Ereignisse am Rande der Aktualität und nicht in der Geschichte selbst die Zeichen, die diesen Zeitraum am treffendsten charakterisieren. Im Jahre 1898 waren wir gerade dabei, unser Volk unter einer Autonomieverfassung zu organisieren, die wir erst kurz zuvor eingeführt hatten. In dem Moment, da wir im Begriff waren, uns mit einem neuen politischen Leben vertraut zu machen, wurde dieses Vorhaben durch den spanischamerikanischen Krieg vereitelt, und unsere natürliche Entwicklung kollabierte. Von einer europäischen Polarisierung gerieten wir, ohne es zu merken, an eine nordamerikanische Polarisierung. Präsident McKinley setzte den König von Spanien schachmatt, und seitdem erlebt das puertoricanische Schachbrett, daß seine Figuren sich in eine andere Richtung bewegen. Zwischen diesen beiden Lebensweisen befindet sich unsere Persönlichkeit wie in einem Durchgangsstadium, in einem Zustand des Pendeins, mal loslassend, mal festhaltend, in einem ständigen Hin und Her auf der Suche nach dem richtigen Kurs, wie eine ruhelose Taube im Flug. Eingeschlossen zwischen zwei gegensätzlichen Kulturformen, befindet sich unser Volk in einer undefinierbaren Periode des Ubergangs. Von einem katholischen, traditionalistischen und monarchistischen Staat wechselten wir zu einem protestantischen, progressiven und demokratischen Staat; und wir gingen über vom Soziologischen zum Ökonomischen, vom Kultivierten zum Zivilisierten.

70 Jeder Puertoricaner, dessen Verstand nicht von Antagonismen und Irrlehren getrübt ist, muß den großartigen Fortschritt, der in den vergangenen dreißig Jahren erreicht wurde, anerkennen. Die Industrie, der Handel, die Landwirtschaft und der Staatshaushalt haben ungemein expandiert; und wir haben gelernt, wie man Geschäfte macht und das Geheimnis der Wirtschaft durchschaut. Niemand wird leugnen können, daß die neue Zivilisation unser Dasein in angenehmer Weise verändert hat und daß wir uns mit größerer Freiheit und größeren Sicherheiten als früher bewegen können. Der Wandel war erstaunlich und der Fortschritt geradezu sprichwörtlich. Wir haben mehr Schulen und mehr Straßen als vorher. Wir müssen die Leser daran erinnern, daß es bei dem Problem, das sich uns hier stellt, nicht um die Zivilisation, sondern um die Kultur geht. Die wechselseitigen und sich ergänzenden Überschneidungen beider Konzepte dürfen niemanden dazu verleiten, sie miteinander zu verwechseln. Bedenkt man, was wir im ersten dieser Essays gesagt haben, wird man die Unterscheidung beider Begriffe klar und deutlich erkennen: eine Unterscheidung, die eine Reihe berühmter Denker, von Jean-Jacques Rousseau bis José Ortega y Gasset, mit ihrer Autorität bestätigt. Die Kultur, die eher Intensität des Lebens als Fortschritt ist, darf nicht mit der Zivilisation verwechselt werden; sie ist eher eine Angelegenheit der Qualität als der Quantität. Die Zahl, das Symbol unserer Zeit, ist nicht imstande, sie vollständig zu erfassen. Häufig mißt man unsere heutige Kultur am wirtschaftlichen Fortschritt, am Gesundheitswesen, am Straßennetz, am Volumen von Import und Export, etc., so als wären der Fortschritt der Technik und die nordamerikanische Mechanisierung ein geeignetes Thermometer, um die Temperatur eines Volkes zu messen, das sich in einem anderen moralischen Klima entwickelt hat. Es gibt reichlich Autoren, die auf der Basis des Vergleichs argumentieren und die aktuelle Wirklichkeit nach dem Mehr und dem Weniger bewerten, so als ließe sich der Geist eines Landes auf Statistiken reduzieren. Die größte Zahl, das soundso viel Mehr: Die offiziellen Angaben dienen als Norm bei der Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart. Und die Begeisterung für den Vergleich erlaubt es einem vernünftig denkenden Menschen wie Doktor Juan B. Soto, unsere aktuelle Lage in der Behauptung zusammenzufassen, daß „der in den vergangenen siebenundzwanzig Jahren - das Zitat ist von 1926 - in Puerto Rico erreichte Fortschritt in der Wirtschaftsgeschichte der Menschheit ohnegleichen ist". Des weiteren behauptet er, daß unsere „Zivilisation... und unsere Disposition...

71 sich vorteilhaft mit der Zivilisation einiger der höchstzivilisierten Völker der Welt vergleichen lassen". Und dies ungeachtet dessen, was die vergleichenden Autoren verschweigen: Wenn es wahr ist, daß wir mehr Schulen und mehr Kraftwerke und mehr Gewerbebetriebe und überhaupt mehr von allem haben, so ist es nicht weniger wahr, daß auch die Zahl der Konkurse, der Selbstmorde, der Verrückten, der Verbrecher, der Tuberkulosekranken, der Betrugsdelikte, der Tagelöhner und derer, die ganz allgemein im Unglück leben, unglaublich gestiegen ist. Der Bevölkerungszuwachs rechtfertigt proportional keinesfalls das Ausmaß, das unser kollektives Leid angenommen hat. Mit vollem Recht werden die vergleichenden Autoren sagen, daß heute die Schulbildung sogar für die breite Masse zugänglich ist und sich dadurch die Zahl der Analphabeten beträchdich verringert hat. Niemand kann bestreiten, daß sich das öffendiche Schulwesen wie fast alle Bereiche des Lebens gegenwärtig in großem Umfang entwickelt hat. Aber die innerste Dimension der Kultur ist weder die der Länge noch die der Breite, sondern die der Dichte. Die Zivilisation ist horizontal, die Kultur vertikal. Würde ich mich der Gruppe, die alles mit den Maßstäben des Mehr und des Weniger definiert, anschließen, dann würde ich sagen, daß wir heute mehr zivilisiert sind, gestern aber mehr kultiviert waren. [...]

Das Schachbrett [...] Um unsere derzeitige Unfähigkeit angemessen zu beurteilen, und das heißt, ohne Euphemismen zu gebrauchen, aber auch ohne ungerecht zu sein, muß man besondere Umstände berücksichtigen, welche die kollektive Schuld mindern. Der Kolonialismus hat uns daran gewöhnt, daß andere für uns Lösungen und Heilmittel ersinnen, zu denen wir nichts beigetragen haben. Von der Kolonisierung bis heute hat man für uns auf treffliche Weise wirtschaftliche, soziale, militärische und religiöse Probleme gelöst, ohne daß sich unser kollektiver Geist im Interesse derselben sonderlich abgemüht hätte. Von heute auf morgen änderte man mehrmals unsere Währung und unsere Staats finanzen, man legalisierte die Ehescheidung, man trennte die Kirche vom Staat, man wechselte eine Armee gegen eine andere aus, und man gab uns sogar eine andere Verfassung, ohne daß wir im geringsten interveniert hätten. Heute fehlt uns jene nützliche Lehrzeit, die alle Völker der Welt Blut und Leid gekostet hat. Unser Bürgerkrieg war immer ein Krieg

72 zwischen politischen Parteien, angeführt von den Vätern der Nation, die sich oft genug mit der Rolle von Stiefvätern begnügten. Ohne die Narben der Erfahrungen aus anderen Kämpfen begegnen wir den aktuellen Problemen ohne eigenes Gewicht und mit Vorurteilen beladen. Es mangelt uns an Selbstgewißheit, da uns ein historisches Bewußtsein fehlt. Uns fehlt jener unterbewußte Zusammenhalt, den eine aus Schmerz und Opfern geschmiedete Kultur vermittelt. „Die wahren Werte", so sagte [Gregorio] Maranon, „erreicht man im allgemeinen unter großen Mühen. Sie befinden sich in einem verborgenen Schrein, der sich oftmals nur durch ein Opfer öffnet." Ich glaube, dies erklärt, warum unsere Politik heute so ganz auf den Blick zurück verzichtet: Sie blickt nach vorn, in die unmittelbare Zukunft, aber ohne weitreichende Perspektive und ohne den Rückblick in die Vergangenheit. Sie scheut zurück vor der epischen Größe und flüchtet sich in die prosaische Banalität. Daher ergießt sich in jeder Legislaturperiode ein rhetorischer Wortschwall in Hunderte von rein akademischen Projekten, die nie Gesetz werden. Das Fehlen eines Rückbezugs auf die Vergangenheit und einer auf die Zukunft gerichteten Perspektive läßt sich sehr gut erklären, wenn man bedenkt, daß sich unsere politischen Parteien an anderen Parteien orientieren mußten und müssen: früher an denen Spaniens und heute an denen Nordamerikas. Diese erzwungene Rücksichtnahme, die nicht unserem Willen entspringt, ist bedingt durch die Notwendigkeit, unser Leben der Partei anzupassen, die in den jeweiligen Metropolen den Sieg davontrug und davonträgt. So mußten die Parteien in Puerto Rico beständig ihren Namen, ihr Programm und sogar ihre politische Plattform entsprechend uns fremden Forderungen ändern, wobei sie die authentische politische Linie, die sich auf jeden Fall an der kollektiven Würde hätte orientieren müssen, geopfert haben. In vier Jahrhunderten unserer Geschichte haben sie nie auch nur einen einzigen vom Volk gewählten Gouverneur gestellt. Ihr Schicksal symbolisiert das Osterlamm in unserem Wappen, in dem statt „Joannes est nomen ejus" angemessener das folgende Bibelwort stehen sollte: „Siehe, das ist das Lamm, das geopfert werden wird." Es ist schon erstaunlich, daß das friedliebendste Volk der Welt durch einen Widersinn der Geschichte seit der Entdeckung unter den Leyes de Indias von einem Capitän General regiert wurde und von 1898 bis heute seine Regierung vom Kriegsministerium in Washington abhängt. Das Volk, das nie

73 eine Armee aufstellte, unterstand stets einer Militärregierung. Wie kann eine Kultur, der es nie gelungen ist, ihre rechtlichen Bestrebungen in einen eigenen Staat münden zu lassen, stark und eigenständig werden? [...]

Bekenntnis zurpuertorriquenidad Aus dem Halbdunkel unserer derzeitigen Verfassung heraus erheben Persönlichkeiten ersten Ranges ihre Stimme mit pessimistischen Äußerungen: Ergebnis einer melancholisch gestimmten Erkundung der Ungewißheit der heutigen Zeit. Rosendo Matienzo Cintron, einer der scharfsinnigsten Köpfe, die wir hervorgebracht haben, schrieb 1903: „Heute ist Puerto Rico nur eine Menschenmasse. Aber sobald diese Menschenmasse eine Seele besitzt, wird Puerto Rico eine Nation sein." Dreißig Jahre später hat sich die Lage nicht verbessert. Das versichert Mariano Abril, offizieller Historiograph Puerto Ricos: „Aber... existiert die Seele? Und noch dazu eine puertoricanische? Ein Chirurg würde sie mit dem Skalpell nicht finden, und ein Psyschologe würde seine Zweifel haben. Das Land ist gänzlich deformiert... Es ähnelt jenem vom großen Dürer erschaffenen Ritter des Todes, der hinter der glänzenden Ritterrüstung ein erbärmliches Skelett verbirgt." Niemand darf erwarten, daß ein Chirurg, so erfahren er bei der Abfertigung seiner Opfer auch sein mag, auf seinem Operationstisch die Seele eines Volkes findet. Wir sind ehrlich davon überzeugt, daß die puertoricanische Seele existiert: gespalten, ohne Zusammenhalt, unfertig, sichtbar fragmentiert wie ein leidvolles Puzzle, das sich nie zu einem Ganzen fugen konnte. Im vergangenen Jahrhundert unserer Geschichte haben wir begonnen, sie zu erschaffen, aber Wechselfälle des politischen Geschicks haben uns daran gehindert, den eingeschlagenen Kurs bis heute beizubehalten. Drei Jahrhunderte ruhiger und langsamer Fahrt reichten nicht aus, um die Route zum Eldorado zu finden. Im 19. Jahrhundert begannen wir, die Küsten unseres kollektiven Bewußtseins im Nebel zu erahnen, und als wir uns anschickten, jubelnd zu rufen: „Vaterland in Sicht!", da zerschlug eine kriegerische Hand das Steuerruder, und unser Schiff trieb steuerlos dahin. Man darf nicht meinen, wir seien ausgereift. Wir hatten nicht ausreichend Zeit, um unsere definitive Persönlichkeit zu schaffen. „Um in einem Volk wie dem französischen", sagt Gustave Le Bon, „die Ubereinstimmung der Gedanken und Gefühle, die seine Seele ausmachen, herbeizufuhren, waren mehr als zehn Jahrhunderte erforderlich." Wie kann man erwarten, daß

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wir diese Übereinstimmung in nur einem Jahrhundert hätten herbeiführen können, zumal noch das gewaltige Hindernis bestand, daß wir nicht Herr unseres Schicksals waren? Die Seele und das Vaterland ohne Komponenten, die nicht nur vorläufigen Charakter haben: das zu erschaffen, haben wir noch zu leisten. [...] Übersetzt von Jenny Boulboullé und Claudia N. Nieto

Tomás Blanco (1897-1975) Erzählet, Romancier, Lyriker, Journalist, Literatur- und Musikkritiker; Studium der Medizin in den Vereinigten Staaten, das er 1924 mit der Promotion abschloß; lebte während der 30er Jahre vorwiegend im Ausland, um Anfang der 40er Jahre nach Puerto Rico zurückzukehren und einen Posten im Gesundheitsministerium zu übernehmen. Blanco wird gleich Antonio S. Pedreira zu den herausragenden Gestalten der „Generación del 30" gezählt; und Pedreiras Essay Insularismo (.Insularismus) war es auch, der ihm für sein bedeutendstes, 1935 publiziertes Werk, Prontuario histórico de Puerto Rico (Abriß derpuertoricanischen Geschichte), wie Blanco im Vorwort betont, als „Ansporn" gedient habe bei seinem Vorhaben, „mir über den Versuch einer Synthese die Entwicklung unseres Volkes zu erklären". Wie Pedreira legt auch Blanco in seiner Darstellung besonderes Gewicht auf das 19. Jahrhundert, in dem er bereits ein kritisches nationales Bewußtsein im Entstehen begriffen sieht. Von besonderem Interesse aus heutiger Perspektive sind seine Ausfuhrungen zu den Folgen des nach 1898 einsetzenden Kulturschocks, hervorgerufen durch die Bemühungen der neuen Kolonialherren um eine „Amerikanisierung" der Insel, wobei Blanco — anders als Pedreira — einem dezidierten politischen Bewußtsein Ausdruck verleiht und für die Unabhängigkeit votiert. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, daß der von ihm verwendete Begriff des (anzustrebenden) self-government, wie er andernorts mehrfach betonte, nicht mit dem der Autonomie gleichgesetzt werden dürfe, sondern als „tatsächliche Selbstverwaltung in ihrer richtigen, eindeutigen und etymologischen Bedeutung von Unabhängigkeit" zu definieren sei (zit. in der Ausgabe von 1981, S. 17). Unbestritten sind Blancos Verdienste zudem im Zusammenhang mit der (von vielen seiner Zeitgenossen in Abrede gestellten) Diskriminierung des farbigen Bevölkerungsteils, die er in dem Essayband Elprejuicio raríal en Puerto Rico (Das Rassenvorurteil in Puerto Rico) dokumentierte und anprangerte. Desgleichen widmete er zahlreiche Arbeiten den kulturellen Leistungen ebendieses Bevölkerungsteils in der Literatur ebenso wie in der Musik. Werke (Auswahl): Prontuario histórico de Puerto Rico (1935); El prejuicio racial en Puerto Rico (1942); Los vates (Kurzroman; 1949); Sobre Palés Matos (1950); Cuentos sin ton ni son (Erzählungen; 1970); Obras completas (Río Piedras: Ediciones Huracán 1981-1985. 3 Bände). Die abgedruckten Textauszüge (aus Kap. VII und VIII) sind dem im Vedag Huracán (Río Piedras 71981) erschienenen Nachdruck entnommen. Die Hervorhebungen im Text entsprechen dem Original. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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Abriß der puertoricanischen Geschichte Das 20. Jahrhundert - Die nordamerikanische Besetzung — Orientierungslosigkeit Bis zum 18. Jahrhundert war Puerto Rico eine überseeische Bastion im Besitz der spanischen Krone. Unter ihrer Obhut entwickelte sich eine Zivilbevölkerung wie eine heranwachsende Kinderschar unter der Autorität einer Abordnung oder Vertretung des Elternhauses. Im 19. Jahrhundert bildete sich diese Bevölkerung zu einem klar definierten eigenständigen Volk heraus; doch die Ereignisse von 98 folgten so unmittelbar auf diese Metamorphose, daß wir uns unerfahren zeigten und noch nicht überwundene Reste einer kollektiven Unreife unter Beweis stellten. Die Gesellschaft von einst hatte sich als Gemeinwesen organisiert, und ihre Differenzierung im Rahmen der nationalen Einheit hatte sich in einem autonomen Staat konkretisiert; doch sie hatte für den freien Umgang mit ihren jüngst erworbenen Freiheiten noch nicht die notwendige Reife erlangt. Wir hatten uns gerade erst der orthopädischen Stütze der militärischen Vormundschaft entledigt, als die Katastrophe über uns hereinbrach. [...] Puerto Rico im Jahre 1898: Jene Phase des Ubergangs — von Februar 1898, als wir in den Genuß der Autonomie gelangten, bis Mai 1900, als unter nordamerikanischer Herrschaft die erste zivile Regierung eingesetzt wurde — hätte für uns die Stunde der Wahrheit sein müssen, die Stunde des reinen und nüchternen Realismus, der klaren Zielsetzungen und energischen Entscheidungen. Außer einer sehr kleinen Gruppe, aus der Eugenio María de Hostos herausragt, begriff das niemand. Es triumphierten der leichtfertige Optimismus, die kindliche Naivität, das hohle Geschwätz, der gefügige Opportunismus, der jeder Grundlage entbehrende Hurrapatriotismus. [...] Zur allgemeinen Orientierungslosigkeit kam erschwerend hinzu, daß man in seinen Zielvorstellungen und Meinungen völlig uneins war. Die breite Bevölkerung - der Campesino, der Tagelöhner, der Handwerker - , die sich der Tragweite des Augenblicks nicht bewußt war, verriet — und zu etwas anderem war sie auch nicht in der Lage — dieselbe Verwirrung wie die oberen Schichten. Ihre Naivität, etwas gemäßigt durch den leisen Argwohn, den alles Fremde oder Fremdartige bei einfachen, aufrechten Menschen hervorruft, drückte sich aus in Unschlüssigkeit, in einer Mischung aus Neugier und Ängstlichkeit, Passivität und Faszination. Und weil sie es von der

77 herrschenden Autorität und ihren Vertretern sagen hörten, glaubten sich viele schließlich wahrhaftig erlöst [...] Für die Masse des Volkes der Vereinigten Staaten waren wir eine unmündige, exotische und zurückgebliebene Rasse, im Grunde aber gut und der Protektion würdig. Deshalb bedurften wir der väterlichen, aber energischen Vormundschaft durch ihre großartige Bundesregierung. Gab dies nicht fast die gesamte große Presse der Vereinigten Staaten zu verstehen, insbesondere die republikanischen Zeitungen? Allein schon die Besetzung des Territoriums durch die nationalen Streitkräfte war für uns eine Befreiung, ein bemerkenswerter Schritt nach vorn, ein großer Fortschritt gegenüber der despotischen, erniedrigenden und mißbräuchlichen Regierungsform, der wir ihrer Vorstellung nach ausgesetzt waren, als die militärischen Repräsentanten der nordamerikanischen Demokratie an unserer Küste landeten. Später konnte man uns allmählich auf eine mehr oder weniger weitreichende Autonomie vorbereiten. Solange man prüfte, ob unser Volk auch aus dem Holz war, aus dem man einen Politiker nach dem Ebenbild eines Farmers aus Iowa, eines strenggläubigen Protestanten aus Mississippi oder eines Börsenspekulanten aus New York schnitzen kann, würde man eine Kolonie schaffen, der man das unveräußerliche Privileg gewährte, der nationalen Industrie als Absatzmarkt zu dienen. [...] Der irrigen amtlichen Meinung, welche die treibenden politischen Kräfte hinsichtlich der Insel vertraten, und der wohlmeinenden, aber uninformierten Haltung des nordamerikanischen Volkes uns gegenüber entsprach auf unserer Seite interessanterweise die konfuse, wenn auch begeisterte Vorstellung, die wir uns vom „Volk der Vereinigten Staaten" als politischem Gebilde und von der „Großen Republik" als historischem Phänomen gemacht hatten. Unsere Liberalen verbreiteten ein idyllisches Bild von der Vergangenheit und Gegenwart der neuen Metropole. Einige von ihnen hatten Tocqueville (La Démocratie en Amérique) gelesen, aber die Mehrheit stützte ihre Vorstellung von den Vereinigten Staaten auf das hochtrabende romantische Geschwätz einiger spanischer Liberaler, die über Lincoln und Washington sprachen, als handelte es sich um ihre Vereins- und Logenbrüder, und die im Sitzungssaal des Kongresses in Madrid auf der Bahre ihrer flammenden Reden den Leichnam John Browns spazierentrugen, der offenbar nicht nutzlos in seinem Grab verfaulte. Diese Reden wurden in Puerto Rico auswendig gelernt und mit nahezu wollüstigem Ergötzen beständig wiederholt. Unsere Liberalen kannten aber auch recht genau den Wortlaut der Verfassung der

78 Vereinigten Staaten von Amerika. Was sie nicht kannten, war die wirtschaftliche Entwicklung der „Großen Republik", die diese direkt auf den expansiven Imperialismus hinführte. [...] Aus dem unglücklichen Zusammentreffen gegenseitigen Unverständnisses bei der herrschenden Macht und der Inselbevölkerung, verstärkt durch die Verschiedenheit der Sprachen, mußte sich zwangsläufig das ergeben, was sich dann auch ergab: auf Seiten der neuen Herren das Gefühl von Aufrichtigkeit und Redlichkeit, indem sie auf der Insel ihren Willen durchsetzten, und auf unserer Seite — auf Seiten der Mehrheit der Bevölkerung — vertrauensselige Zustimmung oder erwartungsvolle Verzückung. [...] Während die Orientierungslosigkeit in Puerto Rico ziemlich lange andauerte, war die gebannte und naive Verzückung nur von kurzer Dauer. [...] Die Haltung der Bevölkerung hatte sich geändert. Die irregeleiteten Zöglinge Uncle Sams, die einmal naiverweise danach gestrebt hatten, als legitime Neffen anerkannt zu werden, wurden bald enttäuscht. Aus dem Munde der Wirtschaftsbosse und der Regierungsvertreter der Großen Republik vernahmen sie die grausame Wahrheit, daß die Vereinigten Staaten nicht die geringste Absicht hegten, die gegenseitigen Beziehungen angemessener zu gestalten als durch eine ganz gewöhnliche koloniale Unterwerfung. In sämtlichen Tonlagen, von der grob vorgebrachten barschen, gänzlich undiplomatischen Wendung bis hin zur wohlüberlegten, höflichen Umschreibung, ließ man sie wissen, daß sie nicht davon zu träumen brauchten, Puerto Rico würde als ein weiterer Staat in den Schoß der Republik aufgenommen. [...] Der Staat, der international die Verpflichtung eingegangen war, unsere Vormundschaft und Protektion zu übernehmen, und der unserem Land Freiheit und Wohlergehen versprach, ließ sehr bald zu, daß die Beziehungen zwischen beiden Völkern — außer in formal amtlichen Bereichen - auf unverantwortliche Weise expansiven wirtschaftlichen Kräften ausgeliefert wurden, die von ihrer New Yorker Bastion aus eine größere und wirkungsvollere Macht über die Insel ausübten als die Regierung in Washington selbst. In diesem Zusammenhang bewies Washington eine Passivität, die diese Kräfte begünstigte, und gelegentlich schlug diese Passivität um in eine indirekte aktive Mithilfe, dies im Namen des Handels und der nationalen Industrie, jedoch ohne die vitalen Interessen der Kolonie zu berücksichtigen oder sie auch nur zu sehen. Es bedarf kaum eines Beweises dafür, daß jede Form des Kolonialismus die Unterwerfung der Interessen der Kolonie unter die der Nation beinhal-

79 tet. Wenn die Kolonie, rassisch gesehen, lediglich eine Ausdehnung des Mutterlandes ist, besteht die Möglichkeit, an die Solidarität der Rasse zu appellieren und auf Belange zu verweisen, die im Rahmen des nationalen Interesses höher gewertet werden. Man kann dann auf künftige Korrekturen hoffen, die das koloniale Territorium früher oder später als Provinz, als autonome Region oder als Bundesstaat in die Metropole integrieren. Den militärischen und bürokratischen Vertretern der Metropole wie auch bestimmten partikularen Interessen zum Trotz können die Brudervölker der Kolonie und des Mutterlandes erreichen - und häufig geschieht dies auch - , daß die gegenseitigen Beziehungen angemessen gestaltet werden. Dies ist der Fall bei Großbritannien im Verhältnis zu Kanada, bei den Vereinigten Staaten und ihren sogenannten kontinentalen, an die ursprüngliche Föderation angrenzenden Territorien, bei Spanien und den Kanarischen Inseln oder den afrikanischen Hoheitsgebieten wie Ceuta und Melilla. Genauso war es bei Puerto Rico im Verhältnis zu Spanien. Wenn aber die Kolonie aus Menschen besteht, die ihrer Art nach anders sind als die Nation, die eine andere Sprache sprechen, andere Traditionen und Sitten haben, und wenn dann noch das Volk der Kolonie als unterlegen, primitiv, rückständig, unreif oder unvorbereitet angesehen wird, dann ist jede Hoffnung auf eine angemessene Gestaltung der Beziehungen im Rahmen des Abhängigkeitsverhältnisses derart fern und unrealistisch, daß sie für die Kolonisierten weiter nichts sein kann als ein rein akademischer Trost. [...] Abschließende Überlegungen In Puerto Rico existiert ein Volk mit eigenen Problemen, mit klar umrissenen charakteristischen Merkmalen, mit bescheidenen, aber, sofern sie zum Wohl der Bevölkerung genutzt werden, ausreichenden Ressourcen, mit einer mehr als ausreichenden Vitalität, sofern diese in die richtigen Bahnen gelenkt wird, und vielleicht sogar mit einer historischen Mission. Aber aufgrund der dem Kolonialismus inhärenten ökonomischen und moralischen Fehlentwicklungen ist dieses Volk desorganisiert; beeinflußt durch fremde, der Realität der Insel häufig entgegenstehende Normen; desorientiert mangels konkreter, direkt umsetzbarer Perspektiven, auf die es vertrauen könnte; handlungsunfähig durch die Unterwerfung seines Willens unter eine fremde Interessengruppe, die nicht einmal die vornehmsten Interessen des Volkes repräsentiert, von dem die Insel beherrscht wird.

80 Wenn wir uns nicht wie unmündige Kinder damit abfinden wollen, passiv oder mit kindischen Zornesausbrüchen oder auch Jubelschreien hinzunehmen, was uns die Wechselfälle der amerikanischen Politik bescheren — heute Wohlwollen, morgen Almosen, mal diplomatische Zugeständnisse, dann wieder unbegreifliche Abfuhren, je nachdem welche Regierung in der Großen Republik gerade an der Macht ist - , dann werden wir selbst Abhilfe schaffen müssen, und die Gegenmaßnahmen müssen ebenso drastisch sein, wie der Mißstand bedrohlich ist. [...] Die entscheidende Gegenmaßnahme muß darin bestehen, mit einem konkreten, klar umrissene Zielvorgaben aufweisenden Programm den Teufelskreis zu durchbrechen, in dem wir gefangen sind. Um dies in die Tat umzusetzen, werden wir vorübergehend einige sekundäre Vorteile opfern und eine ebenso hartnäckige wie grenzenlose Beharrlichkeit unter Beweis stellen müssen. Glaube, Hoffnung und Willenskraft sind für dieses Unterfangen unentbehrliche Tugenden: der Glaube an uns selbst und an das Recht, das auf unserer Seite ist; die Hoffnung, die in der unmittelbaren Wirklichkeit gründet; die Willenskraft, die sich bewußt und entschlossen artikuliert. Durch seinen sicheren Instinkt hat das Volk rein gefühlsmäßig vage erfaßt, daß seine Erlösung im self-government, in der real existierenden und effektiven Selbstverwaltung, besteht, und es hat den einen Stern zu seinem Polarstern gemacht. Daher hat es keine der politischen Parteien gewagt, diesen offen zu verleugnen. Diese gefühlsmäßige, noch vage Vorstellung der Massen muß in ein bewußtes Vorhaben münden. Dann wird jenes Symbol als Leitstern mit dem Glanz von Bethlehem in jedem Quadranten des insularen Firmaments erstrahlen. Eher nicht. Übersetzt von Doris Beimler und Anne Sorg-Schumacher

Emilio S. Beiaval (1903-1972) Erzähler, Theaterautor und Essayist; Studium der Rechtswissenschaften; Tätigkeit als Anwalt und Richter sowie in hohen Regierungsämtem, insbesondere im Erziehungsbereich; vielfältige kulturelle Aktivitäten, vor allem im Theater als Schauspieler, Regisseur, Produzent und Mitbegründer der bedeutenden dramatischen Gesellschaft „Areyto" (1940). Ganz in der Tradition Antonio S. Pedreiras und der „Generación del 30" stehend, war Beiaval insbesondere in seinen Erzählungen bemüht, den Äußerungsformen der kollektiven puertoricanischen Identität Ausdruck zu vedeihen und angesichts der „Amerikanisierungs"-Bestrebungen das spanische Erbe — „unser vitales Spaniertum", wie er vielfach betonte — zu behaupten. Den authentischsten Ausdruck der puertorriqueüidad suchte auch er im jibaro, dem Campesino der montaña, den er unter Einbeziehung der oral vermittelten Volkskultur und in bisweilen humorvoll-ironischer, bisweilen aber auch beißend-sarkastischer Schreibweise in seiner von bitterer Armut und dem verzweifelten Ringen um das nackte Überleben geprägten Lebenswelt schildert, wobei Züge des traditionellen costumbrismo durch eine gelegentlich dem Naturalismus, gelegentlich auch dem magischen Realismus anverwandte Perspektive vertieft werden. Werke (Auswahl): Cuentos para colegiales (1922); Los cuentos de la Universidad (1935); Cuentos para fomentar el turismo (1946); Cuentos de la playa fuerte (1963); Areyto (Essays und Theater; 1948); La haáenda de los cuatro tientos (Theater; in: Teatro Puertorriqueño, 1959). Der abgedruckte Text, „Santiguá de Santigüero" in der Originalfassung, ist dem Band Cuentos para fomentar el turismo (Río Piedras: Editorial Cultural 41985, S. 59ff.) entnommen. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Vedags.

Das Gebet eines Gebetsheilers Für Rafael Montanez Der Gebetsheiler bettete den Körper des Kranken, der am Hang der Gemeinde von Juan Martin zusammengebrochen war, auf sein ärmliches Lager. Es war ein Häuflein Mensch mit dünnen Augenbrauen, dessen Hose vom Elend durchlöchert war. Seine Augen waren aus einer Erschöpfung

82 heraus geschlossen, die so tief war, daß es schien, als seien seine Lider zusammengenäht. Als der Kranke ausgestreckt dalag, bekreuzigte sich der Gebetsheiler und schlug das erste Kreuz über seinem Patienten: „Im Namen Gottes, der heilt die Gesunden wie die Kranken, der beisteht den Lebenden wie den Toten, bekreuze ich dich, mein Bruder, auf daß der Tod von dir fernbleiben möge." Der Kranke blieb reglos liegen, doch das beunruhigte den Gebetsheiler nicht. Die erste Beschwörung eines Gebetsheilers hält den Tod, der um die Hütte des jibaro streicht, zurück. Die Beschwörung wird dem Gebetsheiler vom Himmel herab gegeben, damit er die Seelen auf der Erde aus jeder Art tödlicher Bedrängnis befreit. Es ist ein bewährtes Ritual gegen die Prankenhiebe, die der Tod jedem versetzt, der einen Weg entlanggeht, ohne daran zu denken, daß die Leiden den Menschen durch die Fußsohlen ereilen. Die alte Königspalme erblüht wieder, die karge Erde kann Triebe hervorbringen, wenn der jibaro Geduld mit ihr hat, aber es gibt keinen jibaro, der nicht stirbt, wenn das Gebet des Gebetsheilers an ihm mißlingt. Der Gebetsheiler der Gemeinde von Juan Martin hatte vom Beten aufgesprungene Lippen und die Transparenz eines Blütenblattes der Totenblume. Er hatte seine Beschwörungskunst bis an die Grenze des Wunders vervollkommnet. Er hieß Gume Pacheco. Er war ein schmächtiger, vom Fasten ausgezehrter alter Mann, mit Augen von der Farbe des Papayakerns. Der Tod respektierte diesen Mann, der nie bei einer Frau gelegen hatte, weder der eigenen, noch einer fremden, und der die Quelle um Erlaubnis bat, wenn er einen Schluck Wasser trinken wollte. Eine gesegnete Gemeinde, die Gemeinde von Juan Martin! Sie lag an einem Hang, der sich in einer Steigung vom Fluß bis zur Anhöhe einer von Tarantalabäumen umgrenzenten Lichtung hinaufwand, und ihr war der begnadetste Gebetsheiler Puerto Ricos beschert. Gume Pacheco musterte prüfend das Häuflein Mensch, das man ihm vom Hang gebracht hatte. Der Gebetsheiler hatte fast alle Leiden dieser Welt die Hänge zu seiner abgelegenen Hütte hinaufsteigen sehen. Er kannte die Anämien, die den Tagelöhner ausmergeln, bis er mit verdrehten Augen zusammenbricht; er kannte die Formen des Fiebers, die den Menschen von der Küste verzehren, bis er halb gelähmt zusammenbricht; er kannte die Formen des Hustens, der dem Bewohner des Elendsviertels die Lunge auspreßt, bis er über einer Blutlache zusammenbricht. Die gesegneten Finger eines Gebetsheilers sind imstande zu ergründen, wo die Krankheit sitzt, die

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er aus dem Körper herausholen soll. Aber dieses Mal gelang es den Fingern des Gebetsheilers nicht, das Leiden zu ertasten, das den Körper seines Patienten verzehrte. Die Brust atmete mit dem Getöse eines Kriegers, der Magen hatte selbst die Würmer, die ihn würgten, ausgestoßen, und die Lenden waren stark, ohne auch nur einen Todesring, doch der jibaro lag im Sterben. Wo konnte das Übel stecken, das dieses armselige, auf dem Lager des Heilers hingestreckte Leben aushöhlte? Ein Übel, das nicht von der Brust, nicht vom Magen oder von den Lenden kam, mußte zwangsläufig ein Übel des Willens sein. Die Beschwörung mußte tiefer dringen als bis unter die äußere menschliche Haut, um die innerste Hülle abzutasten, in der ein jibaro seinen Willen verwahrt. Was jenem Kranken fehlte, war, daß er seinen Lebenswillen verloren hatte. Die erste Beschwörung hatte den Tod zurückgehalten, aber nun mußte man in einer zusammengekauerten Seele den Lebenswillen neu entfachen. Gume Pacheco wußte um den erbitterten Kampf, den ein Gebetsheiler bestehen muß, um eine Seele aus ihrer Starre herauszureißen. Er bekreuzigte sich erneut und schlug sein zweites Kreuz über dem wehrlos Daliegenden: „Im Namen Gottes, der heilt die Gesunden wie die Kranken, der beisteht den Lebenden wie den Toten, bekreuze ich dich, mein Bruder, auf daß der Lebenswille zu dir zurückkommen möge, denn er bringt die Gesundheit" Unter der zweiten Beschwörung verzerrten sich die Züge des jibaro zu einer schrecklichen Grimasse, doch er mußte ein röchelndes Lebenszeichen von sich geben. In einem verwegenen Anlauf durchstöberte Gume Pacheco jene Seele, wobei er mit erbarmungslosem Blick den Kampf des armen Mannes, der sich seiner Beschwörung zu entziehen suchte, belauerte. Der Gebetsheiler wußte, daß bei der geringsten Unachtsamkeit seines Arms dieses ihm anvertraute Leben erlöschen würde. In solchen Momenten muß der Arm des Gebetsheilers mit unerbittlicher Grausamkeit kämpfen, wenn er nicht will, daß auf den Schultern der Freunde ein Sarg den festgetretenen Pfad entlang zu unseren Grabhügeln getragen wird. Warum wollte dieses Häuflein Mensch nicht leben? Das Leben ist eine Zuckerstange, an der der jibaro genießerisch lutscht, auch wenn das Dach alt, die Hose zerrissen und die Frau schwanger ist. Der Kranke war jung genug, daß es für den Wunderheiler keines Kampfes bedurft hätte, um ihn zu retten. Er näherte sich dem Ohr des Kranken und ließ seine Stimme bis zu

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jenem geheimnisvollen Kästchen vordringen, das jeder jibaro in der Brust trägt, um die Stimme der Freundschaft einzufangen: „Hör zu, Kranker! Du mußt leben, für deine Frau, für deine Kinder und für deine Hütte, die dich brauchen, und du hast Freunde, die jetzt draußen um dich trauern. Man stirbt nicht einfach so, ohne darüber nachzudenken, was man zurückläßt." Die Brauen des Kranken knarrten vor Zorn, um die Zurechtweisung abzuwehren. Weder Hütte noch Frau noch Kinder entrangen jenem Gesicht, in dem das Verlangen zu sterben geschrieben stand, einen Hauch von Bedauern. Mit dem Strecken der Brauen fielen die magischen Kreuze der Beschwörung zu Boden. Angesichts einer solchen gotteslästerlichen Verweigerungshaltung seitens seines Patienten verfinsterte sich das Gesicht des Gebetsheilers: „Im Namen Gottes, der heilt die Gesunden wie die Kranken, der beisteht den Lebenden wie den Toten, bekreuze ich dich, mein Bruder, und befehle dir, das Übel des Willens auszuspucken, damit du weiterlebst bei den Deinen bis ins hohe Alter." Derjibaro wand sich wie an einem Widerhaken unter der gleißenden Segnung der Hand. Beißender Schweiß perlte ihm von der Stirn. In den verkniffenen Mundwinkeln hing ein Wort des Zorns, in dem ausgestreckten Körper steckte Todeswut. Es war seltsam, jenes Übel, das einen Menschen stückweise verschlang, ohne irgendeine Schwellung, ohne Schaum vor dem Mund. Der Gebetsheiler beobachtete seinen Kranken mit einem 'derart finsteren Blick, daß der Sterbende nicht wagte, seine Seele durch den Mund hinauszustoßen. War dieses Häuflein Mensch gefangen in einem dieser Trugbilder vom Frieden, die einen jibaro von Zeit zu Zeit blenden, um ihm den Lebensmut einzufrieren? Gume Pacheco bekreuzigte sich hastig und schlug ein letztes Kreuz über dem Kopf des Kranken: „Im Namen Gottes, der heilt die Gesunden wie die Kranken, der beisteht den Lebenden wie den Toten, bekreuze ich dich, mein Bruder, auf daß das Trugbild des Todes dich nicht blenden möge." Diese Wohltat entriß dem Kranken das erste Lächeln. Der arme jibaro wäre nicht fähig gewesen, dem Ruf eines Gebetsheilers, der der Anhöhe von Juan Martin so viel Gutes erwiesen hatte, zu schaden. Gume Pacheco stieß einen verzweifelten Seufzer aus. Er fühlte, wie sich seine Finger verkrampften, fühlte, daß er nicht mehr lange mit dieser störrischen Seele würde ringen können, die nur noch durch die drei Haken seiner Beschwörung

85 an die Erde gekettet war. Der Kranke schien die schmerzhafte Verwirrung in Gume Pachecos verbrauchten Fingern zu erahnen. Ein peinigendes Schuldgefühl durchtrennte ein Stück die Naht an den Augenlidern des Sterbenden. Er sah den Gebetsheiler mit flehentlichem Blick an, als ob er ihn um Verzeihung bitten wollte für sein störrisches Verlangen, sich schnellstmöglich dem Tod in die Arme zu werfen. Die unergründbare Halsstarrigkeit des Kranken siegte über das weiche Herz Gume Pachecos. Vielleicht hatte der Heiler ja gar nicht die mystische Pflicht, einen Körper zu retten, dessen Seele beschlossen hatte, sich zu einem Frieden abzusetzen, der vollkommener war als der Friede einer Anhöhe mit Tarlantalabäumen. Er goß ihm einen Tropfen heißen Spermöls auf jedes Auge und brach ein Aloeblatt, um ihm ein Kreuz auf die Stirn zu zeichnen. Mit dieser schlichten Ölung geht ein jibaro in den Himmel ein, ohne daß er im Warteraum der Sünder mit Fragen belästigt wird. Nun, da er die Erlaubnis zum Sterben hatte, beruhigten sich die dünnen Augenbrauen des Sterbenden ein wenig. Eine vollkommene, unbeschreibliche Ruhe legte sich über die Seele des Sterbenden, der auf den Ruf der Eule aus einem Maulbeerbaum oder die Schritte in der Hütte eines Freundes wartete: Zeichen dafür, daß ein Freund des Hauses gestorben war. Gume Pacheco wußte, daß dieses Sterben ein friedliches Sterben sein würde, ohne Schreie und ohne Zuckungen, ein Sterben in den Armen eines Gebetsheilers, mit freier Brust, ruhigem Magen und entspannten Lenden. Es gibt keinen jibaro, der nicht stirbt, wenn die Beschwörung des Gebetsheilers an ihm mißlingt. Gume Pacheco begriff, daß der Augenblick näherrückte, da der halsstarrige Kranke den Lohn für seine Halsstarrigkeit erhalten würde, daß jene Seele bald über all die bescheidenen Palmblätter, die ihr als Dach gedient hatten, hinwegfliegen würde. Jetzt war die Aufgabe des Gebetsheilers so einfach, daß ein Gebet von seinen Lippen genügte, um die ihm anvertraute Seele in den Himmel emporzuheben. Doch dieser Tod barg ein Geheimnis, welches verhinderte, daß sich dem Gebetsheiler das Gebet von den Lippen löste. Warum starb dieser Mann, ohne daß ihn seine Hütte, seine Frau oder seine Kinder kümmerten? Gume Pacheco wartete bis zu dem Moment, da die Seele des Sterbenden begann, die Nähte, mit denen sie am Körper befestigt ist, aufzutrennen. Er näherte sich dem Ohr des Sterbenden und ließ seine Stimme bis zu jenem geheimnisvollen Kästchen vordringen, das jeder jibaro in der Brust trägt, um die Stimme der Freundschaft einzufangen:

86 „Hör zu, Sterbender! Du darfst nicht sterben, ohne mir zu sagen, was für eine Krankheit du hast, die dazu fuhrt, daß ein Mann sterben und sich nicht ins Leben zurückholen lassen will, weder durch den Gram derer, die ihm nahe sind, noch durch die Beschwörung, welche die Gesundheit zurückgibt." Die Spermöltropfen, die jene Augen versiegelt hatten, damit sie den Tod erreichen konnten, zitterten. Die Seele war nur noch durch die allerletzte Naht gehalten, und allein durch die flehentliche Bitte des Alten wurde der endgültige Riß aufgehalten. Der Sterbende stieß einen Klagelaut aus, der den Gebetsheiler erschreckt zurückweichen ließ. Hatte er überhaupt das Recht, jenes Geheimnis einem Mann abzunehmen, der schon den vollkommenen Frieden, welcher den Sterbenden vorbehalten ist, erlangt hatte? Erstreckte sich seine Pflicht bis zu jener schaurigen Grenze, einem fast toten Menschen das Geheimnis zu entreißen, das ihn bewog, ohne das geringste Bedauern zu sterben? Hatte Gott etwa beschlossen, daß es auf der Anhöhe von Juan Martin einen Tod geben sollte, gegen den das Gebet eines Gebetsheilers nichts auszurichten vermochte? Die Furcht, es könnten noch andere sterben, ohne daß Gume Pachecos Finger ihnen drei gelbe Schlingen auf die Brust heften könnten, siegte über die Skrupel des Gebetsheilers. „Hör zu, Sterbender! Es gibt noch andere in der Gemeinde, die sterben können, ohne daß ich weiß, wie ich sie wieder gesund machen kann. Ich bin alt, und meine Finger sind schon verbraucht. Willst du dem alten Gebetsheiler nicht helfen, die Freunde zu heilen, die jetzt um dich trauern?" Ein großherziges Bedauern bewegte die Lippen des Sterbenden, als er in seinem vom Tod versiegelten Mund nach einem flüchtigen Wortfetzen suchte. Gume Pacheco näherte sein unerbittliches Ohr dem Hauch des Sterbenden, die Finger gekrümmt, um den Tod zurückzuhalten, der mit aller Kraft darum rang, ihm das Geheimnis des Sterbenskranken vorzuenthalten. Der jíbaro konnte nur ein Wort flüstern, bevor die Eule den schwächsten Zweig des Maulbeerbaums erreichte. Der Gebetsheiler fiel besinnungslos über den Körper des jíbaro, ohne die zaghaften, knarrenden Schritte auf dem Boden seiner Hütte zu hören. Aber die Freunde dessen, der gerade gestorben war, hörten sie. Sie kamen und redeten ohne Unterlaß, um Gume Pacheco in seinem Entsetzen die Sinne zu rauben: „Señor, gerade ist in dieser Gemeinde ein Freund gestorben!" „Ich habe ihn gespürt, wie er an mir vorüberging."

87 „Ich habe den Ruf einer Eule in dem Maulbeerbaum hier auf dem Hof gehört." Der Gebetsheiler zeigte ihnen den sich gelb färbenden Leichnam, ohne ein einziges Wort zu sagen. Der Aloesaft schimmerte auf seiner Stirn wie eine große Träne der Anhöhe, wie eine violette Träne, die vielleicht der Trauer all der Freunde zuvorgekommen war. Die Menschen von der Anhöhe nahmen schweigend ihre Strohhüte ab, benommen von dieser Kälte, die von einem noch mächtigeren Maulbeerbaum ausging. „Es sah nicht so aus, als würde er sterben, Señor. Hatte er irgendeine Krankheit?", fragte ein Freund mit verschreckter Stimme. „Das einzige, was er hatte, als ich ihn sah, waren ein paar Würmer im Mund. Er ist an einer Krankheit gestorben, die neu ist in der Gemeinde und gegen die auch das Gebet eines Gebetsheilers nichts ausrichten kann." „Woran ist er gestorben, Señor?" „An Hunger", antwortete der Gebetsheiler und legte ein Tuch über das gelbliche Gesicht des Toten. Übersetzt von Bettina Böhler und Verónica Herrero Herrera

Abelardo Díaz Alfaro (1919) Journalist und Erzähler; Studium an der Hochschule für Sozialarbeit; wirkte zunächst als Sozialarbeiter vorwiegend in ländlichen Gemeinden, wo er in engem Kontakt mit den Campesinos lebte, die ihm nach eigener Aussage den Stoff für seine Erzählungen lieferten; seine außergewöhnliche Popularität verdankt er insbesondere seiner langjährigen Tätigkeit am Rundfunksender des Erziehungsministeriums, wo er in unterhaltsamer Form die Themen und Figuren seiner Kurzprosa in kurzen Szenen lebendig werden ließ. Das in Buchform publizierte Werk Díaz Aliaros umfaßt nur zwei schmale Bände. Von der Kritik hochgelobt (und als Pflichtlektüre in den Schulen verbreitet) wurde der 1947 erschienene Band Terrado, eine Sammlung von Kurzgeschichten und dem costumbrismo verpflichteten Genrebildern, in denen der Autor die Lebenssituation ebenso wie die Psychologie des Campesino zu erfassen sucht, gelegentlich aber auch der Handlung durch eine symbolische Überhöhung über den regionalen Bezug hinaus eine universale Dimension vedeiht. Die bisweilen pittoresk anmutenden Situationen und Typen ebenso wie die humorvolle, liebevoll-ironische Diktion vermögen nicht darüber hinwegzutäuschen, daß Díaz Alfaro mit seinen kurzweiligen Erzählungen durchaus ein sozialkritisches Engagement verknüpft: Kritik an der Lebenssituation des jíbaro, der durch das Vordringen der US-amerikanischen Kapitalgesellschaften seines Stücks Landes beraubt wird und als schlechtbezahlter Landarbeiter ein von Armut und existentieller Unsicherheit geprägtes Dasein fristet; und Kritik an der verordneten Politik einer aggressiv betriebenen „Amerikanisierung", wie in der abgedruckten Erzählung, durch den englischsprachigen Unterricht oder, wie in der vorhergehenden Erzählung des Bandes, an Hand der Verdrängung einheimischer durch US-amerikanische Traditionen — beispielsweise die bereits 1899 offiziell verordnete Ablösung der Heiligen drei Könige durch Santa Claus. Die in diesem Zusammenhang geschilderten Episoden mögen, oberflächlich betrachtet, den Charakter wenig signifikanter, bisweilen rein pittoresker Anekdoten aufweisen; doch beinhalten sie eine klare Absage an den Versuch der Umerziehung im Sinne der verordneten „Amerikanisierung" und eine eindeutige Bejahung der puertoricanischen Wertvorstellungen und identitätsstiftenden Traditionen. Werke: Terrado (1947); Mi isla soñada (1967). Der abgedruckte Text, „Peyo Mercé enseña inglés" in der Originalfassung, der puertoricanischen Literaturwissenschaftlerin Margot Arce de Vázquez gewidmet, ist dem Band Terrado (Río Piedras: Librería la Biblioteca 191986, S. 99 ff.) entnommen. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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Peyo Mercé unterrichtet Englisch (Für die comaji Margó Arce, von Peyo Mercé) Nach der bereits kommentierten Episode der Einfuhrung von Santa Claus in Cuchilla verschärfte sich die Feindseligkeit zwischen Peyo Mercé und dem Beauftragten der Schulbehörde, Rogelio Escalera. In einem bösen Brief wies dieser den alten Lehrer mit drastischen Worten an, seine Anstrengungen zu verdoppeln und unter allen Umständen Englisch zu unterrichten: „sonst müßten Maßnahmen ergriffen werden, die für ihn keinesfalls angenehm, dem reibungslosen Ablauf einer fortschrittlichen Erziehung hingegen zuträglich sein würden." Diesen obligatorischen Schluß der Briefe des Beauftragten der Schulbehörde kannte er nur zu gut, und mit einer verächtlichen Grimasse warf er das unheilvolle Schreiben beiseite. Ungewöhnlich war, daß diesmal mit dem Brief auch ein paar merkwürdige Bücher ankamen: Bücher mit glänzendem Einband und grellbunten Landschaften, in denen gut genährte und noch besser gekleidete Kinder zu sehen waren. Peyo nahm eines der Bücher in die Hand. In schwarzen Buchstaben war zu lesen: „Primer". E r dachte einen Augenblick nach, dann kratzte er sich am O h r und murmelte: ,,'Primer', das muß von 'primero' kommen, und deshalb muß ich wohl meinen neuerlichen Leidensweg mit diesem Buch beginnen. Wieder so ein lästiges Ärgernis! Peyo Mercé, der doch tatsächlich Englisch auf englisch unterrichten soll! Auch wenn ich nicht will, so werde ich mich dem fugen müssen, denn schließlich muß ich ja von etwas leben. Das wird sowas wie Cuchilla-Englisch werden. Wenn ich schon drauf herumkaue, wie bringe ich dann meine Schüler dazu, es zu verdauen? Mister Escalera will Englisch, dann soll er es auch haben!" Und er blätterte schnell die wohlriechenden Seiten des noch druckfrischen Buches durch. D e r Tumult der Dorfkinder, die in das altgediente Klassenzimmer stürmten, riß ihn aus seinen Gedanken. Die derben ländlichen Kittel, die strähnigen dunklen Haarschöpfe, die kleinen Füße voller Klumpen vom roten Lehm der Wege und in den welken Gesichtern der schwache Glanz hungriger Augen. Die Empörung, die der Brief des Beauftragten der Schulbehörde bei ihm ausgelöst hatte, verflog in dem Maße, wie sich das Klassenzimmer mit diesen seinen Kindern füllte. E r liebte sie, weil sie vom selben Schlag waren wie er und weil er für sie eine Zukunft vorausahnte, die so düster sein wür-

91 de wie eine wolkenverhangene Nacht. „Guten Morgen, D o n Peyo", riefen sie, und mit einer leichten Verbeugung gingen sie zu ihren Schulbänken. Peyo mochte nicht, daß sie ihn „Mister" nannten: „Ich war Verkäufer von Süßkartoffeln in Cuchilla, und ich bin stolz darauf. Das mit dem 'Mister' klingt mir zu sehr nach 'kresto' 1 , nach 'chuingo' 2 und anderem Schnicknack, den sie uns jetzt verkaufen. Ich bin vom Land, und hier gehöre ich auch hin!" Er lehnte sich aus dem schiefen kleinen Fenster in der schmucklosen Lehmwand, wie um Mut zu schöpfen. Uber dem fahlen Grün der Hügel, gemasert von sich wiegenden Tabakfeldern, blähten weiße Wolken ihre von der Sonne leuchtenden Segel. In der roten Feuergarbe einiger Bucayobäume verbrannten sich die Mozambiquevögel ihre schwarzen Flügel. Und er spürte, daß ihn eine Unlust überkam, eine Mutlosigkeit, die ihn drängte, seine Klasse eher zum Studium der Erde anzuhalten, der fruchtbaren Erde, die in einem Rieseln von Lichtstrahlen, in geronnenen Rubinen, Früchte hervorbringt. E s fiel ihm schwer, mitten an einem sonnigen T a g zu seiner alltäglichen Arbeit zurückzukehren. Und es schmerzte ihn, etwas so Trockenes wie dieses „Primer"-Englisch unterrichten zu müssen. Mit langsamen Schritten trat er vor die Klasse. Sein leicht geöffneter Mund deutete bereits das Lachen an, das stets einer hämischen Bemerkung vorausging. Ein bitterer Gedanke verdrängte das Lachen und grub tiefe Falten in seine Stirn. Er blätterte erneut in dem unerwünschten Buch. Er fand darin nichts, was das Interesse seiner Schüler hätte wecken können, nichts, was sich auf ihre Umwelt übertragen ließ. Voller Freude entdeckte er eine Abbildung, auf der ein mit einem mächtigen K a m m ausstaffierter Hahn seinen dichten Federschwanz zur Schau trug. Der stolze Hahn zeigte seine langen und gekrümmten Sporen, in denen es sich eine Münze aus der Zeit der spanischen Königin Isabella II. hätte bequem machen können. ,Jetzt weiß ich's! Meine Kinder lernen heute den Hahn auf englisch." Und ein wenig zuversichtlicher beschloß er, der Klasse gefaßt gegenüberzutreten. „Well, children, wi are goin to talk in inglis tuday." Und während diese Worte, mit unterdrücktem Schluckauf versetzt, aus seinem Munde kamen, ließ er einen barschen Blick über die verdutzten Gesichter der Kinder wandern. Und um nicht aus dem geglückten Schwung zu kommen, fragte er in gehobener Stimmlage nach: „Understan?"

1 Marke eines aus den USA importierten Schokoladenpulvers. (Anm. d. Übers.) 2 Für: „chewing-gum". (Anm. d. Übers.)

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Absolute Stille war die Antwort auf seine Frage. Und Peyo hatte Lust, die Klasse zu tadeln, doch wie sollte er es anstellen, dies auf englisch zu tun? Erneut lehnte er sich zum Fenster hinaus, um Mut zu schöpfen. Eine Lerche durchzog die bläuliche Weite — ein schwarzes Blütenblatt im Wind. Und stärker denn je empfand er seine mißliche Lage. Den Drang, sich zu befreien. E r nutzte den Moment, um die Aussprache des Wortes zu üben, das er den Kindern gleich beibringen würde. Und mit einer grotesken Grimasse, der ein Laut folgte, welcher einem Niesen glich, murmelte er „cock, cock, cock". Und voller Widerwillen schimpfte er: „Was für eine verteufelte Sprache!" Und er beschloß, eine Methode auszuprobieren, die ein wenig von dem abwich, was in den langweiligen pädagogischen Vorträgen der Fachleute auf diesem Gebiet geraten wurde. Im Klassenzimmer herrschte Stille. Peyo wurde von seinen Schülern geliebt und respektiert. Für Rogelio Escalera völlig unerklärlich! Peyo kannte keine der neuesten Studien über die Lehrerpersönlichkeit und die über die Psychologie des Kindes schon gar nicht. E r nahm nicht gern an diesem „inszenierten Modellunterricht" teil, was der Beauftragte der Schulbehörde sehr genau registrierte. Ein heller Lichtstrahl drang durch das kleine Fenster, warf rote Muster auf die bleichen Gesichter und schimmerte unruhig auf den ungebändigten Haarschöpfen. „Also, Kinder, heute werden wir uns ein wenig auf englisch unterhalten, und zwar nur auf englisch." Und während er diese Worte mühsam hervorbrachte, erwog er, seine kleine Rede zum Besten zu geben, in der er sich immer über den Nutzen dessen ausließ, was er in der Praxis zu tun gedachte. Doch Ehrlichkeit war sein größter Fehler als Lehrer. E r fühlte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete, und mit zitternden Fingern lockerte er den Knoten seiner verblichenen Krawatte, um sich von dem Druck zu befreien. Im entlegensten Winkel seines Unterbewußtseins verfluchte er so allerlei, unter anderem den Beauftragten der Schulbehörde, der ihn in Gewässern schwimmen lassen wollte, in denen untergeht, was kein echter Fisch ist. Und resigniert murmelte er: „Mit Peitsche und Stecken bringt man noch jede alte Stute zum Laufen." Und diese Redensart des jt'baro machte ihm seine ganze schmerzhafte Realität bewußt. Und Peyo kramte in seiner Erinnerung nach all jenen „devices", die in den Büchern für einen erfolgreichen Englischunterricht empfohlen wurden.

93 Peyos Geist war so verfinstert wie eine Nacht der unheilvollen Ahnungen. „Einen Seiteneinstieg, einen Pfad, einen Kunstgriff, der mir den Anfang erleichtert", flehte er. Und während er den sorgenvollen Kopf zwischen seinen groben Händen schüttelte, ließ er zum Erstaunen der verblüfften Schüler diese Worte fallen: „Was wäre das hier doch für ein Paradies, wenn nur der Beauftragte der Schulbehörde und sein ewiges Theater nicht wären!" Und überzeugt davon, daß seine Bemühungen, seinen Unterricht auf englisch abzuhalten, zwecklos sein würden, bastelte er sich wie schon manches andere Mal seine eigene Methode zurecht, einen „Verschnitt", wie er das nannte. Und er entschied sich für eine Mixtur, ein Gebräu, eine Pfropfung „Egal, ob dabei eine Ente oder ein Huhn herauskommt!" Er hob das Buch über die Köpfe seiner Schüler. Und mit seinem von Tabak verfärbten Zeigefinger wies er auf die Abbildung, auf welcher der stolze Hahn verzückt posierte. „Seht her, this is a cock. Und jetzt wiederholt!" Und die Kinder begannen, das Wort im Chor nachzuplappern: „cock, cock, cock". Und Peyo, entnervt und mit hochrotem Kopf, schrie aufgebracht: „Halt! Langsamer! Jetzt habe ich hier durch diese verflixten Kinder gleich einen ganzen Hühnerstall!" Die mißtönenden Stimmen verstummten. Peyo erstickte fast vor Hitze. E r ging wieder zu dem kleinen Fenster hinüber. Sein buntes Hemd war von Schweiß getränkt. Er brauchte frische Luft, viel frische Luft. Und er blieb einen Moment dort stehen, die Hände wie Haken an den schiefen Fensterrahmen geklammert. Unbewußt starrte er auf den Wasserfall der nahen Schlucht - eine kühle Träne auf dem rohen Fels. Und er beneidete den Sohn der Petra, der sein schmutziges Gesicht in das Wasser tauchte, das wie Perlen in der Sonne funkelte. Des Anblicks überdrüssig, beschloß er, sich so schnell wie möglich aus der mißlichen Lage, in die er sich gebracht hatte, zu befreien. Und mit nervösen Schritten trat er vor die Klasse: „Jetzt wißt ihr schon, 'cock' heißt auf englisch, auf amerikanisch, 'Hahn'." Und mit seinem von Tabak verfärbten Zeigefinger wies er erneut auf den prächtigen Hahn. „Das heißt auf englisch 'cock', 'cock' heißt 'Hahn'. Wir gehen ganz langsam vor, denn nur so zähmt man ein Fohlen, sonst scheut es. Wie heißt das auf englisch, Teclo?" Und der, starr vor Staunen beim Anblick dieses seltsamen Hahns, antwortete schüchtern: „Das ist ein Truthahn." Und das altgediente Klassenzimmer erbebte unter dem fröhlichen Gelächter der Kinderstimmen. Peyo ließ sich nicht anmerken, wie ihn diese Worte belustigten, und runzelte die Stirn,

94 denn schließlich mußte er seine innere Standhaftigkeit bewahren, und spöttisch entgegnete er: „Hab ich's mir doch gedacht, daß der sich heimlich in die Hahnenkampfarena von Don Cipria schleicht. Was heißt hier Truthahn! Das ist ein Haushahn, ein achtbarer Hahn, kein 'präparierter' wie diese Kampfhähne." Und er fragte noch einmal: „Wie heißt das auf englisch?" Und die Kinder stimmten dieselbe monotone Leier an: „Cock, cock, cock." Und Peyo fühlte eine große Befriedigung. Er hatte diese Schlacht unversehrt überstanden. Er teilte einige Bücher aus und ließ die Seite aufschlagen, auf der über den protzigen Hahn „referiert" wurde. „Wir lesen jetzt ein bißchen auf englisch." Die Kinder betrachteten verwundert die Seite und konnten sich nur mit Mühe zurückhalten, um nicht loszuprusten. Sein Gesicht verfärbte sich. Ein Schaudern überkam ihn. Er dachte sogar daran, dem Beauftragten der Schulbehörde seine unwiderrufliche Kündigung zu präsentieren., Jetzt hat sich die Sau aber wirklich den Schwanz verrenkt!" Stockend und stotternd, mit schwerer Zunge und einem faden Geschmack im Mund las er: „This is the cock, the cock says coocadoodledoo." Und Peyo dachte bei sich: „Entweder hat dieser Hahn Pips, oder die Amerikaner hören schlecht." Das war doch wohl der Gipfel! Aber er dachte an unser täglich Brot. „Lest zusammen mit mir: 'The cock says coocadoodledoo'." Und die Stimmen ertönten im morgendlichen Wind. „Gut so! Tellito, wie kräht der Hahn auf englisch?" „Das weiß ich nicht, Don Peyo." „Aber Junge, das hast du doch gerade gelesen." „Nein", jammerte Tellito und blickte auf die Abbildung. „Sieh mal, Kleiner, der Hahn macht 'coocadoodledoo'." Und wie um sich zu entschuldigen, sagte Tellito: „Don Peyo, so mag ja der fette amerikanische Hahn krähen, aber unser Schwarzweißer zu Hause macht ganz eindeutig 'cocorocö'." Peyo vergaß all seinen Kummer und brach in ein schallendes Gelächter aus, das von dem frischen Lachen der Kinder begleitet wurde. Von dem Lärm erschreckt, schlug der Hahn von Don Cipria mit seinen schillernden Rügein und flocht in die blaue Seide des Himmels sein reines und metallisches Cocoroco. Übersetzt von Isolde Opielka und Susanne Wagner

Evaristo Ribera Chevremont (1896-1976) Lyriker, Romancier, Literaturkritiker und Journalist; als Autodidakt bereits in jungen Jahren Mitarbeit bei verschiedenen literarischen Zeitschriften und Anerkennung durch die Publikation erster Gedichte seit 1913 sowie einer Artikelserie zum überaus positiv gewerteten Einfluß Spaniens auf die kulturellen Leistungen Lateinamerikas; als Stipendiat der von der spanischen Kolonie in San Juan finanzierten Casa de España von 1919 bis 1924 Aufenthalt in Spanien, wo er mit der dortigen literarischen Avantgarde intensive Kontakte pflegte; nach seiner Rückkehr nach Puerto Rico vorwiegend als Journalist und Kritiker tätig. Ribera Chevremont gilt mit seinen über 20 publizierten und weiteren unveröffentlichten Gedichtbänden als der puertoricanische Autor, der das umfangreichste und formal wie thematisch vielschichtigste lyrische Oeuvre vorgelegt hat. Nach seinen noch im Zeichen einer späten Romantik und des Modemismus stehenden Anfängen war er bemüht, in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen in Spanien und Lateinamerika entwickelten Konzepten einer neuen Avantgarde eine eigene Ästhetik herauszubilden, die sich besonders in formaler Strenge — mit einer Vorliebe für traditionelle Versmaße wie den Alexandriner und traditionelle Gedichtformen wie das Sonett - und einer originellen, bisweilen allerdings hermetischen Metaphorik manifestiert. Seine thematischen Schwerpunkte sind die in ihrer konkret faßbaren wie kosmisch überhöhten Dimension verherrlichte Natur ebenso wie metaphysische und religiöse Fragen, aber auch die Liebe zum mystisch verklärten Vaterland, das er aus einer engagiert politischen Perspektive und in Opposition zu den Befürwortern einer Assimilation an die Vereinigten Staaten als eigenständige hispanoamerikanische Nation definiert. Seine gleichermaßen dezidierte sozialkritische Haltung manifestiert sich am eindrucksvollsten in dem hier in Auszügen abgedruckten, 1945 erschienenen und Luis Muñoz Marin gewidmeten Poem Barro (Lehm), das die montaña, den Lebensraum des jíbaro, und dessen verzweifelten Kampf ums Überleben in einer suggestiven, jedoch bisweilen hermetischen Bildersprache und Symbolik besingt. Werke (Auswahl): Desfile romántico (1914); El templo de los alabastros (1919); Color (1938); Tú, mar y yo y ella (1946); El niño de artilla (Roman; 1950); Río volcado (1968); Canto de mi tierra (1971); Antologíapoética (1929-1965) (1967); Obra poética (San Juan: Editorial Universitaria/Universidad de Puerto Rico 1980. 2 Bände). Die abgedruckten Auszüge sind der oben genannten Ausgabe der Obra poética (Bd. II, S. 619 ff.) entnommen. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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Lehm I Die montaña ist ein Mensch. Die montaña ist der Mensch, den aus Lehm formte der Gott der Demütigen und Bedürftigen in der Stunde des mit seinen prophetischen und ewig währenden Erleuchtungen geharnischten Zorns. Die montaña ist ein Mensch, den Gott berührte mit seinen Händen, die gesalbt sind mit dem Honig der Träume und dem Duft der Verse, die Er eingab im Morgengrauen seiner Rebellion. Oh, montaña, wundersame montaña, du stehst aufrecht in deinem Schmerz von vier Jahrhunderten Zivilisation, aber du schüttelst deinen Schweif aus schwarzen Ausubobäumen und duckst dich vor dem Geheul deines Menschengeschlechts aus Farbe und Feder, als die Götter des Mondes und der Sonne sich beugten über deine Stirn, die zerfurcht ist von Wolken und stolzem Zorn! Ich singe dein Lied, du vor Leid erstarrte montaña, montaña jäher Abgründe. Ich singe dein Lied in meinem Gefühl qualvoller Angst. Ich singe dein Lied in deinem Lehm aus Hunger, Schmerz, Nacktheit und Tod. Dein Lehm ist das Zeichen deiner Jahrhunderte währenden Tragödie. Ich singe dein Lied. II Dort liegt die montaña. Sie verharrt in ihrem Lehm von Jahrhunderten und Jahrtausenden. Sie verharrt in ihrem Lehm von Höhe und Einsamkeit, mit ihren Zähnen aus Fels reißt sie sich selbst, legt ihre Schleier aus Wolken und Nebel in der Farbe von Asche an. Dort liegt die montaña. Die montaña, die ihre Gipfel zu zerstäuben vermag in der Sonne der Jahre und in dem Stern, der eine große Tat des Menschen verkündet.

97 Die montaña leidet, die montaña, die ein Mensch ist in ihrem Innersten seit so langer Zeit, in ihrem Innersten, das ein Schmerz von Morgengrauen und Abenddämmerungen ohne Brot durchzuckt. Dort liegt die montaña. Ihre Wege sind Ströme von Lehm. Ihre Wege sind Ströme von Menschen mit Gesichtern aus Lehm. Ihre Wege sind Menschen, die dürre Arme ausstrecken, Arme jedoch, die hart und biegsam sind wie Draht. Ihre Wege sind Menschen, und ihre Menschen sind Wege. Ihre Menschen sind Wege, die auf ein Licht zulaufen, das niemand kennt, auf ein Licht zu, das niemand kennt, ein Licht, das mit Hammerschlägen auf Ambossen des Fühlens und des Denkens geschmiedet wurde. Die montaña besitzt eine Empfindsamkeit, die überfließt von Winden und singenden Wassern, von Bäumen, die einen Schrei ausstoßen, der Unermeßlichkeiten erklimmt. Ich steige hinauf in die montaña. Steige auf wie eine Spinne an den Fäden ihres Netzes durch die grünen Fäden der Büsche hindurch, durch das grüne Gestrüpp der Büsche hindurch, mit trockener Kehle, trocken vom Durst nicht nach Wolken, sondern nach Gerechtigkeit. Trocken vom Durst nach dem Honig der Zuneigung des Eigenen, nach dem Honig der Zuneigung der montaña, die traurig in ihrem Vergessen ist, traurig in ihrem Vergessen, traurig in ihrem Schweigen. Dort liegt die montaña. Ich steige hinauf in die montaña. Ich nehme in meine Stimme die Stimmen ihrer Menschen auf, die wie Sträuße aus Fieber und Verlangen herunterfallen aus dem stolzen Gezweig der Gipfel von Sonne und duftenden Lüften. Ich nehme in meine Stimme ihre anarchischen Stimmen auf, ihre verzweifelt anarchischen Stimmen, brennend wie rotglühendes Eisen. Menschenmengen aus Lehm und Lianen steigen herab von der montaña. Es sind Männer, es sind Frauen.

98 Die Seele der Männer ist barfüßig und nackt, und die Frauen tragen in ihrem Herzen das ihnen dahinsterbende Kind. Aber weder die Männer noch die Frauen baden in die Tränen ihrer Pein. Sie kommen, um die Sohlen der Gerechtigkeit zu küssen. Sie kommen, um die Taufe einer Wirklichkeit zu empfangen, die ihnen im Wort eines sie liebenden Gottes nie begegnet ist. [...] V Der Abend plätschert im Lehm. Der Lehm bewacht die Wege. Der gelbe und rote Lehm wird schwarz. Die Bäume fliehen. Sie fliehen von den Wegen mit ausgestrecktem Geäst. Durch ihre Blätter läuft ein Zittern von Schatten und aschgrauem Licht; durch ihre Blätter fließt ein Strom von Feuchtigkeit. Ach, wie groß ist die Pein des nackten Menschen auf diesen Wegen! Ich sehe an seinen bloßen Füßen Klumpen von Lehm. Die Sohlen des barfüßigen Menschen sprechen zum Lehm, der sich manchmal in Stein verwandelt. Die Spalten, Schluchten und Abgründe sind die Klauen des Ungeheuers Lehm. Und der barfüßige Mensch, wie ein Gespenst so bleich. Der Mensch, der Zuckerrohr schneidet, der Steine klopft, der Eisen schleppt, der einen Zug qualvoller Angst raucht, stimmt ein Lied an, das feucht ist von Tränen. Und das tränenfeuchte Lied schläft ein in den Wolken. Es ist die Klage des besiegten Geschlechts, des gefallenen Geschlechts, des Geschlechts, das, sich am Lehm reibend, selbst Lehm geworden ist. [...] VII Ich entwirre das Knäuel der Wege, selbst Weg geworden in meinen Schmerz, Lehm im Lehm zu sein. Der Tag speit Haufen von Asche über die Felder. Die Gräser versammeln sich, nackt vor Kälte, neben der grauen Ader des Flusses.

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Und ein glückloses, seufzendes Wasser kommt zu dem Platz, an dem ich das Knäuel der Wege entwirre. Und alle Wege fuhren an den Ort, der Wohnstatt der Nacktheit, der Schutzlosigkeit und des Elends ist. Ich entwirre das Knäuel der Wege, selbst Weg geworden in meinen Schmerz, Lehm im Lehm zu sein. Und der Lehm tropft in meinen Händen. Unter dem Lehm fließt ein Wasser, das noch tiefer seufzt; und ich denke an die Klage der Erde. Das Licht ist verschwunden, und dort in den leeren Himmeln zeigt ein rötlicher Gott sein Gesicht, ein Gott mit Augen von Rache beladen. Das Licht ist verschwunden, und der rötliche Gott zeigt sich, voll schrecklichen Schweigens der Mund. Auf seiner Stirn von zornigen Wolken kreuzen sich Blitze in einer Färbung zwischen Rot und Schwarz. Das Licht ist verschwunden, und ich höre in den Löchern des Schattens einen Klang von Trommeln und Trompeten. Regen fällt und fällt, es regnet einen dichten Regen schlagender Stäbe aus Stahl. Der Regen entfaltet seine langen Muster und schleudert sie gegen den gewaltigen grünen Tümpel der Bäume, befriedigt, eine rüde Traurigkeit zu sein und eine düstere Wut über dem Reich der Nacktheit, der Schutzlosigkeit und des Elends. Formen, vereint durch das grausame Schicksal der verlassenen Menschen in der montana aus Lehm. Ich, verstummt in meiner Stimme der Jahrhunderte, entwirre das Knäuel der Wege. Der Mensch aus Lehm ist dort. Es ist von jeher derselbe Mensch. Es ist der ausgezehrte Mensch, von der Dürre einer Baumrinde, mit Füßen, von der Wurzel an aus Lehm, mit Händen wie Planzenfasern, mit dem Gesicht eines verletzten Vogels, mit einem Herzen, das am Nebel der Träume hängt.

100 Und er ist dort, umzingelt von der Nacktheit, der Schutzlosigkeit und dem Elend. [...] XI [...] Gott sieht mich an. Gott sieht mich unentwegt an. Er hat dieses Gedicht gehört, das die Stimme des Lehms ist. Blut, Blut, Lehm, Lehm. Nacktheit, Schutzlosigkeit, Mattigkeit, Hunger, Elend! Der barfüßige Mensch geht unter. Doch er wird wiedergeboren in mir. Ich spüre, wie seine Kieselsteinzähne mir die Eingeweide zerfressen. Er wühlt in meinem Magen mit seinen pergamentenen Fingern, mit seinen Händen voll der Angst von Jahrhunderten. Der barfüßige Mensch geht unter, doch er wird wiedergeboren in mir. Er und ich, wir sind eins. Seine Nägel sind in meinen Nägeln, seine Zähne sind in meinen Zähnen, seine Wut ist in meiner Wut, seine Erlösung ist in meiner Erlösung. Hinter seinem und meinem Schatten steht eine Legion barfüßiger Menschen, von Menschen, deren Augen durch Tränen blicken. Ihre Herzen schlagen wie Schrecken verbreitende Winde. Die Wege wollen sich verschließen, doch der barfüßige Mensch hält sie offen mit seinen Füßen wie Spaten. [...] XII Von neuem das Licht. Von neuem das Licht über dem Lehm. Es kommt beschwingt, und flattert und singt und vibriert und lacht in der sanften Feuchtigkeit der Welt.

101 Das Licht befeuchtet die Bäume, läßt sein Traumkristall über die Angst der Wege tropfen, die der barfußige und nackte Mensch nicht mehr geht, der Mensch verzehrt vom Schmerz. Die Hähne picken die Körner des Schweigens auf, das heraufdämmert. Voll Trauer hüllen sich die Felder in einen Nebel, weiß wie ein Leichentuch. Mein Herz schreit im Lehm. Mein Herz schreit, schlägt die eigene Qual. Gegen das Antlitz der Wege. Die Wege wiegen sich in einem Schlaf, der noch andauert. Was werde ich sagen können, jetzt, da das Licht von neuem sich zeigt? Das Licht berührt mein Gesicht mit seinen weichen Händen des heraufdämmernden Tages. Aber ich gehe allein, allein, allein, ohne den gebeugten und demütigen Schatten, ohne den Schatten, der die Nacktheit kennt, die Krankheit, die Mattigkeit und die Schutzlosigkeit. Der nackte und barfußige Mensch ist nicht bei mir. Aber die Erinnerung an ihn dringt ein in mein Herz wie ein Dolch in die Wunde. Von neuem das Licht. Aber der Lehm bleibt schwarz, schwarz in der Morgendämmerung. Wo ist der nackte und barfußige Mensch, der Mensch, der niemanden hat? Wann wird der Gott kommen, der ihn liebt, der Gott der starken Hände und der Liebe spendenden Seele? Schon fällt sein Schatten auf die Felder wie der Schatten der montaiia. Aber ich blute auf den Wegen. Das Knäuel der Wege ist, in meinen Händen, ein unermeßliches Schluchzen der Spuren des Todes. Übersetzt von Alexandra Tassios

Enrique A. Laguerre (1906) Romancier, Erzähler, Theaterautor, Journalist und Hochschullehrer; arbeitete zunächst nach seinem Schulabschluß über mehrere Jahre als Lehrer in kleinen Dorfschulen des Landesinnem; nach weiteren Studien vornehmlich der hispanoamerikanischen Literatur an der Universität von Puerto Rico 1941 Erwerb des Hochschulabschlusses, gefolgt von der Promotion an der University of Columbia; neben der Tätigkeit als Hochschullehrer aktiv als Journalist und Mitarbeit an verschiedenen Bildungsprogrammen des Erziehungsministeriums in San Juan wie auch der UNESCO. Mit seinen zwischen 1935 und 1996 publizierten vierzehn Romanen ist Laguerre nicht nur der produktivste Romancier Puerto Ricos; sein Werk reflektiert darüber hinaus die Konflikte von über sechs Jahrzehnten puertoricanischer Geschichte und Gegenwart, die er als Zeitzeuge zu dokumentieren suchte, wobei er zwecks Erhellung der Gegenwart in historischen Romanen gelegentlich auch auf die spanische Kolonialzeit zurückgriff. Seine erste Schaffensperiode, zu der neben seinem ohne Zweifel meistgelesenen Erstlingswerk La llamarada (1935) auch der gleichermaßen vielgerühmte Roman Solar Montoya (1941) zählt, ist noch der Tradition des im ländlichen Milieu angesiedelten realistisch-regionalistischen Romans verpflichtet und schildert überaus kritisch die ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen im Agrarbereich als Folge der allein US-amerikanischen Wirtschaftsinteressen gehorchenden Umstrukturierung; dies vor allem in der Zuckerproduktion (La llamarada) und im Kaffeesektor {Solar Montoya). Ab den 50er Jahren wandte sich Laguerre — neben historischen Themen und Personen, wie etwa dem berühmtesten puertoricanischen Korsaren Miguel Henriquez, Repräsentant eines im Entstehen begriffenen amerikanischen Bewußtseins (Proa töm sobre mar gruesa, 1996) - vorzugsweise dem städtischen Bereich mit seinen aktuellen Problemkreisen zu, wobei er sich durch die Einbeziehung neuer narrativer Techniken vom traditionellen Realismus weitgehend entfernte. In diesen Romanen dominieren sozialpsychologische Fragestellungen wie etwa die der individuellen und kollektiven Identität angesichts einer zunehmenden Assimilierung an US-amerikanische Kulturmuster oder die Erfahrung der Fremdheit im eigenen Land bei jenen, die nach einem längeren Aufenthalt in den Vereinigten Staaten nach Puerto Rico zurückkehren und auf ihrer Suche nach ihren Ursprüngen und damit einer authentischen Identität scheitern. Der hier in Auszügen abgedruckte Roman La llamarada erzählt — neben verschiedenen sekundären, die zentralen Erlebnisse und Aussagen des Protagonisten in ihrer kritischen Dimension stützenden Episoden - in Form von Tagebuchnotizen die Geschichte des Agronoms Juan Antonio Borrás, der, aus armen Verhältnissen stammend, nach einem mühsam erarbeiteten Studium in Diensten eines US-

104 amerikanischen Konsortiums seine erste Stellung als Verwalter einer Zuckerrohrpflanzung an der Küste antritt und (zu Beginn des Romans) optimistisch dem sozialen Aufstieg entgegensieht, angesichts der herrschenden Verhältnisse diesem jedoch entsagt und (am Ende des Romans) seine Stellung aufgibt, um auf die vom Vater geerbte kleine Kaffeeplantage in den Bergen zurückzukehren. Gleichzeitig erzählt der Roman die Geschichte eines Kollektivs, dessen Schicksal, über alle Klassengegensätze hinweg, an das Zuckerrohr gebunden ist: die Geschichte der Arbeiter, die unter unerträglichen Arbeitsbedingungen, schlecht bezahlt, überdies durch die Willkür korrupter, menschenverachtender Verwalter wie Don Florencio häufig um einen Teil ihres Lohns betrogen, ein freudloses Dasein fristen, in ihrer Existenz bedroht von Hunger, Krankheit und Naturkatastrophen wie dem „Feuersturm", der einen Teil der Pflanzungen vernichtet und auf den der Titel — in einer metaphorischen Überhöhung — verweist; und die Geschichte der einheimischen Plantagenbesitzer, personifiziert durch Don José, die sich, durch die notwendigen Modemisierungsmaßnahmen verschuldet, gegen die aggressive und expansive Politik der ausländischen Zuckerfabriken und ihrer Handlanger wie Don Oscar de Mendoza nicht zur Wehr zu setzen wissen und als einst mit den Interessen der Insel identifizierte produktive Klasse untergehen. Werke (Auswahl): La llamarada (1935); Solar Montoya (1941); La resaca (1949); La ceiba en el tiesto (1956); Cauce sin río (Diario de migeneraáón) (1962); Elfuego y su aire (1970); Los amos benévolos (1976/1977); Por boca de caracoles (1990); Proa libre sobre mar gruesa (1996); La resentida (Theater; 1960); Pulso de Puerto Rico (1952-1954) (Essays; 1956); Obras completas (San Juan: Instituto de Cultura Puertorriqueña 1962-1964. 3 Bände). Die abgedruckten Textauszüge (aus Teil II, III und V) sind der 32. Auflage des von der Editorial Cultural (Río Piedras 1994) publizierten Nachdrucks entnommen. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Der Feuersturm Ich komme spät von der Arbeit nach Hause. Ab und an besuche ich jemanden, und einen großen Teil meiner freien Zeit verbringe ich am Schreibtisch. Vor allem jetzt. Denn ihr sollt wissen, daß ich die Eindrücke meines Aufenthalts auf „Santa Rosa" von dem Tag an aufzuschreiben begann, an dem es zu dem Zwischenfall kam, von dem ich euch noch berichten werde. Während der Wochen vor besagtem Zwischenfall hielt ich mich für einen Helden des amerikanischen Westens, ohne eine genaue Vorstellung von den

105 vorherrschenden Verhältnissen zu haben. Ich lebte diese Wochen in einer Traumwelt, die noch von dem Stolz auf meinen Triumph im Studium beherrscht war. Ich glaubte, ich hätte alle Schwierigkeiten überwunden, und mir würde von nun an alles leichtfallen. [...] Und an jenem Tag bewog mich so etwas wie eine nie zuvor gekannte seelische Erregung dazu, einen gänzlich anderen Weg einzuschlagen. E s war eine ungeheure seelische Erschütterung, die den eitlen „Helden des Westens" zu Fall brachte, die mich ungeahnte Nöte und Ängste entdecken ließ, die mich erfahren ließ, daß wir uns oft weit von uns selbst entfernen, und die mir plötzlich die große Tragödie so vieler Menschenleben vor Augen führte. Folgendes geschah. Ich begab mich zu den Feldern, besessen von diesem eitlen Stolz, der mich beherrschte, seit ich wußte, daß ich nach vier Jahren eines harten Studiums wirtschaftlich unabhängig sein würde. Im Grunde war es kein verletzender, sondern eher ein naiver, beinahe kindlicher Stolz. Eben, beinahe kindlich. Der eitle Stolz eines Kindes, das endlich das Spielzeug bekommen hat, das es sich so sehnlich gewünscht hat. Im Saatfeld die Männer. Diese schweißbedeckten und schmutzigen Männer, die sich schinden müssen. Die Hacke grub sich immer wieder in den Wall zwischen den Furchen, ab und an warf sie einen Lichtreflex. In den hochgewachsenen Zuckerrohrfeldern bewegten sich die Halme dort, wo einige Tagelöhner arbeiteten. Zweifellos waren sie bis auf die Haut durchnäßt von dem Tau, der sich über Nacht auf dem Zuckerrohr niederschlägt. Und diejenigen, die für die Bewässerung sorgten, fast alles junge Burschen, die Hosen bis zum Knie und die Hemdsärmel bis zum Ellbogen aufgekrempelt, stachen den Spaten in den Boden, holten Erde heraus und dichteten hier und da die Öffnungen der Furchen ab, beständig den Lauf des Rinnsals im Auge, das den Sprößlingen Erfrischung brachte. Je weiter der Morgen voranschritt, desto schneller mußte sich der Küchenjunge, ein schwächlicher Bursche von etwa vierzehn Jahren, bewegen. Alle tranken aus demselben Gefäß. Einige machten kurz ihre Scherze auf Kosten des Jungen, der dann ein Lachen vortäuschte; andere spuckten den Kautabak aus, bevor sie Wasser tranken, um sich, sobald der Durst gestillt war, wieder über die Furche zu beugen. E s mochte schon ungefähr zehn Uhr am Morgen sein — ein glühend heißer Morgen - , als Don Flor auf mich zukam, um mir Neuigkeiten von der Zuckerfabrik zu berichten. Wir sprachen über die bevorstehende Ernte, als

106 ich inmitten des hochgewachsenen Zuckerrohrs eine ungewöhnliche Bewegung bemerkte. Und so etwas wie einen erstickten Schrei. Ich fragte Don Florencio: „Haben Sie das gehört?" „Was? Das hat nichts zu bedeuten." Ich sah eine Weile hinüber zu der Stelle, an der ich die ungewöhnliche Bewegung der Halme bemerkt hatte, und da ich feststellte, daß sich nichts mehr bewegte, wurde ich unruhig. Ich rief Lope, damit er nachsehen sollte. Der Aufseher stieg von seinem Pferd und bahnte sich einen Weg durch das Zuckerrohr bis zu der Stelle, die ich ihm gezeigt hatte. Kurz darauf kam er an den Rand des Feldes zurück, um mir mitzuteilen: „Ein Mann ist wegen irgendwas zusammengebrochen, Mister Borräs." Zutiefst bewegt, stieg ich vom Pferd, band das Tier an einen Pfahl und drang in das Dickicht vor. Dort, zwischen den Halmen der Zuckerrohrpflanzen, der zusammengebrochene Mann. Ventura Rondon, ein fleißiger und zuverlässiger Mann. Wie er dort lag, auf der zwischen den Furchen aufgeworfenen Erde, schwer atmend, fast regungslos, erweckte er tiefes Mitleid. Die Lumpen, die seinen elenden Körper bedeckten, waren völlig durchnäßt. Neben ihm die Hacke. Es schien mir, als ob sich innerhalb des gesamten Zuckerrohrfeldes eine mahnende Stimme erhob. Lope und ich trugen ihn gemeinsam hinaus in den Schatten eines Mangobaumes. Die übrigen Arbeiter sahen bisweilen unauffällig zu uns herüber. Ich konnte mich nicht zurückhalten und murmelte unablässig: „Der arme Mann." Don Flor stieg nicht ab. Er näherte sich uns auf seinem Pferd und sagte teilnahmslos: „Das mußte ja passieren. Wer weiß, wahrscheinlich hat er heute morgen nur keinen Kaffee getrunken. Denn so sind sie, Juan Antonio. Was er braucht, ist ein bißchen heißen Kaffee. Lope, schick den Küchenjungen zum Haus. Sie möchten Juan Antonio ein bißchen heißen Kaffee schicken." Ich fächelte dem Zusammengebrochenen mit meinem Hut Luft zu, und als Don Flor hörte, daß ich weiterhin den „armen Mann" bedauerte, sagte er leise: „Bitte kein melodramatisches Gehabe, Juan Antonio. Wozu dieses ganze Theater, wenn ein bißchen Kaffee alles wieder in Ordnung bringt?" Ich sah den Menschenfeind mit einem unbändigen Groll an und fürchtete, daß mich „der böse Moment" überkommen könnte. Ich habe nämlich

107 diese schrecklichen Momente, in denen das wilde Tier, das versteckt in meinem tiefsten Innern lauert, in mir die Oberhand gewinnt. Es springt hervor, wutentbrannt, und ich verliere jegliche Beherrschung. Ich furchte diesen „bösen Moment" und versuche, das rebellische Wesen in mir zu beherrschen. Das tat ich auch an jenem Tag angesichts des unmenschlichen Verhaltens von Don Flor. Doch ich hörte den Schlachtruf des Wilden; es war ein Wunder, daß ich den „bösen Moment" unterdrücken konnte. Ich beschränkte mich darauf zu sagen: „Mein Gott, seien Sie doch nicht so herzlos!" „Augenblick! Glaubst du etwa, ich habe kein Mitleid mit diesem Mann? Natürlich habe ich Mitleid mit ihm! Aber ich verabscheue hysterische Szenen. Außerdem, hast du denn noch nie gehört, daß man sagt 'Leid steckt an'? Dieses melodramatische Getue ist kindisch, einfach nur kindisch. Wieso bist du denn nicht drauf gekommen, Kaffee holen zu lassen? Und das bei all dem Honig, den du diesen Leuten ums Maul schmierst." „Mit Honig fängt man mehr Fliegen als mit Essig, wußten Sie das nicht?" „Also gut, bleiben Sie ruhig bei Ihrem Honig, aber ich will Ihnen jetzt mal was erzählen." Unterdessen grinste Lope, der einzige Zeuge dieser kurzen Auseinandersetzung, sein gemeines Grinsen und sah ironisch zu mir herüber. Ich schrie ihn wütend an: „Was stehen Sie da rum? Sorgen Sie dafür, daß die Arbeiter eine Trage bauen, um den Mann wegzubringen!" Lope ging, um meinen Befehl auszuführen. Dort zu meinen Füßen Ventura Rondón, er lag auf dem Rücken, atmete schwer, und das Elend bedrohte unbarmherzig sein Leben. Er ist blutarm, bleichsüchtig, ein hoffnungsloser Fall, denn darauf reduziert sich seine Existenz. Ich weiß, daß er „sich viele Kinder aufgeladen hat"; es ist, wie er selber sagt, „eine ganze Truppe, mein Herr". Jetzt ist er im Zuckerrohrfeld zusammengebrochen, um vielleicht nicht wieder aufzustehen. Sein Gesicht war verzerrt, die Farbe fahl, diese von sich aus schon gelbliche Farbe. Er war entkräftet zusammengebrochen, schweißbedeckt und gleichzeitig bis auf die Haut durchnäßt vom Tau des Zuckerrohrs. Die grausame Krankheit hatte ihn im Würgegriff. [...] Angesichts des Unglücks von Rondón war ich voller Demut, so demütig wie die wilde Minze. In das Massengrab all des Elends warf ich meinen eit-

108 len Stolz. Meine Seele zog sich zusammen wie ein Gewebe aus Gummibändern. Und ich betrachtete das besiegte Gesicht mit einer noch nie erlebten Bestürzung, die mich bis in die letzte Faser meines Seins erschütterte. Mich verfolgte hartnäckig die eine Vorstellung Was für ein Gesicht! Es war das Gesicht der Hinfälligkeit, zu Boden gegangen in dem schneidenden Schilf des Zuckerrohrs. Es wurde unermeßlich groß, vervielfachte sich, füllte die ganze Umgebung aus und zeigte sich an jeder Zuckerrohrpflanze. E s war ein Gesicht wie aus einem Alptraum, wie man es flüchtig in unheilvollen Träumen sieht. Das schmerzerfüllte Gesicht eines Märtyrers, das mich hartnäckig bis in die letzten Winkel meiner Seele verfolgte, das mich in Todesangst davonlaufen ließ, um mich doch immer zu begleiten. Ein Gesicht, das man auf den Pfahl einer unsäglichen Erschütterung gespießt hatte, um es wie zu Zeiten der Barbarei den anderen zu zeigen... Es war, als würde der Wahnsinn an meinen Verstand rühren, um dann in schallendes, vor Schluchzen bebendes Gelächter auszubrechen. Und dann breitete mein Mitleid ein Leichentuch über jenes von feuchter Erde beschmutzte Gesicht. Mir wurde bewußt, daß der Schrei des Mannes wie ein Pfeil in mein Herz gedrungen war. Mein Blick, erfüllt von Trauer, fiel auf ein Schild: „No trespassing" (Durchgang verboten). Weiße Buchstaben auf dunklem Grund: eine barbarische Grimasse. Ich verspürte das Verlangen, es voll Wut mit Steinen zu bewerfen, um es, in Stücke gehauen, von seiner beleidigenden Höhe herunterzuholen. [...] Es war Samstag, Zahltag, und ich mußte mich auf den Weg machen, um Don Florencio zu treffen. Das Häuschen, in dem die Löhne ausgezahlt wurden, befand sich neben dem Laden, zwischen beiden verlief der breite Feldweg. Viele Menschen standen dort, wo der Feldweg in die Landstraße mündete, gegenüber dem Zahlhäuschen: schwatzende oder düster dreinblickende Schwarze, Weiße mit gelblicher oder gebräunter Gesichtsfarbe, scheu sich zurückhaltende Mischlinge... Eine heterogene Menschenmenge, alle jedoch zu derselben Strafe verurteilt: der Sklaverei im Zuckerrohrfeld. [•••] Diese Menschen! Sie alle gehen den Weg Ventura Rondöns, des Mannes mit dem traurigen Gesicht. „Arme Esel mit einer Last von grünem Gras für das Pferd im Stall", wie Segundo, angeblich im Scherz, bestätigt hatte. Vom Unglück geschunden, gehen sie den Weg allen Elends. So leben sie in ständiger Abhängigkeit, denn „wer am meisten leistet, verdient am wenigsten".

109 Während ich diesen Gedanken nachhing, kam Don Flor mit den Lohntüten und dem Geld. Sofort begannen wir mit der Auszahlung der Löhne. Auf den Lohntüten war zu lesen: „Plantage Palmares — Name des Arbeiters - Wochenlohn - Vorschuß - Restbetrag." Der Vorschuß ist das, was sie im Laden kaufen; ein Angestellter von Don Manuel schlug im Rechnungsbuch nach. Ich füllte das Formular aus, steckte den Restbetrag in die Lohntüte und übergab sie dem betreffenden Arbeiter. Manchmal kam es vor, daß einem Arbeiter nicht eine einzige Münze blieb. Dann ging er mit hängenden Schultern fort und überließ seinen Platz am Schalter einem anderen. Wegen des Lohns, den ein Arbeiter verdient hatte, kam es zu einer Auseinandersetzung. Dieser hatte gesagt: „Wie, nur zwei Pesos? Ich hab fünf Tage gearbeitet. Zu sechzig Centavos macht das drei Pesos. Und ich habe im Laden nicht einen Centavo ausgegeben." „Du irrst dich", protestierte Rosado. „Das hier bezahl ich dir, und das ist schon viel." „Sie haben mir sechzig geboten." „Aber deine Arbeit war einen Dreck wert." Der Arbeiter sah ihn drohend an. Und im Weggehen murmelte er: „Sie sind allesamt Gauner. Bei dem Hungerlohn, den man verdient, einen so auszunehmen. Verflucht sei die Mutter von dem Fettwanst." Die anderen Arbeiter wollten lachen, als sie aber die Wut von Don Flor sahen, blieb es still. Don Flor tobte. Er brüllte den Arbeiter an: „Hör zu, du unverschämter Kerl! Ich will dich auf „Palmares" nicht wieder sehen." „Dann sehen wir uns in der Hölle wieder", drohte der andere. Don Flor wandte sich zu mir: „Hab ich es dir nicht gesagt? Das ist alles Gesindel." „Aber er hat doch recht." Rosado sah mich finster an. Dann fügte er hinzu: „Sie haben vergessen, daß sie zu Zeiten der Spanier anderthalb Reales verdient haben und dabei von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten mußten." Ich wollte keine Diskussion und schon gar nicht aus diesem Anlaß. Ich schwieg. Durch das kleine Fenster des Schalters hindurch konnte ich Segundo Marte sehen, der die Stirn runzelte und still den Menschenfeind betrachtete. Dieser blieb unerschütterlich. Kurz darauf wiederholte er dasselbe

110 ungerechte Vorgehen bei jemand anderem. Als ich begriff — zuvor hatte er es in meiner Gegenwart nicht so offen getan —, daß er sie um einen Teil ihres Lohns betrog, mischte ich mich ein: „Das ist nicht gerecht, Don Flor", flüsterte ich ihm ins Ohr. „Tu mir den Gefallen, und misch dich nicht ein!" antwortete er mit finsterer Miene. Von Don Flors Charakter geht Haß aus wie Ausdünstungen von Fäulnis. Und Haß bringt neuen Haß hervor. Ich kann nicht umhin, das Verhalten dieses Mannes zu verurteilen, über den jemand einmal gesagt hat: „Trotz der Responsorien des Priesters kommt der direkt in die Hölle." Dieser Arbeiter protestierte nicht. Vielleicht dachte er, man würde ihm keine Arbeit mehr geben, wenn er protestierte. Was nützt es, sich aufzulehnen? Und der Hunger ist wirklich ein schlimmes Übel! Er entfernte sich mit seiner Lohntüte und schaute dabei zurück, als wäre ihm jemand dicht auf den Fersen. [...] Balbino kam auf mich zu und sagte: „Ich meine, daß sie ihnen den vollen Lohn geben müßten." Ich nickte zustimmend. Er fuhr fort: „Ich hatte einen Bruder, der hatte eine wahnsinnige Angst vor den Zukkerrohrfeldern. Er wurde jedesmal krank, wenn man ihm gegenüber die Arbeit dort erwähnte. Er sagte, er wolle nicht als Sklave sterben. Und das ist das einzige, was Papa uns hinterlassen hat, Gott möge mir verzeihen. Das Erbe der Arbeit in den Zuckerrohrfeldern. Aber mein Bruder lief davon. Er verschwand spurlos. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Und das ist schon viele Jahre her. Er floh vor der Hölle der Zuckerrohrfelder." Hinter uns sagte jemand mit leiser Stimme: „Dem geht's ganz schön gut, diesem Don Flor! Und unsereins lebt im Elend, stimmt's nicht? Der soll mal ganz schön aufpassen." „Pst! Da ist der andere." „Was zum Teufel kümmert mich der? Mit dem kann ich's nun wirklich locker aufnehmen!" Ich beherrschte meinen Impuls, aggressiv zu reagieren. Vor meinem Geist zog eine rote Wolke vorüber. Der Kampf, der schon bald auf mich zukommen würde, war eine geräuschlose Welle, die heranrollte und drohte, alles zu zerstören. [...] Während ich die herrlichen Zuckerrohrfelder von „Los Pozos" betrachte, denke ich, daß das Zuckerrohr alles bebaubare Land erobert. Es macht sich

Ili ein Gebiet zu eigen, das nicht sein angestammtes Gebiet ist. Und es ist bereits seit unendlich fernen Zeiten bekannt. Die Chinesen nutzten es vor unzähligen Jahrhunderten. Im dritten Jahrhundert wurde es nach Europa gebracht und auf Zypern, Sizilien und Madeira angebaut, von wo es nach Santo Domingo herübergebracht wurde. Es paßte sich dem Klima an und verbreitete sich im tropischen Amerika. Alles war ihm förderlich, und der Eindringling fühlte sich vielleicht sogar wohler als zu Hause. Es eroberte unsere Ebenen. Schon klettert es die Hügel hinauf und erfüllt die Fluren mit dem ihm eigenen Geräusch einer herannahenden Sturmböe. Das Aufkommen der großen Maschinen in den Zuckermühlen verschaffte ihm Überlegenheit. Es war mitschuldig an der Invasion landeinwärts und sicherte den Eroberern ihren weiteren Profit. [...] Bei Einbruch der Dunkelheit war ich ein wenig einsam und ging zu Chelores, um mich eine Weile mit ihm zu unterhalten. Er saß gegenüber dem alten Maschinenhaus auf dem Rand eines ehemaligen, fast völlig zerstörten Plateaus zum Trocknen von Kaffeebohnen. Bei ihm war Mano Encho, seit undenklichen Zeiten sein Freund. Sie empfingen mich mit allen Anzeichen echter Freude und luden mich ein, mich zu setzen, eine Einladung, der ich sehr gern nachkam. Mano Encho setzte mich ins Bild: „Hier sitzen wir und erinnern uns an die alten Zeiten, mein Jungg." [...] Mano Encho erzählt von seiner Jugend auf „La Monserrate". Die Nachkommen von Monsieur Sandeau konnten die Hazienda nicht halten, sie ging in andere Hände über. Der gegenwärtige Besitzer, der Sohn eines hier ansässigen Spaniers, weiß nicht mehr ein noch aus. Die Zuckerfabrik hat ihn in die Enge getrieben. „Es gab eine Zeit, da ging es Don José gut", erklärt Mano Encho. „Doch dann, so hieß es, war das Zuckerrohr plötzlich nicht mehr süß genug. Das passierte zwei oder drei Jahre nacheinander. Die Preise fielen in den Keller, und Don José stand am Rand des Ruins. Es gab ein Jahr, in dem er fast auf seinem ganzen Zuckerrohr sitzenblieb, weil die Zuckerfabrik sagte, er solle es bis zum Schluß stehenlassen, und dann wurde die Ernte eingestellt. Fast alle Pflanzungen verdarben." Als Don José in seiner mißlichen Lage sein Zuckerrohr an eine andere Gesellschaft verkaufen wollte, waren ihm wegen seiner Schulden die Hände gebunden. Man drohte ihm mit Pfändung, und zwischen der Zuckerfabrik auf der einen und dem Schatzamt auf der anderen Seite wurde er fast wahnsinnig. Der arme Don José lebt in totaler Abhängigkeit von der Willkür Don

112 Oscar de Mendozas. „Ihm geht's noch schlechter als denen, die im Elend leben", bestätigt Chelores. Und das ist wahr. Ich weiß einiges über den Fall. Ich habe sogar gehört, daß Don Oscar ihm einmal vorgeschlagen haben soll, die Pflanzung an ihn zu verpachten, und daß Don José, stolz wie er ist, dies abgelehnt hat, um sich nun, mit dem Rücken zur Wand, gänzlich dem Willen der Zuckerfabrik zu unterwerfen. Die Geschichte ist überaus betrüblich. So verschwinden nach und nach die Reichen von früher, und so werden nach und nach die produktiven Kräfte der Insel geschwächt. Ich verkehre nicht viel mit Don José. Seine Lage bekümmert mich dennoch zutiefst. Allmählich begreife ich die obskuren Machenschaften. Mir wird bewußt, daß ich ein Teil im Getriebe dieser Maschinerie bin, die den innersten Stolz der Landbevölkerung bricht. Plötzlich kommt mir der naive Hochmut meiner ersten Tage auf „Santa Rosa" in den Sinn. Jetzt mache ich mir so meine Gedanken. Gerade denke ich an das Gesicht Rondóns und werde mir der tragischen Geschichte bewußt, die seine erstarrte Miene erzählt. Dennoch betrachte ich die Sache wieder von der sicheren Seite aus: „Ich erfülle meine Pflicht." Und meine Eigenliebe meldet sich trotzig zu Wort: „Sei nicht so scheinheilig, Junge. Du erntest die Früchte deiner schlaflosen Nächte, die du als Student verbracht hast. Du würdest ganz schön dumm dastehen, wenn du dich gegen die Zuckerfabrik stellen würdest, der du deinen Posten verdankst! Sollen Don José und die Arbeiter doch allein zurechtkommen, so gut sie eben können!" Und ich schwieg. Wozu reden? [...] Mano Encho erzählt, daß er Faßbinder war, „damals, vor langer, langer Zeit". Er fertigte die Dauben für die Fässer an. [...] Er arbeitete auch lange als Fuhrmann, als es noch keine Straßen gab. Wie viele Fässer Zucker, wieviel Kaffee, wie viele Bananenstauden lud er nicht auf seinen Karren! Damals fuhr man langsam, und die Fahrten dauerten Tage. Manchmal mußte man den Karren entladen, ihn aus dem Morast ziehen und ihn dann wieder beladen. Chelores bestätigt, was sein Freund sagt. E r fugt hinzu: „Die Haziendas von früher, das war was anderes. Man lebte einfach besser. Es gab nicht so viel Hochmut wie heutzutage. Man konnte viele Fässer Zucker, Melasse und Rum rausholen. Der Zucker war viel wert. Bevor man ihn verkaufte, wurde ihm die Melasse entzogen. Es war eine wahre Freude, mit den Maschinen zu hantieren. Und nicht nur das. Es gab so viel Vieh, einfach unglaublich. Kühe, Ochsen, Kälber, Ziegen. Wirklich jede Menge.

113 Alles wurde auf der Hazienda hergestellt. E s gab genug Hibiskussträucher, um Seile zu machen. Früher kaufte man keinen Pitahanf. Dafür war der Hibiskus da. Und außerdem: Sogar Schuhe, Fässer, Hüte, all das wurde auf der Hazienda gemacht. Wenn es doch hier - und das ist nur ein Beispiel Holz von Kaffeebäumen und Buchen gibt, aus dem man Dauben machen kann, warum bringen die dann Fässer von der anderen Seite des Meeres herüber? Meinen Sie nicht auch? Früher aß man mehr Bananen, trank mehr Milch, aß mehr Fleisch, auch wenn's von der Schildkröte war. Jetzt ist alles anders. Milch in Dosen, Fleisch in Dosen, sogar Bohnen in Dosen! Pfui Teufel! Gott weiß, woher das alles kommt. Wir wollen's gar nicht wissen, oder?" Die beiden Alten empören sich. Nach dem zu urteilen, was sie sagen, glaube ich, verlangen sie für das Land eine Luxussteuer, „mal sehn, ob dann alles besser wird, mein Junge". Und Chelores sagt zu mir: „Ist dir schon mal aufgefallen, daß wenn man einer Eidechse den Schwanz abhackt, der Schwanz ganz allein anfängt zu hüpfen? Stimmt das nicht? Und, stell dir vor, genauso sind die Menschen. Wedeln, wie es scheint, gesund und munter mit dem Schwanz, haben aber keinen Kopf." Ich muß herzlich lachen und freue mich über seinen Vergleich, aber ich bin nachdenklich geworden. Der Pessimismus peinigt mich mit seinem Gift. Ich sehe zum Himmel hinauf, er erscheint mir unergründlicher denn je. [...] Die Vorkommnisse der letzten Zeit bewirkten in meinem Innern einen Sturm widersprüchlicher Empfindungen. Ich fühlte, daß ich mich zwischen zwei einander völlig entgegengesetzten Positionen befand. Ein Zustand, in dem man ständig hin- und hergerissen ist. Und das war ich in der Tat. Ich wußte nicht, was ich von dem Ehrgeiz, der mich noch vor Monaten so getrieben hatte, halten sollte. Selbst meine eigene Studienzeit erschien mir wie etwas Unwirkliches, eingehüllt in den Nebel wehmütiger Erinnerung. So weit hatte ich mich von jenen Tagen entfernt! Wenn ich den Studenten und den „Plantagenverwalter" einander gegenüberstellte, erschien mir der Unterschied erschreckend. Es waren zwei vollkommen verschiedene Individuen. Wie fern lag doch jene Zugfahrt, als ich es kaum erwarten konnte, prallgefüllte Ähren auf den Weizenfeldern der Zukunft zu ernten! Und jener Vorfall, das Gesicht im Zuckerrohrfeld, führte mir das Unglück vor Augen. Das Gesicht Ventura Rondons hatte mich düster gestimmt. So wie die Krieger einst das Gesicht des Besiegten auf der Spitze ihrer Lanze zur Schau stellten und über die Köpfe der Menge emporragen

114 ließen, so sah ich das Gesicht Rondöns. Noch immer erschüttert mich die Erinnerung an diesen Anblick. Es muß wohl so sein, weil der unglückselige Krieger noch immer nicht aufgehört hat, die Gesichter der Besiegten zur Schau zu stellen... Das Leben auf den Zuckerrohrfeldern ist wahrhaft: trostlos; man braucht nur an die qualvolle Sklaverei der Arbeiter zu denken, Opfer allen Unglücks: Betrug, Mühsal, Hunger, Mißhandlung, das Feuer, das sie einkreist und bedroht... Und dann behauptet jemand, sie seien dieses Dasein gewöhnt. Man sollte besser sagen, daß sie ein Schattendasein führen, denn darauf läuft all ihre Mühe hinaus. Die Armen! Sie bilden einen Morast abgestorbener Sehnsüchte. Man muß schon ein Herz haben, das sich jeder Art von Mitgefühl verschließt, um das Unglück dieser Menschen mit einem Achselzucken abzutun. Diese Monate der Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern haben mir unvergeßliche Erfahrungen eingebracht. Ich habe Dinge erlebt, auf die meine jugendliche Seele, trunken von naiven Illusionen, nicht gefaßt war. Wie oft mußte ich mit Bitterkeit oder Sarkasmus vor mich hin lächeln, wenn ich mir die Illusionen ins Gedächtnis rief, die ich mir machte, als ich im Zug saß, nachdem ich gerade mein Studium beendet hatte! Denn in Wirklichkeit sah alles anders aus. Immer wieder ließ ich im Geiste die Vorkommnisse dieser Monate des Kampfes Revue passieren. Wie ermüdend doch unser leeres und unnützes Geschwätz ist! Wie man uns doch mit Reden, schönen Worten und großsprecherischem Getue überhäuft! Und unterdessen werden die Gesichter zur Schau gestellt, schreitet das Unheil so vieler schleppend voran... Unsere verlogene Lebensart ist schlicht nichts anderes als beißender Hohn. Wir sind wie eine eide Frau, die sich, um schön zu erscheinen, Hüften und Gesäß mit Stoff auspolstert... Wie erbärmlich! Wir idealisieren den jtbaro und sagen, er sei ein „Edelmann in Lumpen", aber wir kümmern uns nicht darum, ihm angemessenere Kleidung zu verschaffen. Wir sind stolz auf das bleiche Gesicht des Campesino und vergessen dabei seine Entkräftung, seine Blutarmut, seinen Schmerz. Es wäre sehr viel besser, wir wären ein stärkeres, wacheres, glücklicheres Volk, auch wenn wir - was machte das schon aus - dafür eine dunklere Haut hätten! [...] Bei Tagesanbruch nahm ich mir einen Wagen, der mich zu meinem Heimatdorf in den Bergen brachte. Wir mußten eine sehr schwer befahrbare Straße nehmen, eine Straße mit vielen Steigungen, Kurven und tiefen Ab-

115 gründen zu beiden Seiten. Die Landschaft ist einfach wunderschön. Wir fuhren die Bergrücken entlang, und zutiefst ergriffen betrachtete ich die Hügelketten, die Bäume, die Hütten... Wir hatten gerade eine steile Anhöhe erreicht, als einer der Reifen des Wagens platzte. Während der Fahrer den Reifen wechselte, schweifte mein Blick in die Ferne. Die Sonne ließ bereits die höchsten Berggipfel in ihrem Licht erstrahlen. Die fernen Bergketten wirkten blau, so blau, daß sie nahezu mit dem Himmel verschmolzen. Und nahebei: Grün, nichts als Grün Teppiche, die den Augen Erholung boten. Die Berge riefen mich mit ihrer jahrhundertealten Stimme. Alles lud ein, weiterzuziehen, über die Gipfel hinaus. Ich spürte, wie ein unendlicher Friede meine Seele erfüllte. Da begriff ich, daß ich ein Kind der Berge bin und nicht der Ebene. In der Ebene leide ich an Platzangst, meine Augen brauchen feste Bezugspunkte. In der Ebene will die Sonne mich wie einen Ketzer verbrennen; meine Seele braucht als Stütze das sanfte Grün, die Masse der Bäume. Ich ging ein paar Schritte und erkannte von weitem mein Heimatdorf, eingebettet ins Tal. Mein Dorf! Mir stiegen Freudentränen in die Augen. Eine helle Freude, hell wie die ferne Lichtflut der Berge. Ein feiner Nebel hatte das Dorf während der Nacht eingehüllt - ein zarter Schleier. Das Tal - ein durstiger Mund - hatte nach Himmel verlangt, und der Himmel ließ sich herab... Unter dem dichten Laub der Bäume in den Tälern wuchsen die Kaffeesträucher. Soviel mehr ein Freund als das Zuckerrohr! Der ßbaro hier war zwar bleich, aber jeder einzelne hatte Anspruch auf ein „Fleckchen Erde", auf sein eigenes Stück Land. Nicht so beim Zuckerrohranbau. Dieser, in der Hand von Kapitalgesellschaften, verschlang den ganzen Grund und Boden, ohne den Bauern Platz für ihre kleinen Felder zu lassen. Seine Gefräßigkeit war so groß, sein Egoismus so aggressiv, daß er sich in erschreckenden Ausmaßen sogar als Feind für die Bäume erwies. Unter den Wurzeln der Zuckerrohrfelder schlummern bereits die Schrecken der Wüste. Auf dem Platz umfing mich das Dorf mit seiner Liebe, es sprach auf wundersame Weise zu mir mit seinem Glockengeläut, mit seinem frühmorgendlichen Vogelgezwitscher. Selbst das Rufen der Straßenverkäufer hatte für mich etwas Vertrauliches. Nachdem ich über eine Stunde durch die Straßen geschlendert war, setzte ich meine Reise zur Hazienda „Atalaya" fort. Wie oft war ich diesen Weg schon gegangen! Ich war ergriffen von dem bedeutungsschweren Will-

116 kommensgruß des Waldes, der Plätze, der rankenden Pflanzen, der Lebewesen... Es schien, als erwarteten sie alle sehnlichst meine Rückkehr. Und als ich von einer Anhöhe aus den Besitz meines Vaters erkennen konnte, wuchsen meinem Herzen Flügel, und es setzte an zum Flug, immer in Kreisen, wie die Schwalben, wenn sie den erfrischenden Regen vorausahnen. Ich ritt den Hang hinunter, und im H o f schlössen wir uns fest in die Arme, meine Mutter, meine Schwestern und ich. Lobo, der alte Hund, bellte, als wollte er nie wieder aufhören. Ein einziger Blick genügte, um all das zu erfassen, was nach dem Gebot des Herzens zu mir gehört. Da ich von Licht trunken war, erschien mir das Zimmer meines Vaters umso dunkler. Ich mußte den darniederliegenden Körper fast ertasten, und nach einer langen Umarmung erzitterte der Gruß, den ich als Kind so oft ausgesprochen hatte: „Tschau, Papa." Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, traf mein Blick die verweinten Augen meines Vaters, und zutiefst bewegt stammelte ich: „Verzeih mir!" Es folgten zwei Tage fieberhaften Wachens, beunruhigenden Wartens, alle folgten ängsdich der geringsten Geste meines Vaters. Wir schwiegen, doch mit den Blicken stellten wir unzählige Fragen. Am Ende der beiden Tage, eines Nachts, gegen elf, sprach der Sterbende zu uns seine letzten Worte. Indem er sich insbesondere an mich wandte, bat er: „Ich bitte euch, mir zu verzeihen." Wir konnten nicht antworten und umarmten ihn stumm. Dann fügte er mit Bedauern hinzu: „Mir ist es nie gelungen, dich zu verstehen, mein Sohn. Trenn dich nie von diesem Haus. Bewahre den Besitz, er ist das Vermächtnis deiner Vorfahren. Laß ihn auch das Vermächtnis für deine Nachfahren sein." Mehr sagte er nicht. Sein schweres Atmen setzte immer länger aus. Draußen die Nacht. Lobo bellte in einem fort. Sein Bellen hallte im Tal wider. Die Nacht war voller Schrecken. [...] Es war besser, die Niederlage ruhig hinzunehmen. Ich ließ das Leben der Plantage hinter mir, ihre Tragödien auf den Wegen zwischen den Zuckerrohrfeldern, die Sklaverei der Arbeiter, ihren Schweiß und ihre Mühsal. Alles blieb zurück. Im Vorbeifahren hörte ich in dem einen oder anderen Zuckerrohrfeld das ihm eigene Geräusch eines herannahenden Regengusses. Zuckerrohrfelder, Seen des Unheils für so viele! Der pelzige Samen trieb aus, genährt vom Schweiß der armseligen Sklaven. Die Ebene ist erobert: Man hört den wilden Galopp des Elends. Er fegt alles hinweg: Men-

117 schenleben, Bäume, den Stolz der Insel. Wo, wo nur wird man Zuflucht finden? In den Bergen? Der letzte Indio floh auf den Yunque, und dort starb er mit seinen Göttern. Wir müssen uns aufmachen in die Berge, tapfer gegen die Axt, gegen die Stürme, gegen die Invasoren kämpfen. Wir dürfen nicht zulassen, daß unsere Menschen und unsere Götter sterben. Es ist höchste Zeit, daß wir allen Feinden Widerstand leisten, daß wir in den Bergen Kraft schöpfen, um dann hinunterzuziehen und die Küstenebene zurückzuerobern. Dafür bedarf es eines unbeugsamen Willens; ein verwegenes Verlangen nach Rückeroberung muß unser Antrieb sein. Was mich betrifft, so glaube ich, daß ich schon auf dem Weg der Rückkehr bin. Mein Leben ist an diese Landschaft gebunden; was ich jetzt brauche, ist die nötige Kraft, um in Aktion zu treten. Darauf arbeite ich hin. Jeder Hügel, jeder Bukarebaum, jede Guamafrucht, jedes „Fleckchen Erde" bietet sich mir als Verbündeter an! Aus meinen rankenden Pflanzen werde ich einen starken Strick knüpfen, mit dem ich meine Feinde erdrossle, die Feinde der Heimat. Meine Berge, in euch werde ich mich zurückziehen, und von euren blauen oder grünen Gipfeln aus werde ich die ruchlosen Feinde belauern. Ich werde kämpfen, mutig und unerschrocken wie ein heidnischer Gott. Ihr stolzen Berge, die ihr von allen Schurken bedroht werdet, ihr erhabenen Berge, die ihr vom Himmel trinkt: ihr, die ihr einladet, die Sterne zu berühren, zu euch kehre ich mit Leib und Seele zurück! Ich will nicht, daß man mich des Verrats beschuldigt. Dich lasse ich zurück, besiegte Ebene, gefesselt durch die Wurzeln des Zuckerrohrs. (Das Zuckerrohr - der Feind des kleinen Stückchen Landes, der Erzfeind des jibaro.) Die unermeßliche Freude über meine Rückkehr überwältigt mich. Meine Seele blüht auf bei dem Gedanken an die Rückkehr zu dem, was mein ist... Übersetzt von Sabine Bersch und Dagmar Bouzida

Luis Palés Matos (1898-1959) Journalist und Lyriker; aufgrund finanzieller Not mit 16 Jahren zum Schulabbruch gezwungen; übte verschiedene untergeordnete Tätigkeiten aus, bis er sich als Journalist etablieren konnte; vorübergehend politisch aktiv, bekleidete diverse öffentliche Ämter; bekannte sich stets als indipendentista, auch wenn er sich keiner die Unabhängigkeit vertretenden Partei anschloß. Seinen ersten Gedichtband, verfaßt unter dem Einfluß des Modemismus, veröffentlichte Palés Matos bereits mit 17 Jahren, um dann in der Folgezeit seine Gedichte zunächst nur in Zeitschriften zu publizieren. Zu Beginn der 20er Jahre propagierte er zusammen mit José Isaac de Diego Padró den „Diepalismo", eines der vielen in jener Zeit entwickelten, kurzlebigen avantgardistischen Konzepte, dessen Rekurs auf originelle onomatopoetische Klangfiguren jedoch in den späteren, seinen Ruhm begründenden Gedichten überdauerte. Mit der Veröffentlichung des Gedichts „Pueblo negro" 1926 initiierte Palés Matos jene Phase seines dichterischen Schaffens, zusammengefaßt in dem Band Tuntún de pasa y ¡jifería, die ihm neben dem Kubaner Nicolás Guillén als dem zweiten herausragenden Vertreter der „poesia negra" oder „poesía afroantillana" im karibischen Raum internationale Anerkennung verschaffen sollte. Seine Themen — konzentriert in häufig unbedeutend erscheinenden Anekdoten des Alltags, gelegentlich auch politisch motiviert in engagiert anti-amerikanischer Perspektive - sind die Psychologie, die Lebensweise und die afrikanisch geprägten Traditionen der Schwarzen und Mulatten inmitten der tropischen Landschaft. Besonders faszinierend sind seine Gedichte durch die suggestive, alle Sinne ansprechende Plastizität des Ausdrucks und eine Musikalität der Phrasierung, die in hohem Maße auf afroamerikanische Rhythmen zurückgreift. Gelegentlich wurde Palés Matos von der Kritik vorgeworfen, daß er (im Gegensatz zu Nicolás Guillén) als Weißer die Lebenswelt der Farbigen aus der Außenperspektive betrachte und von ihr kein authentisches, sondern nur ein (den weißen Leser) exotisch anmutendes und folklorisierendes, überdies die Frau - insbesondere in der namenlosen Gestalt der mulata — auf ihre erotische Attraktivität reduzierendes Bild vermittle. Im puertoricanischen Kontext gilt eine solche Kritik jedoch als Sakrileg; und so fühlte sich die anerkannte und vielfach geehrte Literaturkritikerin Margot Arce de Vázquez denn auch veranlaßt, diesbezügliche kritische Anmerkungen in einem Artikel mit dem Titel „Rectificaciones" („Berichtigungen") zurückzunehmen (M.A.V.: Impresiones. Notas puertorriqueñas. San Juan: Editorial Yaurel 1950).

120 Werke (Auswahl): Abaleas (1915); Tuntún de pasa y grifería. Poemas afroantillanos (1937); Litoral (Reseña de una vida inútil) (Romanfragment; 1949); Poesía completa y prosa selecta (Caracas: Biblioteca Ayacucho 1978); La poesía de L.P.M. (San Juan: Editorial de la Universidad de Puerto Rico 1995). Der abgedruckte Text, „Plena del menéalo" in der Originalfassung — „Plena" bezeichnet einen volkstümlichen Tanz —, erschien zuerst 1953 in der Zeitschrift Prieto y puya und wurde danach in die Sammlung Tuntún de pasa y ¿jifería aufgenommen. Unter den zum Teil fehlerhaften Fassungen wurde sich ftir die in der modernen Ausgabe von Tuntún de pasa y grifería (San Juan: Instituto de Cultura Puertorriqueña/Editorial de la Universidad de Puerto Rico 21994, S. 211 ff.) enthaltene Version entschieden. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Clara Eugenia LópezBaralt und Ana Mercedes Palés.

Schwing die Hüften (Plena) Aufruhr von Wind und Wasser... Auf dem Meer tanzt die Antilla — hin und her die Hüften, schwing sie hin und her — im Wirbelwind. Die Melasse rinnt ihr unter dem Rock aus Zuckerrohr; im Rumbarausch erbeben ihre Brüste aus Kokospalmen, und wie ein schwingender Mixbecher bereiten die Hüften, hin und her, dem fremden Schlund den wilden Punsch aus Rum mit Myrte und Kräutern. Ach, meine Antilla steht in Flammen! Ach, mulata, ich vergehe!

121 Schwing dein Heck, mein Mädchen, und laß dein Schiff erzittern vom Mast bis zum Kiel, vom Kiel bis zum Mast. Bring dein Heck auf Kurs, auf den schmeichelnden Kurs der Rumba. Oh, wie dein Rauschen rauscht — Brausen im Wirbelwind —, wenn du stürmst und stampfst, bomba, candombe, macumba1, wenn der Chango2 als Murnbo Jumbo* dich betört und berauscht! Wie es rauscht! Und wie sie rasen, wenn du weise plötzlich, mir nichts dir nichts, die kalte Schulter zeigst und alle Welt wie von Sinnen ist, versunken in dein schwingendes Auf und Ab. Ach, wie sie rasen! Flamme aus Rum dein Haar. Tropfender Honig färbt dich goldbraun. Aal in den Wassern der Plena, setz auf deine klingenden Münzen, die sie dir nehmen und dir stehlen... Wie ärgerlich sind ihnen doch deine Paraden! Ja, wie ärgerlich sie doch sind! In der schnellen Bewegung entfaltet sich dein Rock wie ein Segel im Wind. 1

Afro-amerikanische Tänze (hier und im folgenden, wenn nicht anders vermerkt, Anm. d. Übers.) 2 Afro-amerikanische Gottheit 3 Aus dem Englischen übernommener Begriff für Schutzgeist

122 Dein Hinterteil ist das Steuer, dein Busen die Galions figur. Auf geht's, Seglerin der Meere, durchfahren wir diesen Zyklon! Von deiner geschickten Steuerung hängt dein Überleben ab. Auf zum Tanz! Schwing dein Heck gleich der kühnen Parade des feurigen Torero; er sage zu dem fremden Stier, wenn seine Nüstern deinen heißen Körper wittern: „Nacarile, nacarile, nacarile del Oriente." 4 Schwing dein Heck und tanze, denn dieses Tanzen rettet dich vor dem musiuder auf der anderen Seite des Meeres wacht. Dein glatter Bauch wiege sich goldbraun im Zuckerrohr; im Aufwallen des Windes entblöße dein Palmenwald Beine; deine Salben erfülle der Duft der Blüten des Kaffeestrauchs; entfache einen wilden Aufruhr im Hinterhof der Tropen, und es lade ein zum Schnuppern deine Achsel aus Tabakpflanzen. Solange du tanzt, kann niemand dir Seele und Würze nehmen.

4 Eine deutliche und feierliche Verneinung beinhaltender puertoricanischer Kinderreim 5 Für frz. „Monsieur" (Verweis auf den europäischen Kolonialismus)

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Weder die agapitofi hier noch die misters dort. Schwing dein Heck, mulata, bewahr für die Ewigkeit diesen Schwung der Hüften, Windstoß des Wirbelsturms, und schwing sie hin und her, her und hin, die Hüften, und schwing sie und schwing sie, daß Onkel Sam in Wut gerät! Übersetzt von Stephanie Hoffmann und Martin Richter

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Bezieht sich auf eine Bar in den Bergen mit dem Namen „Agapito's Bar". Agapito steht als Symbol für die amerikanisierten Puertoricaner. (Anm. d. Hrsg. des Herkunftsbandes)

Pedro Albizu Campos (1891-1965) Jurastudium an der Harvard University, als Politiker seit Beginn der 30er Jahre über drei Jahrzehnte durch sein dezidiertes Eintreten für die Unabhängigkeit Puerto Ricos und seine kompromißlose Haltung gegenüber der kolonialen Politik der Vereinigten Staaten eine in der puertoricanischen Öffentlichkeit dominierende Gestalt und bis heute Symbolfigur der independentistas. 1930 zum Vorsitzenden des Partido Naäonaästa de Puerto Rico gewählt, versuchte Albizu seine politischen Ziele zunächst auf verfassungsmäßigem Wege zu erreichen; doch nach dem Wahldebakel der naäonalistas 1932 erfolgte eine zunehmende Radikalisierung der Bewegung, die schließlich auch die Möglichkeit des bewaffneten Kampfes in Erwägung zog. Infolge des Attentats auf den Polizeichef von Puerto Rico, Colonel Riggs, 1936, wurde Albizu in einem eindeutig politischen Prozeß als vorgeblicher Anstifter zum Sturz der Regierung zu einer 10jährigen Haftstrafe verurteilt. 1943 wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen, durfte jedoch erst 1947 nach Puerto Rico zurückkehren. Nach der „Revolution von 1950" wurde er erneut verhaftet und 1951 zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, 1953 jedoch aus Krankheitsgründen begnadigt, um ein Jahr später erneut inhaftiert und verurteilt zu werden, nachdem er bewaffnete Aktivitäten von nacionalistas öffentlich gerechtfertigt hatte. 1965 wurde er schließlich kurz vor seinem Tod als bereits schwerkranker Mann auf freien Fuß gesetzt. Albizu, der insgesamt über zwei Jahrzehnte in US-amerikanischen Gefängnissen zubrachte, hat gewiß in der politischen Praxis keine einschneidenden Veränderungen bewirkt, doch hat er aufgrund seiner charismatischen Persönlichkeit und seiner rhetorisch geschickten Agitation im öffentlichen Bewußtsein die Unabhängigkeit zumindest vorübergehend als mögjiche Alternative verankert. Er teilte die Vision der „Generación del 30", die hinsichtlich der kulturellen Identität Puerto Ricos ausschließlich auf das spanische Erbe fixiert war. Aber es waren weniger seine diesbezüglichen, eine rassisch diskriminatorische Komponente beinhaltenden Ausführungen, die seine Anhänger überzeugten, als vielmehr die vehement vorgetragene Demaskierung des US-amerikanischen Kolonialismus ebenso wie der politischen Praxis in Puerto Rico selbst. Die Reden und Aufsätze Albizus wurden erst nach seinem Tod in Sammelbänden publiziert. Die hier abgedruckte Rede von 1949, in der er sowohl die US-amerikanische Administration als auch Luis Muñoz Marín und seine Partei der populares direkt angreift, wurde zusammen mit elf weiteren, zwischen 1948 und 1950 gehaltenen Reden, die von Polizeikräften heimlich mitstenographiert worden waren, in dem gegen Albizu 1951 angestrengten Verfahren als Belastungsmaterial vorgelegt,

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da sie, so die Anklage, die gewaltsamen Aktionen vom 30. Oktober 1950 provoziert hätten. Werkausgaben: P.A.C.: La contienda national puertorriqueña (hrsg. von M. Maldonado-Denis). México: Siglo Veintiuno Editores 1972; P.A.C.: Obras escogidas: 1923 - 1936 (hrsg. von J. B. Torres). Bd. I: San Juan: Editorial Jelofe 1975; Yvonne Acosta: La palabra como debió. Los discursos por los que condenaron a Pedro Albi^u Campos. 1948 - 1950. Río Piedras: Editorial Cultural 1993. Der abgedruckte Text ist der von Yvonne Acosta herausgegebenen Sammlung entnommen; offensichtliche Fehler in der Mitschrift des Stenographen sowie Hinweise auf Reaktionen des Publikums wurden korrigiert bzw. ausgelassen. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Yvonne Acosta.

Rede, gehalten am 18. Dezember 1949 auf dem Parteitag des Partido Nacionalista de Puerto Rico in Arecibo In einem Leitartikel protestiert El Imparäal dagegen, wie auf unerhörte Weise über unsere nationalen Reichtümer verfugt wird. Jeder, der etwas genauer eine Landkarte von Puerto Rico studiert, die in den Vereinigten Staaten erstellt wurde - alle Landkarten, welche die Vereinigten Staaten von Puerto Rico erstellen, sind offizielle Karten der US-amerikanischen Regierung - , entdeckt die sogenannten nationalen Schutzzonen, von denen einige Tausende von Hektar Land umfassen, die von den Streitkräften der Vereinigten Staaten beschlagnahmt wurden und die ihnen als Operationsbasis gegen Puerto Rico und gegen die ganze Welt dienen. Und er wird außerdem entdecken, daß das gesamte Landesinnere von Puerto Rico ein Wald ist. Hört genau hin: Luquillo ist ein Wald, Rio Grande ist ein Wald, fast ganz Caguas ist ein Wald, ganz Cayey ist ein Wald. Alles ist ein Wald, bis ganz in den Westen, bis nach Las Marias, Maricao, einfach alles. Das gesamte Landesinnere von Puerto Rico, Jayuya, Utuado, Adjuntas, der Norden von Ponce, praktisch das ganze nationale Territorium mit Ausnahme der Küste, die mit Zuckerrohr bepflanzt ist, ist ein nationales Waldgebiet, das heißt national in dem Sinne, daß es den Vereinigten Staaten von Amerika gehört. Dieses Wort „national" erscheint beständig in der korrumpierten Presse Puerto Ri-

127 cos, und es bezieht sich nie auf die puertoricanische Nation. Es bezieht sich auf die Nation der Vereinigten Staaten, auf die Feinde Puerto Ricos. Auch das Wort „Nation" erscheint fortwährend in der gekauften Presse Puerto Ricos. Nun, das ganze Gebiet von Puerto Rico, das Zentrum, seine Ausläufer entlang der gesamten Küste, wird als „Karibischer Forst" bezeichnet. Das sagen die offiziellen Karten der Regierung von Puerto Rico, das heißt: der Vereinigten Staaten über Puerto Rico. Die Puertoricaner werden sich wundern, daß die Regierung der Vereinigten Staaten nicht nur in ihrer Eigenschaft als Invasionsmacht, die sich widerrechtlich durch Waffengewalt das nationale Territorium Puerto Ricos angeeignet hat, einen direkten Rechtstitel beansprucht, sondern daß sie sogar einen privatrechtlichen Rechtstitel beansprucht, wonach das gesamte nationale Territorium Puerto Ricos ihr gehört, ihr Eigentum ist. Gemäß dem Forstgesetz — darin geht es um die sogenannten Staats forste in den Vereinigten Staaten - gilt für jedes Stück Land der Vereinigten Staaten, welches als „Staatsforst" bezeichnet wird, daß alles, was man dort anbaut, von der US-amerikanischen Regierung über das Landwirtschaftsministerium bestimmt wird. Dort kann man keinen Schritt tun, nichts bauen, nichts unternehmen ohne die förmliche Zustimmung des Landwirtschaftsministeriums der Vereinigten Staaten. Bäume pflanzen kann man, ja - denn es ist anzunehmen, daß dieses Forstgesetz dazu da ist, einen ausreichenden Baumbestand zu schaffen, um die Erosion nach Bränden zu verhindern, um über eine für die Wirtschaft des Landes notwendige Reserve an Hölzern zu verfügen und um in diesen Wäldern Lebensbedingungen zu schaffen, die mit der Vorstellung übereinstimmen, welche sie sich vom Landleben gemacht haben. Aber in den Vereinigten Staaten zählen zu einem Waldgebiet keine Städte. Es wäre absurd, eine Stadt von amtlicher Seite zu einem Wald zu erklären. Aber Caguas ist ein Wald, Cayey ist ein Wald, Coamo ist ein Wald, Jayuya, Utuado, Comerio, Corozal, Las Marias, Maricao, alles sind Wälder. Das heißt, auf dieser Karte, die von den Vereinigten Staaten weltweit verbreitet wird, ist die Küste einfach ein Zuckerrohrfeld, und das Landesinnere ist ein Wald, der da in diesem Gebiet wächst. Da gibt es natürlich Schlangen, Mäuse und Eichhörnchen, aber Gold gibt es da nicht... An Land gibt es viele Haie, aber das sind keine Tiere, die im Wald vorkommen, sie gehören an die Meeresküste von San Juan. Aber es sind eben Tiere, wilde Tiere — man geht schließlich davon aus, daß es in einem Wald keine Haustiere gibt. Man nimmt nicht an, daß es in einem Wald Kü-

128 he, Schafe, Pferde oder überhaupt ein Haustier gibt, sondern nur wilde Tiere. Man geht nicht davon aus, daß irgendetwas angebaut wird, außer daß Bäume gepflanzt werden. Es ist die Absage an eine reguläre Landwirtschaft. Es ist die Absage an die Zivilisation überhaupt. [...] So also geht es an Land zu. Kommen wir nun zur Situation auf dem Meer, zur Ozeanographie der Regierung der Vereinigten Staaten. Das gesamte Seegebiet ist Eigentum der Regierung der Vereinigten Staaten, die dieses Eigentumsrecht einer von ihr selbst geschaffenen Körperschaft übertragen hat, welche „Regierung von Puerto Rico" oder „Volk von Puerto Rico" heißt: ein Wesen, das ein Hirngespinst ist. Stellen wir uns vor, an einer Straßenecke bricht ein Streit aus, und ein Polizist kommt: „Sie sind verhaftet wegen Störung der öffentlichen Ordnung." Und wer sagt das? „Das Volk von Puerto Rico." Und wer ist das Volk von Puerto Rico? Das werdet ihr euch als intelligente Menschen fragen. Das Volk von Puerto Rico sagt also, ich werde hier wegen Störung der öffentlichen Ordnung beschuldigt, aber: Wer ist dieser Herr, das Volk von Puerto Rico? Wo ist das Volk von Puerto Rico? Puerto Rico, das sind wir hier sowie alle Puertoricaner. Aber wir haben mit dieser Regierung nichts zu schaffen und haben in ihr auch nichts zu sagen. „Sie sind verhaftet im Namen des Volkes von Puerto Rico." Man bringt euch vor einen Richter, den Bezirksrichter. Wer sind denn Sie? „Ich bin der Bezirksrichter." Und wer hat Sie ernannt? „Der Gouverneur von Puerto Rico." Und der Gouverneur von Puerto Rico, wer ernennt den? „Eine Verfassung, erlassen durch die Regierung der Vereinigten Staaten." Und wer sind die Vereinigten Staaten, was ist das für ein Reich der Hölle, das hier eine Verfassung oder Unverfassung verfugt, um uns zu regieren? „Ich bin der Richter. Sie sind verhaftet. Ich handle im Namen des Präsidenten der Vereinigten Staaten." Jeder Richter hier handelt im Namen des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Der Bezirksrichter von Arecibo handelt hier nicht in Vertretung der sogenannten insularen Regierung, er handelt im Namen des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Der Bezirksrichter von Arecibo handelt nicht im Namen irgendeiner politischen Gewalt Puerto Ricos. Er handelt im Namen des Präsidenten der Vereinigten Staaten, und das Oberste Gericht von Puerto Rico, das in Puerta de Tierra [San Juan] tagt und seinen Namen nicht verdient, handelt im Namen des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Und wer sind die Vereinigten Staaten oder der Präsident der Vereinigten Staaten? Wer in Puerto Rico hat ihn gewählt, wer hat ihn ernannt, wer hat ihn gewollt? Es hat ganz den Anschein, als

129 würden wir hier von Geistern regiert. Regiert von unsichtbaren Wesen, von Geistern der übelsten Sorte, nichtswürdigen Geistern, teuflischen Seelen, denn alles, was sie tun, ist, Puerto Rico zu schaden. Also verhaftet dieser Polizist euch und bringt euch vor diesen Richter. Der übt seine Amtsgewalt im Namen einer fremden Macht aus. Sie verwenden den geheiligten Namen Puerto Ricos, aber es heißt nicht die „Nation" Puerto Rico, sondern das „Volk von Puerto Rico": eine Körperschaft, die vom Kongreß der Vereinigten Staaten per Gesetz geschaffen wurde, um Puerto Rico auszubeuten und zu zerstören. [...] Hier gibt es eine Wahl, alle vier Jahre gibt es Wahlen. Hier in Arecibo wählen wir den Bürgermeister von Arecibo, Goitia, alle vier Jahre. Und in Puerta de Tierra gibt es ein Kapital, ein Grabmahl, es sieht aus wie ein Pantheon. Dort versammeln sich alle Toten von Puerto Rico; aber es heißt, dort gäbe es ein Repräsentantenhaus und einen Senat. Wir wissen nicht, was für ein Repräsentantenhaus oder was für ein Senat das ist, aber es heißt „Senat" und „Repräsentantenhaus", und es heißt, daß diese Herren vom gesamten Volk gewählt werden. Wen man unterwirft, muß man eben in seinem Selbstbetrug belassen. Nun, das ist das „Volk von Puerto Rico". Wir erschaffen diese Körperschaft, und wir werden euch diese Chance bieten... Die Yankees sind ganz schön frech! Wenn ein Straßenräuber drüben in New York ein Opfer ausraubt, sagt er: „Hör zu, ich helfe dir, dich von dem Geld zu trennen, das du in der Tasche hast. Rück das Geld raus! Es wiegt schwer in deiner Tasche, und es schadet dir nur, wenn du weiter damit herumläufst. Gib's mir, oder ich bring dich um." Das nennen sie „helfen". Und wenn das Opfer Widerstand leistet, heißt es: „Du mußt kooperieren. Gib mir die Tasche her, sonst bring ich dich um." Das nennen sie „kooperieren": „Du kooperierst, denn sonst bring ich dich um." Er lächelt ihn an: „Gib mir das Geld. Wenn nicht, bring ich dich um. Kooperier, denn es kann dich das Leben kosten, wenn du es nicht tust." Nun, das ist die Pistole, die die Vereinigten Staaten Puerto Rico auf die Brust setzen. Die Wahlen... Die Vereinigten Staaten bilden eine Regierung, die angeführt wird von einem Haufen Männer und Frauen ohne Herz und ohne Seele, unsagbar mutwillig, wobei in ihren Händen die Heilige Schrift zum lehrreichsten Instrument wird, wenn es darum geht, zu morden und zu töten. Wohin sie auch kommen, haben sie die Bibel parat, und im Namen der Bibel töten und morden sie. Wir hier sind gottesfurchtig. Hierher brachten sie die Heilige Schrift, weil einige Protestanten sind, andere sich Katholiken nennen und andere wie-

130 derum Liberale... Dort gibt es niemanden, der konservativ oder reaktionär ist, dort sind alle liberal. Nicht einmal die Schwarzen sind anständig, denn auch sie sind liberal: eine sehr große Liberalität, alle Schwarzen zu lynchen! Eine großartige Liberalität! Ein großartiges Christentum, eine überaus christliche Sache, einen Schwarzen zu lynchen! Wer hat euch gesagt, daß Albizu Campos afrikanisches Blut in seinen Adern hat? Er muß gelyncht werden! Und wer amerikanischer Indianer ist, der muß drüben in einem Bundesreservat leben. Sehr schön, hier haben wir bereits die Reservate, die Staatsforste. So lebt die indianische Rasse drüben in den Vereinigten Staaten. Frauen, Männer und Kinder sind Gefangene. In diesem Moment, in dem ich rede, gibt es 400.000 Nachfahren der indoamerikanischen Rasse, die in den Vereinigten Staaten in den sogenannten Bundesreservaten als Gefangene leben. Männer, Frauen und Kinder. Sollen das doch all diese Schwindler hier bei uns bestreiten! Und wenn wir nicht aufpassen, dann erklären sie uns zu Affen im Staatsforst der Karibik. [...] Machen wir uns doch eines klar: Sie schaffen nicht nur das Fundament dafür, uns vor der Welt unsere nationale Persönlichkeit abzusprechen, sondern auch dafür, uns als Nation auszurotten. Aber ihr werdet sagen: Es gibt hier öffentliche Schulen, oh ja! Höhere Schulen, high schools, jawohl, eine große Universität, stellt euch das vor, in Rio Piedras, mit einem Dekan, Rektoren, all diesen Leuten, die ein hohes Gehalt beziehen und in Palästen leben. Was man noch nicht eingeführt hat, ist ein Schulsystem, das den Menschen von seiner Kategorie als Mensch auf die Stufe eines Tieres, eines Sklaven reduziert. Das, was man in Puerto Rico mit der Universität bezweckt, ist ein Anschlag auf eine ganze Nation als Nation, ein Anschlag auf jeden ihrer Bürger als Mensch. Es ist ein verhängnisvoller Anschlag. Das Kind wird zur Schule geschickt, und es bekommt die nationalen Symbole nie zu Gesicht. Zu den liebenswertesten nationalen Symbolen gehören die drei Könige. Bald ist Weihnachten. Und das wird diesmal ganz anders laufen. Für die Geburt des Jesuskindes und die Weihnachtsgeschenke will man die Kinder jetzt zu Santa Claus nach San Juan bringen, zur Ausstellung von Santa Claus mitten im Schnee. Wir warten alle auf Schneefall in San Juan, und man sagte mir, daß man gestern abend auch Schneefall in Arecibo erwartete, daß es so kalt war, daß man um zwei Uhr morgens auf einen Schneesturm gefaßt war und daß der Parteitag des Partido Nacionalista inmitten eines großen Schneegestöbers stattfinden würde. [...]

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Nicht umsonst hat man diesen karibischen Forst geschaffen, wo man im Gouverneurspalast so viele Tiere auf einem Haufen sieht, so viele dicke Leute, denen weder der Friede noch etwas anderes etwas anhaben kann, diese dicken Männer, gebeugt durch die Korpulenz ihres Rückens, die schon wie Kamele aussehen und nicht umsonst allesamt krank sind. Wenn Truman auch so wird, sind wir ihn schnell wieder los. Truman zwingt man, täglich Sport zu treiben, der arme Alte, der flink laufen soll, mit der ganzen Leibwache hinter ihm her: Lauf, Truman, geh schwimmen, Truman! Paß auf, Truman, wenn du dich betrinkst, kriegst du eine Tracht Prügel! Laß das Saufen, Truman! Iß nicht so viel, mach Gymnastik um 5 Uhr morgens, auf und ab mit Truman! Der arme Alte läuft und läuft und läuft. Auf allen Bildern von ihm sieht man ihn laufen und laufen. Und schwimmen, mit einer Seemannsmütze, die man ihm zuwirft, damit er nicht umkommt, weil sie die Ihren lieben. Er ist verantwortlich für die Verbrechen seines Vaterlandes hier, und er ist in Puerto Rico Angeklagter und Richter zugleich. Aber wir müssen ihm zugute halten, daß er ein Mann von über 70 Jahren ist. Er bemüht sich wahrlich patriotisch, den Seinen zu dienen, seinem Vaterland zu dienen, wo er nur kann. Nun ja, diese ganze Masse von populäres, die sich populär nennen... Ihr wußtet sicher nicht, daß dick sein populär und sehr demokratisch ist, daß man den gewichtigen Schritt einer solchen Fettleibigkeit in den Straßen von San Juan vernimmt. Diese Herren denken an nichts anderes, als daß man ihnen das Gehalt erhöht, daß die Gehälter immer weiter steigen; und je höher das Gehalt steigt, um so höher steigt ihnen der Magen bis zum Hals, und es schnürt ihnen die Stimme ab. Wenn sie normal sind, fühlen sie sich frei, und alle sind normal, die Freiheit ist ein normaler Zustand, und die Sklaverei ist ein anormaler Zustand. Verrückt sein oder degeneriert sein... Ein Verrückter, man kann dabei an einen Esel oder ein Pferd denken, ein stark behaartes Tier oder an einen Degenerierten, der sich für einen Doktor der Philosophie und Geisteswissenschaften hält und den Tod verdient. Aber wenn er normal ist, fühlt er sich frei, wenn er aus seinem für den Menschen normalen Zustand erwacht. Das ist der einzige normale Zustand, den er kennt. Die Yankees ermuntern ihn... Und in dem Maße, wie er dicker wird, wird er stranguliert, und sie müssen ihm keinen Knebel verpassen, denn er knebelt sich selbst. Ihm wächst der Knebel von drinnen nach draußen. Zuerst heißt es: „Ich will die Unabhängigkeit von Puerto Rico. Die Unabhängigkeit Puerto Ricos steht unmittelbar bevor. Ich bin nationalistischer als Albizu Campos." Dann, in dem Maße wie die Fett-

132 leibigkeit zunimmt: „Die Unabhängigkeit soll unmittelbar bevorstehen diese Frage muß diskutiert werden. Seid vorsichtig, die Geheimagenten der Vereinigten Staaten können uns hören, alles hier ist voll von Spionen, die nichts davon mitkriegen dürfen. Das muß man hier geheim in einer Versammlung im Kapitol diskutieren. Paßt auf den amerikanischen Geheimdienst auf, die Polizei soll darüber wachen, daß sich kein Gringo Zutritt verschafft! Paßt auf den amerikanischen Geheimdienst auf, denn diese Leute registrieren genau alles, was wir tun!" Sie täuschen die Yankees, und sie täuschen die Puertoricaner. Und die Yankees schätzen sie. Diesen Typ gibt es auf der ganzen Welt: dick, untersetzt, einer, der sich unbedingt für einen Literaten hält und dabei nichts anderes ist als ein Missetäter oder ein Besserwisser. Diesen Typ gibt es auf der ganzen Welt, und deshalb weiß jeder, daß man ihn umgarnen, ihm schmeicheln und zu ihm sagen muß: „Du bist einfach großartig!" Und der Arme kriegt sich gar nicht wieder ein. Und hier haben wir in Rio Piedras eine Universität, um viele Leute von dieser Sorte zu fabrizieren. Alles ist Massengraduierung, Massenproduktion. Nummer eins, Nummer zwei, Nummer drei, Nummer vier, Nummer fünftausend. Es sind Tausende von akademischen Graden, so viele wie es Zuckersäcke gibt, und alle sind gleich. Es gibt keinen Unterschied, nicht einmal im Geschlecht, alle sind gleich, der gleiche Stuhl, der gleiche Sessel, die gleichen Verhaltensweisen, alles gleich... Alle leiden an Stimmlosigkeit. Und um diese Banditen zu wählen, gibt es alle vier Jahre Wahlen, die die Yankees veranlassen. Und alle vier Jahre schreibt sich die Jugend ins Wahlregister ein, damit die Jugend, wenn sie nun erwachsen ist, sagt, daß sie kein Schamgefühl empfindet, und damit sie dies auch schriftlich niederlegt. Der Jugendliche muß, wenn er 21 ist, um sich ins Wahlregister einzutragen, sagen, daß er ein Bürger Puerto Ricos ist; aber nein, wenn er sagt, daß er ein Bürger Puerto Ricos ist, darf er nicht wählen. Wenn er zu ihnen sagt, daß er ein Bürger Puerto Ricos ist, dann sagen sie: „Sie dürfen nicht wählen." Und warum erlauben euch die Yankees nicht, im Wahlregister auf ein Blatt zu schreiben, daß ihr Puertoricaner seid? Weil die Yankees nämlich die Puertoricaner ausrotten wollen. Und wenn ihr sagt, ihr seid Puertoricaner, dann seid ihr in Puerto Rico ein Niemand. Ihr seid hier geboren, ihr lebt hier, und ihr seid in Puerto Rico ein Niemand. Was sie von euch wollen, ist euer Tod. Sie ersuchen euch um die erstbeste Gelegenheit zu verschwinden: durch eine Impfung, vor Hunger oder durch einen Flugzeugabsturz, aus irgendeinem An-

133 laß, oder indem ihr das Land verlaßt, um drüben in New York zu sterben, und eure Kinder betrachten sie dann als ihren Feind. [...] Wir befinden uns in dem Jahr, das für unsere Geschichte entscheidend sein wird. Diese ganze unermeßliche Arbeit hat viele Opfer und viel Geld gekostet, und es sind die Puertoricaner, von denen die Befreiungsbewegung Puerto Ricos getragen werden muß. Vom Ausland können die Puertoricaner nichts erwarten, und sie können nichts erwarten von ihren Henkern und auch nichts von den degenerierten Puertoricanern. Es geht um die Patrioten Puerto Ricos: Jeder, der in diesem Land geboren ist, hat die Pflicht, mit seinem Leben und seinem Hab und Gut zur Unabhängigkeit Puerto Ricos beizutragen. Ich hoffe, daß niemand versagt. Ihr müßt euch erheben wie eine einzige Seele und ein einziger Körper und die erworbenen Rechte Wirklichkeit werden lassen. Ihr müßt aktiv werden! Ihr müßt aktiv werden wie menschliche Wesen, wie eine zivilisierte Nation, wie eine Nation mit Würde, Mut und Opferbereitschaft. Das ist unser immerwährendes Dilemma, und es ist die Rettung des Vaterlandes. Ich danke euch. Übersetzt von Aurora Gasparrini und Björn Mohns

Vicente Géigel Polanco (1904-1976) Journalist, Lyriker, Jurist, Hochschullehrer und Politiker; noch vor Abschluß seines Jurastudiums 1926 erste Versuche als Dichter im Rahmen verschiedener avantgardistischer Bewegungen; herausragender sind jedoch seine kulturpolitischen Leistungen als Sekretär und Präsident bedeutender Institutionen wie des Ateneo Puertorriqueño und der von ihm gegründeten Academia Puertorriqueña de la Historia. Mit Beginn der 30er Jahre beteiligte sich Géigel Polanco aktiv am politischen Geschehen, indem er zunächst im Partido Liberal innerhalb der für die Unabhängigkeit Puerto Ricos eintretenden Fraktion eine führende Rolle übernahm. Er folgte Luis Muñoz Marin, als dieser 1938 den Partido Popular Democrático gründete, und nachdem die Partei zur dominierenden politischen Kraft aufgestiegen war, übte er über mehr als ein Jahrzehnt innerhalb der insularen Regierung mehrere hohe Ämter aus. Er präsentierte sich stets als independentista, verhielt sich Muñoz Marin gegenüber aber noch loyal, selbst als dieser die Option der Unabhängigkeit längst dem autonomismo geopfert hatte. Erst Anfang der 50er Jahre zog er sich aus dem aktiven Dienst in Regierung und Verwaltung zurück, um sich dem Partido Independentista Puertorriqueño anzuschließen. Géigel Polanco publizierte eine Vielzahl von Artikeln und monographischen Schriften zu juristischen, politischen, soziologischen und pädagogischen Fragen, die allerdings kaum von einer breiteren Öffentlichkeit rezipiert wurden. Eine Ausnahme bildet hier allenfalls der 1972 veröffentlichte Band La farsa del Estado Ubre Asociado, eine vernichtende Kritik am Werk Muñoz Marins, das er in überaus engagierter, auch die persönliche Animosität gegenüber dem einstigen Weggefährten verratender Argumentation und Diktion als „Täuschung, Betrug, Mogelpackung, Fiktion und Falle" und schließlich als eine Farce zu endarven suchte, „die bewußt ersonnen wurde, um sich über das Recht Puerto Ricos auf Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität hinwegzusetzen" (zitiert nach der 2. Auflage [Rio Piedras: Editorial Edil 1981, S. 8f.]). Werke (Auswahl): El problema de Puerto Rico (1940); El despertar de un Pueblo (1942); La independencia de Puerto Rico (1943); La farsa del Estado Libre Asociado (1972); Canto del amor infinito (Lyrik; 1962). Der abgedruckte Text ist der von Reece B. Bothwell González herausgegebenen Anthologie Puerto Rico: Cien años de lucha política. Bd. II: Documentos varios. 1869-1936 (Río Piedras: Editorial Universitaria 1979, S. 583ff.) entnommen. Die Hervorhebungen im Text entsprechen dem Original.

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Brief an Luis Muñoz Marin vom 6. Mai 1936 Sr. Don Luis Muñoz Marin Dupont Circle Washington, D.C. Mein lieber Luis! Es ist für mich ein Gebot meiner aufrichtigen Loyalität Dir gegenüber, Dir angesichts der in Puerto Rico seit der Vorstellung des Tydings-Plans 1 herrschenden Situation diese Zeilen zu schreiben. Wenn gesagt wird, daß im Bewußtsein der Puertoricaner der Wunsch nach Unabhängigkeit auf dramatische Weise zugenommen hat, so entspricht dies einer eindeutigen Tatsache. Es stimmt zwar, daß sich die reaktionären Kräfte und diejenigen, deren Geisteshaltung sich an der Vergangenheit orientiert, in die entgegengesetzte Richtung bewegen, dies mal verdeckt, mal offenkundig; doch entscheidend ist, daß die öffentliche Meinung, die Masse - diese Masse, deren tragisches Schicksal uns so sehr am Herzen liegt — im Sinne eines verstärkten patriotischen Bewußtseins reagiert und ohne Zweifel die Einsetzung einer republikanischen Regierung mit der dezidierten Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage des einzelnen wie des Gemeinwesens verknüpft. Man spürt so etwas wie das Erwachen eines kollektiven Bewußtseins. Es lassen sich unzweifelhaft Signale erkennen, die darauf hindeuten, daß unser Volk seinen traditionellen Pessimismus und seine tiefverwurzelte Gleichgültigkeit gegenüber diesen fundamentalen Fragen abschüttelt und das Gefühl hat, daß in seinem Dasein eine neue Realität Gestalt annimmt. Das Interessante daran ist, daß dies über alle Parteigrenzen hinweg geschieht. Es besteht bei den führenden Köpfen fast aller Gemeinden und be1 1936 legte der einflußreiche demokratische Senator Miliard Tydings dem USamerikanischen Kongreß einen Gesetzentwurf vor, der Puerto Rico über ein Referendum die sofortige Unabhängigkeit zugestehen würde. Nach anfänglicher Zustimmung der fuhrenden politischen Kräfte bildete sich jedoch bald eine breite Front der Ablehnung; denn der von Tydings, einem engen Freund des kurz zuvor von Nationalisten erschossenen Polizeichefs von Puerto Rico, erarbeitete Plan sah eine Ablösung der Insel von den Vereinigten Staaten innerhalb eines Zeitraums von nur vier Jahren vor, was angesichts der totalen Abhängigkeit der einheimischen Wirtschaft von den USA zu einem Desaster hätte fuhren müssen.

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sonders in der Masse das Bedürfiiis, mit dem Rückhalt aller meinungsbildenden Kräfte zwecks Durchsetzung unserer Rechte etwas zu unternehmen, das der Sache auch wirklich dient. In allen Gemeinden erheben sich Stimmen eines aufrichtigen Patriotismus, die ein sofortiges Handeln fordern. Die Bewegung besitzt den überragenden Wert der Spontaneität. Es fehlt aber eine echte Führung, eine angemessene Orientierung. Viele sehen und äußern die Notwendigkeit, aus allen Kräften des Volkes eine Einheitsfront zu bilden, um die sofortige Anerkennung unserer Souveränität zu fordern. Unendlich viele plädieren dafür, daß alle politischen Parteien des Landes einmütig und unverzüglich eine die Republik konstituierende Versammlung einberufen, ohne Tydings-Plan, ohne Volksentscheid, ohne weitere Verzögerung, einzig indem das Volk seine eigene Souveränität ausübt und so die Organe schafft, die notwendig sind, um mit den Vereinigten Staaten die entsprechenden Verträge auszuhandeln. Es besteht die Gefahr, daß diese vitale Volksbewegung scheitert, weil es ihr an einer intelligenten, entschiedenen und dynamischen Führung fehlt. Bislang ist eine solche Führung nicht in Sicht. Im Augenblick tritt als herausragende Figur allein Albizu Campos in Erscheinung, meiner Meinung nach vor allem aufgrund der überaus bedeutenden Rolle, die der Nationalismus anläßlich der jüngsten Ereignisse gespielt hat. Die Führung dieser Bewegung gebührte der Liberalen Partei, sie hätte sie sogar übernehmen müssen. Die Redlichkeit und das Verantwortungsbewußtsein ihrer Männer, ihr starker Einfluß auf die öffendiche Meinung, ihr Programm, das glaubwürdig für die Unabhängigkeit eintritt, und ihr privilegierter Zugang zu den Bundesbehörden sind hinreichende Garantien dafür, daß sie die Führung der Geschicke des Landes in diesem schwierigen Augenblick mit Erfolg übernehmen kann. Ich muß Dir mit aufrichtigem Bedauern sagen, daß - vielleicht aufgrund einer fehlerhaften Interpretation der Tatsachen oder aus Furcht vor späteren Komplikationen, aus Unentschlossenheit oder auch aus einem übermäßigen Streben nach Zurückhaltung heraus - die gegenwärtige Haltung unserer Partei gegenüber dieser bedeutenden Volksbewegung, gegenüber dieser neuen Realität, mit der wir konfrontiert sind, sich im wesentlichen als negativ, steril und untauglich erweist. Wir erscheinen in der Öffentlichkeit als zu konservativ, zu diplomatisch, zu sehr besorgt um das, was Washington sagen oder wünschen könnte. Wir vermitteln den Eindruck, als würden wir dem Begehren des Volkes kein Gehör schenken, das angesichts der von der US-

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amerikanischen Regierung erklärten Absicht, unsere Souveränität anzuerkennen, falls das Volk von Puerto Rico sie annehmen will, sofortiges Handeln fordert. Unsere Partei ist in erster Linie dem Volk verpflichtet. Wenn sie es nicht versteht, sich zum Sprachrohr und Mentor der Massen zu machen, besonders in diesem Augenblick größter historischer Verantwortung, läuft sie Gefahr, daß die Massen ihr den Rücken kehren und anderen Männern oder anderen Parteien folgen, die ihr innerstes Streben treffender und überzeugender zu interpretieren wissen. Eine politische Partei ist weder eine diplomatische Vertretung noch ein bloßes Instrument, um Wahlen zu gewinnen. In den üblichen Zeiten kolonialpolitischer Machenschaften können sich die Parteien im allgemeinen in jede Richtung bewegen; wenn aber die Menschen spüren, daß ihre ureigene Zukunft grundlegend zur Diskussion steht, ist es notwendig, daß die Führer die tatsächliche Meinung der Massen ergründen und daß ihre Handlungsweise dem Auftrag des Volkswillens entspricht. Meiner Meinung nach erfüllt die Liberale Partei im Augenblick nicht die unabweisbare moralische Pflicht, in glaubhafter Weise auf die öffentliche Meinung einzuwirken und die Führung der Unabhängigkeitsbewegung zu übernehmen. Die Resolution, die, sehr zögerlich, entsprechend Deinen Anweisungen von der Generalversammlung verabschiedet wurde, ist nach meiner bescheidenen Meinung nicht das, was der Ernst der augenblicklichen Situation erfordert. Ich fühlte mich moralisch verpflichtet, sie im Resolutionskomitee zu bekämpfen, und danach erklärte ich meine Position in der Form, in der sie in dem beigefügten Papier erscheint. Ich sehe die Situation folgendermaßen: Ich glaube, daß unsere Partei sich an die Spitze dieser Volksbewegung stellen und sich für die sofortige Bildung einer Einheitsfront aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte des Landes einsetzen sollte. Diese sollte dann so schnell wie möglich die Einberufung der Konstituierenden Versammlung der Republik Puerto Rico in die Wege leiten. Von nun an muß man beharrlich und gezielt auf die öffendiche Meinung innerhalb und außerhalb Puerto Ricos einwirken, und es müssen zu Propagandazwecken Abordnungen ins Ausland entsandt werden. Dich muß man ausdrücklich dazu ermächtigen, Deine Gespräche in Washington in dem diplomatischen Umfeld, in dem Du Dich schon seit längerem bewegst, fortzufuhren, und Dir so Rückhalt geben für einen größtmöglichen Erfolg Deiner Arbeit. Und diese muß im Sinne ebender Agitation für die Unabhängigkeit erfolgen, welche die Insel von einem Ende zum anderen

139 aufrütteln soll und mit einer Ausweitung der Propaganda auf die Vereinigten Staaten, Spanien und Lateinamerika einhergehen muß. Ich bin überzeugt, daß mit einer solchen Strategie des offenen Kampfes für die Republik die Partei, das Ideal der Unabhängigkeit und das Land viel gewinnen werden. Ich habe den geheimen Verdacht, daß der Tydings-Plan ein „ B l u f f ist und daß er nicht die erforderliche Mehrheit finden wird. Vielleicht wird er nicht einmal während der laufenden Sitzungsperiode des Kongresses behandelt werden. Ich vermute, daß all dies ein auf Ressentiments beruhendes Produkt des bösen Willens ist, das darauf abzielt, das puertoricanische Volk in eine Lage zu versetzen, in der es die Unabhängigkeit ablehnen muß und dadurch vor der ganzen Welt gedemütigt würde. Unter diesen Gegebenheiten dürfen wir eine solche Demütigung nicht hinnehmen. Wir müssen mit Würde antworten, indem wir dem „ B l u f f , dem Ressentiment, dem bösen Willen, der beabsichtigten Demütigung in einer Einheitsfront, die sich der Unabhängigkeit verschreibt, die Stirn bieten. Mit diesem „ B l u f f ist die Regierung der Vereinigten Staaten vor der Welt eine ernstzunehmende Verpflichtung eingegangen. Und ich wage folgendes zu behaupten: Würden wir in einer von uns selbst und ohne Rekurs auf irgendein Bundesgesetz einberufenen, die Republik konstituierenden Versammlung unsere Unabhängigkeit erklären, dann würden die Vereinigten Staaten unseren Willen respektieren und hätten keine andere vernünftige Wahl, als unsere Unabhängigkeit anzuerkennen. Wenn wir über den entsprechenden Willen, über Opferbereitschaft, Mut, eine staatsbürgerliche Gesinnung und Vertrauen in uns selbst verfügen, wird der Sieg unser sein. Deine Verantwortung in dieser Stunde ist ungeheuer groß. Du bist gegenwärtig der Führer, der am besten über das Land Bescheid weiß, derjenige, der die weitreichendste Vision besitzt und in der öffentlichen Meinung über den stärksten Rückhalt verfugt. Ein Wort von Dir genügt, um die fatale Lage, in der sich unsere Partei befindet, zu beheben und die Protestbewegung in Bahnen zu lenken, die dazu führen, daß wir entschlossen auftreten, eindeutige Forderungen stellen und dem Land die Organisation geben, welche die Realität verlangt. Glücklicherweise orientieren sich Barcelo und die übrigen Führer vorbehaltlos an Deinen Anschauungen. Gebe Gott, daß dies immer so bleibt! Deine Reaktion auf die letzten Ereignisse entsprechen allesamt der geschickten und umsichtigen Politik, die in Washington verfolgt werden muß. Ich glaube aber, daß dies nicht die Politik ist, welche die Partei in Puerto Ri-

140 co verfolgen sollte. Dein diplomatisches Vorgehen ist in Washington sehr wohl angebracht, aber die Partei, die ein Sprachrohr der öffentlichen Meinung ist und gesellschaftliche Kräfte repräsentiert, die sich nach Freiheit sehnen, kann und darf nicht auf derselben Ebene der Diplomatie agieren wie der Führer, der in Washington mit der Interventionsmacht die Vorbedingungen für den künftigen Vertrag aushandelt. Die Führer hier haben Deine Empfehlungen in dem Sinne interpretiert, daß die Begeisterung der Massen gedämpft und die Forderung nach sofortigem Handeln, die in allen Sektoren der Bevölkerung erhoben wird, unterbunden werden soll. Wenn wir diese Position beibehalten, werden wir endgültig die Führungsrolle verlieren, die unserer Partei von Rechts wegen und zum Wohl der Republik zusteht. Und vielleicht wird dann auch diese großartige, uns vom Schicksal bescherte Chance verspielt, jetzt unsere eigene Nationalität zu begründen. Die Ehre, diese Bewegung anzuführen, gebührt Dir. Weise sie nicht zurück. Verzeih mir die Offenheit dieses Briefes. Ich wollte klar und ehrlich zu Dir sprechen. Ich setze auf Dich alle meine Hoffnungen und folge dem Gebot der Loyalität, das schließlich darin besteht, Dir alles zu sagen, was ich denke. Herzlichst, Dein (Unterschrift) Übersetzt von Sibyl Scharrer und Anne Vogt

Luis Muñoz Marín (1898-1980) Journalist, Erzähler und als Politiker — nach seinem Vater Luis Muñoz Rivera — die einflußreichste politische Persönlichkeit Puerto Ricos in diesem Jahrhundert; verbrachte, bedingt durch familiäre Umstände, einen Großteil seiner Kindheit und Jugend in den Vereinigten Staaten, wo er das Studium der Rechtswissenschaften aufnahm, jedoch zugunsten seiner journalistischen und literarischen Betätigung aufgab. Nach dem Tod des Vaters 1916 schien es zunächst, als würde der Sohn innerhalb der mehrheitlich für die Autonomie eintretenden Unión das väterliche Erbe und damit auch eine aussichtsreiche Parteikarriere antreten. Doch die ideologische Entwicklung Muñoz Marins sollte keineswegs so geradlinig verlaufen wie die Muñoz Riveras. 1920 trennte er sich von der Unión, um sich in den Dienst der Sozialistischen Partei zu stellen, als deren Wahlkämpfer er radikal-sozialistisches Gedankengutpropagierte—eine Position, die er in der politischen Auseinandersetzung bald wieder aufgab, die aber in Ansätzen in seinem (bescheidenen) literarischen Œuvre eine Entsprechung findet und, wenn auch in der Radikalität nicht vergleichbar, in seinen späteren Reformprogrammen wiederkehrt. Die 20er Jahre verbrachte Muñoz Marín vorwiegend in New York; erst Anfang der 30er Jahre kehrte er endgültig nach Puerto Rico zurück. Mit der von seinem Vater gegründeten Unión hatte er sich mitderweile wieder ausgesöhnt, doch mochte er sich hinsichtlich der eigenen ideologischen Positionen zunächst noch nicht festlegen, so daß er als erklärter „radikaler Nationalist" und „Sozialist" auch von den anderen Parteien umworben wurde. Es stellte sich aber sehr bald heraus, daß die Unión (zumindest vorerst) für Muñoz Marín die geeignetste Plattform war, die ihm entsprechend seiner aktuellen Position zur Status-Frage - und ausgestattet mit dem Prestige des väterlichen Namens - die angestrebte politische Karriere eröffnen würde. Innerhalb der Partei gehörte er zunächst jenem Flügel an, der dezidiert für die Unabhängigkeit eintrat; doch wurde spätestens seit dem Amtsantritt des US-amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt 1932 deutlich, daß Muñoz Marin seine stets gepflegten vorzüglichen Beziehungen zur US-amerikanischen Administration in Washington nutzen könnte, um im Rahmen von Roosevelts Reformprogramm des New Deal eine Annäherung an die Vereinigten Staaten anzustreben, womit zweifellos in der Status-Frage eine Absage an die einst geforderte Unabhängigkeit erfolgen würde. Nachdem Muñoz Marin aufgrund parteiinterner Querelen 1938 eine eigene Partei, den Partido Popular Democrático, gegründet hatte, stellte er die Status-Frage — und damit auch seinen Einsatz für die Unabhängigkeit — zugunsten eines wirtschaftlichen und sozialen Reformprogramms zurück, das ihm 1940 den Wahlsieg bescherte. Bis 1968 sollte der Partido Popular Democrático die im Lande entscheidende politische Kraft: bleiben; Muñoz Marín selbst, der sich mit der 1952 erfolgten Einsetzung des Estado Libre Asociado in der Status-Frage entsprechend dem Vermächt-

142 nis des Vaters schließlich gegen die Unabhängigkeit und für die Autonomie entschieden hatte, zog sich 1964 — nach 16 Jahren im Amt des Gouverneurs — aus seinen Führungspositionen zurück, verzichtete allerdings auch weiterhin, bis zu seinem Tod, nicht darauf, in entscheidenden Fragen seinen Einfluß geltend zu machen. Werke (Auswahl): Borrones (Erzählungen, Theater; 1917); Memorias. Autobiografía publica (1982, 1992. 2 Bände); La historia del Partido Popular Democrático (1984). Der in Auszügen abgedruckte Text erschien in El Mundo vom 25. 6. 1936. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der „Fundación Luis Muñoz Marín".

Manifest Luis Muñoz Manns an die Puertoricaner vom 25. Juni 1936 Liebe Landsleute: Das öffentliche Leben in Puerto Rico erscheint mir zur Zeit wie ein Kind, das sich mit Begeisterung, Hingabe und Ausdauer seinem Spielzeug widmet, während sein Heim Risse bekommt und einzustürzen droht, während seine Familie verzweifelt und auseinanderbricht. Plötzlich kracht es im Gebälk, und das Spielzeug verwandelt sich auf geheimnisvolle Weise in real existierende Dinge: Die Spielzeuglokomotive verwandelt sich in eine riesige echte Lokomotive, die fahrbereit unter Dampf steht. Und die Hand des Kindes liegt am Ventil. Wir - alle in der Politik, der Wirtschaft und der Kultur führenden Köpfe Puerto Ricos - sind dieses Kind; unsere Hand liegt am Ventil. Und die Lokomotive ist kein aufziehbares Spielzeug mehr, sondern aus Stahl, und in ihr steckt die nicht zu bremsende Zugkraft, die in die Zukunft führt — zu dem hell erleuchteten Horizont der Zukunft oder gegen die erste Mauer, die dazu taugt, eine Lokomotive zerschellen zu lassen... Eine abrupt geführte Hand, Produkt eines historischen Prozesses und gegenwärtiger Umstände, versetzte uns einen plötzlichen Stoß, ließ unseren Blick kreisen und zwang uns, dem Schicksal ins Antlitz zu sehen. Was sollen wir tun? Es gibt nur eine Antwort. Wir müssen erwachsen werden. Wir müssen schnell erwachsen werden. Wir müssen unverzüglich

143 erwachsen werden. Wir müssen noch heute erwachsen werden. Und das ist nicht unmöglich. E s ist nicht einmal schwierig. Mehr noch: E s ist praktisch unumgänglich, daß wir erwachsen werden. [...] Wir waren eine Kolonie. Historisch gesehen, ist es ganz natürlich, daß wir es waren. Aber es war, historisch gesehen, auch absolut unumgänglich, daß wir als das Volk, das wir sind, einmal aufhören würden, eine Kolonie zu sein. Der Zeitpunkt der Umwandlung hätte früher kommen können, oder er hätte auch später kommen können. Aber weder sehr viel früher noch sehr viel später. Aufgrund unserer Entwicklung als Volk ist sie in jeder Hinsicht folgerichtig. Da der Zeitpunkt gekommen ist und da er plötzlich gekommen ist, stehen wir nun vor dem Problem, wie wir aufhören können, eine Kolonie zu sein unter Bedingungen, die unserer Nation den größten Zusammenhalt, den höchsten Entwicklungsstand, den würdevollsten Frieden und die wahrhaftigste Gerechtigkeit garantieren. Deshalb wiederhole ich, daß wir erwachsen werden müssen, und zwar noch heute. Was haben wir als erstes, und zwar unverzüglich, zu tun, damit wir erwachsen werden? Als erstes gilt, daß wir die Wahrheit, die wir so oft zu sagen wußten, auch zu hören imstande sind. Fast alle Menschen sind gelegendich imstande, die Wahrheit zu sagen. Nur wenige sind imstande, sie zu hören, außer unter den ganz freien Völkern. Wir müssen ein von Grund auf freies Volk werden. Die allererste Wahrheit ist meiner Meinung nach, daß unser staatsbürgerliches Bewußtsein unserem Patriotismus nicht entspricht. Unsere patriotischen Empfindungen sind sehr viel stärker als unser staatsbürgerliches Verantwortungsgefühl. Um erwachsen zu werden, ist es unumgänglich, daß das nüchterne Verantwortungsbewußtsein als Staatsbürger genauso stark wird wie die gefühlsbetonte Empfindung des Patriotismus. [...] Die zweite Wahrheit, die in Puerto Rico direkt auf die erste folgt, besagt, daß kein Land, das über ein anderes regiert, dies auf Dauer zum Wohl des regierten Landes tut. E s mag Momente geben, wie dies gegenwärtig in den Vereinigten Staaten der Fall ist, da man sich aufrichtig bemüht, dem regierten Land Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; aber dies sind Momente, die den historischen Prozeß in seiner Gesamtheit nicht tangieren, Zufälle, ein glückliches Zusammentreffen von Umständen, die wirkungsvoll sein können, solange sie andauern, die aber nie von langer Dauer sind. [...] Und so sehen wir uns heute mit unserer Bestimmung konfrontiert, mit der unvermeidlichen - wenn denn überhaupt jemand sie vermeiden wollte — Unabhängigkeit.

144 Wenden wir auf Puerto Rico die Worte Shakespeares an, die vor kurzem ein großer Staatsmann der Vereinigten Staaten zitierte, so können, ja, so müssen wir sagen: „Das Vergangene ist Prolog." Es landeten die Karavellen von Kolumbus, Ponce de Leon eroberte und befriedete. Das war Prolog. Die Spanier des 16. Jahrhunderts schufen das Fundament einer Gemeinschaft, die in einer ganzen Neuen Welt isoliert blieb. Und auch das war Prolog. Nur wenig ergiebige Minen wurden ausgebeutet, der Indio wurde zur Zwangsarbeit verpflichtet, die Sklaverei wurde eingeführt, Saatgut wurde in die Erde gebracht, eine Religion wurde eingeführt. Und auch das war Prolog. Die ferne und obskure Vergangenheit lieferte ein Rechtssystem, und aus den Steinbrüchen vor Ort schuf man Befestigungsanlagen. Man kämpfte mit Erfolg gegen andere Rechtssysteme, andere Aussaaten, andere Religionen und andere Rassen, gegen all das, was als Soldat oder Matrose verkleidet war. Und auch das war Prolog. Man pflanzte sich kräftig fort, man schrieb Bücher, man entwickelte das Bewußtsein, ein Volk zu sein. E s gab Proteste, Rebellionen, philosophische Systeme; es entwickelten sich Laster und Tugenden. Und auch das war Prolog. Man wechselte den Besitzer. Und auch das war Prolog. Man gab den Puertoricanem die Gelegenheit, Abgeordnete ohne jede Machtbefugnis zu wählen (die Wahl entsprechend den höchsten Prinzipien der Demokratie, das Fehlen jeglicher Machtbefugnis entsprechend Prinzipien, die von der Demokratie reichlich weit einfernt sind). Und auch das war Prolog. Es wurden in den Vereinigten Staaten wie in Puerto Rico gute und schlechte Gesetze erlassen, einige traten in Kraft, andere nicht. Und auch das war Prolog. Die Zahl der Puertoricaner, die auf demokratischem Weg gewählt werden konnten, ohne je Macht auszuüben, wurde erhöht, und man verlieh ihnen sogar einen Anschein von Macht, indem man ihnen die scheinbare Kontrolle über die Staatsfinanzen übertrug. Und auch das war Prolog. Die scheinbare Kontrolle war das Spielzeug. Kinder spielen nicht nur mit ihrem Spielzeug. Häufig streiten sie sich auch um ihr Spielzeug. Die Puertoricaner kämpften entschlossen für den einzigen Anschein von Macht, den sie besaßen. Und das war ein unheilvoller Prolog. Und weder ich noch irgend jemand, der mich liest, abgesehen vielleicht von der einen oder anderen Ausnahme, ist in diesem Spiel frei von Schuld. Vor über dreißig Jahren kam es anläßlich von Wahlen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Todesfällen. Ich mache niemanden dafür verantwortlich. Der damals auf der einen wie auf der anderen Seite entstandene Haß besteht immer noch, er untergräbt und vergiftet ohne Ansehen der Parteien

145 das öffentliche Leben unseres Volkes. Und auch das war Prolog. [...] All das war Prolog und muß unbedingt als Prolog betrachtet werden. Und der Prolog muß heute sein Ende finden. Heute muß das eigentliche Werk eines bereits gereiften Volkes beginnen, einer Nation, die sich ebenso ihres staatsbürgerlichen wie ihres patriotischen Geistes gewiß ist. Mit Patriotismus und einem ebenso ausgebildeten staatsbürgerlichen Verantwortungsgefühl streben die achtbaren Völker ihrem obersten politischen Ideal der Unabhängigkeit entgegen: ein Ideal, das trotz seiner Erhabenheit unzureichend wäre, würde man sich darauf beschränken, die Unabhängigkeit einfach nur durchzusetzen, statt sie unter Bedingungen durchzusetzen, welche vollauf garantieren, daß diese Unabhängigkeit zu Gerechtigkeit sowie zu einem geordneten öffentlichen Leben führt und daß sie Bestand haben wird. Aber in Puerto Rico ist die Unabhängigkeit schon nicht mehr nur ein Ideal zahlloser Puertoricaner, sondern sie ist die Bestimmung aller Puertoricaner. Ich weiß, daß es Puertoricaner gibt, die die Unabhängigkeit nicht wünschen. Die Zukunft der Unabhängigkeit macht es unbedingt erforderlich, daß selbst dieser Verweigerungshaltung zugestanden wird, zu existieren und unter den Puertoricanem toleriert zu werden. [...] An ebendieser Toleranz, die wir jetzt den Gegnern der Unabhängigkeit entgegenbringen, wird man die Zivilisation, die Kultur, die Demokratie und die Freiheit messen, die wir innerhalb der Republik Puerto Rico genießen werden. So extrem das auch erscheinen mag, aber die Freiheit, in Einklang mit einer Regierung oder einer Mehrheit das Richtige zu vertreten, bedeutet, für sich genommen, nicht viel. Die Freiheit, die eine profunde und dauerhafte Bedeutung besitzt, ist die uneingeschränkte Freiheit, in Opposition zu einer Regierung oder einer Mehrheit einem Irrtum zu erliegen. An die Puertoricaner, die sich möglicherweise in diesem Irrtum befinden, wende ich mich nun mit allem Respekt, indem ich an ihre Intelligenz, an ihr Gewissen und an ihre Redlichkeit appelliere. Die Kolonie kann in Puerto Rico nicht weiterbestehen. Und selbst wenn sie weiterbestehen kann, darf sie nicht weiterbestehen. Was sind die Alternativen zur Kolonie? Bevor wir diese Frage klären, wollen wir definieren, was denn überhaupt eine Kolonie ist. Eine Kolonie ist die Regierung eines Volkes durch ein anderes Volk ohne die Zustimmung oder effektive Beteiligung des regierten Volkes. Eine Kolonie ist das Volk, das von einem anderen mit harter Hand regiert wird. Eine Kolonie ist auch dasjenige Volk, das,

146 auch wenn es gewisse, reale oder scheinbare, Machtbefugnisse besitzt, beständig Gefahr läuft, diese Machtbefugnisse durch eine Entscheidung, durch Willkür oder durch eine Laune der Regierung des anderen Volkes, und das heißt, ohne seine Mitsprache und ohne seine Zustimmung, zu verlieren. [...] Entsprechend einer solchen Definition von Kolonie — und in Anbetracht unseres Schicksals können wir zwecks Definition keine nebensächlichen, sondern nur grundlegende Elemente anführen — bleiben der Kolonie in Puerto Rico nur zwei Alternativen: die Unabhängigkeit und die estadidad, die beide unveräußerliche, unveränderliche und unwiderrufliche Rechte garantieren. Ich bin gegen die estadidad. In der Vergangenheit habe ich bei zahlreichen Anlässen die Ehre gehabt, meinen Landsleuten die lange Liste der Einwände zu präsentieren, die es gegen die estadidad gibt: Einwände wirtschaftlicher, kultureller und spiritueller Natur. Ich glaube nicht, daß es nötig ist, sie zu wiederholen. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat auf unmißverständliche Weise deutlich gemacht, daß aus ihrer Sicht die estadidad für Puerto Rico unmöglich ist. [..] Da nun also die estadidad unmöglich ist, bleibt als einzige Alternative zur Kolonialherrschaft die Unabhängigkeit, sosehr sie auch angezweifelt, sosehr sie auch gefurchtet, sosehr sie auch mißverstanden werden mag. Aber ich möchte in diesem Moment tiefster Aufrichtigkeit nicht den Eindruck erwecken, als wolle ich anderen Vorstellungen, die ein Puertoricaner vertreten mag, ausweichen. Und daher möchte ich - auch wenn das keine Alternative ist — diese vage, sich möglicherweise als Schwindel, möglicherweise aber auch als vorzüglich erweisende, immer aber instabile und ihrem Wesen nach substanzlose Sache erwähnen, die wir hier „Autonomie" nennen. Die Autonomie mag ein Schwindel sein. Das heißt, sie kann eine Regierungsform sein, die ein paar Puertoricanern ein paar zusätzliche Posten mit hochtrabenden Titeln gewährt, ohne daß dadurch die Machtbefugnis der Puertoricaner, ihre Zukunft und die Zukunft ihrer Nachfahren im täglichen Überlebenskampf frei zu gestalten, wesentlich erweitert würden. So kann es zum Beispiel einen gewählten Gouverneur geben, ein ausschließlich aus Einheimischen gebildetes Kabinett, eine ausschließlich im Zuständigkeitsbereich unserer Richter liegende Justiz; und alle diese den Willen des Volkes repräsentierenden Institutionen können vom Veto des Präsidenten der Vereinigten Staaten, des Kongresses der Vereinigten Staaten und des Rechtssystems der Vereinigten Staaten abhängig sein. Ein solches System

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entspräche eindeutig der Gewährung eines weiteren Spielzeugs und würde darauf abzielen, die Kämpfe zwischen den Puertoricanern, den Haß zwischen den Puertoricanern und die Auswirkungen derart leidenschaftlicher Auseinandersetzungen auf die Zukunft unserer Kinder nur noch zu steigern, ohne daß auch nur im Ansatz die Verfügungsgewalt der Puertoricaner über Puerto Rico erweitert werden würde. Das Fazit: Kolonialherrschaft, Haß, Spielzeug, Verlängerung der Phase der Unreife. Andererseits kann eine solche Autonomie von ihrer Form her vorzüglich sein; in ihrem Kern aber bleibt sie überaus gefährlich. Es könnte ja sein, daß der Chef der Exekutive weder dem Veto des Präsidenten noch dem des Kongresses der Vereinigten Staaten unterworfen ist. Es wäre vorstellbar, daß man die Probleme Puerto Ricos lösen könnte ohne Behinderung durch eine Verfassung, die für ein anderes Volk, ein anderes Klima und andere Probleme erarbeitet wurde und folglich für Puerto Rico irrelevant ist. Es könnte auch sein, was man sich immerhin als weit entfernte Möglichkeit vorstellen kann, daß ein solches System, wenn es um Verträge, Zölle, Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung geht, dieselben Machtbefugnisse gewährt wie die Unabhängigkeit. Aber unter der Verfassung der Vereinigten Staaten ist es nun einmal undenkbar, daß derartige Machtbefugnisse unwiderruflich und auf ewig zugestanden werden. Das ist Freiheit an der langen Leine. [...] So weit zur Sichtweise Puerto Ricos. Aus der Sicht der Vereinigten Staaten gilt für jede Form der Autonomie, die sich annehmbar präsentiert, dasselbe wie für die estadidad: Sie ist unmöglich. Unmöglich, weil sie, wenn sie etwas wert ist, effektive Machtbefugnisse gewährt. Sie gewährt diese dem regierten Volk, wobei sich das regierende Volk die volle Verantwortlichkeit vorbehält. Die Vereinigten Staaten sind nicht bereit, anderen Autorität zu gewähren und sich gleichzeitig die Verantwortlichkeit nehmen zu lassen. Und wir sollten uns auch nicht um eine solch demütigende Vereinbarung bemühen, die zu erkennen geben würde, daß wir zwar frei spielen wollen, aber möchten, daß für das Spielzeug, das wir kaputtmachen könnten, jemand anders verantwortlich ist. Auf diese Weise wird man nicht erwachsen. Und wir müssen unbedingt erwachsen werden. [...] Ich glaube, ich kenne die psychologische Ursache, die einige meiner Landsleute dazu bewegen mag, die Autonomie in Erwägung zu ziehen. Zutiefst unzufrieden mit der Kolonie und in großer Angst vor der Unabhängigkeit, suchen sie ehrlich und aufrichtig im Faltenwurf der Autonomie ein

148 anständiges und vielleicht sogar ansehnliches Gewand zu finden, das die Lumpen der Kolonie verdeckt und der Toga der Unabhängigkeit ähnelt. Ihre Angst vor der Unabhängigkeit basiert auf zwei Faktoren: (1) Angst vor dem wirtschaftlichen Ruin und (2) Angst um die öffentliche Ordnung. Die Angst vor dem wirtschaftlichen Ruin gründet sich hauptsächlich auf das Panorama des Schreckens und der Schauermärchen, das der Tydings-Plan den Puertoricanern präsentierte. Wir alle wissen, daß der Tydings-Plan, auch wenn er hinsichtlich der Frage der Unabhängigkeit mühelos eine Mehrheit finden würde, mit Blick auf die in ihm enthaltenen wirtschaftlichen Klauseln niemals gebilligt werden würde. Ich wage zu behaupten, daß er in der Form, in der er vorgelegt wurde, im Senat der Vereinigten Staaten keine zwanzig Stimmen erhalten würde. Warum? Weil die wirtschaftlichen Klauseln des besagten Plans den Vereinigten Staaten ebenso große Verluste verursachen würden wie Puerto Rico. In einem unabhängigen Puerto Rico werden die Vereinigten Staaten immer über einen großen natürlichen Markt verfügen können. Um aber Zugang zu diesem Markt zu finden, werden sie sich unweigerlich gezwungen sehen, als Ausgleich für die Importe unseres Landes die Produkte Puerto Ricos zu akzeptieren. Puerto Rico ist der zweitgrößte Markt der Vereinigten Staaten in Amerika und der achtgrößte in der Welt. Für die Waren, die Puerto Rico nicht zu produzieren imstande ist, können die Vereinigten Staaten auch weiterhin auf Puerto Rico als ihren Absatzmarkt zählen unter der Bedingung, daß sie dafür die puertoricanischen Exportprodukte akzeptieren. Da es in den Vereinigten Staaten Wirtschaftskräfte gibt, die am puertoricanischen Markt interessiert und mit genügend politischer Autorität ausgestattet sind, kann Puerto Rico seine gegenwärtigen Wirtschaftsbeziehungen folglich auch aufrechterhalten. Und darüber hinaus kann Puerto Rico auf seinem eigenen Markt jene Produkte schützen, die das Land selbst hervorbringt, die aber heute in Ermangelung von Schutzzöllen einem ruinösen Wettbewerb ausgesetzt sind. Außerdem kann Puerto Rico internationale Verträge abschließen, die auf Kaffee und jenen anderen Produkten basieren, die, in Puerto Rico produziert, in Verträgen als Faktor im Warenverkehr am angemessensten genutzt werden können. [...] Nach Abwägung all dieser Faktoren und ihrer Gewichtung auf der Grundlage des Wissens, das ich mir über die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Politik in den Vereinigten Staaten erwerben konnte, vertraue ich darauf, daß die Unabhängigkeit auf regulärem Wege erreicht werden kann, eingebettet in wirtschaftliche Vereinbarungen, die für Puerto Rico wie für

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die Vereinigten Staaten gleichermaßen von Vorteil sind. Und schließlich ist da noch etwas, das ungeachtet aller Überlegungen an erster Stelle steht: die unbeugsame moralische Entschlossenheit eines Volkes, keine Kolonie mehr zu sein. [...] Was nun die zweite Besorgnis betrifft, die bei einigen Landsleuten die Unabhängigkeit hervorruft - die Angst vor dem Chaos und der Unterbindung von Freiheiten - , [...] so bin ich fest davon überzeugt, daß man in Puerto Rico unter der Unabhängigkeit ein mindestens ebenso sicheres und ganz gewiß würdevolleres Leben führen kann als unter der Kolonialherrschaft. Ich sage nicht, daß es unbedingt so sein muß. Ich sage, daß es so sein kann. Es wird von uns abhängen. Momentan hängen Ruhe oder Unruhe, Ordnung oder Chaos zum großen Teil von uns fremden Kräften ab. Während der letzten Monate haben wir dies direkt erfahren. Die Inkompetenz der Bundesregierung, wie sie hauptsächlich in der - vermutlich unbewußten - Infamie, die in den wirtschaftlichen Klauseln des Tydings-Plans enthalten ist, zum Ausdruck kommt, hat im kollektiven Bewußtsein der Puertoricaner zu einer tiefgreifenden, auch weiterhin andauernden Unruhe geführt. Aber ich muß meine Meinung nicht mit patriotischem Optimismus, sondern mittels vernünftiger Argumente begründen. Uns verwandte Länder Lateinamerikas haben eine turbulente Geschichte erlebt. Unsere Ähnlichkeit mit diesen Ländern hinsichtlich der Sprache, der Religion, der Rassen, der gesellschaftlichen Gepflogenheiten und der geistigen Lebenshaltung ist groß. Diese Ähnlichkeit verleitet viele dazu zu meinen, daß auch unsere Unabhängigkeit ähnlich verlaufen muß. Diejenigen, die so denken, übersehen einen Unterschied zwischen Puerto Rico und den ihm verwandten Ländern, der so bedeutsam, so grundlegend ist, daß er allein ausreicht, um in Puerto Rico unter der Unabhängigkeit das gesamte politische Handeln anders zu gestalten. In Puerto Rico hat es keine Armee gegeben. Es gibt keine Armee. Und es wird keine Armee geben. Das Fehlen einer professionellen Streitmacht, außer in der Funktion als Polizei, ändert das Bild völlig. [...] Die Kolonie kann nicht weiterbestehen, und wir können auch nicht dulden, daß sie weiterbesteht. Selbst die Vereinigten Staaten können nicht zulassen, daß sie noch über lange Zeit bestehenbleibt. Die Alternativen für das Volk von Puerto Rico sind diejenigen, die der Tydings-Plan zum Ausdruck bringt. Nicht weil sie besagter Plan zum Ausdruck bringt, sondern weil er die historische Wirklichkeit reflektiert. Weil die estadidad unmöglich ist. Weil

150 die Autonomie entweder ein kompletter Schwindel ist und aus Zusatzklauseln besteht oder weil sie bedeutet, daß Machtbefugnisse gewährt werden, die Vereinigten Staaten aber die Verantwortlichkeit für sich beanspruchen eine unmögliche und überdies nicht wünschenswerte Situation. Aus der Sicht der Vereinigten Staaten sind daher die Alternativen: Unabhängigkeit oder Kolonie. Die Kolonie lehnt ganz Puerto Rico ab. Und sie ist selbst unvereinbar mit dem Wesen der nordamerikanischen Republik, die von Grund aus antiimperialistisch ist und die sich nur fünfunddreißig Jahre lang in einer Art Parenthese wie kopflos einem Imperialismus verschrieb, der sich in den vergangenen drei Jahren sehr schnell erledigt hat. Es gibt also nicht einmal eine echte Alternative. Die Unabhängigkeit ist die einzige Lösung, ob sie nun Gefahren mit sich bringt oder nicht: für diejenigen, die an sie glauben, ebenso wie für diejenigen, die ihr mißtrauen und sie fürchten. Das Problem von schwerwiegender Tragweite, dem sich alle Puertoricaner stellen müssen, besteht nicht darin, daß man sich im Kampf für oder gegen die Unabhängigkeit gegenseitig zerfleischt, sondern daß man sein patriotisches Empfinden mit einem gleichen Maß an staatsbürgerlichem Verantwortungsbewußtsein verbindet, und das heißt: sich einsetzen für die Unabhängigkeit mit der Tatkraft und der Redlichkeit, die unabdingbar sind, damit die Republik Puerto Rico eine Republik wird, in der wirtschaftliche Stabilität und soziale Gerechtigkeit, eine tiefverwurzelte, dauerhafte Zivilisation, eine bürgerliche Ordnung und die weitreichendsten, unantastbaren individuellen Freiheiten herrschen. [...] Im Angesicht des Schicksals meines Vaterlandes, im Angesicht der geheimnisvollen Macht der Vergebung und des Friedens, die wir Menschen Gott nennen, erkläre ich heute feierlich meinem Volk: Wenn sich nur ein Puertoricaner fände, der in seiner Seele und in seinem Willen den durch die Kolonialherrschaft entstandenen Haß und erbärmlichen Ehrgeiz überwindet und sich mit Leib und Seele dem Frieden, der individuellen Freiheit, der demokratischen Zivilisation der in ihrer eigenen Heimat frei lebenden Puertoricaner widmet - dann würde ich dieser Mensch sein. Ich appelliere an mein Volk, auf daß dieser Mensch nicht ich allein, sondern ganz Puerto Rico sein möge. Übersetzt von Vera Miller und Belgin Öksüz

René Marqués (1919-1979) Erzähler, Romancier, Theaterautor, Lyriker, Essayist, Literatur- und Theaterkritiker; zunächst Studium der Agrarwissenschaft in Puerto Rico, sodann der Literaturund Theaterwissenschaft in Madrid und New York; übte diverse Tätigkeiten aus, u.a. als Journalist, Redakteur und Direktor der Publikationsabteilung im Erziehungsministerium; gleichzeitig als Theaterpraktiker Regisseur und Leiter z.T. von ihm gegründeter Theatergruppen. René Marqués ist mit seinem überaus umfangreichen, alle literarischen Gattungen umspannenden Werk der wohl vielseitigste und produktivste Autor Puerto Ricos, dem vielfache Ehren zuteil wurden — so erhielt er 1958 in den Sparten Theater, Erzählung, Roman und Essay allein vier der fünf vom Instituto de Cultura Puertorriqueña alljährlich für das beste publizierte Werk vergebenen Preise — und der durch seine innovatorischen Impulse im Bereich der fiktionalen Literatur ebenso wie durch seine politisch engagierten, bisweilen provokatorischen Analysen der puertoricanischen Gegenwart seine eigene wie auch die nachfolgende Generation nachhaltig beeinflußte. Die thematischen Schwerpunkte seines gesamten Schaffens wurzeln zunächst in der konfliktiven Wirklichkeit Puerto Ricos als Kolonie der Vereinigten Staaten, verbunden mit einer bitterbösen Kritik nicht nur an politischen und sozialen Fehlentwicklungen und Mißständen, sondern auch an der kollektiven Psyche des Puertoticaners, den er in überaus pessimistischer Sichtweise der geistigen und moralischen „Gefügigkeit" bezichtigt und damit für das nationale Schicksal gewissermaßen selbst verantwortlich macht (vgl. „Der gefügige Puertoricaner", S. 213ff.). Doch das Werk von René Marqués weist auch über den nationalen Bezugsrahmen hinaus und gewinnt dort eine universale Dimension, wo es allgemeine metaphysische Fragen berührt und insbesondere die existentielle Not des von sich selbst und seiner Umwelt entfremdeten Individuums in der modernen Welt thematisiert. Das hier in Auszügen abgedruckte Theaterstück Der Karren, 1951/52 in der Zeitschrift Asomante publiziert und 1953 in New York uraufgeführt, handelt von der zu jener Zeit geradezu existenzbedrohenden Krise im angestammten Lebensraum des kleinen Campesino - oder jíbaro - der montaña, der sich aufgrund der Strukturveränderungen im Agrarbereich zur Emigration — zunächst vom Landesinnem in die Hauptstadt, sodann nach New York - gezwungen sieht und über die Entwurzelung und Entfremdung auch die Krise der traditionellen Werte erlebt, die mit der „Modernisierung" und „Amerikanisierung" Puerto Ricos einhergehen. Das streng durchkomponierte Stück schildert in drei Bildern oder „estampas" das private, jedoch auch für das Kollektiv stehende Schicksal einer Campesinofamilie: im ersten Bild der erzwungene Umzug vom Land in die Stadt auf jenem Karren, der

152 als Symbol von Migration und Entwurzelung leitmotivisch dem Stück unterlegt ist; im zweiten Bild der Übedebenskampf in dem berüchtigsten Elendsviertel von San Juan, „La Peda", dessen Scheitern in der Kriminalisierung des jüngsten Sohnes Chaguito und der Vergewaltigung sowie dem anschließenden Selbstmordversuch der Tochter Juanita gipfelt; schließlich im dritten Bild die durch den in den Vereinigten Staaten vorherrschenden Rassismus noch gesteigerte Erfahrung der Diskriminierung und Marginalisierung in New York, wo der optimistische Glaube des (angenommenen) älteren Sohnes Luis, daß die Industrie - die „Maschine" - die Zukunft repräsentiere, dadurch zerstört wird, daß er selbst — wie es heißt, bei dem Versuch, das Geheimnis dieser „Maschine" zu ergründen - bei einem Betriebsunfall ums Leben kommt. Die vom Autor beschworene überaus pessimistische Vision puertoricanischer Lebenswirklichkeit wird am Ende des Stückes dadurch gemildert, daß die beiden übedebenden Frauen, die Mutter Doña Gabriela und die Tochter Juanita, beschließen, in die montaña und damit in ihren angestammten Lebensraum zurückzukehren, wo allein sie die Chance sehen, gebunden an ihr „Stück Land", jene Würde zurückzugewinnen, die der Großvater, Don Chago, als Sinnbild des zwar armen, aber mit sich und der Natur in Einklang lebendenjibaro, verkörperte. Werke (Auswahl): Lyrik: Peregrinaaon (1944) - Erzählungen: Otro día nuestro (1955); En una dudad llamada San Juan (1960); Inmersos en el siknáo (1976) - Romane: ha víspera del hombre (1959); La mirada (1976) - Theater: El hombre y sus sueños (1948); Palm Sundqy (engl.; UA 1956); La carreta (1951/52; UA 1953); Los soles truncos (UA 1958); La muerte no entrará en palacio (1959); Mariana o El alba (UA 1965) - Essays: El puertorriqueño dóál y otros ensayos (1953-1971) (1972; erw. Ausgabe von: Ensayos (1953-1966) [1966]). Theateranthologie: Teatro (Río Piedras: Editorial Cultural 1970-1971. 3 Bände). Der Text, La carreta (Tres estampas boricuas) in der Originalfassung, von dem Auszüge aus dem 1. und 3. Akt ausgewählt wurden, ist der 22. Auflage von 1983 (Rio Piedras: Editorial Cultural) entnommen. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der „Fundación René Marqués".

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Der Karren Erstes Bild: Auf dem Land

[...] (Don Chago tritt durch die linke Tür mit einem Hündel Kleider in der Hand.) DON CHAGO: Was suchst du, mein Kind? DOÑA GABRIELA (antwortet automatisch)-. Den Heiligen aus Holz. (Reagiert auf Don Chag)) Ach, Sie sind's! Ich dachte, Sie sind drüben in Río Arriba bei Tomás. Wie schön, daß Sie wieder zurück sind! Und? Haben Sie sich's anders überlegt? DON CHAGO: Nein, mein Kind. (Er hockt sich neben die Tür.) DONA GABRIELA (gewinnt ihre schlechte Laune %urück): Sie sind störrisch wie ein Esel, Vater. DON CHAGO: Was will man da machen? Ein alter Maure ist ein schlechter Christ. Außerdem stören wir Alten doch immer nur. DONA GABRIELA: Jetzt auf einmal. Sie haben doch immer mit uns gelebt und nie gestört. DON CHAGO: Hier habe ich nicht gestört. Da, wo ihr jetzt hin geht... weiß der Himmel! DONA GABRIELA: Sie glauben wohl, ich könnte nicht bis drei zählen. Als ob ich nicht wüßte, was mit Ihnen los ist. DON CHAGO: Möglich... DONA GABRIELA: Sie wollen nicht weg von diesem Stück Land. DON CHAGO: Hier bin ich immer noch für das ein oder andere von Nutzen. Dort gibt's für einen, der zum alten Eisen gehört wie ich, nichts zu tun. DOÑA GABRIELA: Erzählen Sie mir nichts, Vater. Sie sind ein alter Narr, und Ihnen ist bang ums Herz. Das ist es. Sie haben Angst vor der Veränderung.

[...] _ DOÑA GABRIELA: Ach, sehen Sie nur! Da ist ja der Heilige! Das war sicher Juanita, die ihn in diese Kiste gesteckt hat. Kümmert sich um nichts! Packt ihn einfach mit diesem Kram zusammen, wo ihm leicht ein Bein abbrechen kann. DON CHAGO: Und was macht das schon, wenn ihm ein Bein abbricht? DOÑA GABRIELA: Was soll das heißen?

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DON CHAGO {guckt mit den Schultern): Eigentlich verstehe ich nicht, warum du dieses alte Zeugs mitschleppst. DOÑA GABRIELA: Heilige Jungfrau! Wie können Sie wagen, sowas zu sagen! Das ist der San Antonio von Mama. DON CHAGO: Ja, den kenn ich. Der hat deiner Mutter geholfen, mich zu angeln. DOÑA GABRIELA: Na klar... Und es hat Ihnen ganz schön gefallen, sich angeln zu lassen. DON CHAGO (verschmitzt): Kann sein. Ich erinnere mich schon gar nicht mehr. DOÑA GABRIELA: Genau! Wenn es Ihnen in den Kram paßt, sind Sie vergeßlich. DON CHAGO: Das ist einer der wenigen Vorteile des Alters. Ich wüßte aber gern, was dein Mann zu diesem San Antonio sagen würde. DOÑA GABRIELA: Nichts würde er sagen. Denn mein Mann, Gott hab ihn selig, hat mich geangelt. Jawohl! Ich hab's ihm ganz schön schwer gemacht, bis er mich überzeugt hatte. DON CHAGO (lachfy. Als ich euch damals an dem Abend unter dem Feigenbaum ertappt hab, da warst du schon reichlich überzeugt. DOÑA GABRIELA {wütend)-. Werden Sie nicht ungehörig! Respektieren Sie die Toten! DON CHAGO: Und die Lebenden. Schließlich fühlen die Toten nichts, und sie leiden auch nicht. DOÑA GABRIELA: Lassen wir das! Sie hatten schon immer was an dem Verblichenen auszusetzen. DON CHAGO: Ja, bevor er verblich. Danach nicht. Um ihm zu Lebzeiten aus der Klemme zu helfen, haben wir den Hof nach und nach mit immer mehr Hypotheken belastet. Und jetzt, wo er tot ist, sieh dir an, was er deinen Kindern hinterlassen hat. Einen Schlamassel. Aber nicht ein Stückchen Land, um Kartoffeln zu pflanzen. DOÑA GABRIELA: Er hatte Pech. Das ist alles. Der Wirbelsturm hat den ganzen Kaffee vernichtet. Dann ist das Zuckerrohr bis hoch in die Berge geklettert. Und er kannte sich mit dem Zuckerrohr nicht aus. Er mochte es nicht. Er träumte immer von seiner kleinen Kaffeepflanzung. Außerdem kam er mit den Leuten nicht zurecht. Alles wurde anders in den Bergen, aber er merkte es nicht. Und er hatte das Pech, daß er in der Politik immer auf der Seite der Verlierer stand. Es gab nie einen Offiziellen

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hier, der ihm unter die Arme gegriffen hätte. Manche Leute werden mit nur einem Arm oder einem Bein oder mit einem Buckel geboren. Der Verblichene wurde unter einem ungünstigen Stern geboren. Und das ist gpnauso schlimm wie ein Buckel. Dagegen hilft nichts. D O N CHAGO: Ach, mein Kind! Es ist leicht, den Sternen die Schuld für die Schandtaten der Menschen zu geben. Die Wahrheit ist doch, daß ihr durch die Schuld des Verblichenen heute auf die Straße gesetzt werdet. D O N A GABRIELA: Was sollen wir denn machen? Die Hypothek ist abgelaufen. Wo sollen wir das Geld hernehmen? [...] _

D O N A GABRIELA: Die Zeiten ändern sich, Vater. Die Jungen machen sich heute mehr Gedanken als wir damals. Und sie sind ehrgeizig. D O N CHAGO: Unzufrieden sind sie. Früher hat der Mann gearbeitet, und die Frau hat sich verheiratet. Und keiner hat geklagt. [•••]

_

DONA GABRIELA: Die Leute verstehen es auch nicht mehr, arm zu sein. D O N CHAGO {lacht)'. Dann muß man's ihnen beibringen! DONA GABRIELA: Nein. Was man ihnen beibringen muß, ist Anstand. D O N CHAGO: Davon ist nur sehr wenig übriggeblieben. Und das bißchen, was geblieben ist, haben sie was weiß ich wo versteckt. CHAGUITO {ruft aus der Küche): Geben Sie mir fünf Dollar, und ich treib Ihnen welchen auf, Großvater. DOÑA GABRIELA: Sei still, ungezogener Bengel! D O N CHAGO: Laß ihn! Er sagt ja nur die Wahrheit. (Spricht lauter, um sich an Chaguito in der Küche %u wenden.) Du wiederholst auch nur das, was du überall zu hören kriegst. Dasselbe, was die im Café im Radio sagen und was die Zeitungen und die Lehrer und die Politiker der Hauptstadt sagen. DOÑA GABRIELA: Und was hat das alles mit Anstand zu tun? D O N CHAGO: Daß eben alle den Dollar predigen, mein Kind. Um heutzutage Anstand zu haben, muß man Geld haben. Das ist sonnenklar. Früher konnte man arm sein und Würde besitzen. Und weißt du warum? Weil der Arme etwas hatte, woran er glauben konnte. Manche glaubten an Gott, andere glaubten an das Land, andere wieder glaubten an die Menschen. Heutzutage lassen sie uns an nichts mehr glauben. Deinen Kindern wird heute nur noch beigebracht, an das Geld zu glauben... und an das, was sie Wissenschaft nennen. All unsere Krankheiten, so behaupten sie, kann man jetzt durch diese Röhre sehen, die sie Mikroskop

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nennen. Und all die guten Sachen, die sie uns versprechen, so behaupten sie, sind auf diesem Stück grünem Papier, das sie Dollar nennen. Aber vom Herzen ist nie die Rede. An das Herz erinnert sich keiner. Und das Herz trocknet aus wie eine alte Bohne. Ach, mein Kind! Niemand kann Würde und Anstand besitzen mit einem Herzen, das so trocken ist wie eine Bohne! DONA GABRIELA: Und das sagen gerade Sie! Ein Mann, der sich sogar über die Heiligen lustig macht. Sie glauben doch an nichts. DON CHAGO: Ich glaube an das Land. Früher glaubte ich an die Menschen. Aber jetzt glaube ich nur noch an das Land.

[...] _ DONA GABRIELA: Ich mach jetzt Kaffee. (Geht rechts ab in die Küche) DON CHAGO: Das wird der letzte sein, den wir hier trinken. Er wird mir fehlen. Also, Luis! Erzähl mir von dem neuen Haus! Wie ist es? LUIS: Na ja, es ist nichts Besonderes. Es ist sehr klein. Ziemlich heruntergekommen. Aber es hat viele Vorteile. DON CHAGO [ungläubig und Leicht spöttisch): Ach, tatsächlich? LUIS: Ja. Fast direkt vor dem Haus gibt es einen öffendichen Wasseranschluß. Da ist das Wasserholen nicht mehr so lästig wie hier. DON CHAGO: Hat es einen Innenhof? LUIS: Nein, einen Innenhof hat es nicht. DON CHAGO: Also ein Haus ohne Land! Hab ich's mir doch gedacht. Und die Straße direkt vorm Haus. LUIS: Nein, die Straße ist ziemlich weit weg. DON CHAGO: Dann muß es doch Land geben, auf dem man wenigstens eine paar Sträucher mit Guandüfrüchten pflanzen kann. LUIS: Nein, das Haus steht nicht auf der Erde. DON CHAGO: Ach, tatsächlich? Bauen sie die Häuser jetzt in der Luft? LUIS: Nein, Großvater. Die Sache ist die, daß es da steinig ist. Felsen, verstehen Sie? Weil es ganz dicht am Meer liegt. Und die Häuser stehen ziemlich eng zusammen, weil nicht so viel Platz ist. DON CHAGO: Ihr werdet vor Hitze umkommen. LUIS: Aber nein! Es ist sehr windig. Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß es ganz dicht am Meer liegt? Die Straße, von der ich sprach, ist ganz oben. Eine richtig gute Straße, die Boulevard heißt. Wenn man in das Viertel rein oder raus will, muß man über diese Straße, den Boulevard. DON CHAGO: Und gibt es keine Straßen in diesem Viertel?

157 LUIS: Wege gibt es, ja. Die sind sehr steil, wissen Sie. Denn das Viertel liegt bergab. D O N CHAGO: Und wie heißt dieses verdammte Viertel? LUIS: Es heißt... „La Perla". D O N CHAGO: „La Perla"? (Lacht) Donnerwetter! Eine Perle, die bergab rollt. Das ist ja toll! LUIS {begeistert): Ist doch egal, wie das Viertel heißt! Ist doch egal, ob es bergauf oder bergab liegt! Es ist in San Juan, in der Hauptstadt. Wo es jede Menge Möglichkeiten gibt. Wo man kein lumpiger Landarbeiter sein muß, um zu überleben. Wo es gute Schulen für Chaguito gibt. Wo es Arbeit für mich und für Juanita gibt. Wo das Leben leichter sein wird für Mutter. Wie ich schon sagte, sie muß sich dann nicht mehr mit dem Wasser abschleppen. Und es gibt elektrisches Licht. D O N CHAGO: Für das man doch wohl bezahlen muß. LUIS: Und wir wohnen direkt am Meer. D O N CHAGO: Ach was, das Meer, das Meer! Salzwasser, womit man nichts anfangen kann. LUIS: Man kann doch drin baden. Und Schiffe können rein und rausfahren. Vom Fenster aus kann man die Schiffe sehen, die nach Norden fahren. Stellen Sie sich das nur vor, Großvater! Schiffe, die einen in andere Länder bringen. Und dann die Flugzeuge. Vögel, die hin und her fliegen. Das wäre doch toll, oder? Weit weg gehen, ganz weit weg... Vielleicht nach New York... D O N CHAGO: Ach du meine Güte! Du hast es aber eilig, mein Junge! Du bist noch nicht mal in San Juan, und schon willst du weiter nach New York. LUIS: Nein, das hab ich nur so gesagt. D O N CHAGO: Ja, ja. Man könnte meinen, du läufst vor irgendwas davon. Wie eilig du es doch hast, das Land zu vergessen!

[...] D O N CHAGO: Du bist jung, und du müßtest doch Spaß dran haben, dich zu amüsieren. Aber immer siehst du aus, als würdest du Trauer tragen. Jetzt bringst du die Familie dazu, in die Stadt zu gehen. Warum? LUIS: Um zu leben, Großvater, um zu leben. D O N CHAGO: Verdammt nochmal! Sind wir hier denn tot? LUIS: Schlimmer als tot. Hier sind wir nichts. D O N CHAGO: Ich versteh dich nicht, mein Jungp.

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LUIS: Ich denke an die Zukunft, Großvater. Das Land ist nichts mehr wert, außer, man hat viel davon. Tagtäglich gibt es auf den Feldern mehr Maschinen und weniger Arbeit. Nutzen haben von dem Land nur noch die Regierung und die großen Konzerne. Für einen Hungerleider wie mich ist von einem Stück Land leben kein Leben. Und jetzt, wo wir nicht mal mehr unser Land haben, ist es noch schlimmer. Ich will nicht auch zum Landarbeiter werden. Die Zukunft ist nicht mehr das Land, sondern die Industrie. Man muß in die Stadt ziehen. Drittes Bild: In der Metropole

[...] {Vom Treppenhaus her hört man immer lauter werdendes Geschrei und Gerenne.) 1. STIMME: The Police! The Police! 2. STIMME: Lauf weg, da kommen sie! Lauf weg! STIMME EINES POLIZISTEN: Stop him! Stop him! 2. STIMME: Laßt ihn doch laufen! Macht doch keinen Scheiß! STIMME EINES POLIZISTEN: Goddamit! That Puerto Rican bastard! 3. STIMME {die anderen übertönend, mit Nachdruck, lautstark)-. Lauf, Negro, die bringen dich um! (Lidia und Doña Gabriela, die nach rechts abgehen wollten, bleiben stehen.) DOÑA GABRIELA: Was mag da los sein? Warum schreien die so? Was sagen diese Leute?

[...] {Man hört sechs gewaltige, ohrenbetäubende Pistolenschüsse, die durch das gan^e Gebäude hallen) [...] DOÑA GABRIELA: Wer war das, Luis? LUIS: Weiß ich nicht. Jemand, der einer Amerikanerin auf der Straße die Handtasche geklaut hat. DOÑA GABRIELA: Aber... haben sie ihn umgebracht? LUIS: Er rannte weg und lief in dieses bildin. Auf dem Stock über uns haben sie ihn mit Kugeln durchlöchert. DOÑA GABRIELA: Gott sei ihm gnädig. {Bekreuzigt sich und geht, ein Gebet murmelnd, ünks ab.) JUANITA: War es ein... Puertoricaner? LUIS: Ja, und ein Schwarzer dazu.

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JUANITA: Diese Dreckskerle! Einen Mann einfach umbringen, nur weil er was geklaut hat! LUIS: Einen Fünf-Dollar-Schein, einen Lippenstift und ein gebrauchtes Taschentuch. Das war in der Tasche, die er der Yanqui geklaut hat. Aber bei ihm hat man weder eine Pistole noch ein Messer gefunden. Nur ein geweihtes Schulterband der Jungfrau von Karmel. Und einen Brief von seiner Mutter, abgestempelt in Lares, Puerto Rico. „Ich freue mich, daß Gott dir beisteht und daß du vorankommst", stand in dem Brief. Er war ein armseliger kleiner Kerl, fast noch ein Kind, aber sie jagten ihm sechs Kugeln in die Brust. Um ihn gleich richtig umzubringen. Damit er ein für allemal tot ist. JUANITA: Und das sagst du so ruhig! LUIS (heftig): Ich bin nicht ruhig. Innen drin bin ich überhaupt nicht ruhig! JUANITA (wütend): Aber du wirkst so ruhig. Und das ist genauso, wie wenn du es wärst. Denn was man fühlt, das zeigt man auch. Und wer es nicht zeigt, ist ein Feigling! LUIS: Und was soll ich, verdammt noch mal, deiner Meinung nach tun? JUANITA: Zeigen, daß du lebendig bist. Daß du, wenn du dieselbe Wut fühlst wie ich, sie lautstark herausschreist, statt sie in deinem Innern zurückzuhalten. So wie ich. ( Ö f f n e t das Fenster und schreit.) Ihr Dreckskerle! Mörder! Schweinehunde! LUIS: Hör auf! (Geht auf sie stößt sie beiseite und schließt das Fenster) JUANITA: Und wenn du Lust hast, was kaputt zu machen, dann zeig es, und mach's kaputt. So wie ich jetzt. (Nimmt das Bierglas [vom Tisch] und zerschlägt es am Heizkörper.) Denn irgendwie muß man protestieren. Irgendwie muß man sagen, daß man nicht einverstanden ist mit dem, was passiert. Irgendwie muß man zeigen, daß man nicht gefühllos und ohne Gewissen ist, daß man Würde und Anstand besitzt. (Dona Gabriela tritt von links auf) DONA GABRIELA: Was ist hier los, Juanita? Was ist das für ein Krach? LUIS (schiebt mit dem Fuß die Scherben beiseite): Du hast geschrien, du hast was kaputtgemacht. Und was erreichst du damit? JUANITA: Nein, damit erreiche ich nichts. Ich mache Krach und weiter nichts. Weil sie da oben einen Schwarzen aus Lares umgebracht haben und ich mich darüber aufrege. Und allen andern ist das egal. Aber mir nicht. Und deshalb mache ich Krach. Weil es mir nicht egal ist. Und weil ich will, daß sie wissen, daß es mir nicht egal ist.

160 DOÑA GABRIELA: Uns allen ist das nicht egal, mein Kind. Er war ein Mensch wie wir. Und noch dazu war er einer von uns. Aber manche Dinge kann man nicht ändern. Und noch weniger kann eine Frau sie ändern. Und am allerwenigsten eine hysterische Frau. Denn diese Welt gehört den Männern... JUANITA {unterbricht sie): Dann sollen sie es auch zeigen! Wenn es ihre Welt ist, warum machen sie sie dann nicht besser? Aber sie trauen sich nicht. Sehen Sie denn nicht, Mama, daß sie alle Feiglinge sind? LUIS: Reden, reden! Das ist alles, was du kannst. Aber das reicht nicht. DONA GABRIELA: Es ist schwer, ein Mann zu sein, Juanita, sehr schwer! JUANITA (¡wendet sich an Luis): Natürlich reicht Reden nicht aus. Aber zumindest ist es besser, als still und ruhig dazusitzen, so als wäre man tot. Denn es gibt Leute, die sind lebend schlimmer dran als tot. Wie der Mann gestern... DOÑA GABRIELA: Welcher Mann? JUANITA {wendet sich an Doña Gabriela): Gestern war ich nämlich in Harlem. Dawar eine Versammlung. Ich ging näher ran, um zu sehen, worum es ging. Es war eine Versammlung zugunsten von sieben Schwarzen, die sie unten im Süden zum Tode verurteilt haben. Und wissen Sie, warum man sie töten wird? Weil es heißt, sie hätten vorgehabt, eine weiße Frau zu entehren. Verstehen Sie? Sie haben es nicht einmal getan! Sie werden getötet, weil sie es vorhatten. Und das sind sieben Leben. Sieben schwarze Leben für die Jungfräulichkeit einer weißen Frau. DOÑA GABRIELA: Juanita! Ich verbiete dir, so zu reden! JUANITA: Ist ja gut, Mama. Verzeihen Sie mir! Aber ich war da. Ich, die ich meine Ehre in „La Perla" verloren habe, ich war da und hörte das. Bei mir gab es keine Polizei, die mich beschützt hätte. Es waren auch keine Staatsanwälte da, die den gemeinen Kerl angeklagt hätten. Und es tauchten auch keine Richter auf, die ihn verurteilt hätten, weil er mir Gewalt angetan hat. Weil ich schwarzes Haar und eine dreckige Hautfarbe habe. Was ist schon eine vergewaltigte Jíbara wert? Die Ehre einer blonden Amerikanerin ist sieben Leben wert. Aber meine war nicht mal einen Cent wert. Und als ich das hörte, hatte ich eine riesige Wut. Und mir kamen Gedanken, die ich noch nie zuvor gehabt habe. Dann sah ich, wie ein Papier rumgereicht wurde. DOÑA GABRIELA: Ein Papier? Und wofür war dies Papier?

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JUANITA: Damit da jeder unterschrieb, der wollte. Es war ein Gesuch für einen neuen Prozeß. Die von der Versammlung wollten, daß der Gouverneur das Todesurteil für einige Zeit aussetzt, um den Fall neu zu verhandeln. Denn sie sagten, daß diese sieben Schwarzen kein Gerichtsverfahren gehabt hatten, wie es das Gesetz vorschreibt. DOÑA GABRIELA: Sie hatten ganz recht, das zu fordern. Wenn ich dort gewesen wäre, hätte ich das Papier unterschrieben. (Lächelt.) Das Dumme ist nur, daß ich nicht schreiben kann. JUANITA: Sie hätten bestimmt unterschrieben, Mama. Denn Sie sind eine Frau, die das Herz auf dem rechten Fleck hat. Aber neben mir stand ein Schwarzer, ein sehr großer und starker Schwarzer. Er war so groß und stark, daß er den braunen Stier von Onkel Tomás mit einem Faustschlag hätte töten können. Und als man ihm das Blatt zum Unterschreiben gab, wurde dieser Mann, der wie ein Riese wirkte, gelb im Gesicht wie ein Hibiskus. Und ich sah, wie er zitterte, Mama, wie ein verängstigter Hund. Er hätte eher als jeder andere unterschreiben müssen, damit sie diese sieben Männer nicht töten. Es ging um sieben Leben seiner eigenen Rasse. Aber er hat nicht unterschrieben. Da habe ich ihm das Papier aus der Hand gerissen und vor seiner Nase, damit er es auch ja sah, mit ganz großen Buchstaben meinen Namen draufgesetzt. Verstehen Sie jetzt, warum ich sage, daß sie alle Feiglinge sind? LUIS: Dieser Schwarze wußte, was er tat, als er bei der Versammlung das Papier nicht unterschrieb. Er wäre jetzt schon längst von der Polizei registriert, und bei der kleinsten Sache, die er anstellt, würden sie ihn restlos fertigmachen. Was hätte er dann von seinem Mut zwischen den vier Wänden einer Gefängniszelle? Und du sei vorsichtig damit, solche Papiere zu unterschreiben. Wenn sie dich ins Gefängnis stecken, werden es nicht die amerikanischen Schwarzen sein, die dir aus dem Schlamassel wieder raushelfen. JUANITA: Du würdest mir helfen, stimmt's? Wo du so mutig bist! [...] JUANITA: Der Waisenjunge hat gefunden, was er gesucht hat, Mutter. Luis hat am Ende das Geheimnis der lebenspendenden Maschinen entdeckt. (Doña Gabriela bleibt starr und bewegungslos. Juanita sieht auf die knieende Gestalt hinab.) Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe, Mama? (Doña Gabriela hebt langsam den Kopf, bis sie das Her%Jesu-Bild an der Wand betrachtet)

162 DOÑA GABRIELA: Nimm ihn auf in Deinen Schoß, Herr. Sei ein guter Vater für meinen Sohn. JUANITA: Sie werden ihn vom Krankenhaus zum nächsten Bestattungsinstitut bringen. In einer Stunde können wir hin, um für ihn die Totenwache zu halten. (Doña Gabriela steht auf) DONA GABRIELA: Ich will nicht, daß man ihn in diesem Land ohne Sonne begräbt. Wird es viel kosten, ihn nach Puerto Rico zu bringen? JUANITA: Es ist egal, wieviel es kostet. Wir tun das, was Sie wollen. DOÑA GABRIELA: [...] Mein Sohn ist jetzt glücklich. Die Erde, wo er zur Welt kam, wird für immer die Mutter sein, die ihn ohne Mühen und ohne Schmerzen ruhen läßt. [...] Denn jetzt wird mir klar, was mit uns allen geschehen ist. Der Fluch der Erde! Die Erde ist heilig. Die Erde läßt man nicht im Stich. Wir müssen zu dem zurückkehren, was wir aufgegeben haben, damit uns der Fluch der Erde nicht weiter verfolgt. Und ich kehre mit meinem Sohn in das Land zurück, aus dem wir gekommen sind. Und ich werde meine Hände in die rote Erde meines Viertels graben, so wie es der Großvater tat, um die Saat auszusäen. Und meine Hände werden wieder stark sein. Und mein Haus wird wieder nach Patschuli und wilder Minze duften. Und draußen gibt es Land. Vier Cuerdas zur Hälfte. Auch wenn es nicht mehr ist. Es ist gutes Land. Land, das Leben schenkt. Nur vier Cuerdas. Auch wenn sie uns nicht gehören. JUANITA: Sie werden uns gehören. Sie werden Ihnen gehören, Mama! Denn auch ich werde mit Ihnen in mein Viertel zurückkehren. DOÑA GABRIELA (als würde sie langsam aus einem Traum erwachen, mit sanfter Stimme)'. Du? Du auch? Aber du hast doch gesagt, daß du den Karren deines Lebens dorthin lenken würdest, wohin du willst. JUANITA: Deshalb, Mama, gerade deshalb! Weil ich ihn dorthin lenke, wo ich hin will. Und wir kommen im Viertel an, bevor Miguel die Cuerdas verkauft hat. Und wenn es wahr ist, daß Miguel mich liebt, werde ich seine Frau, und das Land wird uns gehören. Und wir bewahren Miguel davor, hierherzukommen, um das Geheimnis zu ergründen, das meinen Bruder umgebracht hat. Und wir retten Chaguito. Denn es hat keinen Wert, aufs Land zurückzukehren, um wie Tote zu leben. Jetzt wissen wir, daß die Welt sich nicht von alleine verändert. Daß wir es sind, die die Welt verändern. Und wir werden mithelfen, sie zu verändern. Wir werden wie Menschen mit Würde gehen, wie Großvater immer sagte. Mit

163 hoch erhobenem Kopf. In der Gewißheit, daß es Dinge gibt, für die zu kämpfen es sich lohnt. In der Gewißheit, daß wir als Kinder Gottes alle gleich sind. Und meine Kinder werden Dinge lernen, die ich nicht gelernt habe, Dinge, die sie einem in der Schule nicht beibringen. So werden wir in das Viertel zurückkehren! Sie und ich, Mama, standhaft wie AusuboBäume auf unserer Erde, in der Luis ruht. Übersetzt von Stephan Greiner und Alejandro Rodriguez Diaz del Real

José Luis González (1926-1996) Erzähler, Romancier, Essayist, Journalist und Literaturkritiker; Studium der Sozialwissenschaften an der Universität von Puerto Rico und der Politikwissenschaften in New York; nach seiner Rückkehr nach Puerto Rico 1948 vorwiegend tätig als Journalist, u.a. als Auslandskorrespondent in Europa; von 1953 bis zu seinem Tod (freiwilliges) Exil in Mexiko und Aufgabe seiner US-amerikanischen Staatsbürgerschaft als Ausdruck, wie er in einem Interview äußerte, seines „Protests gegen den amerikanischen Kolonialismus"; bereits seit seinen Studienzeiten militanter Marxist und Befürworter der Unabhängigkeit Puerto Ricos, was ihm nach seiner mexikanischen Einbürgerung 1955 die Einreise in die Vereinigten Staaten (und damit die Rückkehr nach Puerto Rico) für nahezu zwei Jahrzehnte unmöglich machte; in Mexiko nach seinem Literaturstudium Professor an verschiedenen Universitäten; ab den 70er Jahren dann, nach Aufhebung des Einreiseverbots, vielfach längere Aufenthalte in den USA und Puerto Rico, wo er sich, weiterhin als erklärter Marxist und indipendentista und besonders im studentischen Milieu mit einem enormen intellektuellen Prestige behaftet, an den aktuellen politischen und literarischen Diskussionen intensiv beteiligte und hier insbesondere durch seine engagierten und bisweilen provokativen Essays hervortrat (vgl. „Das Land der vier Stockwerke", S. 223ff.). José Luis González gilt mit Blick auf die behandelten Themen sowie die verwendeten narrativen Techniken als der große Erneuerer der puertoricanischen Erzählung. Während in seinen ersten beiden in der ersten Hälfte der 40er Jahre erschienenen Bänden noch nach Art des traditionellen Realismus die prekären Lebensbedingungen des jíbaro der montaña in dezidiert sozialkritischer Perspektive geschildert werden, wandte sich González seit Ende der 40er Jahre den Urbanen Zentren zu und machte die menschenunwürdigen Lebensbedingungen des städtischen Proletariats vorwiegend in den Elendsvierteln von San Juan - als Folge des durch Muñoz Marin initiierten und fehlgeleiteten Industrialisierungsprozesses - zu einem seiner zentralen Themen. Doch auch die gleichermaßen prekäre Lebensweise der in New York lebenden Puertoticaner, die nicht nur durch ihre ökonomische und soziale Marginalisierung, sondern auch durch rassische Diskriminierung in ihrem Selbstverständnis tief getroffen und traumatisiert werden, ist Gegenstand zahlreicher Erzählungen und Kurzromane. Die hier abgedruckte Erzählung „Ein negrito auf dem Grunde des Grabens" negro oder die Verkleinerungsform negrito sind im puertoricanischen Kontext nicht diskriminierend, sondern häufig, wie hier, emotional-positiv konnotiert — erschien zuerst in dem 1954 in Mexiko publizierten Band En este lado. Die mit äußerst sparsamen sprachlichen Mitteln wie ein Poem durchkomponierte Erzählung, deren

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namenlose, in dem Elendsviertel „La Peda" angesiedelten Protagonisten für das Kollektiv der proletarisierten Slumbewohner stehen, ist wohl das eindrucksvollste Zeugnis der puertoricanischen Literatur zu diesem Thema; und nicht zufällig folgt die Erzählung hier auf das Theaterstück Der Kamin von René Marqués, da sie auf bedrückende Weise deutlich macht, daß eine Rückkehr in die Idylle der montaña für den nunmehr zum städtischen Proletariat degradierten jíbaro nicht mehr (wie noch bei René Marqués) möglich ist. Werke (Auswahl): En la sombra (1943); Cinco cuentos de sangre (1945); El hombre en la calle (1948); Paisa (Un relato de la emigraáón) (Kurzroman; 1950); En este lado (1954); Mambrú se fue a la guerra ( y otros relatos) (Kurzroman; 1972); En Nueva York y otras desgraáas (1973); Balada de otro tiempo (Kurzroman; 1978); La llegada (Crónica con ,ficdón") (Kurzroman; 1980); Elpais de cuatro pisos y otros ensayos (Essays; 1980); Nueva visita al cuarto piso (Essay; 1986); La luna no era de queso. Memorias de infancia (Autobiographie; 1988); Todos los relatos (México: UNAM 1992; enthält die Kurzromane). Die abgedruckte Fassung der Erzählung, „En el fondo del caño hay un negrito" im Original, entspricht der 1954 in dem Band En este lado (México: Los Presentes, S. 9ff) publizierten Originalversion; die deutsche Übersetzung, für diese Ausgabe neu durchgesehen, entstammt dem von José Miguel Oviedo herausgegebenen Sammelband Lateinamerika. Geächte und Erzählungen. 1930 - 1980 (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 262ff.). Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Vedags.

Ein negrito auf dem Grunde des Grabens Für René Depestre Zum ersten Mal sah der negrito Macarin den anderen negrito auf dem Grunde des Grabens früh am Morgen des dritten oder vierten Tages nach dem Umzug, als er krabbelnd die einzige Tür der neuen Behausung erreichte und sich hinauslehnte und zur ruhigen Oberfläche des Wassers dort unten hinuntersah. Der Vater, der auf dem Haufen leerer, auf dem Boden ausgebreiteter Säcke gerade aufgewacht war, neben sich die halbbekleidete, noch schlafende Frau, rief ihm zu: „Paß ja auf, und komm wieder rein! Teufel, was für'n unruhiges Kind!"

167 Und Macarin, der noch nicht gelernt hatte, die Worte zu verstehen, wohl aber, den Rufen zu gehorchen, krabbelte wieder zurück, setzte sich still in eine Ecke und lutschte an einem Finger, denn er hatte Hunger. Der Mann stützte sich auf die Ellenbogen. E r betrachtete die Frau, die an seiner Seite schlief, und rüttelte sie leicht am Arm. Die Frau fuhr aus dem Schlaf auf und sah den Mann mit erschrockenen Augen an. Der Mann lachte. Jeden Morgen war es das gleiche: Die Frau erwachte mit diesem erschrockenen Gesicht, das ihn, ohne jede Bosheit, zum Lachen brachte. Zum ersten Mal sah er dieses erschrockene Gesicht an der Frau nicht beim Erwachen, sondern in der Nacht, in der sie zum ersten Mal miteinander schliefen. Vielleicht brachte es ihn deshalb zum Lachen zu sehen, wie sie jeden Morgen so aus dem Schlaf erwachte. Der Mann setzte sich auf den leeren Säcken auf. „Also dann", wandte er sich an die Frau. „Mach mal Kaffee." Die Frau zögerte ein wenig, bevor sie antwortete: „Es ist keiner mehr da." „Was?" „Es ist keiner mehr da. Der gestern war der letzte." Fast wollte er sagen „Und warum hast du keinen neuen gekauft?", aber er unterbrach sich, als er sah, daß die Frau anfing, jenes andere Gesicht zu machen, das Gesicht, das ihn nicht zum Lachen brachte und das sie nur machte, wenn er ihr Fragen wie diese stellte. Zum ersten Mal sah er dieses Gesicht an der Frau in der Nacht, in der er betrunken und voll des Verlangens nach ihr nach Hause kam und sich auf sie stürzte, die Trunkenheit ihn aber nichts zustande bringen ließ. Vielleicht mochte er deshalb dieses Gesicht an der Frau nicht sehen. „Der gestern war also der letzte?" ,Ja." Die Frau stand auf und begann, sich das Kleid über den Kopf zu ziehen. Der Mann, der noch immer auf den leeren Säcken saß, wandte den Blick ab und betrachtete eine Weile die Löcher in seinem Unterhemd. Macarin, der die Unergiebigkeit des Fingers nun leid war, beschloß zu weinen. Der Mann sah zu ihm hinüber und fragte die Frau: „Ist auch für den Kleinen nichts da?" „Doch. Ich hab ein paar Guanabana-Blätter kriegen können. Gleich mach ich ihm ein Süppchen." „Seit wann hat er keine Milch mehr getrunken?"

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„Milch?" Die Frau legte unbewußt ein wenig Erstaunen in ihre Stimme. „Seit vorgestern." Der Mann stand auf und zog seine Hose an. Danach näherte er sich der Tür und sah nach draußen. Er sagte zu der Frau: „Wir haben Flut. Heute muß man das Boot nehmen." Dann sah er nach oben, zur Brücke und zur Straße. Autos, Busse und Lastwagen fuhren in endloser Folge vorbei. Der Mann lächelte, als er sah, wie aus fast allen Fahrzeugen jemand befremdet zu der Hütte hinübersah, die vom Wasser eingeschlossen mitten in jenem Meeresarm lag: dem „Graben", auf dessen sumpfigem Ufer sich das Elendsviertel seit Jahren immer mehr ausgebreitet hatte. Im allgemeinen begann dieser Jemand nach der Hütte hinüberzusehen, wenn das Auto, der Bus oder der Lastwagen die Mitte der Brücke erreichte, und danach sah er weiter hinüber, indem er nach und nach immer mehr den Kopf umwandte, bis das Auto, der Bus oder der Lastwagen dort vorn die Kurve nahm. Der Mann lächelte. Und dann murmelte er: „Idioten!" Bald darauf stieg er in das Boot und ruderte bis ans Ufer. Vom Heck des Bootes war bis zur Tür des Hauses ein langes Seil gespannt, das es dem, der im Haus zurückblieb, ermöglichte, das Boot wieder bis vor die Tür zu ziehen. Vom Haus zum Ufer führte auch eine kleine Brücke aus Holz, die bei Flut unter Wasser stand. Am Ufer angekommen, ging der Mann in Richtung Straße. Er fühlte sich besser, als der Lärm der Autos das Weinen des negito in der Hütte übertönte. II Zum zweiten Mal sah der negrito Macarin den anderen negrito auf dem Grunde des Grabens kurz nach Mittag, als er wieder zur Tür krabbelte und sich hinauslehnte und nach unten sah. Diesmal schenkte der negrito auf dem Grunde des Grabens Macarin ein Lächeln. Macarin hatte zuerst gelächelt und nahm das Lächeln des anderen negrito als Antwort auf seins. Da machte er so mit seinem Händchen, und von dem Grunde des Grabens machte der andere negrito auch so mit seinem Händchen. Macarin konnte ein Lachen nicht unterdrücken, und ihm schien, daß auch von dort unten der Klang eines anderen Lachens kam. Da rief ihn die Mutter, weil das zweite Süppchen aus Guanabana-Blättern fertig war.

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Zwei Frauen von den Glücklichen, die auf festem Boden, auf dem hart gewordenen Schlamm am Ufer des Grabens, lebten, unterhielten sich: „Das muß man gesehen haben! Hätte mir das jemand erzählt, so hätte ich gesagt, das ist gelogen." „Die Not, Doña. Und auch ich, wer hätte gedacht, daß ich hier landen würde, wo ich sogar mein Stückchen Land hatte..." „Wir waren mit die Ersten hier. Es war fast noch niemand da, und man suchte sich natürlich den Platz aus, wo es am trockensten war. Aber die jetzt kommen, sehen Sie bloß, die müssen sozusagen ins Wasser springen. Na ja, und woher, zum Teufel, mögen wohl all diese Leute kommen?" „Ich hab gehört, drüben bei Isla Verde bauen sie 'ne Neubausiedlung, und da haben sie 'ne Menge Schwarze vertrieben, die sich da einfach was hingebaut hatten. Vielleicht sind es welche von denen." „Die Armen! Und haben Sie den negrito gesehen, wie niedlich der ist? Die Frau kam gestern und fragte, ob ich von irgendwas ein paar Blätter hätte, um ihm ein Süppchen zu machen, und ich hab ihr ein paar GuanábanaBlätter gegeben, die ich noch hatte." „Heilige Mutter Gottes! Die Armen! * * *

Am Abend war der Mann müde. Der Rücken tat ihm weh. Doch beim Gehen tastete er nach den Münzen in der Hosentasche, ließ sie aneinanderklingen und erriet mit den Fingerspitzen, was ein Fünfer, was ein Zehner und was ein viertel Dollar war. Heute hatte er wirklich Glück gehabt. Der Weiße, der am Kai war, um seine Waren aus New York abzuholen. Und der Arbeiter, der ihm den ganzen Nachmittag über seinen Karren lieh, weil er plötzlich weg mußte, um eine Hebamme für seine Frau zu holen, die einen Armen mehr auf die Welt brachte. Jawohl. Man schlägt sich so durch. Morgen ist wieder ein Tag. Er ging in einen Laden und kaufte Kaffee und Reis und Bohnen und ein paar kleine Dosen Trockenmilch. Er dachte an Macann und ging schneller. Er war von San Juan her zu Fuß gekommen, um den Fünfer für den Bus zu sparen.

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III Zum dritten Mal sah der negito Macarin den anderen negrito auf dem Grunde des Grabens am Abend, kurz bevor der Vater nach Hause kam. Diesmal lächelte Macarin schon, bevor er sich hinauslehnte, und er wunderte sich darüber, daß der andere dort unten auch lächelte. Wieder machte er so mit dem Händchen, und wieder antwortete der andere. Da empfand Macarin einen plötzlichen Uberschwang der Gefühle und eine unsagbare Liebe zu dem anderen negrito. Und er machte sich auf zu ihm. Übersetzt von Anna Jonas

René Marqués (1919-1979) Zur Einführung in Leben und Werk des Autors vgl. die Anmerkungen zu „Der Karren", S. 151ff. Die Erzählung „Das Wohnzimmer" ist in zweifacher Beziehung für das erzählerische Gesamtwerk des Autors charakteristisch: hinsichtlich der die Moderne kennzeichnenden innovativen narrativen Techniken ebenso wie hinsichtlich der die nationale Wirklichkeit in eine universale Perspektive einbettenden Thematik. Den Hintergrund der Handlung bildet die Verfolgung der Nationalisten, die durch die 1948 vom insularen Parlament erlassene „Ley de la Mordaza" (wörtlich: Knebelgesetz) eingeleitet wurde und nach dem Oktober-Aufstand 1950 in eine wahre Hetzjagd auf sogenannte subversive Elemente entartete, wodurch sich in den 50er Jahren das herausbildete, was der katholische Bischof Antulio Parrilla als die für jene Zeit in Puerto Rico so symptomatische „Kultur des Schweigens" apostrophierte. Der abgedruckte Text, „La sala" in der Originalfassung, erschien zuerst 1959 in der Zeitschrift Asomante und wurde dann in die 1960 publizierte Sammlung En una dudad llamada San Juan (México: UNAM) aufgenommen; die deutsche Übersetzung entstammt der Zeitschrift die hören (Nr. 187, 1997, S. 23ff.). Der Kursivdruck im Text entspricht dem Original. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der „Fundación René Marqués" und der Zeitschrift die boren.

Das Wohnzimmer Between the conception And the creation Between the response Falls the shadow: Life is very long. T. S. Eliot, The Hollow Men I Er schloß die Augen und hörte, unter dem Schatten seiner Lider, das rhythmische Knirschen des Schaukelstuhls. Es schien fast unmöglich, dies wieder zu verspüren, so vertraut und nahe, so innig und beglückend oder fern und fremd, im Klang und in der Zeit, oder so wehmutsvoll, aber es war

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da. Neben ihr, sich im Stuhl wiegen. Und der Sohn, der am kleinen Tisch seine Hausaufgaben macht. Und sie im blauen Sessel. Wie früher. Aber nicht genauso. Denn dies war nicht das Wohnzimmer des fröhlichen Häuschens, mit Garten und Terrasse, sondern das dunkle Zimmer in einer häßlichen, feuchten Wohnung in der Altstadt von San Juan. Damals nähte oder stickte sie, während er den Jungen im Schaukelstuhl in den Schlaf wiegte. Nicht, daß der Junge so klein gewesen wäre, als daß er in seinen Armen hätte einschlafen müssen. Aber es war ein unschuldiges Spiel, der alten Gewohnheit zu folgen: sich im Wohnzimmer leise zu unterhalten, ohne sich der Zeit zu widersetzen - indem man sie annahm, in ihr versank - , während Manuel, such den Schlaf, Kind, such ihn, sich in die Arme des Vaters kuschelte. Gott, gb ihm Mut! Das angstvolle Stoßgebet wäre ihm vor zehn Jahren nicht in den Sinn gekommen. „Schläfst du, Mercedes?" Sie öffnete erschrocken die Augen. „Nein." Und sie versuchte zu lächeln. „Möchtest du etwas?" „Nein danke." Auch er hatte zu lächeln versucht. Der Sohn sah von seinem Heft auf, ohne ihnen das Gesicht zuzuwenden, ohne zu lächeln, ohne es auch nur zu versuchen. Wie drei Fremde. Von dem Wunsch beseelt, es nicht zu sein, darum ringend, zu einer fernen Vertrautheit zurückzukehren, zu einer Zeit, als sie sich weder zu einem Lächeln zwingen noch den Blicken ausweichen noch die Befangenheit bei irgendeiner Geste oder Bewegung spüren mußten; als die Gedanken unschuldige, freie Vögel waren und keine geduckten Schatten im Gefängnis ihres Gewissens; von dem Verlangen erfüllt, diese Schatten zu befreien, verzweifelt bemüht, nicht auf eine so grausame Art gegen die Zeit ankämpfen zu müssen. Zehn Jahre gehen schnell vorbei, Mercedes. Ich weiß, Leandro. Was sind schon %ehn Jahre in unserem Lxben! Und hinter ihm schloß sich die Eisentür, um sie mit der Unendlichkeit der zehn Jahre zurückzulassen, dem kleinen Kind, der Hilflosigkeit und der Verzweiflung. Und den Anstrengungen weiterzuleben und den geschlossenen Türen (als hätte die aus Eisen, als sie sich schloß, allen Türen der Welt das Zeichen gegeben: Schließt euch, Türen, schließt eucB) und den verletzenden Sätzen,... die Frau von diesem Mann ..., und den sich kreuzenden Blicken und den Gesten der Überraschung und der Furcht der anderen oder dem Ent-

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setzen oder vielleicht nur dem Mißtrauen (das Zusammenzucken), so als trüge sie den Keim der Zerstörung in sich. Aber die Zerstörung war in den anderen: in der Schule des Jungen, Papi ist doch kein Verräter, oderMami?; in der Arbeit, die sie mit Mühe bekommen und so leicht wieder verloren hatte, Sie schaden unserem Ansehen; in der Freundschaft, die sich in Luft auflöst, Komm bitte nicht mehr uns, in dem entwürdigenden Vorschlag, Wenn Sie das unterschreiben und so auf schmerzliche Weise in allem, in der ganzen Maschinerie jener Welt, die alles daran setzt, das Liebste und Intimste eines Mannes, eines Kindes und einer Frau zu zerstören. Und sogar in der Zeit. Denn tief im Herzen vergeht die Zeit nicht in Tagen oder Monaten oder Jahren, sondern in Abschnitten, die in keinem Kalender vorgesehen sind. Die träge Zeit vergeht kaum, sondern nistet sich in der Seele ein und verlangt, gewiegt zu werden, wie ein verwöhntes Kind (wenn das Herz sie eigentlich nur hinausscheuchen möchte, damit sie ihren Zweck erfüllt), und verfestigt sich und erstarrt schließlich zu einem mächtigen Stein, den das Herz nicht ausstoßen kann. Wenn Papi unrecht hat, wer hat dann recht? Jeder hat auf seine Art recht, Manuel Das Recht, den Regierenden einen Wechsel zu unterschreiben, um den Makel der Subversion teilweise zu tilgen und die verehrten Symbole zu zerstören und die Bücher zu verbrennen, die man am meisten liebt, und vor dem Sohn die Gedichte des Mannes zu verstecken, der im Gefängnis sitzt. Und ohne jegliche Überzeugung, lusdos und träge (wie die Zeit im Herzen) immer wieder: Sei ein guter Staatsbürger, Junge. Sei ein guter Staatsbürger zu sagen, ohne genau zu wissen, was das heißen soll, und auch ohne, daß es einem etwas bedeutet. „Soll ich Dir helfen, Manuel?" Die Stimme des Mannes klang seltsam trostlos in dem Raum, und die Frau schreckte zusammen. Sie sah die Verwirrung des Jungen und wollte beiden mit irgendeinem aufmunternden Satz helfen, einem vertrauten Satz, der eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit (und vielleicht auch Zukunft) herstellen konnte. Aber sie fand keinen. „Danke, Papa. Es ist Algebra. Ganz leicht." Und sie hörte die Stimme des Mannes, die sich — so vergebens! — bemühte, bestimmt, locker und sogar scherzhaft zu klingen. „Mathematik war nie meine Stärke."

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Es entstand ein langes Schweigen. Auf der Straße hörte man ein Auto hupen und einen betrunkenen Seemann auf englisch fluchen. „Ich mach Kaffee. Möchtest Du einen?" Sie hörte jetzt erneut das Knirschen des Schaukelstuhls. „Kaffee nicht. Ein Glas Milch, wenn es dir keine Umstände bereitet." „Es macht keine Umstände. Ich bin gleich wieder da." Und sie verließ lächelnd das Wohnzimmer, immer lächelnd, mit dem Stein der Zeit, der auf ihrem Herzen lastete. II Das Zimmer war niedrig und klein, aber ihm erschien es geräumig, vielleicht aufgrund der wenigen Möbel oder wegen der immer noch in ihm lebendigen Erinnerung an die Zelle, die so furchtbar eng war, später allerdings nicht mehr so wie im ersten Jahr, denn die Zelle wurde im Laufe der Zeit immer größer, und im zehnten Jahr konnte er den Raum schon mit zehn Schritten durchmessen anstatt der vier, derer es nur bedurfte, als er die Zelle zum ersten Mal betrat. Gan^e %ehn Schritte! (Genau zehn.) Zehn Jahre gehen schnell vorbei, Mercedes. Ich weiß, heandro. Was sind schon %ehn Jahn in unserem Leben! Was sind sie schon, wenn nicht ein ganzes Leben oder mehr, denn sie umfassen auch das schon gelebte Leben und das Leben, das vor einem liegt, voller Hoffnung oder Angst oder Frustration oder Entsetzen. Und nicht nur das eigene Leben, sondern auch ihres und das des Jungen, in der Enge der Zelle oder in der Unendlichkeit des Herzens oder in der düsteren Beklemmung der Gedanken. Hast Du den Jungen heute nicht mitgebracht? Ich konnte nicht. Warum nicht? Hat er heute nicht seinenfreien Tag? Der Kleine ist krank. Armes Kerlchen! Krank an seinem freien Tag. Wo die Freiheit doch so teuer ist, wo es doch so riskant ist, sie zu verteidigen, und die Menschen ohne Rückgrat sie so wenig zu schätzen wissen, die Mehrheit jener, die die Gleichheit der Menschen verkünden und ihre Freiheit töten. Armes Kerlchen! Krank an seinem freien Tag. Dabei ist es das Volk noch nicht einmal, denn die Freiheit fordern nicht die Völker, sondern die Menschen, auch wenn sie weder einen noch viele freie Tage haben, sondern zehn Jahre im Gefängnis.

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Damit du dich darauf einstellst, Leandro: Da draußen in der Welt haben sich viele Dinge verändert. Aber die Dinge verändern sich nicht. Vielleicht die Menschen, aber die Dinge nicht. Denn ein Kind wächst heran und verändert sich, und eine Frau altert und verändert sich, aber ein Ding nicht. Und man spürt sie tief drinnen, die Unveränderlichkeit der Dinge und die unmerklichen Veränderungen der Menschen, die sich verschleißen und verändern, die unter den Hieben jenes Bäckers, der die Welt da draußen ist, zu einer weichen Masse werden, die schon unfähig ist, einem in die Augen zu blicken — die Wahrheit in einem Augenpaar zu ertragen - , denn auf dem Grund ihrer Augen liegt jetzt eine Hefe, die nicht die des ungesäuerten Brotes ist, von dem Moses im Buche Leviticus spricht. Er sah, wie sein Sohn das Heft schloß, und ohne sich dessen bewußt zu sein, hörte er auf zu schaukeln. Es entstand eine plötzliche Stille. „Bist du schon fertig?" J a , Papa." Die Stille hatte ihn aufgeschreckt, noch vor der Stimme, und der Vater sah, daß er (sein Sohn, sein Sohn) ihm zum ersten Mal ins Gesicht blickte. Mit diesem Flehen in den Augen, Laß ms bitte nicht reden, Papa. Es ist besser, wenn wir nicht reden. Aber nicht zu reden ist schon zur Gewohnheit geworden. Es ist nicht leicht, die eigenen Gedanken in Laute zu verwandeln, wenn zehn Jahre völligen Schweigens - oder fast völligen Schweigens - alles einhüllen: das Morgenlicht und Mitternacht, die Einsamkeit, den Körper, das Fenster und die Tür, die Schritte, die Hände und den Mondstrahl und die Stunden - sechzig Minuten in jeder langen Stunde oder hundertzwanzig oder vierhunderttausend - und der Geruch nach Feuchtigkeit und verschwitzten Laken und die Kälte und die Hitze und die Eidechse auf dem Fußboden und das Wasserglas und die güne Fliege und die Augen, letztlich alles; vom Schweigen durchdrungen; die Worte, in seinem Herzen kreisend, ausweglos; Gefangene der Zeit, ohne Raum. „Du siehst deiner Mutter ähnlich." Er wartete vergebens auf ein Lächeln seines Sohnes. „Sie sagen, ich sehe dir ähnlich." Wann? Als er am Lehrstuhl über ewige Werte sprach und dem Volk sagte: Freiheit!, und die jungen Leute begierig lauschten und die Männer applaudierten und die Frauen begeistert riefen: Gott segne Dich!, und die Kinder

176 lächelten und die Fahne in der sternenlosen Nacht flatterte und die Glut seines Herzens all seine Worte und seine Stimme entzündete? Ahnelte dieser Junge ihm, so wie er damals war? Oder ähnelte er ihm jetzt? Und wie war er jetzt? Hatte er diesen schrecklichen, gealterten Blick? Hatte er diese vor Groll so fest zusammengepreßten Lippen? Aber nein. Er fühlte, daß seine Lippen zitterten... „Wir müssen uns kennenlernen, Manuel." „Dafür ist noch Zeit genug, Papa." Nein. Es wird keine Zeit sein. Man hat nie Zeit, einen Menschen kennenzulernen. Jede Minute %ählt, mein Sohn. Aber man muß die Minute verstreichen lassen, muß zulassen, daß die Zeit entflieht, denn die Zeit ist frei und kennt weder die Sklaverei des Menschen noch das Altern des Kindes noch die Ohnmacht Gottes. „Hier ist sie. Ich habe sie eisgekühlt gebracht." Und plötzlich war ein Zittern der Unschlüssigkeit in ihrer Stimme. „Ich weiß nicht mehr, ob du sie so magst." III Er sah die Mutter vor dem stillstehenden Schaukelstuhl, in der Hand den Unterteller, das Kleid aus Kunstseide, so neu, das Haar so sorgfältig frisiert, um vor dem Neuankömmling die schaumfarbenen Strähnen, die traurigsten Strähnen, einigermaßen zu verbergen. Das ist mein Vater. Er ist mein Vater. Und man muß es so oft wiederholen, tausendmal vielleicht, denn die Wirklichkeit entwindet sich immer, und man muß sie festhalten, ihr Gewalt antun, damit sie sich ganz hingibt und nicht so tut, als sei sie ein Traum oder ein Hirngespinst oder der Trick eines höllischen Magiers. Es ist Zeit, ins Bett gehen, Manuel. Und während der Schaukelstuhl knirschend hin- und herschwingt, spricht die Stimme von Vergangenem, und die Mutter stickt oder näht oder strickt, und der Kristallüster schwingt an der Decke hin und her, und das Bewußtsein verliert sich in der zärtlichen Wärme der Stimme, und der Körper versinkt in der Wohligkeit weichgepolsterter Räume, die Welt begrenzt von schützenden Armen, und das einschläfernde Hin und Her des Schaukelstuhls und das monotone Knarren des Schaukelstuhls und die schemenhafte Gestalt der Mutter, die stickt und näht und sich auflöst, und er gleitet geräuschlos in den glücklichen Tod des Schlafes hinüber. Dort, in dem Wohnzimmer. Er ist nicht im Wohnzimmer, Manuel. Er ist verhaftet worden.

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Und es muß ausgeforscht, in Erfahrung gebracht werden, was das heißen soll. Und wenn man es weiß, die Welt herausfordern: Ich will auch verhaftet werden! Aber ein Kind kann nicht verhaftet werden, die Gesetze verbieten es, sie erlauben ihm nur, sich im Herzen Gefängnisse zu bauen. Die Helden, die Patrioten, die schon. Sag Papa, daß ich Patriot werden will Aber auch das nicht. Es gibt ja keine Helden mehr und auch keine Patrioten. Das sagen sie in der Schule. Und ein Kind lernt schnell. Die Gefängnisse sind für andere gemacht. Papa ist kein Mörder! Ein Subversiver ist er! Und alles ist Vergangenheit: die Geschichten von den Helden, das Blutopfer, der Schaukelstuhl im Wohnzimmer, die Freiheit eines Volkes, das Herz eines Mannes und das Hin und Her des Lüsters dort an der Decke und die Stimme, die Wunderdinge raunte von Märtyrern, von Frauen, die dreifarbige Fahnen sticken, von wahrgemachten Träumen und von Befreiern. Das ist etwas für Kinder, die nicht zur Schule gegangen sind, eine blaßblaue Lüge für ganz dumme Kinder, die keine Ahnung von Wissenschaft haben (dieselben, die zulassen, daß ihre Väter sie in den Schlaf wiegen, während die Mutter stickt). Ist das Mittagessen fertig Mami? Heute gibt es kein Mittagessen, Kind. Der Bauch tut so weh, und man muß umziehen. Schon wieder ein Um^ug? Wie eng doch die Welt ist!, und alles, alles wird kleiner. Und im Gefängnis sitzt ein Mann, der an allem schuld ist. Er ist mein Vater. Er ist mein Vater. (Man muß es oft wiederholen, denn man vergißt es. Oder man fühlt nichts, was dasselbe ist.) Mami, ich werde samstags in einem Restaurant arbeiten. Und die Mutter arbeitet, und der Sohn arbeitet, und das Land kommt voran, ist der Bauch satt, ist das Her^froh, und die Leute tanzen, und die Leute lachen. Warum weinst du, Mami ? Das Leben ist so lang. Ich werde ein großer Ingenieur. Und ich werde viel Geld haben. Aber dein Vater, Kind. Er wollte... Ich geh ins Kino, Mami. Wir reden später.

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a plus 2a ist gleich 12. Wie groß ist a} Wäre die Gleichung des Lebens doch auch so einfach. „Brauchst Du Hilfe, Manuel?" „Danke, Papa. Es ist Algebra. Ganz leicht..." IV Sie nahm das leere Glas aus den Händen des Mannes - die jetzt so bleich und dünn, so fremd waren — und stellte es auf einem kleinen Tisch ab. Danach setzte sie sich wieder in den blauen Sessel. Sie wartete. Es trat erneut ein langes Schweigen ein, das schließlich vom Knirschen des Schaukelstuhls unterbrochen wurde. Durch das rhythmische Knirschen hindurch fühlte sie dieses von Schreien und Worten erfüllte Schweigen. Aber ihre Lippen blieben, wie die der beiden anderen, fest verschlossen. Und die angstvollen Blicke waren weiterhin darauf bedacht, nicht aufeinanderzutreffen. Und die Schatten der Möbel - mit den Holzwürmern in ihren Eingeweiden — wurden auf dem Boden ohne Teppich allmählich länger. „Es ist schon spät." „Ja, es ist spät" Wie leicht versiegen Worte. Und wie schutzlos ist man dem Schweigen ausgeliefert, das nichts zu sagen hat. „Manuel sollte zu Bett gehen." „Stimmt. Manuel, wie wär's?" „Gute Nacht, Papa." Die Schritte entfernten sich. Und in der Nacht wurde eine Tür geschlossen. V Er konnte sein Zusammenschrecken nur mit Mühe verhehlen. Das Geräusch einer sich schließenden Tür ließ ihn immer noch zusammenfahren. Obwohl diese sich in gewisser Weise endgültiger schloß als die anderen. (Vielleicht, weil sie jenes Wesen geschlossen hatte, das sein Sohn war.) Und das Wohnzimmer schien ihm unendlich groß. Und er sah keine Hoffnung für seine Trostlosigkeit. Und er wußte, daß das Schweigen eine Schranke war, die er nicht durchbrechen konnte. „Vielleicht sollten auch wir..." „Ja, vielleicht."

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„Machst du bitte das Licht aus?" „Wie dunkel das Wohnzimmer ist!" Und das Liben. Er hörte Schritte, die sich in der Nacht entfernten, und diesmal waren es seine eigenen. Und es war seine Hand, die diese Tür schloß. Aber er hatte das sonderbare, absurde Gefühl, noch immer im Wohnzimmer zu sein. Er bangte um die Möbel, nicht, weil ihr Inneres von Holzwürmern zerfressen war, sondern einfach, weil sie allein gelassen wurden. Gefangen und einsam. Er sah, wie in seiner Abwesenheit durch die halb geschlossenen Jalousien das zuckende Rot einer Neonreklame in das Wohnzimmer drang. Und der blutrote Widerschein pulsierte in dem Raum im Rhythmus eines Herzens. Auch Schatten. Immer Schatten. Es war egal. Das Wohnzimmer hatte keine Eile. Die Zeit des Wohnzimmers war imstande, die Unendlichkeit aufzusaugen. Dreihundertfünfundsech^tg Nächte hat ein Jahr. Ihn schauderte. Das Wohnzimmer, sowie es seine Abwesenheit sah, bereitete im Dunkel einen weiteren Tag vor, der genau wie der heutige sein würde. Übersetzt von Ulrike Schütz

Emilio Díaz Valcárcel (1929) Erzähler, Romancier, Theater- und Drehbuchautor, Journalist, Universitätslehrer; nach Schulabschluß zwei Jahre Militärdienst in den US-amerikanischen Streitkräften und Teilnahme am Korea-Krieg; nach Èntlassung aus der Armee 1954 Beginn des Studiums an der Universität von Puerto Rico, wo er den Abschluß in Hispanistik erwarb; zeitweilig Herausgeber der für die Unabhängigkeit Puerto Ricos eintretenden Wochenzeitung Claridad-, lebte längere Zeit in Madrid und New York; tätig als Hochschullehrer an verschiedenen puertoricanischen Institutionen, bis er 1994 aus dem Hochschuldienst ausschied. Seine literarische Karriere begann Díaz Valcárcel bereits früh als Erzähler, indem er zunächst unter dem Einfluß von José Luis González in engagiert politischer Perspektive und gelegentlich mit bitterer, karikatureske Züge aufweisender Ironie die Mißstände der puertoricanischen Gesellschaft kritisch beleuchtete. Ein immer wiederkehrender thematischer Schwerpunkt ist der Koreakrieg, den er selbst als Trauma erlebte: die rassische Diskriminierung der Puertoricaner durch ihre angloamerikanischen Vorgesetzten ebenso wie durch die Truppe, ihr Einsatz vorzugsweise in den gefahrvollsten oder gar aussichtslosen militärischen Operationen, schließlich die Einsicht, daß dieser Krieg ihn in keiner Weise tangierte und er, wie er selbst einmal sagte, in Korea „einzig die Interessen der Vereinigten Staaten zu verteidigen hatte". Seit seinem ersten (Kurz-)Roman, El hombre que trabajó el lunes (1966), wandte sich Díaz Valcárcel vorzugsweise den städtischen Mittelschichten zu, die er in ihrer sinnentleerten, an den äußeren Attributen des „American Way of Life" orientierten Existenz in einer gleichermaßen kritischen, bisweilen parodisierenden Perspektive und hinsichtlich der verwendeten narrativen Techniken in einer bis an die Collage grenzenden Experimentierfreudigkeit in Szene setzt; doch bleibt - wie bei den meisten puertoricanischen Autoren — auch bei ihm die Lebenswelt der nuyoricans (in Harlem todos los días; 1978), mit einer besonders gelungenen Gestaltung ihrer Subkultur und der damit einhergehenden spezifischen Sprache, nicht ausgespart. Werke (Auswahl): Erzählungen: El asedio y otros cuentos (1958); Proceso en diáembre (1963); Napalm (1971); Panorama (Narradones 1955-1967) (1971) - Romane: El hombre que trabajó el lunes (1966); Figuraciones en el mes de maryo (1972); Harlem todos los días (1978); Mi mamá me ama (1981); Lagunay Asociados (1995) - Memoiren: En el mejor de los mundos (1991). Der abgedruckte Text, „Napalm" in der Originalfassung, ist der genannten Anthologie Panorama (Rio Piedras: Editorial Cultural 1971, S. 169ff.) entnommen. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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Napalm Für Günter Grass ...mehr als den Zorn, mehr als die Verachtung, mehr als die Tränen, Mütter, die ihr das Leid und den Tod in euch tragt, seht das Herz des erhabenen Tages, der anbricht, und wisset, daß eure Toten aus der Erde heraus lächeln und ihre Fäuste recken über den Weizen hinweg. Pablo Neruda Im Morgengrauen hatte der Aufmarsch der Abteilungen begonnen. Von Zeit zu Zeit konnte man zwischen den Soldaten die Rückseite eines Krankenwagens erkennen, gleißend in der Sommerhitze. In seinem Innern ließen sich die Körper der Männer erahnen, die den langen Marsch nicht hatten durchhalten können. Die Kolonne begann im Süden, an der entfernten, zwischen den dichten Sträuchern kaum erkennbaren Wegbiegung, und verschwand, vom Dschungel verschluckt, der sich kilometerweit gen Norden erstreckte. Der an der Wegkreuzung stehende Wachtposten betrachtete lusdos den nicht enden wollenden Zug. Die Gewehre hingen über den vor Müdigkeit gekrümmten Rücken. Die einem eintönigen Rhythmus folgenden staubbedeckten Stiefel zertraten tiefschwarze Schatten auf dem Weg. Einige Männer hatten sich in der vergeblichen Hoffnung, die Stirn etwas abzukühlen, den Stahlhelm unter den Arm geklemmt. Aber es war zwecklos, es wehte nicht einmal ein leichter Wind. Er hatte sich mit der Ankunft des Sommers davongemacht. Der Großteil der Vegetation, die hauptsächlich aus rauhem Gestrüpp bestand, welkte dahin, als würde sie neben einem Scheiterhaufen wachsen. Die Erde, gespannt wie Leder, wies um die Wurzeln herum Risse auf, und in den tiefsten Spalten trieb der Sommer kleine hungrige Knospen, gelbe Triebe und gleich Nerven knotige Wurzeln dem Licht entgegen. Durchsichtige Schatten breiteten sich unter den Bäumen aus. Von irgendwoher hörte man das Rauschen eines Baches, der zwischen den Felsen hinabstürzte, und dorthin strebten die längeren Wurzeln, gierig wie Finger. Die Zikaden fielen über verblichene Blumen her, Blumen aus fauligen Pflanzenfetzen. Die Ameisen stolperten über die durch Mangel an Wasser verstei-

183 nerten Stoppeln. Über allem lastete die Schwüle wie Atem dicht über dem Boden, erzeugte ein dumpfes Geräusch, wie von einer Untergrundbahn. Das Gewehr in den Staub gestützt, nahm der Wachtposten Haltung an, um den Offizier zu grüßen, der zu ihm hinübersehen könnte. Unter den Soldaten glaubte er eine Geste der Geringschätzung wahrzunehmen. Manchmal spuckten sie aus, und der Speichel glitzerte auf dem Weg. Um solcherlei Zeichen der Zurückweisung auszuweichen, ließ er seinen Blick zu der Spitze der Anhöhe schweifen, die sich, hundert Meter von der Kreuzung entfernt, wie ein riesiger Grabhügel erhob. An ihrem Hang, im Schatten hoher, leuchtend grüner Bäume, verteilten sich die Unterkünfte seiner Abteilung. Dahinter, am Fuß eines Abhangs, floß ein kleiner Bach, in dem die alten Frauen des Dorfes die Kleidung der Soldaten wuschen. Einige Minuten lang dachte der Wachtposten an die Waschfrauen. Sie hatten immerzu ein Lächeln auf den Lippen, aber niemand konnte sicher sein, daß sie nicht doch Spione waren. Es war durchaus möglich, daß ihre Ehemänner und Söhne, diese sanften kleinen Männer, die den Tag über, den Körper halb in die Reisfelder gepflanzt, vor sich hinsummten, sich nachts in Guerillakämpfer verwandelten. Während er die Abteilungen, die durch den Staub krochen, beobachtete, kam dem Wachtposten in den Sinn, daß sie alle in einem merkwürdigen Krieg feststeckten. Die Guerilla, die sie umzingelt hatte, griff nicht an. Nur ab und an hörte man von fern das Krachen der Detonationen. Es schien sich nichts Besonderes zu ereignen in diesem unmittelbar an die Hauptstadt angrenzenden Abschnitt; und dennoch kamen jeden Tag Hunderte von Menschen um. Jeden Augenblick (dachte er) würden sie diese lächerliche Stellung einnehmen, eingeschlossen, dicht am Dschungel, in dem die Guerilla in ihrem Element war. Der Wachtposten warf einen Blick auf seine Armbanduhr und brummte mürrisch. Er sah zu dem Mann hinüber, der mit dem umgehängten Karabiner näherkam. Als er vor ihm stand, stieg Arger in ihm auf. „Ich dachte, du wärst Smith", sagte er. „Er ist schon über eine Stunde zu spät dran. Was ist mit ihm? Hast du ihn nicht gesehen? Das ist schon das dritte Mal, daß er das mit mir macht." „Ich bin sicher, er kann nicht kommen." „Aber ich stehe hier schon seit fünf Stunden", protestierte der Wachtposten, „und das bei der Sonne!" Der andere warf seine Zigarette weg und ließ sie mit der Stiefelspitze im Staub verschwinden.

184 „Beschwer dich beim Feldkaplan, wenn du willst", sagte er. „Smith sagt, daß er wieder mal krank ist, aber ich glaube, er tut nur so." „Wenn hier einer krank wird, dann bin ich es." „Das wäre nicht schlecht für dich, so wie die Dinge stehen." Die Männer wechselten einen kurzen Blick, dann sahen sie hinüber zu dem Zug der Soldaten, die den Staub bis zu ihren Knien aufwirbelten. Sie hörten das Rutschen der Stiefel, das Scheppern der Aluminiumteller, die lose in den Rucksäcken steckten. Den Wachtposten kostete es Mühe zu sprechen: „Werden sie uns auch schicken?" „Das wird gemunkelt. Wie lange hast du noch?" „Vier Monate." „Sie bringen Leute her, denen nur noch ein paar Monate bis zur Entlassung fehlen. Die Sache hier ist ziemlich brenzlig, Bruder." „Ich habe schon meinen Teil beigesteuert", sagte der Wachtposten kaum hörbar. „Reicht eine Verwundung an den Rippen nicht aus?" „Du hast immer noch deinen Zeigefinger. Solange du den Abzug bedienen kannst, vergiß es." „Wohin gehst du jetzt?" „Ins Dorf. Weißt du, wenn ich nichts zu tun hätte..." „Nein, nein. Schon gut. Ich halte es noch 'ne Weile aus." Ein Lastwagen donnerte an der Kolonne vorbei. Die Männer verschwanden in einem Staubwirbel. Als sich die Staubwolke legte und sie ihre Gesichter wieder erkennen konnten, sagte der Wachtposten: „Wenn es wenigstens regnen würde." Ein Bombergeschwader dröhnte über ihre Köpfe hinweg. Die Männer sahen, wie es sich in Richtung Norden entfernte, bis es hinter den Umrissen des Dschungels verschwand. Sie werden Krankenhäuser bombardieren, dachte der Wachtposten, Staudämme, Elektrizitätswerke, Schulen. „Und was ist mit Smith?" fragte er. „Er war im Dorf. Du weißt doch, wie gut ihm der Whisky schmeckt." „Scheißkerl", sagte er leise. Er drohte zu ersticken und war so erschöpft und fiebrig, daß er kaum noch über Energien verfügte, um seinen Groll zu schüren. „Beschwer dich beim wachhabenden Offizier." „Es lohnt sich nicht", sagte er. „Das ändert auch nichts." „Liegt es vielleicht daran, daß wir Puertoricaner sind?"

185 Der Wachtposten sah ihn eindringlich an. Er blickte zu dem harten und gleißenden Himmel hinauf. Er verzog sein Gesicht angesichts des metallischen Glanzes, die Brust dehnte sich im Verlangen nach Luft. Irgendwo hämmerte ein Maschinengewehr, zwei Salven, dann verstummte es. „Siegel hätte einen anderen Mann schicken müssen, wenn Smith nicht kommen kann", sagte er. „Ich werde nicht mehr für seine Besäufnisse den Kopf hinhalten." Er bemerkte, daß Martinez vor seinen letzten Worten gegangen war. Er zuckte die Achseln. Vor ihm zog die Kolonne der Soldaten vorbei. Viele waren Schwarze. Er suchte unter den blonden, gleich aussehenden Männern nach einem dunklen Gesicht, dem eines Landsmannes. Er musterte ihn mit schwachem Interesse, verdrehte den Hals, um zu sehen, wie er sich entfernte. Der andere, der Landsmann von kleiner Statur, der sich zwischen hochgewachsenen Männern entfernte, drehte sich gleichfalls um und grüßte ihn schweigend, mit der Andeutung eines Lächelns. Er versuchte, aus seinem K o p f das Bild eines Rindes zu verbannen, das zur Schlachtbank geführt wird. Ich werde an Milagros schreiben, dachte er, ich werde ihr sagen, daß sie dem Kind nicht erlauben soll, mit Streichhölzern zu spielen. Er sehnte sich danach, sich in den Schatten zu legen, ohne etwas zu tun, ohne an etwas zu denken, ohne mit diesem endlosen Strom hinfälliger, erschöpfter Männer konfrontiert zu sein, deren Umrisse durch den Staub, den die Räder der Fahrzeuge aufwirbelten, verschwommen zu erkennen waren. Er hätte es vorgezogen, Musik zu hören, vielleicht einen Comic zu lesen, in einer Zeitschrift mit Nacktfotos zu blättern. Aber vorher, sobald sie ihn ablösen würden, mußte er seine Ausrüstung in Ordnung bringen, sein Gewehr reinigen und einfetten: Am Tag zuvor war eine Inspektion durch den Bataillonskommandeur angekündigt worden. Nun begriff er. Die Inspektion der Ausrüstung ließ vermuten, daß es stimmte, daß auch seine Abteilung zum Einsatz kommen würde. Vor seinem geistigen Auge erschien die Narbe in der Form eines Tausendfüßlers auf seinem Brustkorb unterhalb des Herzens. Das Gewehr wurde feucht unter seiner Handfläche, und dort, wo der Helm saß, der nach Stunden der Ermüdung schwerer als üblich war, umgab seinen K o p f ein Kranz aus Schweiß. Er sah hinüber zu den Unterkünften, die in der Hitze zu tanzen schienen. Gespenstische, durch den Mangel an Wasser gequälte Bäume, gespenstische kahle Felsen und Hügel bewegten sich in großen Wellen vor seinen Augen. Seit drei Monaten wurde die Hitze

186 immer stickiger. Die Entschlossenheit der Männer ließ nach, die Worte stockten im Rhythmus des Herzschlags; man war unfähig, in diesem Stadium des Sommers einen zusammenhängenden Gedanken zu formulieren. Der Speichel brannte wie Säure auf der Zunge, das Blut pochte an den Schläfen, von den Wangenknochen schälten sich Hautfetzen, und darunter erschien, dem Klima trotzend, eine neue, verhärtete Haut. Ich muß Milagros schreiben, dachte er, so ein Mist, daß ich mich noch auf eine Inspektion vorbereiten muß. In dem Moment schweifte sein Blick in die Ferne. Er konnte die Ruinen dessen ausmachen, was einmal ein Dorf gewesen war. Ein Bombergeschwader war darüber hergefallen, hatte es mit Napalmbomben dem Erdboden gleichgemacht. So wie wenn man eine Libelle mit Hammerschlägen zerquetschen würde. E s war nur ein Baum übriggeblieben, der wie eine Fackel loderte, als seine Abteilung den Abschnitt durchstreifte. Alle Felder waren in Brand gesteckt worden; die Reisfelder und Bananenplantagen, die Rinder, die Hühner und die Schweine verschwanden im Feuer. Sie marschierten in einem Meer aus glühender Asche zwischen den schwarzen Kadavern hindurch, eingehüllt in die Schwaden der Hölle. E s ist so sinnlos, dachte er und sah zu den Unterkünften hinüber in der Hoffnung, sich abzulenken, an nichts zu denken. Aber wieder hatte er jene Szene vor Augen, wie in fast allen Nächten seit der undankbaren Aufgabe, die verwüstete Gegend zu säubern: wie er hinter Siegel über die rauchende Erde ging, wie er sich von der Gruppe entfernte und eine kleine Behausung betrat, die wie durch ein Wunder unversehrt geblieben war. Das Gewehr fiel ihm aus der Hand. Er mußte nicht zweimal hinsehen, um in der verkohlten Masse die einander umschlungen haltenden Körper einer Frau und eines kleinen Kindes zu erkennen. Er drehte sich jäh um, vor ihm stand Siegel: „ D a ist nichts", sagte er, „es hat kein Feind überlebt." Und es war das erste Mal, daß das Wort ihn erstarren ließ wie bei einer Detonation. In dieser oder einer der folgenden Nächte (er erinnerte sich nicht genau) schrieb er einen Brief an Milagros, in dem er ihr eine Reihe von Ratschlägen und Vorsichtsmaßregeln nannte. Sie mußte das Kind beschützen, es gab so viele Gefahren: die Steilhänge, den Bach, das Vieh. Außerdem teilte er ihr die Sorge mit, die ihm am meisten am Herzen lag: darauf zu achten, daß der Junge weder mit Streichhölzern noch mit offenem Feuer spielte. Er erhielt ihre Antwort: Er brauchte sich keine Sorgen zu machen, er wußte doch, wie fürsorglich sie war. Dem Jungen ging es gut, er vermißte ihn sehr, er sah aus

187 wie ein kleiner Engel, er war wohlbehütet, es gab nichts, worum er sich Sorgen machen mußte. Der Wachtposten sah wieder nach oben. Ein Feuerring umgab die Sonne. E r schloß die Augen. Ein in Flammen stehender Baum leuchtete hinter seinen Lidern auf. Er schlug sie auf, voller Angst, dem Ansturm des Lichts zu begegnen, und entdeckte die Silhouette, die langsam näherkam. „Wartest du schon lange?", fragte Smith. Der Wachtposten betrachtete die von einem silbrigen Schein umgebene Silhouette, die dem Negativ einer Photographie gjich. „Ich bin nicht bereit, mir das noch einmal gefallen zu lassen", sagte er. „Ach, komm schon, Chico." „Nenn mich nicht Chico!" „Gestern abend, du weißt schon, mußte ich meine Freundin besuchen. Ich hab zuviel getrunken. Hast du noch nie mit einer Einheimischen geschlafen? Die sind das reinste Feuer, auch wenn sie eine Bombe zwischen den Beinen versteckt haben können." „Ich warne dich, das nächste Mal gibt's Ärger", fuhr ihn der Wachtposten an. „Wir wollen uns doch nicht streiten, Chico. Morgen sind wir wieder da draußen. Dann brauchst du dich um die Wache nicht mehr zu kümmern. Vielleicht halten wir gar nicht so lange durch, wie eine Wache dauert. „Ich heiße Rivera. Nenn mich nie wieder Chico, verflucht!" „Okay, okay, reg dich nicht auf, Amigo." Der Wachtposten spuckte dem, der jetzt vor ihm stand, vor die Füße und sah ihm direkt in die Augen. Der andere lächelte. „Das war das letzte Mal, daß ich mir das gefallen lasse", sagte er und stieß einen Fluch aus. E r drehte sich um, ging durch die Kolonne von Soldaten hindurch und stieg den steilen Weg hinauf, der zu den Unterkünften führte. Kümmerliche Pflanzen stachen zu beiden Seiten aus dem Boden. Ein paar fade Blüten neigten sich schwerfällig auf ihren Stengeln. Die Erde krachte unter seinen Stiefeln, tat sich wie harter Nougat in kleinen Rissen auf, bebte auf ihrer nicht enden wollenden Flucht. Das Funkeln der Steine stach wie Nadelspitzen in seine Augen. Ein dahinsiechendes Stoppelfeld bedeckte den Hügel. Aber es ist nicht so, als wenn sie Napalm abwerfen, dachte er. Er bog auf einen Pfad ab und stieß auf die Unterkünfte, die in den grünlichen Schatten der Bäume getaucht waren, ein dichter Schatten, der einem den Atem nahm.

188 Er hörte das Brummen der Motoren, erkannte das Geräusch der Tausende von Stiefeln, die den Staub in Aufruhr versetzten, und das Keuchen der schmutzigen, schwerfälligen, niedergeschlagenen Menschenmasse, die marschierte, um vom Dschungel verschluckt zu werden. Sie rückten am helllichten Tag vor, und niemand griff sie an: ein merkwürdiger Krieg. Was mag passiert sein? dachte er, und als er geradeaus blickte, sah er, wie Sergeant Siegel mit langen Schritten in die nächstgelegene Unterkunft eilte, ohne Hemd, eine flüchtige Silhouette, rötlich, breitschultrig. Er ging schneller und betrat das Zelt. Hinten entdeckte er die hellen Augen. „Smith ist schon wieder zu spät gekommen", sagte er. „Ich mußte zwei Stunden warten. Das ist jetzt schon das dritte Mal. Ich finde das nicht in Ordnung." Siegel sagte nichts. Er drehte ihm den Rücken zu, bückte sich und zog unter seinem Feldbett ein Heft hervor. Seine Kiefer bearbeiteten das Kaugummi. Der Wachtposten wartete einen Augenblick. Er sah, wie der andere sich setzte und seelenruhig zu schreiben anfing. Er baute sich vor ihm auf und wartete einen Moment. Aber der andere sah nicht einmal auf. „Smith hat schon wieder dasselbe mit mir gemacht wie gestern", sagte er. „ E s wäre mir egal, wenn er krank wäre. Aber er macht das einfach so, und weil ihm niemand einen Verweis erteilt. Sie sind mein Zeuge. Das nächste Mal lasse ich mir das nicht so einfach gefallen." Siegel sah ihn an. „Bereiten Sie sich auf die Inspektion vor", sagte er. „Beschwerden sind überflüssig." „Sie sind mein Zeuge, Sie wissen jetzt Bescheid. Bei Gott! Ich schlag ihm den Schädel ein." „Reinigen Sie Ihr Gewehr. Der Feind hat eine Offensive gestartet", sagte Siegel, ohne ihn anzusehen. „Die Wache braucht Sie nicht mehr zu kümmern." Der Wachtposten drehte sich brüsk um und verließ die Unterkunft. Er blieb stehen, wollte zu Siegel zurück und ihn beschimpfen. Der Feind, dachte er, wer sind denn meine Feinde? Die Füße kamen ihm wie Blei vor, beim Atmen brannte ihm die Kehle. Er bot alle Kräfte auf, damit seine Knie das Gewicht seines Körpers trugen, während um ihn herum die Natur vibrierte, zu zerfließen und große Lavaseen zu bilden drohte. Er hätte sich gern unter die Bäume fallen lassen, begann dann aber, den Hügpl hinab zu den großen Steinen am Bach zu gehen.

189 Im Dschungel hörte man schwere Explosionen. Die Erde schien in wildem Schrecken in ihrem Innersten zu bersten. Was werden die Ziele sein, dachte er. Noch mehr Dörfer? Felder? Drei Frauen sahen ihn kommen mit dem umgehängten Gewehr. Sie betrachteten ihn mit jähem Schrecken. Sie wuschen die Kleidung der Soldaten in dem Rinnsal eines Baches, der, so dachte er, irgendwann demnächst verschwinden würde. Sie lächelten ihn unterwürfig an: ängsdich, knochig, klein. Er lächelte freundlich zurück, bückte sich, nahm den Helm ab, schüttete sich Wasser über den Kopf, trank einen Schluck. Die Frauen, jetzt regungslos, beobachteten ihn. Sie hatten vermutlich viel Leid miterlebt. Die Männer, die seine Uniform trugen, tauchten plötzlich, bis an die Zähne bewaffnet, irgendwo auf und entführten die jungen Männer, die verdächtigt wurden, mit der Guerilla zusammenzuarbeiten. Er versuchte, sie mit einer freundschaftlichen Geste zu beruhigen. „Puerto Rico", sagte er und legte dabei die Hand auf die Brust. „Ich, Puerto Rico", und er deutete vage in die Ferne. Er richtete sich auf und begann, einen Weg zwischen Reisfeldern entlang zu gehen. Die Bauern, die bis zu den Knien in den Saatfeldern steckten, belauerten ihn verstohlen. Er ging weiter, so als wäre die Müdigkeit von ihm abgefallen, so als hätte er nicht sechs Stunden lang an der Wegkreuzung gestanden, in der Sonne, benommen von dem Vorbeiziehen der in Marsch gesetzten Bataillone. Er dachte verbittert an Smith, der immer mit allem durchkam. Er betrachtete es als wahres Unglück für sich, unter Fremden zu leben. In seinem Zug waren vier seiner Landsleute, die anderen kämpften zu Hunderten überall dort, wo eine neue Front entstand, das heißt, an allen nur denkbaren Orten. E s war hart, mit den eigenen Leuten in stümperhaftem Engjisch reden zu müssen. Wenn sie mal spanisch sprachen, wurde gleich heftiger Protest laut. Man hatte so zu reden, daß es die Smiths, Siegels und Parkers verstehen konnten. Vor einer Bambushütte versuchten zwei Jungen, einen Esel von der Stelle zu bewegen. Als sie ihn entdeckten, hielten sie inne und beobachteten ihn erschreckt. Er sah sie geradeheraus an, machte Anstalten, auf sie zuzugehen. Die Jungen wurden unruhig, erwiderten aber seinen Gruß. Sie waren vielleicht fünfzehn Jahre alt, von zartem Knochenbau, barfüßig, genauso wie die Tausende von Guerillakämpfern, die nachts in geheimen Tunneln verschwanden. Sie mochten neutral sein, wenn dies in einem derart komplizierten Krieg überhaupt möglich war. Als er zehn Schritte gegangen war,

190 drehte er sich um. Die Jugendlichen belauerten ihn und tuschelten miteinander. Diesmal grüßten sie ihn nicht. Nachdem er eine Stunde gelaufen war, erreichte der Wachtposten ein Waldgebiet. Die Bäume streckten wirr ihre nackten Zweige dem Himmel entgegen. Täglich wurde der Dschungel von Maschinen überflogen, die Tonnen giftiger Chemikalien abwarfen mit dem Ziel, die gesamte Vegetation zu endauben, damit die Guerilla nicht unter dem Blätterwerk Schutz suchen konnte. Er sah vor sich ein verwüstetes Bananenfeld, verlassene Hütten, Uberreste von Leben, einen Spielzeugkarren, dem zwei Flaschen als Ochsen dienten, einen schiefen Palisadenzaun. Die Baumstämme verwandelten sich in hohe, verkohlte Statuen. Er ging weiter durch das Gelände, das er erkundet hatte, das damals noch rauchte und das jetzt schwarz vor ihm lag. Es gab keine Bäume mehr, nur noch Asche: eine Ebene aus schwarzen Schuppen, wie man sie nach einem Vulkanausbruch vorfinden würde. Ihm schien, als hätten sich die Felsen in Lava verwandelt und als wäre ihre rauhe Haut, bedeckt mit grauen Geschwüren und aschfarbenen Pusteln, fest mit der Erde verschmolzen. Inmitten der schwarzen Wüste wurde er plötzlich von Entsetzen gepackt. Es gab keine Vögel. Zwischen den versteinerten Erdspalten zeigte sich nicht die geringste Spur von Leben: nicht einmal ein Halm, kein Reptil mit runzeliger und verhärteter Haut, keine Ameise. Das Wasser war vermutlich mit einem Schlag verdampft. E r entdeckte einige Gegenstände aus Metall: den verbeulten Deckel eines Topfes, verrußte Nägel, das halb geschmolzene Blatt einer Hacke. Wo die Hütten gestanden hatten, waren Trümmerhaufen: Überreste von Rundhölzern, die die Flammen nicht völlig zerstört hatten, Scherben von Tongefäßen, die sich mit einem Windhauch in Staub auflösen würden, das verbogene Gerippe eines Eisenbetts. In dieser Höllenlandschaft hatte einst Leben geherrscht, Männer und Frauen beackerten das Land, pflanzten sich fort, vertrauten auf ihre religiösen Riten. Er blieb stehen, als seine Stiefel gegen Knochen stießen. Er drehte sich um, ließ seinen Blick rundum schweifen und entdeckte jenseits einer Unmenge versengter Bäume, was ihm Monate zuvor wie ein Wunder erschienen war: die kleine Behausung, die unbegreiflicherweise die Bombardierung überstanden hatte. Als er in das Innere sah, entdeckte er die Skelette der Frau und des Kindes, die sich auf der Erde, aus der ein kränkliches Kraut zu sprießen begann, immer noch umschlungen hielten. Ein paar Schwertlili-

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en wuchsen durch die Rippen der Frau hindurch. E r bekreuzigte sich, überrascht, weil sich seine Finger wie von selbst bewegten. Der Wachtposten begann, den verkohlten Dschungel in entgegengesetzter Richtung hin zu dem Abschnitt seiner Kompanie zu durchqueren. E r hatte Durst, aber er kam nicht auf den Gedanken, die Feldflasche an die Lippen zu fuhren. Ein loderndes Feuer verzehrte sein Innerstes. E r konnte nur mit Mühe sehen: Alles drehte und verzerrte sich. Die Sonne stach wie rotglühendes Metall auf die Reisfelder herab, die bis dahin vom Krieg verschont geblieben waren. „Mein Gott", murmelte er, „ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr." D a bemerkte er, daß er an der Stelle angekommen war, wo sich die beiden Jungen bemüht hatten, einen Esel von der Stelle zu bewegen. Sie kauerten auf dem festgestampften Boden, im Schatten eines Vordachs aus Bambus, und unterhielten sich leise. E r wollte nicht zu ihnen hinübersehen; er ging weiter, in Richtung Siegel und Smith und des Coronel, der seine Waffen überprüfen würde. E r blieb stehen und ging wieder zurück. Die Jugendlichen richteten sich auf, starrten ihn mit unverhohlenem Entsetzen an. Sie wichen zurück, wollten fliehen. Der Wachtposten rief. Sie näherten sich unentschlossen. Verblüfft beobachteten sie den Soldaten, der ihnen seine Munition vor die Füße warf, der ihnen nun mit ausgestreckten Armen sein modernes, großartiges Gewehr überreichte. Übersetzt von Julia Dietrich und Annette Pfalz

Pedro Juan Soto (1928) Romancier, Erzähler, Theaterautor, Journalist, Literatur- und Theaterkritiker; lebte seit seinem 18. Lebensjahr zunächst in New York, wo er ein Medizinstudium begann, dieses jedoch nach zwei Jahren abbrach, um sich dem Studium der Pädagogik und der Literaturwissenschaft zu widmen, das er 1950 bzw. 1953 in New York und schließlich 1976 mit der Promotion in Toulouse abschloß; kurzzeitig Militärdienst in der US-amerikanischen Armee; nach nicht sehr erfolgreichen Versuchen, sich in New York als Journalist und Kritiker über Wasser zu halten, kehrte er 1955 nach Puerto Rico zurück, wo er in der Verlagsabteilung des Erziehungsministeriums tätig war und an der Universität von Puerto Rico als Literaturprofessor wirkte; politisch aktiv in diversen Gruppierungen, die sich für die Unabhängigkeit Puerto Ricos einsetzen. Die durch die eigene Biographie genährte Erfahrung der puertoricanischen Wirklichkeit in ihrer dualen — insularen und kontinentalen — Ausprägung hat das Werk Sotos nachhaltig beeinflußt. Vorrangig thematisiert er das Problem der kulturellen Identität Puerto Ricos als Kolonie der USA, so wie es sich in Puerto Rico selbst ebenso wie in den Elendsvierteln New Yorks manifestiert, wobei er vehement gegen die ökonomische und kulturelle „Amerikanisierung" der Insel protestiert und seine Werke zu einem Plädoyer für die Würde und Selbstbestimmung des Individuums wie des Kollektivs als hispanoamerikanische Nation stilisiert. Dabei überzeugt Soto gerade durch die häufig liebevoll-ironische oder gar lakonische Distanz des Erzählers, die (Selbst-)Mitleid nicht aufkommen läßt. Seine literarische Karriere begann Soto mit dem 1956 publizierten Erzählband Spiks, der, von der Kritik besonders aufgrund der die Realität der nuyorricans spiegelnden sprachlichen Neuerungen gelobt, diese Lebenswirklichkeit in einer dem Naturalismus anverwandten Perspektive kritisch beleuchtet: eine Lebenswirklichkeit, die fundamental durch die Diskriminierung als „Spiks", aber auch durch die regressive Haltung der Puertoricaner angesichts der Lebensbedingungen und ihrer Unfähigkeit oder Weigerung, sich an die neue Umwelt zu assimilieren, geprägt ist. Ab Ende der 50er Jahre erschienen zahlreiche, auch international anerkannte Romane, deren Handlungsrahmen nunmehr die Insel selbst bildet, die aber die Problematik der nuyorricans nicht aus den Augen verlieren - etwa in dem Roman Ardiente suelo,fria estaddn (1961), in dem die Entfremdung von den eigenen Wurzeln des in New York lebenden und auf der Suche nach ebenjenen Wurzeln nach Puerto Rico zurückkehrenden Protagonisten in der Erkenntnis gipfelt, daß eine Rückgewinnung der ursprünglichen Identität und damit eine Überwindung des ihn charakterisierenden gespaltenen Bewußtseins nicht mehr möglich ist.

194 Der hier in Auszügen abgedruckte Roman Usmail ist zunächst ein Entwicklungsroman: die Geschichte des auf Vieques, der Puerto Rico vorgelagerten, zur US-Militärbasis degradierten Insel, heranwachsenden Titelhelden Usmail, unehelicher Sohn einer schwarzen Puertoricanerin und eines weißen US-Amerikaners, der über die Kommunikation mit verschiedenen Bezugspersonen einen — besonders aufgrund seiner rassischen wie nationalen Zwitterposition — schmerzlichen Prozeß der Selbstfindung durchlebt: über seinen Jugendfreund Guimbo, der sich aus Opportunismus an die Besatzer verkauft; über Cisa, die sich als Näherin mühsam über Wasser hält und ihn über die Sexualität endgültig in das Erwachsenenleben initiiert; und vor allem über Nana Luisa, Heilerin und Hüterin des kulturellen Erbes ebenso wie Symbol der (weiblichen) Widerstandskraft gegenüber der Überfremdung, die ihn nach dem frühen Tod der Mutter Chefa und des Großvaters Quico el Morrocoyo aufzieht. Doch der Roman ist weit mehr als eine individuelle Geschichte, die sich schließlich — gleichzeitig mit dem Bekenntnis zu den eigenen Wurzeln — in einem Gewaltakt, Vater- und Tyrannenmord zugleich, entlädt; er spiegelt auch die Lebenswirklichkeit des Kollektivs auf Vieques, stellvertretend für ganz Puerto Rico, wobei Schuldzuweisung nicht nur an die US-Amerikaner ergeht, sondern auch die Inkompetenz und Impotenz ebenso wie der Opportunismus der Puertoricaner selbst ins Visier genommen werden. Die Intention des Autors spiegelt eindrücklich ein dem Roman als Motto vorangestelltes Zitat von William Faulkner (aus: Intruder in the Dust), welches das Gesamtwerk Pedro Juan Sotos charakterisiert: „Einige Dinge mußt du stets außerstande sein zu dulden. Bei einigen Dingen darfst du niemals aufhören, ihre Duldung zu verweigern. Ungerechtigkeit und Schmach und Ehrlosigkeit und Scham. Einerlei, wie jung du bist oder wie alt du geworden bist." Werke (Auswahl): Spiks (Erzählungen; 1956); El huésped (Theater; 1958); Usmail (Roman; 1959); Ardiente suelo, fría estación (Roman; 1961); El francotirador (Roman; 1969); Un decir (Erzählungen; 1976); Un oscuropublo sonriente (Roman; 1982, Preis der kubanischen Casa de las Américas). Die abgedruckten Passagen (aus: Buch I, Kap. 1, 6; Buch II, Kap. 1, 2, 7, 12; Buch III, Kap. 1, 14, 15) entstammen der 1981 publizierten 5. Auflage (Rio Piedras: Editorial Cultural). Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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Usmafl In der Schlange, die beinahe um die Hütte herumreichte, blickten die Gesichter, die unter dem Dachvorsprung Schutz gefunden hatten, zum Himmel. Niemand sprach ein Wort. Aber zwischen den Ohren und dem dunklen Blinzeln einiger Augen, unter dem kaum wahrnehmbaren Pochen stark eingefallener Schläfen, hinter dem überwiegend gelblichen Ton, der die natürliche Farbe abgezehrten weißen, braunen und schwarzen Fleisches entstellte, kroch die Angst. Eine Angst, die von da oben, von diesen dichten und schnellen großen Wolken herabgestiegen war, um die Lippen aufeinanderzupressen und Blicke zu lähmen. Eine Angst, die langsam kroch und Erinnerungen an Wirbelstürme in ihrem Gefolge hatte. Eine Angst, die sich jäh mit dem „Krawumm!" des Donners aufbäumte, die von den schnellen und schweren großen Regentropfen gepeitscht und vom Wind gehetzt wurde - diesem verfluchten Wind, der in den Straßen die ruhigen Staubwolken vor sich her trieb - bis hin zu dem verwahrlosten Ort Isabel II, wo sich nach dem Wirbelsturm „San Cipriano" von vor zwei Jahren allerlei Gesindel eingenistet hatte. In den zum Himmel gewandten Gesichtern öffneten sich darauf die zuvor fest geschlossenen Lippen, um zu sagen: „Im Radio haben sie doch nichts gesagt, oder?" „Nein, ist nichts weiter als ein Platzregen..." „Im Radio haben sie nichts gesagt, aber vergiß nicht, daß wir schon August haben." „August. 'San Ciriaco' kam im August." „O weh! Gott steh uns bei!" „Amen." Und sie sahen weiter zum Himmel hinauf, durchnäßt und von Windböen gepeitscht, die auch dem Schild der P.R.E.R.A. 1 kalte Stöße versetzten. Sie vergaßen den Hunger. Sie vergaßen, was sie zu dieser reglosen und endlosen Schlange gefuhrt hatte, die es seit dem vorherigen Jahr gab, als auf der Insel diese Komparsen der Regierung erschienen waren, um, wie es hieß, das Chaos der Wirtschaftskrise zu lindern. [...]

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P.R.E.RA. steht für Puerto Rican Emergenti ReliefAdministration, die US-amerikanische Koordinationsstelle für die im Rahmen des New Deal von Franklin D. Roosevelt den Puertoricanem gewährte Sozialhilfe.

196 Das Schlimmste von allem war die Erinnerung und daß man sich so unbedeutend fühlte, so hungrig und geschunden auf einer der vielen Inseln, die Gott in einer jener Nächte geschaffen haben mußte, in denen er mit dem Teufel stritt. Verärgert wird Gott in dieser Nacht gewesen sein, vielleicht verärgerter denn je angesichts des böswilligen Starrsinns Satans. Er hörte ihm zu, während er mit jenem Klumpen Lehm, an dem er herumknetete, beschäftigt war; er wies ihn ab mit seinen ruhigen und sanften und milden Worten, ohne zu bemerken, daß die Verzweiflung, die er in seiner Stimme nicht zuließ, von seinen Fingern in den Lehm tropfte. Ohne gewahr zu werden, daß das Scheitern, das er angesichts dieses starrköpfigen und verirrten Engels voraussah, in dem Felsbrocken, den er formte, Gestalt annahm. Und als der Moment ihrer beider Trennung gekommen war, wird der Teufel mit einem Blick auf den Klumpen Lehm, den Gott aus der Hand fallen ließ, gesagt haben: Schlecht hast du das geschaffen, denn es hat ja nicht einmal Flüsse, damit deine Geschöpfe es bewohnen können. Und als Gott jenes Zeugnis seiner Verzweiflung und Ungeschicklichkeit betrachtete, wird er voll Bedauern und Scham geantwortet haben: Das ist wahr. Und der Boden ist äußerst steinig, wird der Teufel hinzugefügt haben. Selbst ich könnte es nicht besser machen. Und bevor Gott sein unheilvolles Werk wieder an sich nehmen konnte, wird der Teufel es ins Meer geworfen und gesagt haben: Mal sehn, wozu der Mensch imstande ist. Und da wird er hingefallen sein, der Erdklumpen, um sich im Meer, weit weg von den reuigen Händen Gottes, zu verlieren. Aber dieser wird sich dann gebückt haben, um mehr Lehm in die Hand zu nehmen und seinen Fehler wiedergutzumachen, indem er dieses Mal mit größerer Liebe und Umsicht formte, etwas mehr Land zugestand und die Flüsse nicht vergaß. Und gewiß wird er, während er diesen anderen Klumpen Lehm auch ins Meer warf, sehr nah an den vorherigen, gesagt haben, bevor er ging: Der Mensch wird sich zu helfen wissen. Deshalb befanden sich einige hier, auf Vieques, inmitten der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, während andere sich auf der anderen Seite des Kanals, auf Puerto Rico, befanden, sich der Flüsse und des Grüns und der Bergspitzen erfreuten und die kleine Insel vergaßen, die Gott nicht hatte erschaffen wollen.

197 Aber nachdem der Wind sich gelegt hatte, ebbte die Angst schon ab. Und auch wenn es weiter regnete, so war der Regen doch ein Segen für die ausgetrocknete Erde von Vieques. Dort auf dem Land vernarbten die Risse im Boden, und vielleicht würde die Vegetation nicht mehr in der niederdrückenden Helle der herrschenden Trockenheit zu Stroh verdorren. Jetzt trat ein Bauer mit seinem Lebensmittelpaket aus der Hütte, sah von einer Seite der Straße zur anderen, bis er eine angenehmere Zuflucht entdeckte, und entfloh dem übelriechenden, dunklen Innern, wo Mr. Adams sie drangsalierte. Und als die Schlange sich einrollte, öffnete ein anderer die Tür und betrat das Lager, wo Fleisch und Milch in Dosen verteilt wurden, um den Hunger erbärmlicher und rachitischer Männer und Frauen zu lindern. [...] Mr. Adams kehrte dem Mann den Rücken zu, wobei er ihn innerlich verfluchte. Bei keinem von ihnen sah er Anzeichen von Scham, nur Zynismus, nur diese dreiste und hochmütige Haltung. Sie waren Abschaum, Würmer, Auswurf, dem man niemals die amerikanische Staatsbürgerschaft hätte verleihen dürfen. Oh Gott, wenn er vorher gewußt hätte, was die Tropen in Wirklichkeit waren: Müll, Sonne und Wirbelstürme! Hätte er sich doch nie von den dummen Hollywoodfilmen verführen lassen, mit ihren MaxFactor-Schönheiten, die im Mondlicht an einem Rosenstiel herumknabberten! Mantillen und delikate Fächer, Duelle aus Leidenschaft, Gitarrenmusik! So ein Blödsinn! „Mister, unterschreiben Sie mir bitte einen Berechtigungsschein für eine Hose." „What?" „Einen Berechtigungsschein für die Hose von meinem Papa", lächelte die junge Schwarze, ohne den Blick von seinen roten Haaren zu lösen. „Wissen Sie, weil er doch nicht ganz richtig im K o p f ist, und wenn er ein Bedürfnis verspürt, na ja... Und unsereins muß sie dann so oft waschen." Mr. Adams betrachtete einen Moment lang die Gesichtszüge, verschönt durch die kokette und vertrauensselige Miene, welche jene vom Hunger erzwungenen Höhlen in den Wangen als bloße Launen einer Frau erscheinen ließen, die sich durch eine Diät verzweifelt ums Abnehmen bemüht, um außergewöhnliche und reizvolle Kurven und Linien zur Schau zu tragen. Eine Schwarze mehr, die weder Überraschung noch Mißfallen in ihm hervorrufen sollte, die sich aber besonders von seinen karmesinroten Haaren angezogen zu fühlen schien.

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„Name?" Wie kam es nur, daß sie sein Gebaren eines müden Gottes so sehr bewunderte? „Chefa... Josefa Laugie, zu Ihren Diensten." [...] Der Ruf hallte über die ganze Insel: Der Amerikaner hat sich aus dem Staub gemacht! Der Amerikaner war auf und davon! [...] Chefa war schon ruhiger geworden, wenn auch schwächer denn je. Sie war gerade wieder aufgestanden, nachdem sie wegen der starken Übelkeit und der erschöpfenden Tränenausbrüche, die das Verschwinden von Mr. Adams auslöste, länger als eine Woche das Bett gehütet hatte. Kataplasmen aus Yerbamora, feuchtwarme Umschläge aus Schlafmohn, Oregano- und Rautenaufgüsse hatten sie wieder auf die Beine gebracht. Während sie mit ihrem Bauch, der ihr bereits im Wege war, wenn sie die Arme auf die Knie legte, vor der Tür der Hütte saß, dämmerte sie wie im Halbschlaf dahin. Sie war gleichzeitig die hysterische Schwangere und die stille Besucherin, die den Kopf wandte, um auch die Besorgnis auf den Gesichtern von Quico el Morrocoyo und Nana Luisa zu bedauern. Niemand sonst bedauerte sie. Die Nachbarn kamen nicht in die Nähe des Hauses, denn sie hatten sich alle verschworen, sie zu isolieren. Wenn sie weiterhin Nana Luisas Hütte aufsuchten, war es aus reiner Notwendigkeit. Aber von ihr, die ein Fischer in Playa Vieja zusammen mit dem Amerikaner gesehen hatte, wollte niemand etwas wissen. Nachdem sie eins und eins zusammengezählt hatten, was in diesem Fall mehr als zwei ergab, wußten sie, daß sie Lebensmittel gehamstert hatte, die den Hunger vieler hätten lindern können. Und dergleichen wäre nicht so schlimm gewesen, wäre der Mann ein Viequenser, ein Puertoricaner, gewesen, denn Hunger untergräbt auch die Moral... Aber ein Amerikaner, ein Wesen, das, um sie zu beleidigen, keiner Begründung bedurfte! Das hieß, ihn mit hinreichenden Gründen für ein weiteres Jahrhundert der Beleidigungen zu versorgen! Das bedeutete, sie doppelt zu verraten! Aber für Chefa waren die Leute schon nicht mehr wichtig. [...] Wichtig war ihr Mr. Adams, der sie, obwohl er Vieques verlassen hatte, in seinem Herzen trug, der leise zu ihr über seine baldige Rückkehr sprach, der sie ermunterte, weiterzuleben und sich nicht um die Leute zu kümmern, der ihr versprach, bei seiner Rückkehr schöne Möbel mitzubringen für ein Häuschen, das sie direkt an der Straße bauen würden..., auch wenn alle vor Wut platzten.

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Und da saß sie nun, vor der Tür, in Erwartung seiner Nachricht, kerzengerade, um ihren Bauch nicht allzu sehr anschwellen zu lassen, und mal wünschte sie sich, der Amerikaner würde recht bald zurückkehren, ein anderes Mal betete sie darum, daß ihn etwas aufhalten und er nicht eher nach Vieques kommen sollte, bis sie sein weiches, rundliches Baby zur Welt gebracht haben würde. [...] Der Abend war kühl und windstill, und ihr Herz schlug hoch, so als würde sie sehr bald eine Nachricht von Mr. Adams erhalten. Nana Luisa sollte bei ihr bleiben, um ihre Freude mit ihr zu teilen, wenn jemand den Hang des Viertels heraufsteigen und rufend näher kommen würde: „Chefa, Post von Mr. Adams! Post von deinem Mann, Chefa!" [...] Am Anfang war die Kugel der Nationalisten, die in San Juan den amerikanischen Polizeichef durchschlug und einen einzigen, ohrenbetäubenden Knall erzeugte. Dann gab es zweimal einen Knall, je einen für das Leben der Nationalisten, die auf einem Polizeirevier als Vergeltung durchlöchert wurden. Und das genügte, um die Rauchwolken nach Art der Indianer zu Botschaften werden zu lassen, die Groll hervorriefen, Fäuste, Zähneknirschen. Die Schatten senkten sich nieder, umwölkten alles, versteckten die Saat des Hasses in der Ackerfurche des jibaro. Jede Truppeneinheit erhielt Verstärkung und wartete darauf, daß die Nationalisten kämen, um Rechnungen zu begleichen. Jede öffentliche Versammlung - auf dem Platz, im Café, an der Ecke irgendeiner Straße und sogar auf dem Hof der entlegensten Hütte löste sich auf, sobald jemand bemerkte, daß er, obwohl er laut über Dinge diskutierte, die nichts mit Politik zu tun hatten, wer weiß wem verdächtig vorkommen konnte. Und jedes Haus beschränkte sich darauf, seine Türen nur einen Spalt zu öffnen und sie beim geringsten Schrecken zu schließen, denn Vorsicht war besser als Nachsicht. Das war der Grund, warum Usmail nicht rechtzeitig das Fenster erreichte. Er konnte schon krabbeln, und das Fenster — es öffnete sich einem blauen Himmel, einigen sehr grünen Blättern, deren Spitzen das einzige waren, was er sah, dem flüchtigen Vorüberziehen sehr schneller kleiner Flügel und fröhlichen Geräuschen - zog ihn unbändig an. Einmal setzte er an, um zu ihm hinüberzukrabbeln, und gab es auf. Am nächsten Tag versuchte er es noch einmal und schaffte es sogar ein Stückchen weiter. Und am darauffolgenden Tag noch ein bißchen weiter. Bis er, immer mit dem Kopf nach unten und mit dem Fußboden hadernd, die Wand erreichte, wo er das Fen-

200 ster vermutete. Nur daß es nicht da war. Daraufhin sabberte er ein wenig, drehte um und begann den Rückweg hin zum Ausgangspunkt. Und als er dort ankam, bewegte er eine Weile den K o p f hin und her, um zu sehen, ob ihm das blaue Licht in die Augen sprang. Eines Tages erschien jenes Licht wieder, und Usmail begann von neuem seine Reise, ließ ab von den Ameisen, mit denen er sich bis dahin die Zeit vertrieben hatte. Aber er kam nicht einmal bis zur Hälfte der Wegstrecke, denn er sah, wie Nana Luisa das Fenster schloß und fest verriegelte. Das Knallen hatte nun, am Palmsonntag, in Ponce seinen Anfang genommen. Und Nana Luisa war außer sich vor Schrecken, denn es gab so viele Schatten — lange und zahlreiche Schatten, die in den Straßen von Ponce unter den Maschinengewehren der Polizei gefallen waren und die von der Hauptinsel auf die Karibik fielen —, daß sie manchmal mit Usmail im Schaukelstuhl schlief. Einige Nationalisten aus Vieques, erzählten die Leute, waren in die Berge geflohen, um einem weiteren Gemetzel zu entkommen. Und sie konnte nicht ruhig schlafen bei der Vorstellung, daß sie hungerten und dürsteten nicht nur nach Nahrung und Wasser, sondern nach Gerechtigkeit. Nicht nur hungrig waren sie, sondern verzweifelt, auf Rache bedacht... Aber dazu hatten sie auch allen Grund, dachte sie. Warum hatte sich die Polizei bewaffnet, um eine friedliche Demonstration aufzuhalten, die nicht nur friedlich, sondern auch wehrlos war, obwohl diejenigen, die demonstrieren wollten, sich Kadetten der künftigen Republik nannten? Welches Verbrechen hatten diese begangen, wo sie doch einige Stunden zuvor die Genehmigung der Behörden erhalten hatten und es einige Stunden danach nicht bewiesen war, daß sie etwas Böses beabsichtigt hatten? Nein, sagte sie sich und wiegte sich beim flackernden Schein der Petroleumlampe in ihrem Schaukelstuhl. Nein. Die Dinge stehen schlecht. Erst Adams und jetzt das. Man mußte dem ein für allemal Einhalt gebieten, denn sonst bricht der Damm. Und dann wird das Land nicht nur von Wasser überschwemmt, nicht nur von Wasser... [...] Und eines Tages, an einem Tag, an dem die Ameisen nicht wie verrückt durcheinander liefen, weil er aufgehört hatte, sie zu quälen, und sich wieder dafür entschieden hatte, sie leben zu sehen, öffnete sich das Fenster. Er konnte schon mit waghalsigen kleinen Schritten laufen, mittelgroße Strecken dank irgendeines Halts, den er an ihrem Ende vorfand, zurücklegen, und das Fenster wirkte so anziehend und so unwiderruflich geöffnet... Er sah hinüber zur Küche, wo Nana Luisa war, stand schwankend auf, öffnete die

201 Hände und setzte sich mit einem Ruck von der äußersten Ecke des Raumes in Bewegung. E r ging mit einer etwas unbedachten Eile und Zielsicherheit vorwärts, die Füße gerade auf den Boden gesetzt, die Zehen gespreizt und versteift, die Beine auf und nieder wie Kolben, den großen K o p f zur Seite geneigt. So stürzte er auf die ersehnte Wand zu, streckte die Zungenspitze zwischen den Mundwinkeln hervor, holte tief Luft und legte die Hände auf das Fensterbrett. Dann stellte er sich auf die Zehenspitzen, reckte den Hals und sah hinauf zum Himmel und zu den feurig grünen Blättern vor der blauen unermeßlichen Weite und wartete darauf, daß das geflügelte Zwitschern vorbeikam. [...] Für alle war die Zeit gekommen, da sie Unlust und Gleichgültigkeit an den Tag legten und jedes zweite Wort mit einem Achselzucken oder einem Öffnen mißmutiger Hände in der Luft unterstrichen. Das Geschrei, die Beschwerden, die Gesten des Protests waren alle in den vergangenen Konflikt der Nationalisten eingebracht worden. Diejenigen, die gegen den kolonialen Mißbrauch protestiert hatten, waren jetzt ebenso leer an Protestgeschrei wie diejenigen, die gegen die Politik von Albizu Campos protestiert hatten. Außerdem meinten sie, daß Vieques, auch wenn dort Nationalisten lebten, von all dem zu weit entfernt war, als daß sie mit ihren Stimmen den Lauf der Geschehnisse verändern könnten. Es war schon zu spät, etwas zu tun, selbst um in die jüngsten Ereignisse einzugreifen. Nana Luisa dachte schließlich genauso wie ihre Nachbarn. Hin und wieder entfuhr ihr noch ein barsches Wort gegen die Amerikaner, beschwerte sie sich über die mißbräuchlichen Vorkommnisse, aber sie sah schließlich ein, daß sich nichts ändern würde. So setzte sie, wenn sie an den Nachmittagen bei irgendeinem Frauenzirkel erschien, dieselbe unbeteiligte Miene auf wie die Männer bei ihren Treffen. [...] Etwas unterbrach die Monotonie der Treffen in diesem neuen Jahr. Etwas vibrierte in der Luft und elektrisierte die Blicke. Etwas, das wie ein Gemunkel über einen Flottenstützpunkt, der irgendwo auf Vieques errichtet werden sollte, begann und sich innerhalb weniger Tage in wilde Gerüchte verwandelte: daß wohl die gesamte Bevölkerung gezwungen werden würde, die Insel zu verlassen... [...] Und alles mündete in Spekulationen und Aufmärsche schwarzer Fahnen vor dem Gemeindehaus, um gegen die Arbeitslosigkeit, die auf der Insel um sich griff, zu protestieren; Spekulationen und schwarze Fahnen vor dem Gemeindehaus, um den Bau des geplanten Stützpunktes zu verhindern;

202 Spekulationen und schwarze Fahnen, um Klage zu erheben gegen eine Verwaltung, die in Schlamperei oder Unfähigkeit versank. [...] Der Junge mit den Haaren in der Farbe des Sägemehls und im Kontrast zu dem Weiß seiner Haut einer zu platten Nase und zu fleischigen Lippen tobte bereits mit der resdichen Kinderschar durch das Viertel. Monate zuvor war ihm dieses Vergnügen untersagt gewesen. Monate zuvor hatte Nana Luisa noch Zweifel gehabt, ob die Nachbarschaft das Kind von den Sünden seiner Eltern freigesprochen hatte. Deshalb hatte sie ihn nicht aus dem Haus gelassen, immer unter ihrem wachsamen Auge und ihrer schützenden Hand. Aber mit der Zeit hatte sie gemerkt, daß alle die Vergangenheit begraben hatten; daß alle mit dem Kleinen ihre Späße trieben, wenn sie ihn am Fenster sahen; daß selbst diejenigen, die geschworen hatten, sie nicht mehr zum Kurieren ihrer jeweiligen Gebrechen zu konsultieren, wieder den Weg zu ihrer Tür gefunden hatten. [...] Und es waren ebendiese frühen Morgenstunden, die schließlich alles zum Problem werden ließen. Zunächst die Alpträume. Aber nicht die ersten, nicht die, die zu Anfang geheim und unzugänglich waren und sich nur durch einen kleinen, plötzlichen Schrei Nana Luisas zu erkennen gaben, den Usmafl im Halbschlaf unterbrach, indem er heftig an ihrer Schulter rüttelte. Nana Luisa schüttelte dann ihr Kissen auf und setzte sich gerade, um in die Dunkelheit zu starren, oder strich das Bettuch glatt und wälzte sich auf den glühenden Kohlen der Schlaflosigkeit wieder auf die andere Seite. Am folgenden Morgen sprachen sie nicht über das Vorgefallene. Wahrscheinlich, so dachte sie, war Usmafl weder ihr Schrei noch ihre nachfolgende Schlaflosigkeit bewußt geworden. Oder vielleicht war es so, daß er nichts Ungewöhnliches daran fand: Jeder leidet bisweilen unter Alpträumen, und danach hat er Mühe, wieder einzuschlafen. Das hätte sie gesagt, wenn er sie gefragt hätte. Aber dieses Schweigen zwischen den beiden über die Alpträume hielt nicht lange an. Irgendwann erwachte sie von etwas mehr als dem heftigen Rütteln Usmafls. Sie erwachte von einer bohrenden, fast argwöhnischen Stimme, die fragte: „Wer ist Mister, Nana? Wer ist Mister?" Da befahl sie ihm dann, still zu sein und weiterzuschlafen. Aber ihr wurde bewußt, daß nichts mehr wie früher sein würde, daß sie schon im Schlaf redete und wer weiß was für Dinge sagte. Einige Nächte später, als sie aus einer weiteren schrecklichen Szene auftauchte, in der Mr. Adams eine Chefa steinigte, die nackt und voller Entsetzen durch das Viertel lief, fand sie Usmafl auf dem

203 Bett sitzen. „Mister Ana?" fragte er. Und sie: „Schlaf jetzt, schlaf jetzt!" Aber keiner von beiden schlief in dieser Nacht wieder ein. Drei Nächte später zwang sie sich, vor dem nächsten Alptraum aufzuwachen. Sie stieg aus dem Bett, ging in die Küche und begann, das Frühstück zu machen. Und er folgte ihr augenblicklich, um sich, eingehüllt in sein Nachthemd, auf einen Stuhl zu setzen und ihr zuzusehen, wie sie sich vor dem Herd zu schaffen machte. In dieser Nacht sprachen sie kein Wort. [•••] Bis sie schließlich begriff, daß diese Einsamkeit zu so früher Stunde, diese absolute Abgeschiedenheit, eine Aussprache begünstigte. Und daß er schon seit geraumer Zeit darauf drängte, auch wenn er nichts sagte. Da war sie endlich bereit, über das von ihm Geforderte zu sprechen, denn sie sagte sich, daß es ihre Pflicht und für sie vielleicht der Moment war, die Bitternis bis zu einem gewissen Grad zu überwinden. Sie mußte ihm alles erzählen, um wieder in Frieden leben zu können, wenn das möglich war; um sich von seinem Drängen zu befreien, um ihre Mission als Hüterin eines Vermächtnisses zu erfüllen, das sie endlich weiterreichen mußte. Doch konnte sie dies nicht leichtfertig tun. Sie mußte ihre Worte abwägen, den Ton genau bemessen, dem Bericht die jeweils angezeigte Dosis an Zurückhaltung oder Offenheit verleihen, damit Usmafl diese neue Lektion des Lebens angemessen verarbeitete. [...] „Es ist so, daß ich..., Usmafl. Ich..., ich habe versucht, dich großzuziehen, einen Mann aus dir zu machen. Einen Mann. [...] Ich hab versucht, meine Pflicht zu tun... Nein, nicht meine Pflicht. Hör zu. Als Chefa und der Amerikaner sich zusammentaten..." „Der Amerikaner?" fragte er. „Welcher Amerikaner?" „Dein Papa." Usmafl versuchte, ungläubig dreinzuschauen, aber etwas in seinem Blick konnte sich nicht dazu entschließen, es tatsächlich zu sein. Mit einer Stimme, die schon in einem Schrei gipfelte, schien er zu sagen: E s ist Nana Luisa, die das sagt. Das kann keine Lüge sein. Es ist Nana Luisa! „Mein Vater", fragte er, „ist ein Amerikaner? Deshalb ist er nicht zurückgekommen. Und meine Mutter..." „Hör doch zu, Usmafl, hör zu! Sag noch nichts. Laß mich dir erzählen." Und sie erzählte ihm, sie erklärte ihm, welche Arbeit zu verrichten Mr. Adams nach Vieques gekommen war, seine regelmäßigen Treffen mit Chefa, während Quico el Morrocoyo mit seinem wirren Kopf sich um nichts küm-

204 merte. Sie korrigierte auch das. Quico hatte an dem, was geschehen war, keine Schuld. Und auch Chefa nicht. Und vielleicht war selbst Mr. Adams ein unfreiwilliger Komplize gewesen. Nein, kein Komplize: ein Opfer. Aber das nun auch wieder nicht. Besser würde man sagen... „Also wer denn nun?" fragte Usmail, verwirrt und trotzig angesichts des ungeheuren Wirrwarrs, aus dem er mit diesem Namen hervorgegangen war. „Irgendwer muß an all dem schuld haben. Meine Mutter oder er..., der Amerikaner." „Die Zeiten, Usmail. Die Zeiten. Sowas passiert eben..." Und hier beendete Nana Luisa das Gespräch. Für diesen Morgen reichte es. Es würde noch andere, viele andere geben. Jetzt mußten sich beide von alldem erholen. Und er mußte das Gehörte zerlegen, es mit größter Sorgfalt in seinem K o p f neu ordnen, Platz schaffen für das Wichtigste: seinen Namen. An den folgenden Tagen mußte sie immer wieder auf dasselbe zurückkommen. Sie mußte einige Dinge klarstellen, zu anderen ihre Meinung äußern, Mr. Adams ausführlicher beschreiben... Und auch aus der Ferne an den Überlegungen Anteil nehmen, die Usmail, während er aß, während er seine Schulaufgaben machte, während er an dem kleinen Balkon lehnte, den drei abwesenden Personen widmete. Anscheinend gab das Usmail die Kraft, sich einige Tage später, an jenem anderen Morgen, der Wahrheit über seinen Namen zu stellen. Vielleicht geschah es, weil er darauf gefaßt war, weil er schon seine eigenen Schlüsse gezogen hatte, als er seine Eltern mit dem, was Nana Luisa bereits gesagt hatte, in Verbindung brachte: „Dein Name ist der Name der Post." Dem fügte sie jetzt hinzu: „Auf englisch." Die Details waren es, die diesem letzten Kapitel seiner Vergangenheit eine neue Wende gaben. Die Fakten hielten sich getreu an das Kindermärchen, das Nana Luisa ihm einmal erzählt hatte, aber die Details änderten alles. Usmail war nur ein paar Buchstaben auf einem Postsack, auf einem Briefkasten, in irgendeinem Winkel der Post. [...] Der Ruf hallte über die ganze Insel: Jetzt haben sie uns in die Zange genommen! Jetzt ist es aus mit Vieques! Denn die Marine hatte sich fast das gesamte Land im Westen der Insel angeeignet, um es als Truppenübungsgelände zu nutzen, und da sie sich vorher bereits einen großen Teil des Ostsektors angeeignet hatte, um den Flottenstützpunkt zu errichten, blieb nun der Zivilbevölkerung nur ein Streifen Land in der Mitte. Nicht umsonst

205 hatte es überall so viele Enteignungen gegeben! Und wenn sie Manöver ankündigten, würde es in den Hügeln Gewehrfeuer, Kanonen, Panzer geben, und Flugzeuge würden über die Insel fliegen...! [...] Die Hysterie war so groß, daß man an jeder Ecke auf improvisierte Redner und überall auf traurige Besäufnisse stieß. Es wurde erörtert, sich in einem Protestmarsch an den Gouverneur von Puerto Rico persönlich zu wenden; es wurde gesagt, als nächstes würde man sie zweifellos von der Insel vertreiben und auf dem Meeresboden Höhlen graben lassen; es wurde alles verflucht, was mit der Marine der Vereinigten Staaten zu tun hatte; es wurde Rache geschworen jedem uniformierten Individuum, das es wagen sollte, vom Stützpunkt in den Ort zu kommen; es wurde beständig wiederholt, daß die Erde heilig war und man ihre Fruchtbarkeit nicht auf diese Weise verächtlich machen durfte... Auf der Versammlung versicherte der Bürgermeister, daß er höchstpersönlich alles Mögliche und Unmögliche unternehmen würde, damit der Boden von Vieques wieder in die Hand der Menschen von Vieques zurückgelangen würde. Nach einer weitschweifigen und ungestümen Predigt stellte er die Repräsentanten der verschiedenen politischen Parteien vor, um deutlich zu machen, daß in dieser Stunde Null, wie er sagte, alle nur einen Kampf „den Kampf um den Boden, auf dem sie standen!" - und nur eine Partei „die Partei von Vieques!" — unterstützten. Jeder einzelne von ihnen forderte seinerseits dasselbe: einen anhaltenden und beredten Protest gegenüber der Regierung; einen unnachgiebigen, aber gewaltlosen Widerstand; eine Reihe von Proklamationen, die von allen Mitgliedern aller politischen Parteien unterschrieben werden sollten; einen unumstößlichen Glauben an den Sieg der Wahrheit und der Vernunft... [...] Die Antworten der Regierung kamen, sämtlich verpackt in dieselbe aufmunternde Tonart: Jenes Vorhaben würde durchgeführt, um in der ganzen Welt die Demokratie zu verteidigen; auf Vieques würden die Soldaten der Freiheit ausgebildet; die Insel würde in die Geschichte eingehen als Bastion der Menschenwürde, der besten Regierung der Welt, der unvergänglichen Menschenrechte... Jetzt ist alles aus, dachte Nana Luisa, denn wir werden das nicht tatenlos hinnehmen. [...] Aber besser war es, an all das nicht zu denken, um sich nicht aufzuregen. Sofort fielen Nana Luisa die Wutanfälle Usmafls und die dummen Streitereien der Viequenser ein zu einer Zeit, in der Worte ein armseliger Ersatz

206 für Handeln gewesen waren. Wenn Usmail vorhatte, weiterhin seinen Namen zu verfluchen, war sie bereit, ihn zu einem Anwalt oder Richter zu bringen, der ihm erklärte, was er tun mußte, um nach Belieben einen anderen Namen anzunehmen. Der Name war nicht wichtig, auch wenn er darauf bestand, ihn mit der schwierigen Lage, die alle durchlebten, in Verbindung zu bringen. Wichtig war die Lage an sich, die keiner zu ändern versucht hatte. Oder die alle gleichzeitig nur mit Gerede zu ändern versucht hatten. Und jetzt war nicht die Zeit für Worte, sondern für klares und entschlossenes Handeln. Aber wozu wieder zu ihren dummen Träumen zurückkehren? In Wahrheit sahen nicht alle Viequenser tatenlos zu; aber sie liefen auch nicht mit primitiven Waffen auf die Straße in der Absicht, gemeinsam die Amerikaner aufzuhalten. Die Amerikaner waren da, und das war das Traurige und das, was in jedem, der sein Land wirklich liebte, Panik aufkommen lassen mochte. [...] An dem letzten Abend, an dem sie ins Dorf ging, hatte sie sich von alledem schon ein wenig erholt. Die Amerikaner waren erst seit wenigen Tagen da, aber Isabel II verströmte schon den Hauch einer alten Säuferin und schlug um sich wie eine hundertjährige Greisin, die man mit Gewalt aus ihrem Schaukelstuhl gezerrt hatte. Wo es vorher nur eintürige Buden und verriegelte Schuppen gegeben hatte, tauchten nun Bars und Clubs und Tanzsalons mit lächerlichen Namen auf. Die Neutralen hatten es richtig erfaßt, als sie, bevor sie aufgehört hatten, neutral zu sein, sagten: Die Manöver würden den Wohlstand nach Vieques bringen. Hier war der Wohlstand: Musikboxen und Glücksspielautomaten, Bordelle neben dem Friedhof, überall Kneipen und haufenweise Betrunkene in den Straßen. Jawohl, Señor, der Wohlstand! Und wenn schon so die Nächte waren, dann waren die Tage noch schlimmer. Die ganze Erde bebte von den Scheinbombardements, den fingierten Gefechten und den Schießübungen in den Hügeln. Und Tag und Nacht hörte man neben dem Lärm der Geschosse in den Hügeln und der Musikboxen im Dorf das anhaltende Brüllen der endaufenen Rinder auf dem Manövergelände. Das heißt, eigentlich waren sie gar nicht entlaufen, sondern zurückgelassen worden von ihren Besitzern, die sich gegenüber dem Befehl der Militärs, das Vieh aus jenem Sektor zu entfernen, taub gestellt hatten. Sie lebten von der Hoffnung, daß die Amerikaner für jedes von verirrten Kugeln getötete Stück Vieh gut bezahlen würden. Es kam nicht

207 darauf an, daß sie weder Milch zum Frühstück noch Fleisch zum Abendessen hatten. Die Rinder waren ihr wandelndes Kapital. Verrückt waren sie alle! Auch sie selbst, obwohl sie sich mit den anderen Spielarten des Wahnsinns, die auf der Insel reichlich vertreten waren, nicht angesteckt hatte. Ihren Wahnsinn symbolisierte jene kleine schwarze Fahne, die an einer Ecke des kleinen Balkons flatterte; die kleine schwarze Fahne, sie war das gesenkte Haupt und die wütenden Fäuste ihres alten und beinahe gebrochenen Kampfgeistes. Aber nur beinahe. Denn ihr Zusammenbruch neulich war nichts gewesen. Sie fühlte sich... Was hatte sie an diesem Abend zu tun? Usmail mußte gleich kommen. Er sollte nicht allein ins Dorf gehen und sich dabei mit der Vorstellung quälen, sein Name sei ein spezielles Symbol der Verdammnis. Es war kein Funken Boshaftigkeit in Chefa gewesen: Das mußte sie ihm noch einmal auf andere Weise erklären, da ihre bisherigen Versuche ihn nicht von dieser Vorstellung abbringen konnten. Sie würde es heute abend erneut versuchen. Und wenn er weiterhin darauf bestand, sich dieses verfluchte Mal von der Stirn zu löschen - sei still, sagte sie zu sich selbst, es gibt keine Verfluchungen —, dann würde sie ihn zum Gemeindegericht schicken, um herauszufinden, wieviel es kosten würde... Er hatte sie schon so weit gebracht, daß sie gegen ihre eigenen Überzeugungen dachte. Sie würde zu ihm sagen: „Glaubst du, daß du das loswirst, indem du deinen Namen änderst?" Das: der Fluch, der Spott, was auch immer. „Glaubst du, daß wir uns, indem du deinen Namen auslöschst, von den Amerikanern befreien werden?" Das. die Tatsache, daß die Amerikaner aus Vieques einen Fußabtreter gemacht hatten und er gleichzeitig einen Namen trug, der so... [...] Sie verfolgten ihn, sie ließen ihn nicht einmal hier in Ruhe! Da unten überlegten sie einen Moment, welchen Weg sie einschlagen sollten... Aber schließlich wurde der eine von dem Lichterglanz der Bars hier oben angezogen, und der andere horchte auf den Radau bei Polito. Deshalb kamen sie. Usmail wurde langsam wieder nervös, denn er fürchtete, daß ihm die Ohnmacht, die er sein Leben lang auf Vieques erfahren hatte, im Gesicht geschrieben stehen könnte und daß diese sie, wenn sie ihn aus der Nähe sehen würden, zu neuem Spott und Strafen provozieren könnte. [...] Sein Schlag erfolgte über den eigenen linken Arm hinweg, mit dem er Meche festhielt. Und als der andere zuschlug, nachdem er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte und auf ihn zugekommen war, hatte er Meches

208 Körper schon an sich gezogen, damit er ihm als Schutzschild dienen und einen Teil von dem abbekommen würde, was sie verdiente. Dann ließ er sie fallen, sie war benommen von dem Faustschlag, der sie am Kopf getroffen hatte, und sie schrie, krümmte sich, fluchte... Und jetzt sah er in ihr nicht mehr die unbekannte Prostituierte, sondern Cisa, Nana Luisa, alle Frauen, die in irgendeiner Nacht auf Vieques so geschrieen hatten, seine eigene Mutter, die Insel, jenen verletzlichen Teil seines Lebens, der zerbrochen oder zersplittert war durch ihre Schuld und durch die Schuld all dessen, was weiß und gewalttätig und despotisch war. Er nutzte die Überraschung des anderen angesichts der gestürzten Meche, sprang auf ihn zu, um ihm einen Faustschlag zu versetzen, dem die kräftige Schulter auswich und der von einem Hieb in seine Rippen erwidert wurde, begleitet von einem im Fallen in sein Gesicht gerammten Knie. Allmählich konnte er vor Blut nichts mehr sehen, aber er stand auf, um mit dem Kopf voran loszustürzen in Richtung auf die aufblitzende Gürtelschnalle, die sich hin und her bewegte, verschwand, und dann sah er sie einen Moment lang bewegungslos, gestützt von dem Barhocker hinter ihr, nach und nach verdeckt von dem zerknitternden Khakihemd. Er fuhr sich mit der Faust über die Augen, zerbrach ganz plötzlich die Flasche auf der Theke, fing im Flug den Faustschlag des anderen ab, der bislang nicht eingegriffen hatte, plazierte einen Fußtritt dort, wo er hingehörte, und wandte sich dann dem Gesicht mit dem weitgeöffneten Mund zu, dem schmutzig weißen, blutleeren Gesicht, das auf dem Boden versuchte, nach Luft, Luft, Luft... zu schnappen. Die Augen flehten ihn an, drohten ihm, warnten ihn, aber er traf ihn unterhalb des Ohrs... und noch einmal unterhalb des ersten Schnitts und ein weiteres Mal unterhalb des zweiten Schnitts, bevor er den blutigen Flaschenhals hob, um zu treffen, was von der Seite kommen konnte, wo er den anderen zurückgelassen hatte. Aber jener Marineinfanterist war schon nicht mehr in der Bar; vermutlich war er verschwunden, um seine Kameraden zu holen. Also würde er auf sie warten, er würde auf sie warten! [...] Sollten die Marineinfanteristen doch kommen. Nichts von dem, was geschehen konnte, berührte ihn noch. Er bereute, daß er vor ihnen geflohen war, daß er ihnen nicht auf seinem eigenen Territorium die Stirn geboten hatte und es mit ihnen aufnehmen mußte in einer Stadt, die er mit dem Paradies verwechselt hatte. Er hatte einen zu weiten Weg zurückgelegt, und das vergebens. Der Körper von Guimbo, in seiner khakifarbenen Uniform,

209 lag auf dem Zementboden. Aus den Wunden am Hals gjitt ein roter Tintenfisch. Guimbo hatte kaum Blut, selbst wenn man es in der Halsschlagader gesucht hätte. Die Tür lag gegenüber, und von ihr gingen unendlich viele Wege aus. Aber all diese Wege, auch wenn sie an andere Orte fuhren mochten, boten keine Gewißheit. Er konnte auf ihnen loslaufen, würde aber niemals dort ankommen, wo er hinwollte. Deshalb war es das Beste, hier zu bleiben, um zur Ruhe zu kommen, zu warten und an den leblosen Körper von Mr. Adams zu denken. Er hatte ihn getötet: Er war sich dieses Verbrechens bewußt, das kein Verbrechen war... Sollten sie doch kommen, um den Mörder zu holen. Er hatte keine Angst. [...] „Setz dich da hin", sagte der Wachtposten, deutete auf den Stuhl und begann, die Geldscheine zu zählen, als würde er den Streifenpolizisten mißtrauen. Dann stieß er einen Seufzer aus, öffnete ein riesiges Buch und griff nach einem Stift. „Also gut, deine Personalien." „Was?" „Deine Personalien", sagte der Posten, wobei er den Kopf hob und ihn weit zurückwarf, damit der andere aufhörte, die beginnende Glatze an seinem Hinterkopf zu betrachten. „Name, Alter..." ...Größe, Gewicht, Wohnsitz, Vergehen konnte Usmafl auf der blaulinierten Seite zu Ende lesen. „Ach so", sagte er, „meine Personalien." Aber statt sofort zu antworten, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen: die dicht an der Wand stehende Bank, das schmutzige Fenster, die amerikanische Fahne, der Flur, der Raum, in den die Zeugen hineingingen... „Mach schon, wir..." „Negro", sagte er und wandte den Blick wieder dem Posten zu. „Negro", aber da der andere zu glauben schien, daß das so etwas wie eine Beleidigung war, fuhr er fort: „Sechs Fuß, einhunderfunfundsiebzig Pfund, siebzehn..." „Aha", sagte der Posten, indem er jetzt den Kopf des Gefangenen, seine Nase und seine Lippen betrachtete und sich sagte, daß dieser Typ auch als Weißer durchgehen konnte, wenn er sich angewöhnen würde, einen Hut zu tragen. „In Ordnung. Aber das mit der Rasse kann warten, bis..." Usmafl beugte sich vor, um ihm die Augen zu öffnen. „Ich heiße Negro, verstehen Sie?" Der Posten sah zu den beiden Streifenpolizisten hinüber wie jemand, der um Rat sucht, aber einer von ihnen hob einen Finger, wie um ihn sich in die

210 Schläfe zu schrauben. Daraufhin sah er wieder den Gefangenen an, der die Geste des Streifenpolizisten nicht bemerkt hatte. „Den Vornamen, Freundchen, wenn Negro der Nachname ist." „Negro ist der Name!", schrie Usmail und versuchte, unter dem Druck der Hände der Streifenpolizisten aufzustehen. Er setzte sich wieder hin. „Nur Negro. Negro und sonst nichts. Verstehen Sie?" Der Posten, der versuchte, seinen Arger zu unterdrücken, murmelte: „Und wo wohnst du, negro?" „In der Nähe. Gleich um die Ecke." Da verlor der Posten die Geduld und trug bei Name und Wohnsit\ ein: John Doe, ohne festen Wohnsitz. Sofort fühlte er sich am Hals gepackt, in seinem Stuhl hin und her geschleudert, sah nur dieses flackernde Feuer, das wie Augen aussah, und diese Hände, die ihn daran hinderten, zu schlucken, zu atmen, zu schreien... Als es den Streifenpolizisten gelungen war, die irrsinnigen Hände fortzureißen, schrie der Gefangene: „Nicht John Doe! Nicht John Doe!" Und aus dem oberen Stockwerk kamen Wachen herunter. Und aus dem Raum der Zeugen liefen Leute herbei. Da nahm der Polizist verzweifelt seinen Rohrstock vom Schreibtisch und schlug auf den Gefangenen ein, damit hinterher niemand von Unvermögen reden konnte, von seiner Hilflosigkeit, von seiner Angst vor einem jugendlichen Straftäter, der sie alle wie memmenhafte kleine Soldaten hatte aussehen lassen. Nachdem er den verfluchten Schwarzen fast bewußdos geschlagen hatte, begleitete er die anderen höchstpersönlich zu der Zelle, wo das Subjekt zu Lebzeiten vermodern würde: mit Sicherheit lebenslänglich wegen Mordes und noch ein paar Jährchen dazu wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Er stieß ihn hinein, trat ihm in den Rücken, beschimpfte ihn mit Hingabe und schloß dann ab. „Der ist doch verrückt, oder?", sagte er zu den Streifenpolizisten und entfernte sich mit ihnen, wobei er sich die Uniform abklopfte. „Dem sollten sie auf einem Stuhl ordendich einheizen, damit er seine Freude hat." [...] Er konzentrierte sich auf die Stille, die Dunkelheit der Ecken. „Gott, bist du nicht überall? Ach was, Alter. Das glaub ich nicht." Dann dachte er an Nana Luisa, an den Duft nach Kräutern, an Vieques, an Cisa... Guimbo war tot, sein Vater und seine Mutter tot, der Marinein-

211 fanterist tot: alle in jener Bar getötet durch seine eigene Hand. Aber was hatte er gewonnen? Ah, ein wenig Frieden. Ein wenig Frieden, der mehr sein könnte, wenn sie ihm auf dem Revier nicht diesen Namen verpaßt hätten. Ein wenig Frieden im Menschen. Im Menschen schlechthin, wie Nana Luisa zu sagen pflegte. Ein Geschöpf Gottes, das seinen eigenen Möglichkeiten überlassen war. Denn Gott hatte ihm den Rücken zugekehrt. Und der Mensch, den Wind im Gesicht, war allein. In der Hoffnung auf ein Weihnachten, auf ein fernes Glück. Das Gesicht in den Händen verborgen. Er richtete sich auf, streckte die Beine, atmete tief durch. Die Luft war jetzt stickig und schwarz, wie in einem Ofen. Schwarze Luft für einen Mann, der sich trotz alledem Negro nannte. Übersetzt von Petra Glaser und Alejandro Rodriguez Diaz del Real

René Marqués (1919-1979) Zur Einführung in Leben und Werk des Autors vgl. die Anmerkungen zu „Der Karren", S. 151ff. Der hier in Auszügen abgedruckte Essay „Der gefügige Puertoricaner (Literatur und psychologische Realität)" ist ohne Zweifel der meistgelesene und - in durchaus kontroverser Auseinandersetzung — meistdiskutierte Essay von René Marqués, den er bereits 1960 verfaßte, zunächst 1962 in der (in Mexiko erscheinenden) Zeitschrift Cuadernos Americanos veröffentlichte und schließlich in die erste Ausgabe seiner Ensayos von 1966 übernahm. Das zentrale Thema war durchaus nicht neu, hatten doch bereits vor Marqués zahlreiche Autoren, unter ihnen Antonio S. Pedreira, als herausragendes Merkmal der kollektiven puertoricanischen Psyche oder Mentalität die „Gefügigkeit" oder docilidad kritisiert. Doch Marqués - und dies mochten viele seiner Zeitgenossen nicht unwidersprochen hinnehmen - geht weiter als seine Vorgänger, indem er die angenommene doälidad nicht nur als Faktum konstatiert, sondern sie in einem (in Ansätzen) historisch fundierten Diskurs auf Faktoren zurückführt — Schwäche und Ignoranz ebenso wie Mangel an Selbstvertrauen und einen ausgeprägten Minderwertigkeits- und Schuldkomplex —, die er zwar nicht als dem Puertoricaner angeborene Defekte bezeichnet, wohl aber als Produkte einer irreversiblen Entwicklung betrachtet. Der schwerwiegendste Vorwurf, der gegen den Essay erhoben wurde, richtet sich gegen die - gewiß zweifelhafte - Fundierung seiner Überlegungen dort, wo er sie aus literarischen Werken (insbesondere den selbstverfaßten) bezieht, als wenn Literatur Wirklichkeit schafft und nicht Literatur allenfalls auf vorgefundene Wirklichkeit reagiert. Doch nicht immer führt Marqués fiktionale Werke als Beweis für seine Thesen an (Passagen, auf deren Abdruck verzichtet wurde); er sucht diese auch dadurch zu untermauern, daß er die politische und gesellschaftliche Praxis Puerto Ricos — in gelegentlich überspitzter, bewußt provokatorischer Formulierung - einer kritischen Revision unterzieht, wobei gerade die für die politische (Un-) Kultur des Landes so bezeichnenden Phänomene des posibilismo einerseits und des Fehlens einer koordinierten Opposition andererseits in den Vordergrund gerückt werden. Die abgedruckten Auszüge des Essays, „El puertorriqueño dócil (Literatura y realidad psicológica)" in der Originalfassung, sind dem 1977 publizierten Sammelband El puertorriqueño dóál y otros ensayos (1953-1971) (San Juan: Editorial Antillana, S. 151 ff.) entnommen. (Die Fußnoten stammen aus der Feder des Autors selbst.) Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der „Fundación René Marqués".

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Der gefugige Puertoricaner (Literatur und psychologische Realität) Definition und Abgrenzung Span, dócil von lat. doülis bedeutet soviel wie „gefugig" oder „der, welcher nach dem Willen dessen handelt, der befielt".1 Sainz de Robles2 nennt unter anderem die Synonyme „sanft" und „unterwürfig", die uns der am weitesten verbreiteten Vorstellung von der Bedeutung dieses Wortes sehr gut zu entsprechen scheinen. Für doálidad (Eigenschaft von dóál) fuhrt derselbe Autor als Synonyme „Unterordnung", „Sanftmut" und „Unterwürfigkeit" an. In dem Werk von Roque Barcia3 wird die Erklärung des Wortes großzügig erweitert im Sinne der Bedeutung, die uns hier betrifft: „Doälidad bedeutet Mangel an Stärke und sogar an Willenskraft, Widerstand gegen das zu leisten, was die anderen verlangen, suggerieren oder befehlen; einen gewissen Hang zu gehorchen, dem Beispiel, der Meinung oder dem Rat der anderen zu folgen, was entweder auf die eigene Schwäche und Nachgiebigkeit oder auf Unwissenheit oder auch auf Mangel an Vertrauen in die eigene Intelligenz, Kenntnis oder Stärke zurückzufuhren ist." Halten wir uns an die vorausgehende Definition, so ergibt sich folgendes: Der unterwürfige, sanfte oder gefugige Mensch ist notwendigerweise schwach („Mangel an Stärke und sogar an Willenskraft") und unwissend („was... auf Unwissenheit... zurückzufuhren ist") oder Opfer eines übersteigerten Minderwertigkeitskomplexes („Mangel an Vertrauen in die eigene Intelligenz, Kenntnis oder Stärke"). Nachdem der Begriff nun in seinem Bedeutungsgehalt geklärt ist, wollen wir versuchen, im Verlauf dieses Essays die Gefügigkeit des zeitgenössischen Puertoricaners oder seine entsprechende Veranlagung unter Beweis zu stellen. Dabei werden wir nicht darum bemüht sein zu entscheiden, ob er gefugig ist aufgrund von Schwäche, Unwissenheit oder Komplexbeladenheit (oder aufgrund einer undurchschaubaren Kombination dieser drei Zustände). Für unser Vorhaben wird es ausreichen, die Belege zusammenzutragen und eine entsprechende Analyse zu versuchen, die einen rationalen Beweis seiner Gefügigkeit erbringen können. [...] 1 V. Garcia de Diego: Diccionario Etimológico Español e Hispánico. 2 Sainz de Robles: Diccionario de Sinónimosy Antónimos. 3 Roque Barcia: Gran Diccionario de Sinónimos Castellanos.

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Getön und Impetus eines psycho-semantischen Problems Was in den zwanziger Jahren „demütig" und „ergeben" war, wandelte sich 1930 zu „resigniert" und „fatalistisch", um sich mit gewitzter Heuchelei zu „friedfertig" und „tolerant" zu entwickeln: Begriffe, die heute hoch im Kurs stehen. Doch erst der Politiker der Gegenwart hat unter Mitwirkung des einen oder anderen gefälligen Soziologen die euphemistische Umschreibung des Konzepts zur Vollendung gebracht: Der gefügige Puertoricaner ist doch tatsächlich „demokratisch" geworden. „Demokratie" und „demokratisch" sind natürlich Begriffe, mit denen man, sorglos in die Debatte geworfen, im Westen ebenso wie im Osten fast jedes Konzept oder jede Situation vorzüglich umschreiben kann. Hier hört man „demokratisch" aus dem Munde der Politiker häufig als weiteres Synonym für „friedfertig", „tolerant", „resigniert", „fatalistisch", „demütig" oder „ergeben", auch wenn man den jeweiligen Begriff in demagogischer Absicht von jeder abwertenden Nuance befreit. So wird der Puertoricaner als „demokratisch" gepriesen, wenn er mit einer eselhaften Gefügigkeit hinnimmt, was heute kein zivilisierter Mensch in keiner Demokratie der Welt auch nur im Traum hinnehmen würde. Während „demütig" ein verletzender Stachel war, der mit moralischer Zielsetzung in die Fäulnis der kolonialen Seele gestoßen wurde, so ist sein neuestes Synonym - „demokratisch" — eine betäubende Droge, die dem Bewußtsein des gefügigen Puertoricaners gnädig verabreicht wird, damit dieser ohne Bedenken ebendiesen seinen Zustand akzeptiert. [...]

Nationalismus und Annexionismus: der selbstzerstörerische Impuls Das Phänomen des Nationalismus veranschaulicht — in der Realität ebenso wie in der Literatur — ein weiteres psychosoziales Problem: den offenkundig selbstzerstörerischen Impuls des Puertoricaners, mit anderen Worten, seine selbstmörderische Tendenz. Ist dieses Unterdrücken oder Eindämmen der natürlichen Aggressivität gegenüber anderen, die dann krankhaft gegen sich selbst gerichtet wird, eine Eigenschaft gefügiger (will meinen: ergebener, toleranter, „demokratischer") Menschen und Völker? Man könnte diesen Sachverhalt vielleicht kontrovers diskutieren, doch solange uns kein maßgeblicher Psychologe das Gegenteil beweist, können wir ihn im psychologischen Kontext der Gefügigkeit als charakteristisch annehmen. [...]

216 Der puertoricanische Nationalismus ist zweifellos das Phänomen, das uns am deutlichsten die Psychologie des Selbstmörders offenbart. Dazu genügt eine oberflächliche Betrachtung der in den vergangenen dreißig Jahren von den Nationalisten verübten Gewalttaten. Mit Ausnahme des politisch motivierten Mordes an [dem Polizeichef von Puerto Rico] Colonel Riggs - die einzige Gelegenheit, bei der das unmittelbare Ziel erreicht wurde haben sich die nationalistischen Attentate als eine Reihe spektakulärer Mißerfolge erwiesen. Welche psychologische Störung bewirkte, daß diese unter Waffen stehenden, von einem glühenden Patriotismus beseelten, entschlossenen und verwegenen Männer bei jedem einzelnen ihrer zahlreichen Vorhaben des politischen Terrorismus scheiterten? Der Schlüssel hierzu liegt unserer Meinung nach in dem irrationalen selbstmörderischen Impuls, der sie zum Handeln trieb. Das eigendiche Ziel war nicht zu töten und noch weniger, den Sieg zu erringen, sondern zu sterben. Abgesehen von so offensichtlichen Fällen wie dem Massaker von Ponce, kann etwa der Überfall auf [die zeitweilige Residenz von Präsident Truman] „Blair House" in Washington als eindeutig selbstmörderischer Akt betrachtet werden; dies gewiß nicht wegen des Ziels, nicht einmal wegen der damit verbundenen Risiken, sondern wegen der Art und Weise, in der man das Ziel zu verwirklichen suchte. Wahre Revolutionäre, auch sie verwegen, aber innerhalb einer Befreiungsbewegung politisch diszipliniert, oder auch Professionelle auf dem Gebiet des politischen Terrorismus, die bereit sind, ihr Leben zu riskieren, aber weder die Obsession noch die feste Absicht haben zu sterben, hätten wahrscheinlich erreicht, was sich für die puertoricanischen Nationalisten als unmöglich erwies. Vielleicht müssen wir zu dem Schluß kommen, daß der innere Zusammenhalt der nationalistischen Bewegung in den Jahren ihrer stärksten Aktivität mehr auf einem ihren Mitgliedern gemeinsamen psychologischen Zustand beruhte — dem extrem gesteigerten selbstmörderischen Impuls des Puertoricaners — und weniger auf einer revolutionären Doktrin oder einer terroristischen Strategie. Gerade dieser letzte Aspekt ist von besonderem Interesse, da er innerhalb der nationalistischen Bewegung absolut inexistent war. Man vergleiche den geplanten, methodischen und wirksamen politischen Terrorismus des algerischen Untergrunds oder der zypriotischen Befreiungsbewegung - das Ziel auswählen und treffen war eins - mit dem

217 richtungslosen, planlosen und unwirksamen — letztlich selbstmörderischen Terrorismus des puertoricanischen Nationalismus. 4 [...] Aber man darf nicht glauben, daß auf politischer Ebene die Nationalisten 5 in der gegenwärtigen puertoricanischen Gesellschaft die einzigen sind, 4 Diese Analyse des selbstmörderischen Impulses, wie er sich bei den Nationalisten manifestierte, vermag nun aber die Bedeutung des Nationalismus für die politische Geschichte des zeitgenössischen Puerto Rico nicht zu verdecken oder auch nur zu verschleiern. Betrachtet man das Phänomen in historischer Perspektive, so kann man mit Bestimmtheit sagen, daß das unmittelbare Scheitern des Nationalismus in den Jahren seiner stärksten Aktivität kompensiert wurde durch den bestimmenden und entscheidenden Einfluß, den er nach den 30er Jahren im gesamten politischen Leben ausgeübt hat. Die Kolonialpolitik der lokalen Administration ebenso wie die Washingtons hat aus einer defensiven Reaktion heraus die Existenz der nationalistischen Bewegung stets in ihr politisches Kalkül miteinbezogen. Man kann sogar behaupten, daß die kolonialen Reformen, die en bloc unter dem Namen „Estado Libre Asociado" zugestanden wurden, zu einem Großteil ein Ergebnis dieser Reaktion sind. Eine der entscheidenden Karten, die in Washington ausgespielt wurden, um die Annahme der neuen Formel zu beschleunigen, war die zu diesem Zeitpunkt noch latente politische Bedrohung durch den Partido Naáonalista Puertorriqueño. Dies läßt vermuten, daß, wäre der nationalistische Terrorismus in den entscheidenden Jahren seines Wirkens effektiv gewesen, er das politische Ziel, welches das Fundament seiner Ideologie bildete, erreicht hätte. Andererseits ist zu bedenken, daß trotz der Diffamierungs- und Diskreditierungskampagne der letzten zwanzig Jahre, trotz der Verfolgung und der Repressalien von amtlicher Seite, trotz des Verschwindens der Nationalisten als aktive politische Gruppierung, trotz der pragmatischen, materialistischen und utilitaristischen Haltung, die bei der Jugend gefördert wurde, und des dieser Ideologie feindlichen sozialen Ambiente der Nationalismus in Schulen und Universitäten noch immer eine große Faszination ausübt, woraus man schließen könnte, daß er in den neuen Generationen bis zu einem gewissen Grad überlebt hat. Dies ist nur natürlich, denn die Faszination, die der Nationalismus in Puerto Rico ausübt, ist vielleicht nicht so sehr ideologischer, als vielmehr psychologischer Natur. Es wird immer Puertoricaner geben, die sich, allein weil sie Puertoricaner sind, moralisch verantwortlich fühlen, sich den Komplex einer Kollektivschuld aufzubürden, wodurch sie den eigenen selbstzerstörerischen Impuls auf extreme Weise verstärken. 5 Nach Fertigstellung dieses Essays - er wurde 1960 verfaßt - starb am 21. April 1965 in San Juan Don Pedro Albizu Campos. Vor seinen sterblichen Überresten, die im Ateneo Puertorriqueño aufgebahrt waren, zogen Tausende von Menschen aller politischen Richtungen und aus allen sozialen Schichten vorüber. Zu seiner Beisetzung - bis zum heutigen Tag die größte und eindrucksvollste in der Geschichte Puerto Ricos - kamen nach Schätzungen der nordamerikanischen

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die den selbstzerstörerischen Impuls offenbaren. Natürlich ist die Art und Weise, wie sich dieser bei ihnen manifestiert, spektakulärer, da es sich um physischen Selbstmord handelt. Dennoch weisen auf der entgegengesetzten Seite die asimilistas, estadoistas oder anexionistas in ihrer Psychologie, und zwar in verschiedenen Abstufungen, deutliche selbstmörderische Symptome auf, auch wenn sich bei ihnen der nicht unterdrückbare Impuls zur Selbstzerstörung nicht auf der physischen, sondern auf der moralischen und geistigen Ebene zeigt. Obgleich sie als Vorwand gegensätzliche Ideologien einsetzen, stimmen der nacionalista und der anexionista in ihrem dringenden Verlangen nach Selbstzerstörung überein. Die Handlungsweise des Nationalisten, der, um seinen physischen Tod zu provozieren, „Blair House" angreift, ist ebenso selbstmörderisch wie die des Annexionisten, der, um seinen moralischen und geistigen Tod zu provozieren, in zerstörerischer Absicht seine eigene puertoricanische Wesensart angreift. Ideologisch gesehen, erscheinen beide wie Antipoden, doch in psychologischer Hinsicht sind sie zwei einander wie Zwillinge gleichende puertoricanische Seelen. Es gibt jedoch einen Unterschied. Der Nationalist erreicht fast immer und ganz konkret sein Vorhaben: Er stirbt auf gewaltsame Art. Der Annexionist hingegen ist ein Toter zu Lebzeiten, ein Selbstmörder, der sich nie gänzlich verwirklicht, einer, der sich selbst dazu verdammt hat, sich als Puertoricaner Tag für Tag immer mehr zu zerstören, ohne dies jemals ganz zu erreichen, da er seine puertoricanische Wesensart nie ganz zerstören kann, solange noch Leben in ihm ist. Dieser gravierende Zustand der ewigen Selbstverdammnis des Annexionisten erklärt das Ausmaß an Kompromißbereitschaft, Erniedrigung und Unterwürfigkeit, zu dem er in seinem Presse in San Juan etwa 60.000 Puertoricaner, um postum dem Mann Tribut zu zollen, der den größten Teil seines Lebens dem höchsten und erhabensten Ideal eines Volkes gewidmet und geopfert hat: der Unabhängigkeit des Vatedandes. Nach den Trauerfeierlichkeiten in der Kathedrale und in der sehr alten und geschichtsträchtigen Kirche von San José — 1898 war sie von den Nordamerikanem bombadiert worden - wurde er auf dem alten Friedhof von San Juan, nahe dem Grab des Dichters und Patrioten José de Diego, am Fuße der jahrhundertealten Mauer der Festung „El Morro", beigesetzt. Nach seinem Tod ist die Gestalt Albizu Campos', wie dies in solchen Fällen geschieht, zu einem noch mächtigeren Symbol des authentischen Puerto Rico geworden. Heute, Ende 1965, gewinnt der Ausspruch Albizus, „Das Vatedand ist Kampfgeist und Hingabe", in weiten Kreisen der puertoricanischen Jugend als Wahlspruch immer stärker an Akzeptanz.

219 selbstmörderischen Eifer, seine puertoricanische Persönlichkeit zu eliminieren oder zu zerstören, bisweilen fähig ist. [...] Synthese der puertoricanischen Psychologie: der

estadolibrismo

Wir haben im politischen Kontext die zwei entgegengesetzten Phänomene — Nationalismus und Annexionismus — untersucht, deren psychologische Mechanismen ziemlich komplex sind. Nun ist es aber gerade der Mittelweg oder estadolibrismo, in welchem die puertoricanische Gefügigkeit ohne psychologische Komplikationen ihren passendsten und natürlichsten Ausdruck findet. Wir halten dieses politische Machwerk geradezu für genial: nicht aus den Gründen, die seine bedingungslosen Verfechter ins Feld führen, sondern deshalb, weil es mit ihm gelungen ist, die psychologische Realität des Volkes, dem es seine Daseinsberechtigung verdankt, auf nahezu lehrbuchhafte Weise zu verkörpern. Der Estado Libre Asoüado ist in der Tat der authentische Ausdruck des Schwindels, Inbegriff des Euphemismus, ein vollendetes Produkt der unredlichen Kunst, die bittere Pille zu versüßen, mit anderen Worten: die psychologische Synthese des schwachen, ängsdichen und gefügigen Menschen. Diejenigen, die seinem vermeintlichen Schöpfer6 vorwerfen, eine angelsächsische Mentalität zu besitzen, scheinen nicht zu begreifen, daß nur ein authentischer gefügiger Puertoricaner fähig sein konnte, die am stärksten 6 Verfechter und derzeitiger Förderer wäre treffender. Bereits 1922 nahm der Partido Unión de Puerto Rico - jene Partei, die Luis Muñoz Rivera (bis zu seinem Tod wenige Jahre zuvor) ideologisch dominiert hatte — diesen politischen Schwindel unter demselben Namen in sein Programm auf. Zwanzig Jahre später, 1942, schlugen drei Puertoricaner, Mitglieder des bereits regierenden Partido Popular Democrático (Rafael Cordero, Enrique Campos del Toro und Miguel Guerra Mondragón), dem damaligen nordamerikanischen Gouverneur der Insel, Rexford G. Tugwell, wieder die alte reformistische Formel des Partido Unión de Puerto Rico vor. Als Argument führten sie an, daß das puertoricanische Volk auf die estadidad noch nicht vorbereitet sei und der Estado Libre Asodado als Ubergangslösung auf das für die Zukunft angestrebte Ideal der Annexion vorbereiten würde. [...] Auf jeden Fall wurde der „compromise", der von den drei genannten Puertoricanem als Übergang zur föderierten estadidad verstanden wurde, erst 1952 unter der Führung von Luis Muñoz Marin durchgesetzt. Das politische Erbe Muñoz Riveras, das von seinem Sohn getreu dem Willen des Vaters aufgegriffen wurde, benötigte dreißig Jahre, um sich als psychologischer Ausdruck des puertoricanischen Volkes in der Gegenwart zu konkretisieren.

220 herausgebildeten psychologischen Defekte des Puertoricaners auf besagte politische Formel zu bringen. Wenn der derzeitige Befürworter dieser Formel in demagogischer Absicht versichert, daß der Estado Libre Asonado nicht seine Schöpfung ist, sondern die des puertoricanischen Volkes, so ist er mehr im Recht, als er selbst zugeben würde, wenn er aufrichtig wäre. Wenn jedoch die estadolibristas verkünden, daß diese Formel die unabwendbare ökonomische Wirklichkeit Puerto Ricos widerspiegelt, rationalisieren sie man möge mir diesen Anglizismus gestatten — nur eine eigene Wirklichkeit, die unabwendbarer, authentischer und bestimmender ist: die psychologische. Seine Gefügigkeit in den Rang eines politischen Dogmas zu erheben, war genau das, was der Puertoricaner brauchte, um seine traditionelle psychologische Ergebenheit geistig und moralisch ohne Reue oder Gewissensbisse auszuleben. [...] Staatsbürgerliche Erziehung und Religion: der gesellschaftliche 7 Zwang zum Englischen Wenn sich der Puertoricaner dem Nordamerikaner gegenübersieht, aktiviert er seinen kolonialen Schuldkomplex. 8 Um seine demütigende Situation, die 7 Wir betonen den gesellschaftlichen Aspekt, da wir auf gar keinen Fall versuchen werden, den Leser in die wirre Materie der Pädagogik einzuführen. 8 Dieser Komplex zeigt, wenn auch in geringerem Maße, ebenfalls gegenüber anderen westlichen Ausländem seine Wirkung, insbesondere gegenüber Spaniern (eben jenen, die einst den Ort besetzten, den heute der Nordamerikaner besetzt hält). Im künstlerischen und kulturellen Leben nähren die Spanier auch weiterhin gewisse Defekte, die dem kolonialen Komplex der Insel teuer sind. Man denke nur an die Menge der die reine Mittelmäßigkeit verkörpernden Spanier, die innerhalb der künstlerischen und kulturellen Eliten sowie in den universitären Kreisen Schlüsselpositionen innehaben. Selbst gegenüber den wenigen hier ansässigen Spaniern, deren intellektuelle Leistung als glaubwürdig und unbestreitbar gelten kann, ist die generelle Haltung des Puertoricaners nicht etwa die einer angemessenen Würdigung, sondern die einer gewissen tropischen Unterwürfigkeit, so als würde in dieser die von den Vorfahren überlieferte Hörigkeit gegenüber dem Eroberer Wiederaufleben. Die einer beschämenden Farce gleichkommenden Auftritte, die von einigen puertoricanischen Zirkeln im Zusammenhang mit bedeutenden Persönlichkeiten wie Juan Ramón Jiménez und Pablo Casals inszeniert wurden, könnten vielleicht für das, was wir hier angemerkt haben, symptomatisch sein. Auf der anderen Seite übt im Rahmen des sogenannten „gesellschaftlichen Lebens" die Casa de España als Ort höchster Weihen auf einen erheblichen Teil der Mittelschicht San Juans weiterhin eine

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er gern rechtfertigt, hinzunehmen, muß er zugeben, daß er dem Nordamerikaner unterlegen ist. Daher rührt seine Dienstbeflissenheit (die traditionelle „Höflichkeit", „Gastfreundschaft", „Freigebigkeit") in Ausdrucks formen, die der Unterwürfigkeit sehr nahe kommen. Dieses unbewußte Eingeständnis der Unterlegenheit verletzt ununterbrochen sein Ego und provoziert häufig extreme kompensatorische Reaktionen wie ungestümen Widerstand oder totale Unterwerfung. Die vom psychologischen Standpunkt aus interessanteste Reaktion ist zweifellos die letztgenannte, da man durch sie glaubt, auf jeglichen Verteidigungsmechanismus verzichten zu können, und man sein eigenes Wesen ohne Widerstand dem nordamerikanischen Einfluß öffnet, um so die „Überlegenheit" des gefürchteten und beneideten Wesens anzunehmen oder in sich aufzunehmen — etwas, was natürlich nie erreicht werden wird. Bei vielen Puertoricanern, die zusätzlich zu ihrem Wissen und ihrer Bildung eine angemessene Sensibilität besitzen, treten diese extremen Verhaltensweisen nie in ihrer ganzen brutalen Deutlichkeit zutage. Sie entwickeln in ihrem sozialen Kontakt mit dem Nordamerikaner eine merkwürdige Ambivalenz, die hinsichtlich der unterschwelligen Angst mit der des sensiblen Nordamerikaners vergleichbar ist, wenn dieser versucht, mit dem Puertoricaner zu fraternisieren. Allein bei wirklich zweisprachigen Personen, die glauben, mit Blick auf das politisch-kulturelle Problem, in das sie hineingeboren wurden, jegliche psychologische Ambivalenz für sich geklärt zu haben — und in Puerto Rico wird es kaum eine Handvoll dieser tropischen „icebergs" geben —, kann sich der quälende Verteidigungsmechanismus auf ein Minimum reduzieren und als inexistent erscheinen, sobald man mit einem Nordamerikaner in Kontakt tritt. Bei den wenigen Puertoricanern, die aus irgendeinem Grund — weil sie in den Vereinigten Staaten aufgewachsen sind oder weil sie dort studiert hagroße Faszination aus. Bei den jüngeren Generationen, die im Sinne der nordamerikanischen nationalen Vorurteile besser geschult sind, versteckt sich der koloniale Komplex hinter der Gebärde leichter Überheblichkeit gegenüber Bewohnern der sogenannten „unterentwickelten" Länder. Unter diese willkürliche Bezeichnung faßt man dann die Bewohner der Antillen (die Puertoricaner haben offenbar nichts von einem antillam), die Lateinamerikaner, Afrikaner und Asiaten. Gegenüber diesen Menschen, die von den Nordamerikanem als „unterlegen" klassifiziert werden, plustert sich der neue Puertoricaner auf wie ein Pfau und stellt sein ausgebessertes koloniales Gefieder prunkhaft zur Schau. Ein zumeist harmloses und oberflächliches, in den Fällen einer extremen Nordamerikanisierung allerdings wahrhaft lasterhaftes Gehabe.

222 ben — das Englische, jedoch nicht das Spanische beherrschen (womit sie nicht mehr als zweisprachig gelten können), funktioniert dieser Mechanismus genau umgekehrt: Unbehagen verursacht ihnen das Spanische. Und erschwerend kommt hinzu, daß sie gezwungen sind, diese Sprache — die Muttersprache ihrer Landsleute — im Kontakt mit den anderen Puertoricanern zu verwenden, und demzufolge einen zusätzlichen Schuldkomplex entwickeln, eben weil sie diese Sprache nicht beherrschen, was dazu fuhrt, daß sie ihren Gebrauch so weit wie möglich vermeiden. Sie verteidigen dann die Stellung des Englischen als „Amtssprache" in den Kreisen, in denen sie sich bewegen, oder ziehen sich zurück hinter die engen Grenzen gesellschaftlicher Inseln - in ein Niemandsland wo andere, kulturelle Parias wie sie, den Gebrauch der fremden Sprache bereits durchgesetzt haben. Man sieht also, daß das Englische in Puerto Rico nicht einfach nur eine Fremdsprache ist, wie es das Französische oder das Italienische sein könnten, sondern der schmerzhafte Inbegriff einer Reihe konfliktiver Erfahrungen - politischer, kultureller, geistiger und psychologischer Natur - , welche die koloniale Bedrängnis des Puertoricaners noch verstärken. So kann man die erzwungene Einfuhrung und gesellschaftliche Akzeptanz des Englischen in Puerto Rico, ohne Gefahr zu laufen, einem Irrtum zu erliegen, als weiteren psychologischen Ausdruck der puertoricanischen Gefügigkeit begreifen. Übersetzt von Natascha Comas Wohlwender und Andrea Hammer

José Luis González (1926-1996) Zur Einfuhrung in Leben und Werk des Autors vgl. die Anmerkungen zu „Ein negrito auf dem Grunde des Grabens", S. 165ff. Der Essay „Das Land der vier Stockwerke", für die Interpretation der puertoricanischen Geschichte und kollektiven Identität in seiner kulturhistorischen Bedeutung wie in seiner Wirkung auf die Zeitgenossen den Essays von Antonio S. Pedreira, Tomás Blanco und René Marqués vergleichbar, entstand im Rahmen einer Diskussionsrunde mit Studenten und bewahrt auch als schriftlich fixierter Text seinen Charakter als mündlicher Vortrag und Gespräch (was gelegentliche Wiederholungen oder Redundanzen erklärt). Die Ausgangsfrage der Studenten lautete: „In welcher Weise wurde Ihrer Meinung nach die puertoricanische Kultur durch die nordamerikanische kolonialistische Intervention beeinflußt, und wie sehen Sie ihre gegenwärtige Entwicklung?" Mit seiner Antwort reiht sich González ein in jene Vielzahl soziologischer und kulturhistorischer Studien zumeist marxistisch orientierter Autoren, die ab Anfang der 70er Jahre um eine kritische Revision der vorherrschenden Geschichtsschreibung wie auch der aktuellen Sichtweise des puertoricanischen Modemisierungsprozesses bemüht waren. Das besondere Verdienst von José Luis González besteht in diesem Zusammenhang darin, daß er der offiziellen Geschichtsschreibung „von oben" eine Interpretation der nationalen Geschichte und Gegenwart „von unten" entgegensetzt und über eine angemessene Würdigung der Volkskultur dem afroamerikanischen bzw. afroantillanischen Beitrag zur Herausbildung der puertoricanischen Identität und nationalen Kultur den ihm gebührenden Platz zuweist. Der Essay, „El país de cuatro pisos" in der Originalfassung, erschien zuerst 1979 in der mexikanischen Zeitschrift Plural und wurde dann in den 1980 publizierten Sammelband El país de cuatro pisos y otros ensayos aufgenommen. Die hier abgedruckten Auszüge entstammen einer zweiten, vom Autor korrigierten und erweiterten Version (Rio Piedras: Ediciones Huracán 71989, S. Uff.). Die Hervorhebungen im Text entsprechen dem Original. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Vedags.

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Das Land der vier Stockwerke [...] Zunächst einmal möchte ich der Ansicht zahlreicher Soziologen zustimmen, daß in jeder Klassengesellschaft zwei Kulturen nebeneinander bestehen: die Kultur der Unterdrücker und die Kultur der Unterdrückten. Natürlich sind diese zwei Kulturen, eben weil sie nebeneinander bestehen, keine hermetisch abgeschlossenen Sphären, sondern kommunizierende Röhren, die eine ununterbrochene gegenseitige Beeinflussung bewirken. Der dialektische Charakter dieser Beziehung erzeugt für gewöhnlich den Eindruck, als seien sie im wesentlichen homogen, was in Wirklichkeit nicht gegeben ist. Eine solche Homogenität wäre genaugenommen nur in einer klassenlosen Gesellschaft möglich (und selbst hier erst am Ende eines langandauernden Konsolidierungsprozesses). In jeder Klassengesellschaft ist die tatsächliche Beziehung zwischen den zwei Kulturen eine der Herrschaft: Die Kultur der Unterdrücker ist die herrschende Kultur, und die Kultur der Unterdrückten ist die beherrschte Kultur. Und was als „allgemeine Kultur", sprich „nationale Kultur" ausgegeben wird, ist selbstverständlich die herrschende Kultur. [...] Um nun Ihre Frage zu beantworten, müssen zuallererst die Entstehung und Entwicklung jeder dieser beiden Kulturen untersucht werden (auch wenn dies hier aus Zeitgründen nur schematisch geschehen kann). Am zweckmäßigsten ist es, mit der Volkskultur zu beginnen, dies aus dem einfachen Grund, weil sie als erste entstand. Es ist inzwischen schon ein Gemeinplatz zu sagen, daß diese Kultur in Puerto Rico drei historische Wurzeln hat: die indianische der Tainos, die afrikanische und die spanische. Kein Gemeinplatz, sondern das genaue Gegenteil ist die Feststellung, daß aus wirtschaftlichen und sozialen und mithin kulturellen Gründen von diesen drei Wurzeln die afrikanische die bedeutendste ist. Es ist wohlbekannt, daß die indigene Bevölkerung der Insel innerhalb weniger Jahrzehnte durch die völkermordende Brutalität der Conquista ausgerottet wurde. (Als Faktum ist dies zwar wohlbekannt, doch wurde es zweifelsohne in moralischer und intellektueller Hinsicht nur ungenügend verarbeitet, wenn man bedenkt, daß die Hauptverkehrsstraße unserer Hauptstadt noch immer den Namen jenes habgierigen und die Indios versklavenden Abenteurers Juan Ponce de Leon trägt.) Die Ausrottung verhinderte natürlich nicht, daß indigene Elemente an unserer Entwicklung als Volk ihren Anteil hatten; aber für mich ist es eindeutig, daß sich diese Teilhabe vor allem durch den kulturellen Aus-

225 tausch zwischen den Eingeborenen und den beiden anderen ethnischen Gruppen, insbesondere der afrikanischen, ergab. Der Grund hierfür ist offensichtlich: Indios und Schwarze, die innerhalb der sozialen Pyramide der Schicht angehörten, die am stärksten unterdrückt wurde, hatten in der Anfangsphase der Kolonisierung zwangsweise mehr Kontakte untereinander als mit der herrschenden Gruppe der Spanier. Weiterhin ist wohlbekannt, weil vorzüglich dokumentiert, daß die Gruppe der Spanier während der ersten zwei Jahrhunderte des Bestehens der Kolonie höchst instabil war. Man denke nur daran, daß der Gouverneur der Kolonie im Jahre 1534 einen Bericht verfaßte darüber, welche Anstrengungen er unternahm, um den Massenexodus der spanischen Siedler zu verhindern, die von den Reichtümern des Festlandes angelockt wurden, mit der Folge, daß die Insel so entvölkert war, „daß man kaum noch auf Spanier, sondern nur noch auf Schwarze stößt". Den spanischen Beitrag zur Herausbildung der puertoricanischen Volkskultur müssen im wesentlichen die Landarbeiter (überwiegend von den Kanarischen Inseln) geleistet haben, die ins Land geholt wurden, als die Nachkommen der ersten Sklaven bereits schwarte Puertoricaner waren. Daher rührt meine Uberzeugung, die ich schon bei verschiedenen Gelegenheiten zur Verwirrung oder Verärgerung mancher - geäußert habe, daß die ersten Puertoricaner in Wahrheit die schwarzen Puertoricaner waren. Natürlich behaupte ich nicht, daß diese ersten Puertoricaner eine Vorstellung von einem „Vaterland" oder einer „Nation" hatten (die im übrigen im damaligen Puerto Rico niemand hatte und auch nicht haben konnte), sondern daß sie, aufgrund ihres Status als Sklave am stärksten an das von ihnen bewohnte Territorium gebunden, nur schwerlich die Möglichkeit erwägen konnten, sich in ein anderes Land aufzumachen. Man könnte dem entgegenhalten, daß mehrere der in Puerto Rico im 19. Jahrhundert von Sklaven angezettelten Verschwörungen — jedenfalls den offiziellen Dokumenten zufolge — die Flucht nach Santo Domingo zum Ziel hatten, wo die Sklaverei bereits abgeschafft war. Doch darf man nicht vergessen, daß an der Spitze vieler dieser Bewegungen Sklaven standen, die noch in Afrika geboren waren - die sogenannten bo^ales - , oder solche, die von anderen Inseln der Karibik herübergebracht worden waren, nicht aber negros criollos, wie man jene, die bereits auf der Insel geboren waren, nannte, bevor man begann, sie als Puertoricaner anzuerkennen. Was nun die weißen Bauern dieser Anfangszeit, sozusagen die ersten „jibaros", betrifft, so waren sie ganz gewiß arm und sahen sich daher genö-

226 tigt, viele der Lebensgewohnheiten der anderen Armen anzunehmen, die schon länger in diesem Land lebten, und das waren die Sklaven. [...] Wenn sich die Gesellschaft Puerto Ricos von Anbeginn genauso entwikkelt hätte wie die der anderen Inseln der Karibik, so wäre unsere gegenwärtige „nationale Kultur" genau jene Volkskultur, die durch ihren Mischcharakter geprägt und im wesentlichen eine afroantillanische Kultur ist. Aber die puertoricanische Gesellschaft hat sich im 19. und 20. Jahrhundert nicht in dieser Weise entwickelt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als in Puerto Rico noch niemand an eine puertoricanische „nationale" Kultur dachte, wurde dieser Gesellschaft auf der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen (und damit auf die Dauer auch politischen) Ebene sozusagen ein ^weites Stockwerk aufgesetzt. Für die Errichtung und Ausstattung dieses zweiten Stockwerks zeichnete während einer ersten Phase der Einwandererstrom verantwortlich, der die Insel mit einem beträchtlichen Kontingent von Flüchtlingen aus den um ihre Unabhängigkeit kämpfenden hispanoamerikanischen Kolonien überschwemmte, unmittelbar gefolgt von zahlreichen Ausländern - Engländern, Franzosen, Holländern, Iren usw. —, die sich die Vergünstigungen der Real Cédula de Gradas1 von 1815 zunutze machen wollten; und verantwortlich zeichnete schließlich auch, in einer zweiten Phase um die Mitte des Jahrhunderts, ein weiterer Einwandererstrom, der sich hauptsächlich aus Korsen, Mallorquinern und Katalanen zusammensetzte. Dieser zweite Einwandererstrom bewirkte praktisch eine zweite Kolonisierung der Bergregionen des Landes, begünstigt durch die Institution der libreta2, die sie mit dauerhaft verfugbaren und natürlich dienstbaren Arbeitskräften versorgte. Die Welt der Kaffeeplantagen, die im 20. Jahrhundert 1

Dieses königliche Dekret sah (u.a.) vor, daß kapitalkräftige Immigranten neben Steuervergünstigungen in den Genuß von Ländereien kamen, die ihnen von der spanischen Krone entsprechend der Anzahl der Familienmitglieder wie auch möglicherweise mitgefuhrter Sklaven zugeteilt wurden. (Anm. d. Übers.)

2

Das System der libnta beruhte - entsprechend einer 1849 erlassenen und erst 1873 wieder aufgehobenen Verordnung — darauf, daß jeder männliche Arbeitsfähige über 16 Jahre ohne feste Einkünfte sich in seiner Gemeinde registrieren lassen mußte, wobei er ebenjene libreta erhielt, die er stets mit sich fuhren und mit der er ein Arbeitsverhältnis nachweisen mußte. In dem Büchlein waren zudem die Geldsummen verzeichnet, die er seinem jeweiligen Arbeitgeber schuldete, so daß ein Wechsel des Dienstverhältnisses, erst nach Tilgung der Schuld erlaubt, nur schwer möglich war und der Großgrundbesitzer somit nach Belieben über seinen Tagelöhner verfugen konnte. (Anm. d. Übers.)

227 zum Inbegriff des „Puertoricanertums" mystifiziert werden sollte, war in Wirklichkeit eine Welt, welche von Ausländern dominiert wurde, deren Reichtum sich auf die Enteignung der alteingesessenen Landbesitzer und die erbarmungslose Ausbeutung einheimischer Bauern gründete, die bis dahin in Subsistenzwirtschaft gelebt hatten. [...] Diese aus der Metropole gebürtigen Großgrundbesitzer, Korsen und Mallorquiner, bildeten ganz selbstverständlich einen der Stützpfeiler der spanischen Kolonialherrschaft. Und die Kultur, die sie hervorbrachten, war ebenso selbstverständlich eine herrschaftliche und am Ausland orientierte Kultur. [...] Als Schlußfolgerung meiner bisherigen Ausfuhrungen erscheint es mir nun keineswegs überzogen zu behaupten, daß diese Nation in rassischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht so gespalten war, daß wir eher von zwei Nationen sprechen müßten. Oder vielleicht genauer von zwei nationalen Gebilden, die nicht die Zeit gehabt hatten, wirklich zu einer nationalen Synthese zu gelangen. [...] Nun ist es aber so, daß man uns in Puerto Rico seit mehr als einem halben Jahrhundert den Mythos von einer sozialen, rassischen und kulturellen Homogenität „verkauft" hat, den zu demontieren es allmählich an der Zeit ist... nicht, um das Land zu „spalten", wie manche befürchten, sondern um es in seiner tatsächlichen und greifbaren Vielfalt richtig zu verstehen. Stellen wir uns zwei Puertoricaner vor, beispielsweise einen (weißen) Poeten aus Lares und einen (schwarzen oder gemischtrassigen) Hafenarbeiter aus Puerta de Tierra, und wir werden nicht umhinkönnen zuzugeben, daß der Unterschied zwischen beiden — der nun aber, und das sei, um Mißverständnissen vorzubeugen, in aller Deutlichkeit gesagt, nicht bedeutet, daß der eine „puertoricanischer" wäre als der andere ein Unterschied der Kulturtradition ist, ein historisch bedingter Unterschied, den wir keineswegs unterschätzen dürfen. Dieser manifestiert sich in der Existenz zweier Vorstellungen von der Welt - zweier Weltanschauungerp' - , die in vielen und gewichtigen Aspekten gegensätzlich sind. Alle Puertoricaner, die ihren Verstand benutzen, und insbesondere alle, die wir für die Unabhängigkeit eintreten, sind aus gutem Grund besorgt über die Tatsache, daß unser Volk einen anhaltenden Mangel an Konsens fähigkeit an den Tag legt, wenn es um die zukünftige, definitive politische Organisation des Landes, also um die sogenannte „Status-Frage" geht. Unter diesem Aspekt erkennt man ohne weiteres die Realität eines,gespaltenen Volkes". Allerdings

3 Deutsche Bezeichnung im Original (Anm. d. Übers.)

228 ist es uns bislang noch nicht gelungen, die tiefliegenden — und das bedeutet: historischen — Ursachen dieser Spaltung zu erkennen. Die traditionelle Unabhängigkeitsbewegung hat behauptet, daß es eine solche Spaltung vor der nordamerikanischen Invasion nicht gegeben habe, daß unter der spanischen Kolonialherrschaft die puertoricanische Gesellschaft geprägt gewesen sei durch - wie Albizu es nannte — „eine Homogenität aller Elemente und einen hochentwickelten Gemeinschaftssinn, ausgerichtet auf den gegenseitigen Beistand mit dem Ziel der Fortdauer und des Erhalts der Nation, mit anderen Worten, eine tiefverwurzelte und einmütige Vaterlandsliebe". Nur die vernebelnde Wirkung einer radikal konservativen Ideologie konnte zu einer solchen der historischen Wirklichkeit gänzlich entrückten Sichtweise verleiten. Puerto Rico im Jahre 1898 läßt sich - von Mythologien einmal abgesehen - nur als eine im Entstehen begriffene Nation bestimmen. So sah es Hostos, und er sah es richtig. Und während im Verlauf des 19. Jahrhunderts, wie ich ausgeführt habe, dieser Prozeß der Nationsbildung tiefgreifende Veränderungen erfuhr durch zwei große Einwandererströme, die, um bei meiner Metapher zu bleiben, der puertoricanischen Gesellschaft ein zweites Stockwerk aufsetzten, begann 1898 die nordamerikanische Invasion dem noch dürftig möblierten zweiten Stockwerk ein drittes Stockwerk hinzuzufügen. [...] Die „nationale" puertoricanische Kultur um 1898 [...] war in ihren Vorzügen, ihren Schwächen und ihren Widersprüchen Ausdruck jener gesellschaftlichen IClasse, die sie hervorbrachte. Wenn nun diese Klasse [...] sich durch historische Schwäche und Unreife auszeichnete, konnte da die von ihr hervorgebrachte Kultur stark und gereift sein? Was ihr eine relative Stärke und Reife verlieh, waren vor allem zwei Faktoren: 1. die Tatsache, daß ihre Ursprünge in einer alten und reichen europäischen Kultur (der spanischen) lagen; und 2. die Tatsache, daß sie bereits begonnen hatte, ihren Manifestationen ein eigenes, in einem hispanoantillanischen Sinne kreolisches Gepräge zu geben. Letzteres ist unbestreitbar, und daher irren sich diejenigen, die behaupten (oder zumindest vor zwei oder drei Jahrzehnten behaupteten), daß es eine puertoricanische „nationale" Kultur nicht gibt. Aber genauso irrten und irren sich weiterhin diejenigen, die diese Kultur, indem sie ihren elitären Charakter schlicht übersehen, als die alleinige Kultur aller Puertoricaner postulieren und ihren Verfall unter der nordamerikanischen Herrschaft mit einem vorgeblichen Verfall der nationalen Identität gleichsetzen. Wer sich diese Sichtweise zu eigen macht, verwechselt nicht nur das Teil

229 mit dem Ganzen, denn diese Kultur war in Wirklichkeit nur ein Teil dessen, was man global als „puertoricanische nationale Kultur" bezeichnen kann, nicht aber die gesamte von der insularen Gesellschaft hervorgebrachte Kultur; daneben ignoriert er auch die Existenz der anderen puertoricanischen Kultur, der Volkskultur, die unter der nordamerikanischen Kolonialherrschaft nichts erlitten hat, was man als Verfall bezeichnen könnte, sondern eher eine Weiterentwicklung erlebte: zweifelsohne eine Entwicklung voller Hindernisse und Wechselfälle, aber letzten Endes doch eine Entwicklung. Und dies zu behaupten, bedeutet nicht, den nordamerikanischen Kolonialismus seitens der Linken zu rechtfertigen, wie einige konservative Patrioten beharrlich glauben möchten, sondern ganz einfach eine historische Tatsache anzuerkennen: nämlich die Tatsache, daß die fortschreitende Demontage der Kultur der puertoricanischen Elite unter dem Eindruck der tiefgreifenden Veränderungen, welche die Kolonialherrschaft innerhalb der nationalen Gesellschaft bewirkte, weniger die „Nordamerikanisierung" dieser Gesellschaft als vielmehr eine interne Verunsicherung hinsichtlich der kulturellen Werte zur Folge hatte. Das Vakuum, das durch die Demontage der Kultur der Puertoricaner „von oben" entstand, wurde nun keineswegs gefüllt durch das Eindringen der nordamerikanischen Kultur, sondern durch den immer deutlicher zu erkennenden Aufstieg der Kultur der Puertoricaner „von unten" [...] Aus kultureller Sicht besteht meiner Meinung nach der entscheidende Grund, für die Unabhängigkeit zu kämpfen, darin, daß diese absolut notwendig ist, um die volle Entwicklung der wahren puertoricanischen Identität zu ermöglichen, ihr die Richtung zu weisen und sie zu sichern: die Identität, deren Wurzeln auf jene Volkskultur zurückgehen, welche die Unabhängigkeitsbewegung - wenn sie denn tatsächlich danach strebt, den authentischen nationalen Willen dieses Landes zu repräsentieren - verpflichtet ist, zu verstehen und sich zu eigen zu machen, und dies ohne Vorbehalte und ohne Unterstellungen, Produkte des Mißtrauens und des Vorurteils. Was in Puerto Rico gegenwärtig geschieht, ist der spektakuläre und irreparable Zerfall des vierten Stockwerks, das der späte nordamerikanische Kapitalismus und der opportunistische puertoricanische Populismus seit den 40er Jahren der insularen Gesellschaft aufgesetzt haben. Betrachtet man die Dinge aus einer mir angemessen erscheinenden historischen Perspektive, offenbart das offensichtliche Scheitern des sogenannten Estado Libre Asoäado in aller Deutlichkeit, daß der nordamerikanische Kolonialismus

230 - nachdem er, hauptsächlich um die Bedürfnisse der expansionistischen Entwicklung der Metropole zu befriedigen, eine Reihe von strukturellen Veränderungen begünstigt hatte, die eine sehr reale Modernisierung-in-derAbhängigkeit der puertoricanischen Gesellschaft bewirkten — nunmehr nur noch in der Lage ist, diese Gesellschaft in eine Sackgasse und in einen allgemeinen Zustand der Zerrüttung zu treiben, dessen wahrhaft alarmierende Symptome wir alle vor Augen haben: massive Arbeitslosigkeit und Marginalisierung, demoralisierende Abhängigkeit von einer trügerischen ausländischen Sozialhilfe, unkontrollierbare Zunahme einer zu großen Teilen importierten Kriminalität, Entpolitisierung und Fehlen eines staatsbürgerlichen Bewußtseins als Folge der institutionalisierten Hetzkampagne sowie eine ganze Reihe von Übeln, die Sie besser kennen als ich, weil Sie sie täglich erleben. Vom gegenwärtigen Bankrott des Kolonialregimes zu sprechen, heißt nun aber keineswegs, daß dieses Regime bis vor kurzem „gut" gewesen sei und erst jetzt beginne, „schlecht" zu werden. Was ich darzulegen versuche und mir liegt sehr daran, daß dies richtig verstanden wird - , ist, daß die achtzig Jahre nordamerikanischer Herrschaft in Puerto Rico der Geschichte eines ökonomischen und politischen Projekts entsprechen, dessen jeweils aktuelle Lebensfähigkeit in jeder seiner verschiedenen Etappen gegeben war, das aber wie jedes auf kolonialer Abhängigkeit gründende historische Projekt stets dazu verurteilt war, sich auf lange Sicht als nicht lebensfähig herauszustellen. Diese heute auf allen Ebenen festzustellende Lebensunfähigkeit des kolonialen Regimes ist genau das, was zum ersten Mal in unserer Geschichte die nationale Unabhängigkeit lebensfähig macht. Lebensfähig und, wie ich dargelegt habe, absolut erforderlich. Übersetzt von Stephan Greiner und Anne Sorg-Schumacher

Luis Rafael Sánchez (1936) Theaterautor, Erzähler, Romancier, Essayist, Theaterpraktiker und Hochschullehrer; Studium der Literaturwissenschaften in Puerto Rico, Madrid und New York; als Theaterpraktiker Initiatior und Leiter verschiedener bedeutender Theatergruppen und nationaler Theaterfestivals. Luis Rafael Sánchez erzielte seine ersten Erfolge als Theaterautor, der sehr bald durch seine dem Realismus entgegenstehenden, dagegen der traditionellen Farce und der Commedia dell'Arte wie auch dem Brecht'schen epischen Theater verpflichteten Werke dem puertoricanischen Theater innovatorische Impulse verlieh. Seinen internationalen Durchbruch erzielte er mit seinem ersten Roman, La guaracha del Macho Camacho (1976), in dem Sánchez - wie vor ihm (und nach ihm) zahlreiche andere Autoren — die Problematik der puertoricanischen nationalen Identität als nordamerikanische Kolonie beleuchtet, dies jedoch - in einer gänzlich neuen Perspektive — unter massivem Rekurs auf Elemente der Volkskultur und in einer Sprache, die in ihrer humorvollen bis grotesken, im wesentlichen auf der Umgangssprache basierenden Diktion zu einem wahren Feuerwerk origineller (und leider nur schwer in eine andere Sprache übertragbarer) Sprachschöpfung gerät. In seinen Erzählungen bedient sich Sánchez hingegen größtenteils eines weniger experimentellen und eher lakonischen Stils, mit dem er zumeist die von sinnentleerten Ritualen geprägte alltägliche Realität obskurer, auch als Opfer der aktuellen puertoricanischen Lebenswirklichkeit gesehener Existenzen in Szene setzt. Werke (Auswahl): Theater: Los ángeles se han fatigado. Farsa del amor compadrito (1960); Sol 13, Interior (1962/1976); ...O casi el alma (1965/1966); La pasión según Antígona Pérez (1968) ~ Romane/Chroniken: La guaracha del Macho Camacho (1976); La importanáa de llamarse Daniel Santos (1988) - Erzählungen: En cuerpo de camisa (1966) - Essays: La guagua aérea (1994); No Uorespor nosotros, Puerto Rico (1997). Der abgedruckte Text, „Etc." in der Originalfassung, erschien zuerst in dem Band En cuerpo de camisa (Río Piedras: Editorial Cultural 51990); die deutsche Übersetzung entstammt der Zeitschrift die hören (Nr. 187,1997, S. 32ff.). Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Zeitschrift die hören.

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Etc. Die Geschichte, die ich jetzt erzähle, ist eigentlich gar keine, weil sie erst gestern an der Ecke der Haltestelle Siebzehn passiert ist. Obwohl, die Siebzehn hat ja vier Ecken. Siebzehn/Ecke Franklin muß es heißen. Bei Franklin, wo sie dienstags immer die Wühltische rausstellen. Zufällig war gestern Dienstag. Der Zufall ist nicht, daß gestern Dienstag war, sondern daß heute Mittwoch ist. Und diese Geschichte ist heute, am Mittwoch, einen Tag alt. Und weil sie einen Tag alt ist, ist sie zu neu. Gestern, am Dienstag, war ich wie jeden Morgen während der letzten Monate an der Ecke bei Franklin. Obwohl, das stimmt nicht ganz. Jeden Morgen würde ja heißen von Montag bis Sonntag, dabei muß es heißen von Montag bis Samstag. Sonntags tauch ich nicht an der Siebzehn auf. Sonntags bleib ich so lang im Bett, bis ich das Faulenzen leid bin. Dann hör ich mir an, was es so zu hören gibt: den baptistischen Radiogottesdienst mit seinen lautstarken Tamburins und die baptistische Verteufelung der männlichen Triebe. Zu der Predigt, die mir einen finsteren Tod prophezeit, kommt ihre Predigt, die mir ein finsteres Leben prophezeit. Denn meine Frau läßt sonntags ihren Flüchen freien Lauf, indem sie sich meiner als Ablageplatz bedient. Meine Frau rastet ständig aus, liebt es herumzukeifen und ist eine erklärte Feindin guten Benehmens. Meine Frau hat keine Hemmungen, mich mit Dummschwätzer, Großmaul, Rumtreiber und anderen Liebenswürdigkeiten zu betiteln, die ich hier besser nicht wiederhole. Auch wenn sie mich noch so runtermacht, den Sonntag schenk ich ihr, damit sie nach Lust und Laune schalten und walten kann. Also jedenfalls bin ich nur von Montag bis Samstag an der Siebzehn. So weit, so gut. Gestern, am Dienstag, war ich wie jeden Morgen während der letzten Monate an der Ecke bei Franklin. Ein harter Brocken, die letzten Monate. Das kann ich Ihnen schriftlich geben: 18. Februar plus 20. April, das ergibt einen Mann, den sie an den Eiern aufgehängt haben. Die Fabrik hat am 18. dichtgemacht. Am 19. saßen wir auf der Straße, 200 an der Zahl. Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Mäuler mit 200 Wochenlöhnen gestopft werden müssen. Was mich betrifft, kann ich Ihnen meins und das meiner Frau nennen. Und dann noch das einer Tante meiner Frau. Schon ganz tattrig, die Alte, eine von der Sorte böse Tante. Und dann noch das von einem Cousin meiner Frau. Er, Alkoholiker, immer spitz und ein richtiger Schnorrer. Nein, sie leben nicht bei uns, aber sie leben von uns. Weiter geht's.

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Gestern, am Dienstag, war ich wie jeden Morgen während der letzten Monate an der Ecke bei Franklin und genoß es, mir anzuschauen, was es zu schauen gab: die Hektik, mit der die Leute in der kurzen Spanne, die die Ampel zuläßt, über die Straßen gingen, oder die Hast, mit der dieselben Leute auf den Bürgersteigen auseinanderströmen. Halten Sie folgendes fest: Auf den beiden Bürgersteigen der Roberto H. Todd Richtung Condado und Alto del Cabro ist am wenigsten los; dagegen ist der, der Roberto H. Todd runter zur Haltestelle Achtzehn und der, der zur Ponce de Leon/Ecke Telesforo führt, ständig überlaufen von Marktfrauen, Sekretärinnen in der Coffee Break, Damen beim Stadtbummel, Hausfrauen und Studentinnen von der Labra und der Central. Der reinste Bienenschwarm. Jetzt ist es an der Zeit, auf meine Vorliebe für Menschenmengen und Getümmel hinzuweisen. Wo es Gedränge gibt, fühl ich mich wie ein Fisch im Wasser. Die Siebzehn, Versammlungen, das Hiram Bithorn, Beerdigungen, Prozessionen, alles voller Leute!, der Flughafen, der Busbahnhof von Rio Piedras, die Einkaufszentren. Damit Sie sich ein Bild von meiner Schwäche machen können, will ich Ihnen sagen, daß ich manchmal abends irgendwo ankomme, wo ich gar nich hin wollte, wenn ich nur eingepfercht im Bus herumfahren kann. Die Strecke nach Loiza, die Strecke nach Villa Palmeras, die Strecke nach Puerto Nuevo. Wenn doch der Sonntag auch Montag wäre! Es macht mich an, dieses Gedränge. Ich werd richtig high davon, verdammt noch mal. Ich sag mir immer, das Jüngste Gericht kann nicht so furchtbar sein, wenn es stimmt, daß wir Sünder alle ganz eng beieinander stehen werden. Aber alles hat seinen Haken. Was man da für unangenehme Momente erlebt, in was für brenzlige Situationen man durch diese Menschenliebe kommt. Die ganzen boshaften Leute, die sich die schweinische Idee in den Kopf gesetzt haben, daß man nur aufs Betatschen aus ist. Verzeihen Sie die ordinäre Ausdrucksweise. Die ganzen griesgrämigen Leute, die die Nase rümpfen, den Hintern wegdrehen, einziehen, um ihn angeblich nicht dem auszusetzen, was man Grabschen nennt. So hat mich übrigens neulich abends ein reicher Fatzke angemacht, ich wäre angeblich frech und vorsätzlich einer Dame auf den Leib gerückt, die seine Frau war. Ich schwöre, daß der Gauner gelogen hat, aber ich bin lieber ausgestiegen, anstatt ihm mit ein paar Ohrfeigen die Optik zu korrigieren. Weiter im Text. Gestern, am Dienstag, war ich wie jeden Morgen während der letzten Monate an der Ecke bei Franklin, und hab mir ganz beiläufig angeschaut, was es so zu sehen gab, und das waren lauter tanzende Hintern auf dem

234 Weg zu den Wühltischen, geblümte Hintern, die zwischen den Passanten herumflatterten, hemmungslos, drall und ungezähmt. Dabei möchte ich klarstellen, daß meine Augen nicht darauf aus waren, Hintern zu entdecken. Ich bin von Natur aus anständig, so anständig, daß ich noch nicht mal hinschaue, wenn meine Frau nackt ist, höchstens durch den Türspalt. Also, ich wiederhole nochmal, meine Augen tourten nicht hinter den Geblümten her, sondern die drängten sich vor ihnen zusammen. Vielleicht kann man jetzt verstehen, wie mich diese vermaledeite Gegend um die Siebzehn in Bedrängnis bringt. Da lehnt man sich an eine Säule bei Franklin und sagt zu seinen Augen: „Ruhig Blut, die Weiber sind los." Achtung! Damit ich nicht falsch verstanden werde. Das sagt man zu seinen Augen. Der Mund bekommt nicht das geringste mit. Die Schicklichkeit geht über alles. Zurück zum Thema. Die Augen, meine Augen, konnten das kaum durchstehen, so hingerissen waren sie von den Drallen, die nun auf die Schaufenster von Sanrfo und Tom Macän zustolzierten. Als hätten sie plötzlich entdeckt, daß die Hemdchen, BH's und Röcke von Franklin nichts als billiger Plunder seien. Und kaum befanden sich die Drallen in angemessener Entfernung, ging ich hinterher. Niemand merkte etwas von der Verfolgung. Halt: Verfolgung ist das falsche Wort. Das hört sich so nach Treibjagd an, wo es sich doch vielmehr um einen Spaziergang entlang der Avenida Ponce de Leon handelte, und zwar mit absoluter Diskretion. Diskretion ist eine Qualität, die ich erfunden habe, ob Sie wollen oder nicht. Und Sie können noch eine andere dazunehmen: die Schicklichkeit. Ich bin nicht vulgär. Ich bin auch nicht so respektlos, daß ich Gassenzoten reiße. Ich kratz mich schon als verstecktes Angebot am Gemächt. Ich kratz mich mal, ja. Ich kratz mich genüßlich. Eine kleine Massage ab und zu. Aber immer heimlich, im Schutz meiner Hosentasche. Ich fahre fort. Gestern, am Dienstag, war ich wie jeden Morgen während der letzten Monate an der Ecke bei Franklin. Ich war gerade bei einer Tätigkeit, die ich gerne als verstohlenes Beobachten umherziehender Hintern bezeichne. Ich wartete sehnlichst darauf, daß es irgendwo zu einem Menschenauflauf kommen würde, zu einem Gewirr von Körpern, ein Dutzend Frauen, staunend vor irgendwelchem Plunder, wie er ein Dutzend Frauen normalerweise in Staunen versetzt, was weiß ich, für Schmorgerichte getrimmte Kasserollen, Stoffreste oder rüschenbesetzte Blusen. Um das Kind beim Namen zu nennen, daß sich die Weiber zusammenrotten. Dort könnte sich dann, ganz im Stillen, eine, sagen wir, passive Kommunikation entwickeln, wohlgemerkt,

235 eine passive, und zwar zwischen meinem Begehren und den Ungezähmten, die urplötzlich vor einem prächtigen Schaufenster stehen blieben. Ich schaute sofort auf die Uhr des Banco de San Juan, die, nebenbei gesagt, immer auf neun Uhr steht. Sehen Sie, wie taktvoll ich bin. Da schau ich auf eine stehengebliebene Uhr, damit mich keiner, nicht mal irrtümlich, der Schamlosigkeit bezichtigen kann. Die Uhr des Banco de San Juan hat zwei schwarze Zeiger. Die Uhr des Banco de San Juan ist kreisrund. Während sich das rechte Auge in diese blödsinnige Uhr vertiefte, schickte mir das linke über Fernschreiber die Information, die es über dem Augenwinkel empfing. Die Drallen waren unentschlossen. Unentschlossen für weniger als einen Augenblick, denn sie machten sofort wieder kehrt. Ich habe zwei Augen, ein linkes und ein rechtes, die voller Ehrfurcht die Uhr des Banco de San Juan anstierten. Meine Augen waren auf diese blöde Uhr gerichtet, aber der Lufthauch, der hinter mir vorbeistrich, war der von zwei entzükkenden, niedlichen Hinterbacken. Nein, ich mußte sie nicht sehen. Sie waren jetzt wieder am Schaufenster bei Franklin. Elektrisiert, als hätte James Bond mich trainiert, ging ich auf einer der anderen Seiten des Schaufensters in Deckung, wo niemand hinkommt, weil eine Säule im Weg steht. Hinter der Säule bezog ich Posten. Das Traurige an dieser Strategie war nur, daß mir die Besitzerin der Hinterbacken ihre Vorderseite präsentierte. Von vorn nichts Besonderes. Klein, erschreckend gewöhnlich. Ohne Umschweife, das einzig Attraktive an ihr war ihr süßer Hintern. Eine der Verkäuferinnen von Franklin, Hintern hutförmig, steht in meiner Kartei, brachte einen Korb mit allerfeinsten Strumpfhosen, wie sie schrie, zu Schleuderpreisen, wie sie schrie, aus dem Laden. Da tat sich der Himmel vor mir auf! Wenn die Drallen sich dafür interessierten... vielleicht. Wenn die Drallen und ein Dutzend Damen sich dafür interessierten. Besser konnte der Tag ja nicht anfangen! Dann brach das schallende Gelächter los. Jetzt kommt's. Gestern, am Dienstag, war ich wie jeden Morgen während der letzten Monate an der Ecke bei Franklin, als plötzlich aus heiterer Hölle ein Gelächter losbrach. Genauer gesagt, aus der Ecke des Schaufensters, das mit meinem Versteck einen Winkel von 90 Grad bildete. Das Gelächter hatte etwas Ansteckendes, blieb haften, man konnte sich seiner..., ja... seiner Faszination nicht entziehen. Die Säule machte es mir unmöglich, die Besitzerinnen des Lachens zu sehen, aber ich stellte sie mir vor, aus den Nähten platzend die eine, ein dünnes Gerippe die andere, beide von überschäumender Vulgarität, beide hinternmäßig uninteressant. Da die Dinge nun mal

236 sind, wie sie sind, muß ich gestehen, daß sogar ich, von Haus aus ernst, schmunzeln mußte, als ich hörte, wie sie diesen offensichtlich herrlichen Witz bejubelten. Sie schnappten nach Luft. Das Lachen ermüdete sie. Sie gaben Japser der Erschöpfung von sich, einer wirklich angenehmen, herbeigesehnten Erschöpfung. Plötzlich sagte eine von beiden, ich schwör, daß es die Dicke war: „Und hör dir noch das an." Und es fing ein langes Geflüster an, zu dem sich meine Ohren einluden. „Ihren Mann haben sie aus der Fabrik geworfen, weil er sich danebenbenommen hat. E r posaunt rum, sie hätten die Fabrik geschlossen. Aber von wegen. Rausgeworfen haben sie ihn, sonst nix. Nein, weder Diebstahl noch Unterschlagung. Ständig auf der Pirsch, ohne Jagdschein versteht sich. Kreuz und quer alles angebaggert. Ein ganz Gewiefter! Viel Reden, viel Rumscharwenzeln, aber immer auf der Jagd nach einem Naduweißtschon." Das Gelächter kam wie eine rechte Gerade. „Immer wenn ich zur Siebzehn komme, paß ich auf meinen Naduweißtschon auf, denn hier hat er sein Revier." Mir blieb bei diesem Wunder die Spucke weg, und ich mußte darüber lachen. „Aber das Stärkste ist ja, daß der schamlose Kerl eine bildhübsche Frau hat, und die treibts mit einem Typ, den sie als ihren Cousin ausgibt." Sie lachten, als ob sie nicht mehr aufhören könnten, sie lachten ohne die Zurückhaltung, die man auf der Straße üben sollte. Sie lachten. Das Lachen ging in Schüttern über, das Schüttern in Atemnot und die Atemnot in Husten. Sie husteten. Der Husten wurde mit Tränen getränkt. Ich hörte sie die Nase putzen. Ich dachte an den Mann, der an der Siebzehn rumhing, während seine Frau ihm Hörner aufsetzte. Ich dachte, was für sorglose Männer es doch gibt. Schauen Sie, und sich dann auch noch so zu blamieren. Seine Schmach so zur Schau zu stellen. Wenn einer schon Schwäche zeigt, dann wenigstens ohne Schwäche, ohne Zirkuszelt, ohne Mikrophone, ohne Tamtam. Das war bestimmt so ein armer Teufel, ein jämmerlicher Taugenichts, ein, ein, ein. So ein Zorn! So eine Wut! So eine Rage! Die Drallen waren weg. Wo sie doch gerade noch... Die Verkäuferin holte ihren Korb mit den allerfeinsten Strumpfhosen zu Schleuderpreisen wieder rein. Die Drallen, die Hemmungslosen, die Ungezähmten, verflüchtigt zwischen den Leuten, die in der kurzen Spanne, die die Ampel zuläßt, über die Straße gingen. Verloren! Ich ging los in Richtung Ecke Telesforo. Zerstreut schaute ich mir die Rückseiten der Weibsleute an. Und, an und ab, die Gesichter der Männer. Und in den Gesichtern der Männer sah ich den möglichen Protagonisten jener Geschichte, die eigentlich gar keine Geschichte war. Vielleicht würde ich sogar,

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ohne es zu wollen und ohne darauf aus zu sein, den Kerl entdecken, der unser Geschlecht entehrte. Memme, Idiot, Volltrottel, etc. Übersetzt von Markus Trapp

Rosario Ferré (1938) Erzählerin, Romanautorin, Lyrikerin, Essayistin, Journalistin und Literaturkritikerin; Schulbesuch und Studium der Anglistik und Hispanistik in Puerto Rico und in den Vereinigten Staaten, wo sie lange Jahre ihren Wohnsitz hatte, so daß sie als eine/ einer der wenigen puertoricanischen Autorinnen und Autoren als genuin zweisprachig gelten kann. Rosario Ferré, wohl die international (und insbesondere in den Vereinigten Staaten) bekannteste Vertreterin einer ganzen Generation jüngerer puertoricanischer Autorinnen - etwa Magali Garcia Ramis, Ana Lydia Vega, Olga Nolla, Mayra Montero oder Carmen Lugo Filippi —, publizierte zunächst eine Reihe von Erzählungen, darunter viele Erzählungen für Kinder, die wohl von der europäischen Märchentradition beeinflußt sind, jedoch vorwiegend auf die einheimische orale Tradition und gelegentlich auf die Strategie des „magischen Realismus" zurückgreifen. Daneben veröffentlichte sie zahlreiche Essays, in denen sie (wie auch in vielen ihrer Erzählungen) die konfliktive häusliche Welt der Frau und ihre Versuche, sich aus der privaten wie öffentlichen Enge und Bevormundung zu befreien, zu ihrem zentralen Thema machte. Ihr erster (Kurz-)Roman, Maldito amor, erschien 1986; und seitdem scheint es, als würde die Autorin sich mehr und mehr auf die Gattung des Romans verlegen. Problematisch aus der insularen Perspektive mag für manche erscheinen, daß Rosario Ferré, die eindeutig zur „inner Community" und damit zur „insularen" puertoricanischen Literatur gezählt wird, ihre beiden jüngst vorgelegten Romane zunächst in englischer Sprache und in den USA veröffentlichte. The House on the Lagoott (sp. La casa de la laguttd) gehörte zu den finaästas des angesehenen USamerikanischen Literaturpreises „National Book Award" - und die Übertragung des Romans ins Deutsche (Isabel; 1997) erfolgte (nahezu zeitgleich mit der Veröffentlichung der von der Autorin selbst erstellten spanischen Version) aus dem Englischen. Für den erst kürzlich erschienenen Roman Eccentric Neighborhoods [1998] liegt, soweit bekannt, noch keine spanische Fassung vor. Der hier in Auszügen abgedruckte Roman Kristallzucker präsentiert sich dem Leser zunächst als historischer Roman - oder genauer, als „Roman der Erinnerung" —, als die Geschichte der Großgrundbesitzerfamilie De la Valle über drei Generationen hinweg, vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die ersten Jahrzehnte nach der US-amerikanischen Invasion: in der ersten Generation Doña Elvira, genuine Repräsentantin der alteingesessenen, patemalistisch sich gebenden Aristokratie, und Don Julio Font, der sie zunächst aufgrund seines gleichermaßen aristokratischen Gehabes beeindruckt, der sich jedoch sehr bald als Emporkömmling und gegenüber seinen Tagelöhnern nun keinesfalls mehr als patemalistisch agierender Aristokrat entpuppt und bereits lange vor Ankunft der US-amerikani-

240 sehen Konsortien auf Kosten der Kleinbauern die Ausweitung seiner Zuckerrohrplantage betreibt; in der zweiten Generation Ubaldino, der sich zunächst als Patriot offenbart, indem er sich der von US-amerikanischer Seite aggressiv betriebenen Politik der Ausschaltung einheimischer Plantagenbesitzer widersetzt und sich, die eigene Klasse verratend, dem als progressiv geltenden Partido Unión anschließt, sich aber dann doch nur als korrupter, überdies moralisch verkommener Politiker erweist, und seine Frau Doña Laura, die fur die Erinnerung lebt und — auf der Ebene der Gegenwartshandlung - auf dem Sterbebett liegt; schließlich in der dritten Generation (neben einigen Schwestern, die sich mit dem den USA assoziierten Kapital verheiraten) die beiden antagonistischen Söhne Nicolás und Anstides - Nicolás, der die alte patemalistische Tradition wieder aufleben lassen will, sich gegen die Standesregeln mit der Pflegerin seiner Mutter und Mulattin Gloria, die ihm den Sohn Nicolasito schenkt, verheiratet und durch einen Sabotageakt ums Leben kommt, und Aristides, der die Zeichen der neuen Zeit erkannt hat und nur auf den Tod der Mutter wartet, um die Hazienda um seiner US-amerikanischen Wirtschaftsinteressen willen endlich zu verkaufen; und schließlich die Bediensteten, unter ihnen Titina und Néstor, die der Familie loyal ergeben sind und denen gleichermaßen eine Stimme verliehen wird in dieser aus unterschiedlichen Perspektiven (und nicht chronologisch) erzählten Geschichte, die wohl für individuelle Schicksale steht, gleichzeitig aber auch die kollektive Geschichte Puerto Ricos repräsentiert. Doch der Roman ist, wie die Autorin in dem Vorwort zur 2. Auflage präzisiert, gleichzeitig eine Parodie auf die nach der US-amerikanischen Invasion publizierten regionalistischen Werke — sie bezieht sich hier ausdrücklich (u.a.) auf Enrique A. Laguerres Der Feuersturm und Der Karren von René Marqués —, die mit dem Leben auf dem Land paradiesische Zustände verbinden, obgleich diese Idylle fur die Mehrheit der Menschen, in der Illusion einer patemalistisch gerechten Welt, nie existiert hat; oder, wie die Autorin selbst ihr Ziel formuliert, „diese Vision der Geschichte und der herrschaftlichen Welt der Hazienda zu parodieren und dem Mythos seine Macht zu entreißen, die darin besteht, Autorität und Identität zu verleihen". {Maldito amor. Río Piedras: Ediciones Huracán 1988, S. 10) Parodie und Entmystifizierung gelingen der Autorin über die Einfuhrung der Gestalt eines Romanschriftstellers, der, als Anwalt mit der Familie vertraut, über Ubaldino als die einzige lokale Größe einen Roman schreibt - einzelne Kapitel dieses Romans sind als solche markiert und in die Erzählung eingebaut —, denn, so Don Hermenegildo, der sich einiger Schwächen seines „Helden" durchaus bewußt ist:,Jedes Land, das eine Nation werden will, braucht Helden, herausragende politische und moralische Führer, und wenn es sie nicht hat, ist es unsere Pflicht, sie zu erfinden." Werke (Auswahl): Erzählungen: Papeles de Pandora (1976); El medio pollito: siete cuentos infantiles (1976); Los cuentos de Juan Bobo (1981) - Romane: Maldito amor (1986); The House on the

241 Lagoott (1995; sp. La casa de la laguna, 1997); Eccentric Neighborhoods (1998) - Essays: Sitio a Ems (1980/1986); Elcoloqmo de las perras (1990). Die abgedruckten Auszüge von Maldito amor (aus den Kapiteln I, II, III, VI und VIII) entstammen der unter dem Titel Kristaü%ucker vom Rotpunktverlag (Zürich 1991) publizierten deutschen Version, die (nach Aussage des Übersetzers) die spanische Ausgabe mit der von der Autorin selbst verfaßten (erweiterten) englischen Ausgabe (Diamond Dust, 1988) kombiniert. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Rotpunktvedags und des Übersetzers Wolfgang Binder.

Kristallzucker Die Bewohnerinnen und Bewohner von Guamani waren früher immer stolz auf ihre Stadt und auf ihr Tal gewesen. Wir liebten es, von den roten und ockerfarbenen Felsen, die jeden Nachmittag um drei, wenn die unvermeidlichen Regenschauer auf sie niedergingen, ihr Blut über das Tal ergossen, unsere Stadt zu betrachten, wie sie sich eng an die silbrigen Ränder der Ensenada Honda Bucht schmiegte. Nach der Arbeit fuhren wir gerne hinauf zum Aussichtspunkt, den wir Falkennest nannten, und saßen dort eine Weile, bewunderten die blitzblanken Straßen, die Häuser, die ihre Veranden an die Hügel schoben wie die farbenprächtigen Röcke einer Debütantin, die hellgelbe Kathedrale mit ihrem schimmernden Hahn auf dem Kirchturm und dem Ziegelrot ihrer Dachkuppe, die wie ein sich putzender Paradiesvogel in der Mitte saß, während die Stadtbewohner aufgeregt hin und her rannten in ihrem Bemühen, dem Platzregen zu entgehen, der aus den tieftreibenden, taubenbrüstigen Wolken fiel. Zu jener Zeit, vor vielen Jahren, waren wir überzeugt, daß Guamani die schönste Stadt auf der Insel sei. Sie war an die sanften Hügel des Berges Guamani gebaut und blickte auf eine Ebene mit unglaublich fruchtbarem Lehmboden, dessen dunkle, umgepflügte Krume als eine der reichsten der Welt gilt. [...] In Guamani wurde schon immer vor allem Zuckerrohr gepflanzt, und die Stadtbewohner lebten vom regen Geschäft, das rund um ein halbes Dutzend Zuckerfabriken gedieh, die während des neunzehnten Jahrhunderts aufgeblüht waren. [...] Unser Stolz und unsere Zufriedenheit gründeten sich nicht nur auf die Fruchtbarkeit unseres Tals. Wohlhabende Familien lebten in eleganten Häu-

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sern, in denen handgeschnitzte Ventilatoren die Strahlen der Nachmittagssonne über den Türeingängen filterten und in denen mit Marmorbalustraden gesäumte Veranden die frische Brise hereinließen, in Häusern mit gewienerten Parkettböden. Damals gehörten alle Guamanenos aus der Oberschicht ein und demselben Clan an. Es existierten Blutbande zwischen den entferntesten Familien, und wir gewährten uns gegenseitig immer finanzielle und moralische Unterstützung, um auf diese Weise unsere Zuckerrohrplantagen besser zu verwalten. Unsere Söhne studierten in Europa, und unsere Töchter wurden in den heiligen Tugenden des Heims unterwiesen. Unsere gesellschaftlichen und kulturellen Aktivitäten waren stets vom feinsten: Die Männer gingen nie zur Kirche, ritten auf ihren feurigen Poloponies und übten sich jeden Nachmittag im Schießen, abends pflegten sie das Casino in Guamani zu besuchen, wo sie Domino, Roulett und Bakkarat spielten; die Frauen gingen täglich in die Messe und besuchten sich gegenseitig zu Hause, wo sie Romme, Fan Fan und Dame spielten. Sie waren ständig dabei, im Waisenheim sowie in den Alters- und Blindenheimen Gutes zu tun. Vulgarität und Mittelmäßigkeit waren aus unserer Mitte verbannt, und wir waren stets zugegen bei den Liederabenden von Adelina Patti, der berühmten italienischen Opernsängerin, auch bei den Abenden der berühmten Schauspielerin Eleonora Duse und der Tänzerin Ana Pavlova, die in regelmäßigen Abständen im Athenäum Guamanis gastierten. Wir spielten ausschließlich klassische Musik auf Banketten und Tanzabenden, und unsere Töchter schwebten anmutig wie Gardenien aus Gaze auf den Wellen der „Blauen Donau", wenn sie mit ihren Partnern unter den Sternenhimmeln unserer tropischen Nächte tanzten. Es war ohne jeden Zweifel eine unschuldige, schuldlose Welt, und so hat sie unser großer Gautier Benitez in seinen Gedichten verewigt und unser großer Morel Campus sie in unseren dan^as besungen. Eine Welt strenger Vergnügungen und anstrengender Unternehmungen, mit Fahrten auf der silbrigen Oberfläche der Esenada Honda, Picknicks an den blauen Abhängen des Guamani-Berges und wehmütigen dan^as, zu denen man unter den versonnenen Schatten einer raschelnden Pinie Walzer tanzte. Eine glückliche Welt, auch wenn sie anderweitig arm und rückständig war, in der man allem, was nicht edel, außergewöhnlich oder wunderschön war, als unverzeihliche Beleidigung der eigenen Würde abschwören konnte. Heute ist all das anders. Guamani ist weit davon entfernt, paradiesisch zu sein, es ist zu einer Hölle geworden, zu einem monströsen Malstrom,

243 dessen schreckenerregende Schornsteine der Snow White Zuckerfabrik Tag und Nacht Zucker nach Norden ausspucken. [...] Eines Tages beschloß Don Julio, daß es höchste Zeit sei, die Zuckerproduktion zu erhöhen, und so befahl er, daß auf jedem unbestellten Stück Land, auf jedem Gemüsebeet und Gartenstück, das von den Tagelöhnern, die in ihrer freien Zeit ihre eigene Ernte einbrachten, beharkt wurde, ein neues Beet mit Zuckerrohr angelegt werden müsse. Es war unter den alten Besitzern von Diamond Dust Sitte gewesen, jene Felder, die am weitesten von der Fabrik entfernt, am Rande der Hazienda, lagen, den Tagelöhnern zu überlassen, so daß sie ihre armseligen Ziegen- und Viehherden in den schmalen, salzigen Marschen des Hinterlands grasen lassen konnten. Dort bauten sie auch ihre exotischen Lebensmittel an, wie die goldene Yamwurzel und die schneeweiße Tarowurzel, die sie langsam zu ihrem traditionellen sancocho Eintopf verkochten. Die De la Valles waren Loyalität gewohnt, für sie war die Treue ihrer Kleinpächter etwas Selbstverständliches; aufgrund dieser Situation hatten sie immer wie Grafen gelebt. Aber sie hatten auch durch ihren Sinn für Loyalität und gerechten Lohn eine anständige Balance zwischen Vassallentum und Herrschaft eingehalten. Deshalb wurden sie von ihrer Dienerschaft und ihren Arbeitern verehrt, blieben diese ihnen auch in den schlimmsten Krisen treu. Die De la Valles waren zum Beispiel Paten aller Kinder ihrer Abhängigen und waren stets bei deren Taufe, Heirat und Totenwache anwesend, legten dazu ihre beste Kleidung an, waren von einer Aura der Würde umgeben. Bei diesen Anlässen bewiesen sie ihre Großzügigkeit, indem sie ihnen große Tüten mit Münzen und bunt eingepackte Geschenke überreichten. An dem Tag, an dem Doña Elvira von Don Julios Anordnung erfuhr, daß man das Gemeinschaftsland den Bauern wegzunehmen und mit Zukkerrohr zu bebauen habe, suchte sie ihren Gatten im Keller auf, wo er den Humboldtsafe aufgestellt hatte, den man speziell für ihn in Deutschland angefertigt hatte. Sie mußte mehrere Male anklopfen, ehe er sie hörte. Die Betonmauern des Safes waren vier Fuß dick, und die Tür bestand aus massivem Stahl. „Die De la Valles waren immer ehrenwerte Landbesitzer, nie Sklavenhändler", sagte sie, als er schließlich die Tür öffnete. „Dein Geiz wird Unglück über uns bringen, und du wirst Diamond Dust schließlich in einem Meer von Zucker ersäufen." [...]

244 Doña Elvira hatte eben Ubaldino De la Valle, Guamanís bedeutendsten Staatsmann, auf die Welt gebracht und erfüllte im Bett die traditionellen vierzig Tage Rekonvaleszenz der San Gerardo Nachgeburt, als Diamond Dust von einem der fürchterlichsten Wirbelstürme des Jahrhunderts plattgewalzt wurde. Der Himmel öffnete sich und gab eine Katastrophe aus Wind frei, der das von einem Hartholzgiebel gekrönte Dach des Hauses hinwegfegte, als wäre es eine Papiertüte, und eine Sintflut ergoß sich über sie. Die Familie hatte Zuflucht in den übelriechenden Tiefen des Kellers gesucht, wo sich die Moskitos zu Tausenden in der stickigen Luft paarten, während sie darauf wartete, daß der Wind abflaute. Sie sah sich gezwungen, fast einen Monat lang dort auszuharren, da Don Julio sich nie die Zeit genommen hatte, das Dach ihres Hauses zurückzuholen, das in der Viehtränke eines Nachbarn, fünfundzwanzig Kilometer entfernt, niedergegangen war, während Diamond Dust auf allen Seiten brannte wie eine Filiale der Hölle. Er war zu sehr mit der Aufsicht des Abbrennens des Zuckerrohrs beschäftigt, das geschehen mußte, ehe es zu verfaulen anfing, denn die Ernte lag unter einer Schlammlawine begraben. Doña Elvira, die auf ihrer Eisenpritsche lag und das Wasser aus der nahegelegenen Quelle, die trüb vor Schlamm geworden war, zu trinken gezwungen war, infizierte sich mit Typhus und starb bald darauf. Auf ihrem Totenbett rief sie kläglich nach einem Priester, die Letzten Segnungen unserer Heiligen Kirche wurden ihr aber nicht zuteil. Unter diesen Umständen wurde Ubaldino De la Valle, unser mutiger politischer Führer und Patriot, geboren und fand sich, nur wenige Tage alt, alleingelassen in den Armen einer Säuglingsschwester, Doña Encarnación Rivera, die ihn stillte und sich um ihn kümmerte, bis er erwachsen war. Niño Ubaldino war immer ein ehrenwerter Mann gewesen; er hätte lieber seine rechte Hand hergegeben, ehe er einen einzigen Hektar Land an die aus dem Norden verkauft hätte. „Manifest Destiny", „Big Stick Policy", das USArmy-Maultier, Palmolive Seife, Baseball und die herrliche, komische Erfindung der Zahnbürste, die die Marines mitgebracht und in ihre Hüte gesteckt haben, als sie auf der Insel gelandet sind, all das waren für ihn hassenswerte Wörter, Teil desselben Vokabulars, mit dem er jeden Morgen den Himmel verflucht hat, als er sich rasiert hat, sich sein Gesicht gewaschen und sich die Zähne geputzt hat, ehe ich ihm den Spiegel vors Gesicht hielt. Er hats nie verstehen können, warum uns die Vorsehung diese bleichen

245 Abenteurer, die weiß und kalt und säuerlich wie aufgeschnittene Palmenherzen waren, geschickt hat, um uns wegzunehmen, was uns gehörte. Als die Mädchen erwachsen waren und alle in jene Familien eingeheiratet haben (alle außer Margarita, natürlich), die Aktien von Snow White hatten, wurde Niño Ubaldino krank und war mehr als eine Woche lang bettlägerig. Es war eine Chose, auf einem Hochseil zu tanzen und mal in diese, mal in jene Richtung zu flitzen, wenn man sein Land auf Teufel komm raus verteidigen wollte, es war aber etwas anderes, es auf einem Silbertablett zu überreichen, so hat er bei mir geklagt, während ich seine Stiefel geputzt habe. Es war eine Chose, sie zu unseren Feiern einzuladen, wo sie unter unserem Sternenhimmel tanzen und unsere Speisen essen konnten und wo sie der Gitarre, dem Guiro und der Kalebassenrassel zuhören konnten, hat er gestöhnt, als ich ihm die Revers seines weißen Leinenanzugs abgebürstet habe, eh er zur Arbeit ging, und eine andere, ihnen ein Essen aus unseren eigenen Rippen zu servieren. Und als Margarita sich mit Don Augusto Arzuaga, dem Industriemagnaten aus Santa Cruz, verlobte, hat das das Faß zum Uberlaufen gebracht. Niño Ubaldino hatte eine Menge über Don Augusto gehört und daß er ein großer Freund der Leute aus dem Norden ist. Er ist auf der ganzen Insel dafür berühmt gewesen, mit welcher Leichtigkeit er sie eingesteckt und wieder losgelassen hat, und wie er dabei immer einen Vorteil erzielt hat. Aber Niño Ubaldino hat ihn deswegen nicht bewundert. [...] Die staatsbürgerliche Apotheose Ubaldino De la Valles geschah an dem Tag, an dem er Diamond Dust davor bewahrte, vom Wind verweht zu werden. Wir hatten im selben Jahrgang die Staatsexamina an der Universität abgeschlossen und waren einige Jahre zuvor der Unionspartei beigetreten. Wir waren uns einig, daß unsere Insel schon zu lange ein goldener Tennisball auf den Tennisplätzen der USA war und daß die Dinge nicht so weitergehen konnten wie bisher. Wenn der Präsident Mister Allen einen Gefallen dafür tun wollte, daß er die Indianer am Fort Beverly oder an der Grenze von Arkansas oder Arizona liquidiert hatte, wenn er sich Mister Yager verpflichtet fühlte, weil dieser den abtrünnigen Staat Iowa dazu brachte, für die Demokraten zu stimmen, landete der goldene Tennisball auf ihren eigenen Tennisplätzen, und wir hätten bald einen neuen Gouverneur. In jenem Sommer bewarb sich Ubaldino um einen Senatssitz, und in meiner Eigenschaft als Reporter der Nation, der liberaldemokratischen Tageszeitung unserer Stadt, sollte ich ihn überallhin begleiten. Es überraschte

246 niemanden, als ich in die Politik der fortschrittlichen Richtung ging, da mein Vater der Besitzer von La Naáóti ist, aber die Familie Ubaldinos war immer konservativ gewesen. Zuerst dachte ich, sein Nachname sei eine Belastung und er würde ihn Stimmen kosten. Die amerikanischen Bankiers hatten endlich ihre Kredite gewährt und damit begonnen, den Landbesitzern der Insel Geld zu leihen, so daß der wirtschaftlichen Todesstarre der Zuckerfabriken ein Ende gesetzt wurde. Als Ergebnis dieser Maßnahmen waren alle kreolischen Landbesitzer Mitglieder der Republikanischen Partei geworden, in der sie auf die politische Assimilierung der Insel hinarbeiteten. Aus diesem Grund sahen sie in Ubaldino einen Verräter. Der Preis, den sie für den Waffenstillstand zu bezahlen hatten, war hoch gewesen: Es war ihnen gestattet, ihr eigenes Zuckerrohr zu schneiden und zu mahlen, aber der gesamte Zucker mußte in den riesigen Schleudertonnen von Snow White raffiniert werden. Die kleineren Zuckerfabriken waren deshalb nicht mehr unabhängig, und fast alle waren sie zu Satelliten der Superfabrik geworden, parasitäre und verarmte Unternehmen. Aus diesem Grund hatten die Bewohnerinnen und Bewohner von Guamani angefangen, jene kriecherischen, den Boden küssenden Landbesitzer wie überhaupt jeden, der zur Republikanischen Partei gehörte, zu verachten, während Ubaldinos Wahlkampf zugunsten einer größeren industriellen und politischen Eigenständigkeit immer mehr Anhänger fand. [...] Wenn Don Hermenegildo in dieses Haus gekommen ist, wenn er damit einverstanden war, sein elegantes, ledergepolstertes Rechtsanwaltsbüro zu verlassen, in das er sich seit Jahren eingeschlossen hat, um einen sentimentalen Roman über Don Ubaldino zu schreiben, hatte er sicherlich nicht die Absicht, uns zu helfen oder uns Diamond Dust auf einem Silberteller zu überreichen, sondern Arístides und seine Schwestern vom geheimen Testament Doña Lauras in Kenntnis zu setzen. Obwohl es mir nicht leid tut, daß er gekommen ist, bin ich doch froh, daß du es getan hast, denn nun wird Don Hermenegildo nie seinen Roman zu Ende schreiben. Er sitzt jetzt wahrscheinlich an der Seite der toten Frau, blickt ins Dunkel und erfindet neue Lügen, neue Varianten der Geschichten, die er von den Lippen seiner Protagonisten in diesem geschmacklosen Melodrama abliest. Und wenn er entkommt, wenn er es irgendwie schaffen sollte, dem Strom blauen Benzins zu entkommen, das wir eben über die Haufen trockenen Zuckerrohrs, die um die Häuser der Zuckerrohrplantage liegen, gegossen haben, wenn es ihm

247 zum Beispiel gelingen sollte, aus dem Fenster im dritten Stock in den Garten zu springen, in dem jetzt das Feuer wie in einer Zweigniederlassung der Hölle kreist, werden wir wenigstens die Genugtuung haben zu wissen, daß niemand seine Geschichte von dem Mann glauben wird, der angeblich ein Führer und ein Staatsmann war und der lange Zeit so korrupt war. Oft korrigieren Tatsachen auf seltsame Art und Weise Fiktionen, Titina, und wenn Don Hermenegildos fehlgeschlagener Roman eine Abfolge von Erzählungen, die einander wie eine Reihe fallender Dominosteine widersprechen, hätte werden sollen, wird unsere Geschichte sie alle auslöschen, denn sie wird die einzige sein, in der Wort und Tat endlich einander treu sind, in der endlich eine wirkliche Ubereinstimmung zwischen beiden herrscht. Hör mit dem Weinen auf, Titina, du darfst nicht mehr wegen Doña Elvira, wegen Nicolás und wegen Doña Laura weinen. Von nun an sollst du mein Lieblingslied, jene schmierige, sentimentale Danap von Morel Campos singen, die Nicolás und ich immer gesungen haben, als wir uns in diesen Kellern liebten, die wir jetzt erleuchten. Hör nur, wie das Zuckerrrohr um uns herum aufplatzt wie Brennholz, es ist leer und trocken wie das Gesabber in Don Hermenegildos Roman. Freu dich mit mir, weil sich Diamond Dust endlich in Rauch auflösen wird. Als ich Doña Lauras Geschichte vor ein paar Minuten hörte, wurde mir endlich klar, was wir zu tun hatten, Titina; was dieses vom so lange andauernden Kampf in seinem Herzen erschöpfte Land uns zu tun befiehlt. Du kennst die Geschichte Doña Lauras besser als ich, du weißt, wie viele Male sie von ihrem Mann betrogen wurde. Und es waren nicht nur seine schmutzigen Liebesgeschichten, die sie leiden ließen, sondern seine ebenso schmutzigen politischen Affairen, die ihrer Familie jahrzehntelang geschadet haben. Doña Laura unterstützte vorbehaltlos die Wahlkämpfe ihres Mannes, denn sie glaubte, daß er wirklich das Beste für sein Land wollte. Aber Don Ubaldino betrog sie, und als er einmal Senator geworden war, vergaß er schnell seine patriotischen Ideale. Er wurde zu einem Politiker mehr, der Gedichte über die tragischen Zustände in einem Land auswendig hersagen konnte, das jetzt sein Herz an die wirbelnden Räder des Fortschritts verlieren, aber des Sinns für seine eigene Zeit verlustig gehen konnte, einem Land, für das die Geschichte im Jahre 1898 begann, als die Leute aus dem Norden auf der Insel landeten, und alles, was vorher geschehen war, nie stattgefunden hatte, einem Land, das seine Sprache opfern mußte, in der es jahrhundertelang gedacht und die es geliebt hatte, eine Sprache, die es für die Sprache der Elektrizität, moderner Sani-

248 täranlagen, geschickt gebauter Straßen und Brücken, kurz, dem Überleben opfern mußte. Aber er hat nie etwas dagegen getan. Es wurde ihm bald klar, wie schwierig es war, von rechts nach links zu jonglieren, und daß er den Lebensstandard, den sein Leben als Senator ihm ermöglichte, nicht aufrechterhalten konnte, die Kreuzfahrten nach Europa, die paso fino Pferde, die Mätressen und die Rolls-Royces, ohne korrupte Politiker zu unterstützen, und jeden Morgen beim Rasieren und während seiner zwanzig Minuten Kraftsport wiederholte er eine Reihe von Vergeßlichkeitsübungen, um sein Gedächtnis so weit als möglich zu schwächen, und stellte sich bei jeder Gelegenheit gegen die fortschrittliche Sozialgesetzgebung, wie sie die Leute aus dem Norden vorschlugen. Er kämpfte erbittert gegen Anstrengungen der Leute aus dem Norden, die Stadtverwaltungen zu demokratisieren, gegen das Streikrecht, den Mindestlohn, den Achtstundentag, und versuchte, die Bewohner Guamanis in derselben abgrundtiefen Armut zu halten, wie sie sie seit Jahrhunderten kannten. Als Doña Laura beschloß, daß Nicolasito und ich eines Tages ihren Anteil an Diamond Dust erben sollten, dachte ich zunächst, sie hätte den Verstand verloren und die Einsamkeit, zu der sie ihre Kinder gezwungen hatten, hätte schließlich ihren Lebensmut gebrochen. Nicolás tat alles für seine Mutter, und sie behandelte mich wie ihre eigene Tochter. Das war der Grund, weswegen Nicolás und ich heirateten, um ihr einen Gefallen zu tun, denn die Heirat war uns nicht wirklich wichtig. Sie wußte, daß wir immer zusammen bleiben würden, verheiratet oder nicht, ob es in den Höhen des Himmels oder in der Tiefe der Hölle war, wohin uns die Gesellschaft Guamanis nur zu gern geworfen hätte. Uns war alles gleich, so mächtig war die Liebe, die uns verzehrte. Mit den Jahren hatte ich gelernt, Doña Laura zu lieben, und vergab ihr ihren Geiz, denn sie war so allein und hatte so große Angst vor dem Sterben. Deshalb verließ ich das Haus nie nach dem Unfall von Nicolás, obwohl ich es jeden Tag gerne getan hätte. Ich liebte sie wegen der Erinnerungen, die wir gemeinsam hatten, und weil ich die Anwesenheit von Nicolás leichter beschwören konnte, wenn sie seinen Geist von den Veranden des Hauses aus anrief. An ihrer Seite fühlte ich mich ihm näher, als hätten wir gemeinsam die traurigen Mahnzeichen seiner Gebeine erwärmen können. Und weil wir beide für die Erinnerung lebten und Don Ubaldino, wie Aristides und seine Schwestern auch, für das Vergessen, dachte ich zunächst, daß es vielleicht moralisch gerechtfertigt sei, wenn Nicolasito und ich Diamond Dust erben würden.

249 Nicolás liebte das Tal von Guamaní und seine Menschen, und ihretwegen hat er sein Leben verloren. Du darfst das nie vergessen, Titina, brenn es in dein Gedächtnis mit diesem brennenden Holzscheit ein, das ich an die Ausubobalken in diesem stinkenden Bedienstetenzimmer halte, in dem wir beide uns so oft nachts ausgeruht haben, nachdem wir den lieben langen Tag für unseren Unterhalt gearbeitet hatten. Auch Nicolás war sich bewußt, wie wichtig die Erinnerung ist, und er wußte, daß Guamaní nie ein Paradies gewesen war, wie Don Hermenegildo in seinem Roman schreibt, sondern daß es jahrhundertelang ein durch Epidemien verseuchtes Loch gewesen war, in dem die Bewohnerinnen und Bewohner Guamanis als Analphabeten lebten und, ehe sie fünfunddreißig waren, zu Hunderten an Tuberkulose, am Bandwurm und an Hunger starben. Er wußte, daß die hiesigen Landbesitzer daran schuld waren, lange ehe die Leute aus dem Norden auf die Insel kamen, und daß sein Vater dafür ein Beispiel war. Deshalb begann er, nachdem er erst einen Monat lang Präsident der Fabrik war, Land an die Kleinbauern zu verteilen und ihnen die Gelegenheit zu geben, ihre eigenen Häuser zu bauen, ihnen einen anständigen Lohn zu bezahlen, Maßnahmen, die Aristides wütend und Don Ubaldino, der deswegen seinen Sohn mehr als einmal verfluchte, wahnsinnig machten. Doña Laura entdeckte nie die Wahrheit über den Unfall von Nicolás, und nachdem es nun einmal geschehen war, war das schließlich auch gleich. Sowohl sein Vater als auch sein Bruder haßten ihn, so daß die rechte Hand gerne tat, was die linke nicht tun wollte und bewußt verweigerte. Nachdem Nicolás beerdigt war, ordnete Doña Laura eine Untersuchung an. Eine Brigade von Privatdetektiven durchkämmte den Ort des Unfalls und sammelte jedes einzelne Stück von Wrack, Motor und Rumpf auf. Es gab genügend Beweise, um den Verdacht der Sabotage zu erhärten, aber keinen Beweis, was die Schuldigen anbelangte. Als Laura davon erfuhr, beschloß sie, Diamond Dust Nicolasito und mir zu vererben. Du siehst also, Titina, du hättest wirklich nicht Don Hermenegildo holen und ihn hierher bringen sollen, du Idiotin, du mit deiner unseligen Liebe zu Niño Ubaldino und seinen Kindern, zu dem Gutshaus mit seinen Veranden, die auf ein Meer von Zuckerrohr hinausgehen. Du mußt verstehen, daß alles, was er geschrieben hat, eine Lüge war, und daß das einzige, was von seinem Roman bleibt, die Verbindung von Feuer und Worten ist. Weine nicht mehr, du dummes Weib, siehst du nicht, daß nichts mehr von Wichtigkeit ist, daß Aristides und seine Schwestern dich nie die Hütte hät-

250 ten behalten lassen, die dir Niño Ubaldino in seinem Testament vermacht hat. Wichtig ist, daß wir beide uns immer noch haben, so daß wir zusammen die Worte jenes alten Lieds singen können, während wir den Keller des Hauses mit unseren Fackeln erleuchten: Deine Liebe ist wie ein Vogel, der seine Stimme fand Deine Liebe in meinem Herzen ein Nestlein fand; Jetzt weiß ich, warum es brennt Wenn ich an dich denk. Übersetzt von Wolfgang Binder

Edgardo Rodríguez Juliá (1946) Romancier, Essayist, Literatur- und Kulturkritiker; Studium der Literaturwissenschaft in San Juan und New York; gegenwärtig tätig als Professor an der Universität von Puerto Rico. Sowohl in seinen Romanen als auch in seinen Essays oder Chroniken spiegelt sich das zentrale Anliegen Rodríguez Juliás, über die Erinnerung — sei es die Erinnerung an weit zurückliegende historische Ereignisse und Epochen, sei es die Erinnerung an herausragende Gestalten der jüngeren Vergangenheit und die eigene Lebensgeschichte — die Herausbildung der nationalen Identität, auch unter Einbeziehung des afroamerikanischen Kulturerbes, zu rekonstruieren und die in der Gegenwart wirksamen Fehlinterpretationen oder auch Traumata in kritisch-ironischer Perspektive zu entlarven. Dabei hat sich der Autor mancher Kritik ausgesetzt: etwa im Zusammenhang mit seiner biographisch-literarischen Chronik Las tribuladones de Jonas (Die Kümmernisse des Jona), einer kritischen Würdigung des Wirkens von Luis Muñoz Marín, dem der Autor durchaus persönliche Sympathie entgegenbringt und eine angemessene Anerkennung als herausragende Persönlichkeit zuteil werden läßt, dem aber schließlich vorgehalten wird, daß er sich selbst (und damit Puerto Rico) nicht davor zu bewahren verstand, von der Kolonialmacht USA — gleich dem biblischen Jona, auf den der Titel verweist — vereinnahmt und, metaphorisch gesprochen, geschluckt zu werden. Kritik erntete Rodríguez Juliá auch mit der hier in Auszügen abgedruckten Chronik, der eine unverzeihliche Irreverenz im Zusammenhang mit der Darstellung ebenjener Repräsentanten und Demonstrationen des traditionellen Nationalismus vorgeworfen wurde, die der Autor, selbst Befürworter der Unabhängigkeit, in liebevoll-ironischer Diktion als der Gegenwart entrückte Ikonen und Rituale demaskiert. Mit der Chronik „Die Durchquerung der Bucht von Guánica...", die den vorliegenden Band beschließt, kehrt der Leser nunmehr an jenen Ort zurück, an dem konkret ein Jahrhundert puertoricanischer Geschichte ihren Ausgang nahm und deren Reflex im politischen Diskurs und Essay ebenso wie in der Lyrik und dem Theater, der Erzählung und dem Roman diese Anthologie gewidmet ist. Werke (Auswahl): Romane: La renunáa del héroe Baltasar (1974); La noche oscura del Niño Aviles (1984); El camino de Yyaloide (1994); Sol de Medianoche (1995); Cartagena (1997) - Chroniken/Essays: Las tribuladones de Jonás (1981); El entierro de Cortijo (1983); Una noche con Iris Chacón (1986); Puertorriqueños (Album de la Sagrada Famiäapuertorriqueña a partir de 1898) (1988); El cruce de la Bahía de Guánica (anco crónicasplayerasy un ensayo) (1989).

252 Der in Auszügen abgedruckte Text, „El cruce de la Bahía de Guánica y otras ternuras de la Medianía (25 de julio de 1983)" in der Originalfassung, ist dem letztgenannten Sammelband entnommen (Rio Piedras: Editorial Cultural 1989, S. 9ff.). Der Kursivdruck im Text entspricht dem Original. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Die Durchquerung der Bucht von Guanica und andere Motive der Rührung im Zeichen des Mittelmaßes (25. Juli 1983) Für William Yudkin

Die Bucht von Guanica hat eine enge Einfahrt; für den Schwimmer wird sie dadurch noch gefährlicher. In der Mitte, genau in der Passage ihres Kanals, erahnt man unter den hohen Schaumkronen der Wellen einen kraftvollen, unbeständigen Strom. Genau dort, wo die Bojen die Fahrrinne für die Schiffe markieren, wird die Strömung zu einer reißenden Flut, taucht der unvermutete zweite Strand auf, der Schrecken des angehenden Schwimmers. Das vom Ufer aus friedlich aussehende Wasser gewinnt hier seinen bedrohlichsten Zug. * * *

Über diese Bucht an der Südküste kamen die Nordamerikaner vor 86 Jahren nach Puerto Rico. Guanica war damals nur ein kleiner Ort, eine nach und nach um den Hafen herum gebaute Ansammlung von Häusern. Damals konnte man von der Mole aus in der Ferne einige Fischerboote ausmachen. [...] Auf jenem Foto von 1898 können wir am Ufer des Hafens eine Jolle ohne Ruder erkennen. Genau daneben ragt ein kleiner Landesteg in das Wasser hinein, der nur aus drei langen, auf niedrige Pfähle genagelten Brettern besteht, die bei Ebbe aus dem Sand herausragen. Dieser ruhige Hafen, Refügium wortkarger Fischer, ein sanftes Meerespanorama für die verschlafenen Balkone dem Wasser gegenüber, sollte plötzlich, fast ohne Vorwarnung, den Besuch der Geschichte erhalten. Um 2 Uhr 50 am Morgen des 25. Juli 1898 - Puerto Rico schickte sich gerade an, an diesem Tag das hispanische Fest des Apostels Santiago zu fei-

253 ern — gingen einige Schiffe der Kriegsmarine der Yankees mit ausgeschalteten Lichtern vor der Küste von Guánica vor Anker. Die „Gloucester" war das erste Schiff, das in die Bucht eindrang. Sie erwartete in irgendeiner Form Beschuß; das nahe Vorgebirge diente sicher dazu, die spanischen Geschützstellungen zu verbergen. Aber sie fand nur eine traumhafte Stille vor. Nachdem das frühere Korsarenschiff von J. P. Morgan, das nun in ein Kriegsschiff umgewandelt war, den Kanal erkundet hatte, bat es um Erlaubnis, in die Bucht einfahren zu dürfen. Es entdeckte, daß der Kanal eine Tiefe von „fünf Faden" hatte. Es herrschte weiterhin eine vollkommene Stille, nur das Auf und Ab der Wellen und der Flug irgendeiner frühen Möwe waren zu hören. Daraufhin verließ die „Gloucester" die Bucht, ging 600 Yards vor der Küste vor Anker und nahm 28 Matrosen an Bord. Sie fuhr erneut in die Bucht ein. Diesmal waren die Nerven der Besatzung angespannter, während sie ohne jeden Zwischenfall bis kurz vor die Küste fuhren. Keine Spur von den Spaniern! Die Marineinfanteristen gingen an Land, die Truppen schwärmten aus, um den Strand zu sichern. Nicht ein einziges Geschoß einer spanischen Mauser durchlöcherte das Landungsboot, das durch ein 6 mm Schnellfeuergeschütz verteidigt wurde. Auf dem Haus des Hafenmeisters wurde die erste nordamerikanische Fahne gehißt. Das ist doch wirklich nicht ^u fassen!... Einige spanische Truppen, die sich auf der rechten Flanke befanden - dort fuhrt heute die Straße nach Caña Gorda hinauf —, antworteten schließlich mit Beschuß. Das Geschütz des Bootes feuerte in jene Richtung. Die „Gloucester" unterbrach das langsame Erwachen der Bucht mit dem Donnern ihrer Kanonen und scheuchte über der Stille und Trostlosigkeit des Ortes unzählige Schwärme von Vögeln auf, verstört durch diesen nie zuvor erlebten Tagesanbruch. Die „Gloucester" glitt nicht mehr wie ein langsamer Alptraum, vom Vorgebirge her belauert, dahin. Was gerade noch wie ein Traum erschien, war plötzlich vorbei, und die Stille wurde nun überall von den Stimmen der Angst verfolgt. Die Geschichte ging vor Anker; doch bei alledem gab es keine Verluste, und das Geschütz der Amerikaner wurde schließlich sogar unbrauchbar... Dann erschien der maestro Simón. Jener Schwarze war als einziger Bewohner im Ort geblieben. Er informierte die Amerikaner darüber, daß die spanischen Truppen nicht mehr als 30 Mann zählten. Es war an der Zeit, den Staat neu zu gestalten, dachten die Yankees. Simón Mejil, jener große und kräftige Schwarze, der einzige Bewohner des Dorfes, der nicht geflohen war, wurde von den Invasoren zum Polizeichef ernannt! Das war die Be-

254 lohnung für seinen Mut und seine eilige Loyalität gegenüber den

Barbaren

aus dem Norden. Und Don Agustín Barrenechea aus Vizcaya, spanischer Bürgermeister von Guánica, wurde von den Amerikanern herbeizitiert und zum ersten Bürgermeister eines puertoricanischen Ortes unter den Amerikanern gekürt. Er bat respektvoll um die nordamerikanische Fahne als Symbol seiner brand new Autorität; er hißte die Fahne auf seinem eigenen Haus, das zugleich sein Amtssitz war. [...] So begannen diese 86 Jahre des kolonialen puertoricanischen Karnevals. * * *

Schon seit einigen Jahren übernimmt der Club Exchange von Guánica aus Anlaß der Feierlichkeiten Ehren des Schutzpatrons des Ortes die Schirmherrschaft über diesen Schwimmwettbewerb. Es geht darum, die Bucht von Guánica schwimmend zu durchqueren. Am 25. Juli 1981 durchquerte ich zum ersten Mal die Bucht. Heute, am 25. Juli 1983, kehre ich nach Guánica zurück, wie immer begleitet von dem mir teuren Meisterschwimmer William Storyck, meinem amerikanischen Freund, dem Ewigen Yudken, dem kleinen Juden mit den traurigen Augen, der mir alles beigebracht hat, was ich über das Meer weiß und jemals wissen werde. [...] Bill ist schon 54 Jahre alt, oder ist er schon 56? Ich für meinen Teil bin jetzt 36. Seit sechs Jahren schwimme ich mit ihm, und ich habe bemerkt, daß in diesen vergangenen Monaten seine Schwimmstöße kraftloser wurden, daß er mir ein bißchen, nur ein gan% kleines bißchen, die Kraft meiner Schultern, die auch schon die Hälfte ihres Weges hinter sich hatten, neidete. Ich bin schon nicht mehr jung, Bill aber fängt an, alt zu werden... Heute, wieder an einem 25. Juli, bestehe ich darauf, nach Guánica zu fahren, und die Freundschaft ebenso wie die Loyalität zwingt mich,

mit ihm, gegen ihn und vielleicht auch ohne ihn zu schwimmen... * * *

Wir sind etwas spät losgefahren, aber wir haben schon fast die Außenbezirke von Guánica erreicht. Genau zweieinhalb Stunden nach der Abfahrt von Rio Piedras erreichen wir das Café „Puerto Rico", obligater Halt auf dem Weg nach Guánica an allen Tagen der Durchquerung der Bucht, an jedem 25. Juli.

255 An dieser Tankstelle mit der Cafeteria im Stil criollo haben wir immer angehalten, um einen Kaffee zu trinken. Trotz der Sandwiches - Sandwich spread und Schinken mit Käse - der Coca Colas und Seven Ups, für die der kleine Kühlschrank zum Bersten mit Eis gefüllt ist, ist der Kaffee an diesem Ort ein Teil des Rituals, des Ansporns, der nötig ist, um das Gelübde einzulösen. Plötzlich verdichtete sich das Gewirr von Vaterschaft und Erinnerung, wurde fast so kompakt wie das Vergessen... Da ist Don Juan Antonio Corretjer... Sofort stellte ich die Verbindung her: Jedes Jahr kommt die von Don Juan angeführte Sozialistische Liga nach Guanica und veranstaltet einen Aufmarsch als Protest gegen die Invasion der Yankees. Viele Gelübde kommen am 25. Juli in Guanica zusammen. Der alte nationalistische Poet, jetzt der Wortführer eines bis zu den Zähnen mit Rhetorik bewaffneten Marxismus, gibt nicht auf, das Ritual des Protests zu vollziehen, auch wenn, nach Meinung der Leute aus Guanica, nur ein paar traurige Gestalten erscheinen. Und außerdem muß man gegen den Estado UbreAsoäado protestieren, der am 25. Juli 1952 ins Leben gerufen wurde, und auch gegen die andere große Infamie dieses Datums wettern, den Mord in Cerro Maravilla, den niederträchtigsten Hinterhalt des Yankee-Imperialismus seit dem Massaker von Ponce. Aber die Erinnerung erlöst mich wieder von den konfliktreichen Nuancen meiner und seiner ideologischen Positionen. Corretjer spielte während meines literarischen Werdegangs eine wichtige Rolle. Über viele Stunden lauschte ich ihm in seinem Haus in Guaynabo, im Schatten des Klatschmohns und des Farns, der bis zum Balkon heranreichte, verzückt von jener Vision eines Puerto Rico, das ich nicht kannte. Das war das Puerto Rico der Geschichte, das Puerto Rico obskurer Separatisten und revolutionärer Taten, halb Legende, halb Geschichtsschreibung. Ich hörte geduldig zu und entwickelte einen eher ideologischen und kulturellen als einen gewalttätigen Nationalismus. Zwei Details seines Gesichtsausdrucks erinnere ich aus diesen Jahren: den durchdringenden und angesichts meiner Kommentare fast immer erstaunten Blick und jenes fast diabolische Hochziehen der Augenbrauen. Hier sitzt er nun an der Theke, und ich weiß nicht, ob ich ihn begrüßen soll. Vor einigen Jahren ließ er mich zu sich nach Hause kommen, damit ich ihm als Romanschriftsteller erläuterte, was wirklich in Puerto Rico geschah. Vielleicht war er verstimmt ob meiner skeptischen Haltung, als ich ihn darauf verwies, daß der Unabhängigkeit Puerto Ricos der endgültige Gnadenstoß durch die Lebensmittelkarten versetzt worden war. Jetzt konnten die

256 armen Puertoricaner geradezu buchstäblich und ohne jeden Restbestand an Metaphorik erklären: Die Amerikaner geben uns essen. Bald erkannte ich, daß der alte nationalistische Poet und ich verschiedene Sprachen sprachen... Vielleicht ist er nach den „Tribulaciones de Jonas" nicht sonderlich geneigt, mich %u begrüßen. Hatte er das Buch womöglich als Verherrlichung von Muno% interpretiert? Aber die Erinnerung hat nur Raum für die Rührung, wenn Dankbarkeit im Spiel ist. Ich gehe auf Corretjer zu mit der Absicht, ihn zu begrüßen, mit der Angst vor der Kälte, der Gleichgültigkeit und, was noch schlimmer ist, dem totalen Vergessen. Er sitzt mit dem Rücken zu mir, ja, der eitle große Alte sitzt mit dem Rücken zu mir, mit seiner Guerillamütze und seinem Hemd im Stil des alten Kommunisten nach Art eines Aníbal Escalante. Ich berühre ihn an der Schulter, zwei Frauen, die in seiner Begleitung sind, sehen mich an mit diesem augenblicklichen Argwohn, der verfolgten Menschen eigen ist. (Bill zieht sich schüchtern an ein Ende der Theke zurück und bestellt seinen Kaffee.) „Don Juan, erinnern Sie sich an mich? Wie geht es Ihnen?" Die Antwort kam augenblicklich und bestimmt, so als wäre seit dem letzten Gespräch erst eine Woche vergangen. „Ja, sehr gut. Fährst du nach Guánica?" Wiederum das Hochziehen der diabolischen Augenbrauen und plötzlich die erneute Begegnung mit diesen Augen, die in meiner Jugend ein Abgrund der Melancholie gewesen waren... Das offene hächeln verrät vielleicht, daß er mich nicht wiedererkannt hat... Bist du auf dem Weg nach Guánica? jene Frage berührte eine dieser geheimen Chiffren der Unabhängigkeitsbewegung: einer dieser Sätze, geäußert halb aus Paranoia, halb aus Snobismus. Zu sagen: Fährst du nach Guánica?, beinhaltet zwangsläufig: Fährst du nach Guánica, um gegen die Invasion unseres Vaterlandes durch die Yankees protestieren? Entsetzlich! Denn ich fuhr nach Guánica zu einem absurden Schwimmwettbewerb, bei dem lediglich Eitelkeit im Spiel ist... Ich fahre einem Frei^eitwettbewerb, zusammen mit anderen Freaks, mit dem Ziel, eine Messingtrophäe %u gewinnen, die vom Club Exchange oder vom Héctor Coffee Shop in Guánica gestiftet wurde. Wie soll ich ihm erklären, daß es sich dabei um einen irrationalen Ritus der Loyalität zwischen meinem amerikanischen Freund und mir handelt? Wie soll ich ihm sagen, daß mein Besuch nicht im geringsten etwas mit patriotischen Motiven zu tun hat? Ja, Bill Storyck, mein kleiner Jude aus Connecticut, der so viel von einem einheimischen Campesino hat, was für ihn mehr zählt als alle Loyalität gegenüber der eigenen Sippe... Aber vor Don juan wollte ich mich nicht meiner frivolen Heldentaten als Schwimmer rühmen, das Vaterland ist

257 eine zu erhabene Angelegenheit, um sich in der Badehose zu präsentieren, um dergleichen Verirrungen zu tolerieren, jawohl, und daher zog ich es vor, einfach Ja zu sagen, mich mit einem Bis dann zu verabschieden und mich zur Toilette zu begeben, um kräftig zu pinkeln, weil man nun mal die Bucht von Guanica nicht mit einer zum Platzen vollen Blase durchqueren soll. Ich betrat die übelriechende Toilette. Während ich den Strahl genau auf die Mitte des volltönenden Beckens richtete, rief ich mir die Gesichtszüge Don Juans ins Gedächtnis zurück, den unvermittelten, diabolischen Blick, dieses spöttische, ein geheimes Einvernehmen signalisierende Lächeln, das seine Mundwinkel so oft umspielt. Jemand klopft wiederholt an die Toilettentür, immer wieder, mit Nachdruck. Wie stets in solchen Fällen verleihe ich meiner Stimme einen leicht überheblichen Ton: „Einen Moment, es ist besetzt. Ich mach gleich auf." Nachdem ich abgeschüttelt und mich an jene Sommerabende erinnert hatte, die ich unter dem Laub der Flamboyan-Bäume verbrachte, dort auf dem kleinen Balkon des Hauses in Guaynabo, das den Belagerungen durch die insulare Polizei — von Oktober 1950 bis %ur Jahrhundertfeier von Lares! — so häufig widerstand, betätigte ich die Wasserspülung und schob den Türriegel zurück. Als ich herauskam, traf ich auf dieselbe Gestalt mit den abfallenden Schultern, der Guerillamütze und dem so verwegen kommunistischen Hemd. Meine Schüchternheit gegenüber dem Dichter in Nöten und meine Verlegenheit angesichts der so wenig rühmlichen Situation bewirkten bei mir nur eine fast absurde Geste. Ich berührte ihn wieder an der Schulter, mehr wagte ich nicht zu tun; er drehte sich um und lächelte mir mit demselben geheimen Einvernehmen zu wie einst... Die Zeit vergeht, wir verändern uns, und das Labyrinth wird verworrener, der Abschied erfolgt immer häufiger aus größerer Distanz: ... 1936, auf dem Dampfer in"RichtungBundesgefängnis von Atlanta, zusammen mit Pedro Albi^u Campos; der Galan im Stil von Gardel mit dem breitrandigen Borsalino, die Krempe auf einer Seite nach unten gebogen, um den verführerischen Blick noch hervorzuheben. Ich sage: „Kommen Sie nur, Don Juan." Er bedankt sich bei mir, als ich ihm den Weg zur Toilette freigebe, und ich mache mich auf zur Durchquerung der Bucht von Guanica in der Gewißheit, daß die Erinnerung an ihn nur den drängenden Wunsch nach Rührung hervorruft. Trotz seiner gefährlichen Eitelkeit, seines Hochmuts und seiner pathetischen Einsamkeit zwingt mich ein geheimes Einvernehmen zwischen Erinnerung und Zuneigung, ihn zu respektieren und - warum nicht? - zu bedauern... [...]

258 * *

*

Über die Straße, die um den Ort herum nach Caña Gorda fuhrt, gelangen wir zur Bucht von Guánica. [...] Die Uferstraße von Guánica gehört zu den berühmten Straßen des Landes. Die Häuser weisen noch immer die flache Silhouette von damals auf, als die Yankees landeten. An dieser ganzen in tropische Farben getauchten Front hin zum Meer gibt es nur wenige zweistöckige Häuser, kein einziges hohes Gebäude. Üblich sind auch heute noch die Dächer aus Zink, die Balustraden, diese langen, der vom Meer kommenden Brise zugewandten Balkone gegenüber einer der schönsten Buchten des Landes. Und dort hinten, wo die Straße endet, grenzt die gleich einem Halbmond offene Bucht an kleine Inseln und Mangroven, Sümpfe und Ödland. Am 25. Juli belebt sich die volkstümliche Eleganz der Uferstraße tumultartig mit dem frenetischen Taumel der Festlichkeiten zu Ehren des lokalen Schutzpatrons, und diese fallen - gleich einem historischen Palimpsest - zusammen mit der Ankunft der Amerikaner, der Einsetzung des Estado Libre Asociado, dem Verbrechen von Cerro Maravilla. [...] Und jedes Jahr ertönt als Bestandteil der Parade unmotiviert und bizarr, fast bis man taub wird, aus vollen Kräften die Sirene des Feuerwehrautos, denn dann erreicht die Show ihren Höhepunkt mit dem Feuerwehrmann, der die Leiter hinaufsteigt und so in diesem inexistenten 10. Stockwerk von Guánica ein heroisches Rettungsmanöver simuliert. [...] Endlich kommt die Königin der Fiesta. Es ist ein Mädchen von wunderschöner dunkler Gesichtsfarbe, mit zimtfarbener Haut, gekleidet in diesen beklemmenden und pompösen Kitsch, welcher sich aus Handschuhen, Pailletten und Applikationen zusammensetzt, die nur den Schneiderinnen der Provinznester in den Sinn kommen. [...] Nach der Königin — Es lebe Mildred /./—kommt ein Kinderpärchen. „Oh, wie süß die sind, einfach zum Fressen!", rufen die Verkäuferinnen an den Imbißständen aus. Er kommt ausstaffiert als Unele Sam, von Fuß bis Zylinder als Sinnbild der Fahne dieser Yankeescheiße, die unser Vaterland überfiel, gemäß der Rhetorik Corretjers. Heilige Mutter Gottes! Gerechter Himmel! In derselben Straße, dort hinten ganz am Ende, ertönen noch die schrecklichen Reden von Corretjer gegen die Invasion der Yankees, und hier kommt mit diesem Blick, der sich ängstlich dem all der Neugierigen entzieht, eine kleine Puertoricanerin von acht Jahren, gekleidet in die Fahne von Puerto Rico, als Gemahlin eines Unele Sam mit einem Spitzbart aus Watte, noch ungemein weit entfernt von der

259 Pubertät, wenn auch nicht völlig fern dem Expansionismus des neuen Imperiums. Der Stoff, den Doña Pura, die Schneiderin des Ortes, verwendete, ist Satin, besetzt mit Straß, und Sehen Sie nur, es fehlt keine der Farben der beiden Fahnen, darauf habe ich besonders geachtet, der alleinstehende Stern ist gefühlvoll auf die Fahne der Kleinen appliziert, und die vielen Sterne der anderen sind geduldig und stolz auf die Verkleidung des Jungen aufgenäht. Die Fotos, das ständige Bitte lächeln prasseln auf sie nieder; die Kleinen defilieren wahrhaft verschreckt inmitten dieser emblematischen Inszenierung eines Estado Libre Asociado, den am Ende der Straße Don Juan Antonio Corretjer als gewaltigen Verrat gegeißelt hat. Ihr Blick verrät, wie sehr alles um sie herum sie verwirrt, fast fangen sie an zu weinen, mit diesem Zittern in den Knien, das für den Tag der Erstkommunion angemessen ist. In der Sphäre der sonnigen Uferstraße von Guánica treffen all die delikaten und selten erschrekkenden Widersprüche dieses Volkes zusammen. [...] * * *

[...] Dort hinten hört man die Reden der independenüstas, vielleicht irgendeine Versammlung der Sozialistischen Partei? Ich gehe zum Wagen zurück, um meine Badehose auszuziehen... Ja, an einem Tag wie diesem, am 25. Juli 1978, entführten drei junge Puertoricaner - Carlos Soto Arriví, Arnaldo Dario Rosado und Alejandro González Malavé - in Ponce einen Taxifahrer. Mit einer Pistole zwangen sie ihn, zu den Funktürmen von Cerro Maravilla hinaufzufahren. Von dort aus wollten sie vor der ganten Weh ihr Vertrauen und ihre Hoffnung auf die Unabhängigkeit Puerto Ricos proklamieren. Es würde im wesentlichen ein symbolischer Akt sein; so wie die Nationalisten 1950 würden sie vor den Vereinigten Staaten und der ganzen Welt genau am Tag der nordamerikanischen Invasion die Existenz einer puertoricanischen Nation bekräftigen. Aber es kam anders, ein totaler Fehlschlag! González Malavé war ein verdeckter Agent der Polizei. Gemäß der offiziellen Darstellung der Behörden starben Carlos Soto und Arnaldo Dario im Verlauf des Schußwechsels zwischen ihnen und den Polizisten, die sie erwarteten. Den independenüstas zufolge wurden sie von der puertoricanischen Polizei in eine Falle gelockt und kaltblütig ermordet. Der Gouverneur Romero Barceló rühmte den mutigen Einsatz der Polizisten, die an der antiterroristischen Operation beteiligt waren, und erklärte sie zu Helden. Seitdem verfolgt der Fall Cerro Maravilla die nostalgische Erinnerung an unseren besten Ruf, den eines braven Volkes, das zu einer solchen Barbarei nicht imstande ist: Sind wir ver-

260 antwortlich für eine politische Fixierung auf unsere Stammeszugehörigkeit, die einem das Blut in den Adern gefrieren läßt? Diese Kälte würde beweisen, daß unsere Seele krank ist, jawohl, krank wie die Pest...

An jenem lichten Nachmittag von Guänica, am 25. Juli 1983, sollte Pedro Juan Soto, der Vater von Carlos Soto Arrivi, auf der Versammlung der Sozialistischen Partei Puerto Ricos sprechen. Der Verfasser so vieler bedeutender Werke unserer Literatur verfolgte den Schatten seines toten Sohnes. Es ist ein Zwiegespräch, bei dem einer der beiden Teilnehmer stumm bleibt; aber dieses Schweigen fordert Gerechtigkeit, diese Ordnung, die, stünde der Tod nicht dazwischen, sich in Rührung verwandeln würde. Wann immer er wortgewaltig den Mord an seinem Sohn denunziert, kann Pedro Juan Soto von diesem längst unmöglich gewordenen Zwiegespräch nicht ablassen; es ist wie wenn er ihn nicht erreichen kann, selbst nachdem die Utopie der Ordnung, das heißt, der Gerechtigkeit, Realität geworden ist. Ich kenne Pedro Juan Soto. Uns eint vor allem die widersprüchliche Berufung, für ein Volk zu schreiben, das kaum liest; es geht dabei um den wohlbekannten Drang, durch das Schreiben die geheimsten individuellen und kollektiven Dämonen auszumerzen. Aber in Puerto Rico wird dieses Anliegen von nur wenigen wahrgenommen, und man läuft stets Gefahr, der Eitelkeit oder dem Solipsismus zu erliegen. [...] Ich überquerte die Straße gegenüber dem Gedenkstein, der die Stelle markiert, an der die Yankees 1898 an Land gingen. Die Stimmung der dörflichen Fiesta verflüchtigt sich bereits. Ich durchschreite alle Stadien einer Festlichkeit, die ihrem Ende entgegengeht: Papier auf dem Boden, hier und da Betrunkene, dort ein streunender Hund, der an dem Rest einer Empanada nagt, das spezifisch Antillanische dieser Häuser, diese zum Licht der Uferstraße hin geöffneten Balkone und die Verwandtschaft, die sich nun dort auf dem Bürgersteig, unter den Balustraden, verabschiedet. Ich erreiche den Platz der Veranstaltung der Sozialistischen Partei. Die riesige Fahne von Puerto Rico hat man auf der Plattform eines Lastzugs aufgehängt. Das spärliche Publikum vor dem Anhänger hört den Reden mit einem gewissen Unbehagen zu; es ist die Verlegenheit angesichts der eigenen Schwäche: Wir sind dieselben geblieben, dieselben Gesichter, dieselben Leute. [...] Ich begrüße Pedro Juan Soto, der einen unverständlichen Satz in meine Richtung stammelt, ohne mich anzusehen. Er ist ein schüchterner Mann,

261 geradezu menschenscheu. Sein weißer Bart leuchtet strahlender und prophetischer denn je: ,Jawohl, man hat mir den Sieg gestohlen", sagte ich zu ihm, wodurch ich mich ein wenig für meine Entweihung des Sabbats entschuldigte. Als die Veranstaltung begann, sprach von der Plattform des Lastwagens zunächst eine dieser wohl vierzigjährigen independentistas mit Haarknoten und ausgetrockneter Haut, eine compañera, die nur schwer von den evangelischen Betschwestern von „Radio Salvador" in Guayanilla zu unterscheiden ist. Diese Frau hält ihre Rede gemäß der Eschatologie zum Gebrauch und Mißbrauch des independentismo: Und wir begehen diesen Tag von Cerro Maravilla, weil es darumgeht, an den Tag des Opfers erinnern, den Tag, an dem sich ^weijunge Puertoricaner für das Vaterland geopfert haben. Märtyrertum befruchtet den Glauben aller Gläubigen. Die Befreiung wird zur Erlösung. Danach sprach, zur Ermüdung und zum Verdruß des winzigen Zirkels, ein lokaler Führer des südwestlichen Bezirks. Dieselbe hohle Rhetorik, mit der außerordentlichen Überraschung, daß man hier von einem Anfuhrer der Sozialisten zu hören bekam, wie er die Zuckerfabriken der Küste als traditionellen Ort der Arbeitsplatzbeschaffung verteidigte! Die Widersprüche der puertoricanischen Sozialisten erweisen sich bisweilen eher als komisch denn als grotesk. Und neben Pedro Juan Soto - der geduldig auf einem auf der Plattform des Lastzugs aufgestellten Klappstuhl sitzt und der Betschwester Gesellschaft leistet — kein Geringerer als Pedro Grant. Wer erinnert sich noch an Pedro Grant, die nationale Hoffnung einer neuen Arbeiterklasse? Die Opferung der Arbeiterführer auf dem Altar der Sozialistischen Partei wird zu einer erstaunlichen Variante der Vaterlandserrettung. Dann war Pedro Juan Soto an der Reihe. Die Rede erscheint mir fremd. Ich kann in seiner Stimme kaum etwas von dem Mann ausmachen, den ich kenne. In dieser Stimme absorbiert der Autor von Spiks all die Merkwürdigkeiten des Falles Maravilla, die ganze harte und unergründliche Objektivität seiner Tragödie. Der tote Sohn flüstert von neuem aus der Tiefe dieser unüberwindbaren Stummheit. Die Akzente der Rede sind gesetzt wie die Prosodie einer Anrufung. Diese fremde Stimme ist wie eine Maske, aufgesetzt, um in die Hölle vorzudringen, zu dieser gestörten Ordnung, für die ein ungesühnt gebliebenes Verbrechen steht. [...] Pedro Juan Soto beendete seine Rede mit der Prophezeiung, daß das, was am 25. Juli 1978 geschehen war, eines Tages nicht mehr der Fall Maravilla, sondern das Verbrechen Maravilla heißen werde. Dann kletterte er vom

262 Lastwagen herunter. Ich ging zu ihm, um mich zu verabschieden. Er drückte mir die Hand: , 3 i s bald." [...] Und während ich auf der Rückfahrt noch einmal zurückdenke an das Puerto Rico der Kneipen, den Club der Motorradfahrer von Guayanilla und den Club Exchange, die Go-Karts, die kindliche Königin [...], die fintierten Gerichte und die schlechte Nachricht, daß ich dieses Jahr keinen Pokal gewonnen habe, denke ich unablässig an das, was Luis Muñoz Marín das brave puertoricanische Volk genannt hat. Gerechter Himmel! Es sind dieselben Menschen: Die aus der patriotischen Ecke und jene anderen, die von der Uferstraße mit ihrem üblichen Treiben (Tanz, Besäufnis, Kartenspiel), es sind dieselben Menschen! Heute feiern wir auch den Estado Ubre Asoäado... Mitleid fiel uns immer leichter als Empörung; letztere gerät uns manchmal frivol und bizarr, und von daher wird die gestörte Ordnung mit Fatalismus hingenommen oder entsprechend dem gebräuchlichen Zynismus genutzt. Dieses Volk hat etwas trotzig Bemitleidenswertes an sich. Totz allem bestehen wir darauf, daß unser definitorisches Merkmal die Unschuld ist; und diese hat sich bereits in eine Art Berufung verwandelt, und auch in Selbstgefälligkeit mit einem Hauch von Wahnsinn. Rio Piedras 10. Oktober 1984 Übersetzt von Katharina Humbert und Yvonne Perdelwitz