Psychologie als Erfahrungswissenschaft: Zweiter Teil: Manuskripte zur Genese der deskriptiven Psychologie (ca. 1860-1895) 9783666303227, 352530322X, 9783525303221

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Psychologie als Erfahrungswissenschaft: Zweiter Teil: Manuskripte zur Genese der deskriptiven Psychologie (ca. 1860-1895)
 9783666303227, 352530322X, 9783525303221

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WILHELM DILTHEY p GESAMMELTE SCHRIFTEN XXII. BAND

WILHELM DILTHEY GESAMMELTE SCHRIFTEN Von Band XVIII an besorgt von Karlfried GrÝnder und Frithjof Rodi

XXII. Band

% VANDENHOECK & RUPRECHT IN G³TTINGEN

PSYCHOLOGIE ALS ERFAHRUNGSWISSENSCHAFT

ZWEITER TEIL: MANUSKRIPTE ZUR GENESE DER DESKRIPTIVEN PSYCHOLOGIE (ca. 1860–1895)

Herausgegeben von Guy van Kerckhoven und Hans-Ulrich Lessing

% VANDENHOECK & RUPRECHT IN G³TTINGEN

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Ýber abrufbar. ISBN 3–525-30322-X

 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GÚttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschÝtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÈllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dÝrfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages Úffentlich zugÈnglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung fÝr Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gesamtherstellung: Hubert & Co., GÚttingen Gedruckt auf alterungsbestÈndigem Papier.

Inhalt

Vorbericht der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

A. FRÀHE TEXTE ZUR AUSEINANDERSETZUNG UM EINE DESKRIPTIVE PSYCHOLOGIE (ca. 1860–1880) . . . . . . . .

1

1. *Zur Kritik der VÚlkerpsychologie von Lazarus und Steinthal . 2. *Die Psychologie und das Studium der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Standpunkt einer empirischen Psychologie . . . . . . . . 4. Grundlegung der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. FÝr die neue Durcharbeitung der Psychologie . . . . . . . . . 6. *Zur Systematik der psychischen ZustÈnde . . . . . . . . . . .

7 12 14 15 17

B. KLEINERE TEXTE ZUR GEFÀHLS- UND WILLENSLEHRE UND ZUR STRUKTURPSYCHOLOGIE (ca. 1875–1892) . . .

29

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

*GefÝhl und Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . *Die Gliederung der psychischen Akte . . . . . . . . . . . . . Die GefÝhls- und Triebkreise. Allgemeine Eigenschaften . . . . *GefÝhl und GefÝhlskreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . *Zur Trieb- und GefÝhlslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Struktur des Seelenlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Struktur des Seelenlebens. § 1. Die psychophysische Struktur des tierisch-menschlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Struktur des Seelenlebens. § 2. Das anatomisch-physiologische Strukturbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die Struktur des Seelenlebens. § 3. Die entsprechende Struktur des inneren Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

29 52 54 59 66 69 71 73 87

C. ZUR AUSEINANDERSETZUNG MIT DER ERKL•RENDEN PSYCHOLOGIE (ca. 1884–1894) . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

1. Das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. *Die Struktur des Seelenlebens und die analytische Methode . .

89 96

VI

Inhalt

3. ErklÈrende Psychologie. Theorie des Parallelismus . . . . . . .

118

§ 3. Entwicklungsgang und Literatur der Psychologie . . . . § 4. Erste Hypothese der Psychologie . . . . . . . . . . . . § 5. Zweite Hypothese. Der Parallelismus zwischen dem Physischen und dem Psychischen . . . . . . . . . . . . . . § 6. Widerlegung der Lehre vom Parallelismus . . . . . . . . § 7. Metaphysische Deutungen. Dualismus, Lehre von der Wechselwirkung physischer und psychischer Substanzen . § 8. Der offene und der verschleierte Materialismus . . . . . § 9. Idealistische Umdeutungen der parallelistischen Lehre und Phantastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 10. Das Ergebnis. Drei Grundgesetze Ýber die universelle Beziehung des Physischen und des Psychischen . . . . . . § 11. Die Eigenschaften des seelischen Lebens . . . . . . . . . § 12. AnfÈnge einer neuen Psychologie . . . . . . . . . . . .

118 121 122 130 135 140 146 148 150 154

4. Generelle Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.* Die Bestandteile des Seelenlebens . . . . . . . . . . . . . . .

158 167

[Erster Teil.] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstes Kapitel. Wir unterscheiden an dem Seelenleben seine zustÈndlichen Bestandteile und die VorgÈnge, in denen sie entstehen, bestehen, untergehen, sich mit anderen verbinden . . . . . Zweites Kapitel. Die Empfindungen . . . . . . . . . . . . . . Drittes Kapitel. Die Mannigfaltigkeit der Empfindungen . . . Viertes Kapitel. Die Wahrnehmungen und Vorstellungen . . . FÝnftes Kapitel. Die Aufmerksamkeit und ihre Umformungen in WillensvorgÈnge der Vorstellungsseite . . . . . . . . . . . . Sechstes Kapitel. Der Zusammenhang der anderen Seite des Seelenlebens, in welcher die RÝckwirkung auf Reize oder Vorstellungen BewegungsvorgÈnge herbeifÝhrt, nach seiner kÚrperlichen Seite angesehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siebentes Kapitel. Die GefÝhle . . . . . . . . . . . . . . . . . Achtes Kapitel. WillensvorgÈnge, welche Zwecke durch Bewegungen verwirklichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

Zweiter Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Das Selbstbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Die Modifikationen des Selbstbewußtseins in Traum, hypnotischem Zustand und abnormen GeisteszustÈnden .

207 207

167 169 173 188 190

196 198 202

207

Inhalt

VII

§ 3. Das empirische Ich. Die Zeit. Der Lebensverlauf. Die Person. Metaphysischer Ausblick . . . . . . . . . . . . § 4. Das Objekt als das Korrelat der Wahrnehmung in ihrem Zusammenhang mit den Prozessen des Seelenlebens . . . § 5. Das Zusammen und die Wechselwirkung der Objekte. Die Ausbildung der Weltvorstellung . . . . . . . . . . § 6. Das Denken und das Erkennen . . . . . . . . . . . . . § 7. [fehlt] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 8. Die Einbildungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 9. Der Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215 216 216 217 217

D. DIE BESCHREIBENDE PSYCHOLOGIE DER NEUNZIGER JAHRE (ca. 1893–1895) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

1. Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie . . . . . . . . . . . 2. *Àber das VerhÈltnis der beschreibenden zu der erklÈrenden Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [1. Die Notwendigkeit einer beschreibenden Psychologie] . . . 2. Die erklÈrende Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . [3.] Die beschreibende Psychologie . . . . . . . . . . . . . . 4. VerhÈltnis der erklÈrenden und beschreibenden Psychologie . 5. Die Struktur des Seelenlebens . . . . . . . . . . . . . . . . 3. *Der Korrekturabzug der „Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie“ mit den Anmerkungen des Grafen Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstes Kapitel. Die Aufgabe einer psychologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Kapitel. Die Unterscheidung der erklÈrenden und der beschreibenden Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drittes Kapitel. Die erklÈrende Psychologie . . . . . . . . . . Viertes Kapitel. Die beschreibende Psychologie . . . . . . . . FÝnftes Kapitel. VerhÈltnis der erklÈrenden und beschreibenden Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sechstes Kapitel. MÚglichkeit und Bedingungen der AuflÚsung der Aufgabe einer beschreibenden Psychologie . . . . . . . . . Siebentes Kapitel. Die Struktur des Seelenlebens . . . . . . . . Achtes Kapitel. Die Entwickelung des Seelenlebens . . . . . . Neuntes Kapitel. Das Studium der Verschiedenheiten des Seelenlebens. Das Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215 215

219 232 232 235 242 246 251

253 253 264 268 276 296 301 305 315 326

VIII

Inhalt

4. *Aus den EntwÝrfen zu einer Antwort auf Hermann Ebbinghaus’ Kritik an Diltheys „Ideen Ýber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

337

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

347

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

381

Vorbericht der Herausgeber

I WÈhrend der 1997 erschienene Band XXI von Diltheys Gesammelten Schriften seine in Nach- und Mitschriften sowie in Diktatform Ýberlieferten Vorlesungen zur Psychologie und Anthropologie umfaßte, enthÈlt der hiermit vorgelegte Band XXII die editionsfÈhigen psychologischen Manuskripte aus Diltheys handschriftlichem Nachlaß, die zwischen ca. 1860 und 1895 entstanden sind. Damit ist die auf zwei BÈnde angelegte Edition Psychologie als Erfahrungswissenschaft abgeschlossen, die alle relevanten publizierbaren Materialien aus Diltheys Nachlaß zum Thema der Psychologie umfaßt. Mit den jetzt verÚffentlichten Texten, unter denen sich EntwÝrfe und erste Arbeitsskizzen, grÚßere Ausarbeitungen und Fragmente, Vortragsmanuskripte und der erste Korrekturabzug seiner großen programmatischen Akademieabhandlung Ideen Ýber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894) finden, ist es nun mÚglich, die Entwicklung der fÝr Diltheys Arbeitsprojekt einer Einleitung in die Geisteswissenschaften zentralen Konzeption einer deskriptiven Psychologie bzw. Strukturpsychologie bis ins einzelne zu verfolgen und nachzuvollziehen. Der Band schließt sich damit an den mit den BÈnden XVIII, XIX und XX der Gesammelten Schriften unternommenen Versuch an, die wesentlichen zwischen den frÝhen sechziger und der Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts entstandenen Nachlaßtexte aus dem Umkreis von Diltheys Unternehmen einer philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften zusammenzustellen und die konzeptionelle Gestalt wie die Genese dieses großen, unvollendet gebliebenen systematischen Unternehmens sichtbar werden zu lassen. ErgÈnzt und abgeschlossen werden diese editorischen BemÝhungen durch den soeben erschienenen Band XXIV der Gesammelten Schriften , der die spÈten Vorlesungen, EntwÝrfe und Fragmente zur Strukturpsychologie, Logik und Wertlehre zwischen ca. 1904 und 1911 enthÈlt und damit die noch unpublizierten psychologischen, logischen, erkenntnistheoretischen und wertphilosophischen Arbeiten des spÈten Dilthey prÈsentiert, die in einem weiteren Sinne zum Kontext seiner Schrift Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften von 1910 gehÚren.

X

Vorbericht der Herausgeber

Die in dem vorliegenden Band XXII verÚffentlichten Texte machen, wohl noch mehr als die in Band XXI vorgelegten Vorlesungen, deutlich, wie intensiv sich Dilthey in die fachwissenschaftliche, insbesondere physiologische, Diskussion seiner Zeit eingearbeitet und diese zur StÝtzung seines Entwurfs einer Psychologie verwertet hat. Neben W. Wundt zitiert und paraphrasiert er u. a. aus den Standardwerken von J. MÝller , G. Th. Fechner , A. Horwicz , H. Helmholtz , E. PflÝger , L. Landois , Th. Ziehen , H. Munk , Th. H. Meynert , A. Kußmaul und G. H. Schneider. Durch diese Arbeitsmanuskripte wird deutlich, in welchem Ausmaß Dilthey seine psychologische Konzeption unter Einbeziehung streng naturwissenschaftlicher Forschung entwickeln wollte bzw. ausgearbeitet hat. Dilthey hat, dies macht der Einblick in seine Werkstatt klar, seine Àberlegungen nie gleichsam monologisch entworfen, sondern immer in Kontakt und Diskussion mit anderen, gegnerischen wie verwandten AnsÈtzen konzipiert und entfaltet, wie sich dies schon in den im A-Teil FrÝhe Texte zur Auseinandersetzung um eine deskriptive Psychologie zusammengestellten kleinen Manuskripten zeigt. In Diltheys Forderung nach einer beschreibend-zergliedernden Psychologie, welche die Erforschung der „inhaltlichen Menschennatur“ intendiert, kommt einer seiner frÝhesten und fruchtbarsten Gedanken zum Ausdruck, den er erstmals in seinem Novalis -Aufsatz von 18651 erlÈutert hat. Novalis hatte das grundlegende Studium des Menschen, auf dem die Wissenschaften des Geistes beruhen, als „reale Psychologie“ bezeichnet. Dilthey nimmt diesen Begriff einer „Realpsychologie“ auf und definiert sie als eine Psychologie, „welche den Inhalt unserer Seele selber zu ordnen, in seinem Zusammenhang aufzufassen, soweit mÚglich zu erklÈren unternimmt“.2 Diese so bestimmte Realpsychologie, in der Dilthey eine fÝr die Grundlegung der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis notwendige Forschungsrichtung erblickt, stellt er gegen die zeitgenÚssische, bloß formale Psychologie, die seiner Àberzeugung nach der Eigenart des seelischen Geschehens nicht gerecht werden kann. Dieses Postulat einer die Inhaltlichkeit des Seelenlebens erforschenden Realpsychologie grundiert die frÝhen Skizzen und Fragmente des A-Teils des Bandes. Auch die Kritik an der VÚlkerpsychologie von Moritz Lazarus und Heyman Steinthal , die ihr, v. a. durch Herbart inspiriertes Programm einer neuen psychologischen Gesamtwissenschaft des Volksgeistes im Einleitungsaufsatz zu der von ihnen begrÝndeten Zeitschrift fÝr VÚlkerpsychologie und

1 2

Novalis, in: Preußische JahrbÝcher 15 (1865), S. 596–650. Ebd., S. 622.

Vorbericht der Herausgeber

XI

Sprachwissenschaft vorgestellt hatten, ist von dem Gedanken einer „inhaltlichen Psychologie“3 getragen. Diltheys Àberlegungen fÝhren schon frÝh zum Plan der Grundlegung einer neuen Psychologie, die in der Lage sein soll, die komplexe gesellschaftliche Wirklichkeit zu analysieren. Im Mittelpunkt steht dabei die Absetzung von den verschiedenen Formen erklÈrender Psychologie. In diesem ZusammenhÈng plÈdiert Dilthey fÝr eine empirisch ausgerichtete Psychologie, die ein unbefangenes Studium des seelischen Zusammenhangs leisten soll und kritisiert dabei die von ihm so genannte „Hypothesen-Psychologie“: „Die HypothesenPsychologie konstruiert aus den Bestandteilen und Gesetzen nÈmlicher Art, die sie aus den ElementarvorgÈngen abzieht, diese Erscheinungen [des Seelenlenbens]. Die Aufgabe ist vielmehr, sie nun erst richtig, voll und ganz zu sehen, unglaublich wenig tiefe Beobachtung, unbefangenes Gewahren ist in den Arbeiten dieser Schule. Das einfachste und wichtigste GeschÈft des Psychologen gewÈhrt das gleichfÚrmige Herausheben, das Beschreiben ist hier Ýberall vernachlÈssigt. Analysieren wird durch Konstruieren ersetzt. Das Singulare der geistigen Erscheinungen kommt nicht zu vollem VerstÈndnis.“4 Die erklÈrende Psychologie ist fÝr Dilthey „ein bloßes Ideal einer Wissenschaft, keine vorhandene Wissenschaft“. An die Stelle von Konstruktion und ErklÈrung aus unbeweisbaren Hypothesen muß die „Methode der bloßen sauberen Beschreibung“ treten.5 Dieses Konzept eines primÈr beschreibenden Ansatzes in der Psychologie bestimmt auch die kleine Skizze zur Systematik der psychischen ZustÈnde,6 in der Dilthey versucht, zu einer Einteilung des seelischen Lebens zu kommen, die dem in der inneren Erfahrung Gegebenen angemessen ist. Dieses Manuskript steht im Kontext seiner vermutlich durch F. Brentano angeregten Àberlegungen zur Klassifikation der psychischen Tatsachen.7

II. Den Schwerpunkt des B-Teils der vorliegenden Ausgabe bilden einerseits Texte, die Dilthey der empirischen und analytischen psychologischen Erforschung der GefÝhls- und WillensvorgÈnge sowie der Lehre von den GefÝhlsund Triebkreisen gewidmet hat, andererseits EntwÝrfe, die einen Einblick in 3 4 5 6 7

Unten S. 5. Unten S. 13. Unten S. 5. Vgl. unten S. 17–27. Vgl. Ges. Schr. XVIII, S. 72–78, 113–117 und 117–183.

XII

Vorbericht der Herausgeber

seine Konzeption des seelischen Strukturzusammenhangs, dessen anatomischphysiologische Vorlage und Entwicklung innerhalb des tierisch-menschlichen Lebens gewÈhren.Wie bereits fÝr die im A-Teil gesammelten frÝhen Texte, so gilt auch fÝr die in diesem Teil zusammengestellten EntwÝrfe und einzelnen, z. T. fragmentarischen AusfÝhrungen Diltheys, daß sie kein geschlossenes Bild von Diltheys empirisch psychologischen Untersuchungen darbieten. Vielmehr sind sie als Tiefbohrungen an bestimmten, fÝr die innere Entwicklung seiner deskriptiven Psychologie bedeutsamen Stellen zu betrachten. Zwischen der Mitte der siebziger und dem Anfang der neunziger Jahre entstanden, lenken sie den Blick des empirischen Forschers Dilthey zunÈchst von der „Peripherie“, welche fÝr ihn die Mannigfaltigkeit der Empfindungen darstellt, auf das Zentrum des Seelenlebens, das „durch das Mannigfaltige der GefÝhle und WillensvorgÈnge bedingt ist“;8 dann aber auf „die Ýbergreifende Einheit“ des psychischen Lebensprozesses selbst, auf „die innere Verbindung der verschiedenen ZustÈnde“ als eine „psychisch ursprÝngliche“ und auf die in ihr sich Èußernde „ZweckmÈßigkeit“: „Ich nenne nun die innere Verbindung der Teile des Seelenlebens, in welcher sich dieser zweckmÈßige Zusammenhang Èußert, die Struktur des Seelenlebens.“9 Aus den einzelnen EntwÝrfen wird somit ersichtlich, in welchem Maße die anti-intellektualistische Wendung, die Dilthey seiner deskriptiven Psychologie gegeben hat, mit seiner Betrachtung des Strukturganzen wesentlich verknÝpft ist, fÝr welche gerade „die Ýbergreifende Einheit“, die an „den großen Knoten eines psychischen Lebenszusammenhangs“ nachgewiesen werden kann und dort zu erforschen ist,10 zugleich auch das psychisch UrsprÝngliche bildet. FÝr die AuflÚsung dieser Knoten gibt die Èußere physische Organisation gewissermaßen ein „anatomisch-physiologisches Strukturbild“ an die Hand. Die Art zu untersuchen, wie die innere Struktur „Èußerlich am organisierten tierischen KÚrper reprÈsentiert“ ist,11 stellt deshalb auch einen Schwerpunkt der in diesen Teil aufgenommenen Analysen Diltheys dar, welche die Ergebnisse der Anatomie, der Gehirnphysiologie und der biologischen Evolutionslehre unbefangen ins Auge fassen und fÝr die Aufhellung des lebendigen Strukturzusammenhangs zu verwerten suchen. Das etwa Mitte der siebziger Jahre entstandene Manuskript GefÝhl und Wille fÝllt eine LÝcke aus, welche die Rekonstruktion der Breslauer PsychologieVorlesungen hinterließ. Zugleich beleuchtet es ein psychologisches Thema, dem Dilthey in seinen Berliner Psychologie-Vorlesungen der achtziger Jahre 8

Unten S. 54. Unten S. 71 f. 10 Unten S. 71. 11 Unten S. 72. 9

Vorbericht der Herausgeber

XIII

ebenfalls Raum verschaffte, um es dann in der zuletzt dokumentierten Vorlesung aus dem Wintersemester 1888/89 abklingen zu lassen. Obwohl nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Breslauer Vorlesung Ýber Psychologie aus dem Jahre 1875/76 geschrieben, kann dieser Text als eine ErgÈnzung, ErlÈuterung und FortfÝhrung des dort im § 14 angeschnittenen gleichnamigen Themas gelesen werden.12 Zu einer breiter ausgefÝhrten Darstellung gelangt dieses Thema in den §§ 9 bis 13 der Psychologie-Vorlesung von 1878, wÈhrend ihm in der Anthropologie-Vorlesung aus dem Wintersemester 1881/82 wiederum eine knappe Skizze gewidmet ist.13 Bemerkenswert ist nun, daß Dilthey in diesem Text hinter den unselbstÈndigen Charakter der GefÝhle auf die primÈr triebhafte Natur des Willens zurÝckgreift, dessen von Schopenhauer und Hartmann postulierte Einheit er abweist: „Wille ist ein VerhÈltnis von Antrieben und Produkt aus einer Vielheit von Faktoren, eine im Laufe der psychischen Entwicklung werdende Gestalt. [. . .] Dem entspricht, daß wir in den ersten Stadien der Entwicklung das psychophysische Individuum von lauter einzelnen Antrieben bewegt sehen.“14 Es darf deshalb nicht verwundern, daß Dilthey konsequenterweise den Weg einer genetischen „ErklÈrung“ einschlÈgt, um zu dem zugrundeliegenden physiologischen VerhÈltnis voranzudringen, auf welchem eine innere Verbindung von Antrieben mit Vorstellungen erst in allmÈhlicher Entwicklung und zunehmender Komplikation basiert. An D. Hartleys Observations on Man und W. Wundts Vorlesungen Ýber die Menschen- und Thierseele anknÝpfend, erblickt Dilthey eine solche physiologische Grundlage in den organisch erzeugten gebundenen „BewegungskrÈften“; progressiv treten dann aber psychische Faktoren in den Bewegungsvorgang hinein. „Der Mensch“, so notiert er, „ist ein bewegtes psychophysisches Ganze.“15 In welchem Maße Diltheys „energetische“ Betrachtung der vielfÈltigen, im lebendigen psychophysischen Ganzen wirksamen Systeme sich in dem vorliegenden Text vorwiegend an der Problematik der Kinese orientiert, geht außerdem aus seiner Auseinandersetzung mit H. Steinthals Psychologie und Sprachwissenschaft hervor.16 Steinthals Ansicht, nach welcher einzig nur den Bewegungsvorstellungen eine motorische Kraft innewohnt, welche geeignet sei, die Antriebe Ýber die Schwelle der AktivitÈt treten zu lassen, unterzieht Dilthey eine kritische Durchmusterung. Auch bei der Behandlung der Frage nach der 12 13 14 15 16

Vgl. Ges. Schr. XXI, S. 9 ff. Ebd., S. 108 ff. und S. 192 ff. Unten S. 33. Unten S. 36. Unten S. 38 f.

XIV

Vorbericht der Herausgeber

Entstehung des Selbstbewußtseins und dessen Bedeutung fÝr die hÚhere Ausbildung der schon im Kinde vorhandenen „Mechanik der Antriebe“ zeigt sich die Bedeutung, welche insbesondere den KinÈsthesen zukommt. Diltheys ausgesprochenem Interesse an der Theorie der Musik entspricht es, die Analyse der GefÝhls- und WillensvorgÈnge auch fÝr dieses Gebiet fruchtbar zu machen. Dabei zieht er nicht nur die generelle Streitfrage in Betracht, ob die Musik Willensbewegungen darstellt oder ob in ihr nicht vielmehr der Ausdruck der GefÝhle zu sehen ist. Er wendet sich dem besonderen Problem zu, inwiefern TonverhÈltnisse zum Schematismus fÝr Willens- und GefÝhlsvorgÈnge werden kÚnnen. Von neuem macht Dilthey auf die Bedeutung von Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen aufmerksam, die er bereits im Jahre 1863 in der Berliner Allgemeinen Zeitung rezensiert hat.17 Aus Helmholtz ’ experimentellem Nachweis, daß Gefallen und Mißfallen aus physiologischen GrÝnden an bestimmte TonverhÈltnisse geknÝpft sind, zieht Dilthey nun aber einen weiterreichenden Schluß, mit dem auch die Forschungsrichtung seiner eigenen empirisch psychologischen Analysen sich im EinverstÈndnis weiß: „Grundgedanke der modernen Anthropologie muß [der Gedanke] werden: Alle hÚheren psychischen Gebilde sind geschichtliche Produkte und in allmÈhlicher Summierung kleinster Fortschritte in langen ZeitrÈumen entstanden. Mit den Resultaten der modernen Geologie, mit dem Bewiesenen an den Resultaten von Darwin erweisen sich die Ergebnisse der Anthropologie als zu einem umfassenden System einstimmend.“18 Die „ohne Abstraktion von jedem bestimmten, in Vorstellungen gegebenen Inhalt“ stattfindende VergegenwÈrtigung der Leidenschaften leistet jedoch nicht die Musik, sondern die dramatische Dichtung allein. „Und der Dichter der Leidenschaften ist Shakespeare.“19 In einer kritischen WÝrdigung der „berÝhmten Shakespearestudien“ G. RÝmelins , dessen Reden und AufsÈtze er im Jahre 1876 eine Kurzanzeige in Westermanns Monatsheften gewidmet hat,20 sieht Dilthey selbst das EigentÝmliche von Shakespeares dichterischer Stellung dadurch bestimmt, daß „ihm an einigen Stellen gewissermaßen die Struktur der motorischen Nerven bloß[lag], welche den politischen KÚrper seiner Nation und seiner Zeit bewegten“.21 Das an zweiter Stelle abgedruckte, vermutlich aus den frÝhen oder mittleren siebziger Jahren stammende Diktat stellt nur eine Momentaufnahme derjeni17 18 19 20 21

Vgl. Ges. Schr. XVI, S. 320 ff. Unten S. 46. Unten S. 47. Vgl. Ges. Schr. XVII, S. 73. Unten S. 48.

Vorbericht der Herausgeber

XV

gen Versuche Diltheys dar, eine „Gliederung der psychischen Akte“ vorzunehmen, die sich im Zuge der Fortsetzung der Abhandlung von 1875 bis zum Manuskript Ýber die Mannigfaltigkeit des psychischen Lebens und ihre Einteilung (ca. 1880) vermehrt22 und in den Vorlesungsnachschriften einen entsprechenden Niederschlag gefunden haben.23 In dem vorliegenden frÝhen Entwurf ist allerdings noch nicht von „Tatsachen des Bewußtseins“ die Rede, welche eine natÝrliche Gliederung gestatten, sondern vielmehr von innerlich wahrgenommenen „zusammengesetzten TatbestÈnden“ oder „komplexen Gebilden“,24 die keiner falschen Konstanzannahme unterstellt werden dÝrfen: Im Verlauf des psychischen Lebens erfahren sie unaufhÚrliche VerÈnderungen. Ihre Gliederung geschieht nach dem doppelten Gesichtspunkt, der sich zuerst nach den in diesen Gebilden jeweils enthaltenen elementaren Bestandteilen, dann nach den unterschiedlichen Funktionen der psychischen Kombinationen richtet. Im Jahre 1881 rezensierte Dilthey in den Monatsheften G.H. Schneiders Buch Der thierische Wille (Leipzig 1880). Zwei Jahre spÈter erschien, ebenfalls in den Monatsheften , eine weitere Kurzanzeige von seiner Hand zu Schneiders Werk Der menschliche Wille vom Standpunkt der neueren Entwicklungstheorien (Berlin 1882).25 Schneiders Forschungsarbeit schÈtzte Dilthey vor allem deswegen, weil sie „ganz auf dem modernen Standpunkt [steht], welcher von der Metaphysik nichts erwartet und eine positive Willenslehre auf Erfahrung zu begrÝnden unternimmt“.26 Ihre Grundlage wurde durch die Entwicklungslehre Darwins und Haeckels geschaffen. Schneider verwendete die Fortschritte der Biologie, die Beobachtungen und Experimente der modernen Zoologie zu dem Zwecke, vermittels der vergleichenden Methode einen Einblick in die Natur des tierischen Willens und von diesem aufwÈrts in die der menschlichen WillensvorgÈnge zu gewinnen. Von besonderer Bedeutung war fÝr Dilthey Schneiders „Auffassung der ZweckmÈßigkeit im tierischen Leben“.27 Dessen Grundansicht faßte Dilthey dahingehend zusammen, „daß das ZweckmÈßige in der Assoziation der Erkenntnisakte mit den GefÝhlen als Motoren von Trieben im Laufe der Entwicklung durch Vererbung alle die mannigfachen, vielbewunderten und erstaunlichen Formen angenommen hat, welche wir als 22 Vgl. Ges. Schr. XVIII, S. 72 ff., 87 ff. und 117 ff. sowie in diesem Band Text Nr. 6 des A-Teils: Zur Systematik der psychischen ZustÈnde. 23 Vgl. dazu die einzelnen Abschnitte und Paragraphen zur natÝrlichen Gliederung der Tatsachen des Bewußtseins bzw. zur Systematik der psychischen ZustÈnde im ersten Teilband der Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Ges. Schr. XXI. 24 Unten S. 52. 25 Vgl. Ges. Schr. XVII, S. 425 f. und S. 465. 26 Ebd., S. 465. 27 Ebd., S. 425.

XVI

Vorbericht der Herausgeber

die Instinkte und Kunsttriebe der Tiere bewundern“.28 Bereits in dem Anfang der achtziger Jahre geschriebenen Manuskript Die Mannigfaltigkeit des psychischen Lebens , in dem Dilthey die innere Beziehung der BewußtseinszustÈnde als den eigentlichen „Mittelpunkt der Psychologie“ bezeichnete und die Relevanz der Kategorien wie „Wechselwirkung“, „Wert“ und „Zweck“ fÝr die Erfassung dieses erlebten Zusammenhangs erwog,29 zog er Schneiders Arbeit Ýber den tierischen Willen zu Rate, als es sich darum handelte, eine Korrespondenz in der Stufenfolge der psychischen Differenzierung und der physiologischen Strukturdifferenzierung innerhalb der aufsteigenden Reihe komplexer tierischer Organismen nachzuweisen.30 Der an dritter Stelle gedruckte Text Die GefÝhls- und Triebkreise. Allgemeine Eigenschaften kann als ein weiteres Zeugnis fÝr Diltheys intensive BeschÈftigung mit den Arbeiten Schneiders zu Beginn der achtziger Jahre betrachtet werden. Als Ausgangspunkt wÈhlt Dilthey das feste VerhÈltnis von Eindruck und subjektiver Reaktion im GefÝhl und Trieb. Ein solches festes VerhÈltnis schafft die Vorbedingung dafÝr, bestimmten Klassen von EindrÝcken einzelne GefÝhls- und TriebzustÈnde unterzuordnen: sie bilden jeweils „einen von der Art des Eindrucks regierten GefÝhls- und Triebkreis“.31 Die sinnlichen GefÝhls- und Triebkreise, welche das Zentrum des Willens ausmachen, sind durch spezifische triebhafte Bewegungsformen ausgezeichnet. An sie schließen sich dann die Kunsttriebe an. Die vorliegende, verstÈrkt an Schneiders Monographie anknÝpfende Beschreibung der „Sinnentriebe und SinnengefÝhle“ hat Dilthey z. T. mit nur geringfÝgigen •nderungen in den § 6 Erste Klasse der GefÝhls- und Triebkreise. Die Triebmechanismen und die aus ihnen hervorgehenden Begierden, Leidenschaften und affektiven ZustÈnde des Manuskriptes seiner Ethik-Vorlesung aus dem Sommer 1890 einbezogen, welche H. Nohl als Band X der Gesammelten Schriften verÚffentlicht hat.32 Nicht nur in seiner Ethik, sondern zuvor schon in der Èsthetischen Abhandlung, die er im Jahre 1887 in der Zeller-Festschrift erscheinen ließ und die zusammen mit der im Jahre 1892 in der Deutschen Rundschau verÚffentlichten Schrift Ýber Die drei Epochen der modernen •sthetik die „HauptsÈtze einer neuen Anti-Fechnerschen •sthetik“ darbieten mÚchte,33 rÈumte Dilthey der

28

Ebd., S. 426. Vgl. Ges. Schr. XVIII, S. 165 ff. 30 Ebd., S. 168, Anm. 226 – vgl. dazu S. 238 der Anmerkungen. 31 Unten S. 55. 32 Vgl. Ges. Schr. X, S. 52 ff. 33 Vgl. Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine fÝr eine Poetik und Die drei Epochen der modernen •sthetik und ihre heutige Aufgabe, in: Ges. Schr. VI, S. 103–287; vgl. auch Brief29

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XVII

Theorie der GefÝhle und der Lehre von den GefÝhlskreisen einen wichtigen Platz ein. Insbesondere das zweite Kapitel des zweiten Abschnittes der Poetik gibt unter Punkt 4: Die GefÝhlskreise und die aus ihnen stammenden Èsthetischen Elementargesetze eine detaillierte Analyse des Vorganges, wie aus einzelnen Klassen von Antezedenzien einzelne GefÝhlskreise entstehen.34 Die beiden, offensichtlich aus einem grÚßeren, heute nicht mehr rekonstruierbaren Textkorpus herausgelÚsten TextstÝcke, die mit dem Titel GefÝhl und GefÝhlskreise in den B-Teil aufgenommen sind, treten zu den bisher erschlossenen Quellenmaterialien ergÈnzend hinzu. Aus Diltheys Verweis auf Wundts Abhandlung Ýber die Lehre von den GemÝthsbewegungen , die im Jahre 1891 in den Philosophischen Studien erschien,35 ist darauf zu schließen, daß die Textvorlage den Stand von Diltheys Forschungsarbeiten aus den frÝhen neunziger Jahren wiedergibt. Mit den AusfÝhrungen zur Stellung der GefÝhle, zu ihrem zusammengesetzten Charakter und zu den Grenzen ihrer psychologischen Analysis sind die §§ 2 bis 4 des zweiten Abschnittes der Ethik-Vorlesung zu vergleichen, die nacheinander die ZweckmÈßigkeit im Grundplan des Lebewesens, die zentrale Stellung des Trieb- und GefÝhlslebens und das innere VerhÈltnis von Trieb, GefÝhl und Volition zum Thema haben.36 FÝr das zweite, ursprÝnglich mit der Aufschrift „sinnlich-geistige (Èsthetische) GefÝhle und Stimmungen“ versehene Textfragment kann man die Gliederung der GefÝhlskreise vergleichend heranziehen, die Dilthey in seiner Poetik vornahm.37 „Die drei Klassen von ZustÈnden [Vorstellungen, GefÝhle, Volitionen] sind in einer Struktur des Seelenlebens verbunden, durch welche das Grundgesetz aller Lebewesen auf dieser Erde gleichsam durchsichtig erscheint.“38 Auch das menschliche Leben in seinen hÚchsten Formen steht unter den Gesetzen der ganzen organisch-tierischen Natur. „Es ist nun entscheidend fÝr die Psychologie, diesen Tatbestand so deutlich als mÚglich zu machen.“39 Diese programmatischen SÈtze stehen am Beginn derjenigen EntwÝrfe Diltheys zur Struktur des Seelenlebens , die als Texte Nr. 6 bis 9 des B-Teils des vorliegenden Bandes zum Abdruck gelangen. Diese Manuskripte entstammen keinem Ýbergreifenden, rekonstruierbaren Zusammenhang. Die Texte 7 bis 9 sind allerdings aus einem Manuskript mit der Àberschrift Erster Abschnitt. Struktur, Bewechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877–1897, hrsg. von S. v.d. Schulenburg , Halle (Saale) 1923, S. 129. 34 Ebd., S. 148. 35 Vgl. unten Anm. 82 zu S. 61. 36 Vgl. Ges. Schr. X, S. 48 ff. 37 Vgl. Ges. Schr. VI, S. 150 ff. 38 Unten S. 69. 39 Unten S. 72.

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standteile, Prozesse und Eigenschaften des Seelenlebens , herausgenommen, dessen Einteilung in Kapiteln bzw. Paragraphen Dilthey offensichtlich umdisponiert hat. Ihnen ist gemeinsam, daß sie die bedeutsame Stelle markieren, an der der Satz vom Leben resp. die SÈtze „vom gesetzlichen VerhÈltnis“ des „einheitlichen Lebensvorganges“ die Spitze der empirisch-psychologischen Grundlegung Ýbernehmen.40 Dilthey selbst weist darauf hin, daß die AusdrÝcke wie „Struktur“ des Seelenlebens und „Typen“ der psychischen Struktur „entnommen [sind] von der Èußeren physischen Organisation“.41 Insbesondere „bildet die Struktur des Nervensystems und der innere Zusammenhang seiner Funktionen als Sitz der seelischen TÈtigkeiten einen festen Anhaltspunkt fÝr die Auffassung der Struktur des Seelenlebens. Nur eine falsche spiritualistische Abstraktion kann diese biologische Betrachtungsweise verwerfen.“42 Als besonders bedeutsam sind Diltheys AusfÝhrungen des § 2 zum „anatomisch-physiologischen Strukturbild“ zu bewerten. Um 1892 geschrieben, gewÈhren sie einen genauen Einblick in Diltheys Quellenstudium der anatomischen und physiologischen Literatur. Das einfache Schema des Strukturzusammenhangs sieht Dilthey in der Èußeren Organisation durch jenen Zusammenhang reprÈsentiert, in welchem, in der Sprache der Physiologie ausgedrÝckt, „ein Vorgang, der vom Reiz angeregt in sensiblen Nervenbahnen verlÈuft, durch eine zentrale Vermittlung, welche der Sitz von Anpassung und ZweckmÈßigkeit ist, mit einem Vorgang verbunden [ist], der in den motorischen Nervenbahnen verlÈuft, die mit Muskeln zusammenhÈngen, welche Èußere Bewegungen verursachen“.43 Alle hÚheren Formen des psychischen Lebens kÚnnen nun als „fortschreitende Differenzierungen, durch Einschaltungen, Steigerungen herbeigefÝhrte Bereicherungen“ dieses einfachen Schemas angesehen werden.44 Von der untersten Verbindung von Reiz und Bewegung durch einfache Reflexbewegung schreitet die Untersuchung demnach aufwÈrts zu jenen VorgÈngen fort, in welchen zunehmende Beteiligung der hÚheren Zentralorgane mit zunehmendem psychischem Zusammenhang verbunden ist. Mit Entschiedenheit weist Dilthey jedoch die „unberechtigte Generalisation“ zurÝck, zu welcher „das Studium [der] Reflexbewegungen in der modernsten Psychologie“ gefÝhrt hat.45 Er verweist dabei auf die von E. Haeckel und H. MÝnsterberg vertretene Ansicht, nach welcher die tierische und menschliche 40 41 42 43 44 45

Unten S. 70 und S. 71 f. Unten S. 72. Unten S. 73. Unten S. 74. Unten S. 76. Unten S. 83.

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XIX

Organisation einen bloßen Reflexmechanismus bildet, die psychischen Tatsachen ihrerseits als Begleiterscheinungen zu betrachten sind, welche das Ergebnis der Bewegung keineswegs beeinflussen. Mit Wundt macht Dilthey ein entgegengesetzes, „von Fechner aufgestelltes hÚchst fruchtbares ErklÈrungsprinzip“ fÝr die Ausbildung des Reflexmechanismus geltend,46 nach welchem zweckmÈßige reflektorische und automatische Bewegungen vielmehr das Resultat von Wiederholung und EingewÚhnung absichtlicher willkÝrlicher Bewegungen sind. An diesem Punkt wechselt Dilthey nun von der, mit einer anatomischen Untersuchung vergleichbaren, schrittweisen Zertrennung der verschiedenen Zentralteile zu einer unbefangenen Beschreibung dessen, „was beim Stattfinden einer willkÝrlichen Bewegung in der inneren Erfahrung sich zeigt“: „Es ist eine bestimmte Art von Vorgang, was wir in uns gewahren. Es wird nicht in uns gedacht, sondern wir denken. Es wird nicht in uns bewegt, sondern wir bewegen das Auge.“ „Der Vorgang, welcher hier stattfindet, wird in der inneren Erfahrung auf ein Subjekt zurÝckgefÝhrt, auf das Ich.“ Mit „Ich“ ist aber „im Grunde nur der ErklÈrungsgrund der von einem einheitlichen Zusammenhang ausgehenden TÈtigkeit“ bezeichnet. „Das Erlebnis des Wollens steckt hinter diesem allem; es kann nicht definiert werden. Als Merkmal tritt an ihm nur die Einheitlichkeit auf, ganz wie diese auch als Merkmal des Denkens und der PhantasietÈtigkeit sich darbietet.“47

III. „Indes etwas anderes ist die ErklÈrung, etwas anderes die Beschreibung. Wo die modernen Psychologen es unternehmen, das ganze Gebiet des Geistes [. . .] zu umfassen, da mÝssen sie auch jetzt noch die beschreibende Methode mit der erklÈrenden verbinden. Es lÈßt sich nicht sagen, wann unsere Mittel der Beobachtung und ErklÈrung so durchgebildet und fein sein werden, daß sie fÝr die hÚheren Erscheinungen des Seelenlebens zureichen werden.“ Diese SÈtze sind der Rezension entnommen, die Dilthey im Jahre 1862 in der Berliner Allgemeinen Zeitung anlÈßlich der von L. George besorgten Ausgabe von Schleiermachers Psychologie verÚffentlicht hat.48 In der Auseinandersetzung mit der „anderen wissenschaftlichen Basis“, welche die Psychologie durch Herbarts „physikalischen Standpunkt“ erhielt,49 kristallisierte sich beim Neunundzwan46 47 48

Unten S. 83. Unten S. 84. Vgl. Ges. Schr. XVI, S. 370 ff.

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zigjÈhrigen jener Themenschwerpunkt heraus, der, mehr als dreißig Jahre spÈter, mit der VerÚffentlichung der Ideen im Mittelpunkt des Interesses an einer streng begrÝndeten empirisch psychologischen Wissenschaft stehen sollte. Mit diesem Schwerpunkt verband sich kurz nach Erscheinen des ersten Bandes der Schleiermacher-Biographie ein anderer. Inmitten anhaltender Besinnung Ýber die Bedeutung der von ihm angewendeten Methode, „ein philosophisches System genetisch mit allen Mitteln der Kulturgeschichte und handschriftlichen Àberlieferung zu erklÈren“,50 entschloß Dilthey sich „plÚtzlich“51 dazu, eine neue Untersuchung zu beginnen: „Ich untersuche die Stellung, welche die Affektentheorie in dem 17. Jahrhundert eingenommen hat, ihre verschiedenen Formen bis zum Abschluß in Spinoza [. . . ], ihre Stellung zu der politischen Theorie, Praxis etc. der Zeit, ihren Wert als des wahren Anfangs, Naturgesetze des Geistes in grÚßerem Stil, angeregt von der DurchfÝhrung der Mechanik in den Naturerscheinungen, durchzufÝhren“.52 Der im Juni 1870 gefaßte Entschluß steht am Anfang einer langen Reihe von Einzelforschungen, von denen Dilthey nur Zwischenergebnisse in den Jahren 1891 bis 1893 im Archiv fÝr Geschichte der Philosophie verÚffentlicht hat, bis er – im Jahre 1904 – sie in den Sitzungsberichten zu einem gewissen Abschluß brachte.53 In der Konzentration auf die Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts setzte Dilthey sich mit dem konstruktiven Verfahren der Psychologie im natÝrlichen System auseinander, noch „ehe die Ausbildung der analytischen Methode“ seinen PlÈnen gemÈß „zur Darstellung kÈme“.54 Die im C-Teil zusammengestellen ausfÝhrlicheren Texte und EntwÝrfe Diltheys werfen auf seine Auseinandersetzung mit der erklÈrenden Psychologie in dem Jahrzehnt vor dem Erscheinen seiner Ideen ein erhellendes Licht. Diltheys Versuch, das VerhÈltnis des beschreibenden Verfahrens zur erklÈrenden Psychologie genau zu bestimmen, entspringt aus den von ihm formulierten „Grenzbestimmungen gegen [eine] intellektualistische Erweiterung“ des Satzes von der „RealitÈt des in der Erfahrung gegebenen lebendigen Zusammenhangs“, des im Erleben Gegebenen, welcher fÝr ihn die Grundlage und der Anfang aller Besinnung des Menschen bildet.55 Der von ihm vertretene „kritische“ Standpunkt „ist auf dem Gebiet des Seelenlebens dann durchfÝhrbar, 49

Ebd., S. 372. Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und TagebÝchern 1852–1870. Zusammengestellt von C. Misch geb. Dilthey , Leipzig und Berlin 1933, S. 285. 51 Ebd., S. 289. 52 Vgl. ebd., S. 287. 53 Vgl. Ges. Schr. II. 54 Vgl. G. Misch, Vorwort zu Ges. Schr. II, S. VIII. 55 Unten S. 90 und 94. 50

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weil uns hier in der inneren Erfahrung die Lebenseinheit gegeben ist, in welcher die VorgÈnge stattfinden, und weil nicht nur die einzelnen VorgÈnge, sondern auch die Art, wie sie einander erwirken und so den Zusammenhang des Lebens selber bilden, in die innere Wahrnehmung fÈllt“. Der erhebliche Vorzug dieses Standpunktes fÝr das Studium geistiger Tatsachen ergibt sich aber noch aus einer weiteren Tatsache: „Die Bedeutung des Lebens liegt eben in dem Zusammenhang, der in die innere Wahrnehmung fÈllt. Dies ist die BÝhne, und hier sind Ort, Umgebung und Personen, unter welchen das Drama des Lebens sich abspielt. Unser Interesse ist verhÈltnismÈßig gering, Holz und Leinwand und Lampen zu sehen, welche die RÝckwand der Kulissen bilden.“56 Von der Struktur des Seelenlebens ausgehend, in welcher die Leistungen desselben zu einer Einheit verbunden sind, bestimmt Dilthey folglich die Bedingungen und Begrenzungen des von ihm im Gegensatz zum Empirismus und zur metaphysischen Konstruktion des psychischen Geschehens befÝrworteten strengen analytischen Verfahrens in der Psychologie. „Indem wir nicht aus hypothetischen Elementen konstruieren, sondern analysieren, sind wir in bezug auf die Methode hierdurch bedingt.“57 Was in den seelischen Verlauf eintreten wird, lÈßt sich nicht voraussagen, „wir kÚnnen nur nachtrÈglich analytisch die GrÝnde dessen, was geschehen ist, aufzeichnen“.58 Hatte Dilthey zuvor in den Grundgedanken der modernen Anthropologie den fÝr eine genetische ErklÈrung maßgeblichen Gesichtspunkt hineingenommen, nach welchem „die unscheinbaren Verschiedenheiten der GrundverhÈltnisse Ursache individuellster Entwicklung der Gestalt [werden] [. . . ], unscheinbare Verschiedenheit in dem SpannungsverhÈltnis der Energien sich zum individuellsten GeprÈge [entfaltet]“,59 so verbindet er nun mit der Einsicht in die grundsÈtzliche „NachtrÈglichkeit“ (G. Misch ) der psychologischen Analysis einen weiteren Gedanken, der ihm erlaubt, seine bislang am Leitbild der Evolutionslehre orientierte geschichtliche Betrachtung hÚherer psychischer Gebilde als „Produkte einer allmÈhlichen Summierung kleinster Fortschritte“ in einem wichtigen Punkte zu ergÈnzen. Denn in der Grenzbestimmung der NachtrÈglichkeit drÝckt sich die „Grundeigenschaft“ der Geschichtlichkeit des seelischen Verlaufs aus: „das, was wir als das SchÚpferische [. . .] bezeichnen. Dasselbe kann aber auch in den elementaren VorgÈngen der Einzelseele aufgezeigt werden.

56 57 58 59

Unten S. 102. Unten S. 117. Unten S. 95. Unten S. 33 f.

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[. . .] [Es] Èußert sich ferner darin, daß psychische Bedingungen qualitativ anderes erwirken sowie, daß sie Wertvolleres hervorbringen.“60 Diltheys Text Das Leben gehÚrt in den Zusammenhang der von H. Johach und F. Rodi auf detaillierte Weise rekonstruierten und dokumentierten Ausarbeitungen und EntwÝrfe zum geplanten Zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften.61 Zusammen mit der ihr unmittelbar voraufliegenden Disposition zum Dritten Buch weicht die vorliegende Skizze des ersten Abschnittes des Vierten Buches deutlich von den bisher erschlossenen Textvorlagen der Breslauer Ausarbeitung und des Berliner Entwurfs ab. In bemerkenswerter Weise zieht Dilthey gerade an derjenigen Stelle, wo von den „Grundeigenschaften [der] Lebendigkeit, SpontaneitÈt und Geschichtlichkeit“ im lebendigen Zusammenhang gehandelt werden sollte, Wundts Abhandlung Àber psychische CausalitÈt und das Princip des psychophysischen Parallellismus aus dem Jahre 1894 heran.62 Man kann daher vermuten, daß diese Textvorlage, die z. T. an Diltheys SÈtze von der Selbstbesinnung der Breslauer Ausarbeitung erinnert, den Arbeitsstand spiegelt, welchen seine EntwÝrfe zu einer deskriptiven und komparativen Psychologie zur Zeit des Erscheinens der Ideen erreicht haben. Jedenfalls berÝhrt sie die Nahtstelle des Dritten und Vierten Buches. An dieser bildet „das Ringen gegen den Druck der objektiven Weltsystematik“,63 wie der konstruktive Rationalismus ihn ausÝbt, den philosophiegeschichtlichen Hintergrund fÝr eine Grenzziehung zwischen einer beschreibenden Psychologie und einem erklÈrenden Verfahren, dessen Denkmittel Dilthey uns an Hobbes und Leibniz vorfÝhrt. Der zweite, in den C-Teil aufgenommene Entwurf, der aus der zweiten HÈlfte der achtziger Jahre stammt, entspringt aus einer anderen Arbeitsdisposition Diltheys. Hier bildet sein „anthropologischer Standpunkt“ in der Erkenntnistheorie, welcher den PhÈnomenalismus in seine Grenzen verweist, den Ausgangspunkt.64 Die Bedeutung, welche „eine beschreibende Erkenntnis von SeelenzustÈnden“ innerhalb der erkenntnistheoretischen Selbstbesinnung erhÈlt, und das Problem des „unvermeidlichen Zirkels“ innerhalb der Grundlegung der Erkenntnis65 leiten die Reflexionen in die Wege, die Dilthey in diesem Text der deskriptiven Psychologie und den erklÈrenden Hypothesen widmet. Die Aufgabe der psychologischen Analysis bestimmt Dilthey dahin60 61 62 63 64 65

Unten S. 95. Vgl. Ges. Schr. XIX. Unten S. 95, Anm. 155. Unten S. 357, die Disposition zum Dritten Buch. Unten S. 96. Unten S. 97.

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gehend, „die einzelnen VorgÈnge und die Beziehungen zwischen ihnen zu erkennen, wie sie in der Gliederung des Seelenlebens zu einer solchen Struktureinheit verbunden sind“.66 Die Bestandteile dieses lebendigen Zusammenhangs dÝrfen nicht als Atome, welche nach Gesetzen miteinander in Wechselwirkung stehen, betrachtet werden. „Wir mÝssen suchen“, so faßt Dilthey die Aufgabenstellung, die sich aus seinem kritischen Standpunkt ergibt, zusammen, „ohne die Schemata, unter denen man zunÈchst die Èußere Natur aufzufassen strebte, seien sie nun idealistische oder seien sie materialistische Metaphysik, ohne die Begriffe, die von diesen Aufgaben her gebildet worden sind, Seelenleben zu denken.“67 Im brieflichen GesprÈch mit dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg Ýber den im Archiv erschienenen zweiten Artikel seiner Abhandlung Das natÝrliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert 68 schreibt Dilthey kurz vor Weihnachten 1892: „Fragt man nach dem letzten Grund der jetzigen Lage, so liegt er darin, daß nun erst die Naturwissenschaften aus der Position des 17. Jahrhunderts die letzten Konsequenzen gezogen haben. Die auf das Gesetz der Erhaltung der Kraft gegrÝndete Lehre von den psychischen Begleiterscheinungen, diesen Irrlichtern auf dem Sumpf der geistlosen MaterialitÈt, ist in der ganzen Literatur der Gegenwart das einflußreichste Agens. [. . .]“69 Aus der „See von Arbeit“, auf der Dilthey sich wie von einer „dunklen Flut“ getragen fÝhlt,70 taucht das nur unvollstÈndig und zum grÚßten Teil in Diktatform Ýberlieferte Manuskript mit dem Titel ErklÈrende Psychologie. Theorie des Parallelismus auf. WÈhrend die Arbeiten zur Fortsetzung der Anthropologie im natÝrlichen System ihn zu dem Punkte hinfÝhren, wo eine ErÚrterung des „Rationalismus des Spinoza“71 unausweichlich wird, kehrt Dilthey sich in diesem grÚßeren Entwurf zwei wichtigen Hypothesen der modernen „Hypothesenpsychologie“, dem psychophysischen Parallelismus und der psychischen Atomistik, zu.72 Als ein bedeutsames Motiv der neueren psychologischen Literatur hebt Dilthey die Lehre von den psychischen Begleiterscheinungen heraus, die auf das „Postulat eines lÝckenlosen Kausalzusammenhanges, welcher die ganze Èußere Natur umfaßt“, gegrÝndet ist. Dieses Postulat „empfÈngt seine vollkom66

Unten S. 104 f. Unten S. 110. 68 Die in Ges. Schr. II, S. 90–243 abgedruckte Abhandlung erschien 1892–93 in fÝnf Artikeln im Archiv fÝr Geschichte der Philosophie. 69 Briefwechsel Dilthey-Yorck, S. 156–157. 70 Ebd., S. 170 und S. 173. 71 Ebd., S. 171. 72 Unten S. 120. 67

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Vorbericht der Herausgeber

menste Essenz in dem Prinzip von der Erhaltung der Energie“.73 Besondere Aufmerksamkeit schenkt er somit den Versuchen zu einer Widerlegung der Lehre vom psychophysischen Parallelismus, welche in MÝnsterberg einen zeitgenÚssischen Vertreter gefunden hat, vor allem aber der Ableitung dieser Lehre aus dem Gesetz der Erhaltung der Kraft. Die „hÚchst scharfsinne Widerlegung“ dieses Satzes, wie Chr. Sigwart sie in der 2. Auflage des zweiten Bandes seiner Logik durchgefÝhrt, und die Argumente, die W. James zuvor in seinen Principles of Psychology gegen den psychophysischen Parallelismus entwickelt hat, zieht Dilthey in diesem Manuskript aus dem Jahre 1893 ausfÝhrlich in ErwÈgung. Schon im Jahre 1890 berichtet Dilthey dem Grafen Yorck davon, welch großen Gewinn er aus der LektÝre der beiden BÈnde seines SchÝlers K. Lasswitz Ýber die Atomistik74 gezogen habe. In dem vorliegenden Manuskript stÚßt Dilthey erneut zu dem Punkte vor, wo die innere „BerÝhrung des Naturerkennens mit der Seelenforschung“ zuerst wirksam geworden war: „In den Hauptbegriffen der Lehre Galileis [waren] die psychischen Korrelate des Bewegungsvorgangs mit enthalten. Hierdurch wurde den Metaphysikern die Einsicht nahe gelegt, daß ein Bewegungssystem auch ein Innen haben kÚnne, ja mÝsse.“75 Die Schwierigkeiten, welche mit der Annahme, daß in dem physischen Mechanismus psychische Prozesse eingeschaltet sind, entstehen, fÝhrt Dilthey uns an der Lehre von der psychophysischen Wechselwirkung vor. Inwiefern auch hier das Gesetz der Erhaltung der Kraft „sich angemessen gestalten“ lÈßt – ob seine Geltung sich Ýberhaupt auf das Gebiet psychischer TÈtigkeiten erstreckt –, stellt er offen zur Diskussion. Die Unvergleichbarkeit von Bewegung und Empfindung, die UnmÚglichkeit, von rÈumlichen Bewegungen zu inneren ZustÈnden Ýberzugehen – diese Tatsachen stellt Dilthey an die Spitze seiner kritischen Betrachtung des materialistischen Standpunktes. In diesem Zusammenhang fÝhrt er aus, wie der Satz von der Erhaltung der Energie den Materialismus kraft der in ihm liegenden Logik dazu zwingt, sich zu der Lehre von den psychischen Begleiterscheinungen fortzuentwickeln. „Diese Lehre ist die moderne Hauptform des Materialismus.“76 Schließlich wendet Dilthey sich dem Umschlagen des Materialismus in einen idealistischen Standpunkt zu, welchen er in einer moderaten

73 74

Unten S. 127. K. Lasswitz , Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton, 2 BÈnde, Hamburg

1890. 75 76

Unten S. 137. Unten S. 143.

Vorbericht der Herausgeber

XXV

Form von A. Lange und O. Liebmann , in seiner spekulativen Àbersteigerung von G. Th. Fechner vertreten sieht. Indem er die Tatsachen von „AbhÈngigkeit, Korrespondenz und Unvergleichbarkeit“ der psychischen und physischen PhÈnomene unbefangen und nÝchtern betrachtet,77 zieht Dilthey am Schluß seiner Darlegungen ein wichtiges Fazit. Die metaphysische Konstruktion der Psychologie ist aus ihrem Zusammenstoß mit der voranschreitenden naturwissenschaftlichen Konstruktion der Welt seit dem 17. Jahrhundert hervorgegangen. Keine ihrer Theorien sei jedoch imstande, „den Koinzidenzpunkt“ der verschiedenen Grundeigenschaften des Lebens zu erfassen und in einer Formel auszusprechen. „Sie sind also alle nur AnnÈherungen an ein unbekanntes VerhÈltnis, das sich schließlich in unserem einheitlichen LebensgefÝhl ganzer und wahrer ausspricht als in jeder dieser Formeln.“78 Und wie fÝr ihn die erklÈrende Psychologie aus der VerknÝpfung der Arbeitsmethoden des naturwissenschaftlichen Erkennens mit den Annahmen der psychologischen Analysis hervorging, so gehÚren die AnfÈnge einer „neuen Epoche der Psychologie“79 ebenfalls zu einem umfassenderen geschichtlichen Zusammenhang. Sie stehen „in Zusammenhang mit einer allgemeinen Bewegung, welche eine unbefangenere, tatsÈchliche Auffassung der geistigen, geschichtlichen, gesellschaftlichen VorgÈnge zur Geltung bringen mÚchte“.80 Es sind keine Èußeren Faktoren und Bezugspunkte, die Dilthey hier aufzÈhlt; vielmehr sind es innere BeweggrÝnde und zugleich wichtige Phasen seines eigenen Weges in die Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Es ist nun bemerkenswert, daß Dilthey in dem Schlußparagraphen des Manuskripts Ýber ErklÈrende Psychologie die Gestaltung einer kÝnftigen Psychologie mit jener Wendung verknÝpft sieht, welche sich innerhalb der psychophysischen Richtung selbst in den Arbeiten von James – und neuerlich auch von Wundt – vollzogen hat. WÈhrend James ’ Widerlegung der beiden Hypothesen des Atomismus und Parallelismus in den Principles auch fÝr die Anlage und Konzeption des vorliegenden Manuskripts bedeutsam gewesen sein mag, fÝhrt die kurze Skizze, die Dilthey von Wundts innerer Entwicklung zeichnet, zu dem wichtigen Thema hin, das ihn auch weiterhin beschÈftigen wird: die Natur des psychischen Zusammenhangs. Wundts Nachweis, daß dieser Zusammenhang nicht aus der Wechselwirkung isolierter psychischer Elemente entsteht, vielmehr „in seiner einheitlichen Energie bedingt [ist], welche in einer Stufenreihe von Handlungen den Aufbau des geistigen Lebens hervor77 78 79 80

Unten S. 151 f. Unten S. 151. Unten S. 154. Unten S. 119.

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bringt“,81 schenkt Dilthey besondere Aufmerksamkeit. Daß in den hÚheren psychischen Gebilden die innere Kraft der Verbindungen nicht mehr „von den Teilen zum Ganzen, sondern vom Ganzen zu den Teilen geht“,82 ist ein gewichtiger und fÝr Diltheys strukturale Betrachtung des psychischen Zusammenhangs durchaus relevanter Gesichtspunkt. FÝr eine energetische Konzeption des psychophysischen Ganzen ist die Tatsache, daß Wundt dem Gesetze von der Erhaltung der Energie das Gesetz des extensiven und des intensiven Wachstums der Energie als ein Grundgesetz des geistigen Lebens gegenÝberstellt, ebenfalls von Bedeutung. Im Ýbrigen kommt Wundts Einsicht, daß die hÚheren psychischen Verbindungen eine „schÚpferische“ Leistung vollbringen, Diltheys eigener Bestimmung der Grundeigenschaft von „SpontaneitÈt“ des seelischen Zusammenhangs in einem wichtigen Punkte entgegen. Es darf deshalb nicht verwundern, daß Dilthey am Schluß der dritten Kapitels seiner Ideen den Ertrag des vorliegenden Manuskripts zusammenfassend verwerten und bei dieser Gelegenheit die „hÚchst beachtenswerte Wendung“, welche die Psychologie mit Wundt , James und Sigwart vollzogen hat, wÝrdigend hervorheben wird.83 Doch darf dieser Umstand nicht darÝber hinwegtÈuschen, daß Dilthey nicht nur, wie im vorliegenden Manuskript, sich ausdrÝcklich von Wundts „vorschnellen Generalisationen“ trennt,84 sondern auch, wie aus den AusfÝhrungen zum Vierten Buch: Das Leben. Deskriptive und komparative Psychologie noch deutlicher hervorgeht, Wundts „Kompromiß zwischen dem inneren Leben und der mechanischen Theorie“ mit entschiedener Skepsis begegnet.85 Mit dem Manuskript Generelle Psychologie wechselt Dilthey die Perspektive seiner empirisch psychologischen Forschungen. Er wendet sein Augenmerk von der Bestimmung der GleichfÚrmigkeiten des psychischen Lebensverlaufs unter allgemeinen und konstanten Lebensbedingungen auf die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit. Dieser umfassende, sich jenseits der Einzelpsychologie erstreckende Zusammenhang bildet den Gegenstand methodologischer Reflexionen, die wohl in den weiteren Rahmen einer Logik der Geisteswissenschaften gehÚren, deren Ausarbeitung Dilthey bis in die neunziger Jahre hinein fÝr das Sechste Buch seiner Einleitung vorsah. VordergrÝndig wird das Problem diskutiert, ob GleichfÚrmigkeiten und Gemeinsamkeiten des durchgreifenden Zusammenhangs, dessen Faktoren die seelischen VorgÈnge, 81 82 83 84 85

Unten S. 156. Ebd. Vgl. Ges. Schr. V, S. 166 ff. Unten S. 156 f. Vgl. Ges. Schr. XIX, S. 312–313.

Vorbericht der Herausgeber

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die physische Organisation des Menschen, das Mitwirken der Natur und die Gesellschaftung sind, festgestellt, somit generelle Wahrheiten Ýber ihn formuliert werden kÚnnen. Auch auf diesem Gebiet lehnt Dilthey eine Einflußnahme der erklÈrenden Psychologie ab. Interessant ist, daß Dilthey in diesen Àberlegungen, die in mancher Hinsicht an die Reflexionen Ýber den „psychophysischen Zusammenhang der Geschichte“ erinneren,86 mit denen er sich schon zur Zeit der Fortsetzung der Abhandlung von 1875 trug, nun auch die Idee einer „generellen Psychophysik“ wiederbelebt, welche „das VerhÈltnis der physischen Organisation zu dem in der beschreibenden und zergliedernden [Psychologie] gefundenen Zusammenhang des seelischen Lebens“ zu ihrem Problem hat.87 Die Aufgabe einer solchen „generellen oder tellurischen Psychophysik“ hatte Dilthey dahingehend bestimmt, parallel zu den Forschungen, wie Fechner sie in seiner Psychophysik betrieben hatte, die „funktionalen VerhÈltnisse“ zu untersuchen, die in den Beziehungen nachweisbar sind, die zwischen dem physischen Zusammenhang, „welcher die Grundlage des Ablaufs der Menschengeschichte bildet“, und dem Zusammenhang psychischer Tatsachen, „welcher auf dieser Grundlage sich erhebt“, bestehen.88 Mit der Erkenntnis der Bedingungen, unter welchen ein Zusammenhang genereller Wahrheiten auf diesem Gebiete mÚglich wird, verbindet Dilthey eine weitere „wichtige methodische Erkenntnis, daß erst dieser ganze Zusammenhang mir den Weg zum Studium der Individuation in der Menschheit bahnt“.89 Die Relationen, welche in den generellen Wahrheiten zum Ausdruck kommen, sind durch Verschiedenheiten nach Umfang und Graden geprÈgt, die insgesamt die Summe der gewonnenen generellen Einsichten Ýberschreiten. In dem vorliegenden Manuskript klingt somit ein Gedankenmotiv an, das Dilthey im neunten Kapitel der Ideen weiterfÝhren wird: „die lebendige Beziehung zwischen dem Reich des GleichfÚrmigen und dem des Individuellen“ als ein Konstituens der Historie.90 „Eilt“ Diltheys Interesse so „den sehr zusammengesetzten VorgÈngen entgegen, mit denen ich in den Geisteswissenschaften zu tun haben werde“,91 so kehrt er in dem Text, mit dem der C-Teil schließt, nochmals zu den „Bestandteilen“ des Seelenlebens und den zwischen ihnen stattfindenden „elementaren Prozessen“ zurÝck, wie sie im Ýbrigen schon Hauptgegenstand seiner Berliner 86 87 88 89 90 91

Vgl. Ges. Schr. XVIII, S. 80 ff. Unten S. 162. Vgl. Ges. Schr. XVIII, S. 87. Unten S. 164. Vgl. Ges. Schr. V, S. 236. Unten S. 173.

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Vorbericht der Herausgeber

Psychologie-Vorlesungen der spÈten achtziger Jahre gewesen sind.92 Der Plan des Ganzen des Zweiten Bandes der Einleitung bezeugt, daß Dilthey noch in der ersten HÈlfte der neunziger Jahre einen „ersten Abschnitt“ des zweiten Teils des Vierten Buches geplant hatte, dessen Hauptthema „die Beschreibung der Bestandteile des Seelenlebens“ war.93 Dem entspricht nun auch die Anlage des vorliegenden Textes. Aus unterschiedlichen, z. T. auch Èlteren ZusammenhÈngen hat Dilthey einzelne Forschungsmanuskripte herausgelÚst, teilweise aber auch neu diktiert. Diese Materialien und neue Ausarbeitungen ordnete er dann von ihm geplanten Kapiteln bzw. Paragraphen zu. Einzelne Literaturangaben deuten darauf hin, daß dieses so entworfene, aber nur teilweise mit Manuskripten ausgefÝllte GrundgerÝst einer grÚßeren Abhandlung aus den frÝhen neunziger Jahren stammt. Sichtbar wird – wie bereits in Diltheys Vorlesungsheften – die außerhalb des Lichtkegels der ³ffentlichkeit fallende Kehrseite seiner Auseinandersetzung mit der erklÈrenden Psychologie. Noch ein weiteres Mal knÝpft sich die innere Gliederung und der strukturelle Aufbau des ersten „Teils“ an die FÈden des Èußeren Strukturbildes. Und von der Analyse der einzelnen Empfindungskreise, der verschiedenen BewegungsvorgÈnge hinauf bis zu der Betrachtung jener „Modifikationen des Selbstbewußtseins in Traum, hypnotischem Zustand und abnormen GeisteszustÈnden“,94 denen Dilthey in seiner Poetik große Aufmerksamkeit entgegenbracht hatte, werden die Bedingungen fÝr das Hervortreten psychischer VorgÈnge Ýberall in der Organisation des menschlichen KÚrpers zurÝckverlegt und dort aufgesucht. Nicht in der Deskription der psychischen PhÈnomene, wie sie der inneren Erfahrung zugÈnglich sind, fÝr sich, sondern in der Erforschung ihres Zusammenhangs mit den durch anatomische, physiologische und pathologische Untersuchungen nachweisbaren „objektiven Ursachen“95 erfÝllte sich Anfangswort und Grundsatz seiner Psychologie: „Ich spreche nicht als Metaphysiker, sondern als empirischer Forscher.“96

92 Vgl. die beiden Kapitel des zweiten Abschnittes der Vorlesung vom 1888/89, in: Ges. Schr. XXI, S. 285–316. 93 Vgl. Plan des Ganzen, in: Ges. Schr. XIX, S. 448–450. 94 Unten, S. 207 ff. 95 Unten S. 181. 96 Vgl. Ges. Schr. XVIII, S. 13.

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IV. Neben den großen, im C-Teil versammelten Texten zur Auseinandersetzung mit der von Dilthey so genannten erklÈrenden Psychologie bildet zweifellos der D-Teil Die beschreibende Psychologie der neunziger Jahre einen weiteren Schwerpunkt des Bandes. In diesem Teil finden sich die erhaltenen Vorstufen der Akademieabhandlung Ideen Ýber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie , der erste Korrekturabzug dieser Abhandlung mit den Randbemerkungen und Lesespuren des Grafen Paul Yorck von Wartenburg sowie eine Auswahl der EntwÝrfe Diltheys zu einer Antwort auf Hermann Ebbinghaus ’ scharfer Kritik der Ideen. Durch diese Zusammenstellung lassen sich die verschiedenen Stadien der Ausarbeitung seines Programms einer deskriptiven (Struktur-)Psychologie im Detail rekonstruieren und der Weg erkennen, den Dilthey bis zur Endfassung seiner programmatischen Abhandlung zurÝckgelegt hat. FÝr eine genauere Erforschung der Genese von Diltheys beschreibender Psychologie liegt damit das vollstÈndig Ýberlieferte Material bereit. In der großen Akademieabhandlung Ideen Ýber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie gibt Dilthey seiner Konzeption einer deskriptiven Psychologie, die er seit Anfang der siebziger Jahre entwickelt und in seinen poetologischen und pÈdadagogischen Texten der spÈten achtziger Jahre sowie der RealitÈtsabhandlung von 1890 und den in diesem Zeitraum gehaltenen psychologischen und pÈdagogischen Vorlesungen sowie dem Ethik-Kolleg von 1890 im Ansatz vorgestellt hatte, ihre abschließende Form. Hervorgegangen ist diese Abhandlung97 aus zwei VortrÈgen, die Dilthey im Laufe der ersten HÈlfte des Jahres 1894 gehalten hat: Am 22. Februar 1894 las Dilthey vor der philosophisch-historischen Klasse der Akademie Ýber Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie 98 und setzte am 7. Juni seine Àberlegungen fort mit dem Vortrag Àber das VerhÈltnis der beschreibenden zu der erklÈrenden Psychologie.99 Der Entschluß, seine Gedanken zur Psychologie im Zusammenhang zu entwickeln, ist offensichtlich recht spontan ausgefÝhrt worden; Hinweise auf diesen Arbeitsplan und seine Genese finden sich in seinen Briefen nicht. Dilthey 97 Sitzungsberichte der KÚniglich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jahrgang 1894, Zweiter Halbband, Juni bis December, Berlin 1894, S. 1309–1407. Jetzt in Ges. Schr. V, S. 139–237. 98 Sitzungsberichte der KÚniglich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jahrgang 1894, Erster Halbband, Januar bis Mai, Berlin 1894, S. 211. 99 Ebd., S. 495.

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Vorbericht der Herausgeber

befand sich, wie sein Briefwechsel zeigt, gegen Ende des Jahres 1893 in einem intensiven Arbeitsstadium, in dem insbesondere seine schon angesprochenen großen Abhandlungen zur Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts im Zentrum standen. Er unterbrach diese schon weit gediehenen Arbeiten, denen er das Material fÝr die geschichtliche Darstellung des Dritten Buches der Einleitung in die Geisteswissenschaften entnehmen wollte, und wandte sich mit der Ausarbeitung seiner Ideen zur Psychologie wieder den systematischen Teilen des Zweiten Bandes der Einleitung zu. Motiviert war diese Verlagerung seines Forschungsinteresses mÚglicherweise durch die AnstÚße und Anregungen, die den laufenden Vorlesungen des Wintersemesters zu verdanken waren, wie einem Brief vom 1. November 1893 an den Grafen Yorck zu entnehmen ist: „Da ich aber in Psychologie und Erkenntnistheorie begeisterte und viele ZuhÚrer habe, so hat das doch zur Folge daß mich diese Fragen mehr als fÝr die historische Arbeit gut okkupieren.“100 Der Entwurf zum zweiten Vortrag entstand wÈhrend der Pfingstferien, die Dilthey 1894 auf Klein-³ls, dem Wohnsitz des Grafen, verbrachte. Die mÝhsame und zur drÝckenden Last werdende Arbeit an den Korrekturen der fertigen Abhandlung101 erfolgte im SpÈtherbst 1894. Dilthey hatte den ersten Korrekturabzug an Graf Yorck mit der Bitte um Durchsicht und Kritik gesandt. Am 14.12.1894 schreibt er – schon etwas ungeduldig – an Yorck : „Von Ihren Bemerkungen auf den Bogen erwarte ich diesmal die Anregung zu einer TÈtigkeit, die von innen heraus versagt. So bitte ich Sie recht herzlich mir sobald als tunlich und so ausfÝhrlich als mÚglich aber lieber ausfÝhrlicher als bÈlder, wenn beides einander ausschließt, die Korrektur mit Ihren Bemerkungen senden zu wollen. Jeden Morgen erwarte ich mit Spannung den Briefboten, der dann manches andere bringt, das Erwartete bisher nicht.“102 Kurz danach trifft Yorcks Sendung mit den gespannt erwarteten Randnotizen auf den Druckbogen der Ideen ein. In einem ausfÝhrlichen Begleitbrief vom 15. Dezember gibt Yorck einige weitergehende erlÈuternde und kritische Hinweise und AusfÝhrungen zu Diltheys Abhandlung. Die erstmals in diesem Band zusammen mit der ersten Druckfassung der Ideen publizierten Korrekturen und Marginalien Yorcks gewÈhren einen aufschlußreichen Einblick in die philosophische Diskussion der beiden Freunde und die Werkstatt Diltheys, dem man bei allmÈhlichen Verfertigen und Fixieren seiner Gedanken gleichsam Ýber die Schulter schauen kann. Welchen Wert Yorcks kritische Notizen fÝr Dilthey hatten, hebt dieser in einem spÈteren Brief noch einmal aus100 101 102

Briefwechsel Dilthey-Yorck, S. 166. Vgl. ebd., S. 175. Ebd., S. 176.

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drÝcklich hervor: „Denn ich kann nicht sagen wie nÝtzlich mir Ihre Randbemerkungen zum letzten Aufsatz waren.“103 Sonderdrucke der Ende Januar 1895 publizierten Ideen wurden von Dilthey an eine Anzahl ihm wichtiger Kollegen, wie u. a. Paul Natorp , Rudolf Eucken , Johannes Rehmke , Wilhelm Windelband , Alois Riehl , Christoph Sigwart , mit der Bitte um Stellungnahme versandt. Zu diesem Kreis zÈhlte auch der Berliner Psychologe Hermann Ebbinghaus , mit dem Dilthey freundschaftlichen Kontakt pflegte. Doch statt wie die anderen brieflich zu antworten,104 faßte Ebbinghaus seine kritischen Bemerkungen in einer umfangreichen Abhandlung zusammen, die er in einer von ihm herausgegeben psychologischen Fachzeitschrift verÚffentlichte.105 Er erlÈuterte Dilthey zwar sein Verhalten in einem begleitenden Brief, den er dem Sonderdruck seiner Kritik beigelegt hatte,106 aber dieser konnte die Úffentliche, scharfe Kritik seiner Abhandlung nur als Vertrauensbruch und offene Provokation verstehen.107 Dilthey, der durch Ebbinghaus ’ unerwartetes Verhalten schwer getroffen ist, berichtet sofort Yorck von dem Vorfall, der in einem empÚrten Brief scharf auf Ebbinghaus und dessen Dilthey-Kritik reagiert.108 Dilthey entschließt sich zwar sofort zu einer unmittelbaren Antwort auf Ebbinghaus ’ Angriff,109 doch gelingt es ihm nicht, seine Metakritik zu einer Abhandlung auszuarbeiten und in eine publikationsfÈhige Form zu bringen. Dilthey repliziert statt dessen mit einer grÚßeren Anmerkung in seiner auf die Ideen folgenden psychologischen Abhandlung BeitrÈge zum Studium der IndividualitÈt.110 Aus der in Diltheys Nachlaß befindlichen Anzahl der Skizzen und EntwÝrfe zu einer Erwiderung auf Ebbinghaus 111 haben wir fÝr den vorliegenden Band die aufschlußreich103

Ebd., S. 187 f. Vgl. H.-U. Lessing , Briefe an Dilthey anlÈßlich der VerÚffentlichung seiner „Ideen Ýber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie“, in: Dilthey-Jahrbuch fÝr Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 3 (1985), S. 193–232. 105 H. Ebbinghaus , Àber erklÈrende und beschreibende Psychologie, in: Zeitschrift fÝr Psychologie der Sinnesorgane 9 (1896), S. 161–205. Wiederabdruck in: F. Rodi /H.-U. Lessing (Hrsg.), Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys, Frankfurt a. M. 1984, S. 45–87. 106 H.-U. Lessing , Briefe an Dilthey anlÈßlich der VerÚffentlichung seiner „Ideen Ýber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie“, a. a. O., S. 228 f. 107 Zur Auseinandersetzung zwischen Ebbinghaus und Dilthey vgl. F. Rodi , Die EbbinghausDilthey-Kontroverse, in: Ders., Das strukturierte Ganze. Studien zum Werk von Wilhelm Dilthey, Weilerswist 2003, S. 173–183. 108 Vgl. Briefwechsel Dilthey-Yorck, S. 195–199. 109 Ebd., S. 199. 110 Sitzungsberichte der KÚniglich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jahrgang 1896, Erster Halbband, Januar bis Juni, Berlin 1896, S. 295–335; S. 297–299, jetzt Ges. Schr. V, S. 238–240. 104

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Vorbericht der Herausgeber

sten ausgewÈhlt. Sie ergÈnzen die in Anmerkungsform publizierte Entgegnung, ohne allerdings einen Ersatz fÝr die Desiderat gebliebene ausfÝhrliche systematische Replik auf Ebbinghaus ’ Attacke darzustellen. Unser Dank gilt all denen, die uns bei den Editionarbeiten zum vorliegenden Band unterstÝtzt haben, vor allem den Mitarbeitern der Dilthey-Forschungsstelle am Institut fÝr Philosophie der Ruhr-UniversitÈt Bochum. Sodann danken wir sehr Andreas Spahn fÝr seine bibliographischen Recherchen, Frau Dr. Francesca D'Alberto (Padua) fÝr ihre technische Hilfe und einmal mehr Herrn Dr. Helmut Johach (NÝrnberg) fÝr seine Mithilfe bei der Entzifferung sehr schwer zu lesender Handschriften Diltheys. Bedanken mÚchten wir uns schließlich beim Department Architektur der Hochschule fÝr Wissenschaft und Kunst (BrÝssel), das die langjÈhrige Kooperation der Herausgeber mit ermÚglicht hat, bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft fÝr ihre jahrelange FÚrderung der Ausgabe und beim Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften fÝr die bewÈhrte Zusammenarbeit. Bochum, Februar 2005

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Vgl. Ges. Schr. V, S. 423.

Guy van Kerckhoven Hans-Ulrich Lessing

A. FRÀHE TEXTE ZUR AUSEINANDERSETZUNG UM EINE DESKRIPTIVE PSYCHOLOGIE (ca. 1860–1880)

1. *Zur Kritik der VÚlkerpsychologie von Lazarus und Steinthal

Die Aufstellung einer Grundwissenschaft, welche das gesellschaftliche Leben des Menschen zum Gegenstande hat, mußte notwendig erfolgen, seitdem ein zusammenhÈngendes Problem in der sozialen Natur des Menschen zur Erkenntnis kam. Nur langsam und schwer hat die Wissenschaft diesen allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenhang Ýber den Horizont des Bewußtseins erhoben, welcher die stillschweigende Voraussetzung der Existenz des Einzelmenschen und des fortschreitenden Verlaufs der Geschichte ist. Das politische Zusammenleben, die kirchliche Gemeinschaft waren lange Gegenstand der Wissenschaft geworden, bevor die soziale Natur des Menschen nach ihren Hauptformen, den in ihr wirksamen Prozessen untersucht wurde. Dies geschah von jener naturwissenschaftlichen Betrachtung des Menschen aus, wie sie schon in Aristoteles angelegt war, in der neueren Zeit aber durch die Bekanntschaft mit den NaturvÚlkern erst ihr wahres Material erhielt. Zugleich aber regte dazu das soziale Problem an, wie es in der franzÚsischen Úkonomischen Schule zuerst behandelt wurde, da hier der Begriff der Gesellschaft sich von dem des Staates lÚste und einen selbstÈndigen Wert erhielt. Der, welcher die erstere Betrachtungsweise der Menschennatur begrÝndete, war Buffon. Wie er vom Menschen aus den Typus der Tiere bestimmte, die Cuvier dann als Wirbeltiere abgrenzte, wie sonach der Mensch der Ausgangspunkt seiner vergleichenden Betrachtung war, so bildete derselbe auch den Zielpunkt seiner Naturgeschichte. Er ist der erste Schriftsteller gewesen, welcher die menschliche Spezies nach ihren Rassen, ihrer Verbreitung und ihren Eigenschaften, wie sie im geselligen Zusammenleben sich entwickeln, dargestellt hat.

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A. FrÝhe Texte zur Auseinandersetzung um eine deskriptive Psychologie

1. VÚlkerpsychologie Herbart1 ist im Rechte. VerhÈltnisse der Gesellschaft und Gleichgewicht von Kasten, VerhÈltnis von Freien und Unfreien. Sie haben ihre GleichfÚrmigkeiten; gerade weil sie von den psychologischen unterschieden sind, sind es wahre ErklÈrungsgrÝnde. Der Fehler der VÚlkerpsychologie ist dagegen, immer nur Gelten psychologischer Gesetze, die man schon kennt, in den gesellschaftlich-geschichtlichen ZustÈnden nachzuweisen. Hierdurch wird man nicht klÝger. Daß sie da sind, ist selbstverstÈndlich. Ferner ist gerade die Beziehung Èußerer Bedingungen zu seelischer Inhaltlichkeit in der Gesellschaft das zu ErklÈrende, hier neu Auftretende. Bestimmte wirtschaftliche VerhÈltnisse von Unfreiheit haben einen bestimmten Grad von Widerstandsenergie zur Folge gehabt. Das ist die belehrende Tatsache. Nicht aber kann es jemanden Ýberraschen oder belehren, auch unter diesen UmstÈnden dasselbe Spiel der Affekte auftreten zu sehen. S. 9 Die Politik wird sich bedanken. Als Wissenschaft hat [sie] es mit den ErklÈrungsgrÝnden zunÈchst zu tun, wie die Psychologie. In beiden liegen nach dem teleologischen Charakter alles Seelischen praktische Zielpunkte vor. Die Prinzipien der ErklÈrung aber etwa fÝr das Auftreten einer Revolution liegen in einer Verschiebung des VerhÈltnisses zwischen der Funktion bevorrechtigter Klassen und ihrer Leistung. NatÝrlich finden die VorgÈnge des Auftretens von Unzufriedenheit, von Klassenneid, von zunehmender Hoffnung, die beanspruchten Rechte zu erlangen, nach den bekannten psychologischen Gesetzen statt. Aber es ist das langweiligste Ding von der Welt zu zeigen, daß diese hier wirken. Die Menschen, welche die Einzelpsychologie untersuchte, waren ja diese Unzufriedenen, Hoffenden etc. Dieselben GefÝhle in Masse, die gesetzlichen VerhÈltnisse in Wiederholung: Das ist ja eine leere Repetition. Und hieraus stammt die Unfruchtbarkeit der VÚlkerpsychologie. Die Grundlagen der Politik liegen vielmehr in einer vergleichenden Analyse der geschichtlichen FÈlle, welche natÝrlich von einem Typus der inhaltlichen Menschennatur, von einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie etc. ausgeht. Ich mÚchte wissen, wie die Lehre des Aristoteles Ýber die Ursache der Revolutionen vÚlkerpsychologisch abgeleitet oder auch nur durch VÚlkerpsychologie gestÝtzt werden kÚnnte. S. 10 Diese IrrtÝmer setzen sich fort in der Annahme, daß der Staat nach seiner Èußeren Seite die AusprÈgung eines Innern sei. Vielmehr ist er wohl durch den Volksgeist, zugleich aber auch durch den Boden, das Klima, die

1. *Zur Kritik der VÚlkerpsychologie von Lazarus und Steinthal

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VerhÈltnisse zu Nachbarstaaten, so bedingte EigentumsverhÈltnisse, militÈrische VerhÈltnisse etc. beeinflußt. S. 10 Es wird nun weiter VÚlkerpsychologie unterschieden von Politik. Der Volksgeist ist die Seele, der Staat der Leib. Zwischen beiden findet eine Wechselwirkung statt. Ist nun auch dies eine ganz schiefe Analogie, so hat es doch mit der Verschiedenheit seine Richtigkeit. Dann verbleibt aber fÝr die VÚlkerpsychologie nicht mehr das Seite 9 angegebene VerhÈltnis, nach welchem die VÚlkerpsychologie die wissenschaftliche BegrÝndung der Politik enthÈlt. Denn die Beziehungen, welche hier als •ußeres bezeichnet werden, und welche wirklich KÚrper, Natur, Gesellschaftung etc. voraussetzen, lassen sich nicht auf Psychologie reduzieren, weil es eben nicht bloße Beziehungen von ZustÈnden in Seelen sind. So ist also zwar die Aufgabe fÝr die Politik, allgemeine wissenschaftliche Grundlagen zu finden, stets anerkannt und zu lÚsen versucht worden, aber die VÚlkerpsychologie ist natÝrlich ganz unbrauchbar fÝr die LÚsung dieser Fragen, viel unbrauchbarer als die Anthropologie oder die Philosophie der Geschichte, mit denen man es frÝher versucht hat. S. 10 Im Volksgeist nur dieselbe Prozesse wie im Einzelnen. S. 11 Sprache, Religion sind Elemente des Volksgeistes!

2. Anthropologie und VÚlkerpsychologie S. 12. „Die Anthropologie hat auf dem Grunde der Lehre von den Temperamenten eine Charakteristik der VÚlker zu erbauen versucht.“ Man hat aus den Temperamenten die Lebensalter und auch die Nationalcharaktere konstruiert; aber das ist doch kein Teil der anthropologischen Wissenschaft! S. 15. Hier wird nun die VÚlkerpsychologie mit der Aufgabe betraut, der Ethnologie Innerlichkeit und psychologischen Gehalt zu geben. Auch diese bedankt sich fÝr die Hilfe. Es besteht bekanntlich eine unermeßliche Literatur seit dem 16. saeculum ungefÈhr Ýber Volkscharaktere. Das ist also da. Vielleicht kann es jemand besser machen. Das muß sich zeigen. Die eigentliche Ethnologie aber hÈlt sich zunÈchst an die festen Èußeren Merkmale in KÚrper und Sprache. Denn sie hat es nicht mit Schilderungen, die ja sehr angenehm sein mÚgen, sondern mit den Fragen der Abgrenzung von Rassen, VÚlkerfamilien und Nationen zu tun. Dies fÝhrt zu den NaturvÚlkern und in Zeiten, deren Spuren sehr spÈrlich sind. Wo sie festen Boden hat, z. B. in den VerÈnderungen des Ornamentes an GÝrteln, Schildern, GewÈndern, wie sie besonders an GrÈberfunden verfolgt werden kÚnnen, geht sie dem nach.

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A. FrÝhe Texte zur Auseinandersetzung um eine deskriptive Psychologie

Geschichtsphilosophie und VÚlkerpsychologie S. 15 folgende, das Problem derselben richtig bezeichnet, daß der Geist nach Gesetzen wirkt, diese GleichfÚrmigkeiten aber Freiheit, Fortschritt und Entwicklung im Unterschiede von der Natur hervorbringen. HinzuzufÝgen wÈre gewesen: Individuation. Die Aufgabe, diese Verbindung von GleichfÚrmigkeit und Fortschritt, Gesetz und Freiheit, Gemeinsamkeit und Individuation zu finden, hat, was die VÚlkerpsychologen nicht erkennen, der ganzen Philosophie der Geschichte zugrunde gelegen. Lazarus hebt dreierlei hervor zur LÚsung. Erstens: Das Zusammenwirken mehrerer Elemente hat nicht das, was in der Summe derselben liegt, zur Folge, sondern etwas darÝber Hinausgehendes, anderes, noch nicht Dagewesenes. Zweitens: Durch solche Verbindungen entstehen neue Werte (16–17.) Drittens: Der Erfolg, der einen Fortschritt einschließt, wirkt selbst als Bedingung. Es wird zu einem Werkzeug. Dies ist in der Natur der Apperzeption begrÝndet, nach welcher neue Vorstellungen als apperzipierende Massen die weitere Auffassung der Welt und praktische Einwirkung auf sie ergeben. Endlich bilden sich so herrschende Ideen. Hier fÈllt zunÈchst auf die Àbereinstimmung mit Wundt, daß von der Apperzeption aus Erzeugung von Ýber das Vorhandene hinausgehenden Gedanken und von neuen Werten mÚglich sei, nur so den GleichfÚrmigkeiten der Natur das Gesetz der Entwicklung im geistigen Leben gegenÝbertrete. Aber beide, Lazarus und Wundt, sind hierin abhÈngig von Lotze. Seine Lehre ist zunÈchst sehr deutlich Mikrokosmus I. 198 ff.2 entwickelt: die Seele Ýbt nicht nur auf Reize die RÝckwirkungen, deren Folge die Entstehung der Empfindungen ist, sondern sie ist auch in jeder folgenden Lage schÚpferisch tÈtig und bringt nun Werte hervor. Dies geschieht, indem sie mit ihrer vollen Natur handelt, in jede Situation eingreift S. 200. Zu den ZustÈnden und den Gesetzen ihrer Wechselwirkung tritt die Natur der Seele als eine selbsthandelnde Macht hinzu S. 204. So entsteht die Entwicklung des Seelenlebens. Metaphysik S. 537 ff.3 Jede SchÚpfung in der Seele bildet neue Bedingungen zur Hervorbringung einer hÚheren. 2. Indem nun die Psychologie diese Aufgabe erfÝllt, ermÚglicht sie eine VÚlkerpsychologie, welche die kausalen Gesetze fÝr die Entwicklung der Menschheit enthÈlt, wogegen die Geschichte nur eine umschreibende Wissenschaft ist. So erfÝllt sie den Beruf, welchen die Philosophie der Geschichte nicht zu erfÝllen vermochte, weil sie nicht die GesetzmÈßigkeit4 der geschichtlichen Erscheinungen zu ihrem Gegenstande nahm, sondern den Inhalt und die Bedeutung derselben. –

1. *Zur Kritik der VÚlkerpsychologie von Lazarus und Steinthal

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Die Historiker werden protestieren. Ihr Ziel ist Kausalerkenntnis. Mit der Philosophie der Geschichte entsteht ein Streit, der auf dem Boden dieser Psychologie nicht auflÚsbar ist. Ihr Vorzug ist, daß sie inhaltliche Beziehungen aufsuchen; ihr mangelt aber eine dazu geeignete, inhaltliche Psychologie. Die VÚlker-„Psychologie“ vermag nicht, diesem Mangel abzuhelfen. Lehre von den einzelnen Volksgeistern (S. 38–62) In diesem Abschnitt zeigt sich deutlich, daß die VÚlkerpsychologie den Grundgedanken der historischen Schule psychologisch interpretieren und begrÝnden will, nach welchem die VÚlker die TrÈger der Kultur sind und jedes als TotalitÈt, als ein Volksgeist aus sich Sprache, Mythos, Recht und Volkspoesie hervorbringt. Wolf, Herder, Grimm, Bopp, Humboldt, Kuhn, die neuere Germanistik erscheinen hier als die AutoritÈten, auf welche die Theorie gegrÝndet wird. Wird von Hegel kein Gebrauch gemacht, so steht doch auch er im Hintergrunde. Indem nun aber die vorher benutzte, formale, mechanische Auffassung der Psychologie mit diesem Standpunkt der historischen Schule verbunden wird, dessen Voraussetzungen ihr ganz entgegengesetzt sind, entsteht Ýberall Unvereinbarkeit. Der Kern der sog. Historischen Schule ist, methodisch angesehen, vergleichend geschichtliches Verfahren. Die Probleme, welche in diesem Abschnitt aus der historischen Schule entnommen sind, sind auch nur durch ein solches Verfahren auflÚsbar. Es ist zweifellos, daß das dabei aufzuwendende psychologische VerstÈndnis ein wirksameres Instrument wird, wenn es wissenschaftlich geschult ist. So haben ja schon Turgot oder Herder oder gleichzeitig Buckle dasselbe versucht. Was fÝr ein Jahrhundert ist doch dasjenige gewesen, in welchem die rÚmische Aristokratie das bÈuerliche Staatsleben, das den Raum des Mittelmeeres teilweise beherrschte, zu einer Afrika, Spanien und Gallien regierenden Weltmacht umwandelte! Was fÝr ein weltgeschichtliches Jahrhundert, das die Kelten unterwarf, die Germanen zurÝckhielt, die romanischen Nationen begrÝndete! Diese Aristokratie vollzog eine Leistung, welche allein dem großen Zeitalter der englischen Aristokratie unter den Pitts verglichen werden kann. Und zu dem GrÚßten in dieser Leistung gehÚrt, wie diese Aristokraten sich aus ihrer abgeschlossenen, bÈuerlich-kriegerisch, fÝrstlich-politischen Bildung zu einer Weltbildung durch die Aufnahme des griechischen Geistes erweiterten. – Vergleichendes Verfahren in der Geschichte Die Analysis der großen Gestalten des geschichtlichen Lebens ist nur ausfÝhrbar vermittelst der universalhistorischen Betrachtung. Daher ist geschicht-

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A. FrÝhe Texte zur Auseinandersetzung um eine deskriptive Psychologie

liche Betrachtung nur insofern philosophisch oder sogar mir lieber wirklich analytisch, sofern sie universal ist. Es ist hÚchst merkwÝrdig, daß diese Betrachtungsweise Dinge sehen lÈßt, welche der eingeschrÈnktere Blick gar nicht gewahrt. Indem nÈmlich die vergleichende Betrachtung große Formen des geschichtlichen Lebens aneinanderhÈlt, bemerkt man erst, wie das, was man als selbstverstÈndlich als ihren GrundzusammenhÈngen naturgemÈß eigen betrachtet hat, vielmehr die letzten, allgemeinsten, weniger sichtbaren Eigenschaften der geschichtlichen Epoche sind, durch welche diese sich von anderen unterscheidet. Ich nehme die Epoche der rationalen Philosophie und Wissenschaft im 17. Jahrhundert. Die letzten Voraussetzungen, welche diese Menschen untereinander gemein hatten, sprachen sie gar nicht aus. Ich finde sie nur, indem ich Galilei, Descartes, Spinoza, Hobbes, Leibniz, viele Geringere dazu aneinander halte, dann aber Hume, Kant mit ihnen vergleiche. Da bemerke ich dann, daß mir SÈtze, deren sie sich bedienten, solange ich ihre Schriften las und noch nicht Ýber dieselben hinausgeschritten war, als selbstverstÈndlich erschienen sind, wÈhrend sie dann doch nachher aufgehoben wurden. So kann ich nun den geschichtlichen Horizont dieses Zeitalters bestimmen. Ich kann die Denkvoraussetzungen desselben sichtbar machen. Der universalgeschichtliche Blick hat mich [Ýber] die letzten, entscheidenden ZÝge dieses Zeitalters aufgeklÈrt. Von dem Ganzen aus wurden mir die Teile verstÈndlich. Dieselbe Bedeutung hat universalgeschichtliches Sehen fÝr das VerstÈndnis der Literatur. Dies macht sich sehr deutlich bemerklich in den Literarhistorikern eines einzelnen Volkes, welche keine zureichende Kenntnis der Literatur andrer Nationen hatten. Aber man kann auch die einzelnen, geschichtlichen Zeitalter in ihrer GemÝtsverfassung, ihrer Auffassung menschlicher Individuation, den Formen ihrer Imagination, dem Wechsel ihrer Technik durch ein vergleichendes Verfahren sich zum Bewußtsein erheben. Nur so erkennt man die begrenzenden Linien und dadurch doch erst die Physiognomie einer literarischen Epoche. Es gibt noch immer Personen, welche in Goethes Dichtungsweise gleichsam die Individuation der Poesie erblicken. Die in ihm den Statthalter der Poesie auf Erden sehen. Andere, um nur Gervinus zu nennen, finden in Shakespeare die absolute Erscheinung des Dramas auf der Welt. Von dieser Bezauberung, welche das Genie auf uns ausÝbt, befreien wir uns nur, indem wir durch universalhistorische Vergleichung genauer sehen lernen. Nun bemerken wir, daß ZÝge, welche wir als absoluten Charakter aller Poesie ansehen, vielmehr gerade besonders tief den Charakter einer literarischen Epoche bezeichnen. –

2. *Die Psychologie und das Studium der gesch.-ges. Wirklichkeit

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2. *Die Psychologie und das Studium der geschichtlichgesellschaftlichen Wirklichkeit

[I.] § I. Der Tatsacheninbegriff von Geschichte oder Gesellschaft ist zusammengesetzt aus kÚrperlichen und psychischen VorgÈngen. Die letzteren sind Úrtlich, d. h. im Raume oder dem, was ihm entspricht, verteilt, und zwar ist ihre Grundgestalt die von Individuis mit einheitlichen Zentren, als welche durch ein verknÝpfendes Selbstbewußtsein und dessen Zusammenhang Einheiten bilden. Diese Zentren sind Úrtlich verteilt, d. h. sie sind mit einem kÚrperlichen Mechanismus durch Wechselwirkung verbunden, und dieser bewegt sich inmitten der anderen KÚrper. DemgemÈß verÈndern sie bestÈndig ihren Ort im Raume und im System der Wechselwirkungen. § II. Wir mÝssen das Psychische auf dem Erdganzen als Gesamtmasse betrachten, wie wir auch das KÚrperliche ansehen. Indem man nun diese Gesamtmasse in bezug auf ihre Konstanz im Lauf der Zeit betrachtet, kann man verschiedene Auffassungen entwickeln. Das Psychische wird ausgelÚst von kÚrperlichen Bewegungen; es vermehrt sich unter materiellen Bedingungen. Das Malthussche Gesetz kann als Exemplifikation betrachtet werden. Jedweder nun, der das Psychische solchergestalt fÝr sich betrachtet, das Gesetz der Erhaltung der Kraft durchbricht. Man nimmt mit Riemann [?] ein metaphysisches VerhÈltnis an, durch welches die gÈnzliche Allgemeinheit des Gesetzes aufrecht erhalten wird, oder man leugnet mit Ueberweg (Lange) die Anwendbarkeit desselben auf das Psychische. § III. Die Zentren psychischer Wirkungen zeigen in sich Entstehung, Wachstum und Untergang. FÝr das Erdsystem der Wechselwirkungen sind sie jedenfalls nur vorÝbergehend und in bezug auf ihr Kraftquantum wechselnd. Das Sy-

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A. FrÝhe Texte zur Auseinandersetzung um eine deskriptive Psychologie

stem der Generationen, innerhalb dessen sie sich ausleben, ist das GrundgefÝge der Gesellschaft und Geschichte. § IV. Diese Zentren bringen ferner zwei Klassen von UmÈnderungen hervor. Sie sind befÈhigt, VerÈnderungen in der materiellen Welt hervorzubringen, und sofern sie das vermÚgen, schrieb man ihnen Wille zu. Diese ihre Wirkung ist direkter Natur, und die MÚglichkeit derselben liegt in der Beziehung des Wollens zu unserem Bewegungsmechanismus, in welchem somit eine der wichtigsten VerknÝpfungsformen des Kosmos liegt. Alsdann bringen diese Zentren indirekter Weise, durch Vermittelung der Außenwelt, Wirkungen auf andere psychische Wesen hervor. Daß psychische Zentren keine unmittelbare Einwirkungen aufeinander haben, ist keineswegs selbstverstÈndlich, sondern bildet einen der am meisten charakteristischen ZÝge der Struktur des Erdganzen. Daher die Phantasie auch jederzeit mit der MÚglichkeit anderer Anordnungen gespielt hat. § V. Der fundamentale Begriff fÝr die sozialen Studien liegt in der Wirkung eines psychischen Zentrums. Und zwar ist der wichtigste und schwierigste Teil dieser Wirkungen: Wirkung eines psychischen Zentrums auf andere.

[§ VI.] Gesellschaft: ein Ausdruck fÝr die VerknÝpfung zwischen gleichzeitigen Individuen. Geschichte: der entsprechende Ausdruck fÝr die VerknÝpfung der Gesellschaften, sozusagen in ihrer Aufeinanderfolge. Die Analyse dieses Ganzen muß von einer realistisch und anschaulich gefaßten Vorstellung desselben ausgehen. Man betrachtet zunÈchst das geistige Leben in diesem Ganzen unter dem Begriff einer psychischen Masse. Dieselbe unterscheidet sich von dem Kraftquantum der materiellen Welt zunÈchst dadurch, daß sie nicht konstant ist. Nicht als ob wir Ýber die MÚglichkeit ihrer metaphysischen Konstanz irgend etwas wÝßten; es kÚnnte sein, daß sie nur in ihren vermittelst der Außenwelt sichtbaren Wirkungsweisen variabel wÈre. Aber um diese handelt es sich hier allein. Und zwar treten die Einzelganze dieser psychischen Gesamtmasse in gesetzmÈßiger Verbindung mit KÚrpern auf, treten an ihnen in Wirkung,

2. *Die Psychologie und das Studium der gesch.-ges. Wirklichkeit

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wachsen – erreichen eine ganz verschiedene MÈchtigkeit und verschwinden dann wieder in bezug auf ihre Wirkung, wie sie vermittelst der Außenwelt sichtbar wird. Ein jedes solches Ganze ist durch die als Selbstbewußtsein gegebene Tatsache zu einem Zusammenhang verbunden und von jedem anderen Teil der psychischen Gesamtmasse gesondert. Auch dies gilt nur von der Weise, wie das Individuum sich findet, sich selber erscheint. Indem wir uns dies nÈher verdeutlichen, gilt es von neuem, jede Analogie mit den Tatsachen der materiellen Welt abzuhalten und Begriffe zu bilden, welche gÈnzlich unabhÈngig und unbefangen ausschließlich aus den Tatsachen der geistigen Welt abgeleitet sind. Das Einzelganze, welches durch Selbstbewußtsein verknÝpft ist, besteht als solches im Bewußtsein in keinem Augenblick. Es ist nicht mÚglich, durch irgendeinen psychischen Akt anders als in gewissen unbestimmten Abstraktionen es vorzustellen. Es ist ebenso wenig mÚglich, es durch irgendeinen psychischen Akt in seinen verschiedenen Teilen in TÈtigkeit zu bringen. Es ist als ein solches fÝr uns Ýberhaupt nur eine abstrakte Annahme; wo das Leben beginnt, aus eigenem Mittelpunkt differenzierend und sich erhaltend, da ist fÝr uns sein Bild in keinem Einzelmoment seiner Existenz, sondern nur in dem Àberblick Ýber seinen Verlauf. Wo ein psychisches Ganze in Wirksamkeit tritt, da kann es als die hÚchste Form von Leben Ýberhaupt, die wir kennen, nur in seinem Ablauf von uns vorgestellt werden: zeitliche Sukzession ist seine Grundform, es existiert nur in seiner Geschichte. Das aber ist nur eine Form unserer Betrachtungsweise. Die Wissenschaft kann nur gebaut werden auf Begriffen, welche die ursÈchlichen VerhÈltnisse auszudrÝcken gestatten. In dieser Beziehung entspricht der dargelegten Betrachtungsweise die Tatsache der besonderen Art von Fortwirkung psychischer TatbestÈnde. Jeder Tatbestand der Natur dauert fort in seinen Wirkungen. Er bildet eine Bedingung folgender TatbestÈnde; dagegen dauern psychische TatbestÈnde in einer anderen Weise fort. Wir kÚnnen diese Weise nur bezeichnen aus jenen Wirkungen. Ihre innere RealitÈt ist fÝr uns ebenso ein Geheimnis als das Wesen der NaturvorgÈnge. Die Wirkungen aber, welche wir gewahren, sind, daß jeder psychische Tatbestand, welcher einmal im Bewußtsein war, unter gewissen UmstÈnden in demselben wenigstens als Vorstellung wieder erscheinen kann, daß er demgemÈß als solcher zu wirken fortfÈhrt, abgesehen von der nÈchsten Wirkung, welche er auf den nÈchstfolgenden und die weiteren ZustÈnde besaß. DemgemÈß hat jede psychische Tatsache zwei Klassen von Wirkung, sie bedingt den nÈchstfolgenden Zustand, und sie kann als solche unter gegebenen Bedingungen wieder erscheinen und neue Reihen von Wirkungen hervorbringen. Das Bild eines Menschen, welches ich mir zu einer gegebenen Zeit entwarf, bedingte damals meine Handlungsweise oder meine

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allgemeinen Begriffe Ýber die menschliche Natur. Ganz so, wie ein Lichtstrahl entweder in einer Pflanze gewisse VerÈnderung hervorbringt oder auch auf der Platte eines photographischen Apparats mit wirksam ist, ein Bild hervorzubringen. Aber die Wirkung des Lichtstrahls ist damit erschÚpft. Er vermag nur das eine oder das andere. Er setzt sich in eine neue Wirkungsform der Natur um, in welcher er nur fortbesteht, um neue Umformungen zu erfahren. Dagegen, jene Vorstellung eines Menschen, einmal gefaßt, bringt Ýber ihre erste Wirkung hinaus immer wieder neue Wirkungen hervor. Dies ist die UnvergÈnglichkeit relativer Natur, welche psychischen Tatsachen eigen ist im Gegensatz zu allem Materiellen. Indem wir Tatsachen, welche andere Tatsachen bedingen, als Ursachen bezeichnen, jede Ursache aber als eine in einer bestimmten Form wirksame Kraft, finden wir, daß jeder psychische Zustand eine Tatsache ist, welche als solche als Kraft betrachtet werden kann. Aber diese KrÈfte zeigen andererseits eine Eigenschaft, welche sie von denen der materiellen Welt gÈnzlich unterscheidet und welche als der letzte Grund fÝr die Bildung des merkwÝrdigen Begriffes von VermÚgen betrachtet werden muß. Eine materielle Tatsache wirkt unfehlbar so lange sie existiert; von einer psychischen Tatsache dÝrfen wir nur so viel sagen, daß sie unter bestimmten Bedingungen wirken kann. Herbart beansprucht, den Begriff5 des VermÚgens fÝr alle Zeiten vernichtet zu haben. In Wirklichkeit gab er eine unbeweisbare Hypothese wieder, um an die Stelle einer willkÝrlichen metaphysischen Annahme eine andere ebenso willkÝrliche und in Analogie mit den Gesetzen der materiellen Welt gebildete zu setzen. Sofern aber der Begriff des VermÚgens nur Ausdruck einer Tatsache der psychischen Erscheinung ist, ist er berechtigt.

II. Die psychischen Tatsachen als KrÈfte betrachtet, verhalten sich innerhalb der psychischen Gesamtmasse in verschiedener Weise, und dies ist das Grundproblem fÝr die gesamte Analyse des Systems der KrÈfte in der Gesellschaft. Hier ist auch eine der wichtigsten Stellen des Zusammenhanges zwischen Psychologie und Soziologie. Was in der Gesellschaft eine bestimmte genaue feststellbare Wirkungsform zeigt, in ihr als eine bestimmte Klasse von Kraft auftritt, das muß in der Psychologie in bezug auf seine Gesetze erforscht werden, soll diese der Soziologie zugrunde gelegt werden.

2. *Die Psychologie und das Studium der gesch.-ges. Wirklichkeit

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1. Vorstellungen in ihrer Beziehung auf GegenstÈnde verhalten sich indifferent zu ihrem psychischen Ort: sie bringen ihre Wirkungen hervor, gleichgÝltig dagegen, ob in dem Individuum, in welchem sie entsprangen oder Ýbertragen, sie existieren vermÚge des individuellen Bewußtseins in dem Gesamtsystem der Vorstellungen. Daher bilden Egoismus und Intelligenz einen unablÈssigen Gegensatz; das Denken als solches verhÈlt sich ganz indifferent zu dem psychischen Ort, an welchem ein Gedanke entsprang, und der bedÝrftige Wille fÝhrt Verirrungen ein in die intellektuelle Welt. 2.6

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3. Der Standpunkt einer empirischen Psychologie

Es ist eine Hypothese 1) daß der Bewußtseinsstand eines gegebenen Momentes Ausdruck, Symbol, ReprÈsentation der vorhandenen Gehirnnervenprozesse sei. Es ist 2) eine damit folgerichtig verbundene Hypothese, daß aus Element und Verbindung in zunehmenden Komplikationen alle schÚpferischen und einheitlichen VorgÈnge des Seelenlebens entspringen. Hiermit hÈngt die weitere Hypothese zusammen 3) daß der Wille eine sekundÈre Erscheinung sei. Die Wissenschaft hat ein Interesse daran, daß diese Hypothesen an den hÚheren Erscheinungen des Seelenlebens erprobt werden. Einzeluntersuchungen psychophysischer Art werden von diesen Voraussetzungen stets am besten ausgehen, denn sie beschrÈnken sich auf das niedere Seelenleben, innerhalb desselben treffen aber diese Voraussetzungen nahezu zu. Dagegen die Aufgabe, das Seelenleben als ein Ganzes nach seinen kausalen VerhÈltnissen aufzufassen, erfordert eine andere Methode. Und diese Methode ist die, Ýberhaupt allein berechtigte, welche zu einem unbefangenen Studium dieses Zusammenhangs angeleitet werden soll. Auch hier mÝssen zunÈchst die elementaren VorgÈnge, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, sinnliches GefÝhl, Triebleben, beschrieben, ihre Bestandteile und Gesetze analytisch aufgezeigt werden. Aber schon hier zeigt die eindringendere Analyse eine Beziehung des einzelnen Vorgangs zum Ganzen, welche sich der ErklÈrung durch jene psychische Atomistik entzieht. Schon hier tritt in den Reproduktionen vielfach nicht tote Wiederholung, sondern eine schÚpferische Formierung der Spur hervor, welche ebenfalls jene psychische Atomistik nicht zu verstehen vermag. Noch stÈrker aber macht sich der Unterschied bei der Behandlung der hÚheren BewußtseinsphÈnomene geltend. Sie gehen ohne Zweifel aus den niederen hervor. Die niederen bilden ihre Grundlage. Aber sie sind durchaus nicht bloß zusammengesetzt von Verbindungen, die aus den elementaren gÈnzlich abgeleitet werden kÚnnen. Die AusdrÝcke Entwicklung, Evolution, Entfaltung sprechen zutreffend die Art von KausalitÈt aus, welche hier waltet: das Urteil entsteht ja zweifellos, indem die elementaren Operationen eines distinkten Willensaktes getrennte Bestandteile, Allgemeinvorstellungen in sich aufnehmen. Es kÚnnte nirgend ohne diese Bedingungen entstehen, aber es ist auch keineswegs die bloße Summe derselben. Das Bewußtsein von GÝltigkeit und Notwendigkeit in ihnen trennt es von den unteren VorgÈngen. Das Bewußtsein der moralischen Pflicht, die Tugend der Selbstaufopferung sehen natÝrlich in der Freude des Menschen an einer Arbeitsaufwand einschließenden TÈ-

3. Der Standpunkt einer empirischen Psychologie

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tigkeit, in der Freude an der inneren Konsequenz des Willens, der eine vollzogene Verpflichtung festhÈlt, ihre Grundlage. Ohne diese Grundlage wÝrden sie nicht entstehen. Aber das Sollen, welches in den sittlichen VorgÈngen auftritt, kann aus solchen Bedingungen nicht abgeleitet werden. Das Wirken des Genies in Phantasiebildern enthÈlt ebenso etwas SchÚpferisches, das Ýber die Bedingungen hinausreicht, aus denen es hervorgeht. Àberall machen sich hier die frÝheren Stufen geltend: der ganze erworbene Zusammenhang des Seelenlebens ist mit tÈtig; eine Art Evolution findet statt; der neue Vorgang zeigt Ýberraschende singulÈre, die Tiefen des Seelenlebens erleuchtende Eigenschaften. Die Hypothesen-Psychologie konstruiert aus den Bestandteilen und Gesetzen nÈmlicher Art, die sie aus den ElementarvorgÈngen abzieht, diese Erscheinungen. Die Aufgabe ist vielmehr, sie nun erst richtig, voll und ganz zu sehen, unglaublich wenig tiefe Beobachtung, unbefangenes Gewahren ist in den Arbeiten dieser Schule. Das einfachste und wichtigste GeschÈft des Psychologen gewÈhrt das gleichfÚrmige Herausheben, das Beschreiben ist hier Ýberall vernachlÈssigt. Analysieren wird durch Konstruieren ersetzt. Das Singulare der geistigen Erscheinungen kommt nicht zu vollem VerstÈndnis. Hiervon ist dann die Folge, daß eine Psychologie dieser Art die anderen Geisteswissenschaften nicht zu begrÝnden vermag. Sie kennt nur sittliche GlÝckseligkeitslehre, Religion als Befriedigung derselben durch Illusionen, SchÚnheit als das, was der grÚßtmÚglichen Zahl den grÚßten Eindruck macht. Recht als Èußere Sicherung, Staat als Assekuranzgesellschaft.

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4. Grundlegung der Psychologie

Die Aufgabe, welche die Psychologie stellt, kann nur nicht in bestimmter Weltanschauung gelÚst werden. Falls es mÚglich sein sollte, das Wesen der Seele festzustellen, ihr VerhÈltnis zum KÚrper zu erklÈren: so wÝrde dies eine allgemeine Weltanschauung zugleich feststellen, in welcher die geistige Welt und die KÚrperwelt begriffen wÈren. In diesem Zusammenhang betrachtet das GemÝt diese schÚpferischen [?] KrÈfte, die den Grund der mythologischen Weltansicht enthalten, und die bestimmenden Motive der großen, die Welt aus Ideen begreifenden Systeme. Die Seele wird ihre Wissenschaft. Ursprung, Wesen und Schicksal derselben, ihr VerhÈltnis zur kÚrperlichen Welt, ihre Beziehung zum letzten Grund der Dinge: diese Fragen streben nach einer LÚsung, und auf dem Hintergrund des gÚttlichen Weltganzen verlÈuft ein bestimmtes Schicksal der Seelen. Dieser metaphysische Trieb schafft die mÚglichen Weltanschauungen, nach dem ihm einwohnenden Gesetz seiner Ausbildung [?]. Die Grundlegung der Psychologie vollzog sich demnach zunÈchst in SchÚpfungen, welche einen Zusammenhang des Weltganzen der Seelen und ihr Schicksal begreiflich zu machen unternahmen. Man kann Ýberhaupt fragen: welche Weltanschauungen aufgrund unserer intellektueller Organisation und der Art, wie ihr die Welt gegeben ist, mÚglich seien. Hier gibt es nur dann eine vernÝnftige Antwort, wenn irgendein Problem als das Grundproblem aller Philosophie festgestellt wÈre. Dieses wÝrde dann den Gesichtspunkt und das fundamentum divissimi fÝr die wahre Klassifikation der philosophischen Systeme geben. Lege ich das Erkenntnisproblem zugrunde, so erhalte ich die Einteilung der Weltansichten von Fries: Materialismus – Dualismus – Idealismus. (?)

5. FÝr die neue Durcharbeitung der Psychologie

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5. FÝr die neue Durcharbeitung der Psychologie

DurchfÝhrung meines kritischen Standpunktes. 1. Alles nur Relationen zwischen den an sich erkannten psychischen VorgÈngen und den gÈnzlich phÈnomenalen kÚrperlichen. 2. Keine einzelpsychologische Transzendenz, sondern alle Fragen Ýber den Beginn des Seelischen, angeborene Natur von Willen etc. Wir kennen nur die Prozesse. 3. Vorzeitig ist jedes deduktive System. Generalregel: Wir verfolgen nur den kleinen Faden, suchen aber Ýberall empirische Gesetze, deren Evidenz nicht auf den ersten Annahmen, sondern der Erfahrung ruht. Alle Gesetze der psychischen Entwicklung, den eigentlichen Mittelpunkt der Psychologie, muß ich suchen, in aus Erfahrung festgestellte empirische Gesetze umzuwandeln. Drei Teile: 1. Physiologische Psychologie. 2. Psychologie als System aus innerer Erfahrung geschÚpfter psychischer Gesetze (Elemente und Grundgesetze). 3. Psychologie als Entwicklungsgeschichte der Intelligenz, des Wissens etc. in der Menschheit, in welcher innere Erfahrung und Geschichte kombiniert werden. [. . .] Zweite Generalregel: Die erklÈrende Psychologie ist ein bloßes Ideal einer Wissenschaft, keine vorhandene Wissenschaft. – Man muß daher offen und ehrlich die Methode der bloßen sauberen Beschreibung verknÝpfen mit der ErklÈrung. So z. B. Urteil, kann nicht abgeleitet werden – ebenso das •sthetische nicht, Wollen nicht etc. Das heißt, man kann Ableitungen geben, aber sie sind nicht beweisbar. Dritte Generalregel, welche an Spitze zu stellen: Ich will nicht wirken durch eine großartige Totalansicht, sondern, was schwerer ist, durch Wahrhaftigkeit. – Das kann nur, wer pur kantisch die

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Grenzen der Erkenntnis nobel gesteht und besser kantisch [ist] als Kant selbst. – Die GrÚße des Darzustellenden liegt in dem Unermeßlichen des aufgeschlossenen Inneren der Menschennatur, in der Einsicht in ihre GesetzmÈßigkeit, in dem deutlichen GefÝhl ihrer HeterogenitÈt und innerlichen Àberlegenheit Ýber alles Physische.7

6. *Zur Systematik der psychischen ZustÈnde

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6. *Zur Systematik der psychischen ZustÈnde

Kant I. Drei Beziehungen von Inhalten, welche also vorausgesetzt werden, aber sie mÝssen doch auch entstanden sein = 4. II. Unterschied dieser Begriffe richtig, aber nur durch Folgeerscheinungen gewonnen, was diskutiert werden kann. III. Er hat es mit komplexen ZustÈnden zu tun. Die Vorstellungen [sind] schon vorhanden. I. Unterschied von Kant und Lotze – Hamilton: 1. [a)] Kant bezeichnet als GefÝhl etc. ein Verhalten des Bewußtseins zu seinen Vorstellungen, terminologisch also bezeichnet er als GefÝhl, in VerhÈltnis zu Vorstellung: Beziehung der bewußten Vorstellung im Bewußtsein zum Selbst. – b) Auffassung von Wille schon inhaltlich verschieden bei Kant und Lotze. Kant: Wille = Vorstellung: Beziehung des Vorstellens zum Objekt als zu realisieren. Lotze-Hamilton = Vorstellung: GefÝhl: Wille – sie schieben also das GefÝhl als notwendiges Mittelglied ein. c) Inhaltlich das Vorstellen Lotzes und Erkennen nicht verschieden. 2. Kant gibt die Stellung der Vorstellung im Bewußtsein als Merkmal des psychischen Zustandes. Lotze-Hamilton beziehen sich auf die erlebte TatsÈchlichkeit. Kritik Kants 1. Die Bestimmung des GefÝhls bei Kant hat als Merkmal: Beziehung der VerÈnderung auf die eigene ZustÈndlichkeit. – Dies soll stimmen fÝr Lust und Unlust. Aber die MuskelgefÝhle, die TemperaturgefÝhle sind in erster Linie GefÝhle im Sinne des Kantschen Merkmals. – Sie sind aber nicht Lust- und UnlustgefÝhle in anderem Sinn als in dem, daß GefÝhle auch von solchen begleitet sein kÚnnen. 2. Indem Kant ZustÈnde oder psychische Tatsachen schildert und als solche das Bild vom Wahrnehmungszustand oder GefÝhlszustand trennt, lÈßt er den Anteil von GefÝhl im ersten und Wille im zweiten Falle aus. [. . .] Kritik Lotzes 1. Er definiert den Begriff von VermÚgen als eine psychische Funktion, welche schlummert. Alsdann (196)8 lÚst die •ußerung der einen die TÈtigkeit der folgenden aus. a) Klar, daß hierdurch von vornherein Begriff von Funktionen

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oder KrÈften der Seele, auf denen Gesetzlichkeit beruht, aufgehoben, also stetiges Schwanken p. 197. b) Das GefÝhl geht bei Betrachtung [?] etc. dem Vorstellen tatsÈchlich vorher. c) Gar nicht einzusehen, warum und unter welchen Bedingungen. Denn eine Farbe hat einen GefÝhlston fÝr sich, in dem Zusammenhang soll sie ihn dann nicht mehr haben? 2. Richtig bewiesen, daß die drei Tatsachen voneinander unabhÈngig. Einwand Brentanos: dann auch das Rotsehen, GrÝnsehen = wenn wir von Komplikationen zu ersten konstitutiven Elementen gehen, so bilden diese eine Vielheit. – Das leugnet Lotze nicht, will sie nicht aufeinander zurÝckfÝhren, aber er findet Rotsehen, Blausehen etc. gleichartig; so daß Eine psychische Funktion, die ja nicht eine einfÚrmige Leistung ist, zugrunde liege. 3. Die von ihm festgestellte Stufenfolge der AuslÚsungen ist eine Modifikation der VermÚgenstheorie – aber sie ist keine Verbesserung. Richtig daran ist das Schema der AuslÚsung der aufnehmenden TÈtigkeiten durch die aktiven. Falsch die AuslÚsung der Wahrnehmung durch GefÝhl. – In den sinnlichen OrgangefÝhlen kann die Sache natÝrlich so nicht vorgestellt werden. – Es gibt ZustÈnde, in denen das GefÝhl das erste. – NatÝrlich setzt dagegen ein GefÝhl, das sich auf eine Vorstellung bezieht, diese voraus, wird aber deswegen nicht durch sie ausgelÚst, sondern geht [darin] auf, und der Wille wirkt auch seinerseits auf Vorstellungsverlauf. Hier ebenso Lotze [. . .]. Brentano irrt, wenn er diese Einteilung der Kants gleich setzt. Die Operation in diesen beiden Einteilungen ist verschieden. Kant will drei tatsÈchliche ZustÈnde aufstellen, die aus Beziehungen des Bewußtseins zu Vorstellungsinhalt sich ergeben. – FÝr Lotze ist Vorstellung selbst ein Glied der Einteilung. Er stellt psychische Teilinhalte, Abstraktionen auf. – Dieses am deutlichsten bei der Vorstellung – GefÝhl ist eine Art Reaktion auf Vorstellung etc. Trotzdem sind die beiden Einteilungen Ýbereinstimmend in bezug auf ihre Betrachtungsweise des Tatbestandes. Ausgenommen, daß Lotze scheint aus Vorstellung das Denken entwickeln zu wollen.9

A. Vorstellungen Erster Satz: Ausgangspunkt: In allen psychischen Tatsachen ist ein Qualitatives enthalten, das wir mit einem allgemeinsten Ausdruck als Vorstellungsinhalt bezeichnen wollen. Schwierigkeit der Terminologie.

6. *Zur Systematik der psychischen ZustÈnde

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Jede psychologische Untersuchung, will sie die psychischen Tatsachen, die sie feststellt, nennen, Verteilung des Vorhandenen. Doppelter Gebrauch des Wortes: Vorstellen. Ich unterscheide den Vorstellungsinhalt, welcher ein Teilinhalt einer psychischen Tatsache ist, und die Vorstellung, welche als unsere Wahrnehmung zurÝckbleibt. Schwierigkeit [?] dieser Terminologie. Erstens Vorstellungsinhalt sei: grÝn, blau etc. – so weit klar. Wir kÚnnen sozusagen im Experiment einen solchen Vorstellungsinhalt isolieren, dagegen im gewÚhlichen Verlauf des psychischen Lebens kommen sie nicht vor. Klar in den hÚheren Zusammensetzungen FÝrchten, Wahrnehmen etc. Alsdann Endpunkte dieser Reihe schwer zu verfolgen, da sie sich in das GefÝhl ganz zu verlieren scheinen, wie NervenfÈden, die man nicht mehr auffinden kann. Hierdurch entstehen die Bedenken gegen diese psychologischen Tatsachen – z. B. Meyer, dagegen Brentano. Meyer10 93 „Nun braucht die einfachste Form dieser Empfindung nicht mehr zu sein als ein bloßes Empfinden der zufolge irgend eines Reizes eingetretenen VerÈnderung des eigenen Leibes oder eines Teiles desselben.“ = „LebensgefÝhl fÝr die VorgÈnge unter der eigenen Haut“.11 Nun nimmt er an, in dieser Umgrenzung kommen die psychischen ZustÈnde vor. So bei niederen Tieren: „Auch den hÚheren Tieren und den Menschen fehlen GefÝhle und Begierden ohne Vorstellungen nicht, die eben deshalb dunkle GefÝhle und dunkle Begierden genannt werden, weil in ihnen kein Objekt vorgestellt wird.“12 Das Leben unserer Seele wird sicherlich mit solchem FÝhlen und Begehren anfangen. Er schlÈgt daher vor, von den GefÝhlen auszugehen. – Denselben Ausgangspunkt teilt Horwicz. Aber Brentano13 p. 105, wohl mißverstÈndlich, daß hierin schon Vorstellung von Ursache und Wirkung (wegen des „zufolge“ wohl) enthalten sei, dagegen mit Recht, daß darin eine gewisse rÈumliche Bestimmtheit des GefÝhls; vor allem wird darin eine Inhaltlichkeit oder QualitÈt desselben enthalten sein – die einen Vorstellungsinhalt in unserem Sinne in sich schließt: Brentano 108: Schneiden, Brennen, Kitzeln etc. enthalten neben der Úrtlichen Bestimmtheit auch eine besondere sinnliche Beschaffenheit in sich, analog der Farbe etc. Wie wir an einem Ton, der schrill oder mild ist, den Vorstellungsinhalt und das GefÝhl, das er erzeugt, unterscheiden, so auch hier. Hier wirkt mit, daß die QualitÈt, welche den Vorstellungsinhalt des GefÝhlszustandes ausmacht und dieser selbst nicht zwei besondere Namen tragen. Nennen wir das PhÈnomen Schmerz. Zweiter Satz: Dieses Vorstellungsresultat bildet eine durch psychologisches Experiment isolierbare Tatsache. Wir kÚnnen grÝn, eine Richtung der Bewegung, KitzelgefÝhl etc. isoliert vorstellen. Aber in dem natÝrlichen Vorstellungsverlauf findet sich kein psychischer Zustand, d. h. keine psychische Tat-

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sache, welche aus einer solchen Vorstellung gebildet wÝrde. Aber wie ein Versuch? Zur Kritik der psychologischen Erkenntnis wÝrde auch weiter gehÚren die des Einflusses des psychologischen Experimentierens auf die psychischen Tatsachen, welche so entstehen. Blau ist nunmehr eine TatsÈchlichkeit, die vorgestellt wird und welche im Zusammenhang mit den Willensakten eines herzustellenden psychologischen Versuchs ihr Dasein hat. Dritter Satz: Vorstellen kann nicht von Urteil als von einer zweiten Klasse gesondert werden; denn diese sind homogen. Daher kÚnnen wir die Einteilung von Brentano nicht billigen, welcher den Vorstellungsinhalt als „Vorstellen“ neben Urteil und GefÝhl-Wille stellt, als eine ihnen in der Stellung ganz vergleichbare erste Gruppe. Ich meine, die Tatsache, daß das Vorstellen in allen psychischen Akten enthalten ist, muß eine solche MÚglichkeit in dem Zusammenhang Brentanoscher Theorie ausschließen. 1. Dieses ist nicht so beweisbar wie die SÈtze Lotze-Hamilton. Denn manche der VorgÈnge sind natÝrlich homogen. Daher denn auch ihre Ableitung von jeher als Aufgabe betrachtet wurde. Nicht zufÈlligerweise sind wohl manche von diesem Tatbestand ihrer HomogenitÈt ausgegangen. Eine diesem Tatbestand zum Trotz sondernde Ansicht mÝßte jede MÚglichkeit einer anderen ErklÈrung ausschließen. Das leistet aber Brentanos Argumentation nicht. Denn man kann das Besitzen einer Wahrnehmung und eines Grundvorgangs des Denkens, den wir Urteil nennen, aus der Beziehung der SimultaneitÈt zum Vorstellungsvorgang ableiten, und selbst, wenn dieses sich nicht hielte: eine solche Ausschließung einer ErkenntnismÚglichkeit ist ihrem Wesen nach immer nur provisorisch. 2. Die vollstÈndige Koordination bei Brentano entspricht seinem eigenen System nicht.14 Denn gemÈß dieser Theorie hat das Vorstellen eine weit fundamentalere Stellung als etwa das Urteil, da es Ýberall vorkommt, das Urteil aber nicht. Die Grundbestandteile des Urteils: Setzung einer Vorstellung, Unterscheiden, Beziehen, sind in jedem wirklichen und vollen Wahrnehmen enthalten. Der isoliert vorgestellte Vorstellungsinhalt ist ausgelÚst aus einer wirklichen Wahrnehmung oder der ihm entsprechenden Vorstellung oder aus GefÝhl oder aus Begehren. Dieser Vorstellungsinhalt, wo er nicht eine TatsÈchlichkeit in sich faßt, wie sie zunÈchst in der Empfindung gegeben ist, ist ein bloßer Teilinhalt aus einem solchen Bestande und hat keine Existenz fÝr sich.15 Das Minimale ist der Vorstellungsinhalt im Muskel- oder LebensgefÝhl. Hierbei kritisch: es gehen Vorstellungen in rascher Verkettung, z. B. beim Lesen, durch unser Bewußtsein, welche aber nicht einen Vorstellungsinhalt fÝr sich aus-

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machen, sondern Teile einer Bewußtseinseinheit sind. Hier hat die atomistische Theorie sehr gesÝndigt [?]. Ich meine, diese Darlegungen machten [es] ratsam, die niedrigsten Formen des psychischen Lebens ins Auge zu fassen. Die komparative Betrachtung in der Psychologie muß diesen Ausgangspunkt wÈhlen.

B. Die GefÝhle Terminologie. Man spricht von TastgefÝhl, MuskelgefÝhlen, AllgemeingefÝhlen. Bei MuskelgefÝhl Grund, daß eigener Zustand an sich verbleibt und erst durch Bezug auf Tast- oder Gesichtssinn zu Außenraum wird. Das Moment des Zustandverbleibens und das der Außenansicht decken sich nicht. Die Frage, ob jeder status conscientiae auch eine Erregung in sich enthalte, pflegt in der neuesten Psychologie so nicht gestellt zu werden. 1. GefÝhle in ihrer ganzen Ausdehnung zu nehmen: Lust und Unlust, Billigung und Mißbilligung, das Èsthetische und das sittliche GefÝhl einzuschließen. 2. Der Nachweis. A. 1. Empirischer Nachweis des GefÝhls in den verschiedenen Tatsachen des Bewußtseins. In Wahrnehmung – in dem Denken ÀberzeugungsgefÝhl. Am deutlichsten aber Affekte – Bei dem Willen allgemein zugegeben. [. . .] 2. Beweis ex concretis der gegenwÈrtig forschenden Schule [. . .]. Dazu pflegt eine noch weitergehende Behauptungen bejaht zu werden. Die einfachsten PhÈnomene bilden die sinnlichen GefÝhle. Wundt16 427: Die sinnliche Empfindung, das Element der Wahrnehmung, ist bestimmt nach QualitÈt und IntensitÈt. Es hat aber eine dritte Bestimmung, welche in der Beziehung der Empfindung zum Bewußtsein entspringt: ihren GefÝhlston. „Wir nehmen das sinnliche GefÝhl als in unmittelbarer Affektion des Bewußtseins durch die Empfindung wahr.“ p. 428 Ich: Tatsache des „GefÝhlstons“ von Farben. Goethe darÝber. Leise TÚne enthalten einen ernsteren Charakter – wenn der Kontrabaß scherzhaft wird, ist er ein tanzender BÈr. – Ich: Aber: Wenn wir durch eine Landschaft hindurchgehen, in unseren Gedanken hat nicht jede Farbe in ihr GefÝhlston, der als Tatsache wahrnehmbar wÈre. Versuch eines negativen Schlusses auf Abwesenheit aus dem nicht isolierten Wahrnehmen. Tatsache der kleinsten Vorstellungen. Wir perzipieren

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viel mehr als wir zur Deutlichkeit des Bewußtseins bringen. Es kann also sein, jedoch ist es nicht bewiesen. Dagegen beweist der Versuch direkt, daß die Versenkung in die Empfindung einen GefÝhlston in dieser wahrnehmbar macht. B. Wahrnehmung begleitet auch alle hÚheren Prozesse. Wenn nun mit den Empfindungen GefÝhle in feste Verbindungen treten, so wird man annehmen kÚnnen, daß sie in minimalem Grade in jedem Wahrnehmungszustande sind. Ebenso, daß sie in den reproduzierten sinnlichen Vorstellungen enthalten bleiben. C. Das Wollen nie ohne GefÝhlsbestandteile. D. Der abstrakteste Denkprozeß ist a) von GefÝhlen des Gelingens oder Mißlingens oder der Langeweile begleitet, b) die in ihn eingehenden Vorstellungen lÚsen GefÝhle aus. Schluß: Der psychische Akt enthÈlt auch eine GefÝhlserregung. An diesem Punkt 1) Instanz gegen Herbarts Theorie des GefÝhls, welche fundamental. (Wundt 428): Herbart GefÝhl aus VerhÈltnissen der Vorstellungen; hier sehen wir, daß die einzelne Empfindung, ganz losgelÚst von VerhÈltnissen, GefÝhlston hervorbringen kann. Wenn also nicht ein Produkt des VerhÈltnisses der Vorstellungen, so sind die GefÝhle als GefÝhlston eine Seite der Vorstellung, oder sie sondern sich auf der Grundlage der Vorstellung. – In beiden FÈllen kÚnnte von Mills psychologischer Theorie nicht die Rede sein. Denn wenn auch die Vorstellung mit Lotze als eine Reaktion des Totalbewußtseins auf die Vorstellung gefaßt wÝrde, so wÈre dies keine psychische Chemie. Andererseits fÝr den, der erkannt hÈtte, daß auch das Vorstellen ein Akt des Reagierens auf einen inneren oder Èußeren Reiz ist, wÈre sie doch eine Seite. Horwicz17 I, 230 „Daß Ýbrigens alle Empfindungen mehr oder weniger betont (d. h. angenehm oder unangenehm) und keine ganz tonlos sind, wird heutzutage wohl von allen Psychologen anerkannt. Abweichend von den Herbartianern und einigen anderen nenne ich dasjenige, was sie den Ton der Empfindung nennen: sinnliches GefÝhl Ýbereinstimmend z. B. mit Wundt.“ Als locus classicus von Nutzen. Zur VervollstÈndigung dieser Theorie 181 ff. Ýber Empfindung. Hier scheint er anzunehmen, daß der Erregungszustand in einzelnen Nervenprimitivfasern Ursache von Empfindung. Hierzu auch Spitze der physiologischen Theorie. So tritt das Experiment in volle Kraft, nach welchem (Hamilton–Lotze) wir uns ein rein vorstellendes Wesen denken kÚnnen.

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2) Wenn aber Hamilton weiter meint, daß wir uns nur z. B. [?] ein bloß Lust habendes18 und nicht vorstellendes Wesen nicht denken kÚnnen, und wenn Lotzes Betrachtungsweise hiermit Ýbereinstimmt, so muß ich dieses zweite Faktum in Abrede stellen. Ein bloß in vorstellungsmÈßig weder bestimmtem noch bezogenem Schmerz- und LustgefÝhl reagierendes Wesen kÚnnen wir uns vollkommen gut denken.19 Dieses geht darauf zurÝck, daß wir in der Tat Momente haben, in denen der Schmerz die qualitative Auffassung mimimal macht oder in denen wir uns kaum des Inhaltes eines UnlustgefÝhls bewußt sind. Diese sind hier verschwindend. Und daher kÚnnen wir in unserem bloßen Vorstellen von psychischen ZustÈnden ganz von ihnen abstrahieren. Ebenso verfahren wir auch bei der Vorstellung. Einen Vorstellungszustand ohne GefÝhl haben wir auch nicht. Aber wir haben solche, wo dieser Zustand des GefÝhls verschwindend ist. Wir kÚnnen dann experimentieren und uns eine Vorstellung vorhalten. Dabei ist schon in der Frage, die gestellt ist, eine Spannung, ein GefÝhlston des Bewußtseins! Wir beweisen also wohl, daß die Vorstellung keinen GefÝhlston, der fÝr uns deutlich wahrnehmbar wÈre, hat, aber gar nicht, daß ein Zustand des Bewußtseins dieser Art existiert. – Andererseits kann festgestellt werden, daß aus einem Zustand des Willens GefÝhle folgen [. . .].

C. Wille Terminologie hier viel schwieriger, da inhaltlich solche nicht inbegriffen. – •hnlich wie bei Vorstellungen Entwicklungsreihe von Gebilden – der rÈtselhafte Instinkt und der Trieb. AktivitÈt oder Instinkt – Spannung als fundamentale Tatsache – Willensentscheidung. FÝr die selbstÈndige Bedeutung der WillensvorgÈnge, um die Tatsachen nicht willkÝrlich aufzufassen, nehmen wir Entwicklungsgeschichte des Menschen zu Hilfe. Vergleichung der Tiere ist immer problematisch, Bewußtseinsgeschichte des Menschen fruchtbarer Leitfaden = allgemeines Bild. Dabei sehen wir von Frage der Willensfreiheit ab und suchen nur das PhÈnomen aufzufassen. Im Kinde animalische Lebendigkeit. ZurÝckfÝhrung derselben auf Reflexerregungen und automatische Erregungen. Bedeutung von diesen PhÈnomenen. [Sie] machen Betrachtung des psychischen Lebens sehr problematisch. Wundt 184: „Mehrere unter den motorischen Gebieten, welche aus Anlaß eines Reflexes in Funktion treten kÚnnen, empfangen gleichzeitig Impulse, die unmittelbar von ihren Zentralpunkten ausgehen. Alle solche Erregungen, welche den Nervenzentren nicht von außen

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mitgeteilt sind, sondern in ihnen selbst entspringen, pflegt man automatische Erregungen zu nennen. Alle automatischen Reizungen, als innere Reizungen, entspringen aus VerÈnderungen oder ZustÈnden des Blutes.“ Die Beweglichkeit, das Rastlose, Lebendige in den Bewegungen des Kindes lÈßt sich nicht hierauf allein zurÝckfÝhren, sondern ist sehr wahrscheinlich eine mit einer inneren psychischen Spannung verbundene wirkende psychische Kraft, welche erst durch die Hemmungsapparate und den in ihnen wirkenden Willen in ihren •ußerungen aufgehalten wird. Man kÚnnte, was in den Sinnen als psychische Aktion wirksam ist, als Energie derselben bezeichnen. Das Auge strebt nach Reizen und findet, wo sie ausbleiben oder abgesperrt sind, umstandlos Beweise. Beweise Das Erste sind die willkÝrlichen Bewegungen – untersucht Joh. MÝller II,20 94 ff. 1. „Die Kenntnis der LageverÈnderungen, welche durch bestimmte Bewegungen hervorgebracht werden, wird erst allmÈhlich und durch die Bewegungen selbst erworben; das erste Spiel des Willens auf einzelne Gruppen der FaserursprÝnge der motorischen Nerven in der Medulla oblongata kann daher offenbar noch keinerlei Zweck der LageverÈnderung haben; es ist ein bloßes Spiel ohne alle Vorstellung von den Wirkungen, welche davon in den Gliedern hervorgebracht werden.“ „Durch diese zwecklose willkÝrliche Exzitation der FaserursprÝnge entstehen bestimmte Bewegungen, LageverÈnderungen, Empfindungen davon; die Exzitation gewisser Fasern erregt immer dieselben Bewegungen, LageverÈnderungen und ihre zum Bewußtsein kommenden Empfindungen. Hierdurch entsteht die VerknÝpfung gewisser Empfindungen mit gewissen Bewegungen im dunklen Bewußtsein.“ Ableitung aus dem InnervationsgefÝhl als einem Sinnesvorgang = es begleite die Muskelanstrengung und sei gleichsam die Innenseite des Vorgangs = eine Wahrnehmung im Grunde. In Wirklichkeit bestreitet William James The feeling of effort21 die Existenz solcher Wahrnehmungen. Diese besteht nach ihm a) nur passiv. Sensation, welche durch bereits bewirkte Muskelkontraktionen hervorgerufen wird; b) ein GefÝhl zentral besteht entsprechend dem GefÝhl des Strebens, sich einer Vorstellung zu erinnern [. . .], an eine unangenehme BeschÈftigung zu gehen, sich zu entscheiden = aus Verwandtschaft des GefÝhls mit denen, welche ohne begleitende Muskelkontraktion, ergibt sich, daß dieses eben die Erfahrung des Willens ist.

6. *Zur Systematik der psychischen ZustÈnde

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[A.] Dies in der Tat der entscheidende Punkt und muß Gegenstand einer genauen Analyse sein. Man eliminiert den Willen, wenn man zu den GefÝhlen die Innervationsempfindungen hinzufÝgt. Aber der Muskelsinn umfaßt (neben den hierher nicht gehÚrigen die AllgemeingefÝhlsempfindungen [und] ErinnerungsgefÝhle) 1. periphere Empfindungen, welche die Kontraktion des einzelnen Muskels begleiten, gleichviel ob diese durch Willensakt oder unwillkÝrlich stattfinden. Ist bedingt durch die Art, wie Sinnesnerven mit dem Muskel verbunden sind. DrÝcke ich mit der einen Hand die andere zusammen, so ist neben dem MuskelgefÝhl in der pressenden Hand, den Druckempfindungen in der zusammengedrÝckten Hand ein GefÝhl da, welches die Kontraktion in der zusammengepreßten Hand begleitet. Dies ist eigentlich eine Empfindung, welche nur peripherisch die Kontraktion begleitet. Richtig Wundt22 374: „Bei passiver Bewegung der Muskeln und bei elektrischer Reizung derselben ist eine die Empfindlichkeit des bloßen Drucksinnes Ýbertreffende Unterscheidung der Stellung des Gliedes mÚglich. Hierin kÚnne man gradezu einen Beweis fÝr die Leistung peripherer Muskelempfindungen erblicken.“ Nach den Versuchen von Sachs kann nicht bezweifelt werden, daß sensible Fasern in den Muskeln sich ausbreiten. 2. Es gibt eine hiervon unterschiedene Bewegungsempfindung, welche den zentralen Vorgang der Einleitung einer Bewegung begleitet. a) Die Leistung des Vorgangs kann am Paralytiker aufgerufen werden. Versucht derselbe vergeblich sein vollstÈndig gelÈhmtes Bein aufzuheben, dann begleitet diesen Versuch ein deutliches GefÝhl der Kraftanstrengung (Wundt 375), und doch fallen hier Druckempfindungen wie periphere Empfindungen weg. Ebenso tÈuscht sich der Parlytiker (Parese) Ýber die Ausdehnung und Richtung seiner Schritte, weil er nach der zentralen Bewegungseinleitung seines Beins23 b) Man fragt sich aber, ob diese Empfindung als eine Bewegungsempfindung aufzufassen ist, welche dem physiologischen Vorgang, der die Bewegung einleitet, eigen ist. Unter dieser Voraussetzung spricht man von Innervationsempfindung. So Wundt, aber diese Annahme einer solchen Empfindung ist zunÈchst doch nur Hypothese. Die Sicherheit, mit der man von dieser spricht, gehÚrt der physiologischen Mythologie. In Wirklichkeit wÝrde sich aber die Empfindung, mit welcher wir den Versuch begleiten, eine Vorstellung zu erinnern – die Empfindung, welche beim Versuch immer angenommen werden muß – vordrÈngen. Willensentschluß, der keine Èußere Bewegung zur Folge hat – sie sind alle von derselben Art. Ihnen kann ein physiologischer Vorgang zugrunde liegen. B. Die Willensenergie des Feldherrn. Napoleon, auch Alba. Ihre StÈrke ist nicht bedingt durch die StÈrke der Lust- oder UnlustgefÝhle, welche als Motoren wirken. 2. Anwesenheit in den verschiedenen psychischen Akten.

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A. FrÝhe Texte zur Auseinandersetzung um eine deskriptive Psychologie

Nun macht er darauf aufmerksam: „Auch unsere Sinneswahrnehmungen sind gewÚhnlich mit einer bestÈndigen Mitaktion des Wollens verbunden.“24 So wollen wir eine aufblÝhende [?] Rose betrachten – Bewegungen des Auges gemÈß der Intention und Wechsel der Intention bei ruhigem Auge. Diese Intention nennen wir Aufmerksamkeit [. . .] 1. Anwesenheit in den meisten sinnlichen Wahrnehmungen [. . .]. Dann: 2. ist als Interesse in jeder Assoziation von Vorstellungen. [. . .] 3. Im Denken SpontaneitÈt. [. . .] 4. Das GefÝhl strebt nun ein Verlangen auszulÚsen. II.25AbhÈngigkeit des Willens etc. als eine Seite. [. . .] Durch unser ganzes Leben geht die Willenskraft der Aktion hindurch, welche Grundcharakter unseres Lebens ist. Wenn ich bei der Arbeit zum Tisch gehe, Zigarre anzÝnde etc., so folgt die Art, wie ich das alles tue, die Abmessung von Zeit und Raum niemals aus bloßen Vorstellungen und GefÝhlen. Es ist ein unlÚsbares Problem, das Leben in Mechanismus aufzulÚsen. Die Elemente reichen nicht aus zur Konstruktion. Man nÈhert sich ihm durch sukzessive Hilfskonstruktionen, wie dem Kreis durch kleinste Seiten. Aber die Wellenlinie des Lebens oder der handelnden WillkÝr wird nie festgestellt durch die Konstruktionen. Das Mittel kann immer nur sein Einschaltung von erklÈrenden minimalen Reizelementen. So gelangt man zu einem ungeheuerlichen System unbewußt wirkender Reizelemente etc. Und daher die mechanische Psychologie zugleich die des Schwelgens in der Vorstellung der unbewußten mimimalen psychischen Elemente ist. Die Scholastik hat dieses ganz richtig aufgefaßt, indem sie den Willen zuerst suchte in der durch das ganze Leben gehenden TatsÈchlichkeit eines aus Motiven nicht ableitbaren Verlaufs. Die Unterscheidung der SpontaneitÈt und der RezeptivitÈt, welche Kant eingefÝhrt hat (er zuerst?) und Schleiermacher auch in die Wahrnehmungsprozesse hineingefÝhrt, ja Ýberhaupt zuerst einer Psychologie zugrunde gelegt [hat], lÈuft auch auf diese Doppelseite des psychischen Lebens hinaus, die sich auszuschließen scheint fÝr die abstrakte Betrachtung = unwillkÝrliche AktivitÈt, eine solche aber, an [welcher] zugleich Affektionen als zum Bewußtsein bewegenden stattfinden, welches sich demgemÈß determiniert affiziert findet und als GefÝhle dieses gewahrt, in Wahrnehmungen und Vorstellungen auf das Affizierende zurÝckgreift und fÝr welches diese ZustÈnde als Reize fÝr Maß und Richtung des Handelns wirken. Grenzen des Erwiesenen. 1. Nur Komponenten sind gefunden, nicht VermÚgen der Seele = ein dreifaches Verhalten der bewußten VorgÈnge = darÝber hinaus kÚnnen wir nur durch zweifelhafte SchlÝsse gehen. – UrphÈnomene

6. *Zur Systematik der psychischen ZustÈnde

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des psychischen Lebens – wir kÚnnen nicht weiter. 2. Und deren Gegenwart in allen psychischen Akten nur in hohem Grade wahrscheinlich gemacht. Das Theorem von einer allgemeinen Gegenwart kann also nur als Hypothese dienen; eine solche beweist, daß die VermÚgenslehre nicht eine notwendige Konsequenz der Annahme verschiedener, nicht aufeinander fÝr uns zurÝckfÝhrbarer ZustÈnde [ist]. – Wo sie verworfen wird, bleibt sie, wonach wir ja im bewußten Zustande = jedenfalls Einheit des Bewußtseins gewahren. BestÈtigungen dieser GrundverhÈltnisse 1. negativ: Denkt man sich das VerhÈltnis, wie es Lotze durch physiologische Vorstellung der AuslÚsung von Reizen darstellbar zu machen sucht, so mÝßte er weitergehen und auch annehmen, daß der Wille wieder als Reiz auf das Vorstellen wirke. So wÝrde aber das von ihm angenommene VerhÈltnis modifiziert, ja in seiner Basis aufgehoben werden. 2. positiv: Die intellektuellen Leistungen sind ein Produkt, das ebensosehr durch Wille und GefÝhle als durch Intellekt [?] in ihrem Werte bedingt ist.26 [3.] Die SpontaneitÈt Kants, welche er als SelbsttÈtigkeit bestimmt, ist derselbe Begriff. RezeptivitÈt definiert er als die FÈhigkeit, von GegenstÈnden affiziert zu werden und dadurch Vorstellungen zu empfangen. Indem man dieses zusammenhÈlt, muß man zu dem Satz fortgehen, daß es die Tat der SpontaneitÈt ist, welche sich durch ein anderes SelbsttÈtiges rezeptiv affiziert findet, wenn dasselbe als eine affizierende Macht dem Subjekt gegenÝbergesetzt wird. III. Systematik der psychischen ZustÈnde 1) Fassen wir die Entwicklungsgeschichte des psychischen Lebens ins Auge, so stellt sich als am meisten elementarer Zustand der dar, in welchem noch keine ausgebauten Sinnesorgane existieren. Hier werden VerÈnderungen der Lage in bezug auf einen gewissen normalen Zustand des Organismus und seiner Teile entweder als AnnÈherungen an denselben oder Entfernungen in GefÝhlen gemessen, welche einen Vorstellungsinhalt wahrscheinlich haben und zugleich sich als Zu- oder Abwendung darstellen. D.h. hier ist die Beschaffenheit des Nervensystems mit der Tatsache eines elementaren, alle drei Seiten in sich fassenden psychischen Vorganges verbunden, welcher das psychische Leben eines solchen Wesens ausmacht. Polemik gegen Horwicz, der dies GefÝhl nennt und so die Psychologie in Verwirrung bringt. [. . .]

B. KLEINERE TEXTE ZUR GEFÀHLS- UND WILLENSLEHRE UND ZUR STRUKTURPSYCHOLOGIE (ca. 1875–1892)

1. *GefÝhl und Wille

§ 1. Das27 VerhÈltnis von GefÝhl und Wille kann auf doppelte Weise gefaßt werden. Sicher innere Beziehung beider; Beweis: analoge Grundform von Lust und Unlust, Verlangen und Abscheu und die durchgefÝhrte Beziehung, vermÚge deren eine Vorstellung, die Gegenstand der Unlust ist, zugleich Abwendung hervorzurufen geneigt ist. Und zwar kann der Satz formuliert werden: Jedes GefÝhl schließt ein Begehren in sich. Aber die Umkehrung desselben ist nicht gestattet. Wir kÚnnen im Zustande des Begehrens sein, ohne dabei Lust und Unlust zu empfinden.

§ 2. Diesem VerhÈltnis gemÈß hat die Entwicklung der psychologischen Theorie einen doppelten Verlauf gehabt. Und zwar ist er durch ethische BeweggrÝnde mitbedingt und von wichtigen ethischen Folgen gewesen. Innerhalb der atomistischen Theorie hat sich im Ganzen Ýbereinstimmend die Ableitung der Antriebe aus den GefÝhlen entwickelt. Hierzu konnte schon Platon Philebos 34 leiten, wo Begierde erklÈrt wird: „Durst als Begierde nach AnfÝllung von GetrÈnken hat zur Voraussetzung den gegenwÈrtigen Zustand der Unlust, verbunden mit der Erinnerung an entgegengesetzte Lust.“28 Die psychologische

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

Grundlegung Epikurs besitzen wir nicht in voller Klarheit. Doch erklÈrt er deutlich:29 Lust ist nur Anfang jeden Strebens wie Meidens30 und auf sie lÈuft unser ganzes Tun hinaus. Die noch ausfÝhrlichere BegrÝndung: Wundt. Aristoteles, der Èlteste und bekannteste BegrÝnder der anderen Theorie, knÝpfte [?] sicher an Herakleitos, nach der Folgerichtigkeit [, welche] eine Philosophie des Werdens von VorgÈngen gehabt haben mÝßte. Fragmente [geben] keinen Aufschluß. Nach Aristoteles Èsthetische Lust: Zeichen der sich vollendenden Energie der Anschauung, sittliche derselben Energie des vernunftgemÈßen Handelns. TeichmÝller FortfÝhrung 293.31 Die psychologische Grundlegung der stoischen Schule zeigt hier eine bemerkenswerte AbÈnderung, hÚchst fruchtbar. Selbsterhaltung, nicht Lust ist das Bewegende fÝr Leidenschaft und Handlung, und Lust ist ein Zuwachs zu dem gelingenden Streben nach dem, was unserer Natur harmoniert. Durch Augustin in die tiefere Philosophie des Mittelalters Ýbergegangen. Affektenlehre de civitate dei XIII und XIV, 6: „omnes nihil aliud quam voluntates sunt“. Freude ist ihnen nur Zustand der Àbereinstimmung mit dem Willen, somit sekundÈr, und Traurigkeit das Gegenteil. Dieser auch von den letzten Zeiten des Nominalismus tief behandelten Lehre schließt sich Spinoza an; Schelling, als er nach seiner intellektuellen Epoche sich in totaler Einsamkeit alle Voraussetzungen, welche vor ihm Forscher auf metaphysischem Gebiete gehabt hatten, in Frage stellte, in die analogen RÈtsel des Willens in der Natur und des Willens in der bewußten Person vertiefte, fand anknÝpfend an Fichtes Entwicklung [in] seiner Schrift „Àber die Bestimmung des Menschen“32: Wollen ist Ursein; der dunkle Grund im Individuum ist wie in der Natur Wille, verstandloser und bewußtloser. Schopenhauer SchÝler Fichtes und Schellings; obwohl er gern die Spuren des Weges, den er gegangen, listig verwischen mÚchte, hat [er] den Gedanken Fichtes und Schellings klassische Form, Reichtum der Anschauung Ýber persÚnliche Erlebnisse gegeben, aber nicht induktive psychologische BegrÝndung.

§ 3. Zwischen diesen beiden Theorien kann, wie ebenso zwischen der rationalistischen und empiristischen ErklÈrung der Gesichtswahrnehmung, nur ein Doppeltes entscheiden: Eine psychologische Tatsache, die ausschließlich durch eine von ihnen erklÈrt [wird] und doch mindestens durch diese allein ohne KÝnstlichkeit und Zwang; alsdann, daß der ganze Zusammenhang der Tatsachen sich in der ausgefÝhrten Theorie der einen ErklÈrungsweise mehr anpassend erweist als der anderen. Beide Wege schlagen wir ein.

1. *GefÝhl und Wille

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§ 4. Die zwischen den beiden ErklÈrungsweisen entscheidenden Tatsachen 1. Im Instinkt liegen Handlungen vor, deren Antrieb jeder erfahrenen Lust vorausgeht. [Dies] beweist, daß in den mit Instinkt ausgestatteten Organismen Antriebe vorhanden sind, deren treibender Stachel nicht die erfahrene Lust ist. Hier wirkt also eine Vorstellung oder ein Zusammenhang von Vorstellungen, Bewegungsvorstellungen vor allem,33 bewußt oder unbewußt als treibende Kraft zu Handlungen. KÝnstlich wÈre jede ErklÈrung, welche die Vorstellung als Lust erregend oder den vorhandenen Zustand als Unlustzustand ansehe. Auch dann nicht geÈndert, wenn der Grund der Lust in den der Gattung mitgegebenen oder geschichtlich mitgegebenen (Darwin) physiologischen Mechanismen erblickt wird. 2. Die BetÈtigung der Energie im Menschen kÚnnen wir nach natÝrlicher Auffassung unmÚglich als Ergebnis der Kombination gegenwÈrtiger Unlust und vorgestellter Lust auffassen. Wirkliche Lebenserfahrung zeigt, daß sehr oft die Feststellung eines Zieles fÝr diese Energie ein akzidentelles ist. Der Trieb der BetÈtigung selber das Wesenhafte. Wenn mit der Jugend in vielen Individuen die großen Triebfedern des Daseins ihre Kraft verloren haben und kein Lebensplan vorhanden ist, der fÝr den Rest des Lebens treibende Kraft besÈße, alsdann sehen wir den Menschen kleine Absichten von Ehrgeiz und Eitelkeit zur Triebfeder des Fortwirkens machen. Die TÈtigkeit selber wÝrde verlÚschen, wÝrde nicht irgendeine solche gewÈhlt, und es ist fÝr einen Menschen dieser Art gleichgÝltig beinahe, welche Vorstellungsgruppe, doch nur schwach ausgestattet mit der erregenden Kraft der Lust, die MÚglichkeit gewÈhrt zu fortdauerndem Streben. Um das Streben ist es zu tun und nicht um das Ziel. Und hiermit stimmt das gesunde LebensgefÝhl eines Menschen wie Lessing. 3. Wir kÚnnen einen Antrieb und Neigung durch Reflexion niemals zerstÚren, wohl aber GefÝhle. Wenn die Reflexion auftritt, schwinden diese zuweilen vor ihr wie vor dem Tageslichte. [Dies] beruht darauf, daß der Antrieb ein bleibendes Gebilde ist, dessen Wirksamkeit zwar durch die anderen Gebilde zurÝckgedrÈngt werden kann, das selber aber, so wie es ist, verharrt. Wogegen das GefÝhl, als eine Form der Bewußtheit fÝr die ZustÈnde des Willens, zerstÚrt werden kann und alsdann nur wiederkehrt, wenn derselbe Zustand desselben Willens zum Bewußtsein gelangt. 4. Das entscheidende Kriterium zwischen beiden Theorien lieferte die Tatsache, welche, wie die des stereoskopischen Sehens zwischen den optischen Theorien hier die Entscheidung herbeifÝhrte, in der Art des Wiederauftretens

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

der GefÝhle im Ablauf der Reproduktion liegt. Doch bietet hier eine vorlÈufig unlÚsbare Schwierigkeit der Umstand, daß die gleichen in den ZustÈnden der Antriebe gelegenen Ursachen jedesmal die gleiche Wirkung: Bewußtseinszustand = GefÝhl hervorbringen. 5. Man durchdenke Lotzes Analyse des GefÝhls. Eine Seele wÈre mÚglich, welche die heftigsten StÚrungen der Furia wie seine den hÚchsten Aufschwung ermÚglichenden BegÝnstigungen nur in kalten Vorstellungen erfÝhre. Widersprechend erscheint dieser Annahme der Charakter der NaturvÚlker. Waitz: 1. Scheu vor Arbeit, 2. Macht der Gewohnheit, 3. ZÝgellosigkeit der Begierde und Mangel an Zusammenhang. Aber nach seinen weiteren AusfÝhrungen bezieht sich diese Scheu nur auf Arbeiten, deren ZweckmÈßigkeit fÝr sein nicht weitsichtiges Auge zu entfernt lag. Der menschlichen Seele aber eignet, diese wechselnden Beziehungen zu ihren BedÝrfnissen und den Bedingungen der Außenwelt [durch] das GefÝhl, Lust wie Wehe, zu erfahren. Die Voraussetzung der Auffassung Lotzes liegt in dem gesetzmÈßigen VerhÈltnis zwischen FÚrderung und Hemmung, Lust und Wehe im Individuum. Soll nun dies VerhÈltnis als eine Art von wunderbarer prÈstabilierter Harmonie gedacht werden? Es bedarf nicht dieser dunklen Annahme; das Band einer inneren Beziehung ist vorhanden; die Antriebe finden sich bald gehemmt, bald gefÚrdert, und Sie erfahren in den wechselnden GefÝhlen diese ZustÈnde. Sie erfahren, besitzen sie in ihnen. GefÝhl ist Bewußtseinsform fÝr die wechselnden ZustÈnde der Antriebe. 6. Daß GefÝhle nicht selbstÈndige seelische Gebilde sind, sondern nur BewußtseinszustÈnde, geht auch daraus hervor, daß das Eingehen von dauernden Beziehungen, welches der Vorstellung wie dem Willen eigen ist, hier nicht unmittelbar stattfindet. Dies zu untersuchen. 7. Ferner wÈre zu untersuchen, inwiefern es gar keine singulÈren GefÝhle gibt, sondern nur allgemeine Modifikationen der GefÝhle; vielleicht eignet sich am meisten Analyse der Musik.

§ 5. Die Beurteilung der beiden ErklÈrungsmethoden aus der einfachen folgerichtigen VerknÝpfung der Tatsachen findet sich gleich in ihrem Beginn durch die aristotelische Annahme den Tatsachen gegenÝber gÝnstiger gestellt. Denn gehe ich von der Lust als dem Beweggrunde der Handlung aus, so finde ich in ihr wohl eine Entscheidung fÝr die Richtung, welche die Bewegungen der Furia einschlagen; aber eine ErklÈrung fÝr die Bewegung selber kann durch keine

1. *GefÝhl und Wille

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Kunst aus der Tatsache der Lustempfindung herausgelockt werden. Das GefÝhl der Lust ist da, es begleitet eine Vorstellungsgruppe. Daß nun aber eine Bewegung nach der Verwirklichung dieser Vorstellung hin entspringe, dazu bedarf es eines neuen ErklÈrungsgrundes. So tÈuscht sich jede psychologische Theorie, welche in der Lust einen Antrieb zur Lust entdeckt zu haben glaubt. Ein zweiter ErklÈrungsgrund mÝßte hinzutreten. Und ein einfaches inneres ErklÈrungsverhÈltnis dieses Grundes ist noch von niemandem aufgestellt worden. Dagegen besteht in dem Zusammenhang der anderen Theorie ein solches inneres VerhÈltnis zwischen GefÝhl und Wille. Die Bewußtheit des Zustandes, unterschieden von dem Bewußtseinszustand der Vorstellung, welche verbunden mit dem Antrieb auftritt, ist das GefÝhl selber.

§ 6. Es gilt zunÈchst vom Boden der Untersuchung zwei IrrtÝmer zu entfernen. 1. Wille wird von Schopenhauer, dem Hartmann folgt, als Reaktionsform auf die einzelnen Reize bestimmt. Hiernach lÈge im Grunde der Seele eine Einheit, aus welcher der verwickelte Inbegriff der Handlungen entspringt. Und da der erscheinende Charakter individuell ist, mÝßte der Grund dementsprechend gedacht werden. Es gilt, diesen Gedanken durchzudenken. Dies Individuelle reagiert selbst auf dieselben Antriebe je nach seinen sonst bedingten GesamtzustÈnden auf verschiedene Weise. Dies Individuum zeigt sich in seinen Reaktionen als ein vielfach bewegtes, ja selbst im inneren Widerstreit begriffenes. Kurz, dieses Individuum ist selbst in dem geformten Charakter keine geschlossene Einheit: unsere Vorstellungskraft vermag kein Gebilde zu denken, welches als ein Einfaches so vielfach reagierte: Wille ist ein VerhÈltnis von Antrieben und Produkt aus einer Vielheit von Faktoren, eine im Laufe der psychischen Entwicklung werdende Gestalt; unmÚglich kann er als ein in sich Einfaches gefaßt werden. Dem entspricht, daß wir in den ersten Stadien der Entwicklung das psychophysische Individuum von lauter einzelnen Antrieben bewegt sehen.34 Es gibt sowenig die Einheit des Willens als die Einheit des Verstandes. Aus dem gesetzlichen Verhalten der Vorstellungen entspringt der eine, aus dem der Antriebe der andere. Diese Einheit ist schon bei Spinoza vorhanden. Das Ei entwickelt sich zum Organismus nicht, wie Hartmann trÈumt, aus einer bei verschiedenen Organismen gleichen Grundgestalt unter dem Einfluß eines Willens, sondern auf rein mechanischem Wege aus einer simplen Kombination von Elementen: die unscheinbaren Verschiedenheiten der GrundverhÈltnisse werden Ursache indi-

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

viduellster Entwicklung der Gestalt. Nicht anders entwickelt sich der Charakter. Unscheinbare Verschiedenheit in dem SpannungsverhÈltnis der Energien entfaltet sich zu dem individuellsten GeprÈge. Aus der Wechselwirkung des Vielfachen entspringt die geschlossene Einheit des Charakters.35 Kaum darf es als ein Vorurteil betrachtet werden, das in diesem Jahrhundert wirksam geblieben wÈre, psychische VorgÈnge als allsamt bewußt zu betrachten. Die Entdeckung des Unbewußten, welche Hartmann gemacht haben will, ward von Leibniz gemacht, und die ganze Theorie der Vorstellungen in dem empirischen Ich, die Theorie des Willens in Schellings tiefsinnigen Arbeiten beruht auf dieser Tatsache; Antriebe also kÚnnen in bewußtem und unbewußtem Zustand wirken.36

§ 7. VerhÈltnis von Vorstellung und Antrieb ist also fÝr die induktive Forschung das erste Problem. Aristoteles erkennt de anima III, 10, 433 b: orektikon de ouk aneu fantasiaß, die Kehrseite von III, 10, 433 a: kai v fantasia [de] otan kinv, ou kinei aneu orexewß. Wir versuchen, doch noch tiefer zu dringen und das allgemeine VerhÈltnis der Wechselwirkung von Vorstellungen zu dem Wechseln von Antrieben zu erkennen. Hierbei mÝssen wir Ýber den Umkreis der in der Erfahrung gegebenen Produkte vorandringen zu den erklÈrenden Faktoren. Die Grundlage liegt auch hier in dem physiologischen VerhÈltnis.

§ 8. Der Zentralapparat ermittelt die Beziehungen der psychischen Kraft zur Außenwelt durch zwei Klassen von Nerven. Hartley schlÈgt vor, sie nicht sensible und motorische, sondern sie zu- und ableitende zu nennen. Dieser Ausdruck wÝrde die generelle Tatsache bezeichnen, daß BewegungsvorgÈnge oder auch ihre VerÈnderungen in der Außenwelt durch die erste Klasse der Nerven dem Zentralapparat zugeleitet und hier innerhalb der SphÈre der psychischen Kraft zu einer Welt von Vorstellungen (und GefÝhlen?) geformt werden; daß alsdann vermÚge der zweiten Klasse diese innere Welt vermittelst der Hebelkraft der Muskeln wiederum Bewegungen in der Außenwelt hervorbringt. (GefÝhle sind Ýberall Bewußtsein und ZustÈndlichkeit, sei es die der Ner-

1. *GefÝhl und Wille

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ven oder die der psychischen Energien. Die hier liegende Schwierigkeit wird dadurch, daß man mit Ulrici fÝr diese beiden HauptfÈlle verschiedene Namen wÈhlt, nicht gemindert.) Es bleibt nach dem gegenwÈrtigen Stande der Physiologie eine offene Frage, ob fÝr die kÚrperlichen GefÝhle besondere zuleitende NervenfÈden anzunehmen seien. AnÈsthetische KrankheitsfÈlle empfehlen diese Annahmen. Die generelle Unterscheidung der zu- und ableitenden Nerven wÝrde durch sie nicht alteriert, denn dieses Schema beruht auf dem DoppelverhÈltnis des Zentralorgans zu beiden Klassen von Nerven und auf dem Reflexmechanismus.37

§ 9. Wir betrachten die Beziehung38 der ableitenden Nerven zu dem Apparat des Willens. 1. Hartley39 pag. 166 versucht, die BewegungskrÈfte des Organismus zu deduzieren, die alsdann die allgemeine organische Bedingung des Bewegungsapparates desselben wÝrden. Der Mensch Mittelpunkt einer StrÚmung von Stoffen, vergleichbar dem Strudel von Wasser, der unbegrenzte Zeit seine Gestalt behalten kann, wÈhrend kein einziges Wasserteilchen lÈnger als eine Sekunde in ihm verweilt. Aus Pflanzen-, Tier- und Mineralreich strÚmen unaufhÚrlich durch ihn die Stoffe nach dem Mineralreich zurÝck. So lÚst sich in ihrem Durchgang die verwickelte Zusammensetzung, in welche sie eintrat. Lebendige Kraft wird in diesem Auseinanderfallen frei, und sie ist Quelle der tÈtigen Kraft im Organismus, welche hauptsÈchlich in der Gestalt von Bewegungen sich Èußert. Der Organismus erzeugt BewegungskrÈfte. Wundt40 205 findet in folgenden Tatsachen einen Beweis fÝr diese gebundenen BewegungskrÈfte. Es gibt ZustÈnde, in welchen zwischen dem Reiz und der Kraftsumme der Bewegung gar kein VerhÈltnis besteht. Bei Strychninvergiftung ruft der leiseste Hautreiz heftigste Zuckungen hervor, die sich Ýber den ganzen KÚrper verbreiten, und auch an Enthaupteten zeigt sich eine Èhnliche Steigerung aller Reflexbewegungen. Wundt erklÈrt das durch freiwerdende gebundene Spannkraft. Freilich kann auch darauf hingewiesen werden, daß der Reiz selber in solchen krankhaften ZustÈnden ein außerordentlich gesteigerter ist. 2. Der Bewegungsapparat ist selber bei Erregung der zuleitenden Nerven auch ohne jede Einwirkung der psychischen Kraft wirksam. VermÚge desselben spiegeln sich bestÈndig unsere GefÝhle und Empfindungen in dem beweg-

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

ten und tÚnenden KÚrper. VermÚge desselben lÚsen schon in dem Embryo Antriebe der psychischen Kraft unaufhÚrlich Bewegungen aus. 3. In den Bewegungsvorgang treten psychische Faktoren. Es bedarf zuerst, [um] den Ausdruck von Hartley zu gebrauchen, eines Effektbildes, d. h. einer Vorstellung, um deren Realisierung in der Außenwelt es sich handelt. Daß ich will, stachelt die Willenskraft vergeblich empor, erst die Vorstellung einer zu realisierenden Bewegung ermÚglicht diese selber. Alsdann ist Bewegungsempfindung, Muskelempfindung zum Effektbild hinzutretend. Beide assoziieren sich, wenn eine bestimmte Bewegung stattgefunden hat. Und fÝr sie und eine entsprechende werden alsdann in versuchender Messung beide psychischen Faktoren verglichen. Und so entspringt die psychische Erregung am Willensakte, das GefÝhl von Spannung wie Anstrengung schon aus dem Zusammenwirken der physiologischen und psychischen Faktoren, die den Apparat des Willens bilden.

§ 10. Wir untersuchen die Agentien, welche diesem Apparat des Willens Richtung geben. Der Mensch ist ein bewegtes psychophysisches Ganze. Hier ist zunÈchst die Grenze der Untersuchung. Wir finden psychische Wirkungen mit Systemen von Nerven und Muskeln verknÝpft. Der gegenwÈrtige Stand unserer Forschung vermag hier nicht zu sondern zwischen VermÚgen, welche Beneke mit richtigem Blicke annahm, Ýbereinstimmend mit der Theorie des Aristoteles. (Und hier ist auch der Grund, aus welchem sich der Aristoteliker Ueberweg mit Beneke verstand.) Sie sind psychophysisch. So strebt ein solches psychophysisches System im Auge adÈquaten EindrÝkken des Lichtes entgegen.41 Tiefer, dunkler, mÈchtiger walten andere, welche in Nahrung, Bewegung und Fortpflanzung Befriedigung finden. Es ist unmÚglich, diese Systeme durch Untersuchung aus dem lebendigen Ganzen auszulÚsen, ja selbst dies ist unmÚglich: zu sondern, was in der bewegten Wechselwirkung der Individuen entspringt, und was auch einem einfachen beseelten KÚrper eigen sein wÝrde. Wir knÝpfen an Aristoteles an und nennen diese Systeme Energien.42 Obwohl sie selbst komplizierte Produkte sind, vermag doch Untersuchung gegenwÈrtig nicht zu einfacheren Faktoren voranzudringen.

1. *GefÝhl und Wille

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§ 11. Erster Grundprozeß Diese Systeme stehen in Wechselwirkung untereinander und mit der Außenwelt. Mannigfach sind diese entspringenden ZustÈnde, die Hauptformen aber Spannung und Befriedigung. Die Spannung gelangt zu unserem Bewußtsein, die Energie gelangt zur AktivitÈt. Sammeln wir hiervon die Erfahrung, so bilden wir den Begriff des Triebes. Drei Naturtriebe pflegt man aufzustellen, von denen der der Nahrung wie [. . .] der Erhaltung und Entwicklung des Individuums dienen, der des Geschlechtes geht Ýber das Individuum hinaus und dient der Erhaltung der Gattung. Aber es wÈre umsonst, mit Ulrici43 pag. 574 ff. eine Klassifikation der Triebe aufzustellen. Es gibt so viele Triebe, als Spannungen im Zusammenwirken der Energien mit der Außenwelt entstehen und zu dauerndem Dasein gelangen und solchergestalt in wiederholter Perzeption als selbige erkannt werden kÚnnen. Und so bezeichnen wir auch bloße Produkte aus jenem Zusammenwirken (wie z. B. manche intellektuelle Triebe sind) mit diesem Ausdruck; hob doch Kant als den heftigsten Trieb der Naturmenschen die Freiheitsneigung hervor. Die Annahme eines besonderen Selbsterhaltungstriebes im Hintergrunde aller jenen einzelnen Triebe gleicht der Theorie vom Bestande einer generellen Neigung, Licht zu empfinden außerhalb der Energien, welche an einzelnen Nervenendigungen in ihren Zusammenwirkungen mit der psychischen Kraft zur Erzeugung der Grundfarben eigneten. B. Spinoza selber, auf welchen diese Grundansicht zurÝckgefÝhrt wird, war weit entfernt von solchen Irrungen. Er war Nominalist, und es gab fÝr ihn keine voluntas sondern nur volitiones. Und die Selbsterhaltung war ihm ein Grundgesetz des psychischen Lebens, vergleichbar den mechanischen Grundgesetzen, welche das VerhÈltnis von Bewegung und Ruhe zwischen den kleinsten KÚrperteilchen regeln. Selbsterhaltungstrieb, dieser Begriff ist eine Abstraktion, entsprungen aus der Ausscheidung der generellen Form aller einzelnen Triebe aus diesen. Denn sie alle streben nach Leben und BetÈtigung in entgegenkommenden Reizen. Es wird in diesem Begriff nur die generelle Form aller Triebe gewissermaßen gesakrifiziert.

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

§ 12. Den Trieben begegnen die Reize. ZufÈllig zuerst, alsdann gesucht. So durchtasten diese Triebe gewissermaßen die Außenwelt, sich in ihr zu expandieren, indem sie in die mannigfachen VerhÈltnisse zu Reizen treten, werden sie gewissermaßen sehend. Mit der einzelnen Befriedigung und dem GefÝhl derselben verkettet sich die Vorstellung eines Gegenstandes und eines Vorganges. Andere Vorstellungen sind mit dem schmerzhaften GefÝhl von StÚrungen verknÝpft. Assoziationen bilden sich solchergestalt, welche durch Erinnerung kÝnftiges Streben vermitteln. So entsteht die Kombination eines Antriebs und eines GefÝhls des Vorstellungsinhaltes, welchen wir Begehren, insofern es sich um ideelle GÝter handelt, Streben nennen. So entspringt alsdann das in der Seele herrschend gewordene Streben und Leidenschaft. Mit diesem Ausdruck bezeichnen wir jedesmal einen gefÝhlten Vorstellungsinhalt, der ein festes VerhÈltnis zu einem Antrieb, und was bei den großen Passionen die Regel ist, zu einer Mehrheit von Antrieben gewonnen hat.

§ 13. Zweiter Grundprozeß Antriebe, Begehren, Streben, Leidenschaften sind vorhanden in unbewußten und bewußten ZustÈnden, bewegen sich in Spannungen und Befriedigung. Wie werden sie zur Handlung? Eine Vorstellung ist jeder Zeit wirksam; sie ist psychische Kraft. Aber Kraft, nur andere Vorstellungen zu verdrÈngen und selber Ýber die Schwelle der Bewußtheit zu treten, also die Kraft, mit welcher Vorstellungen als solche ausgestattet sind, ist nur Ausdruck fÝr ihr relatives TÈtigkeitsmaß, in das Bewußtsein zu treten. Ein anderes ist, wenn sie die FÈhigkeit erlangt, Antrieb zu werden. Steinthal44 unternimmt, Herbarts Ansatz in folgender Modifikation herzustellen: „Zum Wesen der Vorstellung als solcher gehÚrt motorische Kraft“ pag. 291. Scheint sie auf Bewegungsvorstellung einzuschrÈnken pag. 186. Die Vorstellung von Bewegung ist durch Bewegung erzeugte Sensation, ins Bewußtsein Ýbersetzte Bewegung, und indem die Vorstellung dieser KÚrperbewegung in den Raum des eigenen KÚrpers projiziert wird, entspringt der Bewegungsvorgang. Folglich pag. 292 lÚsen Vorstellungen von Bewegung, falls nicht Verbindungen sie hemmen, Bewegung aus.

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Diese geistvolle Ansicht mÝßte die folgenden Schwierigkeiten Ýberwinden kÚnnen, um den Tatsachen angepaßt zu sein: 1. Motorische Kraft der Vorstellung beschrÈnkt sich gar nicht auf den Umkreis von Bewegungsvorstellung, ja ist nicht einmal [ihm] vornehmlich eigen. Wenn ein Mensch in verwickelten LebensverhÈltnissen den Entschluß faßt, mit Klugheit nach einem bestimmten Plane auszuweichen, so eignet sie einer eigenen Vorstellungsgruppe. Die hÚchste motorische Kraft, welche das Treibende fÝr eine lange Lebensepoche sein kann. Hier aber sind wieder Bewegung von Gliedern ein mitgebrachtes Moment.45 Ich finde wohl, daß unter diesen UmstÈnden ein Ausgang der Muskeln und ein MuskelgefÝhl davon mitwirkend ist. Aber dies geschieht infolge einer hÚchst merkwÝrdigen Klasse von Reflexbewegungen. Die Bewegungen sind nicht Vorstellungen der bewegten Glieder. Vielmehr der weitaus grÚßte Teil von WillensvorgÈngen verlÈuft in unserer gebildeten Welt gÈnzlich im Innern und doch so, daß Vorstellungen von Èußeren BewegungsvorgÈngen dabei weder bewußt noch unbewußt als TrÈger der eigentlichen motorischen Kraft, d. h. der den Willen bildenden Kraft angesehen werden kÚnnen. Erweitere ich die Theorie nun dahin, motorische Kraft wohnt allen Vorstellungen von Bewegung bei, seien sie bloß psychischer Natur oder kÚrperlicher, alsdann verfalle ich dem bloßen Zirkel, motorische Kraft zu erklÈren aus der Vorstellung einer bereits vorhandenen motorischen Krafterscheinung. Ich setze psychische Kraft voraus, um sie dann vermittelst der Vorstellung derselben scheinbar zu erklÈren. 2. Steinthal sagt, und seine Theorie kann den Satz nicht entbehren: „Vorstellung der Bewegung ist nur die ins Bewußtsein Ýbersetzte Bewegung, sie ist im Bewußtsein erzeugt.“46 Das kann nur heißen: Nachdem einmal kÚrperliche Bewegungen eine Aufgabe gelÚst haben, kann alsdann der Inbegriff dieser Vorstellungsbewegungen Vorstellung werden und motorische Kraft haben. Oder sollten etwa die Bewegungen, deren Vorstellung motorische Kraft empfÈngt, Reflexbewegungen sein? Soll etwa der Gedanke sein: ursprÝnglich gibt es gar nichts als den physiologischen Reflexmechanismus und sein Spiel? Und dessen Vorstellung verknÝpft sich alsdann mit der irgendeiner Aufgabe und gibt ihr motorische Kraft? Woher stammt dann die Fassung eines Vorstellungskomplexes als eine Aufgabe? Stellt man eine Vorstellung einfach in bezug zur Erinnerung an eine Reflexbewegung, so setzt dies immer dasselbe zu erfahrende voraus, daß der Wille Bewegung hervorbringe. Entweder also in der obigen oder in dieser Form liegt in der von Steinthal vorausgesetzten [?] Bewegung bereits stillschweigend vorweggenommen eine motorische Kraft selber. 3. Und rufen dann wirklich bewußt als solche Bewegung hervor? Steinthal sagt: „Wir kÚnnen Bewegung vorstellen, ohne sie auszufÝhren, aus derselben Ursache, weswegen wir auch Dinge vorstellen kÚnnen, die wir nicht projizie-

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ren.“47 An sich werden Objekte der Sensation, in den Raum projiziert, Bewegungsbilder in den Raum des eigenen Leibes. Verbindungen allein kÚnnen dies hemmen. Hier liegt zuerst eine schwerverstÈndliche Theorie des ersten VerhÈltnisses vor. Sensationen werden in den Raum projiziert, wenn eine Erregung der Sinne sich dem Bewußtsein mitteilt. Es ist gÈnzlich irrtÝmlich, daß Verbindungen diesen Vorgang hemmen kÚnnen. Sie kÚnnen hindern, daß er zum Bewußtsein gelangt. Sie kÚnnen nimmer und unter keiner Bedingung bewirken, daß er innere Vorstellung, nicht Wahrnehmungsbilder errege. Innere Verbindung von Vorstellungen vermag das Ungeheuerliche, Sensationen an ihrer Projektion zu hindern und sie dennoch als Vorstellungen fortdauernd sein zu lassen. Alsdann aber bedÝrfte es eines Nachweises fÝr den hÚchst auffallenden Satz, daß Bewegungsvorstellungen als solche, abgesehen von hindernden Verbindungen, jedesmal Bewegungen hervorbringen. Ich gehe auf der Straße, ich finde mich von Bewegungen umgeben; es ist richtig, diese Bewegungsvorstellungen sind alle verkettet mit mir fremden Gesamtbildern. Man kann sagen, hier liegt eine Hemmung; ja noch mehr: Vorstellungsbewegungen meines eigenen KÚrpers finden jedesmal statt als Teile eines gesamten vergangenen, getrÈumten oder gegenwÈrtigen und kÝnftigen Vorgangs, d. h. sie sind niemals gegenwÈrtig isoliert. Die Psychologie erkennt nur Anschauungen der Bewegungen meines eigenen KÚrpers und Vorstellung, welche nur auf Reproduktion beruht. Reproduktion setzt aber wieder Verbindung voraus. Die Lage also, die Steinthal hÈtte untersuchen mÝssen, ist: hemmen gar Verbindungen die motorische Kraft von Bewegungsvorstellungen und erteilen gar Verbindungen den Bewegungsvorstellungen eine ihnen an sich nicht innewohnende motorische Kraft? Wir dÝrfen also diese Annahme außer Rechnung lassen, nehmen die Fragestellung auf: Wie geschieht es, daß Vorstellungen eine motorische Kraft erlangen? Diese motorische Kraft ist etwas von der Kraft, ins Bewußtsein zu treten, Verschiedenes. Und zwar dÝrfen wir, um diese Grundfrage der Theorie des Willens klarer zu stellen, hier den Begriff der Schwelle des Bewußtseins Ýbertragen. Vorstellungen, welche ausgestattet sind mit der Kraft des Antriebes, Vorstellungsmassen sind in der Seele, bewußt vielleicht, vielleicht unbewußt. Sie streben, gewissermaßen den Raum der AktivitÈt in der Seele zu erfÝllen, sie streben, Inhalt der AktivitÈt zu werden. Also eine Schwelle der AktivitÈt, d. h. ein Punkt im Zustand des Antriebs, an welchem derselbe TÈtigkeit wird. Und das ganze hier vorliegende Problem lÈßt sich so formulieren: Nach welchem Gesetz treten Antriebe Ýber die Schwelle der AktivitÈt?

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§ 14. Wir unterscheiden also fÝr den Mechanismus der Antriebe zwei Grundprozesse und ihre Gesetze: 1. Antriebe treten gemÈß den Reproduktionsgesetzen aus ihrem unbewußten Zustande in einen bewußten. Sie treten Ýber die Schwelle des Bewußtseins. 2. Antriebe werden nach den Gesetzen ihrer Mechanik, wÈhrend sie vordem in ihrem Kampf mit anderen Antrieben genommen gar nicht an bestimmte Stelle des Handelns, an einen gewissen Punkt im System unserer zukÝnftigen TÈtigkeiten projiziert wurden, nunmehr zu TÈtigkeit, d. h. sie werden auf eine bestimmte Stelle im System unserer kÝnftigen Folgen projiziert; anders ausgedrÝckt: sie treten Ýber die Schwelle der AktivitÈt. Ad 1) I. Gesetz: Die Vorstellung des Gegenstandes strebt den Antrieb zu reproduzieren. II. Gesetz: Die VerstÈrkung eines Strebungskreises, d. h. einer Energie, ruft das Streben hervor, Vorstellungen zu reproduzieren, die sich mit dem Strebungskreise durch Befriedigung assoziiert haben. III. Gesetz: Nach den Gesetzen der Assoziation von Vorstellungen reproduzieren diese einander, und so strebt folgerichtig ein Begehren auch entfernter liegende Vorstellungen zu assoziieren. Ad 2) 1. Generelles Grundgesetz: Unsere Seele ist in jedem Moment im Zustand einer sich betÈtigenden Energie. Ein Streben innerhalb der vorstellenden Energie nennen wir Interesse und Aufmerksamkeit. Schopenhauers willensfreier Intellekt ist eine Dichtung. 2. Generelles Grundgesetz: Die sich betÈtigende Energie wird sich ihres Zustandes von ungehemmter Wirkung in einem GefÝhl bewußt, das gewissermaßen anschwellender, erhebender Natur ist: Lust eine bestimmte Art. Hier zeigt sich ganz besonders deutlich, daß Lust ein Qualitatives ist. Zu unterscheiden sind Hemmungen, welche der BetÈtigung der Energie entgegenstehen, und solche, welche der Erreichung des Ziels entgegenstehen. Die letzteren werden gradezu den BetÈtigungsgrad nicht selten steigern, daher hier die gesunden Energien Schwierigkeiten in der Erreichung des Ziels und Steigerung der Lust hervorbringen. Dies ist nur zu erklÈren von der Theorie der Energie. 3. Gesetz: Antriebe treten unter sonst gleichen Bedingungen Ýber die Schwelle der AktivitÈt nach dem VerhÈltnis ihrer StÈrke. Diese setzt sich zusammen a) aus der StÈrke der Energien, b) aus dem VerhÈltnis der Vorstellung zu der einzelnen von mehreren Energien, c) dem gÝnstigen oder ungÝnstigen

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VerhÈltnis der Vorstellung des so entstehenden Ganzen zu dem System unserer kÝnftigen Handlungen, in welche es projiziert werden soll. Begehrungen streben einander nach dem Grade ihrer StÈrke zu verdrÈngen. Begehrungen wachsen in der Wiederholung und werden zu festen Neigungen und Gewohnheiten. Nach umgekehrtem VerhÈltnis wÈchst die StÈrke des Begehrens und sinkt die demselben Reiz entsprechende Lust. Charakter der NaturvÚlker. Der Prozeß, in welchem die Gewohnheit sich bildet, muß vom Verschmelzungsprozeß unterschieden und mit ihm verglichen werden. Gesetz: Die auf einen Gegenstand gerichteten verschiedenen Begehrungen verschmelzen zu einer. Alsdann reproduziert dieser Gegenstand den ganzen Inbegriff von Begehrungen. Auch die Gesetze der GefÝhle sind mit diesem zu verknÝpfen.

§ 15. Nach diesen Gesetzen verhÈlt sich die motorische Kraft der Vorstellungsgruppe in jenem Strebungsraum Benekes. Aber die so entstehende Mechanik, wie sie von manchen Forschern schon in dem Ungeborenen angenommen wird, jedenfalls aber die Bewegungen des Kindes in seinen ersten Stadien beherrscht, tritt alsdann in den Dienst einer hÚheren Ausbildung, wenn der weitere Grundprozeß des Selbstbewußtseins anhebt. Dieser Prozeß entspringt aus den Prozessen des Strebens, Begehrens und FÝhlens und wirkt alsdann auf dieselben zurÝck. So ist auf allen Stadien der Entwicklung des Willens Intellektuelles und Willensvorgang gÈnzlich verkettet. Lotze48 zeigt pag. 494, wie Selbstbewußtsein anhebe. Es scheidet sich der Raum der Bewegungsempfindungen und GefÝhle von seinem Jenseits, in welchem ZustÈnde gleichgÝltig und BewegungsvorgÈnge ohne eine Empfindung derselben sind. Die anÈsthetischen ZustÈnde bestÈtigen diese Tatsache. Ich finde: Der nÈchste Vorgang ist, daß vermÚge der Natur der Bewegungsempfindungen fÝr die Vorstellung der Wille gewÚhnlich zum Mittelpunkt dieser SphÈre wird, seine Radien [sind] die Bewegungsantriebe und GefÝhle. Es wÈre zu untersuchen, ob nicht die Anschauung einer tragenden Substanz sowie die verwandte von Kraft hier ihre elementarste Form hat. Diese SphÈre des Jenseits49 fÝr uns wird Gegenstand unserer Vorstellungen. Hierauf beruht, daß die Gesetze der Assoziation und Verschmelzung, welche den Antrieben und GefÝhlen als solchen eignen, sich dieser SphÈre bemÈchtigen und Vereinfachung und Verbindung in ihr schaffen.

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Alle intellektuellen Prozesse hÚherer Art wirken alsdann daran, die Entwicklung dieser Anschauung unseres empirischen Selbst zu fÚrdern. Die Anschauung dieses empirischen Selbst und des Inbegriffs seiner Relationen zur Außenwelt wird die Grundlage fÝr den Streit der Antriebe im Strebungsraum und fÝr ihre Projektion in das System der TÈtigkeit. Johannes MÝller Physiologie I,50 538: „Allen Vorstellungen, die mit Strebungen sich verbinden, ist die Vorstellung vom Selbst, vom Eigenleben das Grundthema.“ Hier mÝßte gezeigt werden, wie unsere einzelnen Antriebe bestÈndig assimiliert werden an dieses Gesamtbild, wie das Schema unseres Selbst, seiner Relationen und des Systems seiner Handlungen im Zeitverlauf den Kampf der Antriebe ordnet und wie die Relationen von Zweck und Mitteln, des Rechnens in unserem Handeln sich bilden.

§ 16. Es fragt sich, wie sich die oben erwÈhnten Gesetze unter den neuen UmstÈnden mit denen des Vorstellungsablaufs zu hÚheren Bildungsgesetzen verknÝpfen. Verschmelzung des •hnlichen und Assoziation der Vorstellungen hatten ihren Grund in der Natur dieser. Assoziationen entstanden, weil Vorstellungen in einem Zusammenhang gegeben sind, den sie herzustellen bestrebt sind. Daher schon die Verbindung der Vorstellungen mit dem Antrieb nicht als bloße Assoziation, wie sie dem ersten Blick erscheint, betrachtet werden darf. Alsdann aber gibt es keine Assoziation zwischen den Antrieben selber, sondern nur zwischen den mit ihnen verbundenen Vorstellungen. Dies ist der Grund, aus welchem die Bildung des inneren Zusammenhangs erst auf dem Grunde des Selbstbewußtseins sich vollzieht. 1. Indem die Vorstellungen, welche mit den Antrieben verbunden sind, Verschmelzungen und Assoziationen eingehen, entsteht ein Zusammenhang. Dieser bildet sich bewußt oder unbewußt. 2. Indem das StÈrkeverhÈltnis der Antriebe Gegenstand des gewissermaßen anschauenden Bewußtseins wird, alsdann aber auf ein dem ganzen Vorgang zugrundeliegendes Selbst bezogen wird, beginnt die Bewußtheit in der Charakterbildung, die Selbstanschauung, deren ethische Bedeutung die Monologen Schleiermachers51 dargelegt haben. Die Kraft setzt sich so aus den geistigen Resultaten der beiden Prozesse zusammen: 1) entschiedene Vorherrschaft von Begehrungsrichtung, der sich nunmehr nicht nur Begehren und GefÝhle,

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sondern auch Vorstellungen unterordnen; 2) zutretendes Bewußtsein, welches das Selbst und seine Relationen zur wirklichen Welt einheitlich erfaßt hat.

§ 17. Die Form, in der die hÚheren Bildungsgesetze wirksam sind, nennen wir Willen. 1. Das VerhÈltnis der Antriebe zueinander wird unter dem Einfluß der Anschauung des empirischen Selbst zu einer Form des Wechselns, in welches ein neues Begehren sich einordnet in das Ganze des empirisch wollenden Ich und seiner Relationen zur Außenwelt. 1. Gesetz: Jedes neu auftretende Begehren strebt, vermÚge seiner eigenen Bewußtheit, der Bewußtheit seiner StÈrke und der Bewußtheit [?] Ýber das empirisch wollende Ich nicht mehr einfach in AktivitÈt zu treten, sondern es zu tun, eingeordnet in den Zusammenhang der Antriebe, Vorstellungen und GefÝhle. 2. Gesetz: Diese Einordnung hat die Form einer Wechselwirkung, in welcher die beiden Faktoren sich gegenseitig bestimmen. Freiheit des Willens ist vor allem das VermÚgen, in dieser Wechselwirkung das empirisch wollende Ich selber fortzubilden. Die Theorien von Kant und Schopenhauer, welche den Willen als ein UnverÈnderliches betrachten und damit dem Leben den hÚchsten Antrieb der Entwicklung rauben, lassen sich an diesem Punkte als vollkommen unpsychologisch auszeichnen. Diese Wechselwirkung und die Fortbildung des empirischen Willens in derselben lÈßt sich in ebenso mannigfachen VorgÈngen auszeichnen, als die hÚheren entsprechenden Prozesse der Apperzeption. Und die sogenannten großen Wendungen und Entscheidungen des Charakters im Leben eines Individuums sind nichts anderes als umfassende Bildungsprozesse, in welchen, was vordem noch ungeschieden in dem Willen eines Individuums war, sei es von einer großen Alternation oder einer großen Tatsache in Prozessen der Wechselwirkung determiniert und gestaltet [wird]. Denn Charakter ist gestalteter Wille. 2. Das Bewußtsein des empirischen Ich und seiner Relationen zur Außenwelt gibt alsdann den Antrieben einen zweiten sie zum Willen erhebenden Grundzug. Der Antrieb, wie er sich einerseits in Wechselwirkungen eingeordnet hat und so zur AktivitÈt gelangt ist, wird nun andererseits projiziert an eine bestimmte Stelle in der SphÈre des Inbegriffs vorschwebender kÝnftiger Handlungen. Hier erklÈrt sich das schÚne Wort von Drobisch Empirische Psycho-

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logie pag. 246: „‚Ich will heißt so viel als ‚ich werde.“52 Der Antrieb wird Wille, indem vermÚge jener Projektion seine Realisation der SphÈre unserer TÈtigkeit eingeordnet wird. Dies scheint nur eine der Tatsache des Willens genauer entsprechende Bezeichnung als das von Drobisch aufgestellte Merkmal, daß Wille das Begehren unmittelbar voraussetze (246). Dies braucht in der Tat nicht der Fall zu sein. Wille setzt nur voraus das sichere Eintreten der sich vollziehenden Energie, d. h. er ist vermÚge der Prozesse der TÈtigkeit in der Zeit so gewiß als das Auge der erscheinenden Objekte im Raum. Dies ist die wahre Natur des Willens. Aus diesen beiden Momenten setzt sich das Wesen der Prozesse zusammen, welche im Unterschied von Antrieb als Wille bezeichnet werden. Sie entsprechen den hÚheren Bildungsformen der Vorstellung, welche als Apperzeption bezeichnet werden. Nur daß in der Apperzeption eine Wechselwirkung stattfindet zwischen einer Vorstellung und einer Gruppe und nur eventuell eine wahre Durcharbeitung. Dem Willen ist aber unter allen UmstÈnden eigen: Wechselwirkung mit dem empirischen Ich zu sein.

§ 18. Aufgrund dieser psychologischen Tatsache lÚst sich die Streitfrage in betreff des Wesens der Musik. Schopenhauer erklÈrt die Musik als das Abbild des Wollens in seinem metaphysischen Sinn. Diese Theorie gibt der Musik den Primat unter den KÝnsten. Wohl darum hat sie den Beifall der Musiker gefunden. Musik hÈtte dann einen Gegenstand. Sie drÝckte VorgÈnge aus, welche bis ins 19. Jahrhundert niemand in ihr gewahr geworden war. Sicher aber ist der Sinn einer Kunstwissenschaft nur das, was auch in ihr aufgefaßt wurde. Sind also WillensverhÈltnisse Inhalt der Musik, so sind es nur mittelbar die generellen WillensverhÈltnisse im Weltall. Mit dieser Theorie streitet die Èltere, welche in der Musik den Ausdruck des GefÝhls sieht. Schon die Tatsache, daß bald das eine, bald das andere wirklich als Inhalt der Musik von unbefangen Genießenden wie von Theoretikern aufgefaßt wird, beweist, daß jede dieser beiden Theorien nur ein unvollkommener Ausdruck des wirklichen Tatbestandes ist. Die LÚsung des Streites muß das Recht jeder von beiden Theorien dartun. Ist das GefÝhl nur eine bewußte Form von WillensvorgÈngen, so erklÈrt sich die HartnÈckigkeit des Streites und des Rechtes beider Parteien. Musik hat zu ihrem Gegenstand die Welt des GemÝts. Daher sie der Sprache auch dadurch Èhnlich ist, daß sie sich lauter genereller Bezeichnungen be-

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dient, um dann doch schließlich aus ihnen eine singulÈre Anschauung zustande zu bringen.53 Daher weiter fÝr sie das Wort und die einzelne Geschichte nur ein SingulÈres ist. Sie aber erhebt sich Ýber die VerknÝpfung bestimmter VorgÈnge mit Willensbewegung und stellt die Willensbewegung selber dar, welche alsdann in dem einen diese, in dem anderen jene Vorstellungsgruppe reproduziert. Daher endlich in der Musik eine Vollkommenheit in bezug auf das Darzustellende selber sich so entschieden absondert von der Vollkommenheit der Darstellungsmittel. Große Objekte zu ergreifen ist die Vollkommenheit des Dichters, aber die Musik messen wir daran, von welcher HÚhe sie Willensbewegungen darstelle, um uns hinaufzuheben.54 Das zweite Problem ist, inwiefern bestimmte TonverhÈltnisse zum Schematismus fÝr Willens- und GefÝhlsvorgÈnge werden. Von diesem Problem hat Helmholtz in seiner Theorie der Tonempfindung die eine HÈlfte gelÚst. Er hat gezeigt, wie Gefallen und Mißfallen aus physiologischen GrÝnden an bestimmte TonverhÈltnisse knÝpft. Er hat aus dieser fundamentalen Tatsache die Entstehung unserer Tonleiter und der Elemente des Generalbasses in einer geschichtlichen Entwicklung abgeleitet. Seine Untersuchung bestÈtigt in ihrem Resultat den Gedanken, welcher Grundgedanke der modernen Anthropologie werden muß: Alle hÚheren psychischen Gebilde sind geschichtliche Produkte und in allmÈhlicher Summierung kleinster Fortschritte in langen ZeitrÈumen entstanden. Mit den Resultaten der modernen Geologie, mit dem Bewiesenen an den Resultaten von Darwin erweisen sich die Ergebnisse der Anthropologie als zu einem umfassenden System einstimmend. Der Untersuchung bleibt die andere Seite. Helmholtz zeigt gewissermaßen, wo die Steine geschnitten, der Kitt gemischt wird, die Steine sich aneinander fÝgen: aber es fehlte das Zwischenglied zwischen dem Darzustellenden und Natur und Geschichte des Materials. Dieses Mittelglied ist der Schematismus des Tonsystems fÝr die WillensverhÈltnisse. Das Problem ist genau dasselbe als: Welche Beziehung waltet zwischen der Welt der Laute und dem psychischen Leben zur Bildung der Sprache? Das Mittelglied liegt in den psychophysischen GrÝnden, welche unsere Stimmwerkzeuge veranlassen, bestimmte Betonung, HÚhe und Tiefe, abgemessene VerhÈltnisse derselben unwillkÝrlich und unbewußt, ohne jede Absicht der Bezeichnung, gemÈß der GemÝtsverfassung hervorbrechen zu lassen, welche die Vorstellungsbildung in der Sprache begleitet. Von hier ergibt sich eine zweifache Folge. Dieselben Gesetze, die dort wirkten, wirkten freier und produktiver gestaltend in der Welt der Musik. Wie der Tastsinn in der Bildung unserer Ge-

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sichtswahrnehmung nur verkÝmmert gleichsam und im dienenden VerhÈltnis wirkend, wie er aber im Blindgeborenen allein herrschend eine Raumwelt gestaltet: so bilden diese GrundverhÈltnisse, selbstÈndig geworden und vom Dienste des Ausdrucks der VorstellungsverhÈltnisse befreit, einen Kosmos des Innern, die musikalische Welt. Denn auch zwischen den psychophysischen Faktoren, in deren Zusammenwirken die Entwicklung des Individuums sich vollzieht, besteht der Kampf um das Dasein, wie zwischen den Faktoren, die in der Weltgeschichte das Menschengeschlecht zu seiner Entwicklung bewegen. Sie sind KrÈfte, Energien. Zwischen allen Systemen von Kraft im Weltall herrscht der Kampf nicht um das Dasein allein, sondern um die Entfaltung zu der entwickeltsten Gestalt, deren sie fÈhig sind. Dieser Vorgang vollzieht sich aber unter der helfenden Vermittlung der Sprachbetonung. Redend und vernehmend erwerben wir Erinnerungsbilder von Lautfolgen in der Sprache selber. Und diese sind das Material, welches die Musik schÚpferisch gestaltet. So entspringt ihr eigenstes Werk, die rhythmisch geordnete Melodie, und es ist eine BestÈtigung fÝr diese Theorie, daß rhythmisch geordnete Melodie lange allein Musik ausmachte und erst spÈt in der Entwicklung des Mittelalters die anderen GrundverhÈltnisse der Musik ihre Geltung fanden.

§ 19. Zu untersuchen, in welchem Umfang die Musik auch Leidenschaften darstelle. Sie stellt Liebe dar, aber kann sie Haß darstellen? [Christoph Willibald] Gluck, Furie des Hasses, Armide [Oper, Paris 1777]. Musik war der kÝnstlerische Ausdruck der Bewegungen des Willens und der Leidenschaft, von Lust und Leid auf gewissermaßen [dem] Schauplatz des GemÝts, abstrahiert von jedem bestimmten, in Vorstellungen gegebenen Inhalt derselben. Aber die ohne jede Abstraktion hingestellte VergegenwÈrtigung von diesem allen ist in der dramatischen Dichtung. Und der Dichter der Leidenschaften ist Shakespeare. Es ist RÝmelins Verdienst, den Irrweg unhistorischen, aber auch unpsychologischen Idealismus, den Gervinus ging, verlassen, aus den Bedingungen der Zeit selber einige Antriebe richtig [?] abgeleitet zu haben, welche Shakespeare bestimmten.55 Er hat aber, einem Nahsichtigen vergleichbar, wohl die Bedingungen in Shakespeares persÚnlicher Lage und seinen nÈchsten Umgebungen gesehen, die weitergreifenden geschichtlichen Bedingungen erblickte er nicht. Shakespeares große Augen drangen aber sehr weit hinaus Ýber die persÚnlichen Bedingungen, in welchen sein Schicksal als Mitglied des verachteten

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Schauspielertums ihn gebannt hat, weit hinaus in den großen Horizont der Begebenheiten, die die geschichtliche Welt seiner Zeit erschÝttert haben. Und ein eigentliches GlÝck dieses seines Geschickes, welches wahrscheinlich keine noch so geachtete bÝrgerliche Stellung ihm hÈtte gewÈhren kÚnnen, setzte ihn in Verbindung zu den Kreisen der Aristokratie, in welchen das Leben der damalig handelnden Politik in der Tat verlief, was auch RÝmelin Ýber die tieferen Gesinnungen des BÝrgertums sagen mag. Ihm lag an einigen Stellen gewissermaßen die Struktur der motorischen Nerven bloß, welche den politischen KÚrper seiner Nation und seiner Zeit bewegten. Daher darf die Weise, wie er die moralische Welt erblickte in ihrem Unterschied von der, in welcher andere Dichter sie sahen, nicht ausschließlich mit RÝmelin aus der Stellung zu seinem ZuhÚrerkreis und aus seinen nÈchsten persÚnlichen VerhÈltnissen erklÈrt werden. Der kritische Punkt fÝr sein VerstÈndnis liegt in der Einsicht, wie seine persÚnliche Lage ihm mÚglich machte, wirkliche Triebfedern der ihn umgebenden moralischen Welt in einer bestimmten Perspektive und bestimmter einseitiger Begrenzung aufzufassen. In dem politischen KÚrper des damaligen England wurden zwar intellektuelle GefÝhle wie die der Religion benutzt: sie bewegten das BÝrgertum. Aber unter den ringenden Politikern erschienen Herrschsucht, Parteigeist und alle psychischen Entwicklungen eines Lebens der Leidenschaft, welchem die Intelligenz nur dient, dominierend. Dieselbe Grundansicht der menschlichen Existenz ward durch die herrschende italienische Literatur ausgedrÝckt. Dies war der Ýber das GewÚhnliche hinausreichende geschichtliche Horizont Shakespeares. Der Physiker isoliert fÝr das Experiment die NaturkrÈfte, welche sonst zusammenwirken. So isolierte Shakespeare die einzelnen Grundgestalten der Leidenschaft. Er gibt ihnen die Herrschaft in einer mÈchtigen, aber aller gegenwirkenden großen BeweggrÝnden wie durch ein isolierendes Experiment beraubten Seele. RÝmelin hat schÚn gezeigt, wie er im Unterschied von Goethe, welcher selbst eine Verwaltung geleitet hatte und daher das Spiel der kleinen Gegenwirkungen kannte, die Leidenschaft ohne solche immer bereite retardierende Medien in furchtbar rapidem, alles um sich zerstÚrendem Lauf dem tragischen Ausgang entgegenstÝrmen lÈßt, Gebirgsmassen zu vergleichen. Und so hat er genau das UrphÈnomen und Grundgesetz der Leidenschaft hingestellt. Es ist bemerkenswert, mit seinen Bildern die theoretischen AusfÝhrungen von Bacon und Hobbes zu vergleichen. Nie in seinen Korrespondenzen und seinen Schriften erwÈhnt Bacon seinen großen Zeitgenossen, vielleicht kannte er, in derselben Stadt mit ihm wohnend, keines seiner Werke. Aber in den SchÚpfungen des Dichters pulsieren dieselben Stoffe, welche den Theoretiker in seinen Andeutungen Ýber die Gestaltung der Ethik beschÈftigt

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haben. So mÈchtiger56 wirken in Shakespeare die wichtigeren geschichtlichen aber entfernteren Bedingungen, welche RÝmelin außer Rechnung lassen zu dÝrfen glaubte.57

§ 20. Als weitere Faktoren der Entwicklung des Willens treten die Bedingungen der Èußeren Natur und die Gliederung der Gesellschaft hinzu; wie diese selber aus den psychischen GrundverhÈltnissen entspringt, so wirkt sie auch wiederum auf dieselbe zurÝck, und hier treffen wir auf das Grundgesetz der psychischen Entwicklungsgeschichte. Eine erste Gruppierung psychophysischer Bedingungen, die sich naturgesetzmÈßig verhalten, bringt im Zusammenwirken der Individuen in der Außenwelt erscheinende und verharrende Gebilde vor, alsdann aber wirken diese Gebilde wieder rÝckwÈrts zu einer hÚheren Entwicklung der einzelnen Seelen. Ein tiefsinniges Geheimnis der Weltordnung lÈßt die Gestalten der Menschen auseinander werden, und so besteht das Individuum Ýberhaupt nur als Glied der Familie und ihrer Erweiterung im Geschlechtsverband. Alsdann ist unter bestimmten Úkonomischen Bedingungen die Erhaltung der Familie an das Eigentum gebunden. Dies sind die beiden ursprÝnglichen Faktoren der Gesellschaft. Wo Gesellschaft ist, und bestÝnde sie auch nur zwischen zweien, da herrscht in der Seele ein Antagonismus der BeweggrÝnde. Selbsterhaltung folgt aus dem Zusammenwirken der Triebe. Sie ist das Wesen von jedem unter ihnen. Denn jeder Trieb verlangt nach BetÈtigung und Entfaltung. Das Produkt ihrer aller ist ein Gesamtstreben, fÝr welches der Begriff der Selbsterhaltung als abstrakter Ausdruck gelten mag. Streben die Individuen nach BetÈtigung ihrer Energie, so liegt darin keine neue Tatsache. Wissen sie dies Streben im Zusammenhang mit dem empirischen Gesamtwillen und nennen wir das Einzelstreben in diesem seinem Zusammenhang mit dem empirischen Gesamtwillen Selbsterhaltung, so war auch dies mit dem Selbstbewußtsein gegeben. Aus der Tatsache der Gesellschaft entspringt erst, daß dieser Gesamtwille sich ausschließend mit seinen Interessen dem Willen der anderen gegenÝberstellt. Dies mag dann in einem noch engeren Sinn Selbsterhaltung genannt werden. Doch ist dies nur eine Form, in welcher der Inbegriff unserer psychophysischen Energie sich erhÈlt. Schon das Band der Familie enthÈlt in sich eine zweite Grundform. Wir wÈhlen fÝr sie den allgemeinsten Ausdruck der Sympathie. Wir vermÚgen aber nicht, diese Tatsache zu erklÈren. Ihr adÈquater

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Ausdruck ist: Nicht nur die Hemmungen und FÚrderungen einer Person selbst werden von dieser in Schmerz und Lust erfahren, sondern die aus der Hemmung und FÚrderung anderer empfindender Individuen entspringende Lustund Schmerzempfindung pflanzt sich zu uns selber fort. Und zwar in dem Maße leichter und stÈrker, als das Innere derselben unserem eigenen Èhnlicher und darum verstÈndlicher ist. Gibt die menschliche Stimme einen Ton an, so klingt derselbe, wenn er endigt, auf der Saite eines Klaviers, von welcher der DÈmpfer weggenommen ist, weiter. Ein Èhnliches PhÈnomen scheint hier vorzuliegen. Ich glaube, daß hiervon eine andere Tatsache unterschieden werden muß. Ein Atom ist mit Repulsivkraft ausgestattet, aber es gravitiert zugleich gegen alle anderen Atome. Der elendste Mikrozephale, welcher unfÈhig ist, Vater und Mutter von anderen Individuen zu unterscheiden, bedarf doch der Gesellschaft irgendwelcher Individuen und beginnt in Weinen auszubrechen, wenn er sich allein findet. Es ist schwerlich allein das GefÝhl der Hilfslosigkeit, welches hier waltet, das Individuum gravitiert gegen alle Individuen. Auch Sympathie ist ein PhÈnomen der geschichtlichen Menschheit, nicht eine Eigenschaft des Individuums. So waltet dieser Antagonismus in der Gesellschaft, und es ist ein wichtiger Teil in der Entwicklung, daß die SphÈre der Befreundeten, innerhalb deren Sympathie den aus der Selbsterhaltung stammenden feindlichen Gegensatz gemildert hat, wÈchst. Ein psychisches Motiv hierzu liegt in der sich erweiternden Bekanntschaft mit dem Inneren der Glieder anderer StÈmme: so werden sie befreundet. WÈhrend aber dieses Motiv Úfters herausgehoben wird, wird das Realmotiv nicht gesehen, welches doch wesentlich bestimmend ist. Dies liegt in der Entwicklung der Gesellschaft selber, welche gemeinsame Interessen in immer weiteren Kreisen schafft. FriedlÈnder zeigt in seiner Sittengeschichte Roms,58 daß der Gedanke der WeltbÝrgerschaft nicht dem Christentum angehÚrt, sondern in der stoischen Philosophie des rÚmischen Kaisertums bereits vorhanden ist. Gewiß wirken zu diesem VerhÈltnis parallele Vorstellungen an beiden Punkten. Aber gewiß wirkte ebenso mÈchtig die Verbreitung gemeinsamer Interessen Ýber einen weiten Kreis ganz heterogener VÚlker. Diese alle fanden sich durch ein Verwaltungssystem zu einem gemeinsamen Interesse verknÝpft, und noch weit hinaus Ýber diesen Kreis verbreitete sich zu anderen Nationen außerhalb des Reiches das moderne, verknÝpfende Interesse des Welthandels.

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§ 21. Innerhalb dieser Gesellschaft bilden sich moralische Normen. Denn es bilden sich normale VerhÈltnisse, d. h. solche, welche der Natur der Beteiligten angemessen erfolgreich das Leben ordnen. Diese wiederholen sich alsdann. So59 assoziiert sich die Befriedigung, welche sie gewÈhren, mit einer durch Verschmelzung gebildeten festen Vorstellung derselben. Daher beherrscht diese von Befriedigung begleitete Norm alsdann die jedesmalige neue Gestaltung desselben VerhÈltnisses. Dies ist die Èlteste Form des Gesamtgewissens, welches in einer Nation lebendig ist. Es sind alsdann nicht nur die in unserem Sinn sittlichen VerhÈltnisse, deren normale Gestalt die Menschen solcher Zeiten in immer neuen Bildern anzuschauen streben. Jeder Zustand, jedes VerhÈltnis, jedes Tun hat einen solchen normalen Verlauf, welchem anzuschauen eine ideale Befriedigung gewÈhrt. Vom Anschauen der Rosse bis zu den Streitreden der Helden. Die Dichtung tritt hervor, um dies gemÈß jenem obigen allgemeinen Entwicklungsgesetz im Epos zu bleibender Gestalt zu formen, welche alsdann wiederum auf die sittliche Entwicklung der Nation zurÝckwirkt.

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2. *Die Gliederung der psychischen Akte

§ I. Der psychischen Akte oder ZustÈnde werden wir primitiv gewahr in uns selber. Und zwar werden wir, ganz wie es mit den physischen in der Außenwelt geschieht, nur zusammengesetzter TatbestÈnde gewahr, nicht einfache. Einfache TatbestÈnde sind das Ergebnis eines wissenschaftlichen Schlußverfahrens; ein solches hat bis jetzt nur fÝr die sinnliche Wahrnehmung in der Empfindung ein Element festgestellt. Die Annahme, daß im weiteren Verlauf die komplexen Gebilde als solche wirksam wÈren, ist falsch, vielmehr erfahren diese komplexen Gebilde unaufhÚrliche VerÈnderungen im Verlauf des psychischen Lebens, und diese VerÈnderungen finden durch Schwinden und Hinzutreten von Elementen und Modifikationen derselben statt. Hiernach bedarf das Problem der psychischen Elemente einer Erweiterung.

§ II. Jeder wahrnehmbare psychischer Vorgang oder Zustand ist demgemÈß eine Kombination psychischer Elemente. Gruppierung sagt zu wenig, Einheit zu viel. Ebensowohl als man die GesetzmÈßigkeit in der Entstehung solcher Elemente erforschen kann, kann man auch die GesetzmÈßigkeit in den VerÈnderungen der Koexistenz und der Abfolge derselben studieren.

§ III. Eine jede Kombination psychischer Elemente als Vorgang oder als Zustand ist zunÈchst eine Kombination von Vorstellungselementen. Erstes Gesetz: Es gibt keinen psychischen Vorgang oder Tatbestand, ohne eine Vorstellung.

2. *Die Gliederung der psychischen Akte

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§ IV. Der Vorstellungsinhalt eines psychischen Vorgangs oder Zustandes ist mindestens in weitem Umfang mit merkbaren GefÝhlen verbunden, und dieser Komplex hat zum Teil eine merkbare motorische Kraft oder Eigenschaft.

§ V. Psychische Kombinationen sind in wachem Zustande nur vorÝbergehenden ZufÈllen der Assoziation preisgegeben. Bewußt oder unbewußt streben sie untereinander [?] die Wirklichkeit vorzustellen, oder sie enthalten eine Wirklichkeit, die nicht besteht, die aber mit der motorischen Kraft ausgestattet ist, in das Leben gesetzt zu werden, oder sie bilden eine Wirklichkeit aus, welche nicht besteht, welche aber nur vorzustellen befriedigt.

§ VI. Eine solche Einteilung wÝrde sagen, daß in60 der ersten Klasse der Vorstellungs[. . .] vorherrsche, in der zweiten die motorische Seite, in der dritten der GefÝhlsvorgang. Dieser Satz ist nur der rohe Ausdruck eines feineren VerhÈltnisses; um dieses feinere VerhÈltnis zu studieren, kann man z. B. die Natur des dichterischen Ideals ins Auge fassen. Dieses ist mit einer motorischen Kraft ausgestattet, hat aber nun die EigentÝmlichkeit, daß sie bloße Vorstellung befriedigt; unmÚglich kann man hier sagen, daß der GefÝhlsvorgang das Wesentliche in diesem Vorgang sei.

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

3. Die GefÝhls- und Triebkreise. Allgemeine Eigenschaften

Satz 1. Die Zusammensetzung der menschlichen ZustÈnde ist einmal bedingt durch das Mannigfaltige der Empfindungen, dann durch das der GefÝhle und WillensvorgÈnge. Jenes ist die Peripherie, dieses das Zentrum des Seelenlebens. Die charakteristische Form von GefÝhl und die von Wille ließen sich klar sondern. Diese beiden Formen bezeichnen aber nur Daseinsweisen derselben VorgÈnge: unmerklich gehen sie aus der einen in die andere Ýber. Das GefÝhl von Rache gegen jemanden, der uns verletzt hat, und der Trieb, in Handlungen Folge zu geben, gehen ununterscheidbar ineinander Ýber. Das stolze GefÝhl von der ZuverlÈssigkeit meines gegebenen Wortes geht in die Abwehr jeder Verlockung es zu brechen ununterscheidbar Ýber. So gehen also VorgÈnge und ZustÈnde durch die Formen von GefÝhl und Trieb hindurch. Satz 2. In beiden Formen kann als charakteristisch ein festliegendes VerhÈltnis zwischen Eindruck und subjektiver Reaktion in GefÝhl oder Trieb aufgefaßt werden. In diesem VerhÈltnis liegt jeder Keim von Verkettung der objektiven und der subjektiven Elemente und VorgÈnge unseres Seelenlebens. So bringt ein VerhÈltnis bestimmter TÚne jederzeit dasselbe GefÝhl von Harmonie und die leise Triebbewegung, sie festzuhalten, hervor. Wogegen ein anderes VerhÈltnis als Disharmonie gefÝhlt wird und ein leises Streben nach Aufhebung hervorruft. Satz 3. Ein solches festes VerhÈltnis hat zwei Glieder, und so kÚnnte in abstracto die Aufstellung von Gruppen solcher VerhÈltnisse von jedem der beiden Glieder ausgehen. Aber GefÝhl und Trieb empfangen ihre Farbe, Form und Ausdehnung eben durch den Eindruck, auf den sie reagieren. So wird die Anordnung von Gruppen, die Aufstellung von Klassenbegriffen auf diesem Gebiete von dem Unterschiede der EindrÝcke auszugehen haben. Jeder Klasse sind

3. Die GefÝhls- und Triebkreise. Allgemeine Eigenschaften

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dann einzelne GefÝhls- und TriebzustÈnde untergeordnet; sie bilden einen von der Art des Eindrucks regierten GefÝhls- und Triebkreis. Satz 4. Zu jedem wirklichen, also sehr zusammengesetzten GefÝhl einer Stimmung, einer Emotion ist ein Mannigfaltiges solcher Reaktionen verbunden, und diese gehÚren ganz verschiedenen GefÝhls- und Triebkreisen an. In dem GefÝhl, welches die Melodie einer Oper in mir hervorruft, kann verbunden sein ein heroischer Effekt, das GefÝhl einer Harmonie, GefÝhl vom Rhythmus hervorgebracht, das vom Auf- und Absteigen der TÚne bedingte GefÝhl.61

I. Die GefÝhls- und Triebkreise des Sinnenlebens62 1. Die das Zentrum des Willens ausmachenden sinnlichen GefÝhls- und Triebkreise Man kann sagen, daß die gewaltigsten KrÈfte der moralischen Welt Hunger, Liebe und Krieg sind. Die physiologischen Prozesse, an welche die Erhaltung des Individuums und der Art geknÝpft ist, enthalten ein Mannigfaches von Reflexmechanismen, aber von diesen sind einige der hauptsÈchlichsten dem Willen ganz entzogen, also nur automatisch. So die Reflexmechanismen des Atmungsvorgangs und des durch die Herzbewegung unterhaltenen Blutkreislaufes. Diese Reflexmechanismen arbeiten in einem Ablauf kurzer regelmÈßiger Perioden ohne Zutun des Willens, und nur krankhafte StÚrungen sind von stÈrkeren GefÝhlen begleitet. Dagegen die Nahrungsaufnahme, welche eine Auswahl und ein Besitzergreifen fordert, vollzieht sich durch die mÈchtigste, elementarste, zugleich aber vom Bewußtsein begleitete Triebbewegung, welche Ýberhaupt der Erhaltung des KÚrpers dient. Hier ist miteinander das heftigste UnlustgefÝhl in Hunger und Durst, ein unwiderstehlicher Trieb, der nach Befriedigung drÈngt, ein hÚchst intensiver Genuß in der Befriedigung selbst, dann das typische GefÝhl des Sattseins miteinander verbunden. Die Natur hat so auf die schÈdliche Nahrungsenthaltung eine bittere Strafe gesetzt, auf die richtige Nahrungsauswahl eine PrÈmie. So hat sie Tiere und Menschen gezwungen, auch unter noch so schwierigen UmstÈnden die geeigneten Nahrungsstoffe zu suchen und von ihnen Besitz zu ergreifen. Auch sehen wir das Leben niederer Tierformen, dann des Raubtieres, der Grasfresser von dem Ab-

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

lauf dieses Triebes in seinen verschiedenen Stadien ganz vorherrschend ausgefÝllt. Gier, Erhaschen der Beute, SÈttigungsruhe erfÝllen dem Raubtier seinen Tag. Das Leben des Neugeborenen teilt sich nach dem Ablauf dieses Triebes in Unruhe, Schreien, Nahrungsaufnahme, SÈttigungsruhe und Schlaf. Und auch im Leben der NaturvÚlker nehmen die Stadien dieses Triebvorganges den breitesten Raum ein. Doch stÝrmischer tritt noch der Trieb auf, welcher der Erhaltung der Gattung dient. Wiederum hat die Natur in der Lust eine PrÈmie auf das gesetzt, woran ihr nach der Erhaltung des Individuums am meisten gelegen ist: die Erhaltung der Gattung.63 Ebenso elementar und mÈchtig sind die mit Reflexmechanismen verbundenen Triebe, welche auf feindliche Eingriffe von außen mit Abwehrbewegungen antworten oder in Schutz und Sicherheit flÝchten. Diese Abwehr- und Schutztriebe und ihre Mechanismen haben ebenfalls eine sehr große elementare MÈchtigkeit, Unwiderstehlichkeit; sie sind ebenfalls der Sitz starker Affekte, wie Zorn, Haß, Schrecken, Entsetzen, Angriff. Dann wieder Ausruhen in der Sicherheit. Auf den Eingriff folgt unwillkÝrlich die Abwehrbewegung. Man gewahrt am Tier, das augenblicklich zuschnappt, an der fortstoßenden Bewegung des Menschen, wie unwillkÝrlich hier zwischen Ein- und RÝckwirken die Verbindung ist, wie schwer sie beherrscht werden kann. Die einfachen, vom Reiz aus determinierten Abwehr- und Schutztriebe sahen wir schon in ihrer typischen Gestalt; in dem Sichzusammenziehen niederer Tiere liegt eine elementare Form dieser Triebe.64 Bei der BerÝhrung schließen Muscheln ihre Schalen, WÝrmer flÝchten in den Sand, Schnecken in ihr GehÈuse. Eine andere Form von •ußerung, welche dem feindlichen Eingriff antwortet, ist neben der Schutzbewegung die Abwehrbewegung. Die einen Tiere spritzen FlÝssigkeiten widriger Art aus, die anderen wehren sich mit Kiefern, mit RÝckenflossen, mit Tatzen oder Hufen. Kleine Tiere ringeln sich zusammen und stellen sich tot, wieder andere schrecken ihre Feinde durch lautes GerÈusch, plÚtzliche VerÈnderung ihrer KÚrperform, drohen mit ihren Waffen. Àberall in dieser Tierwelt die einfachen Typen der Formen von Trieb, Affekt und Bewegung, die uns dann in der menschlichen Gesellschaft begegnen.65 Schon die hÚheren Tiere zeigen kompliziertere Formen von Schutz und Verteidigung. Auch hier tritt dem Angriff gegenÝber Ýberall die Doppelform von Flucht und Abwehr je nach dem Naturell und den Mitteln des GeschÚpfes auf. Schneider erzÈhlt: Als einst im Aquarium von Neapel ein Menschenhai in ein Bassin getan wurde, in welchem sich eine grÚßere Anzahl Balistes befand, waren diese bei der ersten Wahrnehmung des schon sterbenden Feindes wie ein Blitz dem Auge verschwunden. Sie konnten nicht fliehen, hatten sich aber so an die Felsen gedrÝckt, daß sie schwer an denselben zu bemerken waren.

3. Die GefÝhls- und Triebkreise. Allgemeine Eigenschaften

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Man sieht die Schnepfe sich geschickt in ihrem Versteck niederducken,66 wie die VÚgel ducken sich auch die katzenartigen Raubtiere; es ist dieselbe Bewegung, welche auch der Mensch gewissen Formen von Angriff gegenÝber unwillkÝrlich macht. Andere Tiere schÝtzen sich durch mÝhsam angefertigte HÝllen, und hier treten nun dann weiter jene zusammengesetzteren Instinkte auf, welche vom Sichvergraben eines Wurmes im Sande aufwÈrts fÝhren zu den DÚrfern der Termiten. Dem stehen dann die Abwehrbewegungen gegenÝber. In diesen entfalten sich in der Tierwelt die Emotionen des Mutes, des Zornes, des Hasses. Wie wehren sich die meist sehr mutigen, zu Zorn und Angriff erregbaren mÈnnlichen VÚgel auch ganz Ýberlegenen Feinden gegenÝber.67 Der BÈr und der Gorilla entreißen zuweilen dem Menschen die Waffe, zerbrechen und zerbeißen sie. Die List des Affekts, welche im Abschrecken der Feinde liegt, macht sich in der hÚheren Tierwelt wie dann in der Menschenwelt schon sonderlich bemerkbar. VÚgel strÈuben das Gefieder, die Brillenschlange breitet die Haut zu beiden Seiten des Halses zu einer großen platten Scheibe, dem sogenannten Schilde, aus.68 Andere Tiere erheben den RÝcken, strÈuben die Haare, blecken mit den ZÈhnen, brechen in Geheul aus.69 Alle diese Formen von Abwehr kehren dann in Triebbewegungen innerhalb der Menschenwelt wieder und entfalten sich dann zu den sich mit Bewußtsein auslebenden Emotionen. Auch da ducken, flÝchten und verstecken sich die SchwÈcheren, die Mutvolleren wehren sich, beide Klassen aber versuchen es mit Drohungen. MÈßigen Angriffen auf das Selbst gegenÝber blÈhen sich zunÈchst viele Menschen, werden die Angriffe heftiger, dann usw. Triebartige Drohbewegungen liegen in dem Erheben der Stimme, im Streit, im Vorhalten der FÈuste, dem EntblÚßen der ZÈhne.70 Die drei mÈchtigsten Arten von Emotionen haben wir hiermit beschrieben;71 ihnen ist eigen, daß hier dem ErnÈhrungsprozeß, der Erhaltung des Individuums, der Fortpflanzung der Gattung Reflexmechanismen zur VerfÝgung stehen, welche gleichsam vom Reiz bis zu der Bewegungshandlung unwiderstehlich, maschinenartig, naturgesetzlich, wie der Stein fÈllt und das Wasser abwÈrts fließt, wirken. Diese sind dann mit den stÈrksten Unruh- und UnlustgefÝhlen ausgestattet, welche die ganze Natur kennt. Die Triebe, die so entstehen, werfen in starken Naturen alles in der Seele widerstandslos nieder. Und wie sie nun mit anderen GefÝhlen, Trieben und Erfahrung in Beziehung treten, entstehen aus diesen mÈchtigen Trieben Begierden oder Leidenschaften, welche sich unter gÝnstigen UmstÈnden Ýber die ganze Seele ausbreiten, allen gegenwirkenden Motiven und Bildern die Kraft aufsaugen; wie es Pflanzen gibt, die um sich jeden anderen Pflanzenwuchs zerstÚren, so wirken in vielen FÈllen diese großen Eigenschaften des Menschenlebens in einem GemÝte.72

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

Diese stÈrksten sinnlichen Leidenschaften umgeben im Seelenleben andere von einer minderen Gewalt.73 Die Bewegungstriebe durchwalten den ganzen KÚrper. Wie mÈchtig sie sind, zeigt der Schmerz Ýber ihre Hemmungen dem eingesperrten Raubtier, dem gefangenen Menschen. Ihre Vergeistigung liegt in dem Freiheitsdrang, dessen sinnliche Unterlage sie sind. In rhythmischem Wechsel folgt dem Bewegungsantrieb das Verlangen nach Ruhe. Auch dieses SinnesgefÝhl ist die Unterlage jener geistigen Stimmungen von RuhebedÝrfnis, tiefem Behagen, in welchem diese GefÝhls- und Triebform Verbindungen eingeht mit solchen anderer Klassen; bilden diese Bewegungs- und Ruhetriebe die eine HÈlfte eines Kreises, so bilden die GefÝhle und Triebe des Sinnenlebens die andere. An74 die Bewegungstriebe schließen sich in der tierischen Welt die Kunsttriebe an. In ihnen ist zu bestimmten zusammengesetzten Bewegungsformen ein von GefÝhlen begleiteter Trieb vorhanden, den bestimmte Reize regelmÈßig auslÚsen.75 Diese entweder Èußere oder innere. Z. B. Jahres-Periode. Sexuelle. Unterschiede der konstanten und der periodischen Kunsttriebe etc. Es ist bei den Menschen etwas Entsprechendes. Es liegt in76 1. Gibt es auch Triebmechanismen?

4. *GefÝhl und GefÝhlskreise

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4. *GefÝhl und GefÝhlskreise

[I.] Die GefÝhle 1. Stellung der GefÝhle Man kÚnnte sich ein Wesen denken, dessen inneres Leben im Wechsel von Empfindungen, den Beziehungen derselben in den Wahrnehmungen, der Transformation von solchen in Vorstellungen verliefe: ein solches GeschÚpf wÝrde, in seiner HÚhle, von wilden Tieren und aller Unbill der Natur bedroht, dieses alles in gleichgÝltiger Abspiegelung gewahr werden: das nÈchtliche BrÝllen des LÚwen wÝrde in Zusammensetzung der Empfindung zu Wahrnehmung aufgefaßt werden, Vorstellungen wÝrden sich mit dieser Wahrnehmung verbinden, SchlÝsse wÝrden auftreten: und dies alles wÈre wie ein den Intellekt beschÈftigendes Schauspiel, und kein Angstruf, kein Antrieb zu Flucht oder Gegenwehr wÝrden in ihm entstehen. In den GefÝhlen, in Lust und Schmerz treten ZustÈnde auf, welche aus keinen VerhÈltnissen der bisher erÚrterten ZustÈnde zueinander abgeleitet werden kÚnnen. Und eben hierin liegt die ZweckmÈßigkeit des tierischen und menschlichen Seelenlebens. Wahrnehmungen und Vorstellungen in mir rufen diese zentralen LebensÈußerungen von Lust und Schmerz auf, die zu der Vollkommenheit der physiologischen VorgÈnge im lebenden [?] Wesen wie zu der des psychologischen Ablaufes ein zweifelloses VerhÈltnis haben und von diesen GefÝhlen aus entstehen. Dann die Antriebe und Bewegungen, welche das lebendige GeschÚpf den Bedingungen seines Wohlseins anpassen. 2. Die empirisch auftretenden GefÝhle sind alle zusammengesetzt Alsdann: GefÝhl! Was es sei, wird nur in dem Zustand selber erlebt. Gleichnisse mÚgen zu Hilfe kommen, Beziehungen verfolgt werden. Wie aber die Empfindung nur in der zusammengesetzten Wahrnehmung uns da ist, so [ist] auch der einfache GefÝhlszustand nur verschmolzen mit seiner Empfindungsoder Vorstellungsunterlage, unlÚsbar vielfach mit Verlangen, Antrieb verbunden, ein Mehrfaches in sich. Wie zusammengesetzt jeder Èsthetische Eindruck! Oder ein Affekt, eine die Vorstellungsmassen durchziehende Stimmung, die zwischen Lust und Unlust wie ein flackerndes Licht wechselnde Hoffnung

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

oder Furcht [?]. Wie verschieden dann voneinander sinnliche Lust, Trauer, Gefallen, Billigung! Was vermag hier der Analytiker zu tun? Ich gehe von dem Beispiel aus. Siehe [. . .] 3. Sie kÚnnen nicht von ihrer Empfindungs- und Vorstellungsunterlage getrennt werden Das Neue, das hier auf der Unterlage unserer Empfindungen und Vorstellungen auftritt, ist mit dieser seiner Unterlage untrennbar verschmolzen. Das GefÝhl, das die Wahrnehmung eines Akkordes begleitet, kann nicht von dieser seiner Unterlage abgetrennt und fÝr sich aufgefaßt werden. Hierdurch bieten die Erfahrungen unseres GefÝhlslebens der psychologischen Zergliederung schon unÝberwindliche Schwierigkeiten. Wie verschieden sind voneinander das frei aufsteigende jubilierende GefÝhl, mit welchem ich im FrÝhling die Lerche vernehme: „Ýber mir im blauen Raum verloren“,77 und das Behagen, mit welchem der Gourmand die Lerche verzehrt, die sinnliche Lust und das GefÝhl sittlicher Billigung! 4. Beispiel der so entstehenden Komplikation Ist so die Analysis auf die innere Erfahrung der vielfachen GemÝtszustÈnde angewiesen, so findet diese sich hier nicht nur durch die Verschmelzung der GefÝhle mit ihrer Empfindungs- und Vorstellungsunterlage, sondern auch durch die der GefÝhle untereinander und die ÀbergÈnge von ihnen zu Sehnsucht, Verlangen, als ersten Formen von Willensvorgang [vor einer Komplikation].78 Wie der Verlauf des Lebens mir keine einfachen Empfindungen bringt, sondern Wahrnehmungen, so bringt er auch keine einfachen GefÝhlszustÈnde, sondern Zusammensetzungen derselben,79 Stimmungen, Affekte, die zwischen Lust und Unlust unstet [hin- und hergehen], wie flackerndes Licht, wechselnde Furcht und Hoffnung. Denn jeder GefÝhlszustand, welcher nun entsteht, hebt sich von der Lage des LebensgefÝhls ab und des GemeingefÝhls, welches ein dunkles GefÝhl unserer Stellung zur Welt einschließt. Gleichzeitige GefÝhle verschmelzen, wenn sich die Vorstellungen zu einer Einheit verbinden, welche diese GefÝhle tragen. Man vergegenwÈrtige sich einen Zeitpunkt in dem GefÝhlsleben Schillers. Er ist gegen das Ende seines mÈchtigen, rasch durchstÝrmten Lebens, an der Wende von 1803 zu 1804. Er arbeitet an Wilhelm Tell. „Wenn mir die GÚtter gÝnstig sind, das auszufÝhren, was ich im Kopfe habe, so soll es ein mÈchtiges Ding werden, und die BÝhnen von Deutschland erschÝttern.“ (12. September 1803)80 Damit kontrastieren die EindrÝcke der anwesenden Frau von Stal „unter allen lebendigen Wesen, die

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mir noch vorgekommen, das beweglichste, streitfertigste und redseligste“. Und dies alles hebt sich vom Grunde einer Todesahnung ab, die ihn nie mehr verlÈßt: Herder ist gestorben. „Ich kann mich der Todesgedanken nicht erwehren. Ohnehin ist der Winter ein so dÝstrer Gast, und enget einem das Herz.“ (4. Januar 1804).81 Wenn er nun von einem GesprÈch mit de Stal zu seinem FreiheitsstÝcke zurÝckkehrte: wie zusammengesetzt war da die Stimmung in ihm! Wie uns in der Wahrnehmung ein Ergebnis psychischer Verbindungen gegeben ist, so auch in der GefÝhlslage eines gegebenen Augenblicks. Alle GefÝhle vereinigen sich in einem gegebenen Augenblicke zu einer solchen Totalwirkung, die wir als GefÝhlslage bezeichnen kÚnnen. Auch wo ein Zweifel, ein Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung oder im Komiker diese GefÝhlslage zwiespÈltig ist, sind die beiden einander entgegenwirkenden Bestandteile zu einer Stimmung verbunden. Sofern nun die Vorstellungsbestandteile nicht zu einer Einheit verknÝpft waren, erscheinen auch die GefÝhlszustÈnde trennbar; wo aber eine Einheit, wie die seines ihm vorschwebenden Werkes, die Grundlage der Stimmung ist, ist eine Trennung des innig Verschmolzenen nicht auszufÝhren.

5. Grenzen der Analysis So ist die Analysis hier darauf eingegrenzt, daß wir Antezedenzien von ungleichster Einfachheit wirken lassen und die VerÈnderung im GefÝhlsleben beobachten, welche hiervon die Folge ist.82 Das Mannigfaltige, welches durch eine bestimmte Klasse von Antezedenzien hervorgerufen wird, nenne ich einen GefÝhlskreis. Wie objektives Licht, als eine bestimmte Klasse von Reizen, den Farbenkreis hervorbringt, so geschieht es hier, daß eine Klasse von Antezedenzien ein Mannigfaltiges von GefÝhlen zur Folge hat, die alle untereinander verwandt sind. So werden die elementaren Beziehungen des GefÝhls zu dem, was in ihm nach seinem Werte erfahren werden kann, aufgefunden. Dieselben [bezeichnen wir als] elementare Funktion des GefÝhlslebens. Sie sind die einfachsten Reaktionsweisen, denen wir fÈhig sind. Diese Kreise durchlaufen wir nun.

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

[II.] Sinnliche GefÝhle und Stimmungen II. Die mit den Empfindungen regelmÈßig verbundenen GefÝhle und deren bestÈndige Tendenz, in Triebformen Ýberzugehen WÈhrend die großen Begierden auf der Bewegungsseite liegen, so liegen diese auf der Empfindungs- und Vorstellungsseite. 1. Die in den inneren Organen auftretenden GefÝhle. Insbesondere die sinnlichen Schmerzen Die sinnlichen Schmerzen, die in den inneren Organen unseres KÚrpers sich verbreitenden GefÝhle, das GemeingefÝhl bilden ein erstes in sich geschlossenes Bild einfacher GefÝhlszustÈnde. Hunger und Durst, die respiratorischen GefÝhle der freien oder beengten Atmung, Wohlbefinden und Àbelbefinden, Ekel, ErmÝdung, Schauder, Schwindel, Kitzel, sinnlicher Schmerz aller Art – hier rufen Ýberall die ReizungszustÈnde sensibler Nerven mit den Empfindungen natÝrlich verschmolzene GefÝhle hervor, die sich in ihrer Eigenartigkeit weder beschreiben noch vergleichen lassen. Ihre gemeinsame Ursache ist eine Ýber das Normale hinausliegende Reizung sensibler Nerven. Der massive Grund von GefÝhlen ist hier. Das GefÝhlsleben des Tieres und der untersten Stufen menschlicher Existenz besteht vorwiegend aus ihnen. 2. GefÝhle, in denen Èsthetische Sinnesempfindungen [?] und gewisse [?] Sinnesinhalte fÝr sich, einzelne oder Aggregate, gewisse [?] GefÝhle hervorrufen [?] Wie dann die Sinne ein unterscheidbar Mannigfaches von QualitÈten entfalten, sind dann die Sinnesempfindungen mit stÈrkeren oder schwÈcheren GefÝhlsfÈrbungen ausgestattet.83 ZunÈchst bedingt auch hier die StÈrke der Reizung der sensiblen Nerven Auftreten unangenehmer oder angenehmer GefÝhle. Ein zu intensives Licht schmerzt so gut das Auge als ein zu lauter Schall das Ohr. Wirken so zu hohe IntensitÈtsgrade unangenehm, ja schmerzhaft, so sind mittlere an sich erfreulich. Aber den Sinnesempfindungen entstammt [?] auch aus ihren Inhalten eine GefÝhlsfÈrbung oder, wie man es genannt hat, ein GefÝhlston. Und zwar Ýberwiegt innerhalb des Temperatursinnes, des Geruchs und Geschmacks die Beziehung der Reize zu unserer Selbsterhaltung durchaus die Auffassung der Unterschiede in ihren Inhalten. So Ýberwiegt ihre

4. *GefÝhl und GefÝhlskreise

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GefÝhlsfÈrbung in den meisten FÈllen ihren Empfindungsgehalt. Ein Geruch oder Geschmack ist nur bei ausreichender IntensitÈt des Reizes wohl unangenehm oder angenehm. Diese GefÝhlsfÈrbung reicht in die hÚchsten Sinne des Ohres, ja auch des Auges. Sowohl die Tonlage als die Klangfarbe kann eine GefÝhlsstimmung in dem aufmerksamen HÚrer hervorbringen. Im starken Schall der Trompete ist der Grundton von schmetternden ObertÚnen begleitet. So erregt dieser Schall das GefÝhl hochmÝtiger Kraft, die Trompete wird zum Instrument des Soldaten und der Schlacht. Auch die KlangfÈrbung der Vokale kann in dem aufmerksamen HÚrer Verschiedenheiten der GefÝhlsstimmung erregen. Man kÚnnte neben Goethes Èsthetische Farbenlehre eine Lehre von der Èsthetischen Wirkung der Vokale setzen. Liegen dort sinnliche Grundlagen der Malerei, so hier [die] der Poesie. O und i klingen hell und heiter, das u dunkel und blaß [?]. Das sinnliche GefÝhl, welches die reinen Farben hervorrufen, hat Goethe schÚn an dem Sehen durch farbige GlÈser geprÝft. Hierbei wird der aufmerksame Zuschauer mit der Farbe identisch, Auge und Geist stimmen sich unisono. Blickt man so nach der Anleitung von Goethes Farbenlehre nacheinander durch ein blaues und durch ein gelbes Glas auf eine Winterlandschaft, dann bewÈhrt sich die Auffassung der Maler vom Gelb als der warmen, vom Blau als der kalten Farbe. Wenn man das farbige Band des Spektrums zum Farbenkreis ergÈnzt, so liegen von GrÝn aus gesehen auf der einen Seite dieses Kreises GelbgrÝn, Gelb, Orange,84 Rot, die erregenden Farben: Goethes Plusseite des Farbenreizes, auf der anderen GrÝnblau, Blau und Violett, die herabstimmenden Farben, Goethes Minusseite des Farbenreizes. 3. GefÝhle, welche aus den Beziehungen von EindrÝcken zueinander oder zu Vorstellungen hervorgehen Die zwei eben betrachteten GefÝhlskreise bildeten eine erste Klasse, in welcher Sinnesinhalte fÝr sich, einzeln oder in Aggregaten, einen GefÝhlszustand hervorriefen. Eine85 andere, umfassende und wichtige Klasse wird durch die sehr mannigfachen GefÝhlszustÈnde gebildet, die aus den Beziehungen von EindrÝcken zueinander oder zu Vorstellungen gebildet [werden]. Auch hier bilden noch EindrÝcke das Material, aber die VerhÈltnisse derselben zueinander oder zu Vorstellungen rufen das GefÝhl hervor. Dieser Klasse gehÚren die wichtigsten Èsthetischen GefÝhle an. In ihr begegnen uns zuerst moralische GefÝhle. Sie enthÈlt eine Anzahl von GefÝhlszustÈnden, die zweckmÈßige Willenshandlungen zur Folge haben. Innerhalb dieser Klasse entsteht aus den Beziehungen der Sinnesinhalte zueinander eine erste Mannigfaltigkeit von GefÝhlszustÈnden, ein GefÝhlskreis.

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

Das schÚnste Beispiel eines so entstehenden GefÝhlszustandes ist die musikalische Harmonie. Helmholtz hat das verborgene Gesetz aufgedeckt, nach welchem, uns selber unbewußt, der Wohlklang harmonischer Tonverbindungen von den ObertÚnen aus bedingt ist, die gar nicht in bewußter Empfindung aufgefaßt [werden], deren VertrÈglichkeit oder UnvertrÈglichkeit aber doch gefÝhlt wird. Nach ihm unterscheiden sich Harmonie und Disharmonie dadurch, daß in der ersteren die TÚne nebeneinander so gleichmÈßig abfließen, wie jeder einzelne fÝr sich, wÈhrend in der Disharmonie UnvertrÈglichkeit stattfindet und sie sich gegenseitig in einzelne StÚße zerteilen.86 So ist nach ihm zunÈchst die Abwesenheit von StÚrungen, also ein Negatives, die Bedingung fÝr das GefÝhl musikalischer Harmonie. Aber mit dieser Ansicht von Helmholtz scheint mir vollstÈndig vertrÈglich, daß das GefÝhl musikalischer Harmonie als ein mÈchtig wirkender, positiver Lustzustand aus der ErfÝllung eines so mÈchtigen und zusammengesetzten Apparates, als unser Ohr ist, durch zusammenwirkende mehrfache Reize, deren Verschiedenheit genossen wird und die sich doch nicht stÚren, entspringt. WÈchst doch dieses GefÝhl innerhalb gewisser Grenzen mit der Zunahme der Klangmassen und ihrer Mannigfaltigkeit und kann dann berauschend ergreifend wirken. Und auch auf dem Gebiet der Farben scheint ein Èhnliches, verborgenes Gesetz zu walten, nach welchem aus den Beziehungen derselben zueinander, z. B. der komplementÈren Farben, die sich zu Weiß ergÈnzen, das GefÝhl der Farbenharmonie entspringt. Aus der zeitlichen Aufeinanderfolge und Gliederung unsrer Bewegungsempfindungen wie der SchalleindrÝcke entsteht der GefÝhlszustand des Rhythmus. Auch er [ist] immer noch eine hÚchst rÈtselhafte Tatsache. Und doch die Unterlage ganzer Wissenschaften, der Rhythmik und Musik, der Grund mÈchtiger und hÚchst zusammengesetzter Wirkungen, die vom Tanz des Naturmenschen bis zu der hÚchst zusammengesetzten Gliederung des griechischen Chorliedes reichen. Wie auch in unserem LebensgefÝhl die Erregung durch den Rhythmus tiefer begrÝndet sein mag, so wirkt doch in dem, wie mir scheint, zusammengesetzten GefÝhlszustand der Freude am Rhythmus die Gliederung der EindrÝcke, der Genuß an ihren Beziehungen augenscheinlich mit. Schon indem in dem einfachen 2/8 Takt und dem der ihm entsprechenden metrischen Form eine Hebung mit einer Senkung verbunden ist und dieser Wechsel einer Hebung und Senkung regelmÈßig ablÈuft, werden die Hebungen miteinander verbunden in der Zeit. Auf dem Gebiet der GesichtseindrÝcke entspricht dem Rhythmus die Symmetrie. Proportionen sind schon darum wohlgefÈllig, weil sie eine messende Zusammenfassung eines Mannigfachen zur Einheit begÝnstigen. Hier liegt also dem GefÝhl zugrunde, daß unter den Muskelbewegungen und den sie begleitenden Muskelempfindungen des Auges die einen leichter stattfinden, schneller aufgefaßt

4. *GefÝhl und GefÝhlskreise

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und besser behalten werden als die anderen. Der GefÝhlszustand reprÈsentiert auch hier die Angemessenheit der VorgÈnge an unsere Organisation oder die StÚrungen, welche diese Organisation durch sie erfÈhrt. Hier ist begrÝndet, daß wir sanfte KrÝmmungen regelmÈßiger Figuren bevorzugen, doch ein Gesteigertes, MÈchtigeres erst erfahren, wenn unser ganzer, so mÈchtiger und zusammengesetzter Sehapparat von EindrÝcken erfÝllt ist, ein Reichtum an Verschiedenheiten umspannt und doch nirgends StÚrungen erfÈhrt. Ein anderer GefÝhlskreis innerhalb derselben Klasse besteht aus den GefÝhlszustÈnden, welche aus der Assoziation von EindrÝcken mit Vorstellungen entspringen. Hier verlassen wir das Gebiet der sinnlichen GefÝhle. Die GefÝhle dieses Kreises entspringen aus der Verbindung der EindrÝcke mit Vorstellungen. Sie sind also sinnlich-geistig. Das Rot der Wangen gefÈllt durch die Assoziation des Eindrucks mit der Vorstellung gesunden Lebens. Der Klang eines Roßhorns lÈßt Bilder des Reiselebens in uns entstehen. Ein aufrichtiges Wort, das durch gesellschaftliches GeschwÈtz hindurch bricht, verknÝpft sich mit der Vorstellung, wie klar, lauter und sicher die LebensverhÈltnisse durch die Wahrhaftigkeit werden, und erfÝllt uns so mit einem noch Ýber seinen Wert hinausreichenden beglÝckenden GefÝhl. Der87 sehr zusammengesetzte Aufbau von GefÝhlswirkungen, die ein Musikwerk hervorbringt, hat zu seiner Unterlage die GefÝhlsfÈrbungen der einzelnen KlÈnge. DarÝber bauen sich Harmonie und Disharmonie und die mit ihnen zusammenhÈngenden VerhÈltnisse der Tonleitern und der Tonarten. Aber das HÚchste der musikalischen Wirkungen entsteht aus einer Àbertragung. Man beobachte ein Kind zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr, das mit dem Tonwechsel spielt. Sowohl die Tonlage als die Geschwindigkeit in der Tonfolge und die IntensitÈt der Laute sind der Ausdruck seiner Stimmung. Zwischen dem GefÝhlszustand und dem Laut, in welchem er sich Èußert, besteht ein psychophysisch bedingtes gesetzliches VerhÈltnis. Hier ist der Ursprung sowohl der Betonung der menschlichen Rede als der Musik. Tonlage, KlangintensitÈt, Tonfolge, Rhythmus werden zu Symbolen der GefÝhlslage. Der HÚrer verlegt unbewußt und unwillkÝrlich in den Ton die Stimmung, aus welcher in ihm das Stimmorgan einen solchen Ton hervorbringen wÝrde. In der Architektur wird aufgrund desselben VerhÈltnisses die Erinnerung an das Spiel unserer Muskeln hineinverlegt in die tragenden SÈule, in den himmelanstrebenden Spitzbogen, und so wird durch WillenszustÈnde, welche vermittelst des motorischen Nerven den Muskel in Bewegung setzen, der Stein belebt.88

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

5. *Zur Trieb- und GefÝhlslehre

Die Lehre von den GefÝhlen und GemÝtsbewegungen hat niemals getrennt werden kÚnnen von den Betrachtungen der Trieb- und WillensvorgÈnge. Der psychologische Analyst muß diese Unterscheidungen durchfÝhren, der •sthetiker und Moralist, der Theologe und der Jurist haben es immer mit Tatsachen zu tun, welche eine solche Trennung nicht gestatten. Hiervon ist der Grund, daß diese beiden Klassen von ZustÈnden sich wohl ihrer Form nach unterscheiden; sobald man dagegen die Elemente der Prozesse in ihrer RealitÈt, Inhaltlichkeit anthropologisch gleichsam betrachtet, unterscheidet, klassifiziert, ist ihnen ihre Form als GefÝhl, Trieb oder Begehren akzidentell. Denn den VorgÈngen, welche objektive Èußere Reize dem Bewußtsein Ýbermitteln, also zentripetal verlaufen, stehen diejenigen gegenÝber, welche von dem VerhÈltnis Èußerer EindrÝcke oder der aus ihnen stammenden VorgÈnge zu den inneren ZustÈnden entspringen. § 1. Charakteristik der GefÝhle § 2. Die charakteristischen ZÝge von Trieb, Begehren und Wollen § 3. Die Trieb- und GefÝhlskreise 1. Bedeutung des Problems Die tiefsten und fÝr das Schicksal der Menschen entscheidenden VorgÈnge sind die von Emotion und Willenshandlung. Will die Psychologie das VerhÈltnis zum Leben gewinnen, das ihr jetzt fehlt, so muß sie den Einblick in die Werkstatt Úffnen, in welcher mit Goethe zu reden der Mensch geschmiedet, zurecht gehÈmmert, das Edle von den Schlacken gereinigt wird. Eine Werkstatt ganz anders als die, in welcher in subtiler Arbeit und Stille Bilder zusammengewoben werden: vielmehr voll von Eisen, harten Armen, Feuer und Qualm. Aber wie diese Arbeit getan wird, ist uns wichtiger als alles andere.

5. *Zur Trieb- und GefÝhlslehre

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Die Bilder und Formeln von den Bahnen des Planeten sind ein Schauspiel fÝr den Intellekt. Dies aber wird fÝr das Leben selber getan. Die GemÝtsbewegungen und die WillensvorgÈnge sind etwas sehr Zusammengesetztes; sie bilden sich in dem Kinde erst allmÈhlich aus einfacheren Elementen. Sie haben sich auch in der Menschheit geschichtlich entwickelt; lange hat man Wahrnehmung oder Denkform wie etwas Einfaches betrachtet. Dann erst ergab sich die Analysis ihrer sehr großen Zusammensetzung. Denselben Verlauf nimmt nun auch die Untersuchung der GemÝtsbewegungen und der WillensvorgÈnge. Aber mehr noch. Daß Begriffe geschichtliche Gebilde sind, bezweifelt niemand; in welchem Umfang auch Begriffe sind, die gleichsam zeitlos auftreten, werden wir noch zu zeigen haben. Aber auch GemÝtsvorgÈnge haben sich vielfach erst geschichtlich ausgebildet. Das GefÝhl von der SchÚnheit des Lebens, wie es ein Grieche hatte, bestand vordem nicht. Das NaturgefÝhl ist bekanntlich geschichtlich entstanden, der Vorgang im Heiligen, dem Einsiedler oder MÚnch ist eine SchÚpfung der Geschichte. Der Humor, die idyllische Stimmung, die Pflichtfreudigkeit sind zusammengesetzte VorgÈnge, welche erst die Geschichte zusammengewoben hat. 2. Mittel der Analyse Die Aufsuchung der elementaren VorgÈnge, aus welchen diese zusammengesetzt sind, hat verschiedene, jedoch bisher wenig ausreichende Hilfsmittel. ZunÈchst enthalten diese zusammengesetzten VorgÈnge in sich, da sie von innen wahrgenommen werden, die Beziehungen ihrer Bestandteile aufeinander. Vielfach aus ihrer Verschmelzung schwer lÚsbar, in dem Dunkel, in dem sie zusammengegangen sind, nicht leicht zu unterscheiden. Alsdann sind die VorgÈnge bei dem Kinde und bei den NaturvÚlkern elementare, und soweit wir hier solche elementaren Regungen feststellen kÚnnen, hat an ihnen die Psychologie der GemÝtsbewegungen die am meisten sichere Grundlage. Endlich lehren uns schon heute die physiologischen KorrelatvorgÈnge manches und werden gewiß spÈter viel mehreres lehren. 3. Natur der hier auftretenden Elemente89 Erster Satz: Jede elementare Regung ist als eine Reaktion des Eigenlebens auf Reize, Bilder, Vorstellungsverbindungen in einer gegebenen Lage des Bewußtseins aufzufassen. Dieser Satz ergibt sich aus der Art, wie wir in der Erfahrung Triebe und GefÝhle erwirkt und mit anderen ZustÈnden verbunden finden. Ein Ausdruck

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

dieser Erfahrung ist die obige Unterscheidung der VorgÈnge, die einen objektiven Inhalt dem Bewußtsein vermitteln, und der anderen, welche aus dem Verhalten des Eigenlebens zu solchem Inhalte entspringen. Die Voraussetzung, welche in diesem Satz sich ausspricht, ist90

6. Die Struktur des Seelenlebens

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6. Die Struktur des Seelenlebens91

Diese92 drei Klassen von ZustÈnden [Vorstellungen, GefÝhle, Volitionen] sind in einer Struktur des Seelenlebens verbunden, durch welche das Grundgesetz aller Lebewesen auf dieser Erde gleichsam durchsichtig erscheint. Dieses Gesetz erstreckt sich von der Stufe tierischer Organismen, auf welcher die Differenzierung des Nervensystems ein zusammengesetztes seelisches Leben ermÚglicht, bis hinauf zum Menschen. Und dieses Strukturgesetz gerade verbindet die aufsteigende Reihe der tierischen Organisationen. Denn sie erhalten, vervollkommnen und steigern sich, eine Form tierischen Lebens bildet sich aus der andern vermÚge einer bestÈndigen Anpassung ihres psychophysischen Lebens an die wechselnden Bedingungen, unter denen sie leben mÝssen. Diese Anpassung aber vollzieht sich durch dieselbe Struktur des seelischen Lebens auf allen Stufen. Man93 kÚnnte sich Organismen denken, welche die Aufgabe der Anpassung ihres kÚrperlichen und seelischen Lebens an die umgebende Wirklichkeit auf kÝrzestem Wege, und zwar in zwei einander entsprechenden Gliedern des seelischen Lebens verwirklichten. Das erste Glied: diese Wesen brÈchten eine ausreichende Kenntnis des ihnen NÝtzlichen mit auf die Welt und vermehrten sie nach ihrem BedÝrfnis; das zweite Glied: von dieser Einsicht aus wÝrden sie eine Anpassung zwischen ihren inneren ZustÈnden und ihrer Umgebung herbeifÝhren. Solche Wesen mÝßten von der Muttermilch ab in den Nahrungsmitteln das NÝtzliche und SchÈdliche unterscheiden. Sie mÝßten den Wert der wechselnden Luftbeschaffenheit fÝr ihre Atmung vom ersten Atemzug ab richtig beurteilen. Sie mÝßten eine Kenntnis der Temperaturgrade haben, denen sie bedÝrfen, ja sie mÝßten diejenigen VerhÈltnisse zu vergleichen, die ihnen am meisten gÝnstig sind, zu unterscheiden wissen. Wesen solcher Art mÝßten mit einer kleinen Allwissenheit ausgestattet sein. Die Natur hat mit einem viel geringeren Aufwand von Mitteln, freilich auch in einer etwas groben und durchschnittlichen Art, die Aufgabe gelÚst, das lebendige Individuum seiner Umgebung anzupassen. Die Kenntnis von dem Nutzen oder Schaden der Dinge, von der Angemessenheit oder Unangemessenheit der ZustÈnde ist im Tier wie im Menschen durch die GefÝhle reprÈsentiert. Diese bezeichnen [?] in erster, durchschnittlicher, dennoch fÝr die Erhaltung und FÚrderung der Existenz ausreichender Art den Wert unserer ZustÈnde, den Nutzen der Dinge, die auf uns wirken. Unsere Wahrnehmung ist ein Zeichensystem fÝr uns unbekannte Eigen-

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

schaften des von uns UnabhÈngigen. Auch in unseren GefÝhlen hatten wir solche Zeichen, welche in verkÝrzter oder unvollkommener, doch fÝr das Leben ausreichender Art den Wert von Dingen und ZustÈnden uns kundtun.94 Von95 dem uns umgebenden Wirklichen werden Empfindungen und Wahrnehmungen hervorgerufen, welche uns die Beschaffenheiten jenes Wirklichen reprÈsentieren. Bilder von diesem lagern sich rings um unser Selbst, von ihnen sind wir umschlossen. Wirkungen aller Art bedingen uns kÚrperlich und seelisch. Das GefÝhl reprÈsentiert uns immer mehr, welchen Wert fÝr den besten und gesundesten Verlauf der kÚrperlichen und seelischen Prozesse diese Wirkungen und die so in uns entstehenden ZustÈnde haben.96 GefÝhle: Sie sind dann die einzigen Motoren, durch welche WillensvorgÈnge, willkÝrliche Bewegungen angeregt und erhalten werden. So verursachen sie bald eine Anpassung der Wirklichkeit an unser BedÝrfnis,97 bald die Anbequemung unserer eigenen Lebensprozesse an unabÈnderliche Bedingungen dieser Wirklichkeit. Das ist das Leben. Diese Struktur desselben ist an jeder Stelle des seelischen Zusammenhangs gegeben. Sie schließt dann wieder die einzelnen Glieder zu einem hÚheren Ganzen zusammen.98 Àberall Empfindungen, Wahrnehmungen die Unterlage von GefÝhlen, und diese die Motoren von WillensvorgÈngen.99

7. Die Struktur des Seelenlebens. § 1

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7. Die Struktur des Seelenlebens

§ 1. Die psychophysische Struktur des tierisch-menschlichen Lebens Unter Leben verstehen wir die an der organischen Materie auftretenden Erscheinungen. FÝr das VerstÈndnis des Psychischen ist unter diesen Erscheinungen entscheidend eine, welche sich allerdings besonders bemerkbar macht. Dies ist die Verbindung von Reiz und willkÝrlicher Bewegung. Von außen einen organischen KÚrper angesehen, tritt uns an ihm als sein spezifisches Merkmal diese willkÝrliche Bewegung entgegen. Durch alle Formen des tierischen Lebens geht nun ein VerhÈltnis zwischen Reiz und Bewegung, welches durch die Anpassung der tierischen Lebenseinheit an ihre Umgebung bedingt ist. Diese Lebenseinheit muß vermeiden, was sie zerstÚrt und aussuchen, wessen sie zu ihrer Erhaltung bedarf. Hierauf beruht, daß sie im Reiz EindrÝcke muß empfangen kÚnnen, in der Bewegung RÝckwirkungen Ýben. Man sieht aber hier bereits, daß der Schwerpunkt dieses ganzen zusammengesetzten Vorgangs an demjenigen Punkte liegt, von welchem aus der Lebenswert der Einwirkung erfahren und ihm entsprechend die RÝckwirkung bestimmt wird.100 So ist unsere erste hÚchst wichtige Einsicht (Satz 1): Der innere oder psychische Lebensprozeß ist ursprÝnglich Ýberall von den elementarsten Formen an bis zu den hÚchsten eine Einheit. Der psychische Lebensprozeß wÈchst nicht aus Teilen zusammen, setzt sich nicht aus Elementen zusammen. Er ist nicht ein Kompositum, er ist nicht ein Ergebnis zusammenwirkender Empfindungs- und GefÝhlsatome. Er ist ursprÝnglich eine Ýbergreifende Einheit. Und zwar ist die Ansicht, welche diese Einheit in den psychischen Vorgang verlegt und die psychischen Verbindungen als sekundÈr betrachtet, schlechterdings in Widerspruch mit der einzigen Erfahrung, welche wir in bezug auf diese Frage haben, die einzige Erfahrung unseres inneren Lebenszusammenhangs. Die Verbindung der verschiedenen ZustÈnde, welche den inneren Lebensvorgang ausmachen, ist durchaus eine psychisch ursprÝngliche. Gerade die großen Knoten eines psychischen Lebenszusammenhangs bilden diese Verbindung. In den Beziehungen des TriebbÝndels, das wir sind, zu GefÝhl, Interesse, Aufmerksamkeit, Aufnahme und GefÝhlsbestimmung der EindrÝcke, dann wieder des Triebs zur Bewegungsintention besteht ein innerpsychischer Zusammenhang. Das zweite gesetzliche VerhÈltnis, das hier von entscheiden-

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der Bedeutung ist, wird durch die Beziehung dieses Lebensvorgangs zu dem Milieu gebildet, in welchem er stattfindet. Satz 2. Der Lebensvorgang muß als eine Anpassung zwischen der psychophysischen Lebenseinheit, welche sich zu erhalten strebt, und den UmstÈnden, unter welchen diese lebt, aufgefaßt werden. So ist in dem ursprÝnglichen VerhÈltnis jeder tierischen Organisation die doppelte LebensÈußerung: Erleiden der Bedingtheit des Lebens und Reaktion der SelbsttÈtigkeit enthalten. Auch das menschliche Leben in seinen hÚchsten Formen steht unter diesen großen Gesetzen der ganzen organisch-tierischen Natur. In diesem Tatbestande ist nun aber ein drittes gesetzliches VerhÈltnis gegeben. In diesem psychophysischen Lebensprozeß sind drei Glieder zu einer Einheit verbunden: Reiz und Bewegung bilden die beiden Èußeren Glieder, und der zentrale Vorgang der Anpassung macht den Mittelpunkt aus, von welchem her diese beiden Glieder verknÝpft sind. Der Charakter dieser ursprÝnglichen Verbindung ist nicht ein blind mechanischer. Er ist durch die Anpassung an die Erhaltung bestimmt. Die Urform, gleichsam die Urzelle des inneren Lebens, ist Ýberall der Fortgang aus dem Eindruck von dem Milieu des Lebewesens zu der Bewegung, welche zwischen diesem Lebewesen und seinem Milieu die Anpassung herbeifÝhrt. Unter ZweckmÈßigkeit verstehen wir nun nichts anderes als dies, ja, der ganze Begriff der ZweckmÈßigkeit ist nur von hieraus gebildet. So kÚnnen wir nun das dritte gesetzliche VerhÈltnis so formulieren (Satz 3): Der Kausalzusammenhang des einheitlichen Lebensvorgangs besteht in der zweckmÈßigen Beziehung zwischen dem Reiz, einem Zentralvorgang und der Bewegung. Es ist nun entscheidend fÝr die Psychologie, diesen Tatbestand so deutlich als mÚglich zu machen. Von ihm aus kÚnnen erst diese verschiedenen Formen des psychischen Lebens als ein innerer Zusammenhang verstÈndlich gemacht werden. Ich nenne nun die innere Verbindung der Teile des Seelenlebens, in welcher sich dieser zweckmÈßige Zusammenhang Èußert, die Struktur des seelischen Lebens. Ich nenne dann die Hauptarten, wie diese Verbindung verwirklicht ist, Typen der psychischen Struktur. Die AusdrÝcke sind entnommen von der Èußeren physischen Organisation. Ihre andere Anwendung ist dadurch bedingt, daß wir es hier nicht mit einer rÈumlichen Anordnung, sondern ganz ausschließlich mit inneren Verbindungen zu tun haben. Wir betrachten nun zunÈchst die Art, wie diese innere Struktur Èußerlich am organisierten tierischen KÚrper reprÈsentiert ist.

8. Die Struktur des Seelenlebens. § 2

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8. Die Struktur des Seelenlebens

§ 2. Das anatomisch-physiologische Strukturbild I. Die Èußere Organisation der Lebenseinheit und das Nervensystem 1. Psychische Lebenseinheit, psychisches Individuum ist uns zunÈchst durch die Art gegeben, in welcher die verschiedenen psychischen ZustÈnde in uns zusammenhÈngen und durch das Selbstbewußtsein verknÝpft sind. Diese psychische Lebenseinheit ist nun aber weiter fÝr uns das Innere unserer kÚrperlichen Organisation. Die psychische Lebenseinheit ist fÝr unser LebensgefÝhl im KÚrper verbreitet. Sie ist in diesem lokalisiert. Von einer Außenwelt abgegrenzt und von diesem Milieu bedingt und auf es zurÝckwirkend. Dieser KÚrper ist in seiner Abgrenzung TrÈger von GefÝhlen verschiedener Art, GemeingefÝhlen, MuskelgefÝhlen, Temperaturempfindungen. Er wird vom Willen, von psychischen Impulsen aus in willkÝrliche Bewegungen versetzt, und zugleich kann dieser KÚrper durch Gesichts- und Tastempfindungen als ein Objekt aufgefaßt und so der Außenwelt eingeordnet werden. Die wissenschaftliche Untersuchung beschrÈnkt diese populÈre Vorstellung von der Verbreitung des Seelenlebens im ganzen KÚrper. Sie erkennt in dem Nervensystem den Sitz des psychischen Lebens, sie erkennt, daß der Ýbrige KÚrper nur mittelbar, vermittelst des Nervensystems, Sitz des psychischen Lebens ist. Sonach bildet101 die Struktur des Nervensystems und der innere Zusammenhang seiner Funktionen als Sitz der seelischen TÈtigkeiten einen festen Anhaltspunkt fÝr die Auffassung der Struktur des Seelenlebens.102 Nur eine falsche spiritualistische Abstraktion kann diese biologische Betrachtungsweise verwerfen. II. Einfaches Schema des Strukturzusammenhangs 2. Ich beginne mit dem lebendigen Funktionszusammenhang, welcher an dem menschlichen KÚrper auftritt. Dieser bildet zwar nicht den einfachsten Typus der animalischen Struktur, aber wir kennen unmittelbar das entsprechende Innenleben an ihm, sonach kÚnnen wir nur an ihm vermittelst der hinzutretenden inneren Erfahrung die Bedeutung der ReprÈsentation der seelischen Struktur in der Èußeren Organisation erfassen. Daher haben wir me-

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

thodisch hier zu beginnen. Auch liegt in dem hÚchsten Typus der animalischen Struktur, wie mit großen Buchstaben, ein großer Zusammenhang. Ein Stich in meine Fußsohle ruft eine Bewegung hervor, durch welche ich das Bein wegziehe; der Schreck lÈßt mich sogleich erbleichen. Ein KohlenstÈubchen fÈhrt in mein Auge; nun schließe ich es augenblicklich und ein reichlicher TrÈnenfluß wÈscht es aus. Ein Freund tritt in mein Zimmer, und ich schÝttele ihm die Hand, Ýber mein Gesicht breitet sich der Ausdruck der Freude. Diese VorgÈnge sind sehr verschieden. Sie enthalten in Beziehung auf die Zahl, die Art und den Zusammenhang der Teile, aus denen jeder von ihnen besteht, Unterschiede, die uns noch viel zu denken geben werden. Aber es ist ihnen gemeinsam: ein Èußerer Reiz ruft eine VerÈnderung hervor, in ihnen sind durchweg Bewegungen enthalten, und diese VerÈnderungen, diese Bewegungen sind durchaus dem Reize zweckmÈßig angepaßt. Wir drÝcken nun diesen Zusammenhang von VorgÈngen in der Sprache der Physiologie aus: Ein Vorgang, der vom Reiz angeregt in sensiblen Nervenbahnen verlÈuft, ist durch eine zentrale Vermittlung, welche der Sitz von Anpassung oder ZweckmÈßigkeit ist, mit einem Vorgang verbunden, der in den motorischen Nervenbahnen verlÈuft, die mit Muskeln zusammenhÈngen, welche Èußere Bewegungen verursachen. Zugleich sind mit diesen motorischen VorgÈngen vielfach sensible VorgÈnge verkettet. Und hierdurch werden sowohl die Bewegungen von Arm, Hand, Finger, Beinen, als die VerÈnderung meines Gesichtsorgans hervorgerufen, und es entsteht willkÝrliche Bewegung und ein Bewußtsein derselben. Oder ein Reiz wirkt auf die vaso-motorischen Zentren und von diesen aus werden VerÈnderungen in der Blutbewegung hervorgerufen. So entsteht jenes Erbleichen. Oder der Reiz erwirkt in den verschiedenen DrÝsen, wie hier in der TrÈnendrÝse, einen Vorgang von Stoffumbildung, z. B. Entstehung der TrÈnenflÝssigkeit. So wird das Auge unter Wasser gesetzt und das StÈubchen entfernt. III. Verschiedene Formen der Beziehung von Reiz und Bewegungen Wir haben in diesen VorgÈngen in hÚchster Ausbildung, daher in vollster Bedeutsamkeit den Zusammenhang von Reizung, zentraler Anpassung des Reizes an die Lebensbedingungen der biologischen Lebenseinheit und Bewegung vor uns. Das Umfassende dieses großen gesetzlichen VerhÈltnisses, sein Sinn fÝr das Leben Ýberhaupt setzt in dieser Richtung aber voraus, daß wir nun das Èußere Strukturbild dieses Zusammenhangs durch die ganze tierische Organisation hindurch verfolgen.103 Ich bringe mit einer AmÚbe ein KÚrnchen in BerÝhrung. Aus diesem ProtoplasmaklÝmpchen, das uns keine Gliederung zeigt, strecken sich Teile aus,

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FÝßchen oder •rmchen zu vergleichen; sie umfassen das KÚrnchen, und sie ziehen sich mit demselben wieder zur Hauptmasse zurÝck. Hier haben wir bereits den Kern des ganzen Vorgangs: sensibler Reiz hat eine fÝr dies kleine Lebewesen zweckmÈßige Bewegung zur Folge. Und zwar vollzieht sich dieser ganze Vorgang an einem ProtoplasmaklÝmpchen, welches weder Nerven noch Muskeln besitzt. Wir wissen nicht, ob ein innerer Vorgang diese zweckmÈßige Reaktion auf den Reiz in dem kleinen Lebewesen begleitet. Du Bois-Reymond und Virchow verneinen, daß von einem Seelenleben ohne Nervensystem die Rede sein kÚnne. Sie sprechen es daher diesen AmÚben und den anderen nervenlosen Tieren ab. Haeckel seinerseits baut sein ganzes biologisches System auf die Grundannahme auf, daß das Protoplasma stets und Ýberall Sitz psychischen Lebens sei.104 Eine weitere Stufe in der Èußeren Organisation, welche die psychische Struktur entweder Ýberall trÈgt oder vorbereitet, kann an der Hydra klargemacht werden. Haeckel 167 ff. Denken Sie nicht an das Fabeltier: es ist der gemeine SÝßwasserpolyp, ein auch in unseren Seen und TÝmpeln in großen Massen verbreitetes kleines, wenige Millimeter großes tierisches GeschÚpf. Gestalt eines lÈnglichrunden Bechers: der Schwanz der Magen, die ³ffnung der Mund. Die mikroskopische Betrachtung zeigt nun, daß es eigentlich zwei ineinandergesteckte Becher sind, die Zellen des Èußeren Bechers vermitteln die animalen FÈhigkeiten der Empfindung und Bewegung. Zerzupfen wir diese Hautschicht, so zeigt hier jede isolierte Zelle eine oder mehrere lange fadenfÚrmige FortsÈtze. Diese bilden einen Ring um den Becher und vermitteln an den Muskel die Kontraktion. Die Èußere HÈlfte [?] der Zelle ist also Nerv, die innere Muskel. So besorgt noch dieselbe Zelle beide Aufgaben. Empfindung und Bewegung sind noch an dasselbe Organ gebunden. Man hat deshalb diese Zellen die Neuromuskelzellen genannt. Die zwei Außenglieder Empfindung und Bewegung. Sie sind hier also noch direkt durch die Einheit der Zelle verbunden. Wir gehen in der Reihenfolge wieder einen Schritt weiter. Betrachten Sie etwa im großen Aquarium eine Meduse, die in ein GefÈß mit Seewasser gesetzt ist. Ein Reiz ruft eine Fortbewegung derselben hervor. (Haeckel VortrÈge 170 ff.). Scharen der schÚn glockenfÚrmigen Tiere sieht man im Meere schwimmen. Hebt man ein solches heraus, so zeigt sich, daß hier nun bereits das Organ der Empfindung und das der Bewegung scharf gesondert sind. 171: „Am Rande ihres schirmfÚrmigen KÚrpers halten wirkliche Augen einfachster Art und GehÚrblÈschen Wache, und aufmerksame Nerven vermitteln den Verkehr zwischen den Sinneszellen und den Muskelzellen, welche die krÈftigen Schwimmbewegungen der Medusen bewirken. Aber auch hier stehen Muskeln und Nerven noch in innigster Verbindung mit ihrer UrsprungsstÈtte, der Èußeren Haut, und ein eigentliches Gehirn, als einheitliches

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Zentralorgan des ganzen Seelenapparats, fehlt noch den Medusen.“ Der Fortschritt also in der Struktur [ist] folgender. Hier ist bereits strukturell 1) die sensible Leitung, 2) eine eingeschaltete Ganglienzelle und 3) eine die Kontraktion auslÚsende motorische Leitung unterschieden. Ein Reiz ruft einen sensiblen Erregungsvorgang hervor; dieser wird auf die Ganglienzelle Ýbertragen, und von da wird die Reaktion auf kontraktive Massen fortgeleitet. Diesen Vorgang bezeichnet [man als] einen Reflex. Und in dem Reflex ist mir nun das am meisten elementare Schema des seelischen Prozesses gegeben. Alle hÚheren Formen psychischen Lebens sind nur fortschreitende Differenzierungen, durch Einschaltungen,105 Steigerungen herbeigefÝhrte Bereicherungen dieses einfachsten Schemas. IV. Beschreibung der Èußeren Einrichtung des Nervensystems im Menschen fÝr die Verbindung von Reiz und Bewegung in der Organisation des Menschen Ich suche nun die anatomisch-physiologische Unterlage106 und die psychischen Begleiterscheinungen dieses Reiz-Reaktionsvorgangs zu erkennen. Eine schwere Frage, welche die Biologie noch weit entfernt ist, ausreichend beantworten zu kÚnnen. Wir fragen nÈmlich: Die Beteiligung welcher Nervenzentren ist erforderlich, einen solchen ReizReaktionsvorgang hervorzurufen, und in welchem Umfang sind dann mit diesem Vorgang in den Nervenzentren psychische Begleiterscheinungen verbunden? Die Beantwortung dieser Frage ist von sehr viel grÚßeren Schwierigkeiten beladen, als ein Laie denken wird. Sie gehen schließlich alle auf die zentrale Schwierigkeit zurÝck, die schon Fechner hervorhebt: ich kann nicht zugleich von mir aus den gleichen Vorgang erleben und [. . .].107 Denn in niederen Tieren ist eine untersuchbare Struktur, ihre Masse der Forschung vorliegend; auch kann man die Art, wie sie in zweckmÈßigen Bewegungen funktioniert, betrachten; aber wie weit Bewußtsein, psychische ZustÈnde diesen Vorgang begleiten, wissen wir nicht. Wir erschließen Bewußtsein aus Sprache. Sie besteht aus zweckmÈßigen Bewegungen, welche Erinnerung und Wahl einschließen. Aber weiter zurÝck! Einfache Anpassungen! Ebenso ist die Deutung der Bewegungen von Tieren, deren zentrales Nervensystem experimentell alteriert, herabgesetzt, verringert ist, schwierig. Meine eigenen Bewegungen aber, deren psychische Seite ich kenne, kann ich nicht zugleich nach ihrem physiologischen Verlauf, nach der Beteiligung der verschiedenen Zentren an ihnen studieren. Pathologische Befunde, wie die Apha-

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sie, bieten uns immer noch die sichersten Anhalte. Hier kÚnnen psychische Ausfallserscheinungen mit dem nachtrÈglichen Sektionsbefund verglichen werden. So sind denn auch sehr verschiedene Auffassungen geltend gemacht worden. An dieser Stelle der Untersuchung genÝgen nun aber eine Anzahl von zweifellosen Ergebnissen. Vermittelst dieser kÚnnen wir die Deutung der Struktur der Seele vorbereiten. 1. Unterste Verbindung von Reiz und Bewegung durch die einfache Reflexbewegung Die Versuche sind bekannt, welche PflÝger zuerst angestellt und Goltz und andre dann noch mannigfaltiger gemacht haben.108 Enthirnte FrÚsche wischen109 aufgetupfte SÈure von ihrer Haut; sie stemmen die Pfote gegen die Reizquelle. Diese Bewegungen machen vÚllig den Eindruck des Absichtlichen und Bewußten; sie geschehen vermittelst der zweckmÈßig zu verwendenden Muskelgruppen.110 Ja der enthauptete Frosch, dessen linkes Bein amputiert ist, wischt eine mit SÈure betupfte Stelle der linken KÚrperhÈlfte mit dem rechten Bein ab. – Streichelt man dem enthirnten Frosch den RÝcken, so quakt derselbe (Goltzsche Quarrversuche). Zur Zeit der Umarmung der FrÚsche im FrÝhling, wird die Brusthaut des Rumpfes eines mÈnnlichen Frosches gestreichelt, umklammert er jeden festen Gegenstand. Also das RÝckenmark des Frosches ist Sitz einer AuslÚsung zweckmÈßiger Bewegungen aus den Reizen. PflÝger glaubte, eine „RÝckenmarkseele“, d. h. ein dunkles, dÈmmerndes psychisches Leben annehmen zu mÝssen, um diese so anschauliche ZweckmÈßigkeit zu erklÈren. Dann wÝrde dieses Bewußtsein, wo das hellere Hirnbewußtsein da ist, ihrem GegenÝber nie merklich werden. Sicher ist eben nur, daß das Merkmal dieses Reiz-Reaktionsvorganges in der ausschließlichen Erregung des RÝckenmarks und verlÈngerten Marks gelegen ist. Dies111 ist der einfachste Typus des Vorgangs, den man am Wirbeltier und Menschen auch bei erhaltenem Gehirn in vielen FÈllen beobachtet. Die BerÝhrung der Konjunktiva bewirkt Schluß der Lidspalte. Ich beschreibe ausfÝhrlicher die Leistung des Sehens. An sich zentrale Rolle. Dieselbe Reflexbewegung112 findet nun auch statt, wenn ich in eine Fußsohle steche: dann tritt ZurÝckziehung des Fußes [ein] und eine Flexion, gewissermaßen ein Einziehen der Fasern [findet] statt. In der Sohle endigen sensible Nerven; diese werden gereizt; sie leiten diese Erregung in das RÝckenmark in einer sensiblen Ganglienzelle; dieselbe sendet die empfangene Erregung auf der intrazentralen Bahn zur motorischen Ganglienzelle; diese schickt dann den Impuls peripheriewÈrts, und so wird die Muskelbewegung ausgelÚst.

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Ich113 bezeichne nun diesen Vorgang als Reflexbewegung. Der Reflex wandert [?] in das System der Bewegungen, welche durch die sensorielle Reizung veranlaßt sind, diese wird zum Zentrum geleitet, und hier wird sie auf die zentrifugale Bahn Ýbertragen. Ihr spezifisches Merkmal aber ist der Ausschluß der TÈtigkeit des Willens bei diesem Vorgang. Ich unterscheide daher dies von willkÝrlichen BewegungszustÈnden in der inneren Erfahrung. Ich finde aber dann als physiologisches Merkmal, daß auch Wirkung des Gehirns ausgeschaltet ist bei Entstehung der Reizung. Der TrÈger der Reflexbewegung [ist das] RÝckenmark114 oder verlÈngertes Mark. Welche sind nun die psychischen VorgÈnge, welche diesen physiologischen Zusammenhang begleiten? Hat uns der Stich unversehens getroffen, so bemerken wir erst nachtrÈglich, daß unser Fuß mit einer Bewegung auf denselben geantwortet hat. In diesen ReflexvorgÈngen ist charakteristisch eine starre Monotonie. Daß eine Bewegung stattfindet, erfahren wir durch die begleitenden Empfindungsaggregate.

2. Zwischenglieder zwischen der einfachen Reflexbewegung und der willkÝrlichen Bewegung Von diesen Reflexbewegungen gehen aufwÈrts VorgÈnge, in denen zunehmende Beteiligung der hÚheren Zentralorgane verbunden ist mit zunehmendem psychischem Zusammenhang. VierhÝgel, SehhÝgel, Kleinhirn treten nun als hÚhere Nervenzentren hinzu. Und zwar sind hierbei zwei Èußere Eigenschaften der Bewegung, welche wir als Beteiligung des Willens oder als willkÝrliche Bewegung deuten: 1) Anpassung der Koordination an die Variation der UmstÈnde, 2) Wahl. Aber auch hier verschiedene Stufen, sonach ein Zwischenreich zwischen dem einfachen Reflex und der willkÝrlichen [Bewegung]. Folge, welche durch die Mitwirkung der GroßhirnhemisphÈre bedingt ist. Ein115 Frosch, dem Großhirn einschließlich des SehhÝgels exstirpiert ist, hÝpft fort, wenn man ihn kneift: aber er stÚßt Ýberall wider. BelÈßt man den SehhÝgel, so weicht er nunmehr einem Hindernis aus. Sonach: der Stich, ein zentraler Reiz, lÚst eine komplizierte forthÝpfende Bewegung aus; wÈhrend diese Bewegung ablÈuft, tritt interkurrent ein andrer Reiz auf, und das ruft die Reaktion des Ausweichens hervor; hierin muß eine viel grÚßere psychische Beteiligung vorausgesetzt werden. Wir mÚgen diese Art Bewegung vergleichen mit den Fingerbewegungen eines eingeÝbten Klavierspielers, der ein eingeÝbtes StÝck vortrÈgt. Oder mit der Art, wie ein mit Gedanken BeschÈftigter beim Herabgehen einer Treppe Fuß fÝr Fuß setzt.

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Seesterne strecken beim Fortkriechen ihre mit Augen bewaffneten Tentakeln nach vorn und oben und vermÚgen Hindernissen auszuweichen. Wahrscheinlich gehÚren auch die sogenannten Instinkte in diese Klasse.

Beschreibung des Nervensystems Erst wo die Großhirnrinde, als der Sitz der Erinnerungsbilder, vorhanden und erhalten ist, entsteht die willkÝrliche Bewegung in ihrem vollen Sinn. Um nun diese den hÚheren Tieren und dem Menschen eigene Vorbereitung von VorgÈngen zu durchschauen, vergegenwÈrtigen wir uns die Struktur des Nervensystems im Menschen.116

A. Nervensystem im Menschen Die Struktur und Gliederung des Nervensystems ist im Menschen die am meisten differenzierte, die wir kennen. Aber auch hier ist derselbe Grundplan, nur ins Einzelne durchgefÝhrt. Das Nervensystem als Zentralspinalsystem besteht in117 seinen zentralen Teilen aus dem Gehirn, einer kompakten hÝgelfÚrmigen Masse, welche die SchÈdelhÚhle fÝllt, und dem RÝckenmark, einem exzentrischen Anhang, welcher sich in die WirbelhÚhlung hinstreckt. An diese Zentralteile schließt sich das peripherische Nervensystem. Aus Gehirn und RÝckenmark gehen Nerven ab und verÈsteln sich. – Von118 diesem Zentralspinalsystem ist das sympathische oder Eingeweidesystem relativ getrennt. Die zwei innerhalb des vegetativen Rohrs zu beiden Seiten der WirbelhÚhle hinlaufenden StrÈnge zeichnen sich durch die reichlichen Geflechte aus, die den Eingeweiden und GefÈßen dienen.

II. Funktion Das zerebro-spinale oder Hauptsystem der Nerven hat nun die schon auf den niederen Stufen von uns festgestellte Funktion; es ist zunÈchst der Sitz des psychischen Eigenlebens, d. h. es enthÈlt die Bedingungen, an welche ihre gesunde Entfaltung gebunden ist. Und es vollzieht die Anpassung des Eigenlebens an sein Milieu – es vermittelt also EindrÝcke, verarbeitet sie, und vermittelt Impulse in zweckmÈßige Bewegungen.

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Das Eigenleben dieser biologischen Einheit 1) VorgÈnge der Außenwelt wirken als Reize; sie rufen in der einen Klasse der peripherischen Nerven, den sensiblen, eine Erregung hervor, die sich zum Zentralapparat fortpflanzt; dort lÚst sie Empfindung aus. 2) Hier tritt nun die sehr komplizierte Leistung der Zentralteile auf; sie enthalten in ihrer Struktur die Bedingungen fÝr Reflexbewegungen, fÝr Erinnerungsbilder, fÝr Verbindung der Erinnerungsbilder mit EindrÝcken, fÝr zweckmÈßige Verbindung von Empfindungen mit Bewegungen und Bewegungen untereinander und fÝr EinÝbung komplizierter Bewegungen. 3) Von diesen Zentralteilen gehen so zweckmÈßige Verbindungen von Bewegungen aus, die teils den Charakter von Reflexen, teils den von willkÝrlichen Handlungen an sich tragen. Dies vollzieht sich in den motorischen Nerven, die einerseits mit sensiblen, andrerseits mit den zu ihnen gehÚrigen Muskeln in Beziehung stehen.119 III. Formelemente Zu dieser Leistung stehen dem Nervensystem zwei Klassen von Formelementen zur VerfÝgung. Sie sind in eine Zwischensubstanz eingebettet.120 Das eine Formelement sind die Nervenzellen der Ganglien. Bald runde, bald mehreckig gestaltete ProtoplasmaklÝmpchen. Manche von ihnen erreichen die Sichtbarkeit mit bloßem Auge. Sie haben einen lichten, deutlich blÈschenfÚrmigen und mit einem KernkÚrperchen versehenen Kern. Das andere dieser Formelemente sind die Nervenfasern oder NervenrÚhren. Alle haben sie als wesentlichen Bestandteil einen zentral gelegenen zylindrischen Faden, den Achsenzylinder. Dieser kann von einer ihn umhÝllenden Substanz, der Markscheide, umkleidet sein, diese von der Schwannschen Primitivscheide. Es ist mÚglich, daß die Nervenfasern selbst aus Primitivfibrillen zusammengesetzt sind. Diesen NervenfÈden kann nur die Funktion von Leitung, Àbertragung, Verbindung zugeschrieben werden. Von den Sinnesapparaten zur Nervenzelle, von diesen zu einer andren Nervenzelle, von da zu121 Muskeln, DrÝsen, GefÈßen gehen diese Verbindungen. Sonach konzentriert sich alle Leistung des Nervensystems zunÈchst in denen der Zellen. Sie mÝssen als die eigentlichen StÝtzen der psychischen Leistungen angesehen werden, die am Gehirn nachgewiesen werden kÚnnen. So sind insbesondere die Zellen der Großhirnrinde der Sitz der Erinnerungsbilder. Dies ist sowohl durch die pathologischen ZustÈnde der Aphasie als durch die Munkschen Tierversuche erwiesen.122 Alsdann stehen die Zellen untereinander durch die Nervenfasern in Verbindung.

8. Die Struktur des Seelenlebens. § 2

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Will man sich die Art der Leistung nÈher vorstellen, so muß man ein System von Projektionen zu Hilfe rufen, das schließlich eine Art von Spiegelung der Außenwelt bewirkt. (Siehe Meynert) Ein Èußeres Objekt wird projiziert auf die Zellen der Netzhaut als ein Wahrnehmungsbild. Dieses wird weiter rÝckwÈrts projiziert als Erinnerungsbild. Alle VerÈnderungen mÝssen aus dem Zusammenhang abgeleitet werden. So wird man nun die Verbindungen als Leistungen der NervenfÈden ebenfalls nicht einfach vorstellen kÚnnen. Unterscheiden, Ineinssetzen etc.123 Wir betrachten jetzt diesen physiologischen Mechanismus in bezug auf den inneren Zusammenhang seiner Leistungen = Struktur desselben. Das ist unser Nervensystem. Da treten zunÈchst GemeingefÝhle auf. Wohlsein und Bewußtsein, Schmerz, Hunger, Durst, Ekel, ErmÝdung, Schauder, Schwindel, Kitzel, Wollust, respiratorische GefÝhle. Dieses alles unbestimmt lokalisiert. In diesem allem liegen Bestandteile davon, wie einem Menschen in seiner Haut zumute ist. So sind die physiologischen Prozesse von diesen GemeingefÝhlen bestÈndig begleitet. – Insbesondere rufen innere, im kÚrperlichen System gelegene Ursachen heftige124 •ußerungen dieses Nervensystems hervor. So bestÈndig durch den Stoffwechsel, der es umspÝlt, bedingt, durch die Èußeren Reize erschÝttert, bringt das Nervensystem als seine niedrigste •ußerung selbsttÈtiger Reaktion den Reflex hervor.125 Im Mark sind sensible und motorische Nervenfasern nahe beieinander gelagert; da sind sie durch Zentralfasern verbunden, da wird also eine sensible Reizung auf die einfachste Art zu einer motorischen Bahn Ýbergeleitet. In dieser Maschine, dem Nervensystem samt dem zu ihm gehÚrigen KÚrper, zirkuliert nun das Blut. Die126 Reflexbewegung des Herzens treibt es nun. Ihr Zentrum liegt im Herzen, was selbst aber vom verlÈngerten Mark bedingt ist, da es Zentrum der Hemmungsnerven des Herzens und wahrscheinlich auch eines anderen, des beschleunigenden Herznerven [ist]. Sie atmet. Die reflektorischen Bewegungen der Inspiration und Expiration sind in TÈtigkeit. Untergeordnete Zentren der Atmung sind wohl im RÝckenmark, aber das verlÈngerte Mark ist der Sitz, das dominierende Zentrum, das Rhythmus und Symmetrie der Atembewegungen lenkt. Flourens nannte es point vital, weil seine ZerstÚrung Aufhebung der Atembewegung und sofortigen Tod bewirkt.127 Sie schluckt. Die Reizung des weichen Gaumens lÚst die reflektorische Bewegung des Gaumenmuskels aus, und dieser Reflex pflanzt sich dann zu Kehlkopf, Schlund und SpeiserÚhre fort. Sie niest, und sie hustet. Sie erbleicht, und sie errÚtet. Außer dem RÝkkenmark und verlÈngertem Mark treten auch die basalen Großhirnganglien in TÈtigkeit. [. . .] Die basalen Großhirnganglien (Landois 824). Unter diesen

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

treten als Zentren von an den Reiz sich anschließenden, Ýber ihn aber hinausreichenden Leistungen der VierhÝgel und der Thalamus opticus besonders hervor. Ein128 hÚheres Reflexzentrum sind nun die VierhÝgel. (Man trage alle vor den VierhÝgeln gelegenen Hirnteile bei einem Tiere ab.)129 Sie behalten den Charakter des Reflexes, soweit man130 aus der Art von ZweckmÈßigkeit in ihnen schließen kann. Aber es findet Einschaltung eines zweiten Reflexes in den ersten oder Anpassung dieser (durch den ersten Reiz hervorgerufen) Reflexbewegung an einen neuen Reiz vermittelst der Verbindung zwischen beiden Zentren statt.131 Dabei scheint das Charakteristische in der Reaktion dieses Zentrums auf Lichtreize zu liegen.132 8VÚgel und SÈugetiere folgen den Bewegungen in hemmender Lage mit dem Kopfe. Kaninchen und FrÚsche, die durch einen Außenreiz133 zu einer Fluchtbewegung erregt waren, werden nun durch einen Lichtreiz angeregt, einem Hindernis auszuweichen. So sind hier wohl Zentren, welche zu den sensorischen und motorischen Reizungen des Sehorgans in Beziehung stehen.9 Nun die SehhÝgel – aber auch sie sind Reflexzentren. Dies beweisen die berÝhmten Versuche vom Durchschneiden eines SehhÝgels. Dann beschreiben die Tiere anstatt gerade zu gehen eine Kreisbahn. Reitbahnbewegung hat man diese Bewegung genannt, weil sie der eines Pferdes in der Reitbahn gleicht. Besonders von Hautreizen scheinen die Reflexe in den SehhÝgeln ausgelÚst zu werden. Von der Hirnbasis wenden wir uns nun zum Kleinhirn. Wiederum: das kleine Gehirn, dieses ebenfalls in Aktion. – Bis hierher konnte man alles als die Arbeit einer Reflexmaschine deuten. Die Bewegungen wurden komplizierter, indem sie durch die Beteiligung immer hÚherer Zentren zustande kamen. Aber sie hatten doch durchaus den Charakter von Reflexen. Es sind alles Zentren, welche auf Reize gleichsam Antwortbewegungen auslÚsen, die zu ihnen im VerhÈltnis der ZweckmÈßigkeit stehen. Das Kleinhirn scheint ein BÝndel von Funktionen zu haben, welche es zum Zwischenglied zwischen den unter Beteiligung der Großhirnrinde entstandenen hÚheren psychischen VorgÈngen und dem unter ihm (dem Kleinhirn) gelegenen motorischen System machen. Es scheint die von der Großhirnrinde getragenen Vorstellungsantriebe zu der Lage des KÚrpers im Raum in Beziehung zu setzen. Vielleicht ist es auch der Sitz der Verbindung von GehÚrseindrÝcken und den Bewegungen des eigenen KÚrpers. FÝr die StÚrungen in diesem Organ ist Schwindel das charakteristische Symptom. Dagegen bewirken Verletzungen, selbst134 wieder StÚrungen der SinnestÈtigkeiten, auch LÈhmung des Willens oder des Bewußtseins. Eine135 Seitenform der Reflexbewegung ist die automatische Bewegung.

8. Die Struktur des Seelenlebens. § 2

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Der Ausdruck ist nicht durch einen ganz festen Sprachgebrauch bestimmt. Nach dem Wortsinn muß aber die automatische Bewegung im Unterschied von der Reflexbewegung ihre Ursache in einem inneren Reize haben. Und sie muß zugleich unwillkÝrlich, ohne Mitbeteiligung des Willens ablaufen. Der einfachste Fall einer automatischen Bewegung ist die Herzbewegung und der durch dieselbe bedingte Blutumlauf. Landois S. 105 Automatisch sind so nach [W.] Wundt[, GrundzÝge der physiologischen Psychologie, 3. umgearbeitete Aufl., a. a. O., Band] I[, S.] 96 alle diejenigen Bewegungen, die von der inneren Reizung der motorischen Gebiete des Zentralorgans ausgehen. Das Studium dieser Reflexbewegungen hat aber in der modernsten Psychologie zu einer unberechtigten Generalisation gefÝhrt. Von der einfachen Reflexbewegung im enthirnten Frosch bis zu den willkÝrlichen Handlungen des Menschen scheint eine Stufenreihe zu fÝhren, in welcher hÚher gelegene Zentren immer wertvolleren, schwierigeren Aufgaben angepaßte Koordinationen einfacher Reflexbewegungen herbeifÝhren.136 Ist einem Frosch nur das Vorderhirn weggenommen, so kann er seine Bewegungen schon komplizierteren Bedingungen anpassen. Ihn beeinflussen jetzt nicht nur Tastreize, sondern Licht- und SchalleindrÝcke. Er weicht dem Hindernis aus, er erhÈlt sich im Gleichgewicht. Die Auswirkungen frÝherer Reize bedingen seine Bewegungen. Eine weitere Stufe zeigt uns der Nervenapparat des unverletzten Frosches. Hier Ýberwiegen bereits die Nachwirkungen frÝherer Bewegungen auf Reize oftmals den gegenwÈrtigen Reiz. Und dies ist in der Stufe der Wirbeltiere aufwÈrts bis zum Menschen in immer hÚherem Grade der Fall. So liegt eine Konsequenz nahe, wie wir sie bei Haeckel, MÝnsterberg finden. Jede tierische oder menschliche Organisation ist ein Reflexapparat. Aus der einfachsten Form desselben haben sich durch Anpassung allmÈhlich die hÚheren Formen entwickelt. Reflexhandlung, Triebhandlung, Willenshandlung sind ohne Zuhilfenahme eines immateriellen Faktors nach physikalischchemischen Gesetzen kausal vollkommen verstÈndlich. MÝnsterberg S. 55. Die psychischen Tatsachen sind Begleiterscheinungen. Unter Begleiterscheinungen verstehe ich solche VorgÈnge, welche das Ergebnis der Bewegung gar nicht beeinflussen, da der Reflexmechanismus genau so operieren wÝrde, wenn die inneren ZustÈnde fehlten. So sind diese nichts als Begleiterscheinungen. Die Schlacht von Jena, alle Willensakte Napoleons in derselben, alle GemÝtsbewegungen in den KÈmpfenden Èndern nichts an dem tatsÈchlichen Vorgang. Wie man diesen vor sich sah, das ganze Gewimmel im Pulverdampf, wÝrde es ganz ebenso verlaufen sein, wenn auch in all diesen Personen kein innerer Zustand stattgefunden hÈtte. Hiergegen macht Wundt „Tierseele 242“137 das von Fechner aufgestellte hÚchst fruchtbare ErklÈrungsprinzip der Ausbildung des Reflexmechanismus

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

geltend. Es verhÈlt sich ganz umgekehrt, als die Theorie von der Reflexmaschine annimmt. Diese Maschine selbst ist das Produkt der Willensakte, nicht aber sind die Willensakte bloße illusorische Empfindungsverbindungen in diesen Maschinen. Es lernt jemand Klavierspielen oder Schlittschuhlaufen. Hier werden zweckmÈßige reflektorische und automatische Bewegungen eingeÝbt; von einem Impuls laufen sie dann ab. Aber diese EingewÚhnung geschieht durch lÈngere Wiederholung absichtlicher willkÝrlicher Bewegungen. Diese Theorie erklÈrt ferner nicht diejenigen WillensvorgÈnge, welche als rein innere verlaufen, wie die Aufmerksamkeit. Diese aber ist nicht etwa eine sekundÈre Tatsache, sondern jede willkÝrliche Bewegung hat nur eine Richtung der Aufmerksamkeit auf sie zur Voraussetzung. Wir beschreiben nun also ganz unbefangen, was beim Stattfinden einer willkÝrlichen Bewegung in der inneren Erfahrung sich zeigt. Es ist eine bestimmte Art von Vorgang, was wir in uns gewahren. Es wird nicht in uns gedacht, sondern wir denken. Es wird nicht in uns bewegt, sondern wir bewegen das Auge. Diese Art von Vorgang bezeichnen wir verschieden. Eine TÈtigkeit, SpontaneitÈt, ein Akt, ein Wollen, alles Worte fÝr Modifikationen desselben inneren Tatbestandes. Fragen wir, welches seine Merkmale seien. Jede Handlung gehÚrt in die Klasse der VorgÈnge. Der Vorgang, welcher hier stattfindet, wird in der inneren Erfahrung auf ein Subjekt zurÝckgefÝhrt, auf das Ich. Aber unter Ich verstehen wir dann im Grunde nur den ErklÈrungsgrund der von einem einheitlichen Zusammenhang ausgehenden TÈtigkeit. Das Erlebnis des Wollens steckt hinter diesem allem; es kann nicht definiert werden. Als Merkmal tritt an ihm nur die Einheitlichkeit auf, ganz wie diese auch als Merkmal des Denkens und der PhantasietÈtigkeit sich darbietet.138 Der Sitz der Intelligenz [sind] die GroßhirnhemisphÈren. Bis dahin fanden wir das Schema: der Reiz wurde zu einem Zentralteil des Nervensystems geleitet; hier war die Verbindung zwischen einem sensorischen und einem motorischen Zentrum hergestellt; so wurden zweckmÈßige Bewegungen ausgelÚst. Nun treten alle diese VorgÈnge in den Dienst eines sicheren, von den GroßhirnhemisphÈren bedingten geistigen Zusammenhangs. Ein eigentÝmlicher Zusammenhang besteht zwischen der Ausbildung des Großhirns und der HÚhe der Intelligenz. Bei Tieren von normaler Organisation und Èhnlicher OrgangrÚße ist jederzeit das grÚßere und windungsreiche Großhirn mit stÈrkerer Intelligenz verbunden. Individuen von großer Begabung zeigen eine große OberflÈchenentfaltung des Großhirns. Das pathologische PhÈnomen. Wiederum139 haben wir hier das uns schon bekannte Schema der Struktur, jetzt in seiner Vollendung.

8. Die Struktur des Seelenlebens. § 2

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Die Rinde des Vorderhirns. [Eine] AmÚbe gleicht nach dem Zusammenhang, in welchem sie funktioniert, dem Weichtier, das einerseits FÝhlfÈden ausstreckt gegen die Außenwelt, andererseits dann aber Fangarme, sich seiner Beute zu bemÈchtigen. Also eine differenzierte Arbeitsteilung bewundernswÝrdigster Art. Aber das Schema dasselbe. Denn auch dieses Vorderhirn hat einerseits zentripetal leitende FortsÈtze, die Faserung der sensorischen Nerven: durch sie eine Spiegelung der Außenwelt, gleichsam seine FÝhlhÚrner; andererseits ist der ganze innerhalb des Vorderhirns gelegene Apparat von Reflexzentren [und] motorischen Nerven [mit] Fangarmen zu vergleichen. Und der ganze Ýbrige Leib, Muskeln, Skelett ist nur als eine Armierung der FÝhlhÚrner und Fangarme zu betrachten. So gewÈhrt diese Struktur des Nervensystems dem Großhirn die Bedingungen, die Außenwelt in Projektionen aufzufassen und schließlich im zusammenfassenden Bewußtsein aufzufangen, abzuspiegeln und augenblicklich, ohne daß die Arbeit [. . .]. Die Großhirnrinde umfaßt mehr als eine Milliarde von NervenstrÈngen, so daß also fÝr alle EindrÝcke des Lebens, die in sie projiziert werden, ausreichende TrÈger vorhanden sind.140 Nach141 ZerstÚrung des Großhirns sinkt der Organismus auf den Wert einer komplizierten Maschine herab. Sowohl Intelligenz als willkÝrliche Bewegung schwinden bei ZerstÚrung des ganzen Großhirns.142 Es lassen sich lokalisierte psycho-motorische Zentren nachweisen, an deren Funktionen die willkÝrliche Bewegung gebunden. Und143 zwar hat sich eine Lokalisierung verschiedener Bewegung bei den Hunden so aufzeigen lassen. An ein bestimmtes Zentrum ist die Bewegung des Hinterbeins des Hundes gebunden. Die so verschiedenen Bewegungen des Vorderbeins verteilen sich auf zwei Zentren. An bestimmte Zentren in der Rinde sind die Bewegungen der RÝckenmuskeln gebunden. In der linken dritten Stirnwindung liegt bei den meisten Menschen das motorische Sprachzentrum: die willkÝrliche Bewegung der Zunge, des Mundes, des Unterkiefers wird von hier aus geleitet. Wir verstehen unter einem psycho-sensoriellen Zentrum dasjenige, an welchem sich der Akt der psychisch-sinnlichen Wahrnehmung vollzieht. Alsdann kÚnnen psycho-sensorielle Zentra bestimmt werden. Landois 812. Sensorielle Rindenzentra oder psycho-sensorielle Zentra stehen mit den Sinnesnerven durch FaserzÝge in Verbindung. Sie sind gleichsam „die Aufbewahrungsorte der gemachten Sinneserfahrungen“. Nach ihrer totalen ZerstÚrung ist die bewußte Empfindung des Sinneswerkzeugs aufgehoben. Nach ihrer partiellen VerstÝmmelung „fehlt das geistige Band“. Ein Hund mit verletztem, verstÝmmeltem Sinneszentrum sieht, aber kann nicht mehr interpretieren, was er sieht. Das psycho-akustische Zentrum ist von Wernicke bestimmt worden.

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B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie

Nach ZerstÚrung sensorieller Zentren [?] tritt Seelenblindheit ein, d. h. die Benutzung der Gesichtserinnerungsbilder in ihrer Verbindung mit gegenwÈrtigen EindrÝcken ist eliminiert. Ebenso gibt es ein psycho-akustisches Zentrum. Nach ZerstÚrung seiner mittleren Region tritt Seelentaubheit ein, d. h. das Wesen hat die Erinnerungsbilder der GehÚrseindrÝcke verloren. Das psycho-akustische Zentrum liegt in den SchlÈfenlappen. Dort ist dann auch der nÈher lokalisierte Sitz der sensoriellen Aphasie. Diese besteht im Schwinden der Wort-Erinnerungsbilder.144

9. Die Struktur des Seelenlebens. § 3

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9. Die Struktur des Seelenlebens

§ 3. Die entsprechende Struktur des inneren Lebens Die145 Èußere Organisation des tierischen KÚrpers ist der Ausdruck des inneren Lebenszusammenhanges in demselben. Den wichtigsten Typen dieser Organisation entsprechen Typen der psychischen Struktur. Und zwar zeigt sich, daß sowohl innerhalb des Typus der Arthropoden in den Ameisen und Bienen ein sehr hohes und ganz eigenes Seelenleben zur Entwicklung gelangt, als dann wieder innerhalb der Wirbeltiere. Bei diesen beiden großen Typen seelischen Lebens haben wir ein Gehirn als TrÈger desselben, mit ihm verbunden einerseits Sinnesorgane von feiner Gliederung und sehr artikulierte Bewegungswerkzeuge. Betrachtet man diese großen Typen der Èußeren Organisation menschlicher Seelenorgane, so gestatten dieselben fÝr die Psychologie wichtige SchlÝsse. Diese gehen von unserem in Wahrnehmung, GefÝhl, Trieb und Bewegungsintention ablaufenden Seelenleben aus. Und zwar fordert nun die Entwicklungslehre, daß dieser Zusammenhang in innerer Verbindung mit den primÈren Stufen steht. So lange jede Struktur eines Nervensystems fehlt, wie bei den AmÚben, muß die RÝckwirkung auf den Reiz in einem ungeschiedenen psychischen Totalzustand sich vollziehen, falls psychisches Leben hier angenommen wird. Dieses mÝßte aber dann die psychischen ZustÈnde dunkel in sich enthalten. Von immer neuen Seiten deutet die Entwicklungslehre, wenn man die VorgÈnge zweckmÈßiger Artikulation betrachtet, auf einen unerkennbaren geistigen Hintergrund dieses sich zum GedankenmÈßigen distinguierenden Universums. Die zweite Stufe zeigt uns an der Hydra ein Organ mit der Doppelfunktion von Reizaufnahme und Bewegung.

C. ZUR AUSEINANDERSETZUNG MIT DER ERKL•RENDEN PSYCHOLOGIE (ca. 1884–1894)

1. Das Leben146

[Satz 1.] Das Erleben ist das Erste und Letzte. FÝr uns ist keine Tatsache da, als welche in unserem Seelenleben auftritt. Jede solche Tatsache ist in irgendeinem Sinne Erzeugnis des Seelenlebens, in dessen Zusammenhang sie entsteht. Insbesondere haben wir keinen Zusammenhang, als den wir erlebt haben, welcher also Zusammenhang unseres eigenen Wesens ist. Denn die Èußere Wahrnehmung enthÈlt keinen Zusammenhang, sondern im Auffassungsvorgang mÝssen wir die EindrÝcke verbinden. Auch das logische Denken ist eine •ußerung der Lebendigkeit und in dem Zusammenhang bestehend und wirksam. Hiervon ist auch folgendes der Beweis. Gleichviel wie der Logismus besteht, dieser kann ganz auf das Zusammenwirken von elementaren DenkvorgÈngen, welche nur in einer Form von Wahrheit sind, auf das Bewußtsein der inneren Lebendigkeit in Ding, Eigenschaften, SelbsttÈtigkeit etc. zurÝckgefÝhrt werden. Sonach ist jedenfalls im Logismus das nachzuweisen, daß Ýber das innere Erleben hinaus die mit ihm verbundenen elementaren DenkvorgÈnge ihrerseits etwas in das Resultat hineingÈben.

Satz 2. So ist die Grundlage und der Anfang aller Besinnung des Menschen die Auffassung [?], Beschreibung und Analysis des lebendigen Zusammenhangs, welchen ich mir selber finde.

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C. Zur Auseinandersetzung mit der erklÈrenden Psychologie

[Erstes Kapitel.] VerhÈltnis des beschreibenden Verfahrens zur erklÈrenden Psychologie. Grenzbestimmungen gegen intellektualistische Erweiterung dieses Satzes 1. Die erklÈrende Psychologie entstand aus dem Streben, die LÝcken der beschreibenden Psychologie zu ergÈnzen, die Tatsachen des Erwirkens in einen rationalen Zusammenhang zu bringen und so das VerstÈndnis und [die] Entzifferung des geistigen Lebens in der Geschichte zu erwirken, nachdem die in der Èußeren Natur herbeigefÝhrt worden war. Die Èltere Psychologie war in sich gebildet. Sie hatte die Klassifikation der seelischen Leistungen etc. zum Gegenstande. Erst Kausalerkenntnis ermÚglicht HerbeifÝhrung beabsichtigter Wirkungen. In Humes Assoziationspsychologie und Leibniz’ Lehre von den kleinen Perzeptionen waren die ersten Prinzipien fÝr weitere ErklÈrungen enthalten. In Herbart zuerst wurde mit vollem Bewußtsein aus den Erfahrungen und gewissermaßen den Zielen der PÈdagogik eine Mechanik der Vorstellungen aus KrÈften entworfen, welche sich der Naturwissenschaft als SeitenstÝck zur ErgÈnzung zugesellte. Denselben Zusammenhang mit den praktischen Aufgaben [?], insbesondere der PÈdagogik, zeigt Beneke. Diese erklÈrende Psychologie mußte die Kausalgleichungen und Ursachenbegriff und Effekt zugrunde legen. Der in der Naturerkenntnis gegebene Kausalzusammenhang, der sich in dem causa aequat effectum ausdrÝckt, wurde von ihr zugrunde gelegt. Ohne dieses Denkmittel konnte ein erklÈrendes System keine sichere Regel des Fortschreitens haben. Sie mußte also das in der Erfahrung gegebene Leben auf einem hinter ihm liegenden rationalen Zusammenhang begrÝnden, welcher in dem erfahrenen Leben so nicht gegeben ist, dieses also Ýberschreitet. 2. Diese Konstruktion des im Erleben Gegebenen durch einen demselben untergelegten, in ihm so nicht gegebenen rationalen Zusammenhang kann nicht unser Wissen vom lebendigen Zusammenhang ergÈnzen wollen. Sie ist nur mÚglich, indem Teilinhalte der lebendigen Erfahrung des Erwirkens am Leitfaden Èußerer Naturerkenntnisse verbunden werden. Sonach durch VerkÝrzung der vollen Lebendigkeit und durch Verbindung derselben mit etwas ihr Fremdartigen. Sie kann Hilfsoperation sein. Als solche kann sie ein Denkmittel sein, neue Erfahrungen in Experimenten, vergleichenden Verfahren, physiologischen Versuchen [?] zu ermÚglichen. Dagegen also durch den Anspruch auf reale Geltung wÈre sie die Metaphysizierung der Psychologie, d. h. die Unterordnung der psychischen VorgÈnge in eine rationale objektive Weltsystematik.

1. Das Leben

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Die erklÈrende Psychologie kann ihre Aufgabe nur vollziehen durch die Ableitung des Erlebten aus Teilinhalten desselben, welche in einen rationalen Kausalzusammenhang gebracht werden. In diesem Sinne war wieder Herbart der entscheidende Kopf. Vorstellungen sind KrÈfte, die nach Gesetzen ihrer inneren VerhÈltnisse wirksam sind: aus ihnen kann alles abgeleitet werden. Aber bei ihm wird auch besonders deutlich, daß dieses nur [mÚglich], indem eben die abzuleitende Lebendigkeit hineingelegt wird. Indem sie so verfÈhrt, kann sie nur die Lebendigkeit mechanisieren, nie finden und erfassen. Aber was sie so erreicht, [kann sie] nur, indem sie bei jedem Schritt sie hineinlegt. Dasselbe Verfahren, das Trendelenburg gegen die Hegelsche Logik. Nachweis dieses Voraussetzens und Hineinlegens in jeder Konstruktion kann auch in der erklÈrenden Psychologie vollzogen werden. Die Assoziation nimmt an, daß in einer Verbindung Mannigfaltigkeit durch GewÚhnung verbunden wird. Dies setzt schon voraus, daß EingewÚhnung einer Koexistenz oder Sukzession Band, Zusammenhang hinzubringe. In der bloßen Erleichterung der Abfolge liegt das davor [?]. Dieser in Lebendigkeit enthaltene Zusammenhang wird in sie zurÝckgetragen durch Voraussetzung. Ebenso in unbewußter Vorstellung die Tendenz bewußt zu werden (sie ist bei Hobbes: Motus, bei Leibniz: Tendenz, Korrelat der Bewegung). 3. Der Zusammenhang soll nicht in der erklÈrenden Psychologie ergÈnzt werden. Er kann es weder durch ersonnene Elemente noch durch ersonnenen Zusammenhang. Dies ist so gewiß, als daß aus etwas etwas wird. So groß, als es durch alle ZusammenhÈnge menschlicher Geschichte bestÈtigt wird. Meine Beispiele = der Dichter und der ReligiÚse. Wir suchen ihn nun mit dem Finger. Wie bildet sie ihre Elemente? Wie bildet sie ihren Zusammenhang? a) Wie bildet sie ihre Elemente? Die erklÈrende Psychologie erklÈrt also stets, indem sie aus dem Lebenszusammenhang aussondert oder Vorhandenes eines Gebietes hypothetisch zugrunde legt oder durch Kombination transformiert.147 Grenzen menschlichen Schaffens [?]. Sie erweitert den Wirkungskreis bekannter Tatsachen, sie nimmt also bekannte Tatsachen hypothetisch als Ursachen auf einem Gebiete an, auf welchem die Erfahrung den Zusammenhang nicht kennt, indem sie physiologischen Zusammenhang da dem Auftreten psychischer Elemente unterlegt, wo er noch nicht nachgewiesen worden ist. Sie [. . .]148 bildet durch Kombination: relativ Neues, sie fÝhrt so in das Erleben Ýberschreitende hypothetische Elemente ein, indem sie den Begriff der unbewußten Vorstellung oder der angeborenen Funktion bildet. Der letzte Begriff ist gerade so gut eine Àberschreitung, die ins Transzendente fÝhrt, als die unbewußte Vorstellung. Das Transzendentale Kants erweist sich als das Transzendente. Wir wissen vom Zusam-

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C. Zur Auseinandersetzung mit der erklÈrenden Psychologie

menhang als Bedingung und als Tatsache, aber eine Darstellung desselben in angeborenen Ideen ist die Platonische Transzendenz der Ideen [. . .]. Grade so wie die Ausbildung von Form und Stoff im Seelenleben ein solcher neuer Platonismus ist. b) Wie bildet sie ihren Zusammenhang? Zusammenhang ist zunÈchst nur in der Lebendigkeit gegeben und wird Ýberallhin Ýbertragen. Aus Nichts, in freier SchÚpfung kann kein hypothetischer Zusammenhang hervorgebracht werden. Hier aber besteht nun ein allgemein durchgreifendes VerhÈltnis. Unsere Erlebnisse werden der Außenwelt untergelegt. Dadurch entstehen in diesen nach RÝckÝbertragung neue Arten des Zusammenhangs. So entsteht die einigende Grundlage [?] der ganzen erklÈrenden Psychologie: causa aequat effectum, das KausalverhÈltnis, in welchem diese Kausalgleichung Geltung hat. Einerseits ist dasselbe Teilinhalt der Lebendigkeit, andererseits hat die Kausalgleichung ihren Wert durch die Konstanz der Empfindungselemente, GleichfÚrmigkeit etc. kurz der Eigenschaften [?] erhalten. Sonach gehÚrt dieser Zusammenhang der beschreibenden Psychologie Ýberhaupt gar nicht an. Er wird in der Erfahrung der seelischen Lebendigkeit nirgend gefunden. Er ist hinzugedacht. Er wird als rationale Unterlage der erfahrenen Lebendigkeit hypothetisch eingefÝhrt. Da nun eine reale Erweiterung einer Erkenntnis der erfahrenen Lebendigkeit so nicht gewonnen werden kann, kann er nur den Wert haben, Instrument der experimentierenden und rechnenden Psychologie zu sein, da diese ohne dasselbe ihr Werk nicht wÝrde tun kÚnnen. Auch wenn bis jetzt alle Tatsachen, auf welche wir beobachtend, [. . .] vergleichend kommen, mit den Experimenten in Àbereinstimmung wÈren, bliebe sie doch nur eine durch die bisherigen Erfahrungen beglaubigte Hypothese, morgen kÚnnte sie umgeworfen werden. Aber eine solche BestÈtigung wÝrde Mittel quantitativer Bestimmung voraussetzen, die wir nicht haben. Aber unsere unbestimmten Erfahrungen in unseren Experimenten [?] fÝhren, wie Wundts Entwicklungsgang zeigt, im Gegenteil von dieser Annahme zur Aufhebung derselben. 4. Die beiden ErklÈrungs- oder Denkmittel sind: von Hobbes fÝr Benutzung des physiologischen Kausalzusammenhangs, um die LÝcken auszufÝllen; von Leibniz fÝr EinfÝhrung von minimalen, nicht zum Bewußtsein gelangenden psychischen VorstellungskrÈften. Beide bedienen sich des Denkmittels der Gradation der BewußtseinszustÈnde. Aber Wahrnehmungen haben wohl Grade, dagegen Vorstellungen nicht. Wollungen, Triebe haben Grade, aber der Vorgang des Vorziehens, wie soll er einen Grad haben?149

1. Das Leben

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Ergebnis So hat die erklÈrende Psychologie ihr Recht darin, daß sie durch Verfolgung von Hypothesen, Experimente, vergleichendes Verfahren: kurz neue Erfahrung herbeifÝhrt.150 Ihre Hypothesen sind nicht Wahrheiten, sind Instrumente, neue Erfahrungen zu machen und erfahrungsmÈßig ZusammenhÈnge festzustellen. Reale Erkenntnis gibt es nur von ZusammenhÈngen, welche wir erleben.

Satz 3 [. . .] Ist die Beschreibung nach mancher Seite hin beschrÈnkt, so ist sie nach einer anderen umfassender und von weit grÚßerer Tragweite als die erklÈrende Psychologie. Diese kann ihr Verfahren nur in einem eingeschrÈnkten Sinne ausfÝhren. Eine zusammenhÈngende und151 lÝckenlose ErklÈrung muß sich auf dasjenige einschrÈnken, was in Kausalgleichungen ausgedrÝckt werden kann. Dies sind aber die Formen des Geschehens.

Vierter Satz. Gegen den realen Wert der erklÈrenden SÈtze sprechen im einzelnen folgende Tatsachen. Die Tatsache der bestÈndigen PrÈsenz eines Zusammenhangs, wodurch seine Gliederung unabhÈngig von der Zeit wirkt, ist in der lebendigen Erfahrung gegeben. Diese Tatsache reicht Ýber das als Assoziation bezeichnete VerhÈltnis hinaus. Jede Mannigfaltigkeit von Empfindungen setzt schon Vergleichung, Unterscheidung voraus, um [zum] Dasein zu kommen.

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C. Zur Auseinandersetzung mit der erklÈrenden Psychologie

Zweites Kapitel. MÚglichkeit der AuflÚsung der Aufgaben der Beschreibung152 Drittes Kapitel. Die RealitÈt des in der Erfahrung gegebenen lebendigen Zusammenhangs, im Gegensatz zu allen Hypothesen Wir kÚnnen nicht hinter das im Erleben Gegebene durch ErklÈrungen zu einer weiter zurÝckliegenden und mehr rationalen Erkenntnis des Zusammenhangs im Wirklichen gelangen. Diesen Satz unterscheiden wir von dem, daß alles nur im Bewußtsein gegeben ist. Wir bezeichneten ihn als den zweiten Hauptsatz der Selbstbesinnung.153 Er ließ offen, daß erklÈrende Hypothesen dienen kÚnnen, das Nebeneinander und Nacheinander von Tatsachen in der Wirklichkeit der Voraussage zu unterwerfen und durch Rechnungen zu Bestimmungen zu gelangen, welche dann neue Experimente veranlassen und so neue Erfahrungen herbeifÝhren. Aber er schloß aus, daß ein hinter dem Erleben gelegener Zusammenhang angenommen werden kÚnne. Dieser Satz ist identisch mit der Vernichtung jeder Art von Metaphysik, denn auch die Einordnung psychischer Begleiterscheinungen in einen objektiven und rationalen Naturzusammenhang ist Metaphysik, nur diejenige, welche dem modernen Geiste der Erfahrungswissenschaften entspricht. Der dritte Hauptsatz, welchen die Selbstbesinnung findet, ist: der innere Zusammenhang des Seelenlebens, der in die Erfahrung fÈllt, kann als ein lebendiger nicht mit dem der Èußeren Natur identifiziert, er kann nicht in Kausalgleichungen dargestellt, er kann nicht durch die Ratio durchsichtig gemacht werden. Der Beweis hierfÝr liegt darin, daß jeder Versuch dieser Art auf Antinomien fÝhrt. Die WelterklÈrung fÝhrt nicht nur in ihrer Anwendung auf das Transzendente gleichsam auf eine Wirklichkeitsregion jenseit unseres Erfahrungskreises hinweg, wie Kant gezeigt hatte, sondern auch innerhalb der gegebenen Wirklichkeit entstehen, wenn sie in einem durchsichtigen Zusammenhang gebracht werden sollte, Antinomien. Dieselben sind der erfahrenen Wirklichkeit immanent, sobald diese auf rationale Formeln und in einen erklÈrenden rationalen Zusammenhang gebracht werden soll, entstehen sie. Dies ist zunÈchst darin gegrÝndet, daß die Lebendigkeit mehr als Ratio ist, also ihr Zusammenhang nicht auf einen rationalen gebracht werden kann. Dies versuchen die Begriffe der KausalitÈt und Substanz. Dann ist es darin gegrÝndet, daß Tatsachen an verschiedenen PhÈnomenen [?] ebensowenig aufeinander zurÝckgefÝhrt werden kÚnnen, als daß [das] in einer anderen Funktion Auftretende auf die Denkfunktion zurÝckgefÝhrt werden kann. Dies beweist das VerhÈltnis der stetigen GrÚße von Raum,

1. Das Leben

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Zeit und Bewegung zur Zahl. Ebenso das VerhÈltnis von GefÝhlstatsachen zu intellektuellen VorgÈngen. Hieraus fließt auch, daß das von innen Erlebte nicht unter Begriffe gebracht werden kann, welche an der in den Sinnen gegebenen Außenwelt entwickelt worden sind. FÝnftes Kapitel.154 Die Grundeigenschaften von Lebendigkeit, SpontaneitÈt, und Geschichtlichkeit in diesem Zusammenhang Die Natur dieses Zusammenhangs stellt sich zunÈchst in einem negativen Merkmal dar. Wir kÚnnen das, was im seelischen Verlauf eintreten wird, nicht mit Sicherheit voraussagen. Es lÈßt sich nicht konstruieren, wir kÚnnen nur nachtrÈglich analytisch die GrÝnde dessen, was geschehen ist, aufzeichnen. Diese Tatsache zeigt dem mit der Geschichte Vertrauten jeder Teil derselben. Grade die grÚßten Epochen enthalten in sich eine Wendung, welche niemand voraussehen konnte. Auch ist es augenscheinlich nicht die Verwicklung der Faktoren, welche diese Eigenschaft des Geschichtlichen zur Folge hat. Hierin besteht gerade das, was wir als das SchÚpferische großer Epochen und Personen bezeichnen. Dasselbe kann aber auch in den elementaren VorgÈngen der Einzelseele aufgezeigt werden.155 Diese Grundeigenschaft Èußert sich ferner darin, daß psychische Bedingungen qualitativ anderes erwirken sowie, daß sie Wertvolleres hervorbringen. Der Reflex derselben im GefÝhl ist das Bewußtsein der Freiheit.

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C. Zur Auseinandersetzung mit der erklÈrenden Psychologie

2. *Die Struktur des Seelenlebens und die analytische Methode

Das RÈtsel lÚst sich: Der Satz, Existenz, RealitÈt kÚnne nie etwas außerhalb des Bewußtseins bedeuten, etwas dem Bewußtsein Transzendentes, wird rÝckhaltlos anerkannt. Somit geschieht dem sogenannten PhÈnomenalismus, der sich lieber Monismus nennt, sein Recht. Wir kennen nur die Existenz, die in unserem Bewußtsein auftritt, und kÚnnen allein sie kennen. Auch die Begriffe von Existenz, Objekt oder RealitÈt mÝssen aus der Verflechtung seelischer ZustÈnde abgeleitet werden. Aber wird doch innerhalb des Bewußtseins die Erfahrung der RealitÈt des Objektes gemacht, und unser gesundes GefÝhl kann nicht anders zur Ruhe gebracht werden als durch eine ErklÈrung der Sache, welche diese RealitÈt des Objekts rechtfertigt. Der PhÈnomenalismus ist nicht eine solche ErklÈrung. Erst von dem anthropologischen Standpunkte aus, welcher in unserem erkenntnistheoretischen System eingenommen wird, kann diese Erfahrung gerechtfertigt, ja tiefer begrÝndet werden. Die Philosophie des sensus communis hatte in unserem gesunden GefÝhl, das in der TotalitÈt des Seelenlebens gegrÝndet ist, ihren rocher de bronze, hatte ihn darin, ohne davon zu ernten [?]. Er zeigt innerhalb des Bewußtseins ein Selbst und ein von ihm getrenntes andere, das aber, obwohl nicht im Subjekte, im Lichte des Bewußtseins gesehen wird. So lÚst er das Geheimnis des Objektes.

1. Die Tatsachen des Bewußtseins, die deskriptive Psychologie und die erklÈrenden Hypothesen Wenn psychologische Hypothesen der erkenntnistheoretischen Grundlegung der Wissenschaften zugrunde gelegt werden, so wird das Fundament der Philosophie selber unsicher. Daher ist auf jede Benutzung der Psychologie fÝr die Erkenntnistheorie Verdacht gefallen. Doch mÝssen wir unterscheiden. Die Tatsachen des Bewußtseins, welche dem Selbstbewußtsein, dem Wissen von Objekten, dem Erkennen des Zusammenhangs der Wirklichkeit und der Aufgaben des Lebens zugrunde liegen, mÝssen in dem Vorgang der Selbstbesinnung des Erkennens, auch aufgefaßt in ihrer Wirkung innerhalb der Kausal- oder Zweckbeziehungen der Erkenntnis, gewÝrdigt werden. Aber ein anderes ist die Auffassung dieser Tatsachen und ihrer Beziehun-

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gen, sofern sie in der Erfahrung direkt gegeben oder in zweifellosen SchlÝssen allgemeingÝltig aus ihr abgeleitet werden kÚnnen. Wir wollen diese entstehende Betrachtungsweise als beschreibende Erkenntnis von SeelenzustÈnden bezeichnen. Der Benutzung dieser Tatsachen haftet nur die Unsicherheit an, der unser Raisonnement jederzeit ausgesetzt ist, aber jeder kann die Kontrolle Ýben, ob ein nicht allgemeingÝltiger Bestandteil aufgenommen ist. Es entsteht so nur der Zirkel, der unserem Erkennen unvermeidlich ist; wir bedienen uns des Raisonnements, das Recht hierzu kann doch erst nachtrÈglich aufgezeigt werden; dieser Zirkel ist dieser und jeder Erkenntnistheorie gemeinsam; und wenn im Zusammenhang der Theorie das Recht, Gesetze und Formen des Denkens auf innere Erfahrungen anzuwenden, sich ergibt, ist das MÚgliche getan, ihn unschÈdlich zu machen. Ein anderes sind erklÈrende Hypothesen. Die Psychologie scheint Ýberhaupt ein Interesse daran zu haben, den feststellbaren Tatbestand von Tatsachen des Bewußtseins und Zusammenhang derselben getrennt von den erklÈrenden Hypothesen zu erhalten.156 Die Berechtigung dieser Hypothesen kann nur so erprobt werden. Jedenfalls aber hat die Erkenntnistheorie das Interesse, von jenem feststellbaren Tatbestande den umsichtigsten Gebrauch zu machen, diese Hypothesen dagegen nicht zu berÝhren.

[2.] Die drei Klassen von VorgÈngen, welche in den seelischen ZustÈnden enthalten sind Ein NeidgefÝhl oder eine erneuerte GefÝhlsvorstellung ist so gut eine dem inneren Leben angehÚrige Tatsache, als ein Stoß oder eine Schwingung eine in der Èußeren Natur verlaufende Tatsache ist. Solche Tatsachen im Zusammenhang ihrer Ursachen, ihrer Begleiterscheinungen, ihrer Wirkungen genau aufgefaßt, beschrieben und erinnert, bilden das Material der Psychologie, weiterhin aller Geisteswissenschaften. Sie sind in der Einheit des Bewußtseins miteinander zu der Stetigkeit unseres Lebensverlaufs verbunden. So treten bestÈndig nach vorwÈrts Bestandteile in diesen Lebenszusammenhang ein, wÈhrend nach rÝckwÈrts andere aus ihm schwinden und sich im Dunkel verlieren. Aufmerksamkeit, Interesse sieben aus diesem Fluß des inneren Lebens die einzelnen Tatsachen heraus, umzeichnen und umgrenzen sie. So erinnere ich mich heute des Schreckens, den ich gestern hatte: Ein plÚtzlich auftretendes Gesichtsbild rief einen heftigen Angstzustand hervor, und ein Fluchtversuch trat ein: Das Bild steht in scharfen, abgegrenzten Umrissen vor mir. Und wie Bilder Èußerer Objekte, so verschmelzen auch diese Bilder von inneren Tatsachen

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der Regel nach mit Erinnerungen, die ihnen Èhnlich sind: Auf diese Weise entstehen Gesamtvorstellungen, gleichsam Typen seelischer Tatsachen. Sie werden durch die Bezeichnung befestigt, durch die Beschreibung des Dichters wie durch die Analyse des Denkers aufgeklÈrt.157 Endlich liegen in diesen Bildern, diesen Typen innerer ZustÈnde, Eigenschaften, aufgrund deren die Mannigfaltigkeit dieser Typen in ein System von Klassen geordnet werden kann. Wie das Studium von NaturkÚrpern eines solchen Systems bedarf, so auch das der inneren ZustÈnde. Und vergleiche ich die Bilder oder Allgemeinvorstellungen innerer Tatsachen, die fÝr die Geisteswissenschaften das Material bilden, mit denen der Èußeren Objekte, wie sie fÝr die Naturwissenschaften ihren Stoff gewÈhren in bezug auf diese Eigenschaften, die eine systematische Anordnung ermÚglichen, so zeigen sich die Typen innerer ZustÈnde zwar in einiger RÝcksicht augenscheinlich im Nachteil, doch sind sie auch nicht ohne VorzÝge. Im Unterschied von der sinnlichen Klarheit der Èußeren Objekte ist die Vorstellung Haß oder Neid dunkel und verschwommen. Ich kann eine Nervenfaser unter dem Mikroskop deutlich sehen, ich kann sie jederzeit mir wieder sichtbar machen, ich kann ihre LÈnge messen und die Grade ihrer Eigenschaften bestimmen; ein Affekt kann nicht in deutlicher Umgrenzung aufgefaßt, er kann nicht aufbewahrt, und seine StÈrke kann nicht gemessen werden. Es gibt eine EntschÈdigung dafÝr; wie wir es hier mit direkt und ohne Zwischenglieder auffaßbaren Tatsachen zu tun haben, enthÈlt die Tatsache meist ein Bewußtsein von den Èußeren Bedingungen, unter denen die Lebenseinheit in diesen Zustand gerÈt, oder ein Bewußtsein des inneren Zusammenhangs in der Lebenseinheit, aufgrund dessen der Zustand eintrat, in sich. Die Eigenschaften der SchwefelsÈure enthalten keine unmittelbare ErklÈrung Ýber den Vorgang, in dem sie entstanden, die Bestandteile, aus denen sie zusammengesetzt ist. Mein158 Seelenzustand des Hasses oder mein Erinnerungsbild an diesen Zustand enthÈlt doch in sich das Bewußtsein einer persÚnlich auf mir lastenden Ursache meiner Lebenshemmung, und meine Allgemeinvorstellung von der Erinnerung enthÈlt ein VerhÈltnis zu einem ehemaligen Wahrnehmungszustand als fortdauernde Grundlage fÝr den Erinnerungsvorgang in sich. Ja, ich erfahre nicht nur ZustÈnde, sondern VerhÈltnisse des Erwirkens zwischen denselben unmittelbar: In der erfahrenen Einheit meines Lebens sind die FÈden, die einen Vorgang an den anderen als ein Wirkendes an ein Erwirktes binden, ebenfalls Erlebnis. Bald erfahren wir hier die Art dieses Bandes, das vom Wirkenden zum Erwirkten fortfÝhrt, und das159 Merkmal von Zwang, NichtanderskÚnnen, aus dem wir Notwendigkeit ableiten. Wer mit gesundem Denken PrÈmissen verknÝpft, findet sich zum Schlußsatz mit Notwendigkeit geleitet. Wer ein Objekt mit starkem LustgefÝhl vorstellt, tritt unter den Zwang des Wunsches oder Ver-

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langens. Bald ist dies Band zwischen dem Wirkenden und dem Erwirkten loser gleichsam: Wir nennen Freiheit das Innewerden eines solchen VerhÈltnisses von Wirkendem zu Erwirktem hin in der Einheit des Seelenlebens: So allein entsteht die lebendige Erfahrung von ihr: nie ist sie Erfahrung einer Aufhebung von Kausalbeziehung, Motivation, immer ist sie die Erfahrung des Ausschlusses von Notwendigkeit in dieser Beziehung von Wirken zu Erwirktem hin. Diese Eigenschaften der inneren ZustÈnde haben die Richtung, die Grenzen bestimmt, in denen die Bilder und Typen derselben zu einem System geordnet worden sind. Die wissenschaftliche BeschÈftigung mit dieser Aufgabe durchlief drei Stufen. Es gab eine Zeit – und diese Zeit metaphysischer Spekulation hat lange gewÈhrt –, in der man aus der VerknÝpfung der Erfahrungen Ýber dies Mannigfaltige innerer ZustÈnde und der Erkenntnis des Zusammenhangs der ganzen Wirklichkeit die Anordnung auch dieser inneren ZustÈnde zu einem System ableiten zu kÚnnen glaubte. Damals benutzte man als erklÈrende Prinzipien vornehmlich seelische KrÈfte, welche von dem ErnÈhrungsprozeß ab aufwÈrts bei dem Aufbau des kÚrperlichen und seelischen Lebens wirksam gedacht wurden. Die einzelnen ZustÈnde wurden als •ußerungen dieser seelischen KrÈfte angesehen. Und in der einflußreichsten Theorie dieser metaphysischen Zeit, der aristotelischen, wurden innerhalb dieser entstehenden aufsteigenden Entwicklung niedere und hÚhere seelische Funktionen unterschieden, innerhalb jeder dieser zwei Stufen dann eine TÈtigkeit, die vom Sinn her angeregt wird zu Wahrnehmen, Vorstellen, Denken, und eine andere, die rÝckwÈrts von GefÝhlen, Antrieben und Willenshandlungen aus das Sein bestimmt. Als man dann der Unsicherheit aller Metaphysik gewahr wurde, begann man im 17. und 18. Jahrhundert dieselbe durch die bloße Analysis der inneren Erfahrung zu ersetzen, aber zugleich bestanden noch Hoffnung und Aussicht fort, die ersten Bestandteile oder KrÈfte zu erkennen, in deren Zusammenwirken ein unteilbarer Lebensmoment sich bildet. So entstand damals die berÝhmte Lehre von den SeelenvermÚgen, deren Herrschaft in Deutschland sich bis in unser Jahrhundert erstreckte. Ihre BlÝtezeit war, als die metaphysische Systematik noch fortwirkte, man aber begann, ihre dÝrr gewordenen Schemata durch empirische Beobachtungen auszufÝllen und feiner zu gliedern. Im Gegensatz dazu entstand die Lehre von den Sensationen als den primÈren und einfachen Bestandteilen des Seelenlebens, wie Hume und Condillac sie ausgebildet haben. Sie nahmen an, daß sich von diesen Sensationen alle anderen seelischen Gebilde nur dem Grade nach unterscheiden. Diese Lehre finde ich schon bei Collier. Ihr durch die Einfachheit verwandt war die Herbarts von

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den Vorstellungen als den einzigen primÈren und einfachen ZustÈnden der Seele. Andere Forscher haben dann von diesen Empfindungen noch andere primÈre einfache Bestandteile unterschieden, Antriebe oder auch GefÝhle. Es ist eine berechtigte, ja eine unvermeidliche Aufgabe der Psychologie, erklÈrende Hypothesen Ýber diese primÈren und einfachen KrÈfte oder Bestandteile an unseren Erfahrungen zu bilden. Es ist auch fest [?] zu hoffen, fÝr eine dieser Hypothesen werde einmal der Beweis erbracht werden kÚnnen. Aber zur Zeit kann keine derselben AllgemeingÝltigkeit beanspruchen. Gegen Herbarts [Lehre], der in den Vorstellungen die einfachen Bestandteile des Seelenlebens erblickt und erst aus den VerhÈltnissen derselben GefÝhl, Trieb, Wille ableitet, bilden schon das sinnliche SchmerzgefÝhl, das gar keine Vorstellung zur Unterlage hat, der mit der einfachen Farben- oder Tonempfindung verbundene GefÝhlston eine unwiderlegliche Instanz. Aber die Aufstellung von zwei Klassen unterliegt, wie sie auch gefaßt werde, ebenso entscheidenden Bedenken, die im uninteressierten, willenlosen GefÝhl etc. liegen. Diese Hypothese wurde daher auch damals, als im 18. Jahrhundert moralisches, Èsthetisches GefÝhl in ihrem interesselosen Charakter gleichsam zuerst entdeckt wurde – es war als in einer Flut von Theologie [?] etc. – durch die Trennung von Vorstellen, FÝhlen und Wollen als den einfachen und primÈren Bestandteilen des Seelenlebens ersetzt. WÝßte ich keine Bedenken, denen diese Dreiteilung unterlÈge, so wÝßte ich doch auch keine BeweisfÝhrung, durch die sie festgelegt werden kÚnnte. So bleibt mir eine dritte kritische oder positive Ansicht in bezug auf diese Frage Ýbrig. Wir wollen die Bestandteile der so zusammengesetzten seelischen ZustÈnde als VorgÈnge bezeichnen, da sie einen Ablauf zeigen, auftreten und wieder verschwinden. Wir finden nun das Auftreten eines Vorgangs in der Seele in der Regel unserer inneren Erfahrung gemÈß in einer Beziehung zu anderen VorgÈngen, von denen aus er erwirkt ist, weiterhin bedingt durch das Milieu des Lebens, in welchem die psychophysische Lebenseinheit sich befindet. Wir finden, daß andererseits von dem Vorgang Wirkungen ausgehen, die schließlich an der Außenwelt VerÈnderungen hervorbringen kÚnnen. So bildet sich ein psychischer Zusammenhang, welcher das Leben ist: wenig von ihm wird in einem gegebenen Lebensmoment von der Enge des Bewußtseins umfaßt: gegen den Horizont dieses Bewußtseins hin verliert sich dieser Zusammenhang in DÈmmerung, um dann weiter alle Deutlichkeit und Klarheit seiner Glieder zu verlieren: Wirkungen werden aber auch so geÝbt von diesem Zusammenhang aus auf den kleinen vom Bewußtsein erhellten Teil desselben. – Wir kÚnnen nun die primÈren einfachen VorgÈnge, aus denen dieser psychische Zusammenhang gebildet ist, nicht in allgemeingÝltiger Strenge erwei-

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sen. In der am meisten gÝnstigen Lage sind wir in bezug auf unsere Empfindungen. Die Èußeren Objekte treten im Bewußtsein auf, als wÈren sie in der Wahrnehmung unmittelbar gegeben. Die Analysis der Èußeren Wahrnehmungen hat diesen Schein zerstÚrt. Sie hat gezeigt, daß Wahrnehmung das Ergebnis eines zusammengesetzten und schon vom Denken geleiteten Vorganges ist. Die fÝr uns nicht weiter zerlegbaren Bestandteile, welche im Wahrnehmungsvorgange verbunden werden, sind die Empfindungen. Diese sind fÝr unser Bewußtsein einfache Sinnesinhalte. Die GrÝnde, aus welchen wir diese Empfindungen als Bestandteile der ErklÈrung der Wahrnehmung zugrunde legen, sind teils physiologische, teils psychologische. Der psychologische Grund: Sie kehren im Wechsel der Objekte bestÈndig wieder, und aus ihnen als Elementen sind auch unsere Vorstellungen zusammengesetzt. Der physiologische Grund: Wir kÚnnen unsere Wahrnehmung mit der Struktur unserer hÚheren Sinnesorgane nur durch die Annahme in Beziehung setzen, daß [die] Leistung der im Sinnesorgan gesonderten Nervenendigung im Hervorbringen eines einfachen Endresultates liegt. Dieses ist freilich zunÈchst nur ein physiologisches. Aus diesen Endresultaten setzt sich dann unsere Wahrnehmung zusammen. Aus diesen Empfindungen sind auch alle unsere Vorstellungen zusammengesetzt. Denn keine Anstrengung der Phantasie oder des Verstandes kann eine Empfindung herstellen oder die Vorstellung einer solchen erzeugen, wenn sie nicht in einem Wahrnehmungszustand gegeben war. Jedoch ist die Annahme ursprÝnglicher getrennter VorgÈnge im Seelenleben, deren jeder einen einfachen Sinnesinhalt hervorbringt, zunÈchst nur ein Kunstgriff des analysierenden Denkens, und vielleicht entstehen zunÈchst nur getrennte physiologische Endresultate. Diese wirken auf den Zusammenhang des Seelenlebens: in ihn [treten] sie ein: die Wirkungen, die sie hier hervorbringen, sind nicht getrennte einzelne Sensationen, sondern eben schon Wahrnehmung.160 Noch weniger kÚnnen wir den einfachen und primÈren Vorgang feststellen, der als Bestandteil in der GefÝhlslage eines gegebenen Augenblicks enthalten ist. Denn hier sind weder getrennte Inhalte noch abgesonderte physiologische Leistungen. Wir mÝssen darauf verzichten, die primÈren VorgÈnge in unserem Seelenleben nachzuweisen und durch Analysis abzusondern. Es kann ja sogar sein, daß was sich uns als einfach im Bewußtsein darstellt, in Wirklichkeit zusammengesetzt ist aus einfacheren psychischen VorgÈngen. Wir mÝssen uns begnÝgen, die fÝr uns nicht mehr zerleglichen Bestandteile unseres Seelenlebens Ýberall aufzusuchen. So kann es nun auch sein, daß ein GefÝhl oder Willensvorgang aus den VerhÈltnissen von Empfindungen und Vorstellungen zueinander entsteht. Lotze hat geglaubt, dies widerlegen zu kÚnnen. Aber die Voraussetzung seiner Widerlegung liegt in der Annahme, was im Bewußtsein sich darstelle, sei so, wie es sich darstelle.

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Der161 kritische oder positivistische Standpunkt verzichtet zur Zeit darauf, die primÈren Bestandteile und Gesetze des Seelenlebens festzustellen. Er begnÝgt162 sich, was im Bewußtsein als primÈr oder einfach oder von anderem trennbar auftritt, als solches der ErklÈrung psychischer ZustÈnde zugrunde zu legen. Er ergÈnzt diese treue Auffassung der psychischen Tatsachen in der inneren Wahrnehmung nur durch hÚhere SchlÝsse aus diesen Tatsachen, Hypothesen will er nicht bilden. Dieser Standpunkt ist auf dem Gebiet des Seelenlebens dann durchfÝhrbar, weil uns hier in der inneren Erfahrung die Lebenseinheit gegeben ist, in welcher die VorgÈnge stattfinden, und weil nicht nur die einzelnen VorgÈnge, sondern auch die Art, wie sie einander erwirken und so den Zusammenhang des Lebens selber bilden, in die innere Wahrnehmung fÈllt. Und dieser Standpunkt zeigt endlich innerhalb des Studiums geistiger Tatsachen erhebliche VorzÝge: Die Bedeutung des Lebens liegt eben in dem Zusammenhang, der in die innere Wahrnehmung fÈllt. Dies ist die BÝhne, und hier sind Ort, Umgebung und Personen, unter welchen das Drama des Lebens sich abspielt. Unser Interesse ist verhÈltnismÈßig gering, Holz und Leinwand und Lampen zu sehen, welche die RÝckwand der Kulissen bilden.163 Es gibt eine Struktur des Seelenlebens, in welcher die Leistungen desselben zu einer Einheit gegliedert sind. Wie der Physiologe die Funktionen des KÚrperlichen zu erkennen strebt und die anatomische Zergliederung ihm hierbei nur zur Grundlage dient, so hat die Erkenntnis der anderen Seite des Lebens, der seelischen, die Beziehung der Funktionen zueinander in der Gliederung des Seelenlebens zum Gegenstand. Diese Auffassung der Struktur des Seelenlebens ist die erste Weise, in der der Mensch sich ein Bild seines Seelenlebens macht. Wir bringen dann an jeden Menschen, an jede Dichtung, an jeden Teil von Geschichte diesen Typus des Menschen, um ein VerstÈndnis zu ermÚglichen. Dieser Zusammenhang ist teleologisch, Leben erhÈlt und steigert [sich] vermittels einer bestimmten Beziehung von Leistung[en] aufeinander, welche den Bedingungen angemessen ist, unter denen es auftritt. Àberall sonst ist die Annahme eines teleologischen Zusammenhangs hypothetisch und unterliegt bekannten, in der Erkenntnistheorie entwickelten Bedenken. Aber innerhalb der Psychologie und der auf sie gegrÝndeten Geisteswissenschaften sind ja die Tatsachen von Wert und von Zweck in ihrer Heimat. Der Begriff des Zweckes ist nur der abstrakte Ausdruck des in der Struktur der Seele enthaltenen Erlebnisses. Wir bringen unablÈssig Reize, Wahrnehmungen und Vorstellungen hervor, in denen die Wirklichkeit da ist. Das Leben der GefÝhle mißt ihnen ihre Wertbestimmungen zu, und der Wille empfÈngt und verwirklicht seine Zwecke. Diese lebendige Beziehung zwischen gewahrter Wirklichkeit, erfahrenem Wert und gesetztem Zweck ist eben die Struktur des Seelenlebens. Und

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dieser Zusammenhang strebt bestÈndig einen Gleichgewichtszustand in seinen GefÝhlen herzustellen. In diesem liegt die Mitte des Zweckzusammenhangs, denn die teleologische Struktur des Seelenlebens geht von den Bedingungen, welche die Wirklichkeit fÝr das psychophysische Leben enthÈlt, zu einer Anpassung an dieselbe, in welcher entweder die Lebenseinheit die Wirklichkeit abÈndert oder sich der unabÈnderlichen Wirklichkeit anpaßt. Das Leben ist eingebettet in dieses Milieu der Wirklichkeit, es verlÈuft in der Wechselwirkung der Lebenseinheit mit der Außenwelt. Sein Zusammenhang geht von der Einwirkung der Reize zu der Anpassung. In diesem Verlauf bringt zunÈchst die Außenwelt Wirkungen im Bewußtsein hervor, nÈmlich Wahrnehmungen und Vorstellungen. Dieses Spiel der Empfindungen und der aus ihnen entstandenen Vorstellung bedingt das VerhÈltnis des so Empfundenen und Vorgestellten zur Lebenseinheit. [Es] wird in Lust und Unlust, in Billigung und Mißbilligung, in Gefallen und Mißfallen gefÝhlt, und Wertbestimmungen Ýber das Èußere Wirkliche wie Ýber einzelne Momente und Bestandteile des psychischen Lebens selber drÝcken sich in den GefÝhlen aus. Alsdann ruft das Spiel der GefÝhle die Spannungen des Willens hervor, welche wir als Trieb, Begehren, innere oder Èußere Willenshandlung erfahren. Wie in dem tierischen Organismus die Funktion der ErnÈhrung die Leistung der Nerven in Empfindung und Anreiz zur Bewegung zur Bedingung hat, andererseits aber derselbe ErnÈhrungsvorgang das Leben der Nerven erst unterhÈlt, wie hier also jeder Vorgang zugleich Mittel und Zweck ist, so findet im Seelenleben dasselbe StrukturverhÈltnis statt. Man pflegt nun in der Regel in der Selbsterhaltung oder in dem Lebensprozeß den Zweck zu sehen, zu welchem die psychischen Leistungen zusammenwirken. Was diese Selbsterhaltung fÚrdert, soll in der Lust empfunden und so bevorzugt werden. Schmerzen gelten im ganzen als Korrelaterscheinungen fÝr [die] dem KÚrper schÈdlichen VorgÈnge. Hiermit wird aber die Einsicht, daß nur das nÝtzlich oder schÈdlich ist, was als solches im GefÝhl empfunden wird, verlassen.164 Man kÚnnte selbst finden, daß die ZerstÚrung des physischen Lebens mit Lust verbunden wÈre, und kein Schmerz, weder kÚrperlicher noch Ýber den eigenen Untergang verursachter, von dem Fortschreiten dieser ZerstÚrung hervorgerufen wÝrde. Dann wÈre dieser Untergang wertvoll und zweckmÈßig. So ist diese Selbsterhaltung uns wertvoll, ist nur durch die Natur unserer GefÝhle begrÝndet. Und nur das kann zugestanden werden, wir finden Steigerungen des normalen physiologischen Lebensprozesses so mit LustgefÝhlen verbunden, daß hierdurch im Haushalte unseres Lebens [ein] normaler, der Erhaltung des KÚrpers gÝnstiger Lebensprozeß von selber durch das Spiel unserer GefÝhle und unseres Willens gefordert wird. Der Prozeß der Steigerung des Lebens in der Tierreihe ist an diese Struktur des Seelenlebens gebunden, und

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so wirkt diese teleologisch in bezug auf die Vervollkommnung der Organisation der Tiere. An den Schmerz schließt sich der Trieb, ihn zu enden, an die Lust das Streben, sie festzuhalten. Da der Intellekt als ein Licht dem Willen die Bedingungen seiner Befriedigung gewahren lÈßt, so erhÈlt sich und steigert sich der Intellekt als zweckmÈßig. Ebenso muß sich das Mannigfache und Angemessene der Wertbestimmung im GefÝhle steigern. Endlich nimmt mit der Energie und den Mitteln des Willens, zu willkÝrlichen Bewegungen sich durchzusetzen, die Angemessenheit der Lebenseinheit an die Erreichung des ihr Wertvollen zu. Die aufsteigende Reihe im Tierreiche165 zeigt so eine zunehmende Differenzierung des Nervensystems und der Sinne, korrelat den zunehmenden Leistungen der eben unterschiedenen drei Funktionen. Sie zeigt andererseits eine zunehmende Verbindung, koordinativ im Nervensystem, entsprechend der Aufgabe der Struktur, die Beziehung der VorgÈnge aufeinander nach der Gliederung des Seelenlebens zu ermÚglichen. Noch bei den Seesternen sind die verschiedenen unter sich gleichen Teile, aus denen sich der KÚrper zusammensetzt, dem inneren ganglionÈren Zentrum verbunden, welches nur den Funktionen der eigenen Abteilung zu dienen scheint und offenbar nur eine geringe Kommunikation mit den Ýbrigen Zentren oder eine schwache AbhÈngigkeit von den anderen166 hat. So antwortet jeder Teil selbstÈndig auf die ihn treffenden EindrÝcke. Die einzelnen Arme des Seesterns fahren fort ihre TÈtigkeit zu Ýben, auch lange nachdem sie voneinander getrennt sind. Es verdiente dann untersucht zu werden, in welcher Weise sich die dem tierischen Leben eigenen Reaktionen und Reize durch willkÝrliche Bewegung psychisch in der Entwicklungsreihe nÈher bestimmen lassen, wo die getrennten Sinne ein vom Wahrnehmen getrenntes Leben der GefÝhle ermÚglichen. Geht man von Meynerts Theorie der physiologischen Unterlagen der GefÝhle aus, so kÚnnte von biologischen Betrachtungen aus so diese Theorie eine BestÈtigung oder Kritik empfangen. Im ganzen kÚnnen wir es aussprechen: Die Struktur des Seelenlebens entwickelt sich im Individuum wie in der Tierreihe durch Einschaltung einer zunehmenden Mannigfaltigkeit psychischer Elemente und durch Herstellung eines zunehmenden Verbindungsnetzes zwischen diesen Elementen. Der Weg von dem Reiz zur willkÝrlichen Bewegung ist in dem Tiere, dem Naturmenschen, dem Neugeborenen noch ein verhÈltnismÈßig kurzer; immer mehr Zwischenglieder von Assoziation, Verschmelzung, GedÈchtnis, VerstandesschlÝssen, Ideen, formalen, Èsthetischen, sittlichen GefÝhlen, Wahl des Wollens, AbwÈgung der Werte, AbwÈgung der Mittel treten ein zwischen Reiz und WillkÝrbewegung. Die psychologische Analysis hat nun das GeschÈft, die einzelnen VorgÈnge und die Beziehungen zwischen ihnen zu erkennen, wie sie in der Gliederung

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des Seelenlebens zu einer solchen Struktureinheit verbunden sind. Wir nennen einen fÝr uns nicht mehr zerlegbaren Bestandteil einen einfachen seelischen Vorgang, welcher ja jedesmal im Seelenleben von Reizen oder vom seelischen Zusammenhang her erwirkt wird, eine begrenzte Zeit dauert und dann anderen Platz macht: denn auch wo er als Zustand uns gegenÝbertritt, hat er einen Anfang, einen Verlauf und ein Ende. Die ZustÈnde des Bewußtseinsstandes, wie er einen Moment des Lebens ausmacht, sind in der Regel zusammengesetzt. Aber die Bestandteile, welche die Analysis aufzuzeigen vermag, dÝrfen nicht als Atome, die nach Gesetzen miteinander in Wechselwirkung stehen, betrachtet werden. Die naturwissenschaftlich bedingte Psychologie des 17. und 18. Jahrhunderts in Frankreich und England hat diese Ansicht verbreitet. Sie stimmt nicht mit den Erfahrungen Ýberein, sondern ist in sie von den Naturwissenschaften her hineingetragen. Objekte tauchen im Bewußtsein auf, als wÈren sie in einer Wahrnehmung unmittelbar gegeben. Die Analysis der Èußeren Wahrnehmung hat diesen Schein zerstÚrt. Sie zeigte, daß die Wahrnehmung das Ergebnis eines zusammengesetzten und schon vom Denken geleiteten Vorganges ist. Wir nennen die einfachen Sinnesinhalte, welche in der Wahrnehmung zum Objekt verbunden sind, Empfindungen. Die Mannigfaltigkeit mÚglicher Empfindungen ist innerhalb jedes Sinneskreises eine begrenzte; im Wechsel der Objekte kehren dieselben Empfindungen in stets neuen Zusammensetzungen regelmÈßig wieder; bald als Empfindungen, bald als aus ihnen stammende Vorstellungen. So grenzen sich diese Empfindungen als feste Einheiten voneinander ab. Auch treten sie, physiologisch angesehen, jede als Ergebnis eines besonderen Vorganges auf. Wir kÚnnen unsere Wahrnehmung mit der Struktur unserer hÚheren Sinnesorgane nur durch die Annahme in Beziehung setzen, daß die Leistung der im Sinnesorgan gesonderten Nervenendigung im Hervorbringen eines einfachen Endresultates liegt, das freilich zunÈchst nur ein physiologisches ist. Dies physiologische Endresultat darf nun in verschiedener RÝcksicht nicht einfach mit der Empfindung des einfachen Sinnesinhaltes identifiziert werden. Unsere Analysis kann einfache Empfindungen am besten innerhalb der Tonempfindungen bestimmen. Physiologisch ist ein einfacher Ton ein solcher, der durch einen Wellenzug von der reinen Wellenform erregt wird. Alle anderen Wellenformen, wie sie von den meisten musikalischen Instrumenten hervorgebracht werden, erregen mehrfach zusammengesetzte Tonempfindungen. So sind alle TÚne der musikalischen Instrumente als Akkorde mit vorwiegendem Grundton zu betrachten. Die begleitenden ObertÚne werden in der Regel nicht unterschieden. Psychologisch genommen ist ein Ton, der als einfacher Sinnesinhalt auftritt, als einfache Empfindung anzusehen. Vermag die Aufmerksamkeit TÚne in einem solchen, besonders vermittels der Àbung, zu

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trennen, so folgt daraus nicht, daß vordem die Tonempfindung die Verschmelzung einer Mehrheit von Tonempfindungen gewesen ist. Sie kann ebensogut ein Gesamteffekt mehrerer physiologischer Endresultate gewesen sein, wÈhrend dann erst die Aufmerksamkeit die gesonderten physiologischen Einzeleffekte auch gesondert zum Bewußtsein bringt. Aber auch in anderer Beziehung darf das physiologische Endresultat nicht mit dem psychischen einfachen Empfindungsinhalte identifiziert werden. Die Empfindung zeigt sich in vielen FÈllen als nicht einfach erwirkt vom Sinnesaffekt, sondern mitbedingt von dem Zusammenhang des Seelenlebens, und kann dies in einzelnen FÈllen erwiesen werden, so kann nicht bestritten werden, daß es in allem sei. Endlich ist Empfindung losgelÚst von der in ihr enthaltenen Setzung, welche ihren Inhalt von dem Selbst trennt und ihm gegenÝberstellt. In jeder Empfindung als solcher ist viel enthalten, minder oder mehr energisch. So sehen wir, daß Empfindung als ein vom Zusammenhang des Seelenlebens gelÚstes psychisches Atom eine Fiktion ist. Diese Fiktion ist in der sensualistischen Schule des 18. Jahrhunderts herrschend gewesen. In Wirklichkeit wirkt der Zusammenhang des Bewußtseins, in welchem das Schlußergebnis einer isolierten Sensation eintritt, auf die Bildung der Empfindung; es wirkt auf ihre Bildung die Verteilung der Aufmerksamkeit, wie sie ja eine extensiv unbestimmte GrÚße zunÈchst ist, und sie hÈngt auch durch die in ihr enthaltene Setzung ihres Inhaltes gegenÝber dem Selbst an dem Lebenszusammenhang, in welchem sie entstand. Wir wissen also nichts von einer einfachen Empfindung, welche das getrennte Ergebnis eines einfachen abgetrennten physiologischen Vorgangs ([Sensation]) wÈre und als solche (Perceptio) nun in den Zusammenhang anderer Empfindungen eintrÈte (Apperzeption). Niemand ist ja gehindert, eine Hypothese in diese Richtung auszubilden, wenn er hierzu bestimmende Erfahrungen anzugeben imstande ist. Aber diese Empfindungen sind weder Erfahrungen oder aus Erfahrungen notwendig erschlossen, sie sind also fÝr die Psychologie nicht Tatsachen. Dieselbe findet vielmehr die fÝr sie einfache Empfindung, welcher ein einfacher Sinnesinhalt entspricht, vor, als bedingt sowohl von der Aufmerksamkeitsverteilung, als vom erworbenen Zusammenhang des Bewußtseins, als endlich von dem strukturellen Seelenleben, welches dem Inhalte der Empfindung eine minder oder mehr energische Setzung außerhalb des Selbst zuteilt. Auch unsere GefÝhle sind uns in sehr zusammengesetzten TotalzustÈnden gegeben; die fÝr das Bewußtsein (nicht an sich) einfachen, d. h. nicht weiter zerlegbaren Bestandteile dort kÚnnen auch hier nur durch einen Vorgang der Analysis aufgefunden werden. Und diese vermag sie noch viel weniger als die Wahrnehmungen in getrennte Einheiten zu zerlegen. Die GefÝhle kÚnnen zunÈchst in eine Reihe von IntensitÈten geordnet werden, die von einem Null-

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punkt der Indifferenz aus sich in der einen Richtung nach IntensitÈtsgraden von Lust, Gefallen, Billigung, in der anderen nach Graden von Unlust, Mißfallen, Mißbilligung darstellen. Es ist ihnen weiter gemeinsam, daß sie eine Beziehung zwischen unserer psychophysischen Lebenseinheit und den UmstÈnden, unter denen diese funktioniert, darstellen. Wir sahen, in welchem undiskutablen [?] Sinne es als eine Auslegung dieses Tatbestandes gelten kann, wenn Lotze u. a. sagen: Das GefÝhl sei der teleologische Ausdruck der FÚrderung oder SchÈdigung der Lebenseinheit. Wir genießen in der Lust etwa die Beschaffenheit der GegenstÈnde und ihre SchÚnheit und ihre Bedeutung, teils erfahren wir in ihr Steigerungen unseres eigenen Daseins, Beschaffenheiten unserer Person, insbesondere unseres Strebens, welche unserem Dasein Wert geben; der vorstellungsmÈßige Ausdruck fÝr diese Erfahrungen des GefÝhlslebens ist in den Wertbestimmungen gegeben. Diese bilden ebensogut als Empfindungen und Wahrnehmungen einen Erfahrungskreis. Aber die GefÝhle sind auch voneinander qualitativ unterschieden. Diese qualitativen Unterschiede sind uns zunÈchst in TotalzustÈnden gegeben. Vorstellungs- und WillensvorgÈnge sind in diesen TotalzustÈnden mit GefÝhlen verwoben. Wir sind nicht imstande, diesen Anteil des Vorstellungs- und Willenslebens an der Ausbildung qualitativer Unterschiede zwischen unseren GefÝhlen abzuerkennen. Die Analysis will diese TotalzustÈnde in die einzelnen Bestandteile zerlegen. Sie hat hierbei kein anderes Mittel, als innere Herstellung mÚglichst einfacher GefÝhle und Herstellung des inneren Zusammenhangs von Bedingungen zu GefÝhlen hin. So entstehen zunÈchst getrennte GefÝhlskreise. Jeder dieser GefÝhlskreise kann als von einer (fÝr uns) elementaren Funktion des GefÝhlslebens hervorgebracht und erfÝllt angesehen werden, und so zeigt er eine ihm eigene FÈrbung. Denn eine Erregbarkeit des GefÝhlslebens von einem abgegrenzten Kreis von Bedingungen her kommt in ihm zum Ausdruck. So kann man diese GefÝhlskreise mit den Empfindungskreisen vergleichen. Ein erster GefÝhlskreis wird von dem GemeingefÝhl und den sinnlichen GefÝhlen gebildet; das Charakteristische derselben ist, daß der physiologische Vorgang ohne Mittelglied von Empfindung oder Vorstellung kÚrperlichen Schmerz oder kÚrperliche Lust hervorruft. Das physiologische KausalverhÈltnis, in welchem diese elementare GefÝhlsfunktion wirkt, ist zuerst von Meynert (Psychiatrie. [Klinik der Erkrankungen des Vorderhirns, begrÝndet auf dessen Bau, Leistungen und ErnÈhrung, Wien] 1884[, Band] I, [S.] 176) in einer wertvollen Hypothese behandelt worden. Der zweite GefÝhlskreis wird von den durch Empfindungen hervorgerufenen GefÝhlen gebildet. Schon der IntensitÈtsgrad der Empfindung steht in einem ganz nahen VerhÈltnis zu Lustund UnlustgefÝhlen. Zu große oder geringe IntensitÈten wirken unangenehm.

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Mittlere Grade wirken angenehm. Alsdann aber stehen auch die QualitÈten der Empfindungen in gesetzlichem VerhÈltnis zu einem bestimmten GefÝhlston, welcher sie bei ihnen zugewandter Aufmerksamkeit regelmÈßig begleitet. Ein dritter GefÝhlskreis wird durch die elementare Funktion des GefÝhls gebildet, Beziehungen der Empfindungen zueinander zu genießen oder von ihnen gestÚrt zu werden. So rufen solche Beziehungen im Reiche des GehÚrs Konsonanz und Dissonanz, Harmonie und Disharmonie hervor, im Gesichtsfelde wirken sie als Kontrast und Harmonie der Farben, in unserer Zeitauffassung als Rhythmus, Takt etc. Ich vollende die AufzÈhlung der GefÝhlskreise nicht. Man bemerkt aber, daß in jedem derselben vereinfachte Bedingungen einen GefÝhlsvorgang hervorrufen, und ein solcher ist der einfachste Bestandteil, bis zu welchem ich die Analysis der GefÝhle zunÈchst zu fÝhren vermag. Die GefÝhlslage eines erfÝllten Lebensmomentes ist sehr zusammengesetzt, eine große Mannigfaltigkeit solcher fÝr uns einfacher GefÝhlsvorgÈnge kann in derselben verbunden sein. Aber diese einfachen GefÝhlsvorgÈnge bilden, noch weit augenscheinlicher als die der Empfindungen, nicht getrennt vom Zusammenhang der Seelen, sich aus ihren nÈchsten Bedingungen. Sie bilden also auch weit augenscheinlicher nicht Einheiten, welche erst im weiteren Verlauf zueinander in Beziehungen nach Gesetzen treten. Denn auch hier entscheidet zunÈchst die Verteilung der Aufmerksamkeit darÝber, ob aus den Bedingungen, die in einem Falle ein GefÝhl entwickelt haben, dasselbe auch in einem anderen entstehe. Die Steigerung der Erregung des GefÝhls, welche die Empfindung wohl in irgendeinem gegebenen Falle zwar hervorrief, wird nicht von jedem Partikelchen dieser Farbe innerhalb unseres Gesichtsfeldes unter allen UmstÈnden hervorgerufen. Alsdann entscheidet das GesamtlebensgefÝhl des erfÝllten Lebensmomentes darÝber, ob und in welcher StÈrke und Art sich ein EinzelgefÝhl aus bestimmten Bedingungen entwickelt. So entsteht aus denselben physiologischen Bedingungen im Falle Èngstlicher hypochondrischer Aufmerksamkeit ein Èrgerliches MißgefÝhl, im Falle gehobenen und vollbeschÈftigten Lebensgenusses gar kein GefÝhl. Der Agierende und Ringende empfindet eine Wunde viel weniger als der Affektlose. Die SÝßigkeit eines Weines wird von uns weniger angenehm nach sÝßen als nach Speisen von starkem Geschmack empfunden. So ist es hier in entschiedenster Weise der Zusammenhang des Seelenlebens, welcher mitwirkt und mitentscheidet, wenn von gegebenen Bedingungen aus ein elementarer GefÝhlsvorgang sich bildet. Nirgend gibt es hier getrennte GefÝhlseinheiten. Das GemeingefÝhl, das LebensgefÝhl verbindet alles, jedes einzelne GefÝhl lÚst sich gleichsam von dieser Grundlage ab. Das Leben unserer Triebe, Begehrungen, WillensvorgÈnge ist ebenfalls ein

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mannigfaltiges. Die GefÝhle rufen unter bestimmten Bedingungen des seelischen Zusammenhanges diese VorgÈnge hervor. Aus ihrem bestÈndigen Wechsel entspringen immer neu die großen Triebfedern alles Menschenlebens, jene mÈchtigsten Triebe, welche das Leben des einzelnen in der Gesellschaft regulieren. Begehrungen von geringerer Macht entfalten sich gleichsam unter ihrem Schatten. Die Zahl primÈrer Willenstriebe ist im ganzen gering. Nach den VerhÈltnissen der Zwecke untereinander und denen von Zweck zum Mittel, welche die Dialektik des Willenslebens hervorruft, entstehen nun sekundÈre WillensvorgÈnge, d. h. solche, in denen ein Mittel zu Zwecken gewollt wird, WillensentschlÝsse, d. h. AbwÈgungen von Zweckwerten oder Zwecken gegeneinander. Die Analysis findet also auch hier zusammengesetztere VorgÈnge vor, in welchen mehrere WillensvorgÈnge in ihren Effekten miteinander in einem Vorgange zu einem zusammengesetzten VerhÈltnis verknÝpft sind. Doch vermag auf diesem Gebiete die Analysis zunÈchst den einzelnen Totalvorgang genauer als auf dem der GefÝhle abzugrenzen. Denn ein einfacher Willensvorgang hat zum Merkmal, daß er eine Richtung des Willens zeigt. Àberall wo mehrere Willensrichtungen gleichzeitig im Bewußtsein sind, haben wir es mit einem zusammengesetzten Zustand zu tun. Aber dieser einfache Totalzustand ist insofern zusammengesetzt, als er ein GefÝhl, das als Triebfeder wirkt, und in der Regel eine Vorstellung als Effektbild einschließt. So zieht die Analysis sich hier die nÈmliche Grenze. Die Verbindungen von Vorstellung, GefÝhl und Wille zu den GesamtzustÈnden sind unauflÚsbar. Nun sind auch die WillensvorgÈnge zunÈchst in167 einer Reihe von IntensitÈten abgestuft,168 welche von einem Nullpunkt der Indifferenz aus sich in der einen Richtung nach IntensitÈtsgraden von Verlangen, Begehren, in der anderen von Scheu und Abwendung darstellen. Alsdann aber bilden die WillensvorgÈnge ebenfalls als TotalzustÈnde ein qualitativ Mannigfaltiges. Sobald jeder die Analysis der in ihnen enthaltenen Bestandteile an Vorstellen und GefÝhl wegdenkt, kann nicht darÝber entschieden werden, ob qualitative Unterschiede alsdann zurÝckbleiben oder nicht, denn die Trennung ist eben nicht wirklich vollziehbar. Die Analysis kann also auf keinem Gebiet des Seelenlebens Einheiten, welche wie Atome in gesetzlicher Wechselwirkung sich befinden, aufzeigen. Die fÝr das Bewußtsein einfachen Bestandteile kÚnnen erstlich mÚglicherweise zusammengesetzt sein, alsdann sind sie alle in dem Zusammenhang des Seelenlebens von der Verteilung der Aufmerksamkeit in ihrer Ausbildung bedingt und in ihrem Dasein getragen. Ferner ist es in den meisten FÈllen schwer, sie von den anderen VorgÈngen abzutrennen, mit welchen sie verwebt sind, und169 nur annÈhernd kann diese Trennung vollzogen werden.170 Endlich sind diese fÝr uns einfachen VorgÈnge TotalzustÈnde, d. h. ZustÈnde, in denen nach der Struktur des Seelenlebens GefÝhle171 mit Vor-

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stellen und WillensvorgÈngen verwebt sein kÚnnen; mindestens treffen wir keinen ganz einfachen Vorstellungsvorgang in uns an. Diese Strukturverwebung kÚnnen wir nicht auflÚsen. Es ist die Natur unseres Seelenlebens, durch welche jeder wirkliche Lebensmoment mehr als bloße Vorstellung usw. ist.172 Indem wir abstrahieren, nÈhern wir uns einer Vorstellung fÝr sich, aber ohne sie je so vorstellen zu kÚnnen. Innerhalb der Lebenseinheit kÚnnen wir also nur in unvollkommener Weise die Bestandteile absondern und die Kausalbeziehungen, unter denen sie auftreten und verschwinden, bestimmen. Hypothese ist es, wenn eine lebendige psychische Einheit, in Funktionen gegliedert, als die einzelnen VorgÈnge hervorbringend gedacht wird. Das ist das alte metaphysische Schema: in der kleinen Seeleneinheit die spinozistische Substanz mit ihren Attributen und den Modis an diesen. Aber auch das ist Hypothese, wenn psychische Einheiten, Sensationen zunÈchst, sei es als Effekte physiologischer VorgÈnge, sei es irgendwie von einem Grunde des psychischen Lebens getragen und von ihm sich lÚsend, sich verbinden zu dem seelischen Zusammenhang, als den wir uns finden. Wir mÝssen suchen, ohne die Schemata, unter denen man zunÈchst die Èußere Natur aufzufassen strebte, seien sie nun idealistische oder seien sie materialistische Metaphysik, ohne die Begriffe, die von diesen Aufgaben her gebildet worden sind, Seelenleben zu denken. Da finden wir dann zunÈchst EinzelvorgÈnge von Antezedenzien bedingt, zugleich aber durchgehend von dem seelischen Zusammenhang beeinflußt, der als Verteilung des Bewußtseins, als Verteilung der Aufmerksamkeit, als GefÝhlslage, als Vorstellungszusammenhang, hineinreichend in das Unbewußte, auf den Einzelvorgang wirkt. Hierbei muß es Hypothesen Ýberlassen bleiben zu entscheiden, ob aus EinzelvorgÈngen, wie Sinnesempfindung eine ist, dieser Zusammenhang entstanden ist oder aber eine wirkende Einheit zu seinem Hintergrunde hat oder wie sonst, verwickelter noch, in unseren Begriffen nicht auffaßbar, dieses VerhÈltnis entstanden sein mag. Wir kÚnnen nun einen solchen Einzelvorgang nur fassen, sofern derselbe sich gleichsam in der Mitte des Bewußtseinslebens befindet. Denn was seitlich [?] gleichsam am Horizonte des Bewußtseins sich befindet, kÚnnen wir nicht direkt auffassen. Die Beobachtung muß es erst in die Mitte der Aufmerksamkeit bringen. Wir gehen von dem erfÝllten Lebensmomente, dem status conscientiae in einem gegebenen Augenblick aus, um zu bestimmen, was in ihm gleichfÚrmig wiederkehrt. Alsdann befindet sich jedesmal ein Vorgang in der Mitte gleichsam des Seelenlebens. Ein solcher Vorgang ist nun niemals einfach in dem Sinne, daß keine Unterschiede an ihm aufgefaßt werden kÚnnen. Er ist nur insofern einfach, als seine Seiten [?] nicht voneinander getrennt werden kÚnnen. Und zwar ist er jedesmal nach dem Strukturgesetz des seelischen Le-

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bens zusammengesetzt. Der Vorstellungsreiz ruft GefÝhle hervor, und diese haben eine WillenstÈtigkeit zur Folge. Dieser Strukturzusammenhang eines psychischen Vorgangs findet da statt, wo die Empfindungen oder Vorstellungen durch GefÝhle die Richtung auf Ausbildung einer Wahrnehmung oder eines Vorstellungszusammenhangs hervorrufen. Er ist da, wo entweder ein sinnlicher Reiz oder eine Empfindung VerhÈltnisse solcher oder der Vorstellungen im GefÝhl bewirken, das dann die Seele beherrscht und nur in den leisen Regungen des sich Bewußtwerdens, des Verlangens oder Willens erzittern lÈßt. Er ist endlich da, wo ein Wille in der Mitte des Aktes steht, ein GefÝhl als Sprungfeder in seinem Hintergrunde, ein Objektbild wie ein leuchtendes Auge vor sich. Es sind nur Verschiebungen in demselben Strukturzusammenhang. Dieselben bringen bald das Vorstellen, bald das GefÝhl, bald den Willen in die Mitte des Seelenlebens. Und zwar besteht eine kontinuierliche Reihe ohne Unterbrechung, Ýberall in ÀbergÈnge verbunden, und geht so von den ZustÈnden des Wahrnehmens oder Denkens bis zu denen der Èußeren Willenshandlungen. Solche unmerklichen ÀbergÈnge verbinden die Wahrnehmung, die vom GefÝhl gesÈttigte Anschauung, das vom GefÝhl gestaltete Phantasiebild mit dem Zustande, in dem das GefÝhl die Mitte bildet. Solche unmerklichen ÀbergÈnge gehen von der Freude zu der Sehnsucht, von ihr zum Verlangen und zum Willensakte. Und der status conscientiae eines gegebenen Augenblicks zeigt uns diesen Vorgang in einem Zusammenhang oder auch in einer Koexistenz mit anderen VorgÈngen, welche sich dem Horizonte der Bewußtheit nÈhern und uns daher weniger in ihren Bestandteilen faßbar sind. Wir finden nun aber in diesen erfÝllten Lebensmomenten der Regel nach drei TeilvorgÈnge verbunden, welche wir zwar nicht voneinander trennen kÚnnen, deren charakteristische ZÝge wir aber doch in einer Abstraktion auffassen. So entstehen auch hier Schwierigkeiten, welche nur innerhalb gewisser Grenzen auflÚsbar sind, sofern wir nicht Hypothesen uns hingeben wollen.173 Àberall wo ein Inhalt von uns besessen wird, eine Farbe, ein Ton, geschieht dies durch einen Vorgang von Vorstellen, welcher zwar nicht vollstÈndig abgesondert werden kann von den andern ihm verbundenen TeilvorgÈngen, der aber durch Abstraktion annÈhernd zu abgesondertem Bewußtsein gebracht werden kann. MÚgen wir wahrnehmen oder erinnern, trÈumen oder denken, wir kÚnnen eines Gemeinsamen in diesen VorgÈngen inne werden. Ja, wir kÚnnen uns ein Wesen denken, das sich, ganz abweichend von der Struktur des menschlichen Seelenlebens, immer vorstellend in all seinen LebensÈußerungen verhÈlt: Mitten in der Schlacht wÝrde ein solches uns sonderbare Fabelwesen jede Kugel und jeden Flintenlauf [in] die genaue Vorstellung aufnehmen, ohne ein GefÝhl von Schmerz oder von Angst und ohne jedes Streben der Abwehr.174 Wir kÚnnen dann die GefÝhle, welche von solchen Wahrneh-

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mungen und Vorstellungen der Regel nach hervorgerufen werden, ebenfalls abgesondert von jedem Vorstellungsinhalt und jeder Willensregung vorstellen. Ja, man kann sich ein Wesen denken, in welchem das Spiel der Reize keine Empfindungen und Wahrnehmungen hervorrufe, sondern wie die ortlose, weil unlokalisierte und da insbesondere noch zeitlose Melodie aufsteigender und dann von ihrer Empore wieder sinkender GefÝhle.175 Ein solches Fabelwesen wÝrde nur leben in dem Moment unter der Einwirkung berÝhrender Reize. Und wer kann sagen, ob nicht in der Tiefe des Meeres, in der Moorwelt solche Fabelwesen wohnen? – Man versuche dann die Spannung in Trieb, Begehren und Wille, das Bestimmen, dann wieder das Innewerden, bestimmt zu werden und einen Widerstand zu erfahren, losgelÚst von jedem Inhalt des Bestimmens, jedem der Wahrnehmungsunterlage im Bestimmtwerden vorzustellen. Die Phantasie versagt, indem wir ein Wesen denken wollen, in welchem solche WillensteilvorgÈnge allein bestÝnden. Warum, das werden wir bald sehen. Nun gut: diese drei Klassen von TeilvorgÈngen haben fÝr den deskriptiven Psychologen eine besondere Bedeutung. Die Unterschiede des Vorstellens, FÝhlens und Wollens zeichnen sich vor allen anderen Unterschieden im Seelenleben durch gewisse Eigenschaften aus, die ihnen eine besondere Bedeutung zuteilen. 1. In ihnen sind Unterschiede gegeben, welche umfassender als alle anderen und nur dem allgemeinsten Merkmal des Bewußtseins untergeordnet sind. Die Allgemeinvorstellungen sind wie Ýberall, so auch innerhalb der Mannigfaltigkeit psychischer Tatsachen in VerhÈltnissen der Koordination und Subordination. So ist Rotempfinden koordiniert dem GrÝnempfinden; dann umfaßt die Allgemeinvorstellung Sehen diese beiden Farben und alle anderen; weiter sind Sehen, HÚren und die anderen Sinnesenergien einander verwandt und werden von der Èußeren Wahrnehmung umfaßt. Die Feststellung dieser VerhÈltnisse erfolgt durch die innere Wahrnehmung von Verwandtschaft und deren Arten und Graden, wÈhrend wir in der Èußeren Natur sie von einzelnen Merkmalen aus vernehmen. Dieses einfache innere Bewußtsein lÈßt uns Sehen als eine dem HÚren verwandte TÈtigkeit, die gleichsam auf demselben Felde liegt, auffassen. Fassen wir so gleichsam nebeneinanderliegende allgemeinste Unterschiede auf, so gibt es freilich noch eine andere Unterschiedsreihe, welche vertikal zu dieser steht: die Èußere Wahrnehmung, das sinnliche Lust- und SchmerzgefÝhl, das Triebleben erscheinen als einander verwandt und unterschieden von den hÚheren Stufen des Seelenlebens. 2. Dieser zweite Unterschied wird aber erst richtig gedeutet, wenn man die Èußere Konstatation [?] in die kausale Betrachtung und die von ihr aus mÚgliche Deutung der Gliederung Ýberleitet. Ein psychischer Zustand verrÈt, wie wir sahen, in der Regel etwas von seiner Genesis. Er enthÈlt in sich ein Be-

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wußtsein der Èußeren Bedingungen, von denen aus er erwirkt wurde, oder seiner seelischen Antezedenzien, wenn [?] nicht beides zugleich. So ist Hoffnung das LustgefÝhl, das von der Vorstellung einer kÝnftig eintretenden fÚrderlichen Tatsache hervorgerufen wird. Wir ergÈnzen diese Bewußtseinstatsachen durch die SchlÝsse aus der Koexistenz und Abfolge der einzelnen ZustÈnde sowohl in ihrem VerhÈltnis zu den Èußeren Bedingungen des Lebens als zu ihren VerhÈltnissen untereinander. Ja wir werden hierbei unterstÝtzt durch das Innewerden der AbhÈngigkeit eines Zustandes von einem anderen, denn nichts unterscheidet die innere Erfahrung mehr von der Èußeren als dieses. Die inneren VerhÈltnisse des Erwirkens und des Erwirktwerdens fallen in die innere Erfahrung selber. Wir erleben sie, wir erschließen sie nicht, die Èußere Natur enthÈlt nichts von einem inneren Bande, durch welches ihre Tatsachen untereinander verbunden werden. Notwendigkeit, Ursache und Substanz treten aus unserem Bewußtsein in sie hinein. Hier aber sind sie einheimisch, sie werden erlebt, und wir wissen von ihnen an jeder Stelle dieses inneren Lebens, an der wir Notwendigkeit oder Freiheit in ihren mannigfachen Abstufungen erfahren. Dies sind die Hilfsmittel, durch welche wir nun den fÝr uns einfachen Vorgang in der Regel in dem Zusammenhang verstehen kÚnnen, den das Seelenleben bildet. Und die Stufenfolge aufsteigender SeelenzustÈnde sowohl als der Wechsel derselben kann nun von uns teils auf das VerhÈltnis einer Unterlage zu dem von ihr aus Entwickelten, teils einer Bedingung zu dem von ihr aus Erwirkten, Wechsel der Bedingungen zum Wechsel des Erwirkten, zurÝckgefÝhrt werden. Aber diese Unterschiede, die allgemeinsten im ganzen Reiche des Seelenlebens, kÚnnen auch zugleich weder zu Unterlagen noch zu Bedingungen in Kausalbeziehung gebracht werden; unabhÈngig von jedem Èußeren Anlaß, primÈr, im Neugeborenen wirkend, wie im entwickelten Menschen, sind sie Ýberall, wo Seelenleben ist. 3. Dies steht aber augenscheinlich damit im Zusammenwirken, daß die Struktur des Seelenlebens, der teleologische Zusammenhang, in dem ein lebendiges Wesen inmitten seines Milieus sich erhÈlt, in dem Rahmen gerade dieser Unterschiede sich abspielt. Eben indem das in diesen Funktionen Geleistete ineinandergreift, entsteht das Drama des menschlichen, ja jeden tierischen Lebens Ýberhaupt. Das Schema des Menschenlebens selber ist in diesem einfachen Typus. Wie diese Funktionen ineinandergreifen, hiervon ist das Charakterbild des Individuums bedingt. Auf das Zusammenwirken der Leistungen, in denen das Vorstellen sich ausbildet mit Hilfe der anderen Funktionen, entsteht in der Kultur der Menschheit die Erkenntnis, die sich im Zusammenhang der Wissenschaften schrittweise verwirklicht. Indem die GefÝhle sich entfalten, entsteht jene Welt von Wertbestimmungen in der Menschheit, die dem Èsthetischen, sittlichen und religiÚsen Leben zugrunde liegen. Denn

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dieses ganze Leben hat das Merkmal, daß unangesehen der VerÈnderung der Èußeren Welt nur das Leben sich selber einen Wert in inneren Willenshandlungen zu geben strebt. Jede Èußere Wollenshandlung dient diesem Inneren nur zur Darstellung etc. etc. Wie schon aus diesem Zusammenhang sich schließen lÈßt: Diese drei Klassen von VorgÈngen sind nun aber beinahe in jedem Augenblick unseres Seelenlebens nachweisbar. Setzt sich doch der lebendige Einzelvorgang schon nach seiner Struktur aus ihnen zusammen. Vorstellungen in dem bezeichneten allgemeinsten Sinne, in welchem sein Merkmal das Bewußtsein eines Inhaltes ist, kann auch jenseits des Bezirks unseres intellektuellen Lebens in jedem lebendigen Totalzustand von GefÝhl oder Wille gefunden werden. Ist dies doch, diese Allgegenwart der Vorstellung im Seelenleben, der Grund, aus welchem die Versuche, auf sie das Seelenleben zurÝckzufÝhren, niemals gerastet haben. Vorstellungen finden sich in jedem sinnlichen GefÝhl. Sowohl die qualitativen Bestimmtheiten desselben, wie Brennen oder Stechen, als die Lokalisierung der GefÝhle, ja die wenn auch gering merklich durchgÈngig auffaßbare Orientierung unseres KÚrpers im Bewußtsein zum Raume [?] sind auch in den Momenten des sinnlichen GefÝhls enthalten und legen in sie Vorstellungsinhalte. Daß diese nicht auf ein •ußeres bezogen werden, Èndert nichts an ihrem Charakter als Vorstellung. Dann folgen die hÚheren GefÝhlsvorgÈnge Ýberall Vorstellungsprozessen, von denen aus sie angeregt werden. Endlich ist in jedem Willensvorgang eine Objektsvorstellung enthalten, welche ihm seine Richtung gibt. Die mÈchtigen Triebe, welche unser Dasein regulieren, werden, wie dunkel es auch sei, von Bildern geleitet. Besteht in bezug auf diese Frage an einigen Stellen Streit, kÚnnen kÚrperliche Spannungen und von ihnen aus angeregte Empfindung-GefÝhle die Stelle dieser Vorstellungen einnehmen; sie tun es nur, sofern sie nur analogen etc. Zugleich aber ist unser Triebleben nie wirksam ohne welche auch noch so dunklen EindrÝcke der Wirklichkeit, auf welche es sich immer bezieht. Eine Orientierung im Raum, wie unvollkommen auch, macht ihre Befriedigung erst mÚglich usw. Aber auch GefÝhle kÚnnen annÈhernd in jedem status conscientiae aufgewiesen werden. Hierbei ist zu erwÈgen, daß das GefÝhl neben Lust und Unlust auch Gefallen und Mißfallen, Billigung und Mißbilligung umfaßt. GefÝhle sind zunÈchst ein Bestandteil aller mit Aufmerksamkeit vollzogenen Wahrnehmungsakte. Zwar ist die Annahme (Wundt u. a.) nicht beweisbar, jeder Empfindung komme neben ihrer QualitÈt und IntensitÈt ein GefÝhlston zu. Aber in der EinschrÈnkung auf die ZustÈnde der Versenkung in eine Wahrnehmung ist dieser Satz augenscheinlich richtig, daß eben ein einfacher Empfindungsinhalt eine GefÝhlsfÈrbung erhalte. Die schÚnen Experimente in Goethes Farbenlehre beweisen denselben besonders gut; aber auf dem Gebiet

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der Tonempfindungen ist er vielleicht noch einleuchtender. Der Satz ist aber auch darum von hervorragendem Interesse, weil er allein schon ausreichend ist, Herbarts Lehre vom GefÝhl zu widerlegen. GefÝhle werden dann von Beziehungen der Empfindungsinhalte in Konsonanz oder Dissonanz etc. hervorgerufen. GefÝhle entstehen aus den formalen VerhÈltnissen des Ablaufs von EindrÝcken zu der Geschwindigkeit unseres Vorstellens, des Wechsels desselben etc. Da nun unser waches Leben beinahe bestÈndig von Wahrnehmungsbildern begleitet ist, sind GefÝhle in dasselbe schon darum durchgehend verflochten. Aber auch in der Assoziation der Vorstellungen spielen die GefÝhle eine hervorragende Rolle. Endlich ist unser Denken von GefÝhlen der Unruhe, der Befriedigung, des Gelingens und Mißlingens begleitet. Und schließt nun nicht weiter jeder Vorgang von Trieb, Begehren oder Wille ein GefÝhl ein? Denn das GefÝhl enthÈlt ja die Motoren fÝr die Spannungen des Willens, GefÝhle setzen das Triebwerk desselben in Bewegung. Und der Hintergrund dieser ganzen Lebendigkeit, die der psychische Verlauf von den GefÝhlen empfÈngt, bildet GemeingefÝhl, SelbstgefÝhl, LebensgefÝhl, das geringer oder mehr merklich den Verlauf unseres Daseins fast durchgÈngig begleitet. Auch Wille als Teilvorgang ist beinahe in jedem Momente unseres Bewußtseins nachweisbar. FÝr die Einsicht in diese Gegenwart des Willens in allen TotalzustÈnden des Seelenlebens ist das VerstÈndnis von drei psychischen Tatsachen entscheidend, der Verteilung der Aufmerksamkeit bis zu den Grenzen unmerklicher EindrÝcke, Vorstellungen und GefÝhle; der Innervation der Muskeln und der sogenannten Innervationsempfindungen als eines Bestandteils der großen VorgÈnge [?] der Bewegungswahrnehmung, die etwas zusammengesetzter ist wie Gesichtswahrnehmung. Diese Innervationsempfindung kann in der inneren Erfahrung als gleichartig der Anspannung des Willens bei dem Streben der Wiedererinnerung oder der VerdrÈngung einer Vorstellung oder bei der Herstellung eines Willensentschlusses seinem Druck zum Einsatz betrachtet werden.176 Endlich muß das Bewußtsein von AbhÈngigkeit oder vom Bestimmtwerden durch etwas außer uns als Zusammengesetztes aus EindrÝcken und GefÝhlen mit dem Bewußtsein einer Willenslage aufgefaßt werden. Der SpontaneitÈt steht die RezeptivitÈt, dem Bestimmen das Bestimmtwerden gegenÝber, wie die Lust dem Leid. Es sind nur die Formen desselben Willenstatbestandes. So finde ich177 in der Wahrnehmung bestimmt von außen alle in einen Zustand des beschrÈnkten Willens. Indem man diese drei Willenstatsachen mit in Rechnung zieht, wird die Gegenwart des Willens in beinahe jedem psychischen Akte sichtbar. Triebe bilden die Grundlage unseres ganzen geistigen Lebens, sie sind die großen Regulatoren des Einzellebens und der Gesellschaft und durchwirken die ganze Existenz und den ganzen Lebensablauf eines Individuums. Ihnen

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C. Zur Auseinandersetzung mit der erklÈrenden Psychologie

schließen sich die Endzwecke an, die das Begehren und der Wille sich im einzelnen setzen, die sekundÈren Zwecke, die nur Mittel fÝr jene primÈren Triebwillen herbeischaffen sollen. Unsere Wahrnehmungen regen der Regel nach irgendwie das Spiel dieser Antriebe an. Innerhalb der wahrnehmenden ZustÈnde ist die Verteilung der Aufmerksamkeit nur Leistung des Willens. Andererseits enthÈlt die Wahrnehmung ein Bewußtsein, von außen bestimmt zu sein. Damit sind die beiden Seiten des Willensbestandes in der Wahrnehmung wirksam. Sie sind es ebenso in den Willens- oder GefÝhlszustÈnden. Denn immer und Ýberall erlebt sich der Wille in dem Widerstand gegen die harte Welt, Wille ringt mit Wille, der Wille findet Ýberall sich beschrÈnkt und erfÈhrt sich im Kampf mit seinen Schranken. Weiter ist das Spiel unserer Vorstellungen vielfach von der Verteilung der Aufmerksamkeit, vom Spiel der Triebe, von Sehnsucht und Verlangen bestimmt. Das Denken ist dann von der WillenstÈtigkeit geleitet; haben doch Setzung und Auffassung im Urteil eine Willensseite. Endlich tritt in unseren GefÝhlszustÈnden bald das Bewußtsein eigener Energie, bald Bestimmtwerden von außen, bald der bestÈndige Àbergang von GefÝhlen zu Sehnsucht, Verlangen, Trieb und Abwendung [?] hervor. In dieser Gegenwart des Willens in allen erfÝllten Lebensmomenten liegt der Grund dafÝr, daß Schopenhauer sein AperËu von der zentralen Bedeutung des Willens fÝr das Seelenleben scheinbar durch viele Tatsachen begrÝnden konnte. Dasselbe ist nur die einseitige und willkÝrliche Vernehmung der Tatsache, daß die VorgÈnge von Trieb, Begehren, Wille das ganze Seelenleben durchziehen. Wir bilden keine Hypothesen. Sonst wÈre die natÝrliche Annahme zu entwickeln: Vorstellen, FÝhlen und Wollen sind die drei Seiten des Lebenszwekkes der Seele; in jedem Moment des erfÝllten Bewußtseins sind sie in bestimmten Strukturen verbunden. Diese Hypothese befreit von der bedenklichen Vorstellung zeitweise pausierender, dann wieder tÈtiger VermÚgen. Je nach den Strukturformen, die sonst entstehen, in denen eine der drei Seiten tonangebend ist, sprechen wir von den TotalzustÈnden des GefÝhls, Wollens, Vorstellens. So ist dem Willenszustande das Objektbild und der als Motor wirkende GefÝhlszustand eingeordnet. Im Denkvorgang ist dem Vorstellen die Spannung des Willens eingeordnet, die ihn in Bewegung setzt und die GefÝhle des Gelingens, des Mißlingens [. . .] begleitet. Die Methode, durch welche wir nun von dieser TotalitÈt des Lebens aus die zusammengesetzten Tatsachen des Selbstbewußtseins einerseits, das Auftreten Èußerer Objekte andererseits zu erklÈren versuchen, unterscheidet sich wieder durch ihren rein empirischen Charakter von denen, die in der Psychologie gebrÈuchlich sind. Wir werden Bestandteile und VerhÈltnisse des Wirkens und Bewirktwerdens zwischen diesen nur in den Grenzen feststellen, in denen sichere SchlÝsse mÚglich sind. Unser Verfahren kann sonach nur streng analy-

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tisch sein. Es kann nur in das DÈmmer und die Verflechtung, die Erfahrungen hier darbieten, an bestimmten Punkten Licht bringen; nur unbestimmt, in unverstandener Verflechtung leiste es weiteres, muß es so lassen. Dies macht die Untersuchung nach dieser wahrhaft analytischen Methode fÝr das Auge, das an die Reinlichkeit naturwissenschaftlicher SÈtze und BegrÝndungen gewÚhnt ist, viel weniger erfreulich, als die aus umgrenzten Annahmen konstruierende Methode ist. Doch ist das eben der Schein, welcher nur durch die Èußere Etikette erregt wird. Vielfach werden andererseits unsere SÈtze und BegrÝndungen in ihrer absichtlichen, ja kÝnstlichen Unbestimmtheit nach gewissen Seiten hin an die uns so unangenehme Unbestimmtheit der spekulativen Psychologie erinnern. Doch kann nichts [so] scharf entgegenstehen, als die dem strengen analytischen Verfahren eigene Begrenzung der Bestimmungen mit dem, was aus Tatsachen sicher bestimmt werden kann, und die Unbestimmtheit metaphysischer Konstruktion des psychischen Geschehens. [. . .] So stehen wir im Gegensatz zum Empirismus. Dieser will aus lauter genau umschriebenen Tatsachen einen Mechanismus konstruieren, welcher das Seelenleben erklÈre. Derselbe soll so einfach und durchsichtig als mÚglich festgestellt werden. Je wenigere und einfachere RÈder den Effekt der Maschine erwirken, desto vollkommener wird die Konstruktion sein. Der Triumph der Kunst ist der heutige englische Empirismus. Diese Leistungen verhalten sich leider alle zum Leben selber, wie Puppen, die nur nicken und schreien, in einer vom wirklichen Leben sehr verschiedenen Arte sich zu dem lebendigen Kinde verhalten. Indem wir nicht aus hypothetischen Elementen konstruieren, sondern analysieren, sind wir in bezug auf die Methode hierdurch bedingt. Die Analysis ist von der Induktion nicht getrennt. Jeder Bestandteil des Seelenlebens, der eine weitere Tatsache ausspricht, kann in der Untersuchung isoliert werden. In der elementarsten Psychologie kÚnnen wir durch Experiment das Auftreten von Empfindungen oder GefÝhlen oder Reflexbewegungen etc. im Zusammenhang mit dem Wechsel der Reize studieren. Selbst fÝr das GedÈchtnis kÚnnen in gewissen Grenzen Faktoren durch den Versuch konstant erhalten und andere in Wechsel gesetzt, so deren Wirkung studiert werden. Selbstbewußtsein, Anerkennung Èußerer Objekte sind Tatsachen, von denen wir zur Zeit nicht absehen, wie sie eine solche Behandlung zulassen sollten. Nur in den ZustÈnden seelischen Wachstums und in den von der Norm abweichenden SeelenzustÈnden bieten sich uns Experimente, die fÝr uns die Natur selbst gemacht hat. Und bei diesen hÚheren Untersuchungen ist es besonders der experimentelle Schluß, der vom regelmÈßigen Wechsel der Grade [?] in der Konsequenz zusammen mit dem in einer Antezedenz ein VerhÈltnis der AbhÈngigkeit ableitet.

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C. Zur Auseinandersetzung mit der erklÈrenden Psychologie

3. ErklÈrende Psychologie. Theorie des Parallelismus

§ 3. Entwicklungsgang und Literatur der Psychologie178 [. . .] Die psychologische ErklÈrung wurde durch folgende beiden Hypothesen herbeigefÝhrt, an welche sich dann sekundÈr eine große Zahl von Hilfshypothesen anschließt. 1. Wir glauben, daß VerÈnderungen in unserem KÚrper seelische VorgÈnge hervorbringen. Wir nehmen an, daß andererseits ein seelischer Vorgang, z. B. ein Willensimpuls, eine kÚrperliche VerÈnderung, z. B. eine willkÝrliche Bewegung, hervorrufe. Dies ist ein Irrtum.179 Die kÚrperlichen VorgÈnge bilden einen lÝckenlosen physischen Zusammenhang.180 Ich181 nehme an, ein Diplomat ist nach dem Diner nur mit seiner Zigarre, seiner Verdauung beschÈftigt. Eine telegraphische Depesche meldet Kriegsgefahr. Er springt auf, lÈßt anspannen, fÈhrt bei verschiedenen leitenden PersÚnlichkeiten vor, Verabredungen werden getroffen. Von dem Augenblick ab, in welchem durch einige blauen Linien auf dem Papier die Netzhaut des Diplomaten erregt wurde, bis zu diesen Maßregeln besteht ein ununterbrochener Zusammenhang psychophysischer und zentraler Nervenprozesse. Dieser Zusammenhang ist vollstÈndig und hat keine LÝcken. Unser ganzes Leben bildet einen solchen Zusammenhang. Weder die subtile Àberlegung des Diplomaten noch sein Willensentschluß existieren als bloße psychischen Akte. Auch sie sind Gehirnprozesse.182 Wir haben zwar keine Ahnung davon, was fÝr ein Gehirnprozeß ein verneinendes Urteil sein mag oder der Entschluß, sein Leben zu opfern. Aber die Hypothese bedarf eines solchen lÝckenlosen Zusammenhanges.183 Und nun! Noch viel schwieriger zu denken! Diesem Verlauf entspricht eben ein solcher lÝckenloser kausaler, Ýberall in sich zusammenhÈngender Verlauf seelischer VorgÈnge. Diese Hypothese ist von Spinoza eingefÝhrt worden. Schelling und IdentitÈtsphilosophen benutzten sie. 1855 erschien nun in England gleichzeitig Spencers Psychologie und die Schrift von Bain: Sinn und Intellekt. 1859 folgte dieser Bain: Àber GemÝtsbewegungen und Wille.184 Beide vertraten die angegebene Hypothese: Die physiologischen und die seelischen VorgÈnge sind korrelat, begleiten einander auf allen Stufen des Seelenlebens. Bain hat wohl zuerst diesen Parallelismus vollstÈndig ins einzelste durchgefÝhrt. Zugleich wurde durch die Naturphilosophie Schellings dieselbe Hypothese Fechner na-

3. ErklÈrende Psychologie. Theorie des Parallelismus

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he gebracht. Mit mehr metaphysischer Bestimmtheit als die EnglÈnder nimmt er an: Der KÚrper ist dasselbe Ding, von außen betrachtet, das von innen aufgefaßt Seele ist. Seit dieser Zeit wird in den psychophysischen Arbeiten die angegebene Hypothese durchweg zugrundegelegt. 2. Die moderne Hypothese bestimmt nun Ýber die Art des Aufbaus des seelischen Zusammenhangs, den wir Leben nennen. Ich will sie als psychische Atomistik bezeichnen. Die Èußeren Reize bringen Nervenprozesse hervor, deren Begleiterscheinungen Empfindungen und GefÝhle sind. Aus den Wechselwirkungen dieser Elemente entstehen diejenige Erscheinungen, welche Zusammenhang, Einheit, Ichbewußtsein, PersonalitÈt enthalten. Und zwar, indem Vorstellungen als konstante Einheiten nach Gesetzen aufeinanderwirken. Das Grundgesetz ist das Assoziationsgesetz. Die hÚchsten Leistungen des Seelenlebens sind nur hÚchst verwickelte Verbindungen, die sich aus den einfachen Elementen aufbauen.185 Der Gang der Psychologie ist simpel: Sie analysiert zuerst, so findet sie die elementaren Bestandteile und Grundgesetze des Seelenlebens. Aus diesen setzt sie dann die hÚheren Gebilde zusammen.186 Vertreter: [W.] Wundt, [Vorlesungen Ýber die] Menschen- und Thierseele[, 2 BÈnde, Leipzig] 1863; [Th.] Lipps, Grundtatsachen des Seelenlebens[, Bonn 1883]; 1. Auflage von Wundts physiologischer Psychologie; [H.] Taine, [De] L’intelligence[, 2 BÈnde, Paris 1870], deutsch: Der Verstand[, Ýbersetzt von L. Siegfried, 2 BÈnde, Bonn] 1880; Ribot. In England: Spencer, Bain. Diese Hypothesen beginnen nunmehr erschÝttert zu werden.187 Dies steht in Zusammenhang mit einer allgemeinen Bewegung, welche eine unbefangenere, tatsÈchliche Auffassung der geistigen, geschichtlichen, gesellschaftlichen VorgÈnge zur Geltung bringen mÚchte. Viel unbefangenere Erfahrung enthÈlt schon: [A.] Horwicz, Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage[. Ein Versuch zur NeubegrÝndung der Seelenlehre], Erster Teil[, Halle] 1872. Zwei weitere erschienen unvollendet durch Tod des Verfassers.188 Empfehlenswerte, interessante Literatur. Ebenso sucht einen anderen Weg [F.] Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte[, Leipzig] 1874, Band 1. Der 2. Band erschien nicht.189 [C.] Stumpf, Tonpsychologie, Band I[, Leipzig] 1883, Band II[, Leipzig] 1890. Die Wendung vollzogen aber zwei Hauptvertreter der psychophysischen Richtung. Unter den Philosophen ist ohne Frage der hervorragendste psychophysischer Experimentator Wilhelm Wundt in Leipzig. Derselbe ging von den herrschenden psychophysischen Hypothesen aus.190 Aber die eindringende BeschÈftigung mit den psychischen Tatsachen nÚtigte ihn, sie aufzugeben.191 Er hÈlt an dem Satze fest, daß das Seelenleben nur ein Zusammenhang von VorgÈngen ist; von einer seelischen Substanz wissen wir nichts. Aber dieser Zusammenhang ist nicht nur in der Wechselwirkung physischer Atome gegrÝn-

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C. Zur Auseinandersetzung mit der erklÈrenden Psychologie

det, sondern er wird von einer einheitlichen Energie getragen.192 Er nennt diese Apperzeption.193 Hiermit meint er die einheitliche Willenskraft, die Kant als SpontaneitÈt und Schopenhauer als Wille bezeichnet haben. Die Aufmerksamkeit ist der Willensvorgang, durch welchen EindrÝcke in den Zusammenhang des Bewußtseins eingeordnet werden. Sie wirkt also als eine einheitliche Kraft apperzeptiver Verbindungen der Vorstellungen. Sonach verhÈlt sich vermittelst derselben das Seelenleben schÚpferisch. Es besteht in demselben ein Grundgesetz, durch welches es sich von der ganzen Naturordnung unterscheidet. In jener herrscht das Gesetz der Erhaltung der Energie, das geistige Leben aber ist von einem Gesetz des Wachstums der Energie beherrscht. Extensiv erweitert sich die Mannigfaltigkeit der geistigen Entwicklung fortwÈhrend. Intensiv nehmen die in dieser Entwicklung entstehenden Werte ihrem Grade nach zu. Dies setzt eine besondere Art von KausalitÈt im geistigen Leben voraus. Auf jeder Stufe desselben ist die Verbindung der Elemente in einem Bewußtseinsakt, der eine schÚpferische Synthesis enthÈlt. So [W. Wundt, GrundzÝge der] physiologische[n] Psychologie. Auflage 3. [2 BÈnde, Leipzig] 1887. System der Philosophie[, Leipzig] 1889. Noch wichtiger als die meisten Arbeiten von Wundt ist das Auftreten eines amerikanischen Philosophen [W.] James, Prinzipien der Psychologie [The Principles of Psychology, 2 Volumes, New York] 1890. Zwei BÈnde. Verwirft erstens Analysis, Synthesis, zweitens den psychophysischen Parallelismus, drittens die atomistische empirische Methode. Beschreibung. UnmÚglich, die hÚheren PhÈnomene zu erklÈren. Beispiel: Erstens das Selbstbewußtsein; zweitens PhantasietÈtigkeit; drittens moralischer Vorgang. Zwei194 Hypothesen bilden die Grundlage dieser Psychologie. An sie haben sich mannigfache Hilfshypothesen angeschlossen. So ist eine Hypothesenpsychologie entstanden, welche sich nach meiner Àberzeugung weit von der unbefangenen Auffassung des Wirklichen entfernt hat. Als ich zu studieren begann, sah ich den Streit der Materialisten mit den Verteidigern der Seelensubstanz. Dann habe ich die damalige Ausbildung und die unbeschrÈnkte Herrschaft dieser Hypothesenpsychologie erlebt. Und jetzt erlebe ich auch die Abnahme der Geltung dieses von mir immer bekÈmpften Standpunktes.

3. ErklÈrende Psychologie. Theorie des Parallelismus

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§ 4. Erste Hypothese der Psychologie. [. . .] Der psychische Atomismus 3. Inhalt der Lehre Die Èußeren Reize bringen in unserem Nervensystem Prozesse hervor, deren Folgen Empfindungen und GefÝhle sind. Daß es solche Elemente gibt, beweist die Einrichtung der Netzhaut des menschlichen Auges. Hier bestehen nervÚse Endelemente, StÈbchen und Zapfen. Und wir mÝssen annehmen, daß ihre Reizung durch das objektive Licht entsprechende Empfindungen zur Folge hat. Die Reizung dieser Elemente der Netzhaut ist vergleichbar den nebeneinander gesetzten Farbenklecksen auf einer Palette. Diese Elemente stehen nun untereinander in Wechselwirkung. GÈnzlich wie die Atome der Außenwelt. Sie verhalten sich hierbei nach Gesetzen. Entweder das Grundgesetz oder das wichtigste Gesetz dieser Wechselwirkung ist das der Assoziation. Nach diesem Gesetz gehen die Elemente, wo sie sich als gleichzeitig oder direkt aufeinanderfolgend bieten, Verbindungen ein. Sie haften nun aneinander (Assoziation). Eins von ihnen ruft das mit ihm verbundene zweite (Reproduktion). Und aus diesen Verbindungen bilden sich nun alle hÚheren Formen des Seelenlebens. Schließlich entsteht so auch das Selbstbewußtsein, das Ich, das Bewußtsein von SpontaneitÈt und der Schein des Wollens. Der Wille ist nur sekundÈr. Dieser Satz ist das eigentliche Kennzeichen dieser psychischen Atomistik. In den Vorstellungsverlauf treten Bewegungsempfindungen, GefÝhle verbinden sich: so entstehen die psychischen PhÈnomene von Aufmerksamkeit, Trieb und Wille. Nie war eine durchsichtigere Psychologie da. Das Seelenleben ist ihr so verstÈndlich als das Getriebe einer Taschenuhr. Die Psychologie analysiert zunÈchst die in der inneren Wahrnehmung gegebenen Tatsachen. Sie leitet zurÝck auf elementare Tatsachen und auf Grundgesetze der elementaren Tatsachen. So die Empfindungen und GefÝhle. Die Gesetze des Assoziationspsychologen. Entweder andere davon unabhÈngige oder darin enthaltene Gesetze. Aus den Elementen werden dann im synthetischen Teil alle hÚheren Leistungen des Seelenlebens abgeleitet.195 [. . .]

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§ 5. Zweite Hypothese. Der Parallelismus zwischen dem Physischen und dem Psychischen [. . .] Ein Sinnesreiz, welcher die Netzhaut Ihres [?] Auges trifft, tritt [?] bereits in den vaskularen Prozessen [?] hervor, diese pflanzen sich zu dem optischen Nerven in der Großhirnrinde fort, und nun rufen sie die Empfindung als einen seelischen Vorgang hervor. Andererseits [?] eine Willensintention regt in den motorischen Bahnen einen Nervenprozeß an, dieser lÚst Muskelkontraktionen aus, so entstehen Bewegungen. Sonach196 wirkt die Bewegung in den umgebenden Mitteln und dann [?] im Nervensystem eine Reihe ineinandergreifender psychischer VorgÈnge; von diesen aus findet dann eine RÝckwirkung vermittelst der Impulse zu Bewegungen statt; danach wird der psychische Verlauf als eingeschaltet in den physischen angesehen. Von dem physischen Milieu aus sind Einwirkungen auf den KÚrper bedingt, welche als Reize Empfindungen auslÚsen, und indem durch die Umsetzung psychischer VorgÈnge ineinander Impulse zu Bewegungen entstehen, lÚsen Impulse sonach psychische Tatsachen, Erregungen motorischer Nerven, Kontraktionen von Muskeln, VerÈnderungen der Lage der Glieder, RÝckwirkungen physischer Art auf das physische Milieu wieder heraus. Eingebettet also in den universalen Zusammenhang des physischen Mechanismus sind hier psychische Reihen. Sie sind durch jenen physischen Zusammenhang kausal bedingt, und sie wirken wieder auf ihn zurÝck. Im Wirken und Leiden sind kÚrperliche und geistige VorgÈnge untereinander kausal verbunden. Kein MißverstÈndnis. Hiermit ist nichts Ýber eine seelische Substanz, auch nur Ýber die UnabhÈngigkeit des Geistigen vom KÚrperlichen ausgesagt. Diese gewÚhnliche, dem gesunden Menschenverstande selbstverstÈndliche Ansicht ist von Materialisten gerade so gehegt worden als von Spiritualisten. (Stellen bei Paulsen).197 Diese Ansicht ist selbstverstÈndlich, weil gerade die VerhÈltnisse von Impuls, willkÝrlicher Bewegung und Widerstand, von Empfindung, Unlust [?] und unverdrÈngbarem Reiz der Hauptsitz unseres Bewußtseins von kausaler Verbindung gesonderter Glieder gewesen war. Alsdann aber hat jede wissenschaftliche ErklÈrung der gegebenen Haufen von Tatsachen im Bewußtsein, jede kausale Anordnung dieser singulÈren Massen aber nur dadurch sich vollzogen, daß man diesen Kausalvorgang durch Sonderung seiner einzelnen Glieder analytisch aufklÈrte. Man behandelte dieses KausalverhÈltnis ganz ebenso als das zwischen kÚrperlichen Objekten.198 Der Stoß, den ein KÚrper empfÈngt, teilt ihm eine Bewegung mit, ganz so stellen wir uns der Regel nach die Entstehung der Emp-

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findung vor! Schwingung! Vom tÚnenden KÚrper werden sie der Luft mitgeteilt, vom leuchtenden dem •ther; sie schlagen an die Pforten unseres Selbst in den Sinnesorganen, sie werden durch Medien den Nervenelementen mitgeteilt, die Erregung wird zum Lautschallorgan fortgeleitet. Die Empfindung entsteht! Gerade die experimentelle und messende Feststellung der verschiedenen Glieder dieses Kausalzusammenhangs ist durch geniale wissenschaftliche Arbeiten herbeigefÝhrt. Die grÚßten wissenschaftlichen Namen sind mit denselben verflochten. Die AbhÈngigkeit der Empfindung vom Reize ist durch das Experiment und das Studium der Ausfallserscheinung Ýberall eindeutig bestimmt. Danach haben, seitdem die Sinnestheorien sich entwickelten, die Bedenken nicht geruht, welche dieser herrschenden Ansicht gegenÝber nun doch auch zur ErwÈgung stehen. Sie betreffen nicht diesen Zusammenhang Ýberhaupt, sie greifen nur an den beiden Punkten ein,199 an welchen die Erregung des Sehnerves Farben auslÚst, der Impuls zu einer greifenden Bewegung die Erregung in der motorischen Bahn auslÚst. Schon den Ausdruck „auslÚst“, welchen der Physiologe mit Vorliebe gebraucht, bezeichnet, daß das hier vorgestellte KausalverhÈltnis doch nicht dasselbe ist als das zwischen einem Stoß und der Bewegung des gestoßenen KÚrpers.200 SchwingungsvorgÈnge sollen hier ein ihnen ganz Heterogenes, eine qualitative Empfindung eines Tones oder einer Farbe zur Folge haben. Die •ußerungen [?] meßbarer Bewegungen sollen ein unmeßbares Qualitatives zur Folge haben. Denkt man sich, das sei bedingt durch die Natur des Geistigen einer Seele, auf welche die physischen Bewegungen wirken, so entsteht das Problem der cartesianischen Schule, das zum Okkasionalismus fÝhrt. Wir kÚnnen von der Einwirkung eines Physischen auf ein Geistiges uns keine Vorstellung machen, weil sie durch entgegengesetzte Merkmale definiert werden. Wir kÚnnen den mechanischen Zusammenhang der Èußeren Natur nicht durch Einschaltungen aus einem gleichsam geheimnisvollen Gebiet unterbrochen und verwirrt denken. (Vgl. [L.] Stein[, Zur Genesis des] Occasionalismus[, in: Archiv fÝr Geschichte der Philosophie I (1888), S. 53–61.]) Immer stand vor diesem Verhalten [?] das cartesianische Bild des tierischen Mechanismus als ein selbstgenÝgsamer, in zweckmÈßigen Bewegungen sich Èußernder Apparat. Wir kÚnnen endlich einen Impuls nicht als die causa vera fÝr ein System ineinandergreifender Bewegungen denken, von welchem das Bewußtsein, das den Impuls hervorbringt, gar nichts enthÈlt. Jedermann sah die Empfindungen einfach als Produkte, gleichsam Einsatzprodukte der Bewegungen an. So tat Hobbes,201 der BegrÝnder des Materialismus. Eine dunkle, ja eine unerklÈrbare Konzeption! Schon bei ihm tritt die unfaßbare Formel [der] neueren Materialisten (Paulsen) auf: die Empfindung ist Bewegung. Auch das also fÝhrt in die Unfaßbarkeit. So begreift

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man nun, daß die Voraussetzungen eines rationalen WeltverstÈndnisses, welches das 17. Jahrhundert machte, schon damals zur Leugnung solcher KausalverhÈltnisse fÝhrte.202 Spinoza trat auf. Er erfand eine ganz neue, hÚchst bizarre und doch unermeßlich folgenreiche Theorie, die vom Parallelismus.203 So haben stark wirkende GrÝnde Ýber diese Betrachtungsweise hinausgefÝhrt. Seit dem Auftreten einer mechanischen Betrachtung des organischen Lebens ist eine andere Hypothese zur Herrschaft gelangt. 1. Die Grundlage derselben ist die Auffassung der tierischen Lebenseinheit als eines lÝckenlosen in sich geschlossenen Kausalzusammenhangs; das tierische GeschÚpf ist ein selbstgenÝgsamer Mechanismus, welcher zur Entwicklung von Vorstellungen und zur AusfÝhrung von Handlungen keine Eingriffe einer geistigen Kraft bedarf. Dasselbe ist ein Automat, die inneren oder BewußtseinsvorgÈnge sind nur ein Zeichensystem fÝr die physischen VerÈnderungen, erwirken aber solche nicht. Daher ist auch der Wille nicht eine Ursache kÚrperlicher VerÈnderungen, sondern die Registrierung derselben im Bewußtsein. Er begleitet die physische Verbindung des sensiblen mit dem motorischen Vorgang wie das Pfeifen der Lokomotive die Arbeit derselben begleitet oder wie der Schlag der Uhr die Bewegung der RÈder begleitet. Alle SeelenzustÈnde sind nur Symbole im Bewußtsein fÝr die automatischen VerÈnderungen im Organismus. Ich bin ein bewußter Automat, die Empfindung der KÈlte lÈßt nicht meinen Gang beschleunigen. Hier kÚnnte das KÈltegefÝhl ganz fortbleiben, der physiologische Vorgang, die Verbindung von Empfindung, GefÝhl und Bewegung wÝrde derselbe bleiben. In dieser Theorie wird also aus dem Postulat eines in sich geschlossenen Zusammenhangs der physischen Lebenseinheit die Verwerfung der Wechselwirkung zwischen kÚrperlichen und geistigen VorgÈngen abgeleitet. Der erste204 und in der Tat schwerwiegende Grund ist in der Auffassung des Tieres als eines selbstgenÝgsamen zweckmÈßigen mechanischen Apparates gelegt. Gerne denken wir uns die physischen VorgÈnge nicht durch psychische Einschaltungen unterbrochen, sondern das, was im Reflex-Mechanismus vor sich geht, nur von dem Spiel psychischer Regungen begleitet. Nach unserer Verwandtschaft mit der Tierwelt sind wir nun weiter geneigt, auch den menschlichen KÚrper als eine selbstgenÝgsame Maschine zu betrachten, sonach dem geistigen Leben nur die Rolle von Begleiterscheinungen zuzuweisen. Und hier werden nun alle Tatsachen hoch bedeutsam, welche die Korrespondenz der psychischen VerÈnderungen mit den physischen bezeugen. 2. Diese Tatsachen entwickle ich zunÈchst. Sie kÚnnen ebensowohl im materialistischen Sinn, als nach der Theorie der psychischen Begleiterscheinungen gedeutet werden. Beide Theorien sind noch miteinander verwandt. Die Lehre von den psychischen Begleiterscheinungen ist verhÝllter Materialismus,

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ja man kann sagen, daß der Materialismus nur insofern veraltet ist, als er nur vermittelst dieser zweiten Theorie zu klaren Begriffen gelangen kann. (P[aulsen]) Daher hier zunÈchst die GrÝnde fÝr diese vollstÈndige Korrespondenz entwickelt werden mÝssen. Mit205 furchtbarer Eindringlichkeit spricht zu uns das Bild des tierischen Lebens, das uns umgibt. Wir spÝren in allen Klassen der Tierwelt psychisches Leben an einen Organismus und dessen VerÈnderungen gebunden. Parallel der Entfaltung derjenigen Hirnteile, welche bei uns Sitz des geistigen Lebens sind, wÈchst bei diesen Wirbeltieren die Intelligenz. Wie die Struktur ihres Nervensystems und ihres Zentralapparates der unsrigen analog ist, so sind auch die psychischen TÈtigkeiten in Mensch- und Tierwelt miteinander vergleichbar. Die Intelligenz der hÚchsten Tiere zeigt die entschiedensten Analogien mit unser eigenen. Und denken wir uns nur die tierische Intelligenz als die Funktion ihres Gehirns, so mÝssen wir unsrem eigenen Gehirn schlechterdings dieselbe Funktionen zugestehen. Betrachten206 wir dann das menschliche Leben, so sehen wir hier die Intelligenz mit dem Gehirn sich entwickeln. Es erreicht seinen Kulminationspunkt im reifen Mann zu der Zeit, wenn die Zahl der Hirnwindungen, das absolute Gewicht und der Fettreichtum der Hirnsubstanz ihren HÚhepunkt erlangt haben.207 Alsdann sinkt die Energie der intellektuellen Funktionen nieder zugleich mit der des Gehirns, auslesendes GedÈchtnis und Beweglichkeit des Geistes nehmen ab. Zugleich wird das Gehirn hÈrter [?] und schrumpft zusammen. Was das Bild des tierischen Lebens im Großen so eindringlich lehrt, wird bestÈtigt durch die Tatsachen im einzelnen. Infolge plÚtzlicher Verletzungen des Gehirns von außen oder einer inneren Degradation schwinden oder entarten die geistigen VermÚgen. In dem engen Gehirn des Mikrozephalen bildet sich trotz seiner menschlichen Abkunft keine feste Erinnerung an ein Individuum, nicht einmal an die eigenen Eltern. Er empfindet Lust und Schmerz, Hunger, Durst und KÈlte, eine seltsame Angst vor der Einsamkeit lÈßt ihn in TrÈnen ausbrechen, wann er sich allein befindet. Alles in allem steht er unter den hÚheren Tieren. Gehen wir weiter. Wie man mit dem Messer die einzelnen Teile des Gehirns entfernt, nimmt man Schnitt fÝr Schnitt schon bei Tieren die Intelligenz hinweg. Als Flourens zuerst das seitdem viel mißbrauchte Experiment machte, das große Gehirn HÝhnern wegzuschneiden, sah man zuerst jenes sonderbare Schicksal, das seitdem nur allzu oft vom physiologischen Katheder den ZuhÚhern vorgefÝhrt worden ist. Sie sitzen da in vollkommenem Stupor. Nur wenn man sie anstÚßt, bewegen sie sich vorwÈrts. Nur wenn man sie in die Luft wirft, fliegen sie gerade aus, bis sie an einen Gegenstand anstoßen. Mit dem Großhirn sind die seelischen VorgÈnge in ihm weggeschnitten. Ebenso erwuchs fÝr Griesinger aus der irrenarztlichen Erfahrung

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gleichsam das fundamentale Postulat der modernen Irrenheilkunde: alle Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten. Ein Bluterguß im Gehirn ruft, ebenso wie er LÈhmungserscheinungen zur Folge hat, auch Abnahme, Depravation der geistigen VorgÈnge hervor. Dasselbe zeigt sich in dem tÈglichen Wechsel unserer seelischen ZustÈnde im minderen Grade. WÈhrend eines anstrengenden Aufstiegs ist unsere DenktÈtigkeit gehindert. Hunger wie andere Ursachen physischer ErschÚpfung lÈhmen unsere Intelligenz. Unsere ganze intellektuelle TÈtigkeit ist intermittierend. Wir bedÝrfen der regelmÈßigen Regeneration derselben durch den Schlaf. Und nun hat der Fortschritt der Hirnphysiologie dahin gefÝhrt, daß wir in einigen Punkten noch mehr zirkumskript diese AbhÈngigkeit feststellen kÚnnen. Von der Gesundheit bestimmter Hirnbezirke hÈngen bestimmte intellektuelle Leistungen ab. Der auffÈlligste Tatbestand in dieser RÝcksicht wird durch die Tatsache der Aphasie gebildet. Die ZerstÚrung einer bestimmten Hirnpartie hat das ErlÚschen der Lautbilder zur Folge, die Sachvorstellung vermag nicht mehr kraft ihrer Assoziation mit diesen Lautbildern dieselben zu reproduzieren. Wie die Wortvorstellungen lokalisiert werden konnten, so finden wir noch andere seelische Leistungen an bestimmte Stellen des Gehirns gebunden. Von der FÈhigkeit, in der Muskulatur richtige Lautbildung herbeizufÝhren, Ýberhaupt Ýber die FÈhigkeiten zu Bewegungsleistungen.208 So209 ergibt sich aus dem Gesamtbild des organischen Lebens und aus unzÈhligen einzelnen Tatsachen diese ganz klare Einsicht, daß sÈmtliche geistige Prozesse bedingt sind von dem physiologischen Lebensprozeß. Wir sind von diesem mit unseren geistigen Leistungen abhÈngig. Es kann sich nur um die richtige Interpretation dieser Tatsachen handeln. An und fÝr sich ist sie ja gerade so gut mit der Lehre von der Wechselwirkung des Geistigen und Physischen als mit den anderen Lehren, welche diese Wechselwirkung ausschließen, vertrÈglich. Wir kÚnnen nicht ohne Gehirn denken. Daraus ergibt sich noch nicht, welche die Leistung des Gehirns fÝr unser Denken sei. Entwirft man nun aber metaphysische Hypothesen, so muß von der Naturforschung aus die Annahme eines Parallelismus der psychischen und physischen PhÈnomene bevorzugt werden. Denn die Naturwissenschaft strebt die Natur als ein Ganzes, sonach als einen in sich geschlossenen Kreis kausal verbundener Tatsachen aufzufassen. Wir erklÈren nur solange exakt, als wir uns auf dem Boden der sinnlich anschaulichen Natur befinden. Die NaturvorgÈnge streben wir als einen ununterbrochenen und lÝckenlosen Kausalzusammenhang aufzufassen. Ich kann die Verkettung dieser VorgÈnge nicht mitten im Leben unterbrochen, auseinanderfallend denken. Von dem Sinnesreiz geht eine solche Verket-

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tung zum Empfindungsaggregat, zur Assoziation der Ideen, zur Reproduktion der Ideen, welche VorgÈnge alle physische Korrelate haben. Ebenso geht eine solche Verkettung physischer VorgÈnge von der zweckmÈßigen VerknÝpfung der Bewegungen zur Èußeren Wirkung. Ich muß nun aber diese Kette schließen. Das tue ich durch die Annahme, daß auch die nun einzuschaltenden Begriffe und WillensvorgÈnge durch physische Korrelate reprÈsentiert seien. Ein Diplomat sei nach dem Diner mit seiner Zigarre, seinem Kaffee und seiner Verdauung beschÈftigt. Eine telegraphische Depesche wird ihm gebracht. Sie meldet Kriegsgefahr. Er springt auf, er befiehlt vorzuspannen, er fÈhrt zu verschiedenen leitenden PersÚnlichkeiten, um die erforderlichen Vorbereitungen zu treffen. Von dem Moment ab, in dem einige blauen Linien auf weißem Papier ein Mannigfaltiges von Erregungen auf der Netzhaut des Diplomaten hervorbrachten, bis zu dem, in welchem Lautzeichen, die von ihm ausgingen, die Luft erschÝtterten und im Ohr hoher Personen Erzitterungen hervorbringen, muß ein ununterbrochener Zusammenhang physischer VorgÈnge angenommen werden. Dieser Vorgang ist vollstÈndig. Er hat keine LÝkken, und unser ganzes Leben muß [als] ein Zusammenhang solcher physischer VorgÈnge, welche psychische •quivalente haben, angesehen werden. Weder die subtilen Àberlegungen, die der Diplomat anstellt, noch die hÚchst verantwortlichen WillensentschlÝsse, welche er zu treffen hat, existieren als rein psychische Akte. Sie sind Gehirnprozesse. Als solche sind sie bedingt durch die Prozesse im Auge und im Nervus opticus und ihrerseits bedingen sie motorische Prozesse, vermÚge derer der Diplomat sich fortbewegt, spricht und schreibt. Das Postulat eines solchen lÝckenlosen Kausalzusammenhangs, welcher die ganze Èußere Natur umfaßt, empfÈngt seine vollkommenste Essenz in dem Prinzip von der Erhaltung der Energie. Dieses210 fordert, daß in dem Mechanismus des Naturganzen keine Kraft von außen eingeschaltet sei, welche das Fazit der PrÝfung verwirre. Jeder Effekt muß wieder Ursache eines weiteren gleich großen Effektes sein. Jedes Wirken muß als Effekt eines frÝheren gleich großen Wirkens betrachtet werden. Die Summe des Lebendigen und der SpannkrÈfte in der Natur muß eine unverÈnderliche GrÚße bilden. Dies ganze Prinzip wÈre aufgehoben, wenn auch nur ein einziger Willensimpuls eine Bewegung in diesem Èußeren Universum hervorzubringen oder zu unterdrÝcken vermÚchte. Daher muß der Naturforscher ausschließen, daß eine psychische Ursache in diesem Zusammenhang eingeschaltet sei und Wirkungen in ihm hervorbringe. Es wÈre fÝr ihn gleichsam eine Wirkung aus dem Nichts, eine Aufhebung des ex nihilo; er muß ebenso ausschließen, daß ein physisches Wirken einen psychischen Effekt habe und sich so gewissermaßen in diesem psychischen Nichts verliere. Es wÝrde das fÝr ihn bedeuten, daß ein Etwas in ein Nichts aufgehe.

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Wenn eine Èußere Bewegung, Erzitterung der Luft, einen Muskelvorgang im GehÚrsapparat hervorruft, so wird dieser zur Großhirnrinde fortgeleitet. Was nun weiter aus ihm werde, kann weder Physiker noch Physiologe feststellen. Aber in der inneren Erfahrung treten nun Prozesse der Verbindung von TÚnen untereinander auf; sie rufen das GefÝhl von Harmonie und Disharmonie hervor. Erinnerungsbilder werden an sie angeknÝpft, welche die GemÝtsbewegung verstÈrken. Ich kann mich dem nicht entziehen anzunehmen, daß die physischen Wirkungen, welche nach dem Gesetz der Erhaltung der Energie von der Erregung der sensoriellen Bahn aus fortgehen, auch, nachdem die Empfindung vorÝbergegangen ist, zu den inneren VorgÈngen, die ich eben schilderte, in Beziehung stehen und dieselben ermÚglichen. Diese Annahme wird dadurch ganz plausibel, daß ErmÝdung des Gehirns, Schlaf usw. diese weiteren VorgÈnge nicht entstehen lassen, und noch Ýberzeugender wird sie, indem ich in diesem Zusammenhang einen physischen Vorgang wieder hervortreten sehe. Ich211 sehe ein Wasser fließen, es sickert in die Erde; wenige Schritte dahinter abwÈrts tritt Wasser aus der Erde heraus. Es treten im Gefolge der vom Musikeindruck ausgehenden Reize Bewegungen hervor. Ausdrucksbewegungen im Antlitz werden sichtbar, leise begleitende TÚne oder der begeisterte KonzerthÚrer bewegt rhythmisch den Kopf. Hier ist also vom sensorischen Gebiet der Vorgangsverlauf auf das Motorische Ýbergegangen. In dem motorischen Nerven wurde eine Erregung ausgelÚst, von dieser aus eine VerkÝrzung in den Muskelfasern. Diese kann dann auch eine Drehung der Glieder in den Gelenken zur Folge haben. Eine letzte BestÈtigung dieser Annahme von dem in sich geschlossenen physischen Verlaufe liegt dann in der Ýberall so wichtigen vergleichenden Betrachtung. Wir sehen den Àbergang vom Reiz zur Bewegungsreaktion in den niederen Tieren. Wir sehen, wie in der aufsteigenden Tierreihe die Zwischenglieder sich vermannigfaltigen. Instinkt, GedÈchtnis, VorgÈnge, die SchlÝssen Èquivalent sind, treten auf. Kein Zweifel besteht, daß diese VorgÈnge von Gehirnprozessen im Tiere abhÈngig sind. Sie entstehen ja unter bestimmten Bedingungen der physischen Organisation. In diesem großen Zusammenhang des organischen Lebens ist wunderbar zu denken, daß im Sinne des Aristoteles im Menschenhaupte eine Einschaltung eintrete. BegrÝndung des psychophysischen Parallelismus bei [H.] MÝnsterberg: [Àber] Aufgaben und Methoden [der] Psychologie[, Leipzig 1891, in: Schriften der Gesellschaft fÝr psychologische Forschung I,] Seite 111-127. 1. Das Ziel: eine erklÈrende Psychologie wird nur erreicht durch Verbindung der psychischen Tatsachen nach Hypothesen. Der Grund derselben liegt in ihrer Unvermeidlichkeit fÝr die ErklÈrung. (Dies ist entnommen aus der Logik der Naturwissenschaften, die psychi-

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schen Tatsachen eben ermÚglichen so eine ErklÈrung doch nicht. Begriff der Hypothesen-Psychologie) 2. Jede Empfindung ist gebunden an einen zirkumskripten Gehirnvorgang S. 114. Die BewußtseinszustÈnde ebenso. S. 115-116. 3. Zwischen den elementaren Gehirnprozessen und den Elementen des Bewußtseinsinhaltes lassen sich sonach Beziehungen empirisch feststellen. Ebenso sicher aber liegt in dieser empirischen Feststellung eine ErklÈrung nicht. S. 116-117. 4. Nun kann der Kausalzusammenhang der physischen ZustÈnde wirklich herbeigefÝhrt werden. Hierin liegt das Hilfsmittel, auch die Abfolge der psychischen ZustÈnde erklÈrbar zu machen. Seite 117. Dies wird aber nur durch die Voraussetzung mÚglich, daß auch den Willensakten, Bejahungen und Verneinungen, dem Urteil und der Wahl physische Korrelate entsprechen. Nur unter der Voraussetzung von genau korrespondierenden [Reihen] ist eine erklÈrende Psychologie mÚglich. Seite 123-124. Diese beruht also auf dem Postulat des lÝckenlosen Zusammenhangs der physischen PhÈnomene und der Substruktion jedes psychischen Vorgangs durch einen physischen. Wir Ýbertragen den notwendigen Zusammenhang nur von der physischen auf die psychische Reihe. S. 125. Ableitung der Lehre vom Parallelismus aus dem Gesetz der Erhaltung der Kraft. Musterhafte Darstellung dieser Argumentation bei [Chr.] Sigwart [Logik, a. a. O., Band] II 2, S. 524 [f.]. „Wir kÚnnen zwei SÈtze unterscheiden, welche diese Annahme enthÈlt. Einmal den positiven, daß im Gebiete des materiellen und physiologischen Geschehens ein strenger Kausalzusammenhang in dem Sinne bestehe, daß jede von außen bewirkte oder durch die inneren organischen Prozesse herbeigefÝhrte VerÈnderung der Gehirnsubstanz ihre materiellen Erfolge, mÚgen sie in chemischen VerÈnderungen, anderer Lagerung der Atome, in Bewegung von FlÝssigkeiten, in elektrischen VorgÈngen usw. bestehen, nach dem Prinzip der Erhaltung der Energie haben muß; und daß umgekehrt alles, was im KÚrper geschieht, in den vorangehenden materiellen VorgÈngen seine vollkommen zureichende Ursache habe. Der KÚrper wÈre also nach dem (freilich nicht ganz konsequent durchgefÝhrten) Satze des Cartesius eine sich selbst genÝgende Maschine; alles was in ihm vorgeht, mÝßte aus bloß physikalischen und chemischen Ursachen ebenso vorgehen, wenn auch gar kein psychisches Geschehen existierte. Die negative Kehrseite dieses Satzes ist, daß darum ein psychisches Geschehen niemals als Wirkung eines physiologischen Vorgangs betrachtet werden darf; denn die WirkungsfÈhigkeit der Gehirnsubstanz ist in den Èquivalenten physiologischen VorgÈngen erschÚpft und kann also nicht

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noch ein Mehr von Wirkung hervorbringen, das in keiner Weise in das VerhÈltnis der •quivalenz zu Molekularbewegungen gesetzt werden kann. Anderseits kann auch ein psychisches Geschehen nicht als Ursache eines physischen gelten; damit wÝrde die Summe der lebendigen und potentiellen Energie, die in der ganzen materiellen Welt konstant ist, eine dem Prinzip widerstreitende Vermehrung (resp. im Falle einer Hemmung Verminderung) erfahren.“ Daß nun aber die Erfahrung uns zeigt, daß einerseits physiologische VorgÈnge bestimmter Art regelmÈßig von Bewußtseinserscheinungen begleitet sind, anderseits wir allen Grund haben zu glauben, daß kein psychischer Vorgang ohne korrespondierende physiologische VerÈnderungen – chemischen Umsatz von Gehirnsubstanz, VerÈnderung der Spannung der GefÈßnerven usw. – verlÈuft, so bleibt nur die Annahme Ýbrig, daß beide Reihen vollkommen voneinander unabhÈngig und doch streng parallel nebeneinander hergehen, daß wir bestimmte KausalzusammenhÈnge nur innerhalb des physischen Geschehens fÝr sich und anderseits des psychischen Geschehens fÝr sich zu suchen berechtigt sind;212

§ 6. Widerlegung der Lehre vom Parallelismus Jede Theorie Ýber das VerhÈltnis Ýber dies Gebiet entspringt aus der lebendigen Erfahrung des Bedingt- und Bestimmtseins unserer geistigen ZustÈnde von einer uns umgebenden mÈchtigen Außenwelt. Jede moralische Kraft unseres Handelns, jede Regel des Sittlichen, jeder Glaube an eine geschichtliche Welt sind gegrÝndet durch die Voraussetzung, daß der Impuls eine vera causa in der Sinnenwelt sei, nicht aber eine wirkungslose Begleiterscheinung der alleinwahren physischen Ursache. Eine Theorie, welche diese Voraussetzungen aufhebt, mÝßte daher die strengste Evidenz haben, sonst wird sie unsre Unterwerfung unter sich nicht herbeifÝhren kÚnnen. HÈtte sie diese Evidenz, dann wÈre ein unlÚsbarer Konflikt zwischen dem Leben, den lebendigen Voraussetzungen des Erkennens und den theoretischen SÈtzen vorhanden. Aber dieser Konflikt ist nicht da, der Beweis ist nicht geliefert; gerade die hervorragendsten Denker wenden sich jetzt mit der Èußersten Energie gegen diese verhÈngnisvolle Lage. Das ganze Werk von James ist auf seine scharfsinnige Widerlegung dieser Lehre gebaut. Sigwart hat in der 2. Auflage des 2. Bandes seiner Logik, welche soeben erschienen ist, ebenfalls seine hÚchst scharfsinnige Widerlegung derselben aufgenommen. Wundt spricht neuerdings ausdrÝcklich S. 331 seines Systems213 von WillenskrÈften, die in den Verlauf von Naturerscheinungen bestimmend

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eingreifen. Daher zÈhlt ihn auch Sigwart S. 524 zu den Gegnern dieser Theorie. Ebenso gehÚrt Stumpf den Gegnern dieser Theorie an. 1. KausalitÈt 1) Machen wir uns zunÈchst klar, daß die Forderung eines in sich geschlossenen physischen Naturzusammenhangs, die Abweisung der MÚglichkeit von Wechselwirkungen des Naturlaufs mit psychischen Tatsachen, das Gebiet des empirisch Festgestellten gÈnzlich Ýberschreitet und auf metaphysische ErwÈgungen Ýber die Natur der KausalitÈt gegrÝndet ist. Die Abneigung der MÈnner, welche in Laboratorien erzogen sind, gegen die inkommensurablen seelischen Faktoren, der Wunsch, das Gebiet ihrer biologischen Forschung von diesen flatternden unfaßbaren Wesen freizuhalten, bedingte frÝher ihre Sympathie mit dem Materialismus, heute die mit der Verbannung dieser inkommensurablen KrÈfte in den Nimbus214 der Wirkungsohnmacht, aus welchem sie nicht einbrechen kÚnnen in das System der materiellen KrÈfte. Berufen sie sich hierbei nun auf die Undenkbarkeit der Wechselwirkung des Geistigen und Physischen, so besteht diese Schwierigkeit ganz ebenso in bezug auf die Wechselwirkung zweier Atome. Jedes UrsachverhÈltnis ist, metaphysisch angesehen,215 dunkel. Verlasse ich den naiven Standpunkt der Empirie, welcher alle diese KausalverhÈltnisse ohne Skrupel hinnimmt, dann ist jedes ursÈchliche Wirken dunkel und zweifelhaft und muß durch die VerhÈltnisse von AbhÈngigkeit, Koexistenz, Sukzession ersetzt werden. 2. Satz der Erhaltung der Kraft Aber die BegrÝndung wird bestimmter, indem man versucht, den Satz der Erhaltung der Kraft fÝr sie zu verwerten: hiergegen macht Sigwart S. 527 ff. die nachfolgenden Bedenken geltend.216 Widerlegung des Schlusses aus dem Prinzip der Erhaltung der Kraft Sigwart 528 ff. 1. Das Prinzip der Erhaltung der Kraft sagt zunÈchst nur (Sigwart 528) ein quantitatives VerhÈltnis aus. Wo ein Wirken stattfindet, besteht quantitative Gleichheit zwischen dem Maß der WirkungstÈtigkeit, welche den Effekt vergrÚßern wird, und dem Maß der WirkungstÈtigkeit, aus welcher der Effekt hervorging, zwischen der WirkungstÈtigkeit, welche ein KÚrper gewinnt, und der, welche ein anderer KÚrper verliert. GewÚhnlich wird nun aber von diesem Satz aus ein anderer abgeleitet.

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Jede Energie Ýberhaupt weist auf ein frÝheres gleiches Maß von Energie zurÝck, und nicht jeder Effekt besitzt aber tatsÈchlich die FÈhigkeit, einen weiteren gleich großen Effekt hervorzubringen. Dieser Satz konstruiert ein in sich geschlossenes Ganzes der materiellen Natur. Diese Erweiterung des Satzes fÝhrt unausweisbare Annahmen ein. Die mechanische WÈrmetheorie hat abgeleitet: die Umformungen der Energie fÝhren dazu, daß immer mehr mechanische Bewegung in WÈrme sich verwandelt.217 Da nun bei gleichmÈßiger Verteilung der Energie die Bedingungen fehlen, unter denen allein WÈrme wirksam wird, nÈmlich die Anwesenheit eines kÈlteren KÚrpers, an welchen die WÈrme des wÈrmeren Ýbergeben wurde, so wÈre aus der gleichen WÈrmeverteilung der Stillstand aller Prozesse herbeigefÝhrt. So wÝrde die so verstandene Theorie sich selbst verneinen. Das hypothetische Element, das im Begriff der Energie enthalten ist, kommt hier zur Geltung. WirkungstÈtigkeit ist ein leeres Wort, wenn die Bedingungen zum Wirken nicht gegeben sind. Energie kommt dem bewegten KÚrper nur zu unter dem VerhÈltnis, daß er auf einen anderen trifft, dem warmen unter dem VerhÈltnis, daß er seine WÈrme an einen kalten abgeben kann. Es218 ist in diesem Zusammenhang ganz gleichgÝltig, ob die Lehre von dem kÝnftigen Stillstand des Weltalls richtig oder falsch ist. Diese Konsequenzen aus der mechanischen WÈrmetheorie beweisen doch, daß es den physikalischen Gesetzen nicht widerstreitet, im Weltall einen Effekt anzunehmen, welcher nicht minder Ursache neuer VerÈnderungen sei. Man sieht, es handelt sich bei diesen Konsequenzen nur um ein tatsÈchliches Verhalten, Ýber welches nun prÈzis zu entscheiden ist. Ebenso widerspricht der Grundsatz, daß jede Energie rÝckwÈrts auf ein qualitativ gleiches Maß einer bedingenden Energie zurÝckweise, den tatsÈchlichen Voraussetzungen. Nichts kann uns hindern, auch hier ein Erstes anzunehmen. Die rÈumliche Verteilung der Massen stellt potentielle Energie dar, im einzelnen lÈßt sich auch rÈumlicher Abstand aus lebendiger Energie ableiten, im ganzen aber gelangen wir doch rÝckwÈrts zu dem ursprÝnglichen Gesamtbestand der Verteilung der Massen. So liegt in dem Satz von der Erhaltung der Energie keineswegs eingeschlossen, daß jeder physische Effekt, ganz abgesehen von den Bedingungen, unter denen er sich findet, wieder einen physischen Effekt haben mÝsse oder rÝckwÈrts, daß derselbe aus einer physischen Ursache stammen mÝsse. Der Satz von der Erhaltung der Kraft ist auf dem physikalischen Gebiet gewonnen. Er ist auf diesem empirisch bewiesen; er sagt aus: Man nehme einen Komplex materieller Ursachen als in sich geschlossen, von außen nicht beeinflußt, an, dann bleibt innerhalb desselben die Summe der lebendigen und potentiellen Energie konstant.

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Dies Prinzip bleibt in voller Geltung, wenn wir auch annehmen, daß ein System von materiellen Massen zu Elementen von andersartigen KrÈften in kausaler Beziehung tritt. Das Energieprinzip sagt: Wenn und soweit materielle Massen auf andere wirken, besteht •quivalenz der WirkungsfÈhigkeit zwischen den vorangehenden und nachfolgenden ZustÈnden. Aber keine Konsequenz dieses Prinzips und kein mit ihm verbundener empirischer Erweis zwingen uns anzunehmen, daß jede materielle VerÈnderung nur aus materiellen Ursachen hervorgehen und nur materielle Wirkungen haben kÚnne. 3. Widerlegung dieser Lehre aus ihren Konsequenzen auf empirischem Gebiete ErwÈgen wir nun aber die Gestalt, welche im einzelnen die Lehre vom biologischen Prozeß durch diese Theorie erhÈlt. James an diesem Punkt erklÈrt, das nachdrÝckliche Geltendmachen dieser Theorie in dem heutigen Zustand der Psychologie fÝr eine „verbotene Impertinenz“. (S. 138)219 Erster Gegenbeweis. Sigwart 537 ff. Zweiter Gegenbeweis. Sigwart 538 ff. Dritter Gegenbeweis. James 138 ff. Vierter Gegenbeweis. Sigwart 540 ff. Erster Gegenbeweis. Sigwart 537220 Die Theorie des Parallelismus fÝhrt notwendig zu der Annahme, daß physikalische, chemische Prozesse im Gehirn identisch mit dem logischen Zusammenhang seien. Soll z. B. das Gehirn eine Rechnung ausfÝhren, so mÝssen die ihm eigenen Prozesse einen Zusammenhang bilden, welcher mit dem logischen Zusammenhang der Rechnung sich deckt. Das Gehirn wird hier zu einer Rechenmaschine, durch welche vermittelst mechanischer Bewegungen aus den Faktoren das Produkt hervorgeht. Sonach muß die Anordnung seiner Teile so bestimmt sein, daß die physikalischen Gesetze mit den logischen Ýbereinstimmen. So fÝhrt diese Annahme zu der Unterordnung dieser Prozesse unter einen hÚheren Vernunftzusammenhang. Will man nun aber diesen Parallelismus durchdenken, so macht die vÚllige Unvergleichbarkeit der beiden hier gewaltsam identifizierten Gebiete dies ganz unmÚglich. Die Sukzession der Zahlen kann wohl in Zellen organisiert sein, aber das zusammenfassende Bewußtsein der Reihe nicht; ebensowenig das Bewußtsein der Notwendigkeit, mit welcher ein Produkt aus den Faktoren hervorgeht.

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Zweiter Gegenbeweis. James 138 Die Entwicklungslehre betrachtet das Bewußtsein als ein Organ, welches im Kampf um das Dasein dieses dem Individuum erleichtert, sonach eine Wirkung hervorbringe. Dies setzt voraus, daß die auswÈhlende TÈtigkeit auch eine Wirkung hat, sonst wÈre dasselbe im Kampf um das Dasein hÚchst gleichgÝltig. Auch zeigt die Betrachtung der Organisation [?] des Gehirns, wie ganz notwendig die UnvollstÈndigkeit der Leistung des Gehirns die ErgÈnzung seiner Leistung duch BewußtseinsvorgÈnge fordert. Die Leitung der unteren Teile des Gehirns ist verhÈltnismÈßig einfach und sicher. DafÝr fehlt ihnen die Anpassung an die verÈnderlichen UmstÈnde. Dagegen die Großhirnrinde ist so unermeßlich vielen Reizen, Assoziationen, Reproduktionen ausgesetzt, daß es wie ein Wunder wÈre, wenn aus ihr eine Zeit hindurch berechenbare und zweckmÈßige Ergebnisse hervorgingen. Auch hier zeigt sich wieder: der logische Charakter des Spiels der KrÈfte meines Gehirns wÈre das GrÚßte aller Wunder. Die ZweckmÈßigkeit dieser Ergebnisse fordert, daß das Bewußtsein als eine sekundierende Funktion mitwirke. Dieses allein kann auch dem, was hier geschieht, den Charakter von NÝtzlichkeit oder SchÈdlichkeit geben. Dieses allein kann die vikariierenden Funktionen eines Gehirnteiles erklÈrlich machen; nimm eine Walze aus einer Maschine und ihre Wirkung ist verÈndert. Sie selbst hÈlt sich ganz gleichgÝltig gegen diese Wirkungen. Nicht aus ihr ist der Wiederersatz der Leistungen fÝr zweckmÈßige Richtung ableitbar. Will man entwicklungsgeschichtlich die durchgehende Verbindung der Lust mit der Erhaltung verstehen, so muß man dieser Verbindung eine Wirkung zuschreiben.

Dritter Gegenbeweis Sigwart 540. Unser Wille verhielte sich zu den Bewegungen unseres KÚrpers nicht anders als zu den Bewegungen der Planeten. Unser Bewußtsein, daß der Wille eine wahre Ursache sei, wÝrde zum Schein.

3. ErklÈrende Psychologie. Theorie des Parallelismus

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§ 7. Metaphysische Deutungen. Dualismus, Lehre von der Wechselwirkung physischer und psychischer Substanzen So drÈngen viele und bedeutende ErwÈgungen zu dem Satze hin: Auch im Menschen haben wir eine ununterbrochene und in sich geschlossene Folge physischer Prozesse anzunehmen. Zwischen der sensoriellen Vorgangsreihe und der motorischen Vorgangsreihe ist eine physische Verbindung, sind physische Zwischenglieder anzunehmen. Im ununterbrochenen Zusammenhang finden auch im Menschen Umformungen von Bewegungen statt. Aktuelle Energie formt sich um in potentielle, Massenbewegung in Molekularbewegung. Forderungen des naturwissenschaftlichen Erkennens und Ergebnisse desselben verknÝpfen sich nun aber in dieser Theorie mit den Annahmen der psychologischen Analysis. Seit dem 17. Jahrhundert findet eine bestÈndige Anpassung dieser beiden Arbeitsmethoden statt. Die herrschende Macht ist doch das Streben gewesen, den durchgÈngigen mechanischen Naturzusammenhang zur Anerkennung zu bringen. Hieraus entsprang die Neigung, die GefÝhle von SpontaneitÈt, das einheitliche Wirken im Seelenleben als sekundÈren Schein zu interpretieren, die einzelnen Begleiterscheinungen der physiologisch bedingten SinnesvorgÈnge als Empfindungen zur Grundlage des Seelenlebens zu machen, die Verbindungen zwischen diesen Elementen mÚglichst einfÚrmig mechanisch zu konstruieren. Das der physiologischen Interpretation am einfachsten entsprechende System wÈre dasjenige, welches nur mit Empfindungen und deren GefÝhlswert, mit Residuen derselben und mit assoziativen Verbindungen rechnet. Diesen psychischen Tatsachen entsprechen dann die Sinnesapparate, die Leitungen der Zellen und der verbindenden NervenfÈden. Daher bildete sich dieses sensualistische System in allen europÈischen Psychologien vom 17. Jahrhundert ab in Zusammenhang mit der Herrschaft des naturwissenschaftlichen Geistes aus. Es wird gleichmÈßig vertreten von Hobbes, Condillac, den franzÚsischen Materialisten, Hartley, Hume, den beiden Mill, Bain, Comte, Herbart, Meynert und durchgÈngig von der gegenwÈrtigen psychophysischen Schule.

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Metaphysische Deutungen dieser Psychologie Die moderne Metaphysik entspringt aus dem Zusammenstoß der voranschreitenden naturwissenschaftlichen Konstruktion der Welt mit all dem, was lebendig und krÈftig war von innerer Erfahrung, Religion, sittlich politischen KrÈften, Tradition. So formen sich Kosmologie, Theologie und Psychologie der Èlteren Metaphysik um. In221 der Kosmologie zieht Giordano Bruno die Konsequenz der Erkenntnis von der Stellung der Erde im Universum. Es gibt nicht zwei auseinanderliegende Weltwirklichkeiten, eine diesseitige und [eine] jenseitige. Dieser kosmische Dualismus des Aristoteles und der Kirchenlehre muß aufgehoben werden. Es gibt nur ein unendliches Universum, das Gestirne und Erde umfaßt. Dieselben Gesetze regieren den Gang der Gestirne, die den Fall eines KÚrpers auf der Erde erwirken. Diese große Anschauung enthÈlt in sich die Voraussetzung, deren Newton, die Theoretiker des Lichtes, schließlich die Entdecker der Spektralanalyse bedurften. Aber diese Anschauung hatte zugleich eine theologische Konsequenz.222 In RÝcksicht auf diese traf sie zusammen mit der ErschÝtterung der Tradition durch Philologie, Geschichte und Theologie. Gott sitzt nun nicht mehr im Himmel; er ist nicht mehr der Mann mit dem wallenden weißen Bart, um ihn die Heiligen und die Seligen. Alle GemÈlde des 15. und 16. Jahrhunderts verblassen vor dem neu einstrahlenden Lichte des Naturerkennens. Sie werden zu Symbolen. In diesem unendlichen Universum ist Gott gleicherweise an jeder Stelle, Ort und Zeit schwinden vor ihm. Er ist nicht mehr eine von der Welt getrennte Substanz oder ein von ihr getrenntes Subjekt, der Nous der Griechen. Er ist auch nicht mehr der rÚmische Weltregent, er ist auch nicht mehr der Herr, der sich gnÈdig zu seinen AuserwÈhlten neigt im Sinne des jÝdischen Glaubens. Daher wird nun auch der SchÚpfungsbegriff der Kirchenlehre in der Metaphysik aufgegeben. Alle diese Metaphysiker setzen an der Stelle davon ein Wirken, welches den in der Natur stattfindenden Prozessen mehr angepaßt ist. FÝr Giordano ist Gott die zum WeltkÚrper zugehÚrige, von ihm unabtrennbare Seele. FÝr Spinoza ist Gott die als Denken und Ausdehnung wirkende Substanz, in welcher alles einzelne immanent ist. Leibniz betrachtet die einzelnen Dinge als Fulgurationen Gottes. FÝr Shaftesbury ist Gott die Seele und das Gesetz des zweckmÈßigen Weltorganismus. Drittens223 wurde dann die Psychologie vom Naturerkennen aus in der angegebenen Richtung metaphysisch interpretiert. Diese Interpretationen bestÈtigen dann die UnmÚglichkeit, das LebensverhÈltnis in Begriffen durchsichtig zu machen. Jede Theorie enthÈlt unauflÚsbare Schwierigkeiten, sie drÝckt nur

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einen Teil dessen aus, was wir lebendig erfahren. Jede demonstriert aus Voraussetzungen, die plausibel sind, die aber ebensogut durch ganz andere ersetzt werden kÚnnen. Und hier entstanden nun sofort unter der ersten BerÝhrung des Naturerkennens mit der Seelenerforschung in vergangenen Dezennien alle Theorien, welche vor der Kantischen Revolution im Horizonte der Metaphysik lagen. Dies war mÚglich, weil in den Hauptbegriffen der Lehre Galileis die psychischen Korrelate des Bewegungsvorgangs mit enthalten waren. Hierdurch wurde den Metaphysikern die Einsicht nahe gelegt, daß ein Bewegungssystem auch ein Innen haben kÚnne, ja mÝsse. Descartes, der BegrÝnder der mechanistischen Naturansicht, fÝhrte durch die ganze organische Welt die Auffassung durch, daß diese primÈr ein physischer, demnach ganz mechanischer Naturzusammenhang sei. Als solchen faßte er alle inneren PhÈnomene der Tierwelt, entsprechend das den Menschen mit den Tieren Gemeinsame. Hier entsteht aber sofort eine Schwierigkeit, welche bis heute geltend gemacht wird. Ist der Geist eingeschaltet in physische VorgÈnge mit inneren Begleiterscheinungen, dann entsteht die Aufgabe, eine Wechselwirkung von KÚrper und Geist vorstellig zu machen. Dies schien schon den Okkasionalisten unmÚglich. Folgende Schwierigkeiten machten sich geltend. Der Kern dieser Ansicht ist, daß in dem physischen Mechanismus psychische Prozesse eingeschaltet sind. Ein Influxus physicus, eine Wechselwirkung zwischen physischen und psychischen VorgÈngen wird angenommen. Es ist die einfachste natÝrliche Betrachtungsweise von der Welt, die hier vorliegt. Aristoteles wie die mittelalterlichen Philosophen hatten von ihr aus die Erscheinungen interpretiert. Wer nicht wissenschaftlich denkt, sondern nur seine Erfahrungen in Worten ausdrÝckt, wird dies annehmen. Diese Ansicht kann nun schlechterdings wissenschaftlich nicht widerlegt werden. Sie entspricht nicht der Neigung der Naturforscher. Aber die Annahme vom lÝckenlosen Zusammenhang der GehirnverÈnderungen bleibt auch fÝr sie unbeweisbar. Er ist im Grunde erstens224 noch wenig nachgewiesen. Was wissen wir von der Entstehung der Sinnesempfindung? Es unterliegt keinem Zweifel, daß ein physikalischer Zusammenhang fÝr die VorgÈnge der ErnÈhrung usw. der Sinnesnerven besteht. Wir wissen ferner, daß von diesen VorgÈngen die Leistungen des Sehnerven abhÈngig sind. Aber nichts nÈheres ist uns bekannt, da es uns das VerhÈltnis dieser physikalischen VorgÈnge zu den EmpfindungsvorgÈngen verstÈndlich machte; ja man kann sagen: Wo die Umformungen von Bewegung und Energie endigen, wo wir vom Èußeren Auffassen zum inneren Gewahren Ýbergehen sollen: da verlassen uns alle Mittel des Erkennens. Und was wissen wir von der Entstehung der Bewegung; sicher werden SpannkrÈfte verbraucht, die in Form von gewissen Dispositionen bestehen; aber wir wissen nicht, was diese SpannkrÈfte auslÚst. Was nun aber zwischen diesen beiden

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Klassen von VorgÈngen auf der physischen Seite verlÈuft, darauf fÈllt nur hier und da ein dÝrftiges Licht. Und nicht nur, wir wissen hiervon nichts; [. . .] wir finden in unserer Gesamtvorstellung von den Mitteln des Gehirns keinen Anhaltspunkt dafÝr, diesem die geistigen Leistungen des produktiven Denkens zuzuschreiben. Auch das Gesetz der Erhaltung der Kraft steht nicht mit dieser Hypothese im Widerspruch.225 Jedenfalls gewÈhren die Hirnprozesse dem Bewußtsein und den hÚheren geistigen VorgÈngen Bedingungen, an welche auch ihr Ablauf gebunden ist. Sonach klafft hier nicht gleichsam eine LÝcke; auch die hÚchsten geistigen Leistungen sind also an die Umformung der physischen Kraft gebunden, und diese wird selbstverstÈndlich durch sie weder vermehrt noch vermindert. Tritt dann die226 Bewegung hervor, so ist sie nicht eine neue Umsetzung der physischen Kraft entsprechend ihrer gegebenen StÈrke. Zur VerÈnderung der Richtung durch eine Bewegung gehÚrt Kraft, die anderswo verschwinden mÝßte227 – die AuslÚsung von SpannkrÈften erfordert lebendige Kraft. 2) Aber hiervon ganz unterschieden ist die Entscheidung fÝr eine Richtung der Bewegung, fÝr228 eine bestimmte Verteilung der Energie.229 3) Ein Vorgang der Aufmerksamkeit kann durch eine Willensentscheidung erzwungen werden, aber keine Kraft des Willens vermag dauernd den darauffolgenden ErschÚpfungszustand zu unterdrÝcken. Vielmehr macht dieser sich physisch in seinem Zustand oder seinen Folgen unausbleiblich geltend. Der Wille vermag einem kranken KÚrper noch große Leistungen abzugewinnen, wie wir dies an Schiller sahen, aber hierbei findet ein Verbrauch von physischer Kraft statt, der, wo er nicht ersetzt werden kann, den physischen Verfall herbeifÝhren muß. 4) Sonach kÚnnte das VerhÈltnis folgendermaßen vorgestellt werden: Die geistigen VorgÈnge kÚnnen die physische Energie weder vermehren noch vermindern, der Kreislauf des Physischen bleibt unberÝhrt von ihnen. Aber die Richtung der Aufmerksamkeit, die Verteilung der Bewußtseinserregungen, auch die Richtungen der Bewegung ist von ihnen abhÈngig. Doch ist selbst dieses ZugestÈndnis an die Lehre von der Erhaltung der Kraft fÝr die Psychologen nicht absolut erforderlich. Das Gesetz von der Erhaltung der Kraft bezieht sich auf die Umformung der Bewegungsformen230 ineinander und der Bewegungsenergie in Energie der Lage sowie umgekehrt. Es reicht also so weit als die Èußere physische Natur. Der empirische Beweis fÝr dieses Gesetz ist nach der Natur der Sache nur so weit mÚglich, als die VorgÈnge meßbar und ihre •quivalente bestimmbar sind. Sonach kann die Geltung dieses Gesetzes auf das psychische Gebiet nicht ausgedehnt werden. Erstlich ist noch nicht gezeigt, daß alle psychischen TÈtigkeiten ausschließlich von außen bedingt seien. Zweitens sind wir außerstande, das Maß ihrer leben-

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digen Energie anzugeben. Ja, es muß Ýberhaupt bezweifelt werden, ob die Gleichung zwischen Ursache und Wirkung auf dem psychischen Gebiete231 die Geltung habe, welche ihr auf dem physischen zukommt. Weder sind uns hier auf dem psychischen Gebiete konstante Elemente gegeben, noch kÚnnen wir irgend aufzeichnen, daß es sich nur um Transformation handle. Noch eine andere Betrachtung kann angestellt werden. Das Prinzip der Erhaltung der Energie ist gÝltig innerhalb eines endlichen KrÈftesystems. Nehmen wir nun da ein unendliches KrÈftesystem an. Dieses bliebe auch nach seiner Vermehrung durch eine endliche GrÚße unendlich. Daher kann die EinfÝhrung eines endlichen KrÈftequantums in dasselbe nicht als mit dem Satz der Erhaltung in Widerspruch stehend aufgezeigt werden. Vermag das Naturerkennen diese Ansicht nicht zu widerlegen, so ist sie von der inneren Erfahrung aus die natÝrlichste; sie erklÈrt am einfachsten die hier in Frage kommenden Tatsachen. Daher Herbart und seine ganze Schule, Lotze, Zeller, Sigwart an dieser Ansicht festhalten. Jeder KÚrper besteht aus Teilen, die zuvor ein verbundenes System von Bewegungen bilden, doch so, daß jeder Teil seine eigenen Bewegungen vollzieht. Danach ist fÝr jede im menschlichen KÚrper stattfindende Bewegung das jedesmalige nÈchste Subjekt nur der Teil des KÚrpers, in welchem sie vor sich gehe. DÈchten wir uns jedes Teilchen mit Bewußtsein verknÝpft, so erhielten wir so viel bewußte Subjekte, als im KÚrper Teilchen vorhanden sind. Hieraus kÚnnte niemals eine Einheit des Bewußtseins, ein Selbstbewußtsein folgen. Gerade von der atomistischen und mechanistischen Betrachtungsweise aus muß sonach ein unkÚrperliches Subjekt angenommen werden.232 Und eben aus dieser Voraussetzung des Mechanismus der Atome als voller KausalitÈt folgt dann ebenso das VerhÈltnis der Wechselwirkungen. Endlich ist auch das so entstehende Problem einer Wechselwirkung zwischen physischen und psychischen Elementen zwar nicht auflÚsbar, aber eben kein anderes als das von Wechselwirkung Ýberhaupt. Jedes Wirken eines Elementes auf ein anderes Element ist unerklÈrlich. Von dem Àberspringen der Kraft aus der gestoßenen Billiardkugel auf die von ihr berÝhrte zweite Kugel kÚnnen wir uns keine Vorstellung machen. Daher fÝhrt auch der Okkasionalismus notwendig zu der Aufhebung der Wechselwirkung getrennter Teile Ýberhaupt in Leibniz. Und aus demselben Grunde wurde dann Herbarts Pluralismus von Lotze zur Annahme einer einheitlichen Grundlage aller Wechselwirkungen fortgebildet. Vor allem ist fÝr uns der Àbergang von der Mechanik des Gehirns zu der entsprechenden TÈtigkeit des Bewußtseins seiner Natur nach unbegreiflich. [D.F.] Strauss ([Der] alte und [der] neue Glaube[. Ein Bekenntniß, 11. Aufl. mit einem Vorworte von E. Zeller,] Bonn 1881, S.] 211) sagte: So gut unter

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gewissen Bedingungen Bewegungen sich in WÈrme verwandeln, kÚnne es auch Bedingungen geben, unter denen die Bewegung sich in Empfindung verwandelt. Und immer noch gibt es Naturforscher, welche von dem Fortschritt des physischen Wissens die Entdeckung dieses Àbergangs aus Bewegung zu Empfindung erwarten. Dies ist ein verhÈngnisvoller Irrtum. Die UnmÚglichkeit,233 Sonach steht die Lehre von der Wechselwirkung zwischen den physischen und den psychischen VorgÈngen, von der Einschaltung psychischer VorgÈnge in physische BewegungsvorgÈnge keineswegs in dunklem Widerspruch mit unseren sonstigen Kenntnissen.

§ 8. Der offene und der verschleierte Materialismus Eine234 zweite Familie von Theorien erstreckt sich in einem weitgestreckten Stammbaum von Hobbes bis auf BÝchner, Moleschott und Vogt, anderseits bis auf die Theoretiker, welche psychische VorgÈnge als Begleiterscheinungen des lÝckenlosen, physischen Kausalzusammenhanges auffassen. Unter Materialismus235 verstehen wir die Lehre, nach welcher die psychischen VorgÈnge Funktionen unsres Nervensystems sind. Cabanis sagte: das Gehirn sondert Gedanken aus, wie die Leber Galle, wie die SpeicheldrÝse Speichel. Diese Theorie kann heute als widerlegt angesehen werden. Erstlich ist sie so lange nur ein Geschmacksurteil, als die BegrÝndung im einzelnen fehlt. Es ist schlechterdings nicht wissenschaftlicher, der Natur unter anderem das VermÚgen des Empfindens und Denkens zuzuschreiben, als eine immaterielle Seele mit diesen VermÚgen auszustatten.236 Im einen wie im anderen Falle verbleibe ich bei einem bloßen Wort, welches nichts erklÈrt. Ich frage umsonst:237 was denn das Volumen, das absolute und spezifische Gewicht, der Faltenreichtum und Fettgehalt eines menschlichen Gehirns zur Entstehung der in diesem befindlichen Gedanken beitrÈgt? Wiefern der geistige Inhalt, der im Hirn jedes Menschen eingeschlossen ist, von dieser Eigenschaft aus erklÈrlich sei. Aus238 Bewegung Empfindung abzuleiten, ist gegrÝndet in dem erkenntnistheoretischen Tatbestande, daß alles Physische von außen durch die Sinne gegeben ist, die Empfindung aber der inneren Erfahrung angehÚrt. So sind beide schlechterdings unvergleichbar.239 Die Umsetzung einer Massenbewegung in eine Molekularbewegung ist so verstÈndlich, als es Mitteilung von Bewegung Ýberhaupt ist. Dies beruht darauf, daß hierbei die Anschauung auf ihrem sinnlichen Gebiete verbleibt. Die Absonderung der Galle, der Vorgang der Ver-

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dauung kÚnnen genau so durchsichtig gemacht werden, als die Einzelerkenntnis der entsprechenden Tatsachen es gestattet. Dagegen wenn wir von rÈumlichen Bewegungen zu inneren ZustÈnden Ýbergehen: ist uns zwar die in der Aufeinanderfolge dieser ZustÈnde bestehende GleichfÚrmigkeit zugÈnglich.240 Aber kein noch so dÝnner Faden von Gemeinsamkeit macht uns den Àbergang aus jenen zu diesen Tatsachen begreiflich.241 Dies ist auch, was im Grunde die vielbesprochenen •ußerungen von Tyndall und Du Bois-Reymond besagen. Sie stellen fest, daß die Naturforschung kein Interesse daran haben kann, der Materie ein ganz unbegreifliches VermÚgen zuzuschreiben, Empfindungen gleichsam auszusondern. Alle diese Sekretion des Denkens aus dem Gehirn ist zwar nicht begreiflich, so ist sie darum nicht unmÚglich. Schließlich gibt es in metaphysischer RÝcksicht fast nichts, das unmÚglich wÈre. Jeder Metaphysiker arbeitet mit Voraussetzungen, welche ihm selbst hÚchst einleuchten, anderen Metaphysikern dagegen gar nicht Ýberzeugend sind. Ich wÝßte nicht, was uns hindern sollte anzunehmen, daß die Materie empfindet. Erst wenn wir ihr Denken zuschreiben, tritt der Widerspruch auf, daß die Zusammenfassung des Mannigfaltigen zur Einheit des Bewußtseins nicht wohl als eine Leistung physischer Einzelelemente aufgefaßt werden kann. Denn der Bewußtseinszustand, den sich ein solches Atom leistete, wÝrde immer seiner bleiben, nicht aber durch eine Èußere BerÝhrung der eines anderen Atoms werden. Und doch steht es mit der Àberzeugungskraft noch der sichersten unter den metaphysischen Argumenten so außerordentlich schwach, daß selbst dieser so klare Satz den Metaphysikern der entgegengesetzten Partei noch wieder schlechterdings keinen Eindruck macht. Dagegen liegt schlechterdings keine UnmÚglichkeit vor, der Materie Empfindung zuzuschreiben. Jede Kraft ist ein transzendentes Problem. Die Àbertragung einer Bewegung durch BerÝhrung ist eine anschaulich gegebene Tatsache; die Mechanik konstruiert die Formeln fÝr diesen Verlauf; aber weiß sie etwas davon, wie eine Billiardkugel es anfÈngt, ihre Bewegung beim Anprall auf eine zweite zu Ýbertragen? Der Fall eines losgelassenen KÚrpers, welcher Ýber die Erde erhoben war, ist eine Tatsache; die mechanistische Naturwissenschaft ordnet unter dieselben Formeln den Fall auf der Erde, Planetenbewegungen, Ebbe und Flut; aber weiß sie etwas davon, wie diese Gravitationskraft es anfÈngt, solche Wirkungen hervorzubringen? Nicht mehr als hier geleistet wird, darf auch in bezug auf die ErklÈrung der geistigen VorgÈnge aus den physikalisch-chemischen Hirnprozessen von dem Materialisten verlangt werden. Er zeige, wie jeder psychische Prozeß nach seiner Eigenart und StÈrke von einem genau definierten physikalischchemischen Hirnvorgang bestimmt sei, wie er eintritt mit ihm, wie er aufhÚrt mit ihm? Dann wÝrde ErklÈrung, in ihrem richtigen Verstande genommen,

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damit geleistet sein. Aber bewiesen wÈre natÝrlich der Materialismus damit nicht, denn wenn zwei Klassen von Tatsachen regelmÈßig zusammen auftreten, kÚnnen sie die gemeinsame Folge einer dritten Tatsachenreihe sein, oder im vorliegenden Falle kÚnnen die inneren Tatsachen die KausalitÈt und die Èußeren das PhÈnomen sein, oder sie kÚnnen aber als zwei Seiten desselben Tatbestandes aneinander gebunden sein. Nun entsteht aber eine zweite, nicht zu unterschÈtzende Schwierigkeit. Der Satz von der Erhaltung der Kraft zwingt den Materialismus zu einer Entscheidung, wÈhrend er in frÝherer Zeit sich mit unbestimmten Vorstellungen begnÝgen konnte. Gehen wir von der durch Tyndall und Du Bois so nachdrÝcklich im Sinne der Transzendentalphilosophie geltend gemachten Einsicht aus. Eine Empfindung ist nicht eine Hirnbewegung. Jene ist ein innerer Zustand, eine Erfahrungstatsache. Diese ist ein Èußerer Zustand, auch eine Erfahrungstatsache. Die beiden Erfahrungen sind nicht nur ganz verschieden voneinander, sondern geradezu unvergleichbar. Den Satz, daß das Denken eine Bewegung sei, mÝssen wir also als eine Apotheker-Philosophie gÈnzlich zurÝckweisen. Er verstÚßt gegen das a nicht = non a. Fassen wir nun den psychischen Vorgang als eine Wirkung des physischen. Alsdann unterliegt er dem Satz von der Erhaltung der Energie. Ich nehme z. B. an, daß der Gesichtseindruck eines LÚwen im zoologischen Garten ein Wahrnehmungsbild hervorbringt. Die Erregung der Zellen im Sehzentrum pflanzt sich zu denjenigen Zellen fort, welche die FÈhigkeit haben, das zugehÚrige Lautbild LÚwe hervorzurufen. Dieses Lautbild entsteht. Alsdann sind zwei FÈlle mÚglich, wenn ich diesen Tatbestand interpretieren soll. Entweder hat die Erregung im Sehzentrum zwei Folgen, einerseits den psychischen Bildvorgang, andererseits die weiteren physiologischen Prozesse. Da nun nach dem Satz der Erhaltung der Kraft der Energie die physische Wirkung der Ursache Èquivalent sein muß, so wÝrde die ganze so komplizierte Wirkung der psychischen Gesichtswahrnehmung gar keine Wirkung von Kraft enthalten. Sie wÈre ex nihilo, ein Wunder. Oder die materialistische Theorie muß annehmen, daß psychische Wirkungen Umsetzungen der physischen Kraft sind. In der Gesichtswahrnehmung setzt sich die Erregung des Sehzentrums ganz oder teilweise in psychische Prozessen um. Diese muß dann entweder sich in Bewegungsvorgang rÝckverwandeln kÚnnen, oder sie dauert als solche in wechselnden Formen fort. Beide Ansichten fÝhren zu einer sehr konsequenten Naturansicht. Sie heben aber den Materialismus auf. So wird der Materialismus selber kraft der in ihm liegenden Logik fortentwickelt zur Lehre, daß die psychischen Tatsachen Begleiterscheinungen der physischen sind, daß die Hirnprozessen und die SeelenvorgÈngen zwei Seiten desselben Ablaufes des Lebens sind. So sagt BÝchner: „Denken und Ausdeh-

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nung, zwei Seiten oder Erscheinungsweisen eines und desselben einheitlichen Wesens.“242 Zumal aber seitdem Fechners Lehre bekannt wurde, ist diese Auffassung immer entschiedener an die Stelle des Èlteren Materialismus getreten. Beide Theorien stimmen darin Ýberein, daß sie in den umfassenden, kausal verbundenen, in sich geschlossenen Naturlauf der materiellen Prozesse psychische Begleiterscheinungen einschalten, welche weder einander erwirken noch den sie umspannenden Naturlauf beeinflussen. Daher sind sie beide Materialismus. Das Kennzeichen des Materialismus ist, daß die Materie als volle RealitÈt genommen wird und nur als solche zur wissenschaftlichen Konstruktion des ganzen Weltlaufs ausreichend verwertet wird, so daß die psychischen Erscheinungen wegfallen kÚnnten, ohne daß sich an diesem etwas Ènderte. Der Materialismus und die Theorie von den psychischen Begleiterscheinungen So tritt neben dem Materialismus eine dritte Lehre, welche ich als die Theorie von den psychischen Begleiterscheinungen bezeichne. Unter dieser verstehe ich die Lehre, daß der lÝckenlose Kausalzusammenhang des Universums ein physischer ist, an gewissen Stellen desselben aber, unter angebbaren Bedingungen der chemisch-physikalischen Begriffe, psychische Tatsachen auftreten. Diese Lehre ist die moderne Hauptform des Materialismus. Anders ausgedrÝckt: Sieht man den lÝckenlosen Kausalzusammenhang des Universums als einen lÝckenlosen an, betrachtet man die psychischen Tatsachen nur als stellenweise ihn begleitende Paralleltatsachen, so muß diese Form der Parallelismuslehre in bezug auf die Auffassung vom Seelenleben als eine Form des Materialismus angesehen werden. Auch in dieser Theorie treten nun aber ihr eigentÝmliche Schwierigkeiten auf. Wo im Ablauf des Physischen die erste psychische Begleiterscheinung auftritt, starrt mich aus derselben doch wieder das uralte ungelÚste RÈtsel an: Woher kommt sie? Sie ist ein Etwas, ja die ungeheuere Macht, die GlÝck und UnglÝck, Elend und Glanz ganz allein einschließt, in welcher auch alle Sinnesbilder enthalten sind. Entweder sie ist immer und Ýberall, sie hat ihren eigenen Kausalzusammenhang, dessen Umfang sich mit dem physischen Universum deckt. Dann ist der Materialismus aufgehoben, ja, dann mag sich der Glaube an die Wirklichkeit des Physischen hÝten, wie er sich aufrecht erhalte. Oder dies ist nicht der Fall und dann ist das Auftreten des Psychischen ein Wunder. Betrachten wir nun aber die außerordentlichen Schwierigkeiten, welchen diese beiden Theorien gemeinsam verfallen. Das ist ja hier wie Ýberall der Tatbestand; alle GrÝnde von metaphysischen Voraussetzungen, von denen aus argumentiert wird, sind zweideutig und diskutabel: ja, sie deuten auf Antino-

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mien hin, welche in der verstandesmÈßigen UnauflÚsbarkeit des Lebens selbst gegrÝndet sind. Andrerseits ist unsere Kenntnis der Tatsachen so lÝckenhaft, daß sie durch die beliebten Hilfshypothesen beinahe jeder metaphysischen Hypothese eingeordnet werden kÚnnte. Dennoch aber lÈßt sich dem Unbefangenen zeigen, daß die beiden metaphysischen Fraktionen des Materialismus in gleicher Weise ein unbefriedigendes VerhÈltnis zu der uns bekannten Wirklichkeit haben. Nachdem die metaphysischen Theorien sich gegenseitig aufgefressen hatten und eigentlich der Sensualismus allein den Kampfplatz behauptet hatte, gab Kant dem ganzen Problem eine Wendung, durch welche erkenntnistheoretisch der Materialismus aufgehoben wird. Als Wirkliches gegeben ist uns ganz allein die geistige Welt; die KÚrperwelt erscheint an der geistigen. Es ist ein Nonsens, das, was die Bedingung des Daseins jeder Bewegung enthÈlt, als einen vorÝbergehenden Effekt dieser Bewegung zu betrachten. Ebenso enthalten beide Formen des Materialismus eine lÈcherliche Verschiebung der Werte, eine unglaubliche Aufhebung der inneren Erfahrung aufgrund unbeweisbarer Hypothesen. 1) Nach der Ansicht dieser Materialisten wÝrde sich nichts an dem Weltverlaufe Èndern, wenn auch gar kein innerer Zustand da wÈre. 2) Das, was wir in uns als Wille erfahren, ist in dieser Welt nichts mehr, denn wenn in dem Willen die Richtung auf eine zu realisierende Objektvorstellung vorhanden ist, es ist derselbe ein [. . .] Wahnsinniger, der sich einbildet, er schiebe die Gestirne. Nichts bewegt er, er ist gÈnzlich unnÝtz, er ist eine gleichgÝltige Begleiterscheinung. Das innere Leben wird durch diese Theorie entmannt, effeminiert. Wenn Nietzsche mit vielem Recht in der Effeminierung der Menschheit den Hauptzug unseres Zeitalters sieht, so ist diese Lehre der richtige Ausdruck einer solchen Epoche. Die Wirklichkeit wird zum Wahn erklÈrt und einer Nervenanstalt zugewiesen, welche die Wurzel aller Werte auf dieser Erde ist. Diese Theorie trÈgt den Charakter der gelehrten Einbildung in sich. Und machen wir nun mit dieser Theorie Ernst, versuchen wir, sie durchzufÝhren, so gelangen wir zu Konsequenzen, durch welche sie in ihr Gegenteil umschlÈgt.243 Der physische Automat, den der Materialismus annimmt, wird getrieben von einer Folge physikalisch-chemischer Molekularbewegungen im Gehirn. Diese bilden eine zeitliche Reihe, deren Glieder eben durch die physikalisch-chemischen Gesetze bestimmt sind. Dieser Reihe geht nun parallel die der psychischen Begleiterscheinung. Alsdann entspricht jeder psychische Vorgang in bezug auf die Glieder, die er einschließt, die Reihe, in der diese auftreten, und die Zeit, welche sie beanspruchen, einer aus gleichwertigen Gliedern in derselben Art verbundenen und in derselben Zeit ablaufenden Reihe von Prozessen im Gehirn. Nun haben wir das Bewußtsein, daß in diesen das Auftreten der Empfindungen von außen physisch bedingt ist, dagegen Vorstellun-

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gen und Urteile durch die Gesetze der Assoziation und Logik in sich zusammenhÈngen. Der materialistische Automat mÝßte also so konstruiert sein, als ob er nach logischen Gesetzen wirke. Die Molekularbewegungen im Gehirn, die von physikalisch-chemischen Gesetzen regiert werden, mÝßten in Wirklichkeit so verlaufen, als wÝrden sie von den Gesetzen der Logik regiert. So findet sich nun der Materialist zur Annahme wie eines Wunders getrieben, welches mit jeder Art von Aberglauben eines mittelalterlichen Menschen getrost konkurrieren kann. Atome, welche durch blinde KausalitÈt in ihre Lagen und Beziehungen gebracht sind, wirken zusammen. Chemisch-physikalische Prozesse finden zwischen ihnen statt, deren Produkt ist im Gehirn. Auch in diesem herrschen dieselben Gesetze. Es ist ein Automat, und in diesem Automaten bringt nun der blinde notwendige mechanische Ablauf der Prozesse logisches, und zwar logische Normen erfindendes Denken hervor. Denken wir uns diesen Automaten, wie er eine mathematische Entdeckung macht. Derselbe wÈre zunÈchst einer Rechenmaschine zu vergleichen. Diese vollzieht die rechnerischen Operationen, Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division usw. Bietet ihr der Nervus opticus eine algebraische Gleichung, so fÈngt sie an zu arbeiten. Sofort schieben sich die Zahlenbilder hin und her, und zwar, da doch alle diese Operationen einmal erfunden werden mußten, muß in diesem Automaten die Anlage, diese Operationen in allen ihren Verbindungen aus sich herauszuwickeln, gegeben sein. Nun ist aber die Rechenmaschine zwar ein Automat, aber ein Automat, den ein Erfinder so geregelt hat, daß ein Inbegriff von Zahlenkunst in ihm steckt. Die mathematische Leistung dieses Automaten ergibt sich aus der vorher in ihn hineingelegten Mathematik. Diesen Automaten benutzt in freier Weise nun ein mathematisch geschulter Kopf. So erst entstehe aus dessen frei kombinierender TÈtigkeit die mathematische Entdeckung. Ganz derselbe Kopf [kann] ein Philosoph sein, vielleicht sogar wie Haller noch eine Dichterphantasie neben der philosophischen in sich beherbergen. So gelangt man zu der Konsequenz, daß ein logisches Denken diese physikalisch-chemischen Gehirnprozesse durchdringen und beherrschen muß. Und so kehrt sich beim Ausdenken des materialistischen Standpunktes dieser in einen idealistischen um, nach welchem das Denken die Unterlage der Hirnprozesse ist. Diese ErwÈgung wird noch verstÈrkt, wenn man das VerhÈltnis der Ideenassoziation zum logischen Denken ins Auge faßt. Jenes verlÈuft ohne in sich die Regel fÝr eine Korrektur zu tragen. Wo aber logische, Èsthetische und moralische Normalgesetze auftreten, da findet eine selbsttÈtige Verneinung und Kritik des durch den Automaten Gelieferten statt. Wunderbar zu denken, daß in die Molekularbewegungen eingeschaltet sei oder Ýbergeordnet ein System, welches diese spontane Kritik Ýbt.

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Wir mÚgen uns vorstellen, wie wir wollen, entweder in die Natur verlegen wir als deren Grundlage das spontane244 intellektuelle VermÚgen, das in uns waltet, oder wir setzen es mit dem Automaten in Wechselwirkung. Der offene wie der verschleierte Materialismus kÚnnen nicht durchgefÝhrt werden. Von neuem aber treten wir vor die Wahl zwischen Parallelismus und Wechselwirkung in bezug auf die Art, wie denn das VerhÈltnis konstruiert werden soll. Und von neuem drÈngt sich auch in dieser Beziehung wieder die UnmÚglichkeit einer ganz adÈquaten Konstruktion uns auf.

§ 9. Idealistische Umdeutungen der parallelistischen Lehre und Phantastik245 Denn was wÈre einfacher als nunmehr den Standpunkt der Begleiterscheinungen zum Umkippen zu bringen? Mehrere GrÝnde treiben in dieser Richtung. Will man die Lehre von der lÝckenlosen KausalitÈt des inneren Lebens festhalten, so wird man hierauf hingestoßen. Will man diese lÝckenlose KausalitÈt festhalten und erwÈgt, daß das Innere allein uns unmittelbar gegeben ist, so wird man darauf hingestoßen. Und geht man von der Erfahrung eines Kausalzusammenhangs der psychischen Tatsachen untereinander aus, so wird man wieder auch von hier aus dazu hingestoßen. Denn der Kausalzusammenhang ist entweder im Psychischen nirgend, dann haben wir es hier mit wesenlosen Reflexen zu tun, oder er ist Ýberall. Dann246 aber entsteht die Frage: Ist eine Einwirkung des Psychischen auf das Physische von uns ausgeschlossen worden, dÝrfen wir dann eine von Physischem auf das Psychische stattfindende gelten lassen? UnmÚglich. Und auch nicht notwendig. Denn das Physische ist ja doch nur Erscheinung an dem Bewußtsein. Hierzu kommt, daß das Innere in dem Außen stecken muß, wenn es in der aufsteigenden Entwicklung nicht von außen als ein Wunder hinzutreten soll. Sonach legt auch diese metaphysische Ansicht dem KÚrperlichen Ýberall ein Geistiges unter. Der Ton, der mein Ohr trifft, wird nicht durch die Erzitterung der Luft hervorgerufen, sondern die Empfindung als ein innerer Zustand hat einen inneren Zustand in dem Instrument oder der Glokke zu ihrer Antezedens. Sehr verschieden sind die metaphysischen Ansichten, welche von solchen Betrachtungen aus sich gebildet haben. Sie reichen von dem zurÝckhaltenden Idealismus von Lange und Liebmann bis zu den phantastischen Spekulationen, die Fechner schuf und denen sich in irgendeiner Art Wundt, Volkelt,

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Paulsen angeschlossen haben. Die Phantasie hat in diesen Spekulationen ungemessene Bahn. Hat erst die RÈumlichkeit keine objektive RealitÈt, so tauchen wir in die Nacht jener IdentitÈt, von der Hegel sagte, daß alle Katzen in ihr gleichmÈßig grau sind.247 Es ist nicht mehr Philosophie, sondern Roman, was wir lesen. Anstatt des Denkens, welches nun das Leben zwingt, treten wir in ein Denken, das mit [durch] Bilder angereicherten MÚglichkeiten spielt. Es kann sein, daß Geist und KÚrper derselbe Lebensprozeß sind, von innen angesehen und von außen.248 Es kann sein, daß der KÚrper ein System von Innerlichkeiten ist, welche dem Seelenleben seine Leistung ermÚglichen. Und hier geschieht nun ein Wunderbares und doch eigentlich SelbstverstÈndliches: auch die wenigen Linien, von denen aus die Spekulation ihre beliebigen Kurven beschrieb, beginnen zu erlÚschen. Kein Grund ist nun noch vorhanden, KausalverhÈltnisse zwischen unserer inneren Lebenseinheit und deren Umgebung auszuschließen, da hier Ýberall Geistiges auf Geistiges wirkt. Kein Grund ist mehr vorhanden, in diesem Ýberall geistigen Zusammenhang, der alle Oszillationen begleitet, Willensimpulse nicht eingreifen lassen zu wollen. Ebenso ist nun auch nicht abzusehen, warum Physisches und Psychisches einander gerade Èquivalent sein mÝssen. Warum soll sich nicht nur ein niederes Gebiet des Geistigen abspiegeln in der KÚrperlichkeit? Alle Tatsachen, die wir bisher kennen, sprechen doch mehr hierfÝr als fÝr die Annahme einer vÚlligen Korrespondenz. Theorie der AuslÚsung249 Ein anderer Weg Úffnet sich noch: Vielleicht sind die psychischen VorgÈnge Wirkungen der physischen. Freilich kann man eine •quivalentzahl zwischen Luftschwingungen und Tonwahrnehmungen, dann wieder zwischen einer Intention und Muskelkontraktionen nicht aufstellen. Trotzdem kÚnnte die Erhaltung der Energie in Geltung verbleiben, wofern sie auch fÝr die psychischen VorgÈnge in RÝcksicht ihrer Entstehung und ihrer VerknÝpfung Geltung behielte. Dann wÝrde alle Erregung des Nervus opticus eine Èquivalente psychische Wirkung in der Gesichtswahrnehmung haben. Ebenso wÝrde die Intention ein •quivalentes in der motorischen Erregung haben. Ergebnis Alle Theorien erweisen sich als AnnÈherungen an einen Tatbestand des Lebens, welcher im letzten Grunde unerkennbar bleibt. Jede dieser Theorien hebt eine Seite des Tatbestandes hervor, welche besteht, und vernachlÈssigt andere. Keine dieser Theorien erschÚpft das Leben selber. 1) Zweifellos besteht

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die AbhÈngigkeit des intellektuellen Prozesses vom Zusammenhang der physischen Prozesse. 2) Zweifellos fordert anderseits die gÈnzliche HeterogenitÈt der Bewußtseinseinheit und eines materiellen Atomkomplexes das ZugestÈndnis, daß in der ersteren ein Mehr ist, als in dem zweiten gegeben wird. 3) Betrachtet man nun den Tatbestand unbefangen, so ist nicht das ganze geistige Leben das einfache Innen eines kÚrperlichen Außen. Diese Hypothese ist die einfachste, aber sie ist auch die roheste. Im Psychischen findet sich manches, zu dem ein physisches •quivalent nicht gedacht werden kann. Wir mÝssen uns begnÝgen, das Unzureichende der Hypothesen erkannt und dem Studium des Lebens selber freie Bahn gemacht zu haben.

§ 10. Das Ergebnis. Drei Grundgesetze Ýber die universelle Beziehung des Physischen und des Psychischen I. Drei Grundgesetze Ýber die universelle Beziehung des Physischen und des Psychischen Wir ziehen das Resultat. 1. Das erste erkennbare allgemeine gesetzliche VerhÈltnis zwischen den materiellen und den psychischen VorgÈngen ist das der AbhÈngigkeit psychischer VorgÈnge direkt von dem Gehirn- und Nervensystem, mittelbar von den im KÚrper verlaufenden physischen Prozessen, demnach auch weiter vermittelt von dem ganzen physischen Milieu, in welchem der Mensch lebt. Das 18. Jahrhundert, insbesondere Kant und Newton [?] haben gezeigt, wie von der astronomischen Stellung der Erde ab bis zu dem Klima und der ErnÈhrungsmÚglichkeiten der Mensch ein Annex des ErdkÚrpers ist und physisch bedingt. Die Lehre von der AbhÈngigkeit der psychischen VorgÈnge vom Nervensystem besagte, daß wir nicht denken ohne Gehirn, daß in diesem jederzeit eine Bedingung fÝr das Auftreten psychischer Prozessen gelegen sei. Àberall stoßen wir auf den Einfluß des kÚrperlichen Zustandes auf die psychischen Leistungen. Es gibt keine psychische Leistung, welche nicht von der Verfassung des Gehirns und Nervensystems bedingt wÈre. Hiermit ist selbstverstÈndlich nichts darÝber gesagt, ob in dem psychischen Leben noch andere Funktionen außer den materiellen Prozessen wirksam sind. 2. Der Àberblick Ýber die organische Welt liefert uns alsdann ein zweites umfassendes gesetzliches VerhÈltnis. Wir wollen dieses als Korrespondenz oder Parallelismus des Physischen und Psychischen bezeichnen. Der Ausdruck psy-

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chophysischer Parallelismus ist bereits vieldeutig geworden. Ich verstehe unter Korrespondenz die Tatsache, daß in der gesamten organischen Welt eine bestimmte Beschaffenheit, Struktur und Differenzierung des Nervensystems mit einer bestimmten Beschaffenheit, Struktur und Differenzierung der seelischen Leistungen verbunden sind. Dieser Satz schließt sich an den frÝheren genau an. In der Entwicklungsreihe der tierischen Lebensformen differenzieren sich Sinnesorgane, Nervensystem, Gehirn bis zum Menschen als dem verschlungensten, kunstreichsten Gebilde der uns bekannten Natur. Dieser Differenzierung entspricht die Artikulation des psychischen Lebens und schließlich die im Menschenhaupte sich bewegende Welt Shakespeares und Goethes. Hieraus ergibt sich dann weiter, daß in der organischen Welt die Struktur der Meduse, die im Wasser treibt, mit einem anderen Seelenleben verbunden ist als die des Adlers, der in der Luft kreist. Beide kÚnnten nicht ihr Seelenleben gegeneinander umtauschen. Dieses ganze VerhÈltnis ist aber nur denkbar, weil an bestimmte kÚrperliche Einrichtungen bestimmte Arten des Reflexes, der Verbindung von Eindruck und Bewegung geknÝpft sind. Ebenso an bestimmte Grundformen von Sinnesapparaten, das Sehen, HÚren usw., dann wieder an bestimmte Struktur der Nervenmaterie das Haften der einzelnen Bilder und die MÚglichkeit ihrer Reproduktion. Weiter als bis zu diesem Punkt reicht unsere Kenntnis von dieser Korrespondenz nicht. Sofern also dieser Begriff nur Ausdruck eines beweisbaren Gesetzes sein soll, darf er nicht mehr als dies besagen. 3. Ein drittes Gesetz des VerhÈltnisses des Physischen und Psychischen ist durch das, was an der Entwicklungslehre als bewiesen anzusehen ist, der Psychologie vorgeschrieben. Es gibt innerhalb der psychischen Welt einen Vorgang der Differenzierung des psychischen Lebens; analog der physischen Differenzierung des Organismus hat sich in der Tierwelt stets auf der Grundlage einer niederen Stufe des psychischen Lebens eine hÚhere entwickelt. In dieser Stufenfolge findet zunehmend Arbeitsteilung, entsprechend zunehmende Differenzierung und Beziehung der Funktionen statt. Ihr entspricht dann die zunehmende Fortbildung der Struktur des Organismus. Es wÈre widersinnig anzunehmen, daß auf jeder neuen Stufe eine SchÚpfung von Seelen eingetreten sei. Und wir haben keinen Grund anzunehmen, daß bei dem außerordentlichen Schritt vom hÚchsten SÈugetier zum Menschen nicht auch dasselbe allgemeine VerhÈltnis stattgefunden habe, nach welchem die verschiedenen Stufen der Seelenentwicklung in einem inneren VerhÈltnis zueinander stehen. Dabei ist die Natur dieses inneren VerhÈltnisses nicht weiter aufzuhellen.

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II. Diese drei Grundgesetze sind nun aber mit jeder metaphysischen Deutung vertrÈglich. Die Wissenschaft strebt fortschreitend das Geheimnis der Wirklichkeit zu enthÝllen. So wenig aber wie am Horizonte Himmel und Erde sich zu berÝhren scheinen, so scheinen positive Wissenschaft und Weltansicht zusammenzutreffen, falls nur diese positive Wissenschaft wacker fortmarschiert. Dieselbe TÈuschung waltet hier und dort. Aus der Tiefe der persÚnlichen Natur des Menschen entspringt die Weltansicht. Sie ist nur insofern allgemein, als diese Natur es ist.

§ 11.250 Die Eigenschaften des seelischen Lebens Aber im Seelenleben selber treten Eigenschaften auf, welche diese drei SÈtze Ýber den psychophysischen Zusammenhang nach einer anderen Seite ergÈnzen. Die seelischen VorgÈnge zeigten sich uns als den kÚrperlichen parallel. Ebenso wahr und wichtig aber ist die Erkenntnis von der Unvergleichbarkeit beider Gebiete. ZunÈchst stellen wir auf einmal fest, daß eine Bewegung und eine Empfindung zwei unvergleichbare Tatsachen sind, sonach die Behauptung ihrer IdentitÈt ein Nonsens ist. Schon die Frage, ob aus der Mehrheit der Atome eine Empfindung ableitbar sei, ist tÚricht. Die mechanische Auffassung eines tierischen KÚrpers entsteht aus dem Absehen von der Tatsache der Empfindung. Wie kÚnnte man nun Empfindung – einen Erfahrungstatbestand – nicht etwa in gesetzliches VerhÈltnis zur Bewegung setzen, sondern gÈnzlich aus der Bewegung ableiten wollen? Ferner gehÚren Empfindung und Bewegung in bezug auf ihre erkenntnistheoretische Provenienz ganz verschiedenen Gebieten an. Demnach sind sie unvergleichbar. Es ist sonach gÈnzlich sinnlos, ihre IdentitÈt zu behaupten. So sind die Elemente des seelischen Lebens einander unvergleichbar. Man kÚnnte nun annehmen, das Leben bestÝnde in der ganz gleichen Verkettung unvergleichbarer Einheiten. Aber bei genauerem Zusehen zeigt sich nun weiter die gÈnzliche Verschiedenheit der Art und Weise, wie Psychisches untereinander verbunden ist, und der Art, wie wir physische Erscheinungen durch Denkmittel bestimmen. Auch hier mÝssen wir sofort festlegen, daß wir es nicht mit zwei unvergleichbaren Wirklichkeiten zu tun haben, sondern mit einem in der inneren Erfahrung gegebenen Zusammenhang von Wirklichkeit und einer von außen zwischen

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PhÈnomenen herbeigefÝhrten VerknÝpfung. Jede Wahrnehmung steht in uns in Verbindung mit dem Selbstbewußtsein. Immer ist einer dabei, welcher diese Wahrnehmung hat. Ein rÈtselhaftes Bewußtsein von Selbigkeit des Ich in der Koexistenz und Abfolge seiner ZustÈnde scheint das Außereinander von Elementen im Seelenleben ganz aufzuheben. In der Einheit des Bewußtseins, welches mehrere TÚne nacheinander unterscheidet, vergleicht, nach AbstÈnden mißt, wird selbst das in der Zeit Folgende im unteilbaren Akte der Vergleichung zusammengehalten. Und mit dem Bewußtsein der Selbigkeit ist das der Verantwortlichkeit fÝr lÈngst vergangene Handlungen verbunden. In jedem Satz, in welchem ich ein Subjekt mit einem PrÈdikat verbinde, vollzieht sich die Verbindung selber in einem unteilbaren Bewußtseinsakte. Lehnen wir nochmals jede metaphysische Formel ab, welche das Erlebnis zu einer Substanz verdichtet. Die Wissenschaft weiß nichts von einer seelischen Substanz, aber das Erlebnis selbst darf nicht zugunsten bloßer Hypothesen Ýber PhÈnomene [weg]disputiert werden. Diese Unvergleichbarkeit erweist sich bei fortschreitender Analyse als eine noch tiefer bestimmbare. Ich empfinde hintereinander denselben Ton von derselben Klangfarbe leise und dann stark. In dem Bewußtsein, welches diese beiden TÚne verbindet, entsteht nicht ein dritter von mittlerer StÈrke, sie verschmelzen nicht zu einer Resultante, vielmehr werden im tÈtigen Urteilen beide TÚne festgehalten, miteinander verglichen und gleichzeitig ein dritter Bewußtseinszustand des Grundunterschiedes251 gebildet. Endlich stehen die Leistungen in diesem Seelenleben in einem Zweckzusammenhang, welcher von unserem Triebleben ausgeht und vermittelst der Aufmerksamkeit sich auch der Wahrnehmungs- und Vorstellungsbildung unterwirft. Dagegen lehnt das Naturerkennen jeden Zweckzusammenhang der materiellen VorgÈnge ab.252 III. Alle metaphysischen Theorien entspringen nun aus dem BedÝrfnis, das, was uns so rÈtselhaft als Einheit des Lebens gegeben ist, das Zusammen von AbhÈngigkeit, Parallelismus und Unvergleichbarkeit durch eine Formel vergleichbar zu machen. Es fehlen aber augenscheinlich die Data fÝr eine solche Formel. Daher ist keine derselben imstande, ich mÚchte sagen, den Koinzidenzpunkt dieser verschiedenen Grundeigenschaften des Lebens zu erfassen. Hieraus entspringt, daß jede dieser Formeln nur eine Seite des rÈtselhaften Zusammenhangs zum Ausdruck bringt. Sie sind also alle nur AnnÈherungen an ein unbekanntes VerhÈltnis, das sich schließlich in unserem einheitlichen LebensgefÝhl ganzer und wahrer ausspricht als in jeder dieser Formeln. Sicher tritt nicht von außen eine Seele in den Raum des KÚrpers. Aber ebenso sicher

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sind die psychischen VorgÈnge nicht bloß Begleiterscheinungen der physischen. Aber die Tatsachen der Korrespondenz und zugleich der Unvergleichbarkeit deuten auf ein VerhÈltnis des Psychischen und Physischen, welches tiefer liegt. Keine Hypothese kann dasselbe erreichen. Daher sind solche metaphysische Hypothesen in der Psychologie zu vermeiden. Zwischen dem Psychischen und Physischen besteht gewiß kein so leicht faßbares VerhÈltnis, als solche Hypothesen annehmen. Eine Wechselwirkung zwischen einer Seelensubstanz und physischen Tatsachen, vergleichbar der Wechselwirkung unserer KÚrper untereinander: das ist sicher eine zwar recht massive, aber unserem einheitlichen LebensgefÝhl und der Entwickelungslehre widersprechende Ansicht. IdentitÈt ist ein Nonsens, Begleiterscheinungen widersprechen den Tatsachen des Willens, der Einheit des Bewußtseins, des Selbstbewußtseins. Und der Spiritualismus widerspricht den physischen Tatsachen. Auf diese letztere Einsicht lege ich besonderes Gewicht, weil der Spiritualismus zu einer Art von Modephilosophie derer, welche moderantistisch es weder mit den Naturforschern und deren Monismus noch mit der Theologie verderben wollen, geworden ist. Die Aufgabe dieser Lehre wÝrde sein, an den physischen VorgÈngen VerhÈltnisse aufzufinden, nach welchen diese am zweckmÈßigsten als bloße ReprÈsentationen psychischer Tatsachen aufgefaßt wÝrden. Ich wÈhle ein Beispiel. Ist das Licht oder der Klang in Wirklichkeit eine psychische Tatsache, nicht eine physische, dann mÝßte die Art der Àbertragung in den Sinnesorganen hiermit Ýbereinstimmen. Wenn nun hier Physisches mit Psychischem in Beziehung trete, so wÝrde eine Einrichtung wie die des Ohrs als ReprÈsentation des entsprechenden Vorgangs ihre VerstÈndlichkeit ganz verlieren, denn hier wie bei dem Auge liegen Apparate vor, welche eine Anpassung der Èußeren VorgÈngen an den psychophysischen Vorgang der Wahrnehmung enthalten, so bei dem Ohr die Einrichtungen, welche den Schall leichter auffaßbar machen und die Unterscheidung erleichtern. Nirgend in diesen Theorien geht es ohne VerstÝmmelung der Tatsachen ab. Arme und Beinen werden ihnen abgehackt. Auch bedarf eine wirkliche Erfahrungswissenschaft der Psychologie aller dieser Hypothesen nicht. Sie geht davon aus: Das Milieu bedingt die physikalisch-chemischen Prozesse im KÚrper; die aus diesem Milieu stammenden Reize rufen in den Sinnesapparaten VerÈnderungen in den ZustÈnden der Sinnesnerven hervor; diesen sind Empfindungen und GefÝhle regelmÈßig zugeordnet. Diese regelmÈßige Verbindung ist der Tatbestand, an den wir uns halten: Er wird durch keine beweisbare Theorie aufgeklÈrt. Wir wissen ferner nicht, ob diesem ganzen Nervenvorgang im Nervus opticus etwa diese Empfindung

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zugeordnet ist oder ob sie mit der Erregung der Zellen, welche die Endstation bilden, ausschließlich verbunden ist. Dann kÚnnen wir weiter feststellen, daß das Fortbestehen von Wahrnehmungen als Vorstellungen und ihre Reproduzierbarkeit zugeordnet ist der Funktion von Nervenzellen in der Großhirnrinde. Und wieder wissen wir nun weiter, daß diese Empfindungsaggregate, Vorstellungen, in gesetzlichen Beziehungen untereinander stehen, zugleich aber die Erhebung der einzelnen Partien in helles Bewußtsein und das Auftreten energischer Prozesse in ihnen durch eine wÈhlende, heraushebende, Bewußtsein verstÈrkende TÈtigkeit bedingt ist, welche wir als Aufmerksamkeit bezeichnen. Hiermit treten wir dann in psychische VorgÈnge ein, welche untereinander durch einen umfassenden Kausalzusammenhang verbunden sind, dagegen keine uns bekannten •quivalente in GehirnvorgÈngen haben, wohl aber als Bestandteile Empfindungsaggregate und GefÝhle enthalten, welche an solche physischen •quivalente gebunden sind. Innerhalb dieses Zusammenhangs vollzieht sich nun aber immer der Àbergang von Aufnahme der EindrÝcke zur RÝckwirkung derselben. Sonach treten aber in diesem Zusammenhang TriebvorgÈnge, Willensimpule auf. Diesen sind dann wieder in deutlich faßbarer Weise BewegungsvorgÈnge zugeordnet. Schon die AufmerksamkeitsvorgÈnge haben ihnen leise Bewegungen in den Muskeln der Sinnesorgane und des Hauptes zugeordnet. Dieselben gelangen durch mit ihnen verbundene Empfindungsaggregate zu distinktem [?] Bewußtsein. Wie genau man noch diese VorgÈnge analysieren mag, wie ernstlich man sich noch um die ursÈchlichen VerhÈltnisse zwischen ihnen bemÝhe: die angewandten Begriffe von Korrespondieren, sonach einander Zugeordnet-Sein des Psychischen und Physischen, von ursÈchlichen VerhÈltnissen innerhalb des Physischen reichen vollstÈndig aus, dasjenige auszudrÝcken, was wir wirklich wissen. Jeder Schritt darÝber hinaus kann zwar sehr große Klarheit in bezug auf die Verbindung der Tatsachen gewÈhren. Dies geschieht aber dann auf Kosten der Sicherheit des psychologischen Aufbaus. Wir mÝssen hoffen, daß der Fortschritt, insbesondere in der Analyse der lebendigen Materie des Protoplasmas der Zelle, andrerseits des Gehirns, weitere AnnÈherungen an das tiefer liegende, uns unbekannte VerhÈltnis ermÚglichen wird. Einstweilen ist ein anderes zu wÝnschen. Die Naturforschung hat als leitende Maxime Auffindung eines anschaulichen geschlossenen Zusammenhangs der physischen PhÈnomene. Sind schon diese Tatsachen schließlich Bewußtseinstatsachen, so sind die mechanischen Begriffe Atom, Masse, Mechanismus Denkmittel, eine einfachste Art von Ordnung diesen Erscheinungen zu geben. Insbesondere der Physiker Mach hat dies hervorgehoben. Das Naturerkennen ist daher vollberechtigt, einen ausschließlich physischen mechanischen Zu-

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sammenhang der Erscheinungen zu verfolgen, das Psychische aber zu vernachlÈssigen. In dem Begriff der Begleiterscheinungen drÝckt sich diese Stimmung aus. Auf dieses VerhÈltnis des Physischen zum Psychischen fÈllt ein Licht von Tatsachen der inneren Erfahrung aus, welche freilich schwer aufgefaßt werden kÚnnen und der Zeugnisse vieler Personen zu ihrer Feststellung bedÝrfen wÝrden. Es sind Erscheinungen, die eintreten, wenn die Decke des Schlafes sich langsam hebt, das Bewußtsein allmÈhlich aufhÚrt. Dann vermag man noch einen Gang der Vorstellungen zu erforschen, der etwas Absurdes hat. Vorstellungen folgen einander, welche durch kein Band eines irgendwie beweisbaren Zusammenhangs miteinander verbunden sind. Ein Analogon [?] liegt in der Ideenflucht der Geisteskranken. Das Charakteristische ist nun, daß die als Spiel der Ideenassoziationen bezeichneten ZustÈnde von diesen in bestimmter Weise unterschieden werden kÚnnen. Sie sind bereits durch Ausschließung des Absurden gekennzeichnet. Dies kommt daher, daß das Interesse hier schon wirkt und so elementare Prozesse unter Mitwirkung des Zusammenhangs des Seelenlebens auftreten.

§ 12. AnfÈnge einer neuen Psychologie Doch regen sich Ýberall einzelne BemÝhungen, welche eine neue Epoche der Psychologie einzuleiten scheinen. Die Seele der Psychophysiker ist ein Automat, sie gleicht einer Spieluhr, das RÈderwerk derselben fÝhrt ein System von Bewegungen aus; dann wird eine gewisse [?] Melodie abgeorgelt. Diese Seele ist ein furchtbar langweiliger Mechanismus. Die Langeweile, welche der einfÚrmige und mechanische Charakter dieses Automaten ihm selber wie den Zuschauern erregen muß, wird dann noch erhÚht durch die gÈnzliche Nutzlosigkeit der psychischen Arbeit, welche dieser Automat leistet. Jede Aufregung desselben ist resultatlos, vÚllige PassivitÈt wÈre das wahre Verhalten dessen, welcher diesen Standpunkt einnimmt. LÈßt man alsdann diesen Standpunkt in Fatalismus umschlagen, so konstruiert man das Wirkliche durch Hypothesen, die anerkanntermaßen nur MÚglichkeiten reprÈsentieren, anstatt es zu sehen. Es ist, als wollte jemand anstatt die Urkunden der Reformationsgeschichte zu lesen, lieber aus dem Zusammenhang der europÈischen Geschichte einen mÚglichen Verlauf der Reformation konstruieren. Den Beginn einer neuen Auffassung enthielt der Darwinismus in sich. Das Agens fÝr die Ausbildung der organischen Formen war in diesem der Wille, der sich und die Gattung zu erhalten strebt, der Kampf um das Dasein. So trat

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der Wille in den Mittelpunkt der Betrachtung des tierischen Lebens, und zugleich war nun die natÝrlichste Annahme, daß dieser Wille fÈhig sei, sich der Außenwelt anzupassen und VerÈnderungen in dieser zu erwirken. Mit dem Darwinismus traf Schopenhauers Lebensphilosophie zusammen. Diese ging aus einer von allen psychologischen Hypothesen freien Betrachtung des Lebens hervor. Auch sie stellt den Willen in den Mittelpunkt. Eine allgemeinere Bewegung machte sich geltend, welche die Wirklichkeit geistiger Art unbefangener zu bewahren strebte. Bemerkenswert sind in dieser Richtung Carlyle in England und Ranke bei uns. So treten nun psychologische Werke hervor, welche die zwei genannten Hypothesen zurÝcktreten laßen. Horwicz psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage[, Erster Theil, Halle 1872]. Dann erschienen zwei weiteren BÈnde. Der Verfasser starb und das Werk blieb unvollendet. Aus einem anderen Grunde ist ein zweiter Versuch, eine neue Psychologie aufzustellen, unvollendet geblieben. Brentano in Wien gab 1874 den ersten Band einer Psychologie vom empirischen Standpunkte heraus. WÈhrend Horwicz den Leitfaden der Physiologie zu benutzen suchte, hatte sich Brentano gerade die gÈnzliche Abtrennung des Studiums geistiger PhÈnomene von dem Naturerkennen zum Ziele gesetzt. Die geistigen Tatsachen sollten ganz aus ihnen selber interpretiert werden. Wir sahen, daß eine solche Isolierung der inneren Erfahrung diese zur Unfruchtbarkeit verurteilte. Schon in diesem Bande herrschte die Klassifikation der psychischen Tatsachen vor. Am meisten Aufsehen, aber auch Widerspruch erzeugte es, daß er neben Vorstellen und FÝhlen = Wollen das Urteil als eine dritte, selbstÈndige psychische Funktion setzte. Man kann sagen, daß diese seine Theorie zu einem Kennzeichen seiner Schule geworden ist. Außerhalb dieser Schule aber niemand dieser sonderbaren Ansicht zustimmt. Das Werk blieb liegen, Brentano faßte den Plan, den beschreibenden Charakter der Psychologie noch reinlich durchzufÝhren und eine neue deskriptive Psychologie herauszugeben. Aus seiner Schule stammt dann das bedeutende Werk von Stumpf: Tonpsychologie Band I 1883, Band II 1890. Dies Werk stellt sich ein ganz original gesetztes Problem. Es will monographisch alle psychischen PhÈnomene der Tonwelt interpretieren und hierbei aus dem genauesten Studium dieser PhÈnomene psychologische Einsichten ableiten, welche dann auf die ganze Psychologie ihr Licht verbreiten. Aber die Wendung selber vollzog sich erst in zwei Hauptvertretern der psychophysischen Richtung. Der eine ist Wundt, der andere James. Wilhelm Wundt ging von der Physiologie aus und schloß sich zunÈchst den herrschenden psychophysischen Hypothesen an. Seine ersten Arbeiten betrafen die Messung der Zeit, welche psychische VorgÈnge verwenden. Dann dehnte er in seinem großen psychophysischen Laboratorium seine und seiner

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SchÝler Untersuchungen auf alle psychophysischen Probleme aus. Er gilt im Ausland als der erste unter den lebenden Psychophysikern. Und nun ereignete sich etwas MerkwÝrdiges: Die bestÈndige BeschÈftigung mit psychischen Tatsachen nÚtigte ihn, den herrschenden psychophysischen Standpunkt aufzugeben. Er253 hÈlt an dem Satze fest, daß wir von einer seelischen Substanz nichts wissen, sondern uns nur ein Zusammenhang von VorgÈngen gegeben ist. Aber dieser Zusammenhang entsteht nicht aus der Wechselwirkung isolierter psychischer Elemente, derselbe ist vielmehr in seiner einheitlichen Energie bedingt, welche in einer Stufenreihe von Handlungen den Aufbau des geistigen Lebens hervorbringt. Von der Aufmerksamkeit als einer einheitlichen inneren Willenshandlung geht er aus. Er gibt ihr den Namen der Apperzeption. Ihr Wirken verfolgt er in der Ideenassoziation und im Trieb, dann auf einer hÚheren Stufe254 im kÝnstlerischen sowie logischen Denken und in den willkÝrlichen Handlungen. Es ist dasselbe was Kant als SpontaneitÈt und Schopenhauer als Wille bezeichnet hatten. Das Seelenleben wird hier als eine durch einheitliche Apperzeptionshandlungen bedingte Evolution, als eine Entwicklung aufgefaßt. Ein255 besonderes Verdienst erwirbt sich Wundt durch den Nachweis, wie die Ergebnisse wiederholter Handlungen allmÈhlich im Nervensystem gleichsam zu einem Kapital aufgespeichert werden, das in Werkzeugen der Arbeit angelegt ist, durch welche dann direkte psychische Arbeit gespart wird.256 Ja, Wundt geht noch weiter. Die Aufmerksamkeit ist nach ihm der Willensvorgang, durch welchen EindrÝcke in den Zusammenhang des Bewußtseins eingeordnet werden. Sie wirkt also als eine innere Kraft apperzeptiver Verbindungen der Vorstellungen. Indem auf der hÚheren Stufe die Gedankenbildung nicht mehr von den Teilen zum Ganzen, sondern vom Ganzen zu den Teilen geht, wird diese spontan schÚpferisch. Und hier glaubt nun Wundt, der Metaphysik der Naturwissenschaft eine andere, hÚhere gegenÝberstellen zu kÚnnen. In bezug auf diese lehnt er sich wie auch sonst vielfach an Fechner an.257 Im Geistesleben besteht ein Grundgesetz, durch welches sich dieses von der ganzen Naturordnung unterscheidet. In der Natur herrscht das Gesetz von der Erhaltung der Energie. Dagegen im geistigen Leben herrscht ein Gesetz des Wachstums der Energie. Es findet hier ein extensives Wachstum bestÈndig statt, indem die Mannigfaltigkeit in der geistigen Entwickelung zunimmt. Und es findet ein intensives Wachstum statt, indem die in der Entwickelung entstehenden Werte nach deren Graden wachsen. Dies ist durch eine besondere Art von KausalitÈt258 im geistigen Leben bedingt, nÈmlich auf jeder Stufe desselben ist die Verbindung der Elemente ein neuer Bewußtseinsakt. Dieser enthÈlt eine schÚpferische Synthesis. Dieselbe wird durch die innere Willenshandlung oder Apperzeption erwirkt. Wundt mischt hier in wichtigen Einsichten vorschnelle Generalisationen.

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In der Apperzeptionslehre mÚchte er Ýber die Beschreibung der Tatsachen hinaus. Seine ErklÈrungen sind aber vorschnell hergestellt. Sein Gesetz des Wachstums erhebt einen Anspruch, welchem es nicht zu entsprechen vermag. Sein Begriff des SchÚpferischen lehnt sich unzureichenden ErklÈrungen Lotzes an. Aber in all diesen formelhaften Fassungen bringt er doch solche Erfahrungen wieder zur Geltung, die von der herrschenden Schule zurÝckgedrÈngt worden waren. Sein Standpunkt wird am besten studiert in der 3. Auflage seiner [GrundzÝge der] psychologischen Philosophie[, 2 BÈnde, Leipzig] 1887 und in seinem System der Philosophie[, Leipzig] 1889. Eben ist nun auch die 2. Auflage seiner Vorlesungen Ýber Menschen- und Tierseele[, Leipzig 1892] hinzugetreten. Diese hebt S. 489 auf das Entschiedenste hervor: 1. Nur zwischen den elementaren physischen und psychischen VorgÈngen besteht ein Parallelismus, zunÈchst zwischen physischer Leistung und kÚrperlichen Organen. 2. Er bleibt bei der Anerkennung von zwei in sich geschlossenen Reihen S. 490. 3. Er setzt den Willen und den ursprÝnglich in ihm angelegten Charakter in einen inneren Zusammenhang zu einem transzendenten Geistlichen, zu welchem er herangegangen sei S. 475. 4. Er sucht ihm S. 477 eine Art von Einheit zu retten. 5. Er fordert die Aufhebung des so gegebenen Dualismus von einem spiritualistischen Monismus. Von neuem zeigt dies System, wie in jeder Metaphysik die Auffindung einer Formel, welche die beiden uns gegebenen Ordnungen verknÝpfe, absolut unmÚglich ist. Es ist und bleibt das Verfahren, einen langen Menschen in ein kurzes Bett zu legen. Es ist die Wiederkehr des mittelalterlichen Verfahrens, die Philosophie des Aristoteles und die Theologie des Christentums zu vereinigen. Beide mÝßten verstÝmmelt werden. Eine unbezwingliche Notwendigkeit trieb damals die Menschen dazu, heute lÈcheln wir darÝber. Alle diese Arbeit war vergebens. Noch wichtiger vielleicht ist fÝr die Gestaltung einer kÝnftigen Psychologie das Auftreten eines amerikanischen Psychophysikers (James, Prinzipien der Psychologie [The Principles of Psychology, New York] 1890 2 BÈnde). James verwirft die beiden Hypothesen, auf welche die gegenwÈrtige Psychologie gegrÝndet ist: die psychische Atomistik und den psychophysischen Parallelismus.

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4. Generelle Psychologie Die generelle Psychologie ist aus der geschichtlichen Wirklichkeit ausgesondert. Sie entsteht, indem man absieht von der leiblichen Weise der Menschennatur und von dem ebenso immer und Ýberall gegebenen Zusammenhang dieser Individuen in der Gesellschaft. Und zwar bleibt der Blick auf das gerichtet, was in dem Seelenleben auf der ganzen Erde unter allen Himmelsstrichen und Lebensbedingungen gleichfÚrmig auftritt. Dieses zu erkennen ist das Ziel der generellen Psychologie. Die Abstraktion, in welcher sie verbleibt, muß schrittweise aufgehoben werden, soll sich das Denken des Geschichtlich-Wirklichen bemÈchtigen. Hierbei handelt es sich, mag man Abstraktionen vollziehen oder wieder aufheben, stets nur um die Frage: ob das so hergestellte Gebiet, gleichsam als umfassendes Subjekt fÝr wissenschaftliche Aussagen, in seiner Abgrenzung die relativ gÝnstigste Bedingung fÝr mÚglichst viele und fruchtbare Erkenntnisse enthÈlt. Daher ist der eifrige Streit um die Formierung von Wissenschaften wie Soziologie, Anthropologie, VÚlkerpsychologie, Geschichtsphilosophie nur soweit von reellem Interesse, als er GrÝnde fÝr Untersuchungen enthÈlt, welche die zur Zeit besten fÝr die Gewinnung von Erkenntnissen sind. Auch findet dieser Streit seine Entscheidung erst dadurch, daß eine solche Abgrenzung sich so nÝtzlich fÝr die Erkenntnis erwiesen hat, daß hierdurch ihre Dauer gesichert ist. Immer aber sind Abgrenzungen Mittel zum Zweck, und so lange sie nicht TrÈger großer und gesicherter ErkenntniszusammenhÈnge sind, kÚnnen sie jederzeit durch andere ersetzt werden. Eine solche feste Konstitution hat die generelle Psychologie erhalten. Gleichviel in welchem Umfang die physiologischen VorgÈnge, welche die seelischen bedingen oder ihnen parallel gehen, in die Darstellung einbezogen werden: der Zusammenhang der seelischen VorgÈnge hat sich als Subjekt eines großen Inbegriffs fruchtbarer Erkenntnisse erwiesen. Keine Zergliederung des Nervensystems kÚnnte uns dieselben Erkenntnisse darbieten. Dagegen ist die Abgrenzung derjenigen Gebiete, welche nun entstehen, wenn man die in der generellen Psychologie vollzogenen Abstraktionen schrittweise wieder aufhebt und sich so der geschichtlichen Wirklichkeit annÈhert, und zwar von der Psychologie aus annÈhert, bis auf diesen Tag noch Gegenstand unentschiedener Diskussionen. Ohne daß doch die Annahme einer von diesen Abgrenzungen irgendein Element von Unsicherheit in die Untersuchung brÈchte, weil sie nicht imstande ist, andere auszuschließen oder sich selbst zu erweisen. Ist es doch nur eine ZweckmÈßigkeitsfrage und gar nicht

4. Generelle Psychologie

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ein Streit um Wahrheit, welcher die Gelehrten hier trennt. Die nÈchste Frage ist, ob, wenn man von den angegebenen Abstraktionen bestimmte aufhebt, eine Abgrenzung gewonnen werden kann, welche die gÝnstigsten Bedingungen fÝr fruchtbare Erkenntnisse schafft. Ganz verschiedene Versuche sind gemacht worden, diese Aufgabe aufzulÚsen. Die einfachste LÚsung liegt in der BegrÝndung der Ethnologie vor Augen. Diese hebt alle Abstraktionen auf, sie hat die menschliche Gesellschaft zum Gegenstande, die sie doch nur bis zu dem Punkte [verfolgt], an welchem bei den KulturvÚlkern die Schilderung ihrer Abkunft, Lebensbedingungen und Grundcharaktere Ýbergeht in die Geschichte derselben: diese kann ohne den Zusammenhang mit anderen VÚlkern nicht zerlegt werden und Ýberschreitet so die Grenzen der Ethnologie. EnthÈlt diese Fassung der Ethnologie in bezug auf den Umfang ihres Gegenstandes, gemessen an der ganzen gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit eine EinschrÈnkung, so wÝrde diese im Begriff der Soziologie aufgehoben werden, wie derselbe seit Comte sich entwickelt hat. Aber freilich den festen Boden, welchen wir in der Ethnologie unter den FÝßen hatten, verlieren wir hier. Dies ist keine aus fruchtbaren Erkenntnissen bestehende Wissenschaft, das ist das Projekt einer solchen. Und zwar ein Projekt von unermeßlichem Horizont. Das Projekt einer alle Grenzen hinter sich lassenden wissenschaftlichen Phantasie. – Versuchen wir die zusammengehÚrigen Gruppen, welche als Subjekte von Erkenntnissen besonders geeignet sind, zu bestimmen. Geisteswissenschaften von altem, unantastbarem Verstande sind die Ethnologie, die verschiedenen Wissenschaften der Kultur und der Èußeren Organisation. Auf sie alle grÝndet die Geschichte nebst ihren methodischen Instrumentalwissenschaften, Hermeneutik, Kritik und Philologie. Alle diese Wissenschaften behandeln einzelne ZweckzusammenhÈnge der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt, danach dann schließlich den Zusammenhang in derem geschichtlichen Verlauf, wie er sich von jenen Einzelwissenschaften aus darstellt. So sind die Einzelwissenschaften ausgesondert aus dem Zusammenhang des Lebens selber. Dieses muß also vorher, ehe man in sie eintritt, zu innerer Erfassung so weit gelangen, als dies ohne jede Analysis durch die Einzelwissenschaften mÚglich ist. Das ist eben die Eigenart der Geisteswissenschaften, daß sie von dem lebendigen, erfahrenen Zusammenhang ausgehen und ihn durch eine fortschreitende Analysis zur AufklÈrung bringen. In welchen Gliedern ist uns dieser Zusammenhang nun gegeben? Wie die Menschheit die Erde bedeckt, bildet sie unter den Naturbedingungen auf dem Boden der Erde einen gesellschaftlich-geschichtlichen Zusammenhang, in den jeder von uns hineingeboren wird, von dem er bestÈndig bedingt ist und auf welchem er seine RÝckwirkungen beim Verlassen der Erde

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zurÝcklÈßt. Wie unmÚglich ist es doch auch, nur einen einzigen Lebensmoment loszulÚsen aus diesem Zusammenhang! Wie ganz und gar sind wir doch geschichtlich! So ist es ein Vorgang der Abstraktion, durch welchen die psychophysische und die psychologische Wissenschaft entsteht. Indem von dem Naturzusammenhang und der Gesellschaftung abgesehen wird, entsteht die erste dieser Wissenschaften, indem das Seelenleben nach dem in ihm gegebenen Zusammenhang aufgefaßt und die Ergebnisse der Metaphysik nur als sekundÈr damit benutzt werden, entsteht die zweite Wissenschaft. – Nun handelt es sich um den Lebenszusammenhang, der nicht bloß in der Einzelseele, sondern in der ganzen, geistigen Wirklichkeit besteht. Ist zunÈchst Lebenszusammenhang in der Einzelseele aufgesucht worden, ist von den anderen ZusammenhÈngen abgesehen worden, so wird die generelle Aufgabe, den ganzen Zusammenhang der Lebenswirklichkeit in seinen aus der Analysis durch die Einzelwissenschaften des Geistes erkennbaren GrundzÝgen zu erfassen, nur so aufgelÚst werden kÚnnen, daß nun auch jenseits des Einzelseelenlebens der Zusammenhang, welcher sich durch die ganze Lebenswirklichkeit erstreckt, aufgesucht wird. An welchem Gipfel nun solche ZusammenhÈnge am zweckmÈßigsten zu ergreifen seien, fragen wir uns. Das Zusammenwirken der Menschen in Gesellschaft und Geschichte ist gebunden an die Vermittlung zwischen den Menschen, welche durch die KÚrper stattfindet, und ihre Beziehung zu dem Boden, von dem sie sich nÈhren und auf welchem sie zusammenwohnen, Ýberhaupt den kosmisch bedingten LebensumstÈnden, unter denen sie stehen. Die GebÈrde, der Gesichtsausdruck, die musikalische •ußerung, die Sprache machen die Gesellschaftung der Menschen erst mÚglich, sind aber an die leibliche Organisation gebunden. Sie ermÚglicht erst das Sprechen und das HÚren. Daher kann die Natur der Gesellschaftung nur studiert werden, wenn die in der generellen Psychologie vollzogene Abstraktion, welche den Zusammenhang des Seelenlebens hervorstellt, wieder aufgehoben wird. Ganze Menschen in ihrer leiblich-geistigen Organisation sind in der Gesellschaft verbunden. Zugleich muß die Natur als mitwirkender Faktor in den VorgÈngen der Gesellschaft hinzugezogen werden. Der Zusammenhang zwischen dem Sprechen und HÚren ist nur durch die ErschÝtterungen der Luft und der anderen schallvermittelnden Objekte gegeben, welche die Stimmorgane hervorbringen und die GehÚrapparate aufnehmen. Dasselbe zeigt sich in allen GrundverhÈltnissen der Gesellschaftung; ein solches VerhÈltnis ist Herrschaft, Zwang und Gehorsam. Aller Zwang wird aufrecht erhalten, aller Gehorsam aufgenÚtigt, weil der Herr und der Unterworfene physische Wesen sind. Ein anderer Punkt, ein anderes GrundverhÈltnis ist das Zusammenwirken verschiedener Personen in einem VerhÈltnis eines Zweckes zu seinen Mitteln. Auch dieses setzt nicht nur die VerstÈndigung

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durch physische Mittel, sondern auch das Ineinandergreifen der Bewegungen verschiedener Personen voraus. Die Gemeinsamkeit im GefÝhlsleben ist im grÚßeren Stil immer durch kÝnstlerische oder religiÚse Symbole vermittelt, in welchen die GefÝhlsmacht einer schÚpferischen Person auf andere Ýbertragen wird. Nun haben alle Symbole eine physische Seite, sowohl die, welche der KÝnstler schafft, als die, durch welche der Kultus wirkt. Zugleich sind es in allen diesen VerhÈltnissen die KrÈfte und Formen der Natur in deren Relationen zu unserer physischen Organisation, welche gleichsam den Boden solcher gesellschaftlicher Beziehungen bilden. Jedes Ergebnis menschlichen Zusammenwirkens ist von physischen Bedingungen ganz so abhÈngig als von den seelischen. Jedes Produkt der gesellschaftlichen Arbeit muß aus dem Zusammenwirken des Naturlaufes und unserer physischen Organisation mit den geistigen VorgÈngen verstanden werden. Physische und geistige Faktoren wirken hier Ýberall zusammen. So entsteht uns eine wichtige Einsicht. Will das Erkennen Ýber die Einzelpsychologie hinausschreiten, will es die Gesellschaftung zum Gegenstande machen, so muß es zuvÚrderst die Abstraktion von der physischen Organisation und dem Naturzusammenhang, in dem dieselbe steht, wieder aufheben. Es ist mÚglich, den Menschen psychophysisch zu betrachten, ohne ihn gesellschaftlich anzusehen, aber ganz unmÚglich ist es, die menschliche Gesellschaftung zum Gegenstande zu machen, wenn nicht physische Organisation und ihr Naturzusammenhang hinzugenommen werden. Die Zergliederung von Beziehung physischer zu geistigen VorgÈngen tritt an dieser Stelle nicht zuerst hervor. Breit lagert an dem Eingang in die Psychologie die Darlegung der Sinnesleistungen, welche die Grundlage der einzelnen Klassen von Sinneswahrnehmungen bieten. Sie ist an dieser Stelle unvermeidlich, sie kann auf keine spÈtere verschoben werden, denn die so wichtige Analysis des Wahrnehmungsvorganges innerhalb der einzelnen Sinneskreise und dann im allgemeinen kann ohne sie nicht vollzogen werden. In welchem Sinne Empfindungen anzunehmen sind, ob eine Zergliederung eines zusammengesetzten Empfindungsbestandes stattfindet, wenn ich etwa ObertÚne aussondere, oder ob aus einem zusammengesetzten physiologischen Bestande die Aufmerksamkeit heraushebt, das kann nur durch Hinzunahme der physiologischen Beziehungen entschieden werden. Ebenso enthÈlt die Lehre von den willkÝrlichen Bewegungen unvermeidlich Beziehungen zu physiologischen Tatsachen und VerhÈltnissen. Noch mehr aber als in der Sinneslehre ist hier darauf zu achten, daß nicht Hypothesen Ýber ReflexvorgÈnge und ihre Beziehungen zu willkÝrlichen Bewegungen in diese elementaren Darstellungen sich einschleichen. Ferner wird sich auch der weitere Verlauf der generellen Psychologie solcher einzelnen SÈtzen bedienen.

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C. Zur Auseinandersetzung mit der erklÈrenden Psychologie

Nun259 sind aber die elementaren VorgÈnge des Seelenlebens nur auf der Grundlage der psychophysischen VerhÈltnisse, der Empfindung und des sinnlichen GefÝhls, des Reflexvorganges sowie der Beziehungen im motorischen System darstellbar. Was vom psychophysischen Gesetz aber Ýbrig bleibt, muß in ihrer Lehre von der Gradation der EmpfindungsstÈrke dargelegt werden. So ist ein gutes StÝck von Psychophysik im Eingang von der generellen Psychologie zu behandeln und muß innerhalb der Psychologie hinzugezogen werden. Wogegen die hÚhere Psychophysik, welche von den Beziehungen des ganzen Nervensystems zu den seelischen Leistungen handelt, erst nach der generellen Psychologie erÚrtert werden kann, denn sie ruht ja ganz auf der Vergleichung beider Gebiete miteinander. [. . .] ferner kann auch der Wert der Sinnesleistungen fÝr die Struktur des Seelenlebens nur unter BerÝcksichtigung unseres ganzen VerhÈltnisses zur Außenwelt sowie unserer physischen Organisation bestimmt werden. So kann die generelle Psychologie nur unter BerÝcksichtigung der einfachen und zweifellosen naturwissenschaftlichen und physiologischen Tatsachen ihre eigenen Grundlagen legen. Hierbei ist nun entscheidend, daß sie nur fÝr die Analyse der einzelnen Wahrnehmungskreise einzelne ganz einwandfreie, in der Erfahrung sichere SÈtze benutzt, deren Geltung von den physischen PhÈnomenen zweifellos ist. Es wÈre kÝnstlich und wÝrde die Klarheit der Erkenntnis der Darstellung und BeweisfÝhrung unmÚglich machen, wollte man diese Beziehungen einzelner psychischer VorgÈnge auf einzelne physische PhÈnomene ausschließen, so kÚnnte dies nur auf Kosten der natÝrlichen Angemessen[heit] der Darstellung und der Strenge der Analyse bestehen. Jedoch jede Benutzung irgendeiner hypothetischen Ansicht Ýber das VerhÈltnis der physischen Organisation zu der psychischen muß selbstverstÈndlich sorgfÈltig ausgeschlossen bleiben. Bedient sich ein Psychologe ihrer AusdrÝkke, welche ein Wirken der physischen vermittelst unserer Organisation auf die geistigen VorgÈnge bezeichnen, so ist das zunÈchst nur eine Anpassung an den Sprachgebrauch, welche der Frage Ýber das wirkliche Verhalten beider [?] Klassen von VorgÈngen [?] zueinander nicht prÈjudiziert [?]. Und nach MÚglichkeit ist dieser Sprachgebrauch durch die tatsÈchlich feststellbaren VerhÈltnisse zu ersetzen. Dagegen die generelle Psychophysik erst nach der allgemeinen Psychologie diskutiert werden kann. Sonach bildet die generelle Psychophysik den zweiten Teil dieser fundamentalen und allgemeinen Theorien, die den einzelnen Geisteswissenschaften zugrunde liegen. Sie hat das VerhÈltnis der physischen Organisation zu dem in der beschreibenden und zergliedernden [Psychologie] gefundenen Zusammenhang des seelischen Lebens zu ihrem Problem. Sie wird die Hypothesen prÝfen, welche Ýber dieses VerhÈltnis aufgestellt worden sind. Sie findet in allen diesen Hypothesen eine gemeinsame Voraussetzung, die allgemeinste

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Hypothese auf diesem Gebiet. Das ist die Voraussetzung, daß aus unserer gegenwÈrtigen Kenntnis beider Gebiete eine einfache und rationale Annahme abgeleitet werden kÚnne. Ich werde zeigen, daß dies nicht der Fall ist; ich will dartun, daß jede dieser Annahmen der mÚglichen, einfachen Annahme nicht in natÝrlichem Einklang mit unseren Erfahrungen ist. So sind wir auch hier auf Beschreibung und Zergliederung des Lebenszusammenhangs, wie er sich in unseren Erfahrungen darstellt, angewiesen. Und zwar wird es sich dann darum handeln, diesen Lebenszusammenhang durch die einzelnen Hauptteile der seelischen Struktur hindurch zu verfolgen. Diese Beschreibungen bilden eine wichtige Grundlage des folgenden Teiles, welcher die durch die Gesellschaftung bedingten psychischen VorgÈnge zum Gegenstande hat. So bedingt die Beschreibung des ganzen Gebietes von AusdrucksvorgÈngen, von •ußerung der psychischen Lebendigkeit in GebÈrde und Laut die Lehre von Entstehung und Natur der Sprache. Die Beschreibung der •ußerung von GefÝhlen, welche dieselben Tatsachen begrenzter und genauer behandelt, ermÚglicht die fÝr die Gesellschaftslehre so wichtige Theorie vom symbolischen Ausdruck. Die Beschreibung des Zusammenhangs der Aufmerksamkeit und ihrer willkÝrlichen Bewegungen mit physischen Bedingungen [?] ermÚglicht die Lehre vom Arbeitsaufwand, der Teilung der Arbeitsleistungen, welche eine grundlegende Stellung innerhalb der Gesellschaftslehre einnimmt. Diese Organisation des psychophysischen Ganzen steht nun unter den Bedingungen der natÝrlichen UmstÈnde. So finden wir hier eine neue, allgemein durchgehende Beziehung, welche abgesondert und fÝr sich studiert werden kann. Es ist wieder eine Abstraktion, welche wir aufheben, indem wir nun diesen ganzen Menschen in den Naturzusammenhang mit seinen natÝrlichen UmstÈnden setzen, in welchem er sich entwickelt und welchem er sich in seinem Wirken bedient. So ist der durchgreifende Zusammenhang der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit, welcher jenseits der Einzelpsychologie liegt, als ein Zusammenhang des Seelenlebens wie der physischen Organisation des ganzen Menschen mit den Naturbedingungen, unter denen er lebt, der Individuen untereinander in der Gesellschaft darzustellen. – Indem diese [zu] einem fundamentalen System von Erkenntnis zusammentreten, enthalten sie den ganzen durchgreifenden Zusammenhang der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit, soweit dieser ohne die Analysis durch die Einzelwissenschaften des Geistes erkannt werden kann. Ich betrachte eine Spracherscheinung: Die Faktoren des seelischen Vorgangs, der physischen Organisation, des Mitwirkens der Natur, der Gesellschaftung wirken in ihr zusammen. Sonach ist methodisch richtig, sie vorher zu studieren. Dasselbe ist der Fall, wenn ich ein ErbschaftsgeschÈft oder den Tanz-Schamanen ins Auge fasse; auch hier wirken die

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geschichtlichen VerhÈltnisse innerhalb der verschiedenen Faktoren zusammen. Àberall dasselbe; ich muß das Wirken dieser Faktoren in den psychischen Produkten, den Zusammenhang, der in ihnen liegt und an den ihr Wirken geknÝpft ist, erst studieren, bevor ich zu dem Studium der Hauptklassen innerhalb der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt Ýbergehen kann. Und zwar kÚnnen diese fundamentalen Systeme geisteswissenschaftlicher Erkenntnis zunÈchst auf das Generelle eingeschrÈnkt werden. Wir kÚnnen zunÈchst die in ihnen bestehenden GleichfÚrmigkeiten und Gemeinsamkeiten studieren. Das Problem der Existenz individueller Unterschiede kÚnnen wir zur Seite lassen. Gewiß besteht jedes dieser Systeme nur, wo ein lebendiges Individuum ist, wo lebendige Individuen zusammenwirken, und die generellen Wahrheiten innerhalb dieser Systeme kommen nur dadurch zustande, daß sie sich zugunsten ihrer von der Individuation abstrahieren. Dies wird aber nÝtzlich sein, wenn ich einen solchen Zusammenhang genereller Wahrheiten zu entwickeln imstande bin. Denn das ist nun eine zweite wichtige, methodische Erkenntnis, daß erst dieser ganze Zusammenhang mir den Weg zum Studium der Individuation in der Menschheit bahnt. So ist die Lehre von der gesellschaftlichen Verbindung der Menschen untereinander auf dem Boden der Natur zunÈchst in der generellen Psychologie begrÝndet. Zu ihr tritt dann die Psychophysik, und nun treten dann die Beziehungen des Bodens, auf dem sie sich abspielt, das Klima, in dem eine Gesellschaft sich entwickelt, die anderen Naturbedingungen zu dieser Organisation hinzu. Der Faktor des Zusammenhangs irgendeiner Gesellschaft von Menschen unter den Naturbedingungen, unter denen sie steht und auf welche sie zurÝckwirkt, und der andere Faktor der Vergesellschaftung in dieser Gruppe sind natÝrlich zwei aufeinander bezÝgliche Seiten des konkreten Lebens einer Gesellschaft. Die Untersuchung jedes dieser Faktoren setzt den allgemeinen Bestand des anderen Faktors voraus, die Trennung beider Klassen von Untersuchungen ist durch das methodische Prinzip bedingt, welches in allen vier Untersuchungsgebieten und ihrem VerhÈltnis zueinander wirksam ist. Dies Prinzip ist die Analyse des ganzen Gebietes der gesellschaftlichen Wirklichkeit nach dem in demselben generell wirkenden Faktor; Analysis, welche konstante ursÈchliche VerhÈltnisse zum Ziele hat, ist die Methode der Geisteswissenschaften Ýberhaupt. Das Prinzip, nach welchem die einzelnen Analysen voneinander gesondert sind, ist: durch die Isolierung mÚglichst viele fruchtbare Wahrheiten zu ermÚglichen. Und das Prinzip, nach welchem sie260 aufeinander folgen und ineinander greifen, kann nur sein, eine solche Ordnung zu finden, durch welche die KausalverhÈltnisse mÚglichst so erschÚpfend und so geordnet behandelt werden, daß ein Kausalzusammenhang hergestellt wird,

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durch welchen der261 der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit soweit als mÚglich erkannt wird. Das Problem der Individuation bleibt noch ausgeschlossen, aber gewisse Punkte zu seiner AuflÚsung sind untrennbar von dem generellen Studium dieser großen Faktoren, welche dann die Individuation der Menschheit ermÚglichen. Umfang und Grade der VariabilitÈt der EinzelzusammenhÈnge, welche innerhalb dieser großen Faktoren zusammenwirken, sind in der Entstehung dieser Einzelbeziehungen mitgegeben. Ich verdeutliche dies an der generellen Psychologie. Sie enthÈlt noch keine Theorie Ýber die Hauptunterschiede der Individuen, Ýber Rassen, Temperamente, Hauptformen der Begabung, Ýber die Natur des KÝnstlers, des praktischen Menschen usw. Aber wir kÚnnen die Gesichtswahrnehmung nicht behandeln, ohne die Farbenblinden hinzuzuziehen, die GehÚrswahrnehmung kann nicht erÚrtert werden, ohne die Benutzung [?] der Verschiedenheiten in der Unterscheidung und Bestimmung von TÚnen. Das GedÈchtnis kann nicht in bezug auf das Zusammenwirken der Faktoren in ihm untersucht werden, ohne die Auffassung der außerordentlich weitreichenden Unterschiede in der Dauer [?] der Reproduzierbarkeit, in dem Vorherrschen willkÝrlicher oder unwillkÝrlicher Reproduktionen, in der grÚßeren Leichtigkeit von bestimmten GrundverhÈltnissen aus zu reproduzieren. Dasselbe VerhÈltnis findet sich auch auf dem psychophysischen Gebiet. Man kann die psychophysische Lebendigkeit zu •ußerungen nicht studieren, ohne ihren Umfang und ihre Grade zu beschreiben. Man kann die Natur der willkÝrlichen Bewegungen nicht trennen von den Unterschieden in ihren Energien, Angemessenheit an den Zweck und Zusammensetzung einzelner Teile zu einem Ganzen in ihr. In noch hÚherem Grade findet dieses VerhÈltnis bei dem Studium der Beziehungen zwischen den physischen UmstÈnden und der Organisation statt. Noch mehr tritt hier die Summe der generellen Wahrheiten zurÝck hinter Umfang und Grade der Verschiedenheiten, welche innerhalb der Relationen regieren, die durch diese generellen Wahrheiten ausgedrÝckt werden. Und zwar muß diese Lehre den ganzen Umfang dieser Beziehung zu erschÚpfen streben. Sie muß auch die ZusammenhÈnge, welche bis jetzt nicht zum Bewußtsein erhoben und wissenschaftlich erÚrtert worden sind, umfassen. Wie kÚnnte man den Antagonismus der Menschen, in welchem sie sich zu erhalten streben, und dann wieder ihr gesellschaftliches Verhalten zueinander erfassen, ohne ihre Beziehungen auf dem Boden in Besitz und Eigentum hinzuzubringen? Wie kÚnnte man die ZwecktÈtigkeit der Menschen, welche durch willkÝrliche Bewegungen sich verwirklicht, loslÚsen von den Eigenschaften der Natur, welche das Hervorbringen zweckmÈßiger VerÈnderungen ermÚglicht! Den schÈrfsten Ausdruck haben diese Eigenschaften in der atomi-

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stischen Theorie erhalten. Hier erscheint die Natur als in allen ihren Teilen verschiebbar durch die Hand des Menschen, und zwar trÈgt sie in sich keine Zwecke, welche diese Hand fÝr jede ihr bleibende Art von VerÈnderung eine Grenze setzen kÚnnte, vielmehr ist fÝr den zwecksetzenden Menschen die ganze Natur nur Material, eine Anschauung, welche der vollkommene Ausdruck eines ausschließlich praktischen Verhaltens des Menschen zur Natur ist. Zugleich muß aber diese Theorie ein Eingreifen nach selbstgesetzten Zwecken dadurch als mÚglich zeichnen, daß sie in der Natur GleichfÚrmigkeiten in den Kausalbeziehungen aufzeigt, welche das willkÝrliche Hervorbringen von Zweckwirkungen durch Benutzung der VerÈnderlichkeit der Ursachen ermÚglichen. So hÈngen Demokrit, Bacon und die moderne Naturwissenschaft als Verwirklicher dieses einen großen Gedankens miteinander zusammen. Die andere Seite dieses unseres VerhÈltnisses zur Natur heben diejenigen Theorien heraus, welche von dem ihr innewohnenden Zweckzusammenhang und ihren hierdurch bedingten Formen ausgehen. So entstehen die Lebensbegriffe, welche das Verhalten des Menschen nach den objektiven Beziehungen regeln, die in der Natur selbst und den ihr innewohnenden ZweckverhÈltnissen angebracht sind. Die andere Seite des Studiums der ganzen gesellschaftlichen Wirklichkeit liegt in der Untersuchung des Faktors, welchen die menschliche Gesellschaftung bildet.

5. *Die Bestandteile des Seelenlebens

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5. *Die Bestandteile des Seelenlebens

[Erster Teil] Erstes Kapitel. Wir unterscheiden an dem Seelenleben seine zustÈndlichen Bestandteile und die VorgÈnge, in denen sie entstehen, bestehen, untergehen, sich mit anderen verbinden262 Das Leben bildet einen Zusammenhang. Diese KontinuitÈt des Lebensverlaufes entsteht, indem an jedem Punkte ein Mannigfaltiges in der Einheit des Bewußtseins verbunden ist. StÝnde immer nur eine Vorstellung vor meinem Bewußtsein, so verliefe mein Seelenleben ruckweise; zwischen dem Untergang der einen Vorstellung und dem Aufgang der nÈchsten wÈre ein Intervall, und da ein Bewußtsein ohne etwas, dessen ich bewußt bin, nicht anders wÈre als eine Bewegung ohne etwas, das sich bewegt, so mÝßte das Bewußtsein intermittierend sein: die KontinuitÈt meines psychischen Lebens entsteht im Gegensatz hierzu dadurch, daß in jedem kleinsten Zeitmoment, in jeder Gegenwart ein Mannigfaches verbunden ist, so daß, wenn eine Vorstellung schwindet und bevor eine andere folgt, Vorstellungen, Empfindungen, GefÝhle das Bewußtsein erfÝllen. Wie plÚtzlich auch ein Eindruck polternd, klirrend, erschÝtternd in den ruhigen Abfluß meines Lebens einbrechen mag: nur indem er in diesem Zusammenhang aufgenommen wird, ist er mein eigen und mir verstÈndlich. Und zwar treten in diesem Zusammenhang bestÈndig noch verstÈrkt neue Bestandteile ein, wÈhrend zugleich nach rÝckwÈrts vorhandene aus ihm schwinden und sich allmÈhlich in das Dunkel verlieren. So tauchen vor dem Wanderer am fernen Horizonte neue GegenstÈnde auf, schließen rÈumlich an das bisher Sichtbare an, wÈhrend hinter ihn andere aus dem Gesichtsbilde schwinden. Dieser ganze Zusammenhang des Seelenlebens besteht aus VorgÈngen, denn alles in ihm, wenn man von der Ich-Vorstellung absieht, die einen Fall fÝr sich bildet und erst spÈter erÚrtert werden kann, zeigt einen Ablauf. Er tritt auf, besteht und verschwindet wieder. Ich finde unter den Bestandteilen meines Seelenlebens keinen, der Bestand hÈtte und unverÈnderlich verharrte. In dieser inneren Wirklichkeit wechselt unablÈssig Entstehung und Untergang. Alles in ihr ist Vorgang. Jeder dieser VorgÈnge ist in seinem Auftreten erwirkt von anderen VorgÈngen her. Die einen derselben gehÚren dem Selbst an und bedin-

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gen so im Inneren des Seelenlebens weitere VorgÈnge, welche sie begleiten oder ihnen folgen. Aus dem Milieu, von welchem das Selbst umgeben ist, wirken die anderen VorgÈnge bestÈndig. So besteht mein Seelenleben nicht im Zusammenwirken einfacher, konstanter Elemente, die den Atomen vergleichbar wÈren, sondern hier ist alles Vorgang, erwirkt von anderen VorgÈngen. Ich nehme direkt nur VorgÈnge und ihr Wirken sowie Erwirktwerden, wie diese sich in dem Bewußtsein von Notwendigkeit oder Freiheit kundgeben, in mir wahr. Auch die Wahrnehmung ist zusammengesetzt aus Bestandteilen, welche entstehen, dauern und verschwinden, sonach aus VorgÈngen. Doch zeigen sich in diesem Wechsel der VorgÈnge konstant die einfachen ZustÈnde, welche immer neu von den VorgÈngen hervorgebracht werden, alsdann bestimmte Verbindungen derselben, die die Grundlage der Objektvorstellung bilden, endlich die Arten, in welchen die VorgÈnge sich erweitern, verbinden, zwischen ZustÈnden ablaufen: Im Wechsel der VorgÈnge entsteht so immer neu derselbe einfache Empfindungszustand rot oder weiß, ein bestimmter Ton der menschlichen Stimme oder ein von der Harmonie hervorgerufenes Gefallen, der unbestimmte Trieb eines Tieres nach Nahrung. Die Aufmerksamkeit lÚst solche ZustÈnde aus, trennt sie voneinander, und wir nennen sie einfach, sofern sie sich der inneren Wahrnehmung so darstellen und von der Aufmerksamkeit nicht zerlegt werden kÚnnen. So unterscheide ich von einem vor mir liegenden Apfel ein Mannigfaches von Sinnesinhalten, und ich nenne die rote oder grÝne FÈrbung desselben oder seine HÈrte einfache ZustÈnde, weil sie nicht ebenfalls wie die Wahrnehmung des Apfels durch meine Aufmerksamkeit in mehrere Bestandteile gelÚst werden kÚnnen. Diese einfachen ZustÈnde kehren regelmÈßig wieder, weil sie von bestimmten Antezedenzien abhÈngen, welche in meinem Seelenleben oder seinem Milieu oftmals wiederkehren. Und zwar sind diese ZustÈnde einfach, obwohl die Bedingungen, welche sie hervorbringen, zum Beispiel die im Nervus opticus ablaufenden Prozesse, in denen die Mischfarbe weiß entsteht, sehr zusammengesetzt sein kÚnnen. Und wir dÝrfen diese ZustÈnde als konstant bezeichnen, obwohl sie bei ihrer Wiederkehr sehr mannigfache Modifikationen erleiden. In dem Wechsel der VorgÈnge besteht dann eine andere Konstanz. Arten und Weisen, in welchen die VorgÈnge sich erwirken, verbinden, zwischen ZustÈnden ablaufen, lassen sich voneinander trennen und erzeigen sich als immer dieselben. So werden Vorstellungen unter bestimmten feststellbaren Bedingungen, nachdem sie eine Zeit hindurch aus meinem Bewußtsein verschwunden waren, in dasselbe zurÝckgerufen. So wird eine neu auftretende Wahrnehmung mit ihr verwandten Vorstellungen ganz regelmÈßig unter feststellbaren Bedingungen zu einem neuen Ganzen verschmolzen, in welchem die Wahrnehmung nun erst angeeignet ist. Solche Arten von VorgÈngen gehen durch

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unser ganzes Seelenleben hindurch und stiften in ihm alle weiteren und frÝheren Verbindungen; sie lassen sich voneinander abtrennen, wie verwickelt auch der Wechsel unserer VorgÈnge ist. Sie lassen sich als einfache bezeichnen, sofern [als] eine weitere Zerlegung derselben von uns nicht vorgenommen werden kann. Da sie unter angebbaren Bedingungen regelmÈßig wiederkehren, so suchen wir jede dieser Arten und Weisen in eine mÚglichst genaue Formel zu bringen, welche Bedingungen und Art ihres Auftretens bezeichnet. So kann eine solche auch als ein Gesetz des Seelenlebens bezeichnet werden.

Zweites Kapitel. Die Empfindungen263 Unter den zusammengesetzten ZustÈnden, welche unser Seelenleben bilden, nehmen die Wahrnehmungen die vorderste Stelle ein, denn das Spiel unseres geistigen Lebens wird durch sie bestÈndig unterhalten. Wende264 ich nun der Wahrnehmung eines Objektes meine Aufmerksamkeit zu, so kann ich in demselben Sinnesinhalte unterscheiden, die sich voneinander ablÚsen lassen, selber aber nicht mehr im Bewußtsein zerfÈllt werden kÚnnen. Diese Sinnesinhalte bilden die erste Klasse innerer einfacher ZustÈnde. Sie werden als Empfindungen bezeichnet. An der Landschaft, die mir gegenÝber an der Wand hÈngt, unterscheidet meine Aufmerksamkeit ein Mannigfaches abgestufter Farben. Dieselben sind letzte einfache ZustÈnde in meinem Bewußtsein. Jede dieser Farben kann von den anderen unterschieden, sie kann aber nicht in meinem Bewußtsein aufgelÚst werden. Diese Einfachheit des Sinnesinhaltes einer Farbe in meinem Bewußtsein ist ganz unabhÈngig von der Zusammensetzung der VorgÈnge in der Retina und den anderen Teilen des Nervus opticus, welche diese Bewußtseinstatsache Farbe hervorbringen. Ebenso gibt es einfache Tonempfindungen in diesem Verstande. Ihre objektive Ursache kann zusammengesetzt sein. So sind die von inneren Ursachen vorÝbergehend hervorgerufenen, also subjektiven TÚne, ebenso die TÚne ganz schwach erklingender, auf ResonanzkÈsten befestigter Stimmgabeln einfach da. Keine Betrachtung vermag eine Zusammensetzung in ihnen aufzufassen. Diese einfachen SÈtze sondern fÝr den praktischen Gebrauch, den wir hier von der beschreibenden Psychologie machen, das Sichere aus. Sie lassen aber unentschieden, ob ein solcher einfach auftretender Sinnesinhalt jedesmal die Leistung eines seelischen Einzelvorgangs ist oder ob derselbe in einigen oder allen FÈllen durch Verschmelzung von einfachen VorgÈngen hervorgebracht werden kann. Man hat selbst in angegebenen einfachen Tonempfindungen, welche auch fÝr das geÝbteste Ohr unzerlegbar sind, ja Ýberhaupt in allen in

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diesem Sinn einfachsten TÚnen durch SchlÝsse mitwirkende ObertÚne, UntertÚne sowie andere synthetische Tonelemente annehmen zu dÝrfen geglaubt. Dann wÝrden Ýberhaupt die in der Wahrnehmung auftretenden unzerlegbaren TÚne regelmÈßig auch Tonempfindungselemente in sich enthalten, auch wenn diese durch kein unterstÝtzendes Hilfsmittel zur Aussonderung gebracht werden kÚnnen. Ich erlÈutere den Sinn und die Wichtigkeit dieser Frage etwas nÈher. Die265 Empfindungen sind in dem psychischen Akte oder Vorgang der Wahrnehmung enthalten. Was bedeutet nun in dem Flusse unseres Lebens, welcher uns unaufhÚrlich, ach nur zu schnell mit fortreißt, ein psychischer Vorgang? Er ist eine Einheit, die sich in der KontinuitÈt dieses Lebens als ein ganzes abhebt, zunÈchst mal, weil sich von der Willensseite aus das Mannigfache der VorgÈnge zu einem solchen Ganzen zusammenschließt. Einen solchen Vorgang bilden die TeilvorgÈnge vom Auftreten eines Motives durch die Innervation bis zu dem Bewußtsein der durch die Kontraktion der Muskeln herbeigefÝhrten Endbewegungen. Eben ein solcher liegt in den VorgÈngen vom Auftreten zweier Wahrnehmungen durch ihre Vergleichung zur Aussage ihres Unterschiedes in einem Urteil und dem ihm zugehÚrigen Satz. Und ein solcher psychischer Akt ist nun auch die Wahrnehmung, da in ihr durch die dem Willen angehÚrige Apperzeption ein Mannigfaches von Empfindungen zu einem Ganzen verbunden wird. Welche Stellung hat nun die Empfindung innerhalb dieses psychischen Vorganges? Der Vorgang der Wahnehmung bezieht und verknÝpft in Prozessen, deren Anwesenheit seit Kant nÈher studiert worden ist, ein Mannigfaches von Empfindungen. Man bezeichnet die Anwesenheit der Ergebnisse dieser Prozesse in der fertigen Wahrnehmung als die IntellektualitÈt der Sinneswahrnehmung. Jede dieser Empfindungen tritt auf, dauert und klingt wieder ab, ist sonach ein Vorgang. So ist die nÈchstliegende Auffassung, daß ein einfach auftretender Sinnesinhalt jedesmal in einem seelischen Vorgang entsteht, gleichviel wie zusammengesetzt seine Antezedenzien in dem Sinnesnerven sein mÚgen. Doch die Tastwahrnehmung des Nassen, die uns auch als eine einfache Empfindung erscheint, ist in Wirklichkeit zusammengeschmolzen aus der KÈlteempfindung und der Wahrnehmung des leichten Gleitens Ýber die OberflÈche; ein kaltes, glattes MetallstÝck ruft bei unvermuteter BerÝhrung dieselben beiden EindrÝcke hervor, und dann kann aus deren Verschmelzung die TÈuschung entstehen, etwas Nasses berÝhrt zu haben. Zumal aber die KlÈnge musikalischer Instrumente oder der menschlichen Stimme kÚnnten, obwohl sie als einfache Sinnesinhalte sich zunÈchst darstellen, doch jeder vermittelst der Resonatoren in eine Mehrheit von TÚnen aufgelÚst werden. In anderen FÈllen erkennt das unbewaffnete Ohr bei aufgewandter Aufmerksamkeit die Mitwirkung der ObertÚne. SchlÈgt man die Stimmgabel an und setzt sie dann auf ei-

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nen Resonanzboden oder bringt sie dem Ohr sehr nahe, dann trennt das Ohr leicht266 den Grundton von den unharmonischen ObertÚnen. Ebenso ist der Klang der Glocke von unharmonischen NebentÚnen begleitet, und darum werden auch diese leicht vom Grundton unterschieden. Solche Tatsachen gestatten eine doppelte ErklÈrung: Entweder verschmelzen wir hierbei Empfindungen (dieses Wort im Sinne einfacher psychischer VorgÈnge genommen) zu einem Ganzen, welches sich als einfacher Sinnesinhalt darstellt, oder diese Verschmelzung findet Ýberall, wo aufgrund zusammenwirkender VorgÈnge ein einfacher Sinnesinhalt auftritt, nur zwischen den Erregungen im Sinnesnerven statt. Diese Fragen, welche hier auftreten, sind sehr verwickelt und noch weit von einer Entscheidung entfernt. Wir mÝssen also den Begriff der Empfindung so bestimmen, daß er unabhÈngig von der kÝnftigen Entscheidung Ýber diese schwebenden Fragen gÝltig ist. Sonach verstehen wir unter Empfindungen die einfachen (d. h. fÝr uns gegenwÈrtig unzerlegbaren) Sinnesinhalte, welche im Wahrnehmungsvorgang auftreten und im Vorstellen abgelÚst werden kÚnnen. Sie haben verschiedene charakteristische Eigenschaften. Im Wechsel der Objekte kehren sie regelmÈßig wieder. Auch unsere Vorstellungen von Èußeren GegenstÈnden sind aus ihnen zusammengesetzt. Aus der Wahrnehmung treten sie in die Vorstellung ohne VerÈnderung ihres Inhaltes Ýber. Ihre regelmÈßige Wiederkehr ist dadurch bedingt, daß durchgehend dieselben Antezedenzien in der Èußeren Natur und in der erregbaren Nervensubstanz des Sinnes dieselben Sinnesinhalte im Bewußtsein hervorbringen. Jedoch muß schon hier am Beginn die Annahme entschieden abgewiesen werden, als wÈre die Wahrnehmung eines Gegenstandes so aus Empfindungen zusammengesetzt, wie die Naturwissenschaft KÚrper aus Atomen, weiterhin aus MolekÝlen aufbaut. Die Empfindungen kommen abgesondert nur im analysierenden Denken vor. Und wÈhrend die Analyse des Chemikers einen Stoff isoliert darzustellen vermag, kann der Psychologe den Sinnesinhalt blau nur etwa innerhalb eines dunklen Sehfeldes auffassen. In dem Begriff eines solchen erreichbar einfachsten Bestandteils liegt auch die Abstraktion von dem Zusammenhang, in welchem er auftritt. Daher wird bei der Bildung dieses Begriffs von Empfindung auch von der Beziehung derselben auf eine Außenwelt ebenso abgesehen als von ihrem VerhÈltnis zu jenem Mein, das die inneren ZustÈnde vereinigt und sie zu inneren, in der inneren Wahrnehmung auftretenden Tatsachen macht. Wir betrachten sie nicht nur losgelÚst voneinander, sondern auch von dem Zusammenhang, in welchem mehr als Empfindung, innere Aufmerksamkeit, Verbindung, WillensverhÈltnisse sich mitzeigen werden, vermittelst dessen sie auf eine Außenwelt bezogen werden oder als innere ZustÈnde erscheinen. Daher ist Empfindung nicht der einfache Bestandteil von Wahrnehmung,

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sofern er als innerer Vorgang aufgefaßt wird. Sie ist nicht ein solcher Unterscheidung von Selbst und Außenwelt vorausgehendes neutrales Verhalten eines solchen Bestandteils.267 In diesem Zusammenhang entsteht derjenige Begriff der Empfindung, welcher einer kausalen Betrachtung entspricht und daher im weiteren Verlauf sich brauchbar erweist. Die Empfindungen sind zunÈchst als Elemente in dem psychischen Akte der Wahrnehmung enthalten. Was bedeutet in dem Flusse unseres Lebens, welcher unaufhÚrlich, ach nur zu schnell uns mit sich fortreißt, ein psychischer Akt? Er ist eine Einheit, die sich in der KontinuitÈt dieses Lebens [?] abgrenzt, wenn schon die Willensseite in der Spannung mit der Befriedigung sich zusammenschließt und so ein Ganzes bildet. Einen solchen Akt bildet der Vorgang von dem Auftreten eines Motivs durch die Innervation zur Kontraktion der Muskeln und der so entstehenden Bewegung. Einen solchen psychischen Akt bildet ein Urteil von dem Aufgehen zweier Wahrnehmungen etwa durch ihre Vergleichung bis zur Darstellung des Unterschiedes in einem Satz. Ein solcher psychischer Akt ist nun auch die Wahrnehmung, da in ihr Empfindungen durch den Vorgang der Apperzeption zu einem Ganzen verbunden werden. Dieser Akt hat, wie der des Urteils und der Wahrnehmung, das Maß der sich hier vollziehenden Beziehungen in dem begrenzten [?] VermÚgen der Apperzeption, ein Mannigfaches zu verknÝpfen. Und welche Stellung hat nun innerhalb des psychischen Aktes der Wahrnehmung die Empfindung? In der Wahrnehmung sind die in EinzelvorgÈngen hervorgebrachten Sinnesinhalte vereinigt. Kann ich durch VerÈnderung der Antezedenzien diese Sinnesinhalte aus einer Wahrnehmung in vielen FÈllen ausschalten oder in eine andere einschalten? Also sind in einer Wahrnehmung EinzelvorgÈnge als ihre Bestandteile verbunden. Ob die VorgÈnge, welche ich so auffinde, nicht nur zusammengesetzt sind, ob ich in ihnen wirklich die einfachen Empfindungen zu erreichen vermag, diese Frage ist bekanntlich sehr schwer zu beantworten. Wo sich der eingeÝbten Auffassung ein Sinnesinhalt als einfach darstellt, hat man zunÈchst den Vorgang, in welchem dieser Inhalt entstand, als eine einfache Empfindung angesehen. Doch erhebt sich hier eine Frage, welche zur Zeit einer allgemeingÝltigen LÚsung nicht zugÈnglich ist. Der Untersucher kann durch AbÈnderung der Antezedenzien, durch Trennung derselben experimentell die Trennung in die scheinbar einfachen Empfindungen so vollstÈndig als ihm mÚglich durchfÝhren und dann in der scheinbar einfachen Sinneswahrnehmung ebenfalls eine Unterscheidung der Empfindungen als ihre Bestandteile herbeifÝhren. Er wird bemerken, je hÈufiger eine Verschmelzung von Empfindungen in einer solchen Wahrnehmung stattgefunden hat, je Úfter sie als Zeichen fÝr die Anwesenheit eines Objektes von uns benutzt worden ist, desto schwerer ist eine solche Analyse derselben.268

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Drittes Kapitel. Die Mannigfaltigkeit der Empfindungen Mein Interesse eilt den sehr zusammengesetzten VorgÈngen entgegen, mit denen ich in den Geisteswissenschaften zu tun haben werde. Schon meine Àberzeugung von der Existenz der Objekte außer mir ist ein solcher zusammengesetzter Vorgang, doch muß ich zunÈchst in den relativ einfachen ZustÈnden und in den VorgÈngen, die an und zwischen ihnen [sich] abspielen, eine reelle anschaulich faßbare Unterlage gewinnen. Es genÝgt zu diesem Zwekke, einzelnes herauszuheben. Ich beginne mit der Mannigfaltigkeit der Empfindungen. Am fernen Horizonte der See blitzt ein Licht auf vom Mast eines Schiffes. Wie sich mir das Schiff nÈhert, wÈchst die StÈrke dieser Lichtempfindung. Oder der Ton einer Geige schwillt langsam an, und ich unterscheide die Grade seiner anwachsenden IntensitÈt. Die Unterschiede in den Graden dieser IntensitÈt sind in dem einen wie in dem anderen Fall unabhÈngig von den Unterschieden in der Farbe des Lichtes oder in der HÚhe und KlangfÈrbung des Tones. Ebenso kann dieselbe StÈrke des Tones an verschiedenen aufeinanderfolgenden TÚnen festgehalten werden. Wir unterscheiden sonach an allen unseren Empfindungen ihre IntensitÈtsgrade und das Mannigfache des Sinnesinhaltes selber, das bald in dem Unterschied des Tons von der Farbe auftritt, bald in dem der Farben voneinander, bald in dem SÈttigungsgrad der Farbe oder in der Klangfarbe des Tones.269 Die Unterschiede der IntensitÈtsstufen sind in ihrer EintÚnigkeit unbegrenzt an Zahl. Das Mannigfaltige der Sinnesinhalte selber wird Ýberschaubar, indem wir zunÈchst die QualitÈtenkreise der einzelnen Sinne voneinander trennen. Ich sehe am Zucker die weiße Farbe, und ich schmecke an ihm SÝßigkeit. Diese beiden Sinnesempfindungen, obwohl sie am selben KÚrper auftreten, lassen sich nicht vergleichen. Dann aber gehe ich von der Farbe Weiß zu dem angrenzenden Braun des Tisches Ýber. Diese Farben270 Die Braun und Weiß sind einander verwandt. [. . .]271 § 3.272 GemeingefÝhl, Muskelempfindungen und Hautsinn273 Die hier befolgte Anordnung der Sinnesempfindungen, welche nach ihrer Stelle von der bloßen Vergleichung der ModalitÈten als innerer ZustÈnde bedingt ist, ist auch mit der Anordnung aus entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkten einstimmig.274 In den aus einer Protoplasmamasse bestehenden

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niedrigsten Wesen ist einfach diese kontraktile Substanz der Sitz der Empfindungen, wie sie durch Einwirkungen ihrer Umgebung hervorgerufen werden kÚnnen. Dann entwickeln sich an der UmhÝllungsschicht dieser kontraktilen Substanz Wimpern, deren zwiefache Leistung in den Ortsbewegungen und in den Tastempfindungen liegt. Die Tastapparate bilden sich in der weiter aufsteigenden Tierreihe aus. Die Tastorgane an der LeibesoberflÈche sind dann die Ansatzstellen fÝr die Ausbildung der vier Sinnesapparate des GehÚrs, Geruchs, Gesichts und Geschmacks. So ordnet sich unsere Sinneswelt [?] zu einem leichter Ýberschaubaren Ganzen. Zwar kÚnnen wir zunÈchst schon die Zahl dieser ModalitÈten durch feste Abgrenzungen 8bestimmen9. Denn die alte Lehre von den fÝnf Sinnen zerlegte nur den KÚrper gleichsam in fÝnf Sinnesprovinzen. Sie betrachtet, wie der Hautsinn Ýber den ganzen KÚrper verbreitet ist und dazu an demselben vier einzelne Sinnesapparate gesondert auftreten. Geht man aber den Unterschieden der SinnesmodalitÈten nach, um wirklich die Mannigfaltigkeit der Empfindungen, als einfacher ZustÈnde, zuordnen, so trennen sich Tastsinn und Temperatursinn, welche jene Lehre im Hautsinn befaßt, als zwei in sich geschlossene ModalitÈten, und an der unteren Grenze des Sinneslebens treten dann mehrere ModalitÈten des Empfindens auf, denen nur keine besondere Sinnesapparate entsprechen. Die Zahl der ModalitÈten der unteren Grenze unsres Sinneslebens ist unbestimmt, ja selbst der Unterschied von ModalitÈten des Empfindens und QualitÈten derselben ist hier nicht festzustellen. Denn die Wurzeln des Baumes, als welcher sich unser Sinnesleben verzweigt, liegen unter der Erde. Das sind die dunklen Gemeinempfindungen,275 die sich insbesondere in den inneren Organen unsres KÚrpers ausbreiten. Ihre GefÝhlsfÈrbung Ýberwiegt ihren Empfindungsgehalt; so werden sie nicht auf Èußere Objekte bezogen, schmelzen daher im GemeingefÝhl, diesem kÚrperlichen Gewissen des Menschen, zumeist zusammen. Solche OrgangefÝhle treten in dem Respirationsapparate auf. Andere begleiten die Leistung der Apparate, welche der ErnÈhrung dienen, und werden als Appetit, Hunger, Àberladung empfunden. Ferner entstehen aus den wechselnden ZustÈnden der Organe der Reproduktion sehr eingreifende GemeingefÝhle. Wie diese OrgangefÝhle entstehen im Inneren des KÚrpers die Empfindungen der ZustÈnde des Muskels und seiner VerÈnderungen. Sie sind durch die Ausbreitung sensibler Nerven in den Muskeln bedingt. Und sie treten nicht nur als ErmÝdungsgefÝhl oder KraftgefÝhl auf, sondern auch als Empfindung der Kontraktion eines Muskels. So bilden sie den ersten Bestandteil der Bewegungswahrnehmung. Das Wahrnehmen einer willkÝrlichen Bewegung ist ein zusammengesetzter Vorgang. Ich betrachte zunÈchst den Èußeren Vorgang. In

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mir taucht eine Bewegungsvorstellung auf. Diese wirkt auf das motorische Feld. Zentrifugale Erregungen finden statt. Sie fÝhren die periphere [?] Lokomotion herbei. [. . .] Indem alle diese und die ihnen verwandten Empfindungen zusammenwirken, entsteht gleichsam die AusfÝllung unseres Leibes, wie ihn die Haut und ihre Tastempfindungen umgrenzen, durch schwer lokalisierbare276 GefÝhle und Empfindungen, GefÝhl der Lage, der Ruhe und der Bewegung unserer Glieder: ein Kern unseres leiblichen LebensgefÝhls, und wenn hierzu der Impuls und das Bewußtsein desselben tritt und diesem Innen des Leibes gleichsam ein forschendes Zentrum gibt, wenn von der OberflÈche der Haut die Tastempfindungen sich ausbreiten277 und die ganze Begrenzung dieses Innen unseres KÚrpers beschreiben: dann wird fÝr unser SelbstgefÝhl damit eine Grundlage gegeben sein. Den Stamm unseres Sinneslebens bilden die ModalitÈten des Hautsinnes, Temperatur- und Tastempfindungen. Wenn ich in ein Flußbad steige, so entsteht KÈlteempfindung, da die Haut unter ihre eigene WÈrme abgekÝhlt wird. Zugleich bringt das zustrÚmende Wasser Druckempfindungen auf derselben hervor. Diese beiden ZustÈnde verschmelzen nicht miteinander und zeigen keine Verwandtschaft untereinander. So sind hier zwei SinnesmodalitÈten an die in der Haut eingebetteten Apparate, die Tastzellen, die TastkÚrperchen, die Endkolben und die Vaterschen KÚrperchen gebunden.278 KÚnnen wir diese beiden Leistungen auch noch nicht an verschiedene Klassen der Endapparate verteilen, so zeigt doch auch die Verteilung der Druckpunkte und der Temperaturpunkte auf der Haut, daß verschiedene spezifische Nervenendigungen WÈrmegefÝhl, KÈltegefÝhl, Druckempfindung hervorbringen. Und zwar umfaßt unser Temperatursinn nur diese beiden, deutlich abgegrenzten einfachen SinnesqualitÈten der WÈrme und KÈlte. Diese QualitÈten entstehen, indem die neutrale Eigentemperatur einer Hautstelle gleichsam den Nullpunkt eines subjektiven Thermometers bildet, wo dann bei zunehmender AbkÝhlung dieser Hautstelle nach unten die KÈltegrade liegen, bei wachsender ErwÈrmung die hÚheren Temperaturgrade sich nach oben erstrecken.279 Und zwar sind die WÈrme- oder KÈlteempfindungen verschiedenen Grades mit GefÝhlen von Lust oder Unlust verbunden. Da der Organismus einer gewissen WÈrme zu seiner Erhaltung bedarf, fÝhlen wir bald in der KÈlte unlustig die Herabsetzung des Lebens, wie sie ja bei manchen Tieren einen regelmÈßigen Winterschlaf hervorruft. Die Steigerung der WÈrme dagegen wird zunÈchst angenehm gefÝhlt; so wird uns die WÈrme ein Tropus fÝr die innigeren Formen des seelischen Lebens, erst bei weiterer Steigerung tritt Unlust und dann Schmerz ein. Wie die Temperaturempfindungen so vielfach von den mit ih-

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nen verbundenen GefÝhlen Ýberwogen werden, stehen sie zwischen der bloßen Erfahrung eines Zustandes und der einer Èußeren Ursache. Wir sagen ebenso oft: mir ist warm, als: es ist warm. Dagegen die Tastempfindungen trennen auf das Entschiedenste das, was diesseits und was jenseits unserer Haut liegt. So trennen sie den von dem GemeingefÝhl gleichsam ausgefÝllten KÚrper rings an seiner Begrenzung von dem, was auf ihn wirkt. Doch leisten dies nicht die Druckempfindungen fÝr sich. Dem Impuls der willkÝrlichen Bewegung fÈllt der Hauptanteil in dieser Leistung zu. Schon das GemeingefÝhl, das den Leib erfÝllt und belebt, erhÈlt erst in dem Spiel der Bewegungstriebe und den Empfindungen von den ZustÈnden der Muskeln, die von diesen Antrieben her erwirkt sind, seinen lebendigen Mittelpunkt: so ist nun auch die Begrenzung des KÚrpers durch die Tastempfindungen und die Unterscheidung dieses KÚrpers von dem, was nicht er selbst ist, nicht als die Leistung der isolierten Druckempfindungen zu betrachten. DÈchten wir uns die Statue Condillacs zwar mit Druckempfindungen, aber nicht mit Bewegungsantrieben und dem GefÝhl derselben ausgestattet, dann wÝrden diese Druckempfindungen vielleicht fÝr sie nur ein wechselndes Spiel innerer ZustÈnde sein, ohne ein Bewußtsein von Objekten hervorzurufen. Bewegt sich dieser KÚrper, ist Widerstand fÝr die tastende Hand, den schreitenden Fuß vorhanden, dann erst ist Wirklichkeit fÝr ihn die, die nicht er selbst ist. Unter dieser EinschrÈnkung machen wir uns nun die außerordentliche Funktion der Druckempfindungen im Haushalt des Seelenlebens gegenwÈrtig. Die Tastempfindungen280 enthalten in sich eine doppelte Mannigfaltigkeit von SinnesqualitÈten. ZunÈchst besteht bei entschiedener Verwandtschaft aller Druckempfindungen miteinander doch eine lokale FÈrbung derselben, d. h. eine von der Hautstelle, die den Druck erfÈhrt, bedingte EigentÝmlichkeit der Empfindung. Man lasse einen Druckreiz nacheinander auf den Nacken, die Schultern, den Arm, die obere und die innere FlÈche der Hand wirken und beobachte genau die Empfindung, dann wird man eine leichte VerÈnderung in der FÈrbung derselben gewahren, die wir sonst nur fÝr die Ortsbestimmung des Druckes benutzen und daher als solche FÈrbung nicht beachten. Diese FÈrbungen sind sonach feste Zeichen fÝr den Ort des Reizes, und so bilden sie die Unterlage unserer Unterscheidung von Raumstellung. LÈßt man nun aber auf dieselbe Hautstelle verschiedene Druckreize wirken, dann macht sich eine andere Mannigfaltigkeit qualitativer Unterschiede merklich. Diese unsere Haut berÝhrenden KÚrper erscheinen hart oder weich, spitz oder stumpf, glatt oder rauh. Den Widerstand des festen KÚrpers unterscheiden wir von den DruckgefÝhlen bei dem Eintauchen des Fingers in eine FlÝßigkeit, ebenso aber von diesem GefÝhl das der auf uns eindringenden Luft. Doch sind in die-

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sen verschiedenen EmpfindungszustÈnden mit unzerlegbaren qualitativen281 EigentÝmlichkeiten der Tastempfindung Verschiedenheiten des Grades, der Zahl, der Erstreckung und Lage dieser Empfindungen verschmolzen. Wie sie sind, ermÚglichen sie uns die Unterscheidungen von AggregatzustÈnden der KÚrper, und zusammenwirkend mit unseren Bewegungsantrieben und den zu ihnen gehÚrigen Bewegungsempfindungen ermÚglichen sie die Wahrnehmung der Materie. Bilden diese Tast- und Temperaturempfindungen der Haut den Stamm unseres Sinnenlebens, so breiten sich von ihm aus als unzÈhlige Zweige Geschmack, Geruch, GehÚr und Gesicht aus und ragen als GehÚrs- und Gesichtssinn in die reinere Luft von Wohllaut und Licht, von Èsthetischer SchÚnheit und durchsichtigem Erkennen. Geschmack und Geruch bilden ein Sinnespaar, das als Sinne der NÈhe, chemische Sinne, zusammengehÚrt und sich dann auch in brÝderlicher Nachbarschaft und Austausch am KÚrper findet. In jedem dieser beiden Sinne breitet sich schon eine reichere Mannigfaltigkeit von QualitÈten aus. Eigenschaften, welche die Objekte charakterisieren, werden in ihnen aufgefaßt, aber diese Eigenschaften bleiben noch in starken GefÝhlen auf das Eigenleben des Individuums und seine Selbsterhaltung bezogen. So finden wir den Geruchssinn am Eingang des Atmungsapparates, einem WÈchter vergleichbar, der Ýber allem Eingehenden scharfe Kontrolle hÈlt. Und der Geschmackssinn ist der andere WÈchter, welcher an der Pforte des ErnÈhrungsapparates dieselbe Kontrolle Ýbt. Auch sind die Geschmacks- und Riechzellen, in denen Reize diese beiden SinnesmodalitÈten hervorbringen, Endorgane von sehr Èhnlicher Beschaffenheit. Soll die Geschmacksempfindung angeregt werden, so muß auch der feste KÚrper in der MundflÝssigkeit sich lÚsen. Dann entstehen zusammengesetzte EmpfindungszustÈnde, in denen eine Mehrheit einfacher QualitÈten mit Tastempfindungen und hinÝberwirkenden Geruchsempfindungen verschmilzt. So ist die Bestimmung der einfachen Geschmacksempfindungen in dem Gemenge der Wahrnehmung, das ein Objekt hervorruft, schwierig. Es treten als fÝr uns unlÚsbar vier QualitÈten der Empfindung innerhalb des Geschmacksinnes auf: die des SÝßen, Bitteren, Sauren, Salzigen, und auch die des Alkalischen und Metallischen mÝssen wohl als solche einfachen Empfindungen angesehen werden. Eine Beziehung zwischen diesen QualitÈten des Geschmacksinnes kann nicht aufgefunden werden.282 Der Geruch ist im Gegensatz zum Geschmack nur fÝr die Einwirkung gasfÚrmiger, duftender Substanzen empfÈnglich. Dieselben treten direkt mit den Riechzellen in Kontakt. Die Mannigfaltigkeit unterscheidbarer Empfindungen wÈchst innerhalb dieses Sinnes, desgleichen mit dem Geschmacksinn. Doch

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ist hier noch weniger mÚglich, innerhalb derselben einfache QualitÈten festzustellen. So hat selbst die Sprache keine durchgehenden Unterschiede herausgehoben und durch Worte bezeichnet; wir benennen GerÝche nur nach den GegenstÈnden oder den VorgÈngen, an denen sie auftreten. GehÚr und Gesicht sind die hÚchsten Zweige am Baum unseres Sinneslebens. In den Empfindungen von Licht, Farbe und Ton erweitert sich der Horizont des Menschen in das Unermeßliche: dies ist dadurch bedingt, daß nun in diesen hÚchsten Sinnesorganen Schwingungen von ganz entfernten GegenstÈnden, in der Luft oder im •ther verlaufend, zu adÈquaten Reizen werden. Dazu bewaffnet283 sich das Auge mit dem Teleskop und Mikroskop, um sich dem unermeßlich Fernen und unermeßlich Kleinen zu nÈhern. So wird das Sinnesleben, wenn das Tier das Auge aufschlÈgt, von den engen Schranken des BedÝrfnisses und der Wirkung durch die NÈhe frei. Nun vermag der tierische KÚrper seine willkÝrlichen Bewegungen auch weit entfernten Objekten anzupassen, von denen ein Ton oder ein Gesichtseindruck herkommt. So beruht auf dieser hÚchsten Stufe unseres Sinnenlebens wieder, wie in der Region der Gemeinempfindungen und dann in der des Tastsinns, auf der VerknÝpfung der Empfindung mit den willkÝrlichen Bewegungen und dem Bewußtsein von ihnen die volle Leistung des Sinnes und die Entfaltung seiner Bedeutungen. Zumal der Gesichtssinn versetzt dies bewegliche psychophysische Wesen in Freiheit, und schon darum ist er hÚchster aller Sinne: der kraftvolle Mensch will lieber taub und einsam als blind und gefangen sein. Hiermit wirkt ein anderes zusammen. In diesen beiden Sinnen der Ferne lÚst sich die Empfindung von ihrer Beziehung auf die Notdurft des Eigenlebens. Schon die AusdrÝcke Gefallen und Mißfallen fÝr die EindrÝcke dieser Sinne sprechen aus, wie die Natur der mit ihnen verschmolzenen GefÝhle sich hier Èndert. So wird erst in ihnen die Èsthetische Wirkung und Gestaltung der Welt mÚglich. Das Mannigfache der GefÝhle wird hier auf die Eigenschaften der Wirklichkeit bezogen, und diese werden in ihnen genossen oder erlitten. Alle KÝnste zerfallen in die des Gesichtes und GehÚrs. Was auch die Gastronomen sagen mÚgen, die Kochkunst lÈßt uns nicht eine eigentÝmliche SchÚnheit der Objekte genießen, sondern sie bietet nur einen Vorrat von Reizen dar, welche der Zunge in ihren Geschmacksempfindungen284 zu schwelgen gestattet. Und wie die GefÝhle hier solchergestalt zurÝcktreten, daß den Farbenempfindungen als solchen gar keine Unlust beigemischt ist, werden nun hier die Inhalte in diesen Empfindungen als von uns unabhÈngige TatbestÈnde aufgefaßt. So ist das Sinnenpaar nicht nur TrÈger des Weltgenusses, sondern auch der Weltauffassung. Der Gesichtssinn ist ebenso das Organ der logischen Auffassung der Welt Èußerer

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Objekte, das GehÚr Úffnet uns in Sprache und Musik die Innenwelt der Individuen außer uns. Dies ist aber dadurch bedingt, daß in jedem dieser beiden Sinne eine zu einem System geordnete Mannigfaltigkeit von Empfindungen auftritt. Die in der Wahrnehmung verbundenen Empfindungen sind in diesen Sinnen durch deutliche, fÝr sich auffaßbare Beziehungen miteinander verknÝpft. TrÈger der so entstehenden Ordnung sind fÝr die Gesichtsempfindungen deren Beziehungen im Raum; fÝr die Schallempfindungen die von Zusammenklang und zeitlicher Verkettung. Der GehÚrsinn Ich schwinge einen Stab im Wasser hin und her und Wellen entstehen. So sind alle KÚrper, die einen Schall hervorbringen, in einem Zustande des Schwingens, teilen ihn der angrenzenden Luft mit und versetzen diese in wellenfÚrmige Bewegung. Dann dringen Luftwellen in den Èußeren GehÚrgang, dort stoßen sie an das Trommelfell, sie versetzen es in Schwingungen, und diese hervorgebrachten Schwingungen werden dann in den kunstvollen Apparat des inneren Ohres, welches in der Tiefe des Felsenbeins ausgehÚhlt ist, den Endigungen des HÚrnerven angepaßt und auf sie Ýbertragen. Das VerstÈndnis der hier stattfindenden VorgÈnge ergibt sich aus folgenden Kennzeichen. Jede Wellenform kann aus einfachen Wellen verschiedener LÈnge zusammengesetzt werden. Das Ohr besitzt nun die FÈhigkeit, nach der Einrichtung der in ihm nebeneinanderliegenden vielen Nervenendigungen die zusammengesetzten Luftbewegungen, mÚgen sie im Zusammenwirken mehrerer tÚnender KÚrper entstanden oder von einer Tonquelle aus hervorgebracht worden sein, in ihre Teile zu zerlegen. Also die diesen einfachen Wellen entsprechenden TÚne lÚsen einzelne ErregungsvorgÈnge aus. Bezeichnet man diese als Tonempfindungen (in H[elmholtz, Die] Tatsachen [in der Wahrnehmung, 1878, in: VortrÈge und Reden, Erster Band, a. a. O.] ?), so [. . .].285 Unter Empfindung verstehen wir hier zunÈchst nur die Erregung in der Endigung des Sehnnerven, und wir lassen dahingestellt, wiefern diese Erregung von einem psychischen Zustand begleitet sei. So entsteht der fÝr die Tonlehre fundamentale Begriff der einfachen Tonempfindung. Wir verstehen unter einem einfachen Ton, wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, einen solchen, welcher durch einen Wellenzug von der einen Wellenform erregt wird. Und wir verstehen weiter unter der einfachen Tonempfindung zunÈchst nur den Erregungszustand einer GehÚrsnervenendigung, gleichviel ob demselben fÝr sich ein psychischer Zustand entspricht. Aus solchen einfachen Tonempfindungen sind dann alle GerÈusche, die TÚne der musikalischen Instrumente286 wie die der menschlichen Stimme erst zusammengesetzt. Sie sind gleichsam Akkorde, sofern wir ihre

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Entstehung aus einfacheren Erregungen des Sinnesnerven betrachten, und doch sind sie in den meisten FÈllen fÝr die Aufmerksamkeit unzerlegbar, sonach einfache SeelenzustÈnde, sofern wir sie als Tatsachen der inneren Erfahrung auffassen. Die so aus einfachen Tonempfindungen zusammengesetzten GehÚrseindrÝcke treten beinahe ununterbrochen in unserem Sinnesleben auf. Fast in jeder Zeit unseres wachen Lebens werden die herrschenden Gesichtswahrnehmungen von solchen ToneindrÝcken begleitet, denen wir nur zumeist keine Aufmerksamkeit schenken. Sie zerfallen aber in zwei Klassen. Ich hÚre das Sausen, das Klagen des Windes, das leise GerÈusch fallender BlÈtter, das Rieseln des Wassers. Diese GehÚrseindrÝcke bezeichne ich als GerÈusche; es sind Empfindungen, die durch eine unregelmÈßig periodische Luftbewegung hervorgerufen werden. Ich vernehme die Folge der TÚne einer Violine oder die Vokale der menschlichen Stimme. Hier bringen regelmÈßig periodische Schallschwingungen den Klang hervor. Wir unterscheiden an KlÈngen IntensitÈt, HÚhenlage und KlangfÈrbung in folgender Weise. Ich vernehme einen anschwellenden Ton. WÈhrend FÈrbung und HÚhenlage dieselbe bleiben, Èndert sich nur der Grad seiner StÈrke – die IntensitÈt. Dann aber vergleiche ich die Instrumente, die in einem Orchester zusammenwirken, oder die Vokale, die von der menschlichen Stimme hervorgebracht werden. Dieselben sind bei gleicher Tonlage und StÈrke voneinander unterschieden durch die FÈrbung des Klanges, wie sie von der Zusammensetzung aus einfachen TÚnen bedingt ist. Hier verdanken wir der experimentellen Analyse unserer GehÚrseindrÝcke Einsichten, welche die Entstehung so wichtiger Materialien von Sprache und Musik, wie vokale und instrumentale KlÈnge sind, uns erst faßbar gemacht haben. Und nun hÚre ich eine Melodie, die KlangfÈrbung und die TonstÈrke kÚnnen innerhalb ihrer im Ganzen konstant sein, was sich aber dann Èndert, ist die HÚhenlage in den GehÚrseindrÝcken. WÈhrend die Sprache die Benutzung der Unterschiede in der KlangfÈrbung bevorzugt, bedient sich die Musik besonders der Unterschiede der Tonlage. Die TÚne bilden in RÝcksicht auf die Unterschiede ihrer HÚhe ein Kontinuum. Von der unteren Grenze der Tonempfindung ab, an welcher langsame Schwingungen als einzelne LuftstÚße, aber noch nicht als TÚne empfunden werden, hebt eine stetig abgestufte Reihe von Tonempfindungen an und steigt von den niedrigsten hÚrbaren TÚnen aufwÈrts,287 bis sich die hÚchsten TÚne in einem kontinuierlichen zischenden GerÈusch verlieren. Aus dem BedÝrfnis, das Steigen und Sinken dieser Tonlagen, wie es dem verÈnderlichen Spiel unserer GefÝhle entspringt, durch Stufen abzumessen, ist dann, als eine Èsthetische Erfindung, die Bildung einer Reihe diskreter TÚne oder die Tonleiter entsprungen, und zwar haben aufgrund der Gesetze von Klangverwandt-

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schaften verschiedene VÚlker die Tonstufen, zwischen welchen die ÀbergÈnge Ýbersprungen werden, ganz verschieden ausgewÈhlt: eines der merkwÝrdigsten Beispiele, wie auf derselben Unterlage der Gesetze unseres Sinneslebens,288 aus denselben Materialien das Èsthetische VermÚgen in gebunden freier SchÚpfung verschiedene technische Systeme unter den wechselnden Bedingungen der Kultur hervorgebracht hat. 8Auch in9 diesen hÚchsten Sinnen wirkt auf einer neuen Stufe die Beziehung der BewegungsvorgÈnge nebst den zu ihnen gehÚrigen Empfindungen zu den Sinnesempfindungen. Kommen doch durch diese Beziehung alle hÚchsten Leistungen des Sinneslebens zustande.289 Das Spiel der GefÝhle beeinflußt den Wechsel der menschlichen Stimme, so werden die GehÚrseindrÝcke Zeichen fÝr die GemÝtszustÈnde. Die Mannigfaltigkeit der Tonempfindungen spiegelt in Musik und Sprache das Seelenleben und wird so das Organ der Mitteilung.290 Tonempfindungen291 1. Wie das Auge uns die Außenwelt aufschließt, so das Ohr und der in ihm bestehende Ton das Seelenleben. Aber solches [?] [ist] nur das Èußere Zeichen eines Inneren, welches durch ein System von Ausdrucksmitteln vom menschlichen Geiste geschaffen ist. Sprache und Musik sind diese Ausdrucksmittel. Sie bestehen aus der inneren Verbindung zwischen dem Wechsel der SeelenzustÈnde und der menschlichen Stimme.292 So wird durch sie den Ohren eine Seelenwelt in TÚnen zugÈnglich. Die tiefsten GefÝhle des Seelenlebens haften [?] an Sprache und Musik. Erste: alle ZustÈnde. Zweite: die GefÝhls- und Willensbewegungen.293 2. Die objektive Ursache [H.] Helmholtz[,] VortrÈge [und Reden, Erster Band, a. a. O., S.] 82 f. Diese Tonwelt entsteht nun in dem Ohr in Folge der Erzitterungen der Luft, welche adÈquate Reize fÝr es sind. „Schon die gemeine Erfahrung lehrt uns, daß alle tÚnenden KÚrper in Zitterungen begriffen sind. Wir sehen und fÝhlen dies Zittern, und bei starken TÚnen fÝhlen wir, selbst ohne den tÚnenden KÚrper zu berÝhren, das Schwirren der uns umgebenden Luft. Spezieller zeigt die Physik, daß jede Reihe von hinreichend schnell sich wiederholenden StÚßen, welche die Luft in Schwingung versetzt, in dieser einen Ton erzeugt.“ Am schÚnsten veranschaulicht das Vibrieren [?].294 Der Schall besteht aus Oszillationen schwingungsfÈhiger elastischer KÚrper. Diese erzeugen [?] in der umgebenden Luft abwechselnde Verdichtungen und VerdÝnnungen, also Wellen.

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In diesen Wellen schwingen die Teilchen longitudinal, nÈmlich in der Richtung der Fortpflanzung des Schalles. So bilden diese Verdichtungen und VerdÝnnungen um den Ursprungspunkt des Schalles gleichsam konzentrische Kugelschalen. So werden die Schallschwingungen bis zu unserem Ohr fortgepflanzt. So295 ist denn die Luft eines Konzert- oder Tanzsaales von einem bunten Gewimmel gekreuzter Wellensysteme durchschnitten. Von dem Mund der MÈnner gehen weitgedehnte 6–12fÝßige Wellen aus, kurze 1–3fÝßige von den Lippen der Frauen. Das Knistern der Kleider erregt die kleinen KrÈuselungen [?] der Luft, jeder Ton des Orchesters entsendet seine Wellen, und alle diese Systeme verbreiten sich kugelfÚrmig von ihren Ursprungsorten, schießen durcheinander, werden durch die WÈnde des Saales reflektiert und laufen so hin und wider, bis sie endlich erlÚschen. So treffen sie unser Ohr.296 Dasselbe ist, wie das Auge, ein kunstvoller Apparat. FÝr die allgemeine Theorie der Empfindung ist eine Leistung desselben von besondrer Wichtigkeit, weil sie nur hier am Ohr studiert werden kann.297 Bis zu dem Labyrinth des Ohres sind sehr zusammengesetzte Apparate im Ohr, welche die ErschÝtterungen von außen Ýbertragen. Das von der dickflÝssigen Endolymphe erfÝllte System des Hohlraums in dem Labyrinth ist ausschließlich der TrÈger des nervÚsen Endapparates. Helmholtz nahm zunÈchst an, daß die Cortischen BÚgen die Endapparate des GehÚrs seien. Hinter den Schall leitenden und die Schallwellen anpassenden Apparaten bildet sich im Hintergrund des Ohres, in der Tiefe des Felsenbeins, in welches hinein unser inneres Ohr ausgehÚhlt ist, ein besonderes Organ: die Schnecke. Sie hat ihren Namen daher, weil sie eine durch Wasser gefÝllte HÚhlung bildet, welche der inneren HÚhlung des GehÈuses unserer gewÚhnlichen Weinbergschnecke durchaus Èhnlich ist. Dieser Gang der Schnecke ist in drei Abteilungen durch zwei in der Mitte seiner HÚhe ausgespannte Membranen geschieden. In der mittleren sind durch den Marchese Corti sehr merkwÝrdige Bildungen entdeckt worden, unzÈhlige mikoskopisch kleine PlÈttchen, welche wie die Tasten eines Klaviers regelmÈßig nebeneinander liegen. An ihrem einen Ende hÈngen sie die ausgespannte Membran an, an ihrem anderen Ende stehen sie mit den Fasern des Hirnnerven in Verbindung. Wie die Tasten des Klaviers liegen die schwingungsfÈhigen Endgebilde hier nebeneinander, die von Nervenfasern umsponnen sind. Diese werden nun durch die dem Ohr zugeleiteten Schallschwingungen in Schwingung versetzt, und hier in den mit ihnen verbundenen Nervenfasern entsteht nun der Ton. – Die Annahme, daß diese Cortischen BÚgen die Endapparate seien, ist neulich [?] auf Schwierigkeiten gestoßen. Die Amphibien und die VÚgel, die sicherlich musikalische KlÈnge zu empfinden vermÚgen, besitzen keine Cortischen BÚgen. So hat man

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als die schwingenden Saiten die gespannten radiÈren Fasern der Membrana basilaris, auf denen das Cortische Organ ruht, aufgefaßt. Man hat auch an die verschiedenen langen Haare im Labyrinth gedacht. Wir vermÚgen noch nicht mit Sicherheit zu zeigen, welcher Apparat die Leistungen des GehÚrs vollzieht. Desto klarer wissen wir Ýber die Leistung oder Funktion selbst, die zu vollziehen ist. Die natÝrlichste Annahme ist nun, daß jedes solches AnhÈngselchen, Èhnlich den Saiten des Klaviers, auf einen Ton abgestimmt ist. Nur wenn der Ton erklingt, schwingt das betreffende Gebilde und empfindet [?] nun die zugehÚrige Nervenfaser. Aber hier tritt nun die Leistung hervor, daß so das Ohr zusammengesetzte Luftbewegungen in ihre Teile zerlegt. Das Ohr lÚst zusammengesetzte Luftbewegungen in einfache auf. Zusammengesetzt sind zunÈchst solche, die aus Zusammenwirken mehrerer gleichzeitig tÚnender KÚrper entstanden sind. Aber die Schwingungsart der Luft im GehÚrgang, die so entsteht, kann auch der gleich sein, welche eine Tonquelle, etwa ein Instrument erregt. Fourierscher Satz: Jede lebendige Wellenform kann aus einer Anzahl einfacher Wellen von verschiedener LÈnge zusammengesetzt werden. Das Ohr tut nun genau dasselbe, was der Mathematiker nach dem Fourierschen Satz tut: es lÚst eine einfache Welle auf und empfindet den einer jeden einfachen Welle zugehÚrigen Ton einzeln. Ein einfacher Ton ist nun ein solcher, der durch einen Wellengang [?] von der reinen Wellenform erregt wird. Alle anderen Wellenformen, wie sie von den meisten musikalischen Instrumenten hervorgebracht werden, erregen mehrfache Tonempfindungen. Also sind, strenggenommen, alle TÚne musikalischer Instrumente als Akkorde mit vorwiegendem [?] Grundton zu betrachten. Die KlÈnge, welche wir wahrnehmen, sind in der Regel zusammengesetzt. ZunÈchst zwar gibt es KlÈnge, welche das geÝbteste Ohr unter gÝnstigsten UmstÈnden nicht zerlegen kann. Sie sind also als einfache Empfindungen anzuerkennen. Auf ResonanzkÈsten befestigte Stimmgabeln lÈßt man schwach erklingen oder man blÈst Flaschen schwach an. Dann jeder herausgehÚrte Teilton ein Kombinationston. Der hÚchste wahrnehmbare Ton in der 5–8 gestrichenen Oktave. Subjektive TÚne aus inneren Ursachen. So geben Beobachtungen und SchlÝsse einen Grund an die Hand, solche Tonempfindungen als gÈnzlich einfach anzusehen = angenommen, daß gÈnzlich einfache Tonempfindungen in die Wahrnehmung fallen ([C.] Stumpf[, Tonpsychologie, Band] II[, a. a. O.,] [S.] 258.276).

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Aber KlÈnge, die als einfach auftreten, sind in Wirklichkeit Verschmelzungen, insbesondere eines Grundtons mit ObertÚnen. Die Tatsache der ObertÚne ist seit Descartes und Mersenne bekannt. Àbung lÈßt sie doch [?] leichter erkennen, als in [der] Regel angenommen wird. Besonders in bestimmter [?] Tonlage. Man kann durch VerstÈrkung der Ohrmuschel durch die hohle Hand sie erlauschen [?]. [. . .] Stumpf II (238). Diese ObertÚne finden wir nicht abgesondert. Sie verschmelzen mit dem Grundton, weil kein Interesse an ihrer Unterscheidung besteht und folgerecht diese Unterscheidung nicht eintritt. Dieses Interesse liegt fÝr den natÝrlichen Menschen im Nutzen. So hÚren wir also den Ton einer Saite immer von einer bestimmten Kombination von ObertÚnen begleitet, und in der Verschmelzung entsteht [?] der Ausdruck einer Klangfarbe, d. h. eine Eigenschaft [?] des Tons, abgesehen von seiner Stufe in der Tonfolge und seiner dadurch bestimmten QualitÈt. Eine andere Kombination solcher TÚne gehÚrt zum Ton der FlÚte – menschlicher Stimme – Heulen [?] des Hundes. Durch Interesse ist zu merken, ob jener oder Mensch oder Objekt in Ruhe [ist]. Dieses unterscheiden wir, aber es ist uns gleichgÝltig durch welche Mittel. Wir kÚnnen nun aber unter bestimmten begÝnstigenden UmstÈnden ObertÚne hÚren. Und die experimentelle Kunst kann diese UmstÈnde herbeifÝhren. Hierdurch wird der Beweis experimentell gefÝhrt, daß diese einfachen Empfindungen als eine psychische Tatsache bestehen und die TÚne von [?] Objekten als Verschmelzungen aus denselben zu betrachten sind. Sie hÚren eine Glocke. Hier findet man die ObertÚne am leichtesten, wenn sie unharmonisch zum Grundton sind. Die Kunst des Glockengießers besteht grade darin, die tieferen stÈrksten NebentÚne harmonisch zum Grundton zusammenwirken [?] zu lassen, die hohen bleiben aber nun unharmonisch. Diese kann man auch im Glockenton nicht zu kÝnstlerischer Musik gebrauchen [?]. Sie hÚren menschliche Stimmen. Das menschliche Stimmorgan stellt ein Blasinstrument mit schwingender elastischer Zunge dar. Diese sind die StimmbÈnder. Sie wollen einen bestimmten Vokal aber noch [?] akzentuieren. Dann nimmt unsere MundhÚhle eine ganz charakteristische Gestalt an. So verhallt in diesem Binnenraum ein bestimmter Eigenton. Und zwar werden dem auf einer bestimmten HÚhe angegebenen Grundton ObertÚne zugestellt. Diese geben dem Stimmklang das vokale Timbre. Der Vokallaut ist also die Klangfarbe eines durch das Stimmorgan erzeugten Klanges. Diese Klangfarbe rÝhrt von der Zahl, StÈrke und HÚhe der ObertÚne her. Und diese ist von der Artikulation und Vokalisierung bei Angabe [?] eines Klangs bedingt. Da die Verschmelzungen sie bestimmen, hÚren sie eine Klangfarbe. Helmholtz fand eine Methode, die ObertÚne der menschlichen Stimme trotzdem

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vernehmen [?] zu lassen. Man kann die ObertÚne erkennen, welche in den Vokalen enthalten [sind]. Aufgrund von dies allem vier Unterschiede. KlÈnge entstehen, wenn ein schwingender elastischer KÚrper eine periodische Bewegung vollfÝhrt = eine solche, bei der innerhalb gleicher Zeitabschnitte sich dieser Bewegungsvorgang wiederholt. Dies ist z. B. beim Schwingen einer angeschlagenen Saite der Fall. Ein GerÈusch entsteht, wenn der schwingende KÚrper aperiodische Bewegungen vollzieht = dann erfolgen in gleichen Zeitabschnitten ungleiche Bewegungen. Am Klang unterscheiden wir: 1. Die StÈrke des Klangs. Sie rÝhrt her von der Schwingungsamplitude, d. h. der GrÚße der Schwingungsexkursion des tÚnenden KÚrpers. Eine ausklingende Saite zeigt stets kleiner werdende Schwingungsamplitude. (Bei Licht entsprechender [?] Grad der Helligkeit) 2. Die HÚhe des Klangs. Sie ist begrÝndet in der Zahl der Schwingungen, die in einer bestimmten Zeiteinheit erfolgen (Mersenne 1636).298 3. Die Klangfarbe oder das Timbre des Klangs ist bedingt durch die eigentÝmliche Form der Schwingung des Klang erzeugenden KÚrpers.299 [Der Gesichtssinn] Ist so das GehÚr der Sinn der Innenwelt, sind die Wahrnehmungen nur Zeichen innerer ZustÈnde, so wird, wo ein Auge sich Úffnet, die Außenwelt aufgetan. Das ganze Universum als eine rÈumliche Anordnung von GegenstÈnden ist mir durch die Beziehung zwischen den Bewegungen, unserem Bewußtsein derselben, den von ihnen getragenen und geleiteten Tastempfindungen zu unserem Gesichtssinn vorhanden. Und so zeigt sich uns in dieser hÚchsten Verzweigung des Sinneslebens noch einmal, wie diese Beziehung zwischen den Sinnesempfindungen und den vom Bewußtsein begleiteten willkÝrlichen Bewegungen erst alle SinneszustÈnde verwertbar macht. In der knÚchernen ungefÈhr kugelfÚrmigen AugenhÚhle ist der Augapfel eingebettet und durch sechs Muskeln nach allen Seiten drehbar. Der Apparat, den dieser Augapfel umschließt, kann mit der Camera obscura des Photographen verglichen werden. Dort der innen geschwÈrzte Kasten, hier der dunkel ausgekleidete Augapfel. Dort die in den Kasten eingesetzte Glaslinse, hier die vordere ³ffnung der Pupille dieses Augapfels, durch welche das Licht eindringt, vor ihr die durchsichtige, stÈrker konvexe Hornhaut,300 dahinter die Kristalllinse. Der Augapfel, selbst mit FlÝssigkeit gefÝllt, wird durch sie prall erhalten. Die Aufgabe einer Camera obscura, optische Bilder zu entwerfen,

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wird mit Hilfe der Einstellung gelÚst, indem Lichtstrahlen von einem leuchtenden Punkte außerhalb so bei ihrem Durchgang durch die Glaslinse gebrochen werden, daß sie sich wieder hinter dieser Glaslinse in einem Punkte vereinigen: dem Bildpunkte. Dasselbe geschieht im Auge durch die Hornhaut und die vermittelst der Akkomodation verÈnderliche Kristallinse. So entspricht jedem Punkte des Èußeren Gesichtsfeldes im Hintergrund des Auges ein die Lichtwirkung empfangender Punkt.301 Das so entstehende Bild wird dort in der Dunkelkammer des Photographen durch die Silberplatte fixiert, es wird hier im Auge von der lichtempfindenden Substanz des Sehnerven festgehalten,302 der aus dem Gehirn, die AugenhÚhle303 durchbrechend, von hinten in den Augapfel eintritt und sich in der inneren FlÈche der Wand desselben als Netzhaut ausbreitet. In dieser Netzhaut sind die Endorgane des Sehnerven, die StÈbchen und Zapfen, eingelagert. Nur die in ihnen durch die an sie herantretenden Schwingungen hervorgerufenen Erregungen haben, zum Gehirn weitergeleitet, Licht- und Farbenempfindungen zur Folge. Damit nun die Licht- und Farbenerregungen einer Gruppe dieser fÝr Schwingungen erregbaren Punkte ein farbiges Bild vom Gehirn aus hervorbringen, mÝssen im Gesichtssinn zwei voneinander getrennte Leistungen verbunden [werden]. Zweierlei: Unterschiede der Außenwelt werden uns durch hell-dunkel und Unterschiede der Farben reprÈsentiert. Und zwar werden VerhÈltnisse dieser Unterschiede uns durch eine rÈumliche Anordnung dieser Farben reprÈsentiert. Der spezifische Reiz, welcher in diesen Empfindungsinhalten und deren rÈumlichen Beziehungen reprÈsentiert wird, wird von den Physikern in den •therschwingungen aufgezeigt. Und diese Schwingungen sind transversal, d. h. sie finden senkrecht zur Fortpflanzungsrichtung der Lichtstrahlen statt. Diese sind regelmÈßige periodische Schwingungen. Den •ther, in dem sie stattfinden, denken wir uns zwischen den Atomen resp. MolekÝlen in kleinsten Teilchen zerstreut. Diese Lichtstrahlen sind nun schon bei den niederen Tieren, den Protozoen, wirksam auf ein besonderes Organ. Dieses besteht in Pigmentflecken, d. h. Licht empfindende Stellen des Protoplasmas, welche durch elektrische Erregung besonderer Organe [?] ausgezeichnet sind. Bei den Seesternen finden sich die Augen an der Spitze der Arme: sie bestehen aus einem kugeligen Kristallorgan, das von Pigment umgeben ist, ein Nerv tritt hinein. In sehr mannigfachen [?] Formen paßt sich das Organ an das BedÝrfnis der verschiedenen [?] tierischen Organismen an. Bis dann das des Menschen [?] auf hÚchster Stufe auftritt.

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Die Lichtstrahlen werden hier von den brechenden Medien des Auges, insbesondere der vorn gelagerten Linse, so gebrochen, daß die Retina im Hintergrund des Auges die von einer Èußeren Lichtquelle ausgehenden Strahlen wieder zu einer punktfÚrmigen Wirkung vereinigt. Die Retina oder Netzhaut ist das Endorgan des Nervus opticus. Vor ihr lagern die lichtbrechenden Medien des Auges, von schÝtzenden HÈuten umschlossen. Lichtempfindlich sind von der Netzhaut nur die StÈbchen und Zapfen. Dies kann schon daraus erkannt werden, daß die Eintrittstelle des Nervus opticus, die ohne diese StÈbchen und Zapfen ist, auch ohne Empfindung ist: sie heißt daher der blinde Fleck. Eine der interessantesten Tatsachen fÝr [die] Psychologie des Sehens ist, daß der blinde Fleck kein Ausfall im Gesichtsfelde bewirkt. ZunÈchst darf nicht gedacht werden, daß diese Stelle den Eindruck Schwarz hervorbringen mÝsse. Dieses blinde Schwarz wÝrde schon Netzhautelemente voraussetzen, in denen es ja allein auftreten kann. Die LÝcke aber wird durch einen psychischen Akt nach aller [?] Wahrscheinlichkeit ausgefÝllt. [. . .] Wird die Netzhaut durch eine ganz bestimmte Zahl regelmÈßiger •therschwingungen gereizt, so entstehen die einfachen Farben des Spektrums. Sie entstehen, wenn weißes Licht durch ein Prisma gebrochen wird. Dann folgen einander violett, indigo, blau, grÝn, gelb, orange und rot. Und zwar bilden diese Farben des Spektrums eine Reihenfolge ineinander Ýbergehender Empfindungen. So kann diese Mannigfaltigkeit in einer Linie dargestellt werden. Jede qualitative Stufe in der Farbenempfindung bildet einen Punkt in dieser Linie. Sie ist nach minimalen Unterschieden kontinuierlich fortschreitend. Innerhalb dieser Linie bestehen aber nicht harmonische Beziehungen, wie innerhalb der Linie der Tonempfindung. Daher kann man nicht eine Farbentonleiter konstruieren. Die Unterscheidung der Farben entsteht, indem solche Farben, die aus der Außenwelt besonders hÈufig oder deutlich sind, herausgehoben werden. Die Farbenbezeichnungen der alten VÚlker sind daher sehr unbestimmt gewesen. Unsere sieben Haupt- resp. Spektralfarben erhielten ihre Feststellung [durch] Newton, [der] die Breite des Spektrums nach Analogie der Tonleiter in sieben Stufen teilte: violett, indigo, blau, grÝn, gelb, orange, rot. Nun ist als ein weiterer Unterschied dieser Farbenlinie von der Tonreihe, daß sich in den Farbenlinien die zwei an den Enden stehenden Farben, rot, violett, einander nÈhern. Hier entsteht ein erster Fall von Mischfarbe. Im Gegensatz zur einfachen Farbe entsteht die Empfindung der Mischfarbe, wenn die Retina gleichzeitig oder im schnellen Wechsel durch die Oszillationen zweier oder mehrerer einfacher Farben erregt wird. Mischt man rot und violett, so entsteht als verbindendes Farbgebiet der Purpur. Durch ihn wird die Farbenlinie zum Farbenkreis abgeschlossen.

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Die komplizierteste Mischfarbe ist das Weiß. Dieses setzt sich erstens aus allen einfachen Farbspektren zusammen;304 zweitens: sie kann durch das Zusammenwirken von zwei bestimmten Spektralfarben hervorgebracht werden. Mischt man zwei Farben so, daß ihre Mischung weiß ergibt, so verhalten diese sich als KomplementÈrfarben. Die Schwarzempfindung ist ganz ebenso eine FarbenqualitÈt als jede andere. Nur daß ihre Bedingung darin liegt, daß der Reiz durch •therschwingungen fehlt; sonach entsprechen der Schwarzempfindung diejenigen chemischen Erregungen, welche Ruhestand und Erholung der zersetzten Sehsubstanz begleiten. Alle diese Unterschiede sind solche der FarbenqualitÈt. Von ihnen sind die FarbensÈttigungen unterschieden: das GrÝnblau, das Wasserblau, das BlaßgrÝn, das Fleischrot, das Rosa zeigen uns FÈlle von weniger gesÈttigter Farbenempfindung. Diese entstehen durch die Zumischung des Weiß zur Spektralfarbe. Das Kind lernt erst allmÈhlich Farben richtig benennen, zuerst gelb, dann rot, spÈter grÝn wie blau. Bei nicht wenigen Personen besteht eine pathologische LÝckenhaftigkeit der Farbempfindung. Diese ist in seltenen FÈllen totale Farbenblindheit, dann erscheint die ganze Natur wie ein Kupferstich. HÈufiger sind die Violettblinden, Rotblinden oder GrÝnblinden.305

Viertes Kapitel. Die Wahrnehmungen und Vorstellungen306 Die aus Empfindung zusammengesetzte Wahrnehmung besteht solange, als der Erregungszustand des Sinnesnerven und der zu ihm gehÚrigen zentralen Stelle. Schließe ich das Auge aber, klingt der Wahrnehmungszustand ab, dann kÚnnen dieselben Sinnesinhalte im Bewußtsein als einfache Vorstellungen fortbestehen oder in der Erinnerung erinnert werden. Der Unterschied dieser Vorstellung von der Wahrnehmung scheint nicht bloß ein solcher des Grades zu sein, sondern ein solcher der Art, wie sie naturgemÈß durch die vollstÈndige Erregung des Sinnesapparats und den in dieser Erregung gegebenen Willenszustand bedingt ist. SinnfÈllige RealitÈt, Erscheinen im Sinnesfelde, UnverdrÈngbarkeit sind die eigentÝmlichen Merkmale einer Wahrnehmung. Kommen sie der Halluzination ebenfalls zu, so ist dies darin begrÝndet, daß deren physiologische Unterlage derjenigen der Wahrnehmung verwandt ist. Wie anders, unvergleichbar anders die Vorstellung, auch wenn sie den hÚchsten Grad von SinnfÈlligkeit erreicht, der innerhalb ihrer Grenzen liegt! Die NÈhe der Vorstellung an die Empfindung selber ist von mehreren UmstÈnden abhÈngig. Sie ist zunÈchst in einer Verschiedenheit der Naturanlage begrÝndet. Fechner

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hat schÚne Beobachtungen hierÝber aus seiner Umgebung gesammelt. Dann ist sie durch die zeitliche NÈhe der Vorstellung an der sinnlichen Wahrnehmung bedingt. Eine Vorstellung, die sich an die Wahrnehmung ohne Dazwischentreten einer anderen anschließt, steht ihr unter sonst gleichen UmstÈnden auch in ihren inneren Merkmalen nÈher. Wie dann mehrere Vorstellungen und lÈngere Zeiten zwischen den ersten Eindruck und seine Erneuerung in der Vorstellung eintreten, verblassen die Farben des Bildes gleichsam, und zugleich blÈttern einzelne Teilchen desselben ab. Endlich ist die AnnÈherung der Vorstellung an die Wahrnehmung von der Verteilung der Aufmerksamkeit im Bewußtsein abhÈngig. Schon jede Wahrnehmung enthÈlt, sofern sie mit Aufmerksamkeit vollzogen ist und sonach erinnert werden kann, Vorstellungen als Bestandteile in sich. Denn auch an einer neuen und Ýberraschenden sind Bestandteile bekannt. In der Regel aber sind der Reproduktion mehrere Wahrnehmungen vorausgegangen. Alsdann ist die Vorstellung nicht das bloße Bild einer von diesen Wahrnehmungen. Sofern eine Vorstellung eine Mehrheit von Wahrnehmungen desselben zentralen Tatbestandes gleichsam perspektivisch in sich befaßt, nenne ich sie eine Totalvorstellung. Meine Erinnerung an eine Person ist jedesmal eine solche Totalvorstellung. Denn selbst wenn ich sie nur einmal sah, fasse ich aufeinanderfolgende Momente ihres Daseins in der Erinnerung, etwa von einem besonders hervorstechenden Bildmomente, mit ins Auge. Das Àbergewicht eines PortrÈts Ýber eine Photographie beruht eben darin, daß das Bild, so wie es in der frÝheren [?] Erinnerung aufgebaut wird, zur Darstellung kommt. Hebe ich den gleichen Tatbestand an mehreren Objekten oder Ereignissen in der Vorstellung heraus, so entsteht die Allgemeinvorstellung. So gut als die Vorstellung des Deutschen ist auch die des Weinens oder der MÝdigkeit eine solche Allgemeinvorstellung. In noch stÈrkerem Grade ist in dieser das einzelne Bild, das die Vorstellung ja nie entbehren kann, in einzelnen Bestandteilen durch konkurrierende verschiedene Bestandteile307 gleichsam wechselnd verdeckt. Das Bild ist nun reprÈsentativ. Es vertritt die anderen Bilder mit. Hier bereitet sich ein wichtiger Zug308 unserer Vorstellungsgebilde vor. Sofern von dem Verschiedenen wirklich abstrahiert werden kann, nÈhert sich das Bild dem Begriff. Begriff In den weiteren VorgÈngen, in denen begrifflich abstraktes Denken sich ausbildet, findet statt: 1. zunehmende Abstraktion, d. h. Aussondern von Teilinhalten aus den konkreten Vorstellungen. 2. Herstellung von Beziehungen dieser untereinander. Der Begriff ist eine solche Beziehung von Teilinhalten (StÝcken), welche ein Konstantes so fixiert.

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FÝnftes Kapitel. Die Aufmerksamkeit und ihre Umformungen in WillensvorgÈnge der Vorstellungsseite 8Die WillensvorgÈnge9309 Ich wende einem Eindruck Interesse zu, derselbe gefÈllt mir, ich beachte ihn; nun aber tritt ein anderer Eindruck auf im Wettstreit mit dem ersten, jetzt erhÈlt meine Aufmerksamkeit auf denselben einen Charakter von Spannung. Ein Kind vor einer Delikatessenhandlung erfreut sich an ausgestellten Trauben, unmerklich regt sich aber in ihm ein Verlangen: in jenem wie in diesem Falle bemerken wir, wie GefÝhl und Willensvorgang einander benachbart sind. Das GefÝhl scheint sich in einen Willensvorgang umzuwandeln; obwohl wir diesen Tatbestand voll anerkennen, grenzen wir doch von dem GefÝhl den Willensvorgang ab. Durch unser ganzes Seelenleben gehen VorgÈnge hindurch, welche von einem Bewußtsein der TÈtigkeit begleitet sind. Dieselben tragen nicht in jedem Fall den Charakter von Spannung, Anspannung an sich. Eines solchen werden wir vielmehr erst gewahr, wenn unsere TÈtigkeit einen Widerstand zu Ýberwinden hat. Alle diese von einem Bewußtsein eigener TÈtigkeit begleiteten VorgÈnge bezeichnen wir hier als WillensÈußerungen. Trennt Kant SpontaneitÈt von RezeptivitÈt, so ist es derselbe in der inneren Erfahrung auftretende Unterschied, der ihn hierbei leitet; das Bewußtsein solcher von innen kommender Regsamkeit darf nicht verwechselt werden mit dem der VerÈnderung, des Wechsels unserer ZustÈnde. Wir unterscheiden nun die Formen, in denen solche vom Bewußtsein der TÈtigkeit begleiteten VorgÈnge solcher Regsamkeit [. . .] auftreten. Innerhalb des Wahrnehmens, Vorstellens und Denkens bestehen Formen, die eine Verwandtschaft voneinander haben, von diesen trennen sich diejenigen Formen, welche mit den GefÝhlen verbunden BewegungsvorgÈnge erwirken. Der Knabe vor dem Schaufenster310 verschlingt mit den Augen einen Aufbau von Schokolade; der Kenner in einer Galerie versenkt sich in ein PortrÈt von Velasquez; der Zustand, der hier besteht, ist Gefallen und Interesse, der Vorgang, der von dem angenehmen Bewußtsein der TÈtigkeit begleitet ist, ist unwillkÝrliche Aufmerksamkeit. Interesse scheint sich gleichsam umzuwandeln in Aufmerksamkeit. Ein Denkvorgang vollzieht sich. Auch dieser ist immer von einem Bewußtsein der TÈtigkeit begleitet. Dieses Bewußtsein hat einen etwas anderen Charakter als die in ein Objekt sich gleichsam einbohrende TÈtigkeit; hier wird von Vorstellung zu Vorstellung einem Zweck entspre-

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chend eine Richtung des Willens eingehalten. Nun311 aber wird der Denkvorgang durch Zahnschmerzen oder ein Klavierspiel gestÚrt. Der Aufwand von Arbeit in der Festhaltung [?] desselben wird nun als Spannung mir bewußt. Jetzt sprechen wir von willkÝrlicher Aufmerksamkeit. Die willkÝrliche Aufmerksamkeit setzt ebensogut einen Wettstreit von EindrÝcken oder Vorstellungen voraus als die willkÝrliche Bewegungshandlung einen Wettstreit von Bewegungsbildern und deren Motiven. Schon dieser Vorgang enthÈlt von der anderen Seite angesehen VerdrÈngung dessen, was ich als eine BeeintrÈchtigung fÝhle. Klarer als in den eben angegebenen elementaren VorgÈngen tritt uns in diesen der Charakter des Willens hervor; und doch, das ist fÝr unsere Auffassung entscheidend, geht Bewußtsein der Aufmerksamkeit stetig in dieses Bewußtsein wirklicher Willenshandlungen Ýber. Alle, auch die gewaltigsten Willenshandlungen sind zusammengesetzt aus VorgÈngen, durch welche Tatsachen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, GefÝhle, Antriebe aus dem Bewußtsein verdrÈngt werden sollen. Denn in jeder Art von Heldentum wird gleichsam die kÝhne Linie gezogen zwischen lauter Gefahr, Sinnenlust, GlÝck im kleinen und Not im kleinen. Sich selbst bezwingen heißt, nur den Teil von uns aus dem Bewußtsein verdrÈngen, in Arbeit des Willens, durch eine Art von Zwang, welcher einer hÚheren Willensrichtung oder Lebenshaltung widerstrebt. Den Formen von mit Bewußtsein der TÈtigkeit ausgestatteten VorgÈngen, welche innerhalb unseres Vorstellungslebens verlaufen, dessen lebendige auch im Spiel der GefÝhle uns stets gegenwÈrtige Unterlage bilden, liegt eine Reihe anderer Formen gegenÝber, welche zu Bewegungshandlungen hinlaufen. Wir betrachten zunÈchst den physiologischen Zusammenhang, in welchem sie auftreten. Aufmerksamkeit! Stumpf Tonempfindung 67 f.312 Die spezifische Natur der Aufmerksamkeit ist der inneren Erfahrung gewiß so gut als die eines Bewegungsantriebes oder des GefÝhls von Wohlwollen. Sie kann aber nicht in Worten beschrieben werden; ja, die Beschreibung kann nur den Zusammenhang, in welchem sie innerhalb des Wahrnehmens und Denkens auftritt, feststellen oder in ihr auftretende EinzelvorgÈnge der Spannung, der ErmÝdung, der Konzentration herausheben. Die Bedingungen, unter denen die Aufmerksamkeit eintritt und in ihrem Grad oder ihrer Richtung sich Èndert sowie endigt, sind zunÈchst physiologischer Natur, wie der Wechsel von Schlaf und Wachen, die Einwirkung des kÚrperlichen ErnÈhrungszustandes augenscheinlich zeigt. Alsdann ist sie be-

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dingt durch den Wechsel des Interesses; Wahrnehmungen und Vorstellungen unterscheiden sich voneinander hinsichtlich des GefÝhlsanteils, den wir ihnen zuwenden; dieses Interesse entscheidet dann Ýber die Dauer einer Vorstellung, ihre Wirkungskraft, ihre FÈhigkeit, andere zu verdrÈngen. Dies alles aber, indem das Interesse in Aufmerksamkeit Ýbergeht; und zwar sind Interesse und Aufmerksamkeit einmal sachlich bedingt. Die stÈrksten, die angenehmsten, die durch den Zusammenhang des Bewußtseins bevorzugten EindrÝcke ziehen zuerst Interesse und Aufmerksamkeit besonders an sich. Dauern SinneseindrÝcke unverÈndert, so nimmt auch ohne ErmÝdung des Organs die Aufmerksamkeit ab. VerÈnderungen dagegen rufen sie hervor; alsdann sind persÚnliches Interesse und Aufmerksamkeit wohl bedingt durch eine ursprÝngliche Verschiedenheit der subjektiven Energie des Aufmerkens; hinzu tritt wohl eine verschiedene Ausstattung der einzelnen Sinne mit Lust des Auffassens und Trieb der BetÈtigung; dies zeigen die Jugendgeschichten vieler KÝnstler. Àbung und GewÚhnung verstÈrken alsdann hier gewisse EindrÝcke oder Vorstellungen.

Das Interesse und die Aufmerksamkeit Die Wirkung des Interesses und der Aufmerksamkeit liegt zunÈchst darin, daß die stÈrkere Regung von GefÝhls- und Willensanteil einem Eindruck oder einer Vorstellung gleichsam die stÈrkste Bewußtseinserregung zufÝhrt; dies Èußert sich darin, daß an den Eindruck oder die Vorstellung lebendige Prozesse des Unterscheidens, Erinnerns, Beziehens sich knÝpfen. Selbst die StÈrke des Eindrucks kann insofern eine Steigerung erfahren, als konkurrierende psychophysische VorgÈnge aufgehoben werden. HauptsÈchlich aber findet Konzentration, d. h. EinschrÈnkung des Bewußtseinsumkreises und Festhalten des Objektes im Gewahren der Vorstellung im Bewußtsein statt. Und zwar stehen augenscheinlich Umfang und Energie von Interesse und Aufmerksamkeit in einem umgekehrten VerhÈltnis, dessen nÈhere Bestimmung das Hauptproblem einer experimentellen Behandlung der Aufmerksamkeit bilden wÝrde.

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FÝnftes Kapitel. Die Aufmerksamkeit und ihre Umformungen in WillensvorgÈnge der Vorstellungsseite Einleitende Bemerkung Es ist die Regel, GefÝhle und Trieb- oder WillensvorgÈnge voneinander zu trennen. Wir werden dieser Regel nicht folgen. Diese beiden VorgÈnge gehen ineinander Ýber; es ist unmÚglich, sie voneinander abzugrenzen. Dies zeigt sogleich die ErÚrterung von Interesse und Aufmerksamkeit, die sich naturgemÈß an die von Wahrnehmung, Empfindung und Vorstellung anschließt. 8Das Interesse9 Unter Interesse verstehen wir den GefÝhlsanteil, den wir aufgrund des erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens Wahrnehmungen, Vorstellungen, Phantasiebildern, Denkprozessen zuwenden. Das Interesse ist also der GefÝhlsanteil, welcher die Aufmerksamkeit herbeifÝhrt.313 Die innere [?] Verbindung beider ist dadurch so eng, daß aus gegebenen Graden Interesse Aufmerksamkeit herbeifÝhrt, dann aber jeder minimale Zuwachs des Interesses in einem uns unbekannten VerhÈltnis einen Zuwachs der Aufmerksamkeit herbeifÝhrt. I. Das Interesse314 Der Charakter dieses GefÝhlsanteils kann nicht als LustgefÝhl bezeichnet werden. Er besteht vielmehr in dem mannigfachen Spiel von Erregungen, welche eine Wahrnehmung oder Vorstellung innerhalb des erworbenen Zusammenhangs unseres Seelenlebens hervorruft. Hier ist die erste Grundlage jener Bewußtseinserregung, welche fÝr den Prozeß der Aufmerksamkeit so charakteristisch ist. Aus der Beziehung des Objektes auf diesen Zusammenhang entspringt eine Bewußtseinsbeteiligung an diesem nur zusammengesetzten GefÝhlszustand, welcher Anteil an dem Objekt oder der Vorstellung einschließt. Dieser GefÝhlsanteil ist selbstverstÈndlich von der Lust an dem Inhalt der Vorstellung verschieden. Eine Prahlerische [?] (Holz), die mir sehr interessant ist, braucht mir darum nicht im geringsten Freude zu machen. Ein Freund des Autors, der bei der Vorlesung eines Sensationsromans gegenwÈrtig ist, wird jedenfalls es mit Interesse aufnehmen, auch wenn es ihm so unangenehm als

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mÚglich war: es hat ihn interessiert. Hier erkennt man bereits, daß die Energie der Befriedigung keineswegs im Interesse als solchem enthalten ist, es kann dÝnner, farbloser als die Lust am Objekte sein. Andererseits tritt es sehr oft in Verbindung mit starken UnlustgefÝhlen. FÝr viele Menschen hat gerade das Entsetzliche, das uns Schauder erregt, eine starke Anziehungskraft, d. h. Interesse fÝr jeden hat das, was Gegenstand heftiger Besorgnis ist.315 [II.] PrÈparate 1. PrÈparat des intellektuellen Interesses. Der Bube und der Lehrer. Im Buben Triebe aller Art: Spieltrieb, Bewegungstrieb, TrÈgheit, aber auch schon eine gewisse Neigung zu wissen, was dahinter ist, ein Wunsch, geliebt zu werden, am Spiel erworbene Neigung, in Energie sich zu betÈtigen, bei seinen Àbungen oder Erfindungen rinnt der Schweiß der Anstrengung. Der Lehrer bringt ihm fernliegende GegenstÈnde, schon deren Apperzeption ihm schwer, in keinem VerhÈltnis zum erworbenen Zusammenhang seines Seelenlebens. Nun aber finden [?] die Kampfspiele des Buben und das Heldentum Grenzen des direkten Interesses, lernt Reden des Lehrers, Verlegen von Interesse in jede einzelne Stunde, der Zusammenhang und das Erwachen der Freude an der intellektuellen Leistung, am Begreifen, Àberblicken, freies Schalten, Erinnerungen in jedem an das, was hierin Epochen vor ihm wußten, der Aufsatz, sinnliches Interesse, intellektuelles Interesse, ErgÈnzung durch das indirekte Interesse, dieses muß immer wieder in das direkte Ýbergehen, Aufmerksamkeit als Resultat von diesem allen. 2. •sthetisches Interesse, PrÈparat desselben, die Auffassung eines PortrÈts. Alles, was in uns als Kraft wirkt, ruft unser Interesse hervor. Bild und Kraft, Eindruck eines Gesichts, der Èsthetische Hauptpunkt in demselben, die Prozesse des VerstÈrkens, Verminderns etc. damit in Verbindung. III. Die Aufmerksamkeit So ist Interesse in bestÈndigem Àbergang zur Aufmerksamkeit. Dieser Zusammenhang fÈllt unter den allgemeineren Gesichtspunkt, daß wir den Èußeren EindrÝcken nicht in toter PassivitÈt preisgegeben sind, sondern jeder Eindruck eine Reaktion Lebendigkeit hervorruft. Dieses allgemeine VerhÈltnis kennen wir aber nicht nur von außen, sondern wir erleben es, und gerade das innere VerhÈltnis des GefÝhlsanteils zu der Anspannung der Aufmerksamkeit ist der Kern dieses Erlebnisses. Es ist die psychische UrsprÝnglichkeit dieses Vorgangs eben durch diesen Zusammenhang offenbar.

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IV. Aufmerksamkeit und Bewegungsempfindungen Die Struktur des organischen GeschÚpfes ist physisch [?] in der Reaktion auf den Reiz durch die Bewegung bedingt. Diejenigen Bewegungsreaktionen, welche innerhalb des angeregten Auffassungsvorgangs ihren Zweck haben, bilden eine besondere Klasse. Diese Bewegungen sind großenteils fÝr den, der sie vollzieht, unsichtbar, von geringem Umfang, rasch verlaufend. Die mit ihnen verbundenen Bewegungsempfindungen sind sehr minimal. Daher werden sie durchweg von uns nicht beachtet und ihr Empfindungsertrag, die Spannungsund Bewegungsempfindungen gehen in das Bewußtsein der Aufmerksamkeit ein. [H.] HÚffding[, Psychologie in Umrissen auf Grundlage der Erfahrung. Unter Mitwirkung des Verfassers nach der zweiten dÈnischen Aufl. Ýbersetzt von F. Bendixen, Leipzig 1887, S.] 148: „Beim Schmecken ist die Bewegung der Zunge von Bedeutung; feste Teile der Speise werden an den harten Gaumen gedrÝckt und erst hierdurch schmeckbar. Geruchsempfindungen entstehen nur, wenn die Luft durch die Nase eingezogen wird. HÈlt man die Luft zurÝck, so hÚrt jede Geruchsempfindung auf, selbst wenn man sich in einer stark duftenden AtmosphÈre befindet. Beim HÚren bewegen wir den KÚrper oder doch jedenfalls den Kopf, bis wir diejenige Stellung finden, in welcher der Laut am stÈrksten gehÚrt wird. Bei aufmerksamem Horchen scheinen die Muskeln des Trommelfells sich zusammenzuziehen. Die Bewegung ist indes vorzÝglich beim Gesicht und Tastsinn von großer Wichtigkeit. Das Auge muß der Entfernung des Objekts akkomodiert werden, was durch Zusammenziehung der feinen Muskeln geschieht, wodurch die FlÈchen der Linsen stÈrker gewÚlbt werden, indem zugleich die Sehachsen der beiden Augen so gerichtet werden, daß sie sich in dem aufzufassenden Gegenstande schneiden. Bei jeder bestimmten Stellung des Auges sind einige Augenmuskeln aktiv verkÝrzt, andere passiv ausgespannt; mit jeder Stellung des Auges ist deshalb eine gewisse Bewegungsempfindung verbunden. Wir bewegen außerdem das Auge oder vielleicht den ganzen Kopf, bis der Lichtreiz, den wir auffassen wollen, auf die Stelle des deutlichsten Sehens (den gelben Fleck) fÈllt. Die Feinheit des Tastsinns an den verschiednen Stellen des KÚrpers steht zur Beweglichkeit der betreffenden KÚrperteile in einem bestimmten VerhÈltnis; sie ist (nach Weber) am grÚßten an der Zunge, den Lippen und den Fingern, am geringsten an Brust und RÝcken.“316

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V. Auch hier herrscht aber ein KorrelatverhÈltnis von innen und außen. Unser Aufmerksamkeitsbewußtsein ist nicht der Effekt der Mitwirkung der Bewegungsempfindungen, sondern die Bewegungen sind nur die Außenseite der inneren spontanen seelischen AktivitÈt. Kußmaul sah ein Kind am zweiten Lebenstage das Licht mit dem Kopf aufsuchen. Eine des Großhirns beraubte Taube dreht den Kopf nach einem fortbewegten Licht. Es ist also etwas Triebartiges hierin. Die von James hervorgehobene Grundnatur der Seele, zu wÈhlen, macht sich hier in ganz elementarer Weise geltend. Wenn die Aufmerksamkeit den weiten Kreis der Reize ausschließt und einem engeren sich zuwendet, so geschieht dies eben durch das Richten des Auges, die Einstellung des ganzen KÚrpers bei aufmerksamem HÚren. VI. Entwicklung der Aufmerksamkeit Unterscheide unwillkÝrliche und willkÝrliche. Die willkÝrliche Aufmerksamkeit ist bedingt durch den Zusammenhang der Vorstellungen, als ein wÈhlender Akt, verschiedene FÈlle. Sie kann dem Reiz vorausgehen, anstatt von ihm geweckt zu werden. Sie kann im Wettstreit einen Eindruck festhalten.317

Sechstes Kapitel. Der Zusammenhang der anderen Seite des Seelenlebens, in welcher die RÝckwirkung auf Reize oder Vorstellungen BewegungsvorgÈnge herbeifÝhrt, nach seiner kÚrperlichen Seite angesehen318 Von dem Teil der Reize und Wahrnehmungen der Vorstellungen und Denkprozesse wird nun bestÈndig eine andere Reihe von VorgÈngen angeregt; von GefÝhlen und TriebÈußerungen geht sie zu den BewegungsvorgÈngen, welche dem Eigenleben die Wirklichkeit anpassen. Wir sondern in diesem Zusammenhang zwei Zustandsformen aus: GefÝhle und WillensvorgÈnge; sie sind durch charakteristische Merkmale voneinander getrennt, dann aber gehen doch die großen Triebe der Menschen aus einer dieser Formen in die andere Ýber. Bevor wir doch diese beiden Zustandsformen beschreiben, soll der Zusammenhang selber, innerhalb dessen sie auftreten, beschrieben werden. Wir erinnern zunÈchst an die bekannten Tatsachen Ýber seine kÚrperliche Unterlage.319

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Eine Nadel320 berÝhrt meine Hand, und ich bringe augenblicklich durch eine zurÝckziehende Bewegung meine Hand in Sicherheit; der erste Teil dieses Vorgangs ist aus der bisherigen Darlegung klar. Ein in der Haut gelegener Nerv wird gereizt. Die Erregung gelangt in der Reihe zuleitender Nervenfasern zum RÝckenmark, von diesem zu dem mit ihm verbundenen Gehirn; nun wird uns bewußt, was im Gehirn vorgeht, wir empfinden den Stich der Nadel. Aber wie kommt es nun, daß wir unmittelbar darauf die Hand zurÝckziehen? Die Muskeln, deren Zusammenziehung die Bewegung erwirkt, liegen ein ganzes StÝck von der berÝhrten Stelle am Unter- und Oberarm. Der in der Haut gelegene Nerv, der durch die Nadel gereizt wurde, steht in keiner direkten Verbindung mit diesen Muskeln. Ebensowenig wirkt der Wille ohne Zwischenglieder auf diese Muskeln. Vielmehr wirkt der Wille nur auf das Gehirn. Dieses veranlaßt dann unter Vermittlung des RÝckenmarks und den aus Hirn und RÝckenmark entspringenden Bewegungsnerven diese Muskeln zu ihren Kontraktionen. Werden diese Bewegungsnerven, die zu den Muskeln hinlaufen, durchschnitten, dann ist gleichsam der Telegraph, der den Befehl vom Gehirn aus den Muskeln zuleitet, unterbrochen. Das Gehirn mag dann umsonst so energisch es will dem Telegraphen seine Befehle Ýbermitteln, zu den Muskeln gelangen sie nicht, der Arm oder das Bein bleiben unbewegt. Die321 ZweckmÈßigkeit, mit welcher im Bewußtsein der entwickelten Tiere und des Menschen solchergestalt vom eindringenden Reize bis zur Abwehrbewegung die VorgÈnge ineinandergreifen, gleich Gliedern einer wohlgefÝgten Kette, dieses Korrelat der ZweckmÈßigkeit in der Verkettung der psychischen Prozesse, in sich das ganze RÈtsel und Wunder der ZweckmÈßigkeit von tierischen KÚrpern einschließend, wird noch viel deutlicher, wenn wir nun die FÈlle beobachten, in welchen die Verkettung der kÚrperlichen VorgÈnge ohne jedes Zwischeneintreten von Wille dem Reize die zweckentsprechende Bewegung folgen lÈßt. Es gibt kaum ein verwunderlicheres Schauspiel als die Reihe jener Versuche, welche mit PflÝgers Beobachtungen am enthirnten Frosch begannen. Das hirnlose Tier wischt und reibt die von einer Ètzenden FlÝssigkeit betupfte RÝckenstelle mit der nÈchstliegenden Pfote. Nun bindet man diese an, so versucht es mit einer anderen Pfote die gereizte Stelle zu erreichen. Dieses alles mit dem hÚchsten Anschein von ZweckmÈßigkeit und Absicht, unter Aufbietung der am passendsten zu verwendenden Muskelgruppen. Danach besteht zwischen diesem hirnlosen Tier und dem unversehrten ein bemerkenswerter Unterschied im Benehmen. Der Frosch, dessen Gehirn seine Bewegungen Ýberwacht, springt, wenn er mit der SÈure betupft wird, zuerst in einen Winkel und bringt sich in Sicherheit. Dann erst beginnt er die gereizte Stelle zu reiben. Sonach vermag das RÝckenmark einen festen, starren, doch zweck-

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mÈßigen Mechanismus verketteter Bewegungen einzuleiten. Diesen gibt seine ZweckmÈßigkeit den Schein der Absicht und der WillkÝr; aber Àberlegungen, welche den Ablauf dieses so zweckmÈßigen Reflexmechanismus hemmen [?], gehen nur vom Gehirn des unversehrten Frosches aus. Ein enthirnter Frosch, welchem der RÝcken gestreichelt wird, lÈßt seine Stimme ertÚnen. Der Schwanz der enthirnten Eidechse oder des enthirnten Aales wendet sich nach einem sanften Streicheln zu und von einem heftigen Reize ab.322

Siebentes Kapitel. Die GefÝhle323 Doch324 kÚnnen nicht die GefÝhlsfÈrbungen [?] so verschiedener ZustÈnde abgetrennt und als voneinander qualitativ unterschieden aufgezeigt werden. Die Ansicht, welche solche qualitativen Unterschiede annimmt, wie viel wahrscheinlicher sie auch ist, kann doch nicht erwiesen, und die, welche nur Gradunterschiede als ursprÝnglich diesem Teilbestandteil Lust eigen anerkennt, kann nicht widerlegt werden. Die Schwierigkeit, welche der psychologische Analytiker hier findet, ist teilweise durch die andere bedingt, welche sich bisher dem Physiologen und Psychophysiker entgegengestellt hat, so oft er die kÚrperliche Unterlage der GefÝhlszustÈnde festzustellen versuchte. Der Vorgang in der Bahn des sensiblen Nerven, von der Reizung seiner Endigung im Sinnesapparat bis zu der Erregung der SinnesflÈche des Gehirns, Ýber welchem die Empfindung sich aufbaut, kann in bezug auf seine Leistung und seine Umrisse keinem Zweifel unterliegen.325 Ebenso entspricht ein Vorgang, der in umgekehrter Richtung vom Zentralapparat aus im motorischen Nerven stattfindet und die Kontraktion des Muskels herbeifÝhrt, der willkÝrlichen Bewegung. Dagegen ist der Vorgang in unserem Nervensystem, Ýber welchem sinnliche Lust und sinnlicher Schmerz und weiterhin andere GemÝtszustÈnde sich aufbauen, dem Versuch der Physiologen eben darum weniger zugÈnglich, weil eben die Mitte zwischen Reiz und Bewegung hier den Tatbestand bildet. Dennoch kann ein psychophysischer Zusammenhang zwischen den GefÝhlsvorgÈngen und den kÚrperlichen VerÈnderungen in weitem Umfang festgestellt werden. ZunÈchst326 haben alle, welche das GefÝhlsleben untersucht haben, irgendeine Beziehung zwischen der Vermehrung des Inbegriffs der KrÈfte, welche das Ich konstituieren, und dem Auftreten der Lust, irgendeine Beziehung zwischen der Verminderung dieser KrÈfte und dem Schmerze angenommen. Auf dieser Beziehung beruht eine zweifellose Anpassung der tierischen Organismen an

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die wechselnden Lebensbedingungen sowie die Steigerung ihrer nÝtzlichen Eigenschaften. Denn sie ist nicht in der Einsicht in den Zusammenhang der Lebensbedingungen und FÚrderung des Lebens, sondern in diesem unfehlbar wirkenden Zusammenhang zwischen den Bedingungen und der die LebensfÚrderung reprÈsentierenden Lust begrÝndet. Sowohl jene Vermehrung als diese Minderung der das Ich konstituierenden KrÈfte ist als eine psychophysische Tatsache anzusehen. Die Einrichtung, in welcher nun diese Tatsache durch die Einschaltung eines spezifisch gefÝhlserregenden Vorganges in den sensiblen Nerven mit Lust und Schmerz verbunden ist,327 ist zwar bis jetzt noch nicht mit Sicherheit nachgewiesen, doch kann zunÈchst keinem Zweifel unterliegen,328 daß unsere GefÝhle und ihre Zusammensetzungen zu GemÝtsbewegungen ebenfalls in Nervenprozessen ihr Korrelat haben. [H.] Spencer[, Die Principien der Psychologie. Autorisirte deutsche Ausgabe. Nach der dritten englischen Aufl. Ýbersetzt von B. Vetter, Band] I[, Stuttgart 1882,] S. 124. Blutarmut ist eine Ursache von Apathie, Nervenreizmittel machen die Emotionen lebhafter, sie wecken die Lebensgeister. Ich meine, die Affekte, die so entstehen, kÚnnen mit den von geringen Empfindungsreizen ausgehenden Halluzinationen der ReiztrÈume verglichen werden. GefÝhle und ihre Zusammensetzungen verhalten sich zum Zeitverlauf wie der Nervenprozeß, sie erfÝllen eine wahrnehmbare Zeit. Zorn oder Furcht steigen allmÈhlich zu ihrer vollen HÚhe und Ýberdauern dann ihre Ursache. GemÝtsbewegungen haben dann auch augenscheinlich einen Verbrauch im Nerven zufolge, sie treten daher in einzelnen ErgÝssen oder AusbrÝchen auf, sie wachsen oder nehmen dann wieder ab. Ein Erguß ist von dem anderen durch ein Intervall getrennt, sie verlaufen in getrennten Perioden, dies ist augenscheinlich durch den Verbrauch bedingt, der in dem Nerven stattfindet. Ein bestimmtes Bild des VerhÈltnisses glaubt Meynert schon entwerfen zu kÚnnen: Psychiatrie 162 f. Meynert erblickt das physische Korrelat des GefÝhlsvorgangs in zwei miteinander verbundenen VerÈnderungen, welche wÈhrend desselben in den Nerven stattfinden. Er geht von dem GefÝhl des Schmerzes aus. Wir nennen einen pathologischen Zustand, in welchem die FÈhigkeit zu Empfindungen fortdauert, aber die zu SchmerzgefÝhlen ausgefallen ist, Analgesie. Nach den Experimenten von Schiff werden nun Hautreize bei Tieren, welche experimentell der Leitung durch die graue Substanz beraubt wurden, nur in Lust- und Temperaturempfindungen aufgefaßt, wÈhrend sie keine Schmerzempfindung hervorbringen. Die Leitung durch das Fasernetz der grauen Substanz, welche hier ausgefallen, ist nun eine viel langsamere als in der peripherischen Nervenbahn, hat also grÚßere WiderstÈnde zu Ýberwinden; dem SchmerzgefÝhl geht also zunÈchst eine Hemmung der Leitung in der grauen Substanz parallel. Zugleich aber wirkt die Reizung, je mehr sie aus-

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strahlt, desto extensiver und intensiver auf die Ringmuskulatur der GefÈße, deren Zentren sich im RÝckenmarkgrau befinden. Diese reflektorische Arterienverengerung hat dann erhÚhten GefÈßdruck zur Folge. So bewirkt KÚrperschmerz Ohnmacht, und unter den Schmerzen der Folter tritt das sogenannte Einschlafen ein. So ruft Arterienverengerung durch Herabsetzen der Atmung in den Nervenelementen eine dyspnoetische Phase ihrer ErnÈhrung hervor, ihr Chemismus wird verÈndert.329 Die so dyspnoetische Intoxikation der Gewebe [be]wirkt Abwehrbewegungen, insbesondere ruft sie die Transpiration hervor. Diesem ganzen Vorgang ist ein SchmerzgefÝhl Korrelat, dagegen mÝssen leise angenehme Reize in direkter Leitung ohne Àberwindung von Hemmungen und ohne Irradiation zu umschriebenen Zentren gelangen. Diese Ungehemmtheit der Nervenleitung ist von LustgefÝhl im Bewußtsein begleitet. Und bei einem solchen ungehemmten, keine Irradiation erzwingenden Reize fÝr die Angriffsbewegungen fehlt nicht nur der erhÚhte GefÈßdruck, vielmehr findet eine arterielle Erweiterung, die sogenannte Funktionshyposmie statt. Die ErhÚhung der Gewebeatmung in den Nervenelementen ruft in ihnen einen mehr apnoetischen Zustand hervor und verÈndert so den Chemismus derselben. Diese VorgÈnge sind dem LustgefÝhle Korrelat, und dieselben VorgÈnge im Nervensystem, welche hier durch Reize erwirkt werden, mÝssen auch durch Erinnerungsbilder, Vorstellungen, Assoziationen hervorgerufen werden kÚnnen.330 Satz 3. GefÝhle und Affekte zeigen an vielen Stellen physiologische Begleiterscheinungen, und es darf angenommen werden, daß diese Ýberall stattfinden. Àber dies nachweisbare VerhÈltnis kann nicht hinausgegangen werden, und wir dÝrfen nicht diese ZustÈnde auf ihre Begleiterscheinungen zurÝckfÝhren wollen. Das VerhÈltnis spricht aber, da die Begleiterscheinungen von denen der Empfindungen verschieden sind, fÝr die Unableitbarkeit dieser ZustÈnde von VorstellungszustÈnden. Satz 4. [C.] Lange, Àber GemÝtsbewegungen[: eine psycho-physiologische Studie, Leipzig] 1887 ([S.] 350 bei [W.] Wundt[, Zur Lehre von den] GemÝthsbewegungen[, in: Philosophische Studien VI (1891), S. 335–393]) hebt hervor, daß die Affekte von InnervationsstÚrungen begleitet sind. Diese treten in den GefÈßmuskeln, den willkÝrlichen Muskeln und dem Muskelapparat der Eingeweide auf.

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Er unterscheidet als primÈre Affekte diejenigen, welche abgegrenzte Bilder der physiologischen Begleiterscheinungen geben. Es sind EnttÈuschung, Kummer, Schreck, Verlegenheit, Spannung, Freude, Zorn. In der Freude und im Zorn findet eine Erweiterung der GefÈße und eine ErhÚhung der willkÝrlichen Innervation statt. Im Zorn tritt das Merkmal der Inkoordination der Bewegungen hinzu. Kummer stellt das Gegenbild dar. In ihm tritt GefÈßverengung und SchwÈchung der willkÝrlichen Innervation auf. Im Schreck tritt zu diesen beiden Begleiterscheinungen als dritte die Spannung in den organischen Muskeln auf. EnttÈuschung und Verlegenheit sind dann einander verwandt. Bei beiden ist SchwÈchung der willkÝrlichen Innervation zu beobachten. Bei der Verlegenheit tritt noch Inkoordination der Bewegungen hinzu. Er betrachtet diese physiologischen (psychophysischen?) Prozesse als die hervorbringenden Ursachen der psychischen Grundaffekte. Aus diesen so entstehenden Affekten und den in sie eingehenden [?] psychischen Prozessen sind nach ihm dann alle hÚheren Affekte zusammengesetzt. So sind Neid, Liebe, Bewunderung [?] solche Zusammensetzungen. Wundt GemÝtsbewegungen 361. Diese Bestimmungen kÚnnen schon an den Ausdrucksbewegungen, welche Begleiterscheinungen der Affekte sind, aufgefaßt werden. Wir benutzen daher diese Begleiterscheinungen als Zeichen fÝr die Anwesenheit von Affekten. Wo sich Abweichungen in der Herz- und GefÈßinnervation kundgeben (wo RÚte plÚtzlich auftritt, BlÈsse), wo Bewegungen der pantomimischen und mimischen Muskeln: das setzt einen Affekt voraus. Aber die bedeutenden Untersuchungen von Mosso Ýber die Furcht ([A.] Mosso, Die Furcht[, Leipzig] 1889) haben gezeigt, daß auch, wo solche Kennzeichen nicht zur Entfaltung [?] hervortreten, doch physiologische VerÈnderungen in der Herz- und GefÈßinnervation immer vorauszusetzen sind. Diese Ansicht kann nun aber auch durch experimentelle Arbeiten von Schiff, Dittmar und anderen begrÝndet werden. Zusammenstellung in Meynert Psychiatrie. Ausgangspunkt der sinnliche Schmerz. Sinnlicher Schmerz ist im RÝckenmark von reflektorischer Verengerung der Arterien begleitet, sie verÈndert den Chemismus der Nervenzellen in ungÝnstiger Weise (171–3). Weiter dann Abwehrbewegung. [. . .]

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Achtes Kapitel. WillensvorgÈnge, welche Zwecke durch Bewegungen verwirklichen Auf der Unterlage des Reflexmechanismus in regelmÈßigen Beziehungen zu dem Wechsel der GefÝhle laufen nun die WillensvorgÈnge ab. Dieselben sind von SinneseindrÝcken oder Vorstellungen angeregt und bringen mit Bewußtsein zweckmÈßige Bewegungen hervor. Die tierisch-menschliche Lebenseinheit empfÈngt von außen Reize und bildet Empfindungen, Vorstellungen, Denken, in denen sie sich die Èußere Wirklichkeit aneignet; aus dem VerhÈltnis dieser Wirklichkeit zum Eigenleben enstpringt dann eine kÝrzere oder lÈngere Kette von VorgÈngen, welche durch Bewegungen reagieren. Diese Zweiseitigkeit der tierisch-menschlichen Organisation, gleichsam ihre linke und rechte Seite (bilateral), wurde formelhaft und darum einseitig in der Èlteren, auf Aristoteles gegrÝndeten Psychologie durch den Unterschied des theoretischen und des praktischen Verhaltens bestimmt. TatsÈchlich bilden VorgÈnge des GefÝhls und Wollens die ganze, gleichsam nach Innen gerichtete Seite des Seelenlebens. Im Wechsel von Interesse und Aufmerksamkeit sind sie schon enthalten; sie steigern sich in dem Bestimmen, VerdrÈngen, Beherrschen von Vorstellungsmassen und GefÝhlen, bis sie dann in den mÈchtigsten Willensaktionen Ýberhaupt auftreten. Denn diese sind eben die inneren. Der Unterschied der beiden Ketten von VorgÈngen, welche im Seelenleben ablaufen, ist nicht der eines vorstellenden und wollenden Verhaltens. Derselbe ist vielmehr durch das VerhÈltnis einer psychophysischen Lebenseinheit zu ihrem Milieu bedingt. Die eine Kette von VorgÈngen verlÈuft von außen, von den Reizen her nach innen in zunehmender Zusammensetzung innerer VorgÈnge und zunehmender Energie innerer Arbeit. Die andere Kette von VorgÈngen geht von innen nach außen zu den Bewegungen hin. Auch in diese zweite sind die GefÝhle eingeschaltet. Aber die mÈchtigsten Glieder der Kette sind WillensvorgÈnge. Diese betrachten wir nun. Man vertiefe sich mit den Biologen in den geschilderten Reflexmechanismus. Die Auffassung gehe von diesem physiologischen Apparate aus, der so kunstvoll, so zweckmÈßig arbeitet. Dann erscheinen die WillensvorgÈnge als eine Einschaltung in diese Maschine. Diese Einschaltung dient entsprechend der Hirnfunktion Ýbergeordneten Zwecken als ein Hemmungsapparat oder ein vielgestaltiger, kunstvoller und feiner von oben verbindender Apparat. Dann ist etwa nach Herbert Spencer331 die unwillkÝrliche Bewegung dadurch bedingt, daß die den Reizvorgang und die Einleitung der Bewegung begleitenden psychischen VerÈnderungen innig zusammenhÈngen, eine auf die andere

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folgt. Dagegen hat nach ihm die willkÝrliche Bewegung zur Voraussetzung: daß nur ein unvollkommener Zusammenhang besteht. So tritt eine VerzÚgerung des psychischen Endvorganges ein, Erinnerungen frÝherer motorischer VorgÈnge, daran geknÝpfter GefÝhle, der Wettstreit mehrerer solcher Bewegungsbilder schieben sich ein: so geht nach Spencer der automatische Vorgang in den Willensvorgang Ýber: das Wollen dÈmmert auf. Nun aber stellt sich dem Psychologen das Auftreten der Bewegungshandlungen im Seelenleben unter einem ganz entgegengesetzten Gesichtspunkte dar. Man gehe von der im tierischen Leben allgegenwÈrtigen Regsamkeit aus. Die Betrachtung folge den vielfachen VorgÈngen, welche von einem Bewußtsein von TÈtigkeiten begleitet sind, der Aufmerksamkeit, dem Trieb. Dann kann man mit Wundt332 Ýberall, wo die mechanische Bewegung deutlich den Charakter der ZweckmÈßigkeit an sich trÈgt, auf einen Ursprung aus Willenshandlungen schließen. Der große Beleg fÝr diese Auffassung liegt in der fortdauernden Vervollkommnung dieses Reflexmechanismus durch die Àbung. Nach ihr schafft sich also der Wille selbst im Laufe der Zeit die mechanischen Vorrichtungen, und selbst die ganz automatischen Herz- und Atembewegungen kÚnnten aus anfÈnglichen Trieberregungen entsprungen sein. Sowohl dieser psychologische Gesichtspunkt als die vorher angedeutete biologische Auffassung wÝrde da nun eine Anordnung der Formen solcher von WillensvorgÈngen begleiteten Bewegungen nach inneren genetischen Beziehungen ermÚglichen. Wenn wir in dieser Grundlegung Unbewiesenes ausschließen mÝssen, so kÚnnen wir die Formen nur nebeneinander stellen, dagegen mÚgen die beiden vorgelegten Ansichten dazu dienen, die innere Lebendigkeit, in welcher sie verbunden sind, zum Bewußtsein zu bringen. Die erste Form des Wollens ist die einfache vom Reiz determinierte Triebbewegung. Solche Triebe herrschen bei den niedrigsten Tieren sowie bei dem neugeborenen Kind; der Typus derselben ist der Hunger und die zur Nahrung aufnehmende Bewegung. Die WurzelfÝßer dehnen ihre KÚrpermasse in FÈden [?] aus, die sie tastend bewegen und mit denen sie die Nahrung umschließen. Die Hungerbewegungen des Neugeborenen faßt Kußmaul333 folgendermaßen auf: „Etwa sechs Stunden nach der Geburt, zuweilen aber auch viel spÈter, zwÚlf ja vierundzwanzig Stunden hernach, pflegt das Kind deutlich zu verraten, daß es von einer Empfindung heimgesucht werde, die wir als Hunger oder Durst, wahrscheinlich als eine gemischte aus beiden deuten mÝssen. Der kleine WeltbÝrger wird unruhig, erwacht, macht Saugbewegungen, wirft den Kopf hin und her, als ob er etwas suche, fÝhrt die HÈnde zum Gesicht, fÈhrt mit den Fingern im Gesichte und namentlich gern an den Lippen umher, bringt sie wohl auch in den Mund und saugt daran. Bringt man einen Finger in den Mund des Kleinen, so saugt es daran und beruhigt sich kurze Zeit,

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fÈngt aber bald wieder zu Schreien an. Streichelt man mit dem Finger abermals die Lippen, so beginnt es neuerdings Saugbewegungen zu machen, faßt auch mal nochmals den Finger und beruhigt sich wieder. Bald aber gerÈt es in lautes Geschrei und heftige Bewegungen, die bei sehr entwickelten und lebhaften Kindern den Charakter des Zornes tragen. ErmÝdet schlÈft es endlich ein, aber die Unruhe mit Geschrei kehrt bald wieder.“ Eine andre Klasse dieser einfachen vom Reiz determinierten Triebbewegungen wird durch die Abwehr- und Schutzbewegungen gebildet. Schlangentiere, Sterntiere, WÝrmer, Muscheln und Schnecken ziehen sich zusammen, ziehen die empfindlichen Teile ein, ziehen sich in HÝllen zurÝck, jedoch dies alles nur, wenn BerÝhrung auf sie als Reiz wirkt, wogegen sie Wahrnehmungsbilder entfernter Feinde noch nicht haben. Solche abwehrende Schutzbewegungen treten auch bei den Neugeborenen auf. Wir folgen Kußmaul weiter. Dieser flÚßte nun dem Neugeborenen ChininlÚsung ein; der bittere Geschmack derselben brachte im VerhÈltnis seiner IntensitÈt Ausdrucksbewegungen verschiedener Art hervor, weiterhin aber krampfhafte Zusammenziehung, WÝrgen bis schließlich hin Úfter die FlÝssigkeit samt den reichlich [. . .] vergossenen [TrÈnen] ausgestoßen wurde.334 Und zwar dieses alles vor jeder Erfahrung von Nahrungsaufnahme, also nach einem inneren GefÝhl des Trieblebens, das so mit dem SchÈdlichen die Unlust und die abnehmende Triebbewegung verkettet hat in einem nicht nur reflektorischen, sondern nach den UmstÈnden des Versuchs335 augenscheinlich triebfÚrmigen Vorgange.336 Eine dritte Klasse dieser einfachen durch den Reiz determinierten Triebe.337 So erhebt sich Ýber dem System der Reflexmechanismen die ihm zugeordnete Mannigfaltigkeit der einfachen vom Reiz determinierten Triebbewegungen. Es kann sein, daß schon im Reflexmechanismus gering merkliche, dunkle psychische Begleiterscheinungen enthalten sind, die dann durch Anwachsen der psychischen VorgÈnge in Triebbewegungen Ýbergehen. Es kann sein, daß der Reflexmechanismus scharf von den Triebbewegungen sich abgrenzt. Wir wissen es nicht. Wir fassen nun die charakteristischen Eigenschaften [der] vom Reiz determinierten Triebbewegungen zusammen. Vor dem Eintreten des Reizes eine psychische Unruhe, die sich, unbekannt mit dem Mittel ihrer Befriedigung, in ziellosen Bewegungen sich Luft zu machen sucht, wie das Neugeborene in Zappeln und Schreien das HungergefÝhl Èußert, – aber auch im spÈteren Leben kÝndigt sich der neu auftretende Trieb in dieser ziellosen Unruhe an –, dann, sobald der entsprechende Reiz dargeboten wird, [erfolgt] eine von ihm ausgehende eindeutige und auffaßbare Determination zu den entsprechenden Triebbewegungen; so das Saugen des Neugeborenen. Daher geht nun der Trieb Èhnlich der Reflexbewegung unmittelbar ohne Reflexion auf sein

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Ziel, die Befriedigung, los mit der blinden Gewalt der Natur, mit welcher der Stein fÈllt und das Wasser abwÈrts fließt. Wir wissen nicht, bis zu welcher Grenze die niedrigsten Tierformen unfÈhig sind, EindrÝcke wiederzuerkennen und so Erfahrungen zu machen. Jedenfalls haften EindrÝcke noch nicht, wo die FÝhlorgane in unbestimmtem Wechsel ausstrahlen und zurÝcktreten; erst bedarf es in bleibenden FÝhlorganen fester Sitze, wiederholter Empfindung, damit EindrÝcke sich summieren und wiedererkannt werden kÚnnen. Doch an welchem Punkt von hier ab auch Wiederkennen von EindrÝcken und damit Erfahrung in der Tierreihe auftrete, der Mensch ist nur solange erfahrungslos, als die sich formierenden EindrÝcke ein Wiedererkennen und sonach Wahrnehmen noch nicht zur Folge haben. Nur in diesem Umfange bestehen also im strengen Verstande die einfachen vom Reize her determinierten Triebe in ihm. Solche erhalten sich freilich auch noch unter gÝnstigen UmstÈnden im spÈteren Leben. Der von einem plÚtzlichen, dem Individuum Ýberlegen scheinenden [Menschen] herrÝhrende Schreck ruft eine Abwehr- oder Schutzbewegung hervor, die wie eine einfache Triebbewegung wirkt. Die meisten einfachen Triebe verÈndern nun aber ihre Form durch die Summierung der Erfahrungen; so entsteht eine zweite, etwas zusammengesetztere Form der von psychischen Prozessen begleiteten Bewegungen. Der Vorgang, welcher in der zunehmenden Zusammensetzung der WillensvorgÈnge ja gleichsam das Grundmotiv bildet, liegt in dem Wiedererkennen der EindrÝcke bei ihrer Wiederholung, bei dem Auftreten von Erinnerungsbildern, und zwar kann zunÈchst ganz beschrÈnkt an dem Reize und der von ihm herbeigefÝhrten Befriedigung das Wiedererkennen haften. Nun werden die Triebbewegungen in ihrer Macht Ýber das Seelenleben, in ihrem seelischen Gehalte, in der Dauer ihres Ablaufs durch das Wiedererkennen des ihnen entsprechenden Reizes und die Erinnerung an die so herbeigefÝhrte Befriedigung gesteigert und gleichsam verinnerlicht. Wir wollen diese zweite Form die durch Erfahrung gesteigerte Triebbewegung nennen. Auch hier macht sich nun ein allgemeines gesetzliches VerhÈltnis geltend, auf welchem der Aufbau des ganzen seelischen Zusammenhanges beruht. Die Verbindung von Reiz und triebfÚrmiger Bewegung, welche auf den Reflexmechanismus gegrÝndet ist und auf deren naturgesetzlicher Gewalt die einfachen Triebbewegungen beruhten, behÈlt die Marke der dÈmonischen Naturgewalt von ihrem Ursprung. Diese durch Erfahrung gesteigerten, vergeistigten und verinnerlichten Triebe machen nun auf dem nÈhrenden Boden des Reflexmechanismus die ganze elementare Breite des Willenslebens aus. Vielgestaltig verteilen sich an unsere Glieder und Organe sinnliche GefÝhle und Triebe: Trieb der Nahrung, der Atmung, der Fortpflanzung, Bewegungstriebe; dann mannigfache Sinnestrie-

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be, die das Kind im Dunkeln unruhig machen, Ýberhaupt aber die ErfÝllung seiner Sinne mitreizen, es verlangen lassen. Dann die mannigfachen Abwehrund Schutztriebe, der so frÝh auftretende Vergeltungstrieb, der nicht minder frÝhe gesellschaftliche oder soziale Trieb. Diese Triebe bilden gleichsam die Basis einer Pyramide, deren Spitze dann die einheitliche Willensmacht des Menschen ist. Sie sind am Beginnen der seelischen Entwicklung noch nicht miteinander verbunden. In dem Neugeborenen steht noch jeder Trieb fÝr sich und wirkt fÝr sich, doch auch in dem mehrjÈhrigen Kinde treten Trieb nach Nahrung, Reaktion auf Verletzung, zÈrtliche Hingabe, Bewegungsimpulse, SinnesbedÝrfnisse noch isoliert ohne Beziehung auf einen Zusammenhang seines Lebens auf. Ebenso ist an dem Naturmenschen das Unstete seiner Antriebe von allen Beobachtern als charakteristisch hervorgehoben worden. In einem bestimmten Augenblick drÝckt dann irgendein vorherrschender Trieb die anderen Regungen zur Unmerklichkeit herab.

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Zweiter Teil.

§ 1. Das Selbstbewußtsein § 2. Die Modifikationen des Selbstbewußtseins in Traum, hypnotischem Zustand und abnormen GeisteszustÈnden 1. Schlaf und Traum. Das Schlafwandeln Von Zeit zu Zeit leuchtet ein sehr starkes Interesse des Publikums an einzelnen Tatsachen der abnormen BewußtseinszustÈnde auf. Dieses Interesse ist in einer doppelten Richtung berechtigt. 1) Erstens geht durch die ganze Geschichte der Menschheit die Bedeutung und Einwirkung solcher Tatsachen, die man wohl als die Nachtseite der Natur bezeichnet hat. Die zuletzt eine große Rolle spielende Tatsache wird von den Hexenprozessen gebildet, welche eine lange Reihe von Jahrhunderten stÈndiger Gegenstand von Rechtspraxis an geistlichen und weltlichen GerichtshÚfen waren: bei ihnen handelt es sich um ZustÈnde der Besessenheit der Individuen von bÚsen Geistern. – DemgegenÝber steht die Geschichte der Ekstase, bis zurÝck zu den Orakeln. – Diese ganze Reihe von Tatsachen zeigt die Rolle, welche die von der Norm abweichenden ZustÈnde des Bewußtseins in der Geschichte der Menschheit gespielt haben. – 2) Zweitens haben die ZustÈnde ein sehr hohes physiologisches und psychologisches Interesse. Sie erlangen dies aber erst, wenn man das Problem verallgemeinert, wenn man, anstatt die Untersuchung auf einen einzelnen Zustand einzuschrÈnken, eine Àbersicht von den Abweichungen von der Norm des wachenden Lebens entwirft und die großen Klassen der Abweichungen von der Norm des wachen Lebens vergleicht mit den uns bekannten Folgen bestimmter StÚrungen in den normalen ZustÈnden des Gehirns. Die ZustÈnde, die eine der Hauptklassen bilden sind: Schlaf und Traum – Hypnotismus (oder der Zustand, der heute infolge des Auftretens von Sausen als Magnetismus die Naturforscher beschÈftigt) – Schlafwandeln –; die ZustÈnde mancher Epileptischer – der visionÈre oder somnambule Zustand – die dauernden SeelenstÚrungen oder der Wahnsinn bilden dann eine zweite Abteilung. Die erste Abteilung umfaßt ZustÈnde, in welchen das Bewußtsein der independenten, spontanen Bewegung fehlt. Dies kann als eine Art von traumhaftem Zustand charakterisiert werden. Dieser Zustand ist den Graden von

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der Verteilung der Herabminderung der psychischen Funktionen nach sehr verschieden. Aber in allen Klassen der ersten Abteilung mangelt wÈhrend des Zustandes die volle [?] Klarheit des Selbstbewußtseins, die volle SpontaneitÈt des Selbst in der willkÝrlichen Richtung der Aufmerksamkeit und die willkÝrliche Entschließung. Hierzu tritt als hÚchst bezeichnend und dem Traumzustand ebenfalls analog das ZurÝcktreten der KontinuitÈt des erfÝllten Selbstbewußtseins. Man kann nicht sagen, daß das GedÈchtnis in allen FÈllen gleich verringert sei, vielmehr kommen ebensogut Steigerungen einzelner Partien desselben vor, aber das normale Selbstbewußtsein ist nicht vorhanden. Daher auch in vielen FÈllen Vorstellungen einen visionÈren Charakter annehmen. Die pathologischen Feststellungen nÚtigen uns, diesen Zustand mit einer Abweichung des Funktionierens des Großhirns von ihrer Norm in Beziehung zu setzen. Das Problem ist, die Beziehungen der verschiedenen Klassen von Abweichungen des Bewußtseinslebens von seiner Norm zu den verschiedenen Klassen von Abweichungen der Funktion des Großhirns anderseits [?] aufzusuchen. Diesem Problem konnte man erst in neurer Zeit nÈhertreten, seitdem [man] eine Reihe von Tatsachen der funktionalen Beziehung zwischen psychischen Tatsachen und Teilen des Gehirns aufzuklÈren begonnen hat. Versuch einer ErklÈrung der Grundtatsache, daß Vorstellungen sich Wahrnehmungsbildern annÈhern kÚnnen. – Die Halluzination und die Illusion338 Soweit ich finde – erst Fechner hat die Hypothese aufgestellt [Elemente der] Psychophysik [Teil] II, [Leipzig 1860, S.] 519 : „Man kann es nicht unwahrscheinlich finden, daß die TÈtigkeit, welche vom Èußeren Lichte zunÈchst im Sehnerven angeregt wird und sich erst von da weiter zum Gehirne fortpflanzt, bei den Nachbildern auch noch in dem Sehnerven selbst fortklingt und bei den VorstellungsphÈnomenen, wenn sie bis zur sinnlichen Lebhaftigkeit gedeihen, sich wieder rÝckwÈrts bis dahin erstreckt, wÈhrend dies nicht bei schwÈcheren Vorstellungsbildern der Fall ist.“ ([A.] Horwicz[, Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage. Ein Versuch zur NeubegrÝndung der Seelenlehre,] II[. Theil, Erste HÈlfte. Die Analyse des Denkens. Grundlinien der Erkenntnisstheorie, Halle 1875], [S.] 172 zitiert Fechner, auch also [?] den weiteren Satz, daß die Erinnerung Nachbilder hinterlÈßt. Ich finde diesen aber vorlÈufig nicht bei Fechner.) FÝr diese Annahme kann [W.] Wundt Vorlesungen [Ýber die Menschenund Thierseele, a. a. O., Band] I, [S.] 387 der folgende Beweis erbracht werden. Die Wahrnehmung kann Nachbilder in komplementÈren Farben erzeu-

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gen. Dies ist durch die ErmÝdung der Endorgane des Sinnesorgans bedingt. Nun beobachtet man ein ebensolches Nachbild auch bei lÈnger dauernden Phantasiebildern, wenn auch in weit geringerer IntensitÈt. Wenn man bei geschlossenem Auge ein gerade in mÚglichst lebhaften Farben bestehendes Phantasiebild lÈngere Zeit festhÈlt und dann, das Auge Úffnend, gegen eine weiße FlÈche sieht, so sieht man auf diese kurze Zeit das Phantasiebild in den ErgÈnzungsfarben fortbestehen. So dann auch Horwicz II, 172, wir wissen jetzt, daß die geistige TÈtigkeit der Erinnerung von einer Erregung der betreffenden Sinnesnerven bzw. ihrer Endigungen im Gehirn begleitet ist. Dies ergibt sich daraus, daß auch die Erinnerung oftmals gerade so Nachbilder hinterlÈßt als die Empfindung. Horwicz II, 174 stÝtzt diese Annahme durch eine wichtige Analogie – alle hÚheren GefÝhle werden von einem derartigen sinnlichen GefÝhlsaffekt begleitet, dem sie ihre charakteristische FÈrbung verdanken. So scheinen auch die Erinnerungen von einem bildartigen Reflex auf das Sinnesorgan, d. h. entweder bloß auf ihre Endigungen im Gehirn oder auf ihre Ausbreitung der Außenwelt entgegen [?], begleitet zu sein. Diese Miterregung kann nun auch schon [?] unter [?] dem Einfluß des Zustandes des Sinnesapparates sowie unter dem des Gehirns bis zur Halluzination oder Illusion fÝhren. Wir verstehen unter Halluzination Fechner[, Elemente der Psychophysik, Theil II, a. a. O., S.] 504 f. „TÈuschungen, die ganz oder beinahe den Charakter von außen erweckter Sinneswahrnehmungen fÝr den GetÈuschten annehmen, ohne daß in der Èußeren Wirklichkeit etwas zu ihrer Anregung vorhanden ist.“ Vision nennen wir die Halluzination des Gesichtssinnes. Und Halluzination setzen wir gegenÝber der Illusion: „Halluzination, das meint von einem Èußeren Sinneseindruck ausgehend“ (505) = Halluzination. [Illusionen sind] „TÈuschungen, wozu allerdings ursÈchliche Objekte vorhanden sind, welche aber falsch aufgefaßt werden.“ [. . .]339 Die ÈußergewÚhnliche Reizbarkeiten des Gehirns, welche fÝr dieses anomale Funktionieren des Vorstellens bedingend sind, kÚnnen durch mannigfache Ursachen hervorgerufen werden. So durch toxische Substanzen wie Opium, Haschisch, Alkohol, Belladonna etc. So scheinen bei den ZaubertrÈnken der frÝhen Zeiten AbkÚmmlinge [?] des Stechapfels eine bedeutende Rolle gespielt zu haben: sie rufen die sinnlichen Halluzinationen hervor. Andererseits wirkt Genuß von Belladonna Èhnlich dem SÈuferwahnsinn:340 unangenehme Tiere verfolgen den Deliranten. Im Gegensatz dazu Haschischesser finden alle Sinneserregungen gesteigert, angenehmes Farbensehen, Fliegen durch weite HimmelsrÈume. – Ebenso Opium. Vgl. den letzten Roman von Dickens, in dem ein Opiumesser vorkommt. – Andererseits wirken BlutfÝlle, EntzÝndungen der Hirnhaut und Hirnrinde sowie Blutleere wie ungenÝgend oder gÈnzlich

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mangelnde Nahrung. So erregt Fasten ekstatische ZustÈnde. Beim Eintritt der Mannbarkeit zieht sich der junge Indianer in die Einsamkeit zurÝck zum Fasten. Hier empfÈngt er visionÈre EindrÝcke, die ihm seinen Charakter fÝrs Leben aufprÈgen. Die Zulus bemerken fast sprichwÚrtlich: „Der fortwÈhrend gefÝllte Magen kann keine geheimen Dinge sehen.“ [. . .] Der Traum Schlaf Auch in bezug auf den Schlaf wirken bestimmte narkotische Mittel herbeifÝhrend, andere Mittel wirken ihn fernhaltend; somit hier liegt ein von uns kÝnstlich herbeifÝhrbarer Zustand des Gehirns vor. [. . .] [W. Wundt, GrundzÝge der physiologischen Psychologie, Leipzig 1874, S.] 184 Automatische Erregungen nennen wir solche, welche einem Nervenzentrum nicht von außen mitgeteilt sind, sondern in ihm selbst entsprungen. Alle haben denselben Ursprung: es sind die ZustÈnde des Bluts oder seiner VerÈnderungen, aus denen die inneren Reizungserscheinungen hervorgehen. Am auffÈlligsten ist dies bei den fÝr die vegetativen LebensvorgÈnge ausnehmend wichtigen automatischen Erregungen, die den Nervenfasern [?] des verlÈngerten Marks entspringen. Physiologische: Wundt 188: Von den automatischen Zentren der Medulla oblongata gehen Einwirkungen der Blutzirkulation aus. Diese rufen wÈhrend des Schlafes Reizungserscheinungen der sensorischen Hirnteile hervor: so entsteht die gewÚhnliche rein sensorische Form des Traums. Der Traum ist zunÈchst Folge einer VerÈnderung der Blutzirkulation im Gehirn. – Diese geht wahrscheinlich von den Zentren der GefÈß- und Atmungsinnervation aus. [. . .] Automatisch erregte Empfindungen, manchmal unter Einwirkung anderer, die direkt durch Èußere EindrÝcke geweckt sind, werden zu Vorstellungen verwebt. Manchmal vermischen sich damit auch motorische Erregungen: es entstehen Muskelbewegungen, am hÈufigsten an den Sprachwerkzeugen, die sich mit [?] der sensorischen Erregung zu einer mehr oder weniger zusammenhÈngenden Reihe von Vorstellungen und Folgen verknÝpfen. Hierbei ist die automatische Erregung nicht mehr ausschließlich bestimmend, sondern es treten zugleich die mannigfachen Wechselwirkungen der verschiedenen sensorischen und motorischen Zentralteile hervor, wie sie mitgegeben und wie sie erworben sind. Da die automatischen Erregungen bestÈndig fortgehen, so unterbrechen sie

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bestÈndig die Vorstellungsverwebungen, die angesponnen sind. – Und so entsteht die InkohÈrenz des Traums. GrÝnde fÝr diese physiologische Annahme Daß automatische Erregungen, welche von den Innervationszentren des verlÈngerten Marks ausgehen, Ursprung der Traumerscheinungen bilden Wundt 189: Behinderungen der Respiration sind sehr hÈufige Begleiterscheinungen des Schlafes. NÈher [P.] Radestock[, Schlaf und Traum. Eine physiologischpsychologische Untersuchung, Leipzig 1879, S.] 76: die Atmung ist tiefer und langsamer, die Pulsfrequenz ist verringert, die WÈrmeerzeugung und EigenwÈrme des KÚrpers sinkt ebenfalls. Bei Trepanierten bemerkt man im Schlaf ein Einsinken des Gehirns. Der Stoffwechsel ist trÈger. Wenn, wie Heidenhain beobachtete, bei Reizung der Empfindungsnerven sich eine Temperaturabnahme zeigt, so wird bei geringer Erregung derselben im Schlaf auch hier WÈrme gespart. Bei der vermehrten Aufnahme von Sauerstoff wird Brennmaterial angehÈuft. Diese WÈrme ersparende Kraft sammelt sich also im Organismus, besonders aber im Gehirn und dem ganzen Nervensystem, dem großen Reservoir der KrÈfte in Form von Spannkraft, bis 7 am Morgen diese in lebendige Kraft ÝbergefÝhrt wird. Dieser Herabsetzung der organischen Funktionen entspricht die Verminderung der psychischen TÈtigkeit. Zugleich finden aber andererseits in Folge der VerÈnderung der Blutzirkulation vorÝbergehende leise Erregungen im Sensorium statt, welche das Traumbild hervorrufen. Deskription psychologische Hieraus ergeben sich die psychologischen EigentÝmlichkeiten des Traumlebens. [. . .] Der Bewußtseinszustand im Traumleben Allgemeine Charakteristik: allgemein: Das volle und erfÝllte Selbstbewußtsein als PrÈsenz der KontinuitÈt des Lebensbestandes ist nicht vorhanden. = Der Schlaf tritt aus der KontinuitÈt des wachen Lebens, und auch unter Einfluß des Traumes keine KontinuitÈt. Um so interessanter (und fÝr die Tatsache der Natur unserer Vorstellungen hÚchst instruktiv) ist, daß (Radestock 146 ff.) trotzdem im Traum ein Zentrum da ist, von welchem aus Gesichtsbilder gesehen werden, welchen Lust- und SchmerzgefÝhle zukommen, und das

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Fluchtbewegungen macht, von heftiger Angst, Panik [?] etwa, sich bewegen mÚchte, sich zu bewegen strebt – welches [?] von anderen Individuis unterschieden wird. Sehr instruktiv, daß auch nach Aufhebung des vollen Selbstbewußtseins jede Wahrnehmung oder jedes GefÝhl oder jede Strebung nicht wie ein isolierbares WÚlkchen am Horizont unseres Bewußtseins schwebt – dergleichen gibt es eben Ýberhaupt nicht – sondern sozusagen entworfen ist vom Ichpunkte aus, welches aber nunmehr nicht erfÝllt ist, nur das leere punktuelle Zentrum ist. Hiermit zusammenhÈngend: [. . .] 1. Die Traumvorstellungen sind subjektiv, sie haben also a) nicht die Konstanz, welche durch das Verharren der Sensation auf der Netzhaut erhalten wird; b) nicht die Wirklichkeit, welche der Willenswiderstand [bezeugt]. Dieser Widerstand kann in bezug auf unsere EindrÝcke nur darin bestehen, daß der Eindruck nicht in Zusammenhang mit dem System unserer Energien von uns gewußt ist und daß er [nicht] durch unseren Willen beseitigt werden kann und endlich daß ein GefÝhl von Impression, wie sie alle Klassen der Tastempfindung zeigt, darin enthalten [ist]. Daher die Tastempfindung oft als Garant der Wirklichkeit bezeichnet wurde. Aber sie ist [es] darum, weil hier der Widerstand gegen den Willen ausdrÝcklich gefÝhlt wird, weil diese Empfindung dahintersteckt. 2. Die Bilder laufen ohne Konstanz ab. Und zwar findet eine Metamorphose desselben Bildes statt, wie sie nie wÈhrend des wachen normalen Lebens der Fall ist. Wildente verwandelt sich in Paradiesvogel, dieser in Pfau, dieser in Storch. Gruithuisen trÈumte auf Pferd zu reiten, das ein Bock [?] – ein Kalb – eine Katze – ein schÚnes MÈdchen – eine alte Frau –, dabei wandelte sich der Baum, auf dem die Katze kletterte, in eine Kirche – diese in einen Garten. Hier zeigt sich Zusammenhang mit Metamorphose der Bilder vor Einschlummern = die Bewegungen im Gesichtsfeld rufen an dieser Stelle rasch ineinander Ýbergehende Bilder hervor. Tieck in seinem MÈrchen hat dies gut dargestellt: in dem MÈrchen von Runenberg wandelt sich das schÚne MÈdchen, indem sie in den Wald verschwindet, in ein altes Weib. 3. Die rezeptive [?] Stimmung breitet sich aus und verstÈrkt sich. Freut sich jemand Ýber ein gefundenes GoldstÝck, so liege sogleich wie Glut um ihn; das EntzÝcken Ýber eine schÚne Blume bringt ganzen Garten vor die Phantasie. Oder der einzelne Garten dehnt sich aus. [. . .]

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Meine Theorie Infolge hiervon haben die Traumvorstellungen a) keine Konstanz, b) keine Wirklichkeit im vollen Sinne. Sie wechseln in dieser Beziehung. Den hÚchsten Grad von Wirklichkeit, dessen der Traum fÈhig ist, gewinnt er, wo die Anstrengung und BeÈngstigung einer Traumeinbildung nicht beseitigt werden kann, den geringsten, wo die bloße Metamorphose stattfindet. Damit tritt nun in Zusammenhang, daß der Traum seinen Hintergrund zunÈchst an dem Lichtstaub im Sehfelde, d. h. an einer TatsÈchlichkeit hat, an welche sich alle eigenartigen [?] GefÝhle anschließen. Hiermit hÈngt zusammen, daß die Schlummerbilder sukzessive in den Traum Ýbergehen. Indem sie durch das goldene Tor des Schlafes treten, werden sie aus Schlummerbildern Traumeinbildungen, d. h. das Bewußtsein sÈnke ganz hinunter, das Bewußtsein ihrer SubjektivitÈt fÈllt nun tiefer [?], um dann bei dem Wechsel der SchlafhÚhe auch wieder zu steigen. Meine Theorie Damit zusammenhÈngend: Die Beziehung unserer Vorstellungen auf die in sich gegliederte RealitÈt, wie sie im erfÝllten Selbstbewußtsein enthalten ist, fehlt. Das Erkennen, das eben hierin wurzelt und das jede Vorstellung auf den Zusammenhang des Systems unserer wirklichen und mÚglichen Wahrnehmungen bezieht, fehlt. Radestock 152 „Die Bilder empfangen die Zeit ihrer Dauer und den Grad ihrer RealitÈt von den physiologischen ZustÈnden.“341 Dem entspricht geringer Grad von RealitÈt der Außenwelt [. . .]. Durch diese Aufhebung der Beziehung auf die Wirklichkeit und der GrundverhÈltnisse derselben, wie sie fÝr den Verstand da sind, fÈllt auch die RationalitÈt zusammen. Beim Erwachen erst wird die Widersinnigkeit deutlich. So befindet sich jemand durch Illusion [?] an den verschiedensten SchauplÈtzen. Die Unterscheidung der Distanzen in dem Raum schwach. Ebenso MÚglichkeiten des Zeitverlaufs [. . .] bleiben unbeachtet. Der Wille durch FÈhigkeiten, den Gang der Vorstellungen zu lenken, Aufmerksamkeit ihnen zuzuwenden, EntschlÝsse zu fassen etc., funktioniert im Traum nur vorÝbergehend, sofern er sich dem wachen Zustande nÈhert. Auch hier die Schwierigkeit, daß alle hÚheren [?] Stufen des Traumes gleichmÈßig als Traum. Man kann [. . .] nun in bezug auf den Traum das gleichmÈßige Wachsen und Abnehmen durch die Tiefe des Traumes oder Schlafs zusammen verfolgen. Damit fÈllt zugleich die MoralitÈt des wachen Lebens weg. Schon Kant [sagt], daß im Schlaf Dinge vorkommen, die von unserer sonstigen Denkart himmelweit verschieden sind. [. . .] Radestock 165–6.

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Ebenso fallen gewisse hÚhere Abstraktionen erfordernde GefÝhle weg: Vaterlandsliebe, Edelmut, wogegen die natÝrlich hohen GefÝhle der Liebe, Freude oder nÈchst angehÚrige [?] sich zeigen. [. . .]

Allgemeines Schlußergebnis Der Traum kann nicht als ein in VerÈnderungen des psychischen Zustandes gegrÝndeter Vorgang betrachtet werden. Nicht aus den Bedingungen der verlaufenen psychischen ZustÈnde als solcher ergibt sich sein Hervortreten. Vielmehr sind Schlaf und Traum als durch die Organisation des menschlichen KÚrpers bedingt anzuerkennen. Und zwar erscheint hier eine Herabsetzung der Funktionen des Nervensystems mit einer entsprechenden Herabsetzung des geistigen Lebens verbunden. Jedoch so, daß bei Herabsetzung der normalen SinnestÈtigkeit automatische Sinneserregungen und das Spiel der Phantasie gesteigert erscheinen. [. . .] Und zwar werden an der physiologischen Grundlage, z. B. dem Lichtstaub, Vorstellungen assoziiert, was also dem obigen gemÈß sich als Metamorphose darstellt: Indem sehr rasch die physiologischen Bedingungen im Gesichtsfeld wachsen, gestaltet sich dann auch das Bild in ein anderes um – oder die VerÈnderung vollzieht sich von der Vorstellungsassoziation her. Der Grundvorgang ist analog den der Verschmelzung einer Wahrnehmung mit einer Vorstellung. Aber das Unterscheiden fehlt. Schon hier also reicht die Annahme einer allgemeinen Herabsetzung des psychischen Lebens fÝr das VerstÈndnis aller psychischen PhÈnomene, wie es sie darbietet, aus. Wahrscheinlichste Annahmen. 1) Verschiedene Grade von Herabsetzung der Funktionen nach Tiefe des Schlafs. 2) Punkt, wo wirklich Hemmung der SelbsttÈtigkeit der Seele. [. . .] 3) Das geringe Maß von Besinnung und Urteil, der Mangel an Verbindung zwischen den Bildern, die UnfÈhigkeit, die logischen Operationen, die wir vornehmen, zu beurteilen, ist einfach zu erklÈren dadurch, daß der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens nicht in vollstÈndiger Weise reproduzierbar und wirksam ist und die Herrschaft der aktiven Energie von Aufmerksamkeit, von Arbeitsaufwand, von VerdrÈngung aus dem Bewußtsein nicht vorhanden ist. So reden wir im Traum hÈufig [?] fremde Sprachen. Klingt uns beim Erwachen als Schall [?] ins Ohr – Unsinn! [. . .] 2. Somnambulismus und Hypnotismus

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§ 3. Das empirische Ich. Die Zeit. Der Lebensverlauf. Die Person. Metaphysischer Ausblick § 4. Das Objekt als das Korrelat der Wahrnehmung in ihrem Zusammenhang mit den Prozessen des Seelenlebens342 § 5. Das Zusammen und die Wechselwirkung der Objekte. Die Ausbildung der Weltvorstellung [1)] Sonach ist die psychische RealitÈt Seele der Tatbestand, daß ein Kreis von VorgÈngen innerer Art durch Wechselwirkungen, welche stets erneuert werden kÚnnen, miteinander verbunden, zugleich aber durch die Ichvorstellung, welche alle diese TÈtigkeiten begleitet, zu einer Einheit verbunden ist. 2) [a)] Diese Tatsachen: Einheit des Bewußtseins, Selbstbewußtsein stehen nun aber im metaphysischen Denken der Menschheit in fester Beziehung zur SelbstÈndigkeit (Freiheit) und UnzerstÚrbarkeit, welche im Interesse des hÚheren Bewußtseins der Menschheit festgestellt werden soll. So verwandelt sich der im Ich enthaltene Zusammenhang aller TÈtigkeit in eine Substanz.343 Diese Seelensubstanz mÝßte als besonderer Grund des FÝhlens, Wollens usw. selbst weder das eine noch das andere sein. So verliert sie alle Vorstellbarkeit. Ein Seelisches, das nicht einen dieser Charaktere besitzt, ist fÝr uns ein Nichts. Diese Seelensubstanz wird als einfach bestimmt; ein Einfaches kann aber nicht Grund des Zusammengesetzten sein. b) Alle diese metaphysischen Fiktionen schwinden, wenn wir uns klar machen, daß in ihnen nur das Seelenleben in einen Gegenstand verwandelt wird, welcher der Materie analog ist. Aber die Natur ist uns nur mittelbar gegeben; ihr Zusammenhang und ihre Einheit ist nur in unserem Verstande. Dagegen die SeelenvorgÈnge sind unmittelbar und frei von WidersprÝchen in der Wahrnehmung gegeben. c) Zwar kÚnnen wir uns die Art der Einheit, welche die TÈtigkeiten alle verknÝpft und gleichsam in ihnen pulsiert, nach keiner physischen Analogie vorstellen, darum ist sie nicht minder erfahrene Wirklichkeit. Sonach wird der Tatbestand korrumpiert, verflacht, materialisiert, indem ein unbestimmbares Seelengespenst hinter diesen Zusammenhang verlegt wird.344

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§ 6.345 Das Denken und das Erkennen Erkennen als Aneignen. Hinzutreten der Willensanstrengung, die hier auch gerichtet ist zu den elementaren Prozessen, und Entstehung des diskursiven Denkens. Die Sprache als Bedingung desselben. VerhÈltnisse des Allgemeinen und Besonderen, der Verneinung und Bejahung, der Unterordnung des Subjektes unter das PrÈdikat als die Außenseite des Denkens. Erfassen der inneren Verbindungen aus den BerÝhrungen in Raum und Zeit, insbesondere Substanz und Kausalerkenntnis als die innere Seite des Denkvorgangs. Gesetze, Formen, Methoden.346

Das Denken Im Seelenleben gibt es keine Trennungen, Schnitte zwischen unteren und oberen VorgÈngen. Nichts hat das VerstÈndnis desselben mehr aufgehalten als die Aristotelische Lehre von den niederen und hÚheren SeelenvermÚgen. So besteht denn auch ein solcher Einschnitt nicht zwischen dem Wahrnehmen und dem in Worten, daher in erkennbarem Nacheinander diskursiv ablaufenden Denken. In dem Wahrnehmen ist das Sinnesurteil, sind intellektuelle VorgÈnge enthalten. An dem diskursiven Denken, das an dem Faden der Sprache, der Zahlzeichen, der trennbaren Raumelemente verlÈuft, unterscheiden wir folgende Eigenschaften. Wenn ich den Ablauf einer Gedankenreihe unterbreche und die letzten Glieder in einer dem Vorgang noch nahen Erinnerung festhalte, wenn ich solchen Vorgang oftmals wiederhole und das Gefundene vergleiche, so kann ich diese allgemeinen Eigenschaften an den Erinnerungsbildern von DenkvorgÈngen feststellen. Ist nun das Denken eine VorstellungstÈtigkeit, als solche von FÝhlen und Wollen sich abhebend, so trennt sich dieselbe von dem durch den Reiz gebundenen Wahrnehmungsvorgang als eine rein innere Lebendigkeit des Vorstellens, ist aber doch zugleich unterschieden von dem freien Bilden der Phantasie, dadurch im festen VerhÈltnis zur Wirklichkeit und an sie gebunden, daß sie [?] das in den Wahrnehmungen Gegebene in einer bestimmten Weise reprÈsentiert.

§ 7. [fehlt]

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§ 8. Die Einbildungskraft Die Phantasie I. VerhÈltnis von Einbildungskraft und GedÈchtnis. Wenn ich das Bild eines Abwesenden reproduziere, ist immer spontane TÈtigkeit darin. II. Die Einbildungskraft ist Reproduktion, die von den GefÝhlen aus bestimmt ist. Wir suchen eine Gleichgewichtslage des GefÝhls. In dieser tritt gleichsam ein Feiertag des Lebens ein. Lebensmomente, in denen wir so dem Genuß der GefÝhle hingegeben sind, sind festliche Freude, Geselligkeit, Spiel und Kunst. Dann strebt die Stimmung sich alle Vorstellungen zu unterwerfen. III. Hier liegt der Ursprung der Kunst. Ihre Bedingung liegt in folgendem Grundgesetz. Vorstellungen, die von einer GefÝhlslage aus geformt sind, kÚnnen diese regelmÈßig wieder hervorrufen. Insbesondere suchen die gesteigerten GefÝhlslagen eine Entladung in GebÈrden, Lauten und Vorstellungsverbindungen. Diese regen alsdann als Symbol dieses GefÝhlsgehaltes das GefÝhl im Betrachter oder HÚrer wieder an. So ruft im Senken oder Heben der Stimme ein bestimmtes Tempo, Wechsel in StÈrke oder TonhÚhe oder Geschwindigkeit dasselbe GefÝhl hervor, aus welchem diese VorgÈnge entsprungen waren. Darauf beruhen die Schemata, deren sich die Musik bedient. Das Kunstwerk entsteht auf dieser Grundlage, indem sich unter dem Einfluß des GefÝhlslebens die Vorstellungen frei Ýber die Grenzen des Wirklichen hinaus verwandeln. Ich entwickle die Gesetze, nach welchen dies geschieht. S. 383 f. [VI, S. 164 f.]347 Zeugnisse Ýber das Walten der Einbildungskraft. Ich gehe von einfachen PhÈnomenen aus und zeige dann die zusammengesetzten VorgÈnge an der dichterischen Phantasie S. 401 f. [VI, S. 178 f.]

§ 9. Der Wille

D. DIE BESCHREIBENDE PSYCHOLOGIE DER NEUNZIGER JAHRE (ca. 1893–1895)

1. Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie

Ich verstehe unter beschreibender Psychologie die Darstellung der in jedem entwickelten menschlichen Seelenleben gleichfÚrmig auftretenden Bestandteile und ZusammenhÈnge, sofern diese aus der Erfahrung ohne Mitwirkung von Hypothesen festgestellt werden kÚnnen. Sie hat also die RegelmÈßigkeiten im Zusammenhang des Seelenlebens zum Gegenstand. Sie stellt den Zusammenhang des inneren Lebens in einem typischen Menschen dar. Sie beobachtet, analysiert, experimentiert und vergleicht. Sie bedient sich jedes mÚglichen Begriffsmittels zur LÚsung ihrer Aufgabe. Aber ihre Bedeutung im Zusammenhang der Wissenschaften beruht eben darauf, daß jeder von ihr aufgestellte Zusammenhang durch innere Wahrnehmung eindeutig verifiziert werden kann. Die erklÈrende Psychologie stellt einen Kausalzusammenhang auf, welcher alle Erscheinungen des Seelenlebens begreiflich macht; sie vermag dies nur durch eine Verbindung von Hypothesen. Jedem solchen Aufbau der erklÈrenden Psychologie vermittelst einer Hypothesen-Verbindung tritt heute noch ein Dutzend von anderen gegenÝber, und niemand kann sagen, wann dieser Kampf aller gegen alle enden wird, der auf dem Gebiet der erklÈrenden Psychologie ganz ebenso tobt, als auf dem der Metaphysik.

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D. Die beschreibende Psychologie der neunziger Jahre

Die Struktur des Seelenlebens 1. Die Aufgabe Der348 Zusammenhang der Geisteswissenschaften besteht aus lauter psychischen Tatsachen; daher geht er auf eine Verbindung zwischen diesen zurÝck. Kann eine solche nicht gefunden werden, dann sind die Geisteswissenschaften ein Aggregat, ein BÝndel, aber kein Zusammenhang, kein System. Jede noch so rohe Vorstellung von der Verbindung der Geisteswissenschaften untereinander beruht auf irgendeiner rohen Vorstellung von einem Zusammenhang der seelischen Erscheinung. Niemand aber hat ja eine der Geisteswissenschaften bearbeiten kÚnnen, ohne eine solche wenn auch rohe Annahme, ohne einen solchen Glauben an einen Zusammenhang, in welchem diese Wissenschaft sich finde. Jeder hatte das GefÝhl, daß die Klarheit, GrÝndlichkeit und Fruchtbarkeit seiner Wissenschaft in erheblichem Grade von einem solchen Zusammenhange abhÈngt. Hieraus folgt, daß wir suchen mÝssen, von einem solchen Zusammenhang des Seelenlebens uns eine mÚglichst klare und zuverlÈssige Vorstellung zu bilden, bevor wir in die Aufgabe eintreten, den inneren Zusammenhang der Geisteswissenschaften zu erkennen. Diese grundlegende Bedeutung irgendeiner Lehre vom Zusammenhang des Seelenlebens wird noch deutlicher, wenn man nun in die Materie der Aufgabe, die Geisteswissenschaften zu begrÝnden, aufzuklÈren und zu verbinden, eintritt. Welche Vorstellung man sich auch von einer BegrÝndung derselben bilden mag: dieselbe setzt unter allen UmstÈnden eine Besinnung Ýber die inneren ZustÈnde voraus, in welchen ein solcher Aufbau dieser Wissenschaften entsteht. Dies setzt aber Verbindungen voraus, welche doch schließlich ihre zuverlÈssige Bestimmung nur aus dem Zusammenhang des Ganzen empfangen. Dann ist die Art, wie eine einzelne Geisteswissenschaft innerlich konstruiert wird, von der Entscheidung darÝber abhÈngig, ob sie die Analysis ihres Gebietes ausschließlich aus dessen Tatsachen gewinnen muß oder ob eine zuverlÈssige Vorstellung von den Einheiten, aus deren Zusammenwirken es entstanden ist, also von dem Zusammenhang des einzelnen Seelenlebens, dabei benutzt werden kann. Endlich ist der Zusammenhang, in welchem Wirtschaft, Staat, Religion, Kunst, Wissen miteinander stehen, doch nur verstÈndlich aus dem Zusammenhang der einzelnen Seeleneinheiten, in welchen diese zusammenbestehen, aus denen sie nebeneinander hervorgegangen sind, in welchen sie immer verbunden bleiben. So erweist sich Ýberall die ZuverlÈssigkeit in der LÚsung dieser Aufgabe gebunden an die ZuverlÈssigkeit in der Erkenntnis des seelischen Zusammenhangs.

1. Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie

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Die Aufgabe einer beschreibenden Psychologie Die erste Aufgabe, welche an das Studium des Seelenlebens zu stellen ist, liegt in Beschreibungen. Die sehr großen Schwierigkeiten, welche so auf dem Studium psychischer Erscheinungen lasten, haben zur Folge gehabt, daß die Psychologie sehr spÈt und langsam einen einigermaßen wissenschaftlichen Charakter annimmt. Und zwar ist sie bis auf diese Zeit, ja heute mehr als je, der Tummelplatz von Hypothesen, deren Geltung bestÈndigem Wechsel unterliegt. Nun berufen sich die Psychologen darauf, daß selbst vorgeschriebene Wissenschaften, als die Physik und Chemie, mit Hypothesen zur ErklÈrung der Erscheinungen teilweise arbeiten. Aber diese Wissenschaften haben an den quantitativen Bestimmungen in Verbindung mit dem Experiment ein Hilfsmittel, zwischen den streitenden Hypothesen Entscheidungen herbeizufÝhren. So sind auch innerhalb derselben immer mehrere SÈtze aus dem Stadium von Hypothese in das von beweisbaren Wahrheiten Ýbergegangen. Die Psychologie entbehrt der MÚglichkeit quantitativer Bestimmungen, und die Anwendungen des Experiments ist in ihr sehr eingeschrÈnkt. So sind dann auch in ihr einzelne Kausalreihen zur sicheren Erkenntnis gebracht. Sonach ursÈchliche VerhÈltnisse sind auf begrenzten Gebieten festgestellt worden. Diese Feststellungen gelangen um so mehr, je gÝnstiger die Bedingungen der Analyse, des Experiments und der Verwertung der physiologischen Unterlagen des psychischen Geschehens waren. So sind die VorgÈnge, in welchen das Seelenleben Reize der Außenwelt aufnimmt, und dann wieder die, in welchen es auf dieselbe zurÝckwirkt, am meisten erfolgreich studiert worden. Insbesondere besitzen wir eine Erkenntnis der Art, in welcher die Bestandteile der Wahrnehmung zusammenwirken zur Bildung unsres Bewußtseins von einem Gegenstande, in welcher die entscheidenden KausalverhÈltnisse im großen schon als feststehend eingesehen werden mÝssen. Die Verbindung solcher festgestellten KausalverhÈltnisse zu einer ErklÈrung des ganzen Seelenlebens kann aber gegenwÈrtig nur durch Hypothesen herbeigefÝhrt werden, und zwar mÝssen sie zu einem ganzen ThesengebÈude Ýbereinander geschichtet werden. Insbesondere ist die heute herrschende Psychologie ein sehr kÝnstliches GebÈude dieser Art. Eine Hypothese ist die Lehre vom Parallelismus der NervenvorgÈnge und der geistigen VorgÈnge, nach welcher die geistigen VorgÈnge nur Begleiterscheinungen unseres kÚrperlichen Lebens sind. Eine Hypothese ist die ZurÝckfÝhrung der im Bewußtsein auftretenden Erscheinungen auf einzelne Elemente, welche in gesetzlichen VerhÈltnissen aufeinander wirken. Eine Hypothese ist die ZurÝckfÝhrung dieser Elemente auf zwei Klassen, die Empfindungen und die GefÝhle, wodurch

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D. Die beschreibende Psychologie der neunziger Jahre

dann unser Bewußtsein zu wollen zu einem sekundÈren Schein wird. Nur Hypothesen besitzen wir Ýber denjenigen Zusammenhang, welcher unsere Erinnerungen und die Wirkungen des erworbenen seelischen Zusammenhangs auf unsern bewußten Vorstellungsverlauf ermÚglicht. Hypothesen, Ýberall nur Hypothesen! Und so sind wir in folgendes Dilemma geraten: Entweder wir legen den Geisteswissenschaften keine Psychologie zugrunde. Oder die Grundlage der Psychologie gibt ihnen allen einen nur hypothetischen Charakter. Dieselbe Schwierigkeit hat sich innerhalb der Erkenntnistheorie entwickelt. Sie lastet jetzt so schwer als irgendeine andere auf dieser. Eine durch den Scharfsinn ihrer Vertreter sehr hervorragende Schule, welche sich auf Kant beruft, fordert die vÚllige UnabhÈngigkeit der Erkenntnistheorie von der Psychologie, und alle Kraft ihrer Argumentation konzentriert sich in der Tatsache, daß die Psychologie ihre Unsicherheit anderenfalls der Erkenntnistheorie mitteilen mÝsse. In der Tat ist [sie] eingeordnet in den Zusammenhang der erklÈrenden Wissenschaften, so muß sie sich auf die Biologie stÝtzen, nimmt sonach eine ziemlich spÈte Stelle in der inneren Abfolge der Wissenschaften ein. Aber die Aufgabe, eine solche Theorie der Erkenntnis unabhÈngig von der Einsicht in den Zusammenhang des Seelenlebens herbeizufÝhren, ist unauflÚslich; dies hat noch neuerdings Stumpf (Psychologie und Erkenntnistheorie 1891)349 in der MÝnchener Akademie Ýberzeugend nachgewiesen. Es ist augenscheinlich unmÚglich, geistige Tatsachen, wie sie den Stoff jeder Erkenntnistheorie bilden, durch irgendeine Methode miteinander zu verbinden, ohne den Hintergrund einer Vorstellung des seelischen Zusammenhangs. Auch fÝhren die Erkenntnistheoretiker, welche dies anstreben, es nur aus, weil sie in ihrem eigenen lebendigen Bewußtsein diesen Zusammenhang besitzen. Sie setzen ihn voraus, sie bedienen sich seiner, aber sie kontrollieren ihn nicht. Es lÈßt sich aber weiter zeigen, daß gerade die Begriffe, von denen die Erkenntnistheorie dieser Schule ausgeht, durchweg einer bestimmten Psychologie angehÚren. So verhÈlt es sich mit den Begriffen der Anschauung und des Denkens, des Stoffes und der Form des Erkennens. Auf keine seiner Entdeckungen legte Kant ein grÚßeres Gewicht, als auf die Unterscheidung von Anschauen und Denken. Aber sobald man erkennt, daß in dem, was er Anschauung nennt, Ýberall DenkvorgÈnge oder ihnen Èquivalente Akte mitwirken, wie die des Unterscheidens, Gleichfindens, der Grad des VerknÝpfens, des Verbindens und Trennens, so wird auch die MÚglichkeit sichtbar, daß man es hier nur mit verschiedenen Stufen im Wirken derselben Prozesse zu tun habe, und dann fordert dies eine ErgÈnzung der Bestimmungen Kants. Die Trennung von Form und Stoff der Erkenntnis in Kants System ist ebenfalls so nicht haltbar; vielmehr bestehen zwischen der Mannigfaltigkeit der Empfindungen als

1. Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie

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dem Stoff unserer Erkenntnis und der Form, in welcher wir diesen Stoff auffassen, innere Beziehungen. Gleichzeitige voneinander verschiedene TÚne besitzen wir zugleich und vereinigen sie im Bewußtsein, ohne ihr Außereinander in einem Nebeneinander aufzufassen. Tast- oder Gesichtsempfindungen verschiedener Art kÚnnen nur von uns in einem Nebeneinander zusammen besessen werden. Niemand ist imstande, auch nur zwei Farben gleichzeitig anders als in einem Nebeneinander vorzustellen. Ist es nicht augenscheinlich, daß die Natur der Gesichtsempfindungen und der TasteindrÝcke bei dieser NÚtigung im Spiel ist? Bedingt nicht offenbar hier die Natur der Empfindungsinhalte die Form ihrer Zusammenfassung? Setze ich Empfindungen als psychische Elemente, so ist gÈnzlich unverstÈndlich, wie sie von außen durch das Band vereinigenden Bewußtseins verknÝpft werden sollen; hebe ich aber ihre Vereinzelung auf, so fÈllt somit die ganze Bedeutung von Sonderung von Stoff und Form in sich zusammen. Eine Mannigfaltigkeit von Empfindungen ist ein VerhÈltnis, das Unterschiede voraussetzt, sonach nur fÝr ein zusammenhaltendes Bewußtsein existiert. Dieselben Schwierigkeiten bestehen sonach fÝr die begrÝndeten Begriffe und SÈtze, welche die Erkenntnistheorie und den Zusammenhang der Geisteswissenschaften ermÚglichen sollen. Sie entspringen aus dem hypothetischen Charakter der erklÈrenden Psychologie; sie werden nur lÚsbar, wenn es eine Psychologie gibt, deren Zusammenhang im ganzen und großen keinen hypothetischen Charakter an sich trÈgt. Nun ist klar, daß die erklÈrende Psychologie dies in absehbarer Zeit nicht leisten kann; aber ein anderes wÈre, ob nicht das, was das entscheidende BedÝrfnis fÝr die Grundlegung der Philosophie ist, eine zwar eingeschrÈnkte, doch sichere Kenntnis des Zusammenhangs unseres Seelenlebens, doch auch ohne die AuflÚsung der Aufgabe einer ErklÈrung nÚtig wÈre. Ich will eine solche Psychologie eine beschreibende im Unterschied von der erklÈrenden nennen. Die Bestimmung des Begriffs einer solchen beschreibenden Psychologie kann erst durch die AuflÚsung der Frage herbeigefÝhrt werden, auf welche Weise und in welchem Umfang ein Zusammenhang des Seelenlebens ohne Anwendung erklÈrender Hypothesen festgestellt werden kann. Um diesen Zusammenhang handelt es sich in erster Linie; ihm sind dann die genaueren Erkenntnisse Ýber EinzelzusammenhÈnge einzuordnen, welche wir besitzen; ob es eine beschreibende Psychologie, welche dem Streit der erklÈrenden Hypothesen entnommen sei, geben kann und in welchem nÈheren Sinn es sie geben kann, diese Frage kann erst beantwortet werden, wenn wir wissen, ob und in welcher Art ein Zusammenhang des Seelenlebens allgemeingÝltig erkannt werden kann. So hÈngt an dieser MÚglichkeit der ganze Aufbau einer wirklichen Philoso-

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phie, welche das Einzelwissen, das einzelne Tun und das vorÝbergehende GefÝhl des Lebens in einen festen Zusammenhang einordnet. Die erklÈrende Psychologie selbst wÝrde an der Beziehung auf das feste GerÝst der beschreibenden ein wichtiges Hilfsmittel der Kontrolle ihrer Hypothesen erhalten; ich verstehe unter Hypothese einen Satz, welcher Erscheinungen verbindet, die auch durch abweichende SÈtze verbunden werden kÚnnen. Die beschreibende Psychologie kann auch nach Èlterem Sprachgebrauch als die empirische Psychologie bezeichnet werden. An die Psychologie muß eine zweite Anforderung gemacht werden. Dieselbe entspringt aus den BedÝrfnissen der Wissenschaften und des Lebens. Auch sind Mittel da, sie zu befriedigen. Die GleichfÚrmigkeiten, welche den Hauptgegenstand der Psychologie unseres Jahrhunderts ausmachen, beziehen sich auf die Formen des inneren Geschehens. Man nimmt an, daß die Empfindungen die Materie des Seelenlebens ausmachen, und geht nun den Formen nach, in welchen sich das Seelenleben zu dieser Materie verhÈlt. VermÚgen werden als solche Verhaltungsweisen aufgefaßt, in seelischen Grundgesetzen wie dem Assoziationsgesetz liegen solche vor; Lust und Schmerz erscheinen als Reaktion, sonach auch als ein Verhalten. Und das, welches sich verhÈlt, kÚnnte gleichsam in ein System von Regeln, nach dem es sich benimmt, aufgelÚst werden. Ganz anders hat die Lebensweisheit der verschiedenen VÚlker das Seelenleben behandelt. Reflexionen Ýber das Leben erfÝllen die Werke der Dichter und Schriftsteller. Einzeln treten sie in einer großen Literatur auf; diese reicht von Marc Aurel bis auf Pascal, La Rochefoucauld, Lichtenberg und heute lebende Schriftsteller. Hier aber tritt uns nun eben das UnvermÚgen dieser Betrachtungsart zu einer systematischen Darstellung entgegen. Wir finden uns durch einzelne Reflexionen bis ins innerste Herz getroffen. Die Tiefe des Lebens selbst scheint sich in ihnen zu Úffnen; sobald wir aber mit Hilfe solcher Gedanken einen klaren Zusammenhang herzustellen streben, versagen sie. Anders oder in gewissem Sinn ebenso ist es mit den Offenbarungen der Dichter. Man hÚrt bis zur ErmÝdung, daß in diesen mehr Psychologie stecke als in allen psychologischen LehrbÝchern. Versteht man unter Psychologie eine Theorie vom allgemeinen, eindeutigen Zusammenhang des Seelenlebens, so enthalten sie gar keine Psychologie; es steckt auch keine darin, es kann durch keinen Kunstgriff ihnen eine solche entlockt werden. Wohl aber liegt nun in der Art, wie diese Schriftsteller Menschenleben behandeln, eine Aufgabe eingeschlossen. Man mÚchte eine Psychologie, welche das Mehr, was diese lehre, in ihre allgemeinen Begriffe einschlÚsse. Eine Psychologie, welche die Wahrheiten in Pascal und Lichtenberg, welche eben durch den einseitigen Gesichtspunkt so hell in der350

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Die Aufgabe, den Zusammenhang des Lebens zu erkennen, kann nicht durch einfache Feststellung von Erfahrung aufgelÚst werden. Jede Erfahrung umfaßt nur eine Verbindung weniger VorgÈnge. Denn das Bewußtsein umfaßt zugleich immer nur eine eingeschrÈnkte Zahl von Gliedern. Sonach ist unsre Kenntnis von diesem Zusammenhang auf SchlÝsse gegrÝndet, welche wir aus den Erfahrungen lernen. Diese erstrecken sich zunÈchst auf grÚßere Gebiete des Seelenlebens. Die Anthropologie kann auch als Realpsychologie bezeichnet werden. Vergleiche meinen Aufsatz Ýber Novalis Preußische JahrbÝcher 1865 S. 622.351 Diese hebt die Abstraktion auf, nach welcher von der Inhaltlichkeit des Seelenlebens in der erklÈrenden Psychologie beinahe ganz abgesehen wird. III. Die Struktur des Seelenlebens Die Grundtatsache aller Psychologie ist die in der innern Erfahrung gegebene Lebendigkeit des Lebens selber; an diesem kÚnnen wir als seine Eigenschaft das Bewußtsein absondern. Bewußtsein ist sonach die Eigenschaft der inneren ZustÈnde eines lebendigen Wesens, vermÚge deren diese ZustÈnde fÝr dasselbe da sind. Jeder bewußte Zustand ist fÝr mich als mein eigener da, oder ich kann doch in mein Bewußtsein erheben, daß er mein eigen sei. Ich sitze vor der BÝhne. Der Geist des CÈsar erscheint dem Brutus. Mein ganzes Selbst ist wie ausgelÚscht, und ich lebe nur in dem, was hier geschieht. Ich bin mir keines Selbst bewußt, das anschaut. Und doch kann ich diesen Zustand unterbrechen, mir zum Bewußtsein bringen, daß er der meinige ist und daß, wenn ich die Augen schließe, nichts davon mehr fÝr mich da ist. Dieses Mein, dieses Ich, dieses Selbst ist der rÈtselhafteste und tiefste Punkt menschlicher Erfahrung, an welchem Substanz, Gott, Seele hÈngen. Dies Selbst ist nicht ein außerhalb der ZustÈnde gelegener gemeinsamer TrÈger derselben. Vielmehr ist die Vorstellung eines solchen TrÈgers nur Symbol des unzerlegbaren, undeklinierbaren Bewußtseins von Selbigkeit. Aber obwohl ich aller dieser BewußtseinszustÈnde als meiner eigenen inne werden kann, obwohl aus diesen BewußtseinszustÈnden alle Wirklichkeit als aus ihrem Stoff gewebt ist: so ist doch fÝr den grÚßeren Teil dieser inneren ZustÈnde das Innewerden, daß sie meinem Selbst angehÚren, nur sekundÈr: ganz Ýberwiegend stehen sie diesem Selbst gegenstÈndlich gegenÝber, und da dieselbe gegenstÈndliche Welt in jedem anderen Bewußtsein, das ich kenne, auftritt, bildet dieselbe die gemeinsame, fÝr alle Subjekte identische Welt. Dazu kommt, daß mit meinem Selbst durch ein unzerlegbares Innewerden von ZugehÚrigkeit ein KÚrper verbunden ist. Dieser nimmt unter den anderen

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KÚrpern der Außenwelt seine Stelle ein, erfÝllt in derselben einen Raum, an welchen infolge hiervon auch dieses bewußte Selbst gebunden ist und von dem ab uns es die Projektionen dieser gemeinsamen Außenwelt entwirft. Dann legen wir in viele von diesen KÚrpern nach dem Prinzip der Analogie ein Èhnliches bewußtes Selbst, welches dann von seinem Standort im Raum aus dieselbe gegenstÈndliche Welt gleichsam perspektivisch abgeÈndert erblickt. Dann entsteht aus den GleichfÚrmigkeiten dieser verwandten Personen, welche vermittelst der Außenwelt in Wechselwirkung miteinander sind, ein gemeinsames System von Vorstellungen, Worten, Begriffen, Wissenschaften und Normen des Lebens. So findet sich dieses Selbst in ZustÈnden dreifach bedingt: von dem KÚrper, der ihm zugehÚrt, von der Außenwelt, in welcher es eine bestimmte Stelle einnimmt, und von dem Reich der Personen, deren Glied es nach seiner Verwandtschaft mit ihnen ist. Und jeder bewußte Zustand, welcher in einem solchen Selbst auftritt, wird in irgendeiner Beziehung schließlich von diesen großen Relationen bestimmt sein, unter denen zu leben das Schicksal eines jeden solchen Selbst ist. In diesem Falle beschreibe ich nur, wie ich mich finde, alle Fragen Ýber den Erkenntniswert dieser Relationen liegen noch außerhalb meines Interesses. Das also ist die merkwÝrdige Stellung dieses Selbst: Es findet sich in einem Wechsel von ZustÈnden, welche durch das Bewußtsein der Selbigkeit der Person vereinigt sind: es findet sich bedingt von einer Außenwelt zurÝckwirkend auf dieselbe, welche es dann doch in seinem Bewußtsein befaßt und von den Akten seiner sinnlichen Wahrnehmung bestimmt weiß. Indem nun so die Lebenseinheit sich von dem Milieu, in welchem sie lebt, bedingt und wiederum rÝckwirkend auf dasselbe findet, entsteht hieraus eine Gliederung ihrer inneren ZustÈnde. Ich begreife dieselbe als die Struktur des Seelenlebens. Indem die beschreibende Psychologie diese erfaßt, tut sich ihr erst der Einblick in den Zusammenhang auf, welcher die psychischen Reihen zu einem Ganzen verknÝpft. Dieses ist das Leben. Jeder psychische Zustand ist zu einer gegebenen Zeit in mir aufgetreten, und er wird in einer gegebenen Zeit wieder verschwinden. Sonach hat er einen Verlauf: Anfang, Mitte und Ende. Er ist ein Vorgang. Mitten im Wechsel dieser VorgÈnge ist nur das permanent, was die Form unseres bewußten Lebens selber ausmacht: das FormverhÈltnis des Selbst und der gegenstÈndlichen Welt. ZunÈchst ist also das, was ich Selbigkeit nenne, nicht vorÝbergehend, sondern permanent: es ist kein einzelner Vorgang, sondern ein mit allen VorgÈngen Verbundenes. Ebenso ist diese eine gegenstÈndliche Welt, welche fÝr alle da ist, vor mir war und nach mir sein wird, als Begrenzung, Korrelat, GegensÈtzlichkeit dieses Selbst, mit jedem bewußten Zustande zugleich da.352

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Auch das Bewußtsein von ihr ist sonach kein Vorgang. Alles andere aber in mir außer diesem KorrelatverhÈltnis von Welt und Selbst ist Vorgang. Diese VorgÈnge folgen einander in der Zeit, nicht selten kann ich aber auch einer inneren Verbindung derselben inne werden, ich finde, daß die einen die anderen erwirken. So erwirkt ein GefÝhl des Hasses die Neigung und das Streben der Entfernung seines Gegenstandes aus meinem Bewußtsein; so erwirken die PrÈmissen den Schlußsatz. Nun folgen einander als diese VorgÈnge nicht wie KÚrper hintereinander, jeder von dem anderen getrennt, wie Reihen eines Regiments von Soldaten, immer ein Zwischenraum zwischen ihnen. Dann wÝrde mein Bewußtsein intermittierend sein, denn ein Bewußtsein ohne einen Vorgang, an welchem es ist, ist ein Ungedanke. Von einem solchen Intermittieren meines Bewußtseins merke ich nun nichts, ich finde vielmehr innerhalb meines wachen Lebens eine KontinuitÈt. Die VorgÈnge sind so neben- und ineinander geschoben, daß immer irgend etwas in meinem Bewußtsein gegenwÈrtig ist. Wie hinter einem Wanderer, der ruhig vorwÈrts schreitet, GegenstÈnde, die eben noch vor und neben ihm waren, rÝckwÈrts verschwinden, andere aber auftauchen, wÈhrend die KontinuitÈt des landschaftlichen Bildes immer erhalten bleibt. Ich will nun das, was den Umfang meines Bewußtseins in einem gegebenen Momente ausmacht, als Bewußtseinsstand, status conscientiae bezeichnen, ich mache gleichsam einen Querschnitt, um die Schichtung eines solchen erfÝllten Lebensmomentes zu erkennen. Ich erÚrtere hier nicht die Schwierigkeiten, die Vorsichtsmaßregeln, deren dieser Versuch bedarf, ihr Ergebnis aber ist, daß zunÈchst [?] jeder solcher momentaner Bewußtseinsstand nachweisbar zugleich irgendein Vorstellen, ein GefÝhl und eine Willenslage enthÈlt. ZunÈchst ist in jedem Bewußtseinszustande ein Vorstellungsbestandteil enthalten. Die Einsicht in die Wahrheit dieses Satzes ist davon abhÈngig, daß man unter einem solchen Vorstellungsbestandteil nicht nur ganze zurÝckgebliebene Bilder, sondern auch jeden Vorstellungsinhalt, wie er der Teil eines seelischen Gesamtzustandes [ist], versteht. Ein physischer Schmerz, wie das Brennen einer Wunde, enthÈlt außer dem starken UnlustgefÝhl eine Organempfindung in sich, welche qualitativer Natur ist, ganz wie eine Geschmacks- oder eine GefÝhlsempfindung. Außerdem schließt er eine Lokalisation ein. Ebenso enthÈlt jeder Vorgang von Trieb, Aufmerksamkeit oder Volition einen solchen Vorstellungsinhalt in sich, wie dunkel dieser auch sein mag, so bestimmt er doch erst die Richtung des Willensvorgangs. Die Einsicht in die Gegenwart von GefÝhlserregung in jedem bewußten Lebenszustand ist ebenfalls davon abhÈngig, daß man den ganzen Umfang dieser Seite des Seelenlebens Ýberblickt. GehÚren doch in dieselbe ebensogut als: Lust und Unlust, auch Billigen und Mißbilligen [sowie das] ganze Spiel der

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leisen GefÝhlsbetonungen. In jedem Trieb sind dunkle GefÝhle unwiderstehlich wirksam. Die Aufmerksamkeit wird von dem Interesse geleitet; dieses aber ist der GefÝhlsanteil, welcher aus der Lage unseres Selbst und seines VerhÈltnisses zum Gegenstande entspringt. In der Volition ist das dem Willen vorschwebende Bild von Lust begleitet. Dazu ist vielfach in ihr Unlust Ýber den gegenwÈrtigen Zustand enthalten; Ýberall sind GefÝhle ihre Motoren. Die Gegenwart der GefÝhlserregung in unserem vorstellenden und denkenden Verhalten ist schwerer festzustellen; aber sorgfÈltige wiederholte Beobachtungen vermag auch diese durchweg nachzuweisen. Zwar kann ich mich353 Ebenso ist der Denkvorgang schon als eine TÈtigkeit von Aufmerksamkeit, von GefÝhlsanteil als Interesse begleitet. Da treten dann die GefÝhlserregungen des Gelingens, der StÈrkung [?], die EindrÝcke des Witzes, des Scharfsinns, der Ýberraschenden Kombination [auf], ganz davon abgesehen, daß auch die Evidenz und das Bewußtsein des Widerspruchs, der Unrichtigkeit vielfach als ein GefÝhl aufgefaßt werden. Ich mÚchte sagen, daß es kein GefÝhl sei, daß als unausbleiblich an die Evidenz Befriedigung, an den Widerspruch ein der Disharmonie Èhnliches MißgefÝhl sich anschließe. So ist ja auch die Konsonanz als ein Zustand teilweiser Verschmelzung etwa eines Grundtons und einer Oktave zunÈchst ein Vorstellungszustand, und nur sekundÈr tritt dann das GefÝhl hinzu. Fassen wir endlich die Anwesenheit von WillenstÈtigkeit in den psychischen VorgÈngen ins Auge, so bleibt hier der Nachweis am weitesten hinter den Anforderungen zurÝck. Jedes GefÝhl hat die Tendenz, in Verlangen oder Abwendung Ýberzugehen. Jeder Wahrnehmungszustand, welcher in der Mitte meines Seelenlebens steht, ist von TÈtigkeiten der Aufmerksamkeit begleitet. Durch diese vereinige und apperzipiere ich die EindrÝcke, die Farbenkleckse auf einem Bilde werden so zum Gegenstande. Jeder Denkvorgang in mir ist von einer Intention und Richtung der Aufmerksamkeit geleitet. Aber auch in den Assoziationen, welche ich vollziehe, die scheinbar willenlos ablaufen, bestimmt das Interesse die Verbindungen. Dies deutet doch auf einen Willensbestand, welcher ihre Unterlage bildet. Indes kommt man hier in Grenzgebiete dunkler Art: das Willentliche in den dauernden Richtungen des Geistes, das SelbsttÈtige als Bedingung dafÝr, daß ich Druck oder Einwirkung erfahre. Da jedes hypothetische Element aus diesen Beschreibungen ausgeschlossen bleiben muß, ist zuzugestehen, daß die Gegenwart von WillenstÈtigkeiten in den psychischen VorgÈngen am wenigsten durchgÈngig erwiesen werden kann. Wir bezeichnen nun aber auch GesamtzustÈnde als GefÝhl oder als Willensvorgang oder als vorstellendes Verhalten. Dies beruht zunÈchst darauf, daß wir diesen Gesamtzustand jedesmal nach der vorwiegend in die innere Wahrnehmung fallenden Seite desselben bezeichnen. In der Wahrnehmung einer Land-

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schaft herrscht das vorstellende Verhalten; erst bei genauerer PrÝfung finde ich einen Aufmerksamkeitszustand, also ein willentliches Verhalten damit verbunden und von einem tiefen GefÝhl des GlÝcks das Ganze durchdrungen. Aber dies ist es nicht allein, was die Natur eines solchen Gesamtzustandes ausmacht, sofern wir ihn als GefÝhl oder wollendes oder vorstellendes Verhalten bezeichnen. Die innere Beziehung dieser verschiedenen Seiten meines Verhaltens, gleichsam die Struktur, in welcher diese Fasern miteinander verknÝpft sind, ist in dem GefÝhl eine andere als in dem Willenszustand, in diesem wieder eine andere als in dem vorstellenden Verhalten. So stehen [?] in jedem vorstellenden Verhalten die TÈtigkeiten der Aufmerksamkeit und die mit ihnen verbundenen Bewußtseinserregungen354 Allwissenheit ausgestattet sein. Die Natur aber hat diese Aufgabe mit einem viel geringeren Aufwand von Mitteln gelÚst. Sie hat das lebendige Individuum seiner Umgebung indirekt mit viel grÚßerer Sparsamkeit in bezug auf Leistungen angepaßt. Die Kenntnis von dem Nutzen oder Schaden der Èußeren Dinge, von dem, was das Wohlbefinden des lebenden KÚrpers vermehrt oder vermindert, ist in der ganzen tierischen und in der menschlichen Welt gleichmÈßig durch die GefÝhle von Freude und Schmerz reprÈsentiert. Unsere Wahrnehmungen bilden ein Zeichensystem fÝr die uns unbekannten Eigenschaften der Außenwelt: so sind auch unsere GefÝhle Zeichen, auch sie bilden ein Zeichensystem; nÈmlich fÝr355 Neigung ist. Hieraus ergibt sich auch, daß die physische Lust erheblich an IntensitÈt hinter dem stÈrksten physischen Schmerz zurÝckbleibt.356 Denn die normale TÈtigkeit kann nicht so hoch Ýber den Durchschnitt erhoben werden, als der Eingriff und die ZerstÚrung unter die Norm bis an die Grenze sinken kann, an welcher Leben und Empfindung enden. Soweit also wird Schopenhauers pessimistische Lehre von dem Àberwiegen des Schmerzes im organischen Leben durch die Tatsachen bestÈtigt. Jedoch sind die kÚrperlichen GefÝhle eine Zeichensprache von einer etwas groben und unvollkommenen Art; vor allem belehren sie nur Ýber die augenblicklichen Wirkungen eines Reizes auf ein Gewebe, nie aber Ýber die spÈteren Folgen. Die unmittelbare Wirkung einer Speise auf die Geschmacksorgane ist darum nicht weniger angenehm, weil diese spÈter in anderen Teilen des KÚrpers nachteilige Wirkungen [hervorbringen wird] und demgemÈß in den zugehÚrigen Teilen des Nervensystems als Zeichen derselben Gichtschmerzen hervorgerufen wird. 357 zu zwei HÚhepunkten empor: den einen bilden die Arthropoden, welche 4/5 aller Tierarten ausmachen und aus deren Formenmannigfaltigkeit sich Bienen und Ameisen als hochentwickelte GeschÚpfe erhoben; den anderen bilden die Wirbeltiere, deren kÚrperliche Organisation wir selber teilen. Hier ist ein hochentwickeltes Nervensystem, in welchem die Zentralteile zwischen den

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sensiblen und motorischen Nerven die Verbindung herbeifÝhren, der TrÈger einer hochentwickelten seelischen Struktur. Versuchen wir nun die allgemeinen Eigenschaften dieser inneren Struktur des Seelenlebens zusammenfassend auszusprechen.358 Die Entwicklung des Seelenlebens359 [. . .] Ein zweiter, umfassender Zusammenhang geht durch unser Seelenleben hindurch; erstreckt sich die Struktur derselben gleichsam durch ihre Breite, so dehnt sich die Entwicklung des Individuums in seiner LÈnge aus. Beide Arten von Zusammenhang bedingen einander. Man kÚnnte die Entwicklung eines Menschen nicht verstehen, ohne Einsicht in die Breite seiner Existenz, welche das lebendige VerstÈndnis der Entwicklungsgeschichte fordert. Indem die beschreibende Psychologie beide Betrachtungsweisen verbindet, strebt sie360 gleichsam die allgemeine Biographie des Typus oder des Spezies Mensch zu erfassen. In dem Maße, in dem ihr dies gelingt, wird in dieser Beschreibung auch das Gesetz der Variation dieses Typus enthalten sein.361 Die Macht von Trieb, Energie [in der] Struktur des Zusammenhangs einer Seele Èußert sich in deren Entwicklung. BestÝnde nicht in dieser Struktur und ihren treibenden KrÈften eine GesetzmÈßigkeit, ein Wertzusammenhang, der sie vorwÈrts triebe, dann wÝrde der Lebenslauf nicht Entwicklung sein; daher aus dem blinden Willen von Schopenhauer so wenig die Entwicklung eines Menschen abgeleitet werden kann, als aus dem atomistischen Spiel physischer EinzelkrÈfte der Herbartianer oder der Materialisten. Diese Entwicklung hat in dem Menschen die Tendenz, einen festen Zusammenhang des Seelenlebens herbeizufÝhren, welcher mit den allgemeinen und besonderen Lebensbedingungen Ýbereinstimmt. Alle Prozesse des Seelenlebens wirken zusammen, um einen solchen Zusammenhang in uns herbeizufÝhren. Denn auch das Unterscheiden und Trennen bringt VerhÈltnisse hervor, dient somit der Verbindung; der Ausdruck hiervon ist die Formel von der Einheit des Bewußtseins als einer Grundeigenschaft desselben; diese besagt, daß alle TÈtigkeit des Bewußtseins Einheit herbeifÝhrt. So sind schließlich die Formeln der ganzen Transzendentalphilosophie seit Kant nur abstrakte Ausdrucksweisen fÝr die Wirkung der psychischen Funktionen. Und Gestalt der Seele ist das: „Was durch diese VorgÈnge allmÈhlich entsteht.“ Diese VerhÈltnisse wirken ganz durchgreifend, denn auch wenn in dem Verbrecher oder dem Wahnsinnigen eine normale Anpassung zwischen dem Triebleben und der Umgebung herbeigefÝhrt wird, wird der erworbene Zusammenhang mit den Jahren hÈrter, unbiegsamer, geschlossener. Der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens umfaßt entsprechend der

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Struktur desselben gleicherweise Bilder, Begriffe, Wertbestimmungen, Willensrichtungen. Dieser Zusammenhang enthÈlt in sich homogene Ordnungen, welche in allen Menschen sich auf dieselbe Weise ausbilden. Wie alle Menschen dieselbe Außenwelt haben, so bringen sie in sich dasselbe Zahlensystem, dieselben geometrischen Beziehungen, dieselben grammatischen, logischen Relationen, dieselben VerhÈltnisse von Zwecken und Mitteln hervor. Die Verwandtschaft der Vernunft in allen Individuis spricht sich trotz ihrer großen IndividualitÈt hierin aus. An der Gesetzlichkeit und GleichfÚrmigkeit der einzelnen Gebilde, die der Mensch hervorbringt, und des durchgreifenden Zusammenhangs, der sie zu einem Ganzen verknÝpft, hat die beschreibende Psychologie ein festes, standhaltendes Material, welches eine wirkliche Analysis, ohne Zumischung von Hypothesen, zulÈßt.362

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2. *Àber das VerhÈltnis der beschreibenden zu der erklÈrenden Psychologie

[1. Die Notwendigkeit einer beschreibenden Psychologie] Ich habe in meinem letzten Vortrag dargelegt, daß die Ausbildung einer beschreibenden Psychologie fÝr die Fortentwicklung der Erkenntnistheorie und der Geisteswissenschaften erforderlich, und ich habe durch die Entwicklung einiger HauptsÈtze derselben zu zeigen versucht, daß sie mÚglich sei. Ich mÚchte heute dies ergÈnzen durch die Untersuchung des VerhÈltnisses der beschreibenden und der erklÈrenden Psychologie. Ich verstehe unter erklÈrender Psychologie die Ableitung der in der inneren Erfahrung gegebenen Tatsachen aus einer begrenzten Anzahl von analytisch gefundenen Elementen. Ihr erstes Merkmal ist also die ausnahmslose ZurÝckfÝhrung der in innerer Erfahrung gegebenen Tatsachen auf die von ihr zugrunde gelegten Elemente. Es ist hierbei nicht nÚtig, daß sie diese an die Spitze stellte, etwa wie es Spinoza tat; die Regel wird sein, daß dieselben das Kapital bilden, mit welchem die Psychologie wirtschaftet. Ich erlebe Schmerz etc. Hierdurch ist das zweite Merkmal bedingt. Diese Psychologie ist Hypothesenpsychologie. Sie muß in den Prinzipien wie an allen entscheidenden Punkten Hypothetisches zugrunde legen. Da eine quantitative Betrachtungsweise nicht durchfÝhrbar ist, so kann sie auch nie hinausschreiten, die in der inneren Wahrnehmung gegebenen WerteverhÈltnisse zu vernachlÈssigen und Tatsachen wie Wille, welcher [als] vorhanden an ihr einzubeziehen ist, zu etwas SekundÈrem zu machen. Im Gegensatz hierzu ist das Verfahren der beschreibenden Psychologie ausschließlich analytisch. Da in unsere Erfahrung das Erwirken fÈllt, so sind innere ErwirkungszusammenhÈnge nicht nur von ihr nicht ausgeschlossen, sondern bilden das wichtigste Ziel derselben. Also Beschreibung, Analysis, Aufsuchung der umfassenden oder engeren ZusammenhÈnge, der Bestandteile etc. Wo sie auf eine Tatsache trifft, in bezug auf welche von der Psychologie eine VerstÈndigung Ýber ihre Analysis nicht erreicht werden kann, erkennt sie eine vorlÈufige Grenze der Analysis an. Solche Tatsachen sind das im Satz zugrunde liegende psychische Faktum, aus dem auch Bewußtsein der Wahrheit [entspringt], die Àberwindung der stÈrksten Triebe durch ein GefÝhl, das gar nicht mit unserer Selbsterkenntnis zusammenhÈngt, in unsrem Zweckhandeln

2. *Àber das VerhÈltnis der beschreibenden zu der erklÈrenden Psychologie

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ein Bestandteil von Sollen mit einem Bewußtsein, das wir als Lust bezeichnen. Wo sie ErklÈrungen, die Hypothesen sind, angibt, bedient sie sich nicht derselben, um daraus abzuleiten, und bestimmt genau die Grade derselben immer in Grenzen, das eigentliche Corpus solcher Psychologie. Durch diese EinschrÈnkung nach einer Richtung Erweiterung nach der anderen gegeben. Es gibt einfache Tatsachen, welche aus der Analysis dieses einzelnen bestehen, auf welchen die inhaltliche Seite beruht. Wir streben uns zu entfalten und auszuwirken. Das GefÝhl sucht nach einer Darstellung, Ehrbewußtsein etc. Diese ganze Lebeninhaltlichkeit kann in eine beschreibende Psychologie aufgenommen werden. [. . .] Unter den UntersÈtzen [?] kann nun folgende Arbeitsteilung als wÝnschenswert zur Anerkennung gebracht werden, auch wenn sie ganz verschiedenen Richtungen angehÚrt. Als Grundlage fÝr ErklÈren von GegenstÈnden einer besonderen Klasse ist diese [Psychologie] auszubilden. Eine der grÚßten jetzt bestehenden Aufgaben. Dazu hat das Verfahren der erklÈrenden Psychologie wohl nur einen heuristischen Wert, d. h. sie bildet keine Grundlage fÝr die Wissenschaften, sondern sie bedient sich ihres Hypothesenschemas, um von ihm aus Experimente, neue Erfahrungen, Analysen von psychischen und sozialen Produkten herbeizufÝhren, welche Fortschritte in der Zergliederung herbeifÝhren kÚnnen. Niemand kann die große Bedeutung der erklÈrenden Psychologie in dieser Richtung bezweifeln, wie niemand urteilt und weiter fragt, so er sich tÈuschen kann. Ein Beweis hierfÝr die Lehre von unbewußten SchlÝssen, die jetzt bei Helmholtz etc. Denn die Wissenschaft schreitet nur voran, indem provisorisch ein Prinzip einem Tatsachenkreis zugrunde gelegt wird. [. . .]363 Der erste dieser Gesichtspunkte ist dadurch gegeben, daß die erklÈrende Psychologie keineswegs die ganze inhaltvolle Menschennatur zu ihrem Gegenstande hat. Wie sie aus der Zergliederung der Wahrnehmung und der Erinnerung entstand, bilden Empfindungen, Vorstellungen, Lust und UnlustgefÝhle als Elemente, Formen, in denen die Seele an diesen Elementen tÈtig ist, insbesondere Assoziation, den eigentlichen Kern derselben. Von diesem Gesichtspunkte aus entwarf ich (1865 Novalis Preußische JahrbÝcher XV p. 626)364 den Begriff einer deskriptiven Realpsychologie. Ich suchte eine Psychologie, welche die ganze TotalitÈt des Seelenlebens, neben den Formen auch die Inhaltlichkeit desselben, zur Auffassung brÈchte und die in dieser TotalitÈt bestehenden ZusammenhÈnge beschriebe. Ich fand, daß in dieser Richtung die idealistische Psychologie Einsichten besessen hÈtte, die wir nicht verwerten. Ich fand, daß die psychologische Analyse bei ihren Verfahren auf den verschiedenen Gebieten des Seelenlebens auf harte Tatsachen trifft, welche eine Ýberzeugende Zergliederung bisher nicht ermÚglicht haben: so das Streben nach

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Erhaltung und Erweiterung unseres Selbst innerhalb unseres GefÝhls- und Trieblebens, die Notwendigkeit in unserem Denken, das Sollen in unserem Willen. Die damals hervorgehobenen LÝcken bestehen auch heute fort. Die mÈchtige Wirklichkeit des Lebens, wie die großen Schriftsteller und Dichter sie aufzufassen bestrebt waren, reicht Ýber die Grenzen unserer Schulpsychologie hinaus. Wir mÝssen versuchen, das dort intuitiv, in einzelnen AperËus, im dichterischen Symbol Ausgesprochene wissenschaftlich aufzuklÈren und mit dem Bestande unserer Psychologie in Verbindung zu setzen. Der andere Gesichtspunkt lag fÝr mich darin, daß die Geisteswissenschaften einer mÚglichst sicheren, die ganze mÈchtige Wirklichkeit des Seelenlebens zur Beschreibung und soweit als mÚglich zur Analysis bringenden Psychologie bedÝrfen. Die Analyse der gesellschaftlichen und geschichtlichen Wirklichkeit kann nur ausgefÝhrt werden, indem man diese Wirklichkeit zunÈchst in die einzelnen Zwecksysteme zerlegt, aus denen sie besteht. Diese Zwecksysteme, Wirtschaftslehre, Recht, Religion, lassen dann eine Zergliederung des in ihnen bestehenden Zusammenhangs zu. Dieser aber ist kein anderer, als der in den Menschen selber, die in einem solchen Zusammenhang zusammenwirken. Er ist schließlich ein psychologischer. Es muß sonach eine Psychologie geschaffen werden, welche den Anforderungen einigermaßen entspricht, wie sie von den Geisteswissenschaften aus entspringen. Augenscheinlich stehen diese beiden Gesichtspunkte in einer inneren Beziehung zueinander. Die Geisteswissenschaften fordern vor allem von der Psychologie, daß die ganze unverstÝmmelte, mÈchtige Wirklichkeit des Seelenlebens in ihr zur Auffassung gelange. Der religiÚse Genius, der geschichtliche Held, der KÝnstler, welche Geschichte und Gesellschaft bewegen, mÝssen in dem Bezirk dieser Psychologie ihren Raum und die MÚglichkeit ihrer Lokalisierung finden. Geht man nun von der lebendigen Funktion der Psychologie im Zusammenhang der Geisteswissenschaften aus: dann entsteht die Aufgabe einer Psychologie, welche den entwickelten Kulturmenschen beschreibt, den Zusammenhang seines Seelenlebens darstellt, die einzelnen Teile desselben soweit als mÚglich analysiert und Ýberall die vergleichende Psychologie und die Entwicklungsgeschichte zur ErlÈuterung und BestÈtigung heranzieht. Eine solche Psychologie ist alsdann das Werkzeug des Historikers, des Theologen, des Politikers, des NationalÚkonomen, wie sie den Menschenbetrachter und Praktiker leitet. Die erklÈrende Psychologie wird nun auch in ihrer eigentlichen Bedeutung sichtbar. Ihre Funktion ist vorwiegend heuristisch. Sie dient dem Fortschritt der Psychologie, indem sie von ihren Hypothesen aus zweckmÈßige Beobachtungen, Versuche und Analysen herbeifÝhrt, wodurch dann Erweiterungen des psychologischen Wissens ermÚglicht werden. Von diesen Gesichtspunkten aus wÝrden nun der Begriff der erklÈrenden

2. *Àber das VerhÈltnis der beschreibenden zu der erklÈrenden Psychologie

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und der beschreibenden Psychologie und das VerhÈltnis derselben zueinander sich folgendermaßen gestalten:

2. Die erklÈrende Psychologie Unter erklÈrender Psychologie verstehen wir im folgenden die Ableitung der in der inneren Erfahrung, dem Versuch, dem Studium anderer Menschen und ihrer Leistungen gegebenen Tatsachen aus einer begrenzten Zahl von analytisch gefundenen Elementen. Ein solches Erkennen der Psychologie ist selbstverstÈndlich ebensogut ein allgemeines Gesetz, ein allgemeingÝltiger Zusammenhang als eine Empfindung oder eine Vorstellung. Ihr erstes Merkmal ist also, wie auch Wolff und Waitz annehmen, ihr synthetischer oder konstruktiver Gang. Dieser hat die Ableitung aller in der inneren Erfahrung und ihren Erweiterungen gegebenen Tatsachen aus einer begrenzten Zahl eindeutig bestimmter Elemente zur Voraussetzung. Diese bilden das Kapital, mit welchem die erklÈrende Psychologie wirtschaftet. Entnahm man in der Èlteren Psychologie wenigstens einen Teil dieser Elemente aus der Metaphysik und der allgemeinen Naturlehre, wÈhrend man natÝrlich fÝr den anderen sich auf die Analysis der Erfahrungen angewiesen fand: so verfuhren noch Herbart, Drobisch und Lotze hiernach: so gewinnt die moderne Psychologie – die Seelenlehre ohne Seele – diese Elemente nur aus der Analysis der Erscheinungen. Analysis, welche diese Elemente in den seelischen Erscheinungen findet, Synthesis oder Konstruktion, welche dann aus ihnen alle Erscheinungen des Seelenlebens ableitet und so an den Erscheinungen erprobt, daß sie zureichend365 sind: dies sind sonach die zwei Teile, in welchen naturgemÈß die strenge DurchfÝhrung der erklÈrenden Methode in einer modernen Psychologie zerfallen muß. Das VerhÈltnis366 dieser Elemente macht die Hypothese aus, mittels derer die Erscheinungen erklÈrt werden. Das Verfahren des erklÈrenden Psychologen ist also ganz dasselbe, dessen sich der Naturforscher auf seinem Gebiete bedient. Die •hnlichkeit im Verfahren beider wird dadurch noch grÚßer, daß mit Recht der Versuch, das Experiment jetzt die Hilfsmittel der Psychologie auf vielen ihrer Gebiete sind. Hierbei ist es natÝrlich gleichgÝltig, in welcher Anordnung die EinfÝhrung der Elemente fÝr die Ableitung stattfindet. Nur darauf kommt es an, daß aus dem Kapital einer begrenzten Zahl eindeutiger Elemente der Psychologe bei der ErklÈrung der psychologischen Erscheinungen wirtschaftet . . . So richtig verstanden, kann dies Merkmal an einigen der einflußreichsten psychologischen Werke der Gegenwart nachgewiesen werden. Bekanntlich hat

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die englische Psychologie nach dem Vorgang von Hume und Hartley (1749) ihre erste umfassende Darstellung in James Mills großem Werk: Zergliederung der Erscheinungen des menschlichen Geistes [Analysis of the Phenomena of the Human Mind] gefunden. Dieses Werk legt die Hypothese zugrunde, daß das ganze Seelenleben, Denken, GemÝt, Wille in ihren hÚchsten •ußerungen aus einfachen sinnlichen Vorstellungen in einem Inneren, in welchem die Assoziationsgesetze wirken, sich ausbilden. Als Hilfshypothese benutzt hierbei James Mill die Annahme von chemischen Wirkungen im Geistesleben; einfache Vorstellungen erzeugen zusammengesetzte, die aber dann in der inneren Wahrnehmung als einfache auftreten. Diese erklÈrende Psychologie bediente sich Ýberall nur des einen Beweisverfahrens, komplexe Erscheinungen aus den hypothetisch angenommenen Elementen zu erklÈren, nachzuweisen, daß es außer diesen Elementen keiner anderen ErklÈrungsgrÝnde bedÝrfe, um die hÚchsten VorgÈnge kausal durchsichtig zu machen.367 Die psychologische Methode, welche Stuart Mill in seiner Logik beschreibt, gewinnt zuerst durch induktives Verfahren die einfachen oder elementaren Geistesgesetze und leitet dann aus den Wirkungen in einem mit elementaren ZustÈnden, EindrÝcken, GefÝhlen erfÝllten Seelenleben die zusammengesetzten hÚheren ZustÈnde ab. Er betont hier mit besonderem Nachdruck das, was er chemische Wirkungen im Seelenleben nennt. „Die Gesetze des Geisteslebens sind mitunter mechanischen, mitunter aber auch chemischen Gesetzen vergleichbar. Wenn viele EindrÝcke oder Vorstellungen im Geiste zusammenwirken, so findet mitunter ein Hergang statt, der einer chemischen Verbindung Èhnlich ist. Wenn man EindrÝcke so oft vereinigt erfahren hat, daß jeder von ihnen leicht und augenblicklich die Ideen der ganzen Gruppe hervorruft, so verschmelzen jene Ideen mitunter miteinander und erscheinen nicht als mehrere, sondern als eine Idee; in derselben Weise wie die sieben Farben des Prisma, wenn sie in rascher Folge am Auge vorÝbergefÝhrt werden, den Eindruck der weißen Farbe hervorbringen.“ ([J.] St. Mill[, System der deduktiven und induktiven Logik. Eine Darlegung der GrundsÈtze der Beweislehre und der Methoden der wissenschaftlichen Forschung. Unter Mitwirkung des Verfassers Ýbersetzt und mit Anmerkungen versehen von Th. Gomperz, Band 3, Leipzig 1886, S.] 255) Es ist klar, daß die Annahme eines solchen Gesetzes der erklÈrenden Psychologie ihr GeschÈft sehr erleichtern muß. Zugleich aber vermindert es gar sehr den ohnehin schon bescheidenen Grad von Àberzeugungskraft, der solchen ErklÈrungen hÚherer VorgÈnge aus einer hypothetisch angenommenen Verbindung von Elementen der psychologischen Rechnung zukommt. Die Psychologie von Herbert Spencer ist ebenfalls ein Werk von großem Einfluß auf die europÈische psychologische Forschung. Sie erschien zuerst 1855. Ihre Methode war ganz verschieden von der Methode der beiden Mills. Sie ordnet der vom ent-

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wicklungsgeschichtlichen Gedanken durchdrungenen Naturwissenschaft das Studium der geistigen Tatsachen unter. Sie bediente sich nicht nur der naturwissenschaftlichen Methode, wie jene beiden getan hatten, sondern sie ordnete psychische PhÈnomene dem Zusammenhang der physischen unter. Sie begrÝndete also die Psychologie auf die allgemeine Biologie. Sie ging von der Annahme der Evolution innerhalb des ganzen Tierreiches aus. Sie bediente sich des Studiums des Nervensystems, des vergleichenden Studiums der Èußeren Organisation wie der inneren ZustÈnde innerhalb der ganzen tierischen Welt. Aber auch diese Psychologie zerfiel doch in zwei verschiedene Teile, deren einer aus dem Studium des Nervensystems, aus der inneren Erfahrung, aus der vergleichenden Àbersicht Ýber die ganze tierische Welt durch konvergierende SchlÝsse zu einer Verbindung von Hypothesen gelangte, welche dann in dem anderen Teile benutzt wurden, den menschlichen Verstand zu erklÈren. Die EinschrÈnkung der ErklÈrung auf dies Gebiet war bedingt durch Spencers Àberzeugung, daß zur Zeit eine ErklÈrung der emotionalen ZustÈnde unausfÝhrbar sei. „Wenn man etwas durch Sonderung seiner einzelnen Teile und Untersuchung der Art und Weise, wie dieselben miteinander verknÝpft sind, erklÈren will, so muß dies etwas sein, was368 wirklich unterscheidbare und in bestimmter Art verbundene Teile besitzt. Haben wir es aber mit einem Gegenstande zu tun, der zwar augenscheinlich zusammengesetzt ist, dessen verschiedenartige Elemente aber so durcheinandergemengt und verschmolzen sind, daß sie sich nicht einzeln scharf erkennen lassen, so ist von vorneherein anzunehmen, daß der Versuch einer Analyse, wenn nicht vÚllig fruchtlos bleiben, so doch nur zu zweifelhaften und unzulÈnglichen Folgerungen fÝhren wird. Dieser Gegensatz besteht nun in der Tat zwischen den Formen des Bewußtseins, die wir als intellektuelle und emotionelle unterschieden haben.“ (H. Spencer: [Die] Principien der Psychologie[. Autorisirte deutsche Ausgabe. Nach der dritten englischen Aufl. Ýbersetzt von B. Vetter, Band] II[, Stuttgart 1886, S.] 3) Die Hypothesen, welche bei Spencer hinzutreten zu den psychologischen Grundbegriffen der Millschen Schule sind: der Parallelismus der physischen mit den psychologischen Tatsachen, das Prinzip der Anpassung des Lebewesens an sein Milieu, daraus stammend Entwicklung oder Differenzierung und Integration, endlich die Analogie der Struktur des Nervensystems mit dem System von Beziehungen innerer Elemente als der Struktur des seelischen Lebens. Es ist augenscheinlich, daß sich durch die HinzufÝgung dieser Hypothese H. Spencer der Lebendigkeit des Seelenlebens mehr annÈherte, als dies in der Schule der Mills erreicht worden war. Das erste StÝck der Psychologie Spencers, welches schon 1853 fÝr sich verÚffentlicht worden war, war die Untersuchung Ýber die Grundlage unseres Verstandes,369 ihm war dann 1855 das ganze Werk gefolgt. 1864 erschien das

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philosophische Hauptwerk von Hyppolite370 Taine, dem berÝhmten Literarhistoriker, •sthetiker, Geschichtsschreiber und Philosophen der letzten Generation von Frankreich.371 Dies Werk stand ganz auf der Grundlage der beiden Mill und H. Spencer. H. Spencer selbst sagt von seinen leitenden psychologischen Gedanken: „In Frankreich hat Herr Taine Gelegenheit genommen, in seinem Werk ‚De l’Intelligence, einige derselben allgemeiner bekannt zu machen.“372 Àberall da, wo die Mills mit Spencer Ýbereinstimmen, folgt er ihnen; wo sie voneinander abweichen, bevorzugt er regelmÈßig Spencer. Aber Taine fÝgte eine neue Hypothese hinzu, welche aus einer merkwÝrdigen EigentÝmlichkeit der franzÚsischen Geister in bezug auf das Studium psychischer Tatsachen entspringt. Das Studium der Anomalien des Seelenlebens, der geistigen StÚrungen, der Halluzinationen und heute der hypnotischen ZustÈnde ist von franzÚsischen Forschern mit Vorliebe ausgebildet worden. Kommt doch von ihnen die Lehre von der Verwandtschaft des Genies mit diesen abnormen ZustÈnden. So bedient sich Taine des Studiums derselben, um die Norm des wachen Lebens zu erklÈren. Eine merkwÝrdige Theorie! Aber sie hat doch auch seine Ansicht vom dichterischen Genie wie die von der franzÚsischen Revolution beeinflußt. „Unsere Bilder sind repetierte, fortlebende, spontan wiederkehrende Wahrnehmungen, also ebenfalls Wahrnehmungen von gewisser Art. Unsere eigentlichen Wahrnehmungen sind Totalwahrnehmungen, die aus einfacheren Wahrnehmungen zusammengesetzt sind, diese ebenfalls, und so weiter. Man kann also, in Ermangelung eines besseren Ausdrucks, mit Condillac sagen, das primordiale, innere Ereignis, aus dem unsere Erkenntnis sich aufbaut, ist die Wahrnehmung.“ ([H.] Taine[, Der] Verstand II[. Band, a. a. O.], [S.] 6) Und diese Bilder, welche sonach die Grundelemente des ganzen Seelenlebens ausmachen, stattet nun Taine mit der Tendenz aus, in den [Zustand] der Halluzination Ýberzugehen. Unser373 ganzes Bewußtsein der Außenwelt und die in ihr befindlichen rÈumlichen Objekte ist eine permanente Halluzination. „Die Natur erzeugt mit Hilfe von Wahrnehmungen und Bildergruppen, nach Gesetzen,374 Phantome in uns, die wir fÝr Èußere Objekte halten, und meistens ohne uns zu tÈuschen, denn es sind in der Tat ihnen entsprechende Èußere Objekte vorhanden; bisweilen tÈuschen wir uns, denn bisweilen fehlen die entsprechenden Èußeren Objekte: in dieser Weise erzeugt sie die Èußeren Wahrnehmungen, welche wahre Halluzinationen, und die eigentlichen Halluzinationen, welche falsche Èußere Wahrnehmungen sind.“ (Taine II, [S.] 53) Dieser Tendenz zur Halluzination wirken nun aber die konkurrierenden Wahrnehmungen entgegen. Nach dem VerhÈltnis des Widerspruchs werden von ihnen aus die Halluzinationen gehemmt und korrigiert. Taine fÈhrt fort: „Andernteils verbindet sie mit einer Halluzination eine stÈrkere, widersprechende Halluzination und verÈndert so das Èußere Anse-

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hen der ersten durch eine mehr oder minder vollstÈndige Verneinung oder Rektifizierung: durch diese Verbindung erzeugt sie gehemmte Halluzinationen, die nach Art und Grund der Hemmung bald Erinnerungen, bald Voraussichten, bald Begriffe und Vorstellungen im eigentlichen Sinne darstellen, und die, sobald die Hemmung fortfÈllt, sich spontan zu vollstÈndigen Halluzinationen entwickeln.“ „Wir kÚnnen jetzt das Verfahren, mittels dessen die Natur in uns unsere ersten und vorzÝglichsten Quellen der Erkenntnis springen lÈßt, mit einem Gesamtblick umfassen. In zwei Worten ausgedrÝckt: sie schafft Illusionen und Rektifikationen der Illusion, sie erzeugt Halluzinationen und hemmt sie.“ ([Taine, II, S.] 53) Man bemerkt, wie in dieser Hypothese von Taine die erklÈrende Psychologie sich einen weiteren Schritt der seelischen Lebendigkeit zu nÈhern strebt. Zugleich wird an diesem Punkte recht sichtbar, wie nachteilig diese einseitigen Theorien der erklÈrenden Psychologie auf die Geisteswissenschaft und insbesondere auf die Geschichte gewirkt haben. Wie James Mill Grote und Buckle beeinflußte, so hat diese Theorie auf die Auffassung des dichterischen Genies in der englischen Literaturgeschichte nachteilig gewirkt, ja sie hat die Auffassung der franzÚsischen Revolution als eines Zustandes von MassenverrÝckung sichtlich beeinflußt.375 In derselben Richtung der erklÈrenden Psychologie, wie sie von den Mill und Herbert Spencer ausgebildet worden ist, arbeitet gegenwÈrtig in Frankreich Ribot weiter. Die deutsche erklÈrende Psychologie befreite sich unter dem Einfluß der englischen Schule von ihrer metaphysischen Grundlage, wie sie noch Herbarts Schule und Lotze festgehalten hatten. Die ganze Herbartsche Schule steht auf dem Standpunkt der erklÈrenden Psychologie. Ihre außerordentliche Bedeutung fÝr die erklÈrende Psychologie lag nun darin, daß sie mit den methodischen Anforderungen, welche in einer ErklÈrung nach dem Vorbild der Naturwissenschaften enthalten sind, vollen Ernst machte. Die erklÈrende Methode hat die Forderung, daß der in der Erfahrung gegebene konkrete Zusammenhang der seelischen VorgÈnge Ýberall und ausnahmslos begreiflich und notwendig sei, zu ihrer Voraussetzung. Die erklÈrende Psychologie muß also deterministisch sein. Sie muß die in die innere Erfahrung fallenden ZusammenhÈnge als aus eindeutigen psychischen Elementen, Bestandteilen und Gesetzen konstruierbar aufzeigen. Sie mÝßte aus diesen eindeutigen Elementen der Konstruktion die VerÈnderungen im Bewußtsein so ableiten, wie der Physiker die VerÈnderungen des Lichtes und der Farben unter den wechselnden Bedingungen der Beleuchtung eines gegebenen KÚrpers. Sie mÝßte die Schwierigkeiten Ýberwinden, welche die InstabilitÈt der psychischen VorgÈnge, die individuellen Verschiedenheiten derselben, der engen Grenzen eigentlicher Beobachtung darbieten. Herbarts scharfer Blick erkannte wohl, daß auf

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dem psychischen Gebiet die erklÈrende naturwissenschaftliche Methode nur dann mehr als bloße MÚglichkeiten von ErklÈrungen bieten kÚnne, wenn qualitative Betrachtung in sie eingefÝhrt werden kÚnne. Gelang nun das in seinen eigenen Arbeiten nicht wirklich, so hat denn doch in derselben Richtung Fechner die von Ernst Heinrich Weber angestellten Versuche fÝr die Aufstellung des psychophysischen Gesetzes verwertet, in welchem das quantitative VerhÈltnis der Zunahme der StÈrke von Sinnesreizen zum Wachstum der EmpfindungsgrÚßen bestimmt wird. Ebenso wichtig fÝr die Entwicklung der deutschen erklÈrenden Psychologie als die Aufstellung dieses Gesetzes wurde die mit ihr verbundene Ausbildung der experimentellen Methoden. Die Methode der MinimalÈnderungen, der mittleren Abstufungen, der mittleren Fehler, der richtigen und falschen FÈlle erÚffnete Wege, Messung und ZÈhlung auf psychische Tatsachen anzuwenden. Ein anderes Gebiet von Anwendung der quantitativen Bestimmungen auf seelische VorgÈnge erschloß sich in der Zeitmessung psychischer VorgÈnge. Der deutsche Astronom Bessel stieß bei der Vergleichung von Bestimmungen verschiedener Astronomen Ýber die Zeit eines Vorganges am Himmel auf die Entdeckung der persÚnlichen Differenz der Astronomen. Zwischen den Bestimmungen der Zeit, zu welcher etwa ein Stern den Meridian passiert, kÚnnen Differenzen auftreten, welche durch die Verschiedenheiten im Ablauf der erforderlichen SinnesvorgÈnge bedingt sind. Bald wurde von Astronomen und Biologen die psychologische Tragweite dieser Tatsache erkannt. Insbesondere Wundt und seine Schule haben sie fÝr die Bestimmung der Zeit, welche der Ablauf der verschiedenen psychischen VorgÈnge beansprucht, verwertet. Zugleich haben die großen Analysen unserer Gesichts- und Tonwahrnehmungen auf experimentellem Wege dem Versuch einen anderen Weg von der Zergliederung unserer Wahrnehmungen aus erÚffnet, und mit allen deutschen physiologischen Laboratorien wurde nun an der Herstellung solcher Analysen gearbeitet. Indem diese Arbeiten ineinandergriffen: entstand die Ausbildung der experimentellen psychologischen Methoden in Deutschland. Ein Vorgang, durch welchen Deutschland die unbestrittene FÝhrung in der psychologischen Wissenschaft seit den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts erhielt. Hierdurch wuchs zunÈchst die Macht der erklÈrenden Psychologie außerordentlich. Die Aussicht tat sich auf, nach dem Vorbilde der Naturwissenschaften durch die EinfÝhrung des Versuchs und der quantitativen Bestimmungen der erklÈrenden Seelenwissenschaft endlich quantitativ bestimmte und experimentell gesicherte gesetzliche VerhÈltnisse zur Grundlage zu verschaffen. Aber in dieser fÝr die erklÈrende Psychologie entscheidenden Situation trat nun das Gegenteil von dem ein, was die Enthusiasten der experimentellen Methode erwartet hatten. Der Versuch hat auf dem psychophysischen Gebiete der Zergliederung von Sinneswahrnehmungen ErklÈrungen er-

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mÚglicht. Auch erwies er sich als ein unentbehrliches Hilfsmittel fÝr die Herstellung einer genauen Beschreibung innerer psychischen VorgÈnge, und es lÈßt sich voraussehen, daß seine Bedeutung in dieser RÝcksicht immer zunehmen wird. Aber zur Erkenntnis von Gesetzen auf dem Gebiet der innerphysischen Tatsachen hat er nicht gefÝhrt. Unter diesen UmstÈnden zeigt die gegenwÈrtige deutsche Psychologie in bezug auf die Benutzung der erklÈrenden Methode zwei merkwÝrdige Erscheinungen. Die Enthusiasten der erklÈrenden Methode bedienen sich nun der WegrÈumung der Schwierigkeiten der Prinzipien der englischen Biologen und Psychologen, besonders Darwins und Spencers, in solcher Art, daß wirklich das Spiel mit diesen ErklÈrungen dem souverÈnen Belieben anheim fÈllt. Die Naturphilosophen der Schellingschen Schule haben ihrer Einbildungskraft die ZÝgel nicht mehr gelÚst als sie es tun. Das Verfahren ist am einfachsten in MÝnsterbergs Schrift Ýber Aufgaben und Methoden der Psychologie angegeben.376 Die erklÈrende Psychologie legt das Postulat zugrunde: Kein psychisches PhÈnomen besteht ohne begleitendes physisches PhÈnomen (S. 124). Nun kann von den so entstehenden beiden Reihen, den physiologischen Prozessen und den psychischen Begleiterscheinungen, die physiologischen kausal interpretiert werden; dagegen sind377 die psychischen VerÈnderungen, die in die innere Wahrnehmung fallen, nicht untereinander zu einem lÝckenlosen Kausalzusammenhang verbunden ([S.] 125). Was folgt hieraus? Wir mÝssen den notwendigen Zusammenhang von der physischen Reihe auf die psychologische Ýbertragen (p. 125). Die Aufgabe ist also: „die Gesamtheit der Bewußtseinsinhalte in ihre Elemente zu zerlegen, die Verbindungsgesetze und einzelnen Verbindungen dieser Elemente festzustellen und fÝr jeden elementaren psychischen Inhalt empirisch die begleitende physiologische Erregung aufzusuchen, um aus der kausal verstÈndlichen Koexistenz und Sukzession jener physiologischen Erregungen die rein psychologisch nicht erklÈrbaren Verbindungsgesetze und Verbindungen der einzelnen psychischen Inhalte mittelbar zu erklÈren.“ ([S.] 127) Hierdurch sind dann zwei Hilfsmittel in die Hand des gesamten erklÈrenden Psychologen gegeben. Wo zwischen den Bedingungen und der aus ihnen entspringenden Handlung oder geistigen SchÚpfung keine Gleichung in der inneren Erfahrung besteht, darf dies den ErklÈrer nicht beirren; er hat physiologische Zwischenglieder einzuschieben, die kein psychisches •quivalent haben. Wo in einer psychischen Wirklichkeit, wie etwa der Willenshandlung, Eigenschaften auftreten, welche in den angenommenen eindeutigen Elementen dieser erklÈrenden Psychologie nicht enthalten sind, da wird zu physiologischen Miterregungen, wie Reflexbewegung und Mitempfindung es sind, gegriffen, um aus ihnen die Eigenschaften, welche fehlen, herzuleiten (bei Wundt378 57). Damit ist dann ein so ausgiebiges Material fÝr das Hinein-

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lesen erworben, daß nun daraus die Unkosten fÝr jede Auslegung einer hÚheren geistigen Erscheinung bestritten werden kÚnnen. Der Gegenstand der erklÈrenden Psychologie sind nur vage MÚglichkeiten. Ihr Ziel ist irgendeine ProbabilitÈt. Aus dem Verlauf der experimentellen Psychologie ging dann eine andere Erscheinung hervor, welche ein noch viel grÚßeres Interesse hervorrufen muß. Wundt, der FÝhrer der experimentellen Psychologie als eines abgesonderten selbstÈndigen Wissenszweigs in Deutschland379 Das erste Merkmal der erklÈrenden Psychologie war in der Ableitung aus einer abgegrenzten Zahl eindeutiger Elemente der ErklÈrung gelegen. Nun schließt die moderne Psychologie eine metaphysische Grundlegung aus. So ergibt sich aus der Vergleichung der dargelegten Versuche erklÈrender Psychologie mit allgemeinen Bedingungen des erklÈrenden Verfahrens auf diesem Gebiet, daß die Abgrenzung von ErklÈrungsgrÝnden nur den Charakter einer Hypothese haben kann, die dann durch die ErklÈrung aller Erscheinungen verifiziert werden wÝrde. Wir sahen nun, wie die Zahl der Elemente der ErklÈrung bestÈndig zunahm in dem Verlauf der erklÈrenden Psychologie. Dies war dadurch bedingt, daß die angenommenen Elemente sich so der Lebendigkeit des seelischen Vorgangs mehr annÈherten. In demselben Maße aber, in dem [?] so ErklÈrungselemente gehÈuft wurden, sank ihr ErklÈrungswert. Die Versuche, in die Grundvorstellungen quantitative Bestimmungen aufzunehmen, mißlangen. Um die LÝcken, welche die ErklÈrung auf dem Standpunkt der inneren Erfahrung zeigte, auszufÝllen, griff man zu zwischenliegenden physiologischen VorgÈngen und zu Faktoren, wie Reflexbewegung, Mitempfindung, welche in die hÚheren geistigen VorgÈnge eingehen sollten. Damit ist dann aber der eigentliche Kern der erklÈrenden Methode, die Verifikation der hypothetischen GrundsÈtze durch die ErklÈrung der konkreten Erscheinungen, aufgelÚst.380

[3.] Die beschreibende Psychologie Die Eigenschaften der beschreibenden Psychologie mÝssen aus der Aufgabe, welche im Zusammenhang der Geisteswissenschaften entstanden ist, und den Mitteln, welche zu ihrer AuflÚsung zur VerfÝgung stehen, abgeleitet werden. Sie soll das Seelenleben in seiner TotalitÈt unverstÝmmelt zur Darstellung bringen. Denn eine artikulierte Auffassung und Erkenntnis dessen, was der Mensch ist, muß der Arbeit jeder Einzelwissenschaft des Geistes zugrunde liegen. Ihre Darstellung soll den hÚchsten erreichbaren Grad von Sicherheit ha-

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ben. Sonst wÝrde sie ihre Unsicherheit jedem Schluß mitteilen, zu dem sie den Obersatz liefert. Soweit diese beiden Forderungen in der Erfahrung entsprechenden Stoff finden, soll sie die Analyse des seelischen Zusammenhangs zur Erkenntnis einzelner GleichfÚrmigkeiten durchfÝhren und zur ErklÈrung einzelner seelischer Erscheinungen durchfÝhren. Aber Ýberall ist ihr wichtiger, Weniges sicher darzulegen, als eine FÝlle von Vermutungen auszuschÝtten. Dies ist nur mÚglich, wenn die Konstruktion, welche aus einem hypothetischen System von Konstruktionselementen das VerstÈndnis des Seelenlebens und seiner Haupterscheinungen ableitet, aus dieser Psychologie ausgeschieden wird. ErklÈrungen kÚnnen und mÝssen selbstverstÈndlich unter Bestimmung des Grades von Wahrscheinlichkeit, der ihnen zukommt, an Stellen dieser Psychologie auftreten, an denen sie das weitere [Verfahren] nicht beeinflussen. ErklÈrungsgrÝnde kÚnnen ja immer nur erprobt werden an ihrer Kraft, einen Kreis von Erscheinungen zureichend zu erklÈren. Hier kann auch eine solche Erprobung unter gÝnstigen UmstÈnden wirklich stattfinden. Aber in bezug auf die ErklÈrung des ganzen Seelenlebens ist das VerhÈltnis der induktiven Feststellung der Konstruktionselemente und ihrer Erprobung an den Erscheinungen ein so wenig schlußkrÈftiges, daß der widerspruchslose logische Zusammenhang eines solchen psychologischen Systems unter ganz verschiedenen Annahmen herbeigefÝhrt werden kann. Sonach kann nur der umgekehrte Weg eingeschlagen werden, als der einer erklÈrenden Psychologie war. Analysis und Synthesis, Induktion und Deduktion kÚnnen ja nicht auseinandergerissen werden. Sie bedingen einander nach Goethes schÚnem Wort wie Einatmen und Ausatmen. Wenn ich den Wahrnehmungsvorgang oder die Erinnerung in ihre Faktoren zergliedert habe, so erprobe ich das Ergebnis, indem ich die Verbindung der Faktoren ins Spiel setze. Aber darum handelt es sich nun hier, daß die deskriptive Analysis, die Zergliederung den herrschenden Zug des Denkens in einer solchen Psychologie ausmachen. So bildet den Gegenstand dieser Psychologie der entwickelte Mensch, das fertige, vollstÈndige Seelenleben. Dieser soll in seiner Ganzheit aufgefaßt und analysiert werden. Die Analysis muß also den Strukturzusammenhang in diesem ausgebildeten Seelenleben herausheben. Sie hat es gleichsam mit der architektonischen Gliederung des fertigen GebÈudes zunÈchst zu tun, nicht nur Steine, MÚrtel und arbeitende HÈnde zuerst. Ich habe neulich die AusfÝhrbarkeit dieser Forderung gezeigt, indem ich die strukturelle Gliederung und den Entwicklungszusammenhang des Seelenlebens entwickelte. Die VerhÈltnisse von Differenzierung und Integration, wie sie Spencer der Entwicklung des Menschen zugrunde legt, haben als TatsÈchlichkeit fÝr alles Leben Geltung. Hiernach kann innerhalb dieses so strukturierten entwickelten lebendigen Ganzen die Einwirkung des erworbenen Zusammenhangs des See-

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lenlebens auf jeden einzelnen Akt des Bewußtseins entwickelt werden. Die Lehre von der Enge des Bewußtseins, der Einheit desselben, den Graden der inneren ZustÈnde werden hier erst in die Verbindung gebracht, in welcher die natÝrlichen Beziehungen dieser SÈtze sichtbar werden. Zugleich wird zuerst hier die freie Lebendigkeit des Seelenlebens analytisch aufgeklÈrt. Das aus dem Mittelpunkt des Seelenlebens, diesem BÝndel von Trieben und GefÝhlsreaktionen, welches wir in diesem Mittelpunkte sind, herÝberwirkende Interesse geht381 in den Vorgang der Aufmerksamkeit Ýber. Dieser ist eine verstÈrkte Bewußtseinserregung. Eine solche existiert aber nicht in abstracto, sondern sie besteht aus Prozessen, und diese setzen nun wieder die Wahrnehmung oder die Vorstellung oder die Setzung eines Zweckes wieder mit dem ganzen erworbenen seelischen Zusammenhang in Verbindung, so wie aus diesem zuerst das Interesse hervorgegangen war. Diese von dem Ganzen bedingte innere Regsamkeit Èußert sich in bestÈndigen Bildungsprozessen. Ich habe in diesem Zusammenhang die Lehre von der toten Reproduktion der Bilder verworfen und dargelegt, daß dasselbe Bild sowenig in der Seele zurÝckkehrt, als in einem neuen Jahr dasselbe Blatt am Baume. James hat dies nun auch mit der eigentÝmlichen realistischen Kraft seines inneren WahrnehmungsvermÚgens ausgefÝhrt. Die Analysis zergliedert alsdann die drei großen ZusammenhÈnge, welche in der Struktur des Seelenlebens miteinander verbunden sind: sie zerlegt den so außerordentlich fein gegliederten Zusammenhang der Wahrnehmungen, Vorstellungen und Erkenntnisse, welchen das entwickelte Seelenleben eines vollkrÈftigen Menschen zeigt. Dann gegenÝber den Trieben und GefÝhlsreaktionen, welche das eigentliche Zentrum des Seelenlebens ausmachen, verhalten wir uns vor allem beschreibend; wie schon die Anthropologie des 17. Jahrhunderts entwerfen wir Definitionen, indem wir das GefÝge, in welchem Èußere Bedingungen eines inneren Zustandes und Mittel des Ausdrucks desselben miteinander verbunden sind, darzustellen streben. Dann versucht die beschreibende Psychologie wie die Anthropologie des 17. Jahrhunderts eine Klassifikation der menschlichen AffektzustÈnde aufzustellen; eine reinliche [?] und sichere Analysis ist auf diesem Gebiete, wie schon Spencer hervorgehoben hat, darum unmÚglich, weil unsere GefÝhle zu GesamtzustÈnden verschmelzen, in welchen alsdann die einzelnen Bestandteile, die hier zusammengetreten sind, nicht mehr sichtbar sind. Die Analysis der menschlichen Willenshandlungen hat an festen VerhÈltnissen einen sicheren Leitfaden.382 Diese VerhÈltnisse sind in dem Vorgang der Zwecksetzung in einem menschlichen Willen enthalten. Zwecksetzung, Motiv, VerhÈltnisse zwischen Zweck und Mittel, WÈhlen oder Vorziehen: dies sind die Begriffe, welche definiert, deren VerhÈltnisse bestimmt werden mÝssen, damit der Zusammenhang in den menschlichen Willenshandlungen ana-

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lysiert werden kÚnne. Da wir im Bewußtsein die Motive, Zwecke und Mittel auseinanderhalten, da der Vorgang des WÈhlens oder Vorziehens in der inneren Wahrnehmung klar aufgefaßt wird: ist die DurchfÝhrung der Analysis auf diesem Gebiete genau so wie auf dem der Intelligenz in weitem Umfang mÚglich. Hinzu kommt, daß unsere Zweckhandlungen teilweise in die Außenwelt treten und sichtbar werden. Jede Willenshandlung entspringt aus der Gesamtlage unseres Trieb- und GefÝhlslebens. Sie hat die Intention einer AbÈnderung, was irgendeine Art von Vorstellung einschließt. Diese vorgestellte •nderung will die Intention entweder in der Außenwelt, welche diese Lage bestimmt, herbeifÝhren; wobei auch die HerbeifÝhrung von Dauer einer erwÝnschten Lage zur Außenwelt durch Handlungen unter diesen Begriff von •nderung eingeordnet werden kann. Oder die Intention kann oder will durch Èußere Handlungen diese Lage nicht Èndern, sondern strebt, innere VerÈnderungen im Seelenleben herbeizufÝhren. Es ist eine Epoche in der religiÚs-sittlichen Entwicklung des Menschen, wenn er die Disziplin innerer Willenshandlungen sich selber gegenÝber anwendet. Ein innerer Zustand, sofern er Faktor einer Willensentscheidung zu werden vermag, ist ein Motiv. Die Verwirklichung der Willenshandlung geschieht im Zusammenhang von Zweck und Mitteln. Die Willenshandlung wird sonach von der Analyse als aus einem Ineinandergreifen klar trennbarer seelischer Akte bestehend anerkannt. Eine AbÈnderung der Lage wird in einer Zielvorstellung zum Bewußtsein gebracht. Diese Zielvorstellung wird in der Àberlegung als mein Zweck festgestellt. Hierzu wird durch Vorziehen oder WÈhlen aus der Lage des Bewußtseins heraus diese Zielvorstellung als ihr am meisten entsprechend und nach dem VerhÈltnis zu ihren Mitteln zu meinem Willensentschluß erhoben. Die Entscheidung Ýber die Mittel findet durch eine neue Wahl statt. Aber wie auf dem intellektuellen Gebiet der Gegenstand nicht die einzelne Assoziation oder der einzelne Denkakt ist, so ist auf dem praktischen Gebiet der Gegenstand der Analysis nicht der einzelne Willensentschluß. Die Analysis unter dieser EinschrÈnkung wÈre wenig fruchtbar. Wir studieren die Willenshandlung am besten in der Èußeren Organisation, der wirtschaftlichen und rechtlichen Ordnung. Hier haben wir die Objektivation des wirklichen Zusammenhangs in unseren Willenshandlungen vor uns, wie in Zahl, Zeit, Raum, Welterkenntnis die Objektivation des Zusammenhangs in unserem Wahrnehmen, Vorstellen und Denken. Die383 Beziehungen, welche in einem System dieser Art herrschen, sind einerseits die des Vorziehens und WÈhlens, andererseits logischer Natur. Die VerhÈltnisse, nach denen besondere Zwecke unter allgemeine Regeln fallen, Zwecke miteinander vereinbar sind, Mittel sich zu Zwecken verhalten, sind durchgehend logischer Natur, und zwar sind in jedem Rechtssystem, wie in

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dem System der Willenshandlungen einer Person die letzten permanenten Zwecke nicht immer zum Bewußtsein gebracht. Die Zwecke, welche eine Einzelperson sich gesetzt hat und deren Erreichung das ganze Leben erfÝllen, sind fÝr sie immer gegenwÈrtig, ohne ihr ausdrÝcklich zum Bewußtsein zu kommen. Die Verwirklichung eines Mittels kann das Bewußtsein lange hinaus erfÝllen, ohne daß der Zweck ausdrÝcklich in ihm auftrÈte. Dies beweist wieder, wie der erworbene Zusammenhang unseres Seelenlebens die bewußten Akte beherrscht, ohne artikuliert in das Bewußtsein erhoben zu werden. Wir untersuchen nun das VerhÈltnis, in welchem beschreibende und erklÈrende Psychologie zueinander stehen.

4.384 VerhÈltnis der erklÈrenden und beschreibenden Psychologie Welchen Standpunkt jemand auch in der Psychologie einnehme, zunÈchst wird unter allen ein EinverstÈndnis unter folgendem Punkte herbeigefÝhrt werden, welche nicht fanatisch in einer Richtung der Psychologie die erwiesene Wahrheit erblickten. Es wird aber nur wenig Psychologen dieser Art heute geben, die Vertreter der erklÈrenden Psychologie werden nur auf dem Satz bestehen, daß die DurchfÝhrung der Hypothese in einem engeren oder weiteren Gebiet der Erscheinungen die wichtigste Methode der Erweiterung unserer psychologischen Erkenntnis sei. Sie werden aber nicht behaupten, daß irgendeine Hypothese gegenwÈrtig schon beanspruchen kÚnne, den wahren Zusammenhang der seelischen Erscheinungen definitiv zu enthalten. So werden wir also als ersten Satz aussprechen dÝrfen, daß alle diese erklÈrenden Psychologien zur Zeit ungeeignet sind, in den Geisteswissenschaften zugrunde gelegt zu werden, ja man muß sagen, daß die Notwendigkeit, in welcher dieselben bis dahin sich befanden, dies zu tun, sich nachteilig in ihnen geltend macht. Dies in sehr verschiedener Weise. Der unbedingte Glaube an die englische erklÈrende Psychologie hat der Geschichtsschreibung von Grote, Buckle und Taine einen hÚchst einseitigen Charakter gegeben. Diese Werke entstanden unter dem Eindruck, daß der Geschichtsschreiber, welcher in die ursÈchliche Verbindung der historischen Tatsachen tiefer eindringen wolle, nicht mit seiner Lebenserfahrung sich begnÝgen dÝrfe, sondern die großen Fortschritte der erklÈrenden Psychologie benutzen mÝsse. Diese Werke haben aber bewiesen, daß die ObjektivitÈt des Historikers besser gewahrt bleibt, wenn er sich seinem GefÝhl des Lebens ÝberlÈßt, als wenn er einseitige Theorien verfolgt. Indem sie aber doch eine Richtung in die Tiefe des Kausalzusammenhangs ihrem Verfahren verdankten, haben sie zugleich damit gezeigt, von welchem Werte

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eine Psychologie von objektivem Charakter fÝr die Geschichtsschreibung sein kann. Einen zweiten Fall, in welchem eine wissenschaftliche Richtung sich rÝckhaltlos den Ergebnissen der erklÈrenden Psychologie Ýberlassen hat, bildet die moderne Richtung des Kriminalrechts. Diese schließt sich ganz an die Unterordnung der Psychologie unter die evolutionistische Biologie im Sinne von Spencer, Taine und Ribot an, sie konstruiert ein Strafrecht vom deterministischen Standpunkt aus, und ich kann nicht die im Leben enthaltenen Begriffe des Rechts solchen opfern, welche auf einseitigen Theorien beruhen.385 Die beschreibende Psychologie zeigt, daß dies auch nicht erforderlich ist. Sie zeigt, daß die Wahlfreiheit nur der vorstellungsmÈßige Ausdruck fÝr das unvertilgbare Bewußtsein von SpontaneitÈt, Lebendigkeit und innerer Freiheit ist. Die Art des Erwirkens, welche von PrÈmissen zu einem Schlußsatz, von einem GefÝhl zu einem Streben fÝhrt, ist von einem inneren Bewußtsein der Notwendigkeit begleitet. Dagegen ist das Erwirken, welches durch die Àberwindung eines Triebes zu einer pflichtmÈßigen Willenshandlung fÝhrt, von dem Bewußtsein der Freiheit begleitet. Dieses in der inneren Erfahrung gegebene Bewußtsein von freiem Erwirken wird in meiner Vorstellung auf die letzte Handlung und ihre Bedingungen bezogen. Das AnderskÚnnen dieser Handlung von den Bedingungen aus ist nur der verhaltungsmÈßige Ausdruck fÝr die Lebendigkeit und Freiheit in dem ganzen VerhÈltnis des Erwirkens, aus welchem diese Handlung entspringt. Aus diesem richtigen GefÝhl der Sache entsprang die von Kant ausgebildete und von Schopenhauer und Schelling angeeignete Lehre von der intelligiblen Freiheit. Die Sonderung des Intelligiblen und Erscheinenden darin ist falsche Metaphysik. Aber das ist richtig, daß die Freiheit im ganzen Zusammenhang unserer Handlung zu setzen ist, welche im Zeitverlauf selbst sich von diesem unabhÈngig macht. Daß in dem freien Akte mehr in der Wirkung liegt, als in deren Bedingungen enthalten war, das kann den unbefangenen Betrachter des Seelenlebens nicht verwundern, da dasselbe in jedem schÚpferischen Akte stattfindet, wie dies sowohl Wundt als Sigwart anerkennen. Die freie Willenshandlung fÈllt daher unter dies ganz allgemeine VerhÈltnis der Erzeugung eines Mehr an Hervorbringung neuer Werte durch die hÚheren psychischen Akte. Richtig angesehen hat also das Strafrecht keine Berechtigung, die langweilige Vorstellung von einem psychischen Mechanismus, welche schlechterdings unbewiesen ist, an die Stelle der Lehre von der Lebendigkeit und Freiheit der Willenshandlungen zu setzen, die nur der Ausdruck der inneren Erfahrung ist und so aufgefaßt unwiderleglich ist. Eine ganz andre Stellung nimmt Schmoller in seiner Abhandlung Ýber die Methode der NationalÚkonomie ein.386 Aber auch diese ist sehr geeignet, die Verschiebung zum Bewußtsein zu bringen, welche die Stellung der Geisteswissenschaft zur Psychologie durch die einseitige Ausbildung einer erklÈrenden Psychologie erfah-

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ren hat. Er erkennt schon wohl den hypothetischen Charakter, welchen die gegenwÈrtige Psychologie hat. So hebt er stark hervor, in welchem Grade ihre Benutzung, welche ihm doch fÝr eine fruchtbare Gestaltung der NationalÚkonomie unentbehrlich scheint, dieser ihren hypothetischen Charakter mitteile. So kann sich niemand der Einsicht entziehen, daß die Benutzung der Schriften, welche auf dem Standpunkt der erklÈrenden Psychologie sich befinden, in den Geisteswissenschaften bisher notgedrungen, aber nie ohne erheblichen Nachteil stattgefunden hat. Ist nun die Notwendigkeit der Psychologie fÝr die Geisteswissenschaften erwiesen, so entspringt hieraus die Forderung, die beschreibende Psychologie, von der ich in der frÝheren Vorlesung zwei HauptsÈtze entwickelt habe, durchzufÝhren. Dann wird sie Grundlage der Geisteswissenschaften werden, wie die Mathematik die des Naturwissens ist. Gerade in dieser gesunden Wechselwirkung mit den Erfahrungswissenschaften des Geistes wird sie sich erst recht zur Allseitigkeit gestalten, dagegen wird die Stellung der erklÈrenden Psychologie jederzeit die einer heuristischen Disziplin bleiben. Ihre Methode, Hypothesen an Erscheinungen zu prÝfen, wird stets das wichtigste Hilfsmittel des Forschers in der Psychologie sein. Es liegt in der Natur dieser Art der Forschung, daß diese Methode recht eigentlich die der psychologischen Monographie ist, aber auch der Versuch, einen begrenzten Inbegriff und eindeutige ErklÈrungselemente als Hypothese dem Ganzen der psychologischen Erfahrungen zugrunde zu legen, wird von vordrÈngenden Forschern immer gewahrt werden und niemals ohne Belehrung fÝr die folgenden. Denn die Wissenschaft schreitet nur vorwÈrts, indem versuchsweise eine Anordnung von ErklÈrungsgrÝnden einem Tatsachenkreis zugrunde gelegt wird. So entstehen die feineren Probleme, welche alsdann neue Versuchsexperimente und Analyse zu ihrer LÚsung hervorrufen. Helmholtz legte seinem Studium der Gesichtswahrnehmungen zuerst die Hypothese zugrunde, daß die Gesichtsempfindungen durch unbewußte SchlÝsse verknÝpft und so sowohl deren richtige Auslegungen als die SinnestÈuschungen erklÈrbar wÝrden. Im Lauf seiner Versuche ist er nun zu einer Vereinfachung dieser Annahme gelangt. Die GefÝhle von Konsonanz und Dissonanz kÚnnen in der Lehre von den Tonwahrnehmungen mit den Ergebnissen der physikalischen und physiologischen Akustik durch eine Hypothese in Verbindung gesetzt werden. Stehen nun z.Zt. verschiedene solcher Hypothesen, wie die von Helmholtz und Stumpf, einander gegenÝber, so kann nur aus der PrÝfung der Tragweite derselben durch fortgesetzte Analysen und Experimente eine Entscheidung herbeigefÝhrt werden. So darf als zweifelloses Ergebnis der methodischen ErÚrterung folgendes angesehen werden. Die beschreibende Psychologie bereitet zunÈchst die erklÈrende [vor]387 durch Sammlung von Materialien, durch Beschreibung des großen

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Zusammenhangs im Seelenleben und der darin befaßten einzelnen ZusammenhÈnge, durch sorgfÈltige Analysen, durch feste Begriffsbildung und Namengebung. Gerade indem sie die Zergliederung der seelischen Erscheinungen am entwickelten Menschen zum Ausgangspunkte wÈhlt, indem sie hierdurch zu mÚglichst einfachen und festen psychologischen Begriffen gelangt, erfÝllt sie eine Pflicht der Psychologie, welcher die erklÈrende Richtung bisher nicht genÝgt hat. So kann innerhalb gewisser Grenzen ein eintrÈchtiges Zusammenwirken beider Formen der Psychologie ermÚglicht werden. Aber allerdings glaube ich, daß ein Prinzip aufgestellt werden kann, welches der erklÈrenden Psychologie noch bestimmtere Grenzen setzt, als dies in der vorhergehenden ErÚrterung geschehen ist. Diese Auseinandersetzung trenne ich darum von der vorhergehenden, um fÝr die dort entwickelten SÈtze eine mÚglichst allgemeine Àbereinstimmung zu erzielen. Auch reichen die vorhergehenden SÈtze aus, die selbstÈndige Bedeutung einer beschreibenden Psychologie zu sichern. Ich glaube aber nun nachweisen zu kÚnnen, daß das erklÈrende Verfahren definitive Wahrheit nur auf dem Gebiet der ErklÈrung bestimmter Erscheinungsgruppen [?] erreichen kann, wogegen ein System der erklÈrenden Psychologie nicht nur jetzt, sondern fÝr alle Zeiten die Erkenntnis des Zusammenhanges der psychischen Erscheinungen nicht herbeifÝhren kann. Das Ziel des Studiums psychischer Erscheinungen ist der Zusammenhang derselben. Dieser ist uns, wenn auch mit vielen LÝcken, in unserer inneren Lebendigkeit gegeben. Wie er uns gegeben ist, bildet er das primÈre Datum, in welchem fÝr uns alles Setzen von Zusammenhang allererst mÚglich ist. Das Erleben ist das Erste und Letzte; fÝr uns ist keine Tatsache da, als welche in unserem Seelenleben erzeugt wird. In dem Zusammenhang desselben entsteht jede Tatsache, und kein Zusammenhang ist fÝr uns da, als den wir selber hervorbringen.388 Der Zusammenhang einer Sinneswahrnehmung kann nicht aus den EindrÝcken stammen, die in ihr verbunden sind. Diese enthalten keinen Zusammenhang. Wir mÝssen denselben erst durch die in der Aufmerksamkeit wirkende, einheitliche TÈtigkeit herbeifÝhren, in welcher sich den toten EindrÝcken gegenÝber unsere Lebendigkeit manifestiert. Auch der Zusammenhang des logischen Denkens ist eine •ußerung dieser Lebendigkeit, ja er ist es in noch hÚherem Grade, wie die Beteiligung der SelbsttÈtigkeit an jedem Denkprozeß zeigt. Die elementaren Prozesse des Assoziierens, Verschmelzens, Vergleichens, Trennens und Verbindens sind von dieser Lebendigkeit getragen. Und vergleicht man mit ihnen den Logismus des diskursiven Denkens, wie er auf dem Urteil und dem Begriffe beruht, so lÈßt dieser sich nicht aus den genannten elementaren Operationen ableiten. Das als Ding und Wirken Hinzutretende fordert aber auch nicht die Annahme eines logischen Apriori, sondern eben aus dem lebendigen Zusammenhang unseres Selbst geht das her-

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vor, was in die einfachen logischen Beziehungen hineintritt. So ist also aller Zusammenhang uns nur in der eigenen Lebendigkeit gegeben. Wir kÚnnen nicht einen Zusammenhang machen, außer diesen, der uns gegeben ist. Es war die Wahrheit der Transzendentalphilosophie, daß aus der einheitlichen Tiefe des Selbst aller Zusammenhang komme, den wir in den Objekten und der objektiven Welt finden oder machen. Nur darin verfehlte diese Philosophie das VerstÈndnis des Lebens, daß sie in demselben ErkenntnisvermÚgen Urteilskraft und moralisches VermÚgen, dann wieder Form und Stoff auseinanderriß. Hinter diesen im Leben selber gegebenen Zusammenhang kann die Wissenschaft niemals zurÝckgehen. Das Bewußtsein kann nicht hinter sich selbst zurÝckgehen. Der Zusammenhang, in welchem das Denken wirksam ist, kann nicht sich selbst aufheben in einen anderen. Das Denken kann nicht hinter seine eigene Wirklichkeit zurÝckgehen in eine andere. Sowohl Wundt als Sigwart erkennen an, daß in den VorgÈngen des Seelenlebens vielfach eine schÚpferische Synthesis auftritt, deren Merkmal ist, daß in der Wirkung mehr auftritt, als in den uns erkennbaren Bedingungen enthalten ist. Aus der bloßen Koexistenz der Empfindung folgt nicht die Dingvorstellung. Aus den elementaren GefÝhlen, welche mit den einzelnen KlÈngen verbunden sind, folgt nicht das GefÝhl der Konsonanz. Der Begriff von SeelenvermÚgen, der in der Èlteren Psychologie regierte, war der unkritische Ausdruck davon, daß innerhalb der lebendigen und doch einheitlichen SelbsttÈtigkeit Ýber den erkennbaren Bedingungen die Wirkungen hinausgehen. Daraus folgt, daß wir diese Wirkungen weder ableiten noch voraussehen kÚnnen. Wir kÚnnen rÝckwÈrts in den Erscheinungen zu den darin enthaltenen Bedingungen gehen; wir kÚnnen das Ganze des Seelenlebens analysieren, aber wir kÚnnen das Ganze nicht erklÈren. Dasselbe VerhÈltnis zeigt sich im Großen an den geschichtlichen VorgÈngen. Gerade die entscheidenden Epochen enthalten eine Wendung in sich, die niemand voraussehen konnte, und zwar ist dies nicht nur durch die Verwicklung der Faktoren bedingt, sondern kann auf das SchÚpferische in großen Personen zurÝckgefÝhrt werden. Die erklÈrende Psychologie setzt einen materialen Zusammenhang nach dem Kausalgesetz voraus. Das VerhÈltnis der Ursachen zu den Wirkungen ist hiernach das der beiden Seiten einer Gleichung. Auch solche ZusammenhÈnge kommen ja im Seelenleben vor. Die Operationen des ZÈhlens oder Schließens zeigen ja dieses VerhÈltnis. Aber auch sie sind getragen von der Lebendigkeit der geistigen Handlung, und sie entfalten in sich die Art von Fortgang, welche Kant als synthetisch bezeichnete. Nimmt man nun dies heraus, sieht man von der tragenden Lebendigkeit ab, legt man dies VerhÈltnis der Gleichung alsdann, da es fÝr sich schon psychologisch angesehen eine Abstraktion ist, dem

2. *Àber das VerhÈltnis der beschreibenden zu der erklÈrenden Psychologie

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ganzen Zusammenhang des Seelenlebens zugrunde, verknÝpft man nun nach diesem VerhÈltnis Teilinhalte des Lebens, Empfindungen, GefÝhle, dann entsteht ein rationaler Ansatz der erklÈrenden Psychologie, welcher hinter diese seelische Lebendigkeit in ein Unwirkliches zurÝckgeht, in ein System von Abstraktionen. Und es ist nur zu begreiflich, daß man von hieraus zu dem wirklichen seelischen Zusammenhang nur durch Denkmittel hÚchst fragwÝrdiger Art gelangen kann. Ein solches Denkmittel ist die Annahme der psychischen Chemie; indem sie alles abzuleiten ermÚglicht: aus QualitÈten und IntensitÈten reine rÈumliche Erstreckung, aus dem Fluß der Ideen ein Selbst, hebt sie von der anderen Seite angesehen, die erklÈrende Psychologie auf, indem sie keinen Schritt von Kontrolle mehr Ýbrig lÈßt. Ist nun ohnehin die Abwesenheit quantitativer Bestimmungen ein Ýberwindliches Hindernis fÝr die Kontrollierbarkeit der ErklÈrungen, welche das Ganze des Seelenlebens umspannen, so wÈchst der nachteilige Einfluß dieses Umstandes noch, wenn die Gewichte der psychischen Tatsachen, wie sie in der inneren Wahrnehmung gegeben sind, gar nicht beachtet werden. Wie kÚnnte sonst Hume das Bewußtsein, ein Selbst zu sein, zu einem sekundÈren Produkt machen, dessen zureichende Ursachen im sanften und zusammenhÈngenden Fluß der Vorstellungen gelegen sei, wie kÚnnten mehrere heutige erklÈrende Psychologen den Willen, diese grÚßte Macht der geschichtlichen Welt, zu einem Nebenprodukt der Verbindungen von GefÝhlen und reflektorischen Empfindungen machen.389

5.390 Die Struktur des Seelenlebens391 Die Grundtatsache aller Psychologie ist die in der inneren Erfahrung gegebene Lebendigkeit. Das Leben selber, an diesem kÚnnen wir als seine Eigenschaft das Bewußtsein absondern. Bewußtsein ist sonach die Eigenschaft der inneren ZustÈnde eines lebendigen Wesens, vermÚge deren diese ZustÈnde fÝr dasselbe da sind. Jeder bewußte Zustand ist fÝr mich als mein Eigenes da, oder ich kann doch in mein Bewußtsein erheben, daß er mein eigen sei. Ich sitze vor der BÝhne. Der Geist des CÈsar erscheint dem Brutus. Mein ganzes Selbst ist wie ausgelÚscht, und ich lebe nur in dem, was hier geschieht. Ich bin mir keines Selbst bewußt, das anschaut, und doch kann ich diesen Zustand unterbrechen, mir zum Bewußtsein bringen, das, was das Meinige ist, und daß, wenn ich die Augen schließe, nichts davon mehr fÝr mich da ist. Dieses Mein, dieses Ich, dieses Selbst ist der rÈtselhafteste und tiefste Punkt menschlicher Erfahrung, an welchem Substanz, Gott, Seele hÈngen. Dies Selbst ist nicht ein außerhalb der

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ZustÈnde gelegener, gemeinsamer TrÈger derselben. Vielmehr ist die Vorstellung eines solchen TrÈgers nur Symbol des unzerlegbaren, undefinierbaren Bewußtseins von Selbigkeit. Aber obwohl ich aller dieser BewußtseinszustÈnde als meiner eigenen inne werden kann, obwohl aus diesen BewußtseinszustÈnden alle Wirklichkeit als aus ihrem Stoff gewebt ist: so ist doch fÝr den grÚßeren Teil dieser inneren ZustÈnde das Innewerden, daß sie meinem Selbst angehÚren, nur sekundÈr;392 ganz Ýberwiegend stehen sie diesem Selbst gegenstÈndlich gegenÝber, und da dieselbe gegenstÈndliche Welt in jedem anderen Bewußtsein, das ich kenne, auftritt, bildet dieselbe die gemeinsame fÝr alle Subjekte identische Welt. Dazu kommt, daß mit meinem Selbst durch ein unzerlegbares Innewerden von ZugehÚrigkeit ein KÚrper verbunden ist.393 Dieser nimmt unter den anderen KÚrpern der Außenwelt seine Stelle ein, er fÝllt in derselben einen Raum, an welchen infolge hiervon auch dieses bewußte Selbst gebunden ist und von dem aus es die Projektionen dieser gemeinsamen Außenwelt entwirft. Dazu legen wir in viele von diesen KÚrpern nach dem Prinzip der Analogie ein Èhnliches, bewußtes Selbst, welches dann von seinem Standort im Raum aus dieselbe gegenstÈndliche Welt gleichsam perspektivisch abgeÈndert erblickt. Dann entsteht aus den GleichfÚrmigkeiten dieser verwandten Personen, welche vermittelst der Außenwelt in Wechselwirkung miteinander sind, ein gemeinsames System von Vorstellungen, Werten, Begriffen, Wissenschaften und Normen des Lebens. So findet sich dieses Selbst in ZustÈnden dreifach bedingt. Von dem KÚrper, der ihm zugehÚrt, von der Außenwelt, in welcher es eine bestimmte Stelle annimmt und von dem Reich der Personen, deren Glied es nach seiner Verwandtschaft mit ihm ist. Und jeder bewußte Zustand, welcher in einem solchen Selbst auftritt, wird in irgendeiner Beziehung schließlich von diesen großen Relationen bestimmt sein, unter394

3. *Der Korrekturabzug der „Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie“

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3. *Der Korrekturabzug der „Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie“ mit den Anmerkungen des Grafen Yorck von Wartenburg

Erstes Kapitel. Die Aufgabe einer psychologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften Die erklÈrende Psychologie, welche gegenwÈrtig ein so großes Maß von Arbeit und Interesse in Anspruch nimmt, stellt einen Kausalzusammenhang auf, welcher alle Erscheinungen des Seelenlebens begreiflich zu machen beansprucht. Sie will die Konstitution der seelischen Welt nach ihren Bestandteilen, KrÈften und Gesetzen genau so erklÈren, wie die Physik und Chemie die der KÚrperwelt erklÈrt. Wir unterscheiden demnach erklÈrende und beschreibende Wissenschaften. Dies entspricht dem Sprachgebrauch. Unter einer erklÈrenden Wissenschaft ist jede Unterordnung eines Erscheinungsgebietes unter einen Kausalzusammenhang vermittelst einer begrenzten Zahl von eindeutig bestimmten Elementen (d. h. Bestandteilen des Zusammenhangs) zu verstehen. Dieser Begriff bezeichnet das Ideal einer solchen Wissenschaft, wie es insbesondere durch die Entwickelung der Mechanik sich gebildet hat. Die erklÈrende Psychologie will also die Erscheinungen des Seelenlebens einem Kausalzusammenhang vermittelst einer begrenzten Zahl von eindeutig bestimmten Elementen unterordnen. Ein Gedanke von außerordentlicher KÝhnheit, welcher in sich die MÚglichkeit einer unermeßlichen Entwickelung der Geisteswissenschaften zu einem den Naturwissenschaften entsprechenden strengen System der Kausalerkenntnis tragen wÝrde. Aber die erklÈrende Psychologie kann dies ihr Ziel nur durch eine Verbindung von Hypothesen erreichen. Der Begriff einer Hypothese kann verschieden gefaßt werden. Jedenfalls nicht jeder einen Erfahrungsinbegriff ergÈnzende Schluß darf als eine Hypothese bezeichnet werden. Solche ergÈnzende SchlÝsse sind in jeder Art von psychologischer Darstellung selbstverstÈndlich enthalten. Ich kann nicht einmal eine Erinnerung auf einen frÝheren Eindruck ohne einen solchen Schluß zurÝckfÝhren. Aber es gibt zunÈchst ein sehr einfaches Merkmal, durch welches ich innerhalb des weiten Gebietes von auf SchlÝsse gegrÝndeten SÈtzen Hypothesen unterscheide. Wo ein Schluß zwar eine Erscheinung oder einen Kreis von solchen in einen fÝr sie ausreichenden Zusam-

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menhang zu bringen vermag, welcher mit allen sonst bekannten Tatsachen und allgemeingÝltigen Theorien in Àbereinstimmung ist, aber nicht andere MÚglichkeiten der ErklÈrung ausschließen kann, da liegt sicher eine Hypothese vor. Niemals kann dies Merkmal sich finden, ohne daß ein solcher Satz den Charakter einer Hypothese hÈtte. Aber auch wo es fehlt, bleibt die Frage offen, ob ein auf SchlÝsse gegrÝndeter Satz nicht doch den Charakter einer Hypothese habe. Besitzen wir doch schließlich kein absolutes Merkmal, durch welches wir unter allen UmstÈnden naturwissenschaftliche SÈtze, welche fÝr alle Zeiten ihre definitive Formulierung gefunden haben, von solchen unterscheiden kÚnnen, welche den Zusammenhang der Erscheinungen nur fÝr die jetzige Lage unseres Wissens von diesen Erscheinungen angemessen ausdrÝcken. Wir stellen nun zunÈchst die Tatsache fest, daß jede erklÈrende Psychologie mit Kombinationen von Hypothesen arbeitet, welche durch das angegebene Merkmal sich zweifellos als solche kennzeichnen. Noch treten in ihr jeder solchen Hypothesenverbindung ein Dutzend andere gegenÝber. Ein Kampf aller gegen alle tobt auf ihrem Gebiete, nicht minder heftig, als auf dem Felde der Metaphysik. Noch ist nirgend am fernsten Horizonte etwas sichtbar, was diesen Kampf zu entscheiden die Kraft haben mÚchte. Zwar trÚstet sie sich mit der Zeit, in welcher die Lage der Physik und Chemie auch nicht besser schien; aber welche unermeßlichen Vorteile haben diese vor ihr voraus in dem Standhalten der Objekte, in dem freien Gebrauch des Experiments, in der Meßbarkeit der rÈumlichen Welt! Zudem hindert die UnlÚsbarkeit des metaphysischen Problems vom VerhÈltnis der geistigen Welt zur kÚrperlichen die reinliche DurchfÝhrung einer sicheren Kausalerkenntnis auf diesem Gebiete. So kann niemand sagen, ob jemals dieser Kampf der Hypothesen in der erklÈrenden Psychologie endigen wird, und wann das geschehen mag. So sind wir, wenn wir eine volle Kausalerkenntnis herstellen wollen, in einen Nebel von Hypothesen gebannt. Die heute herrschende Psychologie zeigt das deutlich. Eine Hypothese ist die Lehre von dem Parallelismus der NervenvorgÈnge und der geistigen VorgÈnge, nach welcher auch die mÈchtigsten, geistigen Tatsachen nur Begleiterscheinungen unseres kÚrperlichen Lebens sind. Eine Hypothese ist die ZurÝckfÝhrung aller Bewußtseins-Erscheinungen auf atomartig vorgestellte Elemente, welche in gesetzlichen VerhÈltnissen auf einander wirken. Eine Hypothese ist die ZurÝckfÝhrung aller dieser Erscheinungen auf die beiden Klassen der Empfindungen und GefÝhle, wodurch dann das in unserem Bewußtsein und unserer LebensfÝhrung so mÈchtig auftretende Wollen zu einem sekundÈren Schein wird. Durch bloße Hypothesen werden die hÚheren SeelenvorgÈnge auf die Assoziation zurÝckgefÝhrt. Durch bloße Hypothesen wird aus psychischen Elementen und den Prozessen zwischen ihnen das Selbstbewußtsein abgeleitet. Nur Hypothesen besitzen wir

3. *Der Korrekturabzug der „Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie“

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Ýber die verursachenden VorgÈnge, durch welche der erworbene, seelische Zusammenhang bestÈndig unsere bewußten Prozesse des Schließens und Wollens so mÈchtig und rÈtselhaft beeinflußt. Hypothesen, Ýberall nur Hypothesen! Die Vertreter der erklÈrenden Psychologie pflegen nun zur BegrÝndung einer so umfassenden Anwendung von Hypothesen sich auf die Naturwissenschaften zu berufen. Aber gleich hier am Beginn unserer Untersuchungen stellen wir den Anspruch der Geisteswissenschaften fest, ihre Methoden ihrem Objekt entsprechend selbstÈndig zu bestimmen. Die Geisteswissenschaften mÝssen von den allgemeinsten Begriffen der generellen Methodenlehre aus durch das Probieren an ihren besonderen Objekten zu bestimmteren Verfahrungsweisen und Prinzipien innerhalb ihres Gebietes gelangen, wie es die Naturwissenschaften eben auch getan haben. Nicht dadurch erweisen wir uns als echte SchÝler der großen naturwissenschaftlichen Denker, daß wir die von ihnen erfundenen Methoden auf unser Gebiet Ýbertragen, sondern dadurch, daß unser Erkennen sich der Natur unserer Objekte anschmiegt und wir uns so zu diesem ganz so verhalten, wie sie zu dem ihrigen. Natura parendo vincitur. Nun unterscheiden sich zunÈchst von den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften dadurch, daß in jenen die Tatsachen von außen, durch die Sinne, als PhÈnomene und einzeln gegeben sind, wogegen sie in diesen von innen, als RealitÈt und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter auftreten. Hieraus ergibt sich fÝr die Naturwissenschaften, daß in ihnen nur durch ergÈnzende SchlÝsse, vermittelst einer Verbindung von Hypothesen, ein Zusammenhang der Natur gegeben ist. FÝr die Geisteswissenschaften folgt dagegen, daß in ihnen der Zusammenhang des Seelenlebens als ein ursprÝnglich gegebener Ýberall zugrunde liegt. Die Natur erklÈren wir, das Seelenleben verstehen wir. Denn in der inneren Erfahrung sind auch die VorgÈnge des Erwirkens, die Verbindungen der Funktionen als einzelner Glieder des Seelenlebens zu einem Ganzen gegeben. Der erlebte Zusammenhang ist hier das Erste, das Distinguieren der einzelnen Glieder desselben ist das Nachkommende. Dies bedingt eine sehr große Verschiedenheit der Methoden, vermittelst deren wir Seelenleben, Historie und Gesellschaft studieren von denen, durch welche die Naturerkenntnis herbeigefÝhrt worden ist. FÝr die Frage, welche hier erÚrtert wird, ergibt sich aus dem angegebenen Unterschied, daß Hypothesen innerhalb der Psychologie keineswegs dieselbe Rolle spielen als innerhalb des Naturerkennens. In diesem vollzieht sich aller Zusammenhang durch Hypothesenbildung, in der Psychologie ist gerade der Zusammenhang ursprÝnglich und bestÈndig im Erleben gegeben: Leben ist Ýberall nur als Zusammenhang da. Die Psychologie bedarf also keiner durch SchlÝsse gewonnenen untergelegten Begriffe, Zusammenhang herzustellen. Ihre Methode ist von denen der Physik oder Chemie gÈnzlich verschieden. Die Hypothese ist nicht ihre uner-

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lÈßliche Grundlage. Wenn also die erklÈrende Psychologie die Erscheinungen des Seelenlebens einer begrenzten Zahl eindeutig bestimmter Elemente der ErklÈrung von durchgehends hypothetischem Charakter unterordnet, so kÚnnen wir nicht zugeben, daß dies von ihren Vertretern als das unvermeidliche Schicksal aller Psychologie aus der Analogie der Rolle von Hypothesen im Naturerkennen begrÝndet werden kÚnne. Vielmehr legen wir uns die Frage vor, ob nicht ein anderes Verfahren in der Psychologie – wir werden es als das beschreibende bezeichnen – die Fundierung unseres VerstÈndnisses von allem Seelenleben auf einen Inbegriff von Hypothesen vermeiden kÚnne. Denn die Herrschaft der erklÈrenden Psychologie, welche mit Hypothesen nach Analogie des Naturerkennens wirtschaftet, hat außerordentlich nachteilige Folgen fÝr die Entwickelung der Geisteswissenschaften. Es scheint heute den positiven Forschern auf diesen Gebieten entweder notwendig, auf jede psychologische Grundlegung zu verzichten oder alle Nachteile der erklÈrenden Psychologie sich gefallen zu lassen. So ist denn die gegenwÈrtige Wissenschaft in folgendes Dilemma geraten, das außerordentlich viel beigetragen hat zur Steigerung des skeptischen Geistes und der Èußerlichen, unfruchtbaren Empirie, sonach der zunehmenden Trennung des Lebens vom Wissen. Entweder bedienen sich die Geisteswissenschaften der in der Psychologie dargebotenen Grundlagen und erhalten dann hierdurch einen hypothetischen Charakter, oder sie versuchen, ohne die Grundlage irgendeiner wissenschaftlich geordneten Àbersicht Ýber die seelischen Tatsachen, nur gestÝtzt auf die zweideutige und subjektive Psychologie des Lebens, ihre Aufgaben zu lÚsen. In dem ersteren Falle aber teilt die erklÈrende Psychologie ihren gÈnzlich hypothetischen Charakter der Erkenntnistheorie und den Geisteswissenschaften mit. Erkenntnistheorie und Geisteswissenschaften kÚnnen in bezug auf das BedÝrfnis psychologischer BegrÝndung, trotz eines erheblichen Unterschiedes in RÝcksicht des Umfangs wie der Tiefe dieser BegrÝndung, doch zusammengestellt werden. Zwar hat die Erkenntnistheorie im Zusammenhang der Wissenschaften einen ganz anderen Ort als die Geisteswissenschaften. UnmÚglich kann ihr eine Psychologie vorausgeschickt werden.395 Dennoch besteht in anderer Form auch fÝr sie dasselbe Dilemma. Kann sie unabhÈngig von psychologischen Voraussetzungen gestaltet werden? Und falls dies nicht der Fall wÈre: was wÝrde die Folge davon sein, wenn sie auf eine erklÈrende Psychologie begrÝndet wÝrde? Entstand doch die Erkenntnistheorie aus dem BedÝrfnis, in dem Ozean metaphysischer Fluktuationen ein StÝck festen Landes, allgemeingÝltige Erkenntnis irgendwelchen Umfangs zu sichern: sie wÝrde nun unsicher und hypothetisch: so wÝrde sie selber ihren Zweck vereiteln. So besteht dasselbe unglÝckselige Dilemma fÝr die Erkenntnistheorie wie es fÝr die Geisteswissenschaften besteht.

3. *Der Korrekturabzug der „Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie“

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Die Geisteswissenschaften suchen gerade fÝr die Begriffe und SÈtze, mit welchen sie zu operieren genÚtigt sind, eine feste, allgemeingÝltige Grundlage. Sie haben eine nur zu berechtigte Abneigung gegen philosophische Konstruktionen, welche dem Streit unterliegen und so in die empirischen Analysen und Vergleichungen diesen Streit hineintragen. Daher ist in weiten Kreisen die gegenwÈrtige Tendenz der Jurisprudenz, der politischen ³konomie wie der Theologie, psychologische Grundlegungen gÈnzlich auszuscheiden. Jede von ihnen versucht, aus der empirischen VerknÝpfung der Tatsachen und der Regeln oder Normen in ihrem Wissensgebiete einen Zusammenhang herzustellen, dessen Analysis alsdann gewisse durchgehende Elementarbegriffe und elementare SÈtze ergeben wÝrde, als der betreffenden Geisteswissenschaft zugrunde liegend. Wie die Lage der erklÈrenden Psychologie ist, kÚnnen sie nicht anders, wofern sie den vielfachen Untiefen und Strudeln der erklÈrenden Psychologie entgehen wollen. Indem sie nun aber den philosophischen Strudeln der Charybdis entfliehen, geraten sie auf die Klippe der Scylla, nÈmlich einer Úden Empirie. Es bedarf keines Beweises, daß die erklÈrende Psychologie, wofern sie nur auf Hypothesen begrÝndet werden kann, ihre Unsicherheit den Erfahrungswissenschaften des Geistes, welche sich auf sie stÝtzen wÝrden, notwendig mitteilen mÝßte.396 Und daß jede erklÈrende Psychologie solcher Hypothesen zu ihrer BegrÝndung bedarf, das eben wird einen Hauptgegenstand unserer BeweisfÝhrung ausmachen. Aber das muß nun an dieser Stelle bewiesen werden, daß jeder Versuch, eine Erfahrungswissenschaft des Geistes ohne Psychologie herzustellen, ebenfalls unmÚglich zu einem benutzbaren Ergebnis fÝhren kann. Eine Empirie, welche auf die BegrÝndung dessen, was im Geiste geschieht, aus dem verstandenen Zusammenhang des geistigen Lebens, verzichtet, ist notwendig unfruchtbar. Dies kann an jeder einzelnen Geisteswissenschaft nachgewiesen werden. Jede von ihnen bedarf psychologischer Erkenntnisse. So kommt jede Analyse der Tatsache Religion auf Begriffe, wie GefÝhl, Wille, AbhÈngigkeit, Freiheit, Motiv, welche nur im psychologischen Zusammenhang aufgeklÈrt werden kÚnnen. Sie hat es mit ZusammenhÈngen des Seelenlebens zu tun, in welchem das Gottesbewußtsein entsteht und Kraft gewinnt. Diese aber sind von dem allgemeinen, regelmÈßigen seelischen Zusammenhang bedingt und nur von ihm aus verstÈndlich. Die Jurisprudenz hat in Begriffen wie Norm, Gesetz, ZurechnungsfÈhigkeit psychische Zusammensetzungen vor sich, welche eine psychologische Analyse fordern. Sie kann den Zusammenhang, in welchem RechtsgefÝhl entsteht, oder den, in welchem Zwecke im Recht wirksam werden und die Willen dem Gesetz unterworfen werden, unmÚglich darstellen, ohne ein klares VerstÈndnis des regelmÈßigen

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Zusammenhangs in jedem Seelenleben. Die Staatswissenschaften, welche es mit der Èußeren Organisation der Gesellschaft zu tun haben, finden in jedem VerbandsverhÈltnis die psychischen Tatsachen von Gemeinschaft, Herrschaft und AbhÈngigkeit. Diese fordern eine psychologische Analyse. Geschichte und Theorie von Literatur und Kunst findet sich Ýberall auf die zusammengesetzten Èsthetischen Grundstimmungen des SchÚnen, Erhabenen, Humoristischen oder LÈcherlichen zurÝckgefÝhrt. Dieselben bleiben dem Literarhistoriker ohne psychische Analyse dunkle und tote Vorstellungen. Er kann das Leben keines Dichters verstehen, ohne Kenntnis der Prozesse der Einbildungskraft. Es ist so, und keine Absperrung der FÈcher kann es hindern: wie die Systeme der Kultur: Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst und Wissenschaft, wie die Èußere Organisation der Gesellschaft in den VerbÈnden der Familie, der Gemeinden, der Kirche, des Staates aus dem lebendigen Zusammenhang der Menschenseele hervorgegangen sind, so kÚnnen sie schließlich auch nur aus diesem verstanden werden. Psychische Tatsachen bilden ihren wichtigsten Bestandteil, ohne psychische Analyse kÚnnen sie also nicht eingesehen werden. Sie enthalten Zusammenhang in sich, weil Seelenleben ein Zusammenhang ist. So bedingt das VerstÈndnis dieses inneren Zusammenhangs in uns Ýberall ihre Erkenntnis. Sie konnten als eine Ýbergreifende Macht Ýber den einzelnen nur entstehen, weil GleichfÚrmigkeit und RegelmÈßigkeit im Seelenleben besteht und eine gleiche Ordnung fÝr die vielen Lebenseinheiten ermÚglicht.a Und wie die Entwickelung der einzelnen Geisteswissenschaften an die Ausbildung der Psychologie gebunden ist, so kann auch die Verbindung derselben zu einem Ganzen ohne VerstÈndnis des seelischen Zusammenhangs, in welchem sie verbunden sind, nicht herbeigefÝhrt werden. Ohne die Beziehungen auf den psychischen Zusammenhang, in welchem ihre VerhÈltnisse gegrÝndet sind, sind die Geisteswissenschaften ein Aggregat, ein BÝndel, aber kein System. Jede noch so rohe Vorstellung von ihrer Verbindung untereinander beruht auf irgendeiner rohen Vorstellung von dem Zusammenhang der seelischen Erscheinungen. Die Verbindungen, in welchen Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst, Wissen untereinander und mit der Èußeren Organisation der menschlichen Gesellschaft stehen, kÚnnen doch nur aus dem umfassenden, a

Schmoller hat in seiner Abhandlung Ýber Volkswirtschaft: Volkswirtschaftslehre und Methode in dem neuen HandwÚrterbuch der Staatswissenschaften Ýberzeugend an der politischen ³konomie die AbhÈngigkeit einer einzelnen Geisteswissenschaft, sofern dieselbe dem praktischen Leben Ziele vorschreiben soll, in einem umfassenderen Zusammenhang dargelegt. Er bringt auch zur Anerkennung, daß nur ein teleologischer Zusammenhang diese Aufgabe lÚsen kann. Die folgende Abhandlung will zeigen, wie in der beschreibenden Psychologie die Mittel fÝr eine allgemeingÝltige Erkenntnis eines solchen den Geisteswissenschaften zugrunde liegenden Zusammenhangs gegeben ist.

3. *Der Korrekturabzug der „Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie“

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gleichfÚrmigen seelischen Zusammenhang verstÈndlich gemacht werden, aus dem sie nebeneinander entsprungen sind und kraft dessen sie in jeder psychischen Lebenseinheit zusammen bestehen, ohne sich gegenseitig zu verwirren oder zu zersetzen. Dieselbe Schwierigkeit lastet auf der Erkenntnistheorie. Eine durch den Scharfsinn ihrer Vertreter hervorragende Schule fordert die vÚllige UnabhÈngigkeit der Erkenntnistheorie von der Psychologie. Sie behauptet, daß in Kants Vernunftkritik diese Emanzipation der Erkenntnistheorie von der Psychologie durch eine besondere Methode im Prinzip vollzogen sei. Diese Methode will sie entwickeln. Hierin scheint ihr die Zukunft der Erkenntnistheorie zu liegen. Aber augenscheinlich kÚnnen die geistigen Tatsachen, welche den Stoff der Erkenntnistheorie bilden, nicht ohne den Hintergrund irgendeiner Vorstellung des seelischen Zusammenhangs miteinander verbunden werden. Keine Zauberkunst einer transzendentalen Methode kann dies in sich UnmÚgliche mÚglich machen. Kein Zauberwort aus der Schule Kants kann hier helfen. Der Schein, dies leisten zu kÚnnen, beruht schließlich darauf, daß der Erkenntnistheoretiker in seinem eigenen lebendigen Bewußtsein diesen Zusammenhang besitzt und aus ihm denselben in seine Theorie ÝbertrÈgt. Er setzt ihn voraus. Er bedient sich seiner. Aber er kontrolliert ihn nicht. Daher schieben sich ihm notwendig aus dem Sprachkreis und dem Gedankenkreis der Zeit Deutungen dieses Zusammenhangs in psychologischen Begriffen unter. So ist es gekommen, daß die Grundbegriffe der Vernunftkritik Kants ganz durchweg einer bestimmten psychologischen Schule angehÚren. Die klassifizierende VermÚgenslehre der Zeit Kants hatte die harten Sonderungen, das trennende FÈcherwerk, in seiner Vernunftkritik zur Folge. Ich mache dies deutlich an seinen Sonderungen von Anschauen und Denken sowie von Stoff und Form des Erkennens. Beide Sonderungen, so hart wie sie bei Kant dastehen, zerreißen einen lebendigen Zusammenhang. Kant legte auf keine seiner Entdeckungen ein grÚßeres Gewicht, als auf seine scharfe Sonderung von Natur und Prinzipien des Anschauens und des Denkens. Aber in dem, was er Anschauung nennt, wirken Ýberall DenkvorgÈnge oder ihnen Èquivalente Akte mit. So das Unterscheiden, Abmessen von Graden, Gleichsetzen, Verbinden und Trennen. Daher hat man es hier nur mit verschiedenen Stufen im Wirken derselben Prozesse zu tun. Dieselben elementaren Prozesse von Assoziation, Reproduktion, Vergleichung, Unterscheiden, Abmessung der Grade, Trennung und Verbindung, des Absehens vom einen und Herausheben des anderen, worauf dann die Abstraktion beruht, wirken in der Ausbildung unserer Wahrnehmungen, unserer reproduzierten Bilder, der geometrischen Gestalten, der Phantasievorstellungen, welche dann auch in un-

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serem diskursiven Denken walten. Dies ist das weite und unermeßlich fruchtbare Gebiet des schweigenden Denkens. Die formalen Kategorien sind aus solchen primÈren logischen Funktionen abstrahiert. Kant hÈtte daher auch nicht nÚtig gehabt, diese Kategorien aus dem diskursiven Denken abzuleiten. Und alles diskursive Denken ist nur eine hÚhere Stufe dieser schweigenden DenkvorgÈnge.397 Ebenso kann die in Kants System durchgefÝhrte Trennung von Stoff und Form der Erkenntnis heute nicht mehr so festgehalten werden. Viel wichtiger als diese Trennung sind die inneren Beziehungen, welche zwischen der Mannigfaltigkeit der Empfindungen, als dem Stoff unserer Erkenntnis, und der Form, in welcher wir diesen Stoff auffassen, Ýberall bestehen. Wir398 besitzen gleichzeitige voneinander verschiedene TÚne zugleich, und wir vereinigen sie im Bewußtsein, ohne daß wir ihr Auseinander in einem Nebeneinander auffassen. Dagegen kÚnnen wir eine Mehrheit von Tast- oder Gesichtsempfindungen immer nur in einem Nebeneinander zusammen besitzen. KÚnnen wir doch nicht einmal zwei Farben zusammen und gleichzeitig anders als in einem Nebeneinander vorstellen. Ist nun nicht augenscheinlich bei dieser NÚtigung, im Nebeneinander zu besitzen, die Natur der GesichtseindrÝcke und der Tastempfindungen im Spiele? Ist also hier nicht offenbar durch die Natur des Empfindungsstoffs die Form seiner Zusammenfassung bedingt?399 Wie ergÈnzungsbedÝrftig Kants Lehre von Stoff und Form des Erkennens ist, zeigt auch folgende Betrachtung. Eine Mannigfaltigkeit von Empfindungen als bloßer Stoff schließt an jedem Punkte Unterschiede, etwa VerhÈltnisse und Abstufungen von Farben, gegeneinander ein. Diese Unterschiede und Grade bestehen aber nur fÝr ein zusammenhaltendes Bewußtsein, daher muß die Form da sein, damit der Stoff da sein kÚnne, sowie dann natÝrlich Stoff da sein muß, wenn Form auftreten soll. Es wÈre ja auch ganz unverstÈndlich, wie psychische Stoffelemente von außen durch das Band eines vereinigenden Bewußtseins verknÝpft werden sollten.b 400 So wird man immer auch in der Erkenntnistheorie der willkÝrlichen und stÝckweisen EinfÝhrung psychologischer Ansichten nur dadurch entgehen, daß man ihr mit wissenschaftlichem Bewußtsein eine klare Auffassung des seelischen Zusammenhangs zugrunde legt. Man wird die zufÈlligen EinflÝsse irriger Psychologien in der Erkenntnistheorie nur los werden, wenn es gelingt, ihr gÝltige SÈtze Ýber den Zusammenhang des Seelenlebens zur VerfÝgung zu stellen. Allerdings wÈre untunlich, der Erkenntnistheorie eine durchgefÝhrte beb Zur ErgÈnzung dieser kurzen Darlegung verweise ich auf die scharfsinnige Untersuchung von Stumpf Ýber Psychologie und Erkenntnistheorie in den Abhandl. der Bayrischen Akademie der Wissenschaften.

3. *Der Korrekturabzug der „Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie“

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schreibende Psychologie als Grundlage vorauszusenden. Aber die voraussetzungslose Erkenntnistheorie ist Ýberhaupt eine Illusion. Die Erkenntnistheorie kÚnnte in derselben Weise aus der beschreibenden und analysierenden Psychologie einen solchen Zusammenhang von SÈtzen entnehmen, wie sie ihn bedarf und wie er keinem Zweifel ausgesetzt ist, in welcher sie allgemeingÝltige und sichere SÈtze auch aus anderen Wissenschaften entnimmt. Ein kunstvolles logisches Gespinst, von innen herausgesponnen und nun bodenlos in der leeren Luft schwebend – glaubt man, daß ein solches Spinnengewebe sicherer und fester sein werde als eine Erkenntnistheorie, welche sich allgemeingÝltiger und fester SÈtze, die aus Anschauungen in den Einzelwissenschaften schon abgeleitet und bewÈhrt sind, bedient?401 Kann etwa eine Erkenntnistheorie vorgezeigt werden, welche nicht stillschweigend oder ausdrÝcklich solche Anleihen machte. Nur darauf kann es ankommen, ob die entliehenen SÈtze die Probe der AllgemeingÝltigkeit, der strengsten Evidenz bestanden haben.402 Darum allein kÚnnte es sich also zunÈchst auch bei der Aufnahme psychologischer SÈtze handeln. Es wÈre also zunÈchst die Frage, ob solche SÈtze ohne Hypothesenpsychologie geliefert werden kÚnnten. Schon dies fÝhrt auf das Problem einer Psychologie, in welcher die Hypothesen nicht dieselbe Rolle spielen, als in der jetzt herrschenden erklÈrenden Psychologie der Fall ist. Aber das VerhÈltnis der Psychologie zur Erkenntnistheorie ist noch ein anderes, als das irgendeiner anderen Wissenschaft zu dieser, selbst der von Kant vorausgesetzten Mathematik, mathematischen Naturwissenschaft und Logik. Der seelische Zusammenhang bildet den Untergrund des Erkenntnisprozesses , und der Erkenntnisprozeß kann sonach nur in diesem seelischen Zusammenhang studiert und nach seinem VermÚgen bestimmt werden. Nun sahen wir aber darin schon den methodischen Vorzug der Psychologie, daß ihr unmittelbar, lebendig, als erlebte RealitÈt der seelische Zusammenhang gegeben ist. Das Erlebnis desselben liegt allem Auffassen der geistigen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Tatsachen zugrunde. Minder oder mehr aufgeklÈrt, zergliedert, erforscht. Die Geschichte der Wissenschaften des Geistes hat eben diesen erlebten Zusammenhang zu ihrer Grundlage, und sie erhebt ihn schrittweise zu klarerem Bewußtsein. Von hier aus kann nun auch das Problem des VerhÈltnisses der Erkenntnistheorie zur Psychologie aufgelÚst werden. In dem lebendigen Bewußtsein und der allgemeingÝltigen Beschreibung dieses seelischen Zusammenhangs ist die Grundlage der Erkenntnistheorie enthalten. Einer vollendeten, durchgefÝhrten Psychologie bedarf sie nicht.403 Aber alle durchgefÝhrte Psychologie ist doch nur die wissenschaftliche Vollendung dessen, was auch den Untergrund der Erkenntnistheorie bildet. Ziehen wir das Fazit. Was von der Psychologie zu fordern war und was den Kern ihrer eigentÝmlichen Methode ausmacht, beides weist uns in dieselbe

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Richtung. Aus allen dargelegten Schwierigkeiten kann uns nun allein die Ausbildung einer Wissenschaft befreien, welche ich, gegenÝber der erklÈrenden Psychologie, als beschreibende bezeichnen will. Ich verstehe unter beschreibender Psychologie die Darstellung der in jedem entwickelten menschlichen Seelenleben gleichfÚrmig auftretenden Bestandteile und ZusammenhÈnge, wie sie in einem einzigen Zusammenhang verbunden sind, der nicht hinzugedacht, erschlossen, sondern erlebt ist. Diese Psychologie ist also Beschreibung und Analysis eines ursprÝnglich und immer als das Leben selbst gegebenen Zusammenhangs. Hieraus ergibt sich eine wichtige Folgerung. Sie hat die RegelmÈßigkeiten im Zusammenhange des entwickelten Seelenlebens zum Gegenstand. Sie stellt den Zusammenhang des inneren Lebens in einem typischen Menschen dar. Sie betrachtet, analysiert, experimentiert und vergleicht. Sie bedient sich jedes mÚglichen Hilfsmittels zur LÚsung ihrer Aufgabe. Aber ihre Bedeutung, im Zusammenhang der Wissenschaften, beruht eben darauf, daß jeder von ihr benutzte Zusammenhang durch innere Wahrnehmung eindeutig verifiziert werden kann und daß jeder solche Zusammenhang als Glied des umfassenden Zusammenhangs aufgezeigt werden kann, der nicht erschlossen, sondern ursprÝnglich gegeben ist. Was ich als beschreibende Psychologie bezeichne, hat noch einer anderen Anforderung zu genÝgen, welche in den BedÝrfnissen der Geisteswissenschaften und der Leitung des Lebens durch sie enthalten ist. Die GleichfÚrmigkeiten, welche den Hauptgegenstand der Psychologie unseres Jahrhunderts ausmachen, beziehen sich auf die Formen des inneren Geschehens. Die mÈchtige inhaltliche Wirklichkeit des Seelenlebens reicht Ýber diese Psychologie hinaus. In den Werken der Dichter, in den Reflexionen Ýber das Leben, wie große Schriftsteller sie ausgesprochen haben, in Seneca, Marc Aurel, Augustin, Machiavelli, Montaigne, Pascal, ist ein VerstÈndnis des Menschen in seiner ganzen Wirklichkeit enthalten, hinter welchem alle erklÈrende Psychologie weit zurÝckbleibt. Aber in dieser ganzen Literatur, welche die volle Wirklichkeit des Menschen erfassen mÚchte, macht sich nun bis auf diesen Tag, neben ihrer inhaltlichen Àberlegenheit, das UnvermÚgen zu systematischer Darstellung geltend. Wir finden uns durch einzelne Reflexionen bis ins innerste Herz getroffen. Die Tiefe des Lebens selbst scheint sich aufzuschließen in ihnen. Sobald wir aber aus denselben einen klaren Zusammenhang herzustellen streben, versagen sie. Von solchen Reflexionen ist die Weisheit der Dichter Ýber den Menschen und das Leben ganz verschieden, welche nur durch Gestalten und FÝgungen von Schicksalen, erleuchtet hier und da hÚchstens blitzartig durch die Reflexion, zu uns redet. Aber auch sie enthÈlt keinen faßbaren allgemeinen Zusammenhang des Seelenlebens. Man hÚrt bis zur ErmÝdung, daß in Lear, Hamlet und Macbeth mehr Psychologie stecke, als in

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allen psychologischen LehrbÝchern zusammen. MÚchten doch diese Fanatiker der Kunst die in solchen Werken eingewickelte Psychologie uns ein Mal enthÝllen! Versteht man unter Psychologie eine Darstellung des regelmÈßigen Zusammenhangs des Seelenlebens, so enthalten die Werke der Dichter gar keine Psychologie; es steckt auch gar keine unter irgendeiner HÝlle darin, und durch keinen Kunstgriff kann ihnen eine solche Lehre von den GleichfÚrmigkeiten der seelischen Prozesse entlockt werden. Wohl aber liegt nun in der Art, wie die großen Schriftsteller und Dichter Ýber das Menschenleben handeln, fÝr die Psychologie eine Aufgabe und ein Stoff. Hier ist das intuitive VerstÈndnis des ganzen Zusammenhanges, welchem auf ihrem Wege die Psychologie sich verallgemeinernd und abstrakt ebenfalls zu nÈhern hat. Man wÝnscht sich eine Psychologie, welche in das Netz ihrer Beschreibungen einzufangen vermÚchte, was diese Dichter und Schriftsteller mehr enthalten als die bisherige Psychologie. Eine Psychologie, welche eben die Gedanken, die Augustin, Pascal und Lichtenberg durch einseitige grelle Beleuchtung so eindringlich machen, in einem allgemeingÝltigen Zusammenhang erst fÝr das menschliche Wissen nÝtzlich machte; und nur eine beschreibende Psychologie kann sich der LÚsung dieser Aufgabe annÈhern; nur in ihrem Rahmen ist die LÚsung dieser Aufgabe mÚglich. Denn sie geht vom erlebten, ursprÝnglich und mit unmittelbarer MÈchtigkeit gegebenen Zusammenhange aus; sie legt auch das noch der Zergliederung UnzugÈngliche unverstÝmmelt dar. Fassen wir alle diese Bestimmungen zusammen, welche wir nacheinander in bezug auf eine solche beschreibende Psychologie gegeben haben, so wird schließlich auch die Bedeutung klar, welche die LÚsung dieser Aufgabe auch fÝr die erklÈrende Psychologie haben wÝrde. Diese erhielte in der beschreibenden ein festes deskriptives GerÝst, eine bestimmte Terminologie, genaue Analysen und ein wichtiges Hilfsmittel der Kontrolle fÝr ihre hypothetischen ErklÈrungen.

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Zweites Kapitel. Die Unterscheidung der erklÈrenden und der beschreibenden Psychologie Die Unterscheidung einer beschreibenden und einer erklÈrenden Psychologie ist nicht neu. Mehrmals in der Geschichte der modernen Psychologie ist der Versuch wiedergekehrt, zwei einander ergÈnzende Behandlungsweisen derselben durchzufÝhren. Christian Wolff sah in der Sonderung der rationalen und empirischen Psychologie einen besonderen Ruhmestitel seiner Philosophie.c Die empirische Psychologie ist nach ihm die Erfahrungswissenschaft, welche von dem, was in der menschlichen Seele ist, Kenntnis gewÈhrt. Sie kann mit der Experimentalphysik verglichen werden (Deutsche Log. §. 152, Nachr. v. s. Schriften S. 232). Sie setzt die rationale Psychologie nicht voraus, sie setzt Ýberhaupt keine andere Wissenschaft voraus. Vielmehr dient sie der PrÝfung und BestÈtigung dessen, was die rationale Psychologie a priori entwickelt (Psych. emp. §. 1, 4, 5). Die rationale Psychologie wird von ihm auch als die erklÈrende bezeichnet (Ps. rat. §. 4). Sie hat ihre Erfahrungsgrundlage in der empirischen. Sie entwickelt unter Beihilfe derselben a priori aus der Ontologie und Kosmologie das, was durch die menschliche Seele mÚglich ist. Und wie sie an der empirischen ihre Erfahrungsgrundlage besitzt, so hat sie auch an derselben ihre Kontrolle (Ps. emp. §. 5). Nun wies zwar Kant die UnmÚglichkeit einer rationalen Psychologie nach: dennoch blieb von diesen SÈtzen Wolffs als wertvoller Kern die Unterscheidung eines beschreibenden und eines erklÈrenden Verfahrens und die Einsicht, daß die beschreibende Psychologie Erfahrungsgrundlage und Kontrolle der erklÈrenden sei. Innerhalb der Herbartschen Schule bildete dann Theodor Waitz diese Unterscheidung im modernen Sinne fort. Er hatte 1849 in seiner Psychologie als Naturwissenschaft die Methode dieses Werkes dahin bestimmt, daß es die in der Erfahrung gegebenen psychischen Erscheinungen vermittelst der ihnen angemessenen Hypothesen erklÈre; so hatte er zuerst in Deutschland eine erklÈrende Psychologie nach modernem naturwissenschaftlichen Zuschnitt begrÝndet: nun stellte er 1852 in der Kieler Monatsschrift dieser erklÈrenden Psychologie den Plan einer beschreibenden zur Seite. Er begrÝndete diese Unterscheidung durch die in der Naturerkenntnis bestehende zwischen deskriptiven und theoretischen Wissenschaften. Die deskriptive Psychologie hat, entsprechend c Wolff gab die Sonderung zuerst im discursus praeliminaris logices §. 112, dann, nachdem ThÝming ihm in der AusfÝhrung zuvorgekommen war, erschien seine empirische Psychologie 1732, die rationale 1734.

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den Wissenschaften des organischen Lebens zu ihren methodischen Hilfsmitteln Beschreibung, Analyse, Klassifikation, Vergleichung und Entwickelungslehre; insbesondere hat sie sich als vergleichende Psychologie und psychische Entwickelungslehre auszubilden. Die erklÈrende oder naturwissenschaftliche Psychologie arbeitet mit dem Material, das die beschreibende liefert, an demselben erforscht sie die allgemeinen Gesetze, welche die Entwickelung und den Verlauf des psychischen Lebens beherrschen, und sie stellt die AbhÈngigkeitsverhÈltnisse dar, in denen das Seelenleben zu seinem Organismus und der Außenwelt steht; so besteht sie in einer erklÈrenden Wissenschaft des Seelenlebens und in einer Wissenschaft von der Wechselwirkung zwischen ihm, dem Organismus und der Außenwelt: wir wÝrden heute sagen einer Psychophysik. Und nun bestimmt er schließlich: „Die Klarheit der wissenschaftlichen Behandlung ist wesentlich davon abhÈngig, in welcher SchÈrfe und Reinheit diese Teilung der Aufgaben durchgefÝhrt und festgehalten wird.“ Sein großes Werk Ýber die Anthropologie der NaturvÚlker war ein Teil der damals von ihm geplanten Arbeiten Ýber beschreibende Psychologie. Innerhalb der Herbartschen Schule hat dann auch Drobisch sich dieser Sonderung bedient, neben seine mathematische Psychologie hat er die meisterhafte empirische gestellt, deren Beschreibungen noch heute wertvoll sind. So hielt Waitz nicht nur an den Einsichten Wolffs fest, er machte auch infolge der Ausscheidung des Metaphysischen aus der erklÈrenden Psychologie mehrere wichtige Fortschritte in der Bestimmung des VerhÈltnisses beider Darstellungen zu einander. Er erkannte, daß die Elemente der ErklÈrung, von denen die naturwissenschaftliche Psychologie ausgeht, den Charakter von Hypothesen haben, ja er sprach aus, daß die erklÈrende Psychologie nur „die MÚglichkeit zeigen kÚnne, daß durch das Zusammenwirken der angegebenen Elemente nach einer allgemeinen GesetzmÈßigkeit sich gerade solche komplizierte, psychische Erscheinungen bilden, wie wir sie vermittelst der Beobachtung in uns finden“ (Psychol. S. 26). Ihm ging auch schon die außerordentliche Ausdehnung der Hilfsmittel einer beschreibenden Psychologie auf: vergleichendes Studium, welches das Seelenleben der Tiere, der NaturvÚlker, die seelischen VerÈnderungen im Fortschritt der Kultur benutzt: Entwickelungsgeschichte der Individuen und der Gesellschaft. Und ohne noch einen Blick rÝckwÈrts auf die LehrbÝcher der Herbartschen Schule zu werfen, drang er auf der hohen See der Anthropologie der NaturvÚlker und der unermeßlichen Religionsgeschichte vorwÈrts: ein kÝhner beharrlicher Entdecker, dem nur zu frÝh sein Ziel gesetzt wurde; sonst hÈtte er neben Lotze und Fechner in der Geschichte der modernen Psychologie einen ganz anderen Einfluß gewonnen, als der ihm nun zuteil geworden ist. Zwei Gesichtspunkte scheinen mir eine weitere Umformung des VerhÈltnis-

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ses der beschreibenden zur erklÈrenden Psychologie Ýber Waitz hinaus zu fordern. Die erklÈrende Psychologie entstand aus der Zergliederung der Wahrnehmung und der Erinnerung. Ihren Kern bildeten von Anfang an Empfindungen, Vorstellungen, Lust- und UnlustgefÝhle als Elemente sowie die Prozesse zwischen diesen Elementen, insbesondere der Prozeß der Assoziation, zu welchem dann als weitere erklÈrende VorgÈnge Apperzeption und Verschmelzung hinzutraten. So hat sie gar nicht die ganze volle Menschennatur und deren inhaltlichen Zusammenhang zum Gegenstand. Daher stellte ich zu einer Zeit, in welcher diese Grenzen der erklÈrenden Psychologie noch schroffer als heute hervortraten, ihr den Begriff einer Realpsychologie gegenÝber (1865, Novalis, Pr. Jahrb. S. 622), deren Beschreibungen die ganze TotalitÈt des Seelenlebens, die in ihr bestehenden ZusammenhÈnge, und zwar neben ihren Formen auch ihre Inhaltlichkeit zur Auffassung brÈchte. Dieser Inhaltlichkeit gehÚren Tatsachen an, deren HÈrte bisher keine Ýberzeugende Zergliederung aufzulÚsen vermocht hat. Solche sind innerhalb unseres GefÝhls- und Trieblebens das Streben nach Erhaltung und Erweiterung unseres Selbst, innerhalb unseres Erkennens der Charakter von Notwendigkeit in gewissen SÈtzen, und in dem Umkreis unserer Willenshandlungen das Sollen oder die absolut im Bewußtsein auftretenden Normen. Es bedarf einer psychologischen Systematik, in welcher die ganze Inhaltlichkeit des Seelenlebens Raum findet. So reicht denn auch die mÈchtige Wirklichkeit des Lebens, wie die großen Schriftsteller und Dichter sie aufzufassen bestrebt waren und sind, Ýber die Grenzen unserer Schulpsychologie hinaus. Was dort intuitiv, im dichterischen Symbol, in genialen Blicken ausgesprochen ist, muß eine solche den ganzen Inhalt des Seelenlebens beschreibende Psychologie festzustellen, an seinem Orte darzustellen und zu zergliedern versuchen. Hierneben macht sich fÝr den, der sich mit dem Zusammenhang der Geisteswissenschaften beschÈftigt, ein anderer Gesichtspunkt geltend. Diese bedÝrfen einer Psychologie, welche vor allem fest und sicher ist, was niemand der jetzigen erklÈrenden Psychologie nachrÝhmen kann, zugleich aber die ganze mÈchtige Wirklichkeit des Seelenlebens zur Beschreibung und, soweit mÚglich, zur Analysis bringt. Denn die Analyse der so komplexen gesellschaftlichen und geschichtlichen Wirklichkeit kann nur ausgefÝhrt werden, wenn diese Wirklichkeit zunÈchst in die einzelnen Zwecksysteme zerlegt wird, aus denen sie besteht; jedes dieser Zwecksysteme, wie Wirtschaftsleben, Recht, Kunst und Religion, gestattet dann vermÚge seiner HomogenitÈt eine Zergliederung seines Zusammenhanges. Dieser Zusammenhang in einem solchen System ist aber kein anderer als der seelische Zusammenhang in den Menschen, welche in demselben zusammenwirken. Sonach ist er schließlich ein psycho-

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logischer. Er kann daher nur von einer Psychologie verstanden werden, welche gerade die Analysis dieser ZusammenhÈnge in sich faßt, und das Ergebnis einer solchen Psychologie ist fÝr den Theologen, Juristen, NationalÚkonomen oder Literarhistoriker nur dann benutzbar, wenn nicht ein Element von Unsicherheit, von Einseitigkeit, von wissenschaftlicher Parteiung aus dieser Psychologie in die Erfahrungswissenschaften des Geistes dringt. Offenbar stehen die beiden dargelegten Gesichtspunkte in einer inneren Beziehung zueinander. Die Betrachtung des Lebens selber fordert, daß die ganze unverstÝmmelte und mÈchtige Wirklichkeit der Seele von ihren niedrigsten bis zu ihren hÚchsten MÚglichkeiten gelange. Dies liegt innerhalb der Forderungen, welche die Psychologie selber an sich stellen muß, wenn sie nicht hinter Lebenserfahrung und dichterischer Intuition zurÝckbleiben will. Eben dasselbe fordern die Geisteswissenschaften. In ihrer psychologischen Grundlegung mÝssen alle psychischen KrÈfte, alle psychischen Formen, von den niedrigsten bis zu den hÚchsten, bis zu dem religiÚsen Genius, bis zu dem Religionsstifter, dem geschichtlichen Helden und dem kÝnstlerischen SchÚpfer, als welche die Geschichte und die Gesellschaft vorwÈrts bewegen, ihre Darstellung und gleichsam ihre Lokalisierung finden. Und gerade indem man die Aufgabe so bestimmt, Úffnet sich der Psychologie ein Weg, welcher einen viel hÚheren Grad von Sicherheit verspricht, als derjenige ist, den die erklÈrende Psychologie nach ihrer Methode erreichen kann. Man gehe von dem entwikkelten Kulturmenschen aus. Man beschreibe den Zusammenhang seines Seelenlebens, man lasse die hauptsÈchlichsten Erscheinungen desselben mit allen Hilfsmitteln kÝnstlerischer VergegenwÈrtigung so deutlich als mÚglich sehen, man analysiere die in diesem umfassenden Zusammenhang enthaltenen404 EinzelzusammenhÈnge tunlichst genau. Man gehe in dieser Zergliederung soweit als mÚglich, man lasse das, was der Zergliederung widersteht, sehen wie es ist, man gebe von dem, dessen Zusammensetzung wir tiefer durchblicken kÚnnen, die ErklÈrung seiner Entstehung, jedoch mit Angabe des Grades von Gewißheit, die dieser ErklÈrung zukommt, man ziehe Ýberall vergleichende Psychologie, Entwickelungsgeschichte, Experiment, Analysis der geschichtlichen Produkte hinzu: dann wird die Psychologie das Werkzeug des Historikers, des NationalÚkonomen, des Politikers und Theologen werden; dann wird sie auch den Menschenbeobachter und den Praktiker leiten kÚnnen. Von diesen Gesichtspunkten aus gestaltet sich nun der Begriff der erklÈrenden Psychologie, der Begriff der beschreibenden und das VerhÈltnis dieser beiden Darstellungen des Seelenlebens zueinander in der von den nÈchsten Kapiteln nÈher bestimmten Weise.

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Drittes Kapitel. Die erklÈrende Psychologie Wir verstehen unter erklÈrender Psychologie im Folgenden die Ableitung der in der inneren Erfahrung, dem Versuch, dem Studium anderer Menschen und der geschichtlichen Wirklichkeit gegebenen Tatsachen aus einer begrenzten Zahl von analytisch gefundenen Elementen. Unter Element wird dann jeder Bestandteil der psychologischen Grundlegung, welcher zur ErklÈrung der seelischen Erscheinungen gebraucht wird, verstanden.405 Sonach ist der Kausalzusammenhang der seelischen VorgÈnge nach dem Prinzip: causa aequat effectum, oder das Assoziationsgesetz gerade so gut ein Element406 fÝr die Konstruktion der erklÈrenden Psychologie als Empfindung, Vorstellung oder GefÝhl. Das erste Merkmal der erklÈrenden Psychologie ist also, wie schon Wolff und Waitz annahmen, ihr synthetischer oder konstruktiver Gang. Sie leitet alle in der inneren Erfahrung und deren Erweiterungen auffindbaren Tatsachen aus einer begrenzten Zahl von eindeutig bestimmten Elementen ab. Diese bilden das Kapital, mit welchem die erklÈrende Psychologie wirtschaftet. Die Herkunft dieses Kapitals ist nun aber eine verschiedene. In diesem Punkte unterscheiden sich die Èlteren Schulen der Psychologie von der heute herrschenden. Leitete die Èltere Psychologie noch bis auf Herbart, Drobisch und Lotze einen Teil dieser Elemente aus der Metaphysik ab, so gewinnt die moderne Psychologie – diese Seelenlehre ohne Seele – die Elemente fÝr ihre Synthesen nur aus der Analysis der psychischen Erscheinungen, in ihrer Verbindung mit den physiologischen Tatsachen. Sonach besteht die strenge DurchfÝhrung eines modernen psychologischen Systems aus der Analysis, welche in den seelischen Erscheinungen die Elemente auffindet, und der Synthesis oder Konstruktion, welche aus ihnen die Erscheinungen des Seelenlebens zusammensetzt und so ihre VollstÈndigkeit erprobt. Der Inbegriff und das VerhÈltnis dieser Elemente macht die Hypothese aus, durch welche die seelischen Erscheinungen erklÈrt werden. Sonach ist das Verfahren des erklÈrenden Psychologen ganz dasselbe, dessen sich auf seinem Gebiet der Naturforscher bedient. Die •hnlichkeit im Verfahren beider wird dadurch noch grÚßer, daß das Experiment jetzt, dank einem bemerkenswerten Fortschritt, das Hilfsmittel der Psychologie auf vielen ihrer Gebiete geworden ist. Und diese •hnlichkeit wÝrde weiter zunehmen, wenn irgendeiner der Versuche gelungen wÈre, quantitative Bestimmungen nicht nur in den Außenwerken der Psychologie, sondern in ihrem Inneren selber zur

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Anwendung zu bringen. FÝr die Einordnung eines Systems in die erklÈrende Psychologie ist es natÝrlich gleichgÝltig, in welcher Folge diese Elemente eingefÝhrt werden. Nur darauf kommt es an, daß der erklÈrende Psychologe aus dem Kapital einer begrenzten Zahl eindeutiger Elemente wirtschaftet. Vermittelst dieses Merkmals kann nun von einigen der einflußreichsten psychologischen Werke der Gegenwart nachgewiesen werden, daß sie dieser erklÈrenden Richtung der Psychologie zugehÚrig sind; zugleich kÚnnen von diesem Merkmal aus die Hauptrichtungen der modernen erklÈrenden Psychologie verstÈndlich gemacht werden. Bekanntlich fand nach dem Vorgang von Hume (1739/1740) und Hartley (1746) die englische Psychologie ihre erste umfassende Darstellung in dem großen Werke von James Mill: Analysis der Erscheinungen des menschlichen Geistes. Dieses Werk legt die Hypothese zugrunde, daß das ganze Seelenleben in seinen hÚchsten •ußerungen aus einfachen, sinnlichen Elementen in einem Inneren, in welchem die Assoziationsgesetze wirken, mit kausaler Notwendigkeit sich entfalte. Das Beweisverfahren dieser erklÈrenden Psychologie liegt in der Zergliederung und Zusammensetzung, in dem Nachweis, daß die aufgezeigten Elemente die hÚchsten VorgÈnge des Seelenlebens zureichend erklÈren. Der Sohn von James Mill und der Erbe seiner Gedanken, John Stuart Mill, beschreibt in seiner Logik die Methode der Psychologie als ein Zusammenwirken von induktiver Auffindung der Elemente und synthetischer Erprobung derselben ganz in Àbereinstimmung mit dem Verfahren seines Vaters. Aber er bereits entwickelt mit dem grÚßten Nachdruck den logischen Wert eines Denkmittels, das sich in dieser Psychologie der beiden Mill als erforderlich herausstellte. Er nimmt eine psychische Chemie an; wenn einfache Ideen oder GefÝhle sich zusammensetzen, so kÚnnen sie einen Zustand erzeugen, welcher fÝr die innere Wahrnehmung einfach und zugleich qualitativ ganz verschieden von den Faktoren ist, welche ihn hervorgebracht haben. Die Gesetze des Geisteslebens sind mitunter mechanischen, mitunter aber auch chemischen Gesetzen vergleichbar. Wenn viele EindrÝcke oder Vorstellungen im Geiste zusammenwirken, so findet mitunter ein Hergang statt, der einer chemischen Verbindung Èhnlich ist. Wenn man EindrÝcke so oft in Verbindung erfahren hat, daß jeder von ihnen leicht und augenblicklich die ganze Gruppe hervorruft, so verschmelzen jene Ideen mitunter miteinander und erscheinen nicht mehr als mehrere, sondern als eine Idee; in derselben Weise wie die sieben Farben des Prismas, wenn sie dem Auge in rascher Folge vorÝbergefÝhrt werden, den Eindruck der weißen Farbe hervorbringen. Es ist klar, die Annahme eines solchen ganz allgemeinen und unbestimmten Satzes, welcher sonderbar mit der Genauigkeit wirklicher Naturgesetze kontrastiert, muß dem erklÈrenden Psychologen sein GeschÈft ausnehmend erleichtern. Denn er verdeckt

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die MÈngel der Ableitung. Er gestattet, sich an gewisse regelmÈßige Antezedenzien zu halten und die LÝcke zwischen ihnen und dem folgenden Zustand durch psychische Chemie auszufÝllen. Sie muß aber zugleich den ohnehin schon niederen Grad von Àberzeugungskraft, welcher dieser Konstruktion und ihren Ergebnissen zukommt, auf Null herabdrÝcken. Àber diese psychologische Schule erhob sich in England Herbert Spencer. Im Jahre 1855 erschienen die beiden BÈnde seiner Psychologie zum ersten Male, und sie erlangten einen großen Einfluß auf die europÈische psychologische Forschung. Das Verfahren dieses Werkes war sehr verschieden von dem, welches die beiden Mill angewandt hatten. Spencer bediente sich nicht nur der naturwissenschaftlichen Methode, wie jene beiden getan hatten, sondern er schritt dazu fort, die psychischen PhÈnomene dem realen Zusammenhang der physischen PhÈnomene, sonach die Psychologie der Naturwissenschaft unterzuordnen. Und zwar begrÝndete er die Psychologie auf die allgemeine Biologie. In dieser aber fÝhrte er die Begriffe von Anpassung der Lebewesen an ihr Milieu, Evolution der ganzen organischen Welt und Parallelismus der VorgÈnge im nervÚsen System mit den inneren oder seelischen VorgÈngen durch. Er interpretierte also die inneren ZustÈnde und ihren Zusammenhang vermittelst des Studiums des Nervensystems, der vergleichenden Betrachtung der Èußeren Organisationen in der Tierwelt und der Verfolgung der Anpassung an die Außenwelt. So treten von neuem in die erklÈrende Psychologie deduktiv bestimmte ErklÈrungselemente ein, ganz wie dies bei Wolff, Herbart und Lotze der Fall gewesen war. Nur daß dieselben nunmehr nicht aus der Metaphysik stammen, sondern, der VerÈnderung der Zeiten entsprechend, aus der allgemeinen Naturwissenschaft. Auch unter diesen neuen Bedingungen ist und bleibt das Werk Spencers eine erklÈrende Psychologie. Sogar in ihrer Èußeren Anordnung zerfÈllt diese Psychologie in zwei Teile, der erste leitet aus dem Studium des Nervensystems, der vergleichenden Àbersicht Ýber die Tierwelt und der inneren Erfahrung durch konvergierende SchlÝsse eine Verbindung von Hypothesen ab, der zweite Teil legt dann diese Hypothesen dem erklÈrenden Verfahren zugrunde. Nur daß Spencer dieses Verfahren auf die Untersuchung des menschlichen Verstandes einschrÈnkte. Die ErklÈrung der emotionellen ZustÈnde erschien ihm zur Zeit unausfÝhrbar. „Wenn man etwas durch Sonderung seiner einzelnen Teile und Untersuchung der Art und Weise, wie dieselben miteinander verknÝpft sind, erklÈren will, so muß dies etwas sein, was wirklich unterscheidbare und in bestimmter Art verbundene Teile besitzt. Haben wir es aber mit einem Gegenstande zu tun, der zwar augenscheinlich zusammengesetzt ist, dessen verschiedenartige Elemente aber so durcheinander gemengt und verschmolzen sind, daß sie sich nicht einzeln scharf erkennen lassen, so ist von vornherein anzunehmen, daß der Versuch ei-

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ner Analyse wenn nicht vÚllig fruchtlos bleiben, so doch nur zu zweifelhaften und unzulÈnglichen Folgerungen fÝhren wird. Dieser Gegensatz besteht nun in der Tat zwischen den Formen des Bewußtseins, die wir als intellektuelle und emotionelle unterschieden haben.“ In diesem Zusammenhang entstehen nun fÝr Spencer folgende weitere Denkmittel der erklÈrenden Psychologie. Er ÝbertrÈgt von der Èußeren auf die innere Entwickelung der animalischen Welt ein Prinzip der zunehmenden Differenzierung der Teile und Funktionen und der Integration, d. h. der Herstellung hÚherer und feinerer Verbindungen zwischen diesen differenzierten Funktionen, und nun bedient er sich zur ErklÈrung von Problemen, welche die Individualpsychologie nicht hatte Ýberzeugend lÚsen kÚnnen, vor allem des Problems vom Ursprung des a priori, dieses Prinzips der Entwickelung, das innerhalb des ganzen animalischen Reiches wirksam ist. Alsdann erlÈutert er aus der Struktur des Nervensystems, seiner Nervenzellen und verbindenden NervenfÈden die Gliederung des seelischen Lebens, seiner Elemente und der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen. Endlich kann nun aufgrund der Hypothese von dem psychophysischen Parallelismus, da wo der psychische Zusammenhang LÝcken zeigt, der physiologische Zusammenhang eingeschaltet werden. Augenscheinlich nÈhert sich diese erklÈrende Psychologie Spencers in manchen Punkten der Lebendigkeit des seelischen Zusammenhangs mehr, als dies in der Schule der Mills erreicht worden war. Auch gibt die Einordnung in die Naturwissenschaft dem Zusammenhang der Hypothesen einen festeren Halt und eine grÚßere AutoritÈt. Aber diese Einordnung vermittelst der Lehre vom psychophysischen Parallelismus macht nun die so bedingte erklÈrende Psychologie zur Sache einer wissenschaftlichen Partei. Sie gibt ihr das GeprÈge eines verfeinerten Materialismus. Diese Psychologie ist fÝr den Juristen oder Literarhistoriker nicht eine gesicherte Grundlage, sondern eine Gefahr. Die ganze weitere Entwickelung hat gezeigt, wie in politischer ³konomie, Kriminalrecht, Staatslehre dieser verschleierte Materialismus der erklÈrenden Psychologie, wie sie Spencer gestaltet hat, zersetzend gewirkt hat. Und die psychologische Rechnung selbst, sofern sie mit inneren Wahrnehmungen operiert, wird durch die EinfÝhrung einer weiteren Hypothese doch noch unsicherer gemacht. Diese erklÈrende Psychologie der Spencerschen Richtung breitete sich unaufhaltsam auch Ýber Frankreich und Deutschland aus. Das erste StÝck, welches Spencer aus seiner Psychologie verÚffentlicht hatte, war schon 1853 erschienen, vor der VerÚffentlichung des ganzen Werkes (1855), und es hatte die Untersuchung Ýber die Grundlage unseres Verstandes zum Gegenstand. 1864 erschien nun das philosophische Hauptwerk von Hippolyte407 Taine

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Ýber den menschlichen Verstand. Es ruhte vorwiegend auf Spencer, unter Benutzung der beiden Mill. Spencer selbst schreibt Ýber die Ausbreitung seiner psychologischen Gedanken: „In Frankreich hat Hr. Taine Gelegenheit genommen, in seinem Werk ‚De l’Intelligence einige derselben allgemeiner bekannt zu machen.“ Aber auch Taine hat den Methoden der erklÈrenden Psychologie etwas hinzugefÝgt. Das Studium der anomalen psychischen Tatsachen wurde damals in Frankreich bevorzugt, und es bestand die Neigung, die Erscheinungen, welche der Irrenarzt, der Nervenarzt, der Magnetiseur und der Kriminalist gesammelt und interpretiert hatten, fÝr das Studium der Gesetze des Seelenlebens zu verwerten. Die Lehre von der Verwandtschaft des Genies mit dem Wahnsinn ist eine echt franzÚsische Erfindung; wie durchweg die franzÚsischen Erfindungen fand sie Beifall in Italien. Taine war nun der erste erklÈrende Psychologe, welcher diese Erweiterung der psychologischen Methoden durch das Studium der anomalen seelischen Tatsachen in die eigentliche Psychologie aufnahm. Die sonderbare Hypothese, welche er, hierdurch bedingt, den Annahmen der erklÈrenden Psychologie hinzufÝgte, braucht hier nicht ausgefÝhrt zu werden, da sie keinen durchgreifenden Einfluß gewonnen hat. „Die Natur erzeugt mit Hilfe von Wahrnehmungen und Bildergruppen nach Gesetzen Phantome in uns, die wir fÝr Èußere Objekte halten und meist ohne uns zu tÈuschen, denn es sind in der Tat ihnen entsprechende Èußere Objekte vorhanden. Die Èußeren Wahrnehmungen sind wahre Halluzinationen.“ Aber ein allgemeineres Interesse bietet doch die Beobachtung des verhÈngnisvollen Einflusses, welchen diese Theorie auf die Geschichtschreibung Taines geÝbt hat. Wie die einseitige erklÈrende Psychologie der Mill große historische Talente wie Grote und Buckle hÚchst nachteilig beeinflußt hatte, so hat der Philosoph Taine, welcher uns alle zu bestÈndigen Halluzinanten macht, dem Historiker Taine seine Darstellung Shakespeares und seine Auffassung der franzÚsischen Revolution als einer Art von MassenverrÝckung eingegeben. – Ribot schloß sich dann an Taine an. In Deutschland hatte inzwischen Herbart eine erklÈrende Psychologie ausgebildet, welche sich besonders in ³sterreich und Sachsen der Katheder bemÈchtigte. Ihre außerordentliche Bedeutung fÝr den Fortschritt der erklÈrenden Psychologie lag nun darin, daß sie mit den methodischen Anforderungen, welche in der Aufgabe einer ErklÈrung nach dem Vorbild der Naturwissenschaften enthalten sind, strengen wissenschaftlichen Ernst machte. Soll die erklÈrende Psychologie den Zusammenhang der seelischen VorgÈnge ausnahmslos begreiflich machen, so muß sie die Voraussetzung des Determinismus zugrunde legen. Von dieser Voraussetzung aus wird sie aber nur dann hoffen dÝrfen, die Schwierigkeiten der InstabilitÈt psychischer VorgÈnge, ihrer individuellen Verschiedenheiten und der engen Grenzen der Beobachtung zu Ýber-

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winden, wenn sie wie die physikalischen Wissenschaften quantitative Bestimmungen in ihre erklÈrende Rechnung einzufÝhren vermag. Dann wird sie auch den Gesetzen eine strengere Fassung zu geben vermÚgen: eine Mechanik des Seelenlebens kann entstehen. Gelang nun das Herbart in seinen eigenen Arbeiten nicht wirklich, so setzte dann doch Fechner diese Richtung fort; indem er die Versuche Ernst Heinrich Webers verwertete, stellte er ein quantitatives VerhÈltnis zwischen der Zunahme der StÈrke von Sinnesreizen und dem Wachstum der EmpfindungsgrÚßen auf. Und es wurde fÝr die EinfÝhrung von Messen und ZÈhlen in das psychophysische und psychische Gebiet ebenso wichtig, daß er nun bei diesen Untersuchungen die Methoden der MinimalÈnderungen, der mittleren Abstufungen, der mittleren Fehler, der richtigen und falschen FÈlle entwickelte. Noch von einem anderen Punkte aus erÚffnete sich quantitative Betrachtung den Zugang zu den seelischen VorgÈngen. Der deutsche Astronom Bessel stieß bei der Vergleichung der Zeitbestimmungen verschiedener Astronomen Ýber denselben Vorgang auf die Entdeckung der persÚnlichen Differenz der Astronomen. Die Zeit, in welcher etwa ein Stern den Meridian passiert, wird von verschiedenen Beobachtern verschieden bestimmt. Dies ist durch den Unterschied in der Zeitdauer bedingt, welche das Zustandekommen der Sinneswahrnehmung und ihrer Registrierung beansprucht. Astronomen und Biologen bemerkten die psychologische Tragweite dieser Tatsache. Versuche entstanden, die Zeit zu messen, welche der Ablauf der verschiedenen psychischen VorgÈnge beansprucht. Indem nun aber diese Arbeiten zugleich auch als psychologische und psychophysische Experimente sich darstellten, wirkten sie in der Richtung auf eine experimentelle Psychologie, zusammen mit den großen Analysen unserer Gesichts- und Tonwahrnehmung, durch welche besonders Helmholtz dem Experiment einen anderen Weg in das Seelenleben hinein erÚffnete. So wurden hierdurch in Deutschland die Denkmittel der erklÈrenden Psychologie durch die Ausbildung des psychophysischen und psychologischen Experimentes außerordentlich erweitert. Dies war ein Vorgang, welcher von den 60er Jahren unseres Jahrhunderts ab Deutschland die unbestrittene Herrschaft in der psychologischen Wissenschaft verschafft hat. Mit der EinfÝhrung des Experimentes wuchs zunÈchst die Macht der erklÈrenden Psychologie außerordentlich. Eine grenzenlose Aussicht erÚffnete sich. Durch die EinfÝhrung des Versuchs und der quantitativen Bestimmung konnte nach dem Vorbild der Naturwissenschaft die erklÈrende Seelenlehre eine feste Grundlage in experimentell gesicherten und zahlenmÈßig bestimmten, gesetzlichen VerhÈltnissen gewinnen. Aber in dieser entscheidenden Situation trat nun das Gegenteil von dem ein, was die Enthusiasten der experimentellen Methode erwartet hatten.

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Der Versuch fÝhrte auf dem psychophysischen Gebiete zu einer hÚchst wertvollen Zergliederung der menschlichen Sinneswahrnehmung. Er erwies sich als das unentbehrliche Instrument der Psychologen fÝr die Herstellung einer genauen Beschreibung innerer psychischer VorgÈnge, wie der Enge des Bewußtseins, der Geschwindigkeit seelischer Prozesse, der Faktoren des GedÈchtnisses, des Zeitsinnes, und es wird gewiß der Geschicklichkeit und der Geduld der Experimentatoren gelingen, auch fÝr die Behandlung anderer inner-psychischen VerhÈltnisse Angriffspunkte fÝr ihn zu gewinnen. Er hat aber zur Erkenntnis von Gesetzen auf dem inner-psychischen Gebiete schlechterdings nicht gefÝhrt. Er hat sich also fÝr Beschreibung und Analyse hÚchst nÝtzlich erwiesen. Dagegen hat er die Hoffnungen, welche die erklÈrende Psychologie auf ihn setzte, bisher getÈuscht. Unter diesen UmstÈnden zeigt die gegenwÈrtige deutsche Psychologie zwei merkwÝrdige Erscheinungen in bezug auf die Benutzung der erklÈrenden Methode. Eine einflußreiche Schule geht auf dem Wege der Unterordnung der Psychologie unter das Naturerkennen vermittelst der Hypothese vom Parallelismus der physiologischen und psychischen VorgÈnge entschieden weiter.d Grundlage der erklÈrenden Psychologie bildet das Postulat: kein psychisches PhÈnomen besteht ohne ein begleitendes physisches. So entsprechen einander im Vorgang des Lebens die Reihe der physiologischen Prozesse und die der psychischen Begleiterscheinungen. Die physiologische Reihe bildet einen geschlossenen, lÝckenlosen und notwendigen Zusammenhang. Dagegen lassen sich die psychischen VerÈnderungen, wie sie in die innere Wahrnehmung fallen, nicht zu einem solchen Zusammenhang verbinden. Welches Verhalten folgt nun hieraus fÝr den erklÈrenden Psychologen? Er muß den notwendigen Zusammenhang, den er in der physischen Reihe findet, auf die psychische Ýbertragen. NÈher wird seine Aufgabe so bestimmt: „Die Gesamtheit der Bewußtseinsinhalte in ihre Elemente zu zerlegen, die Verbindungsgesetze und einzelne Verbindungen dieser Elemente festzustellen und fÝr jeden elementaren psychischen Inhalt empirisch die begleitende physiologische Erregung aufzusuchen, um aus der kausal verstÈndlichen Koexistenz und Sukzession jener physiologischen Erregungen die rein psychologisch nicht erklÈrbaren Verbindungsgesetze und Verbindungen der einzelnen psychischen Inhalte mittelbar zu erklÈren.“ Hiermit ist der Bankrott einer selbstÈndig erklÈrenden Psychologie ausgesprochen. Ihre GeschÈfte werden von der Physiologie in die Hand d Das Verfahren dieser Schule ist am einfachsten aus MÝnsterbergs Schrift Ýber Aufgaben und Methoden der Psychologie zu ersehen. Dieser Schrift kommt das Verdienst einer sehr klaren PrÈzisierung des betreffenden Standpunktes zu.

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genommen. FÝr die Interpretation psychischer Tatsachen sind nun dem mit Psychologie beschÈftigten Naturforscher hÚchst ausgiebige Hilfsmittel gegeben. Wo in der inneren Erfahrung zwischen den Bedingungen und der Wirkung keine Gleichung besteht, braucht derselbe nur physiologische Zwischenglieder einzuschalten, welche kein psychisches •quivalent haben. Solche erklÈren leicht dasjenige, was aus den angenommenen psychischen ErklÈrungselementen in einer Erscheinung wie der Willenshandlung nicht erklÈrbar ist. Àberblickt man den Inbegriff der so ausgebildeten Denkmittel einer erklÈrenden Psychologie, so bilden schließlich den Gegenstand einer solchen erklÈrenden Psychologie nur MÚglichkeiten, und ihr Ziel ist nur irgendeine ProbabilitÈt. Der Gang der experimentellen Untersuchung hat aber zugleich zu einer anderen hÚchst beachtenswerten Wendung gefÝhrt. Wilhelm Wundt, welcher zuerst das Ganze der experimentellen Psychologie als einen besonderen Wissenszweig abgrenzte, ein Institut in großem Stile fÝr dieselbe schuf und in seinem Lehrbuch ihre Ergebnisse zusammenfaßte, fand sich durch den Verlauf seiner umfassenden experimentellen Erfahrungen selber genÚtigt, zu einer Auffassung des Seelenlebens Ýberzugehen, welche den bis dahin vorherrschenden Standpunkt der erklÈrenden Psychologie verlÈßt. „Als ich“, so erzÈhlt er, „zum ersten Male an psychologische Probleme herantrat, teilte ich das allgemeine dem Physiologen naheliegende Vorurteil, daß die Bildung der Sinneswahrnehmungen lediglich ein Werk der physiologischen Eigenschaften unserer Sinnesorgane sei. Ich lernte zuerst an den Leistungen des Gesichtssinnes jenen Akt schÚpferischer Synthese begreifen, der mir allmÈhlich der FÝhrer wurde, um auch der Entwickelung der hÚheren Phantasie- und Verstandesfunktionen ein psychologisches VerstÈndnis abzugewinnen, fÝr das mir die alte Psychologie keine Hilfe geboten hatte.“ Er gab nunmehr das Prinzip des Parallelismus auf. Den physiologischen Prozessen geht nach seinem heutigen Standpunkt in uns nur das Auftreten der Empfindungsinhalte parallel. Dagegen die Synthesen derselben im Bewußtsein haben nach ihm keine physiologische ReprÈsentation: ihnen lÈuft nach seiner jetzigen Auffassung kein Gehirnvorgang parallel, soweit wir darÝber etwas feststellen kÚnnen. Sie haben nur eine mittelbare physiologische Grundlage an den GehirnvorgÈngen, welche Empfindung und Reproduktion bedingen. Er gab ferner die Geltung des Kausalgesetzes nach der Formel von: causa aequat effectum ebenfalls auf. Er erkannte die Tatsache der schÚpferischen Synthese an. „Unter ihr verstehe ich die Tatsache, daß die psychischen Elemente durch ihre kausalen Wechselwirkungen und Folgewirkungen Verbindungen erzeugen, die zwar aus ihren Komponenten psychologisch erklÈrt werden kÚnnen, gleichwohl aber neue qualitative Eigenschaften besitzen, die in den Elementen nicht enthalten wa-

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ren, wobei namentlich auch an diese neuen Eigenschaften eigentÝmliche, in den Elementen nicht vorgebildete Wertbestimmungen geknÝpft werden. Insofern die psychische Synthese in allen solchen FÈllen ein Neues hervorbringt, nenne ich sie eben eine schÚpferische.“ Mit der Annahme einer solchen schÚpferischen Synthese wird nun also augenscheinlich die Erprobung von ErklÈrungselementen an den Erscheinungen, wie sie den Kern der erklÈrenden Psychologie ausmacht, in Frage gestellt. Das erste Merkmal der erklÈrenden Psychologie war in der Ableitung aus einer abgegrenzten Zahl eindeutiger ErklÈrungselemente gelegen. Durch dieses ist innerhalb der modernen Psychologie als ein zweites Merkmal bedingt, daß die Verbindung dieser ErklÈrungsgrÝnde408 nur den Charakter einer Hypothese hat. Dies ist schon von Waitz anerkannt worden. Àberblickt man nun den Gang der erklÈrenden Psychologie, so fÈllt besonders die bestÈndige Zunahme der Zahl der erklÈrenden Elemente und der Denkmittel auf. Dies geht naturgemÈß aus dem Streben hervor, die Hypothesen der Lebendigkeit des seelischen Vorgangs immer mehr anzunÈhern. Es hat aber zugleich die bestÈndige Zunahme des hypothetischen Charakters der erklÈrenden Psychologie zur Folge. In demselben Maße, als die ErklÈrungselemente und die Denkmittel gehÈuft werden, nimmt der Wert ihrer Erprobung an den Erscheinungen ab. Zumal die Denkmittel der psychischen Chemie und der ErgÈnzung psychischer Reihen durch physiologische Zwischenglieder, welche keine ReprÈsentation in der inneren Erfahrung haben, erÚffnen der ErklÈrung ein Feld unbegrenzter MÚglichkeiten. Damit ist denn der eigentliche Kern der erklÈrenden Methode, die Erprobung der hypothetischen ErklÈrungselemente an den Erscheinungen, aufgelÚst.

Viertes Kapitel. Die beschreibende Psychologie Der Begriff einer beschreibenden Psychologie entsprang uns aus dem Zusammenhang der Geisteswissenschaften409 und der Funktion der Psychologie innerhalb desselben. Sonach mÝssen auch ihre Eigenschaften aus ihrer Aufgabe innerhalb dieses Zusammenhangs und aus dem Àberblick Ýber die Mittel zur AuflÚsung derselben abgeleitet werden. Nun fordert diese Aufgabe zweierlei. Die volle Wirklichkeit des Seelenlebens muß zur Darstellung und tunlichst zur Analysis gelangen und diese Beschreibung und Analysis muß den hÚchsten erreichbaren Grad von Sicherheit haben. Es wird in diesem Zusammenhange wichtiger sein, in engeren Grenzen des Erkennens Sicheres zu geben, als eine

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FÝlle von Vermutungen Ýber die Geisteswissenschaften auszuschÝtten. Ist dieses die Aufgabe der Psychologie fÝr die Geisteswissenschaften, so kann dieselbe durch eine Konstruktion aus hypothetischen ErklÈrungselementen nicht aufgelÚst werden. Die Denkmittel der konstruktiven Psychologie, wie wir sie im letzten Kapitel kennen lernten, ermÚglichen einen widerspruchslosen, logischen Zusammenhang des psychologischen Systems von ganz verschiedenen Annahmen aus. In den Parteiungen der heutigen Psychologie ist die Konstruktionsmethode unfÈhig, den Ausschlag zu geben. Wie ist nun eine Methode mÚglich, welche die von den Geisteswissenschaften fÝr die Psychologie gestellte Aufgabe auflÚst?410 Die Psychologie muß den umgekehrten Weg einschlagen, als den die Vertreter der Konstruktionsmethode gegangen sind. Sie muß analysieren,411 nicht konstruieren, sie muß vom entwickelten Seelenleben ausgehen, nicht aus elementaren VorgÈngen dasselbe ableiten. Gewiß kÚnnen Analysis und Synthesis, Induktion und Deduktion auch innerhalb der Psychologie nicht auseinandergerissen werden.412 Sie bedingen einander in dem Lebensprozeß der Erkenntnis nach Goethes schÚnem Wort, wie sich Einatmen und Ausatmen bedingen. Wenn ich die Wahrnehmung oder die Erinnerung in ihre Faktoren zergliedert habe, so erprobe ich dann die Tragweite meines Ergebnisses, indem ich die Verbindung dieser Faktoren ins Spiel setze. Aber darum handelt es413 sich nun hier, daß die Beschreibung, die Zergliederung, die Analyse die herrschende Stellung414 in einer solchen Psychologie einnehmen. Dem entspricht ein anderer methodischer Grundzug einer solchen Psychologie. Ihren Gegenstand muß der entwickelte Mensch415 und das fertige vollstÈndige Seelenleben bilden. Dieses soll in seiner TotalitÈt aufgefaßt, beschrieben und analysiert werden. Wie ist dies mÚglich? und welcher ist der genaue Sinn, in welchem hier beschreibendes und rein analytisches Verfahren als Teile derselben psychologischen Methode gedacht und dem erklÈrenden Verfahren in der Psychologie gegenÝbergestellt werden? Der Beginn dieser Abhandlung wies darauf hin, daß die allgemeinen Methoden der menschlichen Wissenschaft auf den einzelnen Gebieten einen besonderen Charakter annehmen. Daß vornehmlich die besondere Natur unserer Erfahrung von seelischen Erscheinungen der Erkenntnis des Zusammenhangs derselben besondere EigentÝmlichkeiten gibt und daß die allgemeinen Methoden hierdurch auf diesem Gebiete nÈhere Bestimmungen empfangen, dies macht sich nun hier an den methodischen Operationen der Beschreibung und der Analyse, der ErklÈrung und der Hypothesenbildung geltend. Wir erkennen die Naturobjekte von außen durch unsere Sinne. Wie wir sie auch zerschlagen oder zerteilen mÚgen, so gelangen wir hierdurch doch nicht

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zu ihren letzten Bestandteilen. Wir denken solche Elemente durch eine ErgÈnzung der Erfahrung hinzu. Auch liefern uns die Sinne niemals die Einheit des Objektes. Diese ist fÝr uns ebenfalls nur durch eine von innen stammende Synthese der SinneseindrÝcke da;416 und setzen wir die Objekte in die VerhÈltnisse von Ursache und Wirkung, so ist auch von diesen in den sinnlichen EindrÝcken nur die Bedingung enthalten, welche in der regelmÈßigen Abfolge liegt, wogegen das KausalverhÈltnis selbst wieder durch eine aus unserem Innern stammende Synthesis417 entsteht. Dagegen beruht die innere Wahrnehmung auf einem Innewerden, einem Erleben, sie ist unmittelbar gegeben. Hier ist uns in der Empfindung oder dem LustgefÝhl, das sie begleitet, ein unteilbar Einfaches gegeben. Gleichviel wie die Empfindung einer violetten Farbe entstanden sein mag, als inneres PhÈnomen angesehen ist sie ein Unteilbares. Vollziehen wir nun einen Denkakt, so ist in ihm eine unterscheidbare Mehrheit von inneren Tatsachen doch zugleich in der unteilbaren Einheit einer Funktion zusammengefaßt, womit dann in der inneren Erfahrung ein Neues auftritt, welches in der Natur gar keine Analogie hat. Reflektieren wir gar auf die Selbigkeit, welche gleichzeitig mehrere innere VorgÈnge zusammenhÈlt und das Nacheinander der VorgÈnge zur Einheit des Lebens zusammenfaßt, so tritt hier noch erstaunlicher ein in der inneren Erfahrung als Erlebnis Gegebenes, das doch mit den VorgÈngen der Natur keine Vergleichbarkeit hat, hervor. So erleben wir bestÈndig Verbindungen, ZusammenhÈnge in uns, wÈhrend wir den Objekten außer uns Verbindung und Zusammenhang unterlegen mÝssen.418 Was wir so erleben, kÚnnen wir auch vor dem Verstande niemals klar machen. Die Selbigkeit, welche das Gleichzeitige und Sukzessive der einzelnen LebensvorgÈnge zusammenhÈlt, wenn sie vor den Gerichtshof des Verstandes gebracht wird, offenbart die WidersprÝche, welche schon Herbart herausgehoben hat. Einen weiteren Zusammenhang erleben wir, wenn etwa von den PrÈmissen aus in uns ein Schlußsatz entsteht: hier liegt ein Zusammenhang vor, der von den Ursachen zu den Wirkungen fÝhrt: auch dieser Zusammenhang stammt von innen, ist im Erlebnis als RealitÈt gegeben, ohne daß er doch durch den Verstand gÈnzlich aufgeklÈrt werden kann.419 So konzipieren wir die Begriffe von Einheit eines Mannigfaltigen, von Teilen in einem Ganzen, von KausalverhÈltnissen und verstehen dann durch sie die Natur, indem wir unter bestimmten Bedingungen gleichfÚrmiger Koexistenz oder Aufeinanderfolge diese Konzeptionen auf sie anwenden.420 Wir erfahren diesen Zusammenhang in uns nur stÝckweise, bald in diesem bald in jenem Punkte fÈllt das Licht des Gewahrwerdens auf ihn, denn die psychische Kraft vermag nach einer wichtigen EigentÝmlichkeit derselben stets nur eine beschrÈnkte Zahl von Gliedern des inneren Zusammenhangs in das Bewußtsein zu erheben. Aber bestÈndig werden solche Verbindungen uns be-

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wußt. Bei der unermeßlichen VariabilitÈt der Bewußtseinsinhalte kehren dieselben Verbindungen immer wieder, und so tritt allmÈhlich ihre Form mit allgemeingÝltiger Klarheit heraus.421 Ebenso wird das Bewußtsein davon, wie diese Synthesen in umfassendere Verbindungen eingehen und schließlich einen Zusammenhang bilden, immer deutlicher, klarer und sicherer. Rief regelmÈßig ein Glied ein zweites oder eine Klasse von Gliedern eine andere hervor, rief dann in anderen wiederholten FÈllen dies zweite Glied ein drittes oder eine zweite Klasse von Gliedern eine dritte hervor, setzte sich dies weiter in einem vierten oder fÝnften Gliede fort, so muß sich hieraus mit allgemeingÝltiger Gewißheit schließlich ein Bewußtsein von dem Zusammenhang aller dieser Glieder, es muß sich ein Bewußtsein von dem Zusammenhang ganzer Klassen von Gliedern bilden. Ebenso sondern wir in anderen FÈllen in einer aufmerkenden Konzentration der beobachtenden TÈtigkeit aus dem Chaos von VorgÈngen einen einzelnen und suchen ihn in dauernder Wahrnehmung oder Erinnerung zu genauerer Erfassung festzuhalten. In dem raschen, ach nur zu raschen Flusse der inneren VorgÈnge sondern wir so einen aus, isolieren ihn, erheben ihn zu verstÈrkter Aufmerksamkeit. In dieser sondernden TÈtigkeit ist die Bedingung fÝr den weiteren Vorgang von Abstraktion gegeben. Nur durch eine Abstraktion heben wir eine Funktion, eine Verbindungsweise aus einem konkreten Zusammenhang heraus. Und nur durch eine Induktion stellen wir422 die immer wiederkehrende Form einer Funktion oder die Konstanz bestimmter Abstufungen von Sinnesinhalten, die Skala der Empfindungs- oder GefÝhlsintensitÈten, wie sie uns allen bekannt sind, fest. In all diesen logischen Akten sind mitenthalten Unterscheiden, Gleichfinden, Grade der Verschiedenheit bestimmen. Es wachsen Einteilung und Benennung, in welcher der Keim der Definition liegt, aus diesen logischen TÈtigkeiten notwendig heraus. Ich mÚchte sagen, daß die elementaren logischen Operationen, wie sie von den EindrÝcken und Erlebnissen aufblitzen, gleichsam gerade von der inneren Erfahrung am besten erfaßt werden kÚnnen. Unterscheiden, Gleichfinden, Grade der Verschiedenheit bestimmen, Verbinden, Trennen, Abstrahieren, mehrere ZusammenhÈnge zu einem verknÝpfen, aus mehreren Tatsachen eine GleichfÚrmigkeit gewinnen: solche Operationen sind in jeder inneren Wahrnehmung enthalten oder treten aus dem Zusammensein derselben hervor. Hieraus ergibt sich als die erste EigentÝmlichkeit der Auffassung innerer ZustÈnde, welche die psychologische Forschung bedingt, die IntellektualitÈt der inneren Wahrnehmung. Die innere Wahrnehmung kommt so gut als die Èußere vermittelst der Mitwirkung der elementaren logischen VorgÈnge zustande. Und gerade an der inneren Wahrnehmung erkennt man besonders deutlich, wie die elementaren logischen VorgÈnge von der Auffassung der Bestandteile selber unabtrennbar sind.423

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Hiermit ist eine zweite EigentÝmlichkeit der Auffassung seelischer ZustÈnde gegeben. Diese Auffassung entsteht aus dem Erlebnis und bleibt mit ihm verbunden. In dem Erlebnis wirken die VorgÈnge des ganzen GemÝtes zusammen. In ihm ist Zusammenhang gegeben, wÈhrend die Sinne nur ein Mannigfaltiges von Einzelheiten darbieten. Der einzelne Vorgang ist von der ganzen TotalitÈt des Seelenlebens im Erlebnis getragen, und der Zusammenhang, in welchem er in sich und mit dem Ganzen des Seelenlebens steht, gehÚrt der unmittelbaren Erfahrung an. Dies bestimmt schon die Natur des Verfahrens unserer selbst und anderer. Wir erklÈren durch rein intellektuelle Prozesse, aber wir verstehen durch das Zusammenwirken aller GemÝtskrÈfte in der Auffassung. Und wir gehen im Verstehen vom Zusammenhang des Ganzen, der uns lebendig gegeben ist, aus, um aus diesem das einzelne uns faßbar zu machen. Eben daß wir im Bewußtsein von dem Zusammenhang des Ganzen leben, macht uns mÚglich, einen einzelnen Satz, eine einzelne GebÈrde oder eine einzelne Handlung zu verstehen. Alles psychologische Denken behÈlt diesen Grundzug, daß das Auffassen des Ganzen die Interpretation des einzelnen ermÚglicht und bestimmt. An dem ursprÝnglichen Verfahren des Verstehens muß auch die Nachkonstruktion der allgemeinen Menschennatur in der Psychologie festhalten, wenn sie gesund, lebensvoll, lebenskundig, fruchtbar fÝr das VerstÈndnis des Lebens bleiben soll. Der erfahrene Zusammenhang des Seelenlebens muß die feste, erlebte und unmittelbar sichere Grundlage der Psychologie bleiben, wie tief sie auch in die experimentelle Einzelforschung eindrÈnge. Beruht die Sicherheit in dem psychologischen Verfahren so auf der vollen RealitÈt jedes Objektes, auf dem unmittelbaren Gegebensein des inneren Zusammenhanges in demselben, so wird dieselbe durch eine weitere EigentÝmlichkeit der inneren Erfahrung verstÈrkt. Die einzelnen seelischen VorgÈnge in uns, die VerbÈnde seelischer Tatsachen, die wir innerlich wahrnehmen, treten mit einem verschiedenen Bewußtsein ihres Wertes fÝr das Ganze unseres Lebenszusammenhangs in uns auf. So hebt sich in der inneren Auffassung selber das Wesentliche vom Unwesentlichen ab. Die psychologische Abstraktion, welche den Zusammenhang des Lebens heraushebt, besitzt fÝr dies ihr Tun einen Leitfaden in diesem unmittelbaren Bewußtsein des Wertes der einzelnen Funktionen fÝr das Ganze, den das Naturerkennen nicht besitzt. Aus diesem allen ergibt sich als ein weiterer Grundzug der psychologischen Forschung, daß sie aus dem Erleben selber herauswÈchst und in diesem stets ihre festen Wurzen behalten muß, soll sie gesund und hoch wachsen. An das Erleben schließen sich die einfachen logischen TÈtigkeiten, die wir in der psychologischen Beobachtung vereinigt finden. Sie ermÚglicht das Faßliche des Beobachteten in der Beschreibung, die Bezeichnung desselben in der Benen-

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nung, die Àbersicht Ýber dasselbe in der Einteilung. Wie von selber geht das psychologische Denken in die psychologische Forschung Ýber. Es ist nicht anders, als in den lebendigen Geisteswissenschaften. An das juristische Denken schließt sich die Rechtswissenschaft an. An die wirtschaftliche Àberlegung und die staatliche Regelung wirtschaftlicher VerhÈltnisse die politische ³konomie. Fassen wir diese EigentÝmlichkeiten der psychologischen Methode zusammen, so kann nun von ihnen aus der Begriff einer beschreibenden Psychologie nÈher bestimmt und sein VerhÈltnis zu dem Begriff einer analytischen Psychologie angegeben werden. Der Gegensatz eines beschreibenden und eines erklÈrenden Verfahrens besteht in den Naturwissenschaften herkÚmmlich. Obwohl die RelativitÈt desselben mit dem Fortschreiten der beschreibenden Naturwissenschaften immer deutlicher hervortritt, behÈlt er bekanntlich immer noch seine Bedeutung. Aber der Begriff einer beschreibenden Wissenschaft empfÈngt innerhalb der Psychologie einen viel tieferen Sinn, als er in den Naturwissenschaften haben kann. Schon die Botanik und mehr die Zoologie gehen von einem Zusammenhange der Funktionen aus, welcher in den Analogien psychologischen Denkens entwickelt ist. In der Psychologie ist nun dieser Zusammenhang der Funktionen im Erlebnis von innen gegeben. Alle psychologische Einzelerkenntnis ist nur Zergliederung dieses Zusammenhangs. So ist hier eine feste Struktur unmittelbar und objektiv gegeben, daher hat die Beschreibung auf diesem Gebiete eine zweifellose, allgemeingÝltige Grundlage. Wir finden nicht durch ErgÈnzung zu den einzelnen Gliedern deren Zusammenhang, sondern das psychologische Denken artikuliert und distinguiert von dem gegebenen Zusammenhang aus. In dem Dienste dieser beschreibenden TÈtigkeit stehen die logischen Operationen des Vergleichens, Unterscheidens, der Abmessung von Graden, der Sonderung und Verbindung, der Abstraktion, der VerknÝpfung von Teilen zu einem Ganzen, der Ableitung gleichfÚrmiger VerhÈltnisse aus einzelnen FÈllen, der Zergliederung von einzelnen FÈllen, der Zergliederung in der Einteilung. Sind sie doch alle in dem beobachtenden Verfahren gleichsam eingeschlossen. So wird das Seelenleben als ein Zusammenhang von Funktionen begriffen, in welchem Bestandteile verbunden sind und der dann wieder aus einzelnen ZusammenhÈngen besonderer Art besteht, deren jeder neue Aufgaben fÝr die Psychologie enthÈlt. Diese Aufgaben sind nur lÚsbar vermittelst der Zergliederung, die beschreibende Psychologie muß zugleich analytische Psychologie sein.424 Unter Analysis verstehen wir Ýberall gleichmÈßig die Zergliederung einer gegebenen komplexen Wirklichkeit. Durch die Analysis werden Bestandteile gesondert, die in einer Wirklichkeit verbunden sind. Die Bestandteile, welche

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so gefunden werden, sind sehr verschiedenartig. Der Logiker analysiert einen Schluß, indem er ihn in seine beiden Anteile und die in diesen gegebenen drei Begriffe zerlegt. Der Chemiker analysiert einen KÚrper, indem er dessen stoffliche Elemente durch das Experiment voneinander trennt. Ganz anders wieder analysiert der Physiker, da dieser vielmehr in den gesetzlichen Formen der Bewegung die Komponenten einer akustischen oder optischen Erscheinung aufzeigt. Aber wie verschieden auch diese VorgÈnge seien: alle Analysis hat ihr letztes Spiel in der Auffindung der realen Faktoren durch die Zerlegung des Wirklichen, und Ýberall sind Induktion und Experiment nur ihre Hilfsmittel. In diesem allgemeinen Verstande genommen, ist das Verfahren der Analysis der Geisteswissenschaften gemeinsam mit den Naturwissenschaften. Nun aber gestaltet sich dieses Verfahren verschieden nach den Gebieten seiner Anwendung. Schon in der gewÚhnlichen Auffassung des Seelenlebens ist selbstverstÈndlich mit dem Auffassen des Zusammenhangs Ýberall Unterscheiden, Trennen, Zergliedern verbunden. Auf der verbindenden TÈtigkeit425 beruht alle Tiefe und Weite des VerstÈndnisses eines menschlichen Seelenlebens. Dagegen gibt Unterscheiden, Trennen und Analysieren diesem VerstÈndnis Klarheit und Deutlichkeit. Indem nun das psychologische Denken in die psychologische Wissenschaft Ýbergeht, zeigt die Analysis auf diesem Gebiete einen unermeßlichen Vorteil. An der lebendigen TotalitÈt des Bewußtseins, an dem Zusammenhang seiner Funktionen, an der durch Abstraktion gefundenen Einsicht von den allgemeingÝltigen Formen und Verbindungen dieses Zusammenhangs besitzt die Analysis den Hintergrund aller ihrer Operationen. Jedes Problem, das sie sich stellt, und jeder Begriff, den sie bildet, ist durch diesen Zusammenhang bedingt und empfÈngt in ihm seine Stelle. Die Analysis vollzieht sich also hier, indem die Prozesse der Zergliederung, durch welche ein einzelnes Glied des seelischen Zusammenhangs aufgeklÈrt werden soll, auf diesen ganzen Zusammenhang bezogen werden. Immer behÈlt sie in sich etwas von dem lebendigen, kÝnstlerischen Prozeß des Verstehens. Aus diesen VerhÈltnissen ergibt sich nun, daß eine Psychologie mÚglich ist, welche, von dem allgemeingÝltig erfaßten Zusammenhang des Seelenlebens ausgehend, die einzelnen Glieder dieses Zusammenhangs analysiert, ihre Bestandteile und die sie verbindenden Funktionen beschreibt und erforscht, so tief als sie kann, aber auf die Konstruktion des ganzen Kausalzusammenhangs der psychischen VorgÈnge verzichtet.426 Diese Psychologie endigt mit Hypothesen, wÈhrend die erklÈrende mit ihnen beginnt. Ihre MÚglichkeit beruht eben darauf, daß ein solcher allgemeingÝltiger, gesetzlicher, das ganze Seelenleben umfassender Zusammenhang fÝr uns ohne Anwendung der in den erklÈrenden Naturwissenschaften gebotenen Konstruktionsmethode mÚglich ist.427 Denn wie unmÚglich wÈre doch eine wissenschaftliche Darstellung des Seelenlebens, welche auf

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die Erkenntnis seines Zusammenhangs verzichtete? Und eben darin beruht ihre StÈrke, daß sie die Grenzen unserer Erkenntnis, mÚgen sie zeitweilig oder dauernd sein, anerkennen kann, ohne den inneren Zusammenhang darÝber zu verlieren. Sie kann die Hypothesen, zu denen die erklÈrende Psychologie in bezug auf die einzelnen Erscheinungsgruppen gelangt, in sich aufnehmen, aber indem sie dieselben an den Tatsachen mißt und den Grad ihrer PlausibilitÈt bestimmt, ohne sie als Konstruktionsmomente zu verwerten, beeintrÈchtigt die Aufnahme derselben nicht ihre eigene AllgemeingÝltigkeit. Sie kann schließlich auch die zusammenfassenden Hypothesen der erklÈrenden Psychologie der Diskussion unterziehen, aber sie muß dann den gÈnzlichen problematischen Charakter428 derselben erkennen. Ja sie muß die UnmÚglichkeit, Erlebnisse Ýberall zu Begriffen zu erheben, klar machen. Daß nicht bloß die Konzeption transzendenter Begriffe zu Antinomien fÝhrt, diese vielmehr aus der Arbeit des menschlichen Denkens an den Erfahrungen entspringen, die sich lediglich nicht ganz in Begriffe auflÚsen lassen, daß es also immanente Antinomien429 im Felde der Erkenntnis der in der Erfahrung gegebenen Wirklichkeit selber gibt: das ist das Prinzip, welches die heutige Philosophie in WeiterfÝhrung Kants in den Erfahrungsgebieten selber aufzuzeigen hat. Wir umschreiben die Gliederung einer solchen beschreibenden oder analytischen Psychologie, bevor wir drei Hauptkapitel einer solchen nÈher erÚrtern, welche fÝr ihre Gestaltung von entscheidender Bedeutung sind. Der allgemeine Teil einer solchen deskriptiven Psychologie beschreibt, benennt, arbeitet an dem kÝnftigen EinverstÈndnis Ýber eine psychologische Terminologie. Hierzu schon bedarf er der Zergliederung. Es ist seine weitere Aufgabe, den Strukturzusammenhang im ausgebildeten Seelenleben herauszuheben. Hier hat es die Analyse gleichsam mit der architektonischen Gliederung des fertigen GebÈudes zunÈchst zu tun, sie fragt nicht nach den Steinen, dem MÚrtel und den arbeitenden HÈnden zuerst, sondern nach dem inneren Zusammenhang der Teile. Sie wird also das Strukturgesetz finden mÝssen, durch welches die Intelligenz, das Trieb- und GefÝhlsleben und die Willenshandlungen zu dem gegliederten Ganzen des Seelenlebens verknÝpft sind. Der Zusammenhang, welcher in diesem Gesetz der Struktur zur Darstellung kommt, setzt sich nur aus lebendigen Erfahrungen Ýber die einzelnen Verbindungen seelischer Bestandteile zusammen. Seine Bedeutung ist uns in der inneren Erfahrung auf das Eindringlichste gegeben. So ist sein Charakter fÝr uns zugleich teleologisch und kausal.430 Eines der folgenden Kapitel wird der Darstellung dieses Strukturzusammenhangs gewidmet sein. Aus dem teleologischen Charakter dieses Zusammenhangs ergibt sich als zweites Grundgesetz des Seelenlebens, das gleichsam in der LÈngsrichtung wirkt, das der Entwickelung. BestÈnde nicht in der seelischen Struktur und ih-

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ren treibenden KrÈften eine ZweckmÈßigkeit und ein Wertzusammenhang, der sie vorwÈrts triebe, dann wÝrde der Lebenslauf nicht Entwickelung sein. Daher aus dem blinden Willen von Schopenhauer so wenig die Entwickelung eines Menschen abgeleitet werden kann als aus dem atomistischen Spiel psychischer EinzelkrÈfte in den Systemen der Herbartianer oder der Materialisten. Diese Entwickelung hat in dem Menschen die Tendenz, einen festen Zusammenhang des Seelenlebens herbeizufÝhren, der mit den Lebensbedingungen desselben Ýbereinstimmt. Alle Prozesse des Seelenlebens wirken gemeinsam in uns, um einen solchen Zusammenhang, gleichsam eine Gestalt der Seele zu erwirken; denn auch das Unterscheiden und Trennen bringt VerhÈltnisse hervor und dient somit der Verbindung. Die Formeln der Transzendentalphilosophie Ýber die Natur des synthetischen VermÚgens in uns sind nur abstrakte AusdrÝcke fÝr diese Eigenschaften unseres Seelenlebens, welche in schÚpferischem Wirken Entwickelung und Gestalt desselben herbeifÝhren.431 Andere ZÝge dieser Entwickelung hat Herbert Spencer in seiner Lehre von den Differenzierungs- und den IntegrationsvorgÈngen richtig dargelegt. Wie sich diese Ideen mit denen der deutschen spekulativen Schule vereinigen lassen und wie eine wissenschaftliche Lehre von der Entwickelung des Menschen mÚglich wird, das soll in einem anderen Kapitel ausgefÝhrt werden. Ein drittes allgemeines VerhÈltnis ist in dem Wechsel der BewußtseinszustÈnde und in der Einwirkung des erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens auf jeden einzelnen Akt des Bewußtseins enthalten. Erst indem man dies umfassende VerhÈltnis ergreift, nach welchem jeder einzelne Bewußtseinsakt in seinem Auftreten und seinem Charakter von diesem ganzen erworbenen seelischen Zusammenhang bedingt ist, findet man die wahren Beziehungen zwischen den Lehren von der Enge des Bewußtseins, der Einheit desselben und den Unterschieden unserer inneren ZustÈnde. Die freie Lebendigkeit des Seelenlebens wird durch die Einsicht in dieses VerhÈltnis analytisch aufgeklÈrt. In dem Mittelpunkt dieses erworbenen Zusammenhangs ist ein BÝndel von Trieben und GefÝhlen immer regsam. Dieses teilt einem neuen Eindruck Interesse zu, ruft eine Vorstellung hervor, lÈßt eine Willensrichtung entstehen. Interesse geht in den Vorgang der Aufmerksamkeit Ýber. Die verstÈrkte Bewußtseinserregung, welche diese Aufmerksamkeit ausmacht, existiert aber nicht in abstracto, sondern sie besteht aus Prozessen, und diese gestalten nun die Wahrnehmung, formieren eine Erinnerungsvorstellung, bilden einen Zweck oder ein Ideal, dies alles immer in lebendigem gleichsam vibrierenden Zusammenhang mit dem ganzen erworbenen Seelenleben. Alles ist hier Leben. Ich habe frÝher, in meiner Darstellung der Poetik, die Unhaltbarkeit der Lehre von der toten Reproduktion der Bilder gezeigt und dargetan, daß dasselbe Erinnerungsbild in der Seele sowenig unter neuen UmstÈnden zurÝckkehrt als

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dasselbe Blatt in einem neuen Jahre am Baum. Denselben Satz hat neuerdings James mit der eigentÝmlichen realistischen Kraft seines inneren WahrnehmungsvermÚgens eingehend begrÝndet. Dieser innere hÚchst umfassende [Vorgang],432 in welchem von dem erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens aus die einzelnen VorgÈnge im Bewußtsein erwirkt oder doch jederzeit mitbedingt werden, steht mit dem Strukturgesetz des Seelenlebens in einer inneren Beziehung. Es ist von der Wirksamkeit433 der Struktur abhÈngig. Es tritt nur verbunden mit der ausgebildeten Differenzierung der Struktur auf. Die zentrale Macht unserer Triebe und GefÝhle, ihre Beziehung zu den Èußeren Reizen und andererseits zu den Willenshandlungen bedingen die Verteilung der BewußtseinszustÈnde, die Reproduktion der Vorstellungen und das Wirken des erworbenen Vorstellungszusammenhangs auf die bewußten VorgÈnge. VerhÈltnisse des Erwirkens gehen von hier zur Entstehung von Interesse, Aufmerksamkeit, verstÈrkter Bewußtseinserregung, die dann in auffassenden Prozessen ihre Existenz hat. Sie gehen dann durch den Wettstreit der Triebe zu einer Erregung des praktischen Interesses; diese erwirkt eine ErhÚhung und Konzentration der Bewußtseinsenergie, welche sich dann in den Prozessen der praktischen Fragestellung, des WÈhlens und des Vorziehens Èußert. Sind nun so die ZustÈnde der Verteilung des Bewußtseins und die VorgÈnge der Einwirkung des erworbenen seelischen Zusammenhangs auf die Bildung der bewußten Akte abhÈngig von den lebendigen Beziehungen, die aus der Struktur des Seelenlebens herstammen: so bilden sie doch einen Zusammenhang, welcher durch Abstraktion abgesondert werden kann. Dieser Zusammenhang ist nicht in derselben Weise der inneren Erfahrung offen als derjenige der Struktur. Denn seine Glieder und das Erwirken zwischen ihnen liegen zu einem großen und wichtigen Teile außerhalb des hellen Bewußtseins, sonach außerhalb der inneren Wahrnehmung. Wir wissen nichts von der Natur einer Spur, welche reproduzierbar ist. Wie sollten wir davon etwas wissen, wie eine Reproduktion derselben sich macht? Oder wie ein Zusammenhang solcher Spuren es anfÈngt, einen bewußten Vorgang zu bestimmen? Unsere frÚhliche Zuversicht auf die ausschließliche Wirkung ausgebildeter AssoziationsverhÈltnisse, wo immer eine Vorstellung in das Bewußtsein tritt, mußte vor der genaueren Kritik ebenfalls schwinden. Daß es auch ein freies Aufsteigen von Vorstellung ohne jede Vermittelung einer Assoziation gibt: wer kÚnnte es leugnen oder beweisen? Wer kÚnnte unternehmen, alle FÈlle, welche eine solche unmittelbare Reproduktion darzubieten scheinen, in der beliebten triumphierenden Manier der Assoziationspsychologie durch Nachweis verborgener Vermittelung aufzuklÈren? Wer aber auch das Vorhandensein einer solchen Vermittelung ableugnen? Oder wer kÚnnte die Entstehung mittelbarer

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Reproduktionen, welche nicht auf frÝher gestifteter Verbindung von Vorstellungen beruhen, in Abrede stellen? Es ist so; hier wo die innere Erfahrung uns im Stiche lÈßt, sollte die Psychologie zunÈchst nur genau zu beschreiben, Formen der Reproduktion zu sondern streben, die mÚglichen Hypothesen jedoch recht bescheiden einfÝgen. Und wie jeder Begriff von der Natur einer reproduzierbaren und wirkungsfÈhigen, aber unbewußt gewordenen Tatsache434 jede Entscheidung darÝber, ob sie psychisch, physisch oder psychophysisch sei, Hypothese ist, wie denn jeder Begriff von der Entstehung einer Reproduktion Hypothese und nichts als Hypothese ist, so ist nun auch jeder Gedanke Ýber die Art des Wirkens eines erworbenen Zusammenhangs solcher Tatsachen auf die bewußten Vorstellungen wieder nur ausschließlich Hypothese. Diese Hypothesen bilden die eigentliche Grundlage der erklÈrenden Psychologie von der Zeit ab, in welcher die Einwirkung der ZustÈnde, Nerven, Elemente aufeinander als der reale ErklÈrungsgrund dieses Wirkens von der englisch-franzÚsischen Schule aufgefaßt und in den kleinen Vorstellungen von Leibniz ein anderer ErklÈrungsgrund gegenÝbergestellt wurde. Diese Hypothesen unterliegen aber Schwierigkeiten, die zur Zeit unlÚsbar sind. Die Wechselwirkung zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten ist fÝr die erste Hypothese unverstÈndlich. Sie vermag den Unterschied zwischen Genieprozessen, die vom Bewußtsein begleitet sind, und solchen, denen diese Begleitung abgeht, sich nicht erklÈrlich zu machen. Die unbewußten Vorstellungen der anderen Hypothesen sind ein Wort, das nur das der Erfahrung transzendente Problem eines unbewußten Psychischen enthÈlt, ohne zu einer LÚsung irgend etwas beizutragen; gerade hier, wo Theorien ihr Spiel so weit als mÚglich getrieben haben, wird es sich heute darum handeln, zunÈchst einmal eine Beschreibung der verschiedenen Formeln herbeizufÝhren, in welchen unbewußter Zusammenhang auf bewußte Akte wirkt. Alle die Anekdoten, welche aus einer Psychologie in die andere Ýbergehen, mÝssen einer PrÝfung unterzogen werden. Zugleich werden gerade diese VorgÈnge dem Experiment zugÈnglich zu machen sein. Àberall handelt es sich um die Erfahrung und um die Wechselwirkung zwischen dem Unbewußten und dem Bewußten, nie um die zwischen dem KÚrperlichen und dem Seelischen, innerhalb dieser Wechselwirkung handelt es sich nur um die Beschreibung ihrer einzelnen Formen. Ganz abzusehen ist dabei von unbewußten Vorstellungen, von physiologischen Spuren ohne •quivalente, und Ýberall ist die Beziehung des lebendigen Strukturzusammenhangs zu diesen KausalverhÈltnissen in Betracht zu ziehen. Dann erweist sich, wie unzureichend die abstrakten Vorstellungen eines mechanischen Zusammenhangs auf diesem Gebiete sind. Auch in anderen Wissenschaften, z. B. in der politischen ³konomie, versuchte man zunÈchst aus wenigen PrÈmissen zu deduzieren und bildete so glatte mechanische ZusammenhÈnge: ein solcher

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war auch Herbarts physischer Mechanismus: nachdem man das Voreilige und Schiefe solcher Konstruktionen erkannt hat, gilt in der Psychologie so gut als in der politischen ³konomie, erst einmal Tatsachen zu sammeln und zu variieren, die Hauptformen des Geschehenen zu trennen und einzeln zu beschreiben. Diesem allgemeinen Teil folgt dann die Zergliederung der drei großen ZusammenhÈnge, welche in der Struktur des Seelenlebens verbunden sind. Ich habe anderwÈrtse nachzuweisen unternommen, daß der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens gleichsam die Regeln enthÈlt, von welchen der Verlauf der einzelnen seelischen VorgÈnge abhÈngig ist. Er bildet daher den Hauptgegenstand der psychologischen Beschreibung und Analysis innerhalb der drei großen in der seelischen Struktur verbundenen Glieder des Seelenlebens, nÈmlich der Intelligenz, des Trieb- und GefÝhlslebens und der Willenshandlungen. Dieser erworbene Zusammenhang ist uns zunÈchst im entwickelten Menschen, und zwar in uns selber, gegeben. Aber da er nicht als ein Ganzes in das Bewußtsein fÈllt, ist er zunÈchst nur mittelbar in einzelnen reproduzierten Teilen oder in seinem Wirken auf seelische Prozesse fÝr uns auffaßbar. Hiermit vergleichen wir jedoch seine SchÚpfungen. In den Werken genialer Menschen kÚnnen wir das energische Wirken bestimmter Formen von geistiger TÈtigkeit studieren. In Sprache, Mythos und religiÚsem Brauch, Sitte, Recht und Èußerer Organisation sind Erzeugnisse des Gesamtgeistes vorliegend, in denen das menschliche Bewußtsein, mit Hegel zu reden, objektiv geworden ist und so der Zergliederung stand hÈlt. Was der Mensch sei, das erfÈhrt er ja doch nicht durch GrÝbelei Ýber sich, auch nicht durch psychologische Experimente, sondern durch die Geschichte. Die Zergliederung der Erzeugnisse des menschlichen Geistes, welche in die Entstehung des seelischen Zusammenhangs, seine Formen und sein Wirken einen Einblick gewinnen will, muß nun aber mit der Analyse der geschichtlichen Produkte die Beobachtung und Sammlung jedes erhaschbaren StÝckes der Prozesse verbinden, in denen solcher Zusammenhang sich bildet und die geschichtlichen Erzeugnisse aus ihm hervorgehen. Eben auf der Verbindung dieser beiden Methoden beruht das ganze Studium von Entstehen, Formen und Wirken des seelischen Zusammenhangs im Menschen. Schon in den geschichtlichen VerÈnderungen, die an den Erzeugnissen des Gesamtgeistes vorgehen, offenbaren sich solche lebendige Prozesse; so im Lautwechsel, im Bedeutungswechsel der Worte, in den VerÈnderungen der Vorstellungen, die an einen GÚtternamen sich knÝpfen. Dann in Lebensnachrichten, TagebÝchern, Briefen erhÈlt man von inneren VorgÈngen Kunde, welche die Genesis bestimmter Formen des geistigen e

Einbildungskraft und Wahnsinn. 1886. S. 14 ff. Poetik (AufsÈtze, Zeller gewidmet) S. 355 ff.

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Lebens erleuchten. So vergleichen wir mit dichterischen Werken die •ußerungen echter Poeten Ýber die VorgÈnge in ihnen, um die Natur der Einbildungskraft zu sondieren. Welche reiche Quelle fÝr das VerstÈndnis der so rÈtselhaften VorgÈnge, in denen ein religiÚser Zusammenhang entsteht, fließt in dem, was wir von Franziskus von Assisi, dem heiligen Bernhard und besonders von Luther wissen. Diese Analysis der Entstehung der Formen und des Wirkens des seelischen Zusammenhangs nach seinen Hauptgliedern beginnt mit dem feingegliederten Zusammenhang der Wahrnehmungen, Vorstellungen und Erkenntnisse im entwickelten Seelenleben eines vollkrÈftigen Menschen. Spencer hat schon bemerkt, daß die Analyse auf diesem Gebiete darum am weitesten gediehen ist, weil auf ihm am leichtesten in den Produkten die Bestandteile unterscheidbar sind. Vor allen hat Sigwart in dem festen und dauernden Zusammenhange dieses Gebietes435 den Hauptgegenstand der Zergliederung der Intelligenz festgestellt, und die neue Bearbeitung seiner Methodenlehre hat sich neben anderen außerordentlichen Verdiensten auch das erworben, besonders an Zahl, Zeit, Raum und Bewegung eine solche Zergliederung durchzufÝhren (vergl. mit Logik II2 41 ff. II2 187). Jeder solcher Zusammenhang stellt nach ihm eine erkennbare Regel dar, die den Àbergang des wirklichen Bewußtseins von einem Gliede zum anderen beherrscht. Indem man diese Regel analytisch feststellt, kann man von den subjektiven Begleiterscheinungen der einzelnen Akte, den mannigfachen GefÝhlen und Triebregungen, absehen: die Differenzen der einzelnen Individuen treten zurÝck; man ergreift die objektiven und bleibenden VerhÈltnisse, welche der menschlichen Intelligenz zugrunde liegen. Hier ist der feste Hintergrund, auf welchem das wechselnde Licht des momentanen Bewußtseins hin- und herwandert. Hier sind die dauernden Regeln, von denen das zufÈllige Spiel der Assoziationen schließlich regiert wird. So erÚffnet sich hier ein weites Gebiet zuverlÈssiger analytischer Erkenntnis des menschlichen Seelenlebens. Die Fruchtbarkeit einer solchen Analysis unserer Intelligenz fÝr die Geisteswissenschaften kann an der PÈdagogik erlÈutert werden. Jedermann weiß, welche Revolution Pestalozzi durch seinen Anschauungsunterricht hervorgerufen hat. Was Pestalozzi mit dem Griff des Genies erfaßte, kann durch die analytische Psychologie aufgeklÈrt werden. Sie geht von dem erworbenen, gestalteten Zusammenhang des Seelenlebens aus. Diesen zergliedert sie in die einzelnen ZusammenhÈnge, welche den schÚpferischen Hintergrund aller bewußten VorgÈnge bilden. Im Spiel der einzelnen seelischen Prozesse erfaßt sie das Wirken dieser ZusammenhÈnge als die großen Regeln, von denen dies Spiel Ýberall im einzelnen abhÈngig ist. Und so erkennt sie nun den Sinn der genialen Methodik Pestalozzis darin, daß die schÚpferische, bildende Kraft des Men-

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schen von der richtigen Ausbildung solcher ZusammenhÈnge bedingt ist. Dieser große Satz der PÈdagogik folgt aus der allgemeineren Lehre von der Natur des erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens, Regel und Macht zu sein, welche die EinzelvorgÈnge regiert. Pestalozzi hatte diesen Satz nicht in abstracto erkannt: PÈdagogik ist ein Werk der Schulstube: durch den Versuch hatte er die wohltÈtige Wirkung derjenigen regelmÈßigen und geordneten SelbsttÈtigkeit erfaßt, welche die am meisten elementaren und homogenen unter diesen ZusammenhÈngen ausbildet. Vier unter ihnen legte er zugrunde: Zahlordnung, RaumverhÈltnisse, musikalische GrundverhÈltnisse, den gesetzmÈßigen Zusammenhang in der Sprache. Zweierlei liegt am Tage. Zahl-, Raumund TonverhÈltnisse bilden homogene Systeme, die von innen entwickelt werden436 kÚnnen; die Sprache ist kein solches homogenes System; an ihr litt seine Methode Schiffbruch. Und innerhalb dieser drei homogenen Systeme ist Anschauung schließlich vom Denken untrennbar: schweigendes Denken im Gegensatz zum diskursiven: eben darum im Gegensatz zum BildungsgeschwÈtz so unermeßlich fruchtbar fÝr den arbeitenden Menschen. ErwÈgt man, wie jede rÈumliche Entfernung, jeder Tonabstand, jede Abstufung von Grau in einem Denkakt aufgefaßt wird, der vom Zusammenbesitzen der Empfindungen unabtrennbar ist, so verschwindet der falsche Gegensatz437 von Anschauungsunterricht und Ausbildung des Denkens, welcher bis auf diesen Tag sowohl in den Gesetzen der PÈdagogik als in den praktischen pÈdagogischen Abhandlungen eine so große Rolle spielt. Die großen dauernden ZusammenhÈnge, in welchen unsere Intelligenz sich bewegt, sind natÝrlich aus elementaren Bestandteilen vermittelst elementarer Prozesse entstanden.438 Die erklÈrende Psychologie leitet aus gewissen von ihr studierten elementaren Prozessen, wie Assoziation, Verschmelzung, Apperzeption, diese großen dauernden ZusammenhÈnge, wie Raum, Zeit und KausalitÈt, ab. Die beschreibende Psychologie trennt Beschreibung und Analysis dieser dauernden ZusammenhÈnge von den erklÈrenden Hypothesen.439 So ermÚglicht sie einen allgemeingÝltigen Zusammenhang der psychologischen Erkenntnis, in welchem das Ganze des Seelenlebens anschaulich klar und scharf gesehen wird.440 Es ist unvermeidlich, Ýber die Entstehung unserer Raumanschauung Hypothesen zu bilden. Aber auch der Erkenntnis kann sich niemand entziehen, wie gÈnzlich problematisch jede der bisherigen Theorien ist. Aber diese Sonderung der Analyse der dauernden ZusammenhÈnge von der Darstellung der elementaren Bestandteile und Prozesse hindert weder die Verwertung der Ergebnisse der einen Untersuchung fÝr die andere, noch mindert sie die Verehrung oder erschwert die Aufnahme der bedeutenden Arbeitsergebnisse Ýber die Bestandteile und elementaren Prozesse der Wahrnehmung und des Gedankenlaufs, welche einen unvergÈnglichen Ruhmestitel der mo-

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dernen, insbesondere deutschen Physiologie, Psychophysik und Psychologie bilden.441 Auch zeigen ja die neuesten Arbeiten auf diesem Gebiete, wie Stumpfs Lehre von der Verschmelzung von TÚnen, die Tendenz, die allgemeingÝltig herstellbare Darstellung der im Ergebnis des elementaren Prozesses auftretenden Merkmale, in diesem Falle also die Grade und nÈheren VerhÈltnisse in der Erschwerung der Unterscheidung von TÚnen, an die Stelle einer dunklen, physischen Analogien nachgehenden Vorstellung vom Prozeß selber zu setzen. Dies ist dadurch bedingt, daß wir der elementaren Prozesse nicht unmittelbar als eines Vorgangs in uns, der Vollziehung einer Funktion in uns inne werden, sondern uns nur das Ergebnis zum Bewußtsein kommt. Wird dieser Weg verfolgt, so tritt auch auf diesem Gebiete allgemeingÝltige Beschreibung mehr und mehr in ihre Rechte ein. Hierzu gehÚrt denn auch, daß man darauf verzichtet, eine bestimmte Zahl absolut elementarer Prozesse aufzustellen, wie man heute Úfters Assoziation und Reproduktion sowie Verschmelzung als solche aufgestellt findet. Die beschreibende Psychologie kann nur die elementaren VorgÈnge, welche zur Zeit nicht sicher reduzierbar sind, hintereinander beschreiben.442 Wiedererkennen, Assoziation und Reproduktion, Verschmelzung, Vergleichen, Gleichsetzen und Grade des Unterschieds bestimmen (was im Unterscheiden mitenthalten ist443), Trennen und Vereinigen: das sind solche VorgÈnge. Die inneren Beziehungen, in welchen einige von ihnen miteinander stehen, erinnern vorlÈufig daran, daß auch hier die allgemeingÝltige Beschreibung und Analyse nur bis an einen gewissen Punkt gehen kann und hier absoluten Festsetzungen Èhnliche Schwierigkeiten sich darbieten, als sie bei der Frage nach den letzten Bestandteilen unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen immer eindringlicher, insbesondere in der Tonpsychologie, sich geltend machen. Àberall zeigt sich hier an der Zergliederung der Intelligenz, was wir als ein allgemeines VerhÈltnis aufgestellt haben, wie an den letzten Enden der Analyse sich die beschreibende und die erklÈrende Psychologie begegnen. Selbst die BewÈhrung der gefundenen elementaren Tatsachen an der Konstruktion eines ganzen Gebietes ist eine notwendige Hilfsoperation der beschreibenden Psychologie zur Bestimmung des Grades von Wahrscheinlichkeit der Hypothesen, welche aufgestellt worden sind. Denn nur indem die beschreibende Psychologie diese Wahrscheinlichkeitsgrade der einzelnen Hypothesen bestimmt, enthÈlt sie auch in sich die erforderliche Rechenschaft Ýber das VerhÈltnis, in welchem sie sich zu einer gegebenen Zeit an den hervorragendsten Arbeiten und Hypothesen der erklÈrenden Psychologie befindet.444 Wie anders steht es mit dem Zusammenhang unserer Triebe und GefÝhle, welcher den zweiten großen Gegenstand der Zergliederung der seelischen Einzelgebiete ausmacht! Und doch haben wir hier das eigentliche Zentrum des

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Seelenlebens vor uns. Die Poesie aller Zeiten hat hier ihr Objekt. Das Interesse der Menschen ist diesem GemÝtsleben bestÈndig zugewandt: Gleich und Ungleich menschlichen Daseins hÈngen von ihm ab. Daher hat auch die Psychologie des 17. Jahrhunderts, welche tiefsinnig auf die Inhaltlichkeit des Seelenlebens gerichtet war, die Lehre von den GemÝtszustÈnden – denn das sind ihre affectus – zu ihrem Mittelpunkt gemacht.445 Aber so wichtig und zentral diese ZustÈnde sind, so hartnÈckig widerstehen sie der Zergliederung. Unsere GefÝhle verschmelzen zumeist zu GesamtzustÈnden, in welchen alsdann die einzelnen Bestandteile nicht mehr sichtbar sind.446 Unsere Triebe Èußern sich unter gegebenen Bedingungen in einem konkreten, in seiner Dauer begrenzten, in seinem Objekt bestimmten Streben,447 ohne daß sie doch als jedes solche einzelne Streben und Verlangen Ýberdauernde Triebe uns dabei zum Bewußtsein gelangen kÚnnten. Beide, GefÝhle und Triebe, kÚnnen nicht beliebig reproduziert oder in das Bewußtsein erhoben werden. Wir kÚnnen einen GemÝtszustand immer nur erneuern, indem wir die Bedingungen im Bewußtsein experimentierend hervorrufen, aus denen er entspringt.448 Hieraus ergibt sich, daß unsere Definitionen von GemÝtszustÈnden nicht deren Inhalt zergliedern, sondern nur die Bedingungen angeben, unter denen der GemÝtszustand auftritt. Dieser Natur sind alle Definitionen der GemÝtszustÈnde bei Hobbes und Spinoza. Wir mÝssen also zunÈchst das Verfahren dieser Denker vervollkommnen. Definitionen, feste Namenbestimmung und Klassifikation bilden das erste GeschÈft, welches die beschreibende Psychologie auf diesem Gebiete zu vollbringen hat. Zwar erÚffnen sich in dem Studium der Ausdrucksbewegungen und der Vorstellungssymbole fÝr die GemÝtszustÈnde neue Hilfsmittel; insbesondere aber das vergleichende Verfahren, welches die einfacheren Trieb- und GefÝhlsverhÈltnisse des Tieres und der NaturvÚlker hinzuzieht, ermÚglicht Ýber die Anthropologie des 17. Jahrhunderts hinauszugehen. Aber auch die Benutzung dieser Hilfsmittel gibt keine sicheren Anhaltspunkte fÝr ein erklÈrendes Verfahren, das aus einer begrenzten Zahl eindeutig bestimmter Elemente die Erscheinungen dieses Gebietes abzuleiten vermÚchte. Auch liegen die erklÈrenden Versuche tatsÈchlich untereinander in einem Kampfe, in welchem schlechterdings keine Entscheidung abzusehen ist. Schon die Grundfragen gestatten keine Ýberzeugende AuflÚsung. Die bisherige erklÈrende Psychologie legt ihrer Darstellung jedesmal irgendeine Theorie Ýber das VerhÈltnis von GefÝhl zu Trieb und Willen und Ýber das der qualitativen GefÝhlszustÈnde zu den mit ihnen verschmolzenen Vorstellungen zugrunde. Die einen finden in dem Trieb die ursprÝngliche Tatsache und betrachten die GefÝhle als die mit der Lage des Trieblebens gegebenen inneren ZustÈnde. Die anderen betrachten das GefÝhl als die primÈre Tatsache und leiten aus den Verbindungen, in welcher dieses mit den Empfindungen und Vorstellungen

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tritt, den Trieb und weiterhin selbst den Willen ab, aber keine von beiden Theorien vermag die Vereinfachung des Tatbestandes, die in ihr liegt, zu erweisen. Ebensowenig kann die ZurÝckfÝhrung aller qualitativen Unterschiede in unserem GefÝhlsleben auf die einfachen ZustÈnde von Lust und Unlust und deren Verbindungen mit Empfindungen und Vorstellungen glaubhaft durchgefÝhrt werden. Blickt man nun in die wunderbar reiche Literatur der verschiedensten VÚlker Ýber die GemÝtszustÈnde und Leidenschaften der Menschen, so findet man, daß alle fruchtbaren und dies Gebiet erleuchtenden SÈtze keiner solcher erklÈrenden Annahmen bedÝrfen; vielmehr wurden in ihnen nur die großen Formen der VorgÈnge beschrieben, in welchen diese verschiedenen Seiten miteinander verbunden sind. Auch braucht man nur tief genug in die Analyse der großen Tatsachen auf diesem Gebiete einzugehen, um die Nutzlosigkeit solcher erklÈrenden Hypothesen auch auf diesem Gebiete einzusehen. Die meisten Psychologen sind geneigt, den Èsthetischen Genuß, welchen ein Kunstwerk hervorruft, als einen Lustzustand zu charakterisieren. Aber der •sthetiker, welcher der Wirkung der verschiedenen Stilarten in den verschiedenen Kunstwerken nachgeht, wird sich doch genÚtigt finden, das Unzureichende dieser Auffassung anzuerkennen. Der Stil eines Fresko von Michelangelo oder einer Fuge von Bach entspringt aus der Handlung einer großen Seele, und die Auffassung dieser Kunstwerke teilt der Seele des Genießenden eine bestimmte Form von Handlung mit, in welcher sie sich erweitert, steigert und gleichsam ausdehnt. Daher ist in Wirklichkeit das Gebiet des GemÝtslebens fÝr die erklÈrende Behandlung noch nicht reif;449 erst wird die beschreibende Psychologie ihr Werk getan haben mÝssen, bevor auch nur die richtige Fassung der Hypothesen wird gewonnen werden kÚnnen. In drei Richtungen bewegt sich hierbei vornehmlich die Untersuchung. Sie stellt die Haupttypen des Verlaufs von GemÝtsvorgÈngen dar. Das, was die großen Dichter, insbesondere Shakespeare, in Bildern gegeben haben, strebt sie, der begrifflichen Analyse zugÈnglich zu machen. Sie hebt gewisse GrundverhÈltnisse heraus, welche durch das menschliche GefÝhls- und Triebleben hindurchgehen, und sie sucht die einzelnen Bestandteile der GefÝhls- und TriebzustÈnde festzustellen. Ist die erste Richtung der Untersuchungen an sich deutlich, so mÚgen die beiden anderen durch einige Beispiele erlÈutert werden. Es gehen durch das ganze Trieb- und GefÝhlsleben gewisse GrundverhÈltnisse hindurch, welche fÝr das VerstÈndnis des Menschen von entscheidender Bedeutung sind. Ich hebe einige solche GrundverhÈltnisse hervor: Themata gleichsam fÝr ein genaues beschreibendes Verfahren. Als Themata hingestellt, erscheinen sie natÝrlich trivial, erst in der DurchfÝhrung der Beschreibung wÝrde der Wert solcher Darstellungen sichtbar werden, der noch dadurch sehr

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erhÚht wird, daß von diesen VerhÈltnissen wichtige Unterschiede der IndividualitÈten abhÈngen. Ein solches VerhÈltnis liegt in der Verschmelzung der GefÝhle und in ihrer Àbertragung. Unter der letzteren ist hier die Àbertragung des GefÝhls auf ein mit seinem Ursprungsgebiet regelmÈßig ZusammenhÈngendes zu verstehen; so von dem Zweck auf die Mittel, von der Wirkung auf die Ursachen. Ferner liegt ein solches GrundverhÈltnis in dem, was die Stoiker, Hobbes und Spinoza als Trieb der Selbsterhaltung oder der Steigerung des Selbst bezeichnet haben: ein Streben nach ErfÝllung mit GemÝtszustÈnden, nach Sichausleben, nach Entfaltung der KrÈfte und Triebe. Wir finden, daß in einer hemmenden Lage regelmÈßig aus dem GefÝhl des Drucks das Streben sich aus ihm zu befreien entspringt. Die Vorstellung kÝnftiger Àbel wirkt nach Maßgabe bestimmter Bedingungen in der Seele oft ebenso stark als die Gegenwart des Àbels selber, ja Úfter stÈrker; insbesondere je mehr Menschen in Vorstellungen stÈrker als in EindrÝcken leben, je mehr sie gleichsam Ýber ihre ganze Zukunft beste Rechnung bei sich zu halten pflegen, desto leichter sind sie von Furcht bewegt, wo dem Zusammenhang des Lebens eine StÚrung droht. Auch die Art und der Grad, wie Vergangenes die Seele bewegt, ist von bestimmten Bedingungen im seelischen Zusammenhang abhÈngig. Man bemerkt, daß Menschen sich gegenseitig in ihren Affekten steigern, eine Versammlung ist bekanntlich politisch erregbarer, als jeder einzelne der Anwesenden es sein wÝrde, und auch die hierin auftretenden Unterschiede sind von bestimmten Bedingungen im Seelenleben abhÈngig. Einen anderen ebenso wichtigen Zug bildet der bestÈndige Umsatz unserer GemÝtszustÈnde in vorstellungsmÈßige Symbole und in Ausdrucksbewegungen. Beide Formen von Umsetzung unserer GemÝtszustÈnde gehÚren zueinander und unterscheiden sich von der AuslÚsung von Handlungen, welche auf Èußere oder innere VerÈnderungen gerichtet sind. Sie fallen unter den Begriff der symbolisierenden TÈtigkeit, den Schleiermachers Ethik aufstellte. Sowohl fÝr die religiÚsen als fÝr die kÝnstlerischen LebensÈußerungen des Menschen sind sie von großer Bedeutung. Die Analysis sucht alsdann die einzelnen Bestandteile der GefÝhlszustÈnde festzustellen. Treten uns doch im Leben die GefÝhle regelmÈßig in konkreten Verschmelzungen entgegen. Wie das Wahrnehmungsbild Empfindungen als Einheiten in sich enthÈlt, so enthÈlt der konkrete GefÝhlszustand elementare GefÝhle in sich. In einem GemÈlde sind GefÝhlston der einzelnen Farben, Farbenharmonie, Farbenkontraste, FormenschÚnheit, Ausdruck, Genuß des idealen Gehaltes zusammenwirkend zu dem Totaleindruck desselben. Wir untersuchen nicht, welcher der erste Grund der qualitativen Unterschiede in unsern GefÝhlen sei, welche neben denen der IntensitÈt auftreten, wir nehmen diese Unterschiede zunÈchst als Tatsachen hin. Wie sich die Empfindungen

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wiederholen, welche in den Wahrnehmungen enthalten sind, so kÚnnen wir nun dasselbe VerhÈltnis an den elementaren GefÝhlen nachweisen. Mit einer bestimmten Klasse von Antezedenzien ist regelmÈßig eine bestimmte Klasse von GefÝhlsvorgÈngen verbunden. Wie einer Reizklasse ein Kreis von SinnesqualitÈten entspricht, so korrespondiert einer Klasse solcher Antezedenzien ein Kreis von elementaren GefÝhlen. Hier wird sich fÝr die experimentelle Psychologie ein weites Gebiet fruchtbarer Untersuchungen aufschließen. Wir kÚnnen im Versuch mÚglichst einfache Antezedenzien herstellen, um die regelmÈßigen Verbindungen von solchen mit einfachen GefÝhlen festzustellen. So entsteht der Begriff von GefÝhlskreisen als den analytisch auffindbaren letzten Tatsachen des GefÝhlslebens.f Und auf Èhnliche Weise kÚnnen Triebkreise entworfen werden. Aber auch hier mÝssen wir, wie bei der Aufsuchung der elementaren Funktionen unserer Intelligenz vorlÈufig ganz darauf verzichten, eine begrenzte Zahl definitiv elementarer Tatsachen festzustellen. Die erklÈrende Methode wÝrde dies fordern, die beschreibende kann auch hier warten. Der dritte große Zusammenhang in unserem Seelenleben wird durch die menschlichen Willenshandlungen gebildet. Hier hat wieder die Analysis in festen VerhÈltnissen einen sicheren Leitfaden. Sie hat zunÈchst die Begriffe von Zwecksetzung, Motiv, VerhÈltnissen zwischen Zweck und Mitteln, WÈhlen und Vorziehen zu definieren und die Beziehungen dieser Begriffe zueinander zu entwickeln. Sie hat dann die einzelne Willenshandlung zu analysieren, wie dies in der sorgfÈltigen Abhandlung von Sigwart geschehen ist. Und zwar besteht der Kunstgriff der beschreibenden Psychologie eben darin, daß sie den gleichsam ausgewickelten Vorgang, in welchem die Bestandteile am meisten klar auseinandertreten, zum Gegenstand der Zergliederung macht. In diesem halten wir Motiv, Zweck und Mittel auseinander. Der Vorgang des WÈhlens oder Vorziehens wird in der inneren Wahrnehmung klar aufgefaßt. Àberdies treten unsere Zweckhandlungen teilweise in die Außenwelt und werden uns so gegenstÈndlich. Die Willenshandlung entspringt aus der Gesamtlage unseres Trieb- und GefÝhlslebens. Sie hat die Intention der AbÈnderung derselben. Sie schließt also irgendeine Art der Vorstellung des Zieles ein. Dies Ziel will die Intention entweder in der Außenwelt erreichen, oder sie verzichtet darauf, durch Èußere Handlungen die Bewußtseinslage zu Èndern, und strebt direkt innere VerÈnderungen im Seelenleben herbeizufÝhren. Es ist eine Epoche in der religiÚs sittlichen Entwickelung des Menschen, wenn die Disziplin innerer Willenshandlungen Macht in ihm gewinnt. Sofern nun ein innerer Zustand oder Vorgang Faktor einer Willensentscheidung zu werden vermag, ist derself

Philosophische AufsÈtze, Zeller gewidmet 365 ff.

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be ein Motiv. Mit der Zielvorstellung ist die Vorstellung der Mittel schon wÈhrend der Àberlegung verbunden. Sind aus dem Streben nach AbÈnderung und Lage eine oder mehrere Zielvorstellungen hervorgegangen, so entsteht in der Seele ein Probieren, WÈhlen, Vorziehen, und die am meisten entsprechende Zielvorstellung, deren Mittel zugleich am leichtesten zugÈnglich sind, wird zu meinem Willensentschluß erhoben. Dann tritt nochmals ein Probieren, WÈhlen und Entscheiden Ýber alle verfÝgbaren Mittel zu diesem Zwecke ein. Die Analysis der menschlichen Willenshandlungen darf sich aber nicht auf die Zergliederung der einzelnen Willenshandlung einschrÈnken. Wie auf dem intellektuellen Gebiet nicht die einzelne Assoziation oder der einzelne Denkakt den Hauptgegenstand der Analyse bildet, so auch nicht auf dem praktischen Gebiet der einzelne Willensentschluß. Gerade die sorgfÈltige Analyse der einzelnen Willenshandlungen fÝhrt auf deren AbhÈngigkeit von dem erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens zurÝck, welcher ebensowohl wie die GrundverhÈltnisse unserer Vorstellungen auch die dauernden Wertbestimmungen, die GewÚhnungen unseres Willens und die herrschenden Zweckideen umfaßt und so die Regeln enthÈlt, unter denen unser Handeln, oft ohne daß wir ein Bewußtsein davon haben, steht. So bildet also dieser Zusammenhang, welcher konstant auf die einzelnen Willenshandlungen wirkt, den Hauptgegenstand der psychologischen Analyse des menschlichen Willens. Ich brauche mir den Zusammenhang meiner Berufsaufgaben nicht zum Bewußtsein zu bringen, um nach der gegenwÈrtigen Lage derselben eine Handlung ihm unterzuordnen, und die Intention, welche in diesem Zusammenhang von Aufgaben gelegen ist, wirkt fort, ohne daß ich mir denselben zum Bewußtsein bringe. Und zwar durchkreuzen einander in jedem von den Kulturbeziehungen getragenen Bewußtsein verschiedene ZweckzusammenhÈnge. Sie kÚnnen niemals gleichzeitig im Bewußtsein sein. Jeder von ihnen braucht, um zu wirken, gar nicht im Bewußtsein zu sein. Aber sie sind nicht hinzugedachte fiktive Essenzen. Sie sind psychische Wirklichkeiten. Nur die Lehre vom erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens, welcher wirkt ohne distinkt bewußt zu sein, und der auch die ZusammenhÈnge umfaßt, vermag diesen Tatbestand faßbar zu machen. Dieser Konstanz im Zusammenhang des Wollens steht zur Seite die GleichfÚrmigkeit dieses Zusammenhangs in den Individuen. So entstehen die großen Formen der menschlichen Kultur, in welchen der konstante und gleichfÚrmige Wille sich objektiviert. Und diese bilden nun einen hervorragenden Gegenstand der Analyse, welche auf die Elemente und Verbindungen im Wollen gerichtet ist. Wir studieren Natur, Gesetze und Zusammenhang unserer Willenshandlungen an der Èußeren Organisation der Gesellschaft, an der wirtschaftlichen und rechtlichen Ordnung. Hier haben wir dieselbe Objektivation des Zusammenhangs in unserem praktischen Verhalten

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vor uns, welche in Zahl, Zeit und Raum und den anderen Formen unserer Welterkenntnis fÝr unser Wahrnehmen, Vorstellen und Denken vorliegt. Die einzelne Willenshandlung ist ja selbst im Individuum nur der Ausdruck einer dauernden Willensrichtung, welche das ganze Leben erfÝllen kann, ohne uns bestÈndig gegenwÈrtig zu sein. Denn eben dies bildet auch den Charakter der praktischen Welt, daß dauernde VerhÈltnisse in derselben regieren, welche von Individuum zu Individuum gehen, und welche unabhÈngig von den Willensbewegungen des Momentes sind und der praktischen Welt ihre Festigkeit geben. Auf diese dauernden VerhÈltnisse ist die Analysis auch fÝr dieses Gebiet wie fÝr das der Intelligenz zu richten. Es mag nur noch angedeutet werden, daß dieses beschreibende und analysierende Verfahren auch eine Grundlage fÝr die Auffassung der Einzelformen des Seelenlebens, der Unterschiede der Geschlechter, der Nationalcharaktere, der großen Typen menschlichen Zwecklebens und der IndividualitÈten gewÈhrt.

FÝnftes Kapitel. VerhÈltnis der erklÈrenden und beschreibenden Psychologie Werden diese Darlegungen billig erwogen, was freilich von manchen Parteifanatikern in der Psychologie nicht erwartet werden kann, so wird zunÈchst ein EinverstÈndnis Ýber folgende Punkte herbeigefÝhrt werden kÚnnen. Die Vertreter der erklÈrenden Psychologie werden mit Recht auf dem Satze bestehen, daß die Erprobung und DurchfÝhrung einer Hypothese in einem engeren oder weiteren Gebiet von Erscheinungen die wichtigste Methode psychologischen Fortschreitens ist. Denn an den Stellen, an welchen dem Psychologen die Erfahrung keinen Zusammenhang mehr darbietet, wo sie nicht mehr ihn zusammenzusetzen und abzusondern gestattet, wo sie nicht mehr aus der Mannigfaltigkeit der FÈlle ihn als beherrschende Regel zu gewinnen ermÚglicht: da mÝssen Beobachtung, Vergleichung, Experiment und Analyse vermittelst der Hypothese auf ein bestimmtes Ziel gerichtet werden. Aber sie werden nicht behaupten, daß irgendeine Hypothese gegenwÈrtig anderen Hypothesen gegenÝber beanspruchen kÚnne, die wahren ErklÈrungsgrÝnde des Seelenlebens uns zu enthÝllen. So wird die beschreibende Psychologie ihrerseits darauf bestehen dÝrfen, daß keine vorhandene erklÈrende Psychologie zur Zeit geeignet ist, den Geisteswissenschaften zugrunde gelegt zu werden. Ja sie darf auf die nachteiligen Wirkungen einer solchen erklÈrenden Psychologie auf die Geisteswissenschaften hinweisen. Die Geschichtschreibung

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von Grote, Buckle und Taine entstand unter dem Eindruck, daß die Verwertung der Lebenserfahrung fÝr das tiefere VerstÈndnis des ursÈchlich historischen Zusammenhangs nicht ausreiche: vielmehr schien es diesen Forschern, daß die großen Fortschritte der Psychologie, auf welche zumal in England und Frankreich alle Augen gerichtet waren, auch zur Anwendung auf die Geschichte gelangen mÝßten. Aber gerade diese Werke bewiesen nun, daß die ObjektivitÈt des Historikers besser gewahrt bleibt, wenn er sich seinem GefÝhl des Lebens ÝberlÈßt, als wenn er die einseitigen Theorien des erklÈrenden Psychologen verwerten will. Und zugleich war doch in dem Streben dieser Historiker eine große Tendenz, welche dann auch die außerordentliche Wirkung ihrer Arbeiten zur Folge hatte. GelÈnge es, eine objektive, das ganze Seelenleben umfassende zuverlÈssige Psychologie herbeizufÝhren, so wÝrde eine solche, zusammen mit den Erfahrungswissenschaften von den Systemen der Kultur und von der Organisation der Gesellschaft, dem Streben des philosophischen Geschichtschreibers nach tieferem Kausalzusammenhang der Historie die Grundlage geben. Einen zweiten Fall nachteiliger Wirkung der erklÈrenden Psychologie auf die Geisteswissenschaften bildet die moderne Richtung des Kriminalrechts. Diese schließt sich an die beiden Mill, Spencer und Taine an und konstruiert ein deterministisches, biologisch begrÝndetes Strafrecht. Dasselbe opfert die im Leben selber enthaltenen Begriffe, welche die klassische Jurisprudenz mustergÝltig ausgesondert hat, den einseitigen Theorien, welche das Zeitalter bringt und wieder wegnimmt. In Wahrheit ist doch die Wahlfreiheit nur der vorstellungsmÈßige Ausdruck fÝr das unvertilgbare Bewußtsein unserer SpontaneitÈt und Lebendigkeit. WÈhrend die Art des Erwirkens, welche von PrÈmissen zu einem Schlußsatz, von einem UnlustgefÝhl zu einem Streben fÝhrt, regelmÈßig von dem Innewerden der Notwendigkeit begleitet ist, gibt es andere Formen des Erwirkens, wie die Àberwindung eines Triebes durch eine pflichtmÈßige Willenshandlung, die von dem besonderen inneren GefÝhl begleitet sind, das der Ausdruck Freiheit bezeichnet. Wenn nun das in der inneren Erfahrung so gegebene Bewußtsein freien Erwirkens in meiner Vorstellung auf das VerhÈltnis der letzten, den Kriminalfall oder auch den moralischen Fall ausmachenden Handlung zu ihren Bedingungen bezogen wird, so ist diese Freiheit als AnderskÚnnen in bezug auf eine Handlung nur der vorstellungsmÈßige Ausdruck fÝr die Lebendigkeit und Freiheit im Erwirken, welche sich auf den ganzen Zusammenhang meines Handelns in meinem Charakter bezieht. Dies ist die Wahrheit in Kants, Schellings, Schopenhauers Lehren von der intelligiblen Freiheit. Und wenn in diesem ganzen zusammenhÈngenden VerhÈltnis, welches wir im Erlebnis vom Bewußtsein der Freiheit begleitet finden, die Erzeugung neuer Werte, welche aus den Beziehungen der Motive fÝr

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sich nicht errechnet werden kÚnnen, enthalten ist, so ist das keine Anomalie im Reiche des Geistes, vielmehr liegen hierfÝr in allen schÚpferischen Synthesen Analogien vor. Daher ist das moderne Strafrecht nicht berechtigt, die langweilige, unbewiesene Vorstellung einer psychischen oder psychophysischen Maschine an die Stelle der Lebensbegriffe zu setzen, welche die Jurisprudenz aus dem Bewußtsein von SpontaneitÈt, Lebendigkeit und Verantwortlichkeit in den Willenshandlungen entwickelt hat. •hnliche nachteilige Wirkungen der erklÈrenden Psychologie wÝrden sich auf dem Gebiet der politischen ³konomie, der Literaturgeschichte und •sthetik nachweisen lassen. Also ist eine Psychologie notwendig und mÚglich, welche die beschreibende und analysierende Methode ihrem Gange zugrunde legt und erklÈrende Konstruktionen nur in zweiter Linie mit dem Bewußtsein ihrer Grenzen verwertet, und zwar so verwertet, daß solche Hypothesen nicht wieder Grundlage weiterer hypothetischer ErklÈrungen werden. Sie wird die Grundlage der Geisteswissenschaften werden, wie die Mathematik die der Naturwissenschaften ist. Gerade in dieser gesunden Wechselwirkung mit den Erfahrungswissenschaften des Geistes wird sie sich zur Allseitigkeit gestalten. Sie wird durch feste Begriffsbestimmung und Bezeichnung eine den Geisteswissenschaften gemeinsame wissenschaftliche Terminologie allmÈhlich herbeifÝhren. Sie wird andererseits die erklÈrende Monographie durch Sammlung von Materialien, durch Beschreibung der ZusammenhÈnge des Seelenlebens und durch sorgfÈltige Analysen vorbereiten. Sie wird eine Kontrolle ihrer Hypothesen erleichtern. Àber diese SÈtze wird unter unbefangenen Psychologen eine Àbereinstimmung allmÈhlich erzielt werden kÚnnen. Auch genÝgen dieselben, um der beschreibenden Psychologie ihre Aufgabe im Zusammenhang der Geisteswissenschaften zu bestimmen. So sondere ich dieselben von einem weiter greifenden Satze, welcher wohl nicht in demselben Grade auf Anerkennung rechnen kann. Die erklÈrende Psychologie als System kann nicht nur jetzt, sondern fÝr alle Zeiten eine objektive Erkenntnis des Zusammenhanges der psychischen Erscheinungen nicht herbeifÝhren.450 Sie hat nur einen heuristischen Wert. Wie groß auch die Bedeutung der erklÈrenden Monographie sein mag: das Verfahren, einen Inbegriff hypothetischer ErklÈrungselemente festzustellen und in einer Konstruktion den Inbegriff der erreichbaren psychischen Erscheinungen daraus abzuleiten, fÝhrt zu keiner objektiven Erkenntnis des Seelenlebens. Ich stelle zunÈchst ein Prinzip auf, aus welchem ich diesen Satz ableite. Das Ziel des Studiums psychischer Erscheinungen ist der Zusammenhang derselben. Dieser ist uns durch die innere Erfahrung in den VerhÈltnissen des Erwirkens als ein lebendiger, freier und geschichtlicher gegeben. Dieser Zusammenhang ist nun die allgemeine Voraussetzung, unter welcher fÝr unser Wahrnehmen und Denken, unser Phantasieren und Handeln ein Setzen von Zusam-

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menhang Ýberhaupt allererst mÚglich ist. Der Zusammenhang einer Sinneswahrnehmung stammt nicht aus den EindrÝcken, welche in ihr verbunden sind. Also entsteht er erst aus der lebendigen, einheitlichen TÈtigkeit in uns, welche ja selber Zusammenhang ist.451 Aus demselben lebendigen Zusammenhang bestehen die VorgÈnge unseres Denkens. Das Vergleichen, Verbinden, Trennen, Verschmelzen ist Ýberall von der psychischen Lebendigkeit getragen. In diese elementaren VorgÈnge tritt innerhalb des diskursiven Denkens die Beziehung von Subjekt und PrÈdikat, Ding, Eigenschaft und Wirken, Substanz und KausalitÈt, und auch sie stammt aus der inneren Erfahrung des Selbst und des Erwirkens. Es ist also aller Zusammenhang, den unser Wahrnehmen sieht und unser Denken setzt, der eigenen inneren Lebendigkeit entnommen. Auch wenn wir eine Kausalgleichung aussprechen, ist sie ein Teilinhalt dieses lebendigen Zusammenhangs. Denn dieser enthÈlt auch Beziehungen der Notwendigkeit und solche der Gleichheit in sich. Aber er enthÈlt in jedem Punkte mehr als das. Wir kÚnnen nun nicht einen Zusammenhang machen, außerhalb dieses, der uns gegeben ist. Hinter den in der inneren Erfahrung selbst gegebenen Zusammenhang unseres Seelenlebens kann die Wissenschaft von diesem Seelenleben nicht zurÝckgehen. Das Bewußtsein kann nicht hinter sich selber kommen. Der Zusammenhang, in welchem das Denken selber wirksam ist und von dem es ausgeht und abhÈngt, ist fÝr uns die unaufhebbare Voraussetzung. Das Denken kann nicht hinter seine eigene Wirklichkeit, hinter die Wirklichkeit, in welcher es entsteht, zurÝckgehen. Will es hinter dieser letzten uns gegebenen Wirklichkeit einen rationalen Zusammenhang konstruieren, so kann dieser nur aus den Teilinhalten zusammengesetzt sein, die in diesem Zusammenhang selber vorkommen. Dies ist denn auch in jeder rationalen, erklÈrenden, konstruktiven Psychologie der Fall. Die VerhÈltnisse von Notwendigkeit und Gleichheit, welche im seelischen Zusammenhange auftreten, werden herausgelÚst und zu einem abstrakten Ganzen verbunden. Von dieser Abstraktion fÝhrt aber dann natÝrlich kein berechtigtes Denkmittel zur lebendigen Wirklichkeit des seelischen Zusammenhanges zurÝck. Ohne das Denkmittel des causa aequat effectum gab es fÝr die erklÈrende Psychologie keine sichere Regel des Fortschreitens. Sie mußte also das in der Erfahrung gegebene Leben auf einen hinter ihm liegenden rationalen Zusammenhang begrÝnden, der in dem erfahrenen Leben so nicht gegeben ist. Diese Konstruktion des im Leben Gegebenen durch ein ihm Untergelegtes kann unser Wissen vom lebendigen Zusammenhang nicht ergÈnzen wollen. Derselbe ist nur mÚglich, indem Teilinhalte der lebendigen Erfahrung des Erwirkens am Leitfaden Èußerer Naturerkenntnisse verbunden werden. Diese erklÈrende Psychologie bedient sich sonach der VerkÝrzung der vollen Lebendigkeit und der Einmischung von Voraussetzungen aus dem Naturgebiet. Sie leitet aus

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Teilinhalten des Lebens ab, die in einen rationalen Kausalzusammenhang gebracht werden. Herbart ist hierfÝr das glÈnzende Beispiel. Das GrundaperËu seiner Psychologie verdankte er der pÈdagogischen Erfahrung, welche die fruchtbare Grundlage seines Denkens war. Er lernte von Pestalozzi Vorstellungen als KrÈfte ansehen, welche, einmal erworben, das weitere seelische Leben immerfort beeinflussen werden. Aber das Verfahren, in welchem er dieses AperËu durchfÝhrte, kÚnnte nun ganz derselben Kritik unterworfen werden, welche Trendelenburg so Ýberzeugend an der Hegelschen Logik geÝbt hat. Er verlegt stillschweigend in seine Vorstellungen alle die Lebendigkeit, die er dann abzuleiten unternimmt. Ebenso verfÈhrt die Assoziationspsychologie. In der bloßen Erleichterung der Abfolge als der Wirkung der GewÚhnung liegt nichts davon, daß diese EingewÚhnung einen Zusammenhang, eine innere Verbindung herbeifÝhre; dieses Auftreten von innerem Zusammenhang auf der Grundlage wiederholter VerhÈltnisse in der Zeit ist vielmehr ein aus der Lebendigkeit GeschÚpftes, welches hineingelegt wird in die Assoziation. Und so bleibt es dabei: das Leben wird in jedem rational erklÈrenden System in die Bestandteile der ErklÈrung hineingelegt, weil ja im Nachverstehen einer solchen Theorie diese ganze Lebendigkeit in MittÈtigkeit gerÈt, und nur darum kann es dann abgeleitet werden.452 Das Verfahren der erklÈrenden Psychologie ist aus einer unberechtigten Erweiterung der naturwissenschaftlichen Begriffe Ýber das Gebiet des Seelenlebens und der Geschichte entstanden. Das Naturerkennen wurde eine Wissenschaft, als es im Gebiet der BewegungsvorgÈnge Gleichungen zwischen Ursachen und Effekten herstellte. Dieser Zusammenhang der Natur nach Kausalgleichungen ist durch die in den Èußeren Wahrnehmungen reprÈsentierte objektive Ordnung der Natur unserem lebendigen Denken aufgedrungen worden. Heraklits Regel in den VerÈnderungen, die pythagorÈischen Zahlenbeziehungen in TÚnen und Gestirnbahnen, des Anaxagoras Erhaltung der Masse und Gleichartigkeit des Weltalls, Demokrits Rechnen mit den Bewegungen der Atome unter der Annahme der Fortdauer jeder begonnenen Bewegung – diese ersten Schritte einer allgemeinen Naturlehre zeigen uns den menschlichen Geist probierend, von der Konstanz und GleichfÚrmigkeit in der Natur weiter gefÝhrt. Die Axiome, welche Kant als unseren apriorischen Besitz bezeichnet, sind der Natur, ausgehend von den lebendigen ZusammenhÈngen in uns, abgesehen worden. In dem so entstehenden rationalen Zusammenhang der Erscheinungen ist gerade das Gesetz, die Konstanz, die GleichfÚrmigkeit, das Stehen in Kausalgleichungen der Ausdruck der objektiven VerhÈltnisse in der Èußeren Natur. Dagegen den lebendigen Zusammenhang der Seele haben wir nicht allmÈhlich versuchend gewonnen. Er ist das Leben, das vor allem Erkennen da ist. Lebendigkeit, Geschichtlichkeit, Freiheit, Entwickelung sind

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seine Merkmale. Analysieren wir diesen seelischen Zusammenhang, so treffen wir da nirgend auf ein Dingliches oder Substanziales, wir kÚnnen nirgend aus Elementen zusammensetzen, es gibt da keine isolierten Elemente, diese sind Ýberall untrennbar von den Funktionen. Die Funktionen aber kommen uns in der Regel nicht zum Bewußtsein. Unterschiede, Grade, Sonderungen sehen wir nur da, ohne daß wir ein Bewußtsein von den VorgÈngen hÈtten, durch welche sie festgestellt werden. Das eben hat dem erkenntnistheoretischen Problem des a priori seine Schwierigkeit so erhÚht. Wir kÚnnen nicht in Kausalgleichungen, welche erfahrungsmÈßig begrÝndet wÈren, voranschreiten; der Ursacheninbegriff, den die innere Wahrnehmung wirklich findet, kehrt nicht einfach in dem Effekt wieder. Ein weiterer Beweis dafÝr, daß der Èußere Naturzusammenhang nicht auf das Seelenleben Ýbertragen werden darf, kann hier nur im Prinzip angegeben werden. Die rationale WelterklÈrung fÝhrt nicht nur in ihrer Anwendung auf das Transzendente in WidersprÝche, wie dies Kant unwidersprechlich gezeigt hat, vielmehr entstehen auch innerhalb der gegebenen Wirklichkeit, wenn sie in allen ihren Bestandteilen und ihrem ganzen Zusammenhang als durchsichtig fÝr den Verstand aufgezeigt werden soll, WidersprÝche, Antinomien. Diese sind der erfahrenen Wirklichkeit, sofern der Verstand ihre gÈnzliche logische Durchsichtigkeit zu erweisen strebt, immanent. Dies ist zunÈchst darin gegrÝndet, daß unser Weltbewußtsein so gut wie unser Selbstbewußtsein aus der Lebendigkeit unseres Selbst entsprungen453 ist; diese aber ist mehr als Ratio. Davon sind die Begriffe der Einheit, Selbigkeit, Substanz, KausalitÈt Beweise. Andere Antinomien sind darin gegrÝndet, daß Tatsachen von verschiedener Provinienz nicht aufeinander zurÝckgefÝhrt werden kÚnnen. Hiervon ist das VerhÈltnis der stetigen Raum-, Zeit- und BewegungsgrÚßen zur Zahl der Beweis. Hiermit steht in Zusammenhang, daß das von innen Erlebte nicht unter Begriffe gebracht werden kann, welche an der in den Sinnen gegebenen Außenwelt entwickelt worden sind.

Sechstes Kapitel. MÚglichkeit und Bedingungen der AuflÚsung der Aufgabe einer beschreibenden Psychologie Die AuflÚsung dieser Aufgabe setzt zunÈchst voraus, daß wir innere ZustÈnde wahrnehmen kÚnnen. Der tatsÈchliche Beweis hiervon liegt in der Kenntnis, welche wir von seelischen ZustÈnden zweifellos besitzen. Jeder von uns weiß, was ein LustgefÝhl, ein Willensantrieb oder ein Denkakt sei. Niemand

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ist in Gefahr, diese miteinander zu verwechseln. Da ein solches Wissen besteht, muß es auch mÚglich sein. Wie kÚnnten also die Einwendungen recht behalten, welche gegen diese MÚglichkeiten erhoben worden sind! In der Tat beruhen sie auf einer augenscheinlichen Àbertragung dessen, was von der Èußeren Wahrnehmung gilt, auf die innere Wahrnehmung. Jede Èußere Wahrnehmung beruht auf der Unterscheidung des wahrnehmenden Subjektes von seinem Gegenstande. Dagegen ist die innere Wahrnehmung zunÈchst nichts anderes als eben das innere Bewußtsein eines Zustandes oder Vorganges. Ein Zustand ist fÝr mich da, indem er bewußt ist. Wenn ich mich traurig fÝhle, so ist dies GefÝhl von Traurigkeit nicht mein Objekt, sondern indem dieser Zustand mir bewußt ist, ist er fÝr mich da, fÝr mich, als welchem er eben bewußt ist. Ich werde seiner inne. Diese Wahrnehmungen innerer ZustÈnde werden erinnert. Indem sie in derselben Verbindung mit den Èußeren und inneren Bedingungen, aus denen sie entspringen, oftmals zurÝckkehren, entsteht die Kenntnis, die jeder von uns Ýber seine ZustÈnde, seine Leidenschaften und sein Streben besitzt. Will man nun den Ausdruck „Wahrnehmung“ in dem genaueren und engeren Sinne eines aufmerksamen Gewahrnehmens nehmen: so erhÈlt freilich die MÚglichkeit einer solchen Wahrnehmung engere Grenzen; aber in diesen bleibt doch auch ihre MÚglichkeit erhalten. Nennen wir dieses aufmerksame Wahrnehmen Beobachten, so hat die454 Psychologie sich mit der Lehre auseinander zu setzen, daß die Beobachtung eigener ZustÈnde unmÚglich sei. Gewiß wÈre sie das, wenn sie an die Unterscheidung des beobachtenden Subjektes von seinem Gegenstande gebunden wÈre. Die Beobachtung von Naturobjekten beruht auf dieser Unterscheidung des beobachtenden Subjektes von seinem Gegenstande. Aber ein von diesem ganz verschiedener Vorgang findet statt, wenn innere ZustÈnde in die Beobachtung treten. Denn von dem Innewerden innerer VorgÈnge oder ZustÈnde unterscheidet sich die Beobachtung derselben nur durch die vom Willen geleitete verstÈrkte Erregung der Bewußtheit. Wie Ýberall die Verwechselung der Voraussetzungen des Naturerkennens mit denen der Auffassung geistiger Tatsachen zu vermeiden ist: so mÝssen wir uns hier vor der Àbertragung dessen, was in der Beobachtung Èußerer Objekte stattfindet, auf das aufmerksame Auffassen innerer ZustÈnde hÝten. Ich kann zweifellos auf einen Zahnschmerz, dessen ich inne werde, meine Aufmerksamkeit richten, ihn sonach beobachten. Ebenso fÈllt die absichtliche Auffassung und das innere Festhalten subjektiver Sinneserscheinungen ohne Zweifel in meine Beobachtung. So beobachte ich das Auftreten von fliegenden Punkten in meinem Gesichtsfeld oder die Dauer eines Nachbildes. Auf diesem VermÚgen, innere ZustÈnde zu beobachten, beruht die MÚglichkeit der experimentellen Psychologie. Aber freilich ist diese Beobachtung innerer ZustÈnde

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durch die Bedingungen eingeschrÈnkt, unter welchen sie entsteht. Wie man auch Ýber die Entstehung des Willensaktes denke: jedenfalls ist es empirisch gewiß, daß die Aufmerksamkeit ihre Verwandtschaft mit Willensakten darin erweist, daß sie jeden Zustand von Zerstreuung, von unwillkÝrlichem Spiel der Vorstellungen aufhebt, und daß sie nie in einer andern Richtung wirksam sein kann, als es ein gleichzeitiger Willensakt ist. Daher kÚnnen wir niemals das Spiel unserer Vorstellungen beobachten, wir kÚnnen niemals den Denkakt selbst mit Aufmerksamkeit auffassen. Von solchen VorgÈngen wissen wir nur aus der Erinnerung. Aber diese ist ein viel zuverlÈssigeres Hilfsmittel, als in der Regel angenommen wird, zumal kÚnnen wir den eben unterbrochenen Vorgang in solcher Erinnerung noch erhaschen, wie die letzten FÈden eines abgerissenen Gewebes. An einem anderen Orte werden eingehende ErÚrterungen von hier aus weiter fÝhren, hier genÝgte der Nachweis, worauf die MÚglichkeit unserer Kenntnis von inneren ZustÈnden beruht. In gewissen Grenzen ist die MÚglichkeit der Auffassung innerer ZustÈnde da. Wohl wird auch innerhalb dieser Grenzen dieselbe erschwert durch die innere UnbestÈndigkeit jedes Psychischen. Es ist immer Vorgang. Eine weitere Erschwerung liegt darin, daß die Wahrnehmung sich auf ein einziges Individuum bezieht. Diese Nachteile werden aber mehr als aufgewogen durch den entscheidenden Vorzug, welchen die innere Wahrnehmung vor der Èußeren voraus hat. In diesem Innewerden der eigenen ZustÈnde fassen wir sie ohne Vermittelung Èußerer Sinne in ihrer RealitÈt auf, wie sie sind. Und zugleich greift, um die angegebenen MÈngel zu ersetzen, ein anderes Hilfsmittel ein. Wir ergÈnzen die innere Wahrnehmung durch die Auffassung fremder Personen. Wir fassen das Innere derselben auf. Dies geschieht durch einen geistigen Vorgang, welcher einem Schlusse der Analogie Èquivalent ist. Die MÈngel dieses Vorgangs sind dadurch bedingt, daß wir nur durch Àbertragung unseres eigenen Seelenlebens ihn vollziehen. Dasjenige an einem fremden Seelenleben, was von diesem eigenen Inneren nicht bloß quantitativ abweicht oder durch Abwesenheit von etwas, das im eigenen Inneren vorhanden ist, sich unterscheidet, kann von uns schlechterdings nicht positiv ergÈnzt werden. Wir kÚnnen in solchem Fall sagen, daß ein uns Fremdes hinzutritt, wir sind aber nicht imstande zu sagen, was dieses sei. Es spricht sehr fÝr die große innere Verwandtschaft alles455 menschlichen Seelenlebens unter sich, daß ein VerstÈndnis fremden menschlichen Seelenlebens dem Forscher, welcher gewohnt ist, um sich zu blicken und die Welt kennt, durchweg mÚglich ist. Dagegen macht sich in bezug auf die Erkenntnis des tierischen Seelenlebens diese Erkenntnisgrenze hÚchst unangenehm geltend. Unser VerstÈndnis der Wirbeltiere, welche dieselbe organische Grundstruktur besitzen, ist natÝrlich das verhÈltnis-

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mÈßig beste, welches wir vom tierischen Leben besitzen; zumal fÝr das Studium der Triebe und AffektzustÈnde erweist es sich der Psychologie sehr nÝtzlich; aber wenn neben den Wirbeltieren die Arthropoden die wichtigste, umfangreichste und intellektuell am meisten hochstehende Tierklasse ausmachen, zumal unter ihnen die Hymenopteren, unter welchen Ameisen und Bienen sich finden, so erschwert uns schon die von der unsrigen außerordentlich verschiedene Organisation derselben die Deutung ihrer physischen LebensÈußerungen ungemein; sicher entspricht aber auch dieser ein fÝr uns hÚchst fremdartiges Innenleben. Hier gehen uns also alle Mittel ab, in ein großes seelisches Reich einzudringen, das ist fÝr uns eine ganz fremde Welt; unsere Hilfslosigkeit ihr gegenÝber spricht sich darin aus, daß wir unter den dunkelsten aller Begriffe, den des Instinktes, die erstaunlich seelischen Leistungen der Bienen und Ameisen bringen. Endlich haben wir auch kein Hilfsmittel, festzustellen, wo seelisches Leben endige und organisierte Materie ohne ein solches bestehe. Die Psychologie ist aber darauf angewiesen, die MÈngel der einzelnen Hilfsmittel gegeneinander zu kompensieren. So verbindet sie Wahrnehmung und Beobachtung unserer selbst, Auffassung anderer Personen, vergleichendes Verfahren, Experiment, Studium der anomalen Erscheinungen. Durch viele Tore sucht sie den Eingang in das Seelenleben. Eine sehr wichtige ErgÈnzung aller dieser Methoden, sofern sie mit VorgÈngen sich beschÈftigen, ist die Benutzung der gegenstÈndlichen Produkte des psychischen Lebens. In der Sprache, dem Mythos, der Literatur und Kunst, Ýberhaupt in allen geschichtlichen Leistungen haben wir gleichsam gegenstÈndlich gewordenes, psychisches Leben vor uns: Produkte der wirkenden KrÈfte, welche psychischer Natur sind: feste Gestalten, welche sich aus psychischen Bestandteilen und nach deren Gesetzen aufbauten. Wenn wir die VorgÈnge in uns oder anderen betrachten, so zeigen sie eine bestÈndige VerÈnderlichkeit, etwa wie Raumgebilde, deren Umrisse sich bestÈndig Èndern wÝrden; daher ist es unschÈtzbar, dauernde Gebilde mit festen Linien vor sich zu haben, zu denen die Beobachtung und die Analysis immer wieder zurÝckkehren kann. Ob die Aufgabe einer beschreibenden Psychologie mit diesen Hilfsmitteln aufgelÚst werden kann, darÝber entscheidet der Versuch, einen umfassenden und gleichfÚrmigen Zusammenhang des ganzen menschlichen Seelenlebens zu erkennen. Viele einzelne ZusammenhÈnge hat die psychische Analyse ganz sicher hergestellt. Wir kÚnnen sehr wohl den VorgÈngen nachgehen, welche von einer Èußeren Einwirkung bis zur Entstehung eines Wahrnehmungsbildes fÝhren; wir kÚnnen die Umformung desselben in eine erinnerte Vorstellung verfolgen; wir kÚnnen die Bildung von Phantasievorstellungen und Begriffen beschreiben. Ebenso wieder Motive, Wahl, zweckmÈßige Handlung. Aber alle diese einzelnen ZusammenhÈnge sind einem allgemeinen Zusammenhang des

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Seelenlebens einzuordnen. Und darum handelt es sich nun, ob wir den Weg zu diesem uns bahnen kÚnnen.

Siebentes Kapitel. Die Struktur des Seelenlebens Das Selbst findet sich in einem Wechsel von ZustÈnden, welche durch das Bewußtsein der Selbigkeit der Person als einheitlich erkannt werden; zugleich findet es sich bedingt von einer Außenwelt und zurÝckwirkend auf dieselbe, welche es dann doch in seinem Bewußtsein befaßt und von den Akten seiner sinnlichen Wahrnehmung bestimmt weiß. Indem so die Lebenseinheit sich von dem Milieu, in welchem sie lebt, bedingt und wiederum rÝckwirkend auf dasselbe findet, entsteht hieraus eine Gliederung ihrer inneren ZustÈnde. Ich bezeichne dieselbe als die Struktur des Seelenlebens. Und indem die beschreibende Psychologie diese Struktur erfaßt, erschließt sich ihr der Zusammenhang, welcher die psychischen Reihen zu einem Ganzen verknÝpft. Dieses Ganze ist das Leben. Jeder psychische Zustand ist zu einer gegebenen Zeit in mir aufgetreten und wird in einer gegebenen Zeit wieder verschwinden. Er hat einen Verlauf: Anfang, Mitte und Ende. Er ist ein Vorgang. Mitten im Wechsel dieser VorgÈnge ist nur das permanent, was die Form unseres bewußten Lebens selber ausmacht: das KorrelatverhÈltnis des Selbst und der gegenstÈndlichen Welt. Die Selbigkeit, in welcher die VorgÈnge in mir verbunden sind, ist nicht selbst ein Vorgang, sie ist nicht vorÝbergehend, sondern permanent, wie mein Leben selbst, mit allen VorgÈngen verbunden. Ebenso ist diese eine gegenstÈndliche Welt, welche fÝr alle da ist, vor mir war und nach mir sein wird, als Begrenzung Korrelat, GegensÈtzlichkeit dieses Selbst mit jedem bewußten Zustande zugleich da. Auch das Bewußtsein von ihr ist sonach kein Vorgang, kein Aggregat von VorgÈngen. Alles andere aber in mir außer diesem KorrelatverhÈltnis von Welt und Selbst ist Vorgang. Diese VorgÈnge folgen einander in der Zeit. Nicht selten kann ich aber auch einer inneren Verbindung derselben inne werden. Ich finde, daß die einen die anderen erwirken. So erwirkt ein GefÝhl des Abscheus die Neigung und das Streben der Entfernung seines Gegenstandes aus meinem Bewußtsein. So erwirken die PrÈmissen den Schlußsatz. In beiden FÈllen werde ich dieses Erwirkens inne. Nun folgen einander diese VorgÈnge, aber nicht wie Wagen hintereinander, jeder von dem anderen getrennt, wie Reihen eines Regiments von Soldaten, immer ein Zwischenraum zwischen ihnen. Dann wÝrde mein

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Bewußtsein intermittierend sein: denn ein Bewußtsein ohne einen Vorgang, an welchem es ist, ist ein Ungedanke. Ich finde vielmehr innerhalb meines wachen Lebens eine KontinuitÈt. Die VorgÈnge sind so neben- und ineinander geschoben, daß immer irgend etwas in meinem Bewußtsein gegenwÈrtig ist. Wie hinter einem Wanderer, der rÝstig vorwÈrts schreitet, GegenstÈnde, die eben noch vor und neben ihm waren, rÝckwÈrts verschwinden, andere aber auftauchen, wÈhrend die KontinuitÈt des landschaftlichen Bildes immer erhalten bleibt. Ich will nun das, was den Umfang meines Bewußtseins in einem gegebenen Momente ausmacht, als Bewußtseinstand, status conscientiae, bezeichnen. Ich mache gleichsam einen Querschnitt, um die Schichtung eines solchen erfÝllten Lebensmomentes zu erkennen. Indem ich diese momentanen Bewußtseinslagen miteinander vergleiche, gelange ich zu dem Ergebnis, daß beinahe jeder solcher momentane Bewußtseinsstand nachweisbar zugleich irgendein Vorstellen, ein GefÝhl und eine Willenslage enthÈlt. ZunÈchst ist in jedem Bewußtseinszustande ein Vorstellungsbestandteil enthalten. Die Einsicht in die Wahrheit dieses Satzes ist davon abhÈngig, daß man unter einem solchen Vorstellungsbestandteil nicht nur ganze in der Wahrnehmung auftretende oder von ihr zurÝckgebliebene Bilder, sondern auch jeden Vorstellungsinhalt, wie er als Teil eines seelischen Gesamtzustandes auftritt, versteht. Ein physischer Schmerz, wie das Brennen einer Wunde, enthÈlt außer dem starken UnlustgefÝhl eine Organempfindung in sich, welche qualitativer Natur ist, ganz wie eine Geschmacks- oder eine Gesichtsempfindung; außerdem schließt er eine Lokalisation ein. Ebenso enthÈlt jeder Vorgang von Trieb, Aufmerksamkeit oder Volition einen solchen Vorstellungsinhalt in sich. Wie dunkel dieser auch sein mag, so bestimmt er doch erst die Richtung des Willensvorgangs. Die Einsicht in die Gegenwart von GefÝhlserregung in jedem bewußten Lebenszustand ist ebenfalls davon abhÈngig, daß man diese Seite des Seelenlebens in ihrer ganzen Breite auffaßt. GehÚren doch in dieselbe ebensogut als Lust und Unlust auch Billigen und Mißbilligen, Gefallen und Mißfallen sowie das ganze Spiel der leisen GefÝhlsbetonungen. In jedem Triebe sind dunkle GefÝhle unwiderstehlich wirksam. Die Aufmerksamkeit wird von dem Interesse geleitet, dieses aber ist der GefÝhlsanteil, welcher aus der Lage unseres Selbst und seinen VerhÈltnissen zum Gegenstande entspringt.456 In der Volition ist das dem Willen vorschwebende Bild457 von Lust begleitet; dazu ist vielfach in ihr Unlust Ýber den gegenwÈrtigen Zustand enthalten; Ýberall sind GefÝhle ihre Motoren. Die Gegenwart der GefÝhlserregung in unserem vorstellenden und denkenden Verhalten ist schwerer festzustellen; aber sorgfÈltige Beobachtungen vermag auch diese durchweg nachzuweisen. Zwar

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kann ich mich von458 der verbreiteten Lehre nicht Ýberzeugen, daß jede Empfindung als solche mit einem GefÝhlston verbunden sei. So oft aber eine einfache Empfindung in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit eintritt, geht auch von ihr eine leise GefÝhlsfÈrbung des Seelenzustandes aus. Da die Gesichtsempfindungen die schwÈchste GefÝhlsbetonung haben, kann dieser Satz als bewiesen gelten, wenn er in bezug auf sie demonstriert werden kann. Dies ergibt sich aber schon aus einem von Goethe zuerst angestellten Versuch. Man betrachte eine Landschaft durch GlÈser von verschiedener FÈrbung; alsdann verbreitet sich Ýber dieselbe, wenn auch gering merklich, eine ganz verschiedene Stimmung, welche aus einer verschiedenen Wirkung der Farben auf unser GefÝhl hervorgeht. Viel deutlicher noch ist die Wirkung der HÚhe und der Klangfarbe von TÚnen auf unser GefÝhlsleben. So etwa die Wirkung einer Trompete oder FlÚte. Geht man von diesen Sinnen, welche die TrÈger der Èsthetischen Wirkungen und der Erkenntnis sind, zu den tieferstehenden Ýber, welche zur Selbsterhaltung in nÈherem VerhÈltnis stehen, so ist hier Ýberall der GefÝhlsanteil wÈrmer, ja oftmals heftig. Àbrigens widerlegen diese Tatsachen die Lehre Herbarts, nach welcher die GefÝhle aus den VerhÈltnissen der Vorstellungen hervorgehen. Indem nun Empfindungen zueinander in VerhÈltnis treten, entstehen hieraus neue GefÝhle, wie dies die Lust an der Konsonanz und das Mißbehagen Ýber die Dissonanz beweisen. Ebenso ist der Denkvorgang schon als eine TÈtigkeit der Aufmerksamkeit von GefÝhlsanteil als Interesse begleitet. Dazu treten dann die GefÝhlserregungen des Gelingens und der Stockung. Die EindrÝcke des Witzes, des Scharfsinns, der Ýberraschenden Kombination, ganz davon abgesehen, daß auch die Evidenz und das Bewußtsein des Widerspruches wie der Unrichtigkeit vielfach als ein GefÝhl aufgefaßt werden. Ich mÚchte sagen, daß diese inneren ZustÈnde nicht selber GefÝhle seien, daß aber unausbleiblich an die Evidenz Befriedigung und an den Widerspruch ein der Disharmonie Èhnliches MißgefÝhl sich anschließe. So ist ja auch die Konsonanz als ein Zustand teilweiser Verschmelzung, etwa eines Grundtones und einer Oktave, zunÈchst ein Vorstellungszustand, und erst sekundÈr tritt dann das GefÝhl hinzu.459 Fassen wir endlich die Anwesenheit von WillenstÈtigkeit in den psychischen VorgÈngen ins Auge, so bleibt hier der Nachweis am weitesten hinter den Anforderungen zurÝck. Jedes GefÝhl hat die Tendenz, in Verlangen oder Abwendung Ýberzugehen. Jeder Wahrnehmungszustand, welcher in der Mitte meines Seelenlebens steht, ist von TÈtigkeiten der Aufmerksamkeit begleitet: durch diese vereinige und apperzipiere ich die EindrÝcke: die Farbenkleckse auf einem Bilde werden so zum Gegenstande. Jeder Denkvorgang in mir ist von einer Intention und Richtung der Aufmerksamkeit geleitet. Aber auch in Assoziationen, die in mir scheinbar willenlos ablaufen, bestimmt das Interesse die

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Richtung, in welcher die Verbindungen vollzogen werden. Dies deutet doch auf einen Willensbestand, welcher ihre Unterlage bildet. Indes kommt man hier in Grenzgebiete dunkler Art; das Willentliche in den dauernden Richtungen des Geistes, das SelbsttÈtige als Bedingung dafÝr, daß ich Druck oder Einwirkung erfahre. Da jedes hypothetische Element aus diesen Beschreibungen ausgeschlossen bleiben muß, ist zuzugestehen, daß die Gegenwart von WillenstÈtigkeiten in den psychischen VorgÈngen am wenigsten durchgÈngig erwiesen werden kann. Wir bezeichnen nun aber auch GesamtzustÈnde als GefÝhl oder als Willensvorgang oder als vorstellendes Verhalten. Dies beruht zunÈchst darauf, daß wir diesen Gesamtzustand jedesmal nach der vorwiegend in die innere Wahrnehmung fallenden Seite desselben bezeichnen. In der Wahrnehmung einer schÚnen Landschaft herrscht das vorstellende Verhalten; erst bei genauerer PrÝfung finde ich einen Aufmerksamkeitszustand, also ein willentliches Verhalten damit verbunden und von einem tiefen GefÝhl des GlÝcks das Ganze durchdrungen. Aber dies ist es nicht allein, was die Natur eines solchen Gesamtzustandes ausmacht und darÝber entscheidet, ob wir ihn als GefÝhl oder wollendes oder vorstellendes Verhalten bezeichnen. Nicht nur um das quantitative VerhÈltnis der verschiedenen Seiten eines Gesamtzustandes handelt es sich. Die innere Beziehung dieser verschiedenen Seiten meines Verhaltens , gleichsam die Struktur, in welcher diese Fasern miteinander verknÝpft sind, ist in dem GefÝhlszustande eine andere als in dem Willenszustand, in diesem wieder eine andere als in dem vorstellenden Verhalten. So stehen in jedem vorstellenden Verhalten die TÈtigkeiten der Aufmerksamkeit und die mit ihnen verbundenen Bewußtseinserregungen ganz im Dienste der Ausbildung der Vorstellung; die willentlichen Regungen sind in diese BildungsvorgÈnge vorstellender Natur ganz eingetreten: sie gehen in ihnen auf. Daher entsteht der Schein eines bloß vorstellenden, willensfreien Verhaltens. Dagegen zeigt der Willensvorgang ein ganz anderes VerhÈltnis zwischen dem Vorstellungsinhalt und der Volition, in ihm handelt es sich um ein VerhÈltnis sui generis zwischen Intention, Bild und kÝnftiger RealitÈt. Das Objektbild ist hier gleichsam das Auge des Begehrens, welches auf RealitÈt gerichtet ist. Wir gehen weiter. Innerhalb der vorstellenden ZustÈnde kÚnnen wir ohne Hypothese zwischen den Wahrnehmungen, erinnerten Vorstellungen und sprachlichen Denkprozessen eine Reihe herstellen, deren Glieder innerlich zusammenhÈngen. Wir kÚnnen ebenso ohne Hypothesen den Zusammenhang beschreiben, in welchem Motive gegeneinander abgewogen werden, eine Wahl hervortritt und nun vom Willensentschluß aus zweckmÈßig ineinander greifende BewegungsvorgÈnge ausgelÚst werden. Dort die fortschreitende Ausbildung der Intelligenz, welche durch die durchgreifende Macht allgemeiner Ein-

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sichten herbeigefÝhrt wird, hier die fortschreitende Idealisierung der WillenstÈtigkeiten, welche durch die EingewÚhnung innerer VorgÈnge und Èußerer Bewegungen herbeigefÝhrt wird, und nun immer mehrere Verbindungen innerer TÈtigkeiten und Èußerer Bewegungen dem Willen zur VerfÝgung stellt. Dieser stellt gleichsam immer neue Sklaven in den Dienst seiner Zwecke. Darum aber handelt es sich nun, die Verbindung zwischen diesen beiden Reihen herzustellen. Die eine verlÈuft vom Èußeren Reiz bis zum abstrakten Denkvorgang oder dem inneren kÝnstlerischen Bilden, dann geht die andere von den Motiven bis zum Bewegungsvorgang.460 In dem Zusammenhang des Lebens sind sie beide verbunden, von diesem aus wird ihr Lebenswert erst ganz verstÈndlich: Ihn also gilt es nun zu erfassen. Eine Aufgabe von außerordentlicher Schwierigkeit. Denn eben das, was zwischen diesen beiden Gliedern die Verbindung herstellt und ihren Lebenswert erst aufschließt, bildet den dunkelsten Teil der ganzen Psychologie. Ohne Klarheit Ýber diesen Kern unseres Selbst treten wir in das handelnde Leben ein. Das Leben selbst lÈßt uns erst allmÈhlich einigermaßen erraten, von welchen KrÈften es unaufhaltsam vorwÈrts getrieben wird. Durch alle Formen des tierischen Daseins geht ein VerhÈltnis zwischen Reiz und Bewegung. In diesem vollzieht sich die Anpassung der tierischen Lebenseinheit an ihre Umgebung. Ich sehe eine Eidechse die sonnenbeschienene Mauer entlang gleiten und nun an der am stÈrksten bestrahlten Stelle die Gliederchen strecken; ein Laut von mir: und sie ist verschwunden. Durch die EindrÝcke von Licht und WÈrme wurde dies Spiel in ihr angeregt. Durch die Wahrnehmung, welche eine Gefahr anzeigt, wird es unterbrochen. Mit außerordentlicher Geschwindigkeit reagiert hier auf die Wahrnehmung der Schutztrieb des waffenlosen GeschÚpfs durch zweckmÈßige, von einem Reflexmechanismus unterstÝtzte Bewegungen. Eindruck, Reaktion und Reflexmechanismus sind also zweckmÈßig verbunden. Ich versuche nun, die Natur dieser Verbindung aufzuklÈren. Man kÚnnte sich Organismen denken, welche auf kÝrzestem Wege ihre Anpassung an die umgebende Wirklichkeit vollzÚgen. Sie brÈchten eine ausreichende Kenntnis des ihnen NÝtzlichen, d. h. ihrer Erhaltung FÚrdernden mit auf die Welt. Sie vermehrten sie nach ihrem BedÝrfnis, und von diesen Einsichten aus vollzÚgen sie die entsprechenden Bewegungen, um ihre Anpassung mit der Umgebung herbeizufÝhren. Solche Wesen mÝßten von der Muttermilch ab das NÝtzliche und SchÈdliche in den Nahrungsmitteln unterscheiden. Von ihrem ersten Atemzuge an mÝßten sie den Wert der Luftbeschaffenheit fÝr den Atmungsvorgang richtig beurteilen und benutzen. Sie bedÝrften einer Kenntnis der Temperaturgrade, welche auf ihre Lebensprozesse fÚrderlich wirkten. Sie bedÝrften der Kenntnis derjenigen VerhÈltnisse zu ihresgleichen, die ihnen am

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meisten gÝnstig wÈren. Offenbar mÝßten Wesen solcher Art mit einer kleinen Allwissenheit ausgestattet sein. Die Natur aber hat diese Aufgabe mit einem viel geringeren Aufwand von Mitteln gelÚst. Sie hat das lebendige Individuum seiner Umgebung indirekt mit viel grÚßerer Sparsamkeit in bezug auf Leistungen angepaßt. Die Kenntnis von dem Nutzen oder Schaden der Èußeren Dinge, von dem, was das Wohlbefinden des lebenden KÚrpers vermehrt oder vermindert, ist in der ganzen tierischen und in der menschlichen Welt gleichmÈßig durch die GefÝhle von Freude und Schmerz reprÈsentiert. Unsere Wahrnehmungen bilden ein Zeichensystem fÝr die uns unbekannten Eigenschaften der Außenwelt:461 so sind auch unsere GefÝhle Zeichen. Auch sie bilden ein Zeichensystem, nÈmlich fÝr Art und Abstufung des Lebenswertes von ZustÈnden eines Selbst und von Bedingungen, welche auf dieses Selbst einwirken.462 Das VerhÈltnis, welches hier vorliegt, stellt sich am einfachsten an den physischen Schmerzen und Freuden der lebendigen Wesen dar. Diese sind innere Zeichen fÝr die ZustÈnde derjenigen Gewebe, welche durch sensible Nerven mit dem Gehirn in Verbindung stehen. Sowohl ungenÝgende ErnÈhrung als ÝbermÈßige TÈtigkeit, dann zerstÚrende Einwirkungen von außen haben chronische oder akute Schmerzen zur Folge. Angenehme KÚrpergefÝhle dagegen entstehen aus dem normalen Funktionieren der Organe im lebenden KÚrper, und sie sind um so stÈrker, je grÚßer die Zahl der beteiligten Nervenfasern und je seltener ihre Reizung ist. Hieraus ergibt sich auch, daß die physische Lust erheblich an IntensitÈt hinter dem stÈrksten physischen Schmerz zurÝckbleibt. Denn die normale TÈtigkeit kann nicht so hoch Ýber den Durchschnitt erhoben werden, als der Eingriff und die ZerstÚrung unter die Norm bis an die Grenze sinken kann, an welcher Leben und Empfindung enden. Soweit also wird Schopenhauers pessimistische Lehre von dem Àberwiegen des Schmerzes im organischen Leben durch die Tatsachen bestÈtigt. Jedoch sind die kÚrperlichen GefÝhle eine Zeichensprache von einer etwas groben und unvollkommenen Art; vor allem belehren sie nur Ýber die augenblicklichen Wirkungen eines Reizes auf ein Gewebe, nie aber Ýber die spÈteren Folgen. Die unmittelbare Wirkung einer Speise auf die Geschmacksorgane ist darum nicht weniger angenehm, weil diese spÈter in anderen Teilen des KÚrpers nachteilige Wirkungen und demgemÈß, in den zugehÚrigen Teilen des Nervensystems als Zeichen derselben, Gichtschmerzen hervorrufen wird. Diese ZweckmÈßigkeit der kÚrperlichen GefÝhle setzt sich zunÈchst insofern in dem Gebiet der geistigen GefÝhle fort, als an die Voraussicht oder unbestimmte Erwartung kÚrperlicher Schmerzen ein geistiges WehegefÝhl und an die des kÚrperlich Angenehmen eine geistige Lust gebunden ist. Dann zeigen aber eine ZweckmÈßigkeit von noch mehr durchgreifender Art

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die gewaltigen Triebe, welche die tierische, die menschlich gesellschaftliche und die menschlich geschichtliche Welt durchherrschen. Unter diesen bilden wieder die mÈchtigste Klasse die drei großen physischen Triebe, welche auf Reflexmechanismen beruhen.463 Man kann sagen, daß die gewaltigsten KrÈfte der moralischen Welt Hunger, Liebe und Krieg sind; in ihnen wirken eben die stÈrksten Triebe: der Nahrungstrieb, die Geschlechtsliebe und Sorge fÝr die Nachkommenschaft und die Schutztriebe. So hat die Natur fÝr die Erhaltung des Individuums und der Art die stÈrksten Mittel aufgewandt. Die Reflexmechanismen des Atmungsvorganges, der Herzbewegung und des Blutkreislaufs arbeiten automatisch, ohne Zutun des Willens; dagegen die Nahrungsaufnahme, welche Auswahl und Besitzergreifung fordert, vollzieht sich durch einen bewußten Trieb, welcher von den typischen GefÝhlen des Hungers, des Nahrungsgenusses und der SÈttigung begleitet und der Auswahl fÈhig ist. Die Natur hat hier eine bittere Strafe auf die schÈdliche Nahrungsenthaltung in einem heftigen UnlustgefÝhl gesetzt. Sie setzte eine PrÈmie auf die richtige Nahrungsaufnahme in LustgefÝhlen.464 So hat sie Tiere und Menschen gezwungen, auch unter den schwierigsten UmstÈnden nÝtzliche Nahrung zu wÈhlen und Besitz von ihr zu ergreifen.465 Nicht weniger stÝrmisch als der Nahrungstrieb wirken Geschlechtsliebe und Sorge fÝr die Nachkommenschaft. Dient jener der Erhaltung des Individuums, so steht diese im Dienst der Erhaltung der Gattung; auch hier stehen Trieb, Verlangen, Lust in einem ZweckverhÈltnis zu dem Ziel der Natur.466 Ebenso elementar und mÈchtig ist dann der dritte Triebkreis: die mit Reflexmechanismen verbundenen Schutztriebe. Sie haben eine doppelte Form. Entweder antworten sie auf den schÈdlichen Eingriff mit Abwehrbewegungen oder sie reagieren durch eine Fluchtbewegung, welche das Tier sichert. Die sonderbarsten Reflexmechanismen sind mit diesen Trieben in der Tierwelt verbunden. Man sieht Tiere widrige FlÝssigkeit ausspritzen; andere ringeln sich wie tot zusammen; oder sie erschrecken ihre Feinde durch auffÈllige VerÈnderungen ihrer KÚrperform. Darin beruht nun aber zunÈchst die moralische Erziehung der Menschheit, daß in ihren sozialen Ordnungen diese allbezwingenden Triebe reguliert werden. Sie leisten regelmÈßige Arbeit, sie erhalten ordnungsmÈßige Befriedigung; so entsteht Raum fÝr die BetÈtigung der geistigen Triebe und Strebungen, welche nun innerhalb der Gesellschaft zu einer außerordentlichen StÈrke heranwachsen. In der Natur des Willens selber sind der Trieb, Eigentum zu erwerben und Herrschaft zu Ýben, gegrÝndet.467 Denn der Wille wirkt sich nur frei in einer SphÈre seiner Herrschaft aus. Diese Triebe und die aus ihnen hervorgehenden VerhÈltnisse werden daher auch, allen TrÈumereien zum Trotz, nur mit der Menschheit selber schwinden. Sie werden eingeschrÈnkt von den geselligen GefÝhlen, dem BedÝrfnis nach Gemeinschaft, der Freude an der

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SchÈtzung anderer, der Sympathie, der Lust an der TÈtigkeit und an der Konsequenz. In diesem ganzen weiten Umkreis geistiger Triebe, Strebungen und GefÝhle stehen Freude und Schmerz Ýberall in einem ZweckverhÈltnis, zum Nutzen des Individuums und der Gesellschaft.468 Ich habe somit erwiesen, daß die Struktur des Seelenlebens, welche Reiz und reagierende Bewegung miteinander verkettet, ihr Zentrum in dem BÝndel von Trieben und GefÝhlen hat, von welchen aus der Lebenswert der VerÈnderungen in unserem Milieu abgemessen und die RÝckwirkungen auf dasselbe eingeleitet werden. Es hat sich weiter ergeben, daß jeder Begriff von ZweckmÈßigkeit und von Teleologie nur das in diesem Lebenszusammenhange Enthaltene und Erfahrene ausdrÝckt. ZweckmÈßigkeit ist gar kein objektiver Naturbegriff, sondern bezeichnet nur die in Trieb, Lust und Schmerz erfahrene Art des Lebenszusammenhanges in einem tierischen oder menschlichen Wesen. Von innen gesehen, sucht die biologische Lebenseinheit die Bedingungen ihres Milieus zu benutzen, um LustgefÝhl und Triebbefriedigung herbeizufÝhren. Von außen angesehen, ist dieselbe mit ihren Trieben und GefÝhlen auf die Erhaltung ihrer selbst und ihrer Gattung angelegt. Die Verbindung der so verschiedenen VorgÈnge des Vorstellens, FÝhlens und Wollens zu einem solchen Zusammenhang macht die Struktur des Seelenlebens aus. Und zwar wird diese Verbindung so ungleichartiger VorgÈnge zu einer Einheit nicht durch SchlÝsse festgestellt, sondern sie ist die lebendigste Erfahrung, derer wir Ýberhaupt fÈhig sind. Alle anderen inneren Erfahrungen sind in ihr eingeschlossen. ZweckmÈßigkeit ist die erlebte Grundeigenschaft dieses Zusammenhangs, nach welcher er in Befriedigung und Freude Lebenswerte hervorbringt.469 Dieser Zusammenhang unseres Seelenlebens, welcher in der inneren Erfahrung gegeben ist, kann nur erlÈutert und bestÈtigt werden durch einen Àberblick Ýber seine Anwesenheit und seine Funktion im ganzen animalischen Reiche. Das ganze System der tierischen und menschlichen Welt stellt sich als die Entfaltung dieser einfachen Grundstruktur des Seelenlebens in zunehmender Differenzierung, VerselbstÈndigung der einzelnen Funktionen und Teile sowie hÚherer Verbindung derselben untereinander dar. Dies kann bei der Schwierigkeit, das Seelenleben der Tiere zu deuten, am einfachsten an ihrem Nervensystem gleichsam abgelesen werden. Das ProtoplasmaklÝmpchen, das weder Nerven noch Muskeln besitzt, reagiert doch schon auf den Reiz. Bringe ich mit einer AmÚbe ein KÚrnchen in BerÝhrung, so strecken sich Teile aus, umfassen das KÚrnchen und ziehen sich wieder zur Hauptmasse zurÝck. In der Hydra sind dieselben Zellen zugleich TrÈger der sensiblen und der motorischen Leistungen. In den schÚnen Medusen, die scharenweise im Meerwasser schwimmen, ist dann das Organ der Empfindung schon von dem der Bewe-

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gung gesondert. So schreitet die Entwickelung in der Tierwelt zu zwei HÚhepunkten empor: den einen bilden die Arthropoden, welche vier FÝnftel aller Tierarten ausmachen und aus deren Formenmannigfaltigkeit sich Bienen und Ameisen als hochentwickelte GeschÚpfe erheben. Den anderen bilden die Wirbeltiere, deren kÚrperliche Organisation wir selber teilen. Hier ist nun ein hochentwickeltes Nervensystem, in welchem die Zentralteile zwischen den sensiblen und motorischen Nerven die Verbindung in einer sehr vollkommenen Weise herbeifÝhren, der TrÈger einer hochentwickelten seelischen Struktur. Versuchen wir nun, die allgemeinsten Eigenschaften dieser inneren Struktur des Seelenlebens zusammenfassend auszusprechen. Der psychische Lebensprozeß ist ursprÝnglich und Ýberall von seinen elementarsten bis zu seinen hÚchsten Formen eine Einheit. Das Seelenleben wÈchst nicht aus Teilen zusammen; es bildet sich nicht aus Elementen; es ist nicht ein Kompositum, nicht ein Ergebnis zusammenwirkender Empfindungsatome oder GefÝhlsatome: es ist ursprÝnglich und immer eine Ýbergreifende Einheit. Aus dieser Einheit haben sich seelische Funktionen differenziert, verbleiben aber dabei an ihren Zusammenhang gebunden. Diese Tatsache, deren Ausdruck auf der hÚchsten Stufe die Einheit des Bewußtseins und die Einheit der Person470 ist, unterscheidet das Seelenleben total von der ganzen kÚrperlichen Welt. Die Erfahrung dieses Lebenszusammenhangs schließt schlechterdings die neuere Lehre aus, nach welcher die psychischen VorgÈnge einzelne unverbundene ReprÈsentationen eines physischen Zusammenhanges von VorgÈngen wÈren. Jede Lehre, welche diese Richtung verfolgt, setzt sich zugunsten einer Hypothesenverbindung mit den Erfahrungen in Widerspruch. Dieser innere psychische Zusammenhang ist bedingt durch die Lage der Lebenseinheit innerhalb eines Milieus. Die Lebenseinheit steht mit der Èußeren Welt in Wechselwirkung; die besondere Art dieser Wechselwirkung kann mit einem sehr allgemeinen Ausdruck, der hier nur eine Tatsache beschreiben will, welche in letzter Instanz nur am Menschen unserer Erfahrung sich wirklich aufschließt und nachher an ihm beschrieben werden wird, als Anpassung zwischen der psychophysischen Lebenseinheit und den UmstÈnden, unter welchen sie lebt, aufgefaßt werden. In ihr vollzieht sich die Verbindung der Reihe sensorischer VorgÈnge mit der Reihe der motorischen. Auch das menschliche Leben in seinen hÚchsten Formen steht unter diesem großen Gesetz der ganzen organischen Natur. Von dem uns umgebenden Wirklichen werden Empfindungen hervorgerufen. Diese reprÈsentieren uns die Beschaffenheiten der Mannigfaltigkeit von Ursachen außer uns. So finden wir uns bestÈndig von Èußeren Ursachen kÚrperlich und seelisch bedingt; den Wert der Wirkungen

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von außen fÝr unseren Organismus und unser Triebsystem drÝcken die GefÝhle aus. Von ihnen bedingt, vollziehen nun Interesse und Aufmerksamkeit eine Selektion der EindrÝcke. Sie wenden sich bestimmten EindrÝcken zu. Die verstÈrkte Bewußtseinserregung, welche in der Aufmerksamkeit stattfindet, ist aber an und fÝr sich Prozeß. Sie besteht nur in den VorgÈngen des Unterscheidens, Gleichfindens, Verbindens, Trennens, Apperzipierens. In diesen VorgÈngen entstehen nun Wahrnehmungen, Bilder und im weiteren Verlauf der sensorischen VorgÈnge die Denkprozesse, durch welche diese Lebenseinheit eine gewisse Herrschaft Ýber das Wirkliche ermÚglicht. AllmÈhlich bildet sich ein fester Zusammenhang reproduzierbarer Vorstellungen, Wertbestimmungen und Willensbewegungen. Nun ist die Lebenseinheit nicht mehr dem Spiel der Reize preisgegeben. Sie hemmt und beherrscht die Reaktionen, sie wÈhlt aus, wo sie eine Anpassung der Wirklichkeit an ihr BedÝrfnis herbeifÝhren kann. Und was das HÚchste ist: wo sie diese Wirklichkeit nicht zu bestimmen vermag, da paßt sie ihr die eigenen Lebensprozesse an und beherrscht die unbÈndigen Leidenschaften und das Spiel der Vorstellungen durch die innere TÈtigkeit des Willens. Das ist das Leben. Die dritte Grundeigenschaft dieses Lebenszusammenhanges ist, daß in ihr die Glieder so miteinander verbunden sind, daß nicht eines aus dem anderen nach den Gesetzen der in der Èußeren Natur herrschenden KausalitÈt folgt. In Vorstellungen liegt kein zureichender Grund, Ýberzugehen in GefÝhle; man kÚnnte sich ein bloß vorstellendes Wesen denken, das mitten in dem GetÝmmel einer Schlacht gleichgÝltiger und willenloser Zuschauer seiner eigenen ZerstÚrung wÈre. In den GefÝhlen liegt kein zureichender Grund, sich umzusetzen in Willensprozesse. Man kÚnnte denken, daß dasselbe Wesen den Kampf um sich mit GefÝhlen von Furcht und Entsetzen begleitete, ohne daß doch aus diesen GefÝhlen Abwehrbewegungen hervorgingen. Der Zusammenhang zwischen diesen verschiedenartigen, nicht auseinander ableitbaren Bestandteilen ist sui generis. Der Name ZweckmÈßigkeit klÈrt die Natur desselben nicht auf, sondern drÝckt nur ein im Erlebnis des seelischen Zusammenhanges Enthaltenes aus, und zwar drÝckt er auch dieses nicht ganz aus, sondern nur in einer begrifflichen Abbreviatur.

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Achtes Kapitel. Die Entwickelung des Seelenlebens Ein zweiter umfassender Zusammenhang, welcher durch unser Seelenleben hindurchgeht, ist in dessen Entwickelung gegeben. Erstreckt sich die Struktur desselben gleichsam durch seine Breite, so dehnt sich die Entwickelung in seine LÈnge aus. Daher wÈre in einer beschreibenden Psychologie diesem Gegenstande ein besonderes ausfÝhrliches Kapitel zu widmen, und dies ist auch in den Èlteren mehr beschreibenden Psychologien Úfters geschehen: hier soll nur auf diese ErgÈnzung der Lehre vom Strukturzusammenhang hingewiesen werden. Beide Arten von Zusammenhang bedingen einander. Man kÚnnte die Entwickelung des Menschen nicht verstehen ohne die Einsicht in den breiten Zusammenhang seiner Existenz: ja der Ausgangspunkt jedes Studiums der Entwickelung ist diese Erfassung des Zusammenhangs in dem schon entwickelten Menschen und die Analysis desselben. Ist doch hier allein eine in der inneren Erfahrung des Psychologen im hellen Lichte des Mittags vorliegende Wirklichkeit gegeben, wogegen wir in das Halbdunkel der ersten Entwickelung vermittelst der Beobachtung und des Experimentes an Kindern nur unsichere Einblicke gewinnen. Andererseits erlÈutert der Zusammenhang der Entwickelungsgeschichte den der Struktur. Indem die beschreibende Psychologie beide Betrachtungsweisen verbindet, strebt sie die Beschreibung und Analysis des reifen und fertigen Typus Mensch gleichsam durch eine allgemeine Biographie dieses Typus zu ergÈnzen. So kÚnnen wir ja auch ein Individuum, so nahe es uns stehen mag, doch erst ganz verstehen, wenn wir erfahren, wie es geworden ist. Der methodische Gang der Erkenntnis dieser Entwickelungsgeschichte ist ein anderer als der Gang des Lebens selber oder seiner Darstellung. Die Erkenntnis selber kann nur analytisch vom erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens zurÝckgehen auf die Bedingungen und Faktoren seiner Entwickelung. Beobachten wir unser Verfahren bei der Erfassung der Entwickelungsgeschichte eines konkreten Individuums genau, so ist es dasselbe. Denn zuerst mÝssen wir ein gewisses VerstÈndnis des HÚhepunktes einer individuellen Entwickelung erlangt haben, bevor wir deren Stufen zu bestimmen vermÚgen, wie denn andererseits von der Kenntnis dieser frÝheren Stufen her das ausgestaltete individuelle Seelenleben eine hellere Beleuchtung empfÈngt. Das eingewickelte Leben der ersten Entwickelungsstufen kann nur aus dem VerstÈndnis dessen, was sich im Typus des Menschen oder in individuellen Typen

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daraus zu entwickeln pflegt, verstanden werden. Kein Lehrer wÝrde sich in der Seele eines Knaben zurechtfinden, fÈnde er nicht in ihr die Keime dessen, was ihm aus weiteren Entwickelungen bekannt ist. Und zwar sind fÝr das ausgestaltete Seelenleben drei Klassen von Bedingungen seiner Entwickelung zu studieren. Dasselbe ist abhÈngig von der Entwikkelung des KÚrpers, von den Einwirkungen des physischen Milieus und von dem Zusammenhang mit der umgebenden geistigen Welt. Diese Bedingungen wirken auf den Strukturzusammenhang des Seelenlebens und rufen in ihm eine fortschreitende Differenzierung und die Ausbildung hÚherer Verbindungen hervor. BestÈnde nicht in dieser Struktur und ihren treibenden KrÈften eine ZweckmÈßigkeit, ein Wertzusammenhang, welcher sie vorwÈrts triebe, dann wÝrde der Lebenslauf nicht Entwickelung sein. Daher aus dem blinden Willen von Schopenhauer so wenig die Entwickelung eines Menschen abgeleitet werden kann als aus dem atomistischen Spiel psychischer EinzelkrÈfte nach der Theorie der Herbartianer oder der halben oder ganzen Materialisten. Triebe und GefÝhle bilden sonach das eigentliche Agens, welches vorwÈrts treibt; die ZweckmÈßigkeit und der Zusammenhang in dem VerhÈltnis dieser Triebe und GefÝhle einerseits zu den intellektuellen VorgÈngen und andererseits zu den Willenshandlungen ermÚglicht das Einheitliche, Stetige und Zielbestimmte, welches den Begriff der Entwickelung ausmacht. Ich erlÈutere die in diesen SÈtzen angegebenen Beziehungen, in welchen der Gedanke der Entwickelung steht, nun genauer. So kÚnnen die einzelnen Begriffe aufgeklÈrt werden, welche in dem Gedanken der Entwickelung verbunden sind. Und der innere ursÈchliche Zusammenhang, in welchem mit der seelischen Struktur die seelische Entwickelung als die notwendige Folge dieser Struktur verbunden ist, kann vollstÈndig eingesehen werden. Aus der Lehre vom Strukturzusammenhang des Seelenlebens ergibt sich, daß die Èußeren Bedingungen, unter welchen ein Individuum steht, mÚgen sie hemmend oder fÚrdernd sein, jederzeit das Streben auslÚsen, einen Zustand der ErfÝllung der Triebe und des GlÝckes herbeizufÝhren oder zu erhalten. Indem nun aber jede feinere Entwickelung der Wahrnehmungen, jede zweckmÈßigere Bildung von Vorstellungen oder Begriffen, jede Zunahme des Reichtums an GefÝhlsreaktionen, jede grÚßere Anpassung der Bewegungen an die Triebe, jede EingewÚhnung gÝnstiger Willensrichtungen und passender Verbindungen von Mitteln und Zwecken dahin wirkt, die Befriedigung der Triebe, die HerbeifÝhrung angenehmer GefÝhle und die Vermeidung der unangenehmen zu erleichtern: so hat der Strukturzusammenhang, in welchem diese KausalverhÈltnisse gegrÝndet sind, die weitere wichtige Folge, solche feinere Differenzierungen und hÚheren Verbindungen im Individuum zu begÝnstigen

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und zu fÚrdern, diese ihrerseits ermÚglichen dann eine reichere Triebbefriedigung, eine hÚhere Lebens- und GlÝcksfÝlle. Wenn nun ein Zusammenhang der Bestandteile des Seelenlebens solche Wirkungen auf LebensfÝlle, Triebbefriedigung und GlÝck hat, so nennen wir ihn zweckmÈßig. Die ZweckmÈßigkeit, die im Seelenleben waltet, ist also eine diesem einwohnende Eigenschaft des Zusammenhangs seiner Bestandteile. Weit entfernt also, daß diese ZweckmÈßigkeit aus einem Zweckgedanken außer uns abzuleiten wÈre, ist vielmehr jeder Begriff einer außerhalb des Seelenlebens wirksamen ZweckmÈßigkeit aus dieser inneren ZweckmÈßigkeit in einem Seelenleben abgeleitet. Von ihr her ist er Ýbertragen. In unserer seelischen Struktur ist er gelegen. Nur durch Àbertragung von ihr her nennen wir irgendeinen Zusammenhang außerhalb derselben zweckmÈßig. Denn Zwecke sind uns nur in dieser seelischen Struktur gegeben. Die Anpassung an sie finden wir erfahrungsmÈßig nur in ihr ausgefÝhrt. Wir bezeichnen diese ZweckmÈßigkeit der seelischen Struktur als subjektiv und immanent. Sie ist subjektiv, weil sie erlebt, in der inneren Erfahrung gegeben ist. Sie ist immanent, weil sie auf keinen Zweckgedanken außerhalb ihrer gegrÝndet wird. Und zwar ist der Begriff der subjektiven und immanenten ZweckmÈßigkeit der seelischen Struktur ein zweifacher oder derselbe schließt zwei Momente in sich ein. Er bezeichnet zunÈchst einen Zusammenhang der Bestandteile des Seelenlebens, welcher unter den wechselnden Èußeren Bedingungen, unter denen alle Organismen leben, Lebensreichtum, Triebbefriedigung und GlÝck herbeizufÝhren geeignet ist. Hieran schließt sich ein zweiter Begriff dieser ZweckmÈßigkeit. Nach demselben ist in diesem Strukturzusammenhang zugleich, die wechselnden UmstÈnde des Lebens vorausgesetzt, die Anlage zu seiner Vervollkommnung enthalten. Und zwar vollzieht sich diese Vervollkommnung in den Formen der Differenzierung und der Herstellung von hÚheren Verbindungen. Sie besteht aber eben in dem grÚßeren VermÚgen, LebensfÝlle, TrieberfÝllung und GlÝck herbeizufÝhren. Von dieser subjektiven immanenten ZweckmÈßigkeit unterscheiden wir eine objektive, doch ebenfalls immanente. Ihr Begriff entsteht, wenn man das im Strukturzusammenhang mitangelegte VerhÈltnis der HerbeifÝhrung dieser subjektiven ZustÈnde zu der Erhaltung des Individuums und der Art in Betracht zieht. Diese Erhaltung finden wir nÈmlich in einem gewissen Umfang an die HerbeifÝhrung angenehmer GefÝhlsreaktionen, die Vermischung der unangenehmen und die Befriedigung der Triebe geknÝpft. Wir beziehen uns hier auf die AusfÝhrungen des vorigen Kapitels. Aber wir heben nochmals hervor: so wenig als in jener subjektiven ist in dieser objektiven immanenten ZweckmÈßigkeit irgendeine Annahme von einer diesem Zusammenhang zugrunde liegenden Zweckidee enthalten. Diese Transzendenz der Zweckidee ist nur eine Interpretation, durch welche fÝr einen solchen teleologischen Zusammenhang eine ErklÈrung versucht wird.

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Wir gehen zu einem weiteren Moment in dem Gedanken der Entwickelung fort. Der Begriff des seelischen Lebenszusammenhanges steht in nÈchster Beziehung zu dem Werte des Lebens. Denn dieser Wert des Lebens besteht in der seelischen Wirklichkeit, sofern diese ihren Ausdruck in GefÝhlen findet. Hat doch nur das im GefÝhl Erlebte einen Wert fÝr uns; Wert ist sonach vom GefÝhl unabtrennbar. Daraus ergibt sich aber nicht, daß der Wert des Lebens aus GefÝhlen bestehe, als ein Haufen von solchen angesehen und durch eine Addition derselben festgestellt werden kÚnne. Das sagt die innere Erfahrung nicht. Vielmehr die ganze FÝlle des Lebens, die wir erfahren, Reichtum der Lebenswirklichkeit, den wir durchfÝhlen, Ausleben dessen, was in uns liegt, das erscheint uns als der Wert unseres Daseins. Ja, wir verlegen diesen Wert auch in die LebensverhÈltnisse, welche zu durchleben uns zuteil wird, die Anschauungen und Ideen, mit denen wir unser Dasein zu erfÝllen vermÚgen, das Wirken, das uns vergÚnnt ist, in diesem allen nur Bedingungen und AnlÈsse zu GefÝhlen zu sehen, ist dem gesunden Menschen unertrÈglich. Ihnen scheint es vielmehr, daß die ganze Lebenswirklichkeit nach ihrem Werte im GefÝhl gemessen wird. Wenden wir nun diesen Begriff des Lebenswertes an. Der seelische Strukturzusammenhang ist darum zweckmÈßig, weil er Lebenswerte zu entwickeln, festzuhalten und zu steigern die Tendenz hat. Wir gehen zu einem neuen Moment fort. Strukturzusammenhang, ZweckmÈßigkeit und Lebenswert fanden wir in einer Beziehung zueinander. Indem wir diese Momente in TÈtigkeit denken, entspringt die Entwickelung. Ein Wesen, das einen Strukturzusammenhang des Lebens besitzt, muß sich entwickeln.471 Entwickelung ist nur mÚglich, wo ein Strukturzusammenhang zugrunde liegt. Dies ist so wahr, daß das Kollektivum Menschheit nur darum eine Entwickelung besitzt, weil die Abbildung der einzelnen Strukturen sich in einer Art von Struktur des Ganzen, der Gesellschaft, Èußert. Aus diesem VerhÈltnis ergeben sich nun die einzelnen Grundeigenschaften der Entwickelung. Diese ist zunÈchst ein VorwÈrtsschreiten, eine spontane VerÈnderung in einem Lebewesen, weil die Triebe in demselben ein Agens ausmachen, welches dies Lebewesen vorwÈrts472 treibt. Vita motus perpetuus. Daher besteht jede seelische Entwickelung in einem von innen bedingten Zusammenhang und VerÈnderungen in der Zeitreihe. Indem nun aber die inneren Antriebe bestÈndig wirken, von Grad zu Grad fortgehen, entsteht eine zweite Grundeigenschaft aller Entwickelung, ihre KontinuitÈt. Da ferner ZweckmÈßigkeit der Charakter seelischer Struktur ist, so folgt hieraus als weitere Grundeigenschaft der Entwickelung deren teleologischer Zusammenhang. Die Entwickelung hat die Tendenz, Lebenswerte hervorzubringen. Hier ergibt sich nun aber eben aus der Art, in welcher wir den seelischen Strukturzusammenhang zwiefach wirken sehen, das merkwÝrdigste VerhÈltnis, welches die menschliche Entwickelung

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zeigt. Jede Epoche des Lebens hat in sich einen selbstÈndigen Wert, denn jede ist ihren besonderen Bedingungen entsprechend einer ErfÝllung mit belebenden, das Dasein steigernden und erweiternden GefÝhlen fÈhig. Ja das Leben wÈre das vollkommenste, in welchem jeder Moment mit dem GefÝhl seines selbstÈndigen Wertes erfÝllt wÈre. Der Zauber, mit welchem Goethes Leben uns umfÈngt, liegt eben in diesem. Dieser macht ihn auch zum grÚßten Lyriker aller Zeiten. Rousseau, Herder und Schleiermacher haben diesen Satz theoretisch entwickelt. Aber sie drÝckten nur in einer Formel aus, was die Poesie aller Zeiten in packenden Bildern sichtbar zu machen gewußt hat. Insbesondere der Entwickelungsroman und der Faust als ein Entwickelungsdrama – eine ganz neue Form von Drama, das voll von Keimen einer großen poetischen Zukunft ist –473 haben den selbstÈndigen Wert der einzelnen Lebensepochen den Menschen sichtbar zu machen unternommen. Die Entwickelung besteht aus lauter LebenszustÈnden, deren jeder fÝr sich einen eigenen Lebenswert zu gewinnen und festzuhalten strebt. Armselig die Kindheit, welche den reiferen Jahren geopfert wird. TÚricht die Rechnung mit dem Leben, welche unablÈssig nach vorwÈrts drÈngt und das FrÝhere zum Mittel des SpÈteren macht. Irriger kann nichts sein als fÝr die Entwickelung, welche das Leben ausmacht, in der Reife des Lebens das Ziel zu finden, welchem die frÝheren Zeiten als Mittel dienen. Wie sollte sie auch dienen ein Ziel zu erreichen, das jedem so ungewiß ist. In der Natur des Lebens liegt vielmehr die Tendenz, jeden Moment mit der FÝlle des Wertes zu sÈttigen. Wir sehen nun aber, wie aus der ZweckmÈßigkeit der seelischen Struktur sich noch ein anderes VerhÈltnis der Lebenswerte zu der Entwickelung ergibt. Dieses VerhÈltnis kann in Widerspruch mit dem ersten zu stehen scheinen, indes bildet es nur seine ErgÈnzung. Die ZustÈnde, welche die Entwickelungsreihe ausmachen, bilden infolge der Wirksamkeit des zweckmÈßigen Strukturzusammenhangs einen Vorgang zunehmender Anpassung durch Differenzierung, Steigerung und hÚhere Verbindungen. Auch das ist sehr richtig, daß in diesem umfassenden Vorgang die elementarsten Betriebe474 durch regulÈre Befriedigung an Energie abnehmen und so hÚheren Trieben Platz machen kÚnnen. Eben durch diesen Zusammenhang einer aufsteigenden Reihe bilden diese ZustÈnde eine Entwickelung. Sie sind also zweckmÈßig so miteinander verbunden, daß in dem FortrÝcken der Zeit eine breitere, reichere Entfaltung der Lebenswerte mÚglich wird. Darin besteht nun eben die Natur der Entwickelung im menschlichen Dasein. Jede Epoche des Lebens hat ihren Wert. Aber im Fortschreiten desselben entwickelt sich eine mehr artikulierte, zu hÚheren Verbindungen geformte Gestalt des Seelenlebens. Und dies Fortschreiten kann zunehmen bis an die Èußersten Grenzen des Greisenalters. Hierauf beruht ja das oft gepriesene GlÝck des Greisenalters und seine moralische Bedeutung. Man erzÈhlt von

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Kant, daß er im Greisenalter keinen fremden Gedankenkreis mehr in sich aufzunehmen imstande war. Friedrich der Große zeigt dieselbe herbe Abgeschlossenheit in dem praktischen Lebensziel. Die innere Form des Lebens ist fest geworden. Die psychische Energie mindert sich stetig, die lebendige Wechselwirkung mit der Außenwelt und anderen Personen nimmt ab, mit allen anderen Organismen unterliegt der greise KÚrper dem Gesetz der Abnahme, aber ungehindert, unbeeinflußt hiervon kann der große Vorgang der Ausbildung einer herrschenden Ideenmasse, einer artikulierten geistigen Organisation, einer Festigung der Gestalt des seelischen Lebens bis ans Ende zunehmen. Hieraus ergibt sich das große Gesetz, welches die Momente und Epochen der menschlichen Lebensentwickelung zu einem Ganzen verknÝpft hat. Die Entwickelung im Menschen hat die Tendenz, einen festen Zusammenhang des Seelenlebens herbeizufÝhren, welcher mit den allgemeinen und besonderen Lebensbedingungen Ýbereinstimmt. Alle Prozesse des Seelenlebens wirken zusammen, um einen solchen Zusammenhang in uns herbeizufÝhren. Auch den großen StÚrungen des seelischen Gleichgewichts gegenÝber enthÈlt dieser zweckmÈßige Zusammenhang in sich eine Kraft der Wiederherstellung. Alles, die Bedingungen, unter denen wir stehen, der seelische Strukturzusammenhang, den sie bestimmen, wirkt zusammen, Gestalt des Seelenlebens zu erwirken. Auch das Unterscheiden und Trennen bringt VerhÈltnisse hervor und dient somit der Verbindung. Unterscheiden475 ist untrennbar verbunden mit Bewußtsein des Grades des Unterschieds, sonach einem positiven VerhÈltnis. Das verneinende Urteil steht als Ausschließung einer Annahme im Dienste476 der Herstellung richtigerer Verbindungen. Unlust, Abwendung und Abwehr, das ganze Spiel der unlustigen, hassenden und abwehrenden Affekte, die ganze Energie der feindlichen Willenshandlungen dienen der bewußten Sonderung des Daseins, auf welcher die Gestaltung beruht. Daher ohne den Schmerz, welchen die Pessimisten so tÚricht gegen die Lust, ein qualitativ ganz anderes, verrechnen, um eine Unterbilanz des Lebenswertes abzuleiten, eine Gestaltung des Seelenlebens und einer geschlossenen vollwertigen IndividualitÈt nicht mÚglich wÈre. Die Psychologie erkennt als dieses Ergebnis der menschlichen Entwickelung die Herrschaft eines erworbenen seelischen Zusammenhangs, welcher alle Handlungen und Gedanken bestimmt. Alle menschliche Entwickelung kann nicht mehr leisten, als einen solchen Zusammenhang zu bilden, welcher souverÈn, den Bedingungen des Daseins angepaßt, in sich geschlossen und bedeutsam sei. Das lag in Napoleons Wort Ýber Goethe „voilÄ un homme“. Der Charakter bildet nur eine, doch die wichtigste Seite dieser Vollendung. In alle Wirklichkeit auf der Erde tritt solche Gestalt einer Seele als das HÚchste hervor. Und in diesem Sinne bezeichnete Goethe die PersÚnlichkeit als hÚchstes GlÝck der Erdenkinder. FÝr diese innere Form

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der PersÚnlichkeit suchte die Transzendentalphilosophie die Bedingungen. ZunÈchst ist eine Bedingung dieses synthetischen VermÚgens in uns in der Formel von der Einheit des Bewußtseins enthalten. Aber die Transzendentalphilosophie grÈbt tiefer. Und schließlich beruht die außerordentliche Macht derselben im europÈischen Denken darauf, daß ihre Formeln in abstracto das Synthetische, spontan Gestaltende, die transzendentale Synthesis der Apperzeption dem empiristischen Seelenaggregat gegenÝbergestellt haben, das den Charakter, das Genie und den Helden zu Unfaßbarkeiten macht. Ihr Mangel war nur, daß sie das fortschreitende Synthetische zunÈchst abstrakt in intellektuellen VorgÈngen aufsuchte und dann wieder getrennt von diesen die anderen Seiten der Menschennatur zergliederte. Im Gegensatz hierzu gehen wir vom Strukturzusammenhang aus. Der bringt denn auch die ZweckmÈßigkeit in der inneren Form des Lebens hervor. Diese Gestalt des Seelenlebens, welche sich im Verlauf seiner normalen Entwickelung realisiert, ist als Entfaltung seiner ursprÝnglichen Struktur, mit demselben Zug einer inneren ZweckmÈßigkeit erfÝllt als das einfachste Auftreten der Struktur sie zeigt. Das will nur sagen, daß das VerhÈltnis, in welchem die Triebe durch die EindrÝcke erregt, der Wert fÝr sie in den GefÝhlen erlebt und die Anpassung der Außenwelt an sie vollzogen wird: ein VerhÈltnis, das wir in seiner Wirkung auf Selbsterhaltung und GefÝhl als ZweckmÈßigkeit bezeichnen, in der Reife des Lebens seine in diesem Individualleben mÚgliche Vollendung erfÈhrt. Denn die einheitlichste Gestaltung gestattet die grÚßte Entwickelung zweckmÈßig wirkender Kraft im Individuum, und zwar ist diese Einheit in dem Maße wertvoller fÝr Selbsterhaltung und LebensgefÝhl, in welchem eine kleinere Differenzierung und hÚhere Steigerung der einzelnen Strukturen das Material dieser hÚheren Einigung ausmacht. In diesem Zusammenhang kann nun fÝr die Lehre von der Entwickelung der Standpunkt der beschreibenden Psychologie endgÝltig bestimmt werden. Die erklÈrende Psychologie wÝrde sich zu entscheiden haben zwischen den Hypothesen, welche in bezug auf die Natur des Vorgangs von Entwickelung miteinander streiten. Die beschreibende Psychologie vermeidet diese Hypothesen, welche in die tiefsten GegensÈtze menschlicher Weltauffassung zurÝckfÝhren. Sie erzÈhlt, was sie findet, sie hebt die regelmÈßige Abfolge der VorgÈnge, welche in den menschlichen Individuen stattfindet, heraus. Wie der Botaniker die Abfolge zunÈchst beschreiben muß, in welcher von der Zeit ab, wenn die Eichel im Boden quillt, bis zu der, in welcher die Eichel sich wieder vom Baume ablÚst, die VorgÈnge an der Eiche einander folgen: so, ganz so beschreibt der Psychologe in Entwickelungsgesetzen und in GleichfÚrmigkeiten der Abfolge in einer seelischen Struktur das Leben in derselben. Diese Entwikkelungsgesetze und GleichfÚrmigkeiten gewinnt er aus den Beziehungen zwi-

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schen Milieu, Strukturzusammenhang, Lebenswerten und Entwickelung, welche in der inneren Erfahrung und ihren ErgÈnzungen durch die Èußere ohne jede Hinzunahme hypothetischer KausalverhÈltnisse anschaulich gegeben sind. Wenn nun im Gegensatz zu diesem beschreibenden Verfahren eine erklÈrende Theorie versucht wird, welche hinter die innere Erfahrung zurÝckzugehen strebt, so ist ein Inbegriff eindeutig bestimmter innerpsychischer Elemente unzureichend fÝr die Behandlung des Problems; daher auch erklÈrende Psychologien, die sich auf solche Elemente beschrÈnkt haben, der Lehre von der Entwickelung des Seelenlebens auszuweichen pflegen; man muß entweder die menschliche Entwickelung in einen universellen metaphysischen Zusammenhang stellen oder in dem allgemeinen Naturzusammenhang aufzufassen streben. FÝr die Auffassung der metaphysischen Theorie kann man von dem Ausdruck Entwickelung ausgehen; dieser bezeichnet die Auswickelung einer keimartig zusammengeschlossenen [Einheit] in einer stetigen Abfolge von VorgÈngen zu einer Lebensstruktur, in welcher ein grÚßerer Reichtum von Gliedern zu einem lebenswirksamen Ganzen verbunden ist. Hierin ist also enthalten, daß zwischen dem Zusammenhang einer Struktur am Anfangspunkte und der Vollendung dieses Zusammenhangs ein VerhÈltnis besteht, nach welchem der Vollendungspunkt und das Ende in dem Anfang angelegt und auf dem Vollendungspunkt erst zum Vorschein kommt, was im Anfang enthalten war. Es ist ferner darin enthalten – was im eben Gesagten noch nicht liegt –, daß von der einheitlichen Wirkung der entwickelten Struktur aus der Anfang als ein Keim erscheint, der sich zu einem Ziel hin entfaltet. Hieraus folgt dann, daß wir diesen HÚhepunkt als Zweck, der sich in der Entwickelung verwirklicht, auffassen kÚnnen. Dies sind die empirischen Tatsachen, aus denen Aristoteles zuerst den metaphysischen Begriff von Entwickelung ableitete, der dann freilich alle Erfahrung Ýbersteigt. Das Wesen dieses metaphysischen Begriffs liegt darin, daß die eben angegebenen allgemeinsten ZÝge der Entwickelung, welche der organischen Welt mit dem Seelenleben und dem geschichtlichen Prozeß gemeinsam sind, in eine kosmische Potenz zurÝckverlegt werden. So geschieht es bei Aristoteles wie bei Leibniz, bei Schelling wie bei Hegel. Aber aus dieser Weltpotenz blickt uns nur wieder dasselbe RÈtsel an, das in den konkreten Entwickelungen liegt. Etwas, das noch nicht ist, aber aus dem Nichtsein durch die Zeit zur Existenz gelangt. Ein FÚtus ist da, und es entsteht in ihm an irgendeinem Punkte unser uns bekanntes Bewußtsein. Aus einer allgemeinen unfaßbaren Sinnesenergie bilden sich die einzelnen bekannten Sinnesenergien. Gerade darum glaubt man mit dem Begriff der Entwickelung alles herauszaubern zu kÚnnen – weil alle MÚglichkeiten in diesem unbestimmten, rÈtselhaften, von WidersprÝchen erfÝllten Begriff stecken.

3. *Der Korrekturabzug der „Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie“

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Der naturwissenschaftliche Erfahrungsbegriff der Entwickelung hat das nÈchste Gebiet seiner Herrschaft innerhalb der organischen Welt. Nicht nur die Geschichte jedes organischen Individuums fÈllt unter denselben, sondern auch die nachweisbare Abfolge organischer Formen in dem Gesamtreich des Organischen wird hypothetisch unter denselben gebracht, und die Stetigkeit dieser Entwickelung im organischen Reiche, welche sich nicht empirisch aufzeigen lÈßt, wird durch hypothetische ErgÈnzungen hergestellt. Fragt man dann nach der ErklÈrung des empirischen Tatbestandes, so findet man sich auch hier zwischen Hypothesen gestellt. Einmal kann die Entwickelung in der organischen Welt als ein besonderer Fall der Ergebnisse angesehen werden, welche allgemein durch den Mechanismus eines Systems unverÈnderlicher Einheiten herbeigefÝhrt werden. Es kann aber auch die Tatsache, daß der erreichte Zustand Bedingung fÝr eine weitere Steigerung der Lebensleistung wird, auf einen einheitlichen Grund in irgendeiner Art zurÝckzufÝhren versucht werden. Dieser bildet dann den ErklÈrungsgrund fÝr das Auftreten eines Prinzips der Steigerung innerhalb der organischen Welt. Die eine ErklÈrung ist so gut eine Hypothese als die andere. Innerhalb dieser organischen Welt und in ihrem Stufenreich aufsteigender Entwickelungen tritt nun das Seelenleben auf. Sein Auftreten ist das große RÈtsel, das auch den Mitteln der Naturerkenntnis widersteht. Wir kÚnnen dasselbe empirisch nur an dem Auftreten von Bewegungen feststellen, welche von Reizen und nach dem Prinzip der Struktur hervorgebracht477 werden. Es geht in aufsteigender Entwickelung der Stufenordnung des organischen Reiches parallel. Ebenso entwickelt sich ein solches tierisches oder menschliches Individuum in den Epochen der Ausbildung, Vollendung und Abnahme Ýbereinstimmend physisch und psychisch zugleich. Da nun aber die psychische Entwickelung in die innere Erfahrung fÈllt und so erlebt wird, wie sie ist, so zeigen sich hier Eigenschaften der VorgÈnge, welche durch keine Hypothese vom Zusammenwirken konstanter Einheiten abgeleitet werden kÚnnen. So wenig die Geschwindigkeit eines KÚrpers als Summe der Geschwindigkeiten seiner Teile dargestellt werden kann, so wenig kann aus den inneren ZustÈnden einzelner unverÈnderlicher Einheiten vermittelst ihrer Wechselwirkung die einheitliche Leistung der Vergleichung, des Urteils, des Vorziehens, der Bildung eines Ideals abgeleitet werden. Es ist so, und kein Kunstgriff einer materialistischen Theorie kann es verdunkeln: diese Leistungen fordern als ihre Bedingung einen ursprÝnglichen Zusammenhang, eine Einheit, die nicht aus getrennten Elementen in den Leistungen derselben zusammengeschlossen ist. Diese Erkenntnis empfÈngt eine ErlÈuterung durch die Darlegung des vorigen Kapitels, nach welcher der Strukturzusammenhang nicht aus Leistungen zusammenwÈchst, vielmehr aus diesem sich die feineren Gliederungen differen-

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zieren, hinter ihn selbst aber nicht zurÝckgegangen werden kann. Aber die Natur der Einheit, welche so als Bedingung der seelischen VorgÈnge anzunehmen ist, ist uns gÈnzlich unbekannt. Die Nachforschung nach ihr Ýberschreitet die Grenzen unseres Erkennens. Ja da das, was hinter den kÚrperlichen Erscheinungen steckt, uns unbekannt ist, kann nicht einmal ausgeschlossen werden, daß das, was dessen Wirklichkeit ist, auch den Zusammenhang des Vorstellens, FÝhlens und Wollens umfaßt. Aber in jedem Fall ist uns nun in dem seelischen Strukturzusammenhang selber ein einheitliches Subjekt der psychischen Entwickelung gegeben. Hier schließt sich die obige Darlegung an, nach welcher in diesem Zusammenhang die Triebe das vorwÈrts in die Entwickelung dringende Zentrum ausmachen. Die nÈhere Natur der psychischen Entwickelung in ihrem Unterschied von der physischen stellt sich in einem negativen Merkmal zunÈchst vor. Wir kÚnnen das, was im seelischen Verlauf einem erreichten Zustande demnÈchst folgen wird, nicht voraussagen. Nur nachtrÈglich kÚnnen wir die GrÝnde dessen, was geschehen ist, aufzeigen. Wir kÚnnen von Motiven aus nicht die Handlungen voraussagen. Wir kÚnnen nur von den Handlungen aus die Motive nachtrÈglich analytisch feststellen. Wir wissen nicht, was wir in den kÝnftigen Tag hineingeben werden. Und zwar zeigt die geschichtliche Entwickelung diesen selben Charakter. Gerade in den großen schÚpferischen Epochen tritt eine Steigerung ein, welche aus den frÝheren Stufen nicht abgeleitet werden kann. Hiermit ist der Punkt erreicht, an welchem die detaillierte Beschreibung und Analyse des GleichfÚrmigen im menschlichen Lebenslauf hinlÈnglich vorbereitet sein wÝrde. FÝr diese Beschreibung und Analyse der menschlichen Entwickelungsgeschichte liegen Materialien vom grÚßten Werte vor. Als eine natÝrliche Auffassung des Lebens, gleichsam eine Naturgeschichte des Seelenlebens im 18. Jahrhundert in den Gesichtskreis der Gebildeten eintrat, mußte auch die Poesie sich dieser natÝrlichen Betrachtungsweise menschlicher Entwickelung bemÈchtigen. Rousseau, der SchÚpfer der neuen Art von Poesie, Goethe, Novalis, Dickens, Keller, so viele andere haben einzelne Typen von solchen Entwickelungsgeschichten geschaffen. Hierzu kommt, daß das vorige und das gegenwÈrtige Jahrhundert unter demselben Einfluß der Richtung auf eine Naturgeschichte des Menschen die moderne Biographie geschaffen hat. Dieselbe ist in gewissem Verstande die am meisten philosophische Form der Historie. Der Mensch als die Urtatsache aller Geschichte bildet ihren Gegenstand. Indem sie das Singulare beschreibt, spiegelt sich doch in demselben das allgemeine Gesetz der Entwickelung. Wie unschÈtzbar sind dann Selbstbiographien: in dem Anton Reiser von Philipp Moritz und dem Leben von Goethe sind gerade die allgemeinen ZÝge der Lebensalter herausgearbeitet. Eine wissenschaftliche Behandlung der menschlichen Entwickelungsgeschichte wÈre

3. *Der Korrekturabzug der „Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie“

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aber noch zu schaffen. Dieselbe hat drei Klassen von Bedingungen in ihrem Einfluß zu studieren: die Entwickelung des KÚrpers, die EinflÝsse des physischen Milieus und die umgebende geistige Welt. In dem Selbst, das unter diesen Bedingungen sich entfaltet, hat sie dann die Beziehungen der seelischen Struktur nach den Relationen von ZweckmÈßigkeit und Lebenswert zu der Entwickelung zu erfassen: wie aus diesen VerhÈltnissen ein herrschender Zusammenhang dieser Seele sich entfaltet, „geprÈgte Form, die lebend sich entwickelt“: das ist zu zeigen: die Bilder der Lebensalter, in deren Zusammenhang diese Entwickelung gelegen ist, sind zu zeichnen und die Analyse der Lebensalter nach den Faktoren, welche sie bedingen, ist zu vollziehen. Kindheit, in welcher eben aus der Struktur des Seelenlebens das Spiel als eine notwendige LebensÈußerung abgeleitet werden kann. Die MorgendÈmmerung, in der HÚhen und Weiten noch verschleiert daliegen: unendlich alles: die Grenzen der Werte unerkannt: der Hauch der Unendlichkeit Ýber aller Wirklichkeit: in der ersten UnabhÈngigkeit der frischen Beweglichkeit aller Regungen der Seele, die ganze Zukunft vor sich bilden sich die Ideale des Lebens. Im Gegensatz dazu dann im Greisenalter die Gestalt der Seele herrscherlich waltend zu derselben Zeit, in welcher die Organe des KÚrpers unkrÈftig werden: eine gemischte und gedÈmpfte Stimmung Ýber dem Leben, welche aus der Herrschaft einer Seele, die Vieles in sich verarbeitet hat, Ýber die einzelnen GemÝtszustÈnde entspringt: das ist auch, was den kÝnstlerischen Produktionen des Alters ihre eigentÝmliche Erhabenheit gibt, wie Beethovens neunter Symphonie oder dem Abschluß des Goetheschen Faust. *** Der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens, welcher in dem entwikkelten Menschen vorliegt und gleichmÈßig Bilder, Begriffe, Wertbestimmungen, Ideale, konstante Willensrichtung usw. umfaßt, enthÈlt konstante ZusammenhÈnge, welche gleichfÚrmig in allen menschlichen Individuen wiederkehren neben solchen, welche einem der beiden Geschlechter, einer Rasse, Nation, einem Stande usw., schließlich dem einzelnen Individuum eigentÝmlich sind. Wie alle Menschen dieselbe Außenwelt haben, so bringen sie in sich dasselbe Zahlensystem, dieselben Raumbeziehungen, dieselben grammatischen und logischen Relationen hervor. Wie sie in den Beziehungen zwischen dieser Außenwelt und einem ihnen gemeinsamen seelischen Strukturzusammenhang leben, entstehen hieraus dieselben Formen des Vorziehens und WÈhlens, dieselben VerhÈltnisse von Zwecken und Mitteln, gewisse gleichfÚrmige Beziehungen der Werte, gewisse gleichfÚrmige ZÝge des Lebensideals, wo es auch auftritt. Die Formeln von der IdentitÈt der Vernunft in allen Individuis bei

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Schleiermacher und Hegel, die von der IdentitÈt des Willens in ihnen bei Schopenhauer sprechen in metaphysischer Abstraktion diese Tatsachen von Verwandtschaft aus. An der GleichfÚrmigkeit der einzelnen Gebilde, welche der Mensch hervorbringt, an den großen und durchgreifenden ZusammenhÈngen, welche diese Gebilde zu Systemen der Kultur verknÝpfen, an dem konstanten Bestande mÈchtiger menschenverbindender Organisationen, welche auf der Verwandtschaft der Menschen untereinander beruhen, hat die Psychologie ein festes standhaftes Material, das eine wirkliche Analysis menschlichen Seelenlebens auch in bezug auf seine inhaltlichen GrundzÝge ermÚglicht. Der gleichfÚrmige Zusammenhang, welcher so in Struktur und Entwickelungsgeschichte des Seelenlebens sich ausbreitet, enthÈlt nun aber, tiefer durchschaut, in sich die Regeln, von welchen die Gestaltung der IndividualitÈten abhÈngig ist.

Neuntes Kapitel. Das Studium der Verschiedenheiten des Seelenlebens. Das Individuum Die Erkenntnis von der Natur und dem Werte der IndividualitÈt hat sich langsam in der europÈischen Menschheit ausgebildet. Sokrates zuerst erhebt sich zu der Bewußtheit Ýber den sittlichen Vorgang in sich, welche erst die Durchbildung der einheitlichen Person ermÚglicht. Dieses „Erkenne dich selbst“ war zunÈchst auf das GleichfÚrmige der Menschennatur gerichtet, aber es mußte sich von diesem Allgemeingiltigen in ihm, das er zum Lichte des Wissens heraufhob, das MÈchtige, Unerforschliche abheben, welches er als Daimonion bezeichnete und das ohne Zweifel der Tiefe der SubjektivitÈt angehÚrte. Sokrates wurde von da ab fÝr seine SchÝler, die Stoa, Montaigne usw. der Typus fÝr den RÝckgang des Denkens in die Tiefe der Person. Den nÈchsten großen Fortschritt machte die Stoa in dem Ideal des Weisen. In diesem Ideal erhob sich die autonome, in sich geschlossene Person Ýber den Horizont des philosophischen Bewußtseins. Die Betonung des Willens im Denken, die Richtung auf die Ausbildung einer Àberzeugung, welche dem Handeln Einheit und Zielbewußtheit zu geben vermag, die Abschließung der Person nach außen durch die Àberwindung der Macht Èußerer Schmerzen und VergnÝgungen, das so entstehende Ideal des Weisen, welches eben durch die bewußte Macht der gedankenmÈßigen Gestaltung einer in sich geschlossenen PersÚnlichkeit seinen Schwerpunkt in sich selber hat, mehr ist als KÚnige und Hel-

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den, der Kultus der Freundschaft, in welcher die Verwandtschaft der IndividualitÈten die Verbindung herbeifÝhrt: all dies sind ZÝge des stoischen Lebens und Denkens, welche den Wert der abgeschlossenen einheitlichen Person unermeßlich gesteigert und ihren Begriff aufgeklÈrt haben. Indem nun die Wucht der rÚmischen PersÚnlichkeiten sich mit dieser Denkart durchdrang, entstand jene wunderbare Verbindung rÚmischer Willensenergie mit der aus der Philosophie stammenden bewußten Gestaltung der Person, umgeben mit dem heiteren Glanz der gesellschaftlichen Grazie der Griechen, welche das Scipionenzeitalter zeigt; es bildete sich die auf die Gestaltung der PersÚnlichkeit gerichtete unermeßlich wirksame rÚmisch stoische Literatur; zugleich entwikkelte sich das erstaunliche VermÚgen der Erfassung von IndividualitÈten, welches der Geschichtschreiber Tacitus zeigt. In dieser geschichtlichen Region entstand die Selbstbesinnung des Christentums. Die Meditationenliteratur des Mittelalters setzt diese Richtung fort. Was man als Entdeckung der IndividualitÈt in der Renaissance bezeichnet hat, ist die SÈkularisation dieses religiÚsen Gutes. Der Fortgang von der Erfassung des Begriffs der in sich geschlossenen einheitlichen PersÚnlichkeit, wie ihn schließlich die Transzendentalphilosophie vollendete, zu dem Begriff der IndividualitÈt, wie er heute vorhanden ist, vollzog sich zuerst in der SphÈre der deutschen Transzendentalphilosophie. Moritz, Schiller, Goethe bereiten vor, schließlich ist die Lehre von der IndividualitÈt von Humboldt und Schleiermacher formuliert worden. „In der IndividualitÈt – sagt Humboldt – liegt das Geheimnis alles Daseins“ (W. I 20). „Jede menschliche IndividualitÈt ist eine in der Erscheinung wurzelnde Idee, und aus einigen leuchtet diese so strahlend hervor, daß sie die Form des Individuums nur angenommen zu haben scheint, um in ihr sich selbst zu offenbaren. Wenn man das menschliche Wirken entwickelt, bleibt nach Abzug aller dasselbe bestimmenden Ursachen etwas UrsprÝngliches in ihm zurÝck, das, anstatt von ihren EinflÝssen erstickt zu werden, vielmehr sie umgestaltet, und in demselben Element liegt ein unaufhÚrlich tÈtiges Bestreben, seiner inneren Natur Èußeres Dasein zu verschaffen“ (W. I 22). Auch Schleiermacher erblickt in der IndividualitÈt einen ethischen Wert, welcher in der Weltordnung angelegt sei: aus der gÚttlichen Vernunft geht sie als ein ideelles Ganzes hervor: eine Offenbarung der Gottheit. „Da alles sittlich fÝr sich zu Setzende als Einzelnes zugleich auch begriffsmÈßig von allem anderen verschieden sein muß: so mÝssen auch die einzelnen Menschen ursprÝnglich begriffsmÈßig von einander verschieden sein, d. h. jeder muß ein eigentÝmlicher sein.“ „Der Begriff eines jeden Menschen, sofern ein solcher vom Einzelnen vollendet werden kann, ist ein anderer“ (Ethik, Schweizer § 131). „Die Mehrheit der Individuen wÈre keine sittliche, wenn nicht auch das Sein der Vernunft in jedem ein ande-

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res wÈre als im anderen.“ „Was die Vernunft als Seele des Einzelnen bildet, das soll auch den Charakter der EigentÝmlichkeit haben und fÝr ihn abgeschlossen sein.“ Wir unterscheiden. Die Lehre vom Wert der IndividualitÈt ist der Ausdruck der damaligen deutschen Kultur und sie bleibt, in gewissen Grenzen gefaßt, eine soziale und ethische Wahrheit, welche nicht wieder verloren gehen kann. Die Behauptung, daß dieser Wert der IndividualitÈt zurÝckweise auf ihr VerhÈltnis zur Gottheit, daß sie demnach als ein UrsprÝngliches, Einheitlich-Gesetztes gedacht werden mÝsse, das aus der gÚttlichen Weltordnung hervorgegangen sei, ist als eine unbeweisbare metaphysische Ausdeutung des ethischen Tatbestandes anzusehen. Sie gehÚrt unter die metaphysischen Konzeptionen, welche die Grenzen des Erfahrbaren hinter sich lassen. Sie deutet innere Erfahrungen symbolisch und befestigt sie an einem substantialen Hintergrund. Im Gegensatz hierzu ist die Aufgabe der beschreibenden Psychologie, unsere Erfahrungen Ýber die IndividualitÈt zu sammeln, die Terminologie fÝr ihre Beschreibung herzustellen und sie zu analysieren. Stellte jene metaphysische Theorie das Allgemeine und das Individuelle beziehungslos478 nebeneinander, so ist gerade die Aufsuchung der Beziehungen, in welchen zu dem Allgemeinen das EigentÝmliche steht, schon in der Schilderung des Geschichtschreibers oder Dichters wie in der Reflexion der Lebenserfahrung das einzige Mittel, die IndividualitÈt gleichsam zur Aussprache zu bringen. Die Beschreibung hat nur an den allgemeinen Begriffen, welche nach ihrer Natur GleichfÚrmigkeiten an dem Besonderen ausdrÝcken, die Hilfsmittel, dies Besondere darzustellen. Analysis kann nur Beziehungen des GleichfÚrmigen zugrunde legen, um die VerhÈltnisse, welche an einem EigentÝmlichen stattfinden, im Denken zu erfassen und darzustellen. Sie muß, um sich dem Besonderen zu nÈhern, eben die Beziehungen zu erfassen streben, in welchen es zum Allgemeinen steht. Ich will die Evangelisten DÝrers beschreiben; dann muß ich mich der Allgemeinbegriffe bedienen, welche die Lehre von der bildenden Kunst darbietet, ich muß ferner von den Temperamenten, von ihrer Auffassung in DÝrers Epoche sprechen. Will ich dies Kunstwerk analysieren, so muß ich die Hilfsmittel der Malerei, große weltgeschichtliche Charaktere wie Johannes oder Petrus hinzustellen, mir zum Bewußtsein bringen; ich muß die Natur von Idealgruppen vorstellen, welche mehrere weltgeschichtliche Personen in vollendeter Ruhe, ohne Verbindung durch eine geschichtliche Handlung, nur in ideale Beziehungen gesetzt, zur Anschauung bringen; ich muß den in diesem allem liegenden allgemeinen VerhÈltnissen abstrakter Tatsachen, welche der Lehre von der Malerei angehÚren, alsdann die konkrete Besonderheit einordnen, welche in der Manier der Renaissance in bezug auf solche Objekte gelegen ist; Leonardo,

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Michelangelo, Raffael, DÝrer usw. mÝssen als besondere Typen solcher Darstellung historisch bedeutender Menschen sowie der malerischen Behandlung von Idealgruppen historisch-bedeutsamer Personen dem Charakter der Renaissance untergeordnet und so muß dann schließlich dem Werke DÝrers der Ort fÝr seine IndividualitÈt bestimmt werden. So sind es Ýberall Beziehungen allgemeiner Tatsachen zu dem Individuellen, welche eine Analysis des letzteren ermÚglichen. Der Hauptsatz, welcher diese Beziehung ausdrÝckt, kann von jedem an der entwickelten IndividualitÈt analytisch festgestellt werden. IndividualitÈten unterscheiden sich nicht voneinander durch das Vorhandensein von qualitativen Bestimmungen oder Verbindungsweisen in der einen, welche in der anderen nicht wÈren. Es ist nicht in einer IndividualitÈt eine Empfindungsklasse oder eine Klasse von Affekt oder ein Strukturzusammenhang, die in der anderen nicht wÈren. Es gibt nicht Personen – außer wo geradezu ein anormaler Defekt vorliegt –, welche nur eine bestimmte Auswahl von Farben oder mehrere als die anderen sÈhen oder keine LustgefÝhle an Farbenempfindungen, an Verbindungen von TÚnen knÝpfen kÚnnten oder unfÈhig wÈren Zorn oder Mitleid zu fÝhlen, außerstande Abwehr gegen Angriffe zu Ýben. Die GleichfÚrmigkeit der menschlichen Natur Èußert sich darin, daß in allen Menschen (wo nicht anormale Defekte bestehen) dieselben qualitativen Bestimmungen und Verbindungsformen auftreten. Aber die quantitativen VerhÈltnisse , in denen sie sich darstellen, sind sehr verschieden voneinander; diese Unterschiede verbinden sich in immer neuen Kombinationen , und hierauf beruhen dann die Unterschiede der IndividualitÈten.479 Aus diesen Verschiedenheiten im Quantitativen und seinen VerhÈltnissen entstehen solche, die als qualitative ZÝge auftreten. Da sitzen auf derselben Schulbank der TrÈumer, der Windhund, der Flatterhafte, der MÝhsame, der Eigensinnige nebeneinander. Was wir mit diesen AusdrÝcken bezeichnen, sind herrschende qualitative ZÝge oder typische Verbindungen von solchen. Betrachten wir diese nÈher, so sind es ZÝge, welche in jedem vorkommen, die aber z. B. im Eigensinnigen oder TrÈumerischen eine besondere StÈrke erreicht haben, oder es sind quantitative Bestimmungen der Geschwindigkeit, der Folge, des Wechsels usw., wie im Flatterhaften, oder Verbindungen quantitativer Bestimmungen wie im Windhund: kurz, schließlich erhalten hier Ýberall quantitative Bestimmungen in der Menschenbeobachtung und ihrer Sprache den Charakter des Qualitativen, ohne dadurch eine •nderung ihrer wahren Natur zu erleiden. An demselben Spieltisch sitzt der Geldgierige, die problematische Natur, der WÝstling, der Geck. Es ist zunÈchst der StÈrkegrad eines Triebs und seine Herrschaft Ýber alle anderen in der Seele, was in der Bezeichnung geldgierig oder WÝstling enthalten ist. Unter einer problematischen Na-

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tur aber verstehen wir, indem wir Goethes Begriff weiterzudenken versuchen, eine solche, welche darum nicht klar aufgefaßt werden kann, weil das MißverhÈltnis ihres Strebens und ihrer handelnden Leistungen, ihrer AnsprÝche an das Leben und ihres VermÚgens es zu bestimmen sie in so viel Farben schimmern lÈßt, daß der Betrachter verwirrt wird. Dies ist dann eine Form des bekannten unseligen MißverhÈltnisses zwischen der StÈrke edler GefÝhle und der UnkrÈftigkeit der Reaktion zu Handlungen, woraus dann unermeßliche AnsprÝche, aus hohen GefÝhlen hergeleitet, und das UnvermÚgen anderen zu nÝtzen und sie zu beglÝcken entspringen. Auch dies ist also eine Beziehung quantitativer Bestimmungen. Diese Kombinationen unterliegen nach einem zweiten Hauptsatz gewissen Regeln , welche die MÚglichkeiten des Zusammenauftretens von quantitativen VerhÈltnisunterschieden einschrÈnken. Man kann aus den Stellungen der drei Termini, der Verteilung der QualitÈts- und QuantitÈtsunterschiede des Urteils in Obersatz und Untersatz eine Tafel mÚglicher Kombinationen von ObersÈtzen und UntersÈtzen zu SchlÝssen abstrakt ableiten, daraus folgt aber noch nicht, daß alle diese Kombinationen mÚglich seien: es sind tiefer liegende logische VerhÈltnisse, welche dann erst hierÝber entscheiden. So sind auch unter den in abstracto vorhandenen MÚglichkeiten von Kombinationen quantitativer VerhÈltnisunterschiede in einem seelischen Zusammenhang nicht alle in irgendeiner IndividualitÈt mÚglich. Wohl sind viel mehrere Kombinationen mÚglich, als in der Regel angenommen wird. Mit einem hohen Grade von FrÚmmigkeit erwarten wir in der Regel auch einen solchen von ZuverlÈssigkeit und Treue verbunden zu finden. Dennoch ist dies nicht erforderlich. Die SchlafmÝtze auf der Schulbank ist auf dem Spielplatz der AnfÝhrer der verwegensten Bande. Nicht umsonst mahnt man den Lehrer, seine SchÝler auch auf dem Spielplatz zu beobachten, um die Wahrnehmungen aus dem Schulzimmer zu ergÈnzen. Der verschiedene Grad von Energie in der RÝckwirkung auf den Reiz, den SchulbÝcher und den Spiele Ýben, im einen Fall weit unter, im anderen weit Ýber dem Mittelmaß liegend, ist doch sehr wohl in demselben seelischen Zusammenhang vertrÈglich. Wie die Eigenschaften einander voraussetzen und ausschließen , das liegt so tief, daß es dem Blick gewÚhnlicher Beobachter nicht sichtbar ist. Die Erkenntnis hiervon wÝrde eine Wissenschaft ermÚglichen, welche feste Regeln fÝr Menschenbeobachtung und Èsthetische oder historische Menschendarstellungen enthielte: beruht doch Menschenkenntnis im Tiefsten darin, daß man richtig beurteile, welche Eigenschaften mit gewissen anderen verbunden sein kÚnnen oder mÝssen und welche einander ausschließen. Hier entsteht eines der merkwÝrdigsten Probleme der Menschenbeobachtung. Je beschrÈnkter jemand ist, desto leichter spricht er von WidersprÝchen

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in den Charakteren. In einem gewissen Sinn wird aber dieser Begriff auch vom kundigsten Menschenbeobachter angewandt. Was bezeichnet nun dieser Ausdruck? Ich mÚchte sagen, daß der Begriff von WidersprÝchen in einer IndividualitÈt immer erst aus der Vergleichung des empirisch Gegebenen mit der Vorstellung eines logisch geordneten und zweckmÈßig wirkenden seelischen Zusammenhangs entstehe. Es hat jemand als Arzt eine gute Einsicht in das, was gesund erhÈlt, und er handelt dieser Einsicht bestÈndig zuwider; dies betrachten wir als einen Widerspruch: denn es ist mit unserem Ideal eines logischen und zweckmÈßigen Zusammenhangs unvertrÈglich. Indem wir uns nun die Frage vorlegen, warum wir im Individuum einen zweckmÈßigen Zusammenhang voraussetzen und in dem Mangel desselben einen Widerspruch sehen, woher dann aber ein solcher Widerspruch stamme: klÈren wir uns Ýber die Doppelseitigkeit in dem Begriff des Individuums auf; damit nÈhern wir uns nun der abschließenden Einsicht in die Natur der IndividualitÈt. Die individuelle Anlage liegt zunÈchst in den quantitativen Maßen und MaßverhÈltnissen, welche ein Individuum vom anderen unterscheiden. Nun ist aber in der Struktur ZweckmÈßigkeit wirksam, die Teile der Struktur werden von den Trieben aus ins Spiel gesetzt, und diese wirken im Ganzen dahin, das Leben unter den gegebenen UmstÈnden zu fÚrdern. So werden sie allmÈhlich diesem Ziele angepaßt. Durch die Àbung werden gleichsam die Bahnen des zur Befriedigung fÝhrenden Zusammenhangs eingewÚhnt. Ein herrschender Ehrgeiz in einem Politiker Ýberwindet die SchÝchternheit des Auftretens, welche unter gewÚhnlichen UmstÈnden nicht besiegt worden wÈre. Ist bei starkem historischem Interesse das GedÈchtnis schwÈcher ausgebildet, so wird von solchem Interesse aus diese LÝcke einigermaßen ausgefÝllt. So wirkt in der IndividualitÈt ein Prinzip der Einheit, welche die KrÈfte dem Zweckzusammenhang unterwirft. Dies haben Humboldt und Schleiermacher in ihren metaphysischen Formeln mit Recht zur Geltung bringen wollen, so unvollkommen auch ihre Ausdrucksweise war. Das Recht zu diesen Formeln klÈrt sich hier auf. Aber beide erkennen nicht, daß der Untergrund, auf welchem dies Prinzip wirksam ist, von den unberechenbaren, vereinzelten, partikularen, quantitativen Bestimmungen herstammt. Diese bilden gleichsam die Hyle, welche durch dieses einheitlich gestaltende Prinzip, als eine Art von Eidos, zum Ganzen der IndividualitÈt gebildet wird. In dieser Verbindung tatsÈchlicher, von keiner Logik bestimmter Grundlagen mit einer zweckmÈßig gestaltenden Struktur, in welcher sie verknÝpft sind, ist die IndividualitÈt ein Bild der Welt selber. Und hier erhÈlt nun der Begriff der Entwickelung einen neuen Zug; in ihr werden die partikularen und zufÈlligen Bestimmtheiten der individuellen Anlage zu einem unter den gegebenen Bedingungen zweckmÈßigen und einheitlichen Zusammenhang ausgebildet.

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WidersprÝche in einer IndividualitÈt sind hiernach zunÈchst in vielen FÈllen nur scheinbar. Sie sind es dann, wenn hinter den kontrastierenden Eigenschaften doch ein zweckmÈßiger Zusammenhang verborgen liegt, der sich nur dem oberflÈchlichen Blick entzieht. So schließt die Langmut einer Natur nicht aus, daß dieselbe Ýber bestimmte Dinge in den heftigsten Zorn geraten kann. Lebendiges Interesse fÝr das Spiel schließt bei einem Knaben nicht gÈnzliche Teilnahmlosigkeit dem Unterricht gegenÝber aus. Wirkliche WidersprÝche sind dagegen VerhÈltnisse von Eigenschaften, durch welche der logische Zusammenhang oder die ZweckmÈßigkeit aufgehoben wird. So sind in manchem Dichter wÝste Einbildungskraft und ideales Streben in Widerspruch miteinander. Rousseau, der Reformator der Erziehung, ÝberlÈßt seine eigenen Kinder dem Findelhaus. Gustav Adolf ist der Held des Protestantismus und verfolgt doch zÈhe die Interessen seines schwedischen Staates. Es ist umsonst, WidersprÝche solcher Art weginterpretieren zu wollen, aus großen wie aus gewÚhnlichen Menschen, und das Urteil aus den folgerichtigen Durchschnittsmenschen diesen großen Naturen gegenÝber ist verfehlt. Will man nun die Einsicht in die Natur der IndividualitÈt, welche wir jetzt gewonnen haben, nÈher bestimmen und in die verschiedenen Formen der IndividualitÈt einen Einblick gewinnen, so muß man den Kreis der quantitativen Unterschiede zu umschreiben versuchen. Im allgemeinen sind die Individuen schon nach dem Grade ihrer geistigen Kraft verschieden; von den vegetativen Naturen erstrecken sich Grade der geistigen VitalitÈt bis zu den geistig schÚpferischen. Ein erster Kreis von bestimmteren Unterschieden ist in den verschiedenen IntensitÈten der inneren ZustÈnde gegeben. Es gibt Menschen, die unter der StÈrke ihres eigenen Mitleids leiden; nur zu bekannt ist uns dann im Gegensatz hierzu, wie gering das MitgefÝhl anderer ist, ja wie sich ein entschiedenes VergnÝgen bei manchen in den Eindruck fremden UnglÝcks mischt. Ein zweiter Unterschied besteht in bezug auf die Dauer der ZustÈnde. In der einen Person treten sie stoßweise auf, in anderen halten sie lange und dann meist in einer mÈßigen StÈrke an. So ist das WehegefÝhl, die Haßempfindung aufgrund einer LebensschÈdigung in den einen Personen so impetuos, daß sie sich zerstÚren zu mÝssen scheinen; Ýber Nacht ist die Szene verÈndert, sie sind zu VergnÝgungen aufgelegt. In anderen Personen besteht die durch LebensschÈdigung hervorgerufene Depression ruhig, bohrend, unaufhebbar fort: auch hinter neuen EindrÝcken taucht sie plÚtzlich wieder auf. Ferner existieren in bezug auf die Schnelligkeit in der Aufnahme von EindrÝcken sehr große Unterschiede. Alsdann sind Erregungen verschieden nach der Tiefe, mit welcher sie sich eingraben, um sich her in der Seele alles beeinflussen und lange Dauer haben. Dem entspricht ihre Ausbreitung Ýber das Seelenleben durch oftmalige Wiederkehr und Eintritt in innere neue Verbindungen. Flache Na-

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turen geben sich den EindrÝcken hin, lassen einen vom anderen verdrÈngen, wogegen in tiefen Naturen die EindrÝcke in großer StÈrke sich behaupten. Flache Naturen werden flÝchtig sein, diese sind Dauernaturen. Doch diese und andere Unterschiede nach Graden, Dauer, Wiederholung der inneren VorgÈnge, welche die Individuen voneinander trennen, bilden nur die ersten Unterlagen der IndividualitÈt. Sie gelangen denn auch in der Unterscheidung der Temperamente zum Ausdruck. Aber darauf kommt es nun vor allem an, welche MaßverhÈltnisse in der Struktur des Seelenlebens zwischen den einzelnen Bestandteilen bestehen, die diese Struktur bilden. Da der Kern der Struktur in der Reaktion auf EindrÝcke liegt, so muß auch der am meisten tiefgreifende Unterschied zwischen denen, in denen die Aufnahme von EindrÝcken vorwiegt, und denen, in welchen der Wille selbsttÈtig reagiert, gefunden werden. Naturen, welche den EindrÝcken unterworfen sind oder in Wort und GebÈrde die Entladung vom Eindruck herbeifÝhren, sind ganz von denen unterschieden, welche mit selbsttÈtiger Kraft und mit gerader Willenshandlung auf die EindrÝcke antworten. Die Aufnahme der EindrÝcke in Sinneswahrnehmungen ist dann wieder sehr verschieden je nach dem Verhalten eines einzelnen Sinnesgebietes. Hiernach unterscheiden sich die angeborenen FÈhigkeiten zunÈchst. Dann bestehen Unterschiede in bezug auf die VorgÈnge der Reproduktion und die weiteren intellektuellen Prozesse. Im Gebiet der GefÝhle tritt der fundamentale Unterschied zwischen dem Dyskolos und dem Eukolos hervor; in jenem rufen die EindrÝcke vorwiegend schmerzliche, in diesem vorwiegend heitere SeelenzustÈnde hervor. Aus dem VerhÈltnis der Triebe zueinander nach ihrer StÈrke fließen weitere durchgreifende Unterschiede der IndividualitÈten; so wie hier das Zentrum der psychischen Struktur liegt, treten an dieser Stelle auch die am meisten in die Augen fallenden Unterschiede auf. Und nirgend zeigt sich so deutlich als an diesem Punkte, wie quantitative Unterschiede Grund fÝr Unterscheidungen der IndividualitÈten werden, welche mit einem qualitativen Charakter in unserem Auffassen auftreten. Die Typen des Ehrgeizigen, des Eitlen, des WollÝstlings, des GewalttÈtigen, des Feigen sind doch alle nur der Ausdruck quantitativer VerhÈltnisse, da das System der Triebe in allen dasselbe ist und nur aus den MaßverhÈltnissen derselben diese charakteristischen Typen herfließen. Weiter ist das MaßverhÈltnis, in welchem die FÈhigkeit zu EindrÝcken zu der Reaktion durch Willenshandlungen in einer Seele steht, der Grund zu weiteren wichtigen Unterscheidungen. Hierbei ist es gleichviel, ob diese Willenshandlungen das Denken regeln und richten, die GefÝhle beherrschen oder nur in Èußeren Bewegungen die Außenwelt regieren. Dort ist der Mensch den EindrÝcken hingegeben; vielseitige EmpfÈnglichkeit lÈßt kein festes Gestalten in ihm aufkommen; das von den EindrÝcken angeregte Spiel der GefÝhle Èußert sich in den GebÈrden, dem Lachen und

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Weinen, dem Wechsel der Seelenverfassung. Hier ist im Gegensatz zur Anarchie der EindrÝcke eine monarchische Leitung des Lebens durch die Kraft des Wollens; sentimentale Naturen finden sich hiervon als von HÈrte, Geradlinigkeit oder NÝchternheit abgezogen; in Wirklichkeit ist die vorwiegend mÈnnliche Lebensstimmung die Stimmung des gestaltenden Menschen, im Gegensatz zu dem allseitig EmpfÈnglichen, Genießenden, Beweglichen, der sich auch gern schmeichelt, tiefer zu fÝhlen, weil er seinem GefÝhl die ZÝgel Ýberlassen hat. Ja an Vermeiden des Willensaufwandes knÝpft sich in vielen FÈllen die Faulheit, die UnfÈhigkeit zu objektiver sittlicher Wertbestimmung Ýber sich und andere aus Àberwiegen der heftigen GefÝhle gegen jeden, der Handlung und Anstrengung statt der GefÝhle fordert und schließlich ein heimliches, trÝgerisches, verhehltes Streben nach ErfÝllung der Antriebe des GefÝhlslebens. Neue Unterschiede treten dann darin auf, wie von einem erworbenen Zusammenhange aus die einzelnen Handlungen in festen VerhÈltnissen von Mittel und Zweck Jahre hindurch, ja einen Teil des Lebens hindurch bei den einen regiert werden, wÈhrend andere unstet immer nur Entscheidungen suchen und VerhÈltnisse des neuen Zwecks zu den Mitteln neu ordnen. Die einen handeln nach PlÈnen – Weltleute! – die anderen nach Maximen – sittliche, ernste Naturen! – wieder andere dÈmonisch. Àberblicken wir das Ganze dieser letzten GrÝnde, welche Unterschiede der IndividualitÈten bedingen, so glaube ich nun den Beweis fÝr den durchgreifenden Satz geliefert zu haben, daß Ýberall in quantitativen Unterschieden diese GrÝnde gefunden werden kÚnnen, so daß in diesen ein unermeßlicher Reichtum von Unterschieden angelegt ist. Hieran schließt sich, daß in solchen Naturbedingungen unserer Entwickelung die geringwertigen Bestandteile unseres Verhaltens liegen. Die VerselbstÈndigung des Geistigen, die Bevorzugung der dauernden GefÝhle von Freude an Konsequenz, von Arbeitsfreudigkeit, von Hingabe brechen erst allmÈhlich das eiserne Band, welches die Naturbestimmungen, die ersten quantitativen VerhÈltnisse in unserem Triebsystem, um unser Seelenleben legen. Nie aber absolut. Daher ist die Mischung in Talent, Naturell, Charakter von der Natur angelegt, und keine Entfaltung zu einheitlicher freier ZweckmÈßigkeit des Lebens kann diese Erdbestandteile unserer seelischen Existenz ganz verzehren. Zugleich liegt die MÚglichkeit der Korruption hier gegeben dicht neben der von Entwickelung zur menschlichen Norm. Die Klassen der Unterschiede, welche so entstehen, werden zunÈchst durch die SphÈren gebildet, in welchen innerhalb des GleichfÚrmigen der Menschennatur die Besonderungen sich voneinander abgrenzen. Den Unterschied der Lebensalter dÝrfen wir hier nicht in Betracht ziehen, da er innerhalb des einzelnen Individuums die Entwickelung desselben ausmacht. Der allgemeinste aller Unterschiede ist der Geschlechtsunterschied. Ein Gegenstand, Ýber wel-

3. *Der Korrekturabzug der „Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie“

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chen die Diskussion wohl nie ein Ende haben wird, Objekt aller Poesie, verwoben mit aller Literatur, heute von mÈchtigem praktischem Einfluß in den großen Fragen des Lebens. In unserer Kultur besteht wohl der fundamentale Unterschied darin, daß sich aus den nahen erlebten Beziehungen zu Familie, Mann, Kind das weibliche GefÝhls- und Gedankenleben aufbaut, wÈhrend die Berufserziehung den Mann das Leben aus objektiven und umfassenderen VerhÈltnissen, aber auch weniger unmittelbar und innig sich zurechtlegen lÈßt. Aber die Frage, wieviel an solchen Unterschieden Folge der Erziehung, wieviel unÝberwindlich gegebene Anlage sei, wird sich nur durch das Erziehungsexperiment allmÈhlich auflÚsen lassen, und jeder, der sich mit Menschennatur beschÈftigt, muß fÝr vielseitige Versuche Raum fordern. Menschenrassen, Nationen, gesellschaftliche Klassen, Berufsformen, geschichtliche Stufen, IndividualitÈten: all dies sind weitere Abgrenzungen der individuellen Unterschiede innerhalb der gleichfÚrmigen Menschennatur. Wenn die beschreibende Psychologie diesen Formen des Besonderen in der Menschennatur nachgeht, wird erst das Mittelglied zwischen ihr und den Geisteswissenschaften gefunden. In den Wissenschaften der Natur bildet das GleichfÚrmige das herrschende Erkenntnisziel: innerhalb der geschichtlichen Welt handelt es sich um Besonderung bis zum Individuum. Auf der Leiter dieser Besonderungen steigen wir nicht abwÈrts, sondern aufwÈrts. Die Historie hat ihr Leben in der fortschreitenden Vertiefung des EigentÝmlichen. In ihr ist die lebendige Beziehung zwischen dem Reich des GleichfÚrmigen und dem des Individuellen. Nicht das Singulare fÝr sich, sondern eben diese Beziehung regiert in ihr. Ein Ausdruck hiervon ist die ReprÈsentation der Geistesverfassung einer Epoche in einem Individuum. Auch die pÈdagogische Aufgabe, nach welcher der Erzieher in der wahren Schulverfassung die von ihm verstandene IndividualitÈt des ZÚglings dem Beruf muß entgegenfÝhren kÚnnen, der ihm entspricht, erleuchtet dieses VerhÈltnis der Gliederung des Allgemeinen zur IndividualitÈt. An diesem Punkte kann auch die Bedeutung eingesehen werden, welche eine beschreibende Psychologie der IndividualitÈt fÝr das geschichtliche Studium der Entwickelung der IndividualitÈt haben muß. Diese Entwickelung muß von zwei Momenten bedingt sein. Sie ist von der Steigerung der quantitativen Unterschiede in den Anlagen abhÈngig, aber die IndividualitÈt ist, wie wir sehen, nicht schon in den Verschiedenheiten enthalten, sondern sie entsteht erst aus diesen Verschiedenheiten vermittelst der VerknÝpfung derselben zu einem zweckmÈßigen Ganzen. Sie ist nicht, wie Schleiermacher und Humboldt annehmen, angeboren, sondern sie wird erst in der Entwickelung gestaltet. Daher liegt eine zweite Bedingung der Zunahme von IndividualitÈt innerhalb einer Gesellschaft in allem, was diese VerknÝpfung zu einem zweckmÈßigen Ganzen erleichtern kann. Die Zunahme der quantitativen Unterschiede ist in

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erster Linie durch die Arbeitsteilung und die sozialpolitische Differenzierung bedingt. In demselben wirkt die Zunahme von Kultur; sie ruft reizbarere, geistig mehr zugespitzte Existenzen hervor, in denen die quantitativen Unterschiede von Generation zu Generation zunehmen. Auf die VerknÝpfung der gegebenen quantitativen Maße zu einem zweckmÈßigen Ganzen wirkt alles, was die Freiheit und die innere Kraft der Gestaltung fÚrdert. Die AuflÚsung der sozialpolitischen Bindungen in der Èlteren Gesellschaft, die Zersetzung des altvÈterischen religiÚsen Glaubens, die freie Bildung einer eigenen AtmosphÈre in Lebens- und Weltansicht,480 um die einzelne Person, wie sie durch eine Art von metaphysischer Kraft der Reflexion und durch die kÝnstlerische PhantasietÈtigkeit gefÚrdert wird. Diese und andere KrÈfte waren dann auch wirksam, als in Griechenland zur Zeit der Sophisten, dann in der ersten rÚmischen Imperatorenzeit und darauf in der italienischen Renaissance die IndividualitÈt sich entfaltete. Was fÝr eine Aufgabe, die BrÝcke zu schlagen zwischen der bisherigen Psychologie und der Anschauung der geschichtlichen Welt! Nur indem zu den bisherigen Hilfsmitteln das Studium der geschichtlichen Produkte und das auf die psychischen Unterschiede der Individuen gerichtete Experiment hinzutreten, wird man einem solchen Ziel sich allmÈhlich nÈhern kÚnnen.

4. Antwort auf Hermann Ebbinghaus’ Kritik an Dilthey

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4. *Aus den EntwÝrfen zu einer Antwort auf Hermann Ebbinghaus’ Kritik an Diltheys „Ideen Ýber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie“

[I.] Seit gegen meine BegrÝndung einer beschreibend-zergliedernden Psychologie (Sitzungsberichte 1894. 20. Dezember 1894) eingewandt [wurde] (Ebbinghaus, Zeitschrift fÝr Psychologie 1895 Oktober), daß jedes psychologische Verfahren der hypothetischen Bestandteile und ihrer Erprobung bedÝrfe, so habe ich ausdrÝcklich gesagt (S. 2 S. 53 [140,191]), die Hypothesenbildung in der Psychologie [habe] engere Grenzen als in der Naturwissenschaft. Die entscheidende Kritik ist, daß Zusammenhang im Seelenleben nicht durch Hypothesen gemacht zu werden braucht, sondern daß er als Strukturzusammenhang in den inneren Erfahrungen und deren Verbindungen in einer sicheren Weise gegeben ist. Aus den AusfÝhrungen hierÝber S. 33.34.38 [171,172,176] erhellen [?] die kurzen AusdrÝcke: er wird erlebt (68 [206]), nicht durch SchlÝsse festgestellt (S. 72 [210]); sie rechtfertigen sich daraus, daß eben Zusammenhang in den einzelnen erfahrenen Gliedern erlebt wird, daß wir ihn nach einem unvermeidlichen Zuge in Erinnerungs- und Zukunftsbildern durchlaufen. Und wenn Èußere Wahrnehmung des Verlaufs tierischer Handlungen in der Vorstellung zur Betrachtung des in den inneren Erfahrungen und ihren Verbindungen gegebenen Strukturzusammenhangs nur hinÝberleitet, so habe ich diese Àberleitung doch nicht in die Beurteilung der Art, wie ein Strukturzusammenhang mir gegeben ist, einbezogen (S. 68 [206] gegen Ebbinghaus S. 189 [71 f.]). Indem man von diesem ganz sicher gegebenen Strukturzusammenhang ausgeht, ergibt sich, soweit er reicht, der Charakter des seelischen Zusammenhangs als ein teleologischer. Dann, wie in dieser seelischen Struktur die Bestandteile ineinandergreifen, ist Ýberhaupt ZweckmÈßigkeit primÈr gegeben. Und zwar kÚnnen wir hinter diesen Zusammenhang nicht zurÝckgehen, er ist die einheitliche Bedingung fÝr Leben und Erkennen, sonach (abgesehen von der erkenntnistheoretischen Tragweite dieses Tatbestandes) ist er der natÝrliche Ausgangspunkt der Psychologie und ein Erkenntnismittel (gegen Ebbinghaus 192 [74]) fÝr das VerstÈndnis weiterer ZusammenhÈnge bis in die geschichtliche Welt: um diese Darlegung handelte es sich fÝr mich, nicht allgemein um das Recht seelischer Einheiten (gegen Eb-

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binghaus 177 [60]) oder um die jedem Reflektierenden bekannte Tatsache der Struktur (gegen Ebbinghaus 193 [75]). Der weitere Verlauf einer beschreibend-zergliedernden Psychologie wird natÝrlich verdunkelt, wenn mir die Hypothese unbewußter Vorstellungen untergeschoben wird. Dann schwindet natÝrlich jede rechtmÈßige Unterscheidung ihres Verfahrens von anderen. Meine ausfÝhrlicher dargelegte Verwertung dieser Hypothese, die Darlegung, daß sie nichts fÝr ErklÈrung Ýber das im beschreibenden Verfahren Enthaltenen leiste (40–42 [178–180]), mußte billigerweise den Ausgangspunkt fÝr die Interpretation des unvorsichtigen Ausdrucks „psychische Wirklichkeiten“ (S. 52 [190]) abgeben. Indem der bewußte Strukturzusammenhang mit dem nur der Beschreibung ZugÈnglichen verbunden wird, 8entstehen nun9 die Grundlagen fÝr die Beschreibung und Analyse der einzelnen Glieder des seelischen Zusammenhangs. Insbesondere werden fÝr diese Glieder durch Abstraktion regelmÈßige EinzelzusammenhÈnge von grÚßerer oder geringerer Bestimmtheit ausgesondert. Wird die Unsicherheit, welche bei solchem Verfahren schon in den Beschreibungen liegt, hervorgehoben (Ebbinghaus S. 200 [81 f.]), so ist ja solche von mir keineswegs geleugnet, aber die Vergleichung der Ergebnisse verschiedener Beobachter wird sie mindern. Àbrigens ist S. 201 [82] Wille und Widerstand. Das VerhÈltnis einer solchen beschreibend-zergliedernden Psychologie, welche auf Konstruktion des Seelenlebens aus dem analytisch Gefundenen und ergÈnzenden Hypothesen verzichtet, zu erklÈrenden oder konstruktiven psychologischen Systemen ist nach meinen Bestimmungen nicht unklar (170 [54]), wenn folgende Elemente berÝcksichtigt werden. Konstruktive Psychologie ist fÝr den historischen [?] Blick zunÈchst eine geschichtlich bedingte und eingeschrÈnkte Erscheinung von grÚßter Bedeutung, die aber jetzt in der AuflÚsung begriffen ist. Sie geht von festen Vorstellungen aus und leitet nach dem Postulat eines deterministisch verfaßten Kausalzusammenhanges aus diesen und anderen festbestimmten ErklÈrungselementen die Bestimmungen des Seelenlebens ab. Dies bezeichne ich als „Konstruktion aus einer begrenzten Zahl von eindeutig bestimmten Elementen“. Diese Form der Psychologie ist nicht mehr durchfÝhrbar, wenn in seiner Tragweite erwogen wird, daß die reproduzierte Vorstellung kein Fixum ist, das nur zurÝckkehrt, sondern daß in einem Vorgang sie neu und nie als dieselbe gebildet wird. Mißversteht man das nicht dahin, „begrenzte Zahl“ fÝr „kleine Zahl“ zu halten (180 [63]), nimmt man die gar nicht „beilÈufig“ (Ebbinghaus 188 [70 f.]), sondern als „an erster Stelle“ gegebene Auseinandersetzung Ýber die der Konstruktion vorausgehende Analysis hinzu (gegen Ebbinghaus 182 [64 f.]; die von ihm zitierte •ußerung S. 26 [164] bezieht sich ja nur auf Spencer) und erkennt man den Zusammenhang der Assoziationspsychologie mit der naturwissenschaftlichen

4. Antwort auf Hermann Ebbinghaus’ Kritik an Dilthey

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Bewegung, fÝr den ich hier eine beweisende Stelle angebe (gegen Ebbinghaus 179 [62]), so wird die Behauptung hinfÈllig, die Charakteristik beziehe sich nur auf Herbart, sei also fÝr die Assoziationspsychologie hinfÈllig. (Ebbinghaus 179 [62]). [. . .] Es reicht mir nun fÝr die BegrÝndung des BedÝrfnisses [?] einer beschreibend-zergliedernden Psychologie von dem angegebenen [?] Charakter fÝr die Geisteswissenschaften die Anerkennung aus, daß nach meinen AusfÝhrungen S. 22 ff. [160 ff.] sie neben den freieren Formen der Psychologie481

[II.] 1.) Von dem Strukturzusammenhang aus soll der ganze Zusammenhang des Seelenlebens gegliedert und die Bedeutung und Funktion des einzelnen Bestandteiles dargestellt werden. Von diesem Zusammenhang unterscheide ich denjenigen, der in Reproduktion und Wirkung des erworbenen seelischen Zusammenhangs auf die bewußten Akte verlÈuft. Dieser setzt, weil er nur teilweise in das Bewußtsein fÈllt, Hypothesen voraus, wenn er erkannt werden soll. Es ist nun ein MißverstÈndnis, S. 194 [76], daß ich die hypothetische Annahme unbewußter Akte akzeptiere. Auf diesem MißverstÈndnis ruht ein großer Teil des Versuchs, WidersprÝche, Unklarheit usw. nachzuweisen. Ich habe S. 41 [174] auseinandergesetzt, daß solche Hypothesen von der beschreibenden und zergliedernden Psychologie zugrunde gelegt werden. Ihr Ort ist nach der Beschreibung und Zergliederung dieser VerhÈltnisse, wo dann die erklÈrenden Hypothesen gegeneinander abgewogen werden kÚnnen. Hiernach muß der kurzgefaßte und wie ich zugebe mißverstÈndliche Ausdruck S. 52 [189] „psychologische Analyse“ interpretiert werden. Ich nenne eine solche den Zusammenhang meiner Berufsarbeit. Wir gehen von S. 53 [191] aus. Da sage ich : 1. Die wichtigste Methode des Fortschreitens in der Psychologie ist Erprobung und DurchfÝhrung einer Hypothese in einem engeren oder weiteren Gebiet von Erscheinungen. Daraus folgt, daß von diesem Verfahren die ganze monographische Arbeit als der eigentliche Sitz des Fortschreitens abhÈngt. Ja ich sage S. 55 [193], daß in der Vorbereitung monographischer Arbeit eine Hauptbedeutung der beschreibenden Psychologie liegt.482 2. Systeme, welche aus Hypothesen konstruktiv alle Erscheinungen erklÈ-

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ren, haben zur Zeit nicht die Sicherheit, welche sie den Geisteswissenschaften zugrunde zu legen gestattet. 3. Ich hÈtte stÈrker betonen mÝssen, daß dies erprobende Verfahren auch in der Systematik der ganzen Psychologie ein Hebel des Fortschritts gewesen ist und immer wieder sein kann. Aufstellung und Behandlung prinzipieller Fragen gehen von hier aus. 4. Die reine DurchfÝhrung eines konstruktiven Systems fordert nun aber gewisse Eigenschaften S. 2 [139]: „Sie leitet aus einer begrenzten Zahl eindeutig bestimmter Elemente eine ganz vollstÈndige und durchsichtige Erkenntnis der seelischen Erscheinungen ab.“ Element ist nach S. 20 [158] jeder Bestandteil der psychologischen Grundlegung, welcher zur ErklÈrung der seelischen Erscheinung gebraucht wird. Solche sind also auch Prinzipien. Dies ist S. 80–81 [218 f.] mißverstanden. Spreche ich von einer begrenzten Zahl desselben, so heißt das: In der Analyse mÝssen sie alle zum Vorschein kommen, und ihre Verbindung ermÚglicht die vollstÈndigen Konstruktionen. Es bleibt dann im Seelenleben nichts Inkommensurabeles mehr. In diesem Sinn spreche ich auch von den harten Tatsachen des Sollens, der IdentitÈt usw. nicht, als behaupte ich, sie seien einfach, aber sie deuten im Seelenleben auf etwas, das in keiner konstruktiven Psychologie aufgenommen werden kann. Ein solches System ist immer deterministisch. 5. Daher verstehe ich unter konstruktiver Psychologie eine bestimmte historische Gruppe von Psychologen. Sage ich, daß deren Herrschaft fortdauere, so meine ich natÝrlich nicht die in der positiven Fortbildung der Psychologie, sondern in der allgemeinen Bildung der Naturwissenschaften. Ob solche Herrschaft besteht, darÝber lÈßt sich nicht disputieren. ErwÈgt man aber Materialismus, Sozialismus usw., so halte ich sie doch fÝr richtig. 6. Àber diese konstruktive Psychologie haben uns die von Wundt, Sigwart und James erworbenen Einsichten hinausgefÝhrt. Hier liegt das unverzeihlichste MißverstÈndnis vor; ich soll sagen, also meistens hÈtten diese Einsichten zu einem vollstÈndigen Bankrott der erklÈrenden Psychologie gefÝhrt; sage nur, daß in MÝnsterbergs Ansicht der Bankrott einer selbstÈndig erklÈrenden Psychologie enthalten ist, d. h. die ErklÈrungs-Psychologie fÈllt bei ihm in das Physiologische. Die Einbeziehung von Wundt in diesen Bankrott ist Erfindung; ich sage vielmehr, daß die [Einsichten] von Wundt, Sigwart und James Ýber die konstruktive Psychologie hinausfÝhrten. Ich bin deswegen nicht abhÈngig von derselben. In der Einleitung der Geisteswissenschaften und in derselben Richtung begriffen im einzelnen cf. 40 [Ges. Schr. I, S. 32] und in der Poetik Ýber den schÚpferischen Vorgang in der Reproduktion usw.483 7. Ich meine also, jedes Erzeugnis des Seelenlebens trÈgt einen einheitlichen Zusammenhang in sich, das Erinnerungsbild ist immer schon ein einheitlicher

4. Antwort auf Hermann Ebbinghaus’ Kritik an Dilthey

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bildender Vorgang: so wird die Vorstellung eindeutig fester seelischer Elemente aufgelÚst. Ein einheitliches Tun in der Seele wird pausibel gemacht, die Lebendigkeit in diesem ganzen Zusammenhang offenbart sich. Wir werden auf etwas Inkommensurables im Seelenleben hingewiesen. Sollen und Freisein sind hier verbunden. So kommen wir immer mehr davon ab, und zwar hat gerade an manchen Punkten das Experiment dazu beigetragen, eine solche Konstruktion mit den angegebenen Merkmalen als ausfÝhrbar anzusehen. Damit wird dann zur natÝrlichen ferner [?] eine Psychologie, die von dem beschriebenen Zusammenhang des Seelenlebens analytisch einer Inkommensurabelogie sich nÈhere, daher nicht mehr konstruktiv verfahren kann.484 2.) Àberzeugungskraft fÝr alle zuschreiben. Das Bewußtsein kann nicht hinter sich selbst zurÝckgehen, das lebendige Tun [des] in einem seelischen Zusammenhang Wirksamen, das Hypothesen Ýber Seele erdenkt, das handelt, das in seinem verschiedenen Wirken bald die Eigenschaften von Evidenz dieses Tuns, bald von einem ihr vorschwebenden Sollen zeigt, ist das uns erstlich und letztlich Bewegende.485 Immer wieder finden wir uns angewiesen, dieses einheitliche Wirken als Voraussetzung auch der intellektuellen Operationen gelten zu lassen. Jeder Versuch, es zusammenzusetzen, nimmt Teilinhalte heraus: das Einheitliche, Lebendige, SchÚpferische ist dann in diesen nicht enthalten. Geht man aber von ihm aus, dann ist fÝr Annahmen Ýber den Leib, das Nichtbewußte usw. ein grenzenloser Spielraum da. Hier ist eine prinzipielle Grenze unserer psychologischen Erkenntnis. Ich drÈnge niemanden auf eine positive Ansicht, aber kritische ZurÝckhaltung ist gewiß das, was besondere ErwÈgung aus der Stellung des Erkennens zum seelischen Leben ableiten muß, wofÝr ja auch in Kant ein VorgÈnger da ist. Schon486 dem kann ich mich nicht anschließen, aus diesem einheitlichen Tun auf einen TrÈger, ein Subjekt desselben zurÝckzugehen. Einst erstrebte die Psychologie die Verwirklichung des Ideals eines Kausalzusammenhangs, der durch Konstruktion erprobt werden kann. Die Psychologie, die so entstand, habe ich als erklÈrende bezeichnet, hinzugefÝgt, daß sie besser konstruktive genannt wÝrde, doch leider den Ausdruck erklÈrend nicht fallen gelassen, der nun doch sehr viel Schuld an den MißverstÈndnissen trÈgt. Definiert habe ich freilich, was ich darunter verstehe.

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D. Die beschreibende Psychologie der neunziger Jahre

[III.] Der Nachweis, daß ein solcher Zusammenhang des Seelenlebens in der Struktur desselben gegeben sei und daß von ihm aus eine beschreibende und zergliedernde Psychologie entworfen werden kÚnne, welche dem BedÝrfnis einer Grundlage fÝr die Geisteswissenschaften entspreche, wurde in der vorhergehenden Abhandlung (Sitzungsberichte 1894. 20. Dezember) zu liefern versucht. Wenn ein Aufsatz in der Zeitschrift fÝr Psychologie von Herrn Prof. Ebbinghaus (1895. Oktober) einwendet, daß auch ein solches Verfahren hypothetischer Bestandteile und des Erprobens derselben an den seelischen Tatsachen bedÝrfe, so habe ich das selbst ausgesprochen (S. 2, S. 53 [140, 191]); hier sind die BerÝhrungspunkte zwischen beschreibender und erklÈrender Psychologie gegeben, aber ich hatte ebenso bestÈtigt die andere Stelle und Tragweite des Hypothetischen in einer derartigen beschreibenden Psychologie als in einer solchen, welche das Prinzip des psychophysischen Parallelismus oder das von unbewußten Vorstellungen oder von festen psychischen Elementen, die in gesetzlichen VerhÈltnissen untereinander wirken, ihren ErklÈrungen zugrunde legt. ZunÈchst487 ist der Strukturzusammenhang in den inneren Erfahrungen und deren Verbindungen in sicherer Weise gegeben. Die AusfÝhrungen hierÝber S. 33. 34. 38 [171, 172, 176] mußten der Interpretation der kurzen AusdrÝcke – so: er wird erlebt (S. 68 [206]), zugrunde gelegt werden; der diesen Ausdruck erklÈrende Satz, daß die einzelnen ÀbergÈnge in die innere Erfahrung fallen, geht ja unmittelbar vorher. Ebenso besagt der Ausdruck, daß „diese Verbindung so ungleichartiger VorgÈnge nicht durch SchlÝsse festgestellt wird“ auch nur das in die Erfahrung Fallen der einzelnen Verbindungen. Die Art, wie dieser Strukturzusammenhang fÝr uns da ist, erhellt am besten daraus, daß wir ihn nach einem unvermeidlichen Zuge in Erinnerungsund Zukunftsbildern durchlaufen. „Hinzukonstruiert“ (Ebbinghaus 193 [75]) wird er gewiß nicht. Und wenn Èußere Wahrnehmung des Verlaufs tierischer Handlungen in der Abhandlung benutzt wird, um in einer natÝrlichen Gedankenfolge zu der Betrachtung des in der inneren Erfahrung und ihren Verbindungen gegebenen Strukturzusammenhangs hinÝberzuleiten, so hat dies488 nichts mit der Art, wie mein seelischer Strukturzusammenhang mir in innerer Erfahrung und deren Verbindungen gegeben ist, zu tun und dÝrfte daher nicht benutzt werden, die Sicherheit, mit welcher er gegeben ist, herabzumindern (wie S. 189 [71] geschieht). In diesem Strukturzusammenhang [liegt] die Bedingung dafÝr, daß fÝr uns Zusammenhang Ýberhaupt da ist. Da im Gebiet der Èußeren Erscheinungen einer Natur nur Nacheinander stattfindet, so kÚnnte der Gedanke des Zusammenhangs nicht entstehen, wenn er nicht der

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eigenen zusammenhÈngenden Einheitlichkeit entnommen wÈre. So kÚnnen wir auch hinter diesen Zusammenhang nicht zurÝckgehen. So ist seine Beschreibung und Zergliederung die Grundlage der Psychologie, und vermittelst dieses Erkenntnismittels (denn das ist sie ja gegen Ebbinghaus 192 [74]) kÚnnen wichtige ZusammenhÈnge bis in die geschichtliche Welt hinein aufgeklÈrt werden. Weiter ist darin, wie in dieser seelischen Struktur die Bestandteile ineinandergreifen, ZweckmÈßigkeit primÈr gegeben, und kÚnnen von hier aus die teleologischen ZusammenhÈnge der geschichtlichen Welt aufgeklÈrt werden. Dies alles wollte ich zur Geltung bringen, hierin liegt der Kern des Gesagten, nicht das Recht seelischer Einheiten (Psychologie Zeitschrift 177 [60]), was nach Kant nicht angebracht wÈre.489 Wird mir dann in bezug auf die weitere Beschreibung und Zergliederung psychischer ZusammenhÈnge Benutzung der Hypothese unbewußter Vorstellungen zugeschrieben,490 so wird damit natÝrlich die rechtmÈßige Unterscheidung und ihre Bevorzugung hinfÈllig. Die ausfÝhrlich S. 40 ff. [178 ff.] begrÝndete Ablehnung der BegrÝndung dieser Hypothese mußte billigerweise zur Interpretation des einzelnen Ausdrucks: „psychische Wirklichkeiten“ benutzt werden; meinetwegen mÚchte er ausgemerzt [?] werden, obwohl ich es nicht nÚtig finde.491 Wird mir die Unsicherheit, welche in der Beschreibung, Analyse, Aussonderung von RegelmÈßigkeiten in EinzelzusammenhÈngen, enthalten ist (Ebbinghaus 200 [81 f.]) [vorgeworfen]: so hebe ich diese ja selber hervor (S. 2 [140]); sie wird durch die Vergleichung der Ergebnisse verschiedener Beobachter und die von [mir] als ein großer Fortschritt zweifellos anzuerkennende Anwendung des Experimentes nur gemindert. (Àbrigens gehÚren die zwei Beschreibungen des Wollens S. [ ] nicht hierher, der Wille ist das eine und das andere, weil er verschiedene Seiten hat, vgl. auch Wundt S. [ ] und James); aber Unsicherheit der Psychologie an einzelnen Punkten ihres weiteren Verlaufs ist etwas ganz anderes als hypothetischer Aufbau eines konstruktiven Teils, fÝr den die Analysen nur Grundlegung sind. Auch wer weitergehende AussprÝche [?] nicht zu492

[IV.] Die von mir im vorigen Jahre verÚffentlichte Studie Ýber beschreibende und zergliedernde Psychologie493 ist eben in einer Abhandlung angegriffen worden, welche an der Spitze des letzten Heftes der Zeitschrift fÝr Psychologie deren Herausgeber, Professor Ebbinghaus, verÚffentlicht hat. Àber die Manier dieses Angriffs gebe ich den Lesern beider Abhandlungen das Urteil anheim.

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Aber ich habe gegenÝber denen, welche diesen Angriff, aber nicht meine Studie gelesen haben, den Wunsch, sie Ýber den Tatbestand aufzuklÈren. Ich suchte mir die Anforderungen an eine Psychologie klar zu machen, welche die Grundlage der Geisteswissenschaften sein kÚnne. Hatte ich frÝher494 in einer beschreibenden Psychologie die MÚglichkeit ihrer AufklÈrung gesehen, so wollte ich nun zeigen, daß in sicherer und fruchtbarer Weise von dem Strukturzusammenhang des Seelenlebens aus eine solche Psychologie hergestellt werden kÚnne.495 1. Wie allmÈhlich auch eine VerÈnderung sich vollziehe, die in der Èußeren Wahrnehmung auftritt: sie sind immer nur durch die zeitliche Folge verbunden. Suchen wir GleichfÚrmigkeiten hier auf, so kÚnnen es nur solche von Gleichzeitigkeit oder Folge sein. Zusammenhang wird allein in dem Seelenleben erfahren und daher auch von ihm her Ýbertragen, wo wir sonst Zusammenhang annehmen. Zwar tauchen auch im Seelenleben Vorstellungen plÚtzlich auf, ein GefÝhl ÝberfÈllt uns, ein Streben regt sich, ohne daß wir den Zusammenhang kennen, in welchem das geschieht. An anderen Punkten des seelischen Verlaufs wird ein Zusammenhang erfahren. Ich unterscheide die innere Verbindung in einer Einheit oder einem Ganzen und die in einem Zusammenhang. Die innere Verbindung von Bestandteilen, welche dieselben gleichzeitig in sich faßt, ist die der Einheit oder des Ganzen. Ein solches Ganze ist die Verbindung der Wahrnehmungsbestandteile in der Auffassung eines GemÈldes. Werden schon hier diese Bestandteile in der Zeit zu der Einheit derselben im Ganzen verbunden,496 so ist diese Verbindung in der Zeit zu einem Ganzen, dessen Bestandteile dann zusammen im Bewußtsein besessen werden, in der Melodie, dem Satz oder dem Schluß, darum eine andere, weil hier schon tatsÈchlich einander folgende Bestandteile eines Zusammenhangs zu einer Einheit verbunden werden, wobei dies doch so geschieht, daß das erinnerte Subjekt mit dem eben erklingenden PrÈdikat zu einem wirklich einen Ganzen verbunden wird. Wir bezeichnen daher Satz oder Melodie als eine Einheit, als ein Ganzes, ebenso aber auch als einen Zusammenhang. Diesen letzteren Ausdruck wenden wir dann ganz ausschließlich an, wo eine innere Verbindung mehrerer VorgÈnge so stattfindet, daß der eine Vorgang in einen anderen Ýbergeht, in einer stetigen VerÈnderung. So geht Sehnsucht nach einem Menschen [in] Streben und Wille, ihn wiederzusehen Ýber. Widerwille ruft den Willen vom Objekt sich abzuwenden hervor. Die Art dieses Àbergangs, welche ihn aus einer bloßen Folge zum Zusammenhang macht, ist eine auch weiter zerlegbare Erfahrung, die jemand nur zu machen aufgefordert werden

4. Antwort auf Hermann Ebbinghaus’ Kritik an Dilthey

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kann. Merkmal derselben ist das Bewußtsein der Selbigkeit; in dem Naturzusammenhang tritt nirgends das zugleich auf: das Bewußtsein der Selbigkeit und Wiederholung in Vorstellungen. Wir machen uns diesen Zusammenhang klar, indem wir fragen ([Chr.] Sigwart[, Logik. Erster Band, a. a. O., S.] 205.6), woher das Neue komme? Wir legen Ýberall, wo ein Mehr auftritt, eine Funktion unter, welche dieses leistet. Dadurch entstehen Funktionen, welche einen Zusammenhang leisten, die dann wieder eine Funktion fordern, die den Zusammenhang der Funktionen herstellt [. . .].

ANMERKUNGEN A. FrÝhe Texte zur Auseinandersetzung um eine deskriptive Psychologie (ca. 1860–1880) Der erste Teil des Bandes versammelt einige frÝhe Arbeiten D.s, in denen neben ersten Àberlegungen zur BegrÝndung einer nicht-erklÈrenden Psychologie die kritische BeschÈftigung mit konkurrierenden psychologischen Konzeptionen im Mittelpunkt steht. Weitere psychologische Texte aus D.s FrÝhzeit enthÈlt der Band XVIII der Ges. Schr. 1. *Zur Kritik der VÚlkerpsychologie von Lazarus und Steinthal C 27 II: 151–152, C 28: 274, C 27 II: 145, 146 Rs., 149, 150 Rs, 148, 147, 143, 144 Rs. Undatiertes Konvolut von der Hand zweier Schreiber auf Doktordiplomen von 1893–1894. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei diesem Text um eine spÈtere Abschrift eines Entwurf bzw. von Materialien der verschollenenen Anzeige des ersten Heftes der von Moritz Lazarus und Heyman Steinthal herausgegebenen „Zeitschrift fÝr VÚlkerpsychologie und Sprachwissenschaft“ (Berlin 1859), die D. im FrÝhjahr 1859 nach dem Erscheinen des ersten Heftes in Aussicht stellt (vgl. Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und TagebÝchern 1852–1870. Zusammengestellt von C. Misch geb. Dilthey, Leipzig und Berlin 1933, S. 69) und deren Fertigstellung er im Februar 1860 in einem Brief an seinen Vater meldet (Der junge Dilthey, S. 101). Diese kurze Rezension, die in „Westermanns Monatsheften“ verÚffentlicht werden soll und die D. Lazarus vorlegt, ist allerdings dort nie erschienen und offenbar auch an anderer Stelle nicht publiziert worden; auch im Nachlaß gibt es keine weiteren Hinweise auf diese Besprechung. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf den Einleitungsaufsatz der Herausgeber „Einleitende Gedanken Ýber VÚlkerpsychologie, als Einladung zu einer Zeitschrift fÝr VÚlkerpsychologie und Sprachwissenschaft“ (S. 1–73). 1

Am Kopf der Seite und auf dem beiliegenden Blatt (C 28: 273) einige, nur teilweise entzifferbare Lesenotizen von D.s Hand. 2 D. bezieht sich hier und im Folgenden auf: R. H. Lotze, Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie, Erster Band, Leipzig 1856. 3 D. bezieht sich hier auf: R.H. Lotze, Metaphysik. Drei BÝcher der Ontologie, Kosmologie und Psychologie, Leipzig 1879. 4 Im Ms.: GesetzmÈßigung. 2. *Die Psychologie und das Studium der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit C 30 I: 68, 69, 76, 75, 74, 72, 73, 78, 77, 70. Undatiertes Ms. von fremder Hand. Der erste Teil des Ms. ist unpaginiert, der zweite hat die Paginierung 1–5. 5 6

Im Ms.: Griff. Das Ms. bricht ab.

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Anmerkungen 3. Der Standpunkt einer empirischen Psychologie

C 76: 387–389 Rs., 376, 376 Rs. Undatiertes Ms. von fremder Hand. 4. Grundlegung der Psychologie C 30 I: 82–82 Rs. Undatiertes Ms. von der Hand D.s, vermutlich um 1878 geschrieben. Dem unpaginierten Text, in dem D. eine Verbindung von der Psychologie zur Weltanschauungslehre herstellt, ist ein I vorgestellt; weitere Gliederungshinweise fehlen. 5. FÝr die neue Durcharbeitung der Psychologie C 30 I: 84–85 Rs. Undatiertes Ms. von D.s Hand. Der Text ist Teil eines Heftes (C 30 I: 83) mit der Aufschrift Psycholog[ie] [18]78. 7

Der Rest ist unleserlich. 6. *Zur Systematik der psychischen ZustÈnde

C 42: 103–110. Undatiertes, unpaginiertes, eigenhÈndiges Ms. im Stadium eines ersten Entwurfs. Abfassungszeit des Textes vermutlich um 1880. Vgl. auch Ges. Schr. XVIII, S. 146 ff. 8 D. bezieht sich hier und im Folgenden auf R. H. Lotze, Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie, Erster Band, a. a. O. 9 EinfÝgung im Text: Hierher 1) auch Seite vorher. 10 J.B. Meyer, Kants Psychologie. Dargestellt und erÚrtert, Berlin 1870. 11 Ebd. 12 Ebd., 94. Nicht ganz wÚrtlich zitiert. 13 D. bezieht sich hier und im Folgenden auf F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, Erster Band, Leipzig 1874. 14 Von D. nicht konsequent korrigiert in: seiner eigenen reiferen [?] Vorstellung der Sache nicht. 15 Àber die Zeile geschrieben: z. B. Phantasiebild. 16 D. bezieht sich hier und im folgenden auf W. Wundt, GrundzÝge der physiologischen Psychologie, Leipzig 1874. 17 D. bezieht sich auf A. Horwicz, Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage. Ein Versuch zur NeubegrÝndung der Seelenlehre, Erster Theil, Halle 1872. 18 Im Ms.: lustendes. 19 Am Rand : Im Gegensatz gegen Intellektualismus. 20 D. bezieht sich auf J. MÝller, Handbuch der Physiologie des Menschen fÝr Vorlesungen, Zweiter Band erste Abtheilung, Coblenz 1837. 21 W. James, The feeling of effort, Boston 1880. 22 D. bezieht sich hier und im folgenden auf W. Wundt, GrundzÝge der physiologischen Psychologie, 2. vÚllig umgearbeite Aufl., Erster Band, Leipzig 1880. 23 LÝcke im Text. 24 Vgl. W. Wundt, GrundzÝge der physiologischen Psychologie, a. a. O., Zweiter Band, S. 210 ff. 25 Ein Abschnitt I fehlt. 26 Es folgt ein kaum zu entzifferndes Zitat aus: M.F.X. Bichat, Anatomie g¹n¹rale, appliqu¹e Ä la physiologie et Ä la m¹dicine, 2 BÈnde, Paris 1801.

Anmerkungen

349

B. Kleinere Texte zur GefÝhls- und Willenslehre und zur Strukturpsychologie (ca. 1875 – 1892) Im B-Teil der Ausgabe sind die wichtigsten und aufschlußreichsten Texte des psychologischen Nachlasses zusammengefaßt, in denen sich D. mit den Problemen der GefÝhls-, Trieb- und Willenstheorie beschÈftigt hat. Hinzu kommen EntwÝrfe, die sich dem Konzept der Struktur des Seelenlebens widmen. Diese Texte, die einem Zeitraum von etwa fÝnfzehn Jahren entstammen und einen jeweils unterschiedlichen Ausarbeitungsgrad aufweisen, machen insbesondere D.s starke Orientierung an der physiologischen Forschung seiner Zeit deutlich.

1. *GefÝhl und Wille C 20: 65–83 Rs., undatiertes Diktat mit einigen unlesbaren bzw. nur sehr schwer zu entziffernden ZusÈtzen von D.s Hand auf der rechten Spalte der halbseitig beschriebenen BlÈtter. Das vierundzwanzigseitige Ms. trÈgt die Paginierung I–VI. Offenkundige HÚrfehler wurden stillschweigend korrigiert. 27

Auf der rechten Blattseite eine Reihe unleserlicher stichwortartiger Notizen von D.s Hand. Vgl. Platon, Philebos 34d-36b. Die von D. angefÝhrte Platon-Stelle ist kein wÚrtliches Zitat. 29 Im Text Hinweis auf Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berÝhmter Philosophen, Buch X, 129. 30 GeÈndert aus: Meinens. 31 Es ist unklar, worauf sich D. bezieht. 32 J.G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen, Berlin 1800. 33 GeÈndert aus: allen. 34 Am Rand von D.s Hand: Dies ist in der Tat ein exakter Beweis. 35 Am Rand von D.s Hand: SchÚne Stelle vom Charakter, daß in der Kombination prÈformiert jede Ýberraschendste Handlungsweise liege, von deren MÚglichkeit das Individuum Ýberhaupt keine Ahnung hat. 36 Am Rand von D.s Hand: bedarf des Beweises. 37 GeÈndert aus: Reflexionsmechanismus. 38 GeÈndert aus: Benutzung. 39 D. Hartley, Observations on man, his frame, his duty, and his expectations, London 1749. Deutsch von H.A. Pistorius, Betrachtungen Ýber den Menschen, seine Natur, seine Pflicht und Erwartungen, 2 BÈnde, Rostock und Leipzig 1772–1773. 40 W. Wundt, Vorlesungen Ýber die Menschen- und Thierseele, Erster Band, Leipzig 1863. 41 Am Rand unlesbare Notiz von der Hand D.s. 42 Am Rand von D.s Hand: Diese Grundansicht ist im Einklang mit Kants Ansicht. Große Lehre von der Synthesis als dem Wesen [?] unseres Anschauens und Vorstellens, der gemÈß Anschauung und Vorstellen Energie (richtiger: bestÈndiges Produkt zusammenwirkender Energien) sind. 43 H. Ulrici, Leib und Seele. GrundzÝge einer Psychologie des Menschen, Leipzig 1866. 44 H. Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft (= Abriß der Sprachwissenschaft, Erster Teil: Die Sprache im Allgemeinen), Berlin 1871. Das im Folgenden von D. aus Steinthals Schrift AngefÝhrte sind keine wÚrtlichen Zitate. 45 Am Rand unleserliche Notiz von D.s Hand. 46 Vgl. H. Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, a. a. O., S. 292. 28

350 47 48 49 50

Anmerkungen Vgl. ebd, S. 292f. R. H. Lotze, Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele, Leipzig 1852. GeÈndert aus: Diesseits. J. MÝller, Handbuch der Physiologie des Menschen fÝr Vorlesungen, Erster Band, Coblenz

1834. 51

F.D.E. Schleiermacher, Monologen. Eine Neujahrsgabe, Berlin 1800. M.W. Drobisch, Empirische Psychologie nach naturwissenschaftlicher Methode, Leipzig 1842, S. 264. 53 Am Rand von D.s Hand: Das [. . .] der Musik: Einzelnes zu kommunizieren. 54 Satz umgestellt. 55 Vgl. G. RÝmelin, Shakespearestudien, Stuttgart 1866. 56 GeÈndert aus: mÈchtiges. 57 Es folgt ein Blatt mit Exzerpten von D.s Hand. 58 L. FriedlÈnder, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von August bis zum Ausgang der Antonine, 3 BÈnde, Leipzig 1862–1871. 59 Am Rande unleserliche Notizen von D.s Hand. 52

2. *Die Gliederung der psychischen Akte C 29 II: 274. Undatiertes Diktat, vermutlich aus den frÝhen oder mittleren siebziger Jahren. 60

GeÈndert aus: sie.

3. Die GefÝhls- und Triebkreise. Allgemeine Eigenschaften C 26 I: 195–207, undatiertes Diktat mit Korrekturen und ErgÈnzungen D.s. Die intensive Bezugnahme auf G. H. Schneiders 1880 verÚffentlichte Monographie Ýber den tierischen Willen legt die Vermutung nahe, daß der Text zu Beginn der achtziger Jahre geschrieben wurde. Originalpaginierung GefÝhls- u[nd] Triebk[reise] 1–13. Vgl. auch D.s AusfÝhrungen in seiner Ethik-Vorlesung von 1890, Ges. Schr. X, S. 53 ff. 61

Am Rand von D.s Hand: A. Sinnentriebe und SinnengefÝhle. DafÝr Merkmal, daß diese Grundlage da. Aber Assoziation schließt sich an, [. . .]. 62 Am Rand von D.s Hand: = die Triebmechanismen und die durch sie bedingten Begierden, Leidenschaften und GefÝhlsverbindungen. Diese Triebmechanismen schließen sich zunÈchst an die Reflexmechanismen an, ob sie von ihnen der Art nach verschieden sind oder nur nach dem Grade der Bewußtseinsbeteiligung, welche diese Zwecke Ýberall vollbringt (Hartmann etc.), kann offen bleiben. Rest unleserlich. 63 Auf C 26 I: 200 und 200 R.s findet sich ein grÚßerer Zusatz von D.s Hand: Nach: Erhaltung der Gattung Zeile 1 Fortsetzung: [G. H.] Schn[eider], [Der] th[ierische] W[ille. Systematische Darstellung und ErklÈrung der thierischen Triebe und deren Entstehung, Entwickelung und Verbreitung im Thierreiche als Grundlage zu einer vergleichenden Willenslehre, Leipzig o. J. (1880), S.] 172: Hier ist der Trieb der Fortpflanzung mit der Liebe zur Nachkommenschaft verbunden. [Die physiologischen] Unterlagen [S.] 172.3. Brutpflege tritt uns schon bei Spinnen und Insekten entgegen 243 ff. Bei den Tieren teilweise an Perioden gebunden. Bs. 244: Bei sÈmtlichen Wirbeltieren erfolgen die Liebeswerbungen in derselben Art. Das Aufsuchen und Nachfolgen der Geliebten, das Werben durch allerlei Bewegungsspiele und Liebkosungen, die Eifersucht auf Nebenbuhler, die Vertreibung derselben und KÈmpfe dabei: all diese Szenen sind schon bei den Fischen,

Anmerkungen

351

Reptilien, den VÚgeln und SÈugetieren ganz allgemein und vollziehen sich da so gut wie in den geschriebenen und gelebten Romanen der Menschen. Die VÚgel werben durch Gesang, wie [es] auch bei Menschen geschieht. Sie werben durch Bewegungsspiele, Balzreigen, TÈnze, Umherflattern. VÚgel und SÈugetiere brÝsten und zeigen sich vor den Weibchen, sie kÈmpfen mit den Nebenbuhlern. Im Menschen verknÝpfen sich mit dieser Unterlage viele soziale GefÝhle [?]. Volle Lebensgemeinschaft, UnverbrÝchlichkeit und Treue. Soziales GefÝhl. [A.] Horwicz[, Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage. Ein Versuch zur NeubegrÝndung der Seelenlehre, Erster Theil, a. a. O., S.] 399 ff. Soll in AufopferungsfÈhigkeit Ýbergehen. Die ganze Theorie Hartmans von der Illusion, welche so viel Aufsehen gemacht hat, entspringt aus einer psychologisch falschen eudÈmonistischen Voraussetzung, sofern sie Ýber Schopenhauer hinausgeht. Der Triebmechanismus fÝr sich ist der Motor nicht dabei vorgestellter Subjekte. Dieser aber hat sich in der evolutionistisch wirkenden Natur gebildet als eine Macht, die ebenso wie Leben und Tod oberhalb des einzelnen Individuums liegt. Aber ebenso ist eine solche Macht die damit verbundene Liebe zu den Nachkommen. Es ist eine rohe Auffassung, welche aus dem armseligen Sinnieren entspringt, nachzurechnen, wo ein Plus liege. Die PrÈmie, welche die Natur gesetzt hat: Dieses VerhÈltnis kann man umkehren; fÝr das vorÝbergehende Bewußtsein ist in der Regel die Lust die PrÈmie fÝr die Erhaltung der Gattung. Aber fÝr das wahre innere [?] VerhÈltnis, das sich in dauernden Befriedigungen ausspricht [?], ist die Freude an den Kindern die PrÈmie fÝr sehr viel MÝhe, Angst, Arbeit, welcher sich die Menschen sonst nicht so aussetzen wÝrden. 64 Am Rand: Schneider, Th[ierischer] W[ille, a. a. O., S.] 169. 65 Am Rand: Schneider, Th[ierischer] W[ille, a. a. O., S.] 170–71. 66 Am Rand: Schneider, Th[ierischer] W[ille, a. a. O., S.] 209. 67 Am Rand: Schneider, Th[ierischer] W[ille, a. a. O., S.] 228. 68 Am Rand: [Schneider, Thierischer Wille, a. a. O., S.] 233. 69 Am Rand: [Schneider, Thierischer Wille, a. a. O., S.] 234–236. 70 Am Rand: [Schneider, Thierischer Wille, a. a. O., S.] 239. 71 Am Rand von D.s Hand: 2. Die peripherischen Triebmechanismen. 72 Am Rand: Die drei Bilder sind Horwicz zu [. . .]. 73 Am Rand von D.s Hand: GemeingefÝhle und „rohe stumme“ [?] Triebe. 74 Von hier bis zum Ende des Ms. von D.s Hand. 75 Am Rand: Instinkte sind nur [?] durchgehends Triebkombination. Bewußter (Kunst-) und Geschlechtstrieb etc. 76 Der Satz bricht ab.

4. *GefÝhl und GefÝhlskreise C 25: 514–521, 523–538, 486, 493–494. Undatiertes Ms., Ýberwiegend von D.s Hand. Bei dem ersten TextstÝck (C 25: 514–521) handelt es sich um einen von D. herausgelÚsten Teil eines ursprÝnglich offenbar wesentlich umfangreicheren, nicht mehr vorhandenen Textes, der den Zusatz FÝnftes Kapitel trÈgt. Dieses ursprÝngliche 5. Kapitel eines offensichtlich aufgelÚsten grÚßeren Textkorpus wurde, wie die originale Paginierung erkennen lÈßt, von D. um einen Mittelteil gekÝrzt, Ýberarbeitet, mit ZusÈtzen und neuen ZwischenÝberschriften versehen. Dieses erste TextstÝck trÈgt die Paginierung d[ie] bzw. die GefÝhle 2–3 sowie 8–12. Vor diesen Text hatte D. drei Seiten gelegt. Das erste dieser BlÈtter (C 25: 511) enthÈlt unter der Àberschrift II Deskription des GefÝhls. A Termini eine Reihe von kaum zu entziffernden Kurzdefinitionen, u. a. zu GefÝhl, Affekt, Willensvorgang und GemÝtsbewegung. Auf den folgenden beiden Seiten (C 25: 512–513) finden sich einige LehrsÈtze zur GefÝhlslehre:

352

Anmerkungen

Satz 1. GefÝhl ist ein unableitbares Faktum. Die UnmÚglichkeit, GefÝhl, Trieb, Willensvorgang aus Vorstellungsprozessen abzuleiten, erweist sich an der Erschleichung, welche durch jeden solchen Versuch entsteht ([W.] Wundt Abhandlung [Zur Lehre von den] GemÝthsbewegungen[, in: Philosophische Studien VI (1891), S. 335–393] 346). Die Beziehungen vorstellungsmÈßig betrachten, durch welche man erklÈrt habe. [. . .] Satz 2. Das GefÝhl ist einfach, wenn auch die Bedingungen zusammengesetzt sind. [. . .] Satz 3. Wir kÚnnen es in seiner Einfachheit nur durch seine Antezedenzien und Wirkungen beschreiben. [. . .] Satz 4. GefÝhl geht in Wollen Ýber, es beweist [?], daß Willensvorgang von ihm [?] begleitet ist. Sonach sind GefÝhl und Wollen Bestandteile desselben Prozesses. Dieser bildet die Innenseite des psychischen Vorganges, wÈhrend Vorstellen und willkÝrliche Bewegung die Èußere Seite ausmachen. Aber nach unserer Terminologie sind es Daseinsweisen desselben Vorgangs. Satz 5. Der Trieb ist die einfachste primÈre Form einer solchen Verbindung. Es folgt der Hinweis: Nun III Stellung der GefÝhle. Das zweite TextstÝck (C 25: 523–538, 486, 493–494) ist versehen mit einer Èlteren Àberschrift Sinnlich-geistige (Èsthetische) GefÝhle und Stimmungen. Der wohl ursprÝngliche Titel Sechstes Kapitel. Die GefÝhlskreise wurde von D. gestrichen. Dieser Titel findet sich auch auf zwei EinzelblÈttern (C 25: 491 und C 25: 495 Rs.), die jeweils kurze KapitelanfÈnge enthalten: Ein bestimmtes Bild einfacher GefÝhlszustÈnde entsteht, wenn man die sinnlichen Schmerzen, die OrgangefÝhle, die sich besonders in den inneren Organen unseres KÚrpers ausbreiten, das GemeingefÝhl zusammenordnet. (C 25: 491) Der Beobachter, der sich nun der außerordentlichen Mannigfaltigkeit der GefÝhle gegenÝbersieht, findet in den sinnlichen GefÝhlen, wie sie direkt durch die Reizung der sensiblen Nerven hervorgebracht werden [Ms. bricht ab ]. (C 25: 495 Rs.) Einen grÚßeren, zusammenhÈngenden, wegen der verwendeten KÝrzel und der sehr flÝchtigen Handschrift allerdings nur mit großen LÝcken lesbaren Textkorpus mit dem Titel Die Elemente des GefÝhlslebens (C 25: 466–482), den er diesem Faszikel zugeordnet hatte, verwendete D. wohl als Grundlage fÝr seine AusfÝhrungen. 77

Vgl. Goethes Gedicht „An die Entfernte“. Satz aufgrund einer Korrektur D.s unvollstÈndig. 79 Unlesbares Wort Ýber die Zeile geschrieben. 80 Briefwechsel zwischen Schiller und KÚrner. Herausgegeben, ausgewÈhlt und kommentiert von K.L. Berghahn, MÝnchen 1973, S. 331. 81 Ebd., S. 333f. 82 Am Rand von D.s Hand: Wie ein Wahrnehmungsbild aus einer Mannigfaltigkeit von Empfindungsinhalten zusammengesetzt, so der GefÝhlszustand im jeweiligen Augenblick aus elementaren GefÝhlen. Siehe weiter [W.] Wundt[, Zur Lehre von den GemÝthsbewegungen, a. a. O., S.] 363. 364 eigentlich besser. Nota bene. 83 Auf C 25: 489 findet sich eine Variante zu der folgenden Passage: ZunÈchst stehen auch hier zu der StÈrke der Reizung des sensiblen Nerven das Auftreten unangenehmer oder angenehmer 78

Anmerkungen

353

GefÝhle in Beziehung. Zu starkes Licht schmerzt unser Auge, ein zu starker Schall unser Ohr. Zu hohe oder zu geringe IntensitÈtsgrade wirken unangenehm, dagegen mittlere wirken an sich erfreulich. 84 Am Rand von D.s Hand: [W.] Wundt[, GrundzÝge der physiologischen Psychologie, 3. umgearbeitete Aufl., Zweiter Band, Leipzig 1887, S.] 414. 475 ff. 85 Auf C 25: 492 findet sich eine Variante zu der folgenden Passage: Ein dritter Kreis von GefÝhlszustÈnden entsteht aus den Beziehungen der Sinnesinhalte zueinander. Und zwar beginnt mit ihnen die umfassende und wichtige Klasse von GefÝhlen, in denen noch wie in der vorhergehenden EindrÝcke die Ursache von GefÝhlen sind, aber doch nicht mehr die Sinnesinhalte fÝr sich, einzeln oder in Aggregaten, sondern in Beziehungen zueinander oder zu Vorstellungen. Diese VerhÈltnisse sind es nun, die das GefÝhl hervorrufen. In dieser Klasse verbreiten sich die wichtigsten Èsthetischen GefÝhle. In ihr treten nun auch die moralischen GefÝhle auf. Zugleich eine Anzahl von GefÝhlen, die zum praktischen Handeln anregen. 86 Am Rand: [H.] Helmholtz VortrÈge [und Reden, Erster Band, Braunschweig 1884, S.] 113, 114. 87 Auf C 25: 490 findet sich eine Variante zu der folgenden Passage: In dem Aufbau musikalischer Wirkungen bildet die GefÝhlsfÈrbung der einzelnen KlÈnge die Unterlage, darÝber bauen sich Harmonie und Disharmonie sowie die mitbedingten VerhÈltnisse der Tonleiter und der Tonarten, aber [Ms. bricht ab ]. 88 Am Rand von D.s Hand: Regel: alle unsere GefÝhle tendieren in Triebe Ýberzugehen. Zuerst macht sich dies im Festhalten der EindrÝcke geltend. Alsdann in der Gliederung des GefÝhls in motorischen Reflexen. Auf der folgenden neu eingeschobenen Seite 14 und der unpaginierten RÝckseite (C 25: 537 und 537 Rs.) hat D. unter dem Titel § II Die geistigen GefÝhlskreise einige kaum lesbare Hinweise zur Fortsetzung notiert. Weitere nur unvollstÈndig zu entziffernde Stichworte zur Fortsetzung enthÈlt die Seite 16 und deren RÝckseite (C 25: 538 und 538 Rs.) unter der Àberschrift B GefÝhle, welche den Willensvorgang begleiten und die Beschaffenheit desselben reflektieren. GefÝhl des Erfolgs.

5. *Zur Trieb- und GefÝhlslehre C 42: 132–137. Undatiertes, paginiertes ( 1.–6.) Ms. von fremder Hand mit einer ErgÈnzung D.s. 89 90

Am Rand unleserliche stichwortartige Notate von D.s Hand. Das Ms. bricht ab.

6. Die Struktur des Seelenlebens C 42: 111, 117–120, 123. Undatiertes Diktat mit Korrekturen und ErgÈnzungen von D.s Hand. Das Ms. ist paginiert ( Blatt 1., Die Struktur des Seelenlebens bzw. Struktur des Seelenlebens Bl. 2–6) und trÈgt den Zusatz zur Àberschrift: Neuntes Kapitel. Zu welchem grÚßeren Textkorpus das Ms. gehÚrte und was mit den Ýbrigen Kapiteln geschehen ist, lÈßt sich nicht mehr rekonstruieren. 91

Am Kopf der Seite kaum zu entziffernde Notizen D.s, z. T. in (eigener) Kurzschrift. Am Rand nur teilweise lesbare, numerierte ( I 1.–4.) Notizen von D.s Hand. 93 Ein von D. eingefÝgtes 5), das sich wahrscheinlich auf die oben erwÈhnten numerierten Notizen bezieht, wurde getilgt. 92

354

Anmerkungen

94 Am Rand lÈngere, nur bruchstÝckhaft lesbare EinfÝgung von D.s Hand, die auch auf der RÝckseite des Blattes fortgesetzt ist. 95 Am Rand nur teilweise zu entziffernde EinfÝgung von D.s Hand. 96 Am Rand unlesbarer Einschub von D.s Hand. 97 Es folgen zwei BlÈtter (C 42: 121 und Rs., 122) mit nur stellenweise entzifferbaren Notizen von D.s Hand. 98 Am Rand nur zum Teil lesbare ErgÈnzung von D.s Hand. 99 Es folgen einige nicht lesbare Stichworte D.s, die auf der RÝckseite des Blattes (C 42: 123) fortgesetzt werden. Die folgenden paginierten ( Blatt 7 und Bl. 8.–9., Struktur des Seel[en]l[e]b[ens] Bl. 7) Seiten (C 42: 124–127 Rs.), die ebenfalls nur z. T. zu entziffern sind, enthalten – unter dem gestrichenen Titel Die Struktur des Seelenlebens – eine Fortsetzung des Diktats von D.s Hand.

7. Die Struktur des Seelenlebens. § 1. Die psychophysische Struktur des tierisch-menschlichen Lebens C 26 I: 233–237, 190, 189. Undatiertes, paginiertes ( Struktur § 1 1–11) Diktat, das D. mit einigen wenigen Korrekturen und ErgÈnzungen versehen hat. Das Titelblatt (C 26 I: 233) trÈgt die Aufschrift: Erster Abschnitt Struktur, Bestandteile, Prozesse und Eigenschaften des Seelenlebens. Der ursprÝngliche Untertitel: Paragraph I. Die Struktur des Seelenlebens wurde von D. gestrichen und ersetzt durch: Erstes Kapitel Die Struktur des Seelenlebens §1 Die psychophysische Struktur des tierisch-menschlichen Lebens. Dieses Blatt trÈgt außerdem noch einen Vermerk von B. Groethuysen: 233–237. 190. 189 Neu geordnet Gr. Vor diesen Text hatte D. zwei BlÈtter (C 26 I: 231–232) gelegt, die wohl ein kaum zu entzifferndes frÝhes Konzept der Gliederung und Stichworte zum Inhalt des spÈter AusgefÝhrten enthalten. Demnach sollte der Erste Abschnitt den Titel Die Struktur des Seelenlebens tragen und der erste Paragraph Das anatomisch-physiologische Strukturbild zum Thema haben. Dieser Untersuchungsgegenstand wurde dann in der spÈteren Ausarbeitung, wie der folgende Text zeigt, zum Inhalt eines zweiten Paragraphen. 100 Am Rand eine kaum entzifferbare Notiz zum Wert und zur WertabschÈtzung von D.s Hand. 8. Die Struktur des Seelenlebens. § 2. Das physiologisch-anatomische Strukturbild C 42: 5, 190–194, 6–37. Undatiertes, paginiertes und weitgehend eigenhÈndig geschriebenes Ms. Das Titelblatt (C 42: 5) trÈgt die von D. in AbkÝrzungen verfaßte Aufschrift: Erster Abschnitt Struktur Bestandteile Prozesse Eigenschaften des Seelenlebens Erstes Kapitel Die Struktur des Seelenlebens

Anmerkungen

355

§ 2. Darunter von fremder Hand: Das anatomisch-physiologische Strukturbild. Die erste Seite des Textes (C 42: 190) enthÈlt den von D. geschriebenen, aber spÈter gestrichenen Titel: Erster Abschnitt Die Struktur des Seelenlebens. § 1. Das anatomisch-physiologische Strukturbild. 101

Im Ms.: wird. Einige nachtrÈgliche Korrekturen D.s nicht zu entziffern. 103 Einige nachtrÈgliche Korrekturen D.s nicht zu entziffern. 104 Im Text Hinweis auf E. Haeckel, [Gesammelte populÈre] VortrÈge [aus dem Gebiete der Entwicklungslehre, Erstes Heft, Bonn 1878,] S. 107. 105 Auf der Rs. von C 42: 7 kurze Notiz Ýber Arthropoden. 106 Am Rand eine nicht lesbare Notiz. 107 Einschub D.s nicht zu Ende gefÝhrt. 108 Vgl. E. PflÝger, Die sensorischen Functionen des RÝckenmarks der Wirbelthiere nebst einer neuen Lehre Ýber die Leitungsgesetze der Reflexionen, Berlin 1856 und F. Goltz, BeitrÈge zur Lehre von den Functionen der Nervencentren des Frosches, Berlin 1869. 109 Am Rand: [L.] Landois[, Lehrbuch der Physiologie des Menschen einschliesslich der Histologie und mikroskopischen Anatomie. Mit besonderer BerÝcksichtigung der praktischen Medicin, 4., verbesserte und vermehrte Aufl. Wien und Leipzig 1885, S.] 753. 110 Am Rand: S. 7. [Th.] Ziehen[, Leitfaden der Physiologischen Psychologie in 14 Vorlesungen, Jena 1891]. 111 Am Rand: Landois[, a. a. O., S.] 751. 112 Am Rand: Ziehen[, a. a. O., S.] 5 Versuch. 113 Am Rand: Landois[, a. a. O., S.] 751. 114 Àber die Zeile geschrieben: Zentrum. 115 Am Rand: Ziehen[, a. a. O., S.] 8 Versuche. Ein Beispiel der Anpassung der Bewegung an einen interkurrenten Reiz. 116 Am Rand: WÚrtlich m[ein] Diktat. 117 Am Rand eine kaum lesbare Bemerkung. 118 Von hier bis zum Ende des Absatzes von D. spÈter in Klammern gesetzt. 119 Am Rand ein kaum leserlicher Zusatz. 120 Am Rand eine unleserliche EinfÝgung. 121 Die folgenden drei WÚrter spÈter eingeklammert und am Rand mit einem ? versehen. 122 Vgl. bes. H. Munk, Àber die Functionen der Grosshirnrinde. Gesammelte Mittheilungen aus den Jahren 1877–80. Mit Einleitung und Anmerkungen, Berlin 1881. 123 Auf dem Rest der Seite unleserliche Notizen in KÝrzelschrift. 124 Der Satz bricht ab; der folgende Teil des Satzes wurde aus einer gestrichenen Passage rekonstruiert. 125 Am Rand eine nur teilweise leserliche EinfÝgung. 126 Am Rand: Landois Wundt [?]. 127 Vgl. P.M.J. Flourens, Recherches exp¹rimentales sur les propri¹t¹s et les fonctions du systme nerveux dans les animaux vert¹br¹s, 2. ¹dition corrig¹e, Paris 1842. 128 Am Rand: [W.] Wundt[, GrundzÝge der physiologischen Psychologie, 3. umgearbeitete Aufl., Erster Band, Leipzig 1887, S.] 198. 102

356

Anmerkungen

129 Am Rand: (Hier Zentrum fÝr die Koordination von Bewegungen und ihre Anpassung an Reize der Außenwelt. Sie scheinen auch eine zweckmÈßige regelmÈßige Form von Reaktion zu enthalten.) 130 Am Rand: Wundt[, a. a. O., S.] 200. 131 Der folgende Satz von D. spÈter in Klammern gesetzt. 132 Am Rand: Wundt[, a. a. O., S.] 200 wÚrtlich. 133 Am Rand: Aus Wundt 200 aber? 134 Am Rand: Landois[, a. a. O., S.] 830. 135 Beginn eines Diktats. 136 Im Text Hinweis auf [H.] MÝnsterberg, [Die] Willenshandlung[. Ein Beitrag zur Physiologischen Psychologie, Freiburg i. Br. 1888, S.] 18. 137 W. Wundt, Vorlesungen Ýber die Menschen- und Thierseele, Erster Band, 2. Aufl. Leipzig 1892. 138 Ende des Diktats. 139 Am Rand: [Th.H.] Meynert, [Psychiatrie. Klinik der Erkrankungen des Vorderhirns, begrÝndet auf dessen Bau, Leistungen und ErnÈhrung, Erster Band, Wien 1884, S.] 127. 128. 140 Es folgt eine unlesbare EinfÝgung. 141 Am Rand: Land[ois, a. a. O., S.] 798. 142 Unleserliche EinfÝgung. 143 Die beiden folgenden SÈtze rekonstruiert. 144 Es folgen nur teilweise lesbare AusfÝhrungen Ýber Aphasie (C 42: 38–41) unter Bezug auf [W.] Wundt[, GrundzÝge der physiologischen Psychologie, 3. umgearbeitete Aufl., Erster Band, a. a. O., S.] 227, die D. – wie die Paginierung ( 30–33) ausweist – offenbar aus einem grÚßeren anderen Ms. herausgelÚst hatte und die in den vorliegenden Text wohl noch eingearbeitet werden sollten. Titel, Abfassungszeit und weiterer Verbleib des ursprÝnglichen Ms. sind nicht bekannt.

9. Die Struktur des Seelenlebens. § 3. Die entsprechende Struktur des inneren Lebens C 42: 100–102 Rs. Undatiertes, unvollstÈndig paginiertes Diktat. Das Titelblatt (C 42: 100) trÈgt die Aufschrift: Erster Abschnitt Struktur, Bestandteile, Prozesse und Eigenschaften des Seelenlebens. Erstes Kapitel Die Struktur des Seelenlebens. §3 Die entsprechende Struktur des inneren Lebens. Darunter von D.s Hand: Wie das Prinzip der Èußeren Struktur ist, daß die erste Beziehung des Protoplasmas sich in der zweiten Beziehung von Reiz und Empfindung differenziert und durch engere [?] Verbindungen der Zusammenhang des Zwecks in ein Ganzes [. . .] erhalten wird: so ist dasselbe auch [?] Prinzip des Seelenlebens. Auf der Rs. hat D. in fÝnf Punkten nur hÚchst unvollstÈndig entzifferbare Stichworte notiert. 145

Am Rand eine nicht lesbare Notiz von D.s Hand.

Anmerkungen

357

C. Zur Auseinandersetzung mit der erklÈrenden Psychologie (ca. 1884-1894) Dieser Teil des Bandes enthÈlt fÝnf, z. T. umfangreiche Mss. aus dem Jahrzehnt vor der Publikation der Ideen Ýber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894), in denen sich D. mit zentralen Theoremen der von ihm so genannten „erklÈrenden“ Psychologie auseinandersetzt. Diese Texte bereiten die positive Ausarbeitung einer deskriptiven Psychologie unmittelbar vor.

1. Das Leben C 42: 202–202 Rs., 195–205. Undatiertes, paginiertes ( 15–35) Ms., Ýberwiegend von D.s Hand. Auf der ersten Seite des hier abgedruckten Textes (C 42: 202) findet sich die Àberschrift: Viertes Buch. Tatsachen des Bewußtseins. Erster Abschnitt: Das Leben. Das Ms. ist Teil eines von D. geschriebenen, vollstÈndig paginierten ( 1–35) Entwurfs zu den BÝchern drei und vier des Zweiten Bandes der Einleitung in die Geisteswissenschaften (C 42: 206–215). Die Titelseite (C 42: 206) trÈgt die Aufschrift: Drittes Buch. Es folgen (C 42: 207 und Rs.) kaum zu entziffernde Stichworte zu einem Entwurf zum Vorwort des Zweiten Bandes der Einleitung. Das eigentliche Ms. beginnt (C 42: 208) mit der Àberschrift: Drittes Buch Die Erfahrungswissenschaften, ihre erkenntnistheoretische Grundlegung und ihre Vollendung in einer objektiven Weltsystematik. Diese Skizze zum Dritten Buch enthÈlt eine Gliederung in vier Abschnitten. Der erste Abschnitt sollte vom Zeitalter der Reformation und der zweite von der Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaften handeln. Als Titel des dritten Abschnitts hatte D. vorgesehen: Vorherrschen des Analytischen, Erkenntnistheorie, Sensualismus und der GefÝhlslebendigkeit (C 42: 211 Rs.), und der vierte Abschnitt sollte die Àberschrift: Das Ringen gegen den Druck der objektiven Weltsystematik. Der transzendentale Idealismus. Die historische Schule tragen (C 42: 214). Die in diesem Ms. niedergelegte Disposition der BÝcher drei und vier weicht einerseits deutlich von der sog. „Breslauer Ausarbeitung“ (vgl. Ges. Schr. XIX, S. 58–173), aber andererseits auch von den GliederungsentwÝrfen der frÝhen neunziger Jahre ab (vgl. Ges. Schr. XIX, S. 296–332). Aufgrund des Hinweises auf die Abhandlung von Wundt ist zu vermuten, daß D. diesen Entwurf etwa um das Jahr 1894 geschrieben hat. 146 Es folgt die EinfÝgung: 1. Der Satz der PhÈnomenalitÈt und seine Auslegungen [?]. 2. Der Satz vom grundlegenden Charakter des in der Lebendigkeit enthaltenen Zusammenhangs. 147 Am Rand: NB. Zusammenhang voraussenden: causat aequat [effectum] – dann Lehre vom physiologischen Zusammenhang und Lehre von den Graden. 148 Am Rand: Auch hier VerhÈltnis der Àbertragung von Lebendigkeit in Außenwelt und RÝckÝbertragung. So entsteht der Begriff von seelischer Substanz. 149 Am Rand: Denkmittel der psychischen Chemie. 150 Am Rand ein nicht lesbarer Name. 151 Beginn eines Diktats. 152 Es folgt der Hinweis: Manuskript 22–34. Worauf sich dieser bezieht, ist unklar. 153 Vgl. Ges. Schr. XIX, S. 75. 154 Ein Kapitel 4 fehlt im Ms.

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Anmerkungen

155 Es folgt die Notiz: [W.] Wundt[, Àber psychische CausalitÈt und das Princip des psychophysischen Parallelismus, in: Philosophische Studien] Band 10 [(1894), S. 1–124] Heft 1. S. 112 folgende.

2. *Die Struktur des Seelenlebens und die analytische Methode C 6: 133–213, undatiertes Ms., zum grÚßten Teil von D.s Hand, mit der Originalpaginierung 1–82. Das Ms. stammt vermutlich aus der zweiten HÈlfte der achtziger Jahre und liegt in einem Umschlag (C 6: 133), der den von fremder Hand geschriebenen Titel Manuskript der Abhandlung Ýber Außenwelt trÈgt. Auf einem weiteren innerem Umschlagblatt (C 6: 134) hat D. notiert: Ausarbeitung. RealitÈt der Außenwelt. Eine eingelegte, unpaginierte Seite (C 6: 135) enthÈlt unter dem Titel Wirklichkeit einige kaum lesbare Notizen D.s. Die Hinweise auf die sog. „RealitÈtsabhandlung“, d. h. die BeitrÈge zur LÚsung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die RealitÈt der Außenwelt und seinem Recht (Ges. Schr. V, S. 90–135) sind irrefÝhrend, da die Abhandlung keinen unmittelbaren Bezug zur erkenntnistheoretischen Studie von 1890 aufweist. Die S. 66–82 des Textes wurden aus systematischen GrÝnden bereits in Ges. Schr. XIX, S. 180–183 verÚffentlicht. 156

Korrigierter Satz. Am Rand: Absatz! 158 Unleserliche Bemerkung am Rand. 159 GeÈndert aus: dem. 160 Am Rand: Die Analysis des Chemikers stellt ein Element isoliert dar, die des Psychologen kann die Farbempfindung blau nur in rÈumlicher Erstreckung und umgeben vom dunklen Sehfeld auffassen. 161 Ab hier Diktat. 162 GeÈndert aus: betrÝgt. 163 Im Vorbericht von G. Misch zu Ges. Schr. V, S. LVIII findet sich das aus dem Nachlaß mitgeteilte Zitat: FÝr diese BÝhne des Lebens ist die RÝckwand der Kulissen einerlei. Dieses Wort hatte auch schon A. Stein in seiner Dissertation Der Begriff des Geistes bei Dilthey, Bern 1913, S. 10 mitgeteilt. Vgl. auch A. Stein, Der Begriff des Verstehens bei Dilthey, 2., neubearbeitete und erweiterte Aufl. TÝbingen 1926, S. 10. 164 Ende des Diktats. 165 Am Rand: [H.] Spencer[, Die Principien der Psychologie. Autorisirte deutsche Ausgabe. Nach der 3. englischen Aufl. Ýbersetzt von B. Vetter, Erster Band, Stuttgart 1882, S.] 412. 166 GeÈndert aus: mit den anderen. 167 Ab hier Diktat. 168 Korrigiert aus: abgestumpft. 169 Zusatz D.s. 170 Ende des Zusatzes. 171 GeÈndert aus: GefÝhl. 172 Ende des Diktats. 173 Am Rand: Besser so weiter: man versuche nun zunÈchst das, was in Wahrnehmen, Vorstellen, Denken etc. – 174 Unleserliche Notiz am Rand. 175 Satz rekonstruiert. 176 Nicht zu entziffernde Bemerkung D.s am Rand. 177 Es folgt ein durch einen Tintenfleck unlesbar gewordenes Wort. 157

Anmerkungen

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3. ErklÈrende Psychologie. Theorie des Parallelismus C 76: 398, 382 Rs., 380, 380 Rs., 383–386 Rs., 391–392, 411–439 Rs., C 25: 59–75, 77–88 Rs., C 76: 460–474 Rs., 440–443 Rs., 401, 401 Rs., 446, 448–459 Rs., 394–400 Rs., 402–409. Teil eines nicht mehr vollstÈndig zu rekonstruierenden grÚßeren, undatierten, unterschiedlich paginierten Ms., Ýberwiegend von fremder Hand. Die fehlenden §§ 1 und 2 sind nicht mehr auffindbar. Der von D. geschriebene Titel findet sich auf C 25: 58. Die ersten, nur sehr schwer lesbaren Seiten des Textes (C 76: 377–379 Rs., 381, 381 Rs, 382) mit Notizen zur Geschichte und Literatur der neueren Psychologie wurden weggelassen. Die vielen HÚrfehler in den Diktatteilen wurden stillschweigend korrigiert, die zahlreichen unlesbaren EinfÝgungen, ZusÈtze und Randnotizen D.s sowie Gliederungshinweise zum Text blieben unberÝcksichtigt. 178

Titel von D.s Hand. Am Rand von D.s Hand: ein psychologischer Schein. 180 Am Rand von D.s Hand: Beispiel. 181 Eine Parallelstelle der folgenden Passage vgl. unten S. 127 . 182 Am Rand unlesbare Notiz von D.s Hand. 183 Am Rand nicht zu entziffernde grÚßere EinfÝgung von D.s Hand. 184 H. Spencer, The Principles of Psychology, London 1855; A. Bain, The Senses and the Intellect, London 1855, The Emotions and the Will, London 1859. 185 Am Rand unlesbare EinfÝgung von D.s Hand. 186 Im Text und am Rand unlesbare EinfÝgung von D.s Hand. 187 Am Rand unlesbare EinfÝgung von D.s Hand. 188 A. Horwicz, Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage. Ein Versuch zur NeubegrÝndung der Seelenlehre, Zweiter Theil, Erste HÈlfte: Die Analyse des Denkens. Grundlinien der Erkenntnisstheorie, Halle 1875; Zweiter Theil, Zweite HÈlfte: Die Analyse der qualitativen GefÝhle, Magdeburg 1878. 189 Am Rand unlesbare EinfÝgung von D.s Hand. 190 Am Rand unlesbare EinfÝgung von D.s Hand. 191 Am Rand unlesbare EinfÝgung von D.s Hand. 192 Unlesbare Korrektur im Text von D.s Hand. 193 Àber der Zeile Zusatz von D.s Hand: = innere Willenshandlung. 194 Beginn eines eigenhÈndig geschriebenen Ms.-Teils. 195 Am Rand: James. Lehre vom Seelenglauben [?]. 196 Beginn eines Diktats. 197 F. Paulsen, Einleitung in die Philosophie, Berlin 1892, S. 63 ff. 198 Am Rand: [Chr.] Sigwart[, Logik, Band] II2[, Freiburg i. Br. 1893, S.] 523 ff. 199 Am Rand von D.s Hand: a) GrÝnde dieser Bedenken. 200 Am Rand: Sigwart[, a. a. O., S.] 523. 201 Am Rand von D.s Hand: b) aber Hypothese unklar. 202 Am Rand von D.s Hand: c) Monismus und Parallelismus. 203 Es folgen zwei gestrichene BlÈtter (C 76: 419 und 419 Rs.). 204 Am Rand von D.s Hand: Zusammenhang dieser BegrÝndung. 205 Am Rand von D.s Hand: B. GrÝnde der Entscheidung fÝr die zweite Theorie. 1. Sichere Kenntnis davon, daß alle psychischen VorgÈnge ausnahmslos physisch bedingt sind. 206 Am Rand: I). 207 Am Rand : [O.] Liebmann[, Zur Analysis der Wirklichkeit. Eine ErÚrterung der Grundprobleme der Philosophie, 2. betrÈchtlich vermehrte Aufl., Straßburg 1880, S.] 462. 179

360 208

Anmerkungen

Am Rand: Aus Wundts Essay zu vervollstÈndigen. Von D. Ýber die Zeile geschrieben: Das Ergebnis. 210 Von Dieses bis verwirre von D. am Rand eingeklammert und mit einem Fragezeichen versehen. 211 Am Rand von D. markiert und mit einer nicht lesbaren Notiz versehen. 212 Das Ms. bricht ab. Es folgt ein Zwischenblatt (C 76: 410) mit den Paragraphentiteln: § 4. Psychischer Atomismus § 5. Parallelismus und Lehre von den Begleiterscheinungen. 213 W. Wundt, System der Philosophie, Leipzig 1889. 214 GeÈndert aus : Limbus 215 Am Rand unlesbare Notiz von D.s Hand. 216 Es folgen zwei Seiten (C 25: 67 und 67 Rs.) von D.s Hand. 217 Korrigiert nach Sigwart, a. a. O., S. 530. 218 Fortsetzung des Diktats. 219 W. James, The Principles of Psychology, Volume One, New York 1890. 220 Im Ms.: 735. 221 Am Rand von D.s Hand: a) Kosmologie. 222 Am Rand von D.s Hand: b. Theologie a) [. . .] Gottesbegriff. 223 Am Rand von D.s Hand: c) Psychologie. 224 Von erstens bis Zweifel, daß ein FortfÝhrung von D.s Hand. 225 Korrektur von D.s Hand: kann, wie mir scheint, mit dieser Hypothese in Einklang gebracht werden. 226 Korrektur von D.s Hand: Tritt rein willkÝrliche. 227 Von D. korrigiert in: muß. 228 Von D. korrigiert in: Ýber. 229 Von D. Ýber die Zeile geschrieben: = die Wahl. 230 Am Rand von D.s Hand: Sigwart II[, a .a. O., S.] 490. 231 Am Rand von D.s Hand: Sigwart II[, a .a. O., S.] 490. 232 Am Rand von D.s Hand: So faßt [E.] Zeller[, VortrÈge und] Abhandlungen, II[. Sammlung, Leipzig 1877, S.] 534 den Beweis zusammen. 233 Der Text bricht ab. 234 Am Rand von D.s Hand: § 7. II der offene und der verschleierte Materialismus. 235 Am Rand von D.s Hand: Liebmann[, a. a. O., S.] 460 ff. Sigwart[, a. a. O., S.] 79 ff. 236 Am Rand von D.s Hand: Opium hat eine vis dormitiva etc. = was schlafen macht [?]. 237 Am Rand von D.s Hand: Liebmann[, a .a. O., S.] 476. 238 Am Rand von D.s Hand: 1. der Materialismus setzt zwei Reihen von Tatsachen, die ganz verschieden von erkenntnistheoretischer Provenienz sind, in ein inneres VerhÈltnis zueinander. 2. Ein solches inneres VerhÈltnis aufzufassen, ist ein erkenntnistheoretischer Nonsens. 239 Am Rand von D.s Hand: Zeller II[, a .a. O., S.] 534. 240 Am Rand von D.s Hand: Sigwart [?] 79 f. 241 Am Rand von D.s Hand: 2. Daher wird die Leistung der Materie zu empfinden zu einem unbegreiflichen VermÚgen. 242 L. BÝchner, Kraft und Stoff oder GrundzÝge der natÝrlichen Weltordnung. Nebst einer darauf gebauten Moral oder Sittenlehre. In allgemein verstÈndlicher Darstellung, 17. vermehrte und verbesserte Aufl. Leipzig 1892, S. 308. 243 Am Rand von D.s Hand: insbes. 486 ff. Sigwart [?]. 244 Es folgt ein Doktordiplom von 1892 (C 76: 475) mit bibliographischen Notizen von D.s Hand: [F.] Herbart[,] Psychologie [als Wissenschaft, neu gegrÝndet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik, 2 BÈnde, KÚnigsberg] 1824–25. James Mill, Analysis der PhÈnomene des 209

Anmerkungen

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menschlichen Geistes [Analysis of the Phenomena of the Human Mind, 2 Volumes, London] 1839. [J.St.] Mill Logik [A System of Logic, Ratiocinative and Inductive. Being a Connected View of the Principles of Evidence and the Methods of Scientific Investigation, 2 Volumes, London] 1843. [R.H.] Lotze[, Medicinische] Psychologie [oder Physiologie der Seele, a. a. O.] 1852. 245 Im Text findet sich der vom Zwischenblatt (C 76: 440) abweichende Paragraphentitel: § 8. Idealistische Umdeutung der parallelistischen Lehre und Phantastik. 246 Von Dann bis Bewußtsein von D. in Klammern gesetzt und am Rand angestrichen. 247 So nicht bei Hegel, vgl. G.W.F. Hegel, PhÈnomenologie des Geistes. Hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede, in: Gesammelte Werke Band 9, Hamburg 1980, S. 17. 248 Am Rand von D.s Hand: Dann wÈre mein KÚrper das Èußere PhÈnomen meines Seelenlebens. 249 Von D. hinzugefÝgt: § 9. 250 GeÈndert aus: § 10. 251 Es folgt ein offensichtlich Èlterer Text (C 76: 454–459 Rs.), der von D. hier eingeordnet wurde, wie die durchlaufende Paginierung zeigt. Da er den Duktus der Argumentation unterbricht, wird er in den Anmerkungsteil gestellt. Folgerung Ýber das VerhÈltnis Betrachtet man induktiv den Inbegriff aller biologischen Tatsachen, der mit Sicherheit auf sie gebauten Generalisationen, so wird man zu folgendem Satze Ýber das VerhÈltnis der Gehirn- und Nervenprozesse zu dem Seelenleben gefÝhrt. James[, a. a. O.,] S. 139 hat mit krÈftigen ZÝgen ein Bild der mÚglichen Leistung der hÚchsten Teile des Gehirns geliefert. Der Grundcharakter ihres Zustandes muß InstabilitÈt sein. Sie sind dem BedÝrfnis angepaßt, die mannigfaltigsten EindrÝcke aufzunehmen und Assoziationen zu vollziehen. Als ein mechanischer Apparat verhÈlt sich das Gehirn gleichgÝltig gegen die Vernunft oder Tollheit, welche aus den StÈrkeverhÈltnissen der Erregung resultiert, und man sollte annehmen, daß die lebendige Kraft mÈchtiger EindrÝcke gesteigert durch die hinzutretenden Assoziationen Ýbergewaltig gegenÝber dem verdunkelten Zusammenhang des Seelenlebens sich geltend machen mÝßte. Das Gehirn ist dem Spiel der MÚglichkeiten ausgesetzt, wie ein Paar WÝrfel in der Hand eines Spielers. In ihm liegt ja keine MÚglichkeit eines logischen, denkenden Zusammenhangs. Denn dies ist doch das Ergebnis der ganzen Transzendentalphilosophie ausgehend von Platon: das VerhÈltnis des Allgemeinen zum Besonderen. Das Bewußtsein der Notwendigkeit, das Bewußtsein des Sollens kÚnnen schlechterdings nicht Leistungen eines Haufens von Hirnzellen und NervenfÈden sein. Setzen wir eine Zelle, in der das sÈße, so wÈre etwa ein da sitzender allgemeiner Begriff eben doch getrennt von den einzelnen Tatsachen, welche ihm untergeordnet sind. Was diesem Satz bei Naturforschern entgegensteht, ist ein blindes Zutrauen auf Fortschritte des Naturwissens in Regionen, von denen wir heute keine Ahnung haben. Wie man sich auch solche Fortschritte denke, sie kÚnnen den einfachen Satz nicht aufheben, daß das innere VerhÈltnis von Subjekt und PrÈdikat, von Begriff und Tatsache, von Notwendigkeit des Schlusses und Gliedern desselben, von Sollen und FÈllen des Lebens gÈnzlich heterogen einem rÈumlichen Nebeneinander von Zellen und NervenfÈden ist. Daher liegt hier nicht eine Grenze fÝr den Moment, sondern eine Grenze fÝr unseren Intellekt, wie er ist. Der Zweck, welcher Mittel auswÈhlt, kann Gehirnfunktionen in Bewegung setzen, aber er kann nicht selbst eine Gehirnfunktion sein, er ist auch nichts ihr absolut Korrespondierendes. Zweite Folgerung So ist das LebensgefÝhl, nach welchem mein KÚrper mir angehÚrt, mir eigen ist, der natÝrliche Ausdruck fÝr das VerhÈltnis dessen, was Reize auswÈhlt und verbindet, betont und heraushebt,

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Anmerkungen

was Werte gegeneinander abwÈgt und was Zwecke auslÚst und ins Wirken setzt, zu dem Inbegriff seiner Materialien [?] und Hilfsmittel, zu dem System, das seine indispensable Grundlage ist. Mehr aber als hierin enthalten ist, kann nun zur Zeit kaum ausgesagt werden. Die VerhÈltnisse, die hier vorliegen, kÚnnen wir beschreiben, falsche ErklÈrungsversuche kÚnnen wir abweisen; aber eine Kausalerkenntnis klar unterschiedener KrÈfte oder Substanzen ist hier wie Ýberall, wo wir nicht hypothetisch Èußere PhÈnomene ordnen, unmÚglich. Es gibt immanente Grenzen des menschlichen Erkennens, nicht bloß solche, welche in dessen VerhÈltnis zum Transzendenten gelegen sind. 252

Am Rand von D.s Hand: § 11. Alle Theorien Ýber das VerhÈltnis von KÚrper und Seele sind nur AnnÈherungen an den in der Erfahrung gegebenen, aber nicht verstandesmÈßig aufklÈrbaren Tatbestand. 253 Am Rand von D.s Hand: 1). 254 Am Rand von D.s Hand: 2 Aufmerksamkeit [?]. 255 Am Rand von D.s Hand: 3. ErklÈrungsgrund fÝr Wachstum in Ansammlung von Kapital. 256 Am Rand von D.s Hand: 4. Das SchÚpferische. 257 Am Rand von D.s Hand: 5. Grundgesetz des psychischen Lebens. 258 Am Rand von D.s Hand: 5. Bedingungen desselben eine besondere [?] Art der KausalitÈt.

4. Generelle Psychologie C 27 II: 124–142 Rs., undatiertes Diktat auf Doktordiplomen von 1893 mit der Originalpaginierung 1–14. DarÝber hinaus enthÈlt das Konvolut auf einzelnen BlÈttern ZusÈtze und weiterfÝhrende Textpassagen. Das Ms. ist eingelegt in einen Umschlag mit einer Aufschrift von der Hand Groethuysens: Generelle Psychologie VollstÈndig Darunter von unbekannter Hand: Generelle Wissenschaften, die den Einzelwissenschaften des Geistes zugrunde zu legen sind. 259 260 261

DarÝber geschrieben: Verte! GeÈndert aus : sich. GeÈndert aus : in.

5. Die Bestandteile des Seelenlebens C 25: 117–125, 187, 191–199, 202–205, 208–210 Rs., C 29 I: 25–28, 30, 32, 33, 36, 35, 34, 47–50, C 25: 216, 217, 219, C 29: 18, 22, 19–21, C 25: 222–225, C 29I: 4–9, C 25: 225–234, C 29 I: 122, 129–133 Rs., 136, 147–155, 137, 139, 138, 140–146 Rs. C 25: 578–584, 496, 500–504, 507–510, 505, 505 Rs., 506, 588–597, 599–604, C 29I: 223, 278–281, 283, 283 Rs., 285, 286, 286 Rs.,282, 282 Rs., 284, 284 Rs., 288 Rs.-290 Rs., 300, 314, 109, C 25: 96–97, 447, 410, 409, 412–414, C 26II: 28. Konvolut undatierter, uneinheitlich paginierter Mss., Ýberwiegend Diktat, ohne Haupttitel. Der Titel wurde Ýbernommen von C 25: 186. Die Texte weisen einen unterschiedlichen Ausarbeitungsgrad aus. Offensichtlich hatte D. geplant, auf der Grundlage verschiedener Materialien eine grÚßere Abhandlung zusammenzustellen. Bei dem Diktat der Endfassung der jeweiligen Kapitel griff er dabei auf Èltere Mss. zurÝck bzw. ordnete Èltere Mss. seinen neuen Ausarbeitungen

Anmerkungen

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oder den geplanten Kapiteln bzw. Paragraphen zu. Diese HeterogenitÈt des Materials konnte und sollte in der Edition nicht vereinheitlicht werden. 262 Auf das Titelblatt (C 25: 117) von D. hinzugefÝgt: Erster Teil: Elementare Prozesse Erster Abschnitt. Die Struktur des Seelenlebens § 1. [Rest unleserlich ]. 263 Die folgenden BlÈtter (C 25: 188, 188 Rs., 189, 189 Rs. und 190) enthalten kaum lesbares, Èlteres Material, z. T. aus Psychologievorlesungen u. a. Ýber Èußere Wahrnehmung und Empfindungen. 264 Àber der Zeile unlesbare EinfÝgung von D.s Hand. 265 Vgl. die Parallelstelle unten, S. 172. 266 Am Rand unlesbare Notiz von D.s Hand. 267 Es folgt ein kaum lesbares Konzeptblatt (C 25: 200). 268 Es folgt ein schon oben ausgefÝhrter Gedankengang. 269 Am Rand: AufsÈtze 107, Wundt 410. Gemeint sind: H. Helmholtz, VortrÈge und Reden, Erster Band, a. a. O. und W. Wundt, GrundzÝge der physiologischen Psychologie, a. a. O. 270 Der Satz bricht ab. 271 Es folgen auf Blatt C 25: 211 kaum lesbare Stichworte zum Problem einer allgemeinen Sinneslehre. Es handelt sich um die Funktion der Sinneswahrnehmungen in dem Strukturzusammenhang. 1. Einsicht von dem sehr [?] großen Zusammenhang. In jedem Eindruck, den wir haben, besteht ein seelischer Zusammenhang. 2. Diese Mannigfaltigkeit entspricht der nur [?] in objektiven VerÈnderungen außer uns und reprÈsentiert sie, aber freilich jede in verschiedener Weise fÝr uns. Fall [?] von Sinnesenergien. Psychophysisches Gesetz. 3. QualitÈten haften Ýberall auch an primÈren [?] Organleistungen. Beispiel der Hautsinn [?]. Prinzip der Differenzierung der Energien. 4. Sie werden miteinander durch psychische Leistungen verbunden. Prinzip der IntellektualitÈt der Sinneswahrnehmungen. Prinzip der •quivalenz dieser Leistungen mit begrifflichen intellektuellen VorgÈngen wie Urteil und Schluß. 5. Leistungen der Sinne sind nun an Verbindungen von GefÝhlen mit ihnen gebunden. Das Èsthetische Prinzip der Sinnesleistungen. C 25: 212 enthÈlt offensichtlich Èltere, kaum zu entziffernde Notizen von D.s Hand. Auf C 25: 213 von fremder Hand: Die Sinneslehre der experimentellen Psychologie kann benutzt werden, um den Nachweis zu liefern, welcher in dem Satz der RelativitÈt einen dummen und in dem der IntellektualitÈt der Sinneswahrnehmung einen unzureichenden Ausdruck gefunden hat, nach welchem bei der Bildung jeder Wahrnehmung der ganze seelische Zusammenhang aufgrund einer verstÈrkten Bewußtseinserregung in logischen ElementarvorgÈngen konstruktiv wirksam ist. 272 Die Paragraphen 1 und 2 fehlen im Ms. 273 Es folgt eine kurze, unlesbarer Notiz von D.s Hand. 274 Am Rand von D.s Hand: Wundt[, GrundzÝge der physiologische Psychologie, 3. umgearbeitete Aufl., Erster Band, a. a. O., S.] 279 ff. 24. 275 Am Rand von D.s Hand: Wundt[, a. a. O., S.] 293 374. 276 GeÈndert aus: lokalisierte.

364 277

Anmerkungen

Auf C 29 I: 28 Rs. einige unlesbare Notizen von D.s Hand. Am Rand: Wundt[, a. a. O., S.] 291 f. Landois[, a. a. O., S.] 953. Es folgen einige eingelegte Seiten (C 29 I: 29, 29Rs., 31, 31Rs.) mit folgenden Notizen von Ds. Hand: Eingeschaltet in Psychologie Fortsetzung (Not. P. 2) 5. Die verschiedenen Klassen der Bewegungen und ihr VerhÈltnis zu den Sinnesorganen VergegenwÈrtigen wir uns, was die Wissenschaften Ýber den Vorgang sagen, der als Reize an uns [stattfindet]. Die VorgÈnge, welche an den KÚrpern stattfinden, sind verschiedenartig. [1)] Die erste Klasse bilden die mechanischen molekularen VorgÈnge, welche in den MolekularkrÈften der Anziehung und Abstoßung begrÝndet sind. [Am Rand: VerhÈltnis von großen oder kleinen mechanischen Massen zu den Sinnesapparaten.] EindrÝcke von Gewicht, Druck, Widerstand beruhen auf den Wirkungen der MolekÝle in der Materie. Hieran schließen sich die mechanischen Verschiebungen in der Lage der Teile, welche in BerÝhrung [?] und Stoß perzipiert werden. Diese VorgÈnge werden unmittelbar aufgefaßt von dem auf der ganzen Haut verbreiteten allgemeinen Sinn derselben. Tast- und Drucksinn. Im Tast- und Drucksinn lassen schließlich an den punktfÚrmigen Nervenendigungen „Druckpunkte“ die verschiedenen Formen von Druck und Stoß zu Rezeption kommen. Es findet eine umittelbare Àbertragung statt. Das Korrelat ist der Muskel- und Kraftsinn. Dieser lÈßt uns die Arbeit zu Bewußtsein kommen, in welcher eine solche mechanische VerÈnderung geleistet wird. 2) Eine Klasse von VorgÈngen besteht in den chemischen Mischungen, in welchen ein KÚrper [?] sich mit einem anderen zu ungeschiedenem [?] Ganzen verbindet = chemische Verbindung. Die spezifischen Eigenschaften der zwei KÚrper verschwinden. [. . .] Aus den ganz geruchslosen Gasen Wasserstoff und Stickstoff entsteht Ammoniak! Diesen VorgÈngen entsprechen zwei chemische Sinne: Geruch und Geschmack. Der Tastsinn der erste, primitive. 3) Nun aber eine Anzahl [?] von VorgÈngen, einander verwandt = Schwingungen. Diese NaturvorgÈnge haben Licht, Ton, [. . .] WÈrme, subjektive PhÈnomene zur Folge. Diese VorgÈnge geben unmittelbar sich selbst kund. Mittelbar aber berichten [?] sie Ýber die ZustÈnde der Materie. Hierauf sind unsere hÚheren Sinne gebaut. Die verschiedene Form besonderer Endgebilde des Tastsinns, Tastkugeln, an sie sich anschließende TastkÚrper, Endkolben und an sie sich anschließende Vatersche KÚrperchen haften auf weiten Strecken der [. . .] an. Verteilen sich auch so an solchen Teilen, daß das Fehlen bestimmter Klassen derselben doch nicht das der Tastempfindungen oder Temperaturempfindungen zur Folge hat. Wundt[, a. a. O., S.] 311. 312. Satz 1. Wir finden voneinander getrennt Schmerzempfindung = SensibilitÈt und Tast- und Temperaturempfindung. So fehlen in allen Eingeweiden die Tast- und Temperaturempfindungen, dagegen kann in ihnen Schmerz auftreten. Diese Tatsache und einzelne ZusammenhÈnge des Physiologischen (Landois[, a. a. O., S.] 955.6) machen wahrscheinlich, daß die sensiblen Nerven und die Tast- und Temperaturnerven (taktilen Nerven) verschiedene Endapparate und verschiedenen Phasenverlauf haben. Satz 2. Die sensiblen Nerven werden in ihrem ganzen Verlauf reizbar und erfordern [?] zur AuslÚsung von GefÝhlen stets [. . .] starke Reize. (Landois[, a. a. O., S.] 956) Satz 3. Von den besonderen Endgebilden ist anzunehmen, daß sie alle die Empfindlichkeit der Teile fÝr niedrige Druckreize erhÚhen, indem sie den Nerven mit straff gespannten elastischen Kapseln umhÝllen. Diese pflanzen schwache Druckempfindungen leicht auf die Nerven fort. [. . .] (Wundt[, a. a. O., S.] 312.311) So tritt also in diesen Nerven eine unmittelbare Àbertragung von Druck und Stoß auf perzipierende Organe uns entgegen = Sinn der Materie. Die MolekularvorgÈnge [. . .]. Dagegen Temperatursinn spezifische Energie von subjektivem Charakter. 278

Anmerkungen 279

365

Am Rand: Wundt[, a. a. O., S.] 345 Landois[, a. a. O., S.] 963. Am Rand: Wundt[, a. a. O., S.] 366 f. 281 Es folgt ein Zwischenblatt (C 29I: 46): § 4. Geruch und Geschmack. 282 Am Rand zwei unlesbare Bemerkungen von D.s Hand. 283 Es folgen zwei ZwischenblÈtter (C 25: 214 und 215): § 6. Die Mannigfaltigkeit der einfachen Empfindungen in bezug auf ModalitÈt und QualitÈt. Rest unleserlich. 284 Es folgt eine Seite (C 25: 218 und 218 Rs.) mit unlesbaren Notizen von D.s Hand. 285 Satz von D. inkonsequent korrigiert. 286 Am Rand: Helmholtz[, VortrÈge und Reden, Erster Band, a. a. O., S.] 99 f. 287 Am Rand: Helmholtz[, a. a. O., S.] 293 Wundt[, a. a. O., S.] 394. 288 Es folgt ein Exzerptblatt (C 25: 224) zu [C.] Stumpf[, Tonpsychologie, Erster Band, a. a. O., S.] 166. 289 Am Rand kaum lesbare Notizen zu [C.] Stumpf[, Tonpsychologie, Erster Band, a. a. O., S.] 166. 290 Das Umschlagblatt des folgenden Ms. (C 29 I: 4) trÈgt die Aufschrift: Drittes Kapitel. Die Mannigfaltigkeit der Empfindungen. Am Kopf der Seite von D.s Hand: § IntensitÈt, ModalitÈt und QualitÈt der Empfindungen. 291 Es folgt eine unlesbare Notiz von D.s Hand. 292 EinfÝgung D.s Ýber der Zeile: Das einfachste PhÈnomen: Das Kind zur 1. und 2. Stunde morgens im Bette. 293 Am Rand von D.s Hand: Der psychophysische Zusammenhang, in welchem HÚhe [. . .], Klangfarbe (Vokalisation) und VerhÈltnisse von Klang, der Dauer etc. zu den VerÈnderungen des Seelenlebens stehen, ist Wurzel der Sprache und der Musik. [. . .]. 294 Am Rand von D.s Hand: Landois[, a. a. O., S.] 81[?]f. 295 Am Rand von D.s Hand: Helmholtz[, a. a. O., S.] 95. 296 Am Rand von D.s Hand: 2. Der Sinnesapparat des GehÚrs. 297 EinfÝgung von D.s Hand: Helmholtz VortrÈge[, a. a. O., S.] 99. 298 Gemeint ist M. Mersenne, Harmonie universelle, contenant la theorie et la pratique de la musique [. . .], 2 BÈnde, Paris 1636–1637. 299 Am Rand von D.s Hand: 4. Nun Begriff der einfachen Empfindung Blatt 21 unten. 300 Am Rand unleserliche Notiz von D.s Hand. 301 Am Rand von D.s Hand: Alles Helmholtz ausfÝhrlich [?]. 302 Am Rand unleserliche Notiz von D.s Hand. 303 Am Rand von D.s Hand: Hartley [?] 226. 304 Am Rand von D.s Hand: Ziehen[, a. a. O., S.] 67. 305 Es folgen einige, z. T. offensichtlich Èltere KonzeptblÈtter (C 25: 235, 221, 221 Rs., 236) mit kaum entzifferbaren Notizen D.s zum Gesichtssinn. 306 Darunter von D.s Hand: Literatur des weiteren: Horwicz[, Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage,] I[, a. a. O., S.] 297 bes. Lotze[, Medicinische Psychologie, a. a. O., S.] 477 ff., [W.F.] Volkmann[, Grundriss der Psychologie vom Standpunkte des philosophischen Realismus und nach genetischer Methode als Leitfaden fÝr academische Vorlesungen und zum Selbststudium, Halle 1856, S.] 163 ff. Lindmann [?] 60 ff., [G. Th.] Fechner[, Elemente der Psychophysik, Zweiter Theil, Leipzig 1860, S.] 468–519. 307 Am Rand unlesbare Notiz von D.s Hand. 308 Àber der Zeile unlesbares Wort von D.s Hand. 309 Am Rand: Erster Entwurf. I. Die Aufmerksamkeit und ihre Umformungen in WillensvorgÈnge unserer Vorstellungsseite. Darunter von D.s Hand: III Die Aufmerksamkeit als Willensvorgang. 280

366 310

Anmerkungen Am Rand und auf der RÝckseite des Blattes (C 29 I: 148 Rs.) eine unlesbare Notiz von D.s

Hand. 311

Am Rand unlesbare Notiz von D.s Hand. Gemeint ist: C. Stumpf, Tonpsychologie, Erster Band, a. a. O. 313 Am Rand unleserlicher Einschub von D.s Hand. 314 Am Rand unleserliche Notizen von D.s Hand. 315 Es folgen kaum entzifferbare Notizen von D.s Hand zu Direktes und indirektes Interesse. 316 Im Ms. Zitat von D. leicht geÈndert. 317 Es folgen zwei eingelegte BlÈtter. C 29 I: 156 trÈgt die als Haupttitel fÝr das Ms. verwendete Aufschrift: Die Bestandteile des Seelenlebens, und auf C 29 I: 157 findet sich der Titel Die Beziehungen zwischen der Form des Reizes und der ModalitÈt der Empfindung. 318 Der ursprÝngliche Titel des Kapitels lautet: FÝnftes Kapitel: Zusammenhang der anderen Seite des Seelenlebens. Von der Reaktion auf Reize und Vorstellungen in GefÝhlen und TriebÈußerungen bis zu den BewegungsvorgÈngen. Am Rand unlesbare Notiz von D.s Hand. 319 Am Rand von GefÝhlen bis Unterlage von D. angestrichen mit dem Zusatz weg. 320 Am Rand von D.s Hand: 1. einfachste Form einer willkÝrlichen Bewegung. 321 Am Rand von D.s Hand: 2. der bloße Reflexmechanismus. Experimentelle Feststellungen. 322 Unlesbare Fortsetzung und Randnotiz von D.s Hand (C 25: 584 und 584 Rs.). 323 Es folgt ein offensichtlich Èlteres Blatt (C 25: 497) mit unlesbaren Notizen von D.s Hand und sechs SÈtzen zur Allgemeine[n] GefÝhls- und Willenslehre und dem Titel Neuntes 8Zehntes9 Kapitel. Die GefÝhls- und Triebkreise. Auf den folgenden Seiten (C 25: 498, 499 und 499 Rs.) unlesbare Notizen D.s zur Theorie der GefÝhle und der Hinweis In dieses Kapitel ist einzufÝgen der Nachweis der LÝcken etc. in Meynerts Theorie mit nicht zu entziffernden Bemerkungen. 324 Die folgenden vier BlÈtter von D. geschrieben und mit dem Paginierungshinweis die GefÝhle 4–7 versehen. Die ersten drei Seiten des Textes fehlen. 325 Zusatz von Ds. Hand am Rand: und nur das kann diskutiert werden, ob auch eben Vorstellungen. 326 Am Rand: Satz 1. 327 Der Text bricht ab. Die Fortsetzung die GefÝhle 9–12 von Schreiberhand. 328 Am Rand von D.s Hand: Satz 2. 329 Am Rand vom Schreiber : Die so entstehende aktive arterielle Anemie. 330 Es folgen vier BlÈtter (C 25: 505, 505 Rs., 506 und 506 Rs.) von D.s Hand. 331 Am Fuß der Seite: [H. Spencer, Die Principien der] Psychologie[, Band] I[, a. a. O., S.] 517 ff. 332 Am Fuß der Seite: Wundt, Physiologische Psychologie[, 3. umgearbeite Aufl., Zweiter Band, a. a. O.] S. 513. 333 Am Fuß der Seite: [A.] Kußmaul: Untersuchungen Ýber das Seelenleben des neugebornen Menschen. Leipzig 1859[,] S. 31. Vgl. [W.Th.] Preyer[,] Die Seele des Kindes[. Beobachtungen Ýber die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren, Leipzig 1882, 2. Aufl., Leipzig 1885,]. S. III. 334 Am Rand: Kußmaul[, a. a. O.,] S. 17 fÝr die Revision zu vergleichen. 335 Am Fuß der Seite: Kußmaul[, a. a. O.,] S. 20. 336 Am Rand: Vgl. Kußmaul als Schluß auf Triebbewegungen sicher. 337 Der Text bricht ab. 338 Die fragmentarischen historischen Bemerkungen auf der ersten HÈlfte der Seite (C 29 I: 283) sind weggelassen. 339 Am Rand lÈngere, kaum lesbare Notiz von D.s Hand unter Hinweis auf [W.] Wundt [GrundzÝge der physiologischen Psychologie,] 3[. umgearbeitete Aufl., Zweiter Band, a. a. O., S.] 436. 312

Anmerkungen

367

340 Am Rand von D.s Hand: [P.] Radestock[, Schlaf und Traum. Eine physiologisch-psychologische Untersuchung, Leipzig 1879, S.] 59 ff. 341 Kein wÚrtliches Zitat. 342 Darunter von D.s Hand: 1. der andere als Korrelat des Selbst. 2. die Raumanschauung und die Orientierung im KÚrper a) in Anlage, psychophysisch, muß in Koordination von Tast und Gesicht [. . .] b) die Tast- und Gesichtsempfindungen, durch den GefÝhlsinhalt als Energie – entsteht KontinuitÈt c) die objektive Anordnung der von uns UnabhÈngigen. 3. Die Entstehung der Objektvorstellung [. . .]. 343 Am Rand von D.s Hand: Kritik. 344 Kurze, unlesbare Fortsetzung von D.s Hand. 345 Darunter von D.s Hand: Zusammenhang des Denkens mit der Gliederung der Struktur des Seelenlebens. Von Eindruck zu Willenshandlung. 1. Induktion und Analysis. 2. Deduktion und Ableitung von Regeln und VorsÈtzen [?]. 346 Es folgt ein Zwischenblatt (C 25: 408) mit der Aufschrift: Das Denken. 347 Bei dieser und der folgenden Seitenangabe bezieht sich D. auf seine Abhandlung Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine fÝr eine Poetik, in: Philosophische AufsÈtze. Eduard Zeller zu seinem fÝnfzigjÈhrigen Doctor-JubilÈum gewidmet, Leipzig 1887, S. 303–482, in: Ges. Schr. VI, S. 103–241. Die entsprechenden Seiten des Wiederabdrucks in den Ges. Schr. sind in [ ] hinzugefÝgt.

D. Die beschreibende Psychologie der neunziger Jahre (ca. 1893 -1895) Der letzte Teil des Bandes dokumentiert einerseits die verschiedenen Entwicklungsstadien der Ideen Ýber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, anfangen vom wahrscheinlich ersten Entwurf bis zur ersten Druckfassung der hier noch Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie betitelten Abhandlung, die D. dann fÝr die endgÝltige Publikation auf den Korrekturfahnen noch einmal intensiv durchgearbeitet und dabei z. T. erheblich erweitert bzw. verÈndert hat. Andererseits sind hier einige fragmentarische Versuche einer – nicht realisierten – Antwort D.s auf Ebbinghaus’ scharfe Kritik der Ideen zusammengestellt. Besondere Bedeutung kommt in diesem Teil den z. T. ausfÝhrlichen, kritisch-kommentierenden bzw. korrigierenden Randnotizen zu, die D.s philosophischer Freund, der Graf Paul Yorck von Wartenburg, auf den Druckfahnen der Ideen niedergeschrieben hat und die D. bei seiner Àberarbeitung der Abhandlung berÝcksichtigen konnte.

1. Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie C 26 I: 105, 106, 118, 117, 116, 115, 114, 132, 131, 130, 129, 98, 97, 96, 95, 94, 93, 92, 91, 128, 127, 126, 100, 108, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 134, 156, 161, 162, 160, 154, 152, 150, 158, 43, 47, 49 Rs., 48, 46. Undatiertes, paginiertes ( 1–2; 1–5; 18–41; 43; 46; 47–48; 55; 57; 57; 67; 75–79) Fragment eines ersten Entwurfs der Ideen von der Hand mehrerer Schreiber auf Doktor-Diplomen von 1892. Am Ende des mit Streichungen und ZusÈtzen von Schreiberhand versehenen Textes, der eine Reihe von unkorrigierten HÚr- und anderen Fehlern enthÈlt, finden sich einige wenige, kaum lesbare Korrekturen und ErgÈnzungen von D.s Hand.

368

Anmerkungen

Auf einem Umschlag findet sich die folgende Notiz von der Hand Groethuysens: Teil eine Entwurfs zu „Ideen Ýber beschreibende und zergliedernde Psychologie“ Zwischen S. 32 u. S. 33 kein Zusammenhang. Neugeordnet UnvollstÈndig Gr. Eingelegt ist ein Blatt (C 26 I: 104) mit einer fragmentarischer Anfangspartie der Abhandlung:

Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie Ich verstehe unter einer beschreibenden Psychologie die Darstellung der Bestandteile des Seelenlebens und des Zusammenhangs unter denselben. Sofern [das Ms. bricht ab]. Am Ende des von Groethuysen zusammengelegten Konvoluts finden sich drei Seiten (C 26 I: 163, 159 Rs. und 188) mit Notizen von Schreiberhand aus dem thematischen Umkreis der Abhandlung: Die Geschichte der Psychologie nÈhert sich immer mehr Entdeckungen eines von den Analogien der Außenwelt ganz Unterschiedenen; wir mÝssen beschreiben, wie im Selbst Vorgang und Konstanz zugleich Einheit, nichts Gesondertes sind, jeden Tag mÝssen wir neu sehen lernen. Die EntwicklungsfÈhigkeit der jÝngsten aller großen Wissenschaften ist grenzenlos. Mit dem Bewußtsein hiervon mÝssen sich die Geisteswissenschaften erfÝllen. (C 26 I: 163) [. . .] Aus diesen Ganzen haben sich seelische Funktionen differenziert, verbleiben aber dabei an ihren Zusammenhang gebunden. Diese Tatsache, deren Ausdruck auf der hÚchsten Stufe die Einheit des Bewußtseins und die Einheit der Person ist, unterscheidet das Seelenleben total von der ganzen kÚrperlichen Welt. (C 26 I: 159 Rs.) Der Gegenstand der beschreibenden Psychologie sind die Bestandteile des Seelenlebens und deren ZusammenhÈnge, welche in jedem entwickelten Menschen gegeben sind, sofern sie ohne Mitwirkung von Hypothesen als in der Erfahrung gegeben nach irgendeiner Methode festgestellt werden kÚnnen. WÈhrend also die erklÈrende Psychologie durch eine Verbindung von Hypothesen eine Kausalerkenntnis des Seelenlebens herbeizufÝhren versucht. (C 26 I: 188) Außerdem sind dem Ms. beigelegt drei Seiten mit Notizen von D.s Hand (C 26 I: 22, 23 und 44), die, wie eine Paginierung ( 121) ausweist, offenbar einem grÚßeren Textkorpus entstammen. 348

Am Rand: Als ich vor langer Zeit die Forderung einer die ganze seelische Wirklichkeit beschreibenden Psychologie als eine notwendige ErgÈnzung der herrschenden erklÈrenden Richtung aufstellte, stand die Schule Herbarts in voller BlÝte. 349 C. Stumpf, Psychologie und Erkenntnistheorie, in: Abhandlungen der philosophisch-philologischen Klasse der KÚniglich Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 19. Band, 1. Abteilung, MÝnchen 1891, S. 465–516. 350 LÝcke im Ms. 351 W. Dilthey, Novalis, in: Preußische JahrbÝcher 15 (1865), S. 596–650. 352 Satz etwas umgestellt. 353 LÝcke im Ms. 354 LÝcke im Ms. 355 LÝcke im Ms. 356 Am Rand: [G. J. Romanes, Die geistige Entwicklung im] Tierreich[. Autorisierte deutsche Ausgabe, Leipzig 1885, S.] 109. 357 LÝcke im Ms. 358 Es folgt eine grÚßere LÝcke im Ms.

Anmerkungen

369

359 Am Rand von D.s Hand: Das Studium der IndividualitÈten und des in ihnen enthaltenen Zusammenhangs. [. . .]. 360 Satz nach D.s Korrekturen rekonstruiert. 361 Am Rand eine lÈngere, kaum lesbare Notiz von D.s Hand. 362 Es folgt eine nicht lesbare, kurze Fortsetzung von D.s Hand.

2. *Àber das VerhÈltnis der beschreibenden zu der erklÈrenden Psychologie C 26 I: 3, 14–18, 20, 19, 21, 58, 24–25, 56, 26, 59–62, 64, 63, 65–66, 70–73, 67, 57, 13, 52–54. UnvollstÈndiges, undatiertes, paginiertes Ms., im ersten Teil weitgehend eigenhÈndig, im letztes Teil des Textes Ýberwiegend Diktat. Bei diesem Ms. handelt es sich – zumindest am Anfang – um den in Klein-³ls, dem Wohnsitz des Grafen Yorck von Wartenburg, geschriebenen Entwurf zu D.s Akademie-Vortrag vom 7. Juni 1894 Àber das VerhÈltnis der beschreibenden zu der erklÈrenden Psychologie, den er als Fortsetzung seines Vortrags vom 22. Februar 1894 Ýber Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie gehalten hat. (Vgl. Sitzungsberichte der KÚniglich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jahrgang 1894, Erster Halbband, Januar bis Mai, Berlin 1894, S. 495 und S. 211.) Dies wird auch belegt durch ein von D. geschriebenes Titelblatt auf Doktor-Diplom von 1892 (C 26 I: 31): Manuskript des Aufsatzes Ýber beschreibende und erklÈrende Psychologie 1. Klein-³ls Entwurf 2. Berliner Ausarbeitung. Von der genannten Berliner Ausarbeitung, die dem Vortrag wohl zugrunde lag und als erste Version der spÈteren Druckfassung anzusehen ist, enthÈlt das Faszikel C 26 I offenbar nur zwei eigenhÈndige Seiten sowie die jeweiligen RÝckseiten, und zwar vom Beginn des zweiten Kapitels: Die Unterscheidung der erklÈrenden und der beschreibenden Psychologie (C 26 I: 69, 69 Rs., 68 und 68 Rs.; Paginierung 22 und 23), die weitgehend der Druckfassung entsprechen (vgl. Ges. Schr. V, S. 154–156). Das Fasz. enthÈlt darÝber hinaus einige eigenhÈndige TitelblÈtter bzw. unausgefÝhrte Gliederungsskizzen zu einzelnen Paragraphen aus dem Umkreis der Ideen sowie eine Notiz von der Hand B. Groethuysens auf einem Doktor-Diplom von 1892 (C 26 I: 51): Teil eines Entwurfs zu Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie. Dazu zu berÝcksichtigen 26 I 3 und 26 I 31. Neugeordnet. UnvollstÈndig Gr. Darunter in anderer Schrift: Vielleicht KleinÚlser Entwurf? Auf fol. C 26 I: 34 findet sich der Titel: Erstes Kapitel. Die Aufgabe einer psychologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften. Fol. C 26 I: 35 bringt eine Àbersicht der Paragraphen 2–5: § 2. Unterscheidung der erklÈrenden und der beschreibenden Psychologie. § 3. Die erklÈrende Psychologie. § 4. Die beschreibende Psychologie. § 5. Das VerhÈltnis der erklÈrenden und der beschreibenden Psychologie zueinander. Einen alternativen Titel des Paragraphen 5 enthÈlt fol. C 26 I: 32: § 5. VerhÈltnis der erklÈrenden Psychologie zu der erklÈrenden, von diesem in der Beschreibung enthaltenen Zusammenhang aus angesehen. Darunter: Klein-³ls Entwurf p. 17. Am Rand: Zu § 4 noch Klein-³ls Entwurf p. 35 ff. Grundeigenschaften von SpontaneitÈt, Lebendigkeit und Geschichtlichkeit in diesem Zusammenhang. Auf fol. C 26 I: 29 findet sich die Àberschrift: § 6.

370

Anmerkungen

MÚglichkeit und Bedingungen der AuflÚsung der Aufgabe einer beschreibenden Psychologie, und fol. C 26 I: 30 enthÈlt eine Gliederung des Paragraphen 7: § 7. Grundlegung der beschreibenden Psychologie. 1. Vorbegriffe. 2. Struktur. 3. Entwicklung. 4. Individuelle Verschiedenheiten im Zusammenhang des Seelenlebens. 363

Die folgende Seite 2 fehlt im Ms. Es folgt ein Blatt (C 26 I: 4) mit nur unvollstÈndig lesbaren Notizen und StichwÚrtern D.s. 364 Gemeint ist D.s Novalis-Aufsatz, in: Preußische JahrbÝcher 15 (1865), S. 596–650. 365 Von D. in einem spÈteren Arbeitsgang durchgestrichen und ersetzt durch: notwendig gebunden. 366 Von D. in einem spÈteren Arbeitsgang durchgestrichen und ersetzt durch: Der Inbegriff. 367 Im Text Hinweis auf: [J.] St.[uart] Mill Logik [System der deduktiven und induktiven Logik. Eine Darlegung der GrundsÈtze der Beweislehre und der Methoden der wissenschaftlichen Forschung. Unter Mitwirkung des Verfassers Ýbersetzt und mit Anmerkungen versehen von Th. Gomperz, Band 3, Leipzig 1886, S.] 253–255. 368 Beginn eines Diktats. 369 H. Spencer, The Universal Postulate, in: The Westminster Review Vol. 60, New Series 4, Nr. 2, 1835, S. 513–550. 370 Im Ms.: Henri. 371 H. Taine, De l’Intelligence, a. a. O. 372 H. Spencer, Vorrede zur zweiten Auflage (1870) von: Die Principien der Psychologie, Erster Band, a. a. O., S. IX. 373 Zusatz D.s. 374 Ende des Zusatzes. 375 Ende des Diktats. 376 H. MÝnsterberg, Àber Aufgaben und Methoden der Psychologie, Leipzig 1891, in: Schriften der Gesellschaft fÝr psychologische Forschung I. 377 GeÈndert aus: folgen. 378 Àber psychische CausalitÈt und das Princip des psycho-physischen Parallelismus, a. a. O. 379 Die folgende Seite 15 fehlt. 380 Die folgende Seite 17 fehlt. 381 Beginn eines Diktats. 382 Ende des Diktats. 383 Von hier bis Ende des Ms. Diktat. 384 GeÈndert aus: 3. 385 Satz rekonstruiert. 386 G. Schmoller, Volkswirtschaft, Volkswirtschaftlehre und -methode, in: HandwÚrterbuch der Staatswissenschaften, Sechster Band, Jena 1894, S. 527–563. 387 SpÈter vom Schreiber inkonsequent und sinnwidrig korrigiert in: Die beschreibende Psychologie ist zunÈchst vorbereitet die erklÈrende. 388 Nicht lesbare Korrektur von D.s Hand. 389 Die folgenden Seiten 33 und 34 fehlen. 390 Im Ms.: III. 391 Am Rand von D.s Hand: § 4. Der Zusammenhang des Seelenlebens als Struktur und Entwicklung. Grundlegung der beschreibenden Psychologie.

Anmerkungen

371

1. Vorbegriffe. 2. Struktur. 3. Entwicklung. 4. Die individuellen Verschiedenheiten in diesem Zusammenhang. 392 Am Rand ? und Notiz von D.s Hand: Grad der Merklichkeit. 393 Am Rand Notizen von D.s Hand: [daß] die Lebendigkeit fÝr mich nur eine durch meine KÚrperlichkeit bestimmte ist. Das ZusammengehÚren [der] KÚrperlichkeit ist ein Merkmal der Lebendigkeit. 394 Das Ms. bricht ab.

3. *Der Korrekturabzug der „Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie“ mit den Anmerkungen des Grafen Yorck von Wartenburg C 28: 315, 314, 313, 312, 311, 310, 309, 308, 316 Rs., 292, 291, 290, 289, 307, 306, 317–321, 288, 305, 304, 303, 302, 301, 300, 299, 298, 297, 295, 294, 296, 293, 323, 324, 360, 325–335, 280, 336, 275, 279, 281, 282, 285, 284, 366, 283, 337–340, 373, 374, 377, 379, 380, 382, 385, 387, 389, 390, 393, 278, 395, 343, 399, 401, 402, 344, 406, 408, 410, 412, 414, 416. Erster Fahnenabzug der Akademieabhandlung Ideen Ýber eine beschreibende Psychologie mit den Lesespuren des Grafen P. Yorck von Wartenburg. Paginiert 1–88, mit der Aufschrift auf der ersten Fahne Revision 23.11.94. Die Fahnen 38 und 52 fehlen und wurden durch die entsprechenden Passagen des Abdrucks in den Sitzungsberichten ersetzt. Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. Sperrungen im Text wurden durch Kursivierung wiedergegeben. Die Orthographie der Abhandlung wie der Yorckschen Anmerkungen wurde den fÝr die Ges. Schr. verbindlichen Regeln angeglichen; die KapitÈlchen bei Eigennamen wurden nicht Ýbernommen. Die Unterstreichungen, die Yorck in seinen Randnotizen vorgenommen hat, wurden nicht wiedergegeben. D.s Originalanmerkungen wurden als Fußnoten unter den Text gesetzt; editorische Anmerkungen und Yorcks Randnotizen wurden in den Anmerkungsteil gestellt. Einige weitgehend unlesbare Randnotizen D.s blieben unberÝcksichtigt, wie auch seine ZusÈtze und Korrekturen, die in die verÚffentlicher Fassung der Abhandlung in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie der Wissenschaften eingingen. 395 Von UnmÚglich kann ihr bis vorausgeschickt werden am rechten Blattrand von Yorck angestrichen. 396 Zu Es bedarf bis notwendig mitteilen mÝßte: am rechten Blattrand von Yorck angestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: nicht jede Hypothese ist als solche unsicher. 397 Und alles diskursive Denken: alles von Yorck unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? Schließen bei richtigem Verstand von „hÚherer Stufe“ ja. 398 Von Wir besitzen bis Nebeneinander auffassen von Yorck am rechten Blattrand angestrichen. 399 Von Ist also hier nicht bis bedingt? von Yorck am rechten Blattrand angestrichen.; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: scheint mir nicht die notwendige Folge. 400 Auf einem eingelegten Blatt (C 28: 316) finden sich die folgenden AusfÝhrungen von D.s Hand: Indem Empfindungen und ihre Verbindungen sich zueinander verÈnderlich erweisen, sondern sie sich voneinander. ZunÈchst in dieser Art freilich sondern sich bei der Empfindung die QualitÈt und die IntensitÈten. Aber je klarer die lebendige Sonderung in der Zusammenfassung stattfindet, desto entschiedener tritt in ihnen die freie Lebendigkeit unseres Auffassens hervor. Versuche ich eine Anzahl von Farben zugleich auf einer grauen FlÈche vorzustellen, (ich versuche das aufgrund [eines] Assoziationsprozesses), dann hÈngt die MÚglichkeit, etwa Ýber fÝnf hinaus zu ei-

372

Anmerkungen

ner grÚßeren Zahl fortzugehen, außer der Àbung davon ab, daß man Unterscheidungen und Zusammenfassungen einer Figur konstruiere. In der Auffassung einer Melodie sind dann noch mehrere Beziehungen zu einer lebendigen Handlung vereinigt. So macht sich das Bewußtsein von TÈtigkeit in den hÚheren lebendigen Verbindungen geltend und sondert diesen Vorgang psychologisch von der Empfindung. Wollen wir nun aber diese Unterscheidung auch auf Raum, Zeit, KausalitÈt und die anderen ZusammenhÈnge unserer Intelligenz Ýbertragen, wollen wir auch hier von den Empfindungen Beziehungsweisen derselben trennen: so macht sich hiergegen geltend, daß in jedem Zusammenhang der Art die MÚglichkeit seiner Glieder zu anderen in den Empfindungen enthalten sein muß, daher der Zusammenhang schon darin stecken muß, um herausgeholt werden zu kÚnnen. Bilden wir nun den Zusammenhang einer Tonreihe, so muß die grÚßere NÈhe eines Tones an den anderen in den Tonempfindungen selbst enthalten sein. So liegt auch hier ein VerhÈltnis der unterscheidbaren Bestandteile in jedem Zusammenhang vor, der unsere Intelligenz bildet, welches die analytische Darstellung, aber keine Konstruktion eines Zusammenhangs gestattet. 401 Von welche sich allgemeingÝltiger bis bedient von Yorck am rechten Blattrand angestrichen, dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? 402 Von die Probe der AllgemeingÝltigkeit bis Evidenz bestanden haben von Yorck am rechten Blattrand angestrichen.; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: sind erkenntnistheoretische Postulate und Merkmale. 403 Von dieses seelischen Zusammenhangs bis bedarf sie nicht von Yorck am rechten Blattrand angestrichen. 404 Korrigiert aus: enthaltenden. 405 Von Unter Element bis verstanden von Yorck am rechten Blattrand angestrichen. 406 causa aequat effectum und gerade so gut ein Element von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? ist Voraussetzung. 407 GeÈndert aus: Henri. 408 die Verbindung dieser ErklÈrungsgrÝnde: -grÝnde von Yorck im Text unterstrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: elemente. 409 entsprang uns aus dem Zusammenhang der Geisteswissenschaften von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? doch aus der Selbstbesinnung. 410 Aufgabe auflÚst von Yorck im Text unterstrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: lÚst. 411 Sie muß analysieren: analysieren von Yorck im Text unterstrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: dies ist als erster Schritt auch der konstruktiven Methode oben bezeichnet. 412 Von Gewiß kÚnnen Analysis und Synthesis bis werden von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? Synthesis findet doch nicht statt. Induktion oder Deduktion reichen nicht heran. 413 Von Wenn ich die bis Aber darum handelt es von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? Ich erkenne die Faktoren, aber ich kann mit ihnen als einzel-erkannten nicht manipulieren. 414 die herrschende Stellung von Yorck im Text unterstrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: diese bloße Gewichtsbestimmung ist doch nicht charakteristisch fÝr den Unterschied der konstruktiven und der analytischen Psychologie. 415 der entwickelte Mensch von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: Ich selbst. 416 Von liefern uns die Sinne bis SinneseindrÝcke da von Yorck am linken Blattrand angestrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: ? Dogma. Die sinnliche Wahrnehmung ist dann eine einheitliche. Daß die abstrakt gefaßte Sinnesaktion nur Mannigfaltigkeiten lieferte, welche

Anmerkungen

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der aparte [?] Intellekt vereinheitlichte, ist ein in der konstruktiven Tendenz gegrÝndetes Theorem. Heuristisch wertvoll, aber nur heuristisch. 417 aus unserem Innern stammende Synthesis von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? Das KausalitÈtsverhÈltnis ist ein primÈres konstitutives, nicht Hinzutat, Synthesis. Es ist das VerhÈltnis der eigenen und Weltwirklichkeit, welches nur einem abstrakt-kontemplativen Denken als Applikation, Hinzutat, Synthesis erscheint. Es ist unmittelbar gegeben wie die „innere Wahrnehmung“. 418 Von den Objekten bis unterlegen mÝssen am linken Blattrand von Yorck angestrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: zu viel gesagt. Ich lege nicht Farbe und Gestalt zusammen, wenn ich eine graue FlÈche sehe. M. E. gibt es auch keine Èußere Wahrnehmung von verbindungs- und zusammenhangslosen Objekten. Die Verbindung, das Verbundensein ist immer primÈr mitgegeben, sei das Band ein Èsthetisches [? ] oder ein kausales. 419 ohne daß er doch durch den Verstand gÈnzlich aufgeklÈrt werden kann. Von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: Ich vermag nicht abzusehen, was hier unter AufklÈrung verstanden sein soll. Eine Provenienzbestimmung ist doch mÚglich oder erforderlich. 420 Von durch sie die Natur bis anwenden von Yorck am linken Blattrand angestrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: Ich unterscheide mich darin, daß in dem Vorgang des Auffassens und Erkennens der Natur ich nicht eine Vermittelung zwischen inneren Kategorien und gegebenen Objekten sehe (Kant), sondern in dem ganzen und jeglichem Auffassungsvorgang eine Explikation der strukturellen Differenzen. Der Erkenntnisvorgang eine Inversion. 421 mit allgemeingÝltiger Klarheit heraus: allgemeingÝltiger von Yorck im Text unterstrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: das ein neues, im Verstehenden nicht motiviertes PrÈdikat. 422 Und nur durch eine Induktion stellen wir: Induktion von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? doch eine weite Anwendung des Terminus: Induktion. 423 Von der Auffassung bis untrennbar sind von Yorck am linken Blattrand angestrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: von der Auffassung aber nicht von den Bestandteilen. Wenn man nicht lieber den Begriff: Bestandteile fallen lÈßt und nur von Funktionen spricht. 424 Zu Diese Aufgaben bis zugleich analytische Psychologie sein am rechten Blattrand von Yorcks Hand: Mir scheint der Fortgang von Beschreibung zur Analysis nicht ein so geradliniger. 425 Auf der verbindenden TÈtigkeit: verbindenden von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: beziehenden. 426 Von so tief bis verzichtet von Yorck am linken Blattrand angestrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: Ýberhaupt auf Konstruktion, Komposition verzichtet. Denn sie hat den Zusammenhang als primÈr und Voraussetzung und kann nicht dazu ausschreiten, die Psyche zu machen (Faust). Sie kann unterscheiden, aber nicht trennen. Und nur Getrenntes lÈßt sich zusammensetzen. 427 Konstruktionsmethode mÚglich ist: mÚglich von Yorck im Text unterstrichen ; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: in uns wirklich. 428 den gÈnzlichen problematischen Charakter: gÈnzlichen von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: gÈnzlich. 429 Im Text: nominante Antinomien: nominante von Yorck im Text unterstrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: dominante?? 430 So ist sein Charakter fÝr uns zugleich teleologisch und kausal: So von Yorck im Text unterstrichen; dazu am linken Blattrand: ? 431 Von Die Formeln der Transzendentalphilosophie bis herbeifÝhren von Yorck am linken

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Anmerkungen

Blattrand angestrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: Die Transzendentalphilosophie versteht doch unter Synthesis etwas anderes als hier verstanden wird. Dasselbe Wort verbirgt begriffliche Differenzen. 432 Nach Dieser innere hÚchst umfassende EinfÝgungsstrich von Yorcks Hand; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: Prozeß? (Vorgang?) fehlt das Hauptwort. 433 Es ist von der Wirksamkeit: Es von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? 434 Nach aber unbewußt gewordenen Tatsache: EinfÝgungsstrich im Text von Yorcks Hand; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: fehlt das Komma. 435 Beginn des Einschubs des Abdrucks in den Sitzungsberichten. 436 Ende des Einschubs. 437 so verschwindet der falsche Gegensatz: falsche von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: der falsche gewiß, aber ob Ýberhaupt der Gegensatz? Mir scheint durch Verschweigen der Grenze dieses Fertigkeitsunterrichts, der so gar nichts von geschichtlicher Warte hat. 438 NatÝrlich aus elementaren Bestandteilen und entstanden von Yorck unterstrichen. – Am linken und oberen Blattrand Zusatz von D.s Hand (Vgl. Ges. Schr. V, S. 182 f.): Inhalte und ihre Verbindungsweisen sondern sich voneinander, sofern beide zueinander selbstÈndig verÈnderlich sich erweisen. Wie die Inhalte in Unterscheidung und Wiederzusammenfassung vermittelst der Erinnerung und des Erwartens so in der Zahlenreihe oder in der Auffassung eines GemÈldes sich verbunden finden: so ist nun auch weiter das Auffassen des Ganzen mehr als das Sehen der Teile, das einer Melodie mehr als das Bewußtsein der TÚne und ihrer Schallwellen; und je hÚher die Verbindungen sind, zu denen so zusammengefaßt wird, desto entschiedener tritt in ihnen die freie Lebendigkeit unsres Auffassens hervor. Man versuche eine Anzahl von hellen Farben zugleich auf einer grauen FlÈche sich vorzustellen, und man wird bemerken, daß, ob ich es Ýber etwa fÝnf zu einer hÚheren Zahl bringe, außer der Àbung davon abhÈngt, daß ich nicht bloß unterscheide und nur zusammenfasse, sondern dieses in der Konstruktion einer Figur tue. Wie lebendig ist dann die Verbindung zu Melodie, da dann fÝr diese mehrere Beziehungen und in freier Art vereinigt werden. Aber daß diese als Faktoren in der Vorstellung einer Melodie enthalten sind, besagt nicht, daß ich aus ihnen die Melodie konstruieren kann. Ich habe sie voneinander gesondert in der Melodie. Aber die Erkenntnistheorie hat zu zeigen, wie unsere Erkenntnis an diese Art von Analysis gebunden ist, [. . .]. 439 Von Die erklÈrende Psychologie bis von den erklÈrenden Hypothesen von Yorck am linken Blattrand angestrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: Damit ist doch zu viel eingerÈumt. Die Opposition hat doch nicht nur das Merkmal, das Problematische hervorzuheben. Das Problematische wird auch von der „erklÈrenden“ Psychologie anerkannt. Es muß sich doch darum handeln, das Nicht-berechtigte einer Herleitung, Zusammensetzung von Raum, Zeit, KausalitÈt aus den Unterstellungen, Hypothesen von Assoziationen, Verschmelzungen, Apperzeptionen aufzuweisen, aufzuzeigen, daß bildliche Kategorien wie Assoziation, Verschmelzung Ýbertragene Begriffe oder Formen sind, welche voraussetzen, was sie erklÈren wollen, mÚglicherweise EinzelvorgÈnge deutlich machen, niemals aber den Vorgang als solchen erfassen kÚnnen. 440 Zu So ermÚglichten sie bis gesehen wird Bemerkung am rechten Blattrand von Yorcks Hand: im Texte zu viel gesagt. 441 Von Bestandteile bis Psychophysik und Psychologie bilden von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: M. E. viel zu viel gesagt. Einsicht in die Bedingungen, soweit sie erreicht, mÚge anerkannt werden. Der UmprÈgung der Bedingungen in Konstruktionsfaktoren muß fundamental und gegensÈtzlich aufgrund kritischer Analyse entgegen getreten werden.

Anmerkungen

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442 Zu Hierzu gehÚrt denn auch bis hintereinander beschreiben von Yorck am rechten Blattrand: Es ist doch die Frage, ob das Ganze, welches in Teile auflÚsbar ist, darum zusammengesetzt ist. 443 (was im Unterscheiden mitenthalten ist): von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? Im Unterscheiden ist doch noch nicht die Kenntnis der GrÚße des Unterschiedes. 444 Von Selbst die BewÈhrung bis befindet: Bemerkung von Yorcks Hand am linken Blattrand: Hier hÈtte die „beschreibende“ Psychologie im wesentlichen die Rolle eines Kontrolleurs. Es ebnet sich der Gegensatz, in den sie ganz im allgemeinen zu der „erklÈrenden“ gestellt war. M.E. zu unrecht. Der Unterschied der Methode muß gerade auf dem Gebiete der „Intelligenz“ zum scharfen Ausdruck gelangen. Die lebendige Einheitlichkeit darf nicht als Komplement im Hintergrunde bleiben. Damit wÈre die wesentliche Aufgabe einer die bisherige untergrabende und darum erklÈrend auflÚsende Erkenntnistheorie beiseite gestellt. Ohne Erkenntnistheorie aufgrund von Selbstbesinnung und Analysis bleibt aber jeder geschichtliche Standpunkt ein Postulat. 445 Von Daher hat auch die Psychologie bis zu ihrem Mittelpunkt gemacht von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; dazu von Yorcks Hand am rechten Blattrand: M. E. VerschÚnerung und Veredelung der damaligen Auffassung der Affekte. 446 Unsere GefÝhle verschmelzen zumeist zu GesamtzustÈnden, in welchen alsdann die einzelnen Bestandteile nicht mehr sichtbar sind: verschmelzen und einzelnen Bestandteile von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? sahen sie dann einzelne Bestandteile? Das ist die Annahme der Konstruktion. Sie sind verschiedene. 447 Von Unsere Triebe Èußern sich bis bestimmten Streben von Yorck am linken Blattrand angestrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: Es Èußert sich ein allgemeiner Lebenstrieb, den gegebene AnlÈsse artikulieren, aber nicht erzeugen kÚnnen. 448 aus denen er entspringt von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? 449 noch nicht reif von Yorck im Text unterstrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: Die Frage scheint mir, ob die ErklÈrung je eintreten kÚnne, und die notwendige Antwort, der Nachweis, daß und warum sie nicht eintreten kann. Das „nicht reif“ erkennt jeder Konstrukteur an. 450 Von Die erklÈrende Psychologie bis nicht herbeifÝhren von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: sehr richtig. Hebt die frÝheren Schranken auf. 451 Von Also entsteht bis ja selber Zusammenhang ist von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: sehr richtig. 452 Von Und so bleibt bis abgeleitet werden von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: sehr richtig. – Auf der RÝckseite (C 28: 280) von Ms.-Blatt 50 und dem oberen Blattrand von Ms.-Blatt 51 (C 38: 336) findet sich folgende AusfÝhrung von D.s Hand: Die Èußeren Bedingungen, unter denen ein Seelenleben steht, wÝrden zu diesem in bloßen KausalverhÈltnissen stehen, kein Urteil Ýber ihren Wert fÝr das Individuum wÝrde Ýber sie gefÈllt werden, wÈre dies Individuum nur ein vorstellendes Wesen. Dann wÝrde auch kein Anlaß zu willkÝrlichen Handlungen in all den Wahrnehmungen, Vorstellungen und Begriffen liegen, welche dies vorstellende Wesen bildete. Das, was zwischen dem Spiel der Reize und dem Wechsel willkÝrlicher Bewegungen in einer Lebenseinheit Zusammenhang konstituiert, ist das Trieb- und GefÝhlsleben in ihr. Lebensbedingungen wirken hemmend oder fÚrdernd durch ihr VerhÈltnis zum Trieb- und GefÝhlsleben. Und indem die Èußeren Bedingungen in der GefÝhlssphÈre einen Druck oder eine Steigerung hervorrufen, entsteht von dieser GefÝhlslage aus ein Streben, den ge-

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Anmerkungen

gebenen Zustand zu erhalten oder abzuÈndern. Indem die Bilder, welche die Sinne darbieten oder die Vorstellungen, welche sich anschließen, mit der Vorstellung von Befriedigung und GlÝck verknÝpft sind, werden von hier aus Zweckhandlungen hervorgerufen, welche auf die Erwerbung eines fÝr diese Handlungen erreichbaren Gutes gerichtet sind. Indem diese Bilder oder Ideen mit der Vorstellung von Hemmung und Schmerz sich verknÝpfen, werden von hier aus Zweckhandlungen angeregt, welche auf Fernhalten des SchÈdlichen gerichtet sind. So besteht der einheitliche Strukturzusammenhang eben in der Verbindung der so verschiedenen VorgÈnge des Vorstellens, FÝhlens und Wollens, in welchem Befriedigung der Triebe, Erreichung und Erhaltung von Lust, von LebenserfÝllung, von Steigerung des Daseins und Abwehr jeder Lebensminderung mit mehr oder weniger Erfolg herbeizufÝhren unternommen wird. Und so hat diese Struktur ihr Zentrum in dem BÝndel von Trieben und GefÝhlen, welche zwischen dem Spiel der Reize und den willkÝrlichen Bewegungen vermitteln. Hieraus erhellt die zentrale Bedeutung der Analyse dieses BÝndels von Trieben und GefÝhlen fÝr eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. Dieser Zusammenhang des Seelenlebens kann nun als ein teleologischer bezeichnet werden. Wir nennen einen Zusammenhang Zweckzusammenhang, wenn er LebensfÝlle, Triebbefriedigung und GlÝck erwirkt. Wir kÚnnen einen solchen Zusammenhang auch als zweckmÈßig bezeichnen, da er dahin wirkt, diese Werte hervorzubringen. Ja in der seelischen Struktur allein ist der Charakter der ZweckmÈßigkeit ursprÝnglich im Erlebnis gegeben. Wenn wir außerhalb ihrer einem Zusammenhang teleologischen oder zweckmÈßigen Charakter zuschreiben, etwa dem Organismus oder der Welt, so ist dieser Begriff nur aus dem eigenen Erlebnis Ýbertragen. Denn jede Beziehung von Teilen zu einem Ganzen empfÈngt erst durch den Wert, der in ihr realisiert wird, den Charakter der ZweckmÈßigkeit, der Wert aber wird nur im GefÝhls- und Triebleben erfahren. Selbst wenn eine solche Beziehung die Erhaltung des Individuums und der Art fÚrderte, so wÝrde doch auch diese, wenn das Individuum nicht in sich einen Wert realisierte, nicht zweckmÈßig sein, wenn man nicht etwa eine fÝhlende Natur imaginierte, welche dies Dasein genÚsse. Diese subjektive und immanente ZweckmÈßigkeit des seelischen Strukturzusammenhangs tritt noch deutlicher hervor, wenn man innerhalb der in ihm verbundenen EinzelzusammenhÈnge 8die VerhÈltnisse der Teile derselben zum Ganzen betrachtet.9 jede Verfeinerung der Wahrnehmungen, jede Steigerung des GedÈchtnisses, jede Zweckbildung [?] von Begriffen, dann wieder jede EingewÚhnung [?] geistiger Willensrichtungen, Anpassung von Bewegungen an die Triebe, Ausbildung der Beziehungen von Zwecken und Mitteln den Strukturzusammenhang besser funktionieren lÈßt. 453 Beginn eines Einschubs. 454 Ende des Einschubs. 455 fÝr die große innere Verwandtschaft, alles Komma von Yorck im Text gestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: Komma zu streichen. 456 Von Die Aufmerksamkeit bis entspringt von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: sehr gut. 457 dem Willen vorschwebende Bild von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand : ? 458 Zu Zwar kann ich mich von EinfÝgung von Yorcks Hand am rechten Blattrand: der Richtigkeit. 459 Von So ist ja auch die Konsonanz bis das GefÝhl hinzu von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? 460 Von Die eine verlÈuft bis bis zum Bewegungsvorgang von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: Das erscheint mir als eine Konzession an die Atomistik, daß ein Einzelreiz erforderlich wÈre fÝr den einzelnen Denkvorgang. Das VerhÈltnis ist vielmehr ein allgemeines.

Anmerkungen

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461 uns unbekannten Eigenschaften der Außenwelt von Yorck im Text unterstrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: gibt es doch nicht gegenÝber den Wahrnehmungen. Solche Welt wÈre doch eine metaphysische Position. 462 Von Auch sie bis auf dieses Selbst einwirken von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; Bedingungen, welche auf dieses Selbst einwirken von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: Das ist doch tatsÈchlich nur in gewissem Umfange der Fall. Vieles SchÈdliche z. B. ist wohlschmeckend. – Durch den Schluß dieses Absatzes erledigt. 463 auf Reflexmechanismen beruhen: beruhen von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? 464 Von Sie setzte bis LustgefÝhlen von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? 465 Von So hat sie bis ergreifen von Yorck am rechten Blattrand angestrichen ; nÝtzliche von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? 466 Von auch hier stehen bis zu dem Ziel der Natur von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? In allen den vorstehenden FÈllen ist m. E. der UnbÈndigkeit des Lebens nicht Rechnung getragen. Der Zweck ist nicht immanent, sondern kommt gleichsam als Zutat hÚherer Vernunft nach. 467 Von Natur des Willens bis gegrÝndet von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: Nach meiner Ansicht basiert Eigentum nicht auf dem Willen, vielmehr auf dem symbolisierenden Verlangen und BedÝrfnis des GefÝhls. Eigentum ist nicht gleichbedeutend mit Herrschaft, dominium. Herrschaft ist ein primÈrer Begriff, Eigentum ein Kulturerwerb [?]. 468 Von In diesem ganzen weiten Umkreis bis der Gesellschaft von Yorck am linken und rechten Blattrand angestrichen; am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? Am linken von Yorcks Hand: Optimistische Annahme, die die Tragik von Leben und Geschichte doch schwer erklÈrlich macht. 469 Von Alle anderen inneren Erfahrungen bis hervorbringt von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? 470 die Einheit der Person von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: Das ist ein novum in diesem Zusammenhange und tritt m. E. ganz heraus aus all den psychisch-ontischen Bestimmungen. 471 Ein Wesen, das einen Strukturzusammenhang des Lebens besitzt, muß sich entwickeln von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? ist doch keine gebotene Folge. 472 welches dies Lebewesen vorwÈrts treibt: vorwÈrts von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? kÚnnte ja auch im Kreise sein. Die Geschichte lÈßt sich nicht herleiten. 473 Von Entwickelungsroman bis einer großen poetischen Zukunft ist von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? 474 die elementarsten Betriebe: Betriebe von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: Triebe. 475 Von Unterscheiden bis richtigerer Verbindungen von Yorck am rechten Blattrand angestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: ? wo hÈtte da die Negation Platz? 476 Dienste von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: Aber in ihm ist kein Positives. 477 von Reizen bis hervorgebracht von Yorck im Text unterstrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: hervorgebracht ist doch ein folgenreicher Ausdruck. Das Theorem, welches fÝr die Physik oder Physiologie eine entsprechende, weil brauchbare Grundlage ist, wonach die „Na-

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Anmerkungen

tur“ in einer unendlichen Anzahl von Einzelreizen, atomistischen Erregern wirkt, wird hier wie p. 65 [ Ges. Schr. V, S. 212 f.] als Tatsache behandelt. Es ist aber eine Hypothese, eine fÝr mathematischen Angriff unvermeidliche, aber immerhin kein Erforschungsdatum. Die Analysis der psychophysischen Gegebenheit findet die Natur als allgemeinen Bewußtseinsfaktor, nicht als ein BÝndel von Reizen. Die ausschließliche Reiztheorie ist ein Postulat des Mechanismus, der keine Bedingungen, sondern nur Versuche brauchen kann. Jener Annahme gemÈß ist die Funktion der Sinne eine synthetische. Vielleicht ist sie in Wahrheit eine analytische. Daß aber die Lebendigkeit bestÈndig sich wiederholender [?] Einzelreize bedÝrfte, ist keine Erfahrungstatsache. 478 beziehungslos von Yorck im Text unterstrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: ? doch Èsthetisch vermittelt. 479 Von Aber die quantitativen bis IndividualitÈten von Yorck am linken Blattrand angestrichen; dazu am linken Blattrand von Yorcks Hand: Auch dies reicht m. E. nicht aus, IndividualitÈt oder PersÚnlichkeit zu erfassen. Sie kann nicht prÈdikativ bestimmt werden, sondern nur lebendig ergriffen werden. Es fÝhrt der Gesichtspunkt des Textes doch auch nur zu Typen, allgemeinen Charakteren. 480 Weltansicht, um die einzelne Person das Komma von Yorck im Text gestrichen; dazu am rechten Blattrand von Yorcks Hand: Komma muß wohl wegfallen.

4. *Aus den EntwÝrfen zu einer Antwort auf Hermann Ebbinghaus’ Kritik an Diltheys „Ideen Ýber eine beschreibende und zergliederende Psychologie“ Die hier abgedruckten Texte gehÚrt zu einer Reihe von Versuchen D.s zu einer Entgegnung auf die von H. Ebbinghaus gegen seine Abhandlung Ideen Ýber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (Sitzungsberichte der KÚniglich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jahrgang 1894, Zweiter Halbband, Juni bis Dezember, Berlin 1894, S. 1309–1407; in: Ges. Schr. V, S. 139–237) gerichtete Kritik. Trotz intensiver BemÝhungen gelang D. keine publikationsreife Antwort auf Ebbinghaus’ Polemik Àber erklÈrende und beschreibende Psychologie (in: Zeitschrift fÝr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 9 [1896], S. 161–205; Wiederabdruck in: F. Rodi/ H.-U. Lessing [Hrsg.]: Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys, Frankfurt a. M. 1984, S. 45–87). Die EntwÝrfe D.s zu einer Replik auf Ebbinghaus, aus denen hier eine Auswahl der gehaltvollsten Fragmente getroffen wurde, liegen in den Faszikeln C 17 II und C 30 II des Nachlasses. Den Seitenangaben D.s wurden in [ ] die entsprechenden Seiten in den genannten Nachdrucken der Abhandlungen hinzugefÝgt.

[I.] C 17 II: 12, 11, 19, 18. Undatiertes, unpaginiertes Ms. von D.s Hand. Der Text liegt in einem Umschlag mit der Aufschrift: Gegen Ebbinghaus. 20, 12, 19, 21. Zus.gelegt. St[ein]. Einige nicht oder nur teilweise lesbare Randnotizen bzw. EinfÝgungen sowie inkonsequente Korrekturen D.s, die z. T. ebenfalls kaum zu entziffern sind, blieben unberÝcksichtig. 481

Das Ms. bricht ab.

Anmerkungen

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[II.] C 17 II: 66–73. Undatiertes, unpaginiertes Ms. von fremder Hand. Schreibfehler wurden stillschweigend korrigiert. 482

Am Rand unleserliche Notiz von D.s Hand. Gemeint sind D.s Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), Ges. Schr. I, S. 32 und die Abhandlung Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine fÝr eine Poetik (1887), Ges. Schr. VI, S. 103–241. 484 LÝcke im Text. 485 Korrigiert aus: Begehrende. 486 Am Rand unleserliche Notiz von D.s Hand. 483

[III.] C 17 II: 92-95 Rs. Undatiertes, unpaginiertes Ms. von D.s Hand. 487 488 489 490 491 492

Am Rand unleserliche Notiz. Unleserliche Bemerkung Ýber der Zeile. Am Rand lÈngere, unleserliche Notiz. Es folgt eine unausgefÝhrte Seitenangabe. Unklare Korrekturen nicht berÝcksichtigt. Das Ms. bricht ab.

[IV.] C 30 II: 253, 255–257 Rs. Undatiertes, unpaginiertes Ms. von D.s Hand auf Doktor-Diplom von 1894. Der Entwurf trÈgt den Titel 8Nochmals9 Àber beschreibende und zergliedernde Psychologie von W. Dilthey. 493

Am Rand: Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften 1894 LIII. Es folgt ein eingelegtes Blatt (C 30 II: 254) mit strichwortartigen, kaum zu entziffernden Notizen in D.s KÝrzelschrift. 495 Am Rand: 1. Der Zusammenhang im menschlichen Seelenleben ist immer, wenn wir bewußt sind, wirksam. Wie wir alles nur darstellen kÚnnen, indem wir Sonderungen vollziehen, so sondern wir ihn nach der Art seines Wirkens. Aber daraus kann keine Art von Folge gezogen werden. In dem, was wir Einheit oder Ganzes nennen, in den Sinneswahrnehmungen sind durch diesen seelischen Zusammenhang Bestandteile zu einer Einheit verbunden, ohne daß wir des Vorganges uns bewußt wÝrden. In Zahl und Satz vollziehen wir eine Einheit und ist Zusammenhang auch bewußt. Klar ist der Zusammenhang da, wo er Ýbergreifend in [der Text bricht ab ]. 496 Am Rand unleserliche Notiz mit Hinweis auf [Chr.] Sigwart[, Logik, Band] II[, 2., durchgesehene Aufl., a. a. O., S.] 207. 494

Personenregister

Alba 25 Anaxagoras 300 Aristoteles 1 f., 30, 34, 36, 128, 136 f., 157, 202, 322 Augustinus 30, 262 f. Bach 292 Bacon 48, 166 Bain 118 f., 135, 359 Beethoven 325 Bendixen 195 Beneke 36, 42, 90 Berghahn 352 Bernhard v. Clairvaux 288 Bessel 240, 273 Bichat 348 Bonsiepen 361 Bopp 5 Brentano XI, 18–20, 119, 155, 348 Bruno 136 BÝchner 140, 142, 360 Buckle 5, 239, 246, 272, 297 Buffon 1 Cabanis 140 Carlyle 155 Collier 99 Comte 135, 159 Condillac 99, 135, 176, 238 Corti 182 Cuvier 1 D’Alberto XXXII Darwin XIV f., 31, 46, 241 Demokrit 166, 300 Descartes 6, 129, 137, 184 Dickens 209, 324 Diogenes Laertius 349 Dittmar 201

Drobisch 44 f., 235, 265, 268, 350 Du Bois-Reymond 75, 141 f. DÝrer 328 f. Ebbinghaus XXIX, XXXI f., 327–339, 342 f., 367, 378 Epikur 30 Eucken XXXI Fechner X, XIX, XXV, XXVII, 76, 83, 118, 143, 146, 156, 188, 208 f., 240, 265, 273, 365 Fichte 30, 349 Flourens 81, 125, 355 Franziskus v. Assisi 288 FriedlÈnder 50, 350 Friedrich der Große 320 Fries 14 Galilei XXIV, 6, 137 George XIX Gervinus 6, 47 Gluck 47 Goethe 6, 21, 48, 63, 66, 114, 149, 243, 277, 307, 319 f., 324 f., 327, 330, 352 Goltz 77, 355 Gomperz 236, 370 Griesinger 125 Grimm 5 Groethuysen 354, 362, 368 f. Grote 239, 246, 272, 297 Gruithuisen 212 Gustav II. Adolf 332 Haeckel XV, XVIII, 75, 83, 355 Haller 145 Hamilton 17, 20, 22 f. Hartley XIII, 34–36, 135, 236, 269, 349 Hartmann XIII, 33 f., 350 f.

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Personenregister

Heede 361 Hegel 5, 91, 147, 287, 300, 322, 326, 361 Heidenhain 211 Helmholtz X, XIV, 46, 64, 179, 181 f., 184, 233, 248, 273, 353, 363, 365 Heraklit 30, 300 Herbart X, XIX, 2, 10, 22, 38, 90 f., 99 f., 115, 135, 139, 235, 239, 268, 270, 272 f., 278, 287, 300, 307, 339, 360, 368 Herder 5, 61, 319 Hobbes XXII, 6, 48, 91 f., 123, 135, 140, 291, 293 HÚffding 195 Holz 193 Horwicz X, 19, 22, 27, 119, 155, 208 f., 348, 351, 359, 365 Humboldt 5, 327, 331, 335 Hume 6, 90, 99, 135, 236, 251, 269 James XXIV–XXVI, 24, 120, 130, 133 f., 155, 157, 196, 244, 285, 340, 343, 348, 359–361 Johach XXII, XXXII Johannes 328 Kant 6, 16–18, 26 f., 37, 44, 91, 94, 120, 144, 148, 156, 170, 190, 213, 222, 230, 247, 250, 259–261, 264, 283, 297, 300 f., 320, 341, 343, 349, 373 Keller 324 Kuhn 5 Kußmaul X, 196, 203 f., 366 Landois X, 81, 83, 85, 355 f., 364 f. Lange, C. 200 Lange, F. A. XXV, 7, 146 La Rochefoucauld 224 Lasswitz XXIV Lazarus X, 1, 4, 347 Leibniz XXII, 6, 34, 90–92, 136, 139, 286, 322 Leonardo da Vinci 328 Lessing, G. E. 31 Lessing, H.-U. XXXI, 378 Lichtenberg 224, 263 Liebmann XXV, 146, 359 f. Lipps 119 Lotze 4, 17 f., 20, 22 f., 27, 32, 42, 101,

107, 139, 157, 235, 239, 265, 268, 270, 347 f., 350, 361, 365 Luther 288 Machiavelli 262 Mach 153 Marc Aurel 224, 262 Mersenne 184 f., 365 Meyer 19, 348 Meynert X, 81, 104, 107, 135, 199, 201, 356, 366 Michelangelo 292, 329 Mill, J. 135, 236–239, 269–272, 297, 360 Mill, J. St. 22, 135, 236–239, 269–272, 297, 361, 370 Misch, C. XX, 347 Misch, G. XX f., 358 Moleschott 140 Montaigne 262, 326 Moritz 324, 327 Mosso 201 MÝller X, 24, 43, 348, 350 Munk X, 80, 355 MÝnsterberg XVIII, XXIV, 83, 128, 241, 274, 340, 356, 370 Napoleon 25, 83, 320 Natorp XXXI Newton 136, 148, 187 Nietzsche 144 Nohl XVI Novalis X, 225, 324, 370 Pascal 224, 262 f. Paulsen 122 f., 125, 147, 359 Pestalozzi 288 f., 300 Petrus 328 PflÝger X, 77, 197, 355 Pistorius 349 Platon 29, 92, 349, 361 Preyer 366 Radestock 211, 213, 367 Raffael 329 Ranke 155 Rehmke XXXI Ribot 119, 239, 247, 272 Riehl XXXI

Personenregister Rodi XXII, XXXI, 378 Romanes 368 Rousseau 319, 324, 332 RÝmelin XIV, 47–49, 350 Sachs 25 Schelling 30, 34, 118, 247, 297, 322 Schiff 199, 201 Schiller 60, 138, 327 Schleiermacher XIX f., 26, 43, 293, 319, 326 f., 331, 335, 350 Schmoller 247, 258, 370 Schneider X, XV f., 56, 350 f. Schopenhauer XIII, 30, 33, 41, 44 f., 116, 120, 155 f., 229 f., 247, 284, 297, 310, 316, 326, 351 Schulenburg XVII Schweizer 327 Seneca 262 Shaftesbury 136 Shakespeare XIV, 6, 47–49, 149, 272, 292 Siegfried 119 Sigwart XXIV, XXVI, XXXI, 129–131, 133 f., 139, 247, 250, 288, 294, 340, 345, 359 f., 379 Sokrates 326 Spahn XXXII Spencer 118 f., 199, 202 f., 236–239, 241, 243 f., 247, 270–272, 284, 288, 297, 338, 358 f., 366, 370 Spinoza XX, XXIII, 6, 30, 33, 37, 118, 124, 136, 232, 291, 293 Stal 60 f. Stein, A. 358, 378 Stein, L. 123 Steinthal X, XIII, 1, 38–40, 347, 349 Strauss 139 Stumpf 119, 131, 155, 183 f., 191, 222, 248, 260, 290, 365 f., 368

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Tacitus 327 Taine 119, 238 f., 246 f., 271 f., 297, 370 TeichmÝller 30 ThÝming 264 Tieck 212 Trendelenburg 91, 300 Turgot 5 Tyndall 141 f. Ueberweg 7, 36 Ulrici 35, 37, 349 Velasquez 190 Vetter 199, 237, 358 Virchow 75 Vogt 140 Volkelt 146 Volkmann 365 Waitz 32, 235, 264–266, 268, 276 Weber 195, 240, 273 Wernicke 85 Windelband XXXI Wolf 5 Wolff 235, 264 f., 268, 270 Wundt X, XIII, XVII, XIX, XXII, XXV f., 4, 21–23, 25, 30, 35, 83, 92, 114, 119 f., 130, 146, 155 f., 200 f., 203, 208, 210 f., 240–242, 247, 250, 275, 340, 343, 348 f., 352 f., 355–358, 360, 363–366 Yorck v. Wartenburg XXIII f., XXIX–XXXI, 253, 367, 369, 371–378 Zeller XVI, 139, 360 Ziehen X, 355, 365