Psychiatrie und Gesellschaft: Psychiatrische Einweisungspraxis im »Dritten Reich«, in der DDR und der Bundesrepublik 1941–1963 [1 ed.] 9783666352003, 9783525352007

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Psychiatrie und Gesellschaft: Psychiatrische Einweisungspraxis im »Dritten Reich«, in der DDR und der Bundesrepublik 1941–1963 [1 ed.]
 9783666352003, 9783525352007

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Stefanie Coché

Psychiatrie und Gesellschaft Psychiatrische Einweisungspraxis im »Dritten Reich«, in der DDR und der Bundesrepublik 1941–1963

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann

Frühere Herausgeber Helmut Berding, Hans-Ulrich Wehler (1972–2011) und Jürgen Kocka (1972–2013)

Band 218

Vandenhoeck & Ruprecht

Stefanie Coché

Psychiatrie und Gesellschaft Psychiatrische Einweisungspraxis im »Dritten Reich«, in der DDR und der Bundesrepublik 1941–1963

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT Mit 56 Tabellen Umschlagabbildung: Klinik für Psychiatrie, Marburg, 1875, Ortenbergstr. 8, Aufnahme vor 1920, Fotograf unbekannt. © Bildarchiv Foto Marburg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0130 ISBN 978-3-666-35200-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Thema und Untersuchungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2. Untersuchungsgegenstand – Beschreibung und Eingrenzung . . . . . . 16 3. Methodischer Ansatz, Thesen- und Forschungskomplexe, Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 4. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Kapitel I: Historische Rahmenbedingungen der Einweisungspraxis – Psychiatrie, Staat und Gesellschaft bis 1941 . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Anstalts- und Kliniktypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2. Zur Funktion der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3. Psychiatrie als Lieferant für staatlich angewandtes Wissen . . . . . . . 48 4. Psychiatrisches Wissen als Deutungsfolie für gesellschaftliche Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 5. Veränderungen in der NS-Zeit bis 1941 und Beginn der Krankenmorde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Kapitel II: Staat und Psychiatrie – Rahmenbedingungen und Einweisungsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1. Krankenmord und Mangel: Die Einweisungspraxis im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 1.1 Betroffene und Ärzte bei der Einweisung . . . . . . . . . . . . . . 63 1.2 Initiierung von Einweisungen durch Angehörige . . . . . . . . . . 67 2. Die Einweisungspraxis in der »Zusammenbruchgesellschaft« (1945–1949) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3. Neue Wege, fehlende Plätze: Die Einweisungspraxis in der DDR . . . . 81 3.1 Unterfinanzierung und Platzproblematik . . . . . . . . . . . . . . 82 3.2 Veränderungen der Einweisungswege durch Polikliniken und Fachärztegremien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4. Strittige Psychiatrie-Funktion und Einweisungspraxis in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4.1 Wer gehört in die Anstalt? Diskussionen um Kosten und das Verhältnis von Sicherheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . 94 5

4.2 Patientinnen und Patienten zwischen Ärzten, Verwandten und ­ überfüllten Kliniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 5. Zwischen Freiwilligkeit und Zwang, Hilfe und Verwahrung: Einweisungen aus Sicht der Patientinnen und Patienten in der NS-Zeit, DDR und Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 6. Zusammenfassung: Rahmenbedingungen, Akteure und Funktion der Anstalt im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Kapitel III: Gefahr und Sicherheit – Zur Praxis der Zwangseinweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. »Gefährdung der öffentlichen Sicherheit«? Zwangseinweisungen im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1.1 Soldaten-Einweisungen an Front und »Heimatfront« . . . . . . . . 118 1.2 Alte Menschen als Gefahr: Radikalisierung der Einweisungspraxis durch Institutionen und soziales Umfeld . 121 1.3 Sicherheit, Sexualität und Arbeit: Einweisungen von »asozialen Psychopathinnen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1.4 Interpretation: Zwangseinweisungen im Krieg . . . . . . . . . . . 137 2. Regelfreier Raum: Die neue Macht der Ärzte und Angehörigen in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2.1 Die Regelung der Zwangseinweisung in der DDR . . . . . . . . . . 140 2.2 Ansprüche und Entscheidungen: Die Praxis-Koalition von Anstaltsärzten und Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3. Richterliche Zwangseinweisung: Neuregelungen und ihre Umsetzung in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 3.1 Die Neuregelung und ihre Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . 150 3.2 Informelle Vor-Entscheidungen durch Familien und Ärzte . . . . 157 4. Zusammenfassung: Zwangseinweisungspraktiken im Vergleich . . . . 160 Kapitel IV: Krankheit und Diagnostik – Medizinische Aspekte der Einweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1. Der Psychiater als Kenner: Diagnoseklassifikationen und das Krankheitsbild Schizophrenie in der NS-Zeit und der frühen ­ Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 1.1 Der Würzburger Schlüssel als Diagnoseraster im »Dritten Reich« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 1.2 Praxis, Tradition, Lokalwissen: Die Diagnostik-Debatte in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 1.3 Kontinuitäten und Brüche bei Schizophrenie-Diagnosen in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 6

2. Zwischen Tradition, Pavlov und WHO: Vielfältige Diagnoseklassifikationen und das Krankheitsbild Schizophrenie in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 2.1 Ärztliche Stellungnahmen zu Diagnoserastern . . . . . . . . . . . 190 2.2 Schizophrenie zwischen Tradition und Pavlov . . . . . . . . . . . 196 3. Diagnosepraxis in der Bundesrepublik und der DDR . . . . . . . . . . 199 3.1 Psychiater untereinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 3.2 Psychiater und andere Ärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 4. Das Verhältnis von Arzt und Patientin/Patient . . . . . . . . . . . . . . 208 4.1 Informationsfluss von der Familie in die Institution . . . . . . . . 208 4.2 Ärztliche Diagnosen und Laiendiagnosen . . . . . . . . . . . . . . 212 4.3 Briefwechsel zwischen Laien und Ärzten . . . . . . . . . . . . . . 215 4.4 Wissenszirkulation zwischen Ost und West: Laien-Forderungen nach »westlichen« Behandlungsstandards . . . . . . . . . . . . . . 223 5. Zusammenfassung: Krankheit und Diagnostik im Vergleich . . . . . . 227 Kapitel V: Arbeit und Leistung – Arbeitsfähigkeit und -unfähigkeit in der Einweisungsargumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 1. An der Schwelle: Arbeit und Anstaltsbedürftigkeit 1941–1963 . . . . . 232 1.1 Inklusion und Exklusion: Arbeit in den Einweisungsargumentationen der Familien im Krieg . . . 232 1.2 Arbeitskraft wiederherstellen, Arbeitsabläufe sicherstellen: Familiäre Einweisungsargumentationen in der Bundesrepublik . 238 1.3 Ein zweischneidiges Schwert: Arbeit in den Einweisungsargumentationen der DDR . . . . . . . . . . . 241 2. Das gesunde Selbst im Zweiten Weltkrieg, in der DDR und der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 2.1 »Überarbeitung« in der Kriegszeit und der frühen Bundesrepublik 247 2.2 Arbeitsfähigkeit als Zeichen von Gesundheit im Zweiten Weltkrieg und der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . 251 2.3 Arbeitsfähigkeit und »Überarbeitung« in der DDR . . . . . . . . . 255 2.4 Interpretation: Unterschiedliche Vorstellungen in Ost und West . 260 3. Arbeit und Leistung aus ärztlicher Sicht zwischen 1941 und 1963 . . . 263 3.1 »Psychopathie« als Diagnose in der NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . 265 3.2 Managerkrankheit, »Psychopathie«, »Erschöpftsein«: Medizinische Deutungen von »Überarbeitung« in der Bundesrepublik . . . . . 268 3.3 »Überarbeitete« Diagnostik: Ein neuer wissenschaftlicher Diskurs mit Folgen für die psychiatrische Praxis in der SBZ/DDR . . . . . 277 4. Zusammenfassung: Arbeit und Leistung im Vergleich . . . . . . . . . . 291 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 7

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 1. Statistische Auswertung des Einweisungswegs . . . . . . . . . . . . . . 319 1.1 Tabellen Einweisungsweg 1941 bis Kriegsende . . . . . . . . . . . 319 1.2 Tabellen Einweisungsweg Kriegsende bis einschließlich 1949 . . 326 1.3 Tabellen Einweisungsweg 1950 bis 1955 . . . . . . . . . . . . . . . 332 1.4 Tabellen Einweisungsweg 1956 bis 1963 . . . . . . . . . . . . . . . 336 2. Weitere Statistische Auswertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

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Einleitung

1. Thema und Untersuchungszeitraum Die Schwelle zur Anstalt überschritt Martina R.1 im März 1946. Die 36-Jährige erschien zur Aufnahme in die Landesheilanstalt (LHA) Marburg, begleitet von ihrer Schwiegermutter. Damit wurde aus der vierfachen Mutter eine psychia­ trische Patientin. »Pat. leidet seit einigen Tagen an depr. Verstimmungszuständen«,2 lautete der hausärztliche Befund, auf dem die Überweisung zur »stat. Behandlung u. fachärztlichen Begutachtung«3 basierte. Auch die Schwiegermutter gab zu Protokoll, die »Pat. sei schon etwa seit 8 Wochen schwer deprimiert. Gestern hatte sie eine Art Wutanfall ihrem Kind gegenüber.«4 Dennoch folgte die Einweisung keinem medizinischen Automatismus: Martina R. unterschrieb bei ihrer Aufnahme eine Freiwilligkeitserklärung – es handelte sich also um eine zivile Einweisung. Ihre Schwiegermutter erläuterte die Situation folgendermaßen: »Sie bringe ihre Schwiegertochter her, da die Aerztin gesagt habe, man könne die Verantwortung nicht mehr tragen. Bis man von einem der eigenen Familie sage, er sei geistig nicht mehr normal, brauche es wohl so seine Zeit, da man es ja selbst nicht wahr haben wolle.«5 Für den Behandlungsbedarf lieferte die Schwiegermutter eine psychologisierende Erklärung, die unmittelbar auf die spezifischen zeithistorischen Bedingungen rekurrierte: »Für das zarte Persönchen waren auch die Schicksalsschläge in der letz. Zeit zu gross: Ihr Mann ist als SS-Angehöriger noch in einem polit. Lager, hat gleich zu Anfang seine Stellung verloren, sein Vermögen ist beschlagnahmt, auch die Eltern der Pat. haben alles verloren. […]«6 Insofern zeigt der Fall Martina R. exemplarisch: Bei psychiatrischen Einweisungen handelt es sich um komplexe Aushandlungsprozesse verschiedener 1 Alle Patientennamen sowie Namen der Angehörigen sind anonymisiert. Die Namen der Ärzte, die in den Anstalten arbeiteten, sind abgekürzt, wenn Teile der Patientenakten wiedergegeben werden. Ärztenamen aus Publikationen hingegen werden genannt. Wenn einzelne Patientinnen und Patienten und ihre Familien in der Arbeit mehrmals und ausführlich als Beispiel herangezogen wurden, wurden auch Ortsnamen anonymisiert. 2 LHA Marburg, Patientenakte Sign. 16K10740F, Attest v. 15.3.1946, LWV Hessen, 16. Abkürzungen sowie Rechtschreib- und Grammatikfehler in den Zitaten aus den Krankenakten werden unverändert wiedergegeben, um möglichst nahe am Original zu bleiben. 3 Ebd. 4 Ebd., Angaben d. Schwiegermutter v. 15.3.1946. 5 Ebd. 6 Ebd.

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institutioneller und nicht-institutioneller Akteure, deren Argumentationen variieren. Die Analyse sowohl der jeweiligen Akteurskonstellation und Verlaufsstruktur als auch der inhaltlichen Begründungen verschiedener Akteure machen psychiatrische Einweisungen zu einem gewinnbringenden Gegenstand einer historischen Arbeit: Wer wurde warum eingewiesen  – und unter wessen Mitwirken? Was sagt dies über Vorstellungen von »Normalität«, Sicherheit, Krankheit und Gesundheit in einer Gesellschaft aus? Hierbei gilt das Kerninteresse der Studie der psychiatrischen Einweisungspraxis zwischen 1941 und 1963 in drei spezifischen Zeit-Räumen und fragt damit nach alltags- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontinuitäten und Brüchen vom »Dritten Reich« in die beiden deutschen Nachfolgestaaten: Wie und warum kamen Menschen während des Zweiten Weltkrieges, in der frühen DDR und Bundesrepublik in eine psychiatrische Anstalt oder Klinik? Was sagt dies über die jeweiligen Gesellschaften aus? Der Untersuchungszeitraum beginnt in der Kriegszeit, die als besonders aufschlussreich für die Analyse von Exklusionsmechanismen im National­sozia­ lismus gelten kann. Der Krieg beschleunigte eine »Radikalisierung hierarchisierender, selektierender und ausgrenzender Handlungsmuster im Umgang mit Patienten.«7 Das Jahr 1941 bietet sich aus zwei Gründen als Anfangspunkt der Untersuchung an. Spätestens seit den öffentlichen Reden Bischofs von Galens kann davon ausgegangen werden, dass in der Bevölkerung Wissen über die Krankenmorde zirkulierte,8 die nach dem Stopp der Aktion T4 dezentralisiert durchgeführt wurden.9 Einweisungsentscheidungen nach dem Ende der Aktion T4 sind vor dem Hintergrund dieses Wissens zu interpretieren.10 Außerdem stellt das Jahr 1941 in mehrfacher Hinsicht eine Kriegswende dar,11 die die Situation an der »Heimatfront« veränderte. In Erinnerung an die Kriegsverdrossenheit der eigenen Bevölkerung während des Ersten Weltkrieges bemühte sich das nationalsozialistische Regime im Zweiten Weltkrieg zunächst um größtmögliche Normalität an der »Heimatfront«. Die Kriegswende des Jahres 1941 7 Süß, Medizin im Krieg, S. 191. 8 Zum Wissen um die Krankenmorde, vgl. zusammenfassend z. B.: Brink, S. 327 ff.; Aly, Belasteten, S. 266 ff. 9 Die Aktion T4, der staatlich organisierte Mord an körperlich und geistig »behinderten« Menschen, begann um die Jahreswende 1939/1940 und wurde offiziell am 23. August 1941 eingestellt, wohl auch durch öffentliche Proteste katholischer Geistlicher. Allerdings gab es ab August 1942 eine Wiederaufnahme der Morde, diesmal nicht staatlich zentral, sondern dezentral, unterschiedlich nach Region und Anstalt, vgl. u. a.: Pohl, S. 30 f.; Schmuhl, S. 295–331. 10 Die Psychiatriegeschichte des Nationalsozialismus lässt sich in drei Phasen einteilen, deren dritte Phase 1941 mit dem Ende der Aktion T4 begann. Vgl. zur Einteilung: Ebd., S. 315. 11 Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, dem Scheitern des »Blitzkrieg«-Konzepts und schließlich dem Kriegseintritt der USA veränderte sich die gesamte Kriegsdynamik und im Zusammenhang mit der Verstetigung des Krieges auch die Situation an der »Heimatfront«. Im Gesundheitswesen war ab etwa 1941/42 die Krankenhausversorgung der Zivil­ bevölkerung nicht mehr gesichert, vgl.: Süß, »Volkskörper«, S. 210.

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führte jedoch dazu, dass nun kriegspragmatischen Anliegen Vorrang eingeräumt wurde. Vor diesem Hintergrund unterlagen sowohl die Anstalten als auch die Bedingungen der Einweisungspraxis einem Wandel: Es wurden zunehmend psychiatrische Betten für versehrte Soldaten zweckentfremdet. Zudem sind die zahlreichen Verlegungsaktionen zwischen den einzelnen Anstalten im Rahmen der »Aktion Brandt« zu berücksichtigen, die 1942 begann.12 Der Untersuchungszeitraum endet, bevor die Forderung nach Psychiatriereformen in Ost- und Westdeutschland weite Verbreitung fand. Für die Festlegung des Endes der Untersuchungszeit dienen die sogenannten »Rodewischer Thesen« als Anhaltspunkt, eine 1963 verfasste Auflistung von Reformforderungen für die Psychiatrie in der DDR. Für die Bundesrepublik lässt sich kein den Rodewischer Thesen vergleichbares Ereignis vor der Psychiatrieenquete festmachen, die jedoch bereits ein Ergebnis längerer öffentlicher und fachlicher Debatten war. Die­ Rodewischer Thesen eignen sich vor diesem Hintergrund auch deswegen als Zäsurdatum, weil auf der entsprechenden Tagung in Rodewisch auch Psychiater aus der Bundesrepublik teilnahmen.13 Die Einweisung Martina R.s steht für die Umbruchs- und »Zusammenbruch­ gesell­schaft«14 in den ersten Nachkriegsjahren. Im Verlauf der Krankengeschichte Martina R.s werden zahlreiche Eindrücke und Bewertungen ihrer Verwandten wiedergegeben, inwiefern das Verhalten der Patientin nicht dem erwünschten entsprach. Es wurde z. B. angemerkt, dass Martina R. sich ihrer neuen Situation nach dem Verlust von Haus und Eigentum nicht anpasste, indem sie »mit anpackte«. Ihre Cousine meinte, die Patientin habe »weisse Hände vom Nichtstun«.15 Das Fallbeispiel führt vor Augen, dass sich in der Einweisungspraxis unterschiedliche Kriterien und deren potentiell gender- bzw. schichtspezifische Definitionen überlappten. Die Ärzte befassten sich mit diesen Aussagen und bezogen sich in ihren eigenen Argumentationen auf die Familie. Die Hausärztin verwies auf die Familie und ihren sozialen Stand sowie auf ein der Aufnahme vorausgegangenes Telefongespräch mit einer anderen psychiatrischen Einrichtung, der Universitäts- und Nervenklinik Marburg. Die Schwiegermutter zog die Expertenmeinung der Hausärztin zur Legitimierung des Anstaltsaufenthaltes heran. Den Ausführungen der Schwiegermutter folgen in der Krankenakte Angaben der Patientin selbst. In diesem Fall stammten alle medizinischen Laien, die sich äußerten, aus der Familie, möglich war aber z. B. auch eine Beteiligung von Menschen aus dem Arbeitsumfeld der Patientin oder des Patienten oder von Nachbarinnen und Nachbarn. Es handelte sich bei Martina R.s ­Aufnahme 12 Die »Aktion Brandt« diente vor allem dazu, Sonderkrankenhäuser zur Behandlung verletzter Soldaten und »Volksgenossen« zu schaffen, indem etwa Altenheime und Psychiatrien einen Teil ihrer Betten zur Verfügung stellen mussten. Zur »Aktion Brandt«, vgl. u. a.: Süß, »Volkskörper«, S. 76 ff. 13 Zu den Rodewischer Thesen, vgl.: Schulz, Rodewischer Thesen, S. 87–100. 14 Der Begriff ist geprägt worden in: Kleßmann, Staatsgründung, S. 37–63. 15 LHA Marburg, Patientenakte Sign. 16K10740F, Eintrag v. 15.3.1946, LWV Hessen, 16

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um eine zivile Einweisung, sie hat also bei ihrer Aufnahme eine Freiwilligkeitserklärung unterschrieben. Im Zuge von Zwangseinweisungen konnten anders als in diesem Beispiel auch Polizisten und Juristen in den Einweisungsprozess involviert sein. Einweisungen hingen nicht von »eindeutigen« oder »objektiven« Kriterien ab, sondern von der Interaktion verschiedener Akteure unter zeit- und kontextspezifischen Gegebenheiten. Die besondere Relevanz der Frage nach dem jeweiligen Verhältnis unterschiedlicher Gründe liegt darin, dass es sich bei Einweisungen um eine der folgenreichsten »Verhandlungen« in modernen Gesellschaften handelt. Das zeitlich mehr oder minder begrenzte Herauslösen von Menschen aus ihren Lebenszusammenhängen durch Aufnahme in eine psychiatrische Anstalt erweist sich als Lackmustest nicht nur für individuelle Freiheit, Autonomie und Lebenschancen, sondern auch für das gesellschaftliche Verständnis von Gesundheit, Normalität, Sicherheit und »Sittlichkeit«. Entsprechend perspektiviert die Studie nicht nur separiert Einweisungsprozesse während des Zweiten Weltkrieges, in der frühen Bundesrepublik und der DDR, sondern fragt im Sinne eines integrativen Ansatzes auch, was dies über die jeweiligen Gesellschaften aussagt und inwiefern Kontinuitäten und­ Brüche festgestellt werden können.16 Über eine Kombination wissenschafts-, justiz- und alltagsgeschichtlicher Ansätze leistet sie einen Beitrag zur deutschen Gesellschaftsgeschichte, der die Verhältnisse in beiden »totalitären« Diktaturen und der westdeutschen Nachkriegsdemokratie im Zusammenhang thematisiert. Dabei liegt das Interesse dieser Arbeit in erster Linie auf der Praxis. Die Analyse der Praxis lässt oft tiefergehende Schlüsse auf die Mechanismen einer Gesellschaft zu, als die alleinige Beleuchtung von Regeln, Konzepten und Intentionen.17 Einweisungspraktiken fanden an der Schwelle zur Anstalt statt. Die Schwelle soll hier entsprechend Cornelia Brinks Definition als »Zone, die dem Innen und dem Außen« der Anstalt angehört,18 verstanden werden.19 Diese Grenzzone 16 Die Studie schließt mit diesem Erkenntnisinteresse, eine medizinische Institution auf ihre gesellschaftliche Nutzung zu untersuchen, an klassische Fragestellungen der Sozialgeschichte der Medizin an. Ausführlich zur Sozialgeschichte der Medizin, vgl.: Labisch u. Spree, S. 305–321. 17 Ein praxeologischer Ansatz geht von mehreren konkurrierenden Strängen von Handlungswissen aus, die der Handlung nicht im Sinne von Normen und Mentalitäten nur vorgelagert sind, sondern diese qua Handlung generieren, erhalten oder transformieren. Regulatives Wissen ist dementsprechend nur einer von mehreren wichtigen Faktoren. Vgl.: Reichhardt, S. 43–65. Grundlegend für praxeologisch ausgerichtete Arbeiten ist: Bourdieu, Sozialer Sinn. 18 Brink, S.  20. Zur Bedeutung von Schwellenräumen im Kontext von Psychiatrie und Moderne, vgl. auch den Sammelband: Hess u. Schmiedebach. 19 Die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes entspricht somit der in einem Teil der Foucault­ rezeption als Foucaults grundlegende Annahme herausgestellten Erkenntnis, nach der auf Grundlage der Grenzziehung, wie sie an der Schwelle zur Anstalt vorgenommen wird, der »soziale Umgang [mit den Ausgegrenzten, d. Vf.] Form und Gestalt« annimmt. Dem folgend ist die Grenzziehung selbst – nicht in erster Linie die Anstalt – ein besonders aussagekräf-

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wurde sowohl von Akteuren innerhalb der Anstalt, also Psychiatern, Neurologen, bei konfessionellen Einrichtungen auch Geistlichen, als auch von Akteuren außerhalb der Anstalt, Patientinnen und Patienten, ihren Familien, Haus und Fachärzten, Polizei und Gerichten in jedem einzelnen Fall mit- und neukonstituiert. Während eine Berücksichtigung des sozialen Umfelds der Patientin oder des Patienten in Arbeiten zum deutschen Sprachraum nur in vereinzelten Aufsätzen zu finden ist, zeigt die Forschung zum englischsprachigen Raum, wie wegweisend Entscheidungen außerhalb der Anstalt im institutionellen Vorfeld für Einweisungen waren.20 Wie sich gesellschaftliche Vorstellungen davon, wofür und für wen psychiatrische Einrichtungen dienen sollten und wie die sich damit verbundenen Inklusions- und Exklusionsprozesse wandelten, ist für die Zeit des Nationalsozialismus, die DDR und die Bundesrepublik bisher a­ llein auf einer regulativen und skandalgeschichtlichen Ebene erforscht worden.21 Es existieren insbesondere zum 20. Jahrhundert fast keine Studien, die die Familien und das soziale Umfeld der Patienten mitberücksichtigen.22 Die Arbeit von Cornelia Brink befasst sich vornehmlich mit Regularien zur Zwangseinweisung und Diskussionen hierüber. Gleiches gilt für die vergleichend angelegte Studie zu Bundesrepublik und DDR von Sabine Hanrath. In keiner von beiden werden Patientenakten als Quelle herangezogen.23 In Folge des öffentlichen Interesses am politischen Missbrauch von Psychiatrien, das sich bereits 1990 an einer ­Serie der Zeitschrift »Stern« zur Klinik Waldheim entzündete, konzentrierte sich die Forschung zu Psychiatrie in der DDR nach 1989 zuerst auf dieses Thema. Die grundlegende Studie von Sonja Süß konstatiert jedoch, dass es anders als in der Sowjetunion keinen systematischen politischen Missbrauch der tiges Untersuchungsobjekt für die hier unmittelbar zusammenfallende Gesellschafts- und Psychiatriegeschichte. Vgl.: Raffnsøe u. a., S. 105. Zusammenfassend zu anderen Lesarten von Histoire de la folie, vgl. ebd., S.  88 ff. Es ist zu beachten, dass damit lediglich ein auf­ Foucault zurückgehendes Erkenntnispotential der Grenzziehung als Ansatzpunkt genutzt wird. Das foucaultsche Verständnis der Anstalt und von »Wahnsinn« wird nicht unhinterfragt vorausgesetzt, sondern es werden Einweisungsmechanismen, Handlungskonstellationen und Vorstellungen von Krankheit, Normalität und Sicherheit an sechs konkreten psychiatrischen Institutionen im Zeitraum von 1941 bis 1963 ergebnisoffen analysiert. 20 Vgl. zum englischsprachigen Raum u. a.: Suzuki; Gründler. Zum deutschsprachigen Raum: Nellen u. Suter, S. 159–181. 21 Brink; Hanrath. 22 Ganz anders außerhalb Deutschlands, vgl. u.a: Suzuki; Gründler; Vijselaar, S. 277–294. Zu Deutschland nur: Lutz u.a, S. 97–113; und ansatzweise: Aly, Belasteten. 23 Cornelia Brink untersucht öffentliche Diskussionen (»Expertenstreit, Medieninteresse und Laienkritik«), um über diese die Psychiatrie in der Gesellschaft zu verorten. Sabine ­Hanrath wurde der Zugang zu den Patientenakten der von ihr untersuchten beiden Anstalten nicht genehmigt. Vgl.: Brink, S. 29; Hanrath, Vorwort. Anders verhält es sich mit der auch mit Hilfe von Krankenakten entstandenen Arbeit von Svenja Goltermann zu Kriegsheimkehrern in der frühen Bundesrepublik: Goltermann schreibt u. a. auf der Basis von Patientenakten die Geschichte »traumatisierter« Kriegsheimkehrer als Geschichte der Patienten, ihrer Familien, ärztlicher Diagnose- und Krankheitsmodelle und gesellschaftlicher Popularisierung im Spielfilm. Goltermann.

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Psychiatrie in der DDR gegeben habe.24 Darüber hinausgehende Studien finden sich v. a. im englischsprachigen Raum und sind meist psychologie-, nicht psychiatriegeschichtlich ausgerichtet.25 Diese Studie fragt daher erstmalig danach, wie sich die Machtverhältnisse bei Einweisungen zwischen unterschiedlichen Akteursgruppen  – institutionellen sowie nicht-institutionellen – in den jeweiligen konkreten historischen Kontexten in der Mitte des 20. Jahrhunderts ausgestalteten und welche Handlungsspielräume jeweils vorhanden waren.26 Macht wird relational verstanden, mithin als ein soziales Verhältnis. Als solches ist Macht nicht statisch, sondern ein »dynamisches Phänomen«, in dem »sich die Relation zwischen einzelnen Personen, Gruppen oder Institutionen auf Grund ihrer asymmetrischen und wechselseitigen Beziehungen beständig verändern.«27 Es wird also ein weiter Machtbegriff zugrunde gelegt, um die Akteure in der Einweisungspraxis in ihren Beziehungen zueinander zu erfassen. Zugleich lässt sich so die in unterschiedlichem Maße gegebene Offenheit der Einweisungssituation selbst in eigentlich geregelten Zwangseinweisungen betonen. Der gewählte Zugang ermöglicht daher eine differenzierte Untersuchung unterschiedlicher beteiligter Gruppen. Hier wären insbesondere Psychiater in Anstalten und in Universitätsklinken, Amtsärzte in Gesundheitsämtern, Krankenhausärzte und niedergelassene Ärzte zu nennen. Auch das Verhältnis von medizinischen Institutionen und Polizei gerät in den Fokus.28 Darüber hinaus kann eigensinniges Verhalten der Verwandten der Patientin oder des Patienten in der Einweisungspraxis untersucht werden. Im Anschluss an Alf Lüdtke erfolgt dabei ein Rückgriff auf den Begriff Eigensinn, um Handlungen von Patientinnen und Patienten und ihren Familien zu analysieren. Es wird gezeigt, dass sie auf vielfältige Weise eigensinnig im Einweisungsprozess agierten, indem sie Einweisungen initiierten, Chancen zur Einweisung ergriffen, sich Argumentationsmuster aneigneten, diese neu nuancierten oder transformierten.29

24 Süß, Politisch mißbraucht?. 25 Vgl. v. a.: Ash, S. 286–301; Eghigian, S. 181–205; Leuenberger, S. 261–273; vgl. auch: Grashoff. 26 Zur Forderung, Machtverhältnisse in der Psychiatriegeschichte prominent zu berücksichtigen, vgl. auch: Engstrom u. a., S. 10. 27 Imbusch, S.  10. Es wird hier bewusst kein Bezug zu Foucault hergestellt. Zwar ist der­ Foucaultsche Machtbegriff ebenfalls ein relationaler. Allerdings wird in dieser Studie die Interpretation der Machtverhältnisse für die Moderne von Foucault nicht als gegeben voraus­gesetzt. Es wird daher nicht von vorneherein davon ausgegangen, dass Macht im 20. Jahrhundert im Allgemeinen in einem solchen Maß in den Händen von Wohlfahrtsstaaten oder Gesundheitsexperten geballt gewesen sei, dass die foucaultschen Begriffe der »Gouvernementalität« oder »Biomacht« als Schlüsselbegriffe die Analyse leiten könnten. Zur Macht der Wohlfahrtsgesellschaft und damit verbundenen Sicherheitsregimes und zur regulierenden Macht der Biopolitik, vgl.: Foucault, Sicherheit; ders., Biopolitik. 28 Zur Zuständigkeit von Polizei über den Bereich »öffentliche Sicherheit« hinaus vgl. den Sammelband: Lüdtke, »Sicherheit«. 29 Ders., Eigen-Sinn, S. 15.

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Damit unterscheidet sich die Konzeption der Studie von einer stark diskursorientierten foucaultschen Tradition der Psychiatriegeschichtsschreibung, aber auch von der durch Erving Goffman geprägten Lesart, in der die Patientinnen und Patienten zwar als Akteure analysiert werden, jedoch immer in der Position der Reagierenden verbleiben.30 In dieser Studie geht es hingegen darum, die Machtverhältnisse aller beteiligten Akteure bei Einweisungen in sechs psychiatrische Einrichtungen unter den spezifischen Bedingungen des Zweiten Weltkriegs, der frühen DDR und Bundesrepublik ergebnisoffen zu untersuchen, also dezidiert auch die Eingewiesenen selbst und ihr soziales Umfeld zu berücksichtigen. Diese Konzeption eröffnet eine selten gegebene Möglichkeit, Inklusionsund Exklusionsprozesse nicht-institutioneller Akteure in der Kriegs- und Nachkriegszeit in den Blick zu nehmen.31 Die Studie folgt der These, dass das Verhältnis von Institutionen und Laien am adäquatesten mit dem in der englischsprachigen Forschung etablierten push-and-pull-Modell beschrieben werden kann. Es wird diesem Modell entsprechend angenommen, dass Einweisungen nicht ohne die Beteiligung von Medizinern und Polizei einerseits und Familien und sozialem Umfeld andererseits erklärt werden können. Bisher findet das push-and-pull-Modell keine Anwendung in Studien zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.32 Diese Studie bietet daher eine alternative Deutung zur Rolle der Psychiatrie in der Mitte des 20.  Jahrhunderts. Aus der praxeologischen Perspektive verschieben sich etablierte Relevanz- und Agency-Zuschreibungen: Die Bedeutung staatlicher Zwangsmaßnahmen sowie regulativen und wissenschaftlichen Wissens verschwindet nicht, aber tritt im Verhältnis hinter der Relevanz von Alltagswissen und Machtverhältnissen in sozialen Mikrokosmen zurück. Etablierte Narrationen und Forschungsschwerpunkte für alle drei Systeme lassen sich so hinterfragen: Erstens stellt diese Studie fest, dass sich die Einweisungspraxis während des Zweiten Weltkrieges unter maßgeblicher Beteiligung der Bevölkerung trotz Wissens um die Krankenmorde radikalisierte. Bisher gerieten nicht-­ insti­tutionelle Akteure kaum ins Blickfeld der psychiatriegeschichtlichen Forschung zur NS-Zeit.33 Zweitens birgt der Fokus der Forschung auf Regeln und öffentliche Debatten gerade für die Bundesrepublik die Gefahr, die Geschichte 30 Goffman. Zur Diskussion um Goffman, vgl. auch den Sammelband: Bretschneider u. a. Einen detaillierten Forschungsstand zu Patienten und ihren Familien als Akteuren bietet: Gründler, S.6 ff. 31 Zum sozialen Mikrokosmos in der Nachkriegszeit, vgl.: Seegers, S. 87–90; als Schnittstelle von Privatheit und Institution im NS ist bisher vor allem die Gestapo eingehender erforscht worden, vgl. u. a. die beiden Sammelbände: Paul u. Mallmann, Gestapo; dies., Gestapo im Zweiten Weltkrieg. Am Institut für Zeitgeschichte wird im Projekt »Privatheit im National­ sozialismus« diese Schnittstelle untersucht: http://www.ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/ das-private-im-nationalsozialismus/. Zur Bundesrepublik, vgl.: Hähner-Rombach. 32 Vgl. Studien bis zum Ersten Weltkrieg: Finnane; Walton, S. 1–21; Wright, S. 137–155; Suzuki; Gründler. 33 Detailliert zum Forschungsstand vgl. Punkt 3 in dieser Einleitung.

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der P ­ sychiatrie als Meistererzählung von der zwangsweisen Wegsperrung zur Enthospitalisierung seit den 1970er Jahren zu zeichnen. Die praxeologische Perspektive zeigt jedoch, dass auch in den 1950er und 1960er Jahren Anstalten aus verschiedensten Gründen und auch für sehr kurze Aufenthalte genutzt wurden. Die Schlagworte »Zwang« und »Wegsperren« allein erzeugen ein verzerrtes Bild der Einbettung der Psychiatrie in die Gesellschaft. Wichtige andere Faktoren waren unter anderem die Hoffnung auf medizinische Hilfe oder die Erwartung, die eigene Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. Drittens zeigt eine Untersuchung der Einweisungspraxis, dass in der DDR Einweisungen gegen den Willen des Patienten in der Regel ohne jegliche staatliche Intervention stattfanden. Hier stellen die Ergebnisse einer praxeologischen Studie etablierte Deutungsmuster zum Verhältnis von Herrschaft und Gesellschaft in Frage.34

2. Untersuchungsgegenstand – Beschreibung und Eingrenzung Die Arbeit konzentriert sich auf die Einweisung »erwachsener« Patientinnen und Patienten. Hierbei wird nicht die gesetzliche Volljährigkeit zugrunde gelegt,35 sondern es werden alle Eingewiesenen berücksichtigt, die auf den Erwachsenen-Stationen untergebracht waren. Darunter fielen oft auch Jugendliche etwa ab dem Alter von 16 Jahren. Der Prozess stationärer Einweisungen in eine psychiatrische Einrichtung kann analytisch in drei aufeinander folgende Schritte unterteilt werden. Einer Entscheidung zur Einweisung folgten die formale Initiierung der Aufnahme und schließlich der Eintritt der Patientin oder des Patienten in die Anstalt. Die Einweisungsentscheidung endete mit der offiziellen Veranlassung der Einweisung, die im Untersuchungszeitraum ärztlich, polizeilich oder richterlich sein konnte. Gleichzeitig war dieser Beschluss bereits Teil der formalen Initiierung der Einweisung. Die Aufnahme selbst beschreibt den räumlichen Eintritt in die Klinik oder Anstalt und war im Zweiten Weltkrieg und in der Bundesrepublik fast immer der Einweisungsentscheidung nachgelagert. Nur in der DDR konnten Einweisungsentscheidung und Aufnahme zeitlich und örtlich zusammenfallen. Die Aufnahme wird hier nur dann thematisiert, wenn sie mit der Einweisungsentscheidung zusammenfiel, da die Anstalt als Ort nicht Thema der Arbeit ist.36 34 Detailliert zum Forschungsstand vgl. ebd. 35 Während des Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik lag die Volljährigkeit bei 21 Jahren. In der DDR wurde sie bereits im Mai 1950 auf 18 Jahre herabgesetzt. http:// www.verfassungen.de/de/ddr/volljaehrigkeitsgesetz50.htm (letzter Zugriff: 16.12.2013). 36 Dementsprechend wird im Folgenden auch nicht diskutiert, ob und inwiefern es sich bei den in dieser Arbeit untersuchten psychiatrischen Einrichtungen um »totale Institutionen« handelt. Zur Diskussion um die Brauchbarkeit des Konzepts von Goffman, vgl.: Watzka, S. 25–56.

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Zentraler Gegenstand der Analyse ist die Einweisungsentscheidung. Auch die formale Initiierung der Aufnahme steht nicht im Fokus, da sie sich in allererster Linie zwischen Institutionen ohne Einwirkungen der Eingewiesenen oder ihres Umfeldes abspielte. Zudem fand zwischen den Institutionen normalerweise keine Aushandlung statt, ob der einzuweisende Mensch anstaltsbedürftig sei.37 Allerdings gerät sie in den Blick, wenn sie für konkrete Einweisungsentscheidungen eine Rolle spielte oder wenn sie als Voraussetzung der Einweisungs­ praxis für das Verständnis von Psychiatrie in der jeweiligen Gesellschaft von Bedeutung ist. Die Einweisungspraxis wird an sechs psychiatrischen Einrichtungen untersucht: der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar in München, der Landesheilanstalt (LHA) Marburg an der Lahn, den von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel in Bielefeld, der Sächsischen Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke zu Untergöltzsch/später Rodewisch im Bezirk Karl-Marx-Stadt,38 der Heil- und Pflegeanstalt Großschweidnitz bei Görlitz und der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universitätsklinik Greifswald.39 Die Einrichtungen liegen in verschiedenen Bundesländern bzw. Bezirken, was es ermöglicht regionale Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Gleiches gilt für konfessionelle Aspekte: Manche der ausgewählten Anstalten befanden sich in mehrheitlich katholischen Gebieten, wie Eglfing-Haar, andere in hauptsächlich evangelisch bevölkerten Regionen, wie Untergöltzsch. Die Anstalten unterschieden sich auch hinsichtlich ihrer Beteiligung an den Krankenmorden, wenngleich die Sterbezahlen in allen Einrichtungen hoch waren.40 Sachsen war stark von Verlegungen betroffen und eine regionale Hochburg der Ermordung 37 Die formale Initiierung der Einweisung in staatliche Anstalten spielte sich in allen drei Systemen ähnlich ab: die Kostenübernahme musste beantragt werden, die Gesundheitsämter wurden informiert und der zuständige Kreis, Bezirk oder Provinzialverband/Landes­ wohlfahrtsverband veranlasste die Einweisung offiziell. Die formale Initiierung von Einweisungen in Universitätskliniken war deutlich unkomplizierter als die in psychiatrische Anstalten. Es waren oft weder die kommunale oder überkommunale Verwaltungsebene (Kreise, Regierungsbezirke, Provinzialverbände) noch die Fürsorgeverbände involviert. 38 Es werden die jeweils zur Zeit der Einweisung gültigen Städtenamen benutzt. Es wird also je nachdem entweder von Chemnitz oder von Karl-Marx-Stadt die Rede sein. 39 Zu allen Anstalten und Kliniken gibt es Literatur, zum Teil jedoch ausschließlich zur NSZeit. Zur Nachkriegszeit ist nur die Psychiatrische und Nervenklinik Greifswald und die LHA Marburg erforscht worden. Die Einweisungspraxis ist  – außer für den spezifischen Fall von militärärztlichen Einweisungen in die LHA Marburg während des Zweiten Weltkrieges  – in keiner der Veröffentlichungen ein Thema. Zu den einzelnen Einrichtungen, vgl.: Stockdreher, S.  327–363; Fischer u. Schmiedebach; Sandner u. a., Heilbar und nützlich; Krumpolt, S. 137–147; Wagner, Psychiatrie; Degen. Die Krankenakten sind in folgenden Archiven zu finden: Universitätsarchiv Greifswald, Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz,­ Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Archiv Oberbayrischer Landesbezirk, Hauptarchiv der von Bodelschwinghschen Stiftungen, Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. 40 In Sachsen betraf die »Hungerkost« fast die Hälfte aller Patientinnen und Patienten, dies gilt auch für die hier untersuchte Anstalt Untergöltzsch, vgl.: Faulstich, Hungersterben, S. 481.

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mit Hilfe von Medikamenten.41 Auch Eglfing-Haar war unter seinem Direktor Hermann Pfannmüller (1886–1961) direkt an den dezentralisierten Krankenmorden beteiligt. Zu Beginn des Jahres 1943 wurden eigens zwei sogenannte »Hungerhäuser« eingerichtet, in denen die Patientinnen und Patienten bewusst und geplant unterversorgt wurden. Gleichzeitig tötete man Menschen auch hier durch die Überdosierung von Medikamenten. In der LHA Marburg stieg die Sterblichkeit durch Unterernährung bereits vor dem Krieg an. Selektive Ermordung durch gezielte Verabreichung von »Hungerkost« oder Medikamentenüberdosierung gab es – soweit bekannt – allerdings nicht.42 Letzteres gilt ebenfalls für die von Bodelschwinghschen Anstalten und die Universitäts- und Nervenklink Greifswald. Alle Einrichtungen nahmen Männer und Frauen auf und versorgten sowohl städtische als auch ländliche Gebiete.43 Bei der Auswahl fanden zudem unterschiedliche Klinik- und Anstaltstypen Berücksichtigung. Eglfing-Haar und Untergöltzsch/Rodewisch waren Heil- und Pflegeanstalten. Im Gegensatz zu den Heil- und Pflegeanstalten waren die Universitäts- und Nervenklinik G ­ reifswald und die Landesheilanstalt Marburg nicht auf Pflege und Verwahrung ausgerichtet, sondern nahmen Patientinnen und Patienten für einen kürzeren Zeitraum zur Diagnosefindung und Behandlung auf.44 Für längere Aufenthalte überwiesen sie ihre Patientinnen und Patienten an Heil- und Pflege­anstalten weiter. Dementsprechend befanden sich jeweils je eine Einrichtung, die auch für Langzeitpatientinnen und -patienten ausgerichtet waren und eine, die kürzeren Aufenthalten dienen sollte, nach 1949 in der Bundesrepublik und in der DDR. Zusätzlich werden die von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel als evangelische Einrichtung untersucht. In der DDR existierte im Untersuchungszeitraum hierzu kein Äquivalent.45 Die Auswahl lässt es zu, Rückschlüsse auf Einweisungsmechanismen in bestimmten Anstaltstypen und Regionen zu zie41 Ebd., S. 500. 42 Ebd., S. 540. 43 Eglfing-Haar war zwar ursprünglich für die Stadt München gedacht, während die Anstalt Gabersee dem ländlichen Raum diente. Gabersee wurde jedoch im Januar 1941 geschlossen. Bewusst wurde darauf verzichtet eine Einrichtung in Berlin zu analysieren, da hier vor allem großstädtisches Klientel zu untersuchen gewesen wäre. Zur Anstalt Gabersee, vgl.:­ Bischof, S. 363–379. 44 Ursprünglich war geplant, die Patientenakten der Universitäts- und Nervenklinik Köln zu analysieren, um je eine Universitätsklinik in der DDR und der Bundesrepublik untersuchen zu können. Der Zugang zu den Kölner Krankenakten wurde jedoch verwehrt. Die Landesheilanstalt Marburg stellt eine gute Alternative dar, da sie gerade hinsichtlich der Einweisung ein Funktionsäquivalent darstellt. Vgl. zur spezifischen Ausrichtung Marburgs auf »heilbare« Patientinnen und Patienten den Sammelband: Sandner u. a., Heilbar und­ nützlich. 45 Konfessionell getragene Einrichtungen übernahmen in der DDR durchaus im großen Stil Pflegeaufgaben. Allerdings lag der Schwerpunkt der Einrichtungen auf Menschen mit körperlichen »Behinderungen« und Kindern. Zur konfessionellen Krankenpflege, vgl.:­ Thiekötter, S. 142 ff.

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hen, ohne dass sich daraus ein umfassender Anspruch auf Repräsentativität jeweils für das gesamte Staatsgebiet des »Dritten Reichs«, der Bundesrepublik oder der DDR ergibt. Kliniken und Anstalten hatten zur Untersuchungszeit psychiatrische und neurologische Abteilungen. Beide finden Beachtung in dieser Studie. Zwar liegt ein Schwerpunkt auf psychiatrischen Erkrankungen, allerdings ist es nicht sinnvoll hier eine strikte Unterteilung vorzunehmen. Kaum ein Krankheitsbild wurde ausschließlich unter psychiatrischen oder allein unter neurologischen Aspekten gefasst.46 Dies gilt insbesondere für den Einweisungs- und Aufnahmeprozess, in dem nicht selten Uneinigkeit herrschte, um welche Krankheit es sich handelte. In der Klinik oder Anstalt wurden bei der Aufnahme neurologische und psychiatrische Untersuchungen durchgeführt. Psychiater und Neurologen veröffentlichten in allen drei Systemen in gemeinsamen Zeitschriften und die Lehrbücher dienten beiden medizinischen Subdisziplinen in gleicher Weise. Auch für die medizinischen Laien verlief keine klare Trennung zwischen Neuro­logie und Psychiatrie. Die Patientinnen und Patienten unterlagen den gleichen Aufnahmeregelungen. Ebenso war die Stigmatisierung von heutzutage meist als neurologisch eingeordneten Krankheiten keineswegs geringer, wie z. B. Epilepsie. So fiel Epilepsie im Nationalsozialismus unter das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (GzVeN). Die nationalsozialistische Propaganda bezog sich sogar sehr prominent auf neurologische Erkrankungen: Es war eine neurologische Erkrankung, die im bekanntesten NS-Propagandafilm für »Euthanasie« »Ich klage an«47 gezeigt wurde, Multiple Sklerose (MS).48 Zugleich mit dieser gemeinsamen Verhandlung neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen in der Öffentlichkeit und in denselben medizinischen ­Einrichtungen existierte aber die Unterteilung von Neurologie und Psychiatrie als zwei Subdisziplinen und prägte das Selbstverständnis der Ärzte. Hier ergibt sich ein Spannungsfeld aus naher Zusammenarbeit und teils gemeinsamer Klientel auf der einen Seite und Konkurrenz sowie Abgrenzung auf der anderen Seite.

46 An der Schwelle zwischen Psychiatrie und Neurologie waren z. B. Alterserkrankungen oder Epilepsie angesiedelt. Aber auch »klassisch« psychiatrische Erkrankungen, wie Schizophrenie, wurden auf neurologische Besonderheiten bei den Patientinnen und Patienten hin­ untersucht. 47 Roth, S. 93–116. 48 Multiple Sklerose ist eine Erkrankung, die durch Entzündungsherde im Gehirn und im­ Rückenmark zu neurologisch bedingten Ausfallerscheinungen aller Art führen kann. Es kann sich hier z. B. um Lähmungserscheinungen genauso wie um Schwindel oder Magenoder Nierenprobleme handeln. Auf Grund der vielfältigen Symptomatik blieb die Krankheit oft jahrelang unerkannt. Die Ursache für die Entstehung der Entzündungsherde war un­bekannt und es gab keine Heilungsmöglichkeiten. Vgl.: Murray, S. 2.

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3. Methodischer Ansatz, Thesen- und Forschungskomplexe, Aufbau der Arbeit Zur Operationalisierung des Vergleichs Es handelt sich um eine Studie, die sowohl diachron zwischen dem »Dritten Reich« und den jeweiligen Nachfolgestaaten als auch synchron zwischen DDR und Bundesrepublik vergleicht. Wie in fast jeder vergleichend ausgerichteten Arbeit spielen zudem Elemente des Transfers eine Rolle.49 Die komparative Untersuchungsanlage fragt nicht nur nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden, sondern erlaubt es darüber hinaus erstens, nach Kontinuitäten und B ­ rüchen zwischen dem »Dritten Reich« und der DDR und der Bundesrepublik zu fragen, zweitens Fragen gegenseitiger Abgrenzung und Angleichung zwischen den beiden Nachfolgestaaten zu beleuchten, und drittens in transfergeschichtlicher Erweiterung mögliche Prozesse der »Westernisierung« (Bundesrepublik) und »Sowjetisierung« (DDR) zu analysieren. Die Vergleichsebenen bilden die drei Staaten bzw. punktuell die Besatzungszonen. Die Einweisungspraxis wird für die jeweiligen Staaten auf vier ineinandergreifenden Untersuchungs­ebenen analysiert: der Sicht der Patientinnen und Patienten, ihres sozialen Umfeldes, der Regularien und wissenschaftlichen Diskurse sowie der ärztlichen Praxis. Es handelt sich also nicht um einen Vergleich von Nationalstaaten, sondern um einen intergesellschaftlichen Vergleich.50 Nicht zu jeder Frage sind alle vier Untersuchungsebenen zugänglich oder sinnvoll, jedoch wird jede Thematik aus zumindest zwei Blickwinkeln untersucht.51 Objekt des Vergleichs ist die psychiatrische Einweisungspraxis, die anhand von vier Tertia Comparationes in einzelnen Kapiteln verglichen wird: Macht- und Handlungsspielräume in der Einweisungspraxis, Krankheit und Diagnostik, Sicherheit und Gefahr, Arbeit und Leistung. Während diese vier Kategorien auch zur Anordnung der Kapitel dienen, werden die klassischen Analysekategorien class52, race, und gender sowie 49 Zur Debatte um Vergleich und Transfer vgl. zusammenfassend, u. a.: Kaelble; Arndt u. a. 50 Vgl. zur Kritik an Vergleichen zwischen Nationalstaaten z. B.: Welskopp, S. 339–367. 51 Zur Forderung, mindestens zwei unterschiedliche Blickwinkel auf das Untersuchungsobjekt zu nutzen, vgl.: Werner u. Zimmermann, S. 618. 52 Eine Unterscheidung zwischen Unter- und Mittelschicht erfolgt in der Arbeit über zwei Kriterien. Dabei geht es nicht um eine differenzierte soziologische Zuordnung etwa in untere, mittlere und obere Mittelschicht, sondern lediglich um eine zweckmäßige Grobunterteilung. Zum einen werden die Berufsangaben als Indikator genutzt. Selbstständige, mittlere und leitende Angestellte, mittlere und höhere Beamte werden zur Mittelschicht gezählt. Bei Ehefrauen und Kindern, die sich in der Ausbildung befinden, wird der Beruf des Ehemanns bzw. des Vaters zu Grunde gelegt. Zum anderen dient die Unterbringungsklasse in der Klinik oder Anstalt als Anhaltspunkt. Die Familien der Patientinnen und Patienten, die in Klasse I oder II aufgenommen wurden, waren – im Gegensatz zu denjenigen der großen Klasse III – nicht auf Unterstützung durch Wohlfahrtsverbände angewiesen. Zur Abgrenzung von Unter- und Mittelschicht auch durch das Kriterium, dass die »Unterschicht« auf die Unterstützung Dritter (Armen- und Fürsorgeverbände) angewiesen ist, vgl.: Pfister, S. 1090.

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die weniger prominente Kategorie age als Querschnittskategorien verstanden, die sich in allen Kapiteln finden. Die Kategorie »Rasse« spielt in dieser Studie eine eher untergeordnete Rolle: Im 1941 einsetzenden Untersuchungszeitraum gab es keine Einweisungen jüdischer Bürger mehr. Von Bedeutung ist die Kategorie race daher v. a. im Kontext von »Rassismus nach Innen«.53 Wesentlicher Vorteil der kapitelgliedernden Kategorien Krankheit und Dia­ gnostik, Sicherheit und Gefahr, Arbeit und Leistung ist, dass sie die Möglichkeit bieten, die vier Untersuchungsebenen in direkte Verbindung zu setzen. Auf diese Weise können Einzelfälle und gesellschaftliche Vorstellungen, Regeln und wissenschaftliche Diskurse verknüpft werden. Die Themen Krankheit, Gefahr, Arbeit, Gender, Schicht und Alter kommen explizit in Anamnesen oder psychiatrischen Gutachten vor. Gleichzeitig sind sie Diskussionsthemen in a­ llen drei Systemen. Somit fungieren sie als Schlüsselkategorien für ein Verständnis der Einweisungspraxis. Über die hierzu querliegende Kategorie Macht- und Handlungsspielräume wird es möglich, die unterschiedlichen Perspektiven auf die Einweisungen, also die der Patientinnen und Patienten, ihres Umfeldes, der Ärzte und die der Regeln und des psychiatrischen Wissens im Zusammenhang zu analysieren. Es ist zu beachten, dass nicht immer ein Eins-zu-Eins-Vergleich möglich oder gewünscht ist. Stattdessen spiegeln unterschiedliche Schwerpunkte die Relevanz- und Machtverschiebungen: So ist es z. B. für die Kriegszeit sinnvoll, detailliert nach dem Aushandlungsprozess zwischen Polizei und sozialem Umfeld der Patientin oder des Patienten zu fragen. In der Nachkriegszeit hingegen gab es polizeiliche Einweisungen nur noch in sehr viel geringerem Ausmaß, so dass dieser Aspekt hier nicht gleichermaßen weiterführt. Stattdessen ist es erkenntniserweiternd, die Rolle des sozialen Umfeldes im Rahmen des nun vorherrschenden Einweisungsmodus sowie die Wandlungen in den Akteurskonstellationen der Zwangseinweisungen selbst zu untersuchen. Die unterschiedliche Bedeutung der Analysekategorien in den drei Systemen sowie ihr inhaltlicher Wandel spiegeln sich daher in der Schwerpunktsetzung der Arbeit. Dieses Vorgehen hinterlässt keine Leerstellen, sondern erlaubt es, den Untersuchungsgegenstand seiner jeweiligen Relevanz und Funktion in der Gesellschaft entsprechend zu betrachten und so Veränderungen fassbar zu machen. Es wird die These verfolgt, dass die psychiatrische Einweisungspraxis unmittelbar an die gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst und die Psychiatrie somit multifunktional war. Die veränderte Funktion und Einbettung der Psychiatrie in die Gesellschaft wird in das Narrativ aufgenommen und drückt sich auch in der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung der Kapitel aus. Die Einweisungs­praxis und die Funktion der Psychiatrie hingen jeweils mit staatlichen Gegebenheiten, medizinischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Bedürfnissen zusammen. Durch den kaum zu überschätzenden Einfluss des gesellschaftlichen M ­ ikrokosmos auf­ 53 Der Begriff ist durch Ulrich Herbert geprägt worden: Herbert, Traditionen des Rassismus, S. 11–29.

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Einweisungsentscheidungen ließen sich – so die These – Inklusion und Exklusion an der Schwelle zur Anstalt letztlich nur sehr bedingt staatlich und durch wissenschaftliche Expertise steuern. Die Psychiatrie erweist sich in diesem Sinne als eine Institution, die sich in ihrem Zugang der Eigenlogik wissensbasierter Planung entzog.54 Heil- und Pflegeanstalten waren gerade nicht auf eine eindeutig bestimmte Klientel oder Thematik festgelegt. Es wird angenommen, dass ebendiese funktionale Vielfalt die anhaltende (und tendenziell steigende) Nachfrage nach psychiatrischer Unterbringung bedingte. Psychia­trische Kliniken und Anstalten dienten demnach weder allein der Disziplinierung oder der Verwahrung noch der Heilung und Besserung oder der Wiedereingliederung in die Arbeitswelt. Sie dienten hierzu jeweils in je unterschiedlichem Maße, je nachdem, wessen Perspektive in den Blick genommen wird.55 Thesen- und Forschungskomplexe: Staat und Psychiatrie Bevor dieser funktionalen Vielfalt und ihrer genauen Ausgestaltung in der Einweisungspraxis zwischen 1941 und 1963 nachgespürt wird, thematisiert Kapitel I Historische Rahmenbedingungen der Einweisungspraxis stark zusammenfassend das Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft vom 19.  Jahrhundert bis 1941, um eine Grundlage für die empirischen Kapitel zu bieten. Kapitel II Staat und Psychiatrie beschäftigt sich vor allem mit zivilen Einweisungen zwischen 1941 und 1963. In der Kriegszeit liegt der Schwerpunkt auf dem ärztlichen und familiären Umgang mit erkrankten Menschen vor dem Hintergrund der Krankenmorde sowie auf dem Umgang der Patientinnen und Patienten mit Überweisungen für stationäre Aufenthalte. Die Polarisierung der Anstaltsnutzung in »Heilen und Vernichten« und die Krankenmorde sind breit erforscht.56 Insbesondere zu den Krankenmorden gibt es eine kaum mehr zu überschauende Zahl an Studien.57 Im Kontext dieser Arbeit sind Studien, welche versuchen die Krankenmorde breiter gesellschaftlich einzubetten, besonders weiterführend. Gerade diese sind jedoch selten.58 Hier kann die Beleuchtung der Einweisungspraxis, die das Vorfeld der Krankenmorde bildete, dazu beitragen, die Psychiatrien als Schauplätze der Krankenmorde – über den Weg zur Einwei54 Für die Steuerung moderner Gesellschaften gilt es als typisch, dass sie einer Eigenlogik wissensbasierter Planung folgen. Inklusions- und Exklusionsmechanismen werden dieser Vorstellung nach in der »Moderne« durch staatlich anerkannte Experten geregelt. Vgl.: Dipper. 55 So hält Eric Engstrom in seinem Überblick über die Forschungslandschaft zur Psychiatriegeschichte als Grundfrage die Frage nach dem Verhältnis – im Gegensatz zu monokausalen Erklärungsansätzen – fest, »whether the historical dynamics of psychiatric care were driven more by professional concerns or by humanitarian imperatives, more by medical interests and corrective technologies or by emotional and psychological needs.« Engstrom, Beyond dogma, S. 596. 56 Vgl. hierzu ausführlich: Jütte. 57 Vgl. u. a.: Burleigh; Faulstich, Hungersterben; Friedländer; Klee, »Euthanasie«; Ebbinghaus u. Dörner; umfassend zum Forschungsstand: Jütte. 58 Lutz, S. 143–168; Fuchs u. a.; Aly, Belasteten.

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sung – an die Gesellschaft zurückzubinden. In diesem Zusammenhang soll die Untersuchung der Einweisungspraxis einen Beitrag zur Analyse der deutschen Kriegsgesellschaft und zur Volksgemeinschaftsdebatte leisten, auch wenn der Begriff »Volksgemeinschaft« in dieser Arbeit nicht als Analysekategorie Verwendung findet. Die Arbeiten zur »Volksgemeinschaft« haben in den letzten Jahren stark zugenommen und umfassen mittlerweile so viele Einzelaspekte wie auch übergreifende Deutungsansprüche, dass zu Recht vorgeschlagen wurde, lieber von Forschungen zur »Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus« zu sprechen.59 Hier wird diesem Vorschlag gefolgt, auch da die Konzeption der Arbeit als vergleichende, über die NS-Zeit hinausgehende Studie nicht für eine Verwendung eines spezifisch in der NS-Forschung etablierten Begriffs spricht.60 Mit dem Interesse für Inklusions- und Exklusionspraktiken wird inhaltlich an Forschungen zu »Volksgemeinschaft« als soziale Praxis angeschlossen, die zur Thematik Inklusion stark an Alf Lüdtkes Konzept von Herrschaft als sozialer Praxis und zu Exklusion an Forschungen Detlef Peukerts orientiert sind.61 Inklusions- und Exklusionsstrategien durch das Prisma der Einweisungspraxis zu analysieren, bietet die Möglichkeit, gesellschaftliche Tiefenstrukturen im Nationalsozialismus in den Blick zu nehmen und so das Wissen über die nationalsozialistische Gesellschaft im Krieg in mehreren Punkten zu vertiefen und einige Annahmen der Volksgemeinschaftsdebatte empirisch zu überprüfen. So wurden in den meisten Arbeiten zur Volksgemeinschaft entweder Inklusionsoder Exklusionspraktiken in den Fokus genommen62 oder der Blick wurde ausschließlich auf die an der Ausgrenzung beteiligten Akteure gerichtet, nicht auf die vom Ausschluss Betroffenen.63 Eine Analyse der E ­ inweisungspraxis b ­ ietet 59 Dieser Terminus soll die Vielfalt der Forschung nicht auf einen Nenner bringen, sondern der Vielfalt eher gerecht werden. Vgl. hierzu: Steuwer, S. 533; Wildt, S. 369. 60 Neben der begrifflichen Unschärfe, die durch die Verwendung des Terminus »Volksgemeinschaft« aber nicht explizit gemacht wird, und dem Untersuchungszeitraum, spricht noch ein inhaltliches Argument dafür, den Begriff nicht zu verwenden. Diese Arbeit zeigt inhaltlich, dass, zumindest in der hier in den Blick genommenen Kriegszeit, rationale Eigeninteressen unterschiedlicher Natur für die Einweisungsentscheidungen von nicht zu unterschätzender Bedeutung waren. Hier findet sich entsprechend der soziologischen Terminologie also eher ein Prozess von »Vergesellschaftung« als von »Vergemeinschaftung«. Janosch Steuwer weist darauf hin, dass es gar nicht selten vorkommt, dass Mechanismen, die in diesem Sinne unter »Vergesellschaftung« fielen, unter dem Begriff »Volksgemeinschaft« subsumiert werden und dass dies nicht unbedingt zu einer klaren Begriffsbildung beiträgt. Vgl.: Steuwer, S. 516. Zur soziologischen Terminologie, vgl.: Weber, Wirtschaft, S. 21–23. 61 Lüdtke, Einleitung, S. 9–63; Peukert; zum über diese Themenbereiche hinausgehenden Feld der Forschungen zur »Volksgemeinschaft« vgl. zusammenfassend: Steuwer. 62 Allerdings werden in einigen dieser Arbeiten trotzdem teils recht weitgehende Rückschlüsse über das jeweils nicht empirisch untersuchte Pendant gemacht. So untersucht beispielsweise Kathrin Kollmeier die Disziplinarpolitik der Hitlerjugend, daher Exklusionsprozesse, und kommt zu dem weitreichenden Schluss, dass diese für die Integration in die »Volksgemeinschaft« wesentlich gewesen seien: Kollmeier, S. 277. 63 Vgl. zu fehlenden Erkenntnissen zur Perspektive der Ausgegrenzten: Wildt, S. 105. Berücksichtigt wird diese Perspektive in: Meyer, S. 144–164.

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die Möglichkeit, Inklusions- und Exklusionsversuche in einer Studie zu unter­ suchen und erlaubt es, mittels Egodokumenten die Argumentationsstrategien der Patientinnen und Patienten zumindest in Teilen zu analysieren.64 Im Anschluss an Ergebnisse aus Arbeiten zur Denunziation im Nationalsozialismus wird die These vertreten,65 dass Grenzziehungen in Alltagsbereichen wesentlich auch durch die Beteiligung nicht-institutioneller und nicht-organisierter Akteure stattfanden.66 Hier stellt sich die Frage, ob Unterschiede entlang des sozialen Standes der Patientin oder des Patienten in der Interaktion zwischen Ärzten und Laien eine Rolle spielten. Im 19. Jahrhundert zeichnete sich das Bürgertum im Gegensatz zur »Unterschicht« und der ländlichen Bevölkerung durch Vertrauen in Ärzte und die Hoffnung auf Besserung der Krankheit durch einen Anstaltsaufenthalt aus.67 Es ist zu fragen, ob angesichts der Krankenmorde auch im und nach dem Zweiten Weltkrieg eine positivere Haltung der »Mittelschicht« gegenüber Psychiatern festzustellen ist. Zudem soll gezeigt werden, dass es in der Einweisungspraxis keine statische Grenze gab, sondern dass unterschiedliche Akteure die Schwelle zwischen Inklusion und Exklusion aushandelten.68 Das Gesundheitssystem der Kriegszeit ist von Winfried Süß mit besonderer Betonung seiner inneren Konkurrenz und seiner Radikalisierung analysiert worden.69 Die ärztliche Praxis außerhalb von medizinischen Großeinrichtungen, wie Anstalten oder Krankenhäusern, ist jedoch ebenso wenig erforscht, wie die Perspektive von medizinischen Laien, seien es Patientinnen oder Patienten oder ihre Angehörigen. Die Arbeit kann hier lediglich vereinzelt an bisher in der Forschung hypothetisch gestreifte Fragen zum Verhältnis von Ärzten und Patientinnen und Patienten in der NS-Zeit anschließen.70 Es wird herausgearbeitet, dass die Verwandten die Anstalten weiterhin zur Verwahrung 64 Egodokumente sind meist Briefe von Patientinnen und Patienten und Angehörigen. Im Rahmen der Einweisung handelt es sich v. a. um Briefe der später Eingewiesenen, die vor der Aufnahme verfasst wurden, oder von Angehörigen an die Anstalt. Es stellt sich daher nicht die Frage nach dem Umgang mit der Briefzensur. 65 Die Gestapo arbeitete unter anderem so reibungslos, weil etwa die Hälfte der von ihr Verfolgten denunziert worden war. Vgl.: Mallmann, V-Leute, S. 268–288; Diewald-Kerkmann, S. 288–305; zusammenfassend: Mallmann u. Paul, Gestapo, S. 599–650. 66 Viele der zuletzt veröffentlichten Arbeiten zur »Volksgemeinschaft« untersuchen auf irgendeine Weise organisierte Akteure, sei es z. B. die HJ, die NSDAP-Kreisleitungen oder Schützenvereine: Kollmeier; Borggräfe; Thieler, S. 211–225. Gleiches gilt für die anderen Beiträge in diesem Sammelband. 67 Goldberg, S. 178. 68 Eine der wenigen Studien, die die Konstruktion von Inklusion und Exklusion in den Blick nimmt, stammt von Birthe Kundrus. Sie zeigt diesen Aushandlungsprozess an der »Definition«, wer im Warthegau als Pole und wer als Deutscher galt. Vgl.: Kundrus, Regime, S. 105–123. 69 Süß, »Volkskörper«. 70 So nimmt Winfried Süß an, dass das Vertrauen zu den Ärzten wahrscheinlich nicht besonders groß war. Zugleich hat er Überlegungen dazu angestellt, ob eine langfristige Bindung zwischen Arzt und Hausarzt eine Umsetzung nationalsozialistischer Ideologie in die ärztliche Praxis verhindert haben könnte. Ebd., S. 373 u. 378.

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nutzten. Zum Teil jedoch versuchten sie staatliche Anstalten zu meiden, in der – häufig nicht zutreffenden  – Annahme, private Einrichtungen seien sicherer.71 Aus diesem Grund bemühten sie sich, ihre Verwandten in den hier untersuchten von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel unterzubringen. Dies erreichten sie oft durch inoffizielle Anfragen in Bethel. Für die unmittelbare Nachkriegszeit wird nach Veränderungen auf mehreren Ebenen gefragt. Es geraten der materielle Mangel und seine Folgen für die Führung der Krankengeschichten in den Blick und es wird nach den Auswirkungen der »Zusammenbruchgesellschaft« auf die Einweisungspraxis gefragt. Hier geht es um zerrüttete Familienverhältnisse der Vertriebenen ebenso wie um Fragen nach der Funktion psychiatrischer Gutachtertätigkeit. Es wird gezeigt, dass sich die Psychiatrie vor allem nach den Erfordernissen richtete, die aus der Gesellschaft kamen. Anschließend wird untersucht, ob und wie sich Einweisungswege mit den Staatsgründungen veränderten. Zum Aufbau der Gesundheits- und Sozialsysteme in der Bundesrepublik und DDR kann vor allem auf die »Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945« sowie auf Veröffentlichungen von Hans Günter Hockerts, Udo Schagen, Sabine Schleiermacher, Dagmar Ellerbrock und Ulrike Lindner rekurriert werden.72 Zum Gesundheitssystem der DDR ist zudem auf die grundlegende Studie von Anna Sabine Ernst zu Ärzten und medizinischen Hochschullehrern hinzuweisen.73 Weder die Alliierten noch einer der beiden deutschen Staaten hatten in den 1950er Jahren großes Interesse an der Psychiatrie; die Anstalt an sich unterlag mit den Staatsgründungen keinen besonderen Neuerungen. Aber galt dies auch für die Wege der Einweisung und für die Funktion der Anstalt? Für wen die mit konstanten Kosten verbundenen stationären Plätze gedacht waren,74 wurde in der Bundesrepublik und der DDR thematisiert und dies erlaubt Aussagen über die Verortung der Psychiatrie in den neugegründeten Staaten. Das Kapitel schließt mit einem diachronen Überblick zur Perspektive der Patientinnen und Patienten und der Frage danach, welche Position sie im Einweisungsprozess einnahmen. In diesem Kontext kann unterschieden werden zwischen Zwangseinweisungen und zivilen Einweisungen. Inwiefern ist dies aber aussagekräftig, um sich der Position 71 Vgl. etwa zur auch in dieser Studie relevanten konfessionellen Einrichtung Schönbrunn: Christians. 72 Im Rahmen dieser Arbeit besonders relevant sind: Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen; Schagen u. Schleiermacher, S. 390–435; Helwig u. Hille, S. 495–553; Gitter, S. 437–452; Hoffmann u. Schwartz, Gesellschaftliche Strukturen, S. 75–158; dies., Politische Rahmen­ bedingungen, S. 1–73; Schwartz u. Goschler, S. 589–654; Conrad, Alterssicherung, S. 101–116; Schulz, Soziale Sicherung, S. 117–150; Hockerts, Einführung, S. 7–27; Hachtmann, S. 27–55; Ebenfalls weiterführend zu diesem Themenkomplex: Ellerbrock; Lindner, Gesundheitspolitik. 73 Ernst. 74 Bereits in der Weimarer Republik war eine Diskussion um die Kosten der Anstalten entflammt. So wurde u. a. Sterilisation als kostengünstige Alternative zum Anstaltsaufenthalt diskutiert. In der NS-Zeit hatte sich endgültig der Gedanke durchgesetzt, dass in die Psychiatrien Geld fließe, das an anderer Stelle für »wertvolle« gesunde »Volksgenossen« besser ausgegeben werden könnte. Vgl.: Brink, S. 208 ff. u. 239.

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der ­Patientin oder des Patienten zu nähern? Hier zeigt sich bereits, dass Patientinnen und Patienten sich selbst bei zivilen Einweisungen in einem Spannungsfeld von Freiwilligkeit und Zwang befanden. Dies führt zum Thema Zwangseinweisungen, dem das nächste Kapitel Gefahr und Sicherheit gewidmet ist. Thesen- und Forschungskomplexe: Gefahr und Sicherheit Da Zwangseinweisungen  – wenn es sich nicht um forensische Einweisungen handelte – nicht unbedingt stattfanden, nachdem bereits eine Gefahr eingetreten war, stellt sich in ihrem Kontext in besonderem Maße die Frage nach dem Verhältnis von Sicherheit und Freiheit: Wann durfte wer von wem aus welchen Gründen wegen eines potentiellen Sicherheitsrisikos seiner Freiheit beraubt werden? Die Begründungen zur Initiierung von Zwangseinweisungen weisen somit unmittelbar darauf hin, wie Sicherheit verstanden und was als Gefahr akzeptiert wurde. Ebenso ausschlaggebend war, wer sich hierzu mit Aussicht auf Erfolg äußern konnte. Die Begriffe Sicherheit und Gefahr werden daher an dieser Stelle nicht inhaltlich definiert, um ihren unterschiedlichen Füllungen durch verschiedene Personen nachgehen zu können.75 Es soll hier lediglich eine strukturelle Annäherung stattfinden. Sicherheit wird Franz-Xaver K ­ aufmann folgend als utopischer Begriff verstanden. Kaufmann stellt heraus, dass die Attraktivität des Begriffs Sicherheit darin liege, dass er »unerreichbar und doch richtungsweisend« sei.76 Er weist darauf hin, dass Sicherheit auf politischer Ebene meist begrifflich unscharf bleibe und zugleich im Alltag problemlos verstanden werde.77 Der Wert, der Sicherheit zugeschrieben wird, in Kombination damit, dass sie letztlich nie ganz erreichbar ist, führt zu einer eben solchen Offenheit des Begriffs Gefahr. Die Formulierung der Einweisungsbegründung »Gefahr für die öffentliche Sicherheit« bringt die wechselseitige Abhängigkeit der Begriffe auf den Punkt. Im einzelnen Einweisungsfall wurde jedoch spezifisch begründet, warum unterschiedliche Akteure eine »Gefahr für die Sicherheit« sahen. In den Argumentationen für Zwangseinweisungen fand somit eine Annäherung an die letztlich immer utopisch bleibende Vorstellung von Sicherheit statt, die äußerst reale Folgen für die Eingewiesenen hatte. Wie weit sie de facto in den jeweiligen Einweisungsargumentationen ausgedehnt wurden und wem die Definition von Gefahr oblag – Ärzten, Polizisten, Gerichten und/oder Familien –, ist äußerst aussagekräftig für das in modernen Gesellschaften un­ bestritten als wichtig erachtete Verhältnis von Sicherheit und Freiheit.78 75 Verschiedene Definitionen von Zwang, Sicherheit und Freiheit aus den Perspektiven »Alltagsverständnis«, »juristische Definition«, »sozial- und kulturhistorische Betrachtung«, »medizinimmanente Sicht« und »anstaltstechnische Sicht« werden vorgestellt in: Meier u. a., S. 31 ff. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass es nicht sinnvoll ist, eine »richtige« Definition zu Grunde zu legen, ebd., S. 32. 76 Gleiches stellt er für den Gegenbegriff »Freiheit« fest. Kaufmann, Sicherheit, S. 74. 77 Ebd. 78 Zur Bedeutung von Sicherheit für das Verständnis der Bundesrepublik, vgl.: Conze, S. 357–380.

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Zwangseinweisungen liefen im »Dritten Reich«, in der DDR und in der Bundesrepublik unterschiedlich ab. Die Regelungen der Kriegszeit sind identisch mit denen seit Beginn der 1930er Jahre. Es geht daher für die Kriegszeit um die Anwendung, nicht um die Etablierung von Regeln. Auch bei Zwangseinweisungen muss gerade vor dem Hintergrund der Krankenmorde gefragt werden, wie Menschen zunächst in den Fokus von Polizei und Gesundheitsämtern kamen. Es stellt sich im Anschluss an das vorherige Kapitel die Frage, inwiefern das familiäre und soziale Umfeld, aber auch medizinische Institutionen im Vorfeld der Aufnahme an der Entscheidung über Zwangseinweisungen beteiligt waren. Für die Kriegszeit werden drei Gruppen von Menschen untersucht, die regelmäßig Gegenstand von Zwangseinweisungen wurden: Relativ kurz werden zunächst Soldaten als Patienten thematisiert.79 Anschließend werden Patientenakten älterer Menschen analysiert und schließlich die Rolle von Sexualität80 bei der Einweisung von Frauen.81 Für die Nachkriegszeit stellt sich die Frage, wie in der Bundesrepublik mit gesetzlichen Neuregelungen umgegangen wurde. Artikel 104 des Grundgesetzes (GG) führte die richterliche Zwangseinweisung ein. Hatte dies eine veränderte Dynamik zwischen Patientinnen und Patienten, ihren Angehörigen und Ärzten zur Folge? Ebenfalls ist angesichts des föderalen Systems der Bundesrepublik danach zu fragen, ob es regionale Unterschiede in der Praxis und der Reaktion auf die Neuregelungen gab. Diese Studie fragt nach Kontinuitäten und Brüchen in Inklusions- und Exklusionspraktiken und -argumentationen von der Kriegszeit bis in beide deutsche Nachfolgestaaten. Der soziale Nahbereich ist in dieser Hinsicht für die Nachkriegszeit kaum erforscht. Zwar sind in jüngster Zeit zahlreiche Studien entstanden, die die Nachkriegsgesellschaft auf Auswirkungen des Nationalsozialismus untersuchen. Diese beschäftigen sich jedoch nahezu ausschließlich mit dem öffentlichen Diskurs82 oder mit personellen ­Kontinuitäten,83 aber kaum mit der gesellschaftlichen Mikroebene. Eine Ausnahme bildet für die DDR die Studie von Sven Korzilius, die Einblicke 79 Militärische Einweisungen waren immer Zwangseinweisungen, in der Stichprobe zu dieser Arbeit gibt es jedoch nur wenige eingewiesene Soldaten. 80 Ulrike Lindner hat die Gesundheitspolitik der frühen Bundesrepublik untersucht und u. a. auf Kontinuitäten im Umgang mit Frauen, die sich mit Geschlechtskrankheiten infiziert hatten, hingewiesen. U. a. in: Lindner, Gesundheitspolitik, S.  304 ff. Geschlechtskrankheiten, Sexualität, genderspezifische Verhaltenserwartungen und Krankheitszuschreibungen sind auch für die Einweisungspraxis von großer Relevanz und stellen in der Psychiatriegeschichte insgesamt ein wichtiges Themenfeld dar. Vgl. u. a.: Goldberg, S.  173–193; ­Andrews u. Digby, S. 7–44; Showalter; Kaufmann, Nervenschwäche, S. 197–209. 81 Frauen unterlagen in der Kriegszeit überdurchschnittlich oft Zwangseinweisungen. Alte Menschen wurden oft mit unmittelbarem Bezug auf den Krieg zwangseingewiesen. 82 Dies gilt für deutsche ebenso wie für englischsprachige Publikationen. Vgl. u. a.: Moeller; auch Cornelia Brinks Buch zur Psychiatrie arbeitet auf Grundlage von Printmedien und Parlamentsdebatten. 83 Mallmann u. Angrick; Mallmann u. Paul, Karrieren; am Einzelfall: Herbert, Best.

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in ­Ausgrenzungsprozesse »Asozialer« gibt.84 Außerdem gibt es für die DDR Studien zur Alltagsgeschichte, an die angeschlossen werden kann, was für die frühe Bundesrepublik hingegen kaum der Fall ist.85 Für die DDR ist zu untersuchen, wie ein bis 1968 existierendes Regel­ vakuum86 in der Praxis gefüllt wurde. Wurde weiterhin hauptsächlich polizeilich durch Gesundheitsämter eingewiesen, wie in der NS-Zeit, oder wurde hier ein neuer Modus Operandi gefunden? Die Tatsache, dass es ein so langanhaltendes Regelvakuum gab und die Frage, wie es in der Praxis ausgefüllt wurde, werden auch vor unterschiedlichen Interpretationsangeboten zur Deutung des Verhältnisses von Herrschaft und Gesellschaft beleuchtet. Denn es stellt sich die Frage, inwiefern der Staat in der Einweisungspraxis agierte, auf welchen Ebenen es überhaupt staatliche Vorgaben und staatliches Interesse gab, mit dem sich etwa Angehörige bei der Einweisung konfrontiert sahen. Die Studie verfolgt die These, dass etablierte Deutungsangebote, wie etwa durchherrschte Gesellschaft und Diktatur der Grenzen,87 hier nicht greifen. Fragen zum Verhältnis von Herrschaft und Gesellschaft stellen sich auch zur Kriegszeit und zur Bundesrepublik. Tatjana Tönsmeyer und Annette ­Vowinckel weisen darauf hin, dass es gerade für das 20.  Jahrhundert besonders wichtig ist, Konzepte von Sicherheit im direkten Kontext der jeweiligen Herrschaftsstrukturen zu analysieren.88 Das Thema Sicherheit tangiert zwei übergeordnete, miteinander verbundene Forschungskomplexe. Es geht zum einen um soziale Sicherheit. Diese ist in dieser Studie etwa Thema in Diskussionen darüber, für wen die Plätze in den stationären Einrichtungen gedacht waren und welche Kostenträger für die Bezahlung aufkommen sollten.89 Zum anderen – und in diesem Kapitel zentral – gibt es Forschungen zu den ausführenden Sicherheitsorganen, zur Polizei und für den Zweiten Weltkrieg zur Geheimen Staatspolizei (Gestapo). Die Herstellung von »Sicherheit« bedeutete, wie die Forschungen zur Gestapo eindrücklich zeigen, ein permanentes Interagieren von Polizei und Bevölkerung. In den letzten Jahren hat die neuere Gestapoforschung eine endemische Bereitschaft der deutschen Bevölkerung herausgearbeitet, Nachbarn aus einer Vielzahl von Motiven heraus zu denunzieren.90 Die Pointe dieser Forschungsarbeiten ist, dass dieses Denunziantentum aus der Perspektive der­ Gestapo mehr als eine Ergänzung und Entlastung der eigenen Arbeit darstellte: »So war die Gestapo«, wie Gisela Diewald-Kerkmann betont, »vielfach nicht selbst aktiv, sondern nur reaktiv tätig. Arbeitskollegen, Nachbarn, Bekannte, 84 Korzilius. 85 Fulbrook, Leben; dies, lives; Hürtgen; zu alltagsgeschichtlichen Aspekten in Ost und West ist zu nennen: Sachse. 86 Hanrath, S. 263 ff. u. 351 ff. 87 Lindenberger, Diktatur der Grenzen, S. 13–44; Kocka, Gesellschaft, S. 547–553. 88 Tönsmeyer u. Vowinckel. 89 Zur Zuständigkeit von Polizei für beide Bereiche, »öffentliche Sicherheit« und Wohlfahrt, vgl. den Sammelband: Lüdtke, »Sicherheit«. 90 Vgl. vor allem: Diewald-Kerkmann.

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ehemalige Freunde und sogar Familienangehörige informierten die Verfolgungsinstanzen über potentielle oder wirkliche Gegner des NS-Regimes.«91 Die Arbeit der Gestapo wäre ohne die zahlreichen Denunziationen gar nicht denkbar gewesen.92 Dies gilt ebenso für die Arbeit von Gesundheitsämtern im Kontext von Einweisungen: Ohne eine Bereitschaft aus dem familiären Kontext wäre die offizielle Zwangseinweisung durch die Amtsärzte in den meisten Fällen nicht vorstellbar gewesen. Thesen- und Forschungskomplexe: Krankheit und Diagnostik Während in den Kapiteln II und III oft nicht-medizinische Akteure im Fokus stehen, widmet sich Kapitel IV Krankheit und Diagnostik den Psychiatern sowie dem Verhältnis von Ärzten und medizinischen Laien. Schließlich war die Schwelle zur Anstalt zwar nicht nur, aber auch eine medizinische. Medizin wird im Folgenden als »eine Form sozialer und kultureller Praktik [verstanden], die bestimmte, als Leiden aufgefaßte Phänomene in einer historisch kontingenten Weise beobachtet, kodifiziert und versteht.«93 Eine Grundannahme dieser Arbeit ist es, psychiatrische Erkrankungen zugleich als historisch gegebenes Objekt und als gesellschaftlich konstruierte Zuschreibungen aufzufassen.94 Die Krankheit selbst sowie die Richtigkeit der Diagnose sind nicht Gegenstand der Analyse. Untersucht wird lediglich die gesellschaftliche und wissenschaftlich-­ profes­sio­nelle Konstruktion, Zuschreibung und Legitimierung von Krankheit. Der Eintritt in die Anstalt war an die Zuschreibung einer (Geistes-)Krankheit durch einen Arzt gebunden. Alle anderen möglichen Gründe für Anstaltsbedürftigkeit sind zwingend daran geknüpft, dass den in die Anstalt eingewiesenen Menschen eine psychiatrische oder neurologische Krankheit zugeschrieben wird.95 Andersherum ist die Zuschreibung, eine psychiatrische Erkrankung zu haben oder »geisteskrank« zu sein, keinesfalls automatisch ein Grund für eine Einweisung gewesen. Die vielschichtigen Zuschreibungen von Krankheit im Kontext der Einweisung in den drei unterschiedlichen Staaten zu analysieren, bietet die Möglichkeit, in Erweiterung einer von Margit Szöllösi-Janze aufgezeigten Forschungsperspektive, nach Zusammenhängen von Staatsverfassung, Gesellschaftssystem, psychiatrischem Diskurs sowie von Rationalisierung und Bestimmung von »Abweichung« in gesellschaftlichen Mikrokosmen zu fragen. Szöllösi-Janze stellt die Bedeutung der Untersuchung von »Interdependenzen von S­ taatsverfassung, 91 Zitiert nach: Ebd., S. 290. 92 Paul u. Mallmann, Gestapo; dies., Gestapo im Zweiten Weltkrieg. Für diese Forschungsperspektive über die Gestapo hinaus vgl. auch Peter Fritzsches Auffassung des »Dritten Reichs« als »consensus dictatorship«, in: Fritzsche. 93 Schlich, Fakten, S. 125. Vgl. zu diesem Verständnis auch: Eckart u. Jütte. 94 Vgl.: Schlich, Fakten, S. 123. 95 Sie eröffnet z. B. die Möglichkeit, Straftäter nicht im Gefängnis, sondern in der Abteilung für forensische Psychiatrie unterzubringen; überlasteten Müttern keine Kur, sondern einen Anstaltsaufenthalt zu verordnen.

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Gesellschaftssystem, Wissenschaftsorganisation, Forschungsprogrammen und intellektuellen Dispositionen«96 gerade für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts heraus. Sie hat darauf hingewiesen, dass ihr Ansatz eine besonders fruchtbare Perspektive für die deutsche Geschichte des 20.  Jahrhunderts darstellt, da er nicht von vorneherein ausschließlich auf die großen politischen Brüche abziele. Zum einen sei auch die NS-Zeit über Verwissen­schaft­lichungs­ prozesse in die deutsche Geschichte integriert und zum anderen spielten sie in beiden deutschen Nachkriegsstaaten eine zentrale Rolle.97 Der Blick »von unten«, der hier mit der Einbeziehung des gesellschaftlichen Mikrokosmos hineingenommen wird, öffnet dieses Panorama zusätzlich für Fragen nach dem Verhältnis von formalisiertem Wissen zu »Alltagswissen«.98 Das Kapitel thematisiert zunächst das Selbstverständnis der Psychiater bei der Diagnostik und in der Einweisungssituation. Dies wird anhand von Diskussionen um Diagnoseklassifikationen im Allgemeinen und am Beispiel der Erkrankung Schizophrenie im Speziellen analysiert. Hierfür wird zum einen das fachliche Selbstverständnis in Abgrenzung zu der Schwesterdisziplin Neurologie herausgearbeitet. Zum anderen geht es um die Zirkulation von Praxiswissen zwischen lokalen Einrichtungen, nationalem Kontext und der Einbettung in die Ordnung des Kalten Krieges, um Traditionserhaltung und Mechanismen der Aneignung. Bezüglich des psychiatrischen Wissens und seiner praktischen Anwendung wird für die Bundesrepublik zwar eine Kontinuität in der Grundhaltung angenommen, dies schließt jedoch nicht aus, dass es Veränderungen gegeben haben könnte. Neue Praktiken und theoretische Versatzstücke können unter Beibehaltung der theoretischen Prämissen in die herrschende Lehre integriert worden sein. Zugleich ist für die DDR danach zu fragen, wie breit gefächert die psychiatrischen Diskussionen verliefen. War es legitim und sagbar, westliche Positionen oder traditionelle Standpunkte zu vertreten, die der sowjetischen Auffassung widersprachen? Anschließend konzentriert sich das Kapitel auf die Vorstellungen medizinischer Laien von Krankheit und Gesundheit und auf die Position, die Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen gegenüber Ärzten einnahmen. In den Kapiteln II und III wird herausgearbeitet, dass sich die Einweisungsargumentationen in der Kriegszeit, bedingt durch das Wissen um die Krankenmorde ebenso wie durch die Kriegsumstände, in erster Linie um pragmatische Fragen drehten bzw. pragmatisch gerechtfertigt wurden. So waren in den Einweisungsbegründungen Gefahrenszenarien und Überlegungen von Patientinnen und Patienten und ihren Familien zentral, die darum kreisten, wie (staatliche)  Anstalten zu meiden wären. 96 Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft, S. 280. 97 Ebd., S. 282. Eine ähnliche Position seitens der Psychiatriegeschichte vertreten Volker Hess und Benoit Majerus: Hess u. Majerus, S. 142. 98 Szöllösi-Janze merkt an, dass ihre Überlegungen zu einer Wissensgesellschaft Platz für die Integration von »Handlungs- und Orientierungswissen« bieten und weist auch auf die Psychiatrie als Untersuchungsbereich hin. Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft, S. 280 u. 284.

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Deutlich zurück traten demgegenüber medizinische Aspekte, die in der Nachkriegszeit wieder wichtiger wurden. Auch in wissenschaftlichen Publikationen ging es in der DDR und in der Bundesrepublik vermehrt um Diagnoseprobleme und Diagnose­k lassifikationen, die während der Kriegszeit keine vergleichbare Rolle gespielt hatten. Kapitel IV konzentriert sich daher besonders auf die Nachkriegszeit. Das thematische Ungleichgewicht reflektiert so die veränderten Rahmenbedingungen, Akteurskonstellationen und Interessenlagen. Thesen- und Forschungskomplexe: Arbeit und Leistung Bereits das einleitend skizzierte Einweisungsbeispiel Martina R.s zeigt, dass in den Krankengeschichten neben den Aspekten Krankheit und Gefahr auf einer tiefer liegenden Ebene alltägliche Verhaltenserwartungen auftauchen. Bildlich kulminiert dies in dem Hinweis auf die vom Nichtstun weißen Hände der Patientin. Die Themen Arbeit und Leistung sowie ihre Gegenstücke Arbeitsunwilligkeit oder -unfähigkeit waren nicht nur in Martina R.s Einweisung präsent. Arbeit, Arbeitsfähigkeit und Arbeitswille waren – anders als Selbst- oder Fremdgefährdung und Krankheit – zwar keine offiziellen Gründe für psychiatrische Einweisungen, wurden jedoch sehr häufig im Kontext von Einweisungen zur Begründung angeführt.99 Außerdem diente Leistungsfähigkeit in der NS-Zeit ärztlicherseits zunehmend für die Zuschreibung von Krankheit und Gesundheit.100 Gerade über die Kategorie Arbeit können zudem psychiatriegeschichtliche und gesellschaftsgeschichtliche Fragen im Zusammenhang thematisiert werden. In der Anstalt spielte Arbeit im Rahmen der Arbeitstherapie zweifellos eine wichtige Rolle.101 Aber auch für das staatliche und gesellschaftliche Selbstverständnis des »Drittem Reichs«, der DDR und der Bundesrepublik waren Arbeit und Leistung auf je unterschiedliche Weise Schlüsselkriterien. Im Nationalsozialismus stellte die Fokussierung auf Arbeit und Leistung einen Bestandteil des »Rassismus nach Innen« dar,102 der sich gegen als »asozial« deklarierte Menschen richtete. In der DDR spielte sie in der Selbstdarstellung als »Arbeiterstaat« eine immense Rolle; sowohl die DDR als auch die Bundesrepublik verstanden sich als Leistungsgesellschaften. Durch das Prisma der psychia­ trischen Einweisungspraxis kann sowohl nach gesellschaftlicher Exklusion und Inklusion anhand der Kriterien Arbeit und Leistung als auch nach der Rolle von Arbeit und Leistung für die alltägliche Selbstwahrnehmung im Nationalsozia-

99 Dabei waren Argumente im Zusammenhang mit Arbeit gewiss nicht erst während des Zweiten Weltkrieges zentral und auch kein deutsches Phänomen. Joost Vijselaar weist in einer Langzeitstudie für die Niederlande auf die große Bedeutung von ökonomischen Umständen und familiären Arbeitsverhältnissen hin: Vijselaar; zum Aspekt der Arbeit und Arbeitsfähigkeit im Kontext der Einweisungs- wie auch der Alltagspraxis in den Anstalten um 1900 vgl.: Ankele. 100 Bruns. 101 Zum Aspekt der Arbeit in der Alltagspraxis in den Anstalten um 1900, vgl.: Ankele. 102 Herbert, Traditionen.

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lismus, der DDR und der Bundesrepublik gefragt werden. Inwiefern Arbeit und Leistungsdenken soziale Beziehungen und das alltägliche Leben prägten, ist bisher erst vereinzelt erforscht worden.103 In anderen Studien wurde Arbeit für die Mitte des 20. Jahrhunderts im Nationalsozialismus aus guten Gründen meistens im Zusammenhang mit Verfolgung und systematischem Ausschluss sogenannter »Asozialer« »von oben« untersucht.104 Die Bewertungen und Selbstbeschreibungen zum Thema Arbeit im Rahmen der Einweisungspraxis werden vor dem Hintergrund bisheriger Forschungen sowohl aus der Medizin als auch aus der Alltags-, Sozial- und Gesellschaftsgeschichte interpretiert. Zu nennen sind hier Alf Lüdtkes Studien zur Bedeutung von »deutscher Qualitätsarbeit« für das Selbstverständnis der Arbeiter vom Kaiserreich über den Nationalsozialismus bis in die DDR und Bundesrepublik.105 Für die DDR ist der Arbeitsalltag ein häufig bearbeitetes Forschungsfeld.106 In der Medizingeschichte stellt Nicole Schweig für die erste Hälfte des 20.  Jahrhunderts die Bedeutung von »Arbeitsfähigkeit« für männliche Zuschreibung von Gesundheit heraus und Susanne Hoffmann kommt in ihrer Studie zu geschlechterspezifischen Gesundheitsdiskursen im 20.  Jahrhundert zu ähnlichen Befunden.107 Zur DDR108 und insbesondere zur Bundesrepublik109 liegen hingegen kaum Forschungsergebnisse zu möglichen Kontinuitäten aus der NS-Zeit im Umgang mit sogenannten »Asozialen« vor. Für die frühe Bundesrepublik gab es im Gegenteil eine lebhafte Debatte um den von Hans-Ulrich Wehler postulierten »entbräunten« Leistungsethos der bundesrepublikanischen Eliten, der zum wirtschaftlichen Erfolg des jungen Staates beigetragen habe.110 Äußerst vereinzelt ist das Verhältnis des Menschen zu seiner Arbeit in der Nachkriegszeit auch Gegenstand neuester Forschungsüberlegungen.111 Im Gegensatz zur durch Wehler angestoßenen Debatte geht es in diesen Überlegungen gerade nicht um die »Elite«, sondern um Arbeiter und Angestellte. 103 Forschungen zu anderen Aspekten der »Arbeitergeschichte« sind hingegen viel häufiger zu finden, u.a: Kleßmann, Arbeiter; Rupieper u. a.; Hübner, Arbeiter; ders., Arbeit; zudem gibt es Studien zu unterschiedlichen akademischen Berufsgruppen, u. a. zu Ärzten und Professoren: Ernst; Jessen, Elite; unter Einbeziehung kulturwissenschaftlicher Perspektive:­ Wagner-Kyora. 104 Zu Verfolgung im NS, vgl. v. a.: Ayaß, »Asoziale«. Zur Exklusion in der DDR, vgl.: Lindenberger, »Asociality«, S.  211–233; Korzilius; für die Bundesrepublik wurden bisher lediglich im Umgang mit weiblichen »asozialen« Häftlingen in Ravensbrück und für den Umgang mit geschlechtskranken, als »asozial« deklarierten Frauen Kontinuitäten festgestellt. Vgl. hierzu das Kapitel »Geschlechtskrankheiten als medizinisches und soziales Phänomen«, in: Lindner, Gesundheitspolitik, S. 283 ff. und Schikorra. 105 Lüdtke, »Helden«; ders., People; ders., World. 106 U. a.: Port; Wagner-Kyora; Kohli; Roesler, S. 144–170; Hübner, Zukunft, S. 171–187. 107 Schweig, S. 117; Hoffmann, Alltag. 108 Zur Exklusion in der DDR, vgl.: Lindenberger, »Asociality«; Korzilius. 109 Lindner, Gesundheitspolitik, S. 283 ff.; Schikorra. 110 Wehler; zur Debatte: Bahners u. Cammann, S. 107–124. 111 Bänzinger; Bernet u. Gugerli.

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Zu Arbeit zählt im Folgenden neben allen Formen von Erwerbstätigkeit auch Hausarbeit.112 Auf eine engere Definition von Arbeit wird an dieser Stelle bewusst verzichtet, um sich der Thematik von verschiedenen Seiten nähern und dann von den Quellen aus ein differenzierteres Bild zeichnen zu können. Arbeit und Gesundheit werden in Inklusions- und Exklusionsargumentationen der Verwandten und der Patientinnen und Patienten untersucht sowie in Vorstellungen der Eingewiesenen von einem gesunden Selbst und in Theorie und Praxis der psychiatrischen Krankheitskonzeptionen. Es wird hinterfragt und teils revidiert oder differenziert, inwiefern Vorstellungen von Arbeit und einem gesunden Selbst gender-, schicht- oder staatspezifisch waren. Definierten Männer ihre Gesundheit, anders als Frauen, vor allem über Arbeitsfähigkeit? Ist die Beschreibung eines gesunden Selbst als eines arbeitsamen Selbst ein Grundparameter in Staaten, die sich als Arbeits- und Leistungsgesellschaft ansahen, wie es auf unterschiedliche Weise für die NS-Zeit, die DDR und die Bundesrepublik der Fall war? Für die Seite der Psychiater wird untersucht, inwiefern ihre Einschätzungen und Erklärungsmodelle für Patientinnen und Patienten, die sich als »überarbeitet« ansahen, systemspezifisch waren. Zugleich stellt sich die Frage, ob den neuen theoretischen Ansätzen auch Veränderungen in der Praxis folgten. Für die DDR wird hier, wie auch in Kapitel IV, überprüft, ob die bisherige Forschungsannahme, die Pavlov-Kampagne habe die ärztliche Praxis nicht verändert,113 für die ärztliche Praxis im Zuge der psychiatrischen Einweisung zutrifft oder ob hier stärker differenzierte Aussagen möglich sind.

4. Quellen Quellenkorpus und Auswertung: Eine qualitative Studie mit quantitativer Unterfütterung In der Studie werden drei verschiedene Arten von Quellen genutzt: zum einen Akten aus den Bundesarchiven Koblenz und Lichterfelde sowie aus den Staatsund Landesarchiven,114 in deren Zuständigkeitsgebieten die untersuchten Kli112 In diesem Kapitel wird das Begriffspaar Haus- und Erwerbsarbeit benutzt, da in diesem Kontext nicht auf tiefere Einsichten durch die Nutzung neuerer Begrifflichkeiten gehofft werden kann. Zur Begriffsdebatte vgl. Uta Gerhard, die für den Begriff »Care-Arbeit« plädiert: Gerhard, S. 7. 113 Anna Sabine Ernst bewertet die Pavlov-Kampagne als nicht erfolgreich. Sie konstatiert, die Pavlovforschung in den 1950er Jahren sei neben anderen Forschungen hergelaufen und habe keine Auswirkungen gehabt. Vgl.: Ernst, S. 335 ff. 114 Hauptstaatsarchiv München, Staatsarchiv München, Stadtarchiv München, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Landesarchiv Greifswald/Außenstelle des Mecklenburgischen Staatsarchivs Schwerin. Im sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden waren aus dem Bestand Landesregierung Sachsen, Ministerium für Arbeit und Sozialfürsorge, 1945–52 Rundschreiben an die »Heilanstalten« (Signaturen: 2007, 2008, 2009, 2010, 2011, 2013) während des gesamten Arbeitszeitraums nicht einsehbar.

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niken oder Anstalten lagen. In diesen Archivalien geht es um die Umsetzung von Einweisungsregeln und um Diskussionen zur Einweisungspraxis. Zum anderen werden psychiatrische Schriften herangezogen, hierzu gehören unterschiedliche Ausgaben psychiatrischer Lehrbücher und zwei psychiatrische Zeitschriften. Bei den beiden psychiatrischen Zeitschriften handelt es sich um die Jahrgänge 1941 bis 1963 des 1928 erstmals herausgegebenen und in der Bundesrepublik weiter geführten Nervenarztes und um die seit 1949 in der SBZ/ DDR erschienene Zeitschrift Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie. Den Hauptquellenbestand bilden drittens insgesamt 1424 psychiatrische Krankenakten aus den sechs psychiatrischen Einrichtungen. Damit schöpft die Studie aus einem Quellenfundus, dessen Nutzung strengen rechtlichen Zugangsbeschränkungen unterliegt und der in dieser Breite für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals zugänglich gemacht wurde. Die Krankenakten der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar konnten auf Grund des beschränkten Zugangs nur für den Zeitraum 1941 bis 1949 ausgewertet werden. Ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wurden die Krankenakten aus Rodewisch nur noch selektiv archiviert. Hier finden daher nur die Akten bis 1955 Verwendung und für den Zeitraum 1956 bis 1963 Akten aus der Anstalt Großschweidnitz.115 Personalakten der Ärzte waren in den allermeisten Fällen nicht zugänglich oder nicht vorhanden. Nicht jede Akte ist überhaupt eindeutig einem Arzt zuzuordnen, der das Aufnahmegespräch geführt hat. Häufig wurde nur mit Kürzeln unterschrieben – manchmal auch gar nicht. Die Größe der Anstalten und Kliniken sowie die Rotation der Ärzte macht es dabei äußerst schwierig, dies nachzuvollziehen.116 In erster Linie erfolgt eine qualitative Analyse der Einweisungspraxis, insbesondere im Kapitel II werden aber auch quantitative Auswertungen herangezogen.117 Die Akten wurden in vier Kohorten gezogen, und zwar für die Zeit von 1941 bis Kriegsende, von Kriegsende bis zur Gründung von Bundesrepublik

115 Großschweidnitz hingegen war während der Besatzungszeit weniger funktionsfähig als Rodewisch. Großschweidnitz und Rodewisch, beide in Sachsen gelegen, unterlagen denselben regionalen Traditionen und Regelungen. Allerdings war Großschweidnitz größer als Rodewisch. 116 In der Universitäts- und Nervenklinik Greifswald wurden z. B. Aufnahmen oft von As­ sistenzärzten gemacht, die innerhalb ihrer Ausbildung nur kurze Zeit dort Station machten. Wenn sie die Klinik verließen, wurde ihre Personalakte an die Abteilung ihrer nächsten Station im Ausbildungsweg weitergegeben. Archivalisch konserviert werden konnte daher nur der Auflösungsvertrag als Restunterlage. 117 Aus allen 1424 Einzelfallakten wurden folgende Merkmale mit SPPS aufgenommen: Geschlecht, Alter, Wohnort, Geburtsort, Familienstand, Anzahl der Kinder, Beruf, Beruf des Vaters, Grund der Einweisung, Einweisungsweg (Wer überweist den Patienten – ein Amtsarzt, ein Hausarzt, ein Krankenhaus, eine andere Psychiatrie? Kommt der Patient ohne Einweisung? Wird er vom Gericht überstellt?); letzter Aufenthaltsort vor der Einweisung (Kommt der Patient von zu Hause, aus einem anderen Krankenhaus, aus einem Altenheim, einem Gefängnis, einem Lager?), Länge des Aufenthalts, Diagnose, Art der­

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und DDR 1949, von 1950 bis 1955 sowie von 1956 bis 1963. Die Einzelfallakten wurden, wenn möglich, nach Zufallszahlen gezogen und das Geschlechterverhältnis innerhalb der Anstalt oder Klinik berücksichtigt.118 Da dies jedoch nicht durchgehend umsetzbar war, weil z. B. die Gesamtmenge der Krankenakten nicht bekannt war oder der Bestand noch nicht verzeichnet ist, kann kein Anspruch auf Repräsentativität im sozialwissenschaftlichen Sinne erhoben werden. Zudem kam es mitunter vor – und das gilt besonders für die Jahre 1945 bis 1949 –, dass die Aufnahmeformulare kaum ausgefüllt waren und in Folge dessen auch der Datensatz lückenhaft ist. Ziel ist es nicht, exakte Zahlen zu liefern. Geringfüge Veränderungen werden daher gar nicht interpretiert.119 Die Zahlen werden herangezogen, um Einweisungswege nachzuzeichnen sowie größere Veränderungen an ihnen festzumachen. Eine Sozialgeschichte der Medizin unter Berücksichtigung der Science Studies: Zeitschriften und Lehrbücher als ergänzende Quellen zur Interpretation von Krankenakten Die Arbeit strebt an, die Perspektive von Patientinnen und Patienten sowie ihres Umfeldes und die der Ärzte im Kontext zu analysieren oder, anders formuliert, eine Sozialgeschichte der Einweisungspraxis unter Berücksichtigung der ­Science Studies zu schreiben. In diesem Rahmen ist es Ziel der qualitativen Quellenanalyse, (Selbst-)Beschreibungen der Patientinnen und Patienten und ihres Umfeldes zu untersuchen. Weder wird damit eine ganze Erfahrungswelt rekonstruiert noch der Anspruch erhoben, diese Zuschreibungen entsprächen den Gedanken oder Gefühlen von Betroffenen und Angehörigen eins zu eins. Eine hermeneutische Analyse von Krankenakten wird dadurch erleichtert, dass es um die Rekonstruktion von Einweisungsgründen geht, nicht um das Innere der Klinik oder Anstalt. Dieser Unterschied ist für die Bewertung des

Beendigung des Aufenthalts (Entlassung, Weiterverweisung, Tod, Gefängnisstrafe), Anzahl der bisherigen Einweisungen. Wenn es mehrere Einweisungen gab, wurden die Kriterien für die jeweils erste und letzte Einweisung aufgenommen. Für die Aufnahme dieser Angaben wurden die standardisierten Aufnahmeformulare benutzt. 118 Beide Kriterien konnten eingehalten werden in folgenden Anstalten: LHA Marburg, Heilund Pflegeanstalt Rodewisch und der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. In den anderen drei Einrichtungen wurde Akten nach dem System GORT gezogen. Von den Krankenakten aus Großschweidnitz wurden durch das sächsische Staatsarchiv nur diejenigen von Patientinnen und Patienten archiviert, deren Nachname mit den Anfangsbuchstaben G, O, R, oder T beginnt. Die Akten aus Bethel und der Universitätsnervenklinik Greifswald, die nicht nach Zufallszahlen gezogen werden konnten, wurden ebenfalls nach dem System GORT gezogen. 119 Vergleiche zur Ziehung von Krankenakten für eine Arbeit mit sehr ähnlicher Fragestellung zur Einweisungs- und Entlassungspraxis, in der die Akten auch qualitativ und quantitativ ausgewertet wurden, die Arbeit von Joost Vijselaar. Um ein Jahrhundert abzu­ decken, bedient er sich eines Zeitrasters von Fünfjahresabständen und zieht jeweils die ersten fünf Krankenakten. Vgl.: Vijselaar, S. 279.

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Quellenmaterials wesentlich. Die Feststellung des Verschwindens der Stimmen der Patientinnen und Patienten aus den Krankenakten, die ein zentrales Argument gegen die inhaltliche Interpretation von Krankengeschichten ist, bezieht sich auf den Aufenthalt im Krankenhaus, nicht auf den Eintritt.120 Das Verhältnis zwischen Laien und Ärzten unterlag in der Klinik jedoch einem größeren Machtgefälle als bei der Entscheidung zum stationären Aufenthalt. Es wird zudem angenommen und soll in dieser Arbeit gezeigt werden, dass es sich bei den Einweisungsargumentationen zumindest aus der Sicht der Beteiligten um sinnvolle Argumentationsstücke handelte, die im jeweiligen politisch-sozialen Kontext im Bereich des Sagbaren lagen und sich nicht grundsätzlich jeder Logik und Verständlichkeit entzogen. Hierfür werden insbesondere Briefe und die sogenannten »subjektiven« und »objektiven« Anamnesen herangezogen. Bei der »subjektiven« Anamnese handelt es sich um Angaben der Patientin oder des Patienten, bei der »objektiven« um solche der Familie oder einer anderen Person aus dem sozialen Umfeld des eingewiesenen Menschen. Obwohl die Aufnahmen in den 1940er bis 1960er Jahren durchaus stark formalisierte Aspekte hatten,121 bietet die Anamnese nicht streng formalisierte Angaben zu Krankheitsverlauf und Einweisungsgründen.122 Neben der Perspektive der Patientinnen und Patienten sowie ihrer Angehörigen wird die Beziehung zwischen wissenschaftlichem Wissen und Praxis thematisiert. Allerdings nicht, um allein der vielfach gemachten und wenig überraschenden Feststellung beizupflichten, die Praxis setze nicht eins zu eins das theoretische Wissen der herrschenden Lehre um. Gerade in der Psychiatrie, in der wissenschaftliches Wissen und Laienwissen traditionell eng verwoben sind,123 erscheint eine der Theorie entsprechende Umsetzung unwahrscheinlich. Das Forschungsinteresse dieser Studie liegt darin, für kleine Bereiche im Detail zu beleuchten, wo was wann warum praktiziert wurde oder nicht und was das wiederum über Beziehungen zwischen Wissenschaft und Politik sowie Wissenschaft und sozialem Mikrokosmos aussagt.124 Es handelt sich somit um einen sozial- und kulturwissenschaftlichen Zugang zur Wissen120 Foucault spricht vom »Monolog der Vernunft über den Wahnsinn«. Foucault, Psychologie, S.132. Empirisch wurde der Stimme des Patienten nachgegangen in: Lachmund u. Stollberg, S. 218; Elkeles, S. 63–91; zum Machtgefälle zwischen Psychiatern, Anstaltsangestellten und Patientinnen und Patienten in Psychiatrien vgl. Erving Goffman, der die­ Eingewiesenen zwar als handelnde Akteure zeichnet, jedoch zeigt, dass sie letztlich in der Anstalt immer der reagierende Part bleiben: Goffman. 121 Vgl. hierzu: Bernet, »Eintragen«, S. 62–91. 122 Zum Wert der Anamnese am Beispiel der Sexualmedizin, vgl.: Putz, S. 92–120. 123 Vgl. hierzu u. a.: Goldstein, Psyche, S. 153. 124 Zu dieser Forschungsperspektive vgl. u. a. für die Psychiatriegeschichte Roelcke, für Fragestellungen der deutsch-deutschen Geschichte Szöllösi-Janze und für das Selbstverständnis von Wissenschaftlern in spezifischen zeithistorischen Kontexten Daston u. Galison. ­Roelcke, Suche, S.  176–192; Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft, S.  280 u. 284; Daston u.­ Galison, S. 8.

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schaftsgeschichte.125Außerdem analysiert die Studie die Erklärungen, die die zeitgenössische Psychiatrie selbst für diese von ihr durchaus reflektierten Abweichungen zwischen Theorie und Praxis gab. Hierbei gilt es zu betonen, dass eine solche Untersuchung nur für sehr eng begrenzte Wissensgebiete geleistet werden kann, die unmittelbar mit der Einweisungspraxis zusammenhingen. Ein solch kleiner Bereich ist z. B. »Arbeit in der psychiatrischen Einweisung«: Weder gilt das Interesse der Erfassung der interdisziplinären Forschung zum Thema Arbeit insgesamt noch ist es Ziel, die Diagnosen, die damit im Zusammenhang standen, in allen oft weit über das Thema »Arbeit« hinausreichenden Facetten zu untersuchen. In der Studie geht es dementsprechend immer wieder um psychiatrisches Wissen als wissenschaftliches Wissen. Für diese speziellen Bereiche wird die Legitimierung, Durchsetzung, Veränderung und Diskussion auf der Grundlage von psychiatrischen Lehrbüchern und zweier psychiatrischer Zeitschriften untersucht, da sich dort der wissenschaftliche Diskurs126 nachvollziehen lässt.127 Die begrenzten Wissensbereiche, die im Kontext der psychiatrischen Einweisungspraxis beleuchtet werden, können so in einem doppelten Spannungsfeld untersucht werden: einerseits zwischen Theorie und Praxis und andererseits zwischen lokalen, nationalen und/oder größeren Wissensräumen, wie europäischen, westlichen oder sowjetischen Wissensräumen.

125 In den 1990er Jahren wurde der sogenannte internalistische Zugang vom sogenannten externalistischen Zugang abgelöst. Wissenschaftsgeschichte wird seitdem nicht mehr in erster Linie als innerdisziplinäres Forschungsfeld verstanden, sondern wird befragt auf ihre Ursprünge, ihre Auswirkungen und ihre Organisationsformen innerhalb der Gesellschaft. Grundlegend zu dieser Verschiebung: Golinski; zusammenfassend hierzu: Greyerz u. a., S. 10; Zum erkenntnistheoretischen Mehrwert eines wissensgeschichtlichen Zugangs, der wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen breiter einbettet, speziell für ein besseres Verständnis der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und ihrer Kontinuitäten und Brüche, vgl.: Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft, S. 280. 126 Unter Diskurs werden Ordnungsmuster verstanden, die konstruiert sind und daher die Machtverteilung ihrer Konstruktion spiegeln. Vgl.: Landwehr. Innerhalb der Psychiatriegeschichte wird damit ein von Volker Roelcke stark gemachtes Verständnis von Diskurs aufgegriffen. Psychiatrische Diskurse werden dem folgend als Ergebnisse von Aushandlungsprozessen und somit als dynamisch verstanden. Vgl.: Roelcke, Krankheit, S. 29. 127 Wissenschaftliche Veröffentlichungen eignen sich, der Argumentation Thomas Schlichs folgend, um Erkenntnisse über die Entstehung von wissenschaftlichem Wissen zu erlangen und um die Stellung, die diese Erkenntnisse im wissenschaftlichen Diskurs hatten, zu analysieren. Schlich, Gods, S. 311–331. Zur Bedeutung des Zugangs zu Fachzeitschriften oder Tagungen, vgl.: ders., Fakten, S. 118.

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Kapitel I: Historische Rahmenbedingungen der Einweisungspraxis – Psychiatrie, Staat und Gesellschaft bis 1941

In eine Landesheilanstalt, nicht in eine Heil- und Pflegeanstalt wurde 1946 in Marburg die bereits in der Einleitung vorgestellte Patientin Martina R. aufgenommen. Dies ist zurückzuführen auf historisch bedingte regionale Unterschiede im Klinik- und Anstaltswesen. In Hessen war es – anders als etwa in Bayern und Sachsen – üblich, Patientinnen und Patienten zuerst in eine Landesheilanstalt aufzunehmen. Nur wenn dort entschieden wurde, dass ein längerer Aufenthalt nötig sei, erfolgte eine Überweisung in die beiden Heil- und Pflegeanstalten Haina und Merxhausen.1 Die hier angerissenen Klinik- und Anstaltstypen sollen im folgenden Kapitel näher vorgestellt werden. Anschließend wird die Entstehung psychiatrischer Praktiken und Diskurse als Vorgeschichte der Einweisungspraxis in der Mitte des 20. Jahrhunderts erläutert. Hierzu gehören Regularien zur Einweisung, das Verhältnis von Arzt und Patientin oder Patient, die Expertise und der wissenschaftliche Anspruch der­ Psychiatrie, die psychiatrische Gutachtertätigkeit, psychiatrische Gesellschaftsdeutungen sowie das Verhältnis von Krieg und Psychiatrie.2

1. Anstalts- und Kliniktypen Die meisten psychiatrischen Anstalten waren im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts staatliche Einrichtungen. Je nach Region gehörten sie aber zu unterschiedlichen Verwaltungsebenen. Sie konnten königliche oder herzogliche Einrichtungen sein, wie in Sachsen oder Mecklenburg. In anderen Fällen waren sie auf einer tieferen Verwaltungsebene angesiedelt. In Hessen fielen die Anstalten seit den 1870er Jahren in die neugeschaffene preußische Provinzialverwaltung und in Bayern in die Kreisverwaltung.3 Auch die Ausrichtung der psychiatrischen Anstalten variierte regional. Während EglfingHaar in München sowie Großschweidnitz und Untergöltzsch als Heil- und 1 Ausführlich zur Einrichtung und zum Wandel der Anstalt über ein Jahrhundert hinweg, vgl.: Sandner u. a., Heilbar und nützlich. 2 Nicht intendiert ist eine auch nur annähernd vollständige Erzählung der Geschichte der deutschen Psychiatrie bis 1941. 3 Engstrom, Psychiatry, S. 18.

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Pflegeanstalt fungierten, handelte es sich bei der LHA Marburg um eine Landesheilanstalt, die nicht auf dauerhafte Unterbringung und Pflege spezialisiert war. Die unterschiedlichen Verwaltungstraditionen wirkten sich noch bis in die Weimarer Republik aus, da die Organisation und Durchführung der Gesundheitspflege dort bei den Ländern lag und Verwaltungstraditionen fortlebten. Zwar wurden die regionalen Zuständigkeiten im Nationalsozialismus vollständig durch eine zentrale Verwaltung ersetzt, jedoch blieb der Partikularismus des deutschen Anstaltswesens des 19. Jahrhunderts folgenreich. So ging darauf z. B. noch nach dem Zweiten Weltkrieg die Ausrichtung auf behandelbare Patientinnen und Patienten in Marburg zurück.4 Erst seit den 1870er Jahren gab es neben den Anstalten auch psychiatrische Abteilungen in den Universitätskliniken.5 Es handelte sich hierbei um gemeinsame Kliniken für Psychiatrie und Neurologie.6 Sie waren Teil der Universitätskrankenhäuser und für die Professionalisierung der Psychiater als Mediziner von enormer Wichtigkeit. Die Entwicklung der Psychiatrie zu einem eigenen medizinischen Bereich erfolgte in Deutschland auf recht ungewöhnlichem Wege und nicht entlang der klassischen beiden Muster: Weder entstand sie über die Ausweitung von medizinischem Wissen noch über den Weg der Institutionalisierung. Stattdessen entwickelte sie sich eigenständig in den Anstalten und zählte erst mit der Gründung psychiatrischer Abteilungen in den Universitätskliniken zur Disziplin Medizin.7 Obwohl die universitäre Psychiatrie die »Geisteskrankheiten« mit dem Ziel der Heilung erforschte, blieben Erfolge in diesem Bereich aus. Statt in der Heilung lagen diese in der Klassifikation der Erkrankungen und in der Prophylaxe.8 Aufgrund der verwaltungstechnischen Zuordnung der sogenannten Psychiatrischen und Nervenkliniken zu den Universitätskliniken waren sie – im Unterschied zu den Heil- und Pflegeanstalten  – nur für zeitlich begrenzte Aufenthalte ausgelegt. Bei längerfristigem Behandlungsbedarf gab es aber die Möglichkeit, die Patientin oder den Patienten in eine Heil- und Pflegeanstalt weiter zu verweisen. Trotzdem unterlagen die psychiatrischen Abteilungen der Universitätsklinken auch staatlichen Richtlinien zur Aufnahme. Sowohl Zwangseinweisungen als auch Einweisungen zur Begutachtung waren möglich. Ähnlich wie die psychiatrischen Anstalten bildeten auch die Kliniken bemerkenswerte eigene Traditionen heraus. Bei der Aufnahme spielte etwa das Diagnosesystem der Klinik eine Rolle, welches in der Verantwortung des leitenden Professors lag.9 4 Sandner u. a., Heilbar und nützlich. 5 Engstrom, Psychiatry, S. 2. 6 Die Annäherung von Psychiatrie und Neurologie war wesentlich durch Wilhelm Griesingers (1817–1868) Forschungen zu Geisteskrankheiten als Gehirnkrankheiten bedingt, die zeitlich mit der Gründung der ersten Universitätskliniken für Psychiatrie und Neurologie zusammenfielen. Vgl.: Ebd., S. 60. 7 Ebd., S. 24. 8 Ebd., S 12 f. 9 Zu den hier untersuchten Einrichtungen vgl. den Sammelband zur psychiatrischen Abteilung der Universitätsklinik Greifswald: Fischer u. Schmiedebach.

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Insofern charakterisiert sowohl ein Mit- als auch ein Nebeneinander das Verhältnis der Psychiatrietypen: Einerseits erforderte die differente Ausrichtung eine Zusammenarbeit, andererseits bedingte das System, dass Anstalten als alte Institutionen und Universitätskliniken als neue Institutionen konkurrierten und sich wechselseitig voneinander abgrenzten. Neben den staatlichen Einrichtungen gab es psychiatrische Anstalten in privater, meist konfessioneller Trägerschaft. Sie waren ursprünglich vor allem auf Pflege spezialisiert. Dies wandelte sich jedoch um die Wende zum 20. Jahrhundert. Anders als bei staatlichen Anstalten bestand bei privaten Einrichtungen keine Zuständigkeit für bestimmte Bezirke.10 In die von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel wurden daher auch Menschen aus weit entfernten Regionen eingewiesen. Zu Beginn des Untersuchungszeitraums, im Jahr 1941, existierten also drei Arten der stationären Aufnahme von sogenannten »Geisteskranken«: staatliche Anstalten, private Einrichtungen sowie Psychiatrische und Nervenkliniken als Teil der Universitätskliniken. Während die Psychiatrischen und Nervenkliniken Teil der Universitätskran­ kenhäuser waren, bildeten die psychiatrischen Anstalten, und zwar egal, ob es sich um Heilanstalten oder Heil- und Pflegeanstalten handelte, einen Mikrokosmos für sich  – mit eigener Landwirtschaft, Schlachtereien, Gärtnereien, Werkstätten, Wäschereien, aber auch Festsälen, Kirchen und Friedhöfen auf dem Gelände. Aufgrund der dafür notwendigen Fläche und mit der Begründung, dass die ländliche Ruhe die Heilung befördere, wurden viele der Anstalten außerhalb der Stadtzentren gebaut. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden nicht mehr wie zuvor vor allem alte Klöster zu Anstalten umfunktioniert, sondern neue Anstalten im sogenannten Kolonialstil errichtet, die sich aus zahlreichen Einzelhäusern, den »Pavillons«, in parkähnlicher Umgebung zusammensetzen.11 Die Bauweise ermöglichte es, die Patientinnen und Patienten auf verschiedene Häuser zu verteilen, getrennt nach Geschlecht, Pflegeaufwand und »notwendigem« Überwachungsgrad sowie nach Versorgungsklassen.12 Dieser Stil fand sich bei den in dieser Studie untersuchten Einrichtungen in EglfingHaar, Untergöltzsch, Großschweidnitz, der LHA Marburg und den von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel. Sie alle entstanden Ende des 19. Jahrhunderts als Teil  des sogenannten »Irrenbooms«, der in der Forschung unterschiedlich erklärt wird. Während Dirk Blasius stark den disziplinatorischen Charakter staatlicherseits betont, wird in der angelsächsischen Forschung auf die Vernetzung und zunehmende Macht von Ärzten, Polizei und Gesundheitseinrichtungen auf einer Meso-Ebene hingewiesen.13

10 Brink, S. 142. 11 Vgl. hierzu z. B.: Sandner u. a., Einleitung, S. 15. 12 U. a. zusammenfassend in: Rose, S. 16 ff. 13 Andrews u. Digby, S.14 ff.; Blasius; zusammenfassend: Brink, S. 133.

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Die psychiatrischen Einrichtungen unterschieden sich also in dreierlei Hinsicht: in ihrer Funktion, regional und in ihrer Trägerschaft. Diese historisch bedingten Unterschiede wirkten sich auch auf die Einweisungspraxis zwischen 1941 und 1963 aus. Denn ihre Ausrichtung auf bestimmte Patientenklientel blieb. So nahmen Universitätskliniken hauptsächlich Patientinnen und Patienten zur Diagnoseklärung und kürzeren Behandlung auf, die LHA Marburg sollte Patientinnen und Patienten mit Chancen auf Besserung aufnehmen und die Heilund Pflegeanstalten sowohl Patientinnen und Patienten, die ausschließlich der Pflege bedurften, als auch Menschen, bei denen eine Besserung wahrscheinlich erschien. Der Status Bethels als konfessioneller Einrichtung bedingte, dass Bethel keine zwangseingewiesenen Personen aufnehmen musste. Außer auf der verwaltungstechnischen Ebene hingen Psychiatrie, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf dreifache Weise zusammen. Zum einen waren psychiatrische Anstalten Orte, an denen Menschen zur Pflege, zur Heilung oder aus Sicherheitsgründen mehr oder weniger von der Gesellschaft getrennt untergebracht wurden. Zum anderen fungierte die Psychiatrie als Lieferant für staatlich angewandtes Wissen. Schließlich diente psychiatrisches Wissen zur Deutung und Erklärung gesellschaftlicher Zustände und Probleme. Hierbei handelt es sich um eine mehrschichtige Verflechtung, nicht um einseitige Abhängigkeitsverhältnisse, in denen etwa die Psychiatrie als ein verlängerter Arm des Staates betrachtet werden könnte. An eine vollständige staatliche Überwachung oder Einweisung aller »Irren« war bei der Etablierung des Anstaltswesens im 19. Jahrhundert nicht gedacht. Es sollten lediglich Plätze für etwa 20 Prozent der Kranken zur Verfügung stehen.14 Die Funktion der Psychiatrie für Familien und Staat, die Rolle der Psychiatrie als Lieferant für staatlich angewandtes Wissen und psychia­ trisches Wissen im Kontext von Gesellschaftsdeutungen sollen im Folgenden skizziert werden. Abschließend werden wichtige Veränderungen in der NS-Zeit beleuchtet, die vor Beginn des Untersuchungszeitraums 1941 stattfanden.

2. Zur Funktion der Psychiatrie Die Psychiatrie erfüllte unterschiedliche Funktionen. Psychiatrische Anstalten dienten einerseits zur Verwahrung und Pflege nicht heilbarer Kranker. Andererseits sollten sie zunehmend zur Heilung psychiatrischer Krankheiten genutzt werden. Außerdem wurden Einweisungen mit Sicherheitserwägungen im allerweitesten Sinne legitimiert. Diese drei Funktionen der Psychiatrie als Ort hängen eng mit den unterschiedlichen Personenkreisen zusammen, die an einer Einweisung beteiligt waren. Trotz der Korrelationen der Anstaltsfunktionen mit Akteursinteressen handelt es sich hierbei eher um idealtypische Zuschrei14 Kaufmann, Aufklärung, S. 191.

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bungen, die einen roten Faden in einer Verflechtung von Einweisungsmotiven sichtbar machen können. So wurden polizeiliche und richterlich initiierte Einweisungen mit dem Verweis auf Selbst- und Fremdgefährdung legitimiert. Die Herstellung von Sicherheit, in diesem Fall von häuslicher Sicherheit, konnte im Einzelfall auch ein Interesse der Angehörigen sein. Ebenso war es möglich, dass deren Einweisungsmotiv in der Hoffnung auf Hilfe oder Besserung bestand, obwohl Heilung lange Zeit für die Professionalisierung der Ärzte von größerer Bedeutung war als für viele der einweisenden Familien. Arzt und Patientin/Patient: Heilung, Besserung und Verwahrung Für die Anstaltsärzte und die sich ausbildende Profession der Psychiater nahm Heilung im Laufe des 19. Jahrhunderts einen immer zentraleren Stellenwert ein. Im Zuge dessen wandelten sich die Anstalten von undifferenzierten Verwahrungsinstitutionen, in denen sogenannte »Irre« gemeinsam mit Alten, Armen und Kranken untergebracht wurden, zu differenzierteren Einrichtungen.15 Ihr Zuständigkeitsbereich erstreckte sich nun auf Menschen mit als normabweichend bewertetem Verhalten, wofür Foucault den Begriff der Abweichungsheterotopien prägte.16 Die Heil- und Pflegeanstalten und auch die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aufkommenden Universitätskliniken blieben dabei sowohl für psychiatrische als auch für neurologische Krankheiten zuständig.17 Auch Bethel als konfessionelle Einrichtung verfügte zur Zeit des Zweiten Weltkriegs über eine neurologische Abteilung. Anstaltsärzte und Universitätspsychiater sahen sich nach einem in den 1860er Jahren abgeschlossenen Prozess als medizinische Profession für die Behandlung, Heilung und Erforschung von »Geisteskrankheiten«.18 Die Familien von Patientinnen und Patienten, die nicht dem Bürgertum entstammten, sahen die Funktion der Anstalt jedoch nach wie vor meist in der Unterbringung und Pflege, wenn diese zu Hause nicht mehr gewährleistet werden konnten. Sie veranlassten daher regelmäßig Aufnahmen von Familienmitgliedern, deren Zustand die Ärzte als unheilbar einstuften. Entsprechend setzten die Anstalten teils sogar Kostenanreize, um ihre Klientel aus der ärmeren Bevölkerung früher in den Anstalten untersuchen zu können.19 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nahm die Psychiatrie einen Teil ihres Heilungsversprechens notgedrungen wieder zurück. 15 Brink, S. 12. 16 Foucault, »Räume«, S. 34–46. 17 Hierzu trug insbesondere Wilhelm Griesinger bei, der Geisteskrankheiten als Gehirn­ krankheiten beschrieb und damit Wesentliches zur Nähe und Kooperation von Psychiatrie und Neurologie beisteuerte. Engstrom, Psychiatry, S. 51 u. 60 f. 18 Kaufmann, Aufklärung, S. 158. 19 So konnten den Gemeinden für eine Zeit die Unterbringungskosten erlassen werden, wenn sie Patientinnen und Patienten in einem frühen Stadium der Krankheit einwiesen. Seit der Novelle zum Unterstützungswohnsitz von 1891 trugen die Ortsarmenverbände ein Drittel der Kosten der Unterbringung. Zwei Drittel wurden von den Landarmenverbänden und in Preußen von ihren Parallelinstanzen, den Provinzialverbänden, bezahlt. Brink, S. 114.

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Die Frage von Heilbarkeit und Unheilbarkeit verschob sich vom therapeutischen in den diagnostischen Bereich. Krankheitsbilder wurden vermehrt so konstruiert, dass Unheilbarkeit als Merkmal der Krankheit galt.20 Die Dementia Praecox etwa, eine Vorläuferin der Diagnose Schizophrenie, zeichnete sich nach Emil Kraepelin (1856–1926)21 auch durch ihre Unheilbarkeit aus.22 Seitens der Angehörigen war Hoffnung auf Heilung und/oder Behandlung im 19.  Jahrhundert ein spezifisches Einweisungsmotiv des Bürgertums. Der Glaube an Heilung und das Vertrauen in die Psychiater unterschied zum einen das Bürgertum von niedrigeren sozialen Schichten und trug zum anderen wesentlich zur Institutionalisierung von psychiatrischen Anstalten als differenzierte medizinische Einrichtungen in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts bei.23 Aus dem Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum stammte daher mit zwanzig Prozent – bei einem Bevölkerungsanteil von fünf Prozent – auch ein überproportional großer Teil der psychiatrischen Patientinnen und Patienten. Ann Goldberg zeigt, dass die vielen Aufnahmen aus der bürgerlichen Schicht in direkter Verbindung mit dem Aufstieg der Rationalität im Bürgertum standen. In der Gruppe der bürgerlichen Eingewiesenen überwogen die Frauen deutlich.24 Dabei belegt Goldberg, dass die Einweisung darauf abzielte, bürgerliche Patientinnen zur sozialen Angepasstheit zu erziehen. Sie sollten von Emotionen geheilt werden, die ihrer sozialen Rolle im Weg standen, z. B. von Wut, »übermäßiger« Anteilnahme oder »sozialer Kälte«.25 Erziehung und »Heilung« lagen hier eng beieinander. Demensprechend erwies sich das Mitwirken der Patientin sowohl als konstitutiv für einen Behandlungserfolg als auch für das psychiatrische Wissen des Anstaltsleiters. Goldberg arbeitet heraus, dass »medical knowledge was itself an amalgam of expert and lay opinion that was generated in large part within (and because of) his relationship with his bourgeois clients.«26 Die eigentliche Behandlung basierte daher nicht auf ärztlicher Expertise im wissenschaftlichen Sinne, über die die Anstaltsleiter gar nicht verfügten, sondern auf dem Charakter des Arztes und seiner Beziehung zur Patientin. Der sogenannte »innere Kern« des Arztes und die davon ausgehende moralische Kraft wurden 20 Diese Verschiebung hing wesentlich mit der engen Verbindung der Psychiatrie mit der Hirnanatomie zu dieser Zeit zusammen. Nach dem Tod konnten Krankheiten einfacher zuge­ord­ net werden, da das Gehirn auf Veränderungen untersucht werden konnte. Vgl.: W ­ alter, S. 83 f. 21 Kraepelin war ein sehr bekannter und einflussreicher deutscher Psychiater, dessen Überlegungen zur Einteilung psychiatrischer Krankheiten noch heute nachwirken. Er war auch Begründer der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, einem KaiserWilhelm-Institut. Vgl. zur heute umstrittenen Relevanz Kraepelins: Engstrom u. Weber, S. 267–273. 22 Zur Herausforderung der Kraepelinschen Diagnoseauffassung durch Eugen Bleuler (1857– 1939) und die Einführung des Begriffs Schizophrenie, vgl.: Bernet, Schizophrenie, S. 12 f. 23 Kaufmann, Aufklärung, S. 140. 24 Goldberg, S. 178. 25 Ebd., S. 186. Ebenfalls auf die Bedeutung von sittlicher Praxis im psychiatrischen und auch philosophischen Diskurs der Zeit weist Doris Kaufmann hin: Kaufmann, Aufklärung, S. 36. 26 Goldberg, S. 180.

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als ausschlaggebend eingestuft.27 Die bürgerlichen Familien verfolgten hier anders als Familien aus den Unterschichten ein aktives Interesse: »Der bürgerliche Diskurs über die eigene seelische Gefährdung und über die als psychisch krank beurteilten Abweichenden muß in den Zusammenhang aufklärerischer Kritik an den inneren und äußeren Behinderungen der Vernunft gestellt werden. Dieser Diskurs war aktives Moment in der Auseinandersetzung mit der inneren und äußeren Wirklichkeit und ihrer Veränderung.«28 Außerhalb des Bürgertums gab es hierzu keine Parallele. So stellt Doris Kaufmann als Einweisungsgründe im bäuerlichen Münsterland ausschließlich Motive wie »tobender Wahnsinn« oder »verrückter Müßiggang« fest. In diesen Fällen erwarteten die Angehörigen Verwahrung und nicht Heilung.29 Die Praxis, psychiatrische Anstalten zur längeren Verwahrung zu nutzen, nahmen die Ärzte schon seit den 1860er Jahren kritisch wahr. Mit Wilhelm Griesinger machte der führende Psychiater dieser Zeit darauf aufmerksam, dass der Anstaltsaufenthalt auch kontraproduktiv für die Heilung sein könne und eine spätere Integration in die Welt außerhalb der Anstalt schwieriger wurde, je länger der Aufenthalt dauerte.30 Trotz der sehr unterschiedlichen Erwartungshaltungen bürgerlicher und nicht-bürgerlicher Patientinnen und Patienten an den Anstaltsaufenthalt einte die Begründungen doch eine soziale Komponente. Patientinnen und Patienten aus beiden Herkunftsschichten waren sozial aufgefallen und galten als nicht mehr tragbar für ihr Umfeld, wenn auch jeweils innerhalb ihres ganz unterschiedlichen schichtgebundenen sozialen Referenzrahmens. Im Vergleich fielen die Auffälligkeiten in der bürgerlichen Welt wesentlich kleiner aus. Cornelia Brink stellt zutreffend fest, dass Einweisungen meist sozial motiviert waren und im Einzelnen von den Faktoren sozialer und ökonomischer Status, Verwandtschaftsbeziehungen, Geschlecht, Alter und Erwerbsfähigkeit abhingen.31 Zusammenhänge zwischen Herkunftsschicht, Verständnis von psychiatrischen Anstalten und Arzt-Patient-Verhältnis prägten auch in den 1940er bis 60er Jahren die Einweisungspraxis. Auch die Kategorie Geschlecht war immer präsent. Im Laufe der Studie werden sowohl geschlechtsspezifische Krankheitszuschreibungen als auch geschlechtsspezifisches Verhalten bei Einweisungen von Angehörigen herausgearbeitet. Zudem spielte der Charakter des Psychiaters in der Selbsteinordnung und Expertisezuschreibung der Psychiater Mitte des 20. Jahrhunderts ebenfalls eine Rolle.32 27 Kaufmann, Aufklärung, S. 178 u. 199. 28 Ebd., S. 20. 29 Ebd., S. 245. 30 Zu diesem unter dem Schlagwort Hospitalismus bekannten Phänomen, vgl.: Huppmann, S. 455–502. 31 Brink, S. 116 ff. 32 Vgl. hierzu in dieser Arbeit v. a. das Kapitel »Der Psychiater als Kenner: Diagnoseklassifikationen und das Krankheitsbild Schizophrenie in der NS-Zeit und der frühen Bundes­ republik«

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Sicherheit, Justiz und Polizei In der Abwehr von Gefahren und Herstellung von Sicherheit lag für die Polizei die zentrale Funktion der Anstalt.33 Robert Castel spricht diesbezüglich von einem »Doppelmandat« der Psychiatrie, das neben der medizinischen Funktion – sei sie nun heilen oder im weiteren Sinne pflegen – auch politisch-disziplinäre Aspekte aufwies.34 Die Unterbringung von Geisteskranken resultierte in Preußen bis zur Reichsgründung aus dem Allgemeinen Landrecht (ALR) von 1794. Das ALR sowie auch das preußische Polizeiverwaltungsgesetz (PVG) von 1931, das im Folgenden noch näher erläutert wird, waren nicht nur für Preußen, sondern auch für Nord- und Mitteldeutschland, so auch für Sachsen, maßgeblich.35 Nach dem ALR konnte nur eingewiesen werden, wer vorher gerichtlich entmündigt worden war. Eine Einweisung setzte zwar die Entmündigung voraus, aber eine Entmündigung allein bewirkte nicht automatisch eine Einweisung. Vielmehr führte dieser normalerweise von den Verwandten beantragte Schritt lediglich dazu, dass ein Vormund für die entmündigte Person bestellt wurde. Nur, wenn der Vormund seiner Verantwortung nicht nachkam, wurde die oder der Entmündigte eingewiesen. Der Entschluss zur Einweisung wurde gerichtlich gefasst und polizeilich ausgeführt. Für die Polizei gab es jedoch die Möglichkeit, die gerichtliche Einweisung vorläufig zu umgehen, wenn »Gefahr im Verzug« vorlag.36 Mit einem Ministerialerlass vom 8. Juli 1867 gelangte die Fürsorge für gemeingefährliche Kranke schließlich in den alleinigen Verantwortungsbereich der Ortspolizei.37 Damit begann die Polizei eine zentrale Rolle bei Einweisungen zu spielen. Zwar änderten sich in den nächsten 80 Jahren nach der Reichsgründung zum Teil die Regelungen. Jedoch blieb es der Polizei erlaubt, bei »Gefahr im Verzug« sofort eigenständig einzuweisen. Diese Möglichkeit wurde regelmäßig genutzt, gerade auch um andere kompliziertere Einweisungsregelungen zu umgehen. Zu den wichtigen Veränderungen im 20. Jahrhundert zählt, dass Patientinnen und Patienten für Einweisungen nicht mehr entmündigt werden mussten. Es erfolgten also nicht mehr ausschließlich Entscheidungen über den Kopf der oder des Betroffenen hinweg. Als weitere Neuerung veränderte die Einrichtung von Polikliniken seit der Wende zum 20. Jahrhundert die Position der Patientinnen und Patienten im Einweisungsprozess. Eine Poliklinik war eine Krankenhausabteilung, in der ambulante Untersuchungen durchgeführt wurden. Auch die hier untersuchte Universitätsklinik Greifswald verfügte über eine Poliklinik. In der Weimarer Republik betrieben Krankenversicherungen zahlreiche Polikliniken.38 Die Untersuchung war hier deutlich einfacher als in einer 33 Brink, S. 198. 34 Castel, S. 81. 35 Vgl.: Schwegel, S. 26. 36 Zum ALR gab es hierzu zahlreiche regionale Zusätze: Brink, S. 50. 37 Ebd., S. 52. 38 Ernst, S. 333.

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Heil- und Pflegeanstalt und weniger stigmatisiert.39 Die niedrigere Aufnahmeschwelle führte dazu, dass dort – anders als in den Heil- und Pflegeanstalten des 19. Jahrhunderts – auch die Aufnahme von Patientinnen und Patienten erfolgte, die selbst meinten, dass sie Hilfe benötigten. Das Kriterium, als nicht mehr tragbar qualifiziert zu werden, sei es für die Familie oder für die öffentliche Sicherheit, gab damit nicht mehr so häufig wie zuvor den Ausschlag.40 Einhergehend mit diesem institutionellen Wandel erreichte die Psychiatrie so zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch eine neue Klientel, wie niedrigere Beamte, Lehrer oder Angestellte.41 Der psychiatrische Sektor war damit erstmals für alle Schichten der Bevölkerung zuständig. Allerdings wurde innerhalb der Psychiatrie zweifach entlang der ökonomischen Umstände der Patientin oder des Patienten differenziert. Zum einen wurden die Kranken innerhalb der Klinik oder Anstalt entsprechend ihrer Zahlungsfähigkeit in drei verschiedene Versorgungsklassen eingeteilt. Zum anderen gingen besser gestellte Patientinnen und Patienten sehr oft in private Einrichtungen. Entgegen der mit den Polikliniken geförderten Tendenz, die Einweisungsschwelle für Hilfesuchende zu senken, gewann gegen Ende der Weimarer Republik die Rolle der Polizei bei Einweisung wegen Selbst- oder Fremdgefährdung an Bedeutung. Dieser Machtzuwachs geht zurück auf die Einführung des preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes (PVG) vom 1. Juni 1931, das auch in der NS-Zeit weiter in Kraft blieb.42 »Polizeibehörden konnten aufgrund eines ärztlichen (nicht notwendig psychiatrischen) Attestes ›gemeingefährlichen‹ Geisteskranken die persönliche Freiheit durch eine zwangsweise Unterbringung in einer Anstalt entziehen, sofern ›diese Maßnahme erforderlich ist entweder zum eigenen Schutze dieser Personen oder zur Beseitigung einer bereits eingetretenen Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung oder zur Abwehr einer unmittelbar bevorstehenden polizeilichen Gefahr‹.«43 Es war daher erlaubt, dass die Polizei der ärztlichen Diagnose zuvorkam und Menschen ohne ärztliche Anhörung in die Anstalt brachte. Die Heil- und Pflegeanstalten mussten aufnehmen, wenn ein verbeamteter Arzt es schriftlich für nötig erklärte und die Polizeibehörde es schriftlich anordnete. Bei allen Einweisungsfällen, in denen mit Gefahr argumentiert wurde, spielte von nun an die Polizei eine­

39 Wilhelm Griesinger kämpfte bereits in den 1860er Jahren in der Charité in Berlin dafür, die Aufnahmeprozedur in der Universitätsklinik zu erleichtern und aus der Hand der Polizei in die der Ärzte zu verlegen. Vgl. hierzu: Engstrom, Psychiatry, S. 70. 40 Ebd., S. 191. 41 Brink, S. 194. 42 In Bayern war der dem PVG vergleichbare Artikel 80/II des bayerischen Polizeistrafgesetzbuches (PStGB) maßgeblich. Zur Reichweite preußischer Polizeiregelungen etwa auch für Sachsen sowie zur eigenständigeren Polizeitradition in den süddeutschen Staaten, die jedoch im Punkt »Gefahrenabwehr« keine größeren Unterschiede zur preußischen Tradition erkennen lässt, vgl.: Schwegel, S.25 f. 43 Brink, S. 259.

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ausschlaggebende Rolle. Der Einfluss der Psychiater war jetzt in der Zwangseinweisung geringer als derjenige von Polizei und Amtsärzten. Während also die polizeiliche Einweisung bis zu Beginn des »Dritten Reiches« deutlich einfacher geworden war, wurde es schwieriger hilfsbedürftigen Menschen einen Platz in einer Anstalt zu verschaffen. Die Vergabe von Anstaltsplätzen wurde zunehmend im Rahmen von Kostendebatten diskutiert. Politiker und Experten stellten in Frage, ob es sich lohne für »Anstaltsbedürftige« hohe Ausgaben in Kauf zu nehmen. Bei Selbstgefährdung oder bei Behandlungsbedürftigkeit war ein Einschreiten im Interesse der Gesellschaft nicht mehr vorgesehen.44 Die Wirtschaftskrise führte also bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten zur Umsetzung von Konzepten, die auf die Sicherheit Anderer, und nicht auf die Hilfe für den erkrankten Menschen abzielten.45 Diese Verschiebung ist grundlegend für ein Verständnis der Zwangseinweisungen während des Zweiten Weltkriegs.

3. Psychiatrie als Lieferant für staatlich angewandtes Wissen Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren Psychiater als Experten auf mehrfache Weise mit dem Staat verknüpft. Neben der schon länger ihnen obliegenden Aufgabe der Feststellung von Unzurechnungsfähigkeit in Gerichtsverfahren erhielt ihr Wissen seit den 1880er Jahren auch für sozialversicherungsrechtliche Gutachten Relevanz. Zudem erlangte psychiatrisches Wissen als Kriegswissen Bedeutung. Psychiater als Gutachter Gerichtsmedizinische Gutachten zur Feststellung von Unzurechnungsfähigkeit sind bereits in der »Peinlichen Halsgerichtsordnung« Kaiser Karls V. von 1532 bekannt. Bis ins 18.  Jahrhundert galten Kindheit, Blödsinnigkeit und Krankheit als Schuldausschließungsgründe. Unter Krankheit fielen dabei auch Tobsucht und Wahnsinn. Ende des 18.  Jahrhunderts wurde schließlich die Willensfreiheit als zentrales Unterscheidungsmerkmal der Zurechnungsfähigkeit eingeführt.46 Im letzten Drittel des 19.  Jahrhunderts trug die Gutachtertätigkeit im Zuge der Herausbildung der psychiatrischen Universitätskliniken zur Bildung einer eigenständigen psychiatrischen Profession bei. Für die psy­chia­ tri­schen Universitätskliniken stellte die Begutachtung ein wichtiges Tätigkeitsfeld dar.47 Ein weiteres Wirkungsfeld für die junge Psychiatrie entstand mit 44 Detailliert hierzu, vgl.: ebd., S. 263. 45 Dies stellt Elke Hauschildt auch für die eng mit den psychiatrischen Anstalten zusammenhängenden Trinkerheilanstalten fest: Hauschildt, S. 105. 46 Kaufmann, Aufklärung, S. 306 ff. 47 Engstrom, Psychiatry, S. 195.

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der Einführung der Sozialversicherung. Der Staat benötigte sie für sozialversicherungsrechtliche Gutachten. Während sich das Versprechen der Heilbarkeit auch durch die neu etablierten Universitätskliniken nicht einlösen ließ,48 erwies sich die Unterscheidung und Zuordnung von psychiatrischen Krankheiten als höchst erfolgreiches Betätigungsfeld.49 Das Versicherungssystem war schließlich auf Diagnosen angewiesen. So etablierte sich etwa Hermann O ­ ppenheimers Konzept der traumatischen Neurose als eine staatlich anerkannte Diagnose. Die Neurose galt als die sichtbare Folge von somatischen Verletzungen des Gehirns oder des zentralen Nervensystems.50 Diese Diagnose wurde während der Hochindustrialisierung in der Unfallversicherung häufig genutzt: »Five years after Bismarck’s accident insurance legislation of 1884 gave financial compensation to modernity’s most visible victims, survivors of industrial and railway accidents, the Reich’s Insurance Office extended this beneficence to workers who suffered from the mental and nervous effects of industrial accidents.«51 Die Diagnose der traumatischen Neurose war jedoch sozialrechtlich nicht nur in Friedenszeiten von Belang, sondern spielte auch im Kontext von Kriegen eine Rolle. Psychiatrisches Wissen als Kriegswissen Erstmals zeigte das Militär im deutsch-französischen Krieg Interesse an der Psychiatrie. Im Bereich von psychiatrischem Wissen als Kriegswissen verflochten sich die Anliegen von Psychiatrie und Staat auf das Engste.52 Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs hatte dieses Interesse in dreifacher Hinsicht Folgen. Erstens mussten Straf-, Besserungs- und auch Heil- und Pflegeanstalten die Rekrutierungsbehörden über die Aufnahmen von Patienten informieren. Im Jahr 1906 gab es bereits eine umfassende Meldepflicht für alle sogenannten »Irrenanstalten«. Das militärische Interesse trug somit zur dichteren Vernetzung der psychiatrischen Einrichtungen mit anderen staatlichen Einrichtungen bei, denn auch die Vernetzung in nicht-militärischen Bereichen erhielt durch die Melde­pflicht einen Schub, etwa mit Fürsorgeschulen und zivilen Gerichten.53 Zweitens stammte aus der Militärpsychologie eine Erfindung, die Anwendung weit über dieses Feld hinaus fand: Der Intelligenztest von Ernst Rüdin (1874–1952). Die dadurch mögliche Zuschreibung von Krankheiten besaß  –­ 48 Die Problematik der Heilbarkeit hat eine lange Vorgeschichte und zieht sich durch die gesamte Psychiatriegeschichte, gleich welcher geographische Raum betrachtet wird, vgl. hierzu u. a.: Goldstein, Console. 49 Engstrom, Psychiatry, S. 167. 50 Es handelte sich bei der Diagnose traumatische Neurose daher nicht um eine psychische Folge eines Unfalls oder Ereignisses, wie Trauma seit den 1970er Jahren im Zusammenhang mit den Kriegsheimkehrern aus Vietnam verstanden wird. Vgl. hierzu im Detail: Lerner, Men. 51 Ders., Psychiatry, S. 14. 52 Vgl. hierzu: Quinkert u. a., S. 12. 53 Lengwiler, S. 245 u. 253 f.

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gerade angesichts der kaum vorhandenen Heilungserfolge – für die Akzeptanz der Psychiatrie einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert.54 Neben der von der Militärpsychiatrie ausgehenden Vernetzung von Staat und ziviler Psychiatrie beeinflussten, drittens, die ursprünglich »zivilen« Diagnosen der traumatischen Neurose und der Hysterie die Militärpsychiatrie. Im Ersten Weltkrieg tauchten erstmals und unerwartet sogenannte Kriegszitterer auf; es wurde von Kriegsneurosen, Kriegshysterie und Nervenschocks gesprochen.55 Dies Bezeichnungen verweisen bereits auf ein Nebeneinander verschiedener Erklärungen dieses Phänomens mit sehr unterschiedlichen Folgen für die Betroffenen. Ob der Zustand der Soldaten als Hysterie oder als Nervenschock und damit verbunden als traumatische Neurose definiert wurde, machte einen erheblichen Unterschied für die Behandlung während des Krieges und für die Anerkennung von Invalidenrente nach dem Krieg. Unter den deutschen Psychiatern und Neurologen herrschte Uneinigkeit über die Erklärung der sogenannten Kriegszitterer. Auf der einen Seite entwickelte sich eine Art psychiatrische »Dolchstoßlegende«, nach der die Krankheitssymptome wunschbedingt und auf einen mangelnden Willen zum Krieg zurückzuführen seien.56 Die erkrankten Soldaten verweigerten demnach ihre Kampfkraft für den Sieg und schwächten so von innen das kaiserliche Heer. Die entsprechende Diagnose lautete Hysterie. Auf der anderen Seite stand H ­ ermann Oppenheimers Diagnose der traumatischen Neurose, die die Symptome als direkte physikalisch indizierte Wirkung eines Schocks beschrieb.57 Trotz dieser Kontroverse blieb Oppenheimers Diagnose für die Gewährung von Invalidenrente für Kriegsheimkehrer, die oft noch Jahre oder Jahrzehnte unter den psychischen Folgen des Krieges litten, bis zu seinem Tod 1926 ausschlaggebend. Dann wurde sie endgültig durch die Diagnose Hysterie abgelöst.58 Die Tat­sache, dass die versicherungsrechtlich bereits vor dem Krieg anerkannte­ Diagnose mit dem Krieg in Frage gestellt wurde und dann nach dem Tod ihres Erfinders auch für die Sozialversicherungen kaum mehr eine Rolle spielte, erklärt Paul Lerner überzeugend als spezifisch deutsche Entwicklung, die sozialrassistische Elemente eng an die Vorstellung von Nation und Staat koppelte. Da die traumatische Neurose versicherungsrechtlich anerkannt wurde, führte sie bei entsprechenden Beschwerden zu Rentenansprüchen der Soldaten aus der 54 Ebd., S. 251. 55 Quinkert u. a., S. 14 ff. 56 Auf diese Deutung gingen auch die drastischen Behandlungsmethoden zurück, die mit­ allen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchten, den Soldaten zurück an die Front zu bringen. Diese Behandlungen werden in der Forschung bis heute unterschiedlich bewertet, vgl. hierzu: ebd. 57 Der aus dem Altgriechischen stammende Begriff Trauma bedeutet ursprünglich Verwundung/Wunde und wurde in diesem somatischen Sinne auch bis ins 20. Jahrhundert benutzt. Bei Oppenheimer ging es in diesem Sinne um eine Verwundung des Nervensystems, deren Folgen die Erscheinungsform einer Neurose hatten. 58 Lerner, Men, S. 9.

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Arbeiter­k lasse. Diese wurden im nationalistisch aufgeladenen Klima des Krieges immer häufiger bezichtigt, »Rentenneurotiker« zu sein.59 Das heißt, ihnen wurde Hysterie im Krieg aus der doppelten Motivation unterstellt, nicht kämpfen zu wollen und zu Unrecht Rente zu beanspruchen. Obwohl die sogenannten »Rentenneurotiker« volkswirtschaftlich völlig irrelevant waren, vertraten die Psychiater des Kaiserreichs generell die Position, dass die Sozialversicherung für Arbeiter kontraproduktiv und unangebracht sei. Wie Stefanie Neuner zeigt, wurde der Zusammenhang von sozialdarwinistischen Arbeitsvorstellungen, Psychiatrie und Sozialversicherungssystem zunehmend enger. In der Reichsversicherungsordnung der Weimarer Republik war Gesundheit schließlich als Arbeitsfähigkeit definiert, nicht als körperliche Unversehrtheit, gleichzeitig konnte sogenannte »Arbeitsscheue« mit einer Haftstrafe geahndet werden.60 Die als Rentenneurotiker verunglimpften Erkrankten wurden in Weimar mehrheitlich als sozialpolitisches Phänomen gesehen. Damit im Einklang erklärte die herrschende psychiatrische Lehre, dass der Sozialstaat Raum für »psychopathologische Schmarotzer« biete. Dagegen verfolgten die Psychotherapeuten der Weimarer Republik den umgekehrten Erklärungsansatz, dass die neurotischen Störungen Folgen der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen seien.61 Im Nationalsozialismus spielte dieser psychotherapeutische Erklärungsansatz keine Rolle mehr und ab 1933 blieben Versorgungsanträge auf Grund von psychischen Schädigungen nahezu chancenlos. Psychiater und Politiker arbeiteten in der Versorgungspolitik nun eng zusammen.62 Schließlich erhielten als­ »asozial« klassifizierte Menschen ab 1939 von den Arbeitsämtern auch keine staatlichen Leistungen mehr.63 Die Zusammenhänge von Psychiatrie, Krieg und Arbeit sollten für die Einweisungspraxis 1941 bis 1963 in zweifacher Weise erneut wichtig werden. Zum einen wollte das nationalsozialistische Regime die »Fehler« des Kaiserreichs im Umgang mit erkrankten Soldaten vermeiden. Soldaten sollten möglichst lange ohne Rücksicht auf psychische Belastungen und deren körperliche Auswirkungen an der Front behalten werden. Die im Zweiten Weltkrieg dennoch stattgefundenen Einweisungen von Soldaten gilt es vor diesem Hintergrund zu analysieren. Zum anderen blieb die Diagnose »Rentenneurose« von Bedeutung. Darüber hinaus spielte das Verhältnis der Patientinnen und Patienten zu ihrer Arbeit sowie die Einschätzung von Arbeitswille und -fähigkeit für die Einweisungspraxis auf unterschiedliche Weise in der Mitte des 20. Jahrhundert eine zentrale Rolle.

59 Ebd., S. 32. 60 Neuner, S. 71 u. 77. 61 Ebd., S. 149. 62 Ebd., S. 166 u. 253. 63 Ebd., S. 298.

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4. Psychiatrisches Wissen als Deutungsfolie für gesellschaftliche Probleme Seit dem Kaiserreich diente psychiatrisches Wissen zur Deutung gesellschaftlicher Entwicklungen und Selbstwahrnehmungen. Hierbei können zwei Diskurse unterschieden werden. In der bürgerlichen Welt verhandelte man Angst, Aufregung und Anpassungsschwierigkeiten. In der Diagnostik drückte sich dies vor allem in den Diagnosen Hysterie und Neurasthenie aus. Dass hier keine eindeutige Zuordnung möglich ist, zeigt der bereits als Konkurrenzdiagnose zur traumatischen Neurose erwähnte Hysteriediskurs im Kriegszusammenhang. Dieser betraf Männer aus der Unterschicht.64 Im Anschluss an Volker Roelcke wird der Hysterie- und Neurastheniediskurs der Bürgerschicht auch als Selbstreflexion interpretiert.65 Erneut beteiligten sich bürgerliche Schichten an der Deutung der eigenen Erkrankungen und interagierten dabei eng mit den Ärzten. Die Wahrnehmungen von Arzt und Patientin und Patient lagen also in der bürgerlichen Welt weiterhin relativ eng beieinander.66 So stellt Jan G ­ oldstein insgesamt für Frankreich und Deutschland im 18.  und 19.  Jahrhundert fest: »Thus scientific psychology ran  a double track, both academic and popular, from the very beginning is, on reflection, not very surprisingly.«67 Bürgerliche Patientinnen und Patienten mit Beschwerden wie Hysterie und Neurasthenie wurden jedoch selten in den hier untersuchten staatlichen Heil- und Pflege­ anstalten behandelt. Wenn sie sich dort behandeln ließen, dann überproportional häufig in der innerhalb der Anstalten bessergestellten ersten oder zweiten Klasse. Zumeist gingen sie aber in private Sanatorien.68 Für die Entwicklung der staatlichen psychiatrischen Anstalten wesentlich war hingegen die psychiatrische Identifizierung und Deutung von »Problemen« der »Unterschicht«. Hierbei flossen drei wichtige medizinische Vorstellungen zusammen: die psychiatrische Lehre der Degeneration von Bénédict Augustin Morel (1809–1873), Emil Kraepelins (1856–1926) biologische Vorstellung von psychiatrischen Krankheiten und die Wiederentdeckung der Mendelschen 64 Für eine detaillierte Darstellung dieser Diagnosen im Kaiserreich vgl. die Arbeiten von Paul Lerner und Doris Kaufmann, für die angelsächsische Debatte, die mehr in die Tiefe geht,­ Jonathan Andrews und Anne Digby: Lerner, Men; Kaufmann, Aufklärung; Andrews u. Digby. 65 Roelcke, Krankheit, S. 30. 66 Zum Diskurs um Neurasthenie als Vorgänger von »Stress« und zur Diskussion um die Geschlechterverteilung und die Rolle von Geschlecht bei Hysterie und Neurasthenie vgl. zusammenfassend u. a.: Kury, S. 46 ff.; Nolte, S. 184. 67 Am Beispiel des Mesmerismus, einer zwischen Volksglaube und Wissenschaft angesiedelten Lehre des 19. Jahrhunderts, die psychologische Reaktionen durch im Körper verlaufende magnetische Netze erklärte, der in Frankreich verboten war, in Preußen aber erlaubt, zeigt Goldstein, dass dies in Deutschland besonders begünstigt war. Goldstein, Psyche, S. 139 ff. u. 153. 68 Nolte, S. 186.

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Vererbungslehre um 1900.69 1886 veröffentlichte Kraepelin seine Klassifikation psychiatrischer Krankheiten, die auf der Annahme basierte, die einzelnen Krankheitsbilder seien als klar unterscheidbare biologische Einheiten aufzufassen.70 Dieser Ansatz entfaltete im Kaiserreich und in der Weimarer Republik große Wirkungskraft als wichtigstes, wenn auch nie allein gebräuchliches Dia­ gno­sesystem. Erst 1932 ersetzte der sogenannte Würzburger Schlüssel K ­ raepelins Einteilung, der zwar die Klassifikation verfeinerte, aber Kraepelins Annahme der biologisch separierbaren Einheiten weiter verfestigte. Jedoch führte diese Prämisse gemeinsam mit der Vererbungslehre noch zu keinen eindeutigen Konsequenzen für den Umgang und die Bewertung von psychiatrischen Krankheiten. Im 19. Jahrhundert konnte aus diesen Annahmen potentiell noch ein verständnisvollerer Umgang mit den Kranken resultieren. Denn im Gegensatz zum vorher gültigen religiösen Referenzrahmen wurden die Krankheiten nicht mehr zwingend als Zeichen von Schuld und Erbsünde interpretiert.71 Diese Deutungsweise schwand jedoch im Kaiserreich mit der Aneignung der Degenerationslehre. Morel beschrieb die unter leichteren psychiatrischen Störungen leidenden Patientinnen und Patienten als degeneriert, als »Exzentriker, Stimmungslabile, Unzuverlässige«.72 Sein Erklärungsansatz wies dabei noch deutlich anthropologisch-theologische Züge auf, die in der deutschen Rezeption der Degenerationslehre keinerlei Rolle mehr spielten. So sah Morel selbst noch die menschliche Degeneration als Konsequenz der Erbsünde. Als Detail von Bedeutung blieb dagegen die Annahme, dass die Degeneration zwar nicht zum schnellen Aussterben führen würde, aber fortschreite.73 Entsprechend handele es sich um ein gesellschaftliches Problem, das eines medizinischen Eingriffes bedürfe – so lautete das daraus abzuleitende Argumentationsmuster. Um 1900 war in allen europäischen Ländern sowie den USA ein Diskurs etabliert, der die »Unterschicht« als Gefahr für das ganze »Volk« brandmarkte.74 Die »Unterschicht« galt nahezu insgesamt als degeneriert, ohne dass immer näher qualifiziert wurde, wer überhaupt unter dieses Etikett fallen sollte. Zumindest Anhaltspunkte gibt hierzu ein zentrales literarisches Referenzwerk. Es stammte von dem Amerikaner Henry Herbert Goddard (1866–1957) und wurde 1914 ins Deutsche übersetzt. Sein Roman »Die Kallikak-Familie« erzählte eine Art Abstammungslegende für Verbrecher, Prostituierte, Alkoholiker und verarmte Familien.75 69 Die mendelsche Vererbungslehre wurde erstmals 1866 publiziert, entfaltete ihre Auswirkungen im Bereich Psychiatrie aber erst um 1900. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext in Frankreich, insbesondere zum Zusammenhang der Lehren von Pinel, Esqirol und Morel und der französischen Entwicklung der Degenerationslehre, vgl.: Weber, »Insanity«, S. 16 ff. 70 Roelcke, Etablierung, S. 112. 71 Eirund, S. 96. 72 Weber, »Insanity«, S. 19. 73 Ebd. 74 Roelcke, Etablierung, S. 119. 75 Ayaß, »Asoziale«, S. 13.

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Gleichzeitig setzte sich in der Diskussion über Unterstützungswürdigkeit einzelner Antragsteller zu Beginn des 19.  Jahrhunderts vor allem in der Fürsorge im Zusammenhang mit der Unterschicht der Begriff »asozial« durch.76 Die Psychiatrie Kraepelins und seines Nachfolgers Ernst Rüdins erklärte als abweichend beurteilte Verhaltensweisen vor allem in der Unterschicht als ver­ erbliche Degeneration, die sich in einzelnen psychiatrischen Krankheitsbildern feststellen ließe. Die Diagnosen lauteten oft »Psychopathie« und griffen zunehmend den Begriff »asozial« auf, so dass sich etwa »asozialer Psychopath« zu einer gebräuchlichen Diagnose entwickelte. Sogenannte »Psychopathen« galten als degeneriert und erblich vorbelastet. Dies wurde vermehrt mit dem Begriff der Konstitution gefasst. »Psychopathen« galten jedoch nicht als erbkrank.77 »Psychopathie« wurde mehrheitlich gar nicht als Krankheit gefasst, genetische Faktoren wurden jedoch als sehr wichtig angesehen. Rüdin, ein Schüler­ Kraepelins, stieg in Europa zum bedeutendsten Vertreter der psychiatrischen Genetik auf, setzte sich in Deutschland aber erst im Nationalsozialismus gegen weiter bestehende andere Forschungsmeinungen durch.78 Auch für die Psy­ chia­ter selbst besaß die genetische Erklärung große Bedeutung, da eine genetische Ursache Prophylaxe durch Eugenik ermöglichte. Ursprünglich wurde mit der Degeneration vor allem die sogenannte »Psychopathie« in Zusammenhang gebracht, die recht schwammig Abweichungen im alltäglichen Verhalten beschrieb, wie schon Morel sie nannte. Rüdin verfocht aber zusätzlich eine direkte genetische Ursache zahlreicher anderer Krankheiten. Unter anderem trug er mit seinen Forschungen maßgeblich dazu bei, dass Schizophrenie im Nationalsozialismus als Erbkrankheit eingestuft wurde, obwohl er hierfür keine empirische Grundlage liefern konnte.79 In dreifacher Hinsicht wirkten die skizzierten psychiatrischen Gesellschaftsdeutungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch bei Einweisungen im Zeitraum 1941 bis 1963: Erstens blieben etablierte Diagnosen von großer Bedeutung. Dies betraf sowohl die Zuschreibungen von »Degeneration«, »Psychopathie« und »Asozialität« insbesondere bei Patientinnen und Patienten aus unteren Schichten als auch die Selbstdeutungen bürgerlicher Eingewiesener und das damit einhergehende spezifische ArztPatient-Verhältnis. Zweitens verdeutlichen diese Konzepte die Bedeutung von Transfer. Wissenschaftlicher Transfer war erneut wichtig für Diskussionen über 76 Eberle, S. 209. 77 Bis zum Nationalsozialismus existierten verschiedene Konstitutionslehren nebeneinander, die sich alle um die Einteilung der Menschen in Typen drehten und die Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten erklären sollten. Dabei griffen sie zum Teil auf antike Versatz­stücke Hippokrates’ und Galens zurück, wie etwa in der im Nationalsozialismus erfolgreichen Konstitutionspsychologie Ernst Kretschmers (1888–1964). 78 Ernst Rüdin leitete ab 1931 auch die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie (KaiserWilhelm-Institut) in München. 79 Roelcke, Etablierung, S. 121.

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die Rolle der Psychiatrie in der Gesellschaft in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik und der DDR. Drittens war der Würzburger Schlüssel als Diagnose­ modell je nach Klinik noch weit über das Kriegsende hinaus maßgeblich für die Diagnose des eingewiesenen Menschen.

5. Veränderungen in der NS-Zeit bis 1941 und Beginn der Krankenmorde Das konzeptionelle Amalgam aus Vererbungslehre und sozialdarwinistischer Lesart der Degenerationslehre erwies sich in der NS-Zeit als höchst folgenreich. In Kombination mit der durch die Professionalisierung entstandenen Staatsnähe der Psychiatrie und der Diskussion um die Kosten der Anstalten für den Sozialstaat trug es zum Ausschluss Kranker und sogenannter »Asozialer« aus der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« bei. Bis Kriegsbeginn gab es im Nationalsozialismus für die Einweisungspraxis wichtige Neuerungen. Hier ist zunächst das am 24. November 1933 verabschiedete »Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über die Maßregeln der Sicherung und Besserung (GgGSB)« zu nennen.80 Es führte eine Regelung zur Unterbringung von unzurechnungsfähigen Straftätern in Heil- und Pflegeanstalten ein. § 42b des Reichstrafgesetzbuches (RStGB) schrieb die Unterbringung von unzurechnungsfähigen Straftätern dann vor, »wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert«. Dies war eine weite Formulierung, die auch bei kleinsten Gesetzesübertretungen eine Unterbringung in der forensischen Psychiatrie ermöglichte und Unzurechnungsfähigkeit grundsätzlich zu Ungunsten der Patientin oder des Patienten auslegte.81 Bis zu diesem Gesetz wurde die Feststellung von Unzurechnungsfähigkeit (§ 51 RStGB) als Schutz der »Geisteskranken« vor Strafe aufgefasst.82 Mit § 42b RStGB wurde diese Schutzfunktion ausgehebelt und die sogenannte Sicherheitsverwahrung eingeführt, also der bis heute angewandte »doppelte Strafvollzug« etabliert. Zwar bot dies non-konformen Richtern auch die Möglichkeit, Unzurechnungsfähigkeit als Schutz der Angeklagten einzusetzen. Allerdings wurde dies auf dramatische Weise durch den Mord an forensischen Psychiatriepatienten außer Kraft gesetzt.83 Außerdem wurde bereits am 14.  Juli 1933 das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (GzVeN) erlassen und trat zum 1. Januar 1934 in Kraft.84 80 Wagner, Kriminalisten, S. 56 ff. 81 § 42b blieb in dieser Form bis 1975 in Kraft. Dann wurde mit dem Nachfolgeparagraphen § 63, der den § 42b abgelöst hat, die Unterbringung formal erschwert. Seit diesem Zeitpunkt müssen erhebliche Straftaten vorliegen und es muss eine Gesamtwürdigung aller Umstände stattfinden. Vgl.: http://dejure.org/gesetze/StGB/63.html (letzter Zugriff: 27.1.2014) 82 Brink, S. 275. 83 Ebd.; Aly, Belasteten, S. 214. 84 Ebd.

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Unter das Gesetz fielen folgende Erkrankungen: »schwere erbliche körperliche Missbildungen«, »erbliche Blindheit und Taubheit«, »erblicher Veitstanz«,85 »erbliche Fallsucht«,86 »angeborener Schwachsinn«, »manisch-depressives Irresein« (MDI) und Schizophrenie.87 Als Zusatz zu den genannten Krankheiten wurde im GzVeN auch die Möglichkeit eröffnet, zu sterilisieren, »wer an schwerem Alkoholismus leidet«, obwohl Alkoholismus auch in der NS-Zeit nicht als erblich eingestuft wurde.88 Vor der Sterilisation fand eine Begutachtung durch die neu eingerichteten Erbgesundheitsgerichte statt. Neben den Sterilisationsgutachten betraf die nationalsozialistische Krankheitsauffassung zudem Ehegutachten, auch wenn es bereits vorher möglich war, sich wegen einer Geisteskrankheit des Ehepartners scheiden zu lassen. Mit dem »Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitssystems« vom April 1935 wurden zudem flächendeckend Gesundheitsämter eingerichtet. Bereits 1938 gab es 750 einheitlich ausgestattete Behörden. Damit ging eine ganz erhebliche Aufwertung des Amtsarztes einher. Das so geschaffene dichte Netz trug zur unkomplizierten und schnellen Durchführung von Einweisungen aus Gefahrengründen wesentlich bei. Denn Amtsärzte stellten normalerweise das ärztliche Attest für Zwangseinweisungen aus. Zudem waren die Gesundheitsämter während des Zweiten Weltkrieges oft zugleich für die Krankenhausverwaltung zuständig.89 Einweisungen in Heil- und Pflegeanstalten fanden wiederum regelmäßig aus Krankenhäusern heraus statt. Auch in der Nachkriegszeit blieb das Netz von Gesundheitsämtern erhalten, da die Alliierten es nicht als spezifisch nationalsozialistisch einstuften. In der DDR wurden mit der Gebietsreform von 1952 auch die Gesundheitsämter neu geordnet, blieben aber in hoher Dichte bestehen.90 Schließlich führte der NS-Staat auf der einen Seite Unterstützungsmaßnahmen für »erbgesunde« und »rassenreine« Reichsbürger ein, etwa Ehestandsdarlehen, Kinderbeihilfen, Kindererholung und Ausbildungshilfen. Auf der anderen Seite schloss er radikal aus. Neben Arbeitshäusern und Konzentrationslagern dienten hierzu auch die Psychiatrie und ihre Anstalten. Mit Kriegsbeginn begann die Ermordung von Psychiatriepatienten. In den deutsch-polnischen Randgebieten wurden Patientinnen und Patienten der Anstalten ermordet, auch um Platz für Umsiedler aus Estland und Lettland zu schaffen, die im Zuge der Umsiedlungspläne der Nationalsozialisten nun inner85 Heute: Chorea Huntington. 86 Heute: Epilepsie. 87 Ernst Rüdin, der wesentlich zum Verständnis von Schizophrenie als Erbkrankheit beigetragen hatte, war auch an dem Kommentar zu diesem Gesetz beteiligt, obwohl er wusste, dass das Gesetz nicht auf empirischen Daten der Forschung beruhte. Roelcke, Etablierung, S. 129. 88 Hauschildt, S. 142. 89 In München war dies erst ab 1944 der Fall, vgl.: Christians, S. 57 u. 59. 90 Vgl.: Süß, »Volkskörper, S. 36; Ellerbrock, S. 159; Speziell zur Neuordnung und zur Psychiatrie, vgl.: Hanrath, S. 351.

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halb des Reiches leben sollten und unter der Parole »Heim ins Reich« in Pommern ankamen.91 Ebenfalls mit Kriegsbeginn begann Ende 1939 in den Anstalten des »Altreichs« der Mord an Kindern. Die »Aktion T4«, der staatlich organisierte Mord an erwachsenen Patientinnen und Patienten, setzte um die Jahreswende 1939/1940 ein. Zunächst wurde er offiziell am 23. August 1941 eingestellt, wohl auch durch die öffentlichen Proteste Bischofs von Galen im Münsterland bedingt, aber bereits ab August 1942 wieder aufgenommen. Diese zweite Phase der Krankenmorde verlief jedoch ohne zentrale Steuerung.92 Spätestens seit Einstellung der »Aktion T4« gab es in der Bevölkerung Wissen um die Krankenmorde. Wie Heinz Faulstich und Götz Aly feststellen, waren trotzdem weiterhin Angehörige oft mitbeteiligt, wenn Familienmitglieder länger in den Anstalten verblieben.93 Aber auch unter diesen Bedingungen funktionierten die Anstalten weiter und nahmen neue Patientinnen und Patienten auf, allerdings unter spezifischen Voraussetzungen: Erstens vor dem Hintergrund, dass die Krankenmorde dezentralisiert weitergingen und seit spätestens 1941 in der Gesellschaft bekannt waren. Zweitens sollten Einweisungen aus Sicherheitsgründen ganz klar Vorrang haben und Patientinnen und Patienten, die nicht als Gefahr für die Gemeinschaft eingewiesen worden waren, wenn möglich entlassen werden.94 Wer für die Kosten der polizeilich als gemeingefährlich eingewiesenen Menschen zuständig war, blieb dabei zunächst unklar. In Frage kamen die öffentliche Fürsorge, Krankenkassen und die Polizei.95 1942 wurde diese Unklarheit mit dem sogenannten »Halbierungserlass« beseitigt. Dieser legte fest, dass Krankenkassen und Fürsorgeverbände jeweils die Hälfte der Kosten tragen mussten, ohne Berücksichtigung des spezifischen Einweisungsgrundes im Einzelfall.96 Drittens gab es eine massive Propaganda zum Thema Psychiatrie und zur sogenannten »Euthanasie«, die vor allem über das Medium Film sehr viele Menschen erreichte.97

91 Betroffen waren als erstes Patientinnen und Patienten aus Danzig, Gdingen, Swinemünde, Stettin, vgl.: Rieß, S. 127–145. 92 Zusammenfassend: Pohl, detailliert zu den dezentralen Krankenmorden: ebd., S. 30f; Süß, »Volkskörper«, S. 320 ff. 93 Aly, Belasteten, S. 281; Faulstich, Irrenfürsorge, S. 327. 94 Vgl. Götz Aly zu der Möglichkeit zur Ermordung bestimmte Patientinnen und Patienten­ sogar noch in den Zwischenanstalten zu entlassen: Aly, Belasteten, S. 281. 95 Brink, S. 255. 96 Ebd., S. 386, Fußnote 58. 97 Benzenhöfer u. Eckart; Roth.

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Kapitel II: Staat und Psychiatrie – Rahmenbedingungen und Einweisungsentscheidungen

Als Martina R. im Frühjahr 1946 eingewiesen wurde, gab die Schwiegermutter für den Zustand der Neupatientin eine Erklärung zu den Akten, die auf persönliche Schicksalsschläge verwies und diese unmittelbar aus zeithistorischen Bedingungen ableitete. Wie aber stellte sich die Situation für die Betroffene selbst dar? M ­ artina R. schilderte bei ihrer Aufnahme in die LHA Marburg folgendes Szenario: »Mein Mann ist seit dem 14. Mai [1945, d. Vf.] in einem politischen Lager, wir mussten Anfang Juli aus dem Haus heraus, wir wohnen in [Gießen, d. Vf.]. Ich habe meine Kinder nach [Marburg, d. Vf.] geben können u. ich habe dann noch aus dem Hause rausgeräumt, was ich räumen konnte. Das Jahr vorher hatte ich eine Fehlgeburt u. war körperl. sehr erledigt. Zur Zeit der Räumung war ich im 3. Monat, mein jüngstes ist im Dez. geboren. Danach bin ich nach [Marburg, d. Vf.] gegangen. Ich möchte aber unbedingt nach [Gießen, d. Vf.] zurückgehen. Wenn ich 8 Wochen fort bin, erlischt mein Zuzugsrecht. Ich will mir ein Zimmer nehmen. Wenn ich eine Unterstützung beanspruchen muss, kommt auch nur [Gießen, d. Vf.] in Frage. (Wann hat es angefangen, dass sie mit den Dingen schlechter fertig wurden?) Ich quäle mich schon die ganze Zeit rum. Die ersten 3 Monate hörte ich überh. nichts von m. Mann u. offiziell habe ich jetzt noch keine Nachr. von ihm.«1

Dieser Verweis auf Status- und Wohnungsproblematik deckt sich nicht nur mit den Angaben der Schwiegermutter, sondern war spezifisch für Aufnahmen in den ersten Nachkriegsjahren. Martina R. hatte einen zweifachen Statusverlust erlitten. Wie schon zu Beginn der Einleitung geschildert, hatte die Familie der Patientin ihr Vermögen verloren. Außerdem war ihr Mann, der als SS-Offizier Ansehen und Macht genossen hatte, mit dem Kriegsende sofort von den Amerikanern gefangen genommen worden. Unmittelbar damit hing die Beschlagnahmung des Hauses zusammen. Die Wohnungssuche, die vorerst damit endete, dass die Patientin mit ihren Kindern zu ihrer Schwiegermutter zog, war ein weit verbreitetes Problem. Besonders dringlich war die Situation oftmals für die Vertriebenen,2 die in den Jahren 1945 bis 1947 häufig unter den Eingewiesenen zu finden sind. Dies war dadurch bedingt, dass sie – anders als Martina R. – nicht unbedingt Verwandte oder Bekannte an ihren neuen Wohnorten hatten. 1 LHA Marburg, Patientenakte Sign. 16K10740F, Eintrag v. 15.3.1946, LWV Hessen, 16. 2 Im Folgenden wird der Begriff Vertriebene benutzt, auch wenn er nicht immer zugleich die zeitgenössische Wortwahl war. Die Begriffswahl impliziert keine Bewertung.

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Dieses Kapitel verfolgt die Wechselwirkungen solch zeitspezifischer Bedingungen mit der Einweisungspraxis, indem es Einweisungswege, Akteure und Aushandlungsprozesse analysiert. Das Kapitel basiert auf der qualitativen Auswertung von Patientenakten sowie auf Quellen zu Diskussionen um die Einweisungspraxis. Gleichzeitig wird für die Rekonstruktion der Einweisungswege die für diese Arbeit erstellte Stichprobe herangezogen. Für die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar erfolgt die Auswertung in Kombination mit den hauseigenen Statistiken der detaillierten Jahresberichte der Anstalt.3 Ziel der Analyse ist es größere Veränderungen in der Einweisungspraxis nachzuzeichnen.4

1. Krankenmord und Mangel: Die Einweisungspraxis im Zweiten Weltkrieg Die Einweisungen zwischen 1941 und Kriegsende fanden unter spezifischen Bedingungen statt. Zum einen veränderten sich die Anstalten durch die »Aktion Todt/Brandt«. Die Verlegungen und die Fremdnutzung von immer größeren Teilen der Anstalten als Lazarette und Ersatzkrankenhäuser ließen immer weniger Platz für psychiatrische und neurologische Aufnahmen aus der Zivilbevölkerung, obwohl versucht wurde, dies durch Überbelegung auszugleichen.5 Zum anderen waren die Krankenmorde spätestens seit dem Abbruch der Aktion T4 in der Bevölkerung bekannt.6 Außerdem fand die Einweisung vor dem 3 Die Statistik der Jahresberichte berücksichtigt alle Aufnahmen des jeweiligen Jahres und ist daher genauer und eine wertvolle Ergänzung zur für diese Arbeit gezogenen Stichprobe. Aufgeführt wird sowohl der letzte Aufenthaltsort der Patientinnen und Patienten als auch der institutionelle Aufnahmeweg. Der für diese Arbeit ebenfalls erhobene letzte längere Aufenthaltsort ist jedoch nicht angegeben. Außerdem sind die Kategorien zum Teil problematisch, da einige von ihnen zwischen 1941 und 1949 mehrfach verändert wurden und manche der relevanten Zugangsorte nicht einzeln aufgeführt wurden. So werden etwa Altersheime nur im Jahr 1946 separat aufgeführt. Vgl.: HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1941, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1942, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1943, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1944/45, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1946, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1947, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1948, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1949, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH. 4 Die unterschiedliche Archivierung und die dementsprechende Auswahl der Akten erlaubt keine Aussagen mit sozialwissenschaftlicher Exaktheit. Vgl. hierzu auch die Ausführungen in der »Einleitung«. 5 Zur Nutzung der Psychiatrien als Sonderkrankenhäuser in der »Aktion Todt«/»Aktion Brandt«, vgl.: Süß, »Volkskörper«, S. 284 u. 330 ff. Vgl. hier auch zu den Verlegungen innerhalb des Reiches nach der Aktion T4. Speziell zur auch in dieser Studie untersuchten Anstalt in Marburg, vgl.: Müller, S. 305–314. 6 Zum Wissen um die Krankenmorde vgl. zusammenfassend z. B.: Brink, S. 327 ff.

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Hintergrund einer lautstarken Propaganda gegen »lebensunwertes« Leben und für »Euthanasie« statt.7 Wie verhielten sich Patientinnen und Patienten sowie Angehörige vor dem Hintergrund von Krieg, Krankenmorden und »Euthanasie«-Propaganda und inwiefern ist dieses Verhalten aussagekräftig für die NS-Gesellschaft im Krieg? Wie gingen Patientinnen und Patienten und Angehörige mit dem Wissen um Krankenmorde um, wenn sie oder ein Mensch aus ihrem sozialen Umfeld in eine Klinik oder Anstalt sollten? Suchten überhaupt noch Menschen in Kliniken und Anstalten Hilfe? Den folgenden Ausführungen liegt die Beobachtung zugrunde, dass sich – ungeachtet der kriegsspezifischen Veränderungen, des damit einhergehenden besonderen staatlichen Zugriffs auf die Psychiatrien und der Krankenmorde – Einweisungen nicht nur oder auch nur in erster Linie zwischen Institutionen abspielten. Auch die Patientinnen und Patienten, vor allem aber ihr soziales Umfeld blieben wichtige Akteure. Das eigene Zuhause war zwischen 1941 und 1945 für den größten Teil der Patientinnen in allen Anstalten sowie in der Universitätsklink Greifswald der letzte längere Aufenthaltsort vor der Einweisung, wie die Auswertung der Stichprobe dieser Arbeit zeigt. Zwar lagen die Zahlen der zuvor dauerhaft zu Hause lebenden Patientinnen und Patienten während des Krieges niedriger als in späterer Zeit. Trotz der beschriebenen kriegsspezifischen Umfunktionierung der Psychiatrie und der Krankenmorde kamen solche Einweisungen aber weiterhin regelmäßig vor. Daher spielten im Vorfeld der Aufnahme auch private Akteure, also die Eingewiesen selbst, ihre Familien oder Bekannten, bei der Entscheidung eine Rolle, nicht nur Institutionen, seien es Krankenhäuser, Alters- und Pflege­ heime oder Gefängnisse. Im Fall der Heil- und Pflegeanstalt Untergöltzsch bei Chemnitz etwa lebten bis Kriegsende 58 Prozent der Patientinnen und Patienten vor ihrer Einweisung zu Hause und 33 Prozent wurden zudem ohne Umweg über eine andere Institution aufgenommen, etwa eine Universitätsnerven­k linik, in der sie einige Tage verbrachten.8 Der Anteil der von zu Hause aufgenommenen Patientinnen und Patienten nahm bis 1963 in Untergöltzsch/Rodewisch genau wie in allen anderen hier untersuchten Einrichtungen stetig zu. Zwischen 1950 und 1955 lebten in Rodewisch bereits 76 Prozent der Aufgenommenen zuvor zu Hause.9 In Eglfing-Haar und Marburg waren die Zahlen ähnlich, wohingegen sie in den von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel als konfessioneller Anstalt und in der Universitäts- und Nervenklinik Greifswald noch höher lagen. Die Gründe dafür werden im Verlauf dieses Kapitels noch näher erläutert.10 Die Häufigkeit des Einweisens aus dem häuslichen Kreis heraus weist­ 7 Benzenhöfer u. Eckart; Klee, »Euthanasie«; Roth. 8 Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T2 und T7. 9 Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T32. 10 Vgl. für die genauen Zahlen zum »Dauerhaften Aufenthaltsort vor der Einweisung« zu allen in dieser Arbeit untersuchten Anstalten und Kliniken: Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs, zur Kriegszeit: T1–5; zur Nachkriegszeit: T16–20, T31–34, T43–46.

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darauf hin, dass in ­v ielen ­dieser Fälle das jeweilige direkte Umfeld in diesen Prozess involviert gewesen sein könnte. Hierfür spricht auch, dass Patientinnen und Patienten fast nie allein eine Klinik oder Anstalt aufsuchten, sondern normalerweise von einem Menschen aus ihrem sozialen Umfeld begleitet wurden. Bei diesen Einweisungen der Patientinnen oder der Patienten aus ihren häuslichen Verhältnissen heraus handelte es sich mitnichten vor allem um polizeiliche Zwangseinweisungen, bei denen die Familie möglicherweise gar nicht beteiligt war. Der Anteil der Zwangseinweisungen unter den Aufnahmen variierte zwischen den einzelnen Einrichtungen erheblich. Zwischen 1941 und Kriegsende lag er in Eglfing-Haar bei fast 45 Prozent der Aufnahmen, in Untergöltzsch bei etwa 25 Prozent und in Marburg nur bei etwa 7 Prozent. Letzteres erklärt sich vor allem aus der Spezifik des auf Kurzaufenthalte ausgelegten Kliniktypus der Heilanstalt. Bethel als konfessionelle Einrichtung und Greifswald als Universitätsklinik waren keine üblichen Unterbringungsorte im Falle von Zwangseinweisungen. Grundsätzlich sind formale Zwangseinweisungen aus zwei Gründen von anderen Einweisungen zu unterscheiden. Zum einen war hier in der NS-Zeit die Exekutive in Gestalt von Polizei oder Gesundheitsamt und in der Bun­des­repu­blik die Judikative involviert. Diese Kompetenzen verschoben die Machtrelationen zugunsten der staatlichen Entscheidungsinstanzen. Zum anderen verlief die Aushandlung von Zwangseinweisungen meist über die Köpfe der Patientin oder des Patienten hinweg. Während im nächsten Kapitel Zwangseinweisungen behandelt werden, liegt in diesem Kapitel der Fokus auf zivilen Einweisungen. Zunächst geht es um das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin oder Patient, danach um das Verhalten der Angehörigen in der Einweisungsentscheidung. Für beides ist der Begriff »Vertrauen« wichtig. Als individuelle, teils gefühlsbasierte Einstellung handelt es sich bei Vertrauen um einen historisch schwer zu greifenden Aspekt. Der Begriff bietet allerdings den Vorteil, die im Detail anhand der Quellen nicht fassbare emotionale Motivation einzelner Menschen, in eine Klinik zu gehen oder diese zu meiden, begrifflich auf den Punkt zu bringen, ohne einen Anspruch auf die Rekonstruktion individueller Entscheidungen zu erheben. Gerade aufgrund seiner relativen Unschärfe verdeutlicht der Begriff Vertrauen die Komplexität und historisch nicht aufzuschlüsselnde individuelle Emotionalität. Dabei nutzt die vorliegende Studie in Anlehnung an Ute Frevert ein weites Verständnis von Vertrauen. Deren Definition selbst verweist auf die Terminologie von Russel Hardin: »Trust exists when one party to the relation believes the other party has incentive to act in his or her interest«.11 Für den hier zu untersuchenden Kontext heißt das: Wenn ein Mensch sich entschloss, einen Arzt aufzusuchen, in eine Klinik zu­

11 Vgl.: Frevert, S. 2; speziell zu Vertrauen zu Experten und Institutionen, vgl.: dies., Vertrauen, S. 7–66.

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gehen oder Verwandte die bestmögliche Unterbringung für ein Familienmitglied suchten – was sie mitnichten immer taten –, wird davon ausgegangen, dass sie dem Arzt oder der medizinischen Institution ein Mindestmaß an Vertrauen entgegenbrachten. 1.1 Betroffene und Ärzte bei der Einweisung In Zeiten von Krankenmord und Krieg stellten Einweisungen für Patientinnen und Patienten keinen einfachen Schritt dar. Das zeigt der Fall Elisabeth F.12 Mit Verdacht auf Encephalitis kam die 18-Jährige im März 1941 über die Poliklinik in die Universitäts- und Nervenklinik Greifswald. Dort jedoch lautete die Diagnose: Multiple Sklerose.13 Da Elisabeth F. laut den Verantwortlichen »sehr nach Hause« drängte,14 entließ man sie auf Wunsch ihrer Eltern Anfang April.15 Angesichts erneut auftretender Symptome versuchte der Hausarzt im Januar 1942, sie wieder einzuweisen. Doch die Patientin verweigerte dies. Auf die Hintergründe dieses Widerstandes ging der Arzt in einem am 23.1.1942 aufgesetzten Brief an den zuständigen Mediziner der Nervenklinik Greifswald ein: »Sehr geehrter Herr Professor! Fräulein [F., d. Vf.] habe ich geraten, Sie persönlich zu konsultieren. Sie war am 13.1.41 erkrankt. Ich hielt es damals für Grippe mit nachfolgender Encephalitis. In der K ­ linik wurde dann die Diagnose Multiple Sklerose gestellt. Die in der Klinik begonnene neo-Solgankur wurde hier zu Ende geführt. Im Sommer ging es ihr dann ausgezeichnet, nach einem Erholungsaufenthalt in Leba Aug./Sept hat sie wieder gearbeitet, konnte Radfahren und fühlte sich nicht mehr krank. Seit 7.12.41 hat sie wieder Erscheinungen, abnorme Sensationen der Gesichtshaut links, Unsicherheit im linken Arm und Bein. Leider hat der augenblicklich aktuelle Film, dessen Inhalt sie gelesen hat, sehr depri­mierend gewirkt. Ich konnte ihr nur sagen, daß ich schon manchen für unheilbar erklärten Kranken wieder habe gesund werden sehen.  – Sie rechnet noch mit einer Schmierkur, die ihr in der Klinik in Aussicht gestellt wurde. Vor einer Aufnahme in der Klinik scheut sie sich sehr. Für eine kurze Nachricht im voraus verbindlichst dankend, mit bester Empfehlung und Heil Hitler!«16

12 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1941/26/874, UA Greifswald, PsychN. 13 Wie bereits in der Einleitung kurz skizziert, ist Multiple Sklerose eine Erkrankung, die durch Entzündungsherde im Gehirn und im Rückenmark zu neurologisch-bedingten Ausfallerscheinungen aller Art führen kann. Vgl.: Murray, S. 2. 14 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1941/26/874, Brief v. Dr. K. an PsychN Greifswald v. 23.1.1942, UA Greifswald, PsychN. 15 Da die Vollmündigkeit erst mit 21 Jahren erreicht war, lag die Entscheidung bei den Eltern der Patientin. 16 Ebd.

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Auch wenn der Name des Films ungenannt bleibt, liegt nahe, dass es sich um »Ich klage an« handelte, der ab August 1941 in den Kinos gezeigt und breit rezipiert wurde. Der Film handelt von einer an Multipler Sklerose erkrankten Frau, die wegen der unheilbaren, fortschreitenden Krankheit auf eigenen Wunsch von ihrem Mann getötet wird. Die Ermordung der Patientin wird dabei als eine schwere, aber verständliche Handlung dargestellt und im Kontext des »Problems« der großen Zahl »unheilbar Kranker im Reich« behandelt.17 Aus der Rezeption dieser Inhalte scheint sich der Widerstand gegen die Einweisung bei Elisabeth F. gespeist zu haben. Damit verdeutlicht ihr Fall exemplarisch die auch in zahlreichen anderen Einweisungsakten zu sehende schwierige Entscheidungssituation der Betroffenen. Sie agierten in einem Spannungsfeld zwischen Hoffnung auf und Angst vor Therapie: Das Aufsuchen einer Klinik versprach medizinische Hilfe. Dem stand aber das Wissen um Krankenmorde und Euthanasiepropaganda entgegen. Bei Elisabeth F. führte diese Problematik dazu, dass sie wegen ihrer Beschwerden zwar den Hausarzt aufsuchte, sich jedoch in dem Moment der von diesem empfohlenen Überweisung in die Universitäts- und Nervenklinik verweigerte, als sich herausstellte, dass die Diagnose eine Krankheit betraf, die ihr aus einer filmischen Darstellung als »lebensunwert« bekannt war. Mit Blick auf das Verhältnis von Arzt und Patientin bzw. Patient in der Kriegszeit bemerkenswert ist hierbei vor allem der Umstand, dass Elisabeth F. ihrem Hausarzt die Gründe für ihre Bedenken mitteilte. Weitere der Krankenakte beigelegte Arztbriefe lassen ferner auf regelmäßige Praxisbesuche schließen.18 Beides spricht dafür, dass in diesem Fall deutlich mehr Vertrauen zum Hausarzt als zur Universitätsklinik bestand. Erst als sich die Symptome verschlimmerten, entschloss sich Elisabeth F. doch noch, die Universitäts- und Nervenklinik aufzusuchen. Die Geschichte Elisabeth F.s deutet bereits die Vielschichtigkeit des Verhältnisses der Patientinnen und Patienten und ihrer Familien zu den Ärzten auch in Abhängigkeit zur jeweiligen institutionellen Zugehörigkeit des Arztes an. Es sprechen einige Indizien dafür, dass Patientinnen und Patienten und ihr soziales Umfeld zwischen verschiedenen Ärzten und medizinischen Institutionen differenzierten und diesen ein unterschiedliches Maß an Vertrauen entgegenbrachten. So scheinen sie auch zwischen verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen, also zwischen Universitätskliniken und Heil- und Pflegeanstalten, unterschieden zu haben. In der Universitäts- und Nervenklinik Greifswald wurden deutlich mehr Menschen während des Krieges von zu Hause aus eingewiesen als in den in dieser Studie untersuchten Anstalten. In die Universitätsklinik aufgenommene Menschen lebten während des Krieges vor ihrer Aufnahme zu 89 Prozent dauerhaft zu Hause und 68,5 Prozent befanden sich auch unmittelbar vor ihrer Einweisung nicht in einer stationären Einrichtung, wie z. B. einem Krankenhaus, 17 Roth, S. 97. 18 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1941/26/874, Brief v. Dr. Kohnert an PsychN Greifswald v. 29.7.1942, UA Greifswald, PsychN.

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Altenheim oder Reservelazarett.19 Von den Patientinnen und Patienten EglfingHaars, Untergöltzschs und der LHA Marburg lebten lediglich zwischen 55,1 und 59 Prozent vor ihrer Aufnahme zu Hause.20 Etwa die Hälfte von ihnen befand sich jedoch unmittelbar vor der Einweisung in einer anderen medizinischen Einrichtung oder einem Heim und somit bereits in einem institutionellen Kontext, in dem die eigene Entscheidung nicht unbedingt ins Gewicht fiel.21 Diese hohe Zahl der Patientinnen und Patienten, die in Greifswald vor der Aufnahme zu Hause lebten, ist nur in Teilen auf grundsätzliche Unterschiede in der Frequentierung zwischen Universitätskliniken und Anstalten zurückzuführen.22 Denn die Differenz der Zahlen zwischen der Universitäts- und Nervenklinik Greifswald und den anderen in dieser Arbeit untersuchten Anstalten nahm nach Kriegsende ab.23 Diese Angleichung spricht dafür, dass Patientinnen und Patienten und manche Angehörige versuchten, insbesondere die Anstalten während des Krieges zu meiden. Dafür, dass die Patientinnen und Patienten, ihr soziales Umfeld und vielleicht auch die niedergelassenen Ärzte während der Kriegszeit zwischen psychiatrischen Stationen einer Universitätsklinik und Anstalten unterschieden, sprechen auch die Einweisungszahlen in die LHA Marburg, die Greifswald von der Funktion her ähnelte, aber eben doch eine Anstalt war. Dort lebte während des Krieges ein deutlich geringerer Anteil der Aufgenommenen vor der Einweisung dauerhaft zu Hause (59,3 Prozent) und auch der Anteil der unmittelbar von zu Hause in die Anstalt kommenden Patientinnen und Patienten war viel geringer (27,5 Prozent) als in Greifswald (88 Prozent). Der Befund für Marburg entspricht daher für die Kriegszeit dem für die beiden Heil- und Pflegeanstalten Untergöltzsch und Eglfing-Haar. In der Nachkriegszeit änderte sich dies wieder und die LHA Marburg funktionierte erneut mehr ihrer ursprünglichen Ausrichtung entsprechend, nämlich ähnlich einer Universitätsklinik und weniger wie eine Heil- und Pflegeanstalt.24 19 Vgl. Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T1, T6. 20 Vgl. Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T2–T5. 21 In der LHA 27,5 %, in EH 17,9 % und in Untergöltzsch 33 %. In Bethel als privater Einrichtung kamen mehr Menschen aus ihrem familiären Umfeld in die Anstalt: 46 % kamen unmittelbar von dort und 69 % lebten auch zu Hause. Vgl. Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T6–T10. 22 Zwar begaben sich generell mehr Menschen freiwillig in eine Universitätsklinik als in eine Anstalt, da sie aus Sicht der Patientinnen und Patienten und ihres sozialen Umfeldes leichter zugänglich war und ein Aufenthalt dort als weniger stigmatisierend galt. Hinzu kam, dass der Aufenthalt in Universitäts- und Nervenkliniken in der Regel zeitlich begrenzter war, vgl.: Engstrom, Psychiatry, S. 191. 23 Zwischen 1956 und 1963 betrug der Unterschied zwischen Greifswald (88 %) auf der einen Seite und Marburg (74 %) und Großschweidnitz (74 %) auf der anderen Seite nur noch ca. 15 % (im Gegensatz zu ca. 30 % in der Kriegszeit). Alle Zahlen hierzu zur Nachkriegszeit vgl. Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T16–20, T31–34, T43–46. 24 Zwischen 1956 und 1963 lebten von den in die LHA Marburg eingewiesenen Menschen ca. 74 % zuvor zu Hause. Für alle Kliniken und Anstalten zwischen 1941 und 1963 vgl. die Tabellen entsprechend der vorherigen Fußnote.

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Niedergelassene Ärzte in der Einweisungsentscheidung Neben dem Befund, dass Patientinnen und Patienten samt ihrem sozialen Umfeld zwischen verschiedenen Ärzten und medizinischen Institutionen unterschieden, gibt es auch Indizien für eine differenzierende Praxis der Hausärzte selbst. Zwischen 1941 und 1945 stellten niedergelassene Ärzte weniger Einweisungsatteste für Anstaltsaufenthalte aus als in der Nachkriegszeit.25 Ergibt sich­ daraus, dass die Hausärzte nationalsozialistische Vorstellungen nur zögerlich umsetzten, weil eine lange und enge Bindung zu den Patienten existierte? Solche Überlegungen erscheinen im Kontext der Einweisung möglich, allerdings nicht allein erklärend.26 Das Verhalten Elisabeth F.s und auch anderer hier nicht vorgestellter Patienten und Patientinnen spricht dafür, dass es durchaus intakte Vertrauensverhältnisse zwischen Hausärzten und Patientinnen und Patienten gab. Allerdings ist zu bedenken, dass es sich nicht unbedingt in den Akten manifestieren muss, wenn dies nicht der Fall war. Seitens der niedergelassenen Ärzte könnte es zudem auch Unterschiede zwischen Allgemeinmedizinern und niedergelassenen Psychiatern gegeben haben. Bei einem Facharzt ist eine lange Bindung der Eingewiesenen und ihrer Familien an diesen unwahrscheinlicher. Gerade bei psychiatrischen Patientinnen und Patienten liegt es im Allgemeinen nicht nahe – im Einzelfall mag es dies durchaus gegeben haben – ein Vertrauensverhältnis seitens des Psychiaters anzunehmen, das die Interessen der Patientin oder des Patienten schützte. Denn zum einen können die meisten der in eine öffentliche Anstalt eingewiesenen Menschen eher der Unterschicht zugerechnet werden. Zum anderen hatten sich die Psychiater seit der Kaiserzeit als Experten für die Gefahren stilisiert, die von einer »degenerierten Unterschicht« ausgingen.27 Da Patientinnen und Patienten aus »besseren Verhältnissen« ohnehin eher an private Sanatorien verwiesen wurden, erscheint es wenig schlüssig, ein besonderes Interesse der niedergelassenen Psychiater am Schutz gerade potentieller Anstaltspatienten zu postulieren. Eher ist anzunehmen, dass das Vertrauen der Patientinnen und Patienten gegenüber niedergelassenen Psychiatern in der Kriegszeit weniger ausgeprägt war als gegenüber Allgemeinmedizinern. Der Einweisung Elisabeth F.s vergleichbare Beispiele, in denen sich ein kranker Mensch einem Arzt anvertraut, lassen sich unter den fast 400 für die NS-Zeit durchgesehenen Krankenakten nur für Hausärzte, nicht für Psychiater 25 Dies gilt vor allem für Einrichtungen, die für längere Aufenthalte gedacht waren, daher weniger für Greifswald und die LHA Marburg. In Untergöltzsch/Rodewisch wurden z. B. während des Krieges ca. 18 % der Patientinnen und Patienten über eine ärztliche Praxis eingewiesen, 1950 bis 1955 ca. 28 %. Alle Zahlen zur Einweisung durch niedergelassene Ärzte vgl. Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T11–14, T26–30. T39–42, T51–54. 26 Winfried Süß vermutet, die geringe Umsetzung nationalsozialistischer Ideologie durch die Hausärzte sei auf ein besonderes Vertrauensverhältnis auch seitens der Ärzte zurückzuführen. Süß, »Volkskörper«, S. 373. 27 Roelcke, Etablierung, S. 119; zusammenfassend hierzu vgl. auch die Ausführungen in Ka­ pitel II.

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finden. Insgesamt vermochten es die Eingewiesenen, wie noch gezeigt werden wird, ohnehin bei weitem nicht immer, selbstständige Entscheidungen zu fällen, sondern dies geschah oft durch Verwandte, die vielleicht andere Interessen verfolgten als die Patientin oder der Patient. Über die Vertrauensfrage hinaus sind jedoch unbedingt auch pragmatische Gründe des Zugangs zu niedergelassenen Ärzten zu berücksichtigen – seien es nun Psychiater oder Allgemeinmediziner. Die geringeren Überweisungszahlen korrespondieren mit einem Mangel an niedergelassenen Ärzten im Reich. Sehr viele niedergelassene Ärzte waren an der Front.28 Mit Beginn des Krieges fand außerdem die Umstellung auf die betriebliche Gesundheitsfürsorge ihren Höhe­punkt. Die gesamte alltägliche Gesundheitsversorgung wurde zunehmend an den Betrieb gekoppelt und an ihm ausgerichtet. So durften etwa ab 1940 in kriegswichtigen Betrieben nur noch Betriebsärzte krankschreiben. Außerdem »arbeitete die DAF systematisch darauf hin, Kranke statt in der Familie in betriebseigenen Einrichtungen zu pflegen, um auf dieses Weise die Kontrolle über sie zu verdichten.«29 Die Betriebsärzte rekrutierten sich aus den niedergelassenen Ärzten.30 Ein Arztbesuch konnte daher schwierig zu arrangieren sein, gerade für jene Personen, die nicht außer Hause arbeiteten. Dies stärkt das Argument, dass auch der schwierigere Zugang zu niedergelassenen Ärzten zu einer abnehmenden Zahl ihrer Einweisungen führte. Weder das Verhalten der niedergelassenen Ärzte noch das der Angehörigen ist also allein auf Grundlage der Zahlen eindeutig zu interpretieren. Allerdings kann in einer detaillierteren Analyse auf der einen Seite eindeutig gezeigt werden, dass Angehörige sich zum Teil bemühten, staatliche Anstalten zu meiden. Auf der anderen Seite wird im Folgenden kurz angerissen und in den nächsten Kapiteln herausgearbeitet, dass es ebenso Angehörige und Menschen im sozialen Umfeld der Eingewiesenen gab, die (Zwangs-)Einweisungen initiierten oder unterstützen und dabei in erster Linie pragmatische oder eigennützige Aspekte im Auge hatten. Die Interaktion mit Ärzten unterschiedlicher institutioneller Zugehörigkeit wird in diesem Kontext ebenfalls beleuchtet. 1.2 Initiierung von Einweisungen durch Angehörige Angehörige arbeiteten während des Zweiten Weltkrieges seltener mit staatlichen Anstalten zusammen als in der Nachkriegszeit, ohne dass diese Zusammenarbeit während des Krieges zum Stillstand gekommen wäre. An den Einweisungen von Menschen, deren letzter Aufenthaltsort die familiäre Umgebung 28 1944 standen so der Zivilbevölkerung nur noch halb so viele Ärzte wie zuvor zur Verfügung: Süß, »Volkskörper«, S. 372. 29 Ebd., S. 261 ff. 30 Süß schätzt die Implementierung der betrieblichen Gesundheitsfürsorge dabei als ähnlich bedeutsam ein wie die erbbiologische Wende zu Beginn der NS-Herrschaft: Ebd., S. 263.

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war, lässt sich zeigen, dass es auch während des Krieges kontinuierlich Einweisungen gab, an denen das familiäre Umfeld direkt beteiligt war.31 Gleichzeitig ist festzustellen, dass die Initiierung von Einweisungen in Anstalten nach dem Krieg wieder häufiger in der Hand der Familien lag oder andersherum Familien wieder öfter direkt mit der Anstalt kooperierten. Die Grenzen der Kooperation der Patientinnen und Patienten und ihrer Familien mit den staatlichen Anstalten während des Krieges veranschaulichen mehrere Einweisungen in die von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, also in eine private evangelische Anstalt. Zwar stand Bodelschwingh »treu zum neuen Staat«,32 allerdings lehnte er die Krankenmorde ab. Außerdem setzte sich in Bethel insbesondere Pastor Braune gegen die Herausgabe von Patientinnen und Patienten im Rahmen der T4 Aktion ein.33 Einiges spricht dafür, dass die Familien Bethel und private Anstalten im Allgemeinen als sicherer einschätzten, obwohl dies keineswegs immer zutraf.34 So wurden in Bethel während des Krieges deutlich mehr Patientinnen und Patienten als in Marburg, München oder Untergöltzsch eingewiesen, die dauerhaft zu Hause lebten (69 Prozent) und deren letzter Aufenthaltsort ihr eigenes Zuhause (42 Prozent) war.35 Auch in Bethel stiegen diese Zahlen nach dem Krieg weiter an, bereits vor Gründung der Bundesrepublik lagen sie bei 75,8 und 72,7 Prozent.36 Bemerkenswert ist hier vor allem, dass der Anteil der dauerhaft zu Hause lebenden und von zu Hause aufgenommenen Patienten in Bethel nach dem Krieg nahezu deckungsgleich war, während er im Krieg um mehr als 20 Prozentpunkte auseinanderklaffte.37 Diese Schere könnte darauf hinweisen, dass in der Kriegszeit mehr Patientinnen oder Patienten (bzw. ihre Familien), die unter anderen Umständen in eine staatliche Einrichtung gekommen wären, bewusst versuchten, nach Bethel zu gelangen. Der Zahlenunterschied zwischen den dauerhaft zu Hause lebenden und von zu Hause in die Anstalt aufgenommenen Patientinnen und Patienten 31 Es handelt sich hierbei jedoch nicht um einen eindeutigen Indikator. Auch Menschen, die dauerhaft zu Hause lebten, konnten natürlich ohne jegliche Beteiligung ihres sozialen Umfeldes polizeilich eingewiesen werden. Die allermeisten zu Hause lebenden Menschen wurden jedoch entweder von einem niedergelassenen Arzt oder über das Gesundheitsamt eingewiesen. In beiden Fällen war dann fast immer auch das soziale Umfeld involviert. 32 Klee, »Euthanasie«, S. 204. 33 Ebd., S.  205 f. Die ambivalente Haltung der Bodelschwinghschen Anstalten zum NSRegime manifestierte sich auch in der justiziellen Aufarbeitung. So verfasste die Betheler Direktion ein Gnadengesuch für den in den Nürnberger Prozessen zum Tode verurteilten Karl Brandt. Vgl.: Aly, Belasteten, S. 290. 34 Vgl.: Christians. Insgesamt fehlen Untersuchungen zu privaten Anstalten und einer möglichen Beteiligung an den dezentralen Krankenmorden. 35 Vgl. Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T10, T15. 36 Vgl. Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T20, T24; zum weiteren Anstieg der Einweisungen aus dem häuslichen Umfeld in den 1950er und frühen 1960er Jahren vgl. ebd., T34, T38, T46, T50. 37 In allen anderen Anstalten fallen diese Zahlen durchgehend um etwa zwanzig Prozentpunkte auseinander.

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erklärte sich dann dadurch, dass sich Patientinnen und Patienten und Familien bemühten, einen Platz in Bethel zu bekommen, nachdem bereits eine Aufnahme in eine Universitäts- und Nervenklinik oder eine staatliche Anstalt stattgefunden hatte. Dass manche Verwandte staatliche Anstalten zu Gunsten der in ihrer Wahrnehmung »vergleichsweise sicheren kirchlichen oder privaten Pflege­ heimen«38 mieden, lässt sich auch durch zwei weitere Beispiele belegen. Zum einen stellte der Oberpräsident der Provinz Westfalen im Februar 1942 fest, dass Angehörige staatliche Einrichtungen zu Gunsten privater Einrichtungen umgingen. In einem Schreiben an den Reichsminister des Innern vom 5. März 1942 erläuterte er dies genauer: »Soweit es sich um hilfsbedürftige Kranke handelt, die auf Kosten der öffentlichen Fürsorge untergebracht werden, steht mir das Recht der Bestimmung der Anstalt zu. Um dem zu entgehen, verfällt die Bevölkerung – wohl auch auf Anraten der Privatanstalten  – in zunehmendem Maße auf den Ausweg, die Kranken zunächst als Selbstzahler in konfessionellen Anstalten unterzubringen. Schon nach kurzer Zeit – vielfach wenigen Tagen – stellen dann die Angehörigen ihre Zahlungen ein und veranlassen die Privatanstalten, den Antrag auf Einleitung der öffentlichen Fürsorge für den Kranken zu stellen. Da die Voraussetzungen durchaus gegeben sind, muß den Anträgen fast stets entsprochen werden. Einer Verlegung des Kranken in eine Provinzialanstalt steht aber dann die Anordnung vom 22.  Dezember 1941 entgegen. I. A. gez. Unterschrift Landesrat.«39

Die Anordnung vom 22. Dezember 1941 untersagte Verlegungen ohne »zwingende sachliche Gründe«.40 Herbert Linden (1899–1945), der Reichsbeauftrage für die Heil- und Pflegeanstalten, antwortete zur Situation in Westfalen, dass die Anordnung so nicht gemeint gewesen sei. In diesem Fall könne verlegt werden, aber »ohne Benutzung von Fernzügen, Kraftwagen usw.«41 Hierzu ist zu bemerken, dass Linden den ungewünschten Effekt der vermehrten Aufnahme in private Anstalten zwar gerne umgehen wollte, seine Einschränkung, keine Kraftwagen oder Fernzüge zu benutzen, dies aber ganz erheblich erschwert haben dürfte. Denn Verlegungen wurden gewöhnlich mit Autos durchgeführt. Nur bei sehr großen Entfernungen wurden Fernzüge genutzt, was die Anordnung ebenfalls untersagte. Zum anderen versuchten Patientinnen und Patienten und Angehörige, die Aufnahme in Bethel auf inoffiziellem Weg über Anfragen bei Pastor ­Bodelschwingh zu erwirken, und/oder erwähnten in ihren Aufnahmegesuchen prominent ihr­ 38 Aly, Belasteten, S. 284. 39 Oberpräsident der Provinz Westfalen, Schreiben an RMI v. 5.3.1942, StAM, Landratsamt München/59141. 40 Der Reichsbeauftragte für die Heil- und Pflegeanstalten, Anordnung v. 22.12.1941, StAM, Landratsamt München/59141. 41 Der Reichsbeauftragte für die Heil- und Pflegeanstalten, Schreiben an den Oberpräsidenten der Provinz Westfalen v. 20.5.1942, StAM, Landratsamt München/59141.

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Engagement für Bethel. Diese inoffiziellen Anfragen machten von 1941 bis Kriegsende 20,5 Prozent der Einweisungen aus, später gab es sie nicht mehr.42 In solchen Fällen drängten Verwandte auf eine Aufnahme oder Verlegung nach Bethel. Dabei benannten sie nie explizit, warum der erkrankte Mensch in Bethel besser aufgehoben sei, aber immer, warum gerade diese Patientin oder dieser Patient eine Aufnahme in Bethel verdient habe. So schrieb zum Beispiel Frau N. im Jahre 1942 an Pastor Bodelschwingh und bat um Aufnahme ihrer »nervenkranken« Schwägerin. Im Zuge dessen wies sie darauf hin, dass ihre Schwägerin jahrelang für die Betheler »Ährenlese« Spenden gesammelt habe.43 Frau N.s Schwägerin wurde daraufhin tatsächlich in Bethel aufgenommen. Auf ähnliche Weise verlief die Aufnahme Dieter M.s, der im Sommer 1944 von der Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen auf Wunsch seiner Frau nach Bethel verlegt wurde. Die Ehefrau des 64-Jährigen schrieb an Bethel: »Hiermit möchte ich sie bitten mir mitzuteilen, ob Sie einen Kranken aufnehmen können und wie hoch sich der Preis beträgt. Augenblicklich ist mein Mann in der Nervenklinik untergebracht. Leider kann ich ihn wegen der Fliegergefahr und Angriffe nicht nach Hause nehmen. Mein Mann hat sehr viel für Bethel getan und würde ich mich freuen, wenn Sie ihn aufnehmen würden.«44

Frau M. machte in dem Brief nicht explizit, warum sie es vorzog, ihren Mann in Bethel statt in Leipzig-Dösen unterzubringen, ihre Anfrage hatte aber Erfolg. Drei Monate später erfolgte die Aufnahme von Dieter M. in Bethel.45 Genau wie in dem zuvor genannten Beispiel argumentierten die Angehörigen auch hier wieder mit dem früheren Engagement des jetzigen Patienten für Bethel. Von anderer Seite, nämlich von Freunden des Mannes, wurde nach der Aufnahme in den von Bodelschwinghschen Anstalten angezweifelt, ob der Mann überhaupt anstaltsbedürftig sei, und vermutet, seine Ehefrau betreibe die Unterbringung zu Unrecht auf Grund von häuslichen Streitereien.46 Die Betheler Ärzte sahen das nicht so.47 Die Ehefrau berichtete ebenfalls von familiären Problemen. Allerdings gab sie an, dass ihr Ehemann sie und ihre Kinder im Zuge seiner Wahnvorstellungen schlage.48 Für Bethel ließen sich zahlreiche ähnliche Fälle nachzeichnen. In manchen Einweisungsargumentationen, die letztlich in staatliche Anstalten führten, wird ebenfalls deutlich, dass die Verwandten zunächst versucht hatten, ein Fami­lien­

42 Vgl. Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T15, T30, T42, T54. 43 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 34/485, Brief von Frau N. an Pastor Bodelschwingh 5.3.1942, HAB, Patientenakten Mahanaim 1. 44 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 133/1918, Schreiben v. 5.6.1944, HAB, Patientenakten Morija I. 45 Ebd., Schreiben an Pastor Wörmann v. 2.9.1944. 46 Ebd., Schreiben v. Obermedizinalrat, Dr. W. v. 26.10.1944. 47 Ebd., Antwortschreiben vBS Bethel v. 25.11.1944. 48 Ebd., Angaben d. Ehefrau v. 25.4.1944 in Leipzig-Dösen.

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mitglied in einer privaten Einrichtungen unterzubringen. Beispielsweise gelangte der Patient Martin C. nach Eglfing-Haar, nachdem, durch seine Mutter initiiert, eine Nachbarin die Polizei angerufen hatte. Die Nachbarin unterrichtete die Polizei über »erhöhte geistige Störungen« und Aggressionen gegenüber der Mutter.49 Der Patient wurde erst in die Universitäts- und Nervenklink­ München eingeliefert und dann in Eglfing-Haar. Die Mutter bat darum, ihren Sohn in Schönbrunn, einer katholischen Einrichtung, unterzubringen. Zur Not sei sie aber auch mit Eglfing-Haar einverstanden.50 Hintergrund der Einweisung war, dass die Mutter sich zu Hause um den schon lange als »geistesgestört« angesehenen Sohn kümmerte, sie nun aber zu krank dafür sei und der Sohn gewalttätig werde.51 Wie die neuere Forschung zeigt, war es allerdings eine Fehleinschätzung, dass Schönbrunn seine Patientinnen und Patienten zu schützen versuche.52 Beiden Einweisungen ist gemein, dass die weiblichen Familienmitglieder eine akute körperliche Bedrohung angaben. Sie versuchten den Patienten zwar in einer konfessionellen Einrichtung unterzubringen, sahen es aber nicht als Option, den Ehemann oder Sohn zu Hause weiter zu betreuen. Hier zeigt sich, dass die Anstalten auch im Krieg aus Sicht der Einweisenden Funktionen aus Friedenszeiten behielten und sich in bestimmten familiären Situationen als dringend notwendig und unumgehbar erwiesen. Die Konstellation eines der Familie gegenüber gewalttätigen männlichen Familienmitglieds ist typisch für Einweisungen insgesamt.53 Nicht immer jedoch bemühten sich Angehörige, ihre Verwandten möglichst sicher unterzubringen. Regelmäßig veranlassten Familienmitglieder Einweisungen, ohne dass die Krankenmorde und die Zustände in den Anstalten Berücksichtigung fanden. Bei diesen Einweisungen tritt bisweilen eine seltsam anmutende Ambivalenz im Verhalten der Familien zu Tage. Angehörige initiierten in diesen Fällen Einweisungen mit erheblicher Eigeninitiative, teils aus Gründen, die der Amtsarzt nicht gewillt war als Einweisungsgrund anzuerkennen. Manche von ihnen wandten sich jedoch nach erfolgter Einweisung z. B. brieflich mit der Bitte an die Anstalt, ihre Verwandten gut zu behandeln. Im Folgenden wird dies etwas ausführlicher am Beispiel der Unterbringung von Hans A. verdeutlicht. Andere Einweisungen liefen nicht exakt genauso ab. Das Beispiel steht jedoch für ein durchaus geläufiges wechselhaftes Agieren von Angehörigen, ohne dass sie sich entschlossen hätten, ein Familienmitglied zurück nach Hause zu holen oder z. B. bei anderen Verwandten unterzubringen.54 Hans A. wurde 49 HPA Eglfing-Haar, Patientenakte Sign. EH 486, Schreiben d. städt. Gesundheitsamtes v. 29.11.1941, AB Oberbayern, EH. 50 Ebd. 51 Ebd., unter »Angaben der Nachbarin«. 52 Christians. 53 Gründler, S. 119. 54 U. a. in: HPA Eglfing-Haar, Patientenakte Sign. EH 10389, AB Oberbayern, EH.

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im März 1944 mit Einwilligung seines Sohnes in Eglfing-Haar aufgenommen. Zuerst war versucht worden, eine Zwangseinweisung »auf Grund von Gefahr« entsprechend Artikel 80/II des bayerischen Polizeistrafgesetzbuchs (PStGB) zu veranlassen. Der Bezirksarzt sah dies aber als nicht notwendig an und verweigerte eine Zwangseinweisung.55 Trotzdem verlegte die Universitäts- und Nervenklinik den Patienten mit Einverständnis des Sohnes in die Heil- und Pflege­ anstalt. Einweisungen gegen den Willen der Betroffenen mussten eigentlich von Polizei oder Amtsarzt bescheinigt werden. Dies ließ sich offiziell nur bei unmündigen Patientinnen oder Patienten umgehen. Es kam aber immer wieder, wie in diesem Einweisungsbeispiel, auch bei eigentlich mündigen Patienten zu Aufnahmen allein mit dem Einverständnis der Angehörigen. Der Sohn des 72-jährigen Mannes hatte seinen Vater zuerst in die Psychiatrische und Nervenklinik München gebracht. In der Krankengeschichte dort wurde zur Verlegung nach Eglfing-Haar vermerkt: »Heute erscheint der Sohn des Pat. und gibt noch an, dass es nicht möglich ist, den Pat. zu Hause zu belassen. Ref. selbst steht im Einsatz, die Schwiegertochter des Pat. ist selbst gesundheitlich nicht auf der Höhe (Lungen. Tbc) und es ist ihr nicht möglich, den pat. zu pflegen, insbes. ergeben sich grosse Schwierigkeiten wegen d. Luftschutzes. In der Wohnung selbst ist kein Luftschutzkeller, der Pat., der bettlägerig ist, muss immer über einen Hof von 50 m Entfernung getragen werden. Einer Einweisung des pat. in die Heil- u. Pflegeanstalt Eglfing steht von Seiten der Angehörigen des Pat. nichts entgegen.«56

Der Angehörige zeichnete also eine Lage, in der es kriegsbedingt nicht möglich sei, den Vater zu Hause zu behalten. In der Krankengeschichte der Psychiatrischen und Nervenklinik München wurden die Beschwerden von Hans A. näher beschrieben: Der Patient habe einen »Klumpfuß« und deswegen Probleme beim Gehen. Zum psychischen Zustand stellte der Arzt fest: »Psychisch nicht besonders auffällig. Das Gedächtnis habe in letzter Zeit etwas nachgelassen. Pat. fühlt sich vereinsamt, ist in letzter Zeit stiller geworden.«57 Weiter notierte er, dass der Patient vorher nie in einem Krankenhaus gewesen sei und noch drei Wochen zuvor im Büro gearbeitet habe. Als Erklärung für die Fußbeschwerden wird angeführt, dass Hans A. früher Vertreter war und sehr viel laufen musste.58 Die Darstellung der Beschwerden in der Überweisung liest sich drastischer als die Schilderung, Hans A. habe Probleme beim Laufen. Die Tatsache, dass der Amtsarzt eine Zwangseinweisung verweigerte, lässt ebenfalls darauf schließen, dass eine Einweisung nach Eglfing-Haar in diesem Falle nicht dringend notwendig oder unabwendbar gewesen wäre. Nach dem Beschluss zur Verlegung nach 55 HPA Eglfing-Haar, Patientenakte Sign. EH 778, Eintrag v. 7.3.1944, AB Oberbayern, EH. 56 Ebd., Eintrag v. 29.2.1944 in der Krankengeschichte der psychiatrischen und Nervenklinik München. 57 Ebd. 58 Ebd.

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Haar, schickte der Sohn einen Brief an die dortigen Ärzte, in dem er darum bat, seinen Vater in der Heil- und Pflegeanstalt gut zu behandeln, da er ein »harmloser Fall« sei. Er erklärte: »Es handelt sich bei ihm um einen harmlosen Fall, da er im allgemeinen durchaus geordnet und unauffällig ist. Er bildet sich lediglich ein, dass sein linker – gesunder – Fuss derart schwach sei, dass er ohne 2 Stoecke oder fremde Hilfe nicht mehr gehen koenne. […] Nach Ansicht des behandelnden Artztes, Dr. St., handelt es sich dabei um eine psychogene Ueberlagerung, die durch entsprechende Behandlung behoben werden kann. […] Ich bitte daher, ihn in Haar moeglichst in einem Saal mit nur harmlosen Faellen unterzubringen. Sobald ich auf Urlaub komme – ich stehe als Luftwaffenangehoeriger seit 24.9.1939 im Einsatz und liege z.Z. in Nordwestfrankreich – werde ich bei Ihnen vorsprechen und stehe mit allen Erklaerungen gern zur Verfügung stehen. Ich bitte nun, meinen Vater, der sich in frueheren Jahren, als er als Grosskaufmann sich in sehr guten Verhaeltnissen befand, in sozialer und karitativer Hinsicht stets ­aeusserst grosszuegig betaetigte und manchem Notleidendem wertvolle Hilfe zuteilwerden lies, nach besten Kraeften betreuen zu wollen und verbleibe mit Heil Hitler«59

Zu weiteren persönlichen Erklärungen des Sohnes kam es nicht mehr, da sich bereits zwei Monate später der Todeseintrag in der Akte findet.60 Der Sohn forcierte in diesem Fall die Einweisung mit dem Argument, seine Frau könne sich nicht um den Vater kümmern, solange er an der Front sei. Der Verweis auf die unmittelbaren Kriegsumstände ist sehr häufig zu finden und taucht in zahlreichen Einweisungsbeispielen in den nächsten Kapiteln wieder auf. Ebenfalls nicht ungewöhnlich war es, dass Verwandte an der Initiierung von Einweisungen maßgeblich beteiligt waren. Der Brief deutet darauf hin, dass der Sohn sich darüber Gedanken machte, was mit seinem Vater passierte und wie es ihm in der Anstalt ging. Allerdings hatte dies ganz klare Grenzen, denn eine andere Unterbringung des Vaters wurde nie in Erwägung gezogen, geschweige denn, ihn zurück nach Hause zu holen. Mögliche Sorgen des Sohnes rüttelten letztlich nicht an seiner Einschätzung, dass das Verhalten des Vaters unter den gegebenen Umständen für seine Familie nicht tragbar sei. Diese zunächst paradox anmutende Handlungsweise des Sohnes ist im Rahmen einer Radikalisierung des Alltagslebens an der »Heimatfront« – so die These – durchaus erklärbar. Die Anstalten wurden genutzt, um Probleme im alltäglichen Zusammenleben mit erkrankten Familienmitgliedern zu »lösen«, wie dies auch für die Nachkriegszeit gezeigt werden wird. Die Einweisung in eine Anstalt aus solchen Gründen kann durchaus als normaler Vorgang bewertet werden. Aller­dings herrschte während des Krieges im sozialen Mikrokosmos eine besonders hohe Erwartungshaltung an normkonformes Verhalten und problemlose Einreihung in den Kriegsalltag.

59 Ebd., Brief d. Sohnes v. 5.3.1944 an die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. 60 Ebd., Eintrag v. 6.5.1944.

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Das schnelle und richtige Verhalten gerade im Bombenkrieg taucht auch im nächsten Kapitel immer wieder als Norm­erwartung auf. Außer um das Er­ reichen des Luftschutzkellers ging es oft um die Einhaltung der Verdunklung. Die Argumentation, kranke oder alte Menschen stellten eine Gefahr bei Bombenangriffen dar, akzeptierten die Ärzte gewöhnlich unhinterfragt. Zugleich waren die Krankenmorde 1944 mit Sicherheit kein Geheimnis.61 Insbesondere über die Tötung älterer Menschen zirkulierten viele Gerüchte.62 Gerade die Akzeptanz der Möglichkeit der Krankenmorde, ohne daraus Konsequenzen für das eigene Verhalten abzuleiten, ist als Zeichen einer Radikalisierung zu lesen. Manche Familien bemühten sich noch, Einweisungen zu vermeiden oder in ihren Augen sicherere Anstalten auszuwählen, für andere war die Nutzung der Anstalten jedoch trotz deren Pervertierung ein normales Vorgehen. Radikalisierung bedeutet in diesem Sinne, dass Entscheidungen und Handlungen legitimierbar waren und damit in den Bereich »normalen« Verhaltens fielen, die zur potentiell tödlichen Exklusion von Menschen führten.63 Drei wichtige Punkte lassen sich zusammenfassend zu den Akteurskonstellatio­ nen, Machtverhältnissen und Handlungsspielräumen zwischen 1941 und Kriegsende festhalten. Es gab – erstens – eine ganz unmittelbar kriegsspezifische Einweisungspraxis. Sie war durch die Verlegungen und die Umwidmung von Teilen der Psychiatrien beschränkt. Zugleich hatte sich auch die Position der Krankenhäuser und niedergelassenen Ärzte im Einweisungsprozess verändert. Zweitens bewegten sich die Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen in der Einweisungssituation in einem NS- und kriegsspezifischen Raum. Propagandafilme und Wissen über Krankenmorde hatten Auswirkungen ­darauf, ob Patientinnen und Patienten in Kliniken oder Anstalten gingen und in welche sie kamen. Die Patientinnen und Patienten und Angehörigen unterschieden dabei staatliche Anstalten von Universitäts- und Nervenkliniken und konfessionellen Einrichtungen. Drittens hatte die Anstalt aus Sicht der Laien trotzdem keine völlig veränderte Funktion. Sie diente nach wie vor dazu, häusliche Situationen zu lösen, die als nicht mehr tragbar gesehen wurden. Hierbei ist vor allem an häusliche Gewalt zu denken. Daneben zeigt das letzte Beispiel jedoch, dass ein Bemühen um gute Lösungen für kranke Verwandte keinesfalls immer gegeben war.

61 Aly, Belasteten, S. 259 ff. 62 Ebd., S.263. 63 Die stillschweigende, selbstverständliche Akzeptanz von Ausschluss wird in ähnlicher Weise von Ulrich Herbert im Umgang der Deutschen mit den Zwangsarbeitern geschildert. Herbert, Fremdarbeiter, S. 358.

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2. Die Einweisungspraxis in der »Zusammenbruchgesellschaft« (1945–1949) Die Situation in den Anstalten und Kliniken blieb in der unmittelbaren Nachkriegszeit katastrophal. Ganz wesentlich prägte die Lage der Psychiatrien das ausbleibende größere Interesse der Alliierten an den Anstalten. Die Krankenmorde bewegten weder die Deutschen noch die Alliierten dazu, über Veränderungen oder Verbesserungen für die Psychiatrien nachzudenken.64 Die Sterbeziffern lagen häufig noch höher als während des Krieges65, und die Lebensmittelzuteilung an Psychiatriepatientinnen und -patienten blieb auch in den Besatzungszonen sehr niedrig.66 In der Bundesrepublik setzte in der Versorgung und im wirtschaftlichen Betrieb erst etwa vier Jahre nach Kriegsende eine Normalisierung ein.67 Dagegen kann in der DDR finanziell selbst in den 1950er Jahren nicht von einer Normalisierung gesprochen werden.68 Im ganzen Land erreichte die Patientenzahl in den ersten beiden Nachkriegsjahren einen Tiefpunkt. Insbesondere in der SBZ standen durch die Fremdnutzung der Anstalten zu wenige Plätze zur Verfügung.69 Analog zu den Zuständen in den Kliniken gestaltete sich in der Besatzungszeit durch den materiellen Mangel auch die Dokumentation der Einweisungen schwieriger. So wurden in allen für diese Arbeit untersuchten Kliniken und Anstalten alte Aktendeckel erneut verwendet. Die Namen und Daten der früheren Patientinnen und Patienten wurden durchgestrichen und durch die Angaben zu den neuaufgenommenen ersetzt. Krankengeschichten wurden zum Teil auf der Rückseite von bereits anderweitig benutztem Papier gedrängt zusammengefasst oder etwa Informationen zu den Eingewiesenen außen auf Briefumschlägen n ­ otiert und dann in die Akte eingeheftet. Die Verwaltung und Dokumentation der Einweisungen lief also unter deutlich erschwerten Bedingungen ab. Diese materielle Unterversorgung nahm in den westdeutschen Anstalten ca. seit 1948 ab, in der Universitäts- und Nervenklinik Greifswald und in Rodewisch hingegen hielt dieser Zustand noch bis in die Jahre 1951/1952 an. Veränderungen ergaben sich in den unmittelbaren Nachkriegsjahren bei der Einweisungspraxis – auf unterschiedlichen Ebenen und aus verschiedenen Gründen. Es gab zum einen Veränderungen im Einweisungsweg. Zum anderen 64 Brink, S. 361. 65 Sie erreichten ihren Höhepunkt 1946. Vgl. hierzu detailliert: Faulstich, Hungersterben, S. 671 ff. 66 In der britischen Besatzungszone bekamen Patienten von Heil- und Pflegeanstalten weniger Lebensmittel zugeteilt als körperlich kranke Menschen. So hatte es sich auch in der NS-Zeit verhalten. In der SBZ wurden zwar körperlich und psychisch erkrankte Menschen gleich behandelt, beide fielen jedoch in die unterste Kategorie, da sie nicht arbeiteten. Hanrath, S. 53 u. 164. 67 Brink, S. 362. 68 Vgl. zur anhaltend prekären Lage in den Anstalten in Brandenburg: Rose. 69 Hanrath, S. 161.

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sind spezifische Patientinnen- und Patientengruppen festzustellen. Schließlich kristallisieren sich zeitspezifische Probleme heraus, die die Eingewiesenen häufig aufgriffen. Insofern lässt sich der Prozess nicht einheitlich etwa als schnelle »Normalisierung« oder als »Ausnahmezustand« charakterisieren. Die lediglich rudimentäre Funktionsfähigkeit der psychiatrischen Einrichtungen spiegelt sich im temporären Aussetzen der Einweisungen zur psychiatrischen Begutachtung auf Arbeitsfähigkeit, Sterilisation oder auf Unzurechnungsfähigkeit. Die Gutachtertätigkeit in der LHA Marburg, in Untergöltzsch und in Eglfing-Haar wurde nahezu eingestellt.70 Lediglich in Greifswald gutachteten die Ärzte auch in der Besatzungszeit regelmäßig. Dort dienten zwischen Kriegsende und dem Jahr 1949 ca. sieben Prozent der Einweisungen zur Begut­ achtung auf Arbeitsfähigkeit und ca. vier Prozent zur Feststellung von Unzu­ rechnungsfähigkeit.71 Universitätskliniken waren hierauf aber auch besonders spezialisiert. Ganz im Gegensatz zu Einweisungen zur Begutachtung normalisierte sich der Weg bei zivilen Einweisungen zum Teil recht schnell. So wurden nach Kriegsende wieder mehr Patientinnen und Patienten aus ihren häuslichen Verhältnissen heraus aufgenommen: In Marburg und Greifswald wurden in der Besatzungszeit wieder mehr Menschen als im Krieg eingewiesen, die vorher zu Hause lebten. Ebenso war in diesen beiden Anstalten für einen entsprechend größeren Teil der eingewiesenen Menschen auch der letzte Aufenthaltsort ihr eigenes Zuhause. In Eglfing-Haar lebten zwar in der Nachkriegszeit ähnlich viele Patientinnen und Patienten vor ihrer Einweisung zu Hause (ca. 58 Prozent) wie in der Kriegszeit (ca. 55 Prozent).72 Jedoch machten in den Nachkriegsjahren nur etwa die Hälfte von ihnen einen Umweg über andere Institutionen, wie z. B. Krankenhäuser.73 In Untergöltzsch sind die Zahlen nicht eindeutig interpretierbar. Zwar nahm dort im Gegensatz zu allen anderen untersuchten Einrichtungen die Zahl der zu Hause lebenden Personen in den ersten Nachkriegsjahren ab. Dies ist allerdings schwer zu interpretieren, da bei zu vielen Patientinnen und Patienten die Angabe des letzten Aufenthaltsortes in der Akte fehlt.74 Gerade für die Landesheilanstalt Marburg ist es bezeichnend, dass jetzt mehr Menschen aus ihrer familiären Umgebung eingewiesen wurden.75 Denn dort entsprach die Zahl der von zu Hause eingewiesenen Patientinnen und Patienten während des Krieges ungefähr dem prozentualen Anteil der beiden Heil- und Pflegeanstalten Eglfing-Haar und Untergöltzsch. Nach dem Krieg hatte die LHA 70 Vgl. Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T27, T28, T29. 71 Ebd.: T26. 72 Ebd.: T3, T18 73 Ebd.: T8, T23. 74 Ebd.: T17. 75 Dementsprechend war die Zahl durch eine ärztliche Praxis überwiesener Menschen in Marburg mit 41,5 % in der Besatzungszeit auch sehr hoch, etwa doppelt so hoch wie im Krieg. Ebd.: T14, T29.

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also wieder mehr Gemeinsamkeiten mit einer Universitätsklinik als mit einer Heil- und Pflegeanstalt, wie es ihrer ursprünglichen Konzeption entsprach. Die wenigen ärztlichen Einweisungen in der Kriegszeit hingen in Marburg mit der kriegsspezifischen Umformung der LHA zusammen. Größere Teile der Anstalt wurden fremdgenutzt und unter den psychiatrischen Patienten befanden sich Soldaten und Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter.76 Neben diesem Platzproblem ist die bereits thematisierte Zurückhaltung mancher Familien zu berücksichtigen, ihre Verwandten staatlichen Einrichtungen anzuvertrauen. Die Veränderung nach dem Krieg kann vor diesem Hintergrund auch als Zeichen dafür gelesen werden, dass sich das Verhältnis der niedergelassenen Ärzte und Familien zu der Anstalt bereits in der Besatzungszeit wieder normalisierte. In den Nachkriegsjahren gab es viele Patientinnen und Patienten, über die kaum Angaben zu finden sind. Dies gilt insbesondere für die Jahre 1945 bis 1947, trifft jedoch auch noch auf viele Einweisungen der folgenden drei Jahre zu. Die Akten sind häufig sehr dünn und enthalten keine oder nur eine sehr knappe Krankengeschichte. Auffallend viele dieser schlecht dokumentierten Einweisungen betrafen ältere Menschen77 und/oder Vertriebene.78 Vertriebene 76 Soldaten 5 %, Kriegsgefangene/Zwangsarbeiter 6 %. Ebd.: T4. 77 Es ist bekannt, dass der Altersdurchschnitt und die Mortalität in den ersten drei Nachkriegsjahren höher waren als während des Krieges und dass dies mit den Flüchtlingsströmen zusammenhing. Viele alte Menschen blieben auf dem Weg allein zurück und wurden zu Patientinnen und Patienten von Heil- und Pflegeanstalten. Zusammenfassend dazu, vgl.: Hanrath, S.  162; im Detail für zahlreiche Anstalten, inklusive der hier behandelten, vgl.: Faulstich, Hungersterben; für die hier untersuchten Einrichtungen, vgl. zusätzlich die Jahresberichte Eglfing-Haars: Die Aufnahmezahlen nach Lebensalter wurden in den dortigen Jahresberichten in vier Gruppen aufgenommen: 16–30 Jahre, 31–45 Jahre, 46–60 Jahre und über 60 Jahre alt. In den Jahren 1946–49 war die Kategorie der über 60-jährigen die zweitstärkste, zwischen 1941 und 1945 die drittstärkste. In den 1950er Jahren machten Menschen über 60 jeweils die dritt- oder viertstärkste Gruppe aus. Vgl.: HPA Eglfing-Haar, Jahresbe­ richt 1941, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1942, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1943, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1944/45, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1946, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1947, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1948, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1949, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH. 78 Beide Gruppen machten spezifische »Anstaltskarrieren«. Ältere Menschen starben oft schnell in den schlecht versorgten Anstalten. Vertriebene blieben meist lange. Dies lag auch daran, dass Menschen ohne Familie generell länger in Anstalten blieben: Entlassungen wurden vorbereitet, indem geschaut wurde, zu wem die Patientin oder der Patient entlassen werden könnte. Meist wurde die oder der zu Entlassende zuvor auf Probe zu Verwandten »beurlaubt«. Da viele Vertriebene u. a. zu Anstaltspatientinnen und -patienten wurden, weil sie keine Verwandten hatten, die sich zu Hause um sie hätten kümmern können, konnte auch mit deren Hilfe keine Entlassung vorbereitet werden.

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wurden bei Kriegsende insbesondere in den grenznahen psychiatrischen Einrichtungen aufgenommen. Viele von ihnen wurden eingewiesen, weil keine Familienmitglieder bekannt waren, die sich um sie hätten kümmern können, sie aber auf sich a­ llein gestellt nicht mehr leben konnten. Die 1949 vorgenommene Aufnahme der 24-jährigen Anna M. in Greifswald steht exemplarisch für viele andere. Über die aus dem Sudetenland geflüchtete Patientin lagen nur die Informationen vor, dass der Rest der Familie entweder tot sei oder in der Tschechoslowakischen Republik (ČSR) lebe. Ihre Wirtin veranlasste die Einweisung, weil das Zusammenleben mit Anna M. nicht mehr als tragbar empfunden wurde.79 Da die Aufnahmebögen den Vertriebenenstatus nicht erfassten, ist nicht genau zu beziffern, wie hoch ihr Anteil war. Hinweise ergeben sich jedoch aus den meist rudimentären Krankengeschichten. Vor allem die Angabe des letzten längeren Wohnortes hilft hier oft weiter, da dieser in Gebieten lag, die nun zur ČSR oder zu Polen gehörten. In der unmittelbaren Nachkriegszeit spielten Vertriebene in den grenznahen Einrichtungen in Greifswald und Sachsen eine größere Rolle als in den anderen Besatzungszonen.80 Die Vergabe von Krankenhausbetten an Vertriebene, aber auch an alte Menschen, wurde in der Nachkriegszeit als »Verschwendung« kritisiert. Dies war nicht nur in der SBZ der Fall. So prangerte auch der Regierungspräsident von Kassel 1948 in einem Schreiben die »wesensfremde Verwendung« von Betten an .81 Darüber hinaus war zu Beginn der 1950er Jahre auch die »Rückführung« und Aufnahme psychisch­ erkrankter Deutscher in der Tschechoslowakei ein Thema zwischen Bundes­ republik und ČSR.82 79 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1949/1106, UA Greifswald, PsychN; Grund der Einweisung war, dass Anna M. ihr Bett nicht mehr verließ. Da sie auch die Toilette nicht mehr aufsuchte, tropfte der Urin schließlich ins darunter liegende Zimmer der Wirtin, die die Einweisung veranlasste. 80 In der Nachkriegszeit nahm die Zahl der vor der Einweisung dauerhaft zu Hause lebenden Personen in Untergöltzsch ab, während sie in Eglfing-Haar etwa gleich blieb und in den anderen Anstalten anstieg. Dies ist wahrscheinlich auf die Lage Rodewischs im Grenzgebiet zur späteren tschechoslowakischen Republik zurückzuführen. Denn hier wurden viele Personen, über die kaum etwas bekannt war aufgenommen. Ihrem letzten Wohnort und den Aussagen aus den Krankengeschichten nach zu urteilen, handelte es sich zu großen Teilen um Vertriebene. Dieses Phänomen ist auch in der Universitäts- und Nervenklinik Greifswald zu beobachten, die nahe der Volksrepublik Polen lag. Diese Anstalten und Kliniken nahe den Grenzgebieten waren in der frühen Besatzungszeit durch die große Zahl von Vertriebenen so ausgelastet, dass schlechterdings weniger Platz für Patienten war, die auch irgendwo anders unterkommen konnten. Natürlich gab es auch in Eglfing-Haar und in Marburg Flüchtlinge, allerdings nicht in gleichem Ausmaße. Vgl. zu dieser Problematik in den Anstalten der Grenzgebiete: Rose, S. 29 ff. 81 Der Regierungspräsident in Kassel, Abt. f. öffentl. Gesundheitswesen, Schreiben an die Amtsärzte des Bezirks v. 9.3.1948, Betr.: Wesensfremde Verwendung von Krankenhaus­ betten, StA Marburg, 401.15/83. 82 Beauftragter Grenzübergangsstelle Furth i. Wald, Berichte über Einweisung Heimatvertriebener ins Bundesgebiet und ins Land Hessen, 1950–1951, StA Marburg, 401.17/219.

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Schließlich gab es bestimmte Probleme, die von den Patientinnen und Patienten und ihrer Umgebung häufig genannt wurden. Hier sind Verlust der »Heimat«,83 fehlender Wohnraum und das Ende des nationalsozialistischen Regimes zu nennen. Diese naheliegenden Themen finden sich noch zu Beginn der 1950er Jahre regelmäßig sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR. Das Kriegsende und das Ende des Nationalsozialismus nannten manche Patientinnen und Patienten noch Jahre später als Auslöser für spätere Erkrankungen. Der 24-jährige Sattlergeselle Markus W., der 1951 in Greifswald aufgenommen wurde, nachdem er, wie in der Akte vermerkt war, »von selbst« in die Klinik gekommen war, gab an, er sei »früher ein ausgesprochener Nationalsozialist gewesen«.84 »Wie er dann den Zusammenbruch erlebt habe, die Flucht usw., sei er in starke seelische Konflikte geraten, konnte den Zusammenbruch seines Vaterlandes nur schwer seelisch verkraften.«85 Auch in der zu Beginn des Kapitels angeführten Einweisung Martina R.s spielte das Ende der NS-Zeit eine Rolle. Sie bedauerte ebenfalls den »Untergang des Reiches«.86 Allerdings sah sie die Enttäuschung über die politischen Umstände nicht als einzigen Grund ihrer Verstimmung, sondern hinzu kamen die allgemeinen Lebensbedingungen, die Gefangenschaft ihres Mannes und die Tatsache, dass sie mit ihren Kindern bei der Schwiegermutter einziehen musste.87 Solche Schilderungen, die auf die direkten Nachkriegsumstände rekurrierten, waren zu Beginn der 1950er Jahre nicht mehr üblich. Die emotionale Verstörung über das Ende des Nationalsozialismus blieb in der Selbstzuschreibung von Verstimmungszuständen allerdings noch länger ein auslösender Faktor, wie z. B. im Falle Markus W.s. Er erwähnte auch die Flucht. Seine Familie hatte in der Nähe von Stettin gewohnt und war nach Usedom geflohen.88 Die Vertreibung oder die Integration am neuen Wohnort wurde in diesem Fall nicht näher beschrieben. Der Schwerpunkt lag auf der Überwindung des Untergangs des »Dritten Reichs«. Insgesamt gaben aber gerade bei Vertriebenen nicht selten die konkreten Umstände im Zuge der Ankunft den Ausschlag für die Einweisung. Die ebenfalls 1951 stattgefundene Aufnahme Magdalena T.s, einer 44-jährigen Witwe, die mit einem ihrer Söhne zur Aufnahme in die LHA Marburg kam, verdeut83 Dies fügt sich in ein Bild, in dem sich die Vertriebenen selbst in ihrer »neuen Heimat« nicht wohlfühlten und dort auch nicht gerne aufgenommen wurden. Die Krankenakten spiegeln hier bereits bekannte Zustände wider, fügen dem Bild aber keine neuen Details hinzu oder eröffnen andere Perspektiven. Vgl. zur Integration der Vertriebenen in Ost und West u. a.: Kossert; Schwartz u. Goschler, S. 600 ff. 84 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1951/1332, Eintrag v. 8.11.1951, UA Greifswald, PsychN. 85 Ebd. 86 LHA Marburg, Patientenakte Sign. 16K10740F, Eintrag v. 15.3.1946, LWV Hessen, 16. 87 Ebd. 88 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1951/1332, Eintrag v. 8.11.1951, UA Greifswald, PsychN.

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licht dies exemplarisch. Die Familie stammte aus der Nähe Warschaus.89 Der Sohn gab an: »Im Lager Herfa sei sie seit Nov. vor. Jahres durch große gereiztheit und häufige laute klagen auffällig geworden. Sie habe sich besonders geärgert, und mit einer Gemeindeschwester herumgezankt, weil man ihr keine Wohnung geben konnte, habe auch viel geweint, dann wieder geschimpft, bis schließlich die Gemeindeschwester geäußert habe: ›Ich werde sie noch hinbringen, wo sie noch nicht gewesen sind.‹«90

Beispiele, in denen die Patientinnen und Patienten Probleme, eine Wohnung zu bekommen, nannten, könnten aus der Stichprobe zahlreiche angeführt werden. Bei Vertriebenen war dies ein Thema, aber auch immer wieder in der SBZ und DDR, wenn Patientinnen oder Patienten ihre Wohnung im Zuge der Bombardierungen verloren hatten. Karin S. beispielsweise, die 1948 durch das Gesundheitsamt Reichenbach in die Heil- und Pflegeanstalt Untergöltzsch zwangseingewiesen worden war, galt als »Querulantin«, weil sie sich nicht mit der ihr zugewiesenen Wohnung abfinden wollte. Die Frau hatte ihre Wohnung durch die Bombardierung Dresdens verloren.91 Das Gesundheitsamt betonte, dass bei einer Entlassung von Karin S. mit »einer laufenden Belästigung sämtlicher Amtsstellen zu rechnen« sei.92 Der Chefarzt in Untergöltzsch plädierte in einem Schreiben zwei Monate später dafür, der Patientin eventuell doch ein anderes Zimmer zuzuweisen, um sie dann aus der Anstalt zu entlassen. Er schrieb über Karin S.: »Das jetzt bei ihr bestehende querulatorische Verhalten ist ausgelöst worden durch Zuweisung eines Zimmers, von dem die [S., d. Vf.] behauptet, daß es ihr nicht möglich sei darin zu wohnen. – Frl. [S., d. Vf.] hat keine direkten Angehörigen mehr. Sie müsste also gegebenenfalls für dauernd in der Anstalt bleiben. – Aus diesem Grunde wird gebeten, von seiten des Gesundheitsamtes doch einmal nachzuprüfen, ob das zugewiesene Zimmer für Fräulein [S., d. Vf.] geeignet ist und gegebenenfalls ihr ein anderes zur Verfügung stellen zu lassen. Dies noch ein Versuch, die querulatorische Entwicklung der Patientin außerhalb der Anstalt abzubremsen, als Frl. [S., d. Vf.] womöglich noch viele Jahre lang durch Anstaltsunterbringung der Allgemeinheit zur Last fallen zu lassen.«93

In dieser Einweisung aus der Zeit der SBZ werden über die Wohnungsproblema­ tik hinaus – die sich in den 1940er Jahren besonders häufig in den Akten spiegelt – zwei Themen deutlich, die auch in den 1950er Jahren immer wieder eine 89 LHA Marburg, Patientenakte Sign. 16K12161F, Eintrag v. 4.7.1951, LWV Hessen, 16. 90 Ebd. 91 KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 7523, Schreiben d. städt. Gesundheitsamtes Reichenbach v. 9.1.1948, SächSta, 32810. 92 Ebd. 93 Ebd., Schreiben Chefarzt KA Rodewisch an städt. Gesundheitsamt Reichenbach v. 10.3.1948.

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Rolle spielten: Es zeigen sich erstens unterschiedliche Vorstellungen davon, welche Funktion eine Anstalt zu erfüllen habe. Die Bezeichnung »Querulantin« weist bereits darauf hin, dass Karin S. Patientin wurde, weil sie als störend galt. Kommune und Gesundheitsamt hielten ihre hartnäckigen Beschwerden über die ihr zugewiesene Wohnung für nicht tolerierbar und eine Einweisung für eine probate Lösung, die Störung des alltäglichen Verwaltungsgeschäfts zu beheben. Im Unterschied dazu sahen die Ärzte in Rodewisch keinen medizinischen Grund, die Patientin zu behalten, und appellierten entsprechend an die Kommune, als verantwortliche Instanz die Wohnungsproblematik zu klären. Die Psychiater hatten angesichts der schlechten Lage der Anstalten kein Interesse daran, mehr Patientinnen und Patienten aufzunehmen als unbedingt nötig. Die Annahme, Karin S., würde ihr restliches Leben in der Anstalt verbringen, da sie keine Angehörigen habe, entsprach den Erfahrungen.94 Auch den Ärzten war dementsprechend klar, dass soziale Faktoren für die Entscheidung über einen Anstaltseintritt und die Aufenthaltslänge stark ins Gewicht fielen. Außerdem führten sie zweitens die Kosten für die »Allgemeinheit« an. Hier handelte es sich um einen bereits in der Weimarer Republik etablierten Diskurs.95 In der DDR gewann die Überlegung, für welche Patientinnen und Patienten die Kliniken und Anstalten gedacht waren, unter der Bedingung permanenter Unterfinanzierung erneut Virulenz.

3. Neue Wege, fehlende Plätze: Die Einweisungspraxis in der DDR Im Folgenden wird der Funktion der Anstalt sowie der Akteurskonstellation bei Einweisungen in der DDR ausgehend von drei Besonderheiten nachgegangen. Erstens war die Psychiatrie durch Platzmangel sowie durch strukturelle Unterfinanzierung geprägt. Zweitens bedingte die Neuordnung des Gesundheitssystems Veränderungen in der Machtkonstellation zwischen verschiedenen Ärztegruppen in der Einweisungspraxis, obwohl die Psychiatrie beim Aufbau des neuen Staates eigentlich nur eine sehr marginale Rolle spielte. Drittens wurden Zwangseinweisungen in der DDR bis 1968 nicht neu geregelt. In der Praxis führte dies zu erheblichen Verschiebungen in den Machtkonstellationen bei der Einweisungsentscheidung.

94 Die Entlassung wurde, wie bereits beschrieben, normalerweise mit Verwandten gemeinsam vorbereitet. 95 Brink, S. 208 ff.

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3.1 Unterfinanzierung und Platzproblematik Bis in die 1960er Jahre verwendete die sowjetische Besatzungsmacht Räumlichkeiten der Psychiatrien für andere Zwecke.96 Gleichzeitig verschärfte die Gebietsreform von 1952 die Unterversorgung der Anstalten und verfestigte diese dauerhaft. Mit der Abschaffung der Länder gelangten die Anstalten in die Zuständigkeit der Kreise.97 Im Vergleich zur Bundesrepublik befanden sie sich also nicht auf einer mittleren, sondern auf der untersten Verwaltungsebene. Die Kommunalisierung der Heil- und Pflegeanstalten schwächte ihre Position, da sie Kooperationen zwischen den Anstalten erschwerte. Zudem waren die Kreisverwaltungen »damit überfordert, die Lage von Bereichen des Gesundheitswesens zu überblicken, die weit über die eigenen kommunalen Grenzen hinausging.«98 Außerdem hatte es bei der Überführung der Anstalten auf die kommunale Ebene keine personelle oder finanzielle Aufstockung der Kreisverwaltungen gegeben, in deren Zuständigkeit die psychiatrischen Einrichtungen nun fielen. In beiderlei Hinsicht waren die Kreise daher mit den Anstalten überlastet. Die Anstalten in Brandenburg bemängelten ab 1952, dass ihre finanzielle Ausstattung durch die Umstrukturierung schlechter geworden und die Verpflegung der Patienten sowie die Bezahlung des Personals akut gefährdet seien.99 In Sachsen unterschied sich die Situation nicht bedeutend. Nicht nur die Bezahlung des Personals erwies sich als problematisch, sondern überhaupt Ärzte für die Anstalten zu finden, gestaltete sich äußerst schwierig. Die Anstalten waren hoffnungslos unterbesetzt. Aufschlussreich hierfür ist die Antwort der beiden Anstalten – nun als Sonderkrankenhäuser bezeichnet – Großschweidnitz und Rodewisch auf eine Anfrage von Frau Dr. Lammert aus dem Ministerium für Gesundheitswesen, Abt. Organisation des Gesundheitsschutzes, im Jahr 1962. Lammert hatte die Anstalten kontaktiert, da sie dringend einen Psychiater für das Sanatorium Facklam in Gernrode suchte. Wie alle anderen Sonderkrankenhäuser auch, gaben die beiden Anstalten eine abschlägige Antwort, da sie bereits in der eigenen Einrichtung unter Personalmangel litten. Der ärztliche Direktor von Großschweidnitz, Dr. Fabian, erklärte in seinem Schreiben vom 05.07.1962, dass die Anstalt selbst nur über drei Fachärzte verfüge, da vier Ärzte in den letzten Jahren »durch Tod oder Krankheit« ausgeschieden seien. Für diese vier­ suche er seit Jahren erfolglos nach Ersatz.100 Das Fachkrankenhaus Rodewisch begründete seine abschlägige Antwort folgendermaßen:

96 Rose, S. 64. 97 Ebd. 98 Ebd., S. 65. 99 Ebd., S. 66 f. 100 KA Großschweidnitz, Schreiben an MfG, Abt. Organisation des Gesundheitsschutzes, Sektor Allgemeiner Gesundheitsschutz, Frau Dr. Lammert, v. 5.7.1962, BAB, DQ1/21600.

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»Sehr geehrte Frau Dr. Lammert! In Beantwortung Ihres Schreibens vom 26.6.62, das heute hier einging, muß ich Ihnen leider eine abschlägige Antwort geben. Unsere ärztliche Besetzung hat sich in den letzten Wochen sehr verschlechtert, da ein Kollege wegen versuchter Republikflucht in Haft genommen wurde und eine weitere Kollegin wegen Parkinsonismus vor ihrer Invalidisierung steht. Wir mußten deswegen seit dem 1.7.62 unsere Poliklinik, die 5 Landkreise nervenärztlich versorgt, bis auf weiteres schließen. Sie werden sicher verstehen, daß wir in dieser Lage keinen Arzt für Herrn Dr. Hörmann entbehren können. Mit vorzüglicher Hochachtung, Ihr sehr ergebener Dr. Walther«101

In den beiden Schreiben wurden zwei wesentliche Probleme angesprochen: die Überalterung der Psychiater und die damit verbundene dringend benötigte Nachbesetzung. Die Nachbesetzung war wiederum dadurch erschwert, dass viele Ärzte die DDR verließen. Gerade Ärzte identifizierten sich in der frühen DDR kaum mit dem neuen politischen System.102 Auch die Universitäts- und Nervenklinik Greifswald beklagte die andauernde Überbelegung der Klinik.103 Die Versorgung im Bezirk Rostock, zu dem die Greifswalder Klinik gehörte, war besonders angespannt. Im ganzen Bezirk gab es zeitweilig nur die beiden Universitätskliniken Rostock und Greifswald, aber keine Heil- und Pflegeanstalt, also keine Möglichkeit, Patientinnen und Patienten für einen längeren Zeitraum aufzunehmen. Die Heil- und Pflege­ anstalt Ueckermünde, die früher dieses Gebiet versorgt hatte, war wegen »unhaltbarer Zustände« im Jahr 1954 geschlossen worden. 1953 wurde immerhin eine Tuber­kuloseheilstätte in Stralsund in eine psychiatrische Abteilung umgewidmet. Allerdings verfügte sie lediglich über 210 Betten.104 Im Vergleich dazu unterhielten die sächsischen Anstalten zwischen 400 und 1000 Plätze. Zudem gab es in Sachsen mehrere Anstalten.105 Hier zeigen sich gravierende regionale Unterschiede in der psychiatrischen Versorgung der DDR. Die Universitätskliniken des Bezirks Rostocks beharrten in den Diskussionen darüber, 101 Ebd., darin: Fachkrankenhaus Rodewisch, an Ministerium für Gesundheitswesen, Abt. Organisation des Gesundheitsschutzes, Frau Dr. Lammert, 4.7.1962. 102 Zu der großen Zahl flüchtiger Ärzte und den erfolglosen Versuchen diese zu verringern, vgl.: Ernst, S. 87. 103 Abt. Gesundheitswesen, Bericht: »Über die Situation in der Versorgung von psychiatrischen und neurologischen Patienten [o. D., 1957], LA Greifswald, 200 9.1/14. 104 Rat des Bezirks Rostocks, Abt. Gesundheitswesen, Bericht über die Arbeit der Abteilung Gesundheitswesen 1953/54, LA Greifswald, 200 9.1./56. 105 Auch wenn natürlich beachtet werden muss, dass die Bevölkerungsdichte in Sachsen höher als in Vorpommern war, zeigt sich ein deutlicher Unterschied in der psychiatrischen Grundversorgung. Laut der Homepage des Statistischen Bundesamtes lebten auf dem Gebiet Sachsens 1950 ca. dreimal so viele Menschen wie auf dem Mecklenburg-Vorpommerns. https:// www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/ Bevoelkerungsfortschreibung2010130107004.pdf?__blob=publicationFile, (letzter Zugriff 2.5.2014).

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wie mit dem Mangel an Aufnahmemöglichkeiten umgegangen werden sollte, jedoch trotz dieser angespannten Lage erfolgreich darauf, dass die Hauptaufgaben einer Universitätsklinik Lehre und Forschung seien. Die Aufnahme von Langzeitpatienten komme deswegen nicht in Frage.106 In der Tat wurden in den 1950er Jahren, ganz anders als noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit, kaum mehr Menschen aufgenommen, die für Langzeitaufenthalte in andere Einrichtungen weiterverwiesen wurden. Die Universitäts- und Nervenklinik Greifswald selbst verwies entsprechend der Stichprobe zwischen 1950 und 1963 nur drei Prozent der aufgenommenen Patientinnen und Patienten weiter.107 Sie pochte also auf ihre traditionellen Tätigkeitsgebiete, die sie von den Heil- und Pflegeanstalten unterschied. Mit Gründung der DDR wurde auch die Funktion der Anstalt im Staat zum Thema. Zu Beginn der 1950er Jahre wurde in der Zeitschrift Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie über die Aufgaben der Anstalt in der Deutschen Demokratischen Republik debattiert. Hermann Nobbe (1894–1970), Leiter der Landesheilanstalt Uchtspringe, beschrieb fünf Aufgaben der Anstalten: Behandlung, Wiedereingliederung sowie Pflege und Verwahrung gemeingefährlicher »Geisteskranker« und Forschung zu den körperlichen Grundlagen der Geisteskrankheiten.108 Letztere Forderung unterschied die Anstaltsfunktion in der DDR von der im »Dritten Reich« und in der Bundesrepublik. Die Heil- und Pflegeanstalten waren im Gegensatz zu den Universitätskliniken üblicherweise keine Orte der Forschung. Die Forschung, an die Nobbe hier dachte, stellte zudem die empirische Unterfütterung der pavlovschen Theorie dar.109 Der Autor bemerkte jedoch zutreffend, dass es wohl keine Aussichten gebe, die Forderung nach Forschung in den Anstalten umzusetzen. Sie seien schon ohne diese so überlastet, dass daran gar nicht zu denken sei.110 In der Tat waren die fehlenden Plätze das dringendste Problem. Es gab sehr viele Menschen, die auf einen Platz in einer stationären Einrichtung warteten.111 Wie die Einzelfallakten zeigen, wurden in Greifswald selbst akut suizidgefährdete Patientinnen und Patienten nicht sofort aufgenommen, sondern wieder nach Hause geschickt. Ihnen wurde mitgeteilt, dass sie Bescheid erhielten, sobald ein Platz frei werde. Als Beispiel für einen solchen Fall kann 106 Bezirkstag und Rat des Bezirks Rostock, Abt. Gesundheitswesen, Schreiben an die Zentrale Kommission für staatliche Kontrolle, Bevollmächtigter für den Bezirk Rostock v. 7.6.1957, Betr.: Unterbringung von Geisteskranken, LA Greifswald, 200 9.1/14. 107 Vgl. Anhang Weitere Statistische Auswertungen: T55. 108 Hermann Nobbe: Über eine Erweiterung der Aufgaben der Landesheilanstalten, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie. Zeitschrift für Forschung und Praxis, 1951, 3. Jahrg., Heft 1, S.25–28, S. 25 f. 109 Ebd., S. 26. 110 Ebd. 111 Bezirkstag und Rat des Bezirks Rostock, Abt. Gesundheitswesen, Schreiben an die Zentrale Kommission für staatliche Kontrolle, Bevollmächtigter für den Bezirk Rostock v. 7.6.1957, Betr.: Unterbringung von Geisteskranken, LA Greifswald, 200 9.1/14.

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die verzögerte Aufnahme von Hanna S. angeführt werden. Die Patientin wurde 1950 in der Poliklinik untersucht, aber nicht stationär aufgenommen. An den überweisenden Arzt schrieb die Poliklinik: »…, lebensmüde Gedanken wurden zugegeben. Wir halten eine stationäre Aufnahme der Patientin für erforderlich und werden sie bei vorhandenem Platz von uns auf auffordern.«112 Auf Grund der wenigen stationären Plätze wurde schließlich 1954 »auf Vorschlag des Ministeriums für Gesundheitswesen mit der Kolonisierung von Geisteskranken begonnen. Arbeitsfähige Geisteskranke, die ihre Umgebung nicht gefährdeten, wurden auf Volkseigenen Gütern untergebracht.«113 Es handelte sich entsprechend der Argumentation des Bezirks Rostocks in diesem konkreten Fall um eine pragmatische Lösung der Platzfrage. Zur offenen Fürsorge in Weimar wurde kein Bezug hergestellt, obwohl bereits die Richtlinien für die psychiatrische Fürsorge von 1948 betonten, man wolle sich im Bereich der Psychiatrie am fortschrittlichen Gesundheitssystem Weimars orientieren.114 Anstaltspatientinnen und -patienten aus pragmatischen Gründen außerhalb der Anstalt unterzubringen, war keine neue oder für die DDR spezifische Maßnahme. Sie wurde in der Nachkriegszeit auch in der Bundesrepublik genutzt und schloss an Maßnahmen an, die selbst in der NS-Zeit praktiziert wurden.115 Vor dem Hintergrund der eingeschränkten Funktionsfähigkeit der Anstalten durch Unterfinanzierung, Personalmangel und Fremdnutzung ist es bemerkenswert, dass in der Universitäts- und Nervenklinik Greifswald, deren Bezirk davon besonders betroffen war, das Gutachtersystem sehr gut funktionierte. In den 1950er und frühen 1960er Jahren machten die Einweisungen zur Begutachtung in Greifswald schließlich über 20 Prozent aus. Die meisten dieser Begutachtungen galten der Arbeitsfähigkeit der Patientinnen und Patienten.116 Die Tat112 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1956/290, Schreiben v. 23.5.1950, UA Greifswald, PsychN. 113 Bezirkstag und Rat des Bezirks Rostock, Abt. Gesundheitswesen, Schreiben an die Zentrale Kommission für staatliche Kontrolle, Bevollmächtigter für den Bezirk Rostock v. 7.6.1957, Betr.: Unterbringung von Geisteskranken, LA Greifswald, 200 9.1/14. 114 Daneben ging es in dem Dokument in erster Linie um die innere Neuordnung der Anstalten. Sabine Hanrath fasst hierzu zusammen, dass das Anstaltsinnere ähnlich wie in der Bundesrepublik differenzierter gestaltet, d. h. etwa zwischen heilbar – unheilbar, ruhig – unruhig, arbeitsfähig – nicht-arbeitsfähig unterschieden werden sollte. Vgl.: Hanrath, S. 351 f. 115 So gab es eine ähnliche Lösung für polizeilich eingewiesene Menschen in Eglfing-Haar sogar in der NS-Zeit. Die Anstalt beurlaubte polizeilich eingewiesene Patientinnen und Patienten, um sie außerhalb der Anstalt in »geeigneten Familien« unterbringen zu können. Dies war keine geschickte Umgehung von Regeln, sondern durch einen Zusatz zum Artikel 80 II PStG, der die polizeiliche Einweisung in Bayern regelte, offiziell möglich. Regierung Oberbayern, Schreiben an die Bezirkspolizeibehörden v. 18.6.1933, StA München, 116848. 116 1946–49: 7,4 % Begutachtung Arbeitsunfähigkeit, 4,3 % Begutachtung Unzurechnungsfähigkeit; 1950–55: 21,5 % zur Begutachtung Arbeitsfähigkeit, je eine Person Begutachtung Pflege und eine Unzurechnungsfähigkeit, vgl. ebd.: T26, T39, T51.1956–63: 17,8 % Begutachtung Arbeitsfähigkeit, 7,8 % Begutachtung Unzurechnungsfähigkeit: T51.

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sache, dass vor dem Hintergrund der großen Zahl an fehlenden psychiatrischen Betten trotzdem Begutachtungen mit stationärer Aufnahme in einer solchen Größenordnung stattfanden, ist aussagekräftig für die Rolle der Psychiatrie im Staat bzw. in der SBZ. So wie die knapp bemessenen Mittel im unterfinanzierten Gesundheitssystem den Bürgern zugedacht waren, die zur »wirtschaftliche[n] und biologische[n] Produktivität«117 beitrugen, so wurden auch die äußerst raren Plätze in der Universitäts- und Nervenklinik zu einem nicht unerheblichen Teil für Beurteilungen der Arbeitsfähigkeit genutzt. Dies fügt sich in ein Bild der DDR, in der das Sozialsystem in gewisser Ähnlichkeit zum NS-Staat auf die maßlose Nutzung der Arbeitskraft ausgerichtet war.118 So war zum einen die Alterssicherung der am weitaus schwächsten ausgestattete Teil der Sozialversicherung.119 Zum anderen spielte das betriebliche Gesundheitswesen eine große Rolle. Es wurde bereits in der SBZ eingeführt120 und der Betrieb war seitdem in das alltägliche Gesundheitshandeln involviert.121 Auch daran, für wen die vorhandenen psychiatrischen Betten genutzt wurden, lässt sich die einseitige Orientierung des sozialistischen Sozialstaates auf die erwerbstätige Bevölkerung ablesen.122 Gleichzeitig ging es in diesen Gutachten zum Teil um Erwerbsminderung wegen kriegsbedingter Leiden. Die Zahl der Erwerbsverminderten niedrig zu halten, war ein explizites Anliegen des Ministeriums für Arbeit und Berufsausbildung, da befürchtet wurde, zu vielen Menschen könnte eine kriegsbedingte Erwerbsminderung zugestanden werden.123 Die Universitätspsychiatrie in Greifswald richtete sich in der frühen DDR also nach institutionellen Eigeninteressen, wie Lehre und Forschung, und nach dem staatlichen Interesse an psychiatrischer Expertise zur maximalen Nutzung der Arbeitskraft. Der flächendeckenden Versorgung der Patientinnen und Patienten des Bezirks galt hingegen nicht das primäre Interesse. Trotz der strukturellen psychiatrischen Unterversorgung kann jedoch festgestellt werden, dass

117 Fulbrook, Leben, S. 113. 118 Hockerts, Einführung, S. 15. 119 Das Rentensystem zeigte mit seinen zuletzt 17 Zusatzsystemen zugleich auch die Grenzen der Gleichheit in der DDR auf, ebd., S. 17. 120 Schagen u. Schleiermacher, S. 411. Das betriebliche Gesundheitssystem hatte eine stärkere Kontrolle der Erkrankten zur Folge. Krankschreibungen, die mehr als zehn Tage umfassten, konnten nur durch einen sogenannten Beratungsarzt angeordnet werden, strittige Fälle mussten vor eine Ärztekommission. Ab 1953 fiel die Instanz des Beratungsarztes weg und die Entscheidung oblag immer einer Ärzteberatungskommission. Vgl.: Ernst, S. 96. 121 Es gab z. B. Gesundheitshelferinnen im Betrieb und war es nicht unüblich, dass Mitglieder des Betriebes Krankenbesuche machten und Lebensmittel vorbeibrachten. Vgl.: Hübner, Betriebe, S. 770. 122 Dies bestätigt die arbeitszentrierte Ausrichtung des DDR-Versorgungsstaates, die in der Forschung bisher meist an den unzulänglichen finanziellen Transferleistungen für Nichterwerbstätige – von Rentnern bis zu alleinerziehenden Witwen – festgemacht wurde. Vgl. hierzu u. a.: Conrad, Alterssicherung, S. 114; Hoffmann, Sicherung, S.347–387. 123 Boldorf, S. 467.

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die Einweisungen in der DDR im Vergleich zur SBZ wieder geregelter und besser dokumentiert abliefen. 3.2 Veränderungen der Einweisungswege durch Polikliniken und Fachärztegremien Wie genau liefen die nun wieder geregelteren Einweisungen in der DDR ab? Hierfür lohnt es sich, einen Blick auf die Neuausrichtung des Gesundheitssystems zu werfen. Zwar kann in den 1950er Jahren weder in der Bundesrepublik von einer »Westernisierung« noch in der DDR von einer »Sowjetisierung« des Gesundheitssystems gesprochen werden.124 Dies bedeutet jedoch nicht, dass es keine größeren Veränderungen gab. In der SBZ hatten die Deutschen in dieser Hinsicht relativ freie Hand. In erster Linie griffen sie Elemente aus der Weimarer Republik sowie bereits seit der Kaiserzeit artikulierte Forderungen der Arbeiterbewegung auf.125 Im Zuge dieser Neuordnungen gab es in der DDR systemspezifische Veränderungen, die für den Einweisungsweg folgenreich waren, auch wenn sie eigentlich nicht auf den psychiatrischen Bereich zielten. Einblicke in den typischen Einweisungsweg in der DDR gibt ein Überweisungsschreiben der Poliklinik Zittau aus dem Jahr 1954. Anne K.126 wurde von dort in die Landesanstalt Großschweidnitz eingewiesen. »Sehr geehrte Frau Kollegin! Wir möchten Ihnen unsere Pat., Frau [Anne K., d. Vf.], zur fachärztlichen Begutachtung, gegebenenfalls zur stat. Beobachtung überweisen. Zur Vorgeschichte dürfen wir Ihnen folgende Anhaltspunkte mitteilen: Frau [K., d. Vf.] wurde 1951 wegen neuralgischen Beschwerden […] behandelt. Nach 2 bis 3 Monaten Besserung der Beschwerden. Im Herbst v. J. kam die Pat. erneut in die Sprechstunde und klagte über schwere Depressionen, die sich bis zu Suicid­gedanken steigerten. Daneben traten wiederum neuralgieforme Beschwerden auf. Nach einem kurzen Behandlungsversuch mit Vitamin B-Komplex und sedativ wirkenden Medikamenten wurde seitens der Pat. keine Besserung angegeben. Daraufhin entschlossen wir uns, Frau [K., d. Vf.] der psychiatr. poliklini. Ambulanz der Karl-Marx-Universität, Leipzig, zu überweisen und erhielten von dort folgenden Befund: Es handelt sich im wesentlichen um klimakterische Beschwerden mit entsprechenden psychischen Veränderungen im Sinne einer depressiven Gemütslage. 124 Hockerts, Einführung, S. 10. 125 Eine solche in der DDR nun erfüllte Forderung war auch die erstmalige Einrichtung eines eigenen Gesundheitsministeriums. Dies sollte jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass die Gesundheitspolitik in der frühen DDR genau wie in der Bundesrepublik keinen besonders hohen Stellenwert hatte. Ideen aus der Kaiserzeit waren auch die Einheitsversicherung und die sozialhygienische Ausrichtung des Gesundheitssystems. Anders als in der Bundesrepublik gab es in der DDR in den 1950er Jahren vollständigen Versicherungsschutz bei Krankheit. Vgl.: Schagen u. Schleiermacher, S. 401 ff. 126 KA Großschweidnitz, Patientenakte Sign. 2726, HSta Dresden, 10822.

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Auf den Behandlungsvorschlag eingehend gaben wir Propaphenin bzw. Mega­phenTabletten127 und Vitamin E. Vorübergehend wurde danach eine Besserung angegeben. Der mitbehandelnde Arzt, Dr. S., Zittau, der gynäkologischerseits außer dem Klimakterium entsprechende Veränderungen der inneren Genitalorgane nichts Pathologisches feststellen konnte, verordnete zusätzlich noch Hormon-Präparate. Vor wenigen Tagen stellte sich die Pat. wiederum bei uns vor und klagte erneut über schwere Depressionszustände, auch Suizidgedanken wurden geäußert. Wir sind deshalb der Annahme, daß die bisher geübte Therapie keine brauchbaren Erfolge zeitigt. Um eine andere Ätiologie ausschließen zu können, halten wir eine fachärzt­liche neu­ro­log.-psychatr. Beurteilung für zweckmäßig, evt. stationäre Beobachtung und dürfen Sie höflichst darum bitten, dieselbe übernehmen zu wollen. Mit kollegialen Grüßen«128

Dieses Überweisungsschreiben zeigt sowohl allgemeine Merkmale von Einweisungen als auch systemspezifische Abläufe in der DDR. Das Hinzuziehen eines Gynäkologen war nicht nur für Einweisungen in der DDR typisch. Zusammenhänge zwischen weiblicher Körperlichkeit und seelischen Erkrankungen oder Zuschreibungen von nicht akzeptierbarem Verhalten stellte die Psychiatrie bereits im 19. Jahrhundert her.129 Anders als in der NS-Zeit wurde es in beiden Nachfolgestaaten in den 1950er Jahren zunehmend üblich, Psychopharmaka zu verschreiben.130 In der DDR standen diese jedoch seltener zur Verfügung als in der Bundesrepublik.131 Die Einnahme von Psychopharmaka konnte die Einweisungen in beiden Staaten in zweifacher Weise verändern: Zum einen wurden Patientinnen und Patienten zum Teil später eingewiesen, da – wie in diesem Fall – zuerst versucht wurde, die Patientin oder den Patienten ambulant zu behandeln. Zum anderen wurden Menschen aus den Anstalten – wie die Ärzte feststellten – früher entlassen, aber auch häufiger wieder aufgenommen.132 Ebenfalls nicht systemspezifisch ist das Weiterverweisen der Patientin zu unterschiedlichen Spezialisten. Anders allerdings als in dem Überweisungsschreiben aus der NS-Zeit für die Aufnahme der an MS erkrankten Frau in die Universitäts- und Nervenklinik 127 Propaphenin wurde für die sogenannte Heilschlaftherapie zur Behandlung von »erregten Psychosen« benutzt. Zu Schwierigkeiten der Produktion in der DDR und der großen Bedeutung, die dem Medikament zugesprochen wurde, vgl.: Klöppel, S. 199–223. 128 KA Großschweidnitz, Patientenakte Sign. 2726, Schreiben d. Poliklinik Zittau v. 7.4.1956, HSta Dresden, 10822. 129 Vgl. hierzu u. a.: Kaufmann, Nervenschwäche, S. 197–199. In diesem Kontext vgl. zu genderspezifischen Diagnosen auch in dieser Arbeit im Kapitel »Krankheit und Diagnostik«, Ärztliche Diagnosen und Laiendiagnosen. 130 Zur Einführung der Psychopharmaka in der Bundesrepublik, vgl.: Balz. 131 Vgl. hierzu: Klöppel; auch die Patientenakten aus Rodewisch und Großschweidnitz weisen darauf hin, da Verwandte öfter anboten, Psychopharmaka für die Patienten aus dem Westen zu besorgen. Vgl. hierzu im Kapitel »Krankheit und Diagnostik«, Wissenszirkulation zwischen Ost und West. 132 HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1959, AB Oberbayern, EH, S. 6.

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Greifswald, wurde dieses Schreiben nicht von einem niedergelassenen Arzt ausgestellt, sondern von einer Poliklinik.133 Noch eine weitere Poliklinik spielte in der Einweisungsentscheidung eine Rolle, nämlich die psychiatrische Poli­ klinik der Karl-Marx-Universität. Hier zeigt sich bereits, dass die Einweisungsmechanismen in der DDR in Teilen anders funktionierten als zuvor und in der Bundesrepublik. Dies war nicht durch Neuregelungen der Psychiatrie bedingt, sondern durch die allgemeine Neuausrichtung des Gesundheitssystems. Allerdings gab es neben den Einweisungen durch Polikliniken nach wie vor auch regelmäßig Einweisungen niedergelassener Privatärzte. Zwar wurden seit 1949 keine neuen Privatpraxen mehr zugelassen134, aber es existierten noch zahlreiche private Praxen aus der Zeit davor. Greifswald hatte bereits vor DDR-Zeiten eine Poliklinik, nun war jedoch häufiger in den Krankenakten vermerkt, dass die Patientin oder der Patient durch die eigene Poliklinik oder durch Landambulatorien der umliegenden Gegend eingewiesen wurde. Es verwiesen auch viele private Ärzte Patientinnen und Patienten zunächst an eine Poliklinik, von wo aus sie weiterverwiesen wurden, wie den fast 500 für diese Arbeit gesichteten Krankenakten aus der DDR zu entnehmen ist.135 In jedem Fall lässt sich feststellen, dass eine Poliklinik für die Patientin oder den Patienten sehr oft eine Etappe auf dem Weg zur Einweisung darstellte. Auch bei Überweisungen und Verlegungen aus Krankenhäusern wurde die Patientin oder der Patient in Greifswald oft erst in der Poliklinik untersucht und dann erneut innerhalb des Krankenhauses in die Abteilung für Neurologie/Psychiatrie weiterverlegt.136 Vor diesem Hintergrund ist zu überlegen, wie die Polikliniken zu Veränderungen der Akteurs- und Machtkonstellationen in der Einweisungs­ praxis beitrugen. Erstens gehörten Polikliniken häufig zu stationären Einrichtungen. Nicht nur die Psychiatrische und Nervenklinik Greifswald hatte eine eigene Poli­ klinik, sondern auch die meisten psychiatrischen Anstalten. Es ist zu bedenken, dass die Überlegungen von Ärzten, die unmittelbar mit der aufnehmenden Einrichtung zu tun hatten, hierdurch beeinflusst gewesen sein dürften. Weiterhin ist anzunehmen, dass sie bei der Entscheidung über stationäre Einweisungen gleichzeitig die Platzsituation in der Anstalt antizipierten. Außerdem ist davon auszugehen, dass die Kommunikation zumindest zwischen den eigenen Poli­k liniken und den jeweiligen stationären Einrichtungen besser ablief als die

133 Anders als in der Weimarer Republik waren die Träger der Polikliniken nun nicht mehr die Krankenkassen, sondern die Gebietskörperschaften. Der Umbau des Gesundheitswesens fand bereits vor der Staatsgründung in weiten Teilen statt. Viele Polikliniken wurden also schon in den 1940er Jahren aufgebaut. Ernst, S. 25 u. 30. 134 Ebd., S. 33. 135 Niedergelassene Ärzte, Landambulatorien und Polikliniken, die nicht den Anstalten oder Kliniken angeschlossen waren, wurden statistisch nicht separat aufgenommen, da die Ärzte nicht immer eindeutig zugeordnet werden konnten. 136 Z. B.: PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign.1951/1196, UA Greifswald, PsychN.

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meist schlechte oder gar nicht stattfindende Kommunikation zwischen niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern in der Bundesrepublik.137 Wie das Beispiel der Einweisung Anne K.s nach Großschweidnitz exemplarisch zeigt, waren Polikliniken für psychiatrische Einweisungen oft wichtige Zwischenetappen. Dies verschob aber nicht nur das Machtverhältnis innerhalb der Ärzteschaft, sondern beeinflusste auch die Stellung der Patientin oder des Patienten in der Einweisungsentscheidung. Denn – zweitens – erweiterten Poli­ kliniken den Handlungsspielraum der Patientinnen und Patienten allein dadurch, dass die zu Untersuchenden eben nicht sofort stationär aufgenommen wurden. Sie mussten über einen Anstaltseintritt daher nicht in einer Institution entscheiden, in der nicht sie selbst, sondern die Ärzte als Experten zu ihren Beschwerden etabliert waren. Zudem konnte – drittens – die Möglichkeit, sich in den Polikliniken ambulant untersuchen zu lassen, die Hemmschwelle senken, einen Arzt aufzusuchen, wie bereits für die Polikliniken der Kaiserzeit und der Weimarer Republik festgestellt wurde.138 Während in der DDR Polikliniken und Landambulatorien eine wichtige Rolle spielten, nahmen bereits in der SBZ Einweisungen über Universitäts- und Nervenkliniken signifikant ab. In Untergöltzsch sanken sie auf ca. 6 Prozent und blieben auch in den 1950er und 1960er Jahren auf diesem Niveau.139 In der Kriegszeit hingegen hatten diese Überweisungen etwa zwanzig Prozent aller Aufnahmen ausgemacht. Gerade in den Universitäts- und Nervenkliniken wurden vorher zentrale fachärztliche Entscheidungen gefällt und beurteilt, ob die Patientin oder der Patient aus ärztlicher Sicht eines längeren Aufenthalts in einer Anstalt bedürfte. Diese Entscheidungen trafen nun zu einem größeren Teil die Polikliniken und die fachärztlichen Gremien in der Anstalt. Patientinnen und Patienten mit unsicherem Befund wurden, wie im Fall von Anne K., »zur fachärztlichen Begutachtung, gegebenenfalls zur stat. Beobachtung«140 in ein psychiatrisches Fachkrankenhaus, wie die Anstalten nun hießen, geschickt, um dort zu bestimmen, ob sie anstaltsbedürftig seien.141 Sowohl in der Bun137 Zur frühen BRD, vgl.: Lindner, Gesundheitspolitik, S. 91. 138 Ebd., S. 30. 139 Dementsprechend sind in der Universitäts- und Nervenklinik Greifswald auch so gut wie keine Weiterverweisungen in Anstalten festzustellen. Allerdings muss bei diesem Befund berücksichtigt werden, dass es im Bezirk Rostock auch nur sehr wenige Plätze gab, in die sie hätten weiterverweisen werden können. Vgl. Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T12, T27, T40, T52. 140 KA Großschweidnitz, Patientenakte Sign. 2726, HSta Dresden, 10822. 141 Dies kam bei den Einweisungen nach Rodewisch und Großschweidnitz regelmäßig vor. In Großschweidnitz wurden Aufnahmen über das hauseigene Fachärztegremium systematisch vermerkt und konnten daher statistisch aufgenommen werden. Sie machten ca. 10 % der Aufnahmen aus. Vgl. Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T51.

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desrepublik als auch im »Dritten Reich« war die ärztliche Entscheidung über die Einweisung hingegen in den allermeisten Fällen vorgelagert und fand nicht in der Anstalt statt. Dies galt insbesondere, wenn es sich um Ersteinweisungen handelte.142 Insgesamt zeigt die Rolle der Polikliniken und der fachärztlichen Kom­ missionen der Sonderkrankenhäuser, dass die staatlichen Gesundheitseinrichtungen in der Einweisungspraxis der DDR eine deutlich größere Rolle spielten als während der Kriegszeit und in Westdeutschland. Ihre Zuständigkeit erstreckte sich oft auch auf die formale Einweisung von Patientinnen und Patienten, die vor ihrer Aufnahme zu Hause lebten und nicht aus einer anderen Institution kamen. Insbesondere die Entscheidungen in den Anstalten stärkten die Position der Psychiater. Diese Einschätzung passt zu Sabine Hanraths Befund, dass die Psychiater in der Diskussion um ein neues Unterbringungsgesetz in der DDR, im Gegensatz zur Bundesrepublik, eine bessere Position der Ärzte in Entscheidungsverfahren über Zwangseinweisungen durchsetzen konnten.143 Die Angehörigen blieben in der DDR bei Einweisungen weiterhin wichtig. Da es weniger förmliche Zwangseinweisungen gab, nahm die Meinung der Angehörigen bei Einweisungsentscheidungen eine zentrale Rolle ein. Viele Einweisungen liefen wie im Fall von Karin F.s und Albin H.s ab, zwei zivilen Aufnahmen: Die 31-jährige Karin F. kam 1958 nach Großschweidnitz. Sie litt seit ihrer Kindheit an »spastischer Parese in der Hüfte«.144 Die Eltern ­erklärten, dass für sie immer mehr pflegerische Aufgaben anfielen, da die L ­ ähmungen sich verschlimmerten. Die Mutter hatte sich deswegen zuerst an die örtliche Poliklinik gewandt und von dort aus wurden Tochter und Mutter an die Fachärztekommission in den Krankenanstalten Großschweidnitz weiterverwiesen. Dort sprach sich die Mutter für die stationäre Unterbringung aus.145 Die Ärzte stimmten dem zu: »Zweckmäßig wäre hier eine Aufnahme in stationäre Pflege. Dieses ist aber aus Platzgründen – zumindest in den nächsten Monaten – hier nicht durchführbar. Wir können diesen Fall einstweilen nur vormerken und zu gegebener Zeit einberufen.«146 Hier zeigt sich erneut, dass zu wenige Plätze für Aufnahmen zur Verfügung standen. Kurze Zeit später wurde Karin F. dann 142 Bei Einweisungen von Menschen, die öfter in derselben Einrichtung aufgenommen wurden, war es auch in der Bundesrepublik manchmal der Fall, dass die Patientinnen und Patienten direkt von der Anstalt eingewiesen wurden. Dies lag allerdings nicht an den Einweisungsstrukturen der Bundesrepublik, sondern daran, dass Angehörige und Patientinnen und Patienten diese Strukturen manchmal umgingen, wenn sie die Einrichtung und ihre Ärzte kannten. 143 Auch das Gesetz von 1968 schränkte die Macht der Ärzte nicht so ein wie in der Bundes­ republik. Die Gerichte mussten auch dann nur bei Unterbringungen von mehr als sechs Wochen eingeschaltet werden. Hanrath, S. 366 f. 144 KA Großschweidnitz, Patientenakte Sign. 2577, Eintrag v. 14.11.1958, HSta Dresden, 10822. 145 Ebd. 146 Ebd.

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aber doch stationär aufgenommen. Drei Wochen nach der Aufnahme, nach einem Rückgang der Spastiken, entließ man sie auf Wunsch ihrer Eltern wieder.147 Die Entscheidung für eine stationäre Aufnahme trafen also die Eltern und die Ärzte in Großschweidnitz. Während die Patientin hier der Aufnahme ambivalent gegenüberstand, gab es auch Fälle, in denen Ärzte und Angehörige eindeutig eine Einweisung gegen den Willen eines Familienmitgliedes veranlassten. Ein Beispiel ist die Einweisung des 71-jährigen Albin H.s 1958. Er wohnte bei seinem Sohn, der sich um eine Aufnahme bemühte, nachdem sein Vater begonnen hatte, abends durch das Haus zu wandern und andere Hausbewohner und seinen Sohn körperlich anzugreifen.148 Beide Einweisungen haben bei allen Unterschieden gemeinsam, dass für die Angehörigen die häusliche Situation ausschlaggebend war, sei es auf Grund eines erhöhten Pflegeaufwandes oder im Zusammenhang mit gewalttätigem Verhalten. Zusammenfassung: Staat und Psychiatrie in der DDR Insgesamt lassen sich im Vergleich zur Kriegszeit in der DDR zwei größere Veränderungen der Rahmenbedingungen, der Akteurskonstellationen und der Handlungsspielräume einzelner Akteursgruppen in der Einweisungspraxis feststellen. Die Stationen des Einweisungsweges hatten sich durch den DDR-spezifi­ schen Umbau des Gesundheitssystems verändert. Polikliniken gewannen als neue Institution an Bedeutung. Universitätskliniken spielten kaum noch eine Rolle, privat praktizierende Ärzte nur noch eine nachrangige. Darüber hinaus verfügten die Anstaltsärzte über eine zentrale Position in der Einweisungsentscheidung. Die Beratungen der Fachärztegremien stärkten ihre Stimme. Trotz dieser Brüche können auch Kontinuitäten festgestellt werden. So herrschte weiterhin akuter Platzmangel in den psychiatrischen Einrichtungen, wenngleich sich die Gründe dafür gegenüber der NS-Zeit geändert hatten. Außerdem blieb die Gutachtertätigkeit vor allem in der Universitätsklinik Greifswald ein wichtiges Betätigungsfeld für Psychiater und auch ein Grund für temporäre Einweisungen. Selbstverständlich ist es ein grundlegender Unterschied, ob auf Sterilisation oder auf Arbeitsfähigkeit begutachtet wurde. Die Gemeinsamkeit liegt auf struktureller Ebene: In beiden Systemen dienten kurzzeitige Einweisungen dazu, staatlicherseits psychiatrische Expertise abzurufen.

147 Ebd., Eintrag v. 4.12.1958. 148 KA Großschweidnitz, Patientenakte Sign. 3854, Einweisungsattest v. 28.5.1958, HSta Dresden, 10822.

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4. Strittige Psychiatrie-Funktion und Einweisungspraxis in der Bundesrepublik Jede erdenkliche Art von Mangel – darunter litten auch die Anstalten in den westlichen Besatzungszonen.149 Um der Überfüllung Herr zu werden, ging man in Nordrhein-Westfalen, ähnlich wie im Bezirk Rostock, dazu über, Kranke in die sogenannte »Familienhilfe«150 zu geben oder in ihren Familien zu belassen. Die »Westfälische Zeitung« beschrieb diese Maßnahmen »Für die Ärmsten der Armen« am 2. Juli 1949: »Weniger bekannt ist die Tatsache, daß man dazu übergegangen ist, einen Teil  der Leichtkranken in die sogenannte ›Familienhilfe‹ zu geben. Diese Kranken sind mit einem Pflegegeld in Familien ländlicher und handwerklicher Arbeitgeber als Arbeitskräfte unter ständiger ärztlicher Beobachtung und werden mit normalen Verhältnissen vertraut gemacht. Die einzelnen Anstalten betreuen auf diese Weise je 50 bis 90 Patienten. Manche Kranke – die eigentlich anstaltspflegebedürftig – ein ruhiges Verhalten zeigen, werden in ihren Familien belassen, indem man eine Beihilfe bis zu 30 DM zahlt. Dadurch erspart man die höheren Anstaltspflegekosten und den Unterbringungsraum. In Westfalen gibt es etwa 190 derartige Fälle.«151

Zwar blieb die Situation in den Psychiatrien auch in den 1950er Jahren noch angespannt, allerdings nicht in gleichem Maße wie in der DDR. Es gab keine anhaltende Fremdnutzung der Anstalten und zudem waren die Psychiatrien auf einer mittleren Verwaltungsebene angesiedelt und daher nicht den besonderen finanziellen Problemen ausgesetzt, die in der DDR durch die Verlagerung der Anstalten auf die Kreisebene ohne finanzielle Aufstockung entstanden waren. Anders als in der DDR orientierte man sich verwaltungstechnisch an der Zeit vor dem Nationalsozialismus.152 Außerdem war die westliche Hälfte Deutschlands anders als der östliche Teil nicht von einer kontinuierlichen Abwanderung von Fachärzten betroffen. Darüber hinaus restituierte die Bundesrepublik das alte deutsche Gesundheitssystem fast vollständig. Im Gegensatz zur DDR konnten sich die Ärzte wieder autonom organisieren und das Sozialversicherungssystem schloss an traditionelle Unterscheidungen zwischen Arbeitern, Angestellten und Privatversicherten an.153 Da es keine größeren Umwälzungen im Gesundheitssystem gab, traten im Unterschied zur DDR auch keine neuen­ 149 Faulstich, Hungersterben, S.  686 ff.; detailliert zur Nachkriegssituation in NordrheinWestfalen, vgl.: Hanrath, S. 50 ff. 150 Westfälische Zeitung v. 2.7.1949, Artikel »Für die Ärmsten der Armen«, HAB, Sar 1–378. 151 Ebd. 152 Im neugegründeten Bundesland Hessen gehörte die LHA Marburg zum auf der Tradition der preußischen Provinzialverbände beruhenden Landeswohlfahrtsverband. EglfingHaar unterstand dem Bezirk Oberbayern. 153 Hockerts, Entscheidungen, S. 37.

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institutionellen Akteure bei den Einweisungen hinzu, wie die Polikliniken und Landambulatorien. Neue Entscheidungsträger kamen in der Bundesrepublik nicht durch Veränderungen im Gesundheitssystem hinzu, sondern im Zusammenhang mit Neuregelung der Zwangseinweisung. 4.1 Wer gehört in die Anstalt? Diskussionen um Kosten und das Verhältnis von Sicherheit und Krankheit Wozu dienten die Anstalten eigentlich oder wozu sollten sie dienen? Trotz des Anschlusses an alte Strukturen warfen praktische Aspekte diese Frage auch in der Bundesrepublik auf. Analog zur DDR und der dortigen Diskussion, für wen die wenigen Plätze genutzt werden sollten, wurzelte sie in der Kostenproblematik. Die Debatte verlief jedoch anders: Während es in der DDR um die Kostenverursacher ging, also darum, wer überhaupt aufgenommen werden konnte und sollte, ging es in der Bundesrepublik um die Kostenträger, also darum, wer den Aufenthalt aus welchen Gründen bezahlen sollte. In diesen unterschiedlich gelagerten Diskussionen spiegelt sich die Tatsache, dass in der DDR noch weniger Plätze als in der Bundesrepublik zur Verfügung standen. Zwar gab es auch im Westen seitens der Anstalten und der Fürsorgevereine Diskussionen, für wen die Anstalt eigentlich gedacht war, wie Sabine Hanrath herausgearbeitet hat.154 Allerdings ging es hierbei um eine Differenzierung der Patientinnen und Patienten in verschiedene Gruppen, die unterschiedlich untergebracht werden könnten. So gab es in NRW beispielsweise die Überlegung, »Heilung« und »Pflege« institutionell zu trennen.155 Die Hauptfrage in der Bundesrepublik war daher, wie und in welchen medizinischen Einrichtungen psychiatrische und neurologische Patienten behandelt werden sollten und wer den stationären Aufenthalt bezahlen sollte. Die Kostendiskussion entzündete sich an dem sogenannten »Halbierungserlass« von 1942. Dieser regelte die Kostenübernahme bei fast allen Einweisungen.156 Die Regelung besagte, dass bei einer Einweisung die Fürsorgeverbände die Hälfte der Kosten und die Krankenkassen die andere Hälfte zahlen sollten und zwar egal, ob die Patientin oder der Patient in erster Linie zur Behandlung oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit zur Verwahrung eingewiesen wurde. Der »Halbierungserlass« entstand aus pragmatischen Gründen, da nun die vorher nötige Überprüfung des Einweisungsgrundes und des Kostenträgers wegfiel. Es handelte es sich um eine Vereinfachung und Vereinheitlichung, die in ihrem Pragmatismus dennoch erkennen lässt, dass in der NS-Zeit alle Patien154 Hanrath, S. 249 ff. 155 Ebd., S. 250. 156 Zum Halbierungserlass, vgl.: Brink, S.  386. De facto ist der Diskussion um den Halbierungserlass zu entnehmen, dass kein einheitliches Verständnis darüber herrschte, ob und in welchen Fällen er warum oder warum nicht angewendet werden sollte.

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tinnen und Patienten ohne Umstände als potentielle Gefahr etikettiert werden konnten. Der Erlass blieb in der Bundesrepublik während des gesamten Untersuchungszeitraums gültig; er wurde 1960 sogar erneut bestätigt.157 Allerdings gab es seit 1949 Diskussionen darüber, ob der »Halbierungserlass« sinnvoll sei und wie eine andere Regelung aussehen könnte. Anhand dieser Kostendebatte lässt sich gut nachzeichnen, für wen die Anstalt gedacht war. In der Diskussion waren einzelne Anstalten, Krankenversicherungen und Fürsorgeverbände, aber auch Positionen von Betroffenen-Organisationen oder dem Justizapparat von Belang. Angestoßen wurden die Erörterungen durch die Krankenkassen, die der Auffassung waren, der Halbierungserlass habe in der Praxis zu ungerechtfertigten Kosten auf ihrer Seite geführt. Der Verband der Angestellten Krankenkassen e. V., Hamburg schrieb im Mai 1949 an die Ministerien für Arbeit und Soziales der Länder: »Dafür, dass die Träger der Krankenversicherung in den Fällen, in denen es sich um eine reine Bewahrung handelt, die Hälfte der Kosten übernehmen müssen, sollten sie als Äquivalent dafür in allen übrigen Fällen die Garantie haben, dass sie auch dort nur mit den halben Kosten belastet werden.«158 In der Praxis war dies nicht immer der Fall: Es kam vor, dass die Fürsorgeverbände ihre Aufwendungen von den Betroffenen zurückforderten. In diesen Fällen konnten die Patientinnen und Patienten dann einen Anspruch bei ihrer Krankenkasse anmelden. Somit trug die Krankenkasse über einen Umweg letztlich doch die gesamten Kosten.159 Festzuhalten ist, dass es sich hierbei um regional unterschiedliche Praktiken handelte. So schrieben zum Beispiel einige bayrische Landratsämter, denen die Fürsorgeverbände unterstanden, dass in ihren Bezirken die vom Verband der Angestelltenkassen e. V. Hamburg erwähnten Schwierigkeiten noch nie aufgetaucht seien.160 Über Jahre hinweg wurde diskutiert, ob der Halbierungserlass und seine jeweilige Vollzugsweise rechtens seien oder nicht und ob dies zumutbar für die Kassen sei. Hier interessiert ein anderer Punkt, nämlich die konstant mitschwingenden Überlegungen, welchen Sinn die Anstalten eigentlich hatten und haben sollten. Der Halbierungserlass nahm eine bereits vorher bestehende Klassifizierung von Einweisungsmotiven auf, die im Zuge der Kostendebatte mitdiskutiert wurde. Der Krankenkassenverband sprach von »Bewahrungsfällen« und den »übrigen Fällen«. Damit differenzierte er zwischen Einweisungen zur Verwahrung und zur Behandlung. Diese Unterscheidung wurde in den 1950er und frühen 1960er Jahren interpretiert, übernommen oder in Frage gestellt.­ 157 H. E. Schulz, Lohr a. Main, Stellungnahme zu den Fragen: Anwendung des Halbierungserlasses, »Geisteskrankheit im medizinischen Sinne«! und »welche Regelung ist den Kassen vorzuschlagen,…, o. D. November 1960, BayHSTA, Minn 80914. 158 Verband der Angestellten-Krankenkassen, Schreiben an die Ministerien für Arbeit und Soziales v. 13.4.1949, BayHSTA, Minn 80911. 159 Ebd. 160 Z. B.: Landsratsamt Bezirksfürsorgeverband, Schreiben an die Regierung von Schwaben v. 24.6.1949, BayHSTA, Minn 80911.

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Zahlreiche binäre Codes, wie Bewahrungs- und Behandlungsfälle, somatische und psychische Erkrankungen, polizeiliche und richterliche Einweisungen  – und seltener die Notwendigkeit, diese zu hinterfragen – wurden in der frühen Bundesrepublik diskutiert, um über die Einweisungsgründe den zuständigen Kostenträger festzustellen. Exemplarisch für die Mehrheitsmeinung zu Beginn der Debatte 1949 ist die Einschätzung des Bezirksfürsorgeverbands Günzburg, der im Juni 1949 folgendes Vorgehen vorschlug: »Mein Vorschlag geht dahin, dass: 1) Bei Aufnahme in eine Anstalt aus überwiegenden Gründen der Behandlung einer Krankheit die leistungspflichtige Krankenkasse die Kosten im Rahmen der Bestimmungen der RVO161 übernehmen soll, 2) bei Aufnahme aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und vorliegender Hilfsbedürftigkeit die zuständige Fürsorgebehörde die Kosten übernimmt. Selbstverständlich ist die Ursache der Einweisung in jedem Fall zu ermitteln. Auf Grund meiner Zusammenarbeit mit der hiesigen Heil- und Pflegeanstalt ist feststellbar, dass die aus Gründen der Behandlung einer Krankheit eingelieferten Patienten viel zahlreicher sind als Behandlungen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit.«162

Vier Punkte in dieser Stellungnahme sind hervorzuheben. Zum einen galt die Annahme, dass es eine isolierbare Ursache für jede Einweisung gebe, zum anderen, dass der Kostenträger auf Grundlage der Ursache entschieden werden solle. Außerdem wurde als gegeben vorausgesetzt, dass die beiden möglichen Ursachen Krankheit und Sicherheitsfragen seien. Schließlich nahm der Verband an, dass Krankheit als Einweisungsgrund zur Behandlung in der Anstalt führe, während Gründe der Sicherheit zur Verwahrung führten. Alle vier Punkte wurden im Laufe der nächsten zehn Jahre angefochten. Hierbei spielten unterschiedliche Anliegen der betroffenen Institutionen eine Rolle. Die Krankenkasse hatte ein Interesse daran, den Halbierungserlass außer Kraft zu setzten, um Kosten zu sparen.163 Die Fürsorgeverbände plädierten aus dem gleichen Grund für die Beibehaltung, brachten aber auch inhaltliche Argumente an.164 So schrieb der Landkreisverband Bayern im Juli 1949 in Verteidigung der Belastung der Krankenkasse bei »Verwahrungsfällen«: »Aber auch im sog. Bewahrungsfalle, also in den Fällen, in denen der Geisteskranke vorwiegend aus Gründen der öffentlichen Sicherheit in die Anstalt aufgenommen wurde, kann doch nicht bestritten werden, daß eine Krankheit, wenn auch keine solche im Sinne der RVO, vorliegt. Da es sich außerdem um einen versicherten Kranken 161 Reichsversicherungsordnung (RVO). 162 Landratsamt Günzburg, Bezirksfürsorgeverband, Schreiben an die Regierung von Schwaben v. 22.6.1949, BayHSTA, Minn 80911 [Hervorhebungen im Original]. 163 Verband der Angestellten-Krankenkassen, Schreiben an die Ministerien für Arbeit und Soziales v. 13.4.1949, BayHSTA, Minn 80911. 164 U. a.: Stadtverwaltung Augsburg, Schreiben an die Regierung von Schwaben v. 15.6.1949, BayHSTA, Minn 80911.

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handelt, scheint es nicht unbillig, wenn auch in diesen Fällen der Versicherungsträger von vorneherein die Hälfte der Kosten übernimmt, denn er hat vor Einlieferung des Geisteskranken auch dessen Beiträge vereinnahmt.«165

Die Fürsorgeverbände führten somit an, dass Gründe der Krankheit und der Sicherheit zusammenfielen und es keine Einweisungen gebe, die nur aus »Gründen der öffentlichen Sicherheit« stattfänden. Einmal aufgekommen, stellte sich die Frage nach dem richtigen Kostenträger nicht nur zwischen Krankenkassen und Fürsorgeverbänden. Da es auch um die »öffentliche Sicherheit« ging und hierbei in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik die Amtsgerichte an entscheidender Stelle involviert waren, kam auch der Justizfiskus für die Zahlung in Frage. Hier wurde eine weitere Binnendifferenzierung innerhalb der Einweisungen, die aus »Gründen der öffentlichen Sicherheit« erfolgten, zwischen einstweiliger Verwahrung und dauerhafter Unterbringung eingezogen. Das Bayerische Staatsministerium für Justiz meinte, dass die Fürsorgeverbände bei dauerhafter Unterbringung zuständig sein sollten und der Justizfiskus für einstweilige Unterbringungen aufzukommen habe, da diese ein Äquivalent zur Untersuchungshaft seien.166 Auch die Heil- und Pflegeanstalten wurden 1952 um eine Stellungnahme zum »Halbierungserlass« gebeten. Für die Anstalten ging es u. a. um ihre Außenwahrnehmung vor dem Hintergrund der NS-Zeit und um ihr Verhältnis zu den Universitätskliniken. Der Direktor Eglfing-Haars, Dr. Braunmühl (1901–1957),167 nahm auf Anfrage des Bayerischen Staatsministeriums des Innern Stellung zur Diskussion um den Halbierungserlass und betonte, dass dieser nur vor dem durchweg negativen Verhältnis zu Geisteskranken in der NS-Zeit zu verstehen sei. Die Anstalten würden deswegen als Verwahranstalten verstanden, worauf der »Halbierungserlass« rekurriere.168 Aus diesem Verständnis rühre außerdem die andersgeartete Kostenabrechnung in den Klinken her, die seiner Meinung nach der Veränderung bedürfe: »Der Standpunkt der Krankenkassen, die Kosten in Nervenkliniken voll zu übernehmen und zwar auch dann, wenn die öffentliche Fürsorge als Zahler in Frage käme, andererseits aber die Kosten in den Heil- und Pflegeanstalten abzulehnen, obwohl in diesen die Kranken nicht nur gleicherweise betreut werden, wie in den Kliniken, sondern darüberhinaus oft die modernste Behandlung erfahren, ist abzulehnen.«169 165 Landkreisverband Bayern, Schreiben an das Bayer. Staatsministerium des Innern v. 27.7.1949, BayHSTA, Minn 80911. 166 Bayer. Staatsministerium der Justiz, Schreiben an das Bayer. Staatsministerium des Innern v. 8.8.1949, BayHSTA, Minn 80911. 167 Anton von Braunmühl war bereits seit 1927 Assistenzarzt in Eglfing-Haar. Seit 1946 war er Direktor. Er selbst gab an, eine Beteiligung an den Tötungsaktionen während des Zweiten Weltkriegs verweigert zu haben. Vgl. zu Eglfing-Haar in der Kriegszeit: Siemen, S. 445. 168 HPA Eglfing-Haar, Schreiben an den Landesfürsorgeverband Oberbayern v. 14.2.1953, S.1, BayHSTA, Minn 80911. 169 Ebd., S. 2

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Der Direktor der oberbayerischen Heil- und Pflegeanstalt argumentierte aus einer Konkurrenzsituation zwischen Nervenkliniken und Heil- und Pflegeanstalten heraus.170 Ihm ging es auch darum, dass die Anstalten als medizinische Einrichtungen wahrgenommen und akzeptiert wurden. Braunmühl forderte, dass von den Krankenkassen anerkannt werden müsse, dass es sich bei »Geisteskranken« immer um Behandlungsfälle handele.171 Damit löste er die Dichotomie von Sicherheit und Krankheit auf, die der Diskussion zu Grunde lag. Stattdessen trat er für eine eindeutige Zuordnung der Anstalt zum medizinischen Sektor ein. Diese Argumentation ist typisch für die Selbstdarstellung der Psychiater in der frühen Bundesrepublik. Sabine Hanrath hat für NRW ebenfalls festgestellt, dass die Ärzte sich als die Profession stilisierten, die den ganzen Menschen im Blick habe und weniger politisch korrumpiert sei als die Verwaltungsbehörden.172 Das medizinische Argument wurde als das ethisch richtige dargestellt – die Integrität und Unvoreingenommenheit der Psychiater vorausgesetzt. So wurde durch die Auflösung der Funktionsdichotomie versucht, die medizinische Deutungshoheit absolut zu setzen.173 In diesem Kontext machte Braunmühl eine innermedizinische Dichotomie auf und konstatierte verärgert: »Es ist ganz unerfindlich, warum es nicht gelingt, die Verwaltungsinstanzen davon zu überzeugen, daß Geisteskranke nicht anders zu behandeln sind, als wie körperlich Erkrankte, (…).«174 Nach Braunmühl war die Unterscheidung zwischen geistig und körperlich erkrankten Patientinnen und Patienten ausschlaggebend für die damalige Praxis der Kostenübernahme. Denn

170 Bereits seit der Gründung der ersten Universitäts- und Nervenkliniken gab es Unstimmigkeiten zwischen Anstaltsärzten und Klinikärzten, die sich u. a. in Streitigkeiten über den Ausbildungsweg manifestierten. Vgl.: Engstrom, Psychiatry, S. 46 f. 171 HPA Eglfing-Haar, Schreiben an den Landesfürsorgeverband Oberbayern v. 14.2.1953, S.2, BayHSTA, Minn 80911. 172 Hanrath, S. 256. Auch in den Diskussionen am Ende der Weimarer Zeit argumentierten die Psychiater ähnlich. Sie plädierten gegen den Ermessensspielraum, der der Polizei mit den Neuregelungen von 1932 eingeräumt wurde, indem sie den Begriff »Gemeingefährlichkeit« ablehnten und versuchten, Krankheit als Grundlage für jede Art der Anstaltseinweisung zu etablieren. Vgl. im Detail: Brink, S. 260 f. 173 Dass Einweisungen keineswegs nur über medizinische Kriterien zu fassen sind, zeigt die Argumentation der Laien, wie sie in den nächsten Kapiteln herausgearbeitet wird. Auf die Probleme und Grenzen einer in erster Linie medizinischen Deutung der Anstalten wird auch hingewiesen in: Meier u. a., S.  34. Während es in der Kostendiskussion der 1950er Jahre um eine Ausweitung medizinischer Kompetenz seitens der Psychiater geht, geht es in Zwang zur Ordnung allerdings eher um die gesellschaftliche Kompetenzund Verantwortungsabgabe an die Medizin. »Durch die Favorisierung therapeutischmedizinischer Motive und die gleichzeitige Tabuisierung disziplinarisch angewandten Zwangs werden gesellschaftliche Zwangsmechanismen an die Medizin delegiert und somit gesellschaftspolitische Probleme in scheinbar rein medizinisch-diagnostische Fragen transformiert.« 174 HPA Eglfing-Haar, Schreiben an Landesfürsorgeverband v. 14.2.1953, BayHSTA, Minn 80911.

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körperlich erkrankte Menschen fielen unzweifelhaft in den medizinischen Bereich; somit trugen die Krankenkassen ohne weitere Diskussion die Kosten. Mit Fortschreiten der Diskussion wurden die Binnendifferenzierungen, die als relevant galten, immer kleinteiliger. In einem Gutachten eines Dr. Schulzes, Mitglied des Deutschen Vereins für psychisch behinderte Personen, erklärte dieser zwei weitreichende innerpsychiatrische Differenzierungen als grundlegend für die Feststellung der Kostenübernahme. Schulz plädierte dafür, dass die Kassen nicht zuständig sein sollten, wenn es sich um »Psychopathen«, »Alterskranke« oder »Schwachsinnige« handele.175 Diese Differenzierung verlief entlang von zwei Kriterien: der somatischen/körperlichen Ursache einer Krankheit und des Alters. »Psychopathen« wurden an der Grenze somatischer Krankheitsbilder verortet und für viele Ärzte damit zugleich an der Grenze zur Medizin, denn die deutsche Nachkriegspsychiatrie verstand sich in ihrer großen Mehrheit als somatisch orientiert.176 »Schwachsinn« und »Alterserkrankungen« galten zwar unumstritten als somatisch verursacht, befanden sich aber auf der Altersskala an den jeweiligen Extremen. Da Schwachsinn vererbt oder zumindest immer ein frühkindliches Phänomen sei, werde  – Schulz folgend  – nie eine »geistig vollwertige Persönlichkeit« entwickelt.177 Als »geisteskrank« und damit in den Bereich der Krankenkassen fallend, galt nur, wer sich somatisch bedingt nicht »normal« verhielt, ohne dass dies auf die »normale« körperliche Entwicklung zurückgeführt wurde. Die isolierte Betrachtung von Altersphänomenen stellt eine Parallele zu den Diskussionen in der DDR dar, wo z. B. die Universitätskliniken des Bezirks Rostocks alte Menschen und Pflegefälle zu Gunsten von Lehre und Forschung ablehnten, obwohl keine alternativen Orte für die stationäre Behandlung existierten. Die Kostendiskussion zeichnet sich durch drei für das Verständnis der Anstalt in der Nachkriegszeit aufschlussreiche Punkte aus. Zunehmend spezifischere Binnendifferenzierungen kennzeichneten erstens den Diskussionsverlauf. Von der Dichotomie Krankheit – Sicherheit ausgehend, wurde Krankheit zuerst in die Kategorien somatisch und psychisch eingeteilt. Dann wurden die psychiatrischen Krankheitsbilder weiter unterschieden. Die immer ausgefeilteren Zuordnungsüberlegungen führten jedoch in keiner Weise dazu, dass eine Einigung zu Stande gekommen wäre. Das Gegenteil war der Fall. Alle an der Diskussion Beteiligten beanspruchten Deutungshoheit, indem sie ihr Gebiet zum Ausgangspunkt der jeweiligen Überlegungen machten, wer warum in Heilund Pflegeanstalten untergebracht sein sollte. In den 1950er Jahren gab es daher keine neue Regelung und die Praxis blieb, wie sie war, nämlich höchst d ­ isparat. 175 H. E. Schulz, Stellungnahme zum Halbierungserlass [o. D., Ende Nov. 1960], BayHSTA Minn 80914. 176 Ausführlich zur somatischen Orientierung der Psychiater, das: Kapitel »Krankheit und­ Diagnostik«. 177 H. E. Schulz, Stellungnahme zum Halbierungserlass [o. D., Ende Nov. 1960], BayHSTA Minn 80914.

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Theoretische Zuordnungsversuche und praktische Vielfalt finden sich in der Psychiatrie der 1940 und 1950er Jahre nebeneinander und in nahezu dialektischer Verbindung miteinander. Dem Versuch, Ambivalenzen durch möglichst eindeutige Systematiken zu überwinden, und dessen permanentem Scheitern wird auch in den nächsten Kapiteln weiter nachgegangen.178 Zweitens prägte eine Vielfalt der Standpunkte die Debatte. Je nach Institution unterschied sich der Standpunkt, wofür die Anstalt da sei: Sollten Aspekte der Sicherheit oder medizinische Überlegungen im Vordergrund stehen? Wie sollten diese jeweils genau aussehen? Hier scheint eine Bandbreite an Fragen auf, der im Laufe der Arbeit noch genauer nachgegangen wird. Schließlich und im direkten Zusammenhang mit dem zweiten Punkt vermischten sich inhaltliche und interessengeleitete Argumentationen: In der Kostendiskussion wurde Psychiatrie immer aus dem Interesse und der Funktion bestimmter Institutionen heraus definiert. Deswegen ist die inhaltliche Argumentation jedoch keineswegs allein als Legitimierungsstrategie für partikulare Interessen zu werten.179 Vielmehr sind beide Ebenen miteinander verquickt und müssen gemeinsam untersucht werden. Die Verflechtung von Inhalt und Funktion ist signifikant für die Psychiatrie insgesamt und wird noch deutlicher in den Argumentationen von Angehörigen der Eingewiesenen aufscheinen. Auch in den Argumentationen der Verwandten vermischten sich pragmatische Anliegen mit inhaltlichen Einschätzungen. 4.2 Patientinnen und Patienten zwischen Ärzten, Verwandten und überfüllten Kliniken Wie die Familien Gebrauch von der Anstalt machten, hing von verschiedenen Umständen ab, die, wie in der DDR, eher pragmatischer Natur waren. Dies soll beispielhaft an der in den 1950er Jahren mehrfach eingewiesenen Patientin Miranda L. gezeigt werden. Im Dezember 1952 wurde sie zum dritten Mal eingewiesen. Es handelte sich nicht um eine behördliche Maßnahme. Vielmehr brachten ein Bruder und eine Schwägerin sie zur Anstalt und zwar ohne ärztliche Überweisung. In einem solchen Fall nahm ein Anstaltsarzt die formale Einweisung vor. Anders als in der DDR gab es diese direkten Aufnahmen durch die Anstalt in der Bundesrepublik in den allermeisten Fällen nur, wenn die Patientin oder der Patient schon einmal oder mehrmals in derselben Anstalt gewe178 Vgl. insbesondere die Ausführungen zur Diagnosepraxis im Kapitel »Krankheit und Dia­ gnostik«. 179 Zu Recht wird vor der vorschnellen Anwendung des sogenannten »Interessenmodells« zur Erklärung von wissenschaftlichem Wandel gewarnt und darauf hingewiesen, dass letztlich oft nicht überzeugend nachgewiesen werden kann, dass Interessen als nicht wissenschaftsimmanente Faktoren per se erklärender sind als die Argumentation der Ärzte. Vgl. hierzu: Schlich, Fakten, S. 112 f.

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sen war.180 Bei ihren vorherigen Aufnahmen hatte der Hausarzt Miranda L. eingewiesen.181 Insofern sticht die dritte Aufnahme hervor: Bei ihr fehlte nicht nur das Einweisungsattest, sondern überhaupt jede ärztliche Überweisung. Entsprechend finden sich am Beginn der Krankengeschichte, wo sonst die Angaben des über­weisenden Arztes stehen, die Angaben der Schwägerin: »… Dann begann sie zu schimpfen, z. B. auf die Mutter, die es zugelassen hätte, sie in die Anst. zu bringen, über das Schocken in der Anst. usw. Ganz schlimm wurde es mit ihr vor etwa 14 Tg., seit dieser Zeit schimpft sie ungefähr 1 Stück, redet wirr durcheinander, unterbrochen von vernünftigen Zeiten. Vor etwa 8 Tg. äusserte sie selbst, dass das Schocken doch gut gewes. wäre. Sie ging jetzt auch gutwillig mit zur Anst. […] Pat. unterschreibt die Einverständniserklärung zur Aufnahme.«182

Das Muster wiederholte sich bei der nächsten Aufnahme im Jahr 1954. Hierzu wurde vermerkt, die Patientin erklärte »sich nach anfänglichem Sträuben bereit, wieder in die LHA zurückzukehren« und hätte dann die Aufnahmeerklärung unterschrieben. Gebracht wurde sie erneut von Verwandten, wieder fehlte jegliche ärztliche Überweisung. Stattdessen gaben die Angehörigen zu Proto­ koll: »Wir wissen doch, was mit meiner Schwägerin los ist. Ein Arzt kann ihr auch nicht helfen.«183 Die Einweisungen von Miranda L. weisen zum einen auf die Grauzone von Freiwilligkeit und Zwang hin, in der auch viele nicht-behördliche Einweisungen abliefen. Zum anderen war es nicht nur bei Miranda L., sondern insgesamt typisch für die Einweisungen in der Bundesrepublik und in der DDR sowie in geringerem Maß auch während des Zweiten Weltkrieges, dass Angehörige über den Anstaltsaufenthalt vorentschieden. Insbesondere, wenn die Familie die Patientin oder den Patienten direkt zur Anstalt brachte, versetze sie das in eine entscheidende Position, da sie dann den vorgeschalteten Aushandlungsprozess mit einem niedergelassenen Arzt umging. Mit Blick auf die Erwartungen der Familien an die Anstalt zeigt sich bei­ Miranda L. ein ähnliches Muster wie bei Karin F. und Albin H.: man hoffte nicht primär auf medizinische Hilfe, sondern eher auf die Lösung eines Verwahrungsund Beaufsichtigungsproblems. Die Angehörigen Miranda L.s erklärten, sie könnten die Patientin in ihren Aufregungszuständen nicht beaufsichtigen, da sie alle den ganzen Tag in der Landwirtschaft tätig seien.184 Es ging ihnen also kei-

180 Dementsprechend kam dies in der LHA Marburg besonders häufig vor, da es sich um eine Anstalt handelte, die auf kurze Aufenthalte ausgelegt war und es viele Mehrfacheinweisungen gab. 181 LHA Marburg, Patientenakte Sign. K12962F, Eintrag v. Dez. 1951, LWV Hessen, 16. 182 Ebd., Wiederaufnahme 8.12.1952. 183 Ebd., Wiederaufnahme 7.4.1954, Blatt 1. 184 Ebd.

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nesfalls um ein langfristiges »Wegschließen« der Patientin. Analog zu Karin F. entließen die Ärzte Miranda L., wenn ihr Zustand eine verbesserte Integration in den familiären Alltag nahelegte, jeweils nach ein paar Wochen wieder zu­ ihren Verwandten. Ganz eindeutig ist die Interpretation der Situation als Beaufsichtigungsproblem allerdings nicht, da die Erwähnung der Schockbehandlung in der Anstalt eben doch mit Besserungserwartungen zusammenhängt. Eine solch mehrschichtige Erwartungshaltung, in der die Lösung pragmatischer Probleme mit diffus bleibenden Besserungshoffnungen zusammenging, ist für die Einstellung der Verwandten in beiden Staaten oft festzustellen. Während des Zweiten Weltkriegs prägten hingegen vorrangig Sicherheitsüberlegungen, weniger Besserungshoffnungen die Nutzung der Anstalten. Insgesamt gab es in der Bundesrepublik im Gegensatz zur DDR mehr Aufnahmen über ärztliche Praxen und psychiatrische Abteilungen von Universitätskliniken. Die Einweisungen durch niedergelassene Ärzte nahmen im Vergleich zur Kriegszeit zu, während die Aufnahmen über Universitätsklinken sowohl in der LHA Marburg als auch in Eglfing-Haar in den 1950er Jahren abnahmen.185 Im Jahresbericht Eglfing-Haars von 1959 wurde für den Zeitraum von 1950 bis 1959 aufgeführt, wie viele Einweisungen aus psychiatrischen Fachkliniken jährlich zu verzeichnen waren. Während es sich 1950 um 23 Prozent aller aufgenommenen Kranken handelte, waren es 1959 nur noch 1,7 Prozent.186 Gegenüber dem Landesfürsorgeverband Oberbayern führte der Direktor, Dr. Braunmühl, dies auf die Überfüllung der Nervenklinik zurück. Im Januar 1953 stellte er fest: »Augenblicklich gehen tagtäglich in Haar 50 % aller ursprünglich der Nervenklinik in München zugedachten Aufnahmen ohne Aufnahme durch die Nervenklinik, (praktisch durch den Portier der Nervenklinik abgewiesen und als nach Haar zu verbringen) zu, da die Klinik erklärt, überfüllt zu sein und keine Neuaufnahmen brauchen zu können.«187 In der LHA Marburg lassen die Einzelfallakten auf das gleiche Problem schließen.188 Immer wieder ist angemerkt, dass die Patientin oder der Patient in der LHA nur aufgenommen wurde, weil die Universitätsnervenklinik Marburg wegen Überfüllung abgewiesen hatte. Hierbei konnte es sich sowohl um Einweisungen zur Diagnoseklärung handeln als auch um akute Notfälle. Ein Beispiel für ersteres ist die Einweisung von Katrin H. Sie wurde 1950 von ihrem Hausarzt in die Universitätsnervenklinik überwiesen. Laut Attest war der Hausarzt unsicher, ob die Patientin vielleicht an Schizophrenie leide. Dies sollte 185 1950 bis 1955 wurden noch 21 % der Aufgenommenen in Marburg über eine psychiatrische Klinik eingewiesen, 1956 bis 1963 noch ca. 12 %. Vgl. Anhang: T41, T53; HPA EglfingHaar, Jahresbericht 1959, AB Oberbayern, EH, S. 6. 186 Ebd. 187 HPA Eglfing-Haar, Schreiben an Landesfürsorgeverband Oberbayern v. 14.2.1953, BayHSTA, Minn 80911. [Hervorhebung im Original]. 188 Statistiken sind für die LHA nicht überliefert.

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in der Klinik durch stationäre Beobachtung abgeklärt werden. Mit dem Attest für die Universitätsklinik und dem Vermerk »Wegen Platzmangels hier eingewiesen« nahm die LHA Marburg Frau H. auf.189 Um einen akuten Fall handelte es sich bei Lisa Z. In ihrer Krankenakte ist zur Aufnahme im Februar 1954 vermerkt: »Pat. kam in der Nacht, von ihrem Ehemann gebracht, hier an, nachdem sie schon viele Stunden unterwegs waren. Sie waren vom St. Josephs-Hospital, Olsberg wegen Überfüllung nach Marburg weitergeschickt worden, zur Nervenklinik Marburg. Von dort aus demselben Grunde hierher geschickt.«190 Ein zweimaliges Abweisen ging also der Aufnahme von Lisa Z. in der LHA voraus. Dabei gab es keine Differenzen darüber, dass sie dringend einer stationären Behandlung bedürfte. Sie wurde von der LHA zurück an die Nervenklinik überwiesen, als dort schließlich wieder Betten frei wurden.191 Zu erkennen ist hier eine doppelte Funktionsäquivalenz zwischen Universitätskliniken und den Anstalten. Beide waren für die Diagnoseklärung und die Aufnahme bei sofortiger Behandlungsbedürftigkeit zuständig. Damit näherten sich die zur Gründungszeit der Universitäts-und Nervenkliniken noch sehr unterschiedlich ausgerichteten Einrichtungen Anstalt und Klinik einander an.192 Diese Funktionsäquivalenz, die sich aus der Weiterverweisung wegen Überfüllung und nicht aus medizinisch-inhaltlichen Gründen ergab, stellte der Direktor in Eglfing-Haar besonders heraus. Im Anschluss an die Feststellung, dass eine große Zahl von Patientinnen und Patienten bei ihm statt in der Nerven­ klinik aufgenommen werde, schrieb er: »Es ist also so, daß die Anstalt Haar eindeutig als selbstständiges, der Klinik in keiner Weise untergeordnetes oder nebengeordnetes Fachkrankenhaus auftritt.«193 Hier scheint deutlich das Interesse der Anstalten heraus, nicht als fachlich weniger kompetente »Verwahranstalt« zu gelten.194 Die selbstbewusste Darstellung Braunmühls ist nicht die einzig möglich Deutung dieses Verfahrens. Wie im nächsten Kapitel zum Thema Zwangseinweisungen gezeigt werden wird, war die Weiterleitung von Patientinnen und Patienten an die Anstalten aus rein pragmatischen Gründen typisch für die Kriegszeit und festigte vor Kriegsende de facto die Rolle der Anstalten als »Verwahranstalten«.195 Um die Abnahme der Überweisungen aus Universitätskliniken über das Argument der Überfüllung hinaus von unterschiedlichen Seiten betrachten zu können, müssten Akten einer Universitäts- und Nervenklinik in der frühen Bundesrepublik ausgewertet werden, wie dies für die Universitäts- und Nerven­ 189 LHA Marburg, Patientenakte Sign. 16K10919F, Eintrag v. 12.6.1950, LWA Hessen, 16. 190 LHA Marburg, Patientenakte Sign. 16K12972F, Eintrag v. 20.2.1954, LWV Hessen, 16. 191 Ebd., Eintrag v. 22.2.1954. 192 Engstrom, Psychiatry, S. 51 u. 60 f. 193 HPA Eglfing-Haar, Schreiben an Landesfürsorgeverband Oberbayern v 14.2.1953, BayHSTA, Minn 80911. 194 Zu den Ursprüngen der Konkurrenzsituation, vgl.: Engstrom, Psychiatry, S. 51. 195 Vgl. Kapitel »Gefahr und Sicherheit«, Alte Menschen als Gefahr.

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klinik Greifswald getan wurde.196 Mit der Abnahme der Einweisungen aus Universitätskliniken ging in den für die Bundesrepublik untersuchten Anstalten eine Zunahme an Einweisungen durch niedergelassene Ärzte einher. Hierbei handelt es sich zum Teil um Einweisungen, die sich eigentlich auf eine Universitätsklinik bezogen, aber wegen Überfüllung, wie in den angeführten Beispielen, schließlich zur Aufnahme in der Anstalt führten. Allerdings gab es auch einfach wieder mehr Einweisungen niedergelassener Ärzte in die hier untersuchten Anstalten als zur Kriegszeit. In diesem Sinne handelt es sich zum Teil um eine Normalisierung der Einweisungsprozesse in der Nachkriegszeit – ohne dass die rapide Abnahme von Einweisungen aus Universitätskliniken damit vollständig erklärt wäre. Erklärend sind hier die bereits zu Beginn des Kapitels genannten Faktoren zu nennen, die als Ursachen der niedrigen Zahl der Einweisungen durch niedergelassene Ärzte im Krieg ausführlich dargestellt wurden: schlechterer Zugang zu niedergelassenen Ärzten im »Reich« durch Fronteinsatz von Ärzten und Umstellung auf die Betriebsmedizin sowie Vertrauensverlust der Patientinnen und Patienten. Bethel verzeichnete als private Einrichtung besonders hohe Zahlen an Einweisungen durch niedergelassene Ärzte. Sie lagen in den Jahren 1950 bis 1955 bei knapp über 50 und zwischen 1956 und 1963 bei fast 65 Prozent.197 In der LHA Marburg machten solche Einweisungen einen geringeren Anteil aus: zwischen 1950 und 1955 handelte es sich um 28,7 und im Zeitraum von 1956 bis 1963 um 36,6 Prozent aller Einweisungen.198 In allen Einrichtungen  – außer in Bethel in der Zeit ab 1945  – gab es während des Zweiten Weltkrieges, in der Bundesrepublik und der DDR einen Unterschied von etwa zwanzig Prozent zwischen der Zahl der Patientinnen und Patienten, die vor der Einweisung dauerhaft zu Hause lebten, und der Zahl derer, die auch unmittelbar vor ihrer Aufnahme nicht in einer anderen Einrichtung untergebracht waren. Denn fast neunzig Prozent der Patientinnen und Patienten kamen aus ihrem eigenen Zuhause in die von Bodelschwinghschen Anstalten, nur etwa sechs Prozent aus einem Krankenhaus.199 Patientinnen und Patienten und Angehörige handelten Einweisungen für Bethel in der Nachkriegszeit also viel seltener unter der Beteiligung anderer Institutionen aus. Die Bodelschwinghschen Anstalten unterschieden sich noch in einer anderen Hinsicht von der LHA Marburg. In Bethel gab es in den 1950er und beginnenden 1960er Jahren besonders viele Begutachtungen, insbesondere zur Arbeitsfähigkeit (ca. 18 Prozent).200 Auch in der LHA wurden in den 1950ern wieder 196 Dies war in der ursprünglichen Konzeption der Arbeit auch vorgesehen. Trotz intensiver Bemühungen hat das Archiv der Universität zu Köln die Krankenakten der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität zu Köln jedoch nicht zugänglich gemacht. 197 Vgl. Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T42, T54. 198 Ebd.: T41, T53. 199 Im Vergleich, vgl. ebd.: T1–10, T16–25, T43–50. Zu Bethel 1956 bis 1963, vgl. ebd.: T50. 200 Ebd.: T54.

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Gutachten erstellt, aber weniger als in Bethel (ca. 5 Prozent).201 Zudem betrafen die Gutachten in Marburg häufiger die Frage der Unzurechnungsfähigkeit als die Arbeitsfähigkeit.202 Der konfessionelle Charakter Bethels schlägt sich in der Nachkriegszeit in den Einweisungen seitens der Verwandten nicht mehr be­ sonders nieder, während dieser Faktor während des Zweiten Weltkrieges sehr wichtig war.

5. Zwischen Freiwilligkeit und Zwang, Hilfe und Verwahrung: Einweisungen aus Sicht der Patientinnen und Patienten in der NS-Zeit, DDR und Bundesrepublik In der bisherigen Analyse der Einweisungspraxis tauchte die Patientin oder der Patient als Akteur eher sporadisch auf, obwohl sie oder er die zentrale Figur darstellte, um die sich der ganze Prozess drehte. Im Aushandlungsprozess um die Einweisung nahmen Patientinnen und Patienten eine Doppelrolle ein: Sie waren immer zugleich Objekt, über das entschieden wurde, und Subjekt, das an der Entscheidung teilhatte oder sich zu dieser verhalten konnte. Im Folgenden wird die Perspektive der Patientinnen und Patienten analysiert und zwar während des Zweiten Weltkriegs, in der DDR und der Bundesrepublik, da es über die politischen Systeme hinweg relativ viele Gemeinsamkeiten gab. Aus der Perspektive der Patientin oder des Patienten konnte eine Einweisung im Einzelfall sehr unterschiedlich bewertet werden. Unzweifelhaft ist, dass manche Patientinnen und Patienten sich dafür entschieden, in eine Klinik oder Anstalt zu gehen und eine Freiwilligkeitserklärung unterschrieben.203 Dies trifft selbst für die NS-Zeit zu. Während der Kriegszeit fällt bei der Durchsicht der Akten zwar auf, dass diese Fälle seltener vorkommen als in den 1950er Jahren, aber es gab sie immer wieder. Erneut kann festgestellt werden, dass Patientinnen und Patienten zwischen verschiedenen Arten stationärer psychiatrischer Behandlung unterschieden. Während es in Eglfing-Haar die absolute Ausnahme darstellte, dass ein Mensch auf Aufnahme drängte, kam dies in den von Bodelschwinghschen Anstalten als evangelischer Einrichtung und in Greifswald als Universitätsklinik häufiger vor. 1942 wurde Amelie F. zum Beispiel auf ihren eigenen Wunsch in die Universitäts- und Nervenklinik Greifswald verlegt. Die Ehefrau eines Geschäftsinhabers hatte sich in einem Krankenhaus auf Rügen einem chirurgischen Eingriff unterzogen. Von dort wurde sie auf eigenen 201 Ebd.: T53. 202 Für einen genaueren Vergleich der Gutachtertätigkeit mit der Universitätsklinik Greifswald wäre erneut die Auswertung von Akten einer Universitätsklinik aufschlussreich­ gewesen. 203 Vgl. zur Entscheidung von Patientinnen und Patienten sich in ärztliche Behandlung zu geben auch: Porter, Introduction, S.1–22.

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Wunsch in die psychiatrische Abteilung Greifswalds verwiesen, nachdem sie darauf insistiert hatte, mit ihren Nerven stimme etwas nicht.204 Laut der Krankenakte äußerte sie sich bei ihrer Aufnahme äußerst erleichtert: »Ich bin ja so froh, dass ich hier bei Ihnen gelandet bin, wo man sich mal so richtig aussprechen kann. Die anderen Ärzte machen bloss die Operation, aber hier kann ich mich mal so richtig aussprechen wie es mir ums Herz ist.«205 Aber auch wenn die Patientin oder der Patient der Aufnahme zustimmte, ist damit nicht immer so klar wie in dem gerade angeführten Beispiel gesagt, ob sie oder er in die Anstalt wollte oder nicht. Diese Frage ist letztlich nicht immer zu beantworten, da sowohl die Quellen als auch die Kategorien problematisch sind. Zum einen ermöglichen es selbst Egodokumente in den Krankenakten nicht, in den Kopf der Patientinnen und Patienten zu schauen.206 Zum anderen sind die Kategorien der »Freiwilligkeit« und des »Zwanges« keine bleibenden, klar definierten Kategorien.207 Sie werden zwar in dieser Arbeit behandelt, jedoch unter Berücksichtigung ihrer Kontingenz und ihres Konstruktionscharakters. Trotzdem erscheint es sinnvoll, sich der Frage der Freiwilligkeit von verschiedenen Seiten zu nähern – nicht um sie zu beantworten, sondern um zumindest die Problematik fassbarer zu machen. Mit diesem Ziel werden einige Einweisungsszenarien exemplarisch erörtert. Zuerst geht es um Einweisungsgründe von zivil eingewiesenen Patientinnen und Patienten. Bei der Analyse dieser Problemkomplexe stellt sich auch die Frage, welche Bedeutung die Anstalten für die Eingewiesenen haben konnten. Danach wird gezeigt, dass sich die formale Zuordnung »freiwillig« oder »mit Zwang« unter Umständen nicht mit der Selbstwahrnehmung der Patientinnen und Patienten deckte, bevor im nächsten Kapitel der Fokus auf die Machtverhältnisse und die Gründe für Zwangseinweisungen gelegt wird. Zwischen »Zwang« und »Freiwilligkeit« gab es fließende Übergänge, so dass eher von einem Kontinuum als von einer klaren Dichotomie gesprochen werden kann. Bei beiden Fragen wird bewusst nicht dazu Stellung genommen, inwiefern im Anschluss an Foucault auch formal »freiwillige« Aufnahmen auf internalisierten Zwang zurückzuführen sind. Bei Foucault geht es darum, dass die »Wahnsinnigen« den »überwachenden Blick« internalisieren und daher Selbstzensur und Selbstkontrolle ausüben.208 Dies könnte etwa auf Menschen zutreffen, die aus Angst, aufgrund von optischen, akustischen oder haptischen Halluzinationen sich selbst oder anderen etwas anzutun, »freiwillig« in der Anstalt 204 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1942/1149, Eintrag vom 7.8.1942, UA Greifswald, PsychN. 205 Ebd. 206 Vgl. hierzu auch: Jureit, S. 165. 207 Zu den vielen unterschiedlichen Definitionsmöglichkeiten von Zwang, vgl.: Meier u. a., S. 31 ff. Die Autoren stellen fest und fordern: »Zwischen den verschiedenen Definitionen gibt es ausgeprägte Reibungsflächen und teilweise unvereinbare Widersprüche. Dieser Vieldeutigkeit gilt es auch in historischer Perspektive Rechnung zu tragen.« Ebd., S. 32. 208 Foucault, Wahnsinn; Raffnsøe u. a., S. 102.

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blieben. Dies ist auf der Basis von Quellen aber nicht letztgültig nachweisbar. Auch ginge mit einer solchen Deutung die Gefahr einher, das Leid zu trivialisieren, welches seitens der Patientin oder des Patienten einem Anstaltsaufenthalt voraus­gehen kann. Hier wird die Auffassung vertreten, dass sich die Umstände der Einweisung, die für den einzelnen Menschen mit extremem Leiden verbunden sein konnten, nicht zur Gänze in gesellschaftlich bedingte internalisierte Zwänge auflösen lassen. Ob und inwiefern internalisierter Zwang im Einzelfall eine Rolle spielte, wird im Folgenden nicht näher thematisiert. Beantwortbar und weiterführend ist hingegen die Frage danach, welche Gründe Patientinnen und Patienten angaben, die formal »freiwillig« in die Anstalt kamen und ob und warum diese Gründe sich veränderten – wobei dahin gestellt sei, ob der­ ursprüngliche Impuls für den Anstaltsaufenthalt ein internalisierter Zwang gewesen ist oder nicht. In den gesichteten Anstaltsakten veränderten sich die angegebenen Gründe tatsächlich. Während des Zweiten Weltkriegs nannten die Patientinnen und Patienten meistens existenzielle Ängste – das Beispiel aus Greifswald, in dem die Patientin sich »aussprechen« wollte, ist nicht die Regel, aber auch kein absoluter Einzelfall. Typisch für eine Anstaltseinweisung, im Gegensatz zu einer Klinikaufnahme, war der Anstaltseintritt des 23-jährigen Herbert M. 1941 kam er ohne Überweisung nach Bethel und konnte dort bleiben. In der Anamnese ist angegeben, dass ihn sobald er ein Messer in der Hand gehabt habe, die Vorstellung verfolgte, sich oder andere umzubringen. Vorher hatte er bereits versucht, sich ambulant behandeln zu lassen, ohne dass es ihm danach besser ging.209 In der Krankenakte werden seine Angaben folgendermaßen wiedergegeben: »Es sei ein furchtbarer Zustand. Zuhause habe er tagelang heulen müssen. […] Vor ­a llen Dingen will er wissen, ob eine Cardiazolkur ihm helfen könne. Er müsse endlich geheilt sein. Patient ist freundlich, höflich, aber stark drängend und unrastig, und erscheint subjektiv stark gequält.«210

Der Patient wurde mehrfach beurlaubt und von seinen Verwandten abgeholt, kehrte aber vor Ablauf des Urlaubs wieder zurück bzw. trat diesen gar nicht an, da er anhaltend Angst verspürte, seinen Verwandten etwas anzutun.211 Der enorme Leidensdruck und der Aspekt der Sicherheit standen hier für den Patienten im Vordergrund. Solche Fälle gab es zwischen 1941 und 1963 in allen drei Systemen. Für den Untersuchungsbereich der DDR zeigt sich eine analoge Argumentation z. B. bei der Aufnahme einer 62-jährigen Witwe nach R ­ odewisch. Sie hatte ihren Enkel aus dem Fenster geworfen, weil sie glaubte, ihn opfern zu müssen. Auch sie wollte nicht wieder nach Hause. In der Krankenakte ist dazu vermerkt: »Hier sei es zwar ruhig, aber wenn sie nach Hause käme, fürchte sie, 209 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 9/152, HAB, Patientenakten Morija I. 210 Ebd., Eigene Angaben Einweisung 1941. 211 Vgl. beispielsweise: Ebd., Einträge im April 1944.

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dass es wieder losgehe. Sie habe nämlich seit dem Tod ihres Mannes häufig Anfälle gehabt, bei denen sie von 5 Geschwistern gehalten werden mußte.«212 Jedoch gab es in der Nachkriegszeit beiderseits des Eisernen Vorhangs neben solchen Szenarien auch vermehrt Patientinnen und Patienten, die nicht ganz so drastische Gründe anführten. Nicht selten verbreitet schrieben Menschen an die Anstalt und erbaten Aufnahme, da sie sich Hilfe von der Anstalt versprachen. In der Kriegszeit kam dies hauptsächlich in Bethel und in der Universitäts- und Nervenklinik Greifswald vor, in der Nachkriegszeit handelte es sich um ein weiter verbreitetes Phänomen. Von ihrer Einweisung in die LHA Marburg versprach sich die Patientin Miranda L. zum Beispiel Hilfe durch eine Elektroschockbehandlung.213 Ein anderes Beispiel dokumentiert ein Brief, den ein ehemaliger Patient Bethels 1953 an den Arzt schrieb, der ihn bei seiner ersten Einweisung im Jahr 1947 wegen Schwermut behandelt hatte. Es handelte sich um einen inzwischen 60 Jahre alten, verheirateten Landwirt, der überlegte, wieder in die Anstalt zurückzukommen. In seinem Brief an den Arzt schrieb er, dass es ihm seit drei Monaten schlecht gehe und dass er erwäge, ob seine Krankheit »etwas erbliches«214 sein könnte. Er habe von Hypnose als neuer Behandlungsmethode gehört und fragte: »Lieber Herr Dr. könnten Sie das nicht vielleicht bei mir versuchen? Ich möchte doch so gerne von diesem Leiden frei werden und den meinen bei der Arbeit helfen (wo genug von da ist.) Meine Frau hat schon öfter zu mir gesagt, ich sollte doch Invalidenrente beantragen; aber wenn ich da hier zu dem zuständigen Kassenarzt geh, wird der wohl nichts an mir finden weil ich körperlich gesund bin. Oder könnten Sie Herr Dr. mir vielleicht eine Bescheinigung ausstellen? Diese Krankheit kann ja kein Mensch verstehen außer der sie selbst durchmachen muß, ich wünsche sie keinem Hund. Gott helfe mir durchkämpfen! Sehr geehrter Herr Dr. Sie haben damals zu mir gesagt, wenn es mal wieder schlimmer würde könnte ich so wiederkommen. Wenn ich keine Antwort auf meinen Brief kriege, komme ich vielleicht am 7.10. nach dort.«215

Anders als bei den zuvor erwähnten Patientinnen und Patienten ging es hier nicht um die Befürchtung, einem Familienmitglied oder sich selbst etwas anzutun. Zwar steht auch ein subjektiv starker Leidenszustand im Mittelpunkt, beim Patienten evoziert dieser aber weniger dramatische Ängste, wie die Sorge, sich nicht an der anfallenden Arbeit beteiligen zu können. 212 KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 4772, Eintrag v. 15.9.1953, SächSta Chemnitz, 32810; Fälle wie diese allein durch das Phänomen des Hospitalismus erklären zu wollen, greift dabei m. E. zu kurz. Zum einen wird den Patientinnen und Patienten dann gar keine Eigenständigkeit mehr zugesprochen. Zum anderen gaben Eingewiesene, wie auch in diesem Fall, oft unmittelbar nach der Aufnahme an, froh zu sein, in der Anstalt zu sein. Bei Hospitalismus wird hingegen davon ausgegangen, dass die Angst vor dem Leben außerhalb der Anstalt durch den Anstaltsaufenthalt erzeugt werde. Zu Hospitalismus, vgl.: Huppmann. 213 LHA Marburg, Patientenakte Sign. K12962F, Wiederaufnahme 8.12.1952, LWV Hessen, 16. 214 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 4877, HAB, Gilead III. 215 Ebd., Brief v. 23.9.1953.

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Die Selbstwahrnehmung der Patientinnen und Patienten deckte sich nicht unbedingt mit dem formalen Status der Einweisung. Das verdeutlicht erneut die Einweisung Miranda L.s in den frühen 1950er Jahren. Obwohl Miranda L. »freiwillig« in die LHA ging, drehten sich die dafür ausschlaggebenden Erregungszustände auch darum, dass sie ihrer Mutter vorwarf, den vorherigen Anstaltsaufenthalt zugelassen zu haben. Statt »freiwillig« ist in der Akte bei der nächsten Aufnahme vermerkt, dass die Patientin erst »nach anfänglichem Sträuben«216 die Aufnahmeerklärung unterschrieben habe. Gleichzeitig insistierten die Angehörigen bei allen Aufnahmen darauf, dass eine häusliche Betreuung der Patientin es verunmöglichen würde, den Hof zu bewirtschaften. Alle drei Aspekte weisen darauf hin, dass die Patientin selbst zumindest temporär nicht das Gefühl verspürte, »freiwillig« in der Anstalt zu sein, wenngleich sie jeweils eine Freiwilligkeitserklärung unterschrieben hatte. Demzufolge erscheint es nicht sinnvoll, bei einer Einweisung wie dieser feststellen zu wollen, ob sich die zu behandelnde Person internalisiert »freiwillig« oder zwanghaft in der Anstalt befand. Eher gilt es zu konstatieren, dass die Eingewiesenen sich selbst oft in einem anhaltenden Spannungsverhältnis von Freiwilligkeit und Zwang bewegten. Dafür spricht auch, dass es Fälle gibt, bei denen es sich – im Vergleich zum Fall Miranda L. – umgekehrt verhielt: Daraus, dass die Patientin oder der Patient im Aushandlungsprozess einer Zwangseinweisung oft nicht beteiligt wurde, ergibt sich nicht automatisch eine negative Sicht auf den Anstaltsaufenthalt. Angesichts des von 1941 bis 1963 in allen drei Staaten anhaltenden Platzmangels nutzten Ärzte bisweilen den Verweis auf eine akute Gefahr für die Eingewiesenen oder ihre Umgebung, um über den Umweg der Zwangseinweisung die von den Patientinnen und Patienten gewünschte Aufnahme doch zu ermöglichen.217 Außerdem konnte sich die Selbstwahrnehmung verändern: Mit Zwang in die Anstalt gebrachte Patientinnen und Patienten blieben bisweilen freiwillig dort. Wie ambivalent Zwangseinweisungen für die Eingewiesenen selbst in der Kriegszeit seien konnten, zeigt sich an der Zwangseinweisung W ­ alther M.s im Jahr 1943.218 Angesichts lautstarker Streitereien mit seiner Frau kam er zum wiederholten Male wegen Gemeingefährlichkeit in die LHA Marburg. Als Problem nahm der Patient die Zwangseinweisung zumindest im Nachhinein jedoch keineswegs wahr: Laut Krankengeschichte zeigte er sich während seines Aufenthaltes vielmehr froh in Behandlung zu sein. Denn er brauche dringend längere Erholung, weshalb er die LHA auch als »Nervenerholungsheim« bezeichnete.219 Als man ihn, wie jeweils zuvor, nach etwa einem halben Jahr entließ, bedankte er sich laut Akte sogar für die erfolgreiche Behandlung.220 Dies er216 Z. B.: LHA Marburg, Patientenakte Sign. K12962F, LWV Hessen, 16. 217 Zu dieser Praxis in der LHA Marburg vgl.: Nolte, S. 186. Zur dieser Praxis in der Bundesrepublik insgesamt, vgl.: Brink, S. 396. 218 LHA Marburg, Patientenakte Sign. K10563M, LWV Hessen, 16. 219 Ebd., Aufnahme 1943, Blatt Nr. 1. 220 Ebd., Aufnahme 1943, Blatt Nr.2.

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klärt sich auch daraus, dass der Patient und seine Familie die Anstalt und einzelne Ärzte durch häufige Aufenthalte gut kannten. Insgesamt neun Mal wurde Walter M. zwischen 1927 und 1945 in die LHA Marburg zwangseingeliefert. Zwischen den Aufenthalten korrespondierte die Ehefrau mit der Anstalt, um Rat einzuholen.221 Die Haltung der Betroffenen hing auch vom Umgang mit den Eingewiesenen in der jeweiligen Einrichtung und damit von den einzelnen Ärzten ab. So lässt sich in Eglfing-Haar zwischen 1941 und 1951 kein Fall nachweisen, der mit dem von Walther M. in Marburg vergleichbar wäre. Dieser darf daher nicht als Muster für die Wahrnehmung von Zwangseinweisungen durch Patientinnen und Patienten dienen, sondern er veranschaulicht die Breite des Reaktionsspektrums. Seitens der Patientinnen und Patienten gab es eine Vielzahl an Motiven und Erwartungen. Trotz der Vielfalt der individuellen Gründe hingen diese auch vom politischen und gesellschaftlichen Kontext ab. In den nächsten Kapiteln wird dem systematischer nachgegangen, indem die Komplexe Sicherheit, Krankheit und Arbeit separat untersucht werden.

6. Zusammenfassung: Rahmenbedingungen, Akteure und Funktion der Anstalt im Vergleich In allen drei Systemen gab es Handlungsspielräume, die sich aufgrund von politisch-institutionellen Umständen deutlich veränderten. Sofern es sich um zivile Einweisungen handelte, lag die Einweisungsentscheidung jedoch nie allein bei Akteuren der institutionellen Ebene. Die Einweisungspraxis während des Zweiten Weltkrieges, in der DDR und der Bundesrepublik lässt sich anhand dreier Vergleichsparameter zusammenfassen: erstens der spezifischen Situation der psychiatrischen Anstalten als aufnehmenden Institutionen, zweitens den Etappen des Einweisungsweges und damit verbunden den Akteuren und ihren Handlungsspielräumen und drittens der Funktion der Anstalt. Die Aufnahmesituation zwischen 1941 und 1945 war in vielfacher Weise kriegsspezifisch: durch das Wissen um die Krankenmorde, die Propaganda­ filme zur »Euthanasie« sowie die Verlegungen und Umwidmungen von Teilen der Anstalten in der »Aktion Brandt«. Trotzdem blieben die Anstalten funktionsfähig, während sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit zum Teil nur noch sehr rudimentär arbeiteten. Bestimmte Aufgaben, wie etwa Begutachtungen, gab es in dieser Zeit fast gar nicht und auch die Dokumentation der Einweisungen verschlechterte sich deutlich gegenüber der Kriegszeit. Dies resultierte so221 Im Dezember 1948 schrieb einer der leitenden Oberärzte z. B. an die Ehefrau, sie könne beim Wohnungsamt angeben, er halte die Zuteilung eines weiteren Wohnraums an die Familie wegen der Erkrankung ihres Mannes für angebracht. Ebd., Aufnahme 1945, Brief v. 15.12.1948.

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wohl aus materiellem Mangel als auch aus der Aufnahme vieler Vertriebener oder alter Menschen, über die niemand Angaben machen konnte. In der Kriegsund unmittelbaren Nachkriegszeit wurden auch besonders viele Menschen aufgenommen, die zuvor nicht zu Hause gelebt hatten. Patientinnen und Patienten kamen aus Krankenhäusern, Militärlazaretten, Zwangsarbeiterlagern, Altenheimen, Pflegeheimen und Flüchtlingslagern. In der DDR blieb die Aufnahmesituation auch während der 1950er Jahre besonders angespannt. Zwar war die Überfüllung der Universitäts- und Nervenkliniken auch in der Bundesrepublik ein Thema, das die Einweisungswege beeinflusste, da die Universitätskliniken als Zwischenstationen wegfielen. In der DDR war die Problematik jedoch tiefer in den Strukturen verankert und noch virulenter. Die Fremdnutzung von Teilen der Anstalten trug hierzu bei, im Bezirk Rostock aber vor allem auch das Fehlen einschlägiger Einrichtungen. Die systemische Unterfinanzierung der psychiatrischen und neurologischen Sonderkrankenhäuser auf Grund der Verlegung der Zuständigkeit auf die Kreisebene im Jahr 1952 tat das ihre. Bestimmte Etappen des Einweisungsweges waren durchgängig von Relevanz. In allen drei politischen Systemen spielten Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte eine Rolle. Während Krankenhäuser überall wichtig blieben, veränderte sich die Bedeutung der niedergelassenen Ärzte im Einweisungs­prozess. Private niedergelassene Ärzte spielten in der Bundesrepublik – und dort in der privaten Einrichtung Bethel noch einmal mehr  – eine deutlich größere Rolle als im Krieg und in der DDR. In der DDR entschieden häufiger staatlich angestellte Ärzte der Polikliniken sowie die Direktoren der Anstalten und die dortigen Ärztegremien über Aufnahmen. Durch die Polikliniken veränderte sich auch das Verhältnis zwischen Ärzten und Patientinnen und Patienten. Die ambulante Behandlungs- und Beratungssituation konnte die Laien in eine stärkere Verhandlungsposition bringen. Während der Kriegszeit hingegen erodierte das Vertrauen der Familien aufgrund des Wissens um die Krankenmorde und der schlechteren ärztlichen Versorgung an der »Heimatfront«. Dafür liefen in dieser Zeit mehr Überweisungen über die Universitäts- und Nervenkliniken ab. Die Position der Patientin oder des Patienten hing sehr oft mit ihren oder seinen Angehörigen zusammen. Für die Kriegszeit konnte gezeigt werden, dass Angehörige mitunter versuchten, Familienmitglieder in den von ihnen als sicherer betrachteten Einrichtungen unterzubringen. Es ist jedoch auch deutlich geworden, dass es innerfamiliäre Konstellationen geben konnte, die solche Überlegungen überlagerten und zur schnellen Einweisung in die nächstmögliche Anstalt führten. Hier ist vor allem Gewalt in der Familie als Grund zu nennen – und das unabhängig vom System. Darüber hinaus wurde schon anhand eines Beispiels angedeutet, was sich im nächsten Kapitel noch genauer zeigen wird: Genauso, wie sie sich um Patientinnen oder Patienten bemühten, konnten Angehörige ihren Handlungsspielraum dazu nutzen, Zwangseinweisungen zu initiieren oder zumindest zu tolerieren. Die Patientin oder der Patient agierte in einem Spannungsfeld von Freiwilligkeit und Zwang, das weit komplexer war, als die Unterscheidung zwischen 111

zivilen und Zwangseinweisungen suggeriert. Trotzdem kann festgestellt werden, dass die Gründe, welche die Patientinnen und Patienten für ihre Einweisung angaben, sich in der Nachkriegszeit veränderten – unabhängig davon, ob sie ihre Aufnahme als freiwillig oder aufgezwungen empfanden. Während es in der Kriegszeit meistens um existenzielle Fragen und Ängste, wie die Befürchtung, Selbstmord zu begehen oder andere Menschen zu töten, ging, kamen in der Nachkriegszeit in Ost und West weitere Begründungen hinzu, wie etwa die Hoffnung auf Behandlung oder die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit. Diese Gewichtsverschiebung von Sicherheitsfragen hin zu Aspekten der medizinischen Behandlung vollzog sich auf mehreren Ebenen. In den ersten Nachkriegsjahren reagierte die Psychiatrie fast nur noch auf pragmatische Funktionsanforderungen der Zusammenbruchgesellschaft und nahm relativ ungeregelt Menschen auf, die unter diesen spezifischen Umständen störten oder nirgendwo betreut werden konnten. Die bereits in der Kriegszeit vorherrschende pragmatische Nutzung wurde nun noch ausgeprägter. In den 1950er Jahren spielte diese zwar weiterhin in Ost und West eine Rolle, zugleich gab es jedoch Diskussionen über die Ausrichtung und die Funktion der Kliniken und Anstalten in der Gesellschaft, die im Zusammenhang mit der Finanzierung der psychiatrischen Einrichtungen standen. In der DDR ging es vor allem um den Gegensatz von Behandeln und Verwahren, in der Bundesrepublik ging die Diskussion von der Dichotomie zwischen Krankheit und Sicherheit aus. Dies hing damit zusammen, dass Zwangseinweisungen in der DDR im Einzelfall oft unterhalb der Schwelle staatlicher Regelungen abliefen, so dass es wenig Anlässe gab, das Verhältnis von Sicherheit und Behandlung zu problematisieren. Sehr wohl gab es auf politischer Ebene Überlegungen zur Neuregelung der Zwangseinweisung, die Sabine Hanrath analysiert hat. Da bis 1968 allerdings keine gesetzliche Neuregelung in Kraft trat und das Regelvakuum durch das Umgehen offizieller Zwangseinweisungen gefüllt wurde, stellten sich die Fragen nicht, die in der Bundes­ republik höchst relevant waren.

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Kapitel III: Gefahr und Sicherheit – Zur Praxis der Zwangseinweisung

Unabhängig von der Art der Einweisung agierten die Patientinnen und Patienten selbst oft in einem Spannungsfeld zwischen Freiwilligkeit und Zwang. Diese ambivalente Konstellation hat sich bereits im letzten Kapitel gezeigt. Dabei ist auch die Bedeutung von Sicherheit und Gefahr in den Einweisungsargumentationen angerissen worden. Beide Begriffe spielten oft eine wichtige Rolle, um Einweisungen zu legitimieren. Entsprechend benutzte man sie direkt oder griff auf Formulierungen zurück, die auf sie verwiesen: »[M]an könne die Verantwortung nicht mehr tragen«,1 so argumentierten die Hausärztin und Schwiegermutter im Zuge der Einweisung Martina R.s im Frühjahr 1946. Als wesentliches Indiz diente der von der Schwiegermutter vorgebrachte Wutanfall gegenüber dem eigenen Kind.2 Martina R. selbst leugnete den Vorfall zwar nicht, kritisierte aber die Konsequenzen: »Das gebe ich alles zu, aber das ist alles kein Grund, dass man einen in eine Heil- u. Pflegeanst. steckt.«3 Welches Verhalten galt als nicht mehr zu verantworten, ab wann galt jemand als gefährlich und wer entschied hierüber? Solche Einschätzungen hingen stark von den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der Kriegs- oder Nachkriegszeit ab. Zwei Aspekte jedoch hatten alle drei Systeme und die Besatzungszeit gemeinsam. Zum einen kamen bestimmte Themen immer wieder vor: physische Gewalt, Sexualität, Arbeitsfähigkeit und Arbeitswille. Zum anderen zeigten sich erhebliche Divergenzen in den Einschätzungen der beteiligten Akteure. Diese kamen einerseits zwischen Betroffenen und sozialem Umfeld vor, wie am Beispiel Martina R.s gezeigt, andererseits auch zwischen den Ärzten und anderen Beteiligten wie Nachbarn oder Vermietern. Eine ausschlaggebende Rolle spielte die Argumentation mit Gefahr und Sicherheit im Rahmen von Zwangseinweisungen. Diese basierten auf der Begründung, es bestehe eine »Gefahr für die Sicherheit« der Patientin oder des Patienten oder für die öffentliche Sicherheit. Alternativ wurden die Begriffe »Selbstgefährdung« und »Fremdgefährdung« benutzt. Der Begriff Zwangseinweisung bezeichnet eine Bandbreite verschiedener Einweisungsmodi ohne Berücksichtigung des Willens der Patientin oder des Patienten. Grundsätzlich können zwei Arten der Zwangseinweisung unterschieden 1 LHA Marburg, Patientenakte Sign. 16K10740F, Angaben der Schwiegermutter v. 15.3.1946, LWV Hessen 16. 2 Ebd. 3 Ebd., Angaben der Patientin v.15.3.1946.

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werden. Zum einen gab es Einweisungen »auf Grund von Gefahr« entsprechend des PVGs von 1931 und des vergleichbaren Artikels 80/II des bayerischen Poli­ zei­strafgesetzbuches sowie dessen Folgeregelungen. Mit der Begründung, sie stelle eine akute Gefahr dar, konnte eine Person sofort eingewiesen werden. Diese Zwangseinweisungen sind im Folgenden Thema. Zum anderen existierte die Möglichkeit der Sicherungsverwahrung.4 Forensische Einweisungen wurden in Folge einer Straftat verhängt, wenn der Täter als unzurechnungsfähig eingestuft wurde und von der Untersuchungshaft in die forensische Psychiatrie gebracht wurde. An der Entscheidungsfindung waren Justiz und Psychiatrie beteiligt. Einweisungen zur Sicherungsverwahrung werden in dieser Studie aus zwei Gründen nicht untersucht. Erstens sind sie kein Ergebnis einer Aushandlung zwischen institutionellen und nicht-institutionellen Akteuren, sondern zwischen Justiz und Psychiatrie. Sie sagen also weder etwas über das Verständnis von Sicherheit im gesellschaftlichen Mikrokosmus aus noch über die Interaktion zwischen privaten und öffentlichen Bereichen. Zweitens sind forensische Einweisungen in der Stichprobe dieser Arbeit so selten, dass in keiner Weise auf typische Argumentationen oder Akteurskonstellationen geschlossen werden kann. Außerdem machen sie im Verhältnis zu Zwangseinweisungen, die entsprechend dem PVG von 1931 und seiner Nachfolgeregelung vollzogen wurden, den deutlich kleineren Teil aus. Dies soll kurz anhand von Zahlen der Jahresberichte der drei Heil- und Pflegeanstalten Eglfing-Haar, Rodewisch und Groß­ schweidnitz verdeutlicht werden. In Eglfing-Haar verzeichnen die Jahrbücher sowohl die Anzahl der forensischen Einweisungen als auch diejenigen der polizeilichen Zwangseinweisungen. Die forensischen Einweisungen machten immer einen verhältnismäßig geringen Anteil aus. In der Nachkriegszeit nahm ihr Anteil sowohl an den Zwangseinweisungen als auch an der Gesamtzahl der jährlichen Einweisungen ab. Im Jahr 1942 standen 522 polizeiliche Einweisungen 31 der hier nicht untersuchten Einweisungen zur Sicherheitsverwahrung nach § 42b RStGB gegenüber – bei insgesamt 881 Einweisungen. Ein ähnlicher Befund zeigt sich im Folgejahr: 1943 waren bei einer Gesamtaufnahmezahl von 1427 601 Einweisungen polizeilich und 43 forensisch.5 Eglfing-Haar nahm im Jahr 1956 17 Personen entsprechend § 42  b StGB zur Sicherheitsverwahrung und 541 auf Grundlage des Verwahrungsgesetzes auf, der Nachfolgeregelung der polizeilichen Einweisung in der Bundesrepublik.6 Vergleichbar niedrig lagen die für das selbe Jahr verfügbaren Zahlen der forensischen Einweisungen in­ Rodewisch und Großschweidnitz: In Rodewisch wurden 34 von 348 Patientin4 Vgl. zur Sicherheitsverwahrung: Schewe. 5 HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1942, AB Oberbayern, EH, S. 7; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1943, AB Oberbayern, EH, S. 8. 6 HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1956, AB Oberbayern, EH, Tab. 8; zu den Neuregelungen der Zwangseinweisung in der Bundesrepublik vgl. detailliert in diesem Kapitel das Unterkapitel »Richterliche Zwangseinweisung: Neuregelungen und ihre Umsetzung in der Bundesrepublik«.

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nen und Patienten nach § 42b StGB eingewiesen, in Großschweidnitz 44 von 782.7 Rechtliche Grundlage dieser Einweisungen war auch in den ostdeutschen Anstalten § 42b StGB, da das Strafgesetzbuch vom 15. Mai 1871 in allen drei deutschen Staaten galt. Umfassendere Reformen erfolgten in der DDR erst 1968, in der Bundes­republik 1970. Die folgende Analyse der Zwangseinweisungen bezieht sich vor allem auf die Heil- und Pflegeanstalten Eglfing-Haar in München, Untergöltzsch bei Chemnitz und Großschweidnitz bei Görlitz. Diese Heil- und Pflegeanstalten waren anders als Universitätskliniken (wie Greifswald), private Anstalten (wie Bethel) oder reine Heilanstalten (wie die Landesheilanstalt Marburg) auch – aber keinesfalls nur – auf Zwangseinweisungen ausgerichtet.8 In den Heil- und Pflegeanstalten überstiegen die Zahlen der Zwangseinweisungen »auf Grund von Gefahr« während des Krieges die der Nachkriegszeit. In Eglfing-Haar waren sie wiederum noch einmal deutlich höher als in Rodewisch und lagen bei über 40 Prozent. Es zeigen sich also beträchtliche regionale Unterschiede. Während es sich in der Kriegszeit in Untergöltzsch bei 25 Prozent der Einweisungen um behördliche Zwangseinweisungen handelte, traf dies nur noch auf ca. zehn Prozent der späteren Einweisungen zu.9 In München verringerte sich die Zahl der Zwangseinweisungen ab 1947, wohingegen nach Kriegsende 1945 und 1946 noch keine Abnahme festzustellen ist. Wo 1946 noch 461 von 660 Aufnahmen nach Artikel 80/II PStGB erfolgten, traf dies 1949 nur noch auf 48 von insgesamt 1638 Aufnahmen zu.10 Mit der in diesem Kapitel noch ausführlich behandelten Einführung der richterlichen Unterbringung stiegen die Zahlen 7 KA Großschweidnitz, Betr.: Zusammensetzung des Kontingents der Kranken 1956, BAB, DQ1/20523; KA Rodewisch, Betr.: Zusammensetzung des Kontingents der Kranken 1956, BAB, DQ1/20523. Zur Widerlegung des Verdachts, in der DDR könnte ähnlich wie in der Sowjetunion die Sicherungsverwahrung politisch missbraucht worden sein, vgl.: Süß, Politisch mißbraucht. 8 Auch in Greifswald und Marburg waren Zwangseinweisungen möglich. Beide waren aber auf kurze Aufenthalte mit dem Ziel der schnellen Besserung, der Diagnostik oder Begutachtung ausgelegt. 9 Vgl. Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs (Kategorien »Gesundheitsamt« und »polizeilich«): T12, T27, T40, T52. 10 HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1941, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1942, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA EglfingHaar, Jahresbericht 1943, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1944/45, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1946, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1947, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1948, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1949, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; zum Zusammenhang mit der neuen Gesetzgebung in der Bundesrepublik und Rechtsunsicherheit in der Besatzungszeit und in der frühen Bundesrepublik sowie dazu, als wie aussagekräftig Zahlen zu Zwangseinweisung sind, vgl. in diesem Kapitel das Unterkapitel »Zahlen zu Zwangseinweisungen und ihre Aussagekraft«.

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jedoch wieder deutlich an. Seit der Einführung des bayrischen Verwahrungsgesetzes 1952 machten die richterlichen Einweisungen etwa ein Viertel der Patientinnen und Patienten aus.11

1. »Gefährdung der öffentlichen Sicherheit«? Zwangseinweisungen im Zweiten Weltkrieg Das Thema Sicherheit war für das nationalsozialistische Gesundheitssystem im Allgemeinen sowie für die Einweisungspraxis im Speziellen von erheblicher Bedeutung. Der gesundheitspolitische Sicherheitsbegriff der NS-Zeit verhielt sich janusköpfig: als »arisch« eingestufte Familien wurden sozial abgesichert, gleichzeitig Kranke zunehmend aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Polizei sah sich als »Arzt am Volkskörper«, der dessen Überleben sicherte und ihn vor »erbkranken« Minderheiten zu schützen hatte.12 Dementsprechend sollten auch im psychiatrischen Bereich Einweisungen aus Sicherheitsgründen eindeutig Vorrang haben. Patientinnen und Patienten, die nicht als Gefahr für die Gemeinschaft eingewiesen worden waren, sollten wenn möglich entlassen und Entlassungswünschen von Angehörigen sollte entsprochen werden.13 Zugleich führten Polizei und Gesundheitsämter in größerer Zahl behördliche Zwangseinweisungen durch. Diese wiesen in der Kriegszeit zwei Charakteristika auf: Erstens fielen Zwangseinweisungen in den Bereich der Polizei. Normalerweise konnte die Polizei nur mit einem ärztlichen Attest eine Aufnahme erzwingen. Jedoch war dies bei Gefahr auch ohne ärztliche Stellungnahme nach eigenem Ermessen der Polizeibeamten möglich. Das Attest wurde meistens von den Gesundheitsämtern ausgestellt.14 Dies bedeutet zweitens, dass die Entscheidungsmacht bei Zwangseinweisungen nicht bei den Anstaltsärzten lag und die Justiz bei diesen Zwangseinweisungen – anders als bei den forensischen Zwangseinweisungen – gar keine Rolle spielte.15 11 HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1953–59, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH. 12 Herbert, Best, S. 163 ff.; Wagner, Kriminalisten, S. 56 ff. 13 Vgl. Götz Aly zu der Möglichkeit, zur Ermordung bestimmte Patientinnen und Patienten­ sogar noch in den Zwischenanstalten auf dem Weg in die Tötungsanstalten auf Wunsch der Verwandten zu entlassen: Aly, Belasteten, S. 39 u. 281. 14 Wie in Kapitel I bereits ausgeführt, wurden mit dem »Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitssystems« von 1935 flächendeckend Gesundheitsämter eingerichtet. Vgl.: Süß, »Volkskörper«, S.  36. Die Gesundheitspolizei war zur Zeit des Zweiten Weltkriegs meistens den Gesundheitsämtern untergeordnet. Die Gesundheitspolizei konnte aber auch der Polizei untergeordnet sein. In München wurde die Gesundheitspolizei, die zuvor zum Polizeipräsidium München gehörte, erst 1941 Teil des städtischen Gesundheitsamtes. Vgl.: Münchener Gemeindezeitung, 24.4.1941, Abschrift, StdA München, 117. Zum Aufbau des Münchener Gesundheitsamtes während des Krieges, vgl.: Christians, S. 54. 15 Brink, S. 259.

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In den beiden Heil- und Pflegeanstalten Eglfing-Haar und Untergöltzsch gab es während des Krieges viele Zwangseinweisungen.16 Kriegsspezifisch war trotzdem nicht unbedingt ihre Zahl, sondern eher der Einweisungsweg bzw. die Einweisungskonstellation sowie die Einweisungsargumentation. Die höhere Zahl während der Kriegszeit hing mit der bereits vor dem Zweiten Weltkrieg stark gewachsenen Rolle der Gesundheitsämter und der Polizei bei Zwangseinweisungen zusammen. Da der Untersuchungszeitraum der Arbeit 1941 beginnt, soll hier lediglich kurz am Fall Eglfing-Haars angerissen werden, dass es schon vor Kriegsbeginn verhältnismäßig viele behördliche Einweisungen gab. In einem Schreiben an den Regierungspräsidenten in München vom September 1939 teilte Eglfing-Haars Direktor mit, dass es kaum noch Direktaufnahmen gebe.17 Die Einweisungen fänden nämlich entweder über die psychiatrischen Abteilungen der Münchener Kliniken statt oder nach Artikel 80/II Polizeistrafgesetzbuch. Bei den Einweisungen aus den München umgebenden Aufnahmebezirken handele es sich fast ausschließlich um Zwangseinweisungen ohne richterliche Entscheidung. Die vielen Einweisungen aus Sicherheitsgründen bei Kriegsbeginn lassen darauf schließen, dass die Behörden an die Vorkriegspraxis anschlossen. Zwangseinweisungen durch Polizei und Gesundheitsämter hatten sich schon vorher weitgehend durchgesetzt.18 Zusätzlich zu dem etablierten Sicherheitsprimat, der Polizei und Gesundheitsämter ermächtigte, spielten bei den Einweisungen von 1941 bis 1945 jedoch zwei neue Faktoren eine wesentliche Rolle: zum einen die veränderte Situation durch den Krieg und die »Aktion Brandt« und zum anderen die kriegsspezifische Argumentation des sozialen Umfeldes. Diese Aspekte trugen gemeinsam zu einer Entgrenzung und Radikalisierung von Einweisungsargumentationen bei. Zudem müssen die Zwangseinweisungen vor dem Hintergrund der Krankenmorde als besonders radikale Form der Ausgrenzung eingeordnet werden.19 Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welche Akteure unter den Kriegsbedingungen an Einweisungen auf Grund von »Gefahr für die öffentliche Sicherheit« beteiligt waren und inwiefern es Handlungsspielraum für die Familien der Patientinnen und Patienten gab. Diese Frage ist zugleich damit verknüpft, wer die zwangseingewiesenen Patientinnen und Patienten waren und mit welchen Begründungen sie eingewiesen wurden. Nacheinander werden drei Patientengruppen untersucht, deren Zwangseinweisungen kriegsspezifische Merkmale trugen: Zuerst geht es um Soldaten. Dabei steht die Einweisung 16 Vgl. Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs (Kategorie »Gesundheitsamt« und »polizeilich«): T11–15. 17 Direktor HPA Eglfing-Haar, Betr.: Stellungnahme zu Direktaufnahmen v. 23.9.1939, AB Oberbayern, EH 604. 18 Vgl. zur Polizei als Akteur in der Psychiatrie der NS-Zeit: Brink, S. 259 ff. 19 Zur Notwendigkeit, gesundheitspolitische Inklusion und Exklusion, die ursprünglich nicht genuin nationalsozialistisch war, im Kontext des Nationalsozialismus anders zu bewerten, vgl.: Thießen, Medizingeschichte, S. 562.

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in die hier behandelten Anstalten im »Reich« im Mittelpunkt. Der Blick ist also deutlich eingeschränkt, da weder die Lazarette noch die Anstalten in Frontnähe beleuchtet werden. Anschließend erfolgt die Untersuchung von Einweisungen älterer Menschen. Hier handelt es sich um eine Gruppe, die eine gänzlich andere gesellschaftliche Stellung als die Soldaten einnahm. Alte Menschen waren ein nicht-kämpfender und nicht-arbeitender Bevölkerungsteil, dem kein unmittelbarer »Nutzen« zugeschrieben wurde.20 Zuletzt rücken Zwangseinweisungen von Frauen im Spannungsfeld von Sexualität, Arbeitsfähigkeit und Schichtzugehörigkeit in den Fokus. Frauen machten in der Kriegszeit die große Mehrzahl der Zwangseinweisungen durch Polizei und Gesundheitsämter aus – im deutlichen Gegensatz zum Geschlechterverhältnis bei den Zwangseinweisungen der Nachkriegszeit. 1.1 Soldaten-Einweisungen an Front und »Heimatfront« Eine unmittelbar mit dem Krieg verknüpfte Patientengruppe, die strikten Regularien bei der Einweisung unterlag, waren Soldaten.21 Kriegsversehrte Soldaten spielten für die Einweisungen an der »Heimatfront« im zweifachen Sinne eine Rolle. Zum einen wurden körperlich verletzte Soldaten in Psychiatrien einquartiert, da Teile der Kliniken und Anstalten als Sonderkrankenhäuser oder Lazarette dienten. Die Fremdnutzung des Anstaltsraums für nicht-nervenkranke Patientinnen und Patienten als Reservelazarette betraf alle hier behandelten Anstalten. In besonderem Maß galt dies für die Landesheilanstalt in Marburg. Die LHA Marburg hatte bereits im Ersten Weltkrieg einen militärpsychiatrischen Schwerpunkt ausgebildet. Daran wurde 1938 angeschlossen. Schließlich gab es dort mehr Lazarettbetten als zivile Betten.22 Zum anderen waren Soldaten aber auch eine spezifische psychiatrische Patientengruppe. Zwischen der Wehrmacht und den Anstalten bestanden Abkom­ men zur Einweisung von psychisch erkrankten Soldaten.23 Die Abkommen spiegelten den Verlauf des Krieges wider: Ursprünglich war vorgesehen, Soldaten in Heil- und Pflegeanstalten ihrer jeweiligen Wehrkreise zu schicken.24 Gegen Ende des Krieges ließ sich dies nicht mehr umsetzten und es kam in Reaktion 20 Zur Forderung, dass alte Menschen möglichst lange arbeiten sollten, um der »Gemeinschaft« nützlich zu sein, vgl.: Möckel, S. 112–134. 21 Müller, S. 307. 22 Grundmann, S. 253. 23 Zu Marburg, vgl.: Müller; in Eglfing-Haar gab es ebenfalls eine Abmachung über die Aufnahme von Soldaten. Im August 1938 wurde hierzu ein Vertrag zwischen »Korpsarzt, VII. Armeekorps (Wehrkreisarzt) und der Kreisgemeinde als Eigentümer der Oberbayrischen Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar« geschlossen, der vorsah, psychiatrisch erkrankte Wehrmachtsangehörige aufzunehmen. Vgl.: Vertrag zw. VII. AK u. HPA Eglfing-Haar v. 23.8.1938, AB Oberbayern, EH 604. 24 Berger, S. 145.

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auf die Verschiebung des Frontverlaufs zu neuen Abkommen. Mit Untergöltzsch etwa schloß man noch im März 1945 ein Sonderabkommen. Hierin wurde vereinbart, Soldaten aufzunehmen, die eigentlich in Heil- und Pflegeanstalten sollten, welche durch das Näherrücken der Front nicht mehr in Frage kamen.25 In der Stichprobe für diese Studie finden sich nur hirnverletzte Soldaten und solche, denen somatisch bedingte Psychosen im Lazarett attestiert wurden, etwa Schizophrenie,26 dagegen keine sogenannten »Kriegszitterer«, wie sie aus dem Ersten Weltkrieg bekannt waren. Es ist schwer einzuschätzen, wie repräsentativ die Ergebnisse dieser Stichprobe sind.27 Die Befunde erscheinen jedoch stimmig, wenn die Entwicklung der Militärpsychiatrie seit dem letzten Krieg berücksichtigt wird. Die Militärpsychiatrie hatte sich gleichsam als Lerneffekt aus dem Ersten Weltkrieg, in dem erstmals zahlreiche »Kriegszitterer« auftauchten, darauf verständigt, dass die beste Kur für psychisch versehrte Soldaten das Gefechtsfeuer sei.28 Beschwerden sollten immer frontnah behandelt werden, so dass keine Aussicht auf Heimkehr bestand, die Simulation hätte begünstigen können.29 Soldaten, die die Ärzte als nicht kampfesbereit beurteilten, konnten ab 1943 auch in ein Konzentrationslager eingewiesen werden.30 Es ist insofern nicht überraschend, dass in der Stichprobe nur Fälle zu finden sind, in denen explizit erwähnt wurde, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem Fronteinsatz und der Erkrankung des Soldaten gäbe.31 Die Befunde weisen daher darauf hin, dass den »Erkenntnissen« der Militärpsychiatrie auch in der Praxis gefolgt wurde. Wenn sie denn erfolgte, unterlag die Einweisung von Soldaten speziellen Regeln. Sie geschah direkt durch die Wehrmacht: »Die Patienten wurden quasi wie Eigentum der Deutschen Wehrmacht behandelt. Sie waren in eine ›Irrenanstalt‹ eingeliefert worden, weil die üblichen Einrichtungen des Heeres für eine Behandlung ihrer Symptome nicht geeignet waren. Diese durften sie erst verlassen, wenn ihr Zustand ›im Einvernehmen mit dem Truppenarzt‹ als gebessert galt und sobald die gesetzlichen Bestimmungen (Sterilisation) es erlauben.«32 Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass es noch eine dritte Möglichkeit des Umgangs mit als psychisch auffällig eingestuften Soldaten gab. Wenn sie nicht im Verdacht standen, dass ihre Beschwerden unerwünschte Reaktionen auf den Fronteinsatz waren, sondern endogene Erkrankungen, wie 25 Sonderabkommen zw. HPA Untergöltzsch u. Reservelazarett 706/15 v. 22.3.1945, Abschrift, HPA Untergöltzsch, Patientenakte Sign. 9683, SächSta Chemnitz, 32810. 26 HPA Untergöltzsch, Patientenakte Sign. 9704, Krankenblatt d. Lazaretts Tapian v. 9.11.1944, SächSta Chemnitz, 32810. 27 Um hierzu weiterreichende Aussagen zu machen, wäre es nötig, eine größere Zahl von Krankenakten eingewiesener Soldaten systematisch zu untersuchen. 28 Quinkert u. a., S. 20. 29 Goltermann, S. 167. 30 Ebd., S. 183. 31 Z. B.: HPA Untergöltzsch, Patientenakte Sign. 8704, Bericht d. Stabsarztes Reservelazarett Eglfing-Haar v. 5.10.1942, SächSta Chemnitz, 32810. 32 Müller, S. 306.

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z. B. Schizophrenie oder MDI, wurden sie nicht immer wie eigentlich vorgesehen in eine Anstalt eingewiesen.33 Stattdessen entließ man einige von ihnen nach Hause. In dem Sample tauchen solche Soldaten nur auf, wenn sie auf anderem Wege doch noch in die Anstalt gelangten. Wiederum bleibt offen, wie häufig dies vorkam. Es ist jedoch angesichts des rigiden Umgangs mit psychisch erkrankten Soldaten verblüffend, dass solche Fälle überhaupt existierten. Möglicherweise hingen diese irregulären Entlassungen mit Schwierigkeiten zusammen, einen Anstaltsplatz im Reich zu organisieren. Dies konnte Monate dauern. Mitunter weigerten sich die Anstalten an der »Heimatfront« auch, Soldaten aufzunehmen, weil nicht eindeutig geklärt war, wer die Kosten übernahm. Es kam ebenfalls vor, dass die zuständige Anstalt geschlossen worden war, andere Einrichtungen sich aber für nicht zuständig erklärten.34 Einer dieser Fälle war­ Dietrich K., dem Schizophrenie attestiert wurde. Im Bericht des Stabsarztes des Reservelazaretts Eglfing-Haar zur Entlassung ist vermerkt: »Es handelt sich um eine endogene Erkrankung, die mit dem Wehrdienst in keinem ursächlichen, wohl aber in einem zeitlichen Zusammenhang steht. Nachdem das Verfahren zur Wehrmachtsentlassung eingeleitet und Pat. nicht mehr lazarettbedürftig ist, wird er am 5.10.42 zur 4./Schiffstammabteilung Wilhelmshafen entlassen.«35

Der Stabsarzt wies explizit daraufhin, dass es sich nicht um eine psychische Reaktion auf den Krieg handelte. Dietrich K. hätte der Regelung entsprechend nur in eine Heil- und Pflegeanstalt seines Wehrkreises entlassen werden dürfen. Der Akte ist nicht zu entnehmen, wieso dies nicht passierte. Ein halbes Jahr später wurde Dietrich K. auf Initiative seiner Frau aus seinem Heimatdorf heraus zwangseingewiesen. Seine Ehefrau gab an, dass er sie schlage und den Hausrat zerstöre.36 Erneut zeigt sich, dass nicht allein die Feststellung psychischer Auffälligkeiten durch medizinische Einrichtungen, sondern auch Initiativen der Angehörigen, zu Einweisungen führen konnten. Dieser Fall macht überdies deutlich, dass Einweisungen im Krieg und im Nationalsozialismus weder zwingend NS- noch kriegsspezifisch sein mussten. Koalitionen von (oft weiblichen) Familienmitgliedern und Ärzten gegenüber gewalttätigen (häufig männlichen) Patienten sind weder spezifisch für Kriegssituationen noch für den deutschen Fall oder auch nur das zwanzigste Jahrhundert. Ähnliche Einweisungen finden sich nicht nur genauso in der Nachkriegszeit, sondern auch im 19. Jahrhundert.37 33 Das Entlassungsverfahren aus dem Wehrdienst sah in diesen Fällen eine Entlassung in eine Heil- und Pflegeanstalt zwingend vor. Vgl.: Berger, S. 145. 34 Ebd., S. 145 f. 35 HPA Untergöltzsch, Patientenakte Sign. 8704, Bericht d. Stabsarztes Reservelazarett EglfingHaar v. 5.10.1942, SächSta Chemnitz, 32810. 36 Ebd., Ärztliches Attest v. 5.6.1943. In dem Sample für diese Arbeit finden sich nur vier vergleichbare Fälle, in denen der Patient wegen einer endogenen Psychose aus dem Militärdienst entlassen, an der »Heimatfront« dann aber von Verwandten eingewiesen wurde. 37 Gründler, S. 119 ff.

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Die Einweisungen von Soldaten, die nicht immer ganz den vorgegebenen Normen folgten, zeigen bereits, dass auch Zwangseinweisungen nicht nur über Regeln und institutionelle Akteure zu fassen sind. Familien und soziales Umfeld blieben auch im Krieg wichtig, und die Ärzte an der Front hatten ebenfalls mitunter Handlungsspielraum, obwohl sie in einem äußerst reglementierten Bereich agierten. Im Folgenden wird den Machtrelationen unterschiedlicher Akteursgruppen ausgehend von zwei großen Patientengruppen nachgespürt, die oft zwangseingewiesen wurden. Zuerst werden Aufnahmen älterer Menschen analysiert, dann Einweisungen von Frauen im Zusammenhang mit Sexualität. Auf Grund der sehr viel größeren Quellenbasis ist es bei diesen beiden Gruppen auch eher als bei den betroffenen Soldaten möglich, einzelne Argumentationsmuster herauszuarbeiten. 1.2 Alte Menschen als Gefahr: Radikalisierung der Einweisungspraxis durch Institutionen und soziales Umfeld Schon vor Kriegsbeginn wurden alte Menschen in der neu aufkommenden, politisch forcierten Altersforschung stark unter utilitaristischen Aspekten behandelt. So lautete eine der wichtigsten Fragen der Altersforschung, wie ältere Menschen möglichst lang der »Arbeiterfront« erhalten bleiben konnten.38 Im Zuge der mit dem Kriegsverlauf zunehmenden Umwandlung von Altersheimen in Ersatzkrankenhäuser wurden zudem alte Menschen vermehrt in psychiatrische Anstalten verlegt.39 Auch sind Fälle bekannt, in denen bei Schließung eines Altenheims größere Gruppen von alten Menschen in Heil- und Pflegeanstalten transferiert wurden.40 Zugleich kursierten insbesondere in den letzten beiden Kriegsjahren Gerüchte über eine schlechtere Versorgung und über die Tötung alter Menschen.41 Anhand der psychiatrischen Einzelfallakten kann zusätzlich zu diesen Veränderungen auch der Umgang mit alten Menschen im Kriegsalltag in den Blick genommen werden, über den bisher wenig bekannt ist.42 Im Folgenden sollen die Einweisungen von älteren Menschen analysiert werden, die »auf Grund von Gemeingefährlichkeit« geschahen, um sich deren Stellung in ihrem sozialen Umfeld und in medizinischen Einrichtungen zu nähern. Es lassen sich vier Varianten des Einweisungswegs alter Menschen unterscheiden.43 38 Möckel, S. 119ff; Schwoch, S. 462–498; Hahn, S. 131. 39 Süß, »Volkskörper«, S. 297 ff. 40 Vgl. zu Sachsen: Hahn, S.  132. Zur Auflösung städtischer Altersheime in München 1941, vgl.: Christians, S. 278 ff. 41 Hierzu vgl. die Auswertung der SD-Berichte in: Aly, Belasteten, S. 259 ff. 42 Süß, »Volkskörper«, S. 297. 43 Inwiefern diese kriegsspezifischen Begründungsmuster zugleich NS-spezifisch waren, müsste über einen Vergleich zur Einweisungspraxis in anderen kriegführenden Gesellschaften erforscht werden. Dietmar Süß’ Vergleich der Kriegsgesellschaften in Deutschland und England, lässt vermuten, dass die hier im Folgenden nachgezeichnete Exklusion älterer Menschen

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Erstens wurden alte Menschen aus Alters- und Pflegeheimen in die staatlichen Heil- und Pflegeanstalten überwiesen. Hierbei gab es gravierende regionale Unterschiede.44 Vor ihrer Einweisung nach Untergöltzsch befanden sich 10,7 Prozent der Patientinnen und Patienten in einem Altenheim und 7,1 Prozent in einem Pflegeheim.45 In München und Umgebung hingegen wurde niemand aus Altersheimen aufgenommen.46 Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass in Eglfing-Haar keine alten Menschen eingewiesen worden wären. Zum einen zeigen die hauseigenen Statistiken, dass im Vergleich zur Nachkriegszeit weder auffällig wenige noch besonders viele alte Menschen aufgenommen wurden.47 Das Besondere lag in der kriegsspezifischen Anwendung des Arguments der Fremdgefährdung. Zum anderen belegen die Krankenakten, dass die Heil- und Pflegeanstalt in München und Umgebung in der Kriegszeit oft eine Alternative zum Altersheim darstellte, denn ab 1941 wurden mehrere städtische Altersheime in »Hilfskrankenhäuser« umgewidmet. Die Bewohner der Altersheime kamen überwiegend in die konfessionelle Einrichtung Schönbrunn, nicht nach Eglfing-Haar.48 Schwierig oder gar nicht zu arrangierende Neuunterbringungen in Altersheimen wurden hingegen durch Unterbringungen in Eglfing-Haar ersetzt. Des Öfteren wurden ältere Patientinnen und Patienten auch nach Operationen von chirurgischen Abteilungen in Heil- und Pflegeanstalten verlegt. Dies legitimierte man entweder – so die zweite Variante – mit einer zunehmenden Überlastung der Krankenhäuser oder  – drittens  – mit der Verweigerung von Verwandten, ihre älteren Angehörigen wieder zu Hause aufzunehmen. Anders als für die niedergelassenen Ärzte in Kapitel II kann für die Krankenhäuser durchaus spezifisch für die nationalsozialistische Gesellschaft im Krieg war. Denn für den deutschen Fall stellt er Rassen-, Klassen- und Geschlechterkonflikte in weit größerem Maß als in England fest. Generationenkonflikte werden in der Darstellung allerdings nur ganz am Rande gestreift. Süß, Tod, S. 331 u. 346 f. 44 In den Jahren 1941 bis 1945 gab es insgesamt große regionale Unterschiede. Die Verlegungen sowie der dezentrale Krankenmord hingen von lokalen und regionalen Entscheidungsträgern ab. Vgl.: Ders., »Volkskörper«, S. 320 ff. u. 340 ff. 45 Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T7. 46 Ebd.: T8. 47 Die Aufnahmezahlen nach Lebensalter wurden in vier Gruppen aufgenommen: 16–30 Jahre, 31–45 Jahre, 46–60 Jahre und über 60 Jahre. In den Jahren 1946–49 war die Kategorie der über 60-Jährigen die zweitstärkste, zwischen 1941 und 1945 die drittstärkste, machte jedoch auch zwischen 15 und 20 % der Neuzugänge aus. Vgl.: HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1941, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1942, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1943, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1944/45, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1946, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1947, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1948, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1949, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH. 48 Hierzu vgl.: Christians, S. 278 ff.

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nicht festgestellt werden, dass sie während des Krieges deutlich weniger einwiesen als in der Nachkriegszeit.49 Dies hing damit zusammen, dass die Krankenhäuser als Teil des medizinischen Arms der Kriegsmaschinerie fungierten. Sie waren daher immer aufgefordert, Betten für verletzte Soldaten freizumachen. Die Überlastungsargumentation bezog sich meistens auf Fälle, in denen die­ Patientinnen und Patienten auf der Station als störend wahrgenommen wurden und es keine Verwandten in der Nähe gab. In diesen Fällen ist das Vorgehen an sich nicht spezifisch nationalsozialistisch geprägt, denn ähnliches gab es z. B. nach 1945 häufig im Zusammenhang mit den Flüchtlingsströmen aus den ehemaligen Ostgebieten, aber auch noch in späterer Zeit. Allerdings wurde dieses Vorgehen kriegsbedingt legitimiert und dadurch begünstigt, dass alte Menschen im Krankenhaus allgemein als »Ressourcenverschwendung« angesehen wurden.50 Die Überweisungen von Krankenhäusern in Psychiatrien sind jedoch nicht ausschließlich durch kriegsbedingte Sachzwänge zu erklären. Patientinnen und Patienten mussten nicht zwingend in psychiatrische Anstalten überwiesen werden, um »Betten frei zu machen«, sondern konnten unter Umständen auch zu ihren Familien entlassen werden. Für ein umfassendes Verständnis der Ein­ weisungskonstellation ist es wichtig, nicht die Krankenhäuser als Akteure zu überschätzen und die Rolle des sozialen Umfeldes zu unterschätzen. Dies zeigt die Geschichte von Lina V., die im Dezember 1940 in Eglfing-Haar mit der Diagnose senile Demenz aufgenommen wurde.51 Zuvor hatte ihr Bruder veranlasst, dass sie in die Psychiatrische und Nervenklinik München kam. In der dortigen Krankengeschichte ist zur Verlegung in die Heil- und Pflegeanstalt EglfingHaar vermerkt: »Es wurde Antrag auf Unterbringung in ein Altersheim gestellt. Patientin war während des Klinikaufenthaltes sauber. Der Aufenthalt im Altersheim ist. u. E. trotz der gelegentlichen Verwirrtheitszustände möglich. Bis zur Erledigung des Antrages, der läuft, soll Patientin in Eglfing-Haar bleiben. Der Bruder wünscht ebenfalls wegen den geringen Kosten52 die Verlegung nach Eglfing.«53

Die Unterbringung Lina V.s in der Heil- und Pflegeanstalt war also eine von den Behörden und dem Bruder forcierte Zwischenlösung. Die Anstalt musste 49 In Untergöltzsch/Rodewisch verliefen während des Krieges z. B. 14 % der Einweisungen über nicht-psychiatrische Krankenhäuser, zwischen Kriegsende und 1949 10 % und zwischen 1950 und 1955 25 %, in Großschweidnitz wurden zwischen 1956 und 1963 17 % durch ein Krankenhaus überwiesen. Für Zahlen zu allen Einrichtungen vgl. Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T11–15, T26–30, T39–42, T51–54. 50 So meldete z. B. Anfang 1944 der stellvertretende Amtsarzt in Leipzig dem sächsischen Innenministerium 111 Pflegefälle, »die die Krankenhäuser verstopften«. Zit. n. Hahn, S. 136. 51 HPA Eglfing-Haar, Patientenakte Sign. 6212, AB Oberbayern, EH. 52 Der Tagessatz für Heil- und Pflegeanstalten war während des gesamten Untersuchungszeitraumes niedriger als derjenige für Krankenhäuser. 53 Ebd., PsychN München, Eintrag aus der Krankengeschichte v. 18.12.1940, Abschrift.

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die Frau aufnehmen, da sie als »Gefährdung der öffentlichen Sicherheit« galt. Eine Konstellation, in der Krankenhausärzte und Angehörigen kooperierten kam, nicht nur in Eglfing-Haar, sondern auch in Untergöltzsch und Marburg regelmäßig vor. Das soziale Umfeld trug solche Zwangseinweisungen vielfach mit.54 Die Einweisung Lina Vs. zeigt überdies, dass sich ihr Bruder relativ gleichgültig hinsichtlich des Unterbringungsorts verhielt. Ursprünglich hatte er seine Schwester in die Universitäts- und Nervenklinik München gebracht. Ob die Initiative von ihm selbst oder einem niedergelassenen Arzt ausging, ist der Akte nicht zu entnehmen. Die dortigen Ärzte hielten eine Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt zwar nicht für nötig, zeigten sich aber bereit, die Patien­tin trotzdem dorthin zu verweisen. Zugleich wird deutlich, dass der Bruder seine Schwester nicht mit nach Hause nehmen wollte, denn diese – für die Krankenhausärzte unkomplizierteste und zugleich kostengünstigste – Variante findet in der Abschrift der Psychiatrischen und Nervenklinik keinerlei Erwähnung. Wohlgemerkt bedeutet das nicht, dass diese Möglichkeit nicht zwischen Krankenhausärzten und Bruder thematisiert worden sein könnte. Wenn der Bruder dies aber ablehnte und die Krankenhausärzte und der Angehörige stattdessen eine temporäre Einweisung veranlassen wollten, wäre es nicht zweckdienlich gewesen, in der Überweisung zu erwähnen, dass es eventuell noch andere kostengünstigere Möglichkeiten gegeben hätte. Mögliche Motive des Bruders bleiben in dieser Akte im Dunkeln.55 Das Beispiel von Lina V. verdeutlicht, dass es auch in der Kriegszeit Handlungsspielraum sowohl für die Institution Krankenhaus als auch für das soziale Umfeld der Patientinnen und Patienten gab, auch wenn jemand zwangsein­ gewiesen in die Anstalt kam. Der Bruder traf eine durchaus eigensinnige Entscheidung, und selbst wenn die Krankenhausärzte ihm diese eventuell anboten, so eignete er sie sich zumindest an. Manche Angehörige, die jahrelang mit einem psychisch auffälligen Familien­ mitglied zu Hause gelebt hatten, weigerten sich auch nach einem chirurgisch indizierten Krankenhausaufenthalt des erkrankten Familienmitgliedes, dieses wieder nach Hause zu nehmen. So verhielt es sich z. B. bei der im September 1942 »wegen Gemeingefährlichkeit« nach Eglfing-Haar eingewiesenen 69-jährigen Meta C.56 Der Obermedizinalrat begründete dies in seinem Gutachten folgendermaßen: »C. war schon von 1928–30 in der Heil- und Pflegeanstalt Stralsund, dann lebte sie jahrelang bei ihrem Bruder. Im Mai oder Juni 1942 wurde sie wegen eines offenen Beines in das Krankenhaus Pasing gebracht, von wo sie wegen ihres psychisch auffälli-

54 In diesem Kontext ist zu beachten, dass auch Nicht-Handeln eine Entscheidung mit Folgen ist. Vgl.: Reemtsma, S. 6. 55 Insofern ist auch nicht zu beurteilen, inwiefern diese moralisch fragwürdig gewesen sein könnten. 56 HPA Eglfing-Haar, Patientenakte Sign. 6528, AB Oberbayern, EH.

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gen Verhaltens in die Nervenklinik verlegt wurde. Es handelt sich um ein manisches Zustandsbild bei Cerebralsklerose. […] Die Angehörigen weigern sich die Pat. bei sich aufzunehmen. Sie muss deshalb wegen Gemeingefährlichkeit in einer geschlossenen Anstalt verwahrt werden.«57

Warum die Angehörigen sich weigerten, die Frau häuslich zu betreuen, bleibt in diesem Fall unklar. Deutlich wird jedoch die entscheidende Rolle der Angehörigen. Universitätsnervenkliniken fungierten als Scheidepunkt in der Frage, ob jemand langfristig in eine Heil- und Pflegeanstalt kam oder nicht. Es handelte sich keineswegs um einen Automatismus. Die meisten Patientinnen und Patienten einer Universitätsklinik konnten auch nach längerem Aufenthalt aus ärztlicher Sicht wieder nach Hause, wenn ihre Angehörigen sie aufnahmen. Es kam darüber hinaus – wenn auch selten – vor, dass Angehörige ihre älteren Verwandten sogar gegen ärztlichen Ratschlag wieder aus der Anstalt nahmen. So wurde z. B. die 76-jährige Ina. M. von ihrem Neffen gegen Revers aus der Landesheilanstalt Marburg nach Hause geholt, wo sie wegen eines Suizidversuchs im Juli 1941 weilte.58 An den beispielhaften Darstellungen der Weiterverweisung aus einem Krankenhaus nach Eglfing-Haar zeigt sich bereits, dass sich die Einweisungen nicht allein über die Institutionen zurückverfolgen lassen. Selbst Zwangseinweisungen konnten ein Aushandlungsprozess sein, in dem unterschiedliche Interessen miteinander konkurrierten und dessen Ausgang von dem Verhalten des sozia­len Umfeldes der Eingewiesenen abhing. Der alleinige Fokus auf Institutionen verstellt hingegen den Blick auf das Verhältnis des näheren sozialen Umfelds zu den Patientinnen und Patienten unter den Bedingungen des Zweiten Weltkriegs. In vielen Fällen wurden die Einweisungen von den Gesundheitsämtern gemeinsam mit Familienangehörigen oder dem sozialen Umfeld in Gang gesetzt. In diesem Zusammenhang taucht in den Patientenakten oft das Argument auf, dass noch rüstige ältere Menschen, die leichte Anzeichen von Senilität zeigten, ohne Betreuung zu Hause eine Gefahr darstellten. Sie könnten etwa nicht ordentlich gekleidet das Haus verlassen, die Nachbarschaft durch das Erzählen wirrer Geschichten stören, die Verdunklung bei Bombenangriffen nicht einhalten oder das zügige Erreichen des Luftschutzraums behindern.59 Es wurden insbesondere zwei Punkte immer wieder angeführt: das Missachten der Verdunklungsvorschriften und der Verfall von Lebensmittelkarten. In der Ein­weisung der 72-jährigen Lydia K. fielen beide Aspekte zusammen. Ihr Vormund be57 Ebd., Schreiben v. 15.9.1942. 58 LHA Marburg, Patientenakte vorl. Sign. 9903F, LWV Hessen, 16. 59 Zur Verdunklung und zum Aufsuchen des Luftschutzkellers z. B.: HPA Eglfing-Haar, Patientenakte Sign. 2933, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Patientenakte Sign. 778, AB Oberbayern, EH.

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antragte eine Einweisung, da »sie um die Verdunklungsvorschriften in keiner Weise Bescheid weiß und sie erst recht nicht beachtet.«60 Gleichzeitig führte er an, sie sei nicht in der Lage ihr Leben selbstständig zu führen: »Sie ist nicht imstande sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, sie läßt Lebensmittelkarten verfallen!«61 Das Gefahrenargument wurde sehr oft in direktem Zusammenhang mit den Kriegbedingungen angeführt. Es soll hier nicht argumentiert werden, dass dabei seitens des sozialen Umfeldes die Instrumentalisierung der Anstalt für eigene Interessen im Vordergrund stand – dies bleibt ungewiss. Es kann jedoch gezeigt werden, dass der Begriff der Fremdgefährdung bei alten Menschen sehr weit gefasst wurde und auch lediglich potentielle Sicherheitsrisiken umfasste. Beispielsweise wandte sich 1940 ein Hauseigentümer brieflich ans Gesundheitsamt Chemnitz und schrieb:62 »An das Wohlfahrtsamt Chemnitz! Mitte 6/4552 Teile Ihnen hierdurch mit, daß der bei mir als Untermieter wohnhaft gewesene, sich z. Zt. im Krankenhaus befindliche Herr [N., d. Vf.], die von mir gemietete Kammer nicht wieder beziehen kann. Und bitte Sie, für seine Unterbringung in ein Altersheim oder Fürsorgeanstalt Sorge zu treffen. Herr [N., d. Vf.] ist wohl in Folge seines hohen Alters nicht mehr im vollen Besitz seiner Gedanken – was sich vor allem durch sehr leichtsinnigen Umgang mit Feuer und offenem Licht bemerkbar macht! – Er beleuchtet die Kammer mit einer Petroleumlampe und kocht zum Teil  auf Spiritus. Dazu kommt noch die große Unsauberkeit, […]. Da nun auch große Gefahr besteht, daß sich das Ungeziefer auch im Hause verbreitet, und durch seinen Umgang mit Petroleum und Feuer die Gefahr eines Brandes besteht, sind deswegen die Hausbewohner schon mehrere Male bei mir vorstellig gewesen, zumal kleine Kinder im Haus sind – bin ich gezwungen Herrn [N., d. Vf.] fristlos zu kündigen. Heil Hitler!«63

Das Gesundheitsamt übernahm diese Argumentation und Herr N. wurde direkt aus dem Krankenhaus in die Heil- und Pflegeanstalt Zschadraß eingewiesen. Der Hinweis auf den Umgang mit Petroleum reichte als Verdachtsmoment dafür, dass Feuer ausbrechen könnte, und Ungeziefer in der Wohnung des alten Mannes konnte plausibel als Gefahr für Kinder in anderen Wohnungen des Hauses dargestellt werden. 60 KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 1737, Schreiben d. Vormunds v. 13.7.1944, SächSta Chemnitz, 32810. 61 Ebd. 62 HPA Untergöltzsch, Patientenakte Sign. 10857, SächSta Chemnitz, 32810. 63 HPA Untergöltzsch, Patientenakte Sign. 10857, Schreiben [o. D., Ende 1940, d. Vf.] SächSta Chemnitz, 32810.

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Auch in Fällen, in denen – viertens – die Polizei Menschen in verwirrtem Zustand auf der Straße aufgriff, zeigt sich das für Einweisungen älterer Menschen charakteristische Zusammenspiel von medizinischen Laien und ausführenden Behörden, wie Polizei und Gesundheitsamt. Im Mai 1943 hielt z. B. Alfred S. in München einen Polizisten an und machte ihn darauf aufmerksam, dass ein »geistesgestörter« alter Mann den Verkehr störe. Der 70-jährige Mann behauptete laut Krankenakte, er sei auf der Suche nach seiner früheren Arbeitsstätte. Der Polizist brachte den alten Mann daraufhin zum Gesundheitsamt. Dort attestierte der Amtsarzt, er müsse in eine geschlossene Anstalt, weil er »eine­ Gefahr für die öffentliche Sicherheit« sei. Eine vorläufige Diagnose erhielt er nicht. Mit dem Attest des Gesundheitsamts wurde er zuerst in die Psychia­ trische und Nervenklinik München gebracht, aber sofort weiter nach EglfingHaar überwiesen.64 Dieses schnelle Weiterverweisen mit mehreren Stationen an einem Tag erweist sich als Spezifikum von polizeilichen Zwangseinweisungen und findet sich sonst fast nie in den Krankenakten. Es war z. B. auch bei der polizeilichen Zwangseinweisung geschlechtskranker Frauen üblich. Im Fall des alten Mannes war der Weg bereits durch den Entschluss des Polizisten gebahnt, der Einschätzung des Passanten zu folgen und den Mann zum Gesundheitsamt zu bringen. Die Tatsache, dass der Mann ohne vorläufige Diagnose nach Eglfing-Haar kam, spricht ebenfalls hierfür. Sie zeigt an, dass es sich hier um eine Einweisung handelte, die allein aus der Einschätzung des alten Mannes als störend resultierte. Ohne vorläufige Diagnose eingewiesen zu werden, war, selbst im Vergleich zu anderen polizeilichen Einweisungen ungewöhnlich. Die bereits erwähnten, auch oft polizeilich eingewiesenen, Frauen mit v­ ene­ rischen Erkrankungen erhielten z. B. trotz des schnellen Einweisungsprozesses eine Diagnose. An den Einweisungsargumentationen, in denen alte Menschen mit Hinweis auf den Krieg als »Gefahr für die Gemeinschaft« beschrieben wurden, zeigt sich eine Tendenz zur Exklusion älterer Menschen aus der Kriegsgesellschaft. Dabei ist die Tatsache ausschlaggebend, dass alte Menschen plausibel als Gefahr für die eigene Familie sowie den »Volkskörper« als ganzen hingestellt werden konnten, unabhängig davon, ob diese Gefahr de facto ernstgenommen wurde oder ob es sich um eine rein instrumentelle Behauptung handelte.65 Das Gefahrenargument erwies sich in jedem Fall als stark genug, um eine Aufnahme zu erzwingen. Hierbei spielten die Krankenhäuser und Gesundheitsämter eine große Rolle; gleichzeitig ging aber auch ein Impuls »von unten« aus, da das soziale Umfeld – manchmal auch völlig unbeteiligte Dritte – viele dieser Einweisungen tolerierten oder initiierten. In beiden Fällen fanden die Einweisungen mitunter auch ohne Unterstützung der Anstaltsärzte statt. Es ereignete sich durchaus, 64 HPA Eglfing-Haar, Patientenakte Sign. 4988, Eintrag v. 25.5.1943, AB Oberbayern, EH. 65 Ob das Gefahrenargument geglaubt wurde oder ob es sich um ein rein strategisches Argument handelte, ist auf der verfügbaren Quellengrundlage nicht generell zu entscheiden.

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dass der Anstaltsarzt in der Krankenakte vermerkte, es handele sich nicht um eine psychiatrische Aufnahme, sondern eigentlich um einen Fall für ein Altersheim. Oder die Anstaltsärzte notierten, die beste Lösung sei, die Patientin oder den Patienten wieder in der Familie unterzubringen. Dies ging nicht auf eine besondere Rücksichtnahme der Ärzte zurück, sondern lag wahrscheinlich daran, dass die Aufnahme alter Leute als »Verwahrungsfälle« der von den Ärzten intendierten Ausrichtung der Anstalten auf effiziente medizinische Versorgung und psychiatrische Behandlung zuwiderlief.66 Maria O. z. B. befand sich entgegen der Einschätzung der Anstaltsärzte in Eglfing-Haar. Sie wurde mit einem Attest des Gesundheitsamts als »selbst- und gemeingefährlich« in die Anstalt eingewiesen, da sie an einer »Geisteskrankheit (senile Demenz)« leide.67 Dort blieb sie, obwohl die Ärzte einen Anstaltsaufenthalt nicht für nötig erachteten, weil die Familie die Patientin nicht nach Hause nehmen wollte bis ein Platz im Altersheim gefunden war. Die Familie favorisierte Eglfing-Haar als Unterbringungsort aufgrund der geringeren Kosten.68 Maria O. kam jedoch nie in ein Altersheim. Wie viele andere starb sie in Eglfing-Haar. Die Grenzen des Sagbaren und Machbaren, die Grenzen dessen, was toleriert wurde, waren an den zeitspezifischen Verhältnissen ausgerichtet. Es war legitim und sagbar, dass Familien und Krankenhausärzte ihre Zeit und Kraft für Angelegenheiten einsetzten, die als wichtiger galten, als sich um ältere Mit­bürger zu kümmern: für den Krieg, für Erwerbsarbeit, für junge Familien.69 Trotzdem blieb es für Angehörige möglich, sich anders zu entscheiden und alte Menschen wieder nach Hause zu holen, wie es z. B. in dem erwähnten Fall aus der Landesheilanstalt Marburg passierte. In anderen Fällen wurden diese Verschiebungen des Sagbaren und veränderte Gelegenheitsstrukturen umstandslos genutzt und reproduziert. Denn die Entscheidung, ältere Menschen in Heil- und Pflegeanstalten unterzubringen, konnte gerade während des Krieges als unausweichlich und letztlich dem »Volkswohl« und der »Sicherheit« dienend rationalisiert werden.70 Dies blieb jedoch nicht folgenlos: Aufgrund der schlechten Versorgungslage starben alte Leute in den Jahren von 1941 bis 1945 oft sehr bald, auch wenn sie bei Eintritt in die Psychiatrie als rüstig sowie zeitlich und örtlich gut orientiert beschrieben wurden und vielleicht nur auf einen Platz im Altersheim warteten.

66 Vgl. etwa zum Interesse Pfannmüllers, des Direktors von Eglfing-Haar, an kurzen Klinikaufenthalten und effizienter Nutzung der Anstalten im Zusammenhang mit der Arbeitskraft der Patienten: Aly, Belasteten, S. 197. 67 HPA Eglfing-Haar, Patientenakte Sign. 6212, Attest d. Gesundheitsamtes v. 6.12.1940, Abschrift, AB Oberbayern, EH. 68 Ebd., Eintrag v. 18.12.40. 69 Vgl. auf allgemeiner Ebene zu jungen Familien und Rüstungsarbeitern als »Gewinner des Krieges« im Gegensatz zu älteren Menschen: Süß, »Volkskörper«, S. 292 ff. 70 Als Parallele hierzu vgl. zur Prägung des Gesundheitssystems durch Kriegsnotwendigkeiten: ebd., S. 41 u. 275 ff.

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass neben der Umwandlung vieler Altersheime in Ersatzkrankenhäuser auch die breite Anwendung des Sicherheitsarguments eine Entdifferenzierung der Anstalten ermöglichte:71 Die durch die Professionalisierung der Psychiatrie entstandene Differenzierung zwischen Geisteskranken und Alten wurde im Zweiten Weltkrieg zum Teil verwischt.72 Diese Einebnung ging dabei  – ohne unbedingt von allen Seiten intendiert zu sein – ebenso von Gesundheitsämtern, Krankenhäusern und Angehörigen aus wie von zentralen Stellen, etwa im Zuge der »Aktion Brandt«.73 Sie ging jedoch nicht in erster Linie von den Anstaltsärzten aus, da diese gerade kein Interesse daran hatten, dass ihre Anstalten zum Sammelbecken mit Verwahrungscharakter wurden, was ihren Anspruch auf kosteneffiziente Nutzung der Anstalten untergrub. 1.3 Sicherheit, Sexualität und Arbeit: Einweisungen von »asozialen Psychopathinnen« Insgesamt machten Frauen in der Kriegszeit die große Mehrzahl der Zwangs­ einweisungen durch Polizei und Gesundheitsämter aus. Dies zeigt sich sowohl in Untergöltzsch als auch in Eglfing-Haar. In Untergöltzsch handelte es sich bei zwei Dritteln der zwischen 1941 und Kriegsende zwangseingewiesenen Menschen um Frauen.74 Für die Nachkriegszeit sind statistische Angaben auf Grundlage der erhobenen Stichprobe für Untergöltzsch/Rodewisch nicht sinnvoll, da die Zwangseinweisungen einen so geringen Anteil der Patientinnen und Patienten ausmachen, dass eine weitere Aufschlüsselung aussagelos ist.75 In der bay­rischen Anstalt, wo dank der Jahrbücher mehr Daten zur Verfügung stehen, ist dies jedoch nachvollziehbar. Dort gab es in den Jahren 1941 bis 1945 mehr Einweisungen von Frauen als von Männern. Dies dürfte auf die kriegsbedingt veränderte Bevölkerungsstruktur an der »Heimatfront« zurückgehen. 71 Paradoxerweise gab es auf offizieller Ebene noch im Sommer 1944 Gespräche über eine geplante Differenzierung der Heil- und Pflegeanstalten in Verwahrungsinstitutionen und Heilanstalten. Ebd., S. 309. 72 Zur Professionalisierung der Psychiatrie in Deutschland vgl. v. a.: Kaufmann, Aufklärung; Engstrom, Psychiatry; Lengwiler; zur Auslagerung des Alters in der Weimarer Republik von Familien in Institutionen, vgl.: Schwoch, S. 464 ff. 73 Die »Aktion Brandt« diente vor allem dazu, Sonderkrankenhäuser zur Behandlung verletzter Soldaten und »Volksgenossen« zu schaffen, indem etwa Altenheime und Psychiatrien einen Teil  ihrer Betten zur Verfügung stellen mussten. Es handelte sich bei der »Aktion Brandt« zwar wohl nicht um eine Weiterführung der Krankenmorde, sie trug jedoch trotzdem wesentlich zur Verschlechterung der Lage der Patientinnen und Patienten in den Anstalten bei. Zur »Aktion Brandt«, vgl. u. a.: Süß, »Volkskörper«, S. 76 ff. 74 Tabellenanhang weitere Statistische Auswertungen: T56. 75 Zu den Gründen für die Abnahme der Zwangseinweisungen vgl. in diesem Kapitel das Unterkapitel »Regelfreier Raum: Die neue Macht der Ärzte und Angehörigen in der DDR«.

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Aber selbst unter Berücksichtigung der insgesamt höheren Einweisungszahlen der Frauen war ihr Anteil an den Zwangseinweisungen überproportional hoch. Frauen machten ca. 1/5 mehr der Gesamtzahl der Eingewiesenen aus. Unter den »wegen Gefahr für die öffentliche Sicherheit« eingewiesenen Menschen gab es jedoch etwa doppelt so viele Frauen wie Männer. 1949 war das Verhältnis zwischen Frauen und Männern bei Zwangseinweisungen ausgewogen, dann drehte sich der Trend um.76 Im Folgejahr wurden bereits doppelt so viele Männer wie Frauen polizeilich eingewiesen.77 Auch im Vergleich zu den forensischen Einweisungen, unter denen Männer im gesamten Untersuchungszeitraum drei- bis vierfach häufiger zu finden waren, lagen die Zahlen der nicht-richterlichen Zwangseinweisung von Frauen während der Kriegsjahre hoch. Während die forensischen Einweisungen in den bayerischen Jahresberichten nach Verbrechen aufgeschlüsselt wurden, ist das für die polizeilichen Zwangseinweisungen nicht der Fall. Festgestellt werden kann jedoch, dass viele der zwangseingewiesenen Frauen als »asozial« deklariert wurden. Wolfgang Ayaß hat in seinen Forschungen zur Verfolgung sogenannter »Asozialer« in der NS-Zeit festgestellt, dass vor Beginn des Krieges ein Schwerpunkt auf der Verhaftung männlicher »Vagabunden« lag und im Krieg ab 1940 der Fokus sich stark auf »Prostituierte« richtete.78 Hierbei ging es nicht unbedingt um sexuelle Dienste gegen Bezahlung, sondern um Fälle, in denen Frauen ein häufiger Wechsel des Geschlechtspartners vorgeworfen wurde.79 Allgemein konnten »Asoziale« zwar in Anstalten gebracht werden, allerdings schickte man sie auch und vor allem in Arbeitshäuser und Konzentrationslager oder kasernierte sie in sogenannten »Asozialenkolonien« in den Städten.80 Die hohe Zahl von zwangseingewiesenen Frauen muss daher auch vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Internierungsmöglichkeiten gesehen werden. Hier zeigen sich genderspezifische Unterschiede in der Art der Verfolgung. Bei der Durchsicht der Krankenakten aus der Kriegszeit fällt auf, dass bei Einweisungen von Frauen oft die Themen Sicherheit, Sexualität, Arbeitsfähigkeit oder Arbeitswille argumentativ verflochten waren. Dies trifft sowohl auf Argumentationen des sozialen Umfeldes zu als auch insbesondere auf poli­ zeiliche Maßnahmen. Wie bei alten Menschen kam es regelmäßig vor, dass 76 HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1941, AB Oberbayern, EH, S. 7; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1942, AB Oberbayern, EH, S. 7; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1943, AB Oberbayern, EH, S. 8; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1944/45, AB Oberbayern, EH, S. 8; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1946, AB Oberbayern, EH, S.  8; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1947, AB Oberbayern, EH, S. 8; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1948, AB Oberbayern, EH, S. 7; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1949, AB Oberbayern, EH, S. 8. 77 Über die 1950er Jahre hinweg blieb es so, dass Männer ungefähr doppelt so oft wie Frauen »auf Grund von Gefahr« eingewiesen wurden. Die Zwangseinweisung wurde allerdings in Bayern 1952 neu geregelt. 78 Ayaß,»Asoziale«, S. 186 ff. 79 Ebd., S. 187. 80 Ebd., S. 136.

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das soziale Umfeld das Gesundheitsamt verständigte und daraufhin Einweisungen stattfanden. Im April 1944 rief z. B. Frau K. beim Münchener Gesundheitsamt an, um zu melden, dass ihre Nachbarin Minna W. paranoid sei und andauernd den Hausfrieden störe. Dem waren jahrelange Streitereien über alltägliche Themen wie Lärm und Reinlichkeit vorangegangen.81 Neben solchen Szenarien gab es jedoch Einweisungen, in denen die Polizei Frauen aufgriff und deren Zwangseinweisung veranlasste. Vor allem solchen Fällen widmet sich das Kapitel, um die ganze Bandbreite von Zwangseinweisungen während des Krieges zu beleuchten. Die Einweisungen alter Menschen zeigen das eine Ende des Möglichkeitsspektrums auf, an dem vor allem die Angehörigen und das soziale Umfeld oft Einfluss nehmen konnten. Es gab jedoch auch Zwangseinweisungen, bei denen institutionelle Akteure die entscheidende Position besetzten. So verhielt es sich z. B. bei der Zwangseinweisung von Frauen mit Geschlechtskrankheiten. An den Zwangseinweisungen von Frauen werden im Folgenden vier Aspekte herausgearbeitet, die teils genderspezifisch sind, teils allgemeinerer Natur. Es kann konstatiert werden, dass es viele eindeutig genderspezifische Zwangseinweisungen gab. Diese wiesen zudem meist gleichzeitig eine schichtspezifische Komponente auf. Erneut zeigt sich außerdem die weite Auslegung des Sicherheits- und Gefahrenbegriffs als ausschlaggebend. Schließlich verweisen die Zwangseinweisungen im Fall von geschlechtskranken Frauen auf ein institutionelles Zuständigkeitsvakuum in der nationalsozialistischen Kriegsgesellschaft. Schon vor der Zeit des Nationalsozialismus war es üblich, Frauen zur stationären Behandlung venerischer Krankheiten zu zwingen. Dies entsprach dem etablierten Deutungsmuster, das ausschließlich Frauen als Überträgerinnen von Geschlechtskrankheiten thematisierte.82 Seit 1933 war jedoch auch eine präventive Sicherheitsverwahrung von Frauen mit Geschlechtskrankheiten möglich.83 Die Einweisungen in psychiatrische Anstalten gingen über die in Weimar übliche stationäre Zwangsbehandlung in einer Hautklinik hinaus,84 denn die­ »Lösung« des Problems der Ansteckungsgefahr bestand nicht in der Behandlung der Krankheit, sondern in der Verwahrung der Krankheitsträgerin. Polizeiliche Einweisungen in Heil- und Pflegeanstalten waren noch folgenreicher als die in Hautkliniken, da die Unterbringung in den Anstalten auf unbegrenzte Zeit erfolgte. Während des Zweiten Weltkrieges waren sie vor dem Hintergrund der Krankenmorde zudem eine potentiell tödliche Maßnahme. 81 HPA Eglfing-Haar, Patientenakte Sign. EH 10389, Eintrag vom 2.4.1944, AB Oberbayern, EH. Die Argumentation des sozialen Umfeldes in solchen Fällen wird in Kapitel V im Unterkapitel »An der Schwelle: Arbeit und Anstaltsbedürftigkeit 1941–1963« analysiert. 82 U. a.: Lindner, Traditionen, S.222; Steinbacher, Sex, S. 86. 83 Lindner, Gesundheitspolitik, S. 298. 84 Vgl. zur Zwangsbehandlung und Anzeige von Geschlechtskrankheiten vor und nach der NS-Zeit: Lindner, Traditionen, S. 222 ff.

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Ein typisches Beispiel für die Zwangsunterbringung von Frauen mit venerischen Erkrankungen ist die Einweisung der 31-jährigen Sina N. aus München im Jahr 1941.85 Die Gesundheitspolizei veranlasste diesen Schritt mit folgendem Text: »Sie wurde wegen Bildungsunfähigkeit aus der Hilfsschule entlassen. Sie ist nur in der Lage, die bescheidenste häusliche Arbeit zu verrichten, für Einkäufe ist sie nicht zu gebrauchen. 1939 wurde sie unfruchtbar gemacht. Seit einiger Zeit streunt sie in den Straßen und sucht Herrenanschluß. Sie wurde bereits 2mal von der Polizei festgenommen, wie sie in den Straßen Münchens auf Männerfang ausging. Jedesmal wurde bei ihr eine Geschlechtskrankheit (Gonorrhoe) festgestellt. Ermahnungen sind fruchtlos. Die schwachsinnige N. ist nicht in der Lage das Gemeingefährliche ihrer Handlungsweise einzusehen und sich zu bessern. Sie ist nachgewiesenermaßen eine Ansteckungsquelle für Geschlechtskrankheiten. Es muss befürchtet werden, daß sie auch weiterhin Geschlechtskrankheiten verbreitet. Ihre Verwahrung in geschlossener Anstalt nach Art. 80/II PStGB. ist daher notwendig.«

Aus der Krankengeschichte der Psychiatrischen und Nervenklinik München, die in Abschrift der Akte aus Eglfing-Haar beiliegt, geht hervor, dass die Polizei die Frau aufgriff, während sie sich mit einem Mann auf der Straße unterhielt. Sie selbst gab an, einen festen Partner zu haben und von dem Mann angesprochen worden zu sein. Trotzdem wurde Sina N. mit der für diesen Vorgang typischen Diagnose »debile, asoziale Psychopathin« eingewiesen. Dieses Vorgehen, bei dem Arbeitsfähigkeit – wie hier mit dem Verweis, Sina N. sei nicht einmal für Hausarbeit zu gebrauchen – und Sexualität implizit verflochten waren, passte zu ideologischen Versatzstücken, wonach sogenannte »Asoziale« einen besonders ausgeprägten Sexualtrieb hätten.86 Während diese argumentative Verknüpfung von Sexualität und Arbeit allgegenwärtig war,87 verweist die Diagnose »debile, asoziale Psychopathin« auf schichtspezifische Unterschiede. Bei Frauen aus der Unterschicht bildeten »Arbeitsscheue«, Sexualität und Geschlechtskrankheiten bereits seit dem Kaiserreich einen gemeinsam Themenkomplex. Prostitution wurde seitdem als Teil des »Psychopathenproblems« debattiert.88 Die Verknüpfung der Themen Sicherheit, Arbeit und Geschlechtskrankheiten in behördlich initiierten Zwangseinweisungen verdeutlicht die Einweisung der 24-jährige Fredericke W. im Jahr 1940

85 HPA Eglfing-Haar, Patientenakte Sign. 6250, AB Oberbayern, EH [Hervorhebung im Ori­g inal]. 86 Eberle, S. 212. 87 So beispielsweise die Forderung nach Sterilisation von sogenannten »Asozialen« auf Grund der ihnen zugeschriebenen außergewöhnlichen sexuellen Aktivität und Degeneration. Vgl. etwa die Rede des Leiters des Rassenpolitischen Amtes, Dr. Walter Groß, auf einer Kundgebung des Gaus Oberdonau des Rassenpolitischen Amtes in Linz am 14. März 1940, ab­ gedruckt bei: Ayaß, »Gemeinschaftsfremde«, S. 242–244. 88 Althammer, S. 307.

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besonders prägnant. Mit der Eingangsdiagnose »Psychopathie« und der folgenden Begründung wies sie das Gesundheitsamt nach Untergöltzsch ein:89 »Bei einer Hotelrevision festgenommen, wurde sie in die Poliklinik für Haut- und ­Geschlechtskranke zugeführt, nicht für krank befunden und in das katholische Mädchenheim Leipzig aufgenommen, dort nach wenigen Tagen auffällig, klagte über Kopfschmerzen, ging nicht zur Arbeit, sie müsse ›viel überlegen‹. Wurde in ihrer Arbeitsstelle unverschämt und log, daher fristlos entlassen, blieb einer neuen Arbeitsstelle wieder nach einigen Tagen fern, setzte sich im Heim zum Ausgehen angezogen an den Ofen, rührte sich nicht, gab keinerlei Auskunft. Machte bei der Untersuchung einen etwas traumverlorenen Eindruck, war ganz unzugänglich, gab keinerlei Begründung für ihr Verhalten.«90

Obwohl der Verdacht auf Geschlechtskrankheiten sich nicht bestätigte, blieb die einmal ins Visier geratene Frau im Fokus der Gesundheitspolizei. Als einziger Grund für die Einweisung diente nun die Aussage, sie sei mehrfach nicht bei der Arbeit erschienen. Den Klagen über Kopfschmerzen wurde nicht weiter nachgegangen, eine andere organische Erkrankung nicht gefunden. Es ist nicht ungewöhnlich für die in dieser Stichprobe betrachteten psychiatrischen Einrichtungen, dass Patientinnen und Patienten, die »nur« auf Grund von Beschwerden wie Kopfschmerzen nicht zur Arbeit erschienen, die Aufmerksamkeit von Betriebsärzten oder Gesundheitspolizei erregten. Frauen und Männer wurden in solchen Fällen mit der Diagnose »Psychopathie« in eine Anstalt eingewiesen. »Psychopathie« fungierte im praktischen Gebrauch nahezu als medizinisches Synonym für »asozial«,91 häufig wurden Menschen aber auch direkt als »­ asoziale Psychopathen« klassifiziert. Die Zuständigkeit und konkrete Handhabung der Verfolgung von »Psychopathinnen« blieb zum Teil umstritten. Dieser Befund fügt sich in die etablierte Vorstellung von Kompetenzüberschneidungen ein, die den NS-Staat mit seinen polykratischen Strukturen kennzeichnete. Die Forschung hat in diesem Kontext herausgestellt, dass die polykratischen Strukturen des NS-Regimes zu Konkurrenz führten und somit letztlich zur Effizienz des staatlichen Durchgreifens beitrugen.92 Für München, das für diese Studie von besonderer Bedeutung ist, zeichnet Annemone Christians jedoch ein etwas differenzierteres Bild. Sie zeigt, dass die notwendigen Aushandlungsprozesse mitunter auch zu Effizienz­einbußen führen konnten.93 Ähnliches kann auch für die Einweisungspraxis in der Kriegszeit festgestellt werden. Hier ist zwar ohne Zweifel zu konstatieren, dass die Zuständigkeit unterschiedlicher Einrichtungen zu einer 89 HPA Untergöltzsch, Patientenakte Sign. 1851, SächSta Chemnitz, 32810. 90 Ebd., Gesundheitsamtliches Zeugnis v. März 1940. 91 Götz Aly sieht beide Begriffe deckungsgleich verwendet: Aly, Belasteten, S. 217. 92 Für die in dieser Studie besonders relevante kommunale Ebene, vgl.: Gotto. 93 Vgl. hierzu Christians’ Darstellung der Einrichtung eines »zentralen Sammelpunkts für die aktuellen Krankenstände« in München: Christians, S. 59 ff.

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erhöhten Verfolgung von als »asozial« deklarierten Frauen führte. Mitunter lehnten aber auch alle beteiligten Institutionen, die mit zunehmender Kriegsdauer immer überlasteter waren, ihre Zuständigkeit ab und schoben die geschlechtskranken Frauen zwischen sich hin und her. So wurde etwa Lisa L. im Februar 1945 mit dem gleichen Argumentationsmuster wie Sina N. in die Heilund Pflegeanstalt Untergöltzsch eingewiesen.94 Das Gesundheitsamt Glauchau konstatierte: »Die [L., d. Vf.] ist minderbegabt und eine haltlose Psychopathin, die sich herumtreibt. Sie bedeutet eine Gefahr insbesondere für Wehrmachtsangehörige, da sie trotz der Erkrankung nachweislich Geschlechtsverkehr ausübt. Ich halte deshalb zur Be­ hebung des polizeiwidrigen Zustandes eine Verwahrung für erforderlich.«95

Der hier explizit ausgeführte Verweis auf die Ansteckungsgefahr für Soldaten findet sich häufiger und sollte die Dringlichkeit der Angelegenheit bekräftigen. Trotzdem entließ die Anstalt sie sofort wieder als geheilt und vermerkte: »Sollte sich Frau L. wieder herumtreiben, wären polizeiliche Maßnahmen wohl an­ gebracht, aber keine Einweisung in eine Heil- und Pflegeanstalt. Dies wurde auch dem Oberbürgermeister der Stadt Wohlfahrtsamt – Glauchau, mitgeteilt.«96

Die Heil- und Pflegeanstalt verurteilte die Frau als »Herumtreiberin« und befürwortete auch ein behördliches Einschreiten, lehnte die Zuständigkeit hierfür jedoch ab. Obwohl in solchen Fällen die Patientin den Institutionen ausgeliefert war, konnte es also vorkommen, dass eine Aufnahme in die Anstalt für längere Zeit unterblieb, weil verschiedene Institutionen die Zuständigkeit von sich wiesen. Dies lässt auf eine Art negative Konkurrenz oder ein Zuständigkeitsvakuum auf institutioneller Ebene gerade während des Krieges schließen. Ein Verschieben zwischen Institutionen, die sich für nicht zuständig erklärten, zeigte sich bereits im oben angeführten Fall Lina V.s, die als alte Frau aus einer chirurgischen Abteilung in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar eingewiesen wurde, obwohl die Ärzte hierfür eigentlich keine medizinische Indikation sahen. Die Zwangseinweisung alter Leute aus Krankenhäusern macht deutlich, dass die Anstalten im Kampf um die Zurückweisung der Zuständigkeit meistens zurückstecken mussten. Denn alte, aus dem Krankenhaus aufgenommene Menschen konnten nicht einfach entlassen werden: Es hätte sich­ irgendjemand finden müssen, der sie aufnahm, ob nun die Angehörigen oder ein Altersheim. Die Zwangseinweisung fand aber letztlich deswegen statt, weil niemand dazu bereit war. Die Krankenhäuser hatten die Möglichkeit die Zuständigkeit mit einer Zwangseinweisung an die Anstalt weiterzugeben. Die Anstalt selbst konnte aber nicht mehr weiterverweisen – sie war in diesen Fällen die letzte Station. 94 HPA Untergöltzsch, Patientenakte Sign. 1423, SächSta Chemnitz, 32810. 95 Ebd., Eintrag v. 16.3.1945. 96 Ebd., Schreiben v. 17.3.1945.

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Bereits die argumentative Verflechtung von »Prostitution«, Verdacht auf Verbreitung von Geschlechtskrankheiten und Arbeitsfähigkeit zeigt, dass die Einweisung geschlechtskranker Frauen eine schichtspezifische Komponente aufwies. Kamen sie aus der Mittelschicht, behandelten die Ärzte ganz anders. So wurde zum Beispiel 1944 die 33-jährige Katharina L., Mutter von vier Kindern, deren Mann als Reichsangestellter arbeitete, in die Psychiatrische und Nervenklinik zu Greifswald aufgenommen. Während ihres Aufenthalts in Greifswald wandte sich ihr Mann von der Front aus schriftlich an die Klinik, erkundigte sich und schickte Geld.97 Die Diagnose lautete auf »progressive Paralyse«, also eine Erkrankung, die durch die Verschleppung der Geschlechtskrankheit­ Syphilis entsteht. Anders als in den anderen Beispielen basierte die Einweisung trotzdem nicht auf Zwang. Als die Klinikärzte Katharina L. zu Geschlechtskrankheiten befragten, bejahte sie selbst eine Infektion. Sie sei in der Haut­k linik behandelt worden, habe die ambulante Behandlung aber abgebrochen »da sie sich gesund fühlte.«98 Dem entgegen standen Angaben des Pflichtjahrmädchens der Familie, die die sogenannte objektive Anamnese so wiedergibt: »… Wenn Sie nicht weinte, irrte sie ständig die Hände ineinander reibend im Zimmer umher. Seit ca. 8 Tagen führt Patientin ihren Haushalt nicht mehr, sie beauftragte das Pflichtmädchen den Haushalt zu führen. Sie konnte nicht mehr. Die Kinder haben die Verwandten zu sich genommen und das kleinste Kind und die Pat. wurden von dem Pflichtjahrmädchen versorgt …«99

Obwohl die Frau ihren Haushalt und die Kinder vernachlässigte und die Behandlung ihrer venerischen Erkrankung abgebrochen hatte, wurde sie nicht in eine Heil- und Pflegeanstalt aufgenommen, geschweige denn dort zwangsein­ gewiesen. Stattdessen empfahlen die Ärzte, Katharina L. einen Erholungsaufenthalt im Kurort Leba zu genehmigen.100 Auch im Zuge von Einweisungen, die nicht mit Geschlechtskrankheiten in Verbindung standen, spielte Sexualität im Zusammenhang mit Arbeitsfähigkeit sehr oft eine zentrale Rolle. Beispielhaft ist der Fall von Adele S. Zugleich zeigt sich erneut die Bedeutung der Schichtzugehörigkeit und des Engagements der Verwandten für den Verlauf der Einweisung. Letzteres führte in diesem Beispiel sogar dazu, dass die Ärzte die Einweisung im Nachgang gleichsam unsichtbar machten. Adele S. entstammte einer wohlhabenden Familie mit viel Landbesitz. Obwohl sie in Berlin lebte, wurde sie im Januar 1942 polizeilich nach Bethel eingewiesen.101 Bei einer polizeilichen Einweisung wäre sie normalerweise in eine 97 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1944/871, UA Greifswald, PsychN. 98 Ebd., Eintrag v. 17.4.1944. 99 Ebd., Eintrag v. 20.3.1944. 100 Ebd., Arztbrief v. 2.5.1944. 101 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 32/41, HAB, Patientenakten Mahamain I.

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staatlich getragene Einrichtung in der Nähe ihres Wohnsitzes verbracht worden. Doch hatte sich ihr Bruder für eine Aufnahme in den Bodelschwinghschen Anstalten eingesetzt. Hier wird erneut deutlich, dass auch bei einer Zwangseinweisung in der NS-Zeit kein institutioneller Automatismus in Kraft trat, der jegliches Handeln der Angehörigen oder des sozialen Umfeldes unterband. Als Grund für die polizeiliche Aufnahme war angegeben, sie verfolge einen zur Wehrmacht eingezogenen Studienrat und bezichtige ihn, sie vergewaltigt zu haben. Der Tatsachengehalt dieser Aussage ist nicht nachprüfbar. Aus der Krankenakte geht jedoch hervor, dass die Ärzte die Möglichkeit, die Frau könnte tatsächlich vergewaltigt worden sein, nie in Betracht zogen. Gleichzeitig vermochten sie es aber nicht, eine Diagnose zu stellen, da sie außer der vermeintlich »erlogenen Vergewaltigung« keinerlei Auffälligkeiten fanden. Die­ Patientin und ihre Familie wurden daher, wie es üblich für die Anamnese war, nach Auffälligkeiten in der Vergangenheit gefragt. Die Patientin selbst sowie die Verwandten erzählten hauptsächlich davon, dass die Frau schon als Kind nicht gut in der Schule und auch später »faul« und nicht sehr arbeitswillig gewesen sei und deswegen auch mehrmals die Arbeitsstelle gewechselt habe. Die Brüder sahen die angeblich erfundene Vergewaltigung in direktem Zusammenhang mit dieser von ihnen sehr negativ bewerteten Arbeitshaltung ihrer Schwester. Sie gaben an, vor dem Hintergrund dieser Einstellung seien sie auch über die Erfindung einer »solchen Geschichte« nicht verblüfft. Einer der Brüder vermutete, der Wechsel der Arbeitsstellen sei durch zu ausschweifende sexuelle Aktivität zu erklären.102 In der Verwaltungsakte sind in diesem Fall zahlreiche Briefe von unterschiedlichen Familienmitgliedern und den in die Einweisung involvierten Amtsärzten vorhanden. Die Patientin hatte u. a. einen Halbbruder. Dieser informierte den behandelnden Arzt in Bethel darüber, dass es auf der anderen Seite der F ­ amilie Erbkrankheiten gebe. Diesem Hinweis gingen die Ärzte nach.103 Noch während der Verdacht der Erbkrankheiten untersucht wurde, bemühte sich der andere Zweig der Familie um die sofortige Entlassung aus Bethel. Eine Schwägerin schrieb deswegen mehrfach an den Pastor in Bethel und versicherte, dass die Familie sich kümmern und die Patientin von dem Studienrat fernhalten werde.104 Bethel schloss eine Entlassung wegen der bestehenden »Gefahr für die Öffentlichkeit« jedoch zuerst kategorisch aus. Eine polizeilich eingewiesene Patientin durfte ohnehin nur mit Genehmigung der einweisenden Polizeibehörde wieder entlassen werden. Etwa eine Woche nach der entsprechenden Stellung­ nahme durfte die Patientin allerdings trotzdem gehen. Im Rahmen der Entlassung wurden als letzter Aufenthaltsort nicht die Anstalten Bethel angegeben, wie es formal korrekt gewesen wäre, sondern die Gemeinde Gadderbaum. Der Pastor erklärte dem Bruder, der Adele S. aufnahm, dass die Angabe ­»Gadderbaum« 102 Ebd., Einträge v. Januar u. Februar 1942. 103 Ebd., Schreiben v. 15.8.1942 an d. Amtsarzt d. staatl. Gesundheitsamtes Tecklenburg. 104 Ebd., Brief [o. D.].

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dazu dienen sollte, Schwierigkeiten bei der Anmeldung im Wohnort des Bruders zu vermeiden.105 Die temporäre Einweisung war anders als vorgeschrieben nun nicht mehr unmittelbar an den Papieren der Patientin nachzuvollziehen. Sie war gleichsam aus dem Lebensweg der Patientin getilgt. Diese Tilgung sowie die Entlassungsgenehmigung resultierten aus dem Engagement des Bruders der Patientin. Er war persönlich bei dem Amtsarzt vorstellig geworden und dieser hatte daraufhin nach Bethel geschrieben, seiner Ansicht nach stehe der sofortigen Entlassung der Patientin nichts entgegen.106 Aufgrund ihrer sozialen Stellung verfügte die Familie über erheblichen Handlungsspielraum und machte ihren Einfluss bei offiziellen Stellen geltend. Insofern zeigt dieser Fall exemplarisch die Möglichkeiten der Angehörigen, sich auch bei einer polizeilichen Zwangseinweisung dafür einzusetzen, dass ein Familienmitglied in einer Anstalt verblieb oder schnell entlassen wurde. 1.4 Interpretation: Zwangseinweisungen im Krieg Während des Krieges waren auf institutioneller Ebene Polizisten und Amtsärzte zentrale Akteure. Daneben spielten auch Krankenhausärzte eine wichtige Rolle bei den Einweisungen. Hingegen hatten die Anstaltsärzte wenig Einfluss und Richter gaben nur bei den seltenen forensischen Einlieferungen den Ausschlag. Allerdings blieb selbst bei zwangsweisen Unterbringungen oft noch ein Handlungsspielraum für die Angehörigen und das soziale Umfeld, wie die Einweisungen von Soldaten und insbesondere von alten Menschen zeigen. Dieser öffnete sich in verschiedene Richtungen und konnte sowohl zugunsten als auch zuungunsten der Patientin oder des Patienten genutzt werden.107 Auch hing der Handlungsspielraum, wie die Beispiele zeigen, potentiell von der gesellschaftlichen Position der Eingewiesenen und ihrer Familie, von ihrem Geschlecht oder Alter ab. Es gab jedoch auch Fälle, in denen Menschen den Institutionen vollkommen ausgeliefert waren und das soziale Umfeld an der Einweisung gar nicht beteiligt war. Hier wäre zum Beispiel an Sina N. aus München zu denken, die von der Polizei »auf Grund von Gefahr« der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten zwangseingewiesen wurde. Trotz Einigkeit über die »Minderwertigkeit« ihrer Klientel passierte es in solchen Fällen mitunter, dass die Institutionen sich gegenseitig die Zuständigkeit zuschoben. Das konnte für die Betroffenen dazu führen, dass sie durch das Zuständigkeitsvakuum dem polizeilichen und psychiatrischen Zugriff entgingen. Oder aber sie landeten in der Institution, für die es argumentativ am schwierigsten war, die Zuständigkeit abzulehnen: nämlich in einer psychiatrischen Einrichtung. 105 Ebd., Brief v. 28.8.1942. 106 Ebd., Brief v. 10.8.1942. 107 Lüdtke, Fehlgreifen.

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Zur argumentativen Konstruktion eines Sicherheitsrisikos dienten Arbeitsfähigkeit/Nützlichkeit und Sexualität als wichtigste Bausteine. Alter, Schicht und Genderaspekte wurden durch sie gebündelt. Diese Aspekte verhielten sich allerdings nicht starr zueinander, sondern standen in wechselseitiger Abhängigkeit und sind in ihrer konkreten Anwendung nur zu verstehen, wenn der Handlungsspielraum der jeweils agierenden Person mitgedacht wird. So zeigt sich, dass die Exklusionspraktik nicht entlang objektiver Kriterien verlief. Auch wenn zum Beispiel die Gefährdung durch geschlechtskranke Frauen ein verbreitetes Thema im Zuge von Einweisungen darstellte, konnten andere Aspekte hineinspielen und die Handhabung wesentlich beeinflussen. Insbesondere die Zuschreibung von Arbeitsfähigkeit und Nützlichkeit der Patientin für die »Gemeinschaft« sowie die soziale Stellung der Familie durchbrachen das Exklusionsmuster der Gefahrenzuschreibung geschlechtskranker Frauen. Das Argument der Nützlichkeit spielte auch bei der Einweisung von alten Menschen eine Rolle. Die Ausdehnung des Gefahrenarguments und seine Verankerung im Alltag vermittels der Themen Arbeit, Sexualität und Alter führten das Versprechen, der Einzelne sei sicher in der »Volksgemeinschaft« aufgehoben, ad absurdum. Ausgrenzung und Einweisung in eine Anstalt mit potentiell tödlichem Ausgang konnten an vielen Stellen ansetzten und jeweils auf das schlagkräftige Argument der »Gefährdung der öffentlichen Sicherheit« rekurrieren. Ihre Schlagkräftigkeit und Anwendbarkeit erklärt sich daraus, dass sie an bekannte Muster und Kriterien des Ausschlusses anschlussfähig waren. Die Argumentationen mit Alter, Sexualität und Geschlecht erwiesen sich dabei nicht durch ihre Thematik als charakteristisch für die Kriegszeit, sondern erst durch eine radikalisierte Anwendung. So waren psychiatrische Alterserkrankungen wie Demenz oder Alzheimer ein klassisches Tätigkeitsfeld für Psychiater und Neurologen. Auch die Fokussierung auf Frauen bei der Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten war in keiner Weise nur für die Kriegszeit typisch. Die konkrete Handhabung hatte sich jedoch radikalisiert: von Zwangsbehandlungen in Haut­ kliniken in der Weimarer Republik über die Möglichkeit der Zwangseinweisung in Psychiatrien hin zur Verfolgung als »Prostituierte« deklarierter Frauen während der Kriegszeit. Die Verbindung von »Arbeitsunfähigkeit« und Sexualität tauchte als Thema ebenfalls nicht neu auf. Sie war in Diskursen um »die Unterschicht« und sogenannte »Asoziale« bereits etabliert.108 In der Kriegszeit dehnte sich dieses Argumentationsmuster aber auch auf Patientinnen aus wohlhabenden Verhältnissen aus, etwa in der Einweisung von Adele S. Allerdings waren solche Einweisungen in viel größerem Maße verhandelbar und durch soziales Kapital kompensierbar. Spezifisch für die Zwangseinweisungspraxis im Zweiten Weltkrieg waren nicht bestimmte Themen, sondern die Ausdehnung und Radikalisierung von Exklusion entlang etablierter »Problembereiche«. Hierarchisierungen folgten den Linien Arbeits- und Leistungsfähigkeit, Sexualverhalten, 108 Ayaß, »Asoziale«, S. 13.

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Geschlecht und Alter. Hier zeigt sich eine sozialutilitaristische Radikalisierung nicht nur seitens der Polizei und der medizinischen Institutionen, sondern ganz eindeutig auch aus der Bevölkerung heraus.109 Diese Radikalisierung aus allen Richtungen mittels des potentiell unendlich ausdehnbaren Gefahren­moments in der Zwangseinweisungspraxis passt zu hypothetischen Überlegungen von Birthe Kundrus, die die These vertreten hat, dass eine auf Dauer gestellte, potentiell immer weiter ausgreifende Exklusionspraxis im Krieg ohne dessen Ende zu einer Selbstzerstörung der »Volksgemeinschaft« geführt hätte.110 Die Zwangseinweisungspraxis im Zweiten Weltkrieg zeichnete sich somit durch zwei bestimmende Merkmale aus: die Radikalisierung etablierter Exklusionsmuster sowie die aktive und breite Beteiligung unterschiedlicher Akteure sowohl auf institutioneller Ebene als auch im sozialen Mikrokosmus.

2. Regelfreier Raum: Die neue Macht der Ärzte und Angehörigen in der DDR Polizeiliche Einweisungen in der Bundesrepublik und DDR unterschieden sich von denjenigen in der NS-Zeit sowohl durch ihre Zahl als auch durch ihre Begründung. In beiden Staaten nahmen die Zwangseinweisungen durch die Polizei und Gesundheitsämter deutlich ab und überstiegen nicht mehr als zehn Prozent.111 Die Polizei wies Menschen im Unterschied zur Kriegszeit in den 1950er Jahren meistens mit der Begründung ein, dass der Patient – und es handelte sich nun meist um Männer – akut gewalttätig sei. Hier wäre zum einen an Fälle häuslicher Gewalt zu denken, wie sie z. B. im Kontext der regelmäßig stattfindenden Einweisungen Walther M.s in die LHA Marburg beschrieben wurden. Die Nachbarn oder die Familie riefen die Polizei und diese brachte Walther M. in die Psychiatrie.112 Zum anderen griff die Polizei weiterhin Menschen auf, die in der Öffentlichkeit als gewalttätig oder zerstörerisch auffielen. Frank A. brachte die Polizei z. B. 1953 nach Rodewisch, nachdem er ein Schaufenster eingeschlagen hatte.113 Polizeiliche Einweisungen, die mit einem bis ans äußerste ausgedehnten Gefahrenbegriff operierten, wie dies bei ­geschlechtskranken und als »arbeitsunwillig« deklarierten Frauen in der Kriegszeit üblich war, gab es in den 1950er 109 Ähnliches hat Dietmar Süß in Diskussionen über den Zugang zu Bunkern festgestellt, in denen u. a. gefordert wurde, arbeitenden Personen Vorrang vor Müttern einzuräumen. Süß, Tod, S. 347. 110 Kundrus, Holocaust, S. 135. 111 Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs (Kategorien »Gesundheitsamt« und »polizeilich«): T11–15, T26–30, T39–42, T51–54. Zum Verhältnis von zivilen und Zwangseinweisungen, vgl. auch im vorherigen Kapitel Unterkapitel 1. 112 LHA Marburg, Patientenakte Sign. K10563M, LWV Hessen, 16. 113 KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 5451, Schreiben v. Dr. K. an Vater d. Pat. v. 10.12.1953, SächSta Chemnitz, 32810.

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Jahren weder im Osten noch im Westen. Wie die Polizei in der Nachkriegszeit im Einweisungsprozess marginalisiert wurde und wie Einweisungen mit Zwang abliefen, wenn sie nicht polizeilich erfolgten, wird zuerst für die DDR und im nächsten Unterkapitel für die Bundesrepublik untersucht. Eine gesetzliche Neuregelung zur vorherigen Zwangseinweisung durch Polizei und Gesundheitsämter wurde in der DDR erst 1968 erlassen. Was bedeutete dies für Zwangseinweisungen in der frühen DDR auf der Ebene der Regeln und der Praxis? 2.1 Die Regelung der Zwangseinweisung in der DDR Sowohl in der SBZ als auch in der DDR gab es Verordnungen, Richtlinien und Hinweise zur Einweisung. Die Regeln zur Zwangseinweisung sind von Sabine Hanrath bereits eingehend erforscht worden und werden hier im Folgenden nur kurz zusammenfassend dargestellt, bevor nach den Veränderungen in der­ Praxis gefragt wird.114 Die 1946 herausgegebene Verordnung über die Anstaltspflege von Geisteskranken erhielt zur Zwangseinweisung bei Gefahr eine wesentliche Neuerung. Sie sollte ohne Beteiligung der Polizei nach richterlicher Anordnung und ärztlichen Kriterien ablaufen. Bereits 1948 wurde dies jedoch wieder geändert. Allgemein sollten Einweisungen durch ein ärztliches Attest initiiert werden, bei Gemeingefährlichkeit war aber wieder die Polizei zuständig. Anders als in der NS-Zeit, in der die Anstalten polizeiliche Einweisungen annehmen mussten, lag nun aber die letzte Entscheidung auch bei Einweisungen wegen Gemeingefährlichkeit beim ärztlichen Direktor der Anstalt.115 Dies stärkte die Stellung der Anstaltsärzte im Vergleich zur NS-Zeit deutlich. 1959 bestimmte dann ein Hinweis auf die Unterbringung psychisch kranker und psychisch Abwegiger in Krankenanstalten und Pflegeeinrichtungen des Gesundheitsministers und des Generalstaatsanwalts, dass das PVG von 1931 behelfsmäßig weiter in Kraft blieb. Für die Zwangseinweisung sollte nun aber der Kreisarzt116 verantwortlich sein und eng mit Volkspolizei und Staatsanwaltschaft kooperieren.117 Insgesamt bedeutete dies, dass polizeiliche Zwangseinweisungen im Ausnahmefall seit 1948 wieder erlaubt waren, die Position der Anstaltsärzte wesentlich gestärkt war und Amtsärzte nach wie vor wichtig blieben. Es wurde bereits erwähnt, dass die Zahl der von der Exekutive, also von Polizei und Gesundheitsamt, initiierten und durchgeführten Zwangseinweisungen bereits vor der Staatsgründung 1949 deutlich gesunken war. Dies blieb bis 1963 so. Während es sich in der Kriegszeit bei 25 Prozent der Einweisungen in Unter­ göltzsch um behördliche Zwangseinweisungen handelte, traf dies nur noch auf 114 Hanrath, S.351 ff. 115 Ebd., S. 360 f. 116 Mit der Verwaltungsreform 1952 wurden Bezirks- und Kreisärzte geschaffen, vgl.: Ebd., S. 355. 117 Ebd., S. 363.

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maximal zehn Prozent der späteren Einweisungen zu.118 Bedeutet dies, dass in der frühen DDR weniger Patientinnen und Patienten gegen ihren Willen in den Anstalten Rodewisch und Großschweidnitz waren? Dies mag den Rückgang zum Teil erklären; insgesamt beruht die Diskrepanz in den Zahlen aber vor allem darauf, dass zwangsweise Unterbringungen ganz anders abliefen. Der Terminus »Zwangseinweisung« bezog sich immer auf behördlich erzwungene Einweisungen, nicht auf andere Formen des Zwanges, etwa durch Angehörige. So erklärte der ärztliche Direktor des Fachkrankenhauses Rodewisch, Dr. Walther, 1959 in einer Stellungnahme für das Ministerium für Gesundheitswesen zu dem gerade aktuellen Entwurf der Verordnung über die Unterbringung psychisch Kranker und psychisch Abwegiger in Kranken- und Pflegeeinrichtungen: »Wie bisher muß die Einweisung eines psychisch Kranken durch jeden approbierten Arzt mit entsprechendem Attest möglich sein. Die Einwilligung zur Einweisung bei nicht entmündigten Patienten haben bisher die nächsten Angehörigen gegeben, ebenso verhält es sich mit der notwendigen Behandlungseinwilligung. Dieses bisherige Verfahren sollte gesetzlich sanktioniert werden. Zwangseinweisungen beschränken sich dann auf die zahlenmäßig wenigen Fälle, bei denen unverständige Angehörige eine Einweisung verhindern, bzw. eine stattgefundene Einweisung vorzeitig (gegen Revers) beenden wollen. Hinzu kämen noch jene Patienten, die keine Angehörigen haben.«119

In Rodewisch und  – so suggeriert die Stellungnahme  – anscheinend auch in­ anderen Anstalten120 wurden Patientinnen und Patienten also gegen ihren Willen aufgenommen, sofern die Angehörigen dem zustimmten. Offiziell handelte es sich hierbei aber nicht um Zwangseinweisungen. Die Angehörigen nahmen so in der frühen DDR anerkannter Weise eine Machtposition ein, wenn auch nicht gesetzlich legitimiert. Zwar lässt sich hier eindeutig eine Veränderung der Zwangseinweisungspraxis im Vergleich zur NS-Zeit konstatieren, der eigentliche Bruch ist allerdings gar nicht so sehr in der stärkeren Position der Angehörigen zu sehen, sondern im Machtverlust der Polizei und Amtsärzte. Wie oben gezeigt, besaßen die Angehörigen auch während der Kriegszeit bei Zwangseinweisungen oft Handlungsspielraum und konnten sie initiieren, ihnen zustimmen oder sie verhindern. In der DDR rückten sie durch den Wegfall der ausführenden Organe nun an eine noch entscheidendere Stelle. Auch innerhalb der Ärzteschaft fand eine zweifache Machtverschiebung statt. Zum einen wurde der Anstaltsdirektor in seiner Position erheblich aufgewertet. Er stellte die letzte Instanz in den Aufnahmeentscheidungen dar, während er in der NS-Zeit bei Zwangseinweisungen immer aufnehmen musste. Zum anderen reichte zwar auch nach dem PVG von 1931 ein ärztliches Attest zur Zwangseinweisung. In 118 Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs (Kategorien »Gesundheitsamt« und »polizeilich«): T12, T27, T40, T52. 119 KA Rodewisch, Schreiben an MfG v. 25.8.1959, BAB, DQ1/22108, Bl. 2. 120 Für die hier auch untersuchte Anstalt Großschweidnitz trifft dies zu.

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der Praxis liefen aber die allermeisten Zwangseinweisungen bis 1945 über das Gesundheitsamt ab. Schon in der SBZ waren die Einweisungen über das Gesundheitsamt erheblich gesunken und blieben auf niedrigem Stand. Dies deutet auf eine wichtigere Rolle anderer Ärzte in diesen nicht-offiziellen Einweisungen gegen den Willen der Betroffenen hin. Wie viele solcher Einweisungen es letztlich gab, bleibt im Ungewissen. Für­ Rodewisch stellte der ärztliche Direktor, Dr. Fabian, 1959 in einer Stellungnahme für das Ministerium für Gesundheitswesen fest, dass es sich um 90 Prozent der gegenwärtigen Patientinnen und Patienten seiner Einrichtung handele.121 Damit lag die Einweisungsentscheidung in Rodewisch fast immer bei Verwandten und Ärzten. Der hier etablierte Anspruch, dass im Zweifelsfall die Familie und die Anstaltsärzte zuständig seien sollten, erstreckte sich in der Praxis potentiell auf alle Einweisungen. Im Umkehrschluss gab man den Anspruch auf, die Patientin oder der Patient selbst solle die Freiwilligkeitserklärung unterschreiben. Stattdessen stiegen die Verwandten zum ersten Verhandlungspartner der Ärzte auf. Zwar stellte dies keine ganz neue Praxis dar, da de facto auch zuvor vor allem Familienmitglieder mit den Medizinern verhandelten. Nun kam es aber zu einer massiven Ausweitung dieses bekannten Verfahrens. Ob dies in diesem Ausmaß für alle Anstalten in der DDR gilt, ist auf der Quellen­basis dieser Arbeit nicht zu entscheiden, erscheint aber wahrscheinlich. Zwar lag die Einweisungsentscheidung letztlich beim Anstaltsleiter und Unterschiede in der Praxis wären so möglich. Angesichts des anhaltenden Kampfes der Psychiater für die offizielle Anerkennung ihrer in Abstimmung mit der F ­ amilie getroffenen Entscheidung auch in offiziellen Zwangseinweisungen122, ist stark anzunehmen, dass die Praxis in Rodewisch typisch für Einweisungsentscheidungen in der DDR war. Eine Gemeinsamkeit von großer Bedeutung zwischen »Drittem Reich« und DDR ist daher, dass die Patientinnen und Patienten in beiden Systemen bei Einweisungen gegen ihren Willen keinen Fürsprecher hatten. In der DDR lag die Verantwortung und Entscheidung im sozialen Umfeld und bei den Ärzten. Aber auch kommunalen Einrichtungen spielten immer wieder eine Rolle. Somit kompensierte ein inoffizieller Aushandlungsprozess in einem rechtlosen Raum ein unzureichend geregeltes Verfahren. Anders als in der NS-Diktatur gab es in der DDR bei erzwungenen Einweisungen also kein Eingreifen der Exekutive in g­ rößerem Stil.123 Der Staat und seine ausführenden Organe hatten deutlich weniger Interesse als in der NS-Zeit, Einfluss auf die Einweisungspraxis zu nehmen und auf diese spezielle Art in das alltägliche Leben seiner Bürger ein121 KA Rodewisch, Schreiben an MfG v. 25.8.1959, BAB, DQ1/22108, Bl. 3. 122 Zur erfolgreichen gesetzlichen Etablierung der ärztlichen Forderungen, vgl.: Hanrath, S. 360 ff. 123 Hiermit ist nicht gesagt, dass es ein solches Eingreifen gar nicht gegeben hätte und auch nicht, dass es keine einzelnen Fälle von politischem Missbrauch gegeben hätte. Vgl. zur Diskussion um politischen Missbrauch der psychiatrischen Einrichtungen nach der Publikation von Sonja Süß: Weinberger; die hier angeführten Fälle stammen allerdings alle nicht aus dem für diese Arbeit relevanten Untersuchungszeitraum; Süß, Politisch mißbraucht.

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zugreifen. Die Zwangseinweisung wurde aber bis 1968 auch nicht durch eine Einbeziehung der Judikative neu geregelt. Wer anstaltsbedürftig war, wurde vielmehr von den Familien und Ärzten beschlossen. Dieser Befund fügt sich nicht ohne weiteres in gängige historiographische Deutungsmuster der SEDDiktatur ein, in denen davon ausgegangen wird, dass eigensinniges Handeln in der DDR zwar möglich war, aber immer in Bezug auf die diktatorische Herrschaft zu verstehen ist. Schließlich sollten auch diese teils eigensinnig gestaltbaren Alltagsbereiche von Herrschaftsvertretern infiltriert werden.124 Demnach wäre also kein Lebensbereich ohne Bezug auf die Diktatur denkbar. Dieses Konzept erfasst die Einweisungspraxis aber nur zum Teil. Zwar ist zunächst festzustellen, dass durch das bis 1968 bestehende Regel­ vakuum eine Aushandlung zwischen Familien, sozialem Umfeld und Ärzten »in den Grenzen der Basisstruktur« der Diktatur zulässig war, wie es in Lindenbergers Konzept der Diktatur der Grenzen gedacht wird.125 Allerdings brauchte es gar kein eigensinniges Handeln gegenüber der Diktatur, da es überhaupt keinen Berührungspunkt gab. Die Aushandlung über Einweisungen der Familien fand mit Psychiatern statt, die in den 1950er Jahren in ihrer großen Mehrheit den neuen Staat nicht unterstützten.126 Anders als in den gängigen Vorstellungen zur DDR, hatte die Einweisungspraxis daher keinen unmittelbaren Bezug zur Herrschaftsebene. Dies ist auf zwei Gründe zurückzuführen. Erstens sahen sich die Psychiater als Gegenspieler jeglicher politischen Intervention in der Einweisungspraxis.127 Zweitens war die Einweisungssituation ein in keiner Weise vorhersehbares Ereignis, das durch organisierte politische Durchdringung der Gesellschaft in geregelte Bahnen gelenkt werden könnte. Sie spielte sich nicht innerhalb einer der zahlreichen politisch vorgegebenen Strukturen ab, wie Jugend- oder Frauenorganisationen, Gewerkschaften oder Betriebsbrigaden. Eine politische Infiltrierung durch Herrschaftsvertreter von unten war daher nicht möglich. Das Konzept der Diktatur der Grenzen – und in noch g­ rößerem Maße das früher öfter bemühte Konzept einer durchherrschten Gesellschaft128 – setzt am extrem hohen Organisationsgrad der Gesellschaft bis in unterste Ebenen an. So kann mit seiner Hilfe z. B. eindrücklich gezeigt wer124 Vgl. u. a.: Lindenberger, Herrschaft; Sabrow, S. 14 ff.; Lindenberger, Diktatur. 125 Vgl.: Lindenberger, Herrschaft. Es fällt aber auf, dass dieser Raum erstaunlich groß ist und eine wichtige zuvor bereits in den Händen der Exekutive angesiedelte Frage der Sicherheit betrifft. Bei der Zwangseinweisung handelt es sich zudem um einen Bereich, der dem Staat prinzipiell zugänglich war. Staatliche Reglementierung wurde aber bis 1968 in weiten Teilen nicht beansprucht und selbst in der Neuregelung der Zwangseinweisung blieben die Ärzte, wie Sabine Hanrath gezeigt hat, in der entscheidenden Position. Vgl.: Hanrath, S. 359 ff. 126 Das Regelvakuum, das nicht durch staatliches Eingreifen gefüllt wurde und diesen Handlungsspielraum ermöglichte, erklärt Hanrath durch die starke Position der Psychiater, die in der DDR mehr eigene Interessen als in der Bundesrepublik durchsetzen konnten. Das Regelvakuum an sich erklärt auch Hanrath  – über die Rekonstruktion der anhaltenden Diskussion zwischen Ärzten und Politiker hinaus – nicht. Vgl.: ebd. 127 Ebd. 128 Kocka, Gesellschaft; Lüdtke, »Helden«, S. 188.

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den, wie die »selbstorganisierte« Arbeiterschaft und ihre Brigaden zwar in der Tat eigensinnig handelten, zugleich aber durch Herrschaftsvertreter unter­laufen werden konnten. Psychiatrische Einweisungen spielten sich jedoch auf einer durch diese Form der Organisation nicht erreichbaren Ebene ab.129 Eine Verschränkung von »Staatsgewalt, Herrschaftspraxis und fragmentierter Gesellschaft«130 im Sinne einer Diktatur der Grenzen zeichnete die Einweisungspraxis in vielen Fällen daher nicht aus.131 Einweisungsentscheidungen waren zwar ein Zusammenspiel von Institutionen, den Kliniken, Anstalten und Polikliniken und dem gesellschaftlichen Mikrokosmos; Einweisungen gegen den Willen der Patientin oder des Patienten wurden im Einzelfall jedoch immer wieder zuerst von den Familien oder dem unmittelbaren sozialen Umfeld, etwa Nachbarn oder Vermietern, motiviert. Dann wurde dieser »Notwendigkeit« gemeinsam mit einer Ärzteschaft, die gegen politische Kontrolle und Regulierung ihrer Tätigkeit kämpfte,132 unkompliziert nachgegangen. Zugleich bedurfte es hierfür nicht grundsätzlich neuer Arrangements, sondern eine auch zuvor teils praktizierte, in jedem Fall aber favorisierte Form der Einweisung konnte sich Dank des rechtlichen Vakuums breit etablieren. Es handelt sich im Falle der Einweisungspraxis letztlich um die Aneignung eines ungeregelten Raumes, in dem soziale Mikrokosmen und staatliche Institutionen aufeinandertrafen. Die Existenz dieses Raumes im Kontext der Einweisungspraxis und die »erfolgreiche« Selbstregulierung stellen zwar nicht die theoretischen Konzepte zur Erklärung der Zusammenhänge von Diktatur und Alltag an sich in Frage, wohl aber ihre Reichweite. In der Einweisungspraxis trafen Staat und gesellschaftlicher Mikrokosmos selbst in der Zwangseinweisung oft nur indirekt aufeinander. Fragen, wie sie sonst aus dem Spannungsfeld von Diktatur und Eigen-Sinn heraus gestellt werden, resultieren aus dem Zwang zur wie auch immer gearteten Auseinandersetzung mit der Diktatur. Diese Fragen stellen sich bei der Einweisungspraxis nicht unmittelbar.133 Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Einweisungspraxis der frühen DDR nicht auf mögliche Aus129 Die Einweisungspraxis lässt vermuten, dass nicht strukturier- und organisierbare Lebensbereiche mit den etablierten Interpretationsmustern der Forschung nicht zur Gänze analytisch zu fassen sind. 130 Lindenberger, Grenzen, S. 244. 131 Indirekt war die Einweisungspraxis durch DDR-spezifische Rahmenbedingungen geprägt, wie im vorherigen Kapitel gezeigt: etwa durch die Einrichtungen der Polikliniken oder durch die Verschiebung der Anstalten auf die Bezirksebene und eine damit einhergehende systematische Unterfinanzierung. 132 Hanrath, S. 359. 133 Solche Fragen sind für viele Bereiche der DDR seit den 1990er Jahren gestellt worden: etwa im Rahmen der Kollektivierung und der Landzuteilung an sogenannte »Neubauern«, der Arbeitserfahrungen in Staatsbetrieben oder der Auseinandersetzungen Jugendlicher mit dem SED-Staat. Bauerkämper, Gesellschaft; Wierling; Lüdtke, People; die Untersuchungen wurden durch die Kontroversen zwischen Sigrid Meuschel und Ralph Jessen angestoßen: Meuschel, S. 5–14; Jessen, Gesellschaft, S. 96–110; vgl. rückblickend und zusammenfassend: Lindenberger, Grenzen.

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wirkungen des sozialistischen Regimes untersuchen ließe oder gar, dass es sich hier um einen herrschaftsfreien Raum oder eine politikferne Nische gehandelt habe. Das wäre zu weit gegriffen. In den Einweisungsargumentationen lässt sich der Umgang mit politisch-ideologischer Steuerung oder mit den Konsequenzen des wirtschaftlichen Umbaus gut nachvollziehen. Hierbei geht es aber nicht um die direkte Steuerung des Eintrittsmechanismus in die Psychiatrie, sondern z. B. um ideologische Rhetorik allgemeinerer Natur, auf die implizit in den Einweisungsargumentationen Bezug genommen wurde. Relevant waren indirekte, eventuell aber trotzdem tiefgreifende Konsequenzen der SED-Herrschaft, die in der Einweisungspraxis aufscheinen. Die Einweisungsargumentationen sind beispielsweise aufschlussreich für den Umgang mit Egalität als sozialistischer Leitnorm134 oder für die Rolle, die Arbeit in der Konstruktion eines gesunden Selbst im Arbeiter- und Bauernstaat spielte.135 2.2 Ansprüche und Entscheidungen: Die Praxis-Koalition von Anstaltsärzten und Familien Wie zivile Einweisungen gegen den Willen der Patientin oder des Patienten in der DDR funktionierten, wird im Folgenden an drei Beispielen veranschaulicht. Die Beispiele stehen für häufig vorkommende Familienkonstellationen bei zivilen Einweisungen, die über die Patientin oder den Patienten hinweg entschieden wurden. In dem ersten Beispiel veranlasste die Schwester einer Patientin die Einweisung, im zweiten Fall geht es um eine Frau, deren Eltern an der Einweisungsentscheidung beteiligt waren. Danach steht ein alter Mann im Fokus, dessen Sohn die Einweisung forcierte. Im ersten Beispiel fand die Aushandlung allein zwischen Familienmitgliedern und Ärzten statt, ähnlich wie in den Einweisungsbeispielen Karin F.s und Albin H.s aus dem vorangegangenen Kapitel. In den anderen beiden Einweisungen versuchten jeweils noch andere Parteien Interessen durchzusetzen. Es zeigt sich jedoch, dass selbst in diesen Fällen letztlich die Interessen der Verwandten und die Einschätzungen des Arztes ausschlaggebend waren. Typisch waren die Einweisungen Walpurga R.s, die zwischen 1947 und 1956 neun Mal in Großschweidnitz aufgenommen wurde.136 Meistens initiierte ihre Schwester, die mit ihr zusammenlebte, die Aufnahme der 1947 46-jährigen Frau. Walpurga R. erhielt unterschiedliche Diagnosen, etwa »reaktive Depression«, »endogene Depression« und »Schizophrenie«.137 Ausschlaggebend für die Vorsprache der Schwester bei den Ärzten waren aber – unabhängig von der 134 Zur Bedeutung von Egalität für die alltäglichen Sinnwelten im Sozialismus, vgl.: Sabrow, S. 18. 135 Vgl. hierzu das Kapitel »Arbeit und Leistung«. 136 KA Großschweidnitz, Patientenakte Sign. 2741, HSta Dresden, 10822. 137 Ebd., Einträge in die Krankengeschichte bei den Aufnahmen 1947, 1949 und 1953.

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genaueren ärztlichen Einordnung  – Situationen, die sie als nicht mehr tragbar und zumutbar beschrieb. Bei der Einweisung 1947 verweigerte Walpurga R. laut ihrer Schwester die Nahrungsaufnahme aus Angst, sie könnte vergiftet werden.138 1953 erklärte die Schwester, sie könne kaum mit ihr kommunizieren, weil ­Walpurga Stimmen höre.139 Die Patientin blieb immer nur einige Wochen in der Anstalt, bis sich Ärzte und Schwester einigten, dass die Symptome nun soweit abgeklungen seien, dass Walpurga R. wieder mit ihrer Schwester zusammen­leben könne. Im Falle der Anfang der 1950er Jahre mehrmals eingewiesenen, an Epilepsie leidenden Petra Sch. waren bei ihrer dritten Einweisung im Jahr 1951 ihre Familie, ihr Vermieter, ihre Heimatgemeinde und die Anstaltsärzte mit je unterschiedliche Anliegen beteiligt. Petra Sch. wurde mit einem akuten epileptischen Anfall nach Untergöltzsch eingeliefert, nachdem ein Arzt ihr eine Beruhigungsspritze gegeben hatte.140 Die Mutter der Patientin argumentierte gegen einen längeren Anstaltsaufenthalt und schrieb deswegen an die Anstalt, um eine Beurlaubung zu erwirken, die als Probe für eine Entlassung dienen sollte. Der Beurlaubung wurde stattgegeben und Petra Sch. zu ihrer Mutter entlassen.141 Unmittelbar danach erreichte die Anstalt ein Brief des Gemeinderats, in dem vehement für die Anstaltsbedürftigkeit der Patientin Stellung bezogen wurde. Die Einweisung wurde kurz rekapituliert und dann betont, dass es nicht im Interesse des einweisenden Arztes, der Gemeinde und des Besitzers des Hauses, in dem Frau Sch. wohnte, sei, die Patientin zu entlassen: Die Einweisung der [Petra Sch., d. Vf.] erfolgte auf Veranlassung des Arztes Dr. Nier, der jedoch seit einigen Wochen in Urlaub ist, sofort nach dessen Rückkehr werden ­Ihnen die Aufnahmeformulare übersandt. Die Sozialkommission der Gemeinde Raum, hat sich in der letzten Sitzung außerdem nochmals eingehend mit dem Fall [Sch., d. Vf.] befaßt, da ein Antrag des Hausbesitzers bei dem die [Sch., d. Vf.] wohnte vorlag, worin dieser bittet die [Sch., d. Vf.] nach Rückkehr nicht wieder in seinem Hause unterzubringen, da sie ihm schon Fensterscheiben usw. kaputt geschlagen hat. Da sich der Zustand der [Sch., d. Vf.] wohl in nächster Zeit kaum bessern wird, und die Anfälle ja regelmäßig wiederkehren bitten wir die nicht nach einigen Wochen beurlauben oder gar zu entlassen, da wir außerdem schon Schwierigkeiten mit dem Arzt hatten, der bei einem Anfall der [Sch., d. Vf.] infolge der Gefährlichkeit keine Beruhigungsspritze mehr geben will. Wir bitten um Ihr Verständnis und Ihren Bescheid.«142

138 Ebd., Eintrag in die Krankengeschichte v. 6.5.1947. 139 Ebd., Eintrag v. 2.8.1953. 140 KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 4833, Schreiben d. Gemeinderats v. 31.8.1951, SächSta Chemnitz, 32810. 141 Ebd., Schreiben d. Abteilungsleiterin v. 19.9.1951. 142 Ebd., Schreiben d. Gemeinderats v. 31.08.1951.

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Der Rat der Gemeinde, der Hausbesitzer und der Arzt führten pragmatische Gründe für einen dauerhaften Anstaltsaufenthalt an, die sich ausschließlich auf Störungen des reibungslosen Ablaufs des Gemeindelebens bezogen. Die Anstaltsleiterin vertrat in ihrem Antwortbrief einen anderen Standpunkt, nahm jedoch zugleich eine vermittelnde Position zwischen den Interessen der Mutter und der Gemeinde ein: »Die Obengenannte hat sich in den letzten Wochen ihres hiesigen Aufenthaltes ruhig, geordnet und unauffällig verhalten, so daß dem Antrag der Mutter der Kranken stattgegeben und Fräulein [Sch., d. Vf.] am 6.9.1951 versuchsweise in deren Haushalt beurlaubt wurde. Ihr Schreiben vom 31.8.1951 hat mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorgelegen. Vom ärztlichen Standpunkt aus ist es gerechtfertigt, eine Patientin, deren Zustand sich wesentlich gebessert hat, versuchsweise zu beurlauben, zumal von Seiten der Angehörigen  – wie es in diesem Falle geschehen ist  – eine sorgfältige Betreuung und ­Beaufsichtigung zugesichert wird. Falls in dieser Hinsicht nach Überprüfung der häuslichen Verhältnisse Bedenken ihrerseits auftreten sollten, wird um sofortige Rückführung der Kranken gebeten.«143

Die von der Ärztin angeführten medizinischen Argumente spielten bei der Argumentation des Rats der Gemeinde keinerlei Rolle. Sie wies dessen andere Sichtweise aber keineswegs zurück, sondern gestand die Möglichkeit einer Wiederaufnahme zu, wenn Zweifel daran bestünden, dass die Familie der Patientin dafür sorge, dass keine Störungen durch Frau Sch. entstehen. Die Ärztin trug damit einer Multifunktionalität Rechnung, die die psychiatrischen Einrichtungen in allen drei politischen Systemen kennzeichnete und die bereits im vorherigen Kapitel an verschiedenen Stellen angesprochen wurde.144 Bemerkenswert ist, dass die Position der Patientin selbst, die sogar ohne Aufnahmeformular eingewiesen wurde – hier war also nicht einmal die Aufnahmeprozedur einer zivilen Einweisung eingehalten worden  –, in der Krankenakte gar keine Erwähnung findet. Wenn sich die Anstaltsärztin bemühte zwischen allen ernstzunehmenden Parteien zu vermitteln, zählte die Patientin offenbar nicht dazu. Typisch für den Ablauf von Einweisungen, die formal betrachtet keine Zwangseinweisungen waren, in denen jedoch ein nicht entmündigter Patient jeglicher Entscheidung beraubt wurde, sind vier Punkte: Erstens trafen letztlich Anstaltsärzte und Familie die Entscheidung über einen längeren Anstaltsaufenthalt. Zweitens versuchten weitere Parteien Einfluss zu nehmen. Dies war nicht un­ bedingt irrelevant – schließlich führte das Handeln des lokal ansässigen Arztes in diesem Beispiel überhaupt erst zu der Aufnahme – war jedoch meist nicht ausschlaggebend für die Entscheidung über den Verbleib in der Anstalt. Drit-

143 Ebd., Schreiben d. Abteilungsleiterin v. 19.9.1951. 144 Zum Bewusstsein der Ärzte in Bezug auf diese Multifunktionalität und die Selbstreflektion ihrer Rolle vgl. das folgende Kapitel »Krankheit und Diagnostik«.

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tens war die Patientin oder der Patient kaum – in diesem Fall gar nicht – in die Entscheidung involviert. Viertens spielte sich die Argumentation der Kommune auf einer rein pragmatischen Ebene ab. Letzteres erinnert an die Argumentationsweisen aus der NS-Zeit. Diese pragmatischen Argumentationen waren in der Kriegszeit jedoch ausschlaggebender als dies in den 1950er Jahren in der DDR der Fall war. In der DDR besaßen sie dagegen große Erfolgsaussichten, wenn sie von Verwandten kamen. Die Einschätzung des Gesundheitszustands, wie in diesem Beispiel durch die Ärztin, wurde in der Nachkriegszeit wieder wichtiger, genau wie die passgenaue Unterbringung von Verwandten, besonders älterer Menschen. Die Entdifferenzierung zwischen Altenheimen und Heil- und Pflegeanstalten blieb während der Besatzungszeit bestehen. In Untergöltzsch wurde noch 1947 ein komplettes Altersheim in die Heil- und Pflegeanstalt integriert. In den Einzelfallakten ist dementsprechend auch keine Anamnese, Exploration oder Diagnose zu finden, sondern als Grund des Aufenthalts ist lediglich allgemein angegeben: »Infolge Eingliederung des Altersheimes Obergöltzsch in die Pflege­ abteilung der Landesanstalt Untergöltzsch übernommen.«145 Unmittelbar nach Kriegsende wurden auch viele alte verwirrte Menschen auf der Flucht aus den ehemaligen Ostgebieten von ihren Familien getrennt und in den Anstalten untergebracht.146 Eine klare Grenzziehung zwischen Menschen, die für ein Altersheim geeignet waren, und solchen, die unbedingt Pflege in einer Anstalt bedürften, wurde weder in der Kriegszeit noch in der Bundes­republik oder der DDR gezogen. Während die Anstalt in der Kriegszeit im Zweifelsfall die letzte Station in einer Abfolge von Weiterverweisungen älterer Menschen darstellte, war die Grenze zwischen Anstalt oder Altersheim in der DDR in beide Richtungen durchlässig. Der Kapazitätenmangel in den Anstalten führte dazu, dass es in den 1950er Jahren auch Menschen gab, die nach Ansicht von Ärzten und Verwandten in eine Heil- und Pflegeanstalt sollten, aber wegen Platzmangel in ein Altersheim kamen. Hier findet sich die exakt umgekehrte Argumentation wie in der Kriegszeit, in der regelmäßig für einen Anstaltseintritt argumentiert wurde, da es keine Unterbringungsmöglichkeiten in Altersheimen gab. Dies lässt sich an den Krankenakten aus Greifswald festmachen, da Universitätskliniken unter den medizinischen Einrichtungen oft entscheidend für die Wahl des Unterbringungsorts waren. Der 63-jährige Lothar Z., der jahrelang von seiner Frau und seinem Sohn gepflegt wurde, diese 1952 aber nicht mehr erkannte – genauso wenig wie er wusste, wer er selbst war –, wurde zum Beispiel von seiner Familie in die Universitätsklinik Greifswald ge-

145 Z. B.: KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 5174, Eintrag v. 1.8.1947, SächSta Chemnitz, 32810. 146 Vgl. ausführlich Kapitel II, Unterkapitel »Die Einweisungspraxis in der Zusammenbruchgesellschaft«.

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bracht.147 In der Akte ist notiert: »Nach Rücksprache mit den Angehörigen soll der Pat., da eine Verlegung in eine Heil- und Pflegeanstalt wegen Überfüllung nicht möglich ist in einem Altersheim, welches unter ärztlicher Betreuung steht untergebracht werden.«148 Was sich bereits in der SBZ nicht mehr in den Akten niederschlug, waren durch die Familien initiierte Einweisungen nur geringfügig eingeschränkter alter Menschen mit der Begründung, sie stellten eine »Gefahr für die Sicherheit« dar. Allerdings waren Platzmangel und Ernährungslage in den Anstalten in dieser Zeit noch schlechter als während der Kriegszeit. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass es solche Einweisungsversuche weiterhin gab, sie jedoch nicht nachzuvollziehen sind, da sie nicht erfolgreich verliefen. Auf Grund der desolaten Lage der Psychiatrie in den unmittelbaren Nachkriegsjahren ist nicht festzustellen, ob sich hier bereits der Umgang der Laien mit alten Menschen änderte. In den 1950er Jahren hatte sich dagegen der Umgang von Angehörigen mit älteren Verwandten verändert, während bei den einweisenden Institutionen noch ältere Muster zu finden sind. Dies hat sich im Zuge der Durchsicht von fast 400 Krankenakten aus Greifswald, Rodewisch und Großschweidnitz für die Nachkriegszeit gezeigt. In allen drei Institutionen gab es regelmäßig Einweisungen alter Menschen. Zwar initiierte auch das soziale Umfeld weiterhin Einweisungen, bei denen das Sicherheitsargument eine ausschlaggebende Rolle spielte. Allerdings hatten die hierbei angeführten Argumentationen eine andere Qualität als in der Kriegszeit. So wurde nicht mehr auf potentielle Sicherheitsrisiken sehr indirekter Art hingewiesen, wie etwa auf die Ausbreitung von Ungeziefer durch Vernachlässigung der Sauberkeit. Auch die mit den Kriegsbedingungen zusammenhängenden Begründungen fielen weg, z. B. die Befürchtung ältere Menschen könnten die Verdunklung nicht einhalten. Typisch war nun, dass auf eine akute Gefährdung und auf deren potenzielle Wiederholung hingewiesen wurde. Die bereits erwähnte Einweisung einer 62-jährigen Witwe nach Rodewisch, die ihren Enkel aus dem Fenster geworfen hatte, ist hierfür ein eindringliches Beispiel.149 Der veränderte Umgang zeigt sich auch im Protest von Verwandten gegen die Einweisung alter Menschen seitens der Behörden, die die Anstalten weiter für die Altersversorgung nutzen. 1955 wurde beispielsweise der 65-jährige Martin K. nach Rodewisch eingewiesen.150 Er hatte sich selbst an die Betreuungsstelle Karl-Marx-Stadt gewandt und um einen Platz im Altersheim gebeten. Der Mann lebte mit der Familie seines Sohnes zusammen und fand, das sei für die Familie eine zu große Belastung. Statt in ein Altersheim kam er jedoch über die Fürsorge für psychiatrische und Nervenkranke in die Heil- und Pflege­ 147 Patientenakte vorl. Sign. 1952/1312, Eintrag v. 23.5.1952, UA Greifswald, PsychN. 148 Ebd. 149 KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 4772, Eintrag v. 15.9.1953, SächSta Chemnitz, 32810. 150 KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 10157, Eintrag v. 2.4.1955, SächSta Chemnitz, 32810.

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anstalt Untergöltzsch. Die Familie schrieb daraufhin mehrfach an die Klinikleitung und erklärte, dass es ihr vollkommen uneinsichtig sei, dass der Vater in die Psychiatrie gelangt war: Der Vater sei zwar alt und krank, jedoch völlig »normal«.151 Die Vermengung von Altersbetreuung und Psychiatrie wurde nicht mehr akzeptiert.

3. Richterliche Zwangseinweisung: Neuregelungen und ihre Umsetzung in der Bundesrepublik In der Bundesrepublik gab es im Gegensatz zur DDR bereits in den 1950er Jahren gesetzliche Neuregelungen der Zwangseinweisungen. Daher stellt sich die Frage nach Auswirkungen von und Widerständen gegen die demokratische Neuordnung in der Einweisungspraxis. Da die Unterbringungsregelungen im Wesentlichen Ländersache waren, beginnen die Ausführungen zur Bundesrepublik mit einer Untersuchung der neuen Bestimmungen und ihrer Akzeptanz in Bayern, Hessen und in NRW, den Ländern, in denen die drei psychiatrischen Einrichtungen lagen, deren Krankenakten in dieser Studie analysiert werden.152 Sie können nicht als repräsentativ für die Bundesrepublik insgesamt betrachtet werden. Angesichts der Unterschiede, die sich im Folgenden zwischen diesen drei Bundesländern ergeben, ist im Gegenteil eher zu vermuten, dass mit den neuen Einweisungsgesetzen regional sehr unterschiedlich um­ gegangen worden sein dürfte. Anschließend folgt ein Abschnitt zur Praxis der Einweisungsentscheidungen. 3.1 Die Neuregelung und ihre Akzeptanz Auf gesellschaftlicher Ebene hat Cornelia Brink gezeigt, dass der öffentliche Diskurs der Nachkriegszeit zur Psychiatrie in der Bundesrepublik von der Angst vor Fehleinweisungen geprägt war, der Sinn der Psychiatrie in der Presse hinterfragt und die Patientinnen und Patienten als etwas exzentrische Opfer dargestellt wurden.153 Die zwingende Einschaltung eines Amtsgerichts vor einer Zwangsunterbringung sollte eine willkürliche Einweisungspraxis verhindern. Wie verhielt es sich mit der Umsetzung der neuen Regeln?

151 Ebd., Brief d. Sohnes v. 4.3.1955. 152 NRW steht hier nicht im Fokus, da die für diese Arbeit untersuchte Anstalt in NRW eine konfessionelle ist und daher nicht für die staatliche Versorgung zuständig war. Behördliche Zwangseinweisungen waren hier also ein äußerst seltenes Phänomen. 153 Brink, S. 376 ff.

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Zahlen zu Zwangseinweisungen und ihre Aussagekraft Durch die Einführung der im Folgenden noch näher zu erläuternden richterlichen Unterbringung erweiterte sich das Verfahrensspektrum. Während Zwangseinweisungen in den Kriegsjahren vor allem ohne richterlichen Beschluss mit dem Argument der Gemeingefährlichkeit durchgeführt wurden, kamen die neuen Einweisungsmodi hinzu. So gab es auch nach Einführung der neuen Unterbringungsgesetze weiterhin polizeiliche Einweisungen in EglfingHaar und in Marburg. In Marburg handelte es sich bei zehn Prozent aller Aufnahmen in den Jahren 1955 bis 1963 um richterliche Einweisungen,154 aber gleichzeitig sind weiter fast sieben Prozent polizeiliche Einweisungen zu verzeichnen.155 In Eglfing-Haar kamen auch in den 1950er Jahren viele offizielle Zwangseinweisungen vor. Ihre Höhe ist vergleichbar mit den Kriegsjahren, allerdings fanden nun viel mehr richterliche Einweisungen als polizeiliche statt, ohne dass diese ganz verschwanden. Seit der im Folgenden noch näher zu erläuternden Einführung des bayrischen Verwahrungsgesetzes 1952 machten die richterlichen Einweisungen etwa ein Viertel aller Aufnahmen aus.156 Die größere Zahl von Zwangseinweisungen in Eglfing-Haar im Vergleich zu Marburg ist vor allem auf die unterschiedlichen Ausrichtungen der beiden Anstalten zurückzuführen, da die LHA für kürzere Aufenthalte gedacht war. In der frühen Bundesrepublik wurden insgesamt etwa drei bis sechs Prozent der Patientinnen und Patienten von Psychiatern als gemeingefährlich eingeschätzt, die Zahl der Zwangseinweisungen war aber deutlich höher.157 Für die fünfziger und sechziger Jahre gibt es keine offiziellen Statistiken, aber »[d] er Psychiatrie-Enquete zufolge betrug die Rate der Zwangseinweisungen in den Bundesländern 1974 zwischen 6,4 Prozent aller Einweisungen in Baden-Württemberg und 49,1 Prozent in Hessen.«158 Diese Zahlen sind jedoch nur begrenzt hilfreich. Nicht nur sind die Zahlen für den Untersuchungszeitraum sehr un­ sicher, auch fassen die Erhebungen, die es gibt, nicht einmal immer den gleichen juristischen Sachverhalt. Unter Zwangseinweisung wurde in den 1950er Jahren nicht immer das Gleiche verstanden. So galten in Hessen zeitweise auch Einweisungen von nicht-mündigen Patientinnen und Patienten als Zwangseinweisungen, in Bayern und NRW jedoch nicht. Hier treten die Grenzen rein­ quantitativer Erhebungen deutlich zu Tage. Im Folgenden werden zuerst die 154 Diese 10 % erfassen sowohl die Einweisungen zur Sicherheitsverwahrung als auch die richterlichen Einweisungen nach dem neuen Unterbringungsgesetz. 155 Anhang Statistische Auswertung des Einweisungswegs: T53. 156 Gleichzeitig gab es einen im Vergleich viel kleineren Anteil an Patienten, die über § 81 StPO und § 126 StPO eingewiesen wurden. Vgl. hierzu: HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1941, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1942, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1943, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1944/45, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern. 157 Brink, S. 385 u. 401. 158 Ebd., S. 401.

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gesetzlichen Neuregelungen sowie die Diskussion darüber, wer für die Zwangseinweisung zuständig sein sollte, und dann deren Umsetzung untersucht. Die Neuregelung der Zwangseinweisungen in Bayern, Hessen und NRW In der Bundesrepublik begann 1949 mit der Verabschiedung des Grundgesetzes (GG) eine Diskussion um die zwangsweise Unterbringung, die gemäß Artikel 104 GG nur mit richterlichem Beschluss erlaubt war.159 Das bedeutete, dass die Regelungen des PVG von 1931 zur »Gefahreneinweisung« nicht mehr grundgesetzkonform waren, da hier ohne die Einschaltung eines Gerichts zwangseingewiesen werden konnte. Nach langer Diskussion zum Freiheitsentzug wurde daher 1956 das Bundesgesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsent­ ziehung verabschiedet.160 Die Ärzte hatten sich in dieser Diskussion nachdrücklich gegen die Einbeziehung der Gerichte in Zwangseinweisungen positioniert. »Das unterstellte Vertrauensverhältnis zwischen Arzt, Patient und Angehörigen wurde zum Argument gegen eine juristische Beteiligung.«161 Die Mediziner favorisierten also eine gesetzliche Regelung, die ein Vorgehen entsprechend dem in der DDR praktizierten rechtlich legitimiert hätte. Trotz des schnellen Wiederaufbaus ihrer Machtstrukturen mussten sie im Ergebnis eine Regelung hinnehmen, die ihren offiziellen Handlungsspielraum in der Einweisungspraxis einschränkte.162 Darüber hinaus galt für den Freiheitsentzug bei »Geisteskranken« aber weiterhin Länderrecht.163 Die Gesetze für Bayern und Hessen wurden bereits 1952 verabschiedet und ähnelten sich zu den sachlichen Voraussetzungen bei »Unterbringung bei Gefahr« sehr.164 In beiden Fällen bezog sich das Gesetz auf die Gefährdung anderer und die Selbstgefährdung.165 Die Gesetze unterschieden sich hingegen im Gefahrenbegriff. In Bayern genügte es, wenn die Unterbringung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich war.166 In Hessen musste die Gefahr erheblich und nicht anders abzuwenden sein.167 Letzteres ist juristisch deutlich schwerer beizubringen als Gründe der Sicherheit und Ordnung.168 Noch restriktiver war die Gesetzgebung in NRW. Dort gab es einen eigenen Paragraphen zu den Voraussetzungen der Unterbringung, 159 Vgl. http://www.bundestag.de/bundestag/aufgaben/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_09. html (letzter Zugriff: 14.11.2013). 160 Sowohl die vorhergehenden Diskussionen als auch das Gesetz selbst bezog sich nicht spezifisch auf die Unterbringung in psychiatrischen Einrichtungen. Das Bundesgesetz setzte die in Artikel 104 GG geforderte Einbeziehung eines Richters durch. 161 Brink, S. 389. 162 Hanrath, S. 269 f. 163 Brink, S. 390. 164 Im Vergleich waren die Ländergesetze 1952 die ersten, das letzte trat 1958 in Kraft. 165 Baumann, S. 216–220. 166 Ebd., S. 216. 167 Ebd., S. 218. 168 Voßkuhle, S. 908–910.

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der lautete: »Die Unterbringung von geisteskranken, geistesschwachen oder suchtkranken Personen ist nur zulässig, wenn und solange durch ihr Verhalten gegen sich oder andere eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung besteht, die nicht anders abgewendet werden kann.«169 Die Formulierung »gegenwärtige Gefahr« besitzt im Kontext der vorherigen Praxis während des Krieges enorme Bedeutung, da dort regelmäßig wegen potentieller Gefahren eingewiesen wurde, wie etwa in den beschriebenen Einweisungen geschlechtskranker Frauen oder älterer Menschen. Im Unterschied zur bayrischen Begrifflichkeit, die viel Spielraum ließ, der auch zuungunsten der Betroffenen ausgefüllt werden konnte, war NRW restriktiver. Noch deutlicher treten die Unterschiede zu Tage, wenn auch die Strafprozessordnung (StPO) vergleichend untersucht wird. Dort regelte § 126a die »einstweilige Unterbringung zur Abwehr einer Gefahr« für die öffentliche Sicherheit. Dies fand Anwendung, wenn Grund zur Annahme bestand, dass der Angeklagte – erstens – als unzurechnungsfähig oder vermindert zurechnungsfähig eingestuft werden würde, bis dahin  – zweitens  – eine Gefährdung darstellte, und dass – drittens – wahrscheinlich Sicherheitsverwahrung angeordnet werde.170 In Bayern konnte der Beschuldigte dann so lange festgehalten werden, bis seine Ungefährlichkeit nachgewiesen wurde.171 Zudem war für diese Art der Unterbringung erneut die Polizei und nicht das Gericht zuständig.172 In H ­ essen hingegen war lediglich eine eintägige polizeiliche Verwahrung möglich und die darauffolgende Anstaltsunterbringung von maximal zwei Monaten musste richterlich angeordnet werden.173 In NRW dagegen gab es gar keine Möglichkeit zur einstweiligen Unterbringung bei Gefahrenabwehr. Entsprechend Artikel 104 GG durfte die Polizei Personen dort nur für einen Tag unterbringen. Danach musste der zwangsuntergebrachte Mensch wieder entlassen oder auf Grundlage eines richterlichen Beschlusses dauerhaft untergebracht werden.174 Es gab also erhebliche Unterschiede in der Neuregelung der Unterbringung in den einzelnen Bundesländern. Widerstände gegen die Neuregelung der Zwangseinweisung Alle Bundesländer hingegen einte unmittelbar nach der Einführung des Grundgesetzes eine Unsicherheit, wie mit der bisherigen Praxis polizeilicher Einwei­ sungen weiterverfahren werden sollte. So wandte sich der deutsche Landkreistag im Mai 1950 an den Bundesminister des Innern, um zu klären, welche Folgen der bereits erwähnte Artikel 104 GG habe: 169 Baumann, S. 219. 170 Ebd., S. 193. 171 Ebd., S. 109. 172 Ebd., S. 110. 173 Ebd., S. 114. 174 Es ist jedoch umstritten, ob dies letztlich in der Praxis eher Vor- oder Nachteile für den Unterzubringenden hatte. Möglich wäre auch, dass, um die Person nicht sofort wieder freilassen zu müssen, schnell dauerhafte Unterbringungen angeordnet wurden. Ebd., S. 116.

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»Es mehren sich beim Deutschen Landkreistag Anfragen, ob die in früheren Gesetzen niedergelegten Befugnisse der Verwaltungsbehörden, widerspenstige Volksgesundheits- oder Sozialschädlinge (z. B. asoziale Tuberkulose, Irre, Asoziale) in Asylierungshäuser, Irrenanstalten, Arbeitshäuser mit Zwang unterzubringen, mit dem Artikel 104 GG. vereinbar sind. Der Deutsche Landkreistag war bisher der Meinung, daß die Verwaltungspraktiker sich zunächst auf den Standpunkt stellen sollten, die bisherigen Vorschriften ständen mit dem Art. 104 nicht in Widerspruch. Es sei abzuwarten, ob zu Art. 104 noch weitere gesetzliche Deklarationen erfolgen.«175

Es kann also eine allgemeine Tendenz festgestellt werden, die alte polizeiliche Einweisungspraxis weiterzuführen. Trotzdem gab es gravierende regionale Unterschiede in dieser Periode der Rechtsunsicherheit. Die bayrische Gesetzgebung knüpfte an eine regionale Fürsorgeregelung und Praxis an, die Sicherheitsfragen ein größeres Gewicht als der Freiheit des Einzelnen zumaß.176 Auch bevor das bayerische Unterbringungsgesetz verabschiedet wurde, zeigte sich bereits deutlich, dass die Behörden bemüht waren, ihre regionale »Fürsorgetradition« beizubehalten und die Neuordnungsversuche der Amerikaner im Bereich der Einweisung »auf Grund von Gemeingefährlichkeit« (Artikel 80 Abs. II PolStGB) zu umgehen. Am 9.3.1949 ordnete das bayrische Staatsministerium des Innern an,177 dass die polizeilich vollzogene Einweisung nicht mehr praktiziert werden sollte und stattdessen in diesen Fällen ausschließlich gerichtlich eingewiesen werden dürfte. Dieser Verordnung wurde Folge geleistet: So wurden im Jahr 1949 in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar nur 48 Menschen polizeilich zwangseingewiesen. Dies markiert einen deutlichen Einbruch der Zahlen, wenn auch zu berücksichtigen ist, dass die Zwangseinweisungen ohne richterliche Intervention bereits zuvor unverkennbar zurückgingen. 1946 waren noch 461 von 660 Patienten nach Artikel 80/II PStGB aufgenommen worden, 1948 waren es 245 von 1564. 1949 handelte es sich nur noch um 48 von insgesamt 1638 Aufnahmen.178 Allerdings wurde zugleich versucht, die Verordnung zu umgehen. Die Gesundheitsabteilung im Staatsministerium des Innern schrieb in Reaktion auf die Anordnung vom 9.3.1949, keine polizei175 Deutscher Landkreistag, Schreiben an BMI, Betr.: Isolierung von Infizierten Personen und Unterbringung von Geisteskranken – Ausführung des Artikels 104 GG, 1949–1955, BAK, B 142/1017, S. 21. 176 Vgl. zur Bayrischen Fürsorgepraxis: Eberle; Stockdreher, S. 344 ff. 177 SMI, Anordnung v. 9.3.1949, BayHStA, Minn. 80911, S. 1. 178 HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1941, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1942, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1943, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1944/45, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1946, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1947, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1948, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH; HPA Eglfing-Haar, Jahresbericht 1949, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH.

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lichen Einweisungen mehr vorzunehmen, an das Staatsministerium der Justiz. Sie argumentierte, dass das neue Vorgehen im Interesse der öffentlichen Sicherheit nicht praktizierbar sei, und machte einen Vorschlag, wie es ihrer Meinung nach am besten zu umgehen wäre. Die Gesundheitsabteilung wies hierfür darauf hin, dass die Gerichte die einstweilige Unterbringung zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit viel zu häufig ablehnten.179 Die Einschätzung der Gerichte wurde grundsätzlich angezweifelt und für eine außerordentlich weite Auslegung des Gefahrenbegriffs plädiert: »Bei der Unberechenbarkeit von gemeingefährlichen Geisteskranken ist in der Regel eine objektive strafbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit als gegeben anzusehen. In seinem unberechenbarem Verhalten liegt eine ständige Bedrohung der Personen in seiner Umgebung mit Tätlichkeiten und des fremden Eigentums mit Beschädigung und Zerstörung. […] Dringende Gründe für die Annahme, dass jemand eine mit Strafe bedrohte Handlung im Zustande der Unzurechnungsfähigkeit begangen hat, sind bereits dann gegeben, wenn der Geisteskranke in einem Tobsuchtsanfall seine Umgebung mit Tätlichkeiten bedroht hat«.180

Das Ministerium des Innern fragte nun an, ob das Ministerium der Justiz die Gerichte nicht dazu anhalten könne, Unterbringungen aus Rücksicht auf die öffentliche Sicherheit deutlich häufiger anzuordnen. Das Innenministerium argumentierte, die Zuständigkeit sei durch die amerikanische Militärregierung von den Polizeibehörden zu den Justizbehörden verschoben worden, »die im Interesse der Allgemeinheit dieser Verpflichtung nachkommen müssen.«181 Falls die Gerichte Unterbringungen wegen Gefahr »nicht verantworten zu können glauben«,182 sollte für diese Menschen eine Entmündigung im Eilverfahren beantragt werden, in der gleichzeitig bereits die Unterbringung des dann Entmündigten mitbeantragt werden sollte.183 Die Gesundheitsabteilung stellte hier also jede Abweichung von ihrer umfassenden Sicherheitsdefinition gleichsam als Vernachlässigung der gerichtlichen Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit dar. Statt die demokratisch-freiheitlicheren Neuregelung zu akzeptieren, suchten die Verantwortlichen an offizieller Stelle nach justiziell-technischen Finten, um diese außer Kraft zu setzen.184 179 Es handelt sich hier um die Einweisung nach § 126 a StPO. 180 SMI, Anordnung v. 9.3.1949, BayHStA, Minn. 80911, S. 2. 181 Ebd., S. 3. 182 Ebd. 183 Dies war durch eine Kombination der § 646 Abs. 2 ZPO und § 656 ZPO möglich, ebd. Die Kombination von Entmündigung und Einweisung wurde so insgesamt zu einem öfter benutzten Einweisungsmodus in der Bundesrepublik. Vgl.: Brink, S. 398. 184 Nach dem Inkrafttreten des neuen bayrischen Verwahrungsgesetzes, welches die gerichtliche Unterbringung regelte, ist in den Jahresberichten Eglfing-Haars ab 1953 ein deutlicher Anstieg der Zwangseinweisungen festzustellen. 1953 gab es bereits 387 gerichtliche Einweisungen  – und hierin sind keine forensischen Einweisungen berücksichtigt. Dies ist ein deutlicher Anstieg im Vergleich zum Tiefpunkt der Zwangseinweisungen als die

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Während das Ministerium des Innern in Bayern die Neuregelungen nicht akzeptieren wollte, wurde in Hessen der Schutz der Freiheit des Individuums zeitweilig so weit wie möglich ausgelegt. In den »Staatsanzeigen f. d. Land Hessen«,185 zog der hessische Minister des Innern 1955 seine an freiheitlichen Idealen ausgerichtete Auslegung des Artikels 104 GG zurück, da sie mit dem Beschluss des Bundesgerichtshofs hierzu kollidierte, der so weit dann doch nicht ging: »Unter Nr. I, 2 Abs. 2 des Ersten Ausführungserlasses zum Freiheitsentziehungs­gesetz habe ich in der Frage der Freiwilligkeit der Unterbringung den Standpunkt vertreten, daß auch, falls es sich um geschäftsunfähige oder beschränkt geschäftsfähige Personen handelt, grundsätzlich ihr eigener Wille und nicht derjenige eines gesetz­lichen Vertreters (Inhaber der elterlichen Gewalt, Vormund oder Pfleger) maßgebend sei und eine Ausnahme hiervon nur für Personen unter 14 Jahren gelte. Diese Auslegung stütze sich zum einen auf § 15 Abs. 2 und § 22 des Freiheitsentziehungsgesetzes. [gemeint ist das hessische Freiheitsentziehungsgesetz von 1952, d. Vf.] Sie beruhte zum anderen auf der Rechtsauffassung, daß Art. 104 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetztes sich auf jegliche Freiheitsentziehung erstrecke, mithin nicht nur auf Maßnahmen von Trägern öffentlicher Gewalt, sondern auch auf Freiheitsentziehungen durch den Inhaber der elterlichen Gewalt, den Vormund oder den Pfleger.«186

Der Bundesgerichtshof entschied jedoch, dass die Einschaltung der Gerichte lediglich für Freiheitsentziehung »durch Träger öffentlicher Gewalt«187 gelte. Zu Beginn der 1950er Jahre war dies aber noch diskutiert worden. So schlug der Bundesrat 1954 im Rahmen der Diskussionen um die spezifische Ausgestaltung des neuen Freiheitsentzugsgesetzes vor, dass Pfleger oder Vormunde Einweisungen in geschlossene Anstalten nicht mehr ohne Beschluss des Vormundschaftsgerichts durchführen dürften. Die Bundesregierung lehnte das jedoch ab.188 Dies betraf nicht wenige der in dieser Studie betrachteten »erwachsenen« Patientinnen und Patienten. Neben entmündigten Personen ist auch an die noch nicht volljährigen zu denken.189 Denn aus psychiatrischer Sicht kamen Men-

Debatte um Zwangsunterbringungen 1949 begann. 1949 wurden insgesamt 48 Personen zwangseingewiesen. HPA Eglfing-Haar, Jahresberichte 1949 bis 1953, Tab. Krankenbewegung, AB Oberbayern, EH. 185 Hessisches MdI, Staatsanzeigen f. d. Land Hessen Nr. 45 v. 5.11.1955, BAK, B 106/36773. 186 Ebd. 187 Ebd. 188 Deutsches Verwaltungsblatt, Jahrg. 69, Heft 20, 15.10.1954, BAK, B 106/36773, S. 663 ff. 189 Die Einweisung entmündigter Patient fiel in allen drei Systemen in die Verantwortung des Vormundes. Diese Fälle wurden jedoch lange in keinem der drei Systeme als Zwangseinweisungen behandelt, da unter Zwangseinweisung behördliche Zwangseinweisungen verstanden wurden. Im Zeitraum bis 1963 änderte sich dies nur in der Bundesrepublik. Vgl.: Deutsches Verwaltungsblatt, Jahrg. 69, Heft 20, 15.10.1954, BAK, B 106/36773, S. 663ff; zur DDR: 7. VO über die Einweisung, Aufnahme und Entlassung in psychiatrischen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, BAB DQ1/6486; zur NS-Zeit: Lange, S. 257.

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schen in Anlehnung an die körperliche Entwicklung meist ab dem 16. Lebensjahr in die Erwachsenenabteilungen. Ab 1960 bedurfte es auch bei Einweisungen mit Zustimmung des Vormunds der richterlichen Entscheidung.190 Die Standpunkte zu der 1954 nicht erfolgten Gesetzesänderung sind trotzdem interessant für die Einweisungspraxis, da sie aus der Erfahrung mit Zwangseinweisungen heraus argumentierten. Der Düsseldorfer Verwaltungsrichter Ernst Lösch brachte zwei Punkte für die richterliche Unterbringung unmündiger Personen an. Er argumentierte zum einen für die richterliche Entscheidung, um Missbrauch der Einweisungen aus Eigeninteresse von Vormündern vorzubeugen. Zum anderen begründete er sein Plädoyer für eine richterliche Entscheidung damit, dass seiner Erfahrung nach Vormunde eine angebrachte Unterbringung oft nicht veranlassten, »weil sie die allein auf ihren Schultern ruhende Last der Verantwortung scheuen«.191 Die Gegenseite argumentierte genau andersherum: Es seien keine Missbrauchsfälle bekannt und Vormunde würden Einweisungen möglicherweise umgehen, weil sie eben nicht das Gericht einschalten wollten.192 Bemerkenswert an beiden Argumentationen ist, welchen zentralen Stellenwert beide dem Verhalten und den Entscheidungen der Angehörigen beimaßen. Es ging nicht allein um den Schutz der unmündigen Personen vor Missbrauch, der nicht einmal von allen Seiten für nötig befunden wurde. Generell spiegeln sich in den nicht formalen Zwangseinweisungen asymmetrische Machtbeziehungen in den Familien wider. Dies gilt nicht nur für die Abhängigkeit der Kinder von ihren Eltern, sondern oft auch im entgegengesetzten Generationenverhältnis bei Demenz eines Elternteils. Denn auch ältere, von Demenz betroffene Familienmitglieder konnten entmündigt werden. In diesen Fällen übernahm üblicherweise ein Familienmitglied die Vormundschaft. Beide Konstellationen werden im Folgenden untersucht. 3.2 Informelle Vor-Entscheidungen durch Familien und Ärzte Die Praxis in der Bundesrepublik wich von der Rechtsnorm ab und zwar zugunsten einer größeren Machtfülle der Ärzte: »Mit bemerkenswerter Offenheit und durchaus zufrieden konnte Medizinalrat Schulze 1956 im Kollegenkreis berichten, wie rechtliche Normen und Einweisungspraxis divergierten: ›Durch unsere passive Resistenz funktionierte ja doch das durchschnittliche, zivile Aufnahmeverfahren wie früher weiter. Wir stützten uns auf unsere alten Aufnahmebestimmungen und machten unsere Meldung. Und da zeigte sich dann doch mehr und mehr das Erfreuliche, daß die Staatsanwaltschaften sich bald unserer Meinung anschlossen.‹«193 Dass sich die Amtsgerichte der Meinung der Ärzte 190 Brink, S. 399. 191 Deutsches Verwaltungsblatt, Jahrg. 69, Heft 20, 15.10.1954, BAK, B 106/36773, S. 663 ff. 192 Ebd. 193 Brink, S. 396.

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anschlossen, bestätigt auch die Stichprobe für diese Arbeit, in der es sich kein einziges Mal anders verhält. Wie genau funktionierte dies aber im konkreten Einzelfall und welche Rolle spielten hierbei Patientinnen und Patienten und Angehörige? Was passierte bis zur ärztlichen Meldung an die Gerichte? Dies soll hier an einer Einweisung der bereits im letzten Kapitel vorgestellten Patientin Miranda L. exemplarisch gezeigt werden. 1952 wurde Miranda L.194 zum dritten Mal in die LHA Marburg aufgenommen. Hierfür lag ein Attest eines niedergelassenen Arztes vor. Nachdem der Arzt vorherige Einweisungen resümiert hatte, schrieb er: »Jetzt klagen die Angehörigen über erneute Unruhe, dauerndes Reden und Klagen. Für die jetzige Pflege kommt nur die hochbetagte Mutter in Frage, die aber vor der Pat. in ihren Aufregungszuständen Angst hat. Alle übrigen Hofbewohner sind sämtlich mit Feldarbeit beschäftigt und können in der Pflege nur zeitweise einspringen. Es besteht deshalb der Wunsch der Angehörigen, die Pat. in eine Anstalt zu geben. […]«195

Das Kreisgesundheitsamt Wolfhagen bestätigte dieses Attest einen Tag später auch amtsärztlich. Der letzte Satz des amtsärztlichen Schreibens lautete: »Das Amtsgericht Wolfhagen wurde benachrichtigt«. Es handelt sich in diesem Fall also offiziell um eine juristische Einweisung. De facto war die Aufnahme jedoch längst geschehen. Das Verfahren, den richterlichen Beschluss nachzuholen, wurde in der frühen Bundesrepublik häufig angewandt.196 Wie dieser Fall zeigt, war die nachträgliche richterliche Genehmigung nicht nur eine Not­ lösung bei akut sich selbst oder ihre Umgebung gefährdenden Patientinnen und Patienten, denn es ging bei der Einweisung von Miranda L. nach Angabe der Angehörigen eher darum, sie zu beaufsichtigen. Die Entscheidung der Angehörigen hing dabei sowohl von strukturellen Lebensumständen ab, z. B. den Arbeitsanforderungen an die ganze Familie in der Landwirtschaft, als auch von der spezifischen Familiensituation, etwa der Tatsache, dass die Mutter Angst vor der Tochter hatte und sie deswegen nicht betreuen konnte. Von Gefahr ist in der Aufnahme gar nicht die Rede. Sie ergibt sich höchstens implizit aus dem Beaufsichtigungsproblem, ohne näher thematisiert zu werden. Diese Art der Zwangseinweisung war nicht ungewöhnlich. Zum einen gab es in der LHA in der Stichprobe mehrere ähnliche Fälle. Zum anderen weist aber auch die Dokumentation der Einweisung selbst darauf hin, dass es sich nicht um einen erklärungsbedürftigen Sonderfall handelte: In dem ärztlichen Attest für die Aufnahme gab der einweisende Arzt nur die Beaufsichtigungsproblematik wieder, ohne etwa hinzuzufügen, dass er deswegen eine akute Gefahr für die Patientin oder ihre Umgebung sähe. Ob sich das in der Benachrichtigung des Amtsarztes anders verhielt, ist nicht zu sagen, da diese der Krankenakte nicht beigelegt ist. Aber zumindest in der Kommunikation zwischen dem einweisenden nieder194 LHA Marburg, Patientenakte Sign. K12962F, LWV Hessen, 16. 195 Ebd., Aufnahme 10.4.1952. 196 Manchmal wurde der richterliche Beschluss dann auch telefonisch eingeholt.

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gelassenen Arzt und der aufnehmenden Anstalt war es nicht nötig, ein Gefahrenszenario explizit darzustellen, damit die Anstalt noch vor dem richterlichen Beschluss die Patientin aufnahm. Obwohl der Richter zuständig war, zeigt sich in diesem Fall, wie weitreichend die Entscheidung der Angehörigen und des niedergelassenen Arztes blieb. Das Beaufsichtigungsproblem wurde erneut zur pragmatischen Einweisungslegitimation. Zumindest in der LHA Marburg waren die Angehörigen also auch bei richterlichen Zwangseinweisungen entscheidende Akteure. Vermutlich traf dies nicht nur in dieser Einrichtung zu. Denn diese Art der Aushandlung von Zwangseinweisungen praktizierten die Beteiligten bereits zuvor bei den polizeilichen Einweisungen sowohl in Eglfing-Haar als auch in der LHA Marburg. Es könnte sich also gut um einen eingespielten Modus Vivendi zwischen Ärzten, Angehörigen und Anstalten handeln, der in der Bundesrepublik nun mit den Gerichten als neuen Akteuren fortgesetzt wurde. Grundsätzlich war dabei zwar immer die Möglichkeit gegeben, dass die Richter gegen die Einweisung entscheiden konnten. In der Stichprobe für diese Arbeit kam das jedoch nie vor.197 Hier wird sehr deutlich, dass eine alleinige Beschäftigung mit den Regeln zur Zwangseinweisung nur begrenzten Wert für ein tiefergehendes Verständnis der Vorgänge hat, die Menschen in die Anstalt brachten. Miranda L. wurde aus ihren häuslichen Verhältnissen heraus eingewiesen. Wie in der Kriegszeit und der DDR waren aber auch in der Bundesrepublik Einweisungen aus Krankenhäusern ein übliches Phänomen. Hierzu zählten auch Einweisungen gegen den Willen der Patientin oder des Patienten. Dies war z. B. bei der Einweisung des 66-jährigen Ludwig M. in die LHA Marburg der Fall. Ähnlich wie in der DDR der 1950er Jahre, zeigen die Einzelfallakten, dass Verwandte auch in der frühen Bundesrepublik nicht mehr in gleicher Weise wie während des Krieges an Einweisungen älterer Familienmitglieder partizipierten. Wie in der DDR tauchte das äußerst breit angewandte »Gefahrenargument« nicht mehr auf, und es finden sich immer wieder Fälle, in denen Verwandte empört auf die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt reagierten. 1953 wurde Ludwig M. aus der chirurgischen Abteilung der Marburger Uniklinik in die LHA eingewiesen.198 In dem Attest steht: »Gemäss tel. Verabredung verlege ich (Pat) Es handelt sich um eine akute Harnverhaltung infolge eines Prostataadenoms. Heute abend akuter Verwirrtheitszustand, hat sich den Katheter herausgerissen u. will zu Fuss n. Hause laufen. Es besteht dringende Gefahr, dass er sich selbst etw. antut. Er äußerte, er wolle sich vor ein Auto werfen. 197 Die Zwangseinweisungen wurden von unterschiedlichen Amtsgerichten vorgenommen, es handelt sich also nicht um die Praxis lediglich eines Gerichts. Allerdings ist es möglich, dass es hier regionale Unterschiede gab, die nur sichtbar würden, wenn Krankenakten aus anderen Regionen ausgewertet würden. 198 LHA Marburg, Patientenakte Sign. K12091M, LWV Hessen, 16.

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Ferner besteht dring. Gefahr, dass er in. Zimmer, in dem frisch op. Patien­ten liegen, Schaden anrichtet. Er fiel beim Anziehen mehrmals gegen das Bett eines vor 4 Tg. Operierten. Da nur 1 Nachtpfleger für die ges. Klinik da ist, kann Pat. nicht hier behalten werden.«199

Er wurde zwei Tage später »nach abklingen der symptomatischen Psychose in geordnetem Zustand nach Hause entlassen. Wird von seinen Angehörigen abgeholt, die sich darüber beklagen, dass er von der Chirurgie in die hiesige Anstalt verlegt wurde.«200

4. Zusammenfassung: Zwangseinweisungspraktiken im Vergleich Im Falle von Zwangseinweisungen unterschieden sich die Einweisungswege auf formaler Ebene in allen drei Systemen stark voneinander. Während sie in der NS-Zeit in die Zuständigkeit der Polizei fielen und in der Bundesrepublik richterlich verfügt werden sollten, gab es in der DDR bis 1968 keine neue gesetzliche Regelung. Innerhalb der Bundesrepublik ist auch die regional unterschiedliche Umsetzung der richterlichen Zuständigkeit zu beachten. Unmittelbar mit den Einweisungswegen hingen die Akteure und ihre Handlungsspielräume zusammen. Zwar war die Polizei bei Zwangseinweisungen im »Dritten Reich« ein viel wichtigerer und mit mehr Macht ausgestatteter Akteur als später; in beiden Staaten verschwand sie jedoch nicht völlig aus der Einweisungspraxis. Neben der richterlichen Zwangseinweisung in der Bundesrepublik war die Justiz in allen drei Systemen bei forensischen Einweisungen nach § 42b StGB entscheidend. Auch bei richterlichen und polizeilichen Einweisungen sollte jedoch ein ärztliches Gutachten ausgestellt werden. Ärzte spielten also in allen drei Systemen bei jeder Art der Einweisung, ob mit Zwang oder ohne, eine wichtige Rolle. Allerdings verschob sich zum Teil  gravierend, welche Ärzte und Gesundheitsinstitutionen einwiesen. Während des Krieges waren die Amtsärzte in den Gesundheitsämtern von außerordentlicher Bedeutung. In der DDR hatten die Anstaltsärzte eine deutlich größere Machtposition inne als im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik. In der Bundesrepublik waren niedergelassene Ärzte besonders relevant. In allen drei Systemen fungierten Krankenhäuser als zentrale Institutionen sowohl bei zivilen als auch bei Zwangseinweisungen. Ebenfalls durchgehend in entscheidender Position agierten die Angehörigen. Hier muss jedoch wieder differenziert werden. Auch in der Kriegszeit standen Angehörige Zwangseinweisungen nicht immer machtlos gegenüber, im Gegenteil: Sie konnten diese unter Umständen selbst initiieren, ihnen zustimmen oder 199 Ebd., Überweisung v. 3.6.1953. 200 Ebd., Eintrag v. 5.6.1953.

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versuchen, sie zu verhindern. Allerdings nicht immer. Insbesondere bei Einweisungen, die die Polizei selbst anstieß, hing dies ganz maßgeblich von der Stellung der Patientin oder des Patienten und seiner Familie in der Gesellschaft ab. Als »asozial« deklarierte Frauen aus der Unterschicht waren dem System hilflos ausgeliefert, wenn sie wegen einer Geschlechtskrankheit eingeliefert wurden. Die Kriegszeit charakterisiert jedoch auch ein Hin- und Herschieben zwischen den Institutionen. Dies betraf sowohl »Asoziale« als auch ältere Menschen. Dabei konnten Patientinnen und Patienten manchmal durch eine Zuständigkeitslücke fallen oder die Angehörigen hierdurch in entscheidende Positionen gelangen. Staatliche Stellen waren in der DDR im Vergleich zur NS-Diktatur viel weniger in die Einweisungsaushandlungen involviert. Hier unterschieden sich die Diktaturen maßgeblich voneinander. Nirgendwo befanden sich die Angehörigen in einer so machtvollen Position über erkrankte Familienmitglieder wie in der DDR. Denn durch die fehlenden gesetzlichen Regelungen wurden Einweisungen gegen den Willen der Patientin oder des Patienten durch Angehörige und Ärzte ausgehandelt. Diese herrschaftsferne Aushandlung der Einweisungen ist mit den in der Forschung etablierten Erklärungsmodellen der SED-­Diktatur als Diktatur der Grenzen, geschweige denn als durchherrschte Gesellschaft, nicht exakt zu fassen.201 Zwar blieben die Angehörigen auch in der Bundesrepublik – trotz gerichtlicher Regelung – oft an entscheidender Stelle bei Zwangseinweisungen, aber nicht in dem Ausmaß wie in der DDR. Die Aushandlungsmöglichkeiten der Patientinnen und Patienten waren in der Kriegszeit deutlich begrenzter als in der frühen DDR oder Bundesrepublik. In allen drei Systemen hing die Position der Eingewiesenen unmittelbar mit der der Angehörigen zusammen. Im Rahmen von formalen Zwangseinweisungen wurde eher über die Patientin oder den Patienten verhandelt als gemeinsam mit ihm. In der NS-Zeit waren die Eingewiesenen im polizeilichen Unterbringungsprozess normalerweise machtlos, wenn dies auch nicht unbedingt für ihre Angehörigen zutraf. In der DDR versetzten die informellen Einweisungen gegen den Willen der Patientin oder des Patienten ihn in eine besondere Abhängigkeit von seinen Verwandten und von den Ärzten. Anders als bei polizeilichen Einweisungen brauchte es aber in diesen Fällen keine offizielle behördliche Entlassungserlaubnis. Es gab so in Einzelfällen für die Patientin oder den Patienten in der DDR je nach Konstellation eher die Möglichkeit, den Aufenthalt schneller zu beenden als in der NS-Zeit. In der Bundesrepublik sollte es mit der Einschaltung der Gerichte in die formale Zwangseinweisung hingegen Möglichkeiten für die Patientin oder den Patienten geben, sich zumindest vor einer unabhängigen Instanz zu äußern. Inwiefern dieses Verfahren die Position der Patientinnen und Patienten in der Praxis veränderte, war jedoch sehr unterschiedlich. Die Urteile des Richters hingen gemeinhin stark von den beiden ärztlichen Stellungnahmen ab, die bei jeder richterlichen Zwangseinweisung in der Bundes­ 201 Vgl. u. a.: Lindenberger, Diktatur; zum älteren Modell der durchherrschten Gesellschaft: Kocka, Gesellschaft; Lüdtke, »Helden«, S. 188.

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republik eingeholt werden mussten. Für die ärztlichen Stellungnahmen wiederum wurden in der Regel die Verwandten intensiv befragt. De facto konnte sich ein Mensch unter Umständen auch bereits vor dem richterlichen Urteil in der Anstalt befinden. Für alle drei Systeme ist zu sagen, dass pragmatische Anliegen in der Einweisung eine Rolle spielen konnten, sei es das Interesse einer Kommune oder Angehöriger. Für die Kriegszeit gilt dies jedoch in besonderem Maße: Zum einen wären die Gefahrenargumentationen sowohl der Verwandten als auch der Institutionen zu nennen. Zum anderen ist bereits im vorherigen Kapitel gezeigt worden, dass Familien auch versuchten, staatliche Anstalten zu umgehen oder Patientinnen und Patienten stationäre Aufnahmen vermieden. All diese Punkte haben gemeinsam, dass die Einweisung in eine Anstalt während des Zweiten Weltkriegs nur wenig mit der Behandlung von Krankheiten zu tun hatte.

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Kapitel IV: Krankheit und Diagnostik – Medizinische Aspekte der Einweisung

An der Schwelle zur Anstalt wurden keineswegs nur (Geistes-)Krankheiten verhandelt. Trotzdem blieb eine Einweisung über die politischen Systeme hinweg an die Zuschreibung von Krankheit gebunden. Zwar gab es in der NS-Zeit mit dem Grund Gefährdung einen dezidiert von Krankheit abgegrenzten Einweisungsanlass.1 Dennoch erhielten alle Eingewiesenen spätestens in der Anstalt oder Klinik eine Diagnose. Im Falle der im März 1946 nach einem Wutanfall in die Landesheilanstalt Marburg aufgenommenen Martina R. lautete diese: »reaktive Depression«.2 Damit spezifizierte die Anstalt den Befund der einweisenden Ärztin, die einen »depressiven Verstimmungszustand« attestiert hatte.3 Eine solche Differenz zwischen Einweisungsdiagnose und Diagnose in der Anstalt erweist sich als typisch. Das Attest fasste den Zustand auf einer beschreibenden Ebene, die Anstaltsärzte ergänzten dies durch das Adjektiv »reaktiv« und damit um eine Ursache: Bei Martina R. handelte es sich um eine durch äußere Umstände ausgelöste Depression. Das diagnostische Gegenstück wäre eine »endogene Depression«. Bei endogenen Erkrankungen handelte es sich um innersomatisch gedachte, schicksalhaft verlaufende Krankheiten. Inwiefern die Symptome Martina R.s als reaktiv bewertet wurden, lässt sich an der zusammenfassenden Einschätzung ihrer Erkrankung am Tag der Entlassung veranschaulichen: »Es handelte sich um eine reaktive Depression im Anschluss an das Wochenbett, die durch belastende situative Schwierigkeiten ausgelöst wurden u. durch ein dauerndes Spannungsverhältnis gegenüber der Familie des Mannes (Schwiegermutter, Schwiegertochter) kompliziert wurde.«4

Zwei wichtige Aspekte kommen in dieser Beschreibung zum Vorschein. Zum einen wird die Depression mit einem genderspezifischen körperlichen Ereignis in Verbindung gebracht, mit Geburt und »Wochenbett«. Dies war häufig bei Patientinnen der Fall. Zum anderen nahm die Krankheitsbeschreibung Elemente des Patientinnennarrativs auf. Familiäre Schwierigkeiten, die die Patientin sowie auch ihre Schwiegermutter in der Anstalt geschildert hatten, dienten als Beleg für die ärztliche Einschätzung. Eine solche Kongruenz lag bei weitem nicht 1 Brink, S. 270 ff. 2 LHA Marburg, Patientenakte Sign. 16K10740F, Eintrag Deckblatt Krankengschichte, LWV Hessen, 16. 3 Ebd., Attest v. 15.3.1946. 4 Ebd., Eintrag v. 18.4.1946.

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immer vor; die Krankheitsdeutungen von Ärzten und Laien konnten sich auch grundlegend voneinander unterscheiden. Aus Sicht der Laien konnte es bei Anstaltseinweisungen auch um ganz andere Aspekte als Krankheit gehen, etwa um Selbst- und Fremdgefährdung oder pragmatische Überlegungen. Somit war Krankheitszuschreibung zwar nicht immer das ausschlaggebende Kriterium für eine Einweisung, in letzter Konsequenz allerdings ein notwendiges. Die Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit war somit ein Dreh- und Angelpunkt in der Einweisungspraxis, der als solcher aber nur in direktem Zu­ sammenhang mit anderen Faktoren in der Konstruktion von Anstaltsbedürftigkeit entstand und verstanden werden kann.5 So fielen Krankheitszuschreibung und die Zuschreibung von Anstaltsbedürftigkeit auch nicht unbedingt zusammen. Die Zuschreibung von Krankheit durch Laien und die von Anstaltsbedürftigkeit durch Laien und Ärzte konnten zeitlich sogar weit auseinanderliegen. Eine grundlegende Gemeinsamkeit der Krankheitsvorstellungen bei Laien und Ärzten, die auf den ersten Blick trivial erscheinen mag, ist, dass sowohl die Psychiater als auch Betroffene und ihre Familien Krankheit nicht nur zuschrieben, sondern spezifisch einordneten. Die Ärzte ordneten der Patientin oder dem Patienten eine Diagnose zu, die sich wiederum in eine Anordnung von Krankheitsbildern einsortieren ließ, in eine Diagnoseklassifikation.6 Medizinische Laien ordneten Krankheiten in Lebenswege und Lebenszusammenhänge ein. Diese Einordnungen trafen in der Einweisungspraxis aufeinander. Sie verflochten sich, stimmten in Teilen überein, existierten nebeneinander her, wurden thematisiert oder nicht. Ab dem Punkt der Einweisung bildeten sie einen die Aufnahme konstituierenden Zusammenhang. Insofern ist die Zuschreibung von Krankheit im Einweisungsprozess ein zeitlich und inhaltlich vielschichtiger Prozess, dem sich dieses Kapitel zuerst über die Ärzte und dann über die Laien nähert.7 Trotzdem verhält es sich so, dass die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit und die spezifische Zuordnung einzelner Krankheiten in der Kriegszeit im doppelten Sinne eine untergeordnete Position in der Einweisungspraxis einnahmen. Insgesamt löste mit Beginn des Zweiten Weltkriegs »die Beschaffung und Gewährleistung medizinischer Ressourcen sowie die Seuchenkontrolle die ›Erb- und Rassenpflege‹ als Kernaufgabe ab.«8 Während des Krieges 5 Zum Zusammenhang von Krankheit und gesellschaftlichen Norm- und Ordnungsvorstellungen sowie der Gefahr einer verkürzten Sichtweise, wenn gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen allein über medizinische Perspektiven versucht werden zu entschlüsseln: Meier u. a., S. 35. Andrew Scull bringt diesen Zusammenhang für die USA und Großbritannien in dem Begriffspaar »Social Order/Mental Disorder« auf den Punkt: Scull. 6 Grundlegend zur Rolle von Ärzten in Institutionen, die bereits durch ihre Rolle als Zuhörer in einem bestimmten Setting dem »Wahnsinnigen« einordnen und Grenzen ziehen, vgl. zusammenfassend: Foucault, Ordnung, S. 11 ff. 7 Zur Forderung nicht entweder Geschichte aus Sicht der Ärzte oder der Patientinnen und­ Patienten zu schreiben, sondern beides zusammen zu bringen, vgl.: Condrau, S. 536. 8 Christians, S. 17.

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gab es zugleich weniger theoretische psychiatrische Debatten. Die Zeitschrift Der Nervenarzt wurde 1943 sogar eingestellt. Aber auch in der Entscheidung über Klinik- und Anstaltsaufenthalte spielten die Themen Diagnostik und Behandlung zwischen Ärzten und Laien – und noch weniger seitens der Polizei – nur eine äußerst marginale Rolle. Diagnosezuordnungen blieben vor allem dann von großer Bedeutung, wenn die Patientin oder der Patient zur Sterilisationsbegutachtung eingewiesen wurde.9 Die Unterscheidung zwischen krank und gesund besaß in der Kriegszeit jedoch kaum Relevanz für die große Mehrzahl der Einweisungen, die nicht zur Begutachtung dienten, – bzw. war sie vor allem für die Meidung von Anstalten im Vorfeld von Bedeutung. Sie wurde in mehrfacher Weise unterlaufen. Erstens durch das Wissen der Patientinnen und Patienten und ihrer Verwandten um die Krankenmorde: Wie in Kapitel II gezeigt, entschlossen sich Patientinnen und Patienten, deren Krankheit ein Propagandafilm thematisierte, trotz dringender Behandlungsdürftigkeit nicht für einen stationären Aufenthalt. Zweitens wurde eine Entscheidung für einen stationären Aufenthalt seitens der Patientin oder des Patienten meist aus Sicherheitsüberlegungen heraus gefällt. Hier ist z. B. an den in Kapitel II beschriebenen Fall Herbert M.s zu denken,10 der der festen Überzeugung war, außerhalb der Anstalt werde er sich selbst oder seine Familie töten. Auch die Verwandten waren auf Fragen der »Sicherheit«, die Grenzen des Tolerierbaren11 und den Schutz der Patientin oder des Patienten fokussiert. Es standen entweder Überlegungen im Vordergrund, die Patientin oder den Patienten in einer privaten Einrichtung unterzubringen, wie aus den inoffiziellen Anfragen zur Aufnahme in Bethel hervorgeht, oder rein pragmatische Anliegen großer Bandbreite. Bei letzteren konnte es um die Betreuung älterer Verwandter unter den Bedingungen des Bombenkriegs gehen, um den Schutz vor einem gewalttätigen Ehemann oder den Wunsch eines Hausbesitzers, einen Mieter aus seinem Haus zu bekommen. Bei den einweisenden Institutionen ging es drittens ebenfalls primär um »Gefährdung« oder die Lösung von kriegsbedingten Platzproblemen: Frauen wurden mit venerischen Erkrankungen prophylaktisch als »Gefahr« für den »Volkskörper« eingewiesen und Krankenhäuser nutzen ihre Betten für Erkrankte, die in der »Volksgemeinschaft« als nützlich galten, wie z. B. Soldaten. In DDR und Bundesrepublik stellte die Kategorie »Krankheit« sowohl in den wiedererscheinenden psychiatrischen Zeitschriften als auch zwischen Ärzten und Laien in der Einweisungsentscheidung im Gegensatz zur Kriegszeit ein viel 9 Zur Entscheidungsfindung und Durchführung von Zwangssterilisationen, vgl. detailliert, ebd., S. 143 ff. 10 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 9/152, HAB, Patientenakten Morija I. 11 Auf die Grenzen des Tolerierbaren und die Kriterien, die hierfür herangeführt wurden, geht das folgende Kapitel »Arbeit und Leistung« im Detail ein. Auch an die Einweisungen im Zusammenhang mit Gewalt, die in Kapitel II und III thematisiert wurden, ist dabei zu denken.

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verhandeltes Thema dar. Es ist daher ein ausgesprochen aussagekräftiges Ungleichgewicht hinsichtlich der Nutzung der Kliniken und Anstalten im Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit zu konstatieren. Zur Rolle des Psychiaters Über die Position des Psychiaters und theoretische Überlegungen zur Diagnostik und Diagnosequalifikation eröffnet sich die Möglichkeit, sich den Ärzten als an der Einweisungspraxis beteiligte Personen zu nähern. In Zeitschriftenartikeln reflektierten, erklärten und legitimierten sie ihr berufliches Selbstverständnis und thematisierten ihr Verhältnis zu ihren Patientinnen und Patienten. In den Bereich ärztlichen Handelns fällt es, Krankheiten zu erklären, zu lindern, zu bessern oder zu heilen, zu ordnen/klassifizieren und Prognosen abzugeben. Für die Psychiatrie als Feld ärztlichen Handelns und Wissens sind hierbei zwei Besonderheiten zu berücksichtigen. Zum einen wurden die teils enthusiastischen Hoffnungen des jungen Fachs auf Heilung mit dem Fortschreiten des 20. Jahrhunderts ad acta gelegt.12 Zum anderen, und aus der Sicht der Ärzte unmittelbar mit dem ersten Punkt verbunden, sind bis zum Untersuchungsraum der 1940er und 1950er Jahre für viele psychiatrische Erkrankungen keine Ursachen gefunden worden. Sie waren nicht gezielt und dauerhaft behandelbar, geschweige denn heilbar, weil es nicht möglich war, an der Ursache anzusetzen. Vor diesem Hintergrund blieben den Psychiatern nur die beiden Tätigkeitskomplexe Lindern/Bessern/Pflegen sowie das Klassifizieren und Beschreiben der Krankheitsbilder, die Nosologie. Das Tätigkeitsfeld Lindern/Bessern/Pflegen erfuhr während des Nationalsozialismus eine Pervertierung durch die Krankenmorde an Patientinnen und Patienten in den Anstalten.13 Da sich alle Praktiken zwischen Behandlung und Mord nach der Aufnahme abspielten, sind sie nicht Thema dieses Kapitels. Der andere verbliebene Bereich hingegen, die Nosologie, ist unmittelbar mit der Einweisungspraxis verknüpft. Die conditio sine qua non für den Anstaltseintritt, die Krankheitszuschreibung, wurde offiziell durch die ärztliche Diagnose legitimiert.14 Spätestens in der Klinik oder Anstalt erhielten die Betroffenen eine Diagnose. Meistens ging dem aber die Diagnose des einweisenden Arztes voraus, nicht selten auch mehrerer Ärzte, die eventuell aus unterschiedlichen Fachbereichen stammten. Die Diagnosen können als genuin ärztlicher Beitrag zur Einweisung gelesen werden. Die Einweisungsatteste hingegen spiegeln oft in größerem Maße als die Diagnosen eine Interaktion zwischen einweisendem Arzt und der Familie der Patientin oder des Patienten oder dem Arzt und dem kranken Menschen selbst wider. Hierfür sei an das Beispiel der Einweisungen Miranda L.s in die LHA Marburg im vorausgegangenen 12 Brink, S. 194. 13 Zu den Krankenmorden in den unterschiedlichen Phasen und den unterschiedlichen regio­na­ len Vorgehensweisen nach Beendigung der Aktion T4, vgl. z. B.: Süß, »Volkskörper«, S. 311 ff. 14 Damit wird jedoch nicht der weitreichenden These Szaszs gefolgt, die Institutionen kre­ ierten erst die Krankheiten. Szasz.

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Kapitel erinnert, bei der der einweisende Arzt die von der Familie genannten Gründe in dem Attest referierte.15 Im Folgenden wird zunächst danach gefragt, ob, wie und warum bzw. warum nicht sich die Diagnoseklassifikationen bei Einweisungen in psychiatrische Einrichtungen nach 1945 veränderten und diskutiert wurden. Hierbei stehen zuerst Krankheitsbezeichnungen und die in der Anstalt oder Klinik benutzten Dia­ gnosesysteme im Allgemeinen im Zentrum, um anschließend das Krankheitskonzept Schizophrenie16 genauer zu beleuchten. Nach der Analyse theoretischer Konzepte wird die Verhandlung von Diagnosen zwischen verschiedenen Ärzten in der Praxis thematisiert. Ziel ist es, die psychiatrische Diskussion um ein anwendbares Diagnosesystem nachzuzeichnen. Es geht dabei nicht darum, die jeweiligen Diagnosesysteme und -vorschläge im Detail darzulegen und inhaltlich zu analysieren oder zu bewerten. Vielmehr soll danach gefragt werden, wann und warum in der DDR und der Bundesrepublik Diagnoseklassifikationen zum Gegenstand von Diskussionen wurden und wie, ob und wozu ­lokale, nationale, »globale«, »sozialistische« oder »amerikanische« Positionen angeführt und bewertet wurden. Schließlich wird analysiert, wie sich Psychiater und Neurologen in der Diskussion über Diagnosesysteme in der praktischen Anwendung als­ Experten darstellten. Das Verhältnis von Arzt und Patientin und Patient In einem nächsten Schritt richtet sich der Fokus auf die Interaktion zwischen Arzt und Patientin oder Patient. Zuerst werden Anleitungen zum ersten Kontakt des Psychiaters mit der Patientin oder dem Patienten und Anweisungen zur Aufnahme der Anamnese in zeitgenössischen Lehrbüchern ausgewertet. Anschließend erfolgt anhand von Egodokumenten eine Rekonstruktion der Perspektive der Eingewiesenen und ihrer Verwandten. Hierbei geht es vor allem um Patientinnen und Patienten mit der psychiatrischen Diagnose Schizophrenie und der neurologischen Diagnose Multiple Sklerose. Da die theoretische Diskussion um Diagnostik und die Selbstverortung nur in Abgrenzung zur Neurologie verständlich wird, ist es sinnvoll, auch eine neurologische Diagnose heranzuziehen. Schizophrenie und MS bieten sich an, da sie drei wichtige Gemeinsamkeiten aufweisen. Beide Krankheitsbilder wurden diagnostisch 15 LHA Marburg, Patientenakte Sign. K12962F, Eintrag v. Dez. 1951, LWV Hessen, 16. 16 Schizophrenie wurde unterschiedlich definiert. Als eines ihrer Hauptmerkmale galt in unterschiedlichen Krankheitskonzeptionen das Fehlen einer zusammenhängenden Persönlichkeit, vgl.: Fabisch u. a., S.  26–32. Schizophrenie wurde nicht ausgewählt, weil angenommen wird, das Krankheitsbild und seine Veränderungen seien exemplarisch für alle psychiatrischen Diagnosen. Die nächsten beiden Kapitel werden im Gegenteil eher zeigen, dass Kontinuitäten und Brüche in Krankheitsbildern und in ihrer praktischen Anwendung deutlich von dem jeweiligen Krankheitsbild und seiner Bedeutung nicht nur innerhalb der Psychiatrie, sondern auch im politischen Diskurs abhingen. Die Diagnose Schizophrenie wird hier untersucht, weil sie eine häufige und besonders viel diskutierte Diagnose war, die in den Kernbereich des Faches Psychiatrie fiel.

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zuerst von Alterserkrankungen abgegrenzt, Schizophrenie von Alzheimer und MS von Parkinson. Als ihr wesentliches Merkmal galt daher, dass Symptome, die sonst bei älteren Menschen beobachtet wurde, bei jüngeren auftauchten und nicht zugeordnet werden konnten. Das Problem der Zuordnung blieb bestehen, denn für beide Diagnosen wurde bis in den Untersuchungszeitraum hinein weder eine Ursache noch eine Behandlungsmöglichkeit gefunden. Beide Erkrankungen galten in ihrem jeweiligen Fachgebiet zudem als häufig.17 Sie bieten sich daher an, um den Umgang von Ärzten und Laien mit »unsicherer« Diagnostik und geringen Behandlungsmöglichkeiten zu beleuchten.

1. Der Psychiater als Kenner: Diagnoseklassifikationen und das Krankheitsbild Schizophrenie in der NS-Zeit und der frühen Bundesrepublik 1.1 Der Würzburger Schlüssel als Diagnoseraster im »Dritten Reich« Politische und psychiatriegeschichtliche Zäsuren fallen nicht unbedingt zusammen. Benoît Majerus und Volker Hess fassen zu Periodisierungsfragen in der Psychiatriegeschichte zutreffend zusammen, dass: »political caesuras do not necessarily fit in with the ›landmarks‹ in scientific and medical development. To understand mental illness, its treatment and society’s contact with it, surely much more decisive developments, given their significance, are: the invention of psychoanalysis around 1900, the advent of biological psychiatry with the formation of neurosciences; the introduction of convulsive shock therapy and the development of new diagnostics in the 1920s and 1930s that produced graphs and images; the psychopharmacological ›revolution‹ in the mid1950s; and the de­institutionalization of psychiatry since the 1970s and 1980s.«18 Im Anschluss hieran ist festzustellen, dass sich die Anstalten durch die Krankenmorde und die »Aktion Brandt« im Zweiten Weltkrieg wesentlich veränderten, aber nicht die psychiatrische Diagnoseklassifikation. Die Anstalten operierten mit dem gleichen Diagnoseschlüssel wie zuvor, ohne dass dies Gegenstand größerer Diskussionen gewesen wäre. Dieses Kapitel rekapituliert daher lediglich knapp den Stand während der NS-Zeit und konzentriert sich dann auf die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen in der Nachkriegszeit. Durch die Frage nach Veränderungen in der Nachkriegszeit weist es trotzdem einen Bezug zur NS-Zeit auf. Im Folgenden wird im Detail ausgelotet, wo sich Kontinuitäten und Diskontinuitäten finden und wie diese im Spannungsfeld von unterschiedlichen Zäsuren in der Gesellschafts- und Medizingeschichte verortet und erklärt w ­ erden können. Es geht in zweifacher Weise um Klassifikation: zum einen 17 Vgl.: Murray; Bernet, Schizophrenie. 18 Hess u. Majerus, S. 142.

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um Diagnoseklassifikationen, zum anderen um praktische Diagnostik. Beides hing in der theoretischen Diskussion zusammen. Bis auf die Universitäts- und Nervenklinik Greifswald kodierten die untersuchten Anstalten ihre Diagnosen während des Zweiten Weltkrieges alle in Anlehnung an den sogenannten Würzburger Schlüssel.19 Diesen hatte zwischen 1930 und 1932 der Deutsche Verein für Psychiatrie entwickelt, getestet und dann zur allgemeinen Verwendung empfohlen.20 Zwar war dies keine verbindliche Vorgabe, allerdings handelte es sich zweifelsohne um das bestimmende Klassifikationsschema, das die herrschende Lehre widerspiegelte. Fiel die Verbreitung des Einteilungssystems seit 1933 auch mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft zusammen, handelte es sich dennoch um ein bereits zuvor entwickeltes System. Es verfügte über 21 Nummern.21 Die organischen Krankheitsbilder nahmen die Nummern eins bis 15 ein. In der größeren Zahl der somatischen Diagnosen spiegelt sich die Auffassung, es hierbei mit Zuständen mit Krankheitswert zu tun zu haben, also mit dem medizinischen Kerngebiet. Lediglich zwei Nummern, Nummer 16 und 17, waren für psychiatrische Grenzzustände reserviert. Die Unterscheidung zwischen als organisch gedeuteten Krankheitsbildern und anderen war grundlegend für das Verständnis psychiatrischer Erkrankungen: Unter »organisch« fielen alle Erkrankungen mit eindeutig lokalisierbarer Ursache, z. B. Folgeerscheinungen von Hirnhauterkrankungen, Vergiftungen oder Geschlechtskrankheiten. Ebenso zählten hierzu Krankheiten, bei denen eine somatische Ursache postuliert wurde, diese aber (in der Selbstbeschreibung des Fachs) »noch nicht« gefunden war. Hierbei handelte es sich um die sogenannten »endogenen« Psychosen, manisch-depressives Irresein (Nummer 15) und Schizophrenie (Nummer 14). Bei den organisch konzipierten Krankheiten, einschließlich der endogenen Psychosen, stand die Verlaufsform der Krankheit im Zentrum.22 Grundsätzlich hiervon unterschieden wurden »reaktive« Formen »nicht-normalen« Verhaltens. Auch diese waren zweigeteilt in »psychopathische Persönlichkeiten« (Nummer 16) und »abnormale Reaktionen« (Nummer 17). Diesen beiden wurde in der NS-Zeit und in der Nachkriegszeit meist kein Krankheitswert zugeschrieben. Sie zeichneten sich durch ihren »Inhalt«, nicht durch ihre »Form« aus. In seinem 1936 erschienenen Lehrbuch der Geisteskrankheiten beschrieb Oswald Bumke23 (1877–1950) diese grundlegende Unterscheidung in 19 In Greifswald begannen die Ärzte 1948 mit dem Schema zu arbeiten. Es finden sich keine Hinweise, wieso die Umstellung 1948 erfolgte. 20 Ehlerding, S.12. 21 Kolle, Psychiatrie, S. 376 f. 22 So unterschied schon Kraepelin zwischen MDI und Dementia Praecox/Schizophrenie anhand der schlechteren Prognose bei Dementia Praecox. Vgl.: Arenz, S. 14. 23 Oswald Bumke übernahm 1924 den Lehrstuhl Kraepelins in München. Zahlreiche der in dieser Arbeit analysierten Einweisungen nach Eglfing-Haar waren Weiterverweisungen aus der von ihm geleiteten Münchener Nervenklinik. Eine Kurzbiographie Bumkes findet sich, in: Klee, Personenlexikon, S. 84 f.

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der Psychiatrie. Zur »organischen Geisteskrankheit« fasste er zusammen: »Für alle diese Fälle ist also die Einstellung auf das Gehirn die einzig mögliche Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Arbeit.«24 Von »organisch« erkrankten Menschen unterschied er solche, »die uns, im guten oder im schlechten Sinn oder auch in beiden, ungewöhnlich erscheinen, die also genial, bedeutend, begabt oder, am anderen Ende der Reihe, gesellschaftswidrig und lebensuntüchtig sind. (…) Diese Fälle [bleiben, d. Vf.] mit der Gesundheit durch fließende Übergänge verbunden und gesetzmäßig enthalten sie neben den ungewöhnlichen stets eine Menge durchaus normaler Eigenschaften. Diese er­ erbten psychophysiologischen Anlagen nennen wir Psychopathien (…).«25

Während es daher möglich sei, sich als »normaler« Mensch auf Grund der »fließenden Übergänge« in »Psychopathen« hineinzuversetzen, ihr Gedanken­ inhalt also grundsätzlich nachvollziehbar sei, habe man bei organischen Geisteskrankheiten diese Möglichkeiten nicht; sie seien nicht über ihren Inhalt, sondern über ihre Verlaufsform beschreibbar.26 Psychotherapeutische Ansätze wurden des­wegen zum Beispiel für Schizophrenie als per se unmöglich betrachtet.27 Hier zeigt sich, dass die Einteilung und das Grundverständnis psychiatrischer Krankheiten direkt mit Prognosen und Behandlungsformen zusammenhing. Die Einteilung und das Krankheitsverständnis beruhten bei bekannten psy­ chiatrischen Erkrankungen lediglich auf dem Postulat, sie seien somatisch bedingt. So stellte Kurt Kolle28 (1898–1975) in seinem Lehrbuch fest, dass zwar etwa im Fall der Paralyse oder Hirnarteriosklerose die genauen körperlichen Grundlagen bekannt seien, dass aber »bei der überwiegenden Mehrzahl auch derjenigen seelischen Krankheiten, deren körperliche Bedingtheit unzweifelhaft ist, Ursache und Entstehungsbedingungen noch in völliges Dunkel gehüllt sind.«29 Hierzu gehörten auch die beiden Psychosen manisch-depressives Irresein (MDI) und Schizophrenie.30 Kolle meinte aber optimistisch, dass die Psychiatrie guter Hoffnung sein könne, in Zukunft ein vollwertiges medizinisches Fach zu werden.31 In diesem Vergleich zeigt sich der wunde Punkt im Selbstverständnis der Psychiatrie, nämlich ihre Einordnung in das Fach Medizin. Dies hing mit der ungewöhnlichen Entstehung der Psychiatrie als medizinischer Subdisziplin zusammen.32 Kolle erklärte in seinem Lehrbuch so auch weiter, 24 Bumke, S. 2. 25 Ebd., S. 2 f. 26 Ebd., S. 3. 27 Ebd. 28 Kurt Kolle war von 1952 an Leiter der Universitätsklinik für Psychiatrie in München, zuvor war er Professor in Frankfurt/M. Vgl.: Klee, Personenlexikon, S. 329. 29 Kolle, Psychiatrie, S. 372. 30 Ebd., S. 382. 31 Ebd., S. 380. 32 Siehe Kapitel I, sowie: Engstrom, Psychiatry, S. 24.

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dass »geisteswissenschaftliche«33 Erkenntnisweisen in der psychiatrischen Diagnostik denselben Stellenwert haben, wie z. B. die Chemie in der übrigen Medizin.34 Dabei betonte er allerdings, dass dies nur ein vorläufiger Status auf dem Weg zu einer somatischeren Psychiatrie sei.35 Die Einordnung der eigenen Profession im Zusammenhang mit ihrer praktischen Diagnosetätigkeit bietet die Möglichkeit, dem Selbstverständnis der Psychiater als praktizierenden Ärzten näher zu kommen. Dies lässt sich für die Nachkriegszeit detaillierter verfolgen, da in beiden Nachfolgestaaten Debatten um die Verwendung von Diagnosesystemen und die praktische Dia­ gnos­tik aufkamen. Während des Zweiten Weltkrieges waren Diagnoseklassifikationen dagegen kein Diskussionsthema. Es soll gezeigt werden, wie die Darstellung, Legitimierung und Kontextualisierung von Diagnoseklassifikationen mit Selbstbildern der Psychiater im Kontext ihres medizinischen Umfelds und der politisch-gesellschaftlichen Situation zusammenhingen.36 1.2 Praxis, Tradition, Lokalwissen: Die Diagnostik-Debatte in der Bundesrepublik In der Bundesrepublik wurde der Würzburger Schlüssel als Klassifikationssystem 1967 durch die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) abgelöst.37 Diskutiert und lokal modifiziert wurden Diagnoseklassifikationen jedoch bereits vorher. Zwischen dem Jahr 1947, in dem Der Nervenarzt das erste Mal seit 1943 wieder erschien, und 1963 erschienen fünf Artikel, deren alleiniges Thema ein umfassendes Diagnoseschema war. Einer von ihnen erschien 1948, zwei 1959 und zwei 1963. Es ist anzunehmen, dass die Häufung der Artikel ab 1959 kein Zufall ist, sondern indirekt mit einer ebenfalls 1959 an Fahrt aufnehmenden Diskussion um eine international einheitliche Klassifikation psychia­ trischer Krankheiten zusammenhing. 1959 verfasste der britische Psychiater Erwin Stengel (1902–1973) für das Expertengremium der WHO ein 60 Seiten langes Paper zur Classification of Mental Disorders, das im selben Jahr im Bulletin der Weltgesundheitsorganisation abgedruckt wurde.38 Die Kernforderung des Papers, in dem er zahlreiche nationale Klassifikationssysteme verglich  – unter vielen anderen auch den Würzburger Schlüssel –, war die Nutzung eines 33 »Geisteswissenschaftlich« bedeutete, dass nicht auf Messungen zurückgegriffen werden kann. 34 Kolle, Psychiatrie, S. 380. 35 Ebd. 36 Lorraine Daston und Peter Galison zeigen, wie eng Vorstellungen des wissenschaftlichen Selbst, wissenschaftliche Praxis und bestimmte Stile der Erzeugung wissenschaftlichen Wissens zusammenhängen. Vgl.: Daston u. Galison, S.8. 37 Ehlerding, S. 12. 38 Stengel, S. 601–663.

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einheitlichen internationalen Schemas. Keiner der vier danach im Nervenarzt erschienenen Artikel bezog sich allerdings hierauf. Es ist insofern lediglich eine Annahme, dass das Thema in der Bundesrepublik durch die internationale Diskussion aufkam.39 Eindeutig ist, dass sie, sollte dies der Fall gewesen sein, im Nervenarzt lediglich die Thematik aufbrachte, aber nicht zu einer breiten Rezeption oder Diskussion der Vorschläge Stengels oder der WHO führte. Die Probleme und Vorschläge in allen fünf Artikeln bewegten sich zwischen den beiden Eckpfeilern von lokalem und nationalem Wissen. Fünf Punkte verbinden die Beiträge und sind aufschlussreich für die Selbstund Fremdbeschreibung der Disziplinen Psychiatrie und Neurologie: die Bedeutung von lokalem Wissen, das Verhältnis von Neurologie und Psychiatrie, die Bedeutung der Praxis und des einzelnen Psychiaters für die Disziplin der Psychiatrie, die maßgebliche Rolle von Schizophrenie als Krankheitsbild für übergeordnete Diagnoseklassifikationen und die Frage nach dem Verhältnis von Tradition und Reform. Keiner der Autoren bezog sich auf internationale Diskussionen. Im Gegenteil: Vier der fünf Autoren gingen von einem in ihrer Klinik erprobten Diagnosesystem aus und schlugen dessen allgemeine Nutzung vor. Als exemplarisch erweist sich das Vorgehen von Richard Jung (1911–1986),40 einem bekannten Neurologen der Universitäts- und Nervenklinik Freiburg, der 1948 einen Vorschlag für ein »neurologisch-psychiatrisches Diagnoseschema« im Nervenarzt veröffentlichte.41 Anders als in der Psychiatrie, in der seit Beginn der 1930er Jahre der Würzburger Schlüssel genutzt wurde, verfügte die Neurologie auch während der 1950er Jahre über kein anerkanntes Diagnosesystem. Diesen Zustand bemängelte Jung und schlug vor, die in seiner Klinik bereits erprobte Ordnung allgemein zu verwenden.42 Er brachte zwei Hauptargumente an. Zuerst betonte er die bereits erprobte praktische Anwendbarkeit. Mit dieser Bewährung in der Praxis hatte auch der zweite Punkt zu tun, denn er schlug ein gemeinsames Diagnosesystem für psychiatrische und neurologische Erkrankungen vor, da sie auch gemeinsam in Psychiatrischen und Nervenkliniken oder in Heil- und Pflegeanstalten behandelt wurden und sich zum Teil überschnitten. Es handelte sich bei dem von ihm vorgeschlagenen Schema um eine er­weiterte Version des Würzburger Schlüssel, dem er die neurologischen Krankheiten durch neue Nummern (22 bis 50) hinzufügte.43 Neben Jungs Schema stammte ein weiterer Vorschlag für ein neues oder verändertes Diagnosesysteme von einem Neurologen. Werner Scheid (1909–1987), 39 Dies ließe sich z. B. durch eine Analyse von psychiatrischen Netzwerken in den 1950er und 1960er Jahren belegen, die den Rahmen dieser Studie bei weitem sprengen würde. 40 Richard Jung war u. a. der erste Präsident der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie, vgl.: Grüsser, S. 739–741. 41 Richard Jung, Ein neurologisch-psychiatrisches Diagnosenschema, in: Der Nervenarzt, 12 (1948), S.552–559. 42 Ebd., S. 552. 43 Ebd.

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Direktor der Universitäts- und Nervenklinik der Universität zu Köln, publizierte 1959 den Artikel Aufbau der Diagnose und Differentialdiagnose in der Neu­ro­ logie.44 Analog zu Jung stellte er die nosologische und diagnostische Schärfe und Verlässlichkeit der Neurologie in einem Negativabgleich mit der Psychiatrie heraus: »Die Psychiatrie ist heute noch einem Gebäudekomplex vergleichbar, der zwar zu einem Teil vollendet, mit wichtigen und durchaus zentral gelegenen Abschnitten aber erst im Rohbau erstellt, zugänglich nur über unsichtbare Treppen und lediglich vorläufig unterteilt. Überall dort, wo die Psychiatrie allein auf Grund psychopathologischer Kriterien Krankheitseinheiten umreißen muß, wird es verschiedene nosologische Systeme geben, von denen das eine ansprechender sein mag, klarer gegliedert oder in der alltäglichen Arbeit handlicher als das andere. […] Die Schwesterdisziplin der Psychiatrie, die Neurologie, ist in dieser Hinsicht fertiger. Ihre Diagnosen unterscheiden sich grundsätzlich in nichts etwa von denen der inneren Medizin, der die Neurologie ja auch unmittelbar entsprossen ist.«45

Die beiden Neurologen betonten damit die lokale Gebundenheit psychiatrischer Diagnoseeinteilungen und Diagnosepraktiken. Demnach hing die Dia­ gnosebezeichnung im Einweisungsprozess in der Psychiatrie mehr von der örtlichen Tradition ab als bei Aufnahmen in andere medizinische Einrichtungen. Die Probleme, ein Nosologiesschema in der Psychiatrie zu finden, führte Scheid darauf zurück, dass die Psychiatrie im Gegensatz zur Neurologie keine vollwertige, in seinen Worten »fertige« medizinische Subdisziplin sei. Ihre Diagnoseeinteilung sei angreifbar, weil bereits die zu sortierenden Krankheitseinheiten selbst umstritten seien. Psychopathologische Kriterien seien eben ein unscharf umrissener Notbehelf, um Krankheitsbilder zu konstruieren. Diesen Punkt führten sowohl Scheid als auch Jung detailliert aus. Jung schlug für sein eigenes Klassifikationssystem neurologischer Krankheitsbilder vor, die Einteilung nach ätiologischen Gesichtspunkten vorzunehmen, also entsprechend der Krankheitsursachen.46 Nur wenn dies nicht möglich sei, sollten zuerst topographische47 und dann symptomatologisch-deskriptive Punkte zur Gliederung herangezogen werden.48 Scheid äußerte sich differenzierter zu dieser Problematik und kam zu dem Schluss, dass eine Kombination ätiologischer und morphologi44 Werner Scheid, Diagnose, Aufbau der Diagnose und Differentialdiagnose in der Neurologie, in: Der Nervenarzt, 3 (1959), S. 97–110. 45 Ebd., S. 97 (Hervorhebungen im Original). 46 Richard Jung, Ein neurologisch-psychiatrisches Diagnosenschema, in: Der Nervenarzt, 12 (1948), S.552–559, S. 552. 47 Die Begriffe morphologisch und topografisch zielen auf die genaue Zuordnung im Körper ab. In Abgrenzung hierzu geht es bei der ätiologischen Ordnung um ein System entsprechend der Krankheitsursache und bei der symptomatologischen um eine solche nach den äußeren Anzeichen der Krankheit. 48 Richard Jung, Ein neurologisch-psychiatrisches Diagnosenschema, in: Der Nervenarzt, 12 (1948), S.552–559, S. 552.

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scher Elemente die am klarsten abgegrenzten und am besten zu handhabenden Krankheitsbilder schaffe.49 Für beide war die Ätiologie also ganz entscheidend und hierdurch grenzten sie neurologische von psychiatrischen Krankheitsbildern entsprechend der Möglichkeiten der Diagnoseklassifikationen der beiden Fächer voneinander ab. Denn für viele psychiatrische Krankheiten war umstritten oder völlig unbekannt, was ihre Ursachen seien. Dies traf zum Beispiel auf Schizophrenie oder Manisch-Depressives-Irresein zu. Scheid stellte in seiner Publikation heraus, dass es sich bei der Diagnoseproblematik nicht um ein theoretisches Problem handele, sondern um eines mit Konsequenzen für die psychiatrische Praxis im negativen Sinne und für die neurologische Praxis im positiven Sinne: »Mit einem Seitenblick auf unsere Schwesternwissenschaft, die Psychiatrie, läßt sich zu unserer Beruhigung feststellen, daß nicht nur allerorten gleich oder doch ähnlich klingende neurologische Diagnosen gestellt werden. Vielmehr wird darüber hinaus, abgesehen von verständlichen Irrtürmern, der Einzelfall grundsätzlich auch die gleiche diagnostische Beurteilung erfahren, wo immer neurologische Diagnostik beheimatet ist. Was ein Hirntumor ist oder eine Tabes,50 hängt nicht von der Einstellung des Diagnostikers ab.«51

Bereits die vorherige Erwähnung, dass Psychiater Krankheiten nach »deskriptiv-symptomatologischen Kriterien« ordneten,52 verweist auf die aus Sicht der Neurologen zu große Rolle der Person des Psychiaters im Diagnoseprozess. Dies wird erneut betont durch die Feststellung, in der Neurologie hänge die Diagnose eben nicht »von der Einstellung des Diagnostikers ab«. Gleichzeitig stellte Scheid heraus, dass die Diagnosen wegen dieser besonderen Rolle des Psychiaters oft sehr unterschiedlich ausfielen. Demnach war die oder der psychiatrische Patientin oder Patient bei der Aufnahmediagnose in besonderem Maße von einem einzelnen Arzt und der lokalen Tradition abhängig. Für die beiden Neurologen Scheid und Jung zeichneten sich wissenschaftlich fundierte Diagnosen dadurch aus, dass sie unabhängig von dem behandelnden Arzt überall gleich ausfielen. Damit bewegten sie sich innerhalb eines wissenschaftlichen Paradigmas, das sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatte und bei dem Objektivität unter Absehen von der Person als Leitmotiv fungierte.53 Die Verunglimpfung der Psychiatrie als nicht-somatische und inexakte, nicht medizinisch-naturwissenschaftlich arbeitende Disziplin kannten die Psychiater 49 Werner Scheid, Diagnose, Aufbau der Diagnose und Differentialdiagnose in der Neurologie, in: Der Nervenarzt, 3 (1959), S. 97–110, S. 97. 50 Tabes dorsalis ist eine Langzeitfolge von Syphiliserkrankungen. Es handelt sich um eine Schädigung des Rückenmarkes. Sie ist die Ursache für die in dieser Studie im Zusammenhang mit Geschlechtskrankheiten bereits erwähnte progressive Paralyse. 51 Ebd., S. 99. 52 Richard Jung, Ein neurologisch-psychiatrisches Diagnosenschema, in: Der Nervenarzt, 12 (1948), S.552–559, S. 552. 53 Daston u. Galison, S. 15.

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bereits aus den Jahrzehnten zuvor.54 In den im Nervenarzt publizierten Artikeln zeigt sich ein spezifischer Umgang mit diesen Vorwürfen, der sich dadurch auszeichnet, dass gar nicht versucht wurde, die Vorwürfe grundsätzlich auszuräumen. Stattdessen strichen die Autoren die Fähigkeit der Psychiater, mit dem Problem der fehlenden wissenschaftlichen Diagnosemöglichkeiten umzugehen, als deren besonderes Kapital heraus: 1959 wies der Direktor der UniversitätsNervenklinik Göttingen, Klaus Conrad (1905–1961), seines Zeichens Psychiater, in seinem Artikel Das Problem der ›nosologischen Einheit‹ in der Psychiatrie55 auf den Unterschied zwischen »Kennerschaft« und »Wissenschaft« hin.56 Er erklärte, dass Wissenschaft sich durch eine »gültige Ursachenlehre« auszeichne, Kennerschaft hingegen sei ein Vorstadium der Wissenschaft und in einem solchen befände sich die Psychiatrie.57 Als Vergleich führte Conrad die Mineralogie als Wissenschaft und die Kunstgeschichte als Kennerschaft an. In der Mineralogie könne jedes Objekt durch die Messung bestimmter Eigenschaften eindeutig einer Kategorie zugeteilt werden, in der Kunstgeschichte komme es eher auf die subjektive Betrachtungsweise an.58 Anders als die Artikel der beiden Neurologen würdigte dieser Beitrag den Ausgleich von wissenschaftlicher Ungenauigkeit jedoch als besondere Fähigkeit. Er beschrieb die psychiatrische Diagnostik als individuelle Leistung: »Lediglich aus dem Miteinander verschiedener Symptome, aus dem Hintereinander ihres Auftretens, aus Daten der individuellen und Familienanamnese, aus einer Fülle weiterer zusätzlicher Bestimmungsstücke bauen wir die Diagnose auf.«59 Wie auch die anderen beiden von Psychiatern verfassten Artikel, nutzte Conrad das Krankheitsbild der Schizophrenie exemplarisch, um seine Argumente zu verdeutlichen.60 Die Rolle des Psychiaters als Person und seines persönlichen Urteils wurde in vielen Artikeln zum Thema Schizophrenie erwähnt. Explizit mit dem Beitrag Conrads setzte sich im Jahr 1960 der Gießener Psychiater­ Richard Kraemer in einem Zur Diagnose der Schizophrenie betitelten Artikel auseinander.61 Kraemer stimmte Conrad in seiner Trennung zwischen Wissenschaft und Kennerschaft und der klaren Einordnung der Psychiatrie auf Seiten der Kennerschaft zu. Sein Artikel liest sich allerdings als Plädoyer gegen 54 Die Problematik, Krankheiten nicht so zuordnen und verstehen zu können, dass eine Heilung möglich gewesen wäre, führte bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu Diskussionen darum, was Psychiater eigentlich leisten konnten und wozu die Anstalten dienten, vgl. u. a.: Walter, S. 83. 55 K. Conrad, Das Problem der »nosologischen Einheit« in der Psychiatrie, in: Der Nervenarzt, 11 (1959), S. 488–494. 56 Ebd., S. 490 f. 57 Ebd., S. 490. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 491 ff.; die beiden anderen Artikel sind: K. W. Bash, Koordination psychiatrischer Ordnungsschemata, in: Der Nervenarzt, 8 (1963), S. 352–359; Achim Mechler, Degeneration und Endogenität, in: Der Nervenarzt, 5 (1963), S. 219–226. 61 Richard Kraemer, Zur Diagnose der Schizophrenie, in: Der Nervenarzt, 5 (1960), S. 203–207.

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das bei Conrad damit einhergehende Eingeständnis, es gäbe kein sicheres Kriterium zur Diagnose von Schizophrenie. Die auch von Conrad durchaus positiv herausgestellte Leistung der Kennerschaft durch den einzelnen Arzt interpretierte er noch weitgehender, nämlich als Garant für sichere Diagnostik im praktischen Einzelfall.62 Kraemer stellte fest, Diagnoseprobleme träten in der Praxis nicht auf und niemand werde bestreiten, »daß es nicht im allgemeinen ganz gut gelänge, Psychosen und Neurosen zu unterscheiden  – lediglich mit Kennerschaft. […] Das punctum saliens liegt wahrscheinlich in der Auffassung der Kennerschaft. Ist nicht die Wissenschaft aus ihr hervorgegangen?«63 Weiter argumentierte er, dass auch die Kennerschaft Kriterien habe, »die nicht zu verachten sind«.64 Um dies zu untermauern bezog er sich auf Karl Jaspers (1883–1969)65: »Jaspers sagte kürzlich in seinem Wiesbadener Vortrag, daß die biologische Erkenntnis keineswegs mit den naturwissenschaftlichen Methoden erschöpft sei. Der Weg der verstehenden Einsicht sei durchaus eine Möglichkeit, Sinngehalte zu erfassen.«66 Der Bezug auf Jaspers entsprach der herrschenden psychiatrischen Lehre der 1950er Jahre. Diese orientierte sich an Kurt Schneider (1887–1967)67, der wiederum stark auf Karl Jaspers68 rekurrierte.69 Im Folgenden führte Kraemer die Möglichkeit der verstehenden Einsicht für die Diagnostik schizophrener Erkrankungen aus. Im Zentrum stand dabei ein intuitives Erkennen der an Schizophrenie erkrankten Menschen, das als »Präcox-Gefühl«70 bezeichnet wurde: »Die Diagnose durch Kennerschaft ist diejenige durch Intuition – durch ein Gefühl, besser ein Gespür nahe verwandt. Daß auch die Grenzen der Intuition zur Wissenschaft fließende seien können, hat Petrilowitsch71 ausgeführt. Rümke72 spricht vom 62 Ebd., S. 204. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Zum Einfluss Jaspers’ und der Definition von Schizophrenie als die Krankheit, die nicht zu verstehen ist, vgl.: Arenz, S. 88. 66 Richard Kraemer, Zur Diagnose der Schizophrenie, in: Der Nervenarzt, 5 (1960), S. 203–207, S. 204. 67 Eine kurze Biographie Kurt Schneiders findet sich in: Schott u. Tölle, S. 150 ff. 68 Jaspers, Psychiater und Philosoph, führte die Unterscheidung ein, auf die auch Kraemer hier zurückgreift: Er unterschied zwischen »statischem« und »genetischem Verstehen«. »Statisches Verstehen« ist rein deskriptiv, »genetisches Verstehen« setzt ein Einfühlen voraus. Auch nach Jaspers ist die Unmöglichkeit genetischen Verstehens Merkmal bestimmter psychiatrischer Erkrankungen. Wahn ist für Jaspers ein somatisches, letztlich nicht erklärliches Phänomen. Vgl.: Kupke, S. 1–12. 69 Schott u. Tölle, S. 147. 70 Wie bereits erwähnt, firmierte die später unter Schizophrenie bekannte Krankheit zuerst unter dem Namen »dementia praecox«. In der Namensgebung spiegelt sich die »Abspaltung« von der Alterserkrankung »Alzheimer«. 71 Nikolaus Petrilowitsch (1924–1970) war ein an Jaspers orientierter Psychiater, der 1964 Professor in Mainz wurde. 72 Henricus Cornelius Rümke (1893–1967) war ein niederländischer Psychiater.

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Präcox-Gefühl und meint damit eine alte Erfahrung, die man jedoch mehr aus den Vorlesungen und von der Wachsaalpraxis kennt, weniger aus Lehrbüchern. Wissenschaftlich so etwas zu erwähnen, erschien vielleicht nicht ganz seriös. Aber die gläserne Wand, jenes merkwürdige, typische, bleibende Erlebnis des mangelnden Zuganges, der unüberbrückbaren Distanz, der Fremdartigkeit, kennt jeder Psychiater.«73

Die Diagnosetechnik der Intuition basierte laut Kraemer wesentlich darauf, dass sich an Schizophrenie erkrankte Menschen in einer ganz grundsätzlichen Weise von anderen Menschen unterschieden und ein »gesunder Mensch« sie daher unmittelbar als fremd ansehe. Das Verhältnis zwischen an Schizophrenie erkrankten oder anderen »geisteskranken«74 Menschen und Gesunden ist dieser Auffassung nach nicht durch zwischenmenschliche Beziehungen geprägt und unterschiedlich gestaltbar, sondern gerade durch eine Unmöglichkeit von Beziehung gekennzeichnet. Wie bereits zuvor angedeutet, bewegte sich Kraemer mit dieser Auffassung durchaus im psychiatrischen Mainstream. Der von Rümke eingeführte Begriff »Präcox-Gefühl« schloss an ältere Beschreibungen der Begegnung mit an Schizophrenie erkrankten Menschen an. Der gerade in der Nachkriegszeit sehr viel rezipierte Kurt Schneider sprach 1925 z. B. von einer »Atmosphäre«, die einen bei der Begegnung mit einer oder einem­ Schizophrenen »anwehe«.75 Die Fähigkeit, intuitiv die Diagnose Schizophrenie zu stellen, lernten Psy­ chia­ter nicht durch wissenschaftliche Lektüre oder aus Lehrbüchern. Kraemer beschrieb ein Lernen durch mündliche Weitergabe, in Vorlesungen und durch praktische Erfahrung in der Wachsaalpraxis. Der Lesart des Artikels folgend, handelt es sich hier um ein Phänomen, das mit dem durch Polanyi76 geprägten Begriff der »tacit knowledge« gefasst werden kann. Der Begriff wird hier – Harry Collins folgend – verwendet als »knowledge or abilities that can be passed between scientists by personal contact but cannot be, or have not been, set out or passed on in formulae, diagrams, or verbal descriptions and instructions for action«.77 Die Praxis und das tägliche Miteinander wurden als ausschlaggebend gewertet. Kraemer nutzte das »Präcox-Gefühl«, um den diagnostizierenden Psychiater in seiner Kennerschaft nicht nur dem Wissenschaftler ebenbürtig erscheinen zu lassen, sondern um die Psychiatrie im Vergleich mit »wissenschaftlicheren« Disziplinen, wie der Neurologie, als schwierigeres Gebiet zu stilisieren. Der erfolgreiche Psychiater setzte demnach nicht nur ­nachschlagbares 73 Richard Kraemer, Zur Diagnose der Schizophrenie, in: Der Nervenarzt, 5 (1960), S. 203–207, S. 205. 74 Diese Einstufung als intuitiv fremd gab es nicht nur bei Schizophrenie. Vergleichbar dem »Präcox-Gefühl« wurde z. B. auch über ein »Enuchie-Gefühl« gegenüber Epileptikern gesprochen. Auch Kraemer spricht hierüber, vgl.: Ebd. 75 Zu Kurt Schneider und zur Langlebigkeit dieses Konzeptes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vgl.: Moldzio, S. 161. 76 Polanyi. 77 Collins, S. 72.

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S­ pezialwissen um. Der Artikel stellte heraus, dass die Diagnosetätigkeit des Psychiaters von »Begabungen und Begnadungen« abhänge.78 Der einzelne Psy­ chiater als besonders begabte Persönlichkeit wurde ins Zentrum gerückt. Der Ursprung der Diagnosefähigkeit wurde nicht in erlernbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen, Methoden und Praktiken gesehen, sondern im Wesen des Arztes. Kraemer bedauert dementsprechend, dass das Bemühen um Verwissenschaftlichung zu einem Verlust an echten »Kennern« unter dem psychiatrischen Nachwuchs führe: »Der modernen Diagnostik fehlt gerade vielfach das Gewürz der Kennerschaft, sie ist gekennzeichnet durch einen Verlust an Selbstsicherheit und Selbstverläßlichkeit – die Kenner sind weniger geworden – und es besteht immer die Gefahr, daß ein solcher Verlust nicht zum Ausgleich aufruft, sondern sich zum Verzicht auswächst.«79 Die Stilisierung des Psychiaters als Kenner wird im Folgenden in vier Schritten in den zeithistorischen Kontext eingeordnet und interpretiert. Zuerst werden die beiden in der Mitte des 20.  Jahrhunderts geläufigen Konzepte wissenschaftlicher Selbstdarstellung und Erkenntnisgewinnung kurz vorgestellt: »wissenschaftliche Objektivität« und das »geschulte Urteil«. Anschließend wird argumentiert, dass die Darstellung als Kenner nicht allein durch den wissenschaftlichen Stand der Psychiatrie erklärt werden kann, die den Status der Wissenschaftlichkeit noch nicht erreicht hatte. Darauf aufbauend wird gezeigt, dass »Kennerschaft« zwar Gemeinsamkeiten mit dem Konzept des »geschulten Urteils« aufweist, aber in wesentlichen Punkten abweicht. Schließlich wird nach der Funktion dieser spezifischen Darstellung einer medizinischen Subdisziplin im Zusammenhang ihrer Position und Aufgabe in der Gesellschaft gefragt. Lorraine Daston stellt in ihrem Artikel On Scientific Observation heraus, dass die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler als Person und ihre oder seine Intuition bei der Erkenntnisgewinnung in der Wissenschaft immer eine Rolle spiele. Ob Intuition aber eine positive Bedeutungszuschreibung innerhalb des eigenen Fachs und der wissenschaftlichen Community erhält bzw. überhaupt thematisiert wird, hängt von Langzeitkonjunkturen ab. Während ihr in der Frühen Neuzeit noch große Bedeutung zugeschrieben wurde, veränderte sich dies mit der Einführung von Messverfahren zusehends. Als Ideal der Objektivität galt seit Mitte des 19. Jahrhunderts, dass Wissenschaft möglichst los­gelöst von individuellen Eigenschaften sein sollte.80 In der von Daston gemeinsam mit Peter Galison verfassten Monographie Objektivität wird herausgearbeitet, 78 Richard Kraemer, Zur Diagnose der Schizophrenie, in: Der Nervenarzt, 5 (1960), S. 203–207, S. 205. 79 Ebd., S. 204. 80 Daston, S. 98. Ein praktisches Beispiel hierfür wäre das Fiebermessen mit geeichten Messinstrumenten, vgl.: Hess, Ökonomie, S. 222–243.

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dass das Leitbild der Objektivität ab der Mitte des 20. Jahrhunderts von dem des geschulten Urteils abgelöst wurde, ohne dieses jedoch zu verdrängen.81 Das geschulte Urteil ist charakterisiert durch die »Notwendigkeit, wissenschaftlich mit erfahrenen und geübten Augen zu sehen« und stellt damit eine unabdingbare Ergänzung zu mechanischen Verfahren dar.82 Mit der Betonung der Kennerschaft ordneten Conrad und Kraemer die Psychiatrie als vorwissenschaftlich ein, da keine objektiven Verfahren gewährleistet seien. Es verhält sich  – anders als die beiden Artikel suggerieren  – jedoch nicht so, dass Objektivierung und Messung in der Psychiatrie seit ihrer Professionalisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts keine Rolle gespielt hätten. Allerdings lösten sie nicht-objektivierbares Erfahrungswissen nicht ab. Eric Engstrom stellt heraus, dass psychiatrisches Wissen in Anstalten und in den deutlich später entstandenen Kliniken auf Beobachtung zurückgeht, allerdings auf unterschiedliche Arten von Beobachtung. Er beschreibt das psychia­ trische Wissen des 19.  Jahrhunderts als »essentially empirical, experiential, and asylum-based.«83 Die Universitätskliniken legitimierten ihre Beobachtungen, anders als die Anstalten es bisher getan hatten, durch die Übernahme von­ Methoden aus der Somatik. Insbesondere Kraepelin führte psychisch-physische Messungen ein, die durch Quantifizierung und Visualisierung naturwissenschaftliche Exaktheit suggerierten.84 Es war für die Psychiatrie als Profession von großer Bedeutung ihre Vertreter als Experten für die Feststellung und­ Zuordnung von »Geisteskrankheiten« zu etablieren, da auch die Einrichtung von Universitätsklinken nicht dazu geführt hatte, dass Ursachen und Heilungsmöglichkeiten gefunden worden wären. Ihre Expertise in der Zuschreibung und Klassifikation war im Kaiserreich zur Begutachtung von Unzurechnungsfähigkeit und vor allem auch für das neue Sozialversicherungswesen unabdingbar.85 Wie anhaltende Streitigkeiten über die Ausbildung von Psychiatern in Universitätskliniken und/oder in Anstalten zeigen, blieb aber zugleich das Erfahrungswissen aus den Anstalten wichtig.86 Auch in den 1930er Jahren gab es noch einmal eine Phase der Technisierung, in der z. B. die Schocktherapie eingeführt wurde.87 In der Psychiatrie fanden sich also durchaus verschiedene Vorgehensweisen, die teils bekennendermaßen intuitiv waren, teils nach Objektivität strebten. Trotzdem reagierten die Psychiater in den 1950er Jahren auf den regelmäßigen 81 Daston u. Galison, S. 15. 82 Ebd., S. 329. 83 Engstrom, Psychiatry, S. 88. 84 »Psycho-physical experiments were designed to measure psychological reaction times to external stimuli, as well as various mental functions and capacities such as memory, decision making, attention span, etc.« Zitiert nach: Ebd., S. 131. 85 Ebd., S. 12. 86 Ebd., S. 48 ff. 87 Hess u. Majerus, S. 142.

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Vorwurf, keine exakte Wissenschaft zu sein, nicht mit dem Verweis auf Messungen, Quantifizierungen oder technische Behandlungsmethoden. Stattdessen stilisierten sie sich als »Kenner« im Gegensatz zu Wissenschaftlern.88 Durch einen kurzen Blick auf die Neurologie kann die Interpretation gestützt werden, dass es sich bei der Stilisierung als Kenner nicht um den einzig gangbaren Weg im Umgang mit unsicheren Diagnosen handelte. In den Artikeln der Neurologen herrschte eine gänzlich andere Selbstdarstellung vor. Dies liegt nicht etwa daran, dass, wie in den eingangs zitierten Artikeln Jungs und Scheids behauptet, die Neurologie keine Diagnoseprobleme kannte und überall gleich diagnostiziert worden wäre. In der Tat ist es so, dass im Nervenarzt fast in jeder Ausgabe ein, manchmal auch mehrere Artikel zu Trigeminus­ neuralgie89 oder Multipler Sklerose veröffentlicht wurden. Die Flut der Artikel­ erklärt sich daraus, dass für beide neurologischen Phänomene weder eine Ursache noch eine erfolgreiche Behandlungsmethode gefunden werden konnte. Beide galten als schwer zu diagnostizieren. Die Ausgangssituation wies in Psychiatrie und Neurologie also durchaus gewisse Ähnlichkeiten auf, wenn es in der Neurologie auch weniger »unsichere« Krankheitseinheiten gab. Signifikant für das Selbstverständnisses der beiden Disziplinen ist, dass Neurologen und Psychiater einen gänzlich unterschiedlichen Umgang mit der diagnostischen Unsicherheit pflegten. Während Psychiater in ihren Artikeln im Nerven­ arzt das Fehlen wissenschaftlicher Diagnosemethoden bei vielen Krankheitsbildern nicht nur zugaben, sondern als erfolgreich genommene Hürde des Fachs darstellten, spielten die viel diskutierten Beschwerden Trigeminusneuralgie und MS in den allgemeinen Überlegungen der Neurologen zur Diagnostik keine Rolle. Die langjährige Diagnosesuche bei MS etwa wurde in keinem der allgemeineren neurologischen Artikel thematisiert. Die Neurologie stellte sich als medizinische Wissenschaft dar, die sich nicht von anderen Naturwissenschaften unterschied.90 Bei der Kennerschaft der Psychiater handelte es sich  – dem Narrativ der Artikel folgend – jedoch nicht im eigentlichen Sinne um ein geschultes, sondern eher um ein gefühls- und charakterbasiertes Urteil. In dem Artikel Kraemers spielt Erfahrung, wie er explizit herausstrich, gar keine Rolle. Er betonte: »Erfahrung ist nur begrenzt erforderlich und gibt in der Regel nicht viel dazu. Es gibt keine merkliche Entwicklung. Das Gefühl entsteht jedes Mal neu und mit der gleichen Wucht. Der jüngste Assistent und der älteste Chef unterliegen ihm 88 In den meisten Artikeln im Nervenarzt wurde dies nicht in der Ausführlichkeit getan, wie Kraemer es bei seiner Beschreibung des »Präcox-Gefühls« machte. Jedoch wurde Kennerschaft regelmäßig positiv hervorgehoben. 89 Trigeminusneuralgie bezeichnet einen äußerst unangenehmen Gesichtsschmerz, dessen Ursache bis heute unbekannt ist. 90 Z. B.: Werner Scheid, Diagnose, Aufbau der Diagnose und Differentialdiagnose in der Neurologie, in: Der Nervenarzt, 3 (1959), S. 97–110, S. 97.

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gleichermaßen. Es gibt keine Anpassung. Es ist ein Faktum.«91 Damit wird auf ein im 19. Jahrhundert noch sehr viel weiter verbreitetes Selbstverständnis rekurriert, nach dem der Charakter des Psychiaters auch in der Behandlung eine ausschlaggebende Rolle spielte. Der Zugang zu den Kranken gelang nach dieser alten Vorstellung über das Einfühlen in den Kranken. Das psychische und emotionale Erleben des Menschen wurde als von einem »inneren Kern« geregelt imaginiert. Gerade die Stärke dieses »inneren Kerns« der Anstaltsleiter erlaube ihnen, die Kranken gleichsam zu erziehen.92 Es ist klar ersichtlich, dass es sich bei Kraemers Intuition nicht um dasselbe Konstrukt handelt. Denn während die Charakterfestigkeit des Anstaltsleiters es ihm im 19. Jahrhundert ermöglichte, sich in die Kranken hineinzufühlen, wird gerade dieses Hineinfühlen auf Grund der behaupteten »Wesensfremdheit« schizophrener Patienten unmöglich.93 Eben diese Unmöglichkeit des Hineinfühlens verhelfe zur Diagnose. Gemeinsames Drittes beider Konstrukte ist jedoch die Persönlichkeit des Psychiaters. In der Selbstdarstellung als Experten kann also eine lange Kontinuität festgestellt werden. Bestimmte argumentative Versatzstücke der 1940er und 1950er Jahre ähnelten strukturell tradierten Selbstvorstellungen aus dem vorangegangenen Jahrhundert, wurden allerdings mit einer ganz anderen Stoßrichtung genutzt. Große gesellschaftsgeschichtliche Zäsuren tragen wenig zur Erklärung der Veränderung dieser Stoßrichtung bei. Wichtiger sind Krankheitskonzeptionen und ihre gesellschaftliche Einordnung, die über diese Zäsuren hinweg von Belang blieben. Hier ist zuerst an die Vorstellung von »Geisteskrankheiten« als »Gehirnkrankheiten« nach Griesinger und dann für die Schizophrenie an Kraepelins Konzeption der Dementia Praecox als endogene Psychose zu denken. Zwar ging Griesinger von der sogenannten Einheitspsychose aus, während Kraepelin zwischen verschiedenen Psychosen differenzierte, jedoch nahmen sie beide eine bleibende somatische Veränderung an und unterschieden sich damit deutlich von den vorherigen Konzeptionen.94 Psychosen galten nun als somatische, nicht als seelische Zustände, in die ein Einfühlen möglich wäre. Daneben etablierte sich die Vorstellung einer »degenerierten Unterschicht« und der Begriff der »Psychopathie«. »Psychopathien« galten zwar als nachvollziehbar, ein Hineinfühlen war jedoch nicht mehr angebracht, seit in der Psychiatrie des ausgehenden 19. Jahrhunderts die »Unterschicht« mehr und mehr als Gefahr gedacht wurde.95 »Psychopathien« wurden mit der Etablierung der Rentenneurose in den 1920er Jahren nur noch als zu korrigierendes F ­ ehlverhalten 91 Richard Kraemer, Zur Diagnose der Schizophrenie, in: Der Nervenarzt, 5 (1960), S. 203–207, S. 205. 92 Kaufmann, Aufklärung, S. 101 ff. 93 Vgl. zur Unmöglichkeit sich in endogene Psychosen hineinzuversetzen z. B. auch: Bumke, S. 3. 94 Zu Griesinger und seiner Bedeutung für die Psychiatrie, vgl.: Engstrom, Psychiatry, S. 51 u. 60 f. 95 Roelcke, Etablierung, S. 119; Ayaß, »Asoziale«, S. 13.

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i­ nterpretiert.96 Statt Verstehen sollten hier eindeutige Grenzen aufgezeigt werden, um die Patientin oder den Patienten von ihren oder seinen falschen »Begehrvorstellungen« zu heilen. In somatische Krankheiten konnte man sich dementsprechend nicht einfühlen, in die psychiatrischen Grenzzustände der »Psychopathien« war ein Einfühlen zwar möglich, aber nicht gewünscht. Wie lässt sich aber erklären, dass die Psychiatrie der 1950er Jahre den Weg der Stilisierung von Kennerschaft als Strategie gegen Vorwürfe mangelnder naturwissenschaftlicher Exaktheit wählte? Der offensive Umgang mit den in der Tat vorhandenen Diagnoseproblemen wird durch das Zusammenspiel mehrerer Faktoren verständlich. Die Psychiatrie konnte strukturell an das seit i­hrer Gründungsphase etablierte Muster der Selbstdarstellung anknüpfen, indem sie Charakter und Begabung betonte. Zugleich entsprach diese Selbstdarstellung auch ihrer Funktion in der Gesellschaft. Es handelt sich nicht um die verzweifelte Strategie einer sich noch in der Gründungsphase befindlichen Fachrichtung. Wie skizziert, konnte die Psychiatrie mittlerweile eine umfassende Deutungshoheit für größere gesellschaftliche »Probleme« beanspruchen. Schließlich wurde die Diagnostik der Psychiater nicht grundsätzlich angezweifelt. Sie bildete die akzeptierte Grundlage für kostenintensive stationäre Aufenthalte, Rentenbewilligungen oder zur Feststellung von Unzurechnungsfähigkeit. Wie der weitere Verlauf des Kapitels zeigen wird, rekurrierten Psychiater zudem bei der konkreten Diagnoselegitimation in der Praxis durchaus auch auf­ Praktiken, die im Gegensatz zu der Legitimation als »Kenner« typisch für das Paradigma wissenschaftlicher Objektivität waren. Insofern ist anzunehmen, dass die auf Intuition basierende Praxis als spezifisches Kapital der Psychiatrie verstanden wurde. Bei »Kennerschaft« handelte es sich um eine Fähigkeit, die zumindest in Ansätzen auch den Laien zugeschrieben wurde. Hier kommt der Unterschied zum »geschulten Urteil« zur Geltung. Während für letzteres spezifisches Erfahrungswissen und Training notwendig ist – ohne damit die Ebene der Intuition auszuschalten –, basierte das Zuordnen von psychiatrischen Abweichungen in seinen Grundzügen auf einer letztlich jedem »gesunden« Menschen möglichen gefühlsbasierten Beurteilung.97 Kennerschaft bildete somit eine gemeinsame Basis für die Zuschreibung von »Geisteskrankheiten« und Anstaltsaufenthalten durch Psychiater und Laien. Diese Selbstdarstellung harmonierte mit der Tatsache, dass die Kliniken und Anstalten oftmals von Einweisungsentscheidungen aus dem sozialen Vorfeld der Patientin oder des Patienten abhängig waren. Die bereits mehrfach herausgestrichene große Rolle der Verwandten der Ein­ 96 Neuner, S. 71 ff. 97 Die Tatsache, dass Kennerschaft eben nicht ausschließlich etablierten Experten zuzusprechen ist, wird für die Frühe Neuzeit, in der Kennerschaft eine verbreitetere Rolle spielte, von Emma C. Spary am Beispiel der Expertise im Bereich Lebensmittel herausgestellt. Spary, S. 37.

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gewiesenen im »Dritten Reich«, in der Bundesrepublik und der DDR zeigt, dass Einweisungen nicht ohne ein Mindestmaß an geteilter Einschätzung von Laien und ärztlichen Experten möglich waren.98 Diese war angesichts der vielen unterschiedlichen Schulen zur Deutung der Ursachen diverser psychiatrischer Erkrankungen umso dringender notwendig. Die Kennerschaft stellte so einen gemeinsamen Bezugspunkt dar, einen Anker in der Gesellschaft. Die Konstruktion der Kennerschaft, die im Kern auch Laien besäßen, entsprach Vorstellungen von Gemeinschaft, die in Kontinuität zur NS-Zeit standen.99 Kennerschaft fungierte als Inklusions- und Exklusionsmittel und zur Identifizierung »des Fremden« in der Gemeinschaft. Im Falle des »Präcox-« oder »Enuchie-Gefühls« wurde eine Gemeinschaft von Gesunden imaginiert, deren Mitglieder über die Fähigkeit verfügten nicht-gesunde »Schizophrene« oder »Epileptiker« zu erkennen. Es handelte sich also um eine grundsätzliche Unterscheidung, die entsprechend dieser Vorstellung jeder sozialen Differenzierung vorgelagert war. Sie wies damit Parallelen zur organisch konzipierten Vorstellung der »Volksgemeinschaft« als »natürlicher« Gemeinschaft auf.100 Die Selbstdeutung als Kenner passt in ein von Ulrich Herbert gezeichnetes Bild der 1950er Jahre, in dem er die Kritik an der »Unterordnung des großen Einzelnen unter die Masse, unter das Diktat von Bürokratie, Rationalisierung und Zivi­lisation« als zentrales Moment herausstellt.101 Die Kennerschaft als intuitive Einzelleistung jenseits rational begründbarer oder auch nur beschreibbarer Vorgehensweise entspricht diesem Bild. Wie bereits im Kapitel Gefahr und Sicherheit gezeigt, spielten in der Einweisungspraxis im Zweiten Weltkrieg soziale Differenzierung sowie geschlechtsspezifische Zuschreibungen jedoch eine wichtige Rolle. Gleiches wird in diesem Kapitel im Unterkapitel Arzt und Patientin und Patient auch für die Nachkriegszeit gezeigt. Das Sprechen von der intuitiven »Kennerschaft« hatte hier eine doppelte Funktion: Sie verdeckte die nicht-medizinischen Aspekte in der Zuschreibung von Geisteskrankheit, indem auch medizinischen Laien die Fähigkeit zu gesprochen wird, »Geisteskrankheit« zu spüren. Zugleich ermöglichte sie in der Praxis jedoch auch die Verhandlung nicht-medizinischer Aspekte, wie sie an der Schwelle zur Anstalt regelmäßig vorkam. Denn diese Art der professionellen Krankheitszuschreibung legitimierte eine starke Rolle des einzelnen Psychiaters, der nicht unter dem Rechtfertigungszwang einer objektivierten disziplinären Wissensordnung stand und so auf sehr unterschiedliche gender-, 98 Spary streicht ebenfalls heraus, dass Experten Interesse daran haben konnten, bestimmte »Wissensbestände« mit ihrer »Zielgruppe« gemeinsam zu haben, ohne dass dies bedeuten würde, dass die Experten nicht zuvorderst ihre eigenen Interessen im Sinn hatten. Ebd., S. 41. 99 Zum Unterschied von Vorstellungen von »Vergemeinschaftung« und »Vergesellschaft­ lichung«, vgl.: Weber, Wirtschaft, S. 21 ff. 100 Bajohr u. Wildt, S. 11. 101 Herbert, Liberalisierung, S. 23.

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schicht- und kontextspezifische Anliegen von Laien eingehen konnte. Die Frage der Rechtfertigung unterschiedlicher Diagnosen, wird im nächsten Unterkapitel näher behandelt. Neben dem Anschluss an tradierte Selbstvorstellungen und an die Funktion in der Praxis verlieh der offensive Umgang mit Diagnoseschwierigkeiten der Psychiatrie auch einen singulären Status. Die Fähigkeit mit wissenschaftlich nicht komplett fassbaren Erkrankungen umzugehen und sie zu klassifizieren, war eine die Psychiatrie von anderen medizinischen Subdisziplinen unterscheidende Qualität. Die Einordnung des nicht »objektiv« Zuordbaren war eine durch die Psychiatrie erfolgreich besetzte Nische in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts, das sich durch Verwissenschaftlichung im Sinne objektiv nachvollziehbarer und sinnbringender Ordnung auszeichnete.102 Die Argumentationsstrategie funktionierte gerade vor dem Hintergrund, dass Objektivität als wissenschaftliches Paradigma akzeptiert war. Nur so konnte Kennerschaft als eine außergewöhnliche Fähigkeit stilisiert werden. Hierbei ist aber gleichzeitig zu bedenken, dass die Betonung des intuitiven Urteils nicht völlig aus dem Rahmen fiel. Die wissenschaftliche Selbstdarstellung als Experten, die objektive Verfahren um ein geschultes Urteil ergänzten, wurde Mitte des 20.  Jahrhunderts immer geläufiger. Zwar handelte es sich bei der Kennerschaft nicht in jeder Auslegung um ein geschultes, auf Erfahrung basierendes Urteil, allerdings betonte sie immer – und hier ist eine Gemeinsamkeit mit dem geschulten Urteil und ein grundlegender Unterschied zum Paradigma der »Objektivität« zu sehen –, dass die einzelne Person von ausschlaggebender Bedeutung sei.103 Die Selbstdarstellung als Kenner schloss an ältere Formen des psychiatrischen Selbstverständnisses an. Im Folgenden werden Kontinuitäten oder Wandel detaillierter untersucht, indem Schizophrenie als einzelnes Krankheitsbild genauer beleuchtet wird. 1.3 Kontinuitäten und Brüche bei Schizophrenie-Diagnosen in der Bundesrepublik Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete keinen Wendepunkt für die Diskussionen zum Krankheitsbild Schizophrenie. In den 1950er Jahren orientierte sich die Debatte um die Krankheitsursachen an den Grundvoraussetzungen, die schon in den 1940er Jahren galten. Vorherrschend war die Annahme, bei Schizophrenie handele es sich um eine somatische Erkrankung, die vererbbar sei. Innerhalb dieses Settings gab es unterschiedliche Meinungen dazu, welche Formen der Schizophrenie mit welcher Wahrscheinlichkeit vererbt würden.104 102 Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft, S. 284. 103 Vgl. hierzu in diesem Kapitel das Unterkapitel »Diagnosepraxis in der Bundesrepublik und der DDR«. 104 Vgl.: Karl Kleist, Die paranoiden Schizophrenien, in: Der Nervenarzt, 11 (1947), S.481–493.

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Während in den 1940er Jahren die Hypothese diskutiert und geprüft wurde, bei Schizophrenie handele es sich um eine Stoffwechselerkrankung, stand dies in den späten 1950ern nicht mehr zur Diskussion. Die Konjunkturen der somatischen Erklärungsansätze beeinflussten die Themen, zu denen Psychiater forschten und veröffentlichten. So wurden z. B. auf Grundlage der Stoffwechselhypothese Liquoruntersuchungen bei Schizophrenen vorgenommen105 und deren Ergebnisse im Nervenarzt publiziert.106 Entsprechend der Grundannahme, Schizophrenie sei eine organische Erkrankung, wurden Erfolge von somatischen Behandlungsmethoden publiziert und diskutiert. Zuvorderst wäre hier die Schockbehandlung zu nennen.107 In der Debatte um die Ursachen gab es also einen kontinuierlichen Wandel, der im Wesentlichen mit medizinisch-technischen Neuerungen zusammenhing und in dem sich der Untergang des »Dritten Reichs« erst einmal nicht spiegelte. Dies entspricht der eingangs zitierten Feststellung von Hess und Majerus, dass Periodisierungsfragen in der Psychiatriegeschichte nicht unbedingt deckungsgleich mit denen der Gesellschaftsgeschichte liegen.108 Die Artikel zum Thema Schizophrenie veränderten sich in der Tat maßgeblich erst ab Mitte der 1950er Jahre im direkten Zusammenhang mit der Einführung von Psychopharmaka. Psychopharmaka wurden aber nicht einfach als neue Behandlungsmethode vorgestellt, diskutiert und bewertet, sondern trugen zu einer Neupositionierung der Eckpfeiler bei, die die Diskussionsbandbreite absteckten. Changierte die Diskussion um Klassifikationssysteme bis dahin zwischen lokal erprobten Systemen und dem Anspruch, in der Bundesrepublik ein einheitliches psychia­ trisches und neurologisches System zu nutzen, bezogen sich die Autoren in den Artikeln zu Schizophrenie seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre auch auf amerikanische Forschungspositionen, die zu Beginn der 1950er Jahre, meist ablehnend behandelt wurden.109 Die Haltung der Psychiatrie entsprach somit einer distanzierten bis ablehnenden Haltung gegenüber den USA, die für die 1950er Jahre insgesamt als typisch herausgearbeitet worden ist.110 In den 1950er Jahren gab es in den USA eine Strömung, deren Vertreter Schizophrenie psychoanalytisch als durch die familiären Umstände bedingte Erkran­ 105 Liquor dient u. a. dem Stoffwechsel des zentralen Nervensystems. 106 Z. B.: Friedrich Duensing, Die Absorption der Liquorultrafiltrate Schizophrener im ultravioletten Licht, in: Der Nervenarzt, 6 (1947), S. 277. 107 Z. B.: Hans Runge, Zur Prognose der Schizophrenie. (Nachuntersuchung schockbehandelter Psychosen), in: Der Nervenarzt, 4 (1942), S. 151–157. 108 Hess u. Majerus, S. 142. 109 Typisch war etwa die Darstellung in Walter von Baeyers (1904–1987) Artikel von 1950, in dem er zahlreiche Unterschiede zwischen »Europa« (und hier ist Westeuropa gemeint) und »Amerika« hervorhob, de facto aber nur Beispiele aus der deutschen Psychiatrie anbrachte. Wie im Folgenden noch gezeigt wird, existierten jedoch größere Unterschiede z. B. zwischen deutscher, schweizerischer und englischer Psychiatrie. Walter v. Baeyer, Gegenwärtige Psychiatrie in den Vereinigten Staaten, in: Der Nervenarzt, 1 (1950), S. 2–9. 110 Schildt, Abendland.

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kung interpretierten. Diese ging maßgeblich auf den Psychiater Adolf Meyer (1866–1950) und den Psychoanalytiker Harry Stack Sullivan (1892–1949)111 zurück. Meyer zog biologische und psychologische Momente zur Erklärung heran und betonte die Bedeutung des Lebenslaufes schizophrener Patientinnen und Patienten. Zusammenfassend deutete er die Erkrankung als Flucht aus dem Alltagsleben, mit dem die spätere Patientin oder der Patient nicht mehr zurechtkam.112 Angeregt davon, fasste Sullivan Schizophrenie als interpersonelles Geschehen auf. Deswegen rückte für ihn die Familie der Patientin oder des Patienten in den Mittelpunkt des Interesses. Für die Einweisungspraxis, in die meist die Familie involviert war, ist es von Bedeutung, ob und in welcher Weise die Psychiater die Familie mit der Erkrankung und dem Krankheitsverlauf in Zusammenhang brachten. In direkter Verbindung mit den psychoanalytischen Erklärungen stand in Nordamerika, aber auch in der Schweiz, die Anwendung der Psychotherapie zur Behandlung von Schizophrenie.113 Die deutschen Psychiater lehnten die Sichtweisen Meyers und Sullivans mehrheitlich rigoros ab. Dies entsprach auch der institutionellen Trennung von Psychiatrie und Psychologie in den 1950er Jahren.114 Die Nutzung von Psychotherapie als Behandlungsform wurde aber zum Teil  in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre vor dem Hintergrund der weiterhin bestehenden Annahme, Schizophrenie sei eine somatische Erkrankung, fruchtbar gemacht. Das hing ganz wesentlich mit der Behandlungsmöglichkeit durch Psychopharmaka zusammen. Die Autoren der zunehmenden Zahl von Beiträgen über die Verab­ reichung von Psychopharmaka bei Schizophrenie wiesen auch immer wieder darauf hin, dass durch die Einnahme der Medikamente psychotherapeutische Ansätze möglich würden.115 Dank der neuen Medikamente war es nicht nötig, die Prämissen amerikanischer Psychoanalytiker zu teilen, um die Methode der Psychotherapie bei Schizophrenen anwenden zu können. Auch die weitergehenden psychoanalytischen Sichtweisen der amerikani­ schen Psychiatrie wurden rezipiert. Nach dem Zweiten internationalen Kongress für Psychiatrie in Zürich 1957, der sich mit dem Schwerpunktthema Schizophrenie beschäftigte, häuften sich Artikel hierzu im Nervenarzt. Wie bereits erwähnt, erklärten alle Artikel im Nervenarzt die Schwierigkeiten der psychiatri111 Sullivan hatte beträchtlichen Einfluss auf die US-amerikanische Psychiatrie und Psychologie. Sein Hauptwerk zur Interpersonalen Theorie, das 1953 in den USA erschien, wurde aber erst 1980 ins Deutsche übersetzt. Ausführlich zu Sullivan und seiner Rezeption, vgl.: Conci. 112 Gilman, S. 469. 113 Ebd. 114 Bekannte Psychiater, wie Kurt Schneider oder Kurt Kolle, deren Lehrbücher in dieser Studie auch als Quellen genutzt werden, kämpften noch in den 1960er Jahren vehement gegen die Anerkennung von Psychotherapie in den Statuten der Krankenversicherungen.­ Roelcke, Psychotherapy, S. 486 f. 115 Dies ist z. B. in folgendem Artikel das Hauptergebnis der dort vorgestellten Forschungen: W. Loch, Zur Behandlung fortgeschrittener Schizophrenien mit Megaphen und Reserpin, in: Der Nervenarzt, 10 (1956), S.463–467, S. 466.

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schen Diagnostik und Nosologie am Beispiel der Schizophrenie. Dabei handelte es sich um keinen spezifisch deutschen Trend. Manfred Bleuler ­(1903–1994), der Sohn des für seine Forschungen zur Schizophrenie bekannten Eugen B ­ leuler (1857–1939),116 begann sein Referat zur Eröffnung des Zweiten internationalen Kongresses für Psychiatrie mit der Feststellung, es herrsche große Uneinigkeit: »Unser Kongreß ist aber nicht nur ein Wagnis wegen der Schwierigkeit und der Bedeutung der zu bearbeitenden Problematik an sich. Er ist es noch mehr, weil das Wesen der Schizophrenie gerade heute umstrittener ist als je. Von jedem einzelnen Forscher wird es heute anders beurteilt.«117 Streitpunkte seien die Ursache und die Behandlung von Schizophrenie.118 Während die Suche nach einem geeigneten Klassifikationssystem sich im Nervenarzt bis 1963 nicht auf internationale Debatten bezog  – die internationale Klassifikation wurde erst 1967 eingeführt –, verhielt sich dies in einigen Artikeln zu Schizophrenie anders. In der Mehrzahl der Artikel fanden solche Positionen jedoch keine Erwähnung. Es herrschte die Vorstellung vor, ein Mensch werde als schizophren veranlagt geboren, soziale Faktoren fanden keine Erwähnung – weder als Auslöser noch als Ursache.119 Weitgehend akzeptiert war die grundlegende Unterscheidung zwischen endogenen und reaktiven Psychosen. Die meisten westdeutschen Psychiater folgten hier Kurt Schneider (1887–1967).120 Die Psychosearten unterschieden sich demnach darin, dass endogene Psychosen durch ihre Form und »Psychopathien« durch ihren Inhalt bestimmt seien. Das bedeutete bei endogenen Psychosen – und unter diese fiel die Schizophrenie unbestritten  –, dass der Verlauf der Krankheit ausschlaggebend war.121 Somatisch bedingte Psychosen waren nach­ Schneider, der hier Jaspers folgte, nicht verstehbar. Die in den USA verbreiteten Ansätze Meyers und Sullivans liefen demnach der Grunddoktrin des herrschenden westdeutschen Schizophrenieverständnisses und der Grundeinteilung psychiatrischer Auffälligkeiten zuwider. Psychotherapie in Kombination mit Psychopharmaka anzuwenden, rüttelte hingegen nicht an diesen Grundfesten, da sie hier einen ganz anderen Sinn und Stellenwert hatte als etwa bei Sullivan.122 116 Zu Eugen Bleulers Einfluss auf die Vorstellung von Schizophrenie, vgl.: Bernet, Schizophrenie. 117 M. Bleuler, Die Problematik der Schizophrenien als Arbeitsprogramm des II. Internationalen Kongreßes für Psychiatrie, in: Der Nervenarzt, 12 (1957), S.529–533, S. 529. 118 Ebd. 119 Dies entspricht dem Stand der Lehrbücher der NS-Zeit, vgl. z. B.: Bumke, S. 533. 120 International konnte sich Kurt Schneider in der Nachkriegszeit nicht durchsetzen, sein Werk wurde aber ab 1980 bei der Aktualisierung des amerikanischen Diagnosehandbuchs Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) einflussreich. Schott u. Tölle, S. 155. 121 Vgl. Kurt Schneider, Kritik der klinisch-typologischen Psychopathenbetrachtung, in: Der Nervenarzt, 6 (1948), S. 6–9, S. 7. 122 Psychotherapie wurde auf diesem Wege theoretisch vertretbar. Dies sagt jedoch nichts über die tatsächliche Anwendung in den 1950er Jahren aus. Zur Etablierung der Psychotherapie, vgl.: Roelcke, Psychotherapy.

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Äußerst vereinzelt war die amerikanische Forschung zwischen 1961 und 1963 aber auch über Psychopharmaka und Psychotherapie hinaus Thema im Nerven­ arzt. Lutz Rosenkötter ging z. B. so weit, Schizophrenie nicht als somatische Krankheit, sondern als Entwicklungskrankheit zu beschreiben. Dies ist insofern nicht überraschend, als dass Rosenkötter selbst Psychoanalytiker war. Um dies überzeugend darzulegen, bezog er sich nicht nur auf bekannte amerikanische Psychiater und Psychoanalytiker, sondern zudem auf die Stressforschungen des Kanadiers Hans Selye (1907–1982).123 Damit brachte er psychische und somatische Symptome zusammen, drehte aber die in der Bundesrepublik üb­ licherweise angenommene Kausalität um. Er schrieb: »Seit Selyes Arbeiten über das Adaptionssyndrom wissen wir, daß es sich hierbei durchaus um somatische Reaktionen auf psychischen Stress handeln kann und nicht umgekehrt die Psychose Folge einer Somatose sein muß.«124 Hier ist kurz zu bemerken, dass auch Selyes Stressforschungen in Deutschland nur wenig rezipiert wurden.125 Rosenkötter lenkte in seinem Artikel den Blick auf die Familien der Patientinnen und Patienten und zwar anders als dies üblicherweise der Fall war. Gemeinhin waren Familien aus erbbiologischen Gründen oder als Leidtragende ein Thema – bei Rosenkötter ging es um dysfunktionale Familien im direkten Zusammenhang mit der Krankheit eines Familienmitgliedes.126 Ein anderer Artikel lobte die amerikanische Forschung offensiv; der Autor, Helm ­Stierlin (geboren 1926), lebte und praktizierte seit 1957 aber selbst in den USA.127 Neben diesen Artikeln erschienen im Nervenarzt noch einige andere Beiträge, die Schizophrenie stärker familienbedingt erklärten und für die die Psychotherapie daher auch nicht nur im Zusammenhang mit Psychopharmaka eine Rolle spielte. Die Autoren dieser Beiträge kamen aus der Schweiz,128 wo die Forschung zur Schizophrenie stark durch Eugen Bleuler geprägt war, der einen sozialpsychologischen Erklärungsansatz vertrat und daher auch für psychologische Behandlungsmethoden eintrat.129 Der Nervenarzt bot also durchaus Raum für Diskussionen unterschiedlicher internationaler Forschungsergebnisse, aller­dings nutzen deutsche Psychiater diesen Raum nicht. 123 Lutz Rosenkötter, Zur Psychodynamik der Schizophrenie. Amerikanische Auffassungen zur Entstehung der Schizophrenie, in: Der Nervenarzt, 10 (1961), S. 467–470, S. 467. 124 Ebd. 125 Nach Kury ist die fehlende Rezeption der Stressforschung Selye’s auf drei Faktoren zurückzuführen: nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Deutschland Prioritäten in der Medizin v. a. auf Seuchenbekämpfung gelegt, statt Stress wurde die »Managerkrankheit« wichtig und die Endokrinologie, auf der Selyes Forschungen beruhten, war im Nachkriegsdeutschland durch die Emigration während des Nationalsozialismus geschwächt. Vgl. Kury, S. 109. 126 Lutz Rosenkötter, Zur Psychodynamik der Schizophrenie. Amerikanische Auffassungen zur Entstehung der Schizophrenie, in: Der Nervenarzt, 10 (1961), S. 467–470, S. 468. 127 Helm Stierlin, Familie und Schizophrenie, in: Der Nervenarzt, 11 (1963), S.495–500. 128 Vgl. z. B.: F. Meerwein, Klinisches und psychotherapeutisches Anliegen im Spiegel der diagnostischen Frage, in: Der Nervenarzt, 5 (1960), S. 207 f. 129 Bernet, Schizophrenie, S. 12.

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Zusammenfassend kann in der frühen Bundesrepublik Transfer in unterschiedlichen Formen konstatiert werden: amerikanische und schweizerische Konzepte wurden im Nervenarzt publiziert, die westdeutschen Psychiater gingen in ihren Publikationen allerdings kaum darauf ein. Manche inkorporierten lediglich die Psychotherapie als Behandlungsmethode unter Beibehaltung der somatischen Grundposition.130 Auch die mangelnde Thematisierung sozialpsychologischer Erklärungsansätze und Behandlungsmethoden kann als Abgrenzung gelesen werden, als negatives Transferphänomen. Auf Grund des Schwerpunktthemas Schizophrenie auf dem Zweiten internationalen Kongress für Psychiatrie ist davon auszugehen, dass die Forschungspositionen allgemein bekannt waren. Das Einbinden der Psychotherapie als Behandlungsform im Zuge der Verabreichung von Psychopharmaka ist allerdings ein Aneignungsprozess und Transferphänomen par excellence, da sich hier die pragmatische Einflechtung ausgewählter Wissensbestände in die westdeutsche Psychiatrie zeigt. Die Behandlung mit Psychopharmaka fungierte hier geradezu als Katalysator. Ohne den Umweg über die Medikamente wäre die Öffnung für eine psychotherapeutische Behandlung ohne Revision der Grundprämisse einer somatischen Ursache deutlich schwieriger gewesen. Die Art des Transfers variierte, wenn die Artikel über Diagnoseklassifikationen und über das Krankheitsbild Schizophrenie vergleichend betrachtet werden. Während es im Bereich Schizophrenie die gerade aufgezählten grenzübergreifenden Themen gab, wurden internationale Klassifikationsversuche zumindest im Nervenarzt nicht diskutiert. Psychiatrisches Wissen changierte je nach spezifischem Themenfeld und Diskussionszusammenhang also zwischen lokalen, nationalen und internationalen (meist amerikanischen, aber auch englischen und französischen) Diskursen. Für beide Themenbereiche ist zu konstatieren, dass die Praxis und das Selbstverständnis des Psychiaters von außergewöhnlicher Bedeutung waren. Hierzu gehörte auch die Darstellung der Psychiatrie als Kennerschaft. Der Vergleich mit der Neurologie hat gezeigt, dass diese Argumentation nicht allein durch faktische Diagnoseschwierigkeiten und nicht auf eine Ursache zurückführbare Erkrankungen erklärt werden kann, sondern als gut funktionierende Strategie der Psychiater zu verstehen ist, sich als Experten für das zu stilisieren, was sich eben nicht mit Sicherheit »wissenschaftlich« einordnen ließ.

130 Die Thematisierung psychoanalytischer und psychotherapeutischer Konzepte im Nerven­ arzt entspricht der ursprünglichen Ausrichtung der Zeitschrift. Bei ihrer Gründung 1928 wurde ausdrücklich intendiert, solche Themen gemeinsam mit neurologischen und psy­ chia­trischen zu publizieren. Roelcke, Psychotherapy, S. 475. Zu Psychotherapie, ihrer Anerkennung und Anwendung in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich«, vgl.: Cocks; Zeller.

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2. Zwischen Tradition, Pavlov und WHO: Vielfältige Diagnoseklassifikationen und das Krankheitsbild Schizophrenie in der DDR 2.1 Ärztliche Stellungnahmen zu Diagnoserastern Diagnosesysteme und Schizophrenie waren in den 1950er und frühen 1960er Jahren auch in der DDR ein viel behandeltes Thema. Die Debatten hierzu wiesen durchaus einige Gemeinsamkeiten und Verflechtungen mit der Bundes­ republik auf, unterschieden sich jedoch insgesamt durch eine größere Spannbreite der diskutierten Standpunkte und durch stärkere Veränderung. Bereits die Ausgangssituation unterschied sich von der in der Bundesrepublik. In allen in dieser Studie untersuchten westdeutschen Einrichtungen erfolgten die Diagnosen zumindest in Anlehnung an die Kodierung des Würzburger Schlüssels. Demgegenüber verwendeten die Ärzte in Greifswald, Rodewisch und Großschweidnitz etwa ab 1952 eine zu diesem Zeitpunkt vom Ministerium für Gesundheitswesen eingeführte Kodierung.131 Hierbei handelte es sich allerdings nicht um eine dezidierte Neuordnung psychiatrischer und neurologischer Erkrankungen, sondern um eine Nummerierung von Krankheitsbildern aller medizinischen Disziplinen mit mehr als 300 Ziffern. In Rodewisch und Greifswald vollzog sich der Wechsel zu der neuen Kodierung relativ kurz nach ihrer Einführung. Zwischen 1952 und 1954 wurden beide Verschlüsselungen nebeneinander angewandt. Etwa ab 1954 sind keine Kodierungen entsprechend dem Würzburger Schlüssel mehr zu finden. Dies war jedoch aus Sicht der Ärzte keine zufriedenstellende Lösung, da psychiatrische und neurologische Erkrankungen in dem neuen System unsystematisch neben anderen Krankheiten aufgeführt waren.132 Angestoßen wurde eine Debatte um ein Diagnosesystem für psychia­trische und neurologische Krankheiten in der DDR jedoch erst durch inter­nationale Diskussionen. Wie in der Bundesrepublik gewann die Diskussion der Diagnoseklassifikationen in der DDR seit 1959 an Dichte. Anders als dort nahmen ostdeutsche Psychiater explizit Bezug auf das Paper Classification of Mental Disorders von Stengel für die WHO und ab 1960 wurden Diagnosesysteme nicht nur in psychiatrischen Zeitschriften diskutiert. Das Ministerium für Gesundheitswesen, Abt. Organisation des Gesundheitsschutzes, Psychiatrie schickte eine Anfrage an die Kliniken, um in Erfahrung zu bringen, welches Diagnosesystem sie als sinnvoll erachteten. Die entsprechenden Schemata und Publikationen lagen den

131 Es handelt sich um das Verzeichnis der Krankheiten und Todesursachen für Zwecke der Medizinalstatistik. Vgl.: PsychN Greifswald, Schreiben an MfG v. 16.8.1960, BAB, DQ 1/22109, Bl. 1. 132 Ebd.

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Anfragen bei.133 Zur Diskussion standen der Würzbürger Schlüssel, der Vorschlag Stengels für die WHO, das sowjetische System Giljarowskis, das US-amerikanische DSM und verschiedene lokal genutzte Systeme.134 Der Chefarzt der Nervenklinik des Krankenhauses in Karl-Marx-Stadt, Dr. Steinkopff, stellte der Stellungnahme seiner Klinik die sehr zutreffende Einschätzung voraus, dass im Falle der Psychiatrie nur schwer eine internationale Einigung gefunden werden könne, da es schon unmöglich sei, von »nationaler Psychiatrie« zu sprechen: Es handele sich immer um »regionale Psychiatrie«.135 Steinkopff machte sich für den Würzburger Schlüssel von 1931 stark. Er argumentierte, die Einteilung von 1931 entsprechend den Gesichtspunkten »organisch«, »endogen« und »reaktiv«, trage »natürlich die Merkmale einer speziellen Wissenschaftsgeschichte und ist deshalb nicht ganz voraussetzungsfrei. Die Vorteile seiner Brauchbarkeit scheinen aber doch zu überwiegen.«136 Die Anwendung des Schemas von 1931 bedurfte anders als in der Bundesrepublik einer Erklärung. Die Begründung deckte sich dann jedoch mit einem über die Grenze hinweg als schlagkräftig geltenden Argument, nämlich mit der guten Anwendbarkeit in der Praxis. Hinsichtlich der Frage, wie stark Bundesrepublik und DDR gegen Ende der 1950er Jahre noch einen gemeinsamen Wissensraum bildeten, ist es von Relevanz, dass in der Klinik in Karl-Marx-Stadt eine im Nervenarzt vorgestellte Modifikation des Würzburger Schlüssels benutzt wurde.137 Steinkopff verwies in seinen Ausführungen mehrfach auf den Nervenarzt. In Karl-Marx-Stadt wurde das hier bereits erwähnte Diagnoseschema Jungs genutzt, der die psychiatrische Klassifikation um neurologische Krankheiten ergänzt hatte. Neben diesem Beitrag nannte Steinkopff noch einen zweiten Aufsatz im Nervenarzt, nämlich den im Kontext der Diagnoseklassifikation bereits erwähnten138 Artikel Scheids.139 Dieser hatte auch die gute praktische Anwendbarkeit des alten Schemas heraus­gehoben. Wie Jung und Scheid im Nervenarzt, stellte der Arzt aus Karl-Marx-Stadt heraus, dass es für die Praxis unbedingt nötig sei, eine 133 Neurologisch-Psychiatrische Klinik Karl-Marx-Universität Leipzig, Schreiben an MfG v. 21.11.1960, BAB, DQ 1/22109, Bl. 1. 134 Die im Folgenden analysierten Antworten stammen entweder aus den drei hier untersuchten Einrichtungen oder aus den Kliniken und Krankenhäusern, die in Sachsen nach Großschweidnitz weiterverwiesen. Großschweidnitz selbst hatte auf die Anfrage nicht geantwortet. 135 Krankenhaus Dresdner Strasse, Schreiben an MfG v. 31.8.1960, BAB, DQ 1/22109, Bl. 2. 136 Ebd., Bl. 3. 137 Ebd., Bl. 3 f. 138 Die Veröffentlichungen im Nervenarzt sind die beiden bereits erwähnten Artikel, die hier der Übersicht halber erneut genannt werden: Richard Jung, Ein neurologisch-psychia­ trisches Diagnoseschema, in: Der Nervenarzt, 12 (1948), S.552–559; Werner Scheid, Diagnose, Aufbau der Diagnose und Differentialdiagnose in der Neurologie, in: Der Nervenarzt, 3 (1959), S. 97–110. 139 Krankenhaus Dresdner Strasse, Schreiben an MfG v. 31.8.1960, BAB, DQ 1/22109, Bl. 3.

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Klassifikation zu nutzen, welche psychiatrische und neurologische Krankheitsbilder in einem System verortete. Er schrieb weiter: »Für unseren eigenen Bedarf haben wir weitere kleine Einschiebungen vorgenommen«.140 Bei den Einschiebungen ging es u. a. um »bestimmte flüchtige Erkrankungen schizophrenen Geprägs, die ohne greifbaren Defekt bleiben«.141 Diese wurden als »episodische Psychosen« ein­geordnet.142 Hier zeigt sich, wie ein lokales Diagnosesystem aus Westdeutschland, das mit dem Anspruch, es allgemein anzuwenden, in einer psychiatrischen Zeitschrift veröffentlicht wurde, in einer Klinik in Ostdeutschland aufgegriffen und den lokalen Krankheitsinterpretationen entsprechend angepasst wurde. Das führt eindrücklich vor Augen, in welchem Maß die westdeutsche Psychiatrie und ihre Publikationen für die Praxis in der DDR relevant blieben und welch hohen Stellenwert lokales Wissen hatte. Der erste Bezugspunkt für viele Psychiater war ihre Klinik oder Anstalt; wenn sie für die Praxis relevante Konzepte suchten, vertrauten sie,  – sofern sie sich nicht unmittelbar auf die eigene Erfahrung beriefen –, auf die praktische Erfahrung in anderen Einrichtungen. Dieser Punkt wird in allen Antworten auf die Anfrage des Ministeriums für ­Gesundheitswesen deutlich. Patientinnen und Patienten und ihre Familien konnten also je nach aufnehmender Einrichtung mit unterschiedlichen Krankheitszuordnungen konfrontiert werden. Dasselbe gilt für Ärzte untereinander, wenn Patientinnen und Patienten bei vorherigen Einweisungen in anderen Anstalten oder Kliniken waren. Es handelte sich hier nicht nur um eine pragmatische Anpassung an den Klinikalltag, sondern in der Abteilung Steinkopffs darüber hinaus um eine spezifische Schwerpunktsetzung und Einordnung von Krankheiten. Bestimmte schizophrene Krankheitsbilder wurden im Zuge der Anpassung des von Jung im Nervenarzt vorgeschlagenen Systems an das Krankenhaus in Karl-Marx-Stadt anders zugeordnet, weil sie nicht zu langfristigen Folgeerscheinungen führten. Damit wurde die Prognose als ausschlaggebend gesehen. Dies war keineswegs neu,143 allerdings nur eine von verschiedenen Möglichkeiten, der in diesem Fall eine solche Bedeutung beigemessen wurde, dass für sie in Karl-Marx-Stadt ein eigener Ordnungspunkt im Dia­gnose­schema eingeführt wurde.144 Ähnlich, wie in der Bundesrepublik und wie auch auf dem Zweiten internationalen Kongresses für Psychiatrie von M. Bleuler betont, erwies sich erneut die Schizophrenie als besonders schwer einzuordnen. Steinkopff las also den in der Bundesrepublik veröffentlichten Nervenarzt und setze dessen Anregungen in seiner Klinik um. Dies verdeutlicht einmal mehr, dass es in den 1950er Jahren einen starken Austausch zwischen beiden 140 Ebd., Bl. 3 f. 141 Ebd., Bl. 4. 142 Ebd. 143 Im Gegenteil: So unterschied schon Kraepelin zwischen MDI und Dementia Praecox/­ Schizophrenie anhand der schlechteren Prognose bei Dementia Praecox. Vgl.: Arenz, S. 14. 144 Krankenhaus Dresdner Strasse, Schreiben an MfG v. 31.8.1960, BAB, DQ 1/22109, Bl. 3.

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deutschen Staaten im medizinischen Bereich gab.145 Verblüffender erscheint, dass der Chefarzt der Nervenklinik Karl-Marx-Stadt die Nutzung seines Klassifikationsschemas in einem Brief an das Ministerium für Gesundheitswesen der DDR durch Verweise auf die in Westdeutschland erscheinende Zeitschrift legitimierte. Dies zeigt die starke Position, die die Ärzteschaft in der frühen DDR einnahm.146 Sabine Hanraths Befund, dass die Psychiater in der DDR im Gegensatz zur Bundesrepublik ihren Einfluss in der Zwangseinweisung gesetzlich sichern konnten,147 weist in dieselbe Richtung. In seiner Antwort an das Ministerium für Gesundheitswesen ging S­ teinkopff jeweils kurz auf das sowjetische und amerikanische Schema ein. Gegen das sowjetische Schema wendete er in erster Linie ein, dass eine Unterteilung der Krankheitsursachen zwischen Anlage und Umwelt fehle und damit in der Praxis nicht gearbeitet werden könne.148 Dieser nur in einem Satz dargelegte Punkt traf gleichwohl ins Herz des sowjetischen Verständnisses der Psychiatrie: Die in der deutschen Tradition so wichtige Unterscheidung zwischen Anlage und Umwelt gab es in Giljarowskis sowjetischen System nicht. Da infolge der »Diktatur des Cortex«149 alle psychiatrischen Erkrankungen zu Störungen des höheren Nervensystems erklärt wurden, wurde die Unterteilung hinfällig.­ Pavlov schrieb die in der sowjetischen Medizin zentralen »bedingten Reflexe« der Großhirnrinde zu, der cortex cerebri. Die »bedingten Reflexe« ermöglichten in seinem lamarckschen Weltbild eine unbedingte Anpassung der Organe an die Umwelt;150 somit verknüpfte er physiologische Vorgänge und äußere Lebensbedingungen unmittelbar miteinander.151 Die Großhirnrinde galt als zentral für das Verhalten des Menschen in seiner Umwelt. Diese Lehre wurde auf der Pavlov-Tagung 1952 zur allein gültigen erklärt, in der sowjetischen Medizin begann damit die sogenannte »Diktatur des Cortex«.152 Das amerikanische Schema hielt Steinkopff für zu feingliedrig und daher nicht anwendbar.153 Die Kritik an dem sowjetischen Klassifikationssystem war also substanzieller als die am amerikanischen. Die Antwort der neurologisch-psychiatrischen Klinik der Karl-Marx-Universität Leipzig auf die Anfrage des Ministeriums für Gesundheitswesen fiel anders aus. Sie unterschied sich bereits im Vorgehen von der aus Karl-Marx-Stadt. Vor Beantwortung hatte die Klinik mehrere Psychiater befragt, sieben hatten sich positiv gegenüber dem sowjetischen System geäußert, vier gegenüber dem 145 Vgl. hierzu: Ernst, S. 333. 146 Ebd. 147 Hanrath, S. 366. 148 Krankenhaus Dresdner Strasse, Schreiben an MfG v. 31.8.1960, BAB, DQ 1/22109, Bl. 4. 149 Rüting, S. 279. 150 Ebd., S. 123. 151 Ebd., S. 114. 152 Ebd., S. 279. 153 Krankenhaus Dresdner Strasse, Schreiben an MfG v. 31.8.1960, BAB, DQ 1/22109, Bl. 4.

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der Weltgesundheitsorganisation und einer zu dem amerikanischen System.154 Anschließend schrieb der leitende Direktor, Prof. Müller-Hegemann, er habe die Anfrage so verstanden, dass alle sich möglichst der Klassifikation der WHO anpassen sollten. Dies fand er sinnvoll, um mehr internationale Einheitlichkeit zu gewährleisten. Er argumentierte: »Erst wenn sich die WHO-Klassifikation als ganz ungeeignet erweisen sollte, bliebe zu erörtern, ob eine der anderen vorgelegten besser herangezogen werden könnte. Erst wenn dies nicht aussichtsreich sein sollte, bliebe zu diskutieren, ob wir zur alten deutschen Klassifikation von 1931 zurückkehren oder eine neue entwickeln müssten.«155 In seiner Klinik sei man daher zu dem Schluss gekommen, das WHO-Schema sei durchaus geeignet, wenn es in einzelnen Punkten angepasst werde. Danach stellte er ohne Überleitung fest, keinesfalls nutzbar sei das amerikanische Ordnungssystem, es werde »im Grundriss als falsch« erachtet, da es grundlegend zwischen organischen und psychogenen auslösenden Faktoren unterscheide.156 Der psychosoziale Erklärungsansatz wurde im sowjetischen Ansatz genauso abgelehnt wie in der Bundesrepublik. In beiden Fällen widersprach er der Grundprämisse, psychiatrische Erkrankungen seien somatische Erkrankungen157; auch wenn die Vorstellungen in der UDSSR und der Bundesrepublik darüber, wie genau dies zu verstehen sei, weit auseinanderlagen. Bei aller Verschiedenheit lehnten beide psychosoziale Faktoren in der Ätiologie von Krankheiten ab. Als Auslöser spielten diese in der sozialistischen Lesart aber eine maßgebliche Rolle. Einen dritten Standpunkt vertrat der Direktor der Universitäts- und Nervenklinik Greifswald, Hanns Schwarz. Eine internationale Einigung erschien ihm »fast unmöglich«.158 In diesem Kontext führte er an, dass im Fach Psychiatrie immer »ideologische Fragen durchschimmern«.159 Schwarz sprach sich gegen das amerikanische System aus und am ehesten für das sowjetische.160 Er schloss damit, dass seine Klinik versuchen werde, sich dem WHO-System anzuschließen, er aber der Meinung sei, es werde eigentlich eine eigene Klassifikation »für Deutschland« benötigt.161 Die Antworten verdeutlichen in ihrer Verschiedenheit die Breite des Meinungsspektrums. Keineswegs sahen sich die Leiter der Kliniken etwa genötigt, das sowjetische System Giljarowskis zu favorisieren oder in ihren Begründungen auch nur positiv darzustellen. In einigen Antworten nehmen die Ärzte an, 154 Neurologisch-Psychiatrische Klinik Karl-Marx-Universität Leipzig, Schreiben an MfG v. 21.11.1960, BAB, DQ 1/22109, Bl. 1. 155 Ebd, Bl. 2 156 Ebd. 157 Sowohl die Vorstellung, psychiatrische Erkrankungen hätten mit Fehlfunktionen des­ Cortex zu tun, als auch die in der Bundesrepublik dominierende Auffassung, sie seien endogen, einte das Postulat einer körperlichen Ursache. 158 PsychN Greifswald, Schreiben an MfG v. 16.8.1960, BAB, DQ 1/22109, Bl. 2. 159 Ebd. 160 Ebd., Bl. 2 u. 3. 161 Ebd., Bl. 3.

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das Ministerium für Gesundheitswesen lege ihnen nahe, das System der WHO einzuführen.162 Jedes der verschiedenen Klassifikationsmodelle wurde in einem der hier analysierten Antwortschreiben mindestens einmal favorisiert – außer das amerikanische. Dabei ist zwar keine besondere Bevorzugung des sowjetischen Systems zu erkennen, aber eine häufig deutlich artikulierte Ablehnung des amerikanischen Vorgehens. Ähnlich wie in der Bundesrepublik sind auch hier Transferphänomene durch Abgrenzung zu konstatieren. Ob die Psychia­ ter sich überhaupt mit dem amerikanischen Modell auseinandergesetzt hätten, wenn es sich nicht um eine explizite Aufforderung des Ministeriums für Gesundheitswesen gehandelt hätte, ist fraglich. Die Favorisierung des sowjetischen Systems durch den Direktor der Universitäts- und Nervenklinik Greifswald, Hanns Schwarz, erklärt sich durch seine allgemeine – für Psychiater der 1950er Jahre auch in der DDR aus dem Rahmen fallende  – Wertschätzung P ­ avlovs. Schwarz bewegte sich eine Zeitlang zwischen freudschen und pavlovschen Positionen, nahm seit 1952 aber vornehmlich pavlovsche Standpunkte ein.163 Wichtiger und meist positiv referierter Bezugspunkt blieb die gemeinsame deutsche Tradition. Zudem einte alle Darlegungen, dass sie stark von ihrem jeweils lokalen Standpunkt aus argumentierten. Wie in der Bundesrepublik zeigt sich hier die große Rolle, die die Psychiater der Praxis einräumten. Ob die Systeme praxistauglich waren, fungierte als wichtiges Kriterium in allen Bewertungen. Dabei ging man von den bisherigen lokalen Erfahrungen aus. Ebenfalls an lokale Faktoren war ein zweites wichtiges Kriterium gebunden. Die jeweiligen Klinik- oder Anstaltsleiter vertraten zum Teil unterschiedliche Auffassungen, nach welchen Gesichtspunkten sich ein Ordnungsschema richten solle. Vor allem der letzte Punkt wurde auch in der Zeitschrift Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie diskutiert. Ähnlich wie in den Artikeln im Nervenarzt waren auch die Autoren in Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie der Auffassung, ein Diagnosesystem solle am besten ätiologisch geordnet werden. Drei von vier Artikeln zur Diagnoseklassifikation plädierten hierfür.164 Anders als in der Bundesrepublik und entsprechend der Ausrichtung des­ 162 Die Anfrage des Ministeriums für Gesundheitswesen selbst ist in dem Bestand BAB, DQ 1/22109 nicht enthalten, daher kann dies nicht überprüft werden. 163 Schmiedebach, S. 32. 164 Cécile und Oskar Vogt, Vorbemerkungen zu einer ätiologischen Klassifikation der Schizophrenie und anderer ›funktioneller‹ Psychosen, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie. Zeitschrift für Forschung und Praxis, 1 (1953), S. 4–7; H. Joschko, Vorschlag einer ätiologisch begründeten Klassifikation neuropsychiatrischer Leiden in Verbindung mit einer Einteilung neurologischer und psychopathologischer Syndrome zum Zwecke der Dokumentation, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie. Zeitschrift für Forschung und Praxis, 9 (1963), S. 341–346, S. 345; D. Müller-­Hegemann, Zur Klassifikation neurologisch-psychiatrischer Krankheiten. Vorschlag eines Diagnoseschemas, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie. Zeitschrift für Forschung und Praxis, 9 (1963), S. 350–356, S. 350.

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Gesundheitswesens in der DDR wurde aber auch die Bedeutung der Prophylaxe im Zusammenhang mit den Ordnungsschemata thematisiert. So begründeten Cécile und Oskar Vogt den Vorzug einer ätiologischen Zuordnung folgendermaßen: »Die Aufdeckung auslösender Faktoren ist von größter therapeutischer und prophylaktischer Bedeutung, weil mit der Erkennung einer Verursachung heutzutage schon vielfach der Weg zu ihrer Bekämpfung gewiesen wird.«165 Die Betonung der Prophylaxe findet sich ebenfalls in Beiträgen zur Schizophrenie. Grundsätzlich verband beide Nachkriegsstaaten der starke Fokus auf Schizophrenie. Rolf Walther, zu dieser Zeit noch in Uchtspringe tätig, später Direktor in Rodewisch, rief 1950 zur Prophylaxe bei Schizophrenie auf und meinte, das Ziel sei, um »Reize« zu vermeiden, eine »Sanierung der Umweltverhältnisse in Beruf, Familie und Gesellschaft«.166 Mit dem Begriff »Reize«167 deutet sich bereits die sowjetische Position an.168 Zwischen 1949 und 1963 erschienen regelmäßig Aufsätze zu Schizophrenie, die stark auf Pavlov rekurrierten, aber auch solche in denen die sowjetischen Erklärungsmodelle für Schizophrenie keinerlei Rolle spielten. 2.2 Schizophrenie zwischen Tradition und Pavlov Nach Pavlov wurde Schizophrenie grundlegend anders interpretiert als in der Bundesrepublik. Allerdings schlossen die Argumentationen in den Artikeln der Zeitschrift Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie trotzdem partiell an andere bekannte und zum Teil auch im Westen akzeptierte Erklärungsstränge an. Hierfür sind zwei Ursachen zu nennen. Zum einen bezog sich Pavlov prominent auf andere Forscher. Hier ist etwa Ernst Kretschmer zu erwähnen. Zum anderen konnten nicht-genuin sowjetische Erklärungsversuche kompatibel mit diesen sein. Walther z. B. nahm in seinem Artikel Kretschmers Konstitutionslehre zum Ausgangspunkt, um die somatische Ursache der Schi165 Cécile und Oskar Vogt, Vorbemerkungen zu einer ätiologischen Klassifikation der Schizophrenie und anderer ›funktioneller‹ Psychosen, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie. Zeitschrift für Forschung und Praxis, 1 (1953), S. 4–7, S. 7; auch K. Leonhard äußerte sich ähnlich: K. Leonhard, Diagnoseverzeichnis psychiatrischer und neurologischer Krankheiten, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie. Zeitschrift für Forschung und Praxis, 9 (1963), S. 346–350, S. 346. 166 Rolf Walther, Überlegungen zur Pathogenese der Schizophrenie, in: Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie. Zeitschrift für Forschung und Praxis, 8 (1950), S. 225–231, S. 230. 167 In der Pavlovschen Konstruktion des bedingten Reflexes werden spezifische Reaktionen durch äußere Reize ausgelöst. Zu Umweltreizen in der Lehre Pavlovs, vgl.: Rüting, S. 114. 168 Wenn im Folgenden von der sowjetischen Position die Rede ist, ist zu bedenken, dass diese nicht eins zu eins Pavlovs Position entsprach, sondern das Pavloverbe ab 1949 durch Konstantin Bykov verwaltet und im stalinistischen Sinne interpretiert wurde: Ebd., S. 273.

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zophrenie zu erklären. Die unterschiedlichen Konstitutionen setzte er mit Stoffwechselstörungen in Verbindung.169 Pavlov hatte Kategorien der Nervenstärke aufgestellt, die er u. a. den Typen Kretschmers zuordnete. So sollte sein »nervenschwacher« Typ mit Kretschmers Schizophrenen äquivalent sein.170 Die These, Stoffwechselstörungen könnten etwas mit dem Auftreten von Schizophrenie zu tun haben, wurde u. a. in der Bundesrepublik diskutiert und hatte für sich genommen erst einmal nichts mit einer sowjetischen Lesart der Krankheit zu tun. Im Anschluss argumentierte Walther aber dezidiert sozialistisch: »Nach unseren Vorstellungen liegt der Schizophrenie eine Disposition als endogenes Moment zu Grunde, welche als zentral bedingte Gleichgewichtsverlagerung des vegetativen Systems und damit verbundener Koordinationslabilität zwischen Stammhirn und Hirnrinde verstanden wird. Dieses endogene dispositionelle Moment ist in seiner Manifestationsmöglichkeit abhängig von exogenen Faktoren, von Umwelteinflüssen also, die wir als Reize bezeichnen. Die Reize haben ihre Quelle meist in persönlichen, beruflichen, familiären und gesellschaftlichen Umständen«171

Aus einer Fehlfunktion des von Pavlov als so zentral gesehenen Bereiches des Cortex, also der Hirnrinde, erklärte Walther dementsprechend die Schizophrenie. Die »Diktatur des Cortex« richtete sich gegen die biologistische Interpretation von Krankheiten und nahm die radikale Gegenposition ein. Statt eines unaufhaltsamen Verlaufs waren in diesem Modell äußere Einflüsse sehr bedeutend. Torsten Rüting stellt treffend fest, dass hier versucht wurde, den internationalen Paradigmenwechsel hin zu einer autonomen Funktionsweise organischer Systeme zu verhindern.172 Diese Auffassung unterschied sich sowohl in den theoretischen Voraussetzungen als auch in den aus ihr gezogenen Handlungsforderungen ganz grundlegend von den in der Bundesrepublik dominierenden Positionen. Die psychoanalytischen Erklärungsversuche aus den USA waren sowohl der biologistischen als auch der pavlovschen Position fremd. Beide hatten schließlich gemeinsam, dass von einer somatischen Ursache ausgegangen wurde, während es sich bei den US-amerikanischen Positionen zum Teil um rein sozialpsychologische Ansätze handelte. Walther war bei weitem nicht der einzige Autor, der diesen Erklärungsweg in seinen Aufsätzen einschlug. Es ist aber zu bemerken, dass etwa die Hälfte der »sowjetisch« argumentierenden Artikel von Autoren aus den sozialistischen Nachbarländern stammte. Die gleiche Argumentation findet sich etwa bei dem 169 Rolf Walther, Überlegungen zur Pathogenese der rologie und Medizinische Psychologie. Zeitschrift S. 225–231. 170 Rüting, S. 150. 171 Rolf Walther, Überlegungen zur Pathogenese der rologie und Medizinische Psychologie. Zeitschrift S. 225–231, S. 226 f. 172 Rüting, S. 285.

Schizophrenie, in: Psychiatrie, Neufür Forschung und Praxis, 8 (1950), Schizophrenie, in: Psychiatrie, Neufür Forschung und Praxis, 8 (1950),

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aus Bulgarien stammenden Kirill Tscholakow173 oder in einem ungarischen Artikel zur Halluzinose in der Schizophrenie.174 Möglicherweise waren die Veröffentlichungen dieser Artikel ein Versuch, Beiträge zu publizieren, die der sozialistischen Linie entsprachen, da die Psychiater der DDR solche nicht zur Genüge produzierten. Obwohl die pavlovsche Linie bereits kurz nach Pavlovs Tod 1951 festgelegt worden war,175 gab es bis 1963 weiterhin Artikel, die sich zwar nie dagegen aussprachen, der neuen Richtung aber ebenso wenig Rechnung trugen. Es handelt sich hierbei um Themen, die auch behandelt werden konnten, ohne zwingend Grundsatzfragen aufzuwerfen. Beispielsweise veröffentliche Rudolf Lemke aus Jena, wo es sogar ein Pavlov-Institut gab, einen Artikel zur Häufigkeit neurologischer Erkrankungen und Defekte bei schizophrenen Patientinnen und Patienten. Er stellte fest, diese kämen höchst wahrscheinlich – die Datenlage ermöglichte keine sicheren Aussagen  – häufiger vor als bei psychiatrisch gesunden Menschen. Eine irgendwie geartete weitere Einordnung folgte nicht.176 Diese Strategie, Forschungsergebnisse nicht weiter einzubetten, ist öfter zu finden. Nicht immer geht es dabei um statistische Untersuchungen, wie in dem Artikel Lemkes. Ein anderes Beispiel wäre ein Aufsatz, in dem es um die diagnostische Abgrenzung zwischen Schizophrenie und Zwangsneurose ging. Der Artikel verdeutlichte Probleme und Lösungsvorschläge ausschließlich an konkreten Beispielen.177 Dieser Umgang mit Schizophrenie zwischen Meidung ideologischer Stellungnahmen und expliziten Anschluss an die sowjetische Interpretation Pavlovs erklärt, warum die in der Bundesrepublik oft angeführte Kennerschaft in den Diskussionen und Artikeln in der DDR keine Rolle spielte. Der sowjetischen Erklärungsweise entsprechend stellte sich das Ausgangsproblem gar nicht mehr. Dessen Ursprung war schließlich, dass die Psychosen zwar auf eine körperliche Ursache zurückgeführt wurden, diese aber unbekannt war. Mit der »Diktatur des Cortex« wurde die Ursache eben dort lokalisiert. Da Pavlov zwar umgangen, aber zumindest in Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie nicht herausgefordert werden konnte, bot sich kein Ausgangspunkt für diese Diskussion. Dies sagt jedoch nichts über die Praxis aus, denn die Krankenakten aus Greifswald und Sachsen zeigen, dass die Problematik unterschiedlicher Diagnosen in der Praxis durchaus bestehen blieb. 173 Kirill Tscholakow, Zur pathophysiologischen Analyse einiger Frühsymptome der Schizophrenie, in: Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie. Zeitschrift für Forschung und Praxis, 4 (1955), S. 97–101, S. 99. 174 Gyula Nyirö/Jenö Drietomszky, Halluzinose und Schizophrenie, in: Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie. Zeitschrift für Forschung und Praxis, 3 (1959), S. 66–75. 175 Zur Einführung Pavlovs in der DDR, vgl.: Ernst, S. 311 ff. 176 Rudolf Lemke, Neurologische Befunde bei Schizophrenen, in: Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie. Zeitschrift für Forschung und Praxis, 8 (1955), S.226–229. 177 U. Steiner, Beitrag zur Differentialdiagnose zwischen Zwangsneurose und Schizophrenie, in: Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie. Zeitschrift für Forschung und Praxis, 1 (1956), S.1–11.

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3. Diagnosepraxis in der Bundesrepublik und der DDR Ärzte im Einweisungsprozess kommunizierten und legitimierten die jeweils eigene Diagnose vor dem Hintergrund der Diagnosen anderer Ärzte. Diese spezifische Konstellation prägte die Praxis im Rahmen der Einweisungen. Wenn sich die Diagnosen von stationärer Einrichtung und einweisendem Arzt deckten, erwies sich das als unkompliziert. Eine solche Kongruenz stellte jedoch bei weitem nicht den Regelfall dar, wie sich bereits in der Analyse der Zeitschriftenartikel des Nervenarztes angedeutet hat. Oft waren vor der Einweisung bereits mehrere Ärzte involviert und selten kamen diese zu exakt derselben Diagnose. Entsprechend brauchte man Wege, um die unterschiedlichen Diagnosen zwischen den Ärzten zu kommunizieren.178 Normalerweise unterrichtete die Anstalt oder Klinik den einweisenden Arzt brieflich über die stationär festgestellte Diagnose. Noch detailreicher können Diagnoselegitimierungen in Gutachten nachvollzogen werden. Wenn es vor der Einweisung zur Begutachtung bereits Diagnosen oder Einschätzungen zur Krankheit, zu ihrem Verlauf und ihrer Behandlung gab, wurde hierzu Stellung genommen. Im Folgenden werden eine Begutachtung aus Bethel und ein ärztliches Schreiben aus Greifswald analysiert. Die ärztlichen Schreiben aus Greifswald eignen sich gut, da sie meist relativ ausführlich, d. h. ca. zwei Seiten lang waren. Es zeigt sich, dass man sich sehr um eine langfristige psychiatrische Zuordnung der Patientinnen und Patienten bemühte. Zudem wird herausgearbeitet, dass unterschiedliche Diagnosen nicht problematisiert wurden, sondern die jeweils aktuelle Diagnose durch Bezugnahme auf die eigene Praxis legitimiert wurde, ohne dass sie in ein Verhältnis mit älteren Diagnosen gestellt worden wäre. In dieser Diagnosepraxis, -kommunikation und -legitimation sind keine Unterschiede zwischen »Drittem Reich«, DDR und Bundesrepublik festzustellen, außer dass die Arztbriefe und Gutachten nach Ende des Kriegs meist länger waren. Dies entspricht dem Befund, dass es in der Kriegszeit keine Diskussionen um Diagnosesysteme gab und verwundert nicht vor dem Hintergrund des Ärztemangels während des Zweiten Weltkrieges und der besonderen Prioritätensetzung im Bereich Gefahr und Sicherheit. Auch das Verhältnis zwischen Psychiatern und anderen Ärzten gestaltete sich in DDR und Bundesrepublik sehr ähnlich, war aber im Vergleich zur Kommunikation der Psychiater untereinander deutlich weniger auf die Wahrung von Konsens nach außen bedacht.

178 Da Einweisungen und Entlassungen bzw. Weiterverlegungen öfter »nach telefonischer Ankündigung«/»entsprechend telefonischer Rücksprache mit  …« geschahen, ist anzu­ nehmen, dass solche Erklärungen über abweichende Diagnosen auch mündlich geführt­ wurden.

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3.1 Psychiater untereinander Die in der Praxis oft vorhandene Schwierigkeit, zu einer Diagnose zu kommen, soll exemplarisch an einem Gutachten aus Bethel und einem Arztbrief aus Greifswald analysiert werden. Die Klinik- oder Anstaltsärzte verfassten nach abgeschlossener Diagnostik einen Brief an den überweisenden Arzt, in dem sie sich für die Überweisung bedankten und ihre Diagnose darlegten. Im Folgenden geht es um einen Arztbrief von 1947, in dem eine Diagnose dargelegt wurde, die nicht mit der des einweisenden Arztes übereinstimmte. In den ersten drei Sätzen ging das Schreiben auf die Eingangsdiagnose ein: »Besten Dank für die freundl. Überweisung ihrer Pat. Frau [Anna M., d. Vf.] wegen Verdachtes auf Amentia179. Sie stand vier Tage in unserer Beobachtung. Letztere konnte im Zusammenhang mit der objektiven und subjektiven Anamnese die oben genannte Vermutungsdiagnose nicht bestätigen.«180

Danach ging es nur noch um die neue, in der Universitätsklinik Greifswald gestellte Diagnose, ohne dass thematisiert worden wäre, wie der Unterschied zwischen beiden Diagnosen zu erklären sei. Säulen der Diagnose waren die An­ gaben der Patientin und ihrer Verwandten sowie die Beobachtung in der Klinik. So wurde ausgeführt, dass Schwächezustände, von denen die Patientin sprach, auch stationär mehrfach beobachtet werden konnten.181 In dem Arztbrief gab der zuständige Arzt die Anamnese detailliert wieder, von einer depressiven Erkrankung der Mutter der Patientin angefangen bis hin zum Zustand bei der Einlieferung. Diagnostisch zusammengefasst wurden Anamnese und Beobachtung mit dem Satz, es handele sich um »eine etwas eigenartige sensible, romantisch veranlagte und zu Grübeleien neigende Persönlichkeit mit depressiv konstitutioneller Veranlagung«.182 Solche langen beschreibenden Diagnosen sowie auch ihr alleiniger Bezug auf die Behandlungszeit in der den Brief verfassenden Klinik waren nicht ungewöhnlich. Sie kamen auch oft in den beiden sächsischen Einrichtungen und in denen der Bundesrepublik vor. Ein Beispiel für die DDR wäre z. B. die unter der Rubrik Diagnose festgehaltene Beschreibung »Körperlicher und seelischer Erschöpfungszustand bei einer psychopathischen Persönlichkeit, 368K, keinerlei Geisteskrankheit«.183 Wie diese Diagnosen legitimiert wurden und welchen Sinn sie hatten, lässt sich im Detail beispielhaft an dem Gutachten über die Aufhebung der Entmündigung von Greta W. zeigen, in dem mehrere Diagnosen auftauchen und – 179 Amentia war ein Synonym für Schwachsinn. 180 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1947/351, Brief v. 9.7.1947, UA Greifswald, PsychN, S. 1. 181 Ebd., S. 2. 182 Ebd., S. 1. 183 KA Großschweidnitz, Patientenakte Sign. 754, Eintrag v. 5.6.1956, HSta Dresden, 10822. Die Chiffre 368K verweist auf den Diagnoseschlüssel von 1952.

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da es sich um ein Gutachten handelt – eine ausführlichere Begründung geboten wurde.184 Frau W. war 1961 wegen »Geistesschwäche« entmündigt worden und kam 1963 für ein halbes Jahr zur stationären Beobachtung nach Bethel. Die Beobachtung diente zur Neueinschätzung, ob Greta W.s Entmündigung nach ärztlicher Auffassung noch angebracht sei. Frau W. versuchte ihre Entmündigung aufheben zu lassen, weswegen das zuständige Gericht eine Einweisung zur »Beobachtung« veranlasst hatte.185 Der gutachtenden Ärztin, Dr. B., lagen frühere Diagnosen und Entmündigungsgutachten vor. Seit ihrem ersten stationären Aufenthalt 1950 hatten insgesamt acht Ärzte Frau W.s Zustand mit verschiedenen Diagnosen bedacht. Die unterschiedlichen stationären Einrichtungen befanden sich zuerst in Norddeutschland, in der Umgebung von Hannover, nach einem Umzug der Patientin nach Westfalen in NRW. Bei i­ hrer ersten Einweisung wurde als Diagnose »willenlose hypochondrische, querulatorische Psychopathin« notiert, etwa ein Jahr später in einer anderen Anstalt wurde die neurologische Diagnose »Myasthenia gravis pseudoparalytica«186 gestellt. 1953 bestätigte ein anderes Krankenhaus diese Diagnose. Drei Jahre später, die Patientin war mittlerweile nach Nordrhein-Westfalen gezogen, erhielt sie im Krankenhaus die Diagnose einer psychiatrischen Erkrankung, nämlich »symptomatische Psychose paranoider Färbung«. Im gleichen Jahr kam ein anderes Krankenhaus zu der diagnostischen Beschreibung »Schizophrenie (kata­ toner Stupor)«. 1960, als der erste Antrag zur Entmündigung gestellt wurde, attestierte die gutachtende Klinik ein »katatones Zustandsbild«. 1962, unmittelbar bevor Greta W. auf ihren eigenen Wunsch hin nach Bethel zur Begutachtung verlegt wurde, stellte das Landeskrankenhaus Eickelborn »chronische Schizophrenie, Defektpersönlichkeit« als Diagnose.187 Das Gutachten von Dr. B. aus den von Bodelschwinghschen Anstalten endete mit der diagnostischen Umschreibung, die Patientin leide »an einer chronischen Schizophrenie mit relativ häufigen akuten Schüben katatoner Prägung«.188 Nur zwei der acht Diagnosen lauteten exakt gleich. Die diagnostischen Beschreibungen können drei Grundrichtungen zugeordnet werden. Die erste Diagnose war eine psychiatrische Einordnung ohne zugeschriebenen Krankheitswert, d. h. es handelte sich nicht um ein allein somatisch konstruiertes Krankheitsbild. Im Würzburger Schlüssel fiel die Diagnose unter Punkt 16 »psychopathische Persönlichkeiten«. Der Begriff »Psychopathin« beschrieb die Ursache der psychiatrischen Auffälligkeit, nämlich eine Mischung aus Konsti184 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 84/995, Gutachten v. Dr. Sch. u. Dr. B., HAB, Patientenakten Mahainam II. 185 Ebd. 186 Myasthenia gravispseudo paralytica ist eine Muskelschwäche, die, wie heute bekannt ist, durch Probleme in der Übertragung zwischen Nerv und Muskel entsteht. 187 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 84/995, Gutachten v. Dr. Sch. u. Dr. B., HAB, Patientenakten Mahainam II. 188 Ebd.

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tution und persönlicher Einstellung zum und Umgang mit dem Leben.189 Die drei Adjektive »willenlos«, »hypochondrisch« und »querulatorisch« beschrieben anschaulich und zweifelsohne negativ konnotiert die spezifische Ausprägung. Als Zweites folgten zweimal die gleiche neurologische Diagnose und dann die »symptomatische Psychose paranoider Färbung«. Bei letzterer handelte es sich wieder um eine Diagnose aus dem Feld der Psychiatrie; im Gegensatz zur »Psychopathie« galten Psychosen jedoch als vollwertige somatische Erkrankung. Eine symptomatische Psychose wurde als organischer Defekt gedacht, ausgelöst durch äußere Einwirkung. Der Akte aus Bethel ist nicht zu entnehmen, warum es fast sieben Jahre zuvor in einer anderen Einrichtung zu dieser ärztlichen Einschätzung kam. Erneut wurde der Diagnose, die mit »symptomatische Psychose« v. a. die angenommene Ursache benannte, eine Zustandsbeschreibung, »paranoide Färbung«, hinzugefügt. Schließlich finden sich drei Diagnosen aus dem Umfeld »Schizophrenie«: Schizophrenie unterschied sich von der zuvor diagnostizierten »symptomatischen Psychose« dadurch, dass die psychischen Auffälligkeiten nicht als durch einen direkten äußeren Einfluss verursacht betrachtet wurden. Zwar wurde Schizophrenie ebenfalls s­ omatisch konzipiert, aber als ein innerkörperliches Geschehen, d. h. als endogene Erkrankung. Auch die Schizophreniediagnosen unterschieden sich in der näheren Beschreibung voneinander. Wie bei der Zuordnung »Psychopathie«, wurde mit der Diagnose Schizophrenie eine Ursache postuliert; im Gegensatz zu »Psychopathie« ging man jedoch von einer somatischen, endogenen Ursache aus. Gleichzeitig wurde die Erkrankung in verschiedenen Hinsichten näher beschrieben, z. B. in Bezug auf ihren Verlauf als chronisch, hinsichtlich ihrer spezifischen Ausprägung und der Beschreibung des Zustandes als »katatoner Stupor« oder »Defektpersönlichkeit«. Einmal wurde auch nur »katatones Zustandsbild« festgehalten. Hierbei handelt es sich nicht im eigentlichen Sinn um eine Diagnose, sondern um eine Beschreibung eines psychischen Zustands, den es bei verschiedenen Diagnosen geben kann. Neben Schizophrenie konnten beispielsweise auch progressive Paralyse oder symptomatische Psychosen zu einem »katatonen Zustandsbild« führen. Es zeigt sich, dass sich die Einordnung der Krankheit und die Zuordnung einer Diagnose auf mehreren Ebenen als schwierig erwies. Mit den verschiedenen Diagnosen wurden unterschiedliche Ursachen postuliert. Aber selbst die Diagnose sagte letztlich nicht genug, um von ihr ausgehend Anstaltsbedürftigkeit, Entmündigungs- und Behandlungsfragen klären zu können. Denn bei Schizophrenie als Diagnose, ohne weitere beschreibende Zusätze, blieb offen, wie ausgeprägt welche Symptome waren und wie häufig sie auftraten. All dies war jedoch entscheidend für die Frage der Aufhebung der Entmündigung von Greta W., zu der die Betheler Ärzte Stellung nehmen sollten. Dr. B. referierte in dem Gutachten die genannten Diagnosen und Krankheitsbeschreibungen und 189 Zu bereits im Kaiserreich weitverbreiteten Vorstellungen von Degeneration und Konstitution, vgl. Engstrom, ›Question‹, S. 392.

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berichtete dann von ihren Beobachtungen. Argumentativ zog sie die Beobachtungen auf ihrer Station, nicht die zuvor gestellten Diagnosen heran, obwohl sie alle auflistete. Im Gutachten beschrieb sie die praktische Problematik, zu einer Einschätzung von Greta W.s Zustand zu kommen. Sie hielt fest, dass die Patientin sich in den ersten zwei Wochen von den anderen Patienten isoliert habe, dass dies dann aber ohne »besonderen medikamentösen Aufwand« aufgehört habe.190 Die Ärztin schrieb: »über 5 Monate hin ist Frau [W., d. Vf.] in ihrer Reaktionsweise praktisch unauffällig.«191 Sie entfalte Tatkraft, helfe anderen Patientinnen, gehe alleine in Bielefeld einkaufen, sei interessiert an der Meinung anderer, gebe frühere Krankheitsphasen zu usw.192 Die Betheler Ärzte schätzten den Krankheitsverlauf so positiv ein, dass sie Frau W. beurlauben wollten und ein baldiges Alleinleben der Patientin für möglich hielten. Beurlaubungen dienten als Probe für eine Entlassung. Frau W.s Vormund riet jedoch von einer Beurlaubung ab.193 Bethel schrieb darauf ein zweites Mal an den Vormund, um ihn davon zu überzeugen, dass eine Beurlaubung und eine baldige Entlassung aus Sicht der Ärzte angebracht seien und er doch seine Zustimmung geben solle.194 Der eindeutig positive Eindruck, den die Ärzte gewonnen hatten, lässt sich aus dem Wortlaut entnehmen: »Wir möchten Sie daher dringend bitten, Ihre Zustimmung dazu [zu dem Urlaub, d. Vf.] zu geben. So wie die Dinge liegen, ist damit keinesfalls ein Risiko verbunden.«195 Der Urlaub wurde daraufhin arrangiert, fand aber nicht statt. Laut dem Gutachten setzte unmittelbar vor dem Beurlaubungstermin »schlagartig« ein »katatoner Stupor« ein. Frau W. hörte auf zu sprechen, verweigerte Nahrung, Medikamente und Betreuung.196 Der Argumentation des Gutachtens folgend, führten diese Beobachtungen zu der bereits genannten Diagnose einer »chronischen Schizophrenie mit relativ häufigen akuten Schüben katatoner Prägung«. Greta W. wurde als »voll geschäftsunfähig« beurteilt und blieb also entmündigt. Die Beurteilung galt explizit nicht nur für die momentane Krankheitsphase, sondern auch für die Phasen zwischen den Schüben.197 Hier werden zwei wichtige Punkte deutlich. Zum einen sollte die Beurteilung nicht nur die momentane Lage beschreiben, sondern es ermöglichen, die Patientin langfristig zu »klassifizieren«. Dafür brauchte es neben der Diagnose Schizophrenie eine genauere Umschreibung. Mit dem Adjektiv »chronisch« wurde verdeutlicht, dass es eigentlich keine gesunden Phasen gebe, sondern Greta W. grundsätzlich als schizophren angesehen werden müsse. Die im G ­ utachten aus190 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 84/995, Gutachten v. Dr. Sch. u. Dr. B., Unterpunkt »Verlauf der Beobachtung«, HAB, Patientenakten Mahainam II. 191 Ebd. 192 Ebd. 193 Ebd., Schreiben d. Vormunds v. 17.09.1962. 194 Ebd., Schreiben a. d. Vormund v. 8.10.1962. 195 Ebd. 196 Ebd., Gutachten v. Dr. Sch. u. Dr. B., Unterpunkt »Verlauf der Beobachtung«. 197 Ebd., Unterpunkt »Abschließende Beurteilung«.

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führlich beschriebenen fünf Monate ohne Symptome kamen in der Diagnose nur in der Negation vor. In der diagnostischen Beschreibung waren sie die Zeit, die sich der Leser selbst zwischen den explizit genannten häufig auftretenden Schüben hinzudenken musste. Die Patientin wurde als Mensch ganzheitlich über ihre Krankheitsschübe »definiert«. Der Verlauf der Krankheit ließ sich durch die Erwähnung häufig auftretender Schübe noch genauer beschreiben und das Krankheitsbild durch die »katatone Prägung« näher qualifizieren. Es handelt sich hierbei nicht um eine auffallend vorschnelle Diagnose. Im Gegenteil: Die Ärzte in Bethel bemühten sich trotz der vorherigen Diagnosen und der Entmündigung, die Patientin zu beurlauben und befürworteten eine eventuelle Entlassung. Es ist hier vielmehr ein nahezu systemischer Zuordnungszwang festzustellen. Gerade das Krankheitsbild Schizophrenie war an die Vorstellung bestimmter Verlaufsformen geknüpft – auch dies ein innerdiagnostischer Versuch der Zuordnung – und da es sich um eine endogen gedachte Krankheit handelte, wurde davon ausgegangen, dass es einen mehr oder minder vorhersehbaren Verlauf gebe. Eine Patientin oder ein Patient mit der Erkrankung konnte in der Logik der psychiatrischen Krankheitsordnung nicht ohne einen solchen Verlauf gedacht werden. Damit wurde unweigerlich nicht nur eine Krankheit zugeordnet, sondern auch ein Mensch eingeordnet. Die häufig langen, mit Zusätzen versehenen Diagnosen hatten eine paradoxe Doppelfunktion. Sie sollten eine möglichst eindeutige Zuordnung zu einem Krankheitsbild erlauben und gleichzeitig die mit einer kurzen Diagnose schlechterdings nicht fassbaren wichtigen Informationen über eine Patientin oder einen einzelnen Patienten enthalten. Diese Art der umschreibenden Diagnostik entsprach dem klassischen Vorgehen, um zu wissenschaftlicher Objektivität zu gelangen. Ideal­ typische Zuordnung galt als die objektive Wahrheit verzerrend. Es wurde angenommen, bei Zuordnung zu einem Idealtyp gleiche der Wissenschaftler das Objekt – hier die Patientin oder den Patienten – unbewusst dem Referenzsystem an.198 Die langen Diagnosen sicherten so die »objektiv richtige« Beschreibung des »Einzelfalls«. Wie das Beispiel Greta W.s verdeutlicht, führte dies jedoch in der Praxis trotzdem nicht in dem Sinne zu der gewünschten Objektivität, dass die Diagnosen identisch oder auch nur ähnlich ausfielen. Die Psychiatrie als Wissenschaft nutzte so verschiedene Darstellungsformen und Legitimierungsstrategien. Während die Diagnosefindung als Kennerschaft beschrieben wurde, folgte die Form der Diagnose mit ihrer Berücksichtigung vieler Einzelaspekte den Leitlinien der »Objektivität«. Die Psychiater konnten in ihrer Selbstdarstellung und Präsentation nach außen also zwischen der Selbststilisierung als Experten für das wissenschaftlich Nicht-Zuordbare und der Suggestion sicherer, exakt umschriebener, objektiver Krankheitszuschreibungen changieren. Damit waren sie selbst permanente Grenzgänger zwischen Ordnung und Unordnung: Zum einen bestand ihre Aufgabe darin, wie schon ­Foucault fest198 Daston u. Galison.

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gestellt hat, den »Wahnsinn« zuzuordnen.199 Zum anderen schwankten sie bei dieser Zuordnungstätigkeit zwischen systematischem Beschreiben und instinktiver Kennerschaft. Außerdem ist an der Argumentation des Arztbriefes und des Gutachtens exemplarisch zu sehen, in welch großem Maße die Praxis des einzelnen Psychiaters als wichtig erachtet wurde. Die Diagnosen der anderen Ärzte wurden zwar aufgezählt, die Beurteilung im Gutachten stützte sich aber allein auf die Darlegung des Verhaltens der Patientin in Bethel. Das korrespondiert mit der Bedeutung, die der individuellen psychiatrischen Praxis auch in den Artikeln der psychiatrischen Zeitschriften zugesprochen wurde. Warum oder wie es zu unterschiedlichen Diagnosen kam oder warum die eigene überzeugender sein sollte als vorherige, wurde nicht diskutiert. Es reichte aus, die Diagnose mit den eigenen Beobachtungen und durch die Gespräche mit der Patientin oder dem Patienten und den Verwandten zu rechtfertigen. Das Verhältnis der Psychiater untereinander blieb so unthematisiert. Im Kontext von Gutachten könnte vermutet werden, dass es die Expertise des Berufsstandes in Frage stellen würde, auf uneinheitliche Diagnosen aufmerksam zu machen. Allerdings war es nicht so, dass es sich in der Korrespondenz mit anderen Psychiatern anders verhalten hätte. Es handelt sich um eine eigentümliche Akzeptanz der Tatsache, dass in der Praxis eben unterschiedlich diagnostiziert wurde. Ganz anders verhielt sich dagegen das Verhältnis der Psychiater zu anderen Ärzten. 3.2 Psychiater und andere Ärzte Bisher ging es um unterschiedliche Diagnosen verschiedener Psychiater. Bei Einweisungen waren jedoch fast immer Ärzte beteiligt, die keine psychiatrische Fachausbildung hatten, im Einweisungsprozess aber an entscheidender Stelle mitwirkten. Im »Dritten Reich« und der Bundesrepublik waren das die Amtsärzte in den Gesundheitsämtern und die Hausärzte. In der DDR agierten Ärzte in Gesundheitsämtern, in den Polikliniken und Landambulatorien oder Betriebsärzte an entscheidender Stelle. Immer konnten Krankenhausärzte wichtig sein. Während dieses Verhältnis in der Kriegszeit, zumindest nicht schriftlich im Nervenarzt diskutiert wurde, war dies in den Nachkriegsstaaten anders. In beiden Fällen thematisierten die Psychiater die mangelnde Expertise ihrer Kollegen, die ohne psychiatrische Kompetenz bei den Einweisungen mitwirkten: 1954 erschien in der in der DDR herausgegebenen Zeitschrift Das Deutsche Gesundheitswesen. Zeitschrift für Medizin ein Artikel des Chefarztes der Heil- und Pflegeanstalt Eberswalde, Dr. Donalies (1894–1961). Der Titel lautete: Psychiatrie in der Pflichtassistentenzeit! Eine Anregung. Sein Kernanliegen war, dass jeder Arzt in seiner praktischen Ausbildung auch eine psychiatrische Abteilung durchlaufen sollte. Als Grund führte Donalies die seiner Meinung nach 199 Foucault, Psychologie, S.132; vgl. hierzu auch: Meier u. a., S. 41.

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verheerenden Konsequenzen an, die aus dem mangelnden Fachwissen der einweisenden Ärzte entsprängen: »Wir bekommen unsere Kranken mit Einweisungen in die Anstalt, die gelegentlich jeder Qualifizierung spotten; es wird grob erscheinen, aber wenigstens deutlich sein, wenn wir sagen, daß die Diagnosen oft auf einem Niveau stehen, wie wenn ein Praktiker dem Chirurgen eine Patellarfraktur200 als Blinddarmverdacht überwiese. […] Es ist aber schon bedenklicher, wenn ein Kranker dann infolge aller fehlenden anamnestischen Hinweise falsch beurteilt wird […], und schließlich lassen diese Ein­ weisungen ja auch höchst bedauerliche Schlüsse zu auf die psychiatrische Beaufsichtigung und Kontrolle der Bevölkerung überhaupt. Die Möglichkeiten, […] daß beginnende hebephrene oder paranoide Wesensveränderungen erst eingewiesen werden, wenn ein Unglück geschehen ist liegen sehr nahe, und wir erinnern uns eines Falles, in dem wir eine Frau zur zweiten Aufnahme bekamen, nachdem sie ihren Ehemann totgeschlagen hatte  – das erste Mal hatten wir sie nur mit einem – natürlich falschem, diagnostischen Fremdwort bekommen, aber ohne jeden Hinweis auf die bei Ihr schon länger beobachteten (sicher pathologischen) Erregungszustände.«201

Dann kam der Autor detaillierter auf die ausschlaggebende Bedeutung der Anamnese zu sprechen. Hier sprach er drei weiterführende Aspekte zum ärztlichen Wissen an: Erstens, dass psychiatrisches Wissen an zentralen Stellen fehle, die bei der Einweisung ausschlaggebend waren. Zweitens sollte psychia­ trisches Wissen aus Sicht Donalies auch zur Kontrolle der Bevölkerung genutzt zu werden. Drittens wird der Anamnese zur Generierung des psychiatrischen Wissens im Einzelfall sehr große Bedeutung beigemessen. Dies wird im Folgenden genauer diskutiert. In der Bundesrepublik wurden ganz ähnliche Problematiken verhandelt. Der Direktor der Provinzialheilanstalt Lengerich in Westfalen, Hans Merguet, forderte 1951 in einem Artikel Vorschläge für den Wiederaufbau der Offenen Fürsorge für Geisteskranke202 in der Zeitschrift Der Nervenarzt die Entsendung von Anstaltsärzten in die Gesundheitsämter. Er argumentierte: »Die Gesundheitsämter verfügen nur selten über einen psychiatrisch ausgebildeten Arzt und sind zudem mit anderen Aufgaben überlastet. Die Beratungen in einschlägigen Fällen durch einen erfahrenen Facharzt können wesentlich dazu beitragen, sie auf diesem schwierigen Gebiet zu entlasten und ihnen ein rasches, durchgreifendes und zweckmäßiges Handeln zu ermöglichen.«203

200 Kniescheibenbruch. 201 G. Donalies, Psychiatrie in der Pflichtassistentenzeit! Eine Anregung, in: Das Deutsche Gesundheitswesen, 51 (1954), Sonderdruck. 202 Hans Merguet, Vorschläge für den Wiederaufbau der Offenen Fürsorge für Geisteskranke, in: Der Nervenarzt, 4 (1951), S. 150–153. 203 Ebd., S. 151.

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Ganz ähnlich wie der Chefarzt von Eberswalde sprach er auch den Aspekt der Kontrolle an: »Grundsätzlich sind nicht nur die entlassenen Anstaltskranken und andere im engeren Sinne Geisteskranke zu betreuen, sondern der Fürsorgearzt soll für alle Fälle zur Verfügung stehen, in denen Gesundheitsamt und Ortsärzte bei geistig Abwegigen oder auffälligen Charakteren seinen Rat brauchen können. Nicht in jedem Falle wird es sich bei solchen ›Kriminellen‹ oder ›Asozialen‹ oder sonstigen Konfliktmenschen um Psychopathen handeln. Ebenso sollten Patienten, deren Anstaltseinweisung vorgesehen ist, nach Möglichkeit vorher vorgestellt werden. Nicht ganz selten kann der Anstaltspsychiater auch da noch Mittel und Wege finden, die Aufnahme zu vermeiden oder hinauszuschieben.«204

An den Aspekt der Kontrolle ist hier zusätzlich das Anliegen gekoppelt, unnötige Aufnahmen zu verhindern. In den beiden Diskussionsbeiträgen aus Bundes­ republik und DDR wird also neben der Problematik der fehlenden fachärztlichen Expertise noch die Bedeutung von wissenschaftlicher Expertise für psychiatrische Kontrolle angesprochen. Psychiatrisches Wissen zur Disziplinierung der Bevölkerung wird auf ärztlicher und in der DDR auch auf staatlicher Seite gefordert. Während die Verfasser gleichzeitig bereits bedauerten, dass dies nicht umgesetzt wurde, verhielt es sich mit dem im Nervenarzt artikulierten Anliegen, Aufnahmen zu vermeiden, anders. Denn bereits seit den 1920er Jahren wurden psychiatrische Anstalten v. a. unter dem Aspekt der Kosten für die Allgemeinheit verhandelt – es herrschte also ein Interesse daran, die Zahl der Aufnahmen gering zu halten. Genau deswegen war es ein Anliegen der Anstalten, die Kontrolle ins Vorfeld der Aufnahmen zu verlegen, in der Bundesrepublik in die Gesundheitsämter, in der DDR in die Kompetenz von Betriebsärzten, Polikliniken und Landambulatorien. Neben diesen Gesichtspunkten wird in dem Artikel aus dem Deutschen Gesundheitswesen auch die Bedeutung der Anamnese für die Diagnose und Prognose genannt.205 Dies weist auf ein Spezifikum psychiatrischen Wissens gegenüber anderem medizinischen und naturwissenschaftlichen Wissen hin. Wesentliche Teile des Wissens entspringen nicht der Beobachtung, sondern der Interaktion mit der Patientin oder dem Patienten. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Krankheitsverlauf seit Beginn der Differentialdiagnostik als sehr zentraler Aspekt der Diagnose betrachtet wurde.206 Nun bekamen aber gerade Anstaltspsychiater die Kranken in der Frühphase sehr selten zu Gesicht. Patientinnen und Patienten kamen oft erst in Kliniken oder Anstalten, wenn sie aus unterschiedlichsten Gründen den Familien oder ihrem sozialen Umfeld nicht mehr tragbar erschienen. Umso wichtiger war die Einschätzung anderer Ärzte, 204 Ebd., S. 152. 205 G. Donalies, Psychiatrie in der Pflichtassistentenzeit! Eine Anregung, in: Das Deutsche Gesundheitswesen, 51 (1954), Sonderdruck. 206 Vgl.: Arenz, S. 14.

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die in beiden Artikeln bemängelt wurde. Ganz anders als die unterschiedlichen Diagnosen von Psychiatern wurde die Anamnese- und Diagnosefähigkeit anderer Ärzte angezweifelt und die Unzufriedenheit hiermit in Fachzeitschriften­ öffentlich gemacht. Das weist daraufhin, dass in der Diagnosepraxis auch immer das Deutungsmonopol der Profession mit verhandelt wurde.

4. Das Verhältnis von Arzt und Patientin/Patient In den Zeitschriftenartikeln zur Einweisungspraxis wurde die Schwierigkeit hervorgehoben, dass Ärzte mit anderem fachlichen Schwerpunkt die Anamnese falsch aufnähmen und dadurch die richtige Beurteilung der Patientin oder des Patienten erschwerten. Die Informationen der Laien, der Patientin oder des Patienten und des sozialen Umfeldes und ihre richtige Interpretation durch die Ärzte nahmen in der Sichtweise der Psychiater einen sehr hohen Stellenwert ein. Um den Umgang mit den Informationen der Laien durch die Ärzte und die Einschätzung der Laien selbst, die »Laiendiagnosen«, geht es daher im Folgenden. 4.1 Informationsfluss von der Familie in die Institution In zweifacher Weise stammten die Informationen, die die Ärzte für die Diagnose nutzten, von ihren Patienten und Patientinnen, ihren Familien und dem sozia­ len Umfeld. Erstens gelangten Informationen und Interpretationen von Laien über den Umweg der Fragebögen der Fürsorgeverbände zu den Anstaltspsychiatern. Fast alle Einweisungen in staatliche Heil- und Pflegeanstalten liefen über die (über-) kommunalen Behörden und Verbände, denn vor der Aufnahme musste geklärt werden, wer die Kosten trägt. Bei kürzeren Aufenthalten in Universitäts­nerven­ kliniken kamen normalerweise die Krankenkassen dafür auf. Die Kosten für längere Aufenthalte in einer Anstalt bestritten in allen drei Systemen zumindest zum Teil die Fürsorgeverbände. Es war ebenfalls möglich und durchaus üblich, dass Fürsorgeverbände den Aufenthalt in einer privaten Anstalt wie ­Bethel bezahlten. Die Rolle der Fürsorgeverbände und kommunalen Behörden erweist sich entsprechend als wegweisend für die Aufnahme. Die Provinzialverbände bzw. der Regierungsbezirk Oberbayern, denen die jeweiligen Fürsorgeverbände unterstanden, bestimmten zum einen, in welche Einrichtung die Patientin oder der Patient kam und schalteten die Fürsorgeverbände ein. Die Wahl der Anstalt richtete sich dabei gemeinhin nach dem Wohnort, da die Anstalten für bestimmte Versorgungsgebiete zuständig waren. Zum anderen sollten die jeweils zuständigen Behörden dafür sorgen, dass mit der Patientin oder dem Patienten 208

ein ausgefüllter Fragebogen in der Anstalt abgegeben wurde. Dieser Fragebogen lieferte der Anstalt bereits Informationen über einige wesentliche Punkte: persönliche Daten, wer den Aufenthalt bezahlte, ob die Patientin oder der Patient als gefährlich für sich und andere eingeschätzt wurde oder was der Aufnahmegrund war.207 Diese Informationen konnten von Belang für das Ausfüllen des Aufnahmebogens in der Anstalt sein und daher auch die Sicht des aufnehmenden Arztes beeinflussen. Um die Fragebögen ausfüllen zu können, wurden die Verwandten oder das soziale Umfeld, etwa Nachbarn, Lehrer oder Pfarrer, befragt. Die Informationen aus den Aufnahmebögen, die hier auch als Quelle genutzt werden, sind dabei zweifach bedingt. Einmal richteten sich die Aussagen des sozialen Umfelds nach vorgegebenen Fragestrukturen. Die Antworten trug manchmal eine Person aus dem sozialen Umfeld ein, manchmal aber auch ein Vertreter der Behörde. Im letzteren Fall waren die Informationen über die vorgegebene Fragestruktur hinaus auch noch durch die aufschreibende Person gefiltert.208 Wenn kein Referent gefunden werden konnte, blieben oft große Teile des Fragebogens unausgefüllt. Die hier zugänglichen Informationen, wie auch die dem Arzt verfügbaren Daten, waren daher bereits über das soziale Umfeld gefiltert. Die Angehörigen konnten entweder versuchen, von ihnen antizipierte Erwartungen zu erfüllen, oder aus eigenem Interesse reflektiert bestimmte Auskünfte besonders betonen und andere weglassen. Zweitens war die Anamnese gleichsam eine ärztliche Aneignung – und damit auch Selektion und Interpretation  – von Laienwissen, das in Expertenwissen transformiert wurde. Da die wesentlichen Krankheitsphasen vor dem Eintritt in die Anstalt lagen und so normalerweise nicht vom Arzt beobachtet werden konnten, mussten sich die Ärzte auf die Beobachtungen anderer verlassen. Klaus Konrad, der Direktor der Universitäts-Nervenklinik Göttingen, stellte fest: »Lediglich aus dem Miteinander verschiedener Symptome, aus dem Hintereinander ihres Auftretens, aus Daten der individuellen und Familienanamnese, aus einer Fülle weiterer zusätzlicher Bestimmungsstücke bauen wir die Diagnose auf.«209 Dies gilt umso mehr für die Aufnahmediagnosen; hier ersetzte die Anamnese quasi die ärztliche Beobachtung.210 Auch die Anamnese war durch Fragen vorstrukturiert und in den Kranken­ akten findet sich nur das, was aufgeschrieben wurde. Um ein Bild davon zu bekommen, wie Anamnesen ablaufen und was notiert werden sollte, können 207 Diese Informationsbögen sind nicht immer erhalten. Sie wurden normalerweise in den Verwaltungsakten erfasst. Manche Archive bewahrten jedoch nur die Krankengeschichte und nicht die Verwaltungsakte auf (etwa Eglfing-Haar). 208 Zur Aussagekraft von Krankenakten als Quelle vgl. auch Einleitung und Fazit. 209 K. Conrad, Das Problem der »nosologischen Einheit« in der Psychiatrie, in: Der Nervenarzt, 11 (1959), S. 488–494, S. 490. 210 Zusammenfassend zur Ablösung der Krankengeschichte als Ausgangspunkt für die ärztliche Krankheitsbestimmung durch die direkte Beobachtung Mitte des 19. Jahrhunderts nach Foucault, vgl. u.a: Raffnsøe u. a., S. 145.

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Lehrbücher als Quellen herangezogen werden. Hier wird die Anleitung zur Anamnese aus dem viel benutzten Lehrbuch Kurt Kolles analysiert, das 1943 in der zweiten Auflage, 1949 in der dritten Auflage und 1961 in der fünften erschien. In der DDR kam das erste sowjetische Lehrbuch der Psychiatrie erst 1960 heraus und ist daher für den allergrößten Teil  des Untersuchungszeitraums nicht relevant.211 Es ist allerdings zu vermuten, dass die Darstellungen in den bekannten Lehrbüchern auch in der frühen DDR noch genutzt wurden, da es keine Alternative gab. Alle drei Ausgaben des Lehrbuchs umfassten ein Unterkapitel zum Erstkontakt mit der Patientin oder dem Patienten, dem Gespräch und der ärztlichen Meinungsbildung. Die Ausgaben unterschieden sich nur minimal.212 Kolle betonte, dass es während des Gesprächs verschiedene wichtige Ebenen zu berücksichtigen gelte. Zuerst sprach er über den ersten Eindruck. Hierunter fielen z. B. der Gesichtsausdruck, Kleidung oder Körperhaltung.213 Dann ging es um das Gespräch selbst: Hier unterschied er zwischen der Art des Sprechens und dem Inhalt. Zur Form des Gesagten gehörten beispielsweise, ob die Patientin oder der Patient sich »einfach oder umständlich« ausdrückte,­ »stockend oder flüssig« sprach oder ob sie oder er häufig abschweifte.214 Zum ersten Punkt bemerkte Kolle, der in der ersten Person Singular schrieb und so 211 Giljarowski. Es ist durchaus möglich, dass sich die Aufnahmegespräche im Laufe der 1960er Jahre auch durch die Übersetzung psychiatrischer Texte aus der Sowjetunion änderten. So ist bereits ab dem Jahr 1960 für die Aufnahmegespräche in der Universitätsklinik Greifswald auch eine Anpassung an die »sozialistische« Auffassung von Psychiatrie zu finden. In den Akten des Jahres 1960 ist erstmals immer wieder die Rubrik »soziale Anamnese« zu finden, während es zuvor – genau wie in allen anderen hier untersuchten Einrichtungen – zu Beginn der Krankengeschichte die sogenannte »Eigenanamnese« und die »objektive Anamnese« gab. Die »soziale Anamnese« betont schon in ihrer Begrifflichkeit die Bedeutung externer Faktoren für die Entstehung psychischer Auffälligkeiten. Damit ging eine Relevanzzuschreibung und begriffliche Aufwertung einher, wie sie in der sowjetischen Psychiatrie gefordert wurde. Inhaltlich handelt es sich jedoch um Erzählungen der Patientin oder des Patienten oder seiner Verwandten, wie sie zuvor auch unter den beiden anderen Kategorien zu finden gewesen sind. Inwiefern diese Neukategorisierung in Zusammenhang mit veränderten ärztlichen Einschätzungen oder Behandlungen in der Klinik stand, ist, da das Hauptinteresse dieser Arbeit auf dem Einweisungsprozess liegt, nicht zu sagen. In Großschweidnitz gab es diese Umgruppierung zumindest bis 1963 nicht. Die schnelle Veränderung allein in Greifswald ist naheliegend, da der Direktor Hanns Schwarz, im Gegensatz zu den meisten anderen Psychiatern der DDR, ein genuines Interesse an Pavlov und der sowjetischen Psychiatrie hatte. 212 Das jeweils gleich überschriebene Kapitel Vom Untersuchen seelisch Kranker bildete in den Ausgaben drei und fünf den letzten Teil des Buches, in Ausgabe zwei war es etwas früher angesiedelt. Im Lehrbuch von 1962 ist zudem ein kurzer Zusatz zu psychologischen Testverfahren zu finden. Kolle, Psychiatrie, S. 370–377; ders., Psychiatrie (19493), S. 394–404; ders.: Psychiatrie (19615), S. 348–353. 213 Ders., Psychiatrie, S. 334. Im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben auf die Ausgabe von 1943. Sofern nicht explizit darauf hingewiesen wird, handelt es sich um Angaben, die so meist wörtlich auch in den anderen Ausgaben zu finden sind. 214 Ebd., S. 335.

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den Anschein erweckte, seine eigenen Erfahrungen mitzuteilen, dass bereits der erste Eindruck sein »diagnostisches Denken in bestimmte Bahnen« lenke.215 Das erinnert an die intuitive Kennerschaft, die auch in den Artikeln des Nervenarztes herausgestrichen wurde. Allerdings revidierte er diese anfängliche Aussage in Teilen zwei Seiten später, indem er schrieb: »Viele Kranke, die den Nervenarzt aufsuchen (oder zu ihm geschickt werden), bieten auch dem geschulten ärztlichen Blick zunächst nichts Abnormes dar. Alles Wesentliche ist in der ›Vorgeschichte‹ enthalten.«216 Hier wird die enorme Bedeutung der Anamnese betont. Er erklärte daher, dass eine gute Vorgeschichte lang sein müsse, und wies darauf hin, dass es am besten sei, die Patientin oder den Patienten einfach ungesteuert über ihren oder seinen Lebensweg berichten zu lassen.217 Erst danach solle der Arzt das Gespräch, wenn nötig, durch Fragen steuern und dabei auf bestimmte Themenbereiche eingehen: Kindheit, Jugend, Eltern, ökonomischer Hintergrund, Schule, Beruf und wie das Verhältnis zu Ehepartner bzw. zum anderen Geschlecht sei.218 Dann sollte der Arzt zu den Beschwerden kommen. Hier thematisierte Kolle ein Problem, das von erheblicher Bedeutung für das Verhältnis von Arzt und Patientin oder Patient und aufschlussreich für die Wandlung von Laienwissen in Expertenwissen ist. Es geht um die Selbstinterpretation der Patientin oder des Patienten und das davon abweichende Interesse des Psychiaters: »Ich will wissen, wann er seine Beschwerden oder die ihn störenden Erscheinungen zum ersten Male gemerkt hat, ob sie dauernd bestehen oder wechseln, ob er sich vielleicht schon seit Jahren krank fühlt oder ob zwischen gestörten Zeiten auch lange Jahre der Gesundheit liegen. Dabei tritt eine Schwierigkeit auf, die besonders bei ­seelischen Leiden bekämpft werden muss: das Bedürfnis des Kranken (und seiner Angehörigen), bei jedem Vorkommnis sogleich eine erklärende Ursache anzugeben. Der Kranke weiß, daß seine Schwermut vom Streit mit der Schwiegermutter herrührt und nimmt es mir sehr übel, daß ich sein Urteil nicht teile.«219

Den Psychiater interessierte der Verlauf der Erkrankung und zwar der Form nach, nicht entsprechend äußerer Ursachen, wie die Laien sie als Erklärung anböten. Der Arzt benötigte für die Einschätzung der Patientin oder des Patienten also unbedingt deren Vorgeschichte, er deutete die Informationen aber anderes als die Laien, indem er die Krankheit isoliert betrachtete. Der Psychiater verfolgt das Ziel, die Krankheit und den kranken Menschen ungeachtet seines restlichen Lebens zu analysieren. Die Krankheit wurde anhand der Form bzw. ihres Verlaufs zugeordnet und dann wieder an das Leben der Patientin oder des Patienten zurückgebunden. Die Erkrankung erklärte in der Perspektive des­ 215 Ebd., S. 334. 216 Ebd., S. 336. 217 Ebd., S. 335 u. 337. 218 Ebd., S. 337. 219 Ebd., S. 338.

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Psychiaters den Lebenslauf, während die Laien die Krankheit durch den Lebensweg erklärten. Durch diese andere Fragerichtung und die gegensätzliche Einordnung eignete sich der Arzt Wissen der Laien an. Die »eigensinnige« ärztliche Interpretation machte den Arzt zum Experten und eröffnete eine dritte Möglichkeit der ärztlichen Selbstdarstellung im Diagnoseprozess: Neben der Strategie der Objektivierung durch akribische Umschreibungen und der Selbstinszenierung als intuitive Kenner, handelte es sich hier um eine Stilisierung als Experte, der über das »richtige« wissenschaftliche Wissen zur Einordnung der Krankheit verfügte. 4.2 Ärztliche Diagnosen und Laiendiagnosen Bestimmte Fragen strukturierten das Gespräch in der Anamnese. Dazu zählte die Frage nach dem Krankheitsbeginn (und Verlauf). Sie strukturierten zwar das Gespräch, bestimmten aber nicht den Inhalt der Aussagen der Patientin oder des Patienten. In der Anamnese zeigt sich, dass Laien und Ärzte Krankheiten begreifbar und handhabbar zu machen suchten, indem sie sie zuordneten. Allerdings taten sie dies auf unterschiedliche Weise mit teils verschiedenen Zielen. Ärzte nahmen eine formale Zuordnung vor, die den einzelnen Menschen möglichst weitreichend klassifizieren und unter Beachtung individueller Besonderheiten einordnen sollte. Diese Zuordnung zielte, insbesondere im Zuge der Erstellung von Gutachten, aber auch sonst, auf die Zukunft ab. Durch die Krankheitszuordnung und Umschreibung wurde eine Entscheidungsbasis für Fragen der Anstaltsbedürftigkeit, der Entmündigung und für Therapieversuche geschaffen. Laien ordneten Krankheiten ebenfalls ein, allerdings mit einem deutlich stärkeren Bezug auf die Vergangenheit. Sie suchten nach Erklärungen, die Krankheit sinnvoll in ihren Lebensweg einzuordnen. Die Patientinnen und Patienten selbst und ihre Familien setzten von ihnen als auffällig gesehenes Verhalten meist mit anderen Ereignissen in Verbindung. Sie nannten unmittelbare Auslöser verschiedenster Art. Es konnte sich um körperliche Krankheiten handeln, um Wetterumschwünge, um dramatische politische oder persönliche Veränderungen, etwa den Tod eines Angehörigen.220 Laien – und zwar Patientinnen und Patienten und ihre Verwandten – betteten Erkrankungen fast immer in ihren Lebensweg ein, es sei denn, es handelte sich um Menschen, die sich gar nicht oder nicht zusammenhängend äußerten. Hinsichtlich dieser Grundhaltung, fallen unter den Laien keine gender-, oder kontextspezifischen Unterschiede auf. Wenn allerdings danach gefragt wird, woran genau in ihrem Alltagsleben Laien Erkrankungen festmachten, können Unterschiede konstatiert

220 Z. B. der Tod des Vaters: KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 7424, Anamnese, SächSta Chemnitz, 32810, S. 1.

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werden. Ein wichtiger Lebensbereich sowohl für die Zuschreibung von Krankheit als auch für die Feststellung von Anstaltsbedürftigkeit, an dem sich gender- und systemspezifische Merkmale zeigen, war der Bereich »Arbeit«, der im nächsten Kapitel behandelt wird. Ein anderes Thema, das sowohl in der Thematisierung durch Laien als auch durch Ärzte starke geschlechterspezifische Konnotationen in der Krankheitszuschreibung aufwies, war Sexualität. Dies gilt auch und vor allem für die Zuschreibung durch Polizei und Ärzte, z. B. – wie im letzten Kapitel gezeigt – bei Zwangseinweisung zum Schutz vor Übertragung von Geschlechtskrankheiten.221 Aber nicht nur, wenn es um venerische Erkrankungen ging, waren genderspezifische Zuordnungen von enormer Bedeutung. Dies traf auch auf die Diagnostik im Allgemeinen zu. Genderspezifische Diagnosen sind in der Forschung zur Psychiatriegeschichte vor allem im Zusammenhang mit bestimmten Diagnosen problematisiert worden. Viel diskutiert etwa war die Diagnose Hysterie, die, wie Paul Lerner gezeigt hat, gerade im Zuge des Ersten Weltkriegs auch bei Männern genutzt wurde.222 Eine andere Erkrankung, für die große genderspezifische Unterschiede in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und ärztlichen Diagnostik festgestellt wurden, war Alkoholsucht.223 Über einzelne Diagnosen hinaus hat Ann Goldberg für das 19. Jahrhundert genderspezifische Unterschiede für die Aufnahme in Anstalten und die Behandlung aufgezeigt. In dem einschlägigen Band Zwang zur Ordnung wird daher auch zusammenfassend festgestellt, »nicht selten treten geschlechts- und schichtspezifische Verzerrungen in einer vorgeblich neutralen Diagnose und Behandlungsweise zu Tage«.224 Hier lohnt sich ein genauerer Blick, der nicht auf bestimmte Diagnosen als geschlechtsspezifisch fokussiert, sondern nach einer tiefergehenden geschlechtsspezifischen Konnotation des ärztlichen Blicks und der Laienperspektive fragt. Beispielhaft lassen sich die unterschiedliche Deutung von Ärzten und Laien sowie die genderspezifische Bewertung von Krankheit an den Einweisungen von Birgit S. zwischen 1943 und 1959 nach Bethel zeigen. 1943 wurde sie nach einem Suizidversuch das erste von insgesamt fünf Malen aufgenommen. Ihr Ehemann gab an, dass sie deprimiert sei, seit ihr Sohn bei Stalingrad vermisst werde. »Reaktive Depression« lautete die ärztliche Diagnose in Bethel, sie fiel entsprechend dem Würzburger Schlüssel also unter Nummer 17 »abnormale Reaktionen«.225 Bei den nächsten vier Einweisungen 1948, 1953 (zweimal) und 221 Kontextspezifisch ist dies nur insofern, dass Psychiatrien in der Nachkriegszeit nicht mehr in die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten involviert waren. Die Konzentration auf Frauen als Überträgerin gab es sowohl vorher als auch nachher. Lindner, Traditionen, S. 222; dies., Gesundheitspolitik, S. 298. 222 Lerner, Men. 223 Hauschildt, S. 24. 224 Meier u. a., S. 44. 225 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 3766, Eintrag v. 3.7.1943, HAB, Patientenakten Gilead III.

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1958 gab die Patientin jeweils an, die Verstimmung habe unmittelbar nach einer körperlichen Erkrankung begonnen. Hierbei handelte es sich um Grippe oder Erkältungen sowie 1958 um eine Lungenentzündung. Die Diagnose lautete nun jeweils »endogene Depression im Postklimakterium«.226 Während die erste Diagnose die Begründung der Laien in gewisser Weise aufnahm – denn auch die Ärzte stellten einen Zusammenhang zwischen dem Schicksal des Sohnes und dem psychischen Zustand der Mutter her  –, war dies später nicht mehr der Fall. Entsprechend dem Würzburger Schlüssel und den zitierten Lehrbüchern verstanden die Psychiater die andauernde Verstimmung über die Vermisstenmeldung des Sohnes bei Stalingrad als reaktive Depression. Diese Verhaltensweise betrachteten sie somit zwar als nicht normal, aber inhaltlich nachvollziehbar.227 Mit der Diagnose »endogene Depression im Postklimakterium« hingegen wurde keine Verbindung zu wie auch immer gearteten äußeren Anlässen oder überhaupt zu dem von Patientin und Familie angebotenen Narrativ hergestellt. Im Gegenteil: Die Diagnose bezog sich zweifach auf »schicksalhafte« innerkörperliche Entwicklungen. Das Adjektiv »endogen« zeigte an, dass die Depression als innersomatisches Geschehen verstanden wurde, und »postklimakterisch«, dass es im direkten Zusammenhang mit altersbedingten Veränderungen des weiblichen Körpers zu sehen sei. Die »endogene Depression« fiel im Würzburger Schlüssel unter Nummer 15, unter die »manisch-depressiven Erkrankungen«. Im Diagnosesystem gab es hier genauso wenig wie bei anderen Diagnosen genderspezifische Zusätze. Da sich die P ­ sychiater bemühten, über die Zuordnung zu einer Ziffer eine möglichst exakte Beschreibung der Patientin oder des Patienten zu erreichen, waren jedoch Zusätze sehr häufig, die den Ausbruch von Erkrankungen bei Frauen an bestimmte körperliche Veränderungen banden. In dem Sample von fast 1500 Krankenakten, von denen etwa die Hälfte Frauen zuzuordnen sind, erwiesen sich diagnostisches Zusätze, wie »postnatal« oder »postklimakterisch« in ­a llen drei politischen Systemen als absolut üblich. In der Bundesrepublik gab es einen Fall, in dem eine Frau auf Unzurechnungsfähigkeit begutachtet und dazu überprüft wurde, ob es eine ursächliche Verbindung zwischen den ihr zu Last gelegten Vergehen, wie Lügen und Geldentwendung, und dem Auftreten ihrer Periode gäbe.228 Da es sich um den einzigen Fall dieser Art unter allen untersuchten Akten handelt, zeigt er eher die Breite des Möglichen als das Typische. Eine Verbindung zwischen Menstruationszyklus und Zurechnungsfähigkeit wurde letztlich verneint, aber nicht, weil der Zusammenhang als solcher als unwahrscheinlich galt, sondern weil die Daten der Vergehen nicht mit den Daten der Menstruation übereinstimmten.229 Für das Gutachten wurden

226 Ebd., Eintrag v. 18.8.1958. 227 Bumke, S. 2. 228 LHA Marburg, Patientenakte Sign. K9944F, Gutachten v. 6.12.1941, LWV Hessen, 16. 229 Ebd., Gutachten v. 6.12.1941, S.29.

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Familienmitglieder nach dem zeitlichen Zusammenfall der Menstruation mit den der Frau vorgeworfenen Gesetzesübertretungen befragt. Ärzte und Laien gingen dieser Möglichkeit also ernsthaft nach.230 Hier zeigt sich, wie frauenspezifisch die Diagnosesuche sein konnte und dass es durchaus geteilte Ausgangspositionen bei Ärzten und Laien gab. In den vorher genannten Diagnosen von Birgit S.  zeigt sich andererseits, dass ärztliche Diagnosen und Laiennarrativ deutlich voneinander abweichen konnten. Es ist (gerade für eine Nicht-­ Medizinerin) anhand der Akten nicht rekonstruierbar und auch nicht Ziel der Untersuchung, festzustellen, wie Diagnosen jeweils zustande kamen und ob sie zu trafen. Die Unterscheidung zwischen reaktiven und endogenen Psychosen galt jedoch traditionell als schwierig.231 Hier wird lediglich konstatiert, dass sich die ärztliche Diagnose und die Einschätzung der Laien unterscheiden konnten, aber nicht mussten, und danach gefragt, ob und wie dies thematisiert wurde. Im Folgenden geht es daher um die Kommunikation der Familien mit den Ärzten. 4.3 Briefwechsel zwischen Laien und Ärzten In den hier untersuchten Krankenakten spielten medizinische Fragen in den Briefen der Laien eine untergeordnete Rolle – oder wurden überhaupt nicht angesprochen. Zwar äußerten Familienmitglieder sich in der subjektiven und objektiven Anamnese hierzu, weil die Ärzte immer nach dem Krankheitsbeginn und -verlauf fragten. Sie wandten sich jedoch nicht mit entsprechenden Anliegen, Fragen oder Einschätzungen selbst an die Klinik oder Anstalt. Dies stand im Kontrast zum Fokus des NS-Regimes auf Fragen von Gesundheit und Vererbung. Das Interesse des Staates und der Anstalten an diesen Fragen spiegelt sich auch in den Krankenakten. Zum einen wurde standardisiert abgefragt, ob der eingewiesene Mensch unter das »Sterilisierungsgesetz« fiel. Zum anderen folgten im »ärztlichen Beobachtungsbogen« nach der Seite, die die Patientin oder den Patienten betraf, mehrere vorstrukturierte Seiten für Angaben zur Familie, die es in der Nachkriegszeit nicht mehr gab. Gerade die außerordentliche Fokussierung des Regimes sowie von Ärzten und medizinischen Institutionen auf Krankheit und Vererbung führte dazu, dass Patientinnen und Patienten die Anstalten seltener aus medizinischen Gründen aufsuchten. Dementsprechend wurde das Thema Krankheit und Diagnostik auch seltener zwischen Ärzten und Laien thematisiert. Regelmäßig verhandelt wurde es in der Kriegszeit nur in der Abklärung von Diagnosen. Diese Verhandlung fand in Universitäts- und Nervenkliniken und nicht in Heilund Pflegeanstalten statt. In Greifswald gab es Einweisungen zur Klärung der

230 Ebd., Gutachten v. 6.12.1941, S. 1 ff. 231 Fabisch u. a., S. 29.

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Diagnose vor allem für MS und Epilepsie. Bei MS verhielt es sich so, dass die­ Patientinnen und Patienten zwar kamen, um die Ursache ihrer Beschwerden zu finden, nicht aber, um sich stationär behandeln zu lassen. Die stationäre Aufnahme bei Epilepsie ergab sich oft, weil ein Mensch während oder u ­ nmittelbar nach einem Anfall ins Krankenhaus gebracht wurde oder weil er oder sie in Folge eines Anfalles zur Begutachtung einbestellt worden war. Menschen mit MS kamen also oft, weil sie nicht wussten, dass sie MS hatten, und an Epilepsie Leidende fanden sich nicht freiwillig zur Untersuchung ein. Diese Aufnahmen in direkter Folge eines epileptischen Anfalls gehörten zu den seltenen Fällen, in denen die differenzierte Einordnung der Krankheit in der Kriegszeit ein Thema zwischen Arzt und Patientin oder Patient darstellte. Das Anliegen der Eingewiesenen war es die Diagnose »genuine Epilepsie« zu verhindern, die in jedem Fall zur Sterilisation führte. Dies war möglich, wenn der Arzt zu der Auffassung gelangte, es handele sich um einen isoliert aufgetretenen epilep­ tischen Anfall, der durch ein konkretes Ereignis ausgelöst worden sei. Solch eine Einschätzung führte zur weniger folgenreichen Diagnose »symptomatische Epilepsie«. Ein Beispiel für das erfolgreiche Erlangen dieser Diagnose ist die »Begutachtung wegen Anfällen« Christel D.s 1941.232 Die ärztliche Zusammenfassung in der Krankenakte lautete: »Einige Tage nach der Fehlgeburt hat sie dann einen Anfall gehabt, sie weiß, daß sie bewußtlos gewesen ist aber nichts Näheres. Sie meint, daß es nur ein Anfall gewesen sei, wenn es 2 waren, dann müssen sie wohl an einem Tag stattgefunden haben. Seitdem ist kein Anfall mehr aufgetreten. Wesensveränderungen in der ihr geschilderten Art habe sie an sich nicht bemerkt. Sie habe ihre ganze Wirtschaft im Kopf, arbeite heute so schnell wie früher. Sie rauche tgl. eta 3 Zigaretten. Während der Untersuchung und auf der Station ist die Pat. Völlig unauffällig. Sie unterhält sich lebhaft, spielt Klavier. Gibt auf Fragen klare, eindeutige Antworten, ist in intellektueller Hinsicht recht gut, drückt sich gewandt aus, weiß mit allem gut bescheid. Keine Verlangsamung, keine Stumpfheit, keine leichte Reizbarkeit.«233

Christel D. konnte ihren Anfall in ein ursächliches Verhältnis zu ihrer Fehlgeburt stellen und zudem glaubhaft machen, dass es sich um ein einmaliges Vorkommnis gehandelt habe, von dem keinerlei Nachwirkungen geblieben seien. Der Zusammenhang mit der Fehlgeburt war überzeugend, da psychia­ trische und neurologische Patientinnen immer auf jede Art von gynäkologischer oder sexueller Auffälligkeit untersucht wurden. Anderes Verhalten, Empfinden oder körperliche Extremreaktion brachten die Ärzte regelmäßig mit spezifisch weiblichen Ereignissen, wie Geburt, Fehlgeburt, Schwangerschaft,­

232 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1941/770, Eintrag v. 6.1.1941, UA Greifswald, PsychN. 233 Ebd., Eintrag v. 22.1.1941.

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Menstruation oder Wechseljahre in Zusammenhang.234 Die Patientin führte aber auch zwei wichtige andere Punkte an. Sie konnte plausibel darstellen und vorleben, dass sie voll arbeitsfähig und sozial absolut integriert war. In der Nachkriegszeit änderte sich die Tatsache, dass Laien nur selten und dann oft unfreiwillig mit Anstaltsärzten zur Klärung medizinischer Fragen oder der Bitte um Hilfe in Kontakt traten. Ehefrauen oder Ehemänner, Söhne oder Töchter, Väter oder Mütter schrieben nun nicht nur an die Anstalten, um Einweisungen zu forcieren oder zu verhindern, sondern auch mit anderen Anliegen. Die Art der Kommunikation unterschied sich allerdings in Ost und West. In zahlreichen der mehr als 400 für die frühe Bundesrepublik durchgesehenen Einzelfallakten wandten sich Familienmitglieder, aber auch Patientinnen und Patienten selbst, in Briefen mit Gesuchen um Hilfe und Ratschläge an Ärzte. Meistens war dies der Fall, wenn eine Patientin oder ein Patient schon mehrmals in der gleichen Klinik oder Anstalt gewesen war, die Institution und einzelne Ärzte also bekannt waren. Im Falle des bereits neun Mal in die LHA Marburg eingewiesenen Walther M. wandte sich seine Ehefrau 1948 an den behandelnden Arzt. In der Krankenakte ist lediglich ein Durchschlag des Antwortbriefes des Arztes enthalten, der auf die Anliegen der Ehefrau einging. Thematisiert wurden Ernährungszulagen und die Beantragung »zusätzlichen Wohnraums«. Beides versprach der Arzt durch ein Schreiben an die entsprechenden Stellen zu unterstützen. Er berichtete der Ehefrau des Patienten auch, dass er ihrem Ehemann aufgrund seiner anhaltenden Nachfragen versichert habe, er könne bei einer Verschlechterung seines Zustandes auf erneute Hilfe in der Anstalt zählen.235 Viel seltener als in dieser typischen Situation wandten sich Angehörige bereits vor der ersten Einweisung an Kliniken oder Anstalten, also an einen ihnen unbekannten Arzt in einer Institution, mit der sie noch nie Kontakt hatten. Wenn sie es doch taten, handelte es sich oft um Fälle, in denen die Familie der Mittelschicht entstammte und ein männliches Familienmitglied einen Arzt um Rat bat. Im Zuge dieser Einweisungen wurde die unterschiedliche Einordnung der Erkrankungen zwischen Psychiatern und Laien auch in der Krankenakte thematisiert. Dies kann beispielhaft an der Einweisung Stefan A.s verdeutlicht werden. Die Einweisung ist darüber hinaus exemplarisch für den Umgang bürgerlicher Schichten mit erkrankten Familienmitgliedern und ihr Verhältnis zur Psychiatrie. Stefan A. war 1947 ein Anfang 20-jähriger Student, sein V ­ ater besaß eine Apotheke.236 Die Einweisung wurde angebahnt, indem der Vater des­ 234 In der Forschung ist unumstritten, dass psychiatrische Diagnosen geschlechtsspezifische Aspekte aufweisen. Vgl. zusammenfassend u. a.: Meier u. a., S. 44. 235 LHA Marburg, Patientenakte Sign. K10563M, Brief a. d. Ehefrau v. 15.12.1948, LWV Hessen, 16. 236 HPA Eglfing-Haar, Patientenakte Sign. EH 4383, Aufnahmebogen v. 25.1.1947, AB Oberbayern, EH.

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späteren Patienten einen Brief an die Nervenklinik München schrieb, um sie hinsichtlich seines Sohns zu konsultieren.237 Zu Beginn des Schreibens schilderte der Vater das Verhalten des Sohnes und gab eine ganze Reihe von Ur­ sachen an, auf die es zurückführbar sei: »Unser jüngster Sohn [Stefan, d. Vf.], stud med. im 3. Semester, 24 Jahre alt, leidet offensichtlich an geistigen Störungen psychischer Art. Er war 5 Jahre beim Militär als Funker und tat als solcher in Russland bei Stalingrad usw. anstrengst Dienst beim Gruppenoberkommando und klagte seinerzeit besonders über den anstrengen und aufreibenden Nachtdienst. Bei Kriegsende erlebte er durch die Flucht und Gefangennahme dann wieder Auslieferung an die Russen und abermaliger diesmal geglückter Flucht viele aufregende Situationen, so dass die Vermutung nahe liegt, dass etwas zurückgeblieben sein könnte, was das Nervensystem in Unordnung brachte. In unserer Verwandtschaft ist uns kein Fall von Schizophrenie oder dergl. bekannt. Die Depression begann schon bald nach der Heimkehr 1945 im Juli, als er das lange ersehnte Studium so lange nicht beginnen konnte, weil die Vorlesungen in München lange nicht beginnen konnten. Dann aber kam u.E. das Ausschlaggebende, das die seel. Depression auslöste: er verliebte sich und zwar wohl unglücklich und hatte viel Gelegenheit zur Eifersucht, was ihn vollkommen veränderte, so dass er seinen Eltern und Freunden gegenüber ganz umgewandelt ward, alle Lust zur Arbeit verlor und nun tagelang dahin döst, andauernd in ein Buch oder eine Zeitung stiert, ohne zu ­lesen. Kurzum er kommt uns oft ganz verbockt und verstockt entgegen.«238

Den Abschluss des Briefes bildete die Bitte, in die Nervenklinik kommen zu dürfen, um Ratschläge zu erhalten, wie weiter verfahren werden könnte und wie die Eltern sich dem Sohn gegenüber verhalten sollten.239 Der Vater ordnete die Erkrankung des Sohnes in dem Schreiben in mehrfacher Weise ein. Er stellte die Vermutung auf, verschiedene Kriegserlebnisse und -belastungen könnten eine Ursache des Verstimmungszustands gewesen sein. Dann wurden zwei auslösende Faktoren angegeben, die die Eltern als ausschlaggebend betrachteten, die Verzögerung des Studienbeginns nach dem Krieg und eine unglückliche Liebe. Außerdem schilderte der Vater, inwiefern das Verhalten des Sohnes auffällig war: er schlafe viel, habe keine Freude am Arbeiten, sei unzugänglich für seine Mitmenschen. Aus Sicht des Vaters handelte es sich um eine Depression, die auf benennbare äußere Umstände zurückzuführen sei. Diese Argumentation stützte er, indem er angab, dass in seiner Familie keine Geisteskrankheiten, wie Schizophrenie, vorkämen. Ungefragt verwehrte der Vater sich damit gegen die Möglichkeit, es könne sich um eine erbliche Erkrankung handeln. Stefan A. wurde daraufhin für drei Tage stationär in der Nervenklinik aufgenommen und dann nach Eglfing-Haar verlegt. In dem Überweisungsschreiben an Eglfing-Haar schrieb der einweisende Arzt der Nervenklinik, die Eltern

237 Ebd., Brief d. Vaters a. d. Nervenklinik München v. 18.1.1947. 238 Ebd. 239 Ebd.

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wollten die Schwere der Erkrankung nicht wahr haben und schöben sie auf externe Faktoren, wie Liebeskummer und Eifersucht. Der einweisende Arzt ging hingegen von einer endogenen Psychose aus. Die Ärzte in Eglfing-Haar schlossen sich der Auffassung der Universitätsklinik an.240 Hier wurde also die unterschiedliche Art der Erklärung zwischen Ärzten und Familie thematisiert. In Haar nahmen die Ärzte eine Insulin-Schockkur vor, danach entließen sie Stefan A. Es ist der Krankenakte nicht zu entnehmen, wie der Vater auf die Nachricht der Ärzte reagierte, es handele sich um eine endogene Erkrankung und nicht um Reaktionen auf eine Häufung unglücklicher Ereignisse. Sicher kann nur festgestellt werden, dass die Eltern langfristig den Weg einschlugen, den Ärzten zu vertrauen und deren Einschätzung nicht in Frage zu stellen. Denn sie schrieben weiterhin Briefe sowohl an die Universitätsklinik als auch nach Eglfing-Haar, in denen sie um Rat baten. Unklar bleibt dabei, ob die Ärzte sie von ihrer Krankheitseinordnung überzeugten oder ob sie nur Entlastung in der Entscheidung, was zu tun sei, benötigten. Letzteres spielte in jedem Fall eine Rolle, wie den Briefen zu entnehmen ist. So brachten die Eltern im Dezember desselben Jahres ihren Sohn erneut in die Nervenklinik. Als er dort nach einigen Tagen entlassen werden sollte, da er wieder »ganz ruhig« sei, schrieb der Vater nach Eglfing-Haar.241 Er legte dar, dass es diesmal vor der Aufnahme in die Universitätsklinik noch mehr »Schwierigkeiten« mit dem Sohn gegeben habe als vor der ersten Einweisung. Angesichts der Entlassung aus der Nervenklinik erkundigte sich der Vater, ob er deswegen Stefan nicht wieder nach Eglfing-Haar bringen könnte, obwohl der Sohn sich heftig dagegen sträube, er habe »einen Horror vor Eglfing«.242 Dr. B. antwortete noch am selben Tag, »es gibt gar nichts anderes als den Patienten hierher verbringen zu lassen. Nicht nach Hause nehmen. Ein längerer Anstaltsaufenthalt ist das Richtige.«243 Bei der intensiven Kommunikation des Arztes mit dem Vater ist zu berücksichtigen, dass Stefan A. als Privatpatient nach Eglfing-Haar kam. In dem Verhalten des Vaters zeigten sich Vertrauen und eine hohe Bereitwilligkeit, ärztlichen Rat anzunehmen, die auf ein positives Verhältnis von Angehörigen der Mittelschicht zur Institution Psychiatrie zurückzuführen ist. Das Bürgertum unterschied sich nicht erst im 20.  Jahrhundert von anderen Bevölkerungsgruppen durch seine höhere Bereitschaft, Hilfe bei Psychiatern zu suchen.244 Bemerkenswert ist, dass dieses Vertrauen durch die NS-Zeit nicht grundlegend erschüttert worden war. Bei dem geschilderten Fall handelte es sich nicht um einen Einzelfall. Einer unter mehreren anderen Fällen war z. B. die Einweisung 240 Ebd., Eintrag i. d. Krankengeschichte v. 16.1.1947. 241 Ebd., Schreiben d. Vaters a.HPA Eglfing-Haar [o. D., Eingangsstempel: 9.12.1947]. 242 Ebd. 243 Ebd., Brief v. Dr. B. an d. Vater v. 9.12.1947. 244 Goldberg, S. 178; vgl. hierzu zusammenfassend auch in dieser Arbeit Kapitel I.

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Elfriede L.s. Ihr Hausarzt und die Familie hatten gemeinsam ihre Einweisung nach Eglfing-Haar initiiert.245 Ähnlich wie die Eltern Stefan A.s war auch der Vater Elfriede L.s voller Vertrauen und Dankbarkeit gegenüber dem behandelnden Arzt in Eglfing-Haar. Dies tritt z. B. in einem Brief des Vaters, den dieser etwa eineinhalb Monaten nach Beginn des Anstaltsaufenthalts seiner Tochter an den Arzt schrieb zu Tage: »Sehr geehrter Herr Dr. L.! Für Ihr Schreiben vom 21.01.1949 danke ich Ihnen herzlich. Vor allem herzlichen Dank für die ärztlichen Bemühungen Ihrerseits dafür, dass bereits bei meiner Tochter schon eine Besserung eingetreten ist. Ich bin darüber so glücklich, dass ich es Ihnen gar nicht mit Worten schreiben kann. Auch Ihre Versiche­rung, dass Sie zur Wiedergenesung meiner Tochter alles tun werden, freut mich aufrichtig. Meine Schwester, Frau [F., d. Vf.], hat mir ja schon wiederholt von Ihren großen Bemühungen, meine Tochter wieder gesund zu machen, berichtet. Hoffent­lich, sehr verehrter Herr Dr. L., kann ich mich Ihnen gegenüber auch einmal erkenntlich zeigen. Vielleicht kommen Sie mal in unserem schönen Kurort zur Erholung u. würde mir dann erlauben, Sie einzuladen. Auch würde ich mich sonst event. für gute Quartiersbesorgung usw. gerne zur Verfügung stellen. Ich komme am Sonntag, den 30. ds. Mts. von 10–12 Uhr in die Anstalt zu Besuch ­meiner Tochter u. würde mich freuen, wenn ich Sie persönlich treffen könnte. Zur gewünschten Insulinbehandlung kann ich mich nicht äußern, weil ich das nicht verstehe. Dies hat mir nur der Abteilungsarzt von der Nervenklinik München geraten. Ich möchte das Ihnen, sehr verehrter Herr Dr. L., allein überlassen. Indem ich Ihnen nochmal für Ihre aufopfernde Tätigkeit u. für Ihr Schreiben danke grüßt Sie in aller Hochachtung, […].«

Die beiden Beispiele aus Eglfing-Haar sind auch deshalb erwähnenswert, weil bereits vier Jahre nach Kriegsende ein solch vertrauensvolles Verhältnis bei Verwandten von Patientinnen oder Patienten, die der Mittelschicht zuzuordnen sind, nicht ohne weiteres zu erwarten waren.246 Eglfing-Haar hatte nämlich die Krankenmorde auch nach Beendigung der Aktion T4 massiv weitergeführt, etwa durch die Einrichtung von Hungerhäusern. Bereits kurz nach Kriegsende 1945 berichtete der Bayrischen Rundfunk hierüber, so dass die verbrecherische Vergangenheit des Hauses bekannt war.247 In der DDR hingegen baten die Verwandten nicht nur um Rat. Viel öfter machten Angehörige Vorschläge zur Behandlung als in den westdeutschen Fällen. Auf diese Vorschläge antwortete das Anstaltspersonal normalerweise, so dass sie Eingang in die Krankengeschichten fanden. Als typisches Beispiel kann der 245 HPA Eglfing-Haar, Patientenakte Sign. EH9682, Eintrag v. 9.12.1948, AB Oberbayern, EH. 246 In den Krankenakten-Beständen Bethels und der LHA Marburg finden sich zahlreiche vergleichbare Fälle. 247 Stockdreher.

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Briefwechsel zwischen Rodewisch und Annegret M. angeführt werden, deren volljährige Tochter 1953 das fünfte Mal in Rodewisch untergebracht war.248 So schrieb die Mutter im März, sie glaube nicht, dass es für ihre Tochter gut sei, »so oft geschockt« zu werden, und bat darum, zu prüfen, ob es ihr nicht auch ohne die Schockbehandlung gut gehe.249 Ganz anders als in den beiden vorherigen Einweisungsbeispielen aus Eglfing-Haar sah die Mutter der Patientin sich hier als kompetent genug, um eine eigene Meinung zum Krankheitsverlauf und zur Behandlung abzugeben. Der Vater Elfriedes aus dem vorherigen Beispiel hingegen wollte sich selbst auf explizite Anfrage des Arztes nicht dazu äußern, ob er eine Insulinkur befürworte oder nicht. Die Mutter Annegrets überlegte auch, die Tochter wieder nach Hause zu holen und schrieb: »So gerne ich meine Tochter holen möchte, so bange ist es mir auch darum, sie in Kürze wieder nach dort zu bringen. Kann man von einer Besserung sprechen? Kann es sein, daß im Sommer die Hitze auf die Krankheit eingewirkt hat?«250 Die behandelnde Ä ­ rztin, Dr. M., antwortete zwei Wochen später und ging auf die Anliegen der Mutter ein. Sie schrieb, man habe nun versucht, ohne Elektroschocks auszukommen, es gehe aber nicht.251 In den nächsten Briefen ging es um eine Beurlaubung über Ostern. Im Juni wandte Annegret M. sich erneut mit einem Anliegen an die Ärztin; sie schrieb: »Sehr geehrtes Frl. Dr. Ich möchte mich heute mit einem Anliegen an Sie wenden. Wäre es nicht möglich, dass Sie meiner Tochter Fr. [Marie M., d. Vf.] ab und zu etwas Ausgang genehmigen würden. Sofern es ihr Zustand erlaubt. Ich denke, dass sie größtenteils gut beisammen ist. Vielleicht wäre es möglich mit einer ebensolchen Patientin. Es trägt doch bestimmt auch zur Besserung der Krankheit bei, wenn sich der Pat. auf etwas freuen kann. Ich weiß dass Sie sich schwer dazu entschließen können, weil meine Tochter vor Jahren einmal versuchte zu entkommen. Meiner Ansicht nach, kann man aber nicht immer so hart verfahren, und es wäre vielleicht angebracht, einmal eine Lockerung in das eintönige Anstaltsleben zu bringen. Zumal sich doch auch meine Tochter dort beschäftigt. […]«252

Die Mutter ließ die Ärztin hier erneut wissen, was ihrer Meinung nach gut für die Tochter in der Anstalt sei und was die Ärzte dementsprechend ändern könnten. Die Ärztin antwortete daraufhin, dass Marie M. schon seit mehreren Wochen gemeinsam mit einer Mitpatientin regelmäßig das Anstaltsgelände verlasse.253 Sie fügte hinzu: »Uns liegt ja selbst daran, unsere Patienten ihrer 248 KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 4895, Briefe d. Mutter 2.3.–10.9.1953, SächSta Chemnitz, 32810. 249 Ebd, Brief d. Mutter v. 2.3.1953. 250 Ebd. 251 Ebd., Brief v. Frau Dr. M. an d. Mutter v. 16.3.1953. 252 Ebd., Brief d. Mutter v. 19.6.1953. 253 Ebd., Brief Dr. M. an d. Mutter v. 24.6.1953.

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Eigenart entsprechend zu behandeln und wir freuen uns, wenn das seelische Befinden der Kranken es uns erlaubt, ihnen größere Freiheiten zu gewähren.« Überlegungen und Interventionen von Verwandten, wie sie in diesem Briefwechsel vorliegen, waren in den untersuchten Einrichtungen der DDR nicht ungewöhnlich. Hier sei auch noch einmal an die Beispiele aus dem vorangegangenen Kapitel gedacht, etwa an die Rolle der Schwester Walpurga R.s bei der Entlassungsentscheidung.254 Der Befund passt in das Bild, das sich bei der Analyse der Zwangseinweisungen in Kapitel III ergeben hat. Deutlich weniger Patientinnen und Patienten wurden formal zwangseingewiesen, stattdessen wurden Einweisungen von Angehörigen und Ärzten auch bei mündigen Personen gegen deren Willen beschlossen und durchgeführt. Der ganze Aufenthalt beruhte oft auf dem Wunsch der Verwandten und dem Einverständnis der Ärzte. Auch die Dauer des Aufenthalts hing an der Entscheidung der Familie. In diesem Punkt unterschieden sich DDR und Bundesrepublik deutlich voneinander. Wenn sich die Initiierung von Zwangseinweisungen in der Bundesrepublik bis zu einem gewissen Grad mit dem Vorgehen in der DDR vergleichen lässt, weil auch in der Bundesrepublik oft die Familie die treibende Kraft für Zwangseinweisungen war und richterliche Beschlüsse nachgeholt wurden, war die Situation nach der Aufnahme in den beiden Staaten eine gänzlich verschiedene. In der DDR blieben die Verwandten gegenüber den Ärzten in einer größeren Machtposition, da sie über die Länge des Aufenthalts bestimmten und nicht eine Polizeibehörde, wie in der NS-Zeit, oder ein Gericht, wie in der Bundesrepublik. Die Vorschläge und Forderungen der Familien spiegeln so die spezifischen Machtverhältnisse in der DDR wider, in denen die Familien der Patientinnen und Patienten auf Basis ihrer größeren Entscheidungsbefugnis auch in den Bereich der ärztlichen Expertise eindrangen. Das Resümee Udo ­Schagens und Sabine Schleiermachers zum Aufbau des Gesundheitssystems in der DDR, dass dort »trotz Abschaffung der früheren standesrechtliche gestützten Organisations- und Definitionsmacht der Ärzte die Vorherrschaft ärztlich-medizinischen Denkens in allen Fragen von Gesundheit und Krankheit erstaunlich ungebrochen erhalten« blieb,255 ist vor diesem Hintergrund für die Einweisungspraxis nur bedingt stichhaltig. Es trifft insofern völlig zu, als dass die Psychiater ihre Machtposition gegenüber anderen institutionellen Akteuren ausbauen konnten, seien es Polizei oder Kommunen. Wenn jedoch nicht-institutionelle Akteure in der Einweisungspraxis betrachtet werden, ist für die DDR durchaus eine selbstbewusstere Haltung und Beanspruchung von Deutungsmacht auf Seiten der medizinischen Laien festzustellen.

254 KA Großschweidnitz, Patientenakte Sign. 2741, HSta Dresden, 10822. 255 Schagen u. Schleiermacher, S. 423.

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4.4 Wissenszirkulation zwischen Ost und West: Laien-Forderungen nach »westlichen« Behandlungsstandards Neben Ratschlägen und Forderungen an die Ärzte gab es ein weiteres Thema zwischen Verwandten und Ärzten, das sich öfter in den Krankenakten findet und unmittelbar mit der Teilungssituation zu tun hatte. In den Krankenakten wurde immer wieder festgehalten, dass Angehörige der Patientin oder des Patienten versuchten, Medikamente oder medizinische Geräte aus dem Westen zu beschaffen. So endete z. B. ein Eintrag in der Krankenakte Manfred L.s nach einem Besuch seines Sohnes in Großschweidnitz im Dezember 1956 mit der Bemerkung: »Der Sohn will versuchen, im Westen einen Hörapparat für den Vater zu bekommen. Außerdem will er versuchen Raupina und Megaphen zu besorgen.«256 Bei beiden Mitteln handelte es sich um Antidepressiva, denn der Vater war auf Grund einer Depression in Großschweidnitz. In der DDR standen Psychopharmaka in den 1950er Jahren viel seltener zur Verfügung als in der Bundesrepublik.257 Unklar bleibt hier, welche Seite die Idee des Medikamentenimports aufbrachte, Arzt oder Angehöriger. Aus anderen Akten geht hervor, dass es Fälle gab, in denen der Vorschlag von den Laien kam. Die potentielle Verfügung des familiären Umfeldes über medizinische Ressourcen, v. a. über Psychopharmaka, verwischte zusätzlich zu der ungeregelten Form der Einweisung die etablierten Machtverhältnisse zwischen Arzt und Laien in der DDR.258 Die asymmetrische medizinische Versorgung zwischen Ost und West hatte noch weitere Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Laien und Ärzten. Nicht nur durch die Beschaffung von Medikamenten blieben Ost und West verbunden. Es kann auch ein nicht unerheblicher Wissenstransfer konstatiert werden. Gegenüber den eigenen Ärzten beriefen sich die Patientinnen und Patienten immer wieder auf Wissen, Methoden und Therapien aus der Bundes­ republik.259 Besonders eindrücklich tritt dies in Eingaben von Patientinnen und Patienten mit MS an das Ministerium für Gesundheitswesen zu Tage. Aus drei Gründen wird gerade diese Erkrankung als Beispiel genommen. Zum einen stellte MS die Ärzte immer vor das Problem der Unheilbarkeit und der erfolglosen Behandlung. Zum anderen und unmittelbar damit zusammenhängend gab es zahlreiche Eingaben von an Multipler Sklerose erkrankter Menschen. Im Ministerium existierte eine eigene Sammlung der Eingaben von MS-­Patien­ ten, aber auch unter den Eingaben, die allgemein unter Psychiatrie eingeordnet wurden, ging es in zahlreichen Fällen um Multiple Sklerose.260 Der Eingaben256 KA Großschweidnitz, Patientenakte Sign. 686, Eintrag v. 27.12.1956, HSta Dresden, 10822. 257 Vgl. hierzu: Klöppel. 258 Zur Bedeutung der Verfügung über Ressourcen aus dem Westen für die realen Macht­ verhältnisse in der DDR, vgl.: Fulbrook, Leben, S. 63 f. 259 Seltener setzten westdeutsche Bürgerinnen und Bürger Hoffnungen in »sowjetische« Behandlungsmethoden. 260 Vgl.: BAB, DQ 1/3902; BAB, DQ 1/21228; BAB, DQ 1/21230.

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bestand zu Psychiatrie und Multipler Sklerose ist dabei auch unter dem zuvor behandelten Aspekt der unterschiedlichen Stilisierung von Neurologen und Psychiatern als wissenschaftliche Experten weiterführend. Es zeigt sich, dass anders als von den Neurologen dargestellt, aus Sicht der Patientinnen und Patienten nicht egal war, wo und von wem sie bei einer neurologischen Erkrankung diagnostiziert und behandelt wurden. In den Eingaben geht es um eine brisante Lage: Die Patientinnen und Patienten versuchten eine Genehmigung für einen stationären Aufenthalt in der Bundesrepublik zu erhalten. Dies wurde nicht bewilligt und stattdessen jeweils eine Einweisung in eine Einrichtung in der DDR vorgeschlagen. Die Eingaben der Patientinnen und Patienten mit MS oder ihrer Angehörigen an das Ministerium für Gesundheitswesen sind von der Enttäuschung darüber geprägt, dass ihnen die Ärzte in der DDR nicht helfen konnten. Es verhielt sich zwar keineswegs so, dass es in anderen Ländern, östlich oder westlich des Eisernen Vorhangs, erfolgreiche Behandlungsmethoden geschweige denn Heilungserfolge gegeben hätte. In den Eingaben nahmen die Laien jedoch sehr oft einen Zusammenhang zwischen den Gegebenheiten in der DDR und der Tat­sache an, dass ihnen nicht geholfen werden konnte, und suchten nach Auswegen hierfür. In zahlreichen Schreiben baten Menschen um Kuren in der Bundesrepublik. Beispielsweise schrieb Margot M. 1961 an die Ministerin, Dr. Lammert: »Ich bitte um Genehmigung einer Kur in Westdeutschland, um eine weitere jahrelange Invalidität zu verhindern und mich dem Arbeitsprozeß wieder zuzuführen.«261 Sie schilderte ihren Krankheitsverlauf und führte aus, sie habe von einer Frau aus Luxemburg gehört, die eine erfolgreiche MS-Kur in Paris gemacht habe. Die Kur basiere auf der Annahme, dass MS durch einen Virus ausgelöst werde.262 Sie fügte hinzu: »Leider kann diese Kur nach Angaben der Ärzte bei uns nicht durchgeführt werden.«263 Aber nach Aussage ihres Bruders in Westdeutschland sei die Kur in Kassel möglich. Sie schloss den Brief mit der Bitte, ihr eine Behandlung in der Bundesrepublik zu genehmigen. »Ich bitte den FDGBBundesvorstand mir zu helfen meine Gesundheit wiederzuerlangen u. mir diese Kur zu ermöglichen«.264 Dieser Brief verdeutlicht zwei Punkte. Patientinnen und Patienten erlangten zum einen ein nicht unerhebliches Spezial­w issen über mögliche Ursachen und Therapien für ihre Erkrankung. Auch andere an MS erkrankte Menschen baten um bestimmte Kuren. So gab es häufig Nachfragen nach Dr. Evers Rohkosttherapie265 oder nach Frischhormon­t herapien.266 261 Schreiben an d. Ministerin v. 15.8.1961, BAB, DQ1/21230. 262 Ebd. 263 Ebd. 264 Ebd. 265 Viele Patientinnen und Patienten eigneten sich die Annahme an, ein deutlich reduzierter Fettkonsum würde die Schubrate senken, vgl.: Murray, S. 87. 266 BAB DQ1/3902, Eingaben Psychiatrie 1952–1954, bspw.: Eingabe v. 28.07.1954.

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Die von Margot M. erwähnte Annahme, MS werde durch einen Vi­rus ausgelöst, war in der Tat die dominierende Theorie in der westlichen Welt.267 Zum anderen bezog sich dieses Spezialwissen auf Forschungen und Einrichtungen außerhalb der DDR. Das Wissen zirkulierte dabei über persönliche Verbindungen, wie im Fall von Margot M., die sich auf Bekannte und Verwandte bezog. Typisch ist auch der – im »Arbeiterstaat« wahrscheinlich wohlkalkulierte – Hinweis, die Kur diene schließlich dazu, die Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen. Die Anfrage von Margot M. wurde, wie auch alle anderen Anfra­gen nach Behandlung im Ausland, abgelehnt.268 Statt einer Kur in der Bundes­republik oder in einem anderen Land  – auch Aufenthalte in sozialistischen Nachbarländern wurden nicht genehmigt – wurde meist ein stationärer Aufenthalt in der DDR in Aussicht gestellt.269 Da es jedoch einen permanenten Bettenmangel in der Neurologie gab, wurde den Betroffenen oft mitgeteilt, »wir hoffen, Ihnen in Kürze einen Aufenthaltstermin bekanntgeben zu können.«270 Anders als ­Margot M. schrieben manche Menschen nach einer abschlägigen Antwort erneut einen Brief an das Ministerium für Gesundheitswesen, in dem sich meist bittere Enttäuschung ausdrückte, aber auch Kritik am Staat, z. B. in Irmgart H.s Schreiben: »Über die Absage war ich gar nicht erstaunt, musste ja kommen. Die Regierung war meine letzte Hoffnung. Ist es etwa schön wenn man den Staat nur Geld kostet und nirgends werde ich geholfen. Von Jahr zu Jahr hofft man das es besser wird. Das Leben ist so kurz und wenn man von dem Staat etwas erbittet so erlebt man nur Enttäuschungen. […] Glauben Sie mir Frau Dr., es ist furchtbar nur immer Danke zu sagen.«271

Dieser Brief zeigt exemplarisch, dass bei den Patientinnen und Patienten das Gefühl vorherrschte, anderswo könnte ihnen geholfen werden. Hier schien der Satz, mit dem Dr. Lammerts standardmäßig jedes der Antwortschreiben begann und der diesen Einwand vorweg nahm keine Wirkung auf die Patienten gehabt zu haben: »Es gibt für Ihre Krankheit in der ganzen Welt noch nicht das richtige, d. h. für alle Fälle wirksame Mittel.«272 Die Aussage, es gebe kein für alle Fälle wirksames Mittel, erscheint vor dem damaligen Stand der Forschung und der Therapiemöglichkeiten sogar noch erstaunlich positiv. Zwar waren die 1950er und 1960er Jahre durch wissenschaftlichen Optimismus gekennzeich-

267 Murray, S. 252. 268 Es wurde der komplette Eingabenbestand zu Multipler Sklerose gesichtet. Allerdings wurden nicht alle allgemeinen Eingaben zu Psychiatrie gesichtet, unter denen sich in den durchgesehenen Jahren 1952–1954 und 1959–1963 ebenfalls Eingaben zu MS befinden: BAB, DQ 1/3902; 21228; 21230. 269 Z. B.: Schreiben Dr. Lammert v. 3.4.1962, BA Lichterfelde, DQ1/3902. 270 Ebd. 271 Schreiben v. 22.12.61 an Dr. Lammert, BAB, DQ1/3902. 272 Beispielsweise: Schreiben v. 6.1.1962, BAB, DQ1/3902.

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net, eine Behandlungsmöglichkeit für MS zu finden, blieb bis Ende der 1970er Jahre jedoch lediglich eine ferne theoretische Möglichkeit.273 Im Zusammenhang mit der internationalen Aufbruchsstimmung in der medizinischen Forschung stellt Murray in seiner Monographie zu Multipler Sklerose fest, dass in den 1950er Jahren auch in den USA Menschen beharrlich bei Ärzten nachfragten, ob es nicht doch eine Behandlungsmöglichkeit gebe.274 In dieser Hinsicht ähnelte das Verhalten der Patientinnen und Patienten in der DDR dem von Murray für die USA konstatierten. Bemerkenswert erscheint jedoch, dass die Erkrankten in der DDR durch Verbindungen mit anderen Laien im westlichen Ausland erstaunlich gut informiert waren und dass sie diesen weit mehr Glauben schenkten als den offiziellen und tatsächlich zutreffenden Informationen ihres Ministeriums für Gesundheitswesen, es gebe keine erfolg­reiche Behandlungsmethode. Dies ist zum einen auf die Verzweiflung angesichts einer unheilbaren Erkrankung zurückzuführen, die nicht allein für MS-Patien­ tinnen und Patienten in der DDR kennzeichnend war. Es finden sich auch vereinzelt Schreiben von westdeutschen Bürgern, die hofften, über die DDR könnten sie Zugang zu sowjetischen Heilmethoden erlangen. Ein Patient aus NRW schrieb: »Sehr geehrte Herren! Ich leide seit einigen Jahren an Multipler Sklerose. Nun ist mir bekannt geworden, dass russische Ärzte bei der Bekämpfung der Krankheit schon grosse Erfolge zu verzeichnen hätten. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir einen Weg weisen ­w ürden, wie ich eine Verbindung mit solchen Ärzten bekommen könnte. Etwaige Unkosten würde ich gerne erstatten. (…) Mit vorzüglicher Hochachtung!«275

Zum anderen zeigen die zahlreichen Wünsche nach westlichen Behandlungen aber auch, dass der Glaube an die Überlegenheit westlicher Medizin in der frühen DDR sehr weit verbreitet war. Dies ist nicht ausschließlich auf eine faktische Überlegenheit der westlichen Medizin zurückzuführen, sondern auf ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der eigenen. Der Argwohn der Betroffenen gegenüber der »sozialistischen« Neurologie und dem Gesundheitswesen der DDR saß so tief, dass es undenkbar schien, dass die Information des Ministeriums, MS sei nicht wirksam behandelbar, schlichtweg zutreffend war.

273 Murray, S. 224 ff. 274 Ebd., S. 224. 275 Schreiben v. 12.6.1961 an d. MfG d. DDR, BAB, DQ1/3902.

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5. Zusammenfassung: Krankheit und Diagnostik im Vergleich Unsicherheit prägte in der Kriegszeit sowie in beiden Nachfolgestaaten die Dia­ gnostik. Regelmäßig erhielten Patientinnen und Patienten mehrere voneinander abweichende Diagnosen. Die Zuordnungsschwierigkeiten zu einer Ziffer der jeweiligen Diagnoseklassifikation versuchten die Ärzte dadurch zu überwinden, dass sie den speziellen Verlauf, die Prognose oder die Ursache genauer spezifizierten. Abgesehen von diesen grundlegenden Gemeinsamkeiten wiesen medizinische Aspekte bei der Einweisungen während des Zweiten Weltkrieges einen geringeren Stellenwert auf als in der Nachkriegszeit. Erst in beiden Nachfolgestaaten wurden Probleme der Anamnese und der Diagnostik wieder Gegenstand von medizinischen Fachdiskussionen. In Ost und West bemühten sich die Psychiater ihre professionelle Deutung gegen die durch Laien und Ärzte ohne psychiatrische Fachausbildung durchzusetzen. Die unklare Ätiologie und die unscharfe Definition vieler psychiatrischer Erkrankungen stimulierten zudem unter den westdeutschen Fachvertretern grundsätzliche Debatten über das Wissenschaftsverständnis der Psychiatrie und das berufliche Selbstverständnis der Psychiater. Ein Wissenschaftsbegriff, der Objektivität in der Diagnose als intersubjektiv eindeutig kommunizierbare, auf klar beschreib- und messbaren Beobachtungen beruhende Zuordnung von Phänomenen zu Krankheitsdefinitionen verstand, stieß schnell an die Grenze seiner Plausibilität und Überzeugungskraft. Während die Neurologen trotz dieses Problems auf einem strikt naturwissenschaftlichen Objektivitätskonzept beharrten, propagierten psychiatrische Autoren in der Zeitschrift Der Nervenarzt das Ideal der Kennerschaft. Aufgrund seiner besonderen charakterlichen Begabung und seiner in der Praxis erworbenen tacit knowledge sei der Psychiater als Kenner in der Lage, geistige Erkrankungen intuitiv wahrzunehmen und zu bestimmen. In der DDR fand eine vergleichbare Diskussion nicht statt. Dies hing mit den ideologisch bedingten Voraussetzungen zusammen. Denn der sowjetischen, auf Pavlov gestützten Auffassung folgend, ließen sich psychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie letztlich auf eindeutige Ursprünge, nämlich auf Fehlfunktionen des Cortex, zurückführen. In der DDR gab es jedoch seit 1959 eine erstaunlich breit gefächerte Diskussion über Diagnoseklassifikationen, in der auch westliche Modelle vertreten und gegenüber dem Ministerium für Gesundheitswesen offensiv favorisiert wurden. Auch in der Zeitschrift Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie spielte das Pavlovsche Deutungsmuster nicht immer eine Rolle. Für den Bereich Schizophrenie bestätigt sich Anna Sabine Ernsts Feststellung, dass die Pavlovforschung in der Medizin neben anderen Forschungen herlief.276 276 Anna Sabine Ernst bewertet die Pavlov-Kampagne als nicht erfolgreich. Sie konstatiert, die Pawlowforschung in den 1950er Jahren sei unintegriert neben anderen Forschungen hergelaufen und habe keine Auswirkungen gehabt. Vgl.: Ernst, S. 335 ff.

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In der Bundesrepublik verlief sowohl die Diskussion um die Diagnoseklassifikationen als auch zur Schizophrenie einheitlicher und in traditionelleren Bahnen. In den USA oder der Schweiz viel diskutierte psychosoziale Erklä­ rungsansätze für Schizophrenie wurden mehrheitlich abgelehnt. Allerdings gewann die Anwendung der Psychotherapie zumindest in der theoretischen Diskussion an Akzeptanz. Dies hing wesentlich mit den veränderten Behandlungsmöglichkeiten durch Psychopharmaka zusammen, die es deutschen Psy­ chiatern ermöglichten, Psychotherapie zu integrieren, ohne ihre grundsätzliche Auffassung über die Ursache und den Verlauf von Geisteskrankheiten zu ändern. Die mehrheitlich ablehnende Haltung gegenüber amerikanischen Forschungsansätzen und Praktiken war den Psychiatern in beiden NS-Nachfolgestaaten gemein. In den Diskussionen über die Diagnosesysteme in West- und Ostdeutschland tritt deutlich die Bedeutung lokalen Wissens zu Tage. Diagnoseschemata wurden den lokalen Gegebenheiten angepasst. Zugleich herrschte jedoch die Hoffnung, zu einem national oder sogar international einheitlichen System zu kommen. Wie auch in der Kommunikation über unterschiedliche Diagnosen im Einzelfall deutlich wurde, legitimierte der einzelne Arzt sein profes­ sionsbezogenes Wissen stark aus seiner praktischen Erfahrung heraus. Lokale und damit zugleich personell gebundene Definitionsmacht wurde energisch verteidigt. Diskussionen hierzu gab es in der Kriegszeit zwar nicht, die Bezugnahme der einzelnen Ärzte auf die lokale Tradition und ihre praktische Erfahrung zeigt aber, dass die lokale Machtbasis in der Diagnostik keine neue Entwicklung gewesen sein dürfte. Die Haltung der Klinik- und Anstaltsärzte in der DDR in der Diskussion mit dem Ministerium für Gesundheitswesen – zu denken wäre an die offene Kritik an der sowjetischen Position – zeigt eindrücklich, dass die Machtposition der Ärzte nicht nur in der Bundesrepublik nahezu ungebrochen blieb. Seitens der Laien ist eine Kontinuität in der Erklärung von psychischen Erkrankungen zu beobachten. Sie wurden narrativ in den Lebensweg und die Lebensumstände eingefügt. Darüber hinaus unterschied sich jedoch der Umgang zwischen Laien und Ärzten in der Bundesrepublik und der DDR. Die durch das Regelvakuum gestärkte Machtposition der Angehörigen äußerte sich in der DDR auch im selbstbewussteren Umgang der Laien mit den Anstalts­ärzten. Während das soziale Umfeld in der Bundesrepublik eher in Form von Fragen und Bitten mit den Ärzten kommunizierte, brachten die Angehörigen in der DDR häufig Vorschläge und Eigeninterpretationen an. Ebenso zeigte die Initiative von Verwandten, fehlende Psychopharmaka – manchmal auch andere medizinische Produkte oder Geräte  – aus dem Westen zu beschaffen, eine Verwischung der traditionell hierarchischen Beziehung zwischen Arzt und Laien in Fragen der medizinischen Kernkompetenzen an.

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Kapitel V: Arbeit und Leistung – Arbeitsfähigkeit und -unfähigkeit in der Einweisungsargumentation

Wie im Verlauf der Studie bereits deutlich geworden ist lässt sich die Komplexität einer Einweisung allein mit den Kriterien Krankheit und Selbst- oder Fremdgefährdung nur unzureichend fassen. Für das Einweisungsverhalten der Patientinnen und Patienten sowie für ihre Angehörigen gaben die Diagnose und die Krankheitseinsicht meist nicht den Ausschlag. Als entscheidend erwiesen sich Überlegungen zur Bewältigung alltäglicher Lebensumstände, aufgrund derer die Krankheit oder das Verhalten eines Menschen in seinem sozialen Umfeld nicht mehr tragbar erschienen. Als Kriterium hierfür fungierte insbesondere die Gewährleistung alltäglicher Arbeitsabläufe. Dies sah die Schwiegermutter von Martina R. 1946 nicht mehr als gegeben an und begründete damit die Notwendigkeit einer Einweisung. Konkret führte sie an: »In den letzt. Wochen hat sich der Zustand verstärkt, sie glaubte, sie müsste verhungern, hat sich auch, ohne das mit der Familie zu besprechen, eine Aufwartestelle besorgt, hat dabei, wenn es sich um Arbeit, die sie tun wollte, handelte, nicht an das Nächstliegende gedacht, die Windeln des eig. Kindes zu waschen usw., was meine ­ä lteste Tochter alles erledigte.«1

Neben der älteren Tochter nannte die Schwiegermutter als Kontrastfolie das Verhalten der Schwester von Martina R., die ebenfalls mit einem ihrer Söhne verheiratet war. Sie »hat sich jetzt ausgezeichnet bewährt; mein Sohn ist auf seinem Gut in Mecklenburg von den Russen zu Tode gemisshandelt word., seine Frau (die Schwester der Pat.) führt nun ganz allein das Gut u. erhält sich u. die Kinder ohne Hilfe, obwohl sie das gar nicht gelernt hat, sondern als Kunstgewerblerin ausgebildet ist.«2

Die Schwiegermutter beklagte, dass die Schwiegertochter ihre Pflichten in Hausarbeit und Kindererziehung unter den Bedingungen und Lasten der Nachkriegszeit nicht reibungslos »ableistete«. Arbeitsfähigkeit und -wille unter allen Bedingungen wurden von einem »gesunden« Menschen erwartet. Störungen des Arbeitsablaufs im weitesten Sinne spielten bei der Zuschreibung von Anstaltsbedürftigkeit eine zentrale Rolle. Dies konnte sowohl die Aufgaben der Patientin oder des Patienten als auch die Arbeit ihres oder seines Umfeldes be1 LHA Marburg, Patientenakte Sign. 16K10740F, Eintrag v. 15.3.1946, LWV Hessen, 16. 2 Ebd.

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treffen. Letzteres konnte z. B. vorkommen, wenn ein krankes Familienmitglied beaufsichtigt werden musste. Arbeit, Arbeitsfähigkeit und Arbeitswille waren, anders als Gefahr und Krankheit, zwar keine offiziellen Gründe für psychia­ trische Einweisungen, wurden jedoch sehr häufig im Kontext von Einweisungen zur Begründung angeführt.3 Die Beurteilung von Arbeitsfähigkeit und Leistung als Indikatoren von Krankheit hing jedoch, ebenso wie die Krankheitszuschreibungen im vorherigen Kapitel, wesentlich von der jeweiligen Sprecherperspektive ab. Es handelte sich um prinzipiell deutungsoffene Begrifflichkeiten, die konkreter Maßstäbe bedürften. Unweigerlich stellten sie die Patientin oder den Patienten in ein Referenzverhältnis. Als Vergleichswerte konnten dabei ganz unterschiedliche, je nach Perspektive variierende Aspekte fungieren. Laien zogen häufig eigene Erfahrungen heran. Ärzte gaben den Grad der Arbeitsfähigkeit in ihren Gutachten in Prozentzahlen gemessen an einem Sollwert an. Auch die Diagnosen waren Produkte ihrer Zeit, in die Erwartungen an ein »normales«, der Gesellschaft als zuträgliches erachtetes Verhalten hineinspielten.4 Bei manchen Diagnosen floss eine Bewertung des Arbeits- und Leistungsverhaltens bereits in die Bezeichnung ein, etwa in der Diagnose »asozialer Psychopath« oder »Rentenneurose«. In diesem Kapitel werden zuerst Äußerungen für oder gegen einen Anstaltsaufenthalt verschiedener Akteure analysiert. Im Anschluss daran wird der­ Fokus von Anstaltsbedürftigkeit hin zu Krankheitsdefinitionen verschoben, da die Zuschreibung einer psychiatrischen Erkrankung und anschließend von Anstaltsbedürftigkeit zwei separate und nicht zwangsläufig verbundene Vorgänge waren. Im Kontext der Zuschreibung von Krankheit werden zwei unterschiedliche Zusammenhänge zwischen Arbeit und Gesundheit beleuchtet: Arbeitsunfähigkeit als Anzeichen für Krankheit und »Überarbeitung« als Grund psychischer Beschwerden. Hierfür werden zunächst Diskurse um Arbeit und Gesundheit bei den Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen analysiert. Anschließend rückt die Sicht der Ärzte in den Mittelpunkt. Die ärztliche Perspektive wird sowohl im wissenschaftlichen Diskurs um Arbeit und Leistung als auch in der Einweisungspraxis untersucht. Für die Praxis sind insbesondere Einweisungen zur Begutachtung der Erwerbsfähigkeit relevant.

3 Argumente im Zusammenhang mit Arbeit waren nicht nur während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit in den Erzählungen der Patientinnen und Patienten sowie ihrer Angehörigen oft zentral und auch kein deutsches Phänomen. Joost Vijselaar weist etwa auf die große Bedeutung von ökonomischen Umständen und familiären Arbeitsverhältnissen in einer Langzeitstudie für die Niederlande hin: Vijselaar; zum Aspekt der Arbeit und Arbeitsfähigkeit im Kontext der Einweisungs- wie auch der Alltagspraxis in den Anstalten um 1900 vgl.: Ankele. 4 Vgl. zur zeitgebundenen Produktion von Wissenschaft etwa: Sarasin u. a., S. 14.

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Quellen und ihre Aussagekraft In der Analyse werden psychiatrische Zeitschriften, Lehrbücher, Patientenakten sowie vereinzelt statistische Daten aus den für diese Studie erhobenen Krankenakten genutzt. Diese Quellenbasis ermöglicht die Rekonstruktion der Perspektiven verschiedener Akteure auf Fragen der Arbeit, auch die der Patientinnen und Patienten. Hierfür werden neben Egodokumenten die Anamnese und Exploration in den Krankengeschichten herangezogen. Dabei stellt sich die Frage, ob die Thematisierung von Arbeit durch die Patientinnen und Patienten in der Anamnese möglicherweise allein auf ein besonderes Interesse der Ärzte an diesem Thema zurückzuführen sein könnte. Allerdings legt eine genauere Betrachtung der Quellen und ihres Entstehungskontextes dies nicht nahe: Die vielfältige Thematisierung von Arbeit in den Ego-Dokumenten medizinischer Laien weist vielmehr darauf hin, dass es sich bei Aussagen über Arbeit zumindest nicht ausschließlich um eine von außen herangetragene Thematik handelte.5 Außerdem zeigt eine genauere Betrachtung der Exploration, dass zwar regelmäßig Fakten zur Arbeit eruiert wurden, aber die Ärzte nicht nach dem Zusammenhang von Arbeit und Krankheit aus der Sicht der Patientinnen und Patienten fragten.6 Dies entsprach den Anweisungen in den psychiatrischen Lehrbüchern. Die Lehrbücher der NS-Zeit und der frühen Bundesrepublik unterschieden sich in diesem Punkt nicht – in der DDR gab es erst 1960 ein eigenes, aus dem russischen übersetztes Lehrbuch.7 Laut der Anleitung zur Anamnese sollten Fragen nach der schulischen Leistung und der Berufsentwicklung gestellt werden.8 Der Arzt wurde angehalten, die Patientin oder den Patienten ungesteuert erzählen zu lassen und den Bericht möglichst genau zu protokollieren, idealerweise in wörtlicher Wiedergabe.9 Die Praxis scheint den Lehrbüchern weitgehend entsprochen zu haben. Zumindest die Krankengeschichten aus der LHA Marburg, aus Rodewisch und Großschweidnitz weisen darauf hin, in denen die Fragen der Ärzte meistens in Klammern und in Kurzform mit in die Krankengeschichte aufgenommen wurden.10 Dort wurde regelmäßig nach der Arbeit gefragt, allerdings zielten diesbezügliche Fragen auf die Strukturie5 Vgl. zur Debatte um die Aussagefähigkeit von Patientenakten und zur Problematik des Arzt-Patient-Verhältnisses u. a.: Condrau; vgl. auch Einleitung und Fazit in dieser Arbeit. 6 Grundsätzlich ist darüber hinaus darauf hinzuweisen, dass selbst im Falle einer Vorstrukturierung des Gesprächs durch die Ärzte die Angaben der Patientinnen und der Patienten sowie der Angehörigen nicht vollständig determiniert waren. Auch in diesem Kontext sind Aneignungsprozesse von Seiten der medizinischen Laien in die Bewertung miteinzubeziehen. Denn auch bei einer entsprechenden Frage war es keineswegs zwingend, ausführlich darauf einzugehen. 7 Das einzige »sozialistische« Lehrbuch war: Giljarowski. 8 Vgl. u. a.: Ewald, S. 540. 9 Ebd. 10 Hier ist zwar Vorsicht geboten, da letztlich unklar bleibt, ob und was ausgelassen wurde, jedoch bieten die Fragen zumindest einen wertvollen Anhaltspunkt für einen ungefähren Ablauf des Gesprächs.

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rung des Lebenslaufs der Patientin oder des Patienten ab und waren allgemeiner Natur. Typisch war folgender Frageablauf: »(In der Schule gut gelernt?) ›Da muß ich sagen, da bin ich nicht direkt zuvorkommend gewesen.‹ (Mal sitzengeblieben?) ›Nein, aber ich könnte es gewesen sein‹. (Beruf erlernt?) ›Nein, nur im Betrieb bin ich gewesen‹. (Was für einen Betrieb?) ›Bürstenfabrik und dann bei Knorr, in diesen beiden Fabriken habe ich gearbeitet‹. (Wie lange da gearbeitet?), [usw].«11 Es spricht also einiges dafür, dass es sich bei Bewertungen der eigenen Arbeit im Kontext von Selbstzuschreibungen von Krankheit oder Gesundheit in der Tat um eine Thematik handelte, die nicht in erster Linie die Ärzte auf­ brachten. Die Krankenakten legen nicht nahe, dass Ärzte Patientinnen und Patienten explizit nach der Bewertung ihrer Arbeit im Kontext ihres Gesundheitszustandes fragten. Trotzdem war Arbeit ein Thema in den Krankenakten, das über die abgefragten Fakten hinausging. Die Erwähnung von Arbeit und Leistung kann deswegen überwiegend als Laienperspektive gelesen werden, während ihre Deutung etwas über das für die Praxis akzeptierte psychiatrische Wissen der Zeit aussagt.

1. An der Schwelle: Arbeit und Anstaltsbedürftigkeit 1941–1963 1.1 Inklusion und Exklusion: Arbeit in den Einweisungsargumentationen der Familien im Krieg Gerade für die Zeit des Zweiten Weltkrieges eröffnet die Kategorie Arbeit die Möglichkeit psychiatriegeschichtliche und gesellschaftsgeschichtliche Fragen im Zusammenhang zu thematisieren. Arbeit und Arbeitsfähigkeit waren während des Krieges in mehrfacher Hinsicht von zentraler Bedeutung. Sowohl in der Forschung zum Holocaust als auch in der zum Krankenmord ist heraus­ gearbeitet worden, dass Arbeitsfähigkeit ein wichtiges, wenn auch keinesfalls eindeutiges Kriterium bei der Selektion zur Ermordung in den Anstalten und Konzentrationslagern war.12 Gleichzeitig stellte die außerordentliche Betonung der Nützlichkeit des Einzelnen einen integrativen Bestandteil des »Rassismus nach Innen« dar. Dieser manifestierte sich im Zusammenhang mit der Kategorie 11 HPA Untergöltzsch, Patientenakte Sign. 6656, Eintrag v. 8.8.1945, SächSta Chemnitz, 32810. 12 Zu den drei Dimensionen von Arbeit im Kontext der »Endlösung«: Vernichtung durch Arbeit, Rettung durch Arbeit, Vernichtung als Arbeit, vgl.: Sandkühler, S.  11–14; Zum Kriterium von Arbeitsunfähigkeit in der Selektion zur Ermordung in den Konzentrationslagern insbesondere gegen Ende des Krieges, vgl. den Beitrag von Stefan Hördler auf der Tagung »Arbeit im Nationalsozialismus«, in: Tagungsbericht Arbeit im Nationalsozialis­ mus. 13.12.2012–15.12.2012, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 25.02.2013, http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4669 (letzter Zugriff: 7.4.2014).

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Arbeit etwa in den Aktionen gegen sogenannte »Asoziale« und »Arbeitsscheue« im direkten Vorfeld des Zweiten Weltkriegs.13Auch auf rechtlicher Ebene vollzog sich ein NS-spezifischer Wandel. Das Arbeitsrecht gehörte nun – statt wie zuvor zum Zivilrecht – zum Strafrecht. »Nichtantritt einer Dienstverpflichtung oder das Verlassen der zugewiesenen Stelle [waren] unter Strafe gestellt.«14 Zuvor lag der Umgang mit Fehlverhalten an der Arbeitsstelle beim Unternehmen.15 Zudem prägte eine extreme Leistungsideologie die betriebliche Arbeitswelt, zu deren Umsetzung vor allem die betriebliche Gesundheitsfürsorge beitrug.16 Weniger bekannt ist jedoch, ob und wie Arbeit, Arbeitsfähigkeit und Leistung das Alltagsleben in den Familien während des Krieges prägten.17 Um dem nachzuspüren, wird im Folgenden die Rolle von Arbeit in den Einweisungsargumentationen in den Blick genommen. Obwohl es argumentative Bezüge auf Arbeit nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland gab, wiesen sie in der Zeit von 1941 bis Kriegsende aus zwei Gründen kriegsspezifische Elemente auf: Zum einen wurden Krieg und Arbeit oftmals ganz direkt verknüpft und zum anderen muss eine Einweisung in den betreffenden Jahren vor dem Hintergrund des verbreiteten Wissens um die Krankenmorde interpretiert werden.18 Die Unterscheidung von Arbeitsfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit markierte eine Schwelle von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, die nahezu alle Lebensbereiche tangierte und deswegen von enormer Bedeutung für das Verständnis von Inklusion und Exklusion in der alltäglichen Praxis ist. Die Arbeitskraft der Patientin oder des Patienten und auch die der Angehörigen spielte in der 13 Ayaß, »Asoziale«, S. 156 ff. 14 Kranig, S. 142. 15 Bereits in der Weimarer Republik waren allerdings Empfänger von Unterstützungsleistungen zu gemeinnütziger Arbeit verpflichtet und konnten bei Verweigerung in ein Arbeitshaus eingewiesen werden. Vgl.: Korzilius, S. 133. 16 Mit Beginn des Krieges fand die Konzentration auf die Arbeitsfähigkeit, der bereits zuvor die »Präventivmedizin« diente, ihren Höhepunkt in der Umstellung auf die betriebliche Gesundheitsfürsorge. Der gesamte alltägliche Gesundheitsbereich wurde zunehmend an den Betrieb gekoppelt und an ihm ausgerichtet. So durften etwa ab 1940 in kriegswichtigen Betrieben nur noch Betriebsärzte krankschreiben. Außerdem, so Winfried Süß, »arbeitete die DAF systematisch darauf hin, Kranke statt in der Familie in betriebseigenen Einrichtungen zu pflegen, um auf dieses Weise die Kontrolle über sie zu verdichten.« Süß, »Volkskörper«, S. 261; zusammenfassend zur betrieblichen Gesundheitsvorsorge, vgl.: ­Eckart, S. 176 ff. 17 So haben Alf Lüdtke und Michael Wildt auf einer Tagung zum Thema »Arbeit im Nationalsozialismus« gefordert, die Praxis von Inklusion und Exklusion am Beispiel von »Arbeit« zu untersuchen. Vgl.: Tagungsbericht Arbeit im Nationalsozialismus. 13.12.2012– 15.12.2012, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 25.02.2013, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ tagungsberichte/id=4669. 18 Zur Notwendigkeit, gesundheitspolitische Inklusion und Exklusion, die zwar nicht genuin nationalsozialistisch waren, im Kontext des Nationalsozialismus anders zu bewerten, vgl.: Thießen, Medizingeschichte, S. 562.

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Aushandlung der Einweisung sowie in der Aushandlung der Länge des Aufenthalts eine vielfältige und wichtige Rolle. Polizei und Gesundheitsämter bewerteten die Arbeitsfähigkeit und die Nützlichkeit von Menschen im Zuge der Einweisungen oft sehr hoch, wie bereits im Kapitel Gefahr und Sicherheit gezeigt wurde. Aber auch Angehörige argumentierten – manchmal erfolgreich, manchmal nicht –, dass die Patientin oder der Patient zu Hause gebraucht werde, um zu arbeiten, dass sie oder er nicht zu Hause bleiben könne, da er nicht arbeitsfähig sei, oder dass ihr eigener Arbeitsbeitrag für die »Gemeinschaft« durch die Einweisung beeinträchtigt sei. Arbeit und Leistung waren also für argumentative Inklusions- und Exklusionsstrategien zentral. Dies soll an Argumenten von Angehörigen exemplarisch verdeutlicht werden, die typisch für die Verwendung von Arbeit und Leistung in den Einweisungsvorgängen während des Zweiten Weltkriegs waren. Zuerst werden Einweisungen geschildert, in denen die Verwendung von »Arbeitsunfähigkeit« als Einweisungsargument beleuchtet werden kann. Anschließend wird ein Beispiel analysiert, in dem der Ehemann mit Hinweis auf die Erhaltung seiner Leistungsfähigkeit den Anstaltsaufenthalt seiner Frau abwenden wollte. Marie H.19 wurde 1942 in die Psychiatrische und Nervenklinik Leipzig ein­ gewiesen und von dort in die Heil- und Pflegeanstalt Untergöltzsch überwiesen. 1942 war sie 28 Jahre alt, verheiratet und hatte zwei Kinder. Ihr Mann diente an der Front. Sie wurde von ihrer Schwester in die Universitätsklinik in Leipzig gebracht; diese Schwester gab an, die Patientin rede »lauter dummes Zeug«20 und sei überzeugt, von ihrem Mann betrogen zu werden. Marie H. selber sagte, »sie fühle sich hypnotisiert«.21 Nach sieben Tagen wurde sie wieder entlassen, dazu ist vermerkt: »Der Ehemann, der aus dem Felde gekommen war, nahm seine Frau auf eigenen Wunsch gegen Revers mit nach Hause. Er wurde davon unterrichtet, dass es sich um eine beginnende Geisteskrankheit handele.«22 Zwei Monate später brachte der Ehemann seine Frau zurück in die Psychiatrische und Nervenklinik Leipzig. Unter den Angaben des Ehemanns ist notiert: »Er habe die Pat. am 9.9.1942 nach wenigen Tagen Klinikaufenthalt auf seine eigene Verantwortung herausgenommen. Es sei aber nur schlecht zu Hause gegangen. Sie habe den Haushalt vernachlässigt, habe die Kinder nicht besorgt, alles sei liegen geblieben und die Pat. selbst sei vollkommen uneinsichtig und gleichgültig gewesen, habe sich in keiner Weise betroffen gefühlt. Sie hätten Verkehr zusammen gehabt, aber die Pat. sei kalt dabei gewesen, ganz anders als früher. Jetzt müsse er wieder an die Front, da habe er die Pat. lieber wieder in die Klinik gebracht. Das gehe zu hause nicht allein. Die 2 Kinder seien bei den Großeltern.«23 19 HPA Untergöltzsch, Patientenakte Sign. 6707, SächSta Chemnitz, 32810. 20 Ebd., Eintrag v. 2.9.1942. 21 Ebd. 22 Ebd., Eintrag v. 9.9.1942. 23 Ebd., Eintrag v. 28.11.1942.

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Die Patientin gab am selben Tag an: »Es sei zu Hause aber doch ganz gut gegangen. Sie wisse gar nicht, was ihr Mann nur wolle, sie habe alles gut versorgt. Sie habe gar nicht mehr das Gefühl krank zu sein. Sie wolle gern wieder heim, um ihrer Mutter waschen zu helfen. […] Sie wisse aber gar nicht, weshalb sie hier eingesperrt werde, wo sie zu hause so viel arbeiten könnte ….«24

Nachdem der Ehemann seine Frau zunächst auf eigene Verantwortung aus der Klinik mit nach Hause genommen hatte, brachte er sie nun wieder zurück. Dabei spielte für ihn die Vernachlässigung ihrer Arbeitspflichten im Haushalt eine wesentliche Rolle. Dies ist typisch für viele Einweisungsargumentationen von Ehemännern. Im Zuge der Einweisung einer anderen Frau im Jahr 1942 nach Bethel ist vermerkt: »Ehemann bittet ›Eine Erziehung seiner Frau zu einer sozia­len christlichen Hausfrau anzustreben‹ und hofft, ›dass dieses Ziel in der Anstalt u. nur dort erreicht werden kann, wenn es nicht nur erblich ist.‹(!)«25 Nicht ungewöhnlich war ebenfalls, dass der Ehemann die Arbeitsfähigkeit und ein seiner Meinung nach »abnormales Sexualverhalten« seiner Ehefrau in Zusammenhang brachte. Verbindungen zwischen Geschlecht, Sexualität, Arbeitsfähigkeit und Arbeitswille wurden nicht nur von Polizei und Gesundheitsämtern hergestellt. Auf der anderen Seite führte die Ehefrau in dem ersten Beispiel  – erfolglos – an, sie habe zu Hause »alles gut versorgt« und sie werde zur Arbeit benötigt. Beide Parteien versuchten das Argument der Arbeitsfähigkeit für sich zu nutzen. Sie verwiesen jeweils auf konkrete Arbeitsbereiche. Der Ehemann prangerte an, seine Frau kümmere sich nicht um die Kinder, die Ehefrau sprach über das Wäschewaschen. Es wird also deutlich, dass die inoffizielle Schwelle zwischen Arbeitsfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit für die Patientin und ihren Ehemann unmittelbar in ihrem Alltagsleben verankert war. Sie nahmen sie als gegeben an und verwiesen darauf in ihren Argumentationen ganz selbstverständlich. Dies ist insofern besonders aussagekräftig, als dass Arbeits­(un)fähigkeit eben kein offizielles Einweisungskriterium darstellte und somit tiefere Einblicke in gesellschaftlich normierte Verhaltenserwartungen ermöglicht. Arbeitsfähigkeit als ein von der Patientin und den Angehörigen vorgebrachtes Argument war eine gesellschaftlich anerkannte und alltagsgebundene Konkretisierung von Anstaltsbedürftigkeit. Der Verweis auf die Leistungsfähigkeit im Haushalt war in seiner Überzeugungskraft wiederum an die innerfamiliären und gesellschaftlichen Machtverhältnisse gebunden. Letztlich entschieden der Ehemann und die Ärzte über das Schicksal der Frau. Es ist zwar nicht festzustellen, dass es zwischen männlichen Familienmitgliedern und Ärzten mehr Kooperation gegeben hätte als zwischen weiblichen Verwandten und den medizinischen Institutionen. Dennoch sind genderspezifische Unterschiede zu vermerken, wann jeweils kooperiert wurde. Es war durchaus üblich, dass Ehe24 Ebd. 25 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 2058, HAB, Patientenakten Mahainam II.

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männer die Hausarbeit und das Sexualverhalten ihrer Frau als nicht tragbar einstuften und Ärzte dies mittrugen. Frauen hingegen veranlassten Einweisungen gemeinsam mit Ärzten fast ausschließlich mit dem Verweis auf körperliche Gewalt. Es wäre hier zum Beispiel an die Einweisung aus Kapitel III zu denken, bei der der Lazarettarzt einen Soldaten nach Hause entließ, dann jedoch die Ehefrau auf Grund seiner Gewalttätigkeit eine Einweisung initiierte. Wesentliche Merkmale dafür, tragbar für die Familie und die Gesellschaft zu sein, waren Arbeitsfähigkeit und Arbeitswille, zwar nicht nur, aber in besonderem Maße unter Kriegsumständen. Der Ehemann führte seine Rückkehr an die Front als den Grund an, warum die Haushaltsführung seiner Frau nun endgültig nicht mehr hinnehmbar sei. Das Argument, das er für sagbar und schlagkräftig hielt, entstand durch die Verbindung der »Arbeitsunwilligkeit« seiner Frau mit den Kriegsbedingungen. Auf ganz andere Weise ausschlaggebend wurden Arbeitsfähigkeit und Leistung in der Einweisung von Minna W.26, die im März 1944 als gemeingefährlich in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar eingeliefert wurde. Aus dem amtsärztlichen Gutachten, das die Gemeingefährlichkeit begründen sollte, geht folgendes hervor: Die Frau war dem Gesundheitsamt seit 1941 mehrfach von ihren Nachbarinnen gemeldet worden. Ihr wurden Wahnideen attestiert, die sich in der Überzeugung äußerten, die Nachbarn planten ein Attentat auf sie. Der Ehemann der Patientin, der zur Zeit der Einweisung ebenfalls Soldat an der Front war, richtete einen Brief an die Anstalt. Er berichtete, dass er seit 1939 an der Front sei, um »Heimat und Familie zu schützen«.27 In diesem Kontext erklärte er das Verhalten seiner Frau: »Dass meine Frau in diesen schweren Zeiten mit den Nerven runtergekommen ist, ist leicht zu verstehen. Es war die Sorge um mich.«28 Dann bat er um ihre Entlassung: »Da ich durch den Fall meiner Frau sehr schwer darunter leide und meine Leistungen daher bedenklich nachgelassen haben, wurden mir zwölf Tage Sonderurlaub gegeben, um für meine Frau zu sorgen. Ich bitte sie sehr geehrte Direktion meinen Kindern die Mutter wieder zugeben durch die Entlassung aus der Anstalt, mir dadurch die alte Kraft meinen Posten so auszufüllen zu können, wie es sein muss, um den Endsieg für uns alle zu erringen.«29

Dieser Brief zeigt den Argumentationsspielraum bei psychiatrischen Einweisungen auch während der NS-Zeit und macht deutlich, wie Familien versuchten, Einweisungen ihrer Verwandten zu verhindern oder zu verkürzen. Ganz anders als in den beiden Beispielen zuvor, ging es nicht primär um die Arbeitsfähigkeit der Patientin, sondern um die ihres Ehemanns. Während die erste Quelle die Unterscheidung zwischen Arbeitsfähigkeit und Arbeits­unfähigkeit 26 HPA Eglfing-Haar, Patientenakte Sign. EH 10389, AB Oberbayern, EH. 27 Ebd., Brief v. 12.4.1944. 28 Ebd. 29 Ebd.

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als Konkretisierung der abstrakteren Grenze tolerierbar/nicht-tolerierbar zeigte, weist diese Quelle auf eine andere Funktion von Psychiatrie hin. Die Tatsache, dass die Arbeitsfähigkeit von Nicht-Patienten angeführt wurde, deutet auf ein Verständnis von Psychiatrie, das mit dem Funktionieren der Gesellschaft eng verknüpft war. Das Entfernen »störender Elemente« sollte nicht zu Effizienzeinbußen führen. Hier wird erneut deutlich, wie tief verwurzelt die Einweisungspraxis im (Kriegs-)Alltag war. Der Ehemann verstand die Anstalt als Lösung für Störungen und unangebrachtes Verhalten. Seine Bedenken zielten darauf ab, dass durch die Einweisung seiner Frau mehr Störungen hervorgerufen als beseitigt würden. Da der Mann Soldat war, wird hier ein auch sonst oft angebrachtes Argument besonders deutlich: die Arbeit der Familie der eingewiesenen Person und damit ihr Beitrag zur »Volksgemeinschaft« und zur Erlangung des »Endsiegs« wurde angeführt. Der Ehemann beschrieb seine Tätigkeit als Soldat mit Begriffen aus der Arbeitswelt, wenn er etwa von »nachlassender Leistung« sprach.30 Gleichzeitig betonte er die Bedeutung seiner Tätigkeit für die Gemeinschaft, indem er hervorhob, dass er den »Endsieg für uns alle erringen« wolle. Die Akzeptanz des Arguments der Arbeitsbeeinträchtigung ist auch daran zu erkennen, dass der Ehemann Sonderurlaub bekam, um sich um seine Frau kümmern zu können. Arbeit war in den Einweisungsargumentationen oft Teil  eines größeren Argumentationskomplexes, der auf unterschiedliche Lebensbereiche verwies. Es wurde sowohl auf die Hausarbeit der Frau hingewiesen, als auch insbesondere auf die Kindererziehung, wie auch auf die Arbeit im Krieg. Unter den Patientenakten aus der Kriegszeit finden sich genauso Einweisungsbeispiele, in denen Frauen Anstaltsaufenthalte ihrer Männer mit Verweis auf deren Arbeitsleistung für die Familie zu verhindern versuchten.31 Insgesamt ist die Kategorie Arbeit für ein Verständnis von Verhaltenserwartungen im Alltag und der sozialen Praxis von Inklusion und Exklusion während des Zweiten Weltkriegs zentral. Arbeit und Arbeitsfähigkeit gewannen als Argument in der Einweisungspraxis gerade durch die Verbindung mit Kriegsaufgaben und -umständen besondere Überzeugungskraft. Dabei zeigt sich durch das Prisma der Einweisungspraxis, dass der Spielraum in den Aushandlungen des Tolerierbaren von 1941 bis Kriegsende in zweifacher Weise kriegsspezifisch geprägt war. Einerseits verfügten nicht-institutionelle Akteure in bestimmten Konstellationen über keinerlei Handlungsspielraum mehr, etwa im Falle von als »asozial« deklarierten Frauen, die aufgrund von Geschlechtskrankheiten zwangseingewiesen wurden. Andererseits führte das Paradigma des arbeitsfähigen und -willigen Volksgenossen auch zu Argumentationsspielraum. Argumente aus dem Bereich »Arbeitswille und Leistungsfähigkeit« wurden nicht nur für Exklusionspraktiken verwendet, sondern auch für Inklusions­versuche. Angehörige konnten darauf hinweisen, dass eine Einweisung negative Auswir30 Zum Thema Krieg als Arbeit aus der Perspektive der Soldaten, vgl.: Neitzel u. Welzer, S. 411 ff. 31 Z. B.: HPA Eglfing-Haar, Patientenakte Sign. EH 92, AB Oberbayern, EH.

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kungen auf die Arbeitsfähigkeit einer anderen Person haben und sich damit auch auf die Funktionsfähigkeit der »Volksgemeinschaft« auswirken konnte. Die Argumentationsspielräume öffneten sich also in alle Richtungen. Die vielfältige Bedeutung und die kontextspezifische Rolle, die die Kategorie Arbeit in den Einweisungsargumentationen der Kriegszeit hatte, zeigt, dass Arbeit nicht nur in der Anstalt, in der nationalsozialistischen Propaganda und in den Vernichtungsprozessen während des Zweiten Weltkriegs eine zentrale Rolle spielte, sondern auch in den alltäglichen Vorstellungen von Zugehörigkeit und Tolerierbarkeit.32 1.2 Arbeitskraft wiederherstellen, Arbeitsabläufe sicherstellen: Familiäre Einweisungsargumentationen in der Bundesrepublik Auch in der Bundesrepublik argumentierten Patientinnen und Patienten sowie ihre Familien im Zuge von Einweisungen sehr häufig mit Arbeit und Leistung. Die Argumentation der Verwandten glich strukturell derjenigen der Kriegszeit, fiel jedoch weniger drastisch aus. Drei Punkte sind bei der Analyse von Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen der Kriegszeit und dem westlichen Teil Nachkriegsdeutschlands relevant: Zum einen wurden keine Bezüge zwischen einzelnen Einweisungen und dem Wohle der Gesellschaft als Ganzer mehr hergestellt, wie es z. B. durch Verweise auf den Einsatz als Soldat in der Kriegszeit vorkam. Zum anderen lag der Fokus stark auf der Familie. Schließlich ist eine Parallele zur NS-Zeit im Argument der Vernachlässigung des Haushalts durch die Ehefrau zu sehen. Nach wie vor führten Angehörige sowohl die mangelnde Arbeitsfähigkeit der Patientin oder des Patienten als auch die Auswirkungen der Erkrankung auf ihre eigene Arbeitskraft an. Anders als in den Einweisungen zwischen 1941 und 1945, die vor dem Hintergrund der Krankenmorde zu lesen sind, nutzten sie die Arbeitsargumentation aber nicht mehr, um Einweisungen möglichst schnell wieder rückgängig zu machen. Typisch war etwa die Einweisungsargumentation der in Kapitel II erwähnten Familie von Miranda L., die anführte, ihrer täglichen Arbeit nicht mehr nachkommen zu können, weil sich immer jemand um die Patientin kümmern müsse. Da sie alle den ganzen Tag in der Landwirtschaft tätig seien, könnten sie die Patientin in ihren Aufregungszuständen nicht zu Hause beaufsichtigen.33 Es lassen sich zwei Gründe anführen, die die Veränderung der Bezugsgröße in den Argumentationen mit Arbeit und Leistung weg von der »Volksgemeinschaft« hin zum direkten sozialen Umfeld erklären. Möglicherweise war der Bezug zum »Volkskörper« in der Kriegszeit bei einigen Patientinnen und Patien32 Zu Arbeit und Exklusion, vgl. auch: Hörath. 33 LHA Marburg, Patientenakte Sign. K12962F, Betr.: Wiederaufnahme v. 7.4.1954, LWV Hessen, 16.

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ten oder ihren Angehörigen eine instrumentelle Aneignung der Propaganda. Darüber hinaus sprechen die Quellen aber auch dafür, dass Menschen in der NS-Zeit reale Auswirkungen der »Volksgemeinschaft« im sozialen Nahbereich ihres eigenen Lebens erwarteten und gerade gegen Kriegsende enttäuscht waren, wenn diese nicht eintraten. Patientinnen und Patienten beschrieben z. B., dass sie sich mehr »kameradschaftliches« Verhalten während der Bombardierung wünschten.34 Wie Vorstellungen von Individuum und Gesellschaft bis zur Gründung der Bundesrepublik in den Einweisungen zusammenspielten, ist nicht festzustellen. Aufgrund der rudimentär geführten Patientenakten und der speziellen Klientel der Jahre unmittelbar nach dem Krieg lassen sich die Krankengeschichten nicht sinnvoll darauf untersuchen, welche Erwartungen Patientinnen und Patienten und Angehörige an die »Gemeinschaft«/Gesellschaft hatten.35 Die »Zusammenbruchgesellschaft« war jedoch ohne Zweifel für viele Menschen durch den Verlust von Angehörigen, Hunger, Flucht, Obdachlosigkeit und Abhängigkeit vom Schwarzmarkt gekennzeichnet.36 All dies spricht dafür, dass das Gefühl, auf sich selbst und im besten Fall auf die eigene Familie zurückgeworfen zu sein, bis zur doppelten Staatsgründung zunahm. Während in der DDR relativ zügig eine neue Deutung als sozialistische Gemeinschaft propagiert wurde, gab es in der frühen Bundesrepublik kein so lautstark geäußertes Angebot für ein einigendes Selbstbild der Gesellschaft. Zwar existierten auch in der Bundesrepublik Angebote, sich als einzelner Mensch in ein größeres Ganzes zu integrieren, etwa in der Rückbesinnung auf christliche Gemeinschaften. Allerdings umfassten diese Angebote nicht alle Bürger des neuen Staates zugleich  – Katholiken und Protestanten wurden getrennt angesprochen – und sie wurden nicht mit einem solchen Geltungsanspruch artikuliert, wie zuvor die »Volksgemeinschaft« oder im Nachbarstaat der »neue Mensch in der sozialistischen Welt«.37 Im Gegenteil, die Familie fungierte in der frühen Bundesrepublik als wichtigste Einheit. Die Selbstdefinition innerhalb des familiären Kleinverbandes gewann außerordentliche Bedeutung. Studien zu Werbung und Konsumverhalten zeigen etwa, wie sehr die individuelle Aneignung von Geschlechterrollen entlang der Aufgabenteilung im Familienleben lief.38 Die auch in anderen Lebensbereichen zentrale Bezugsgröße Familie ist dementsprechend in vielen der Krankengeschichten und Egodokumenten zu sehen. 34 U. a.: vBS Bethel, Patientenakte Sign. 161/2446, Schreiben v. 10.11.1943, HAB, Patientenakten Mahanaim I. Vgl. zum Verhalten während der Bombardierungen und zu Diskussionen um den Zugang zu Bunkern, in denen u. a. gefordert wurde, arbeitenden Personen Vorrang vor Müttern einzuräumen, auch: Süß, Tod, S. 347. 35 Vgl. hierzu Kapitel II, Unterkapitel »Die Einweisungspraxis in der ›Zusammenbruchgesellschaft‹«. 36 Für die Zeit vor der doppelten Staatsgründung, vgl.: Kleßmann, Staatsgründung. 37 Zur Rückbesinnung auf christliche Gemeinschaft in der frühen Bundesrepublik, vgl. u. a.: Schildt, Abendland. 38 Vgl. etwa zum neuen Identitätsangebot der Hausfrau als Konsumentin und gleichsam Ausstatterin des Heims: ders., Freizeit, S. 327–349.

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Patientinnen und Patienten stellten in den 1950er und frühen 1960er Jahren oft heraus, dass ihre Familien am wirtschaftlichen Aufstieg Teil hatten, dass sie arbeitsam und erfolgreich waren. Es wurden z. B. erfolgreiche Erwerbsbiographien in der Familie positiv hervorgehoben. Nicht nur die Arbeitsleistung der Patientin oder des Patienten fand Erwähnung, sondern immer wieder gleichsam stellvertretend auch die Arbeitsleistungen anderer Familienmitglieder. Beispielsweise führte ein 25-jähriger Schmied 1961 bei seiner Einweisung wegen »Trunksucht« an, keines seiner drei Geschwister trinke, sie »alle hätten sich­ emporgearbeitet«.39 Dann machte er genaue Angaben zu den Berufen seiner Geschwister, die er als »respektabel« bezeichnete, sie seien bei der Luftwaffe, Maschinenschlosser und kaufmännische Angestellte.40 Innerhalb der Familie ähnelten die Erwartungen und Beurteilungen der Arbeitsfähigkeit einzelner Familienmitglieder denen der Kriegszeit. Es wurde weiterhin die Arbeitsfähigkeit von Männern und Frauen angesprochen, allerdings in unterschiedlichen Argumentationskontexten. Angehörige von Patientinnen und hier vorrangig Ehemänner thematisierten vor allem die Führung des Haushalts. Wie während des Zweiten Weltkriegs führten sie die Vernachlässigung des Haushalts als pragmatischen Grund für Einweisungen an. Der Bezug auf den Krieg, den es in den Einweisungen vor Kriegsende häufig gab, wurde durch andere Argumente ersetzt. Eine regelmäßige Einweisungsbegründung bei Frauen war, dass sie ihren Haushalt vernachlässigten und der Ehemann »in den letzten Wochen den Haushalt habe versorgen müssen.«41 Die Einweisung diente aus Sicht der Verwandten auch dazu, die haushälterischen Fähigkeiten wiederherzustellen. Auch in den Einweisungen von Männern brachten Verwandte Arbeitsfähigkeit und -wille zur Sprache; allerdings dienten Argumente um Arbeit nicht als Hauptbegründungen für Anstaltsaufenthalte. Max T. beispielsweise wurde zwischen 1952 und Ende 1956 neun Mal in der LHA Marburg aufgenommen. An der Initiierung der Einweisung war immer seine Mutter beteiligt, bei der er lebte. In den Einweisungen ging es um häusliche Gewalt und zunehmend auch darum, dass der 1956 bereits 30-jährige Sohn keine Arbeitsstelle hatte, sowie um Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und Gewalttätigkeit.42 Bei der Aufnahme 1956 erzählte die Mutter, dass ihr Sohn bis vor kurzem »als Arbeiter in einer Baufirma mitgeholfen habe und sein Geld verdient habe«, danach »aus dem Ruder gelaufen sei«, zu trinken begonnen habe, sie geschlagen und eine Fensterscheibe zertrümmert habe.43 In der Kriegszeit und in der Bundesrepublik war Hausarbeit von Frauen ein häufiger und zentraler verhandeltes Thema 39 LHA Marburg, Patientenakte Sign. 16K14574M, Eintrag v. 3.7.1961, LWV Hessen, 16. 40 Ebd. 41 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 39/401, Eintrag v. 10.1.1958, HAB Patientenakten Mahainam II. 42 LHA Marburg, Patientenakte Sign. 16K13038M, LWV Hessen, 16. 43 Ebd., Eintrag v. 14.8.1956.

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als männliche Erwerbsarbeit. Dies dürfte auch damit zusammenhängen, dass Hausarbeit in die Familiensphäre fiel. Überdies ist an der Bedeutung weiblich und männlich dominierter Arbeitsphären auch zu erkennen, wie die Machtverhältnisse in den Familien aussahen und welche Argumente als schlagkräftig galten. Frauen tolerierten – oft gezwungenermaßen – mehr als Männer. Die Patientinnen und Patienten selbst argumentierten weiterhin mit ihrer Arbeitskraft. Anders als in der Kriegszeit brachten sie aber nicht nur ihre nach eigener Meinung intakte Arbeitsfähigkeit als Argument gegen eine Einweisung an. Nun führten Männer wie Frauen Arbeit und Leistung auch ins Feld, wenn sie aufgenommen werden wollten. Von einem Klinik- oder Anstaltsaufenthalt erhofften sie sich die Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft. Beispielsweise der in Kapitel II erwähnte Frank M. erhoffte sich Behandlung in Bethel: »Ich möchte doch so gerne von diesem Leiden frei werden und den meinen bei der Arbeit helfen (wo genug von da ist.)«44 1.3 Ein zweischneidiges Schwert: Arbeit in den Einweisungsargumentationen der DDR Arbeitsfähigkeit und Arbeitswille blieben in der frühen DDR in den Argumentationen der Angehörigen und des sozialen Umfeldes mehr noch als in der Bundesrepublik weiterhin ein Schlüsselkriterium für oder gegen Einweisung. Dabei kamen – idealtypisch betrachtet – drei Variationen vor: Arbeitsfähigkeit wurde als Anzeichen für psychische Gesundheit und Tragbarkeit in Gesellschaft und Familie gesehen, also als inkludierendes Moment verhandelt. In gewisser Ähnlichkeit zur NS-Zeit, aber im Unterschied zur Bundesrepublik spielte Arbeitsfähigkeit auch wieder im Kontext von Entlassungsversuchen und der Vermeidung längerer Anstaltsaufenthalte eine Rolle. Andersherum wurde mangelnde Arbeitsfähigkeit oder Arbeitswille als Grund zum Ausschluss aus der Arbeitswelt und der Gesellschaft genannt. Auch hier zeigen sich Ähnlichkeiten eher mit der NS-Zeit als mit der Bundesrepublik. Darüber hinaus gab es eine DDR-­spezifische Argumentationslogik, mit Hilfe derer von der Arbeitsleistung Rechte für die Patientin oder den Patienten abgeleitet wurden. Ein Beispiel für den Diskurs um Arbeit und Leistung als Zeichen psychischer Gesundheit sind die Briefe, die der 25-jährige Frank A. nach seiner Einweisung in die Krankenanstalt Rodewisch im Jahr 1953 von seinen Eltern erhielt. Bei Frank A. wurde Schizophrenie diagnostiziert und in der Anstalt hatte man ihn bereits ohne Besserungserfolg einer Elektroschockbehandlung unterzogen. Anlass seiner Aufnahme waren Sinnestäuschungen und Wahnideen, unter deren Einwirkung er u. a. Fenster eingeschlagen hatte. Die Polizei hatte ihn aufgegrif44 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 4877, Brief [o. D., 1956], HAB, Patientenakten Gilead III.

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fen und zwangseingewiesen. Der Patient selbst gab an, er wolle in Italien Geige spielen lernen.45 Die Initiierung der Einweisung hatte zunächst nichts mit Arbeit oder Leistung zu tun. In der Reaktion der Eltern auf die Einweisung spielte ein geregeltes Arbeitsleben jedoch eine wichtige Rolle. Die Eltern des Patienten lebten getrennt. Sie schrieben beide an ihren Sohn und erklärten jeweils, was zu tun sei, damit er entlassen werden und »vernünftig und ein normaler Mensch sein«46 könne. In beiden Briefen wird Arbeit als Schlüssel hierzu präsentiert. Die Mutter schrieb: »[…] Such Dir hier Arbeit, laß Deine Idee, werde lieb und gut mein Kind ich liebe dich. […] Es gibt nur eins komm zu mir und arbeite­ damit Geld wird, Du leben kannst. […]«47 Der Vater schrieb: »Lieber [Frank, d. Vf.]! Du bist zwar fortgemacht ohne Dich von mir zu verabschieden und siehst ja auch wo Du dadurch gelandet bist. Ich halte es für meine Pflicht, dir mitzuteilen, daß Du auch vernünftig und ein normaler Mensch sein kannst. Deine Nerven sind zwar weit runter, aber mit etwas gutem Willen kannst Du Deine Lage dort so gestalten, daß Du bald wieder als gesunder Mensch entlassen werden kannst. […] Und diese Illusion, welche Dir Deine Mutter eingefleischt hat, daß Du daraufhin Rente bekommst, ist Blödsinn. Es ist nicht bekannt, daß ein Mensch auf Geisteskrankheit Rente erhält. Nun liegt es in Deiner Hand, was Dir lieber ist, Deine Freiheit oder? Es grüßt Dich herzlichst Dein Vater.«48

Beide Eltern sprachen über Arbeit. Implizit wird deutlich, dass sie annahmen, ihr Sohn wolle sich keine »vernünftige« Arbeit besorgen und man müsse ihn nun davon überzeugen, dass dies das einzig Richtige sei. Der Vater sprach­ darüber, dass sein Sohn die Erkrankung als Anlass für Verrentung nutzen könnte. Der Vater selbst hielt dies für völlig abwegig, glaubte aber ohnehin nicht an eine ernsthafte Erkrankung, sondern meinte, dass der Sohn mit etwas Willensanstrengung wieder »normal« werden würde. Die unterstellte Arbeitsmeidung wurde auch von der Mutter thematisiert. Zu Beginn des Briefes erklärte sie, dass Frank schon alleine deswegen arbeiten müsse, weil sie ihn nicht finanzieren könne. Im weiteren Verlauf des Briefes thematisierte sie Erwerbsarbeit aber auch als Ausdruck normalen und angebrachten Verhaltens: »Such 45 KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 5451, Schreiben v. Dr. K. an Vater d. Pat. v. 10.12.1953, SächSta Chemnitz, 32810. 46 Ebd., Schreiben v. Vater d. Pat v. 27.10.1953. 47 Der Rest des Briefes dreht sich um das Arrangieren eines Besuches der Mutter in der Anstalt und damit zusammenhängenden Schwierigkeiten. Ebd., Schreiben v. Mutter d. Pat. [o. D.]. 48 Ebd., Schreiben v. Vater d. Pat. v. 27.10.1953.

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Dir hier Arbeit, laß Deine Idee, werde lieb und gut mein Kind«. Hier schwingt eher etwas von der Volksweisheit mit, wer arbeite, komme auch nicht auf dumme Ideen. Ähnlich wie in der Kriegszeit wurde Arbeitsfähigkeit und -wille als Zeichen gedeutet, ein normales Leben führen zu können. In diesem Sinne führten auch Patientinnen und Patienten Arbeit weiterhin als Argument dafür an, warum sie nicht in der Anstalt bleiben könnten. Entlassungswünsche, die dem folgenden ähneln, sind in den Akten aus der DDR regelmäßig zu finden: »[M]öchte möglichst bald wieder entlassen werden, um seiner Arbeit nachzugehen.«49 Die Bedeutung, die der Staat der Arbeit zuschrieb, versuchten sich Patientinnen und Patienten, die nicht in der Anstalt bleiben wollten, ähnlich wie in der NS-Zeit für ihre Zwecke anzueignen. Gleichzeitig blieben Arbeit und Leistung in der Gesellschaft der DDR in Kontinuität zur NS-Zeit ein wichtiges Ausgrenzungskriterium. Nicht nur Verwandte von Patientinnen und Patienten verstanden Arbeit als ein solches Kriterium. Anders als im »Dritten Reich« und der Bundesrepublik war allerdings in der DDR der Betrieb regelmäßiger in Einweisungen und Entlassungen involviert. Von den Betrieben wurde Arbeitswille geradezu als Bedingung gesellschaftlicher Akzeptanz und Hilfe dargestellt. Dies wird exemplarisch fassbar an der Verhandlung des Klinikaufenthalts von Martin W.: 1949 sollte der ­25-Jährige nach einem Selbstmordversuch wieder aus der Universitäts- und Nervenklinik Greifswald entlassen werden. Die Entlassung zog sich allerdings hin, denn es gestaltete sich schwierig, eine Wohnung und eine Arbeit für den Patienten zu finden. Schließlich wurde er entlassen, ohne einen Arbeitsplatz zu haben. Auf Anregung des städtischen Krankenhauses Stralsund schrieb ein Arzt der Universitätsklinik Greifswald an die Volkssolidarität in Stralsund: »Die Stationsärztin des Städt. Krankenhauses Am Sund, Stralsund, bat uns sich vor der Entlassung des Pat. mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Sie wollten versuchen, die Wohnungslage des Pat. zu verbessern und ihn evtl. in der Volkswerft unterzubringen. Wir fragen daher an, ob sie in dieser Richtung etwas für unseren Pat. tun können und hoffen, bald eine Antwort zu bekommen.«50

Die Antwort lautete allerdings folgendermaßen: »Zu obigem Schreiben müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass wir uns für den gen. Pat. nicht mehr verwenden können. Trotz mehrfacher Versprechungen, keinen Selbstmordversuch mehr zu unternehmen, hat [Martin W., d. Vf.] dieses doch wieder getan und wir sehen uns daher nicht in der Lage, uns für derart willenlose Menschen noch weiter zu verwenden.«51

49 KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 32681, Eintrag v. 9.5.1950, SächSta, 32810. 50 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1949/495, Brief v. 26.8.1949, UA Greifswald, PsychN. 51 Ebd., Brief v. 14.9.1949.

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Hier wurde der Patient mit dem Argument aus der Arbeitswelt ausgeschlossen, dass »derart willenlose Menschen« keinen Arbeitsplatz verdienten. Durch seine Selbstmordversuche hatte Martin W. in den Augen der Volkssolidarität gezeigt, dass er keinen Wert für die Gesellschaft darstellte. Die Antwort klingt geradezu wie eine Abstrafung einer willentlichen und bösartigen Verfehlung gegenüber der Volkssolidarität, die ihm früher schon einmal einen Arbeitsplatz verschafft hatte. Auch die Formulierung führt in der NS-Zeit (und vorher) fest verankerte Begrifflichkeiten weiter. »Willenlos« zu sein, war ein typisches Attribut zur Beschreibung von »Psychopathen«. Der Arbeitsplatz als Zeichen von Zugehörigkeit und der Ausschluss von der Arbeit sind auch später noch zu finden, wie im Schreiben einer Betriebsberufsschule aus dem Kreis Neubrandenburg im Jahr 1962 zur Befürwortung der Einweisung des 15-jährigen Lehrlings Paul C. beispielhaft zu sehen ist. »Wenn wir [Paul, d. Vf.] überhaupt in unsere Ausbildungsstätte nahmen so nur, weil wir hofften, daß das Kollektiv der Pädagogen und der Lehrlinge ihn würde erziehen und bessern können. Leider sehen wir uns in unseren Erwartungen enttäuscht, da [Paul, d. Vf.] aus dem Rahmen des Üblichen herausfällt. Er verhält sich völlig anders als andere Jugendliche, völlig unnormal. Daher sehen wir uns gezwungen das Lehrverhältnis mit [Paul, d. Vf.] zu lösen, da die Unfallgefahren durch sein Verhalten besonders groß sind und niemand die Verantwortung für den Jugendlichen übernehmen kann. [Paul, d. Vf.]s Verhalten ist nicht bösartig, er will auch nicht bewußt seine Erzieher und Ausbilder ärgern, er ist vielmehr gar nicht in der Lage, sein Tun und Handeln kritisch einzuschätzen. […] Auch bei der Arbeit arbeitet [Paul, d. Vf.] nicht wie alle anderen Lehrlinge, sondern versucht die anderen Lehrlinge bei der Arbeit zu stören oder von der Arbeit abzu­halten. […] Zum Arbeitsbeginn, zum Schulbeginn kommt er immer zu spät. […] In der Schule sind seine Leistungen gar nicht schlecht, im Mathematikunterricht ist er sogar gut, aber [Paul, d. Vf.] ist nicht in der Lage sich zu konzentrieren, […] Auch bei der Arbeit hat [Paul, d. Vf.] keine Ausdauer und darf nie ohne Aufsicht sein. […] [Paul, d. Vf.]s Arbeitsleistung liegt weit niedriger, als die aller anderer Lehrlinge. […] Da [Paul, d. Vf.] durch normale pädagogische Methoden nicht zu ändern und zu bessern ist, möchten auch wir die Bitte der Mutter unterstützen, daß er in ein Heim für Psychiatrie eingewiesen wird.«52

Hier wurden eine ganze Reihe von arbeits- und leistungsbezogenen Gründen angeführt, warum der 15-jährige Paul nicht nur seine Ausbildungsstelle verlor, sondern in einem gemeinsamen Unterfangen der Mutter, seines Ausbildungsbetriebes und der Kreispoliklinik Neubrandenburg eingewiesen wurde: seine

52 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1962/150, Brief v. 21.11.1961, UA Greifswald, PsychN (Hervorhebung im Original).

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zu niedrige Arbeitsleistung, seine mangelnde Anpassungsfähigkeit und Unfallgefahr. Als starkes Argument führte der Betrieb auch an, dass Paul sich »unnormal« und anders verhalte und sich nicht durch das Arbeitskollektiv korrigieren lasse. »Normal«-Sein wird in diesem Brief als Angepasstheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit interpretiert. Hier zeigte sich die Kehrseite der Gleichheits­ ideologie in der DDR. Beide Beispiele bestätigen die These Lindenbergers, dass die offizielle Bekämpfung »Asozialer« in der DDR von der Gesellschaft unterstützt wurde.53 Hier setzte sich ein Ausschlussdiskurs aus der Kriegszeit fort und wurde durch die Gleichheitsideologie der DDR noch weiter unterfüttert. Genau diese Verbindung von Arbeit und Gleichheit führte umgekehrt zu einem neuen Argumentationsmuster zu Gunsten der Patientinnen und Patienten. Entsprechend der Gleichheitsdoktrin und der Arbeitspropaganda forderten Verwandte mitunter Verbesserungen für ihre in der Anstalt arbeitenden kranken Angehörigen. In den Briefen der Angehörigen kam es in den 1950er Jahren vor, dass aus der Arbeit der Patientinnen und Patienten Rechte abgeleitet wurden. In einem längeren Schriftwechsel mit Rodewisch versuchte eine Mutter z. B. auf diesem Wege eine bessere Behandlung ihrer Tochter zu erwirken.54 Immer wieder wies sie in den Briefen darauf hin, dass ihre Tochter in der Anstalt schließlich auch arbeite und daher besser behandelt werden müsse. Die Mutter führte die Arbeitskraft ihrer Tochter z. B. an, als sie sich beschwerte, dass ihre Tochter  – nach deren eigener Schilderung  – bei einem Wutausbruch von vier Personen überwältigt und dabei in den Unterleib getreten worden sei: »Man wird sich nun darauf stützen und sagen Fr. [P., d. Vf.] ist ja krank und man kann ihr nichts glauben. Als Mutter kenne ich meine Tochter und es ist leider sehr bedauerlich, dass sie meistens gut beisammen ist, und nur an Anfällen leidet. Von zuverlässiger Seite weiß ich, dass meine Tochter sehr arbeitsam u. gefällig ist. Das zeugt wohl auch schon davon, das sie jeden Tag zeitig aufsteht die Kochwäsche wäscht und sich auch an sonstigen Arbeiten beteiligt. Ich habe durchaus nichts dagegen, denn solche Kranke brauchen Zerstreuung, welche zur Genesung beiträgt. Aber auch andererseits sollte man ihr Zerstreuung bieten, indem man ihr in ihrem Zustand etwas mehr freien Ausgang gewährt.«55

Es ist bezeichnend für die Aneignung der Arbeitsrhetorik, welche Argumentationsstrategie die Mutter der Patientin für erfolgreich hielt. Sie zog zur Unterstützung ihres Argumentes, dass es nicht rechtens sei, ihre Tochter zu schlagen, heran, dass die Tochter schließlich in der Anstalt ihre Arbeitskraft einsetzte. Sie hob nicht auf die Missstände in der Anstalt im Allgemeinen ab, sondern sie leitete das Recht auf »gute« Behandlung aus der Arbeitsbereitschaft und 53 Lindenberger, »Asociality«, S. 222. 54 KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 4895, Briefe v. Mutter d. Pat. 2.3.–10.9.1953, SächSta Chemnitz, 32810. 55 Ebd., Brief v. 10.9.1953.

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-leistung ihrer Tochter ab. Ob bewusst instrumentell genutzt, intuitiv oder aus persönlicher Überzeugung heraus, wandte die Mutter die staatliche Arbeitsund Gleichheitsdoktrin für das pragmatische Anliegen an, eine bessere Behandlung ihrer Tochter zu bewirken. Die Aneignung sozialistischer Rhetorik veränderte auch Lebensbereiche, in denen Herrscher und Beherrschte nicht direkt aufeinander trafen. In diesem Fall handelte es sich um eine briefliche Auseinandersetzung ausschließlich zwischen Pflegepersonal und der Mutter von Frau P. Dies untermauert im kleinen den Befund der DDR-Forschung, dass die k­ ommunistische Diktatur – wenn auch nicht allein – auf »sozialer Akzeptanz« sowie auf »politischer und kultureller Bindungskraft« basierte.56 Die Argumentation der Mutter macht deutlich, dass es Formen von Akzeptanz und Aneignung jenseits direkter herrschaftlicher Beziehungen gab, die die Dichotomie zwischen Ablehnung und Unterstützung der SED-Herrschaft auflösten. Ob die Mutter das System ablehnte oder unterstützte oder ihm völlig gleichgültig gegenüber stand, spielt keine Rolle für den Befund, dass sie, wie auch immer­ motiviert, Versatzstücke der »offiziellen« sozialistischen Argumentation für das Erreichen persönlicher Ziele im familiären Nahbereich nutzte. Zur Frage nach Kontinuitäten und Brüchen ist zusammenfassend festzu­ stellen, dass sich in beiden Staaten die Argumentation veränderte, aber auf je unterschiedliche Weise. In der DDR blieben Arbeit und Leistung wichtiger als in der Bundesrepublik. In der Bundesrepublik spielten sie nur in den Argumentationen von Patientinnen und Patienten und ihren Verwandten eine Rolle. Gleichzeitig stellte Arbeit hier in den Einweisungsdiskussionen kein Bindeglied zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft dar. In Westdeutschland ging es um das Verhältnis zwischen Patientin oder Patient, der Familie und dem sozialen Umfeld. In der DDR hingegen blieb Arbeit auf der diskursiven Ebene ein Bindeglied zwischen Staat und Individuum. Einerseits besaß diese Verbindung durch die humanere Ausrichtung des sozialistischen Staates nicht dieselbe Relevanz für das Schicksal der Patientinnen und Patienten wie in der Zeit der Krankenmorde. Andererseits fand die argumentative Verbindung noch häufiger Anwendung. Sie wurde sowohl von in Einweisungen involvierten Betrieben stark gemacht als auch – ganz im Gegensatz zur NS-Zeit – manchmal zum Vorteil der Patientinnen und Patienten genutzt.

56 Sabrow, S.  13. Auf Seite 18 im selben Text weist Sabrow explizit auf die Bedeutung von­ Egalität in der sozialistischen Sinnwelt hin, die in Verbindung mit Arbeit auch in der hier exemplarisch analysierten Argumentation zentral ist.

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2. Das gesunde Selbst im Zweiten Weltkrieg, in der DDR und der Bundesrepublik Bereits in der Analyse der Anstaltsbedürftigkeit zeigte sich, dass auch die Patientinnen und Patienten selbst mit Arbeit argumentierten. Noch wichtiger waren Arbeit und Leistung allerdings in der Selbstzuschreibung von Krankheit – zumindest in der Kriegszeit und der frühen Bundesrepublik. In der DDR verlief die Konstruktion eines gesunden bzw. kranken Selbst hingegen viel seltener entlang der Linien von Arbeit und Leistung. In der Selbstbeschreibung des Krankheitszustandes konnte Arbeit auf zweifache Weise eine wichtige Rolle spielen. Arbeitsunfähigkeit oder Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit wurde als Zeichen von Krankheit gewertet oder »Überarbeitung«57 galt als Ursache von Erkrankungen. 2.1 »Überarbeitung« in der Kriegszeit und der frühen Bundesrepublik »Überarbeitung« war in der Kriegszeit und in der Bundesrepublik eine von den Betroffenen häufig vermutete Ursache von Erkrankung. Dabei verlief die Erwähnung von »Überarbeitung« in der Kriegszeit an geschlechtsspezifischen­ Linien; nur Frauen bezeichneten sich in dieser Zeit als »überarbeitet«. Die Selbstzuschreibung von Arbeitsüberlastung lässt sich in den Krankenakten von Männern während der Kriegszeit fast nie finden.58 Es ist allerdings – gerade angesichts der hohen Arbeitsanforderungen während des Krieges – nicht anzunehmen, dass »Überarbeitung« von Männern in der Zeit von 1941 bis 1945 nicht vorkam, sondern dass diese an die Grenzen des Sagbaren stieß. Dies deckt sich mit der Beobachtung, dass sich bis zum Zweiten Weltkrieg eine durchweg negative Einschätzung psychisch erkrankter Soldaten durchgesetzt hatte.59 Die Symptome der psychisch versehrten Soldaten wurden nun grundsätzlich auf angeborene Minderwertigkeit zurückgeführt. Gleichzeitig war an der »Heimatfront« die betriebliche Gesundheitsfürsorge eingeführt worden, die darauf abzielte, Höchstleistungen der Arbeiter zu erzwingen und krankheitsbedingte 57 Der Begriff »Überarbeitung« ist der in den Quellen von medizinischen Laien verwendete Terminus, deswegen wird er in Anführungszeichen verwendet. Arbeitsunfähigkeit und Arbeitsunwille hingegen sind Termini, die unterschiedliche Begrifflichkeiten aus den Quellen zusammenfassen. Sie spiegeln zwar auch die Wertung aus den Quellen wider, sind aber keine direkten Zitate. 58 Die einzige Krankenakte, in der ein Mann selbst Arbeitsüberlastung thematisierte, ist die in Kapitel II, im Unterkapitel »Der Patient zwischen Freiwilligkeit und Zwang« bereits erwähnte Einweisung Walther M.s. Hier ist zu beachten, dass der Patient die Anstalt und den Arzt durch zahlreiche vorherige Aufenthalte kannte. Vgl.: LHA Marburg, Patientenakte Sign. K10563M, LWV Hessen, 16. 59 Neuner, S. 71 ff.; Lerner, Men, S. 32 ff.

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Ausfallzeiten auf ein absolutes Minimum zu beschränken. »Überarbeitung« im Kriegszusammenhang lag nicht im Bereich des Kommunizierbaren. Diese Vermutung wird auch dadurch gestützt, dass sie unmittelbar nach dem Krieg bei Männern in der Ost- und den Westzonen Erwähnung fand. Sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik blieb »Überarbeitung« ein Thema in den Anamnesen, das anders als in der NS-Zeit beide Geschlechter thematisierten. Frauen hingegen gaben »Überarbeitung« als Krankheitsursache in der Kriegszeit genauso wie in der Nachkriegszeit häufig an. In vielen Akten aus der Zeit zwischen 1941 und 1963 schrieben sowohl Frauen sich selbst als auch ihr Umfeld ihnen »Überarbeitung« zu. Beispielsweise führte Berta K.s Ehemann die Angstgefühle und Schlafstörungen seiner Frau bei ihrer Einweisung 1957­ darauf zurück, dass sie sich in der Fabrik »mit der Arbeit übernommen habe.«60 Gerade die Zuschreibung von »Überarbeitung« durch den Ehemann war weit verbreitet. Ein anderes Beispiel ist die Einschätzung Felix L.s zu den Gründen der Aufnahme seiner Frau im Jahr 1957: »Er sei gar nicht damit einverstanden gewesen, dass sie im letzten Jahre in der Näherei gearbeitet habe und der Ansicht, dass sie sich dort überarbeitet habe.«61 »Überarbeitung« als Ursache psychischer Erkrankungen scheint für die Patientinnen selbst so naheliegend gewesen zu sein, dass sie Erschöpfung auch bei organischen Erkrankungen vor der Diagnose oft auf »Überarbeitung« zurückführten.62 Maria T. zum Beispiel, die kurz nach der Aufnahme 1948 an einem Gehirntumor starb, führte ihre »starken Kopfschmerzen« auf ihre berufliche Tätigkeit zurück: 60 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 27/224, Eintrag vom 7.5.1957, HAB, Patientenakten Mahanaim II 61 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 27/222, Eintrag v. 9.5.1957, HAB, Patientenakten Mahanaim II. 62 Die häufige und selbstverständliche Selbstzuschreibung von psychischer Arbeitsbelastung bei Frauen weicht vom Befund von Susanne Hoffmanns ab, die im Zuge ihrer Analyse von autobiographischen Zeugnissen eine solche Selbstzuschreibung ausschließlich bei Männern fand, während sie Selbstzuschreibung körperlicher Belastung geschlechtsunabhängig feststellen konnte. Vgl.: Hoffmann, Alltag, S. 252. Vermutlich sind die unterschiedlichen­ Befunde auf die jeweils analysierten Quellen zurückzuführen. Hoffmanns Quellenkorpus besteht aus Autobiographien, also Prosaerzählungen über das eigene Leben. Auch wenn die von Hoffmann untersuchten Autobiographien nicht veröffentlicht wurden, ist doch zu ­unterstellen, dass es sich um eine bewusste Selbstdarstellung handelte, die zumindest von Familienmitgliedern potenziell gelesen werden konnte. Möglicherweise sind die Unterschiede dadurch bedingt, dass psychische Überlastung bei Frauen zwar in spezifischen Kontexten sagbar war, in eine selbststilisierende Autobiographie aber nicht passte. Der Erzählkontext, aus dem eine Krankenakte entstand, war hingegen ein ganz anderer. Selbstverständlich handelt es sich auch hier oft um bewusste Selbstdarstellungen, allerdings ist der Frau zum Zeitpunkt ihrer Stellungnahme bereits »Krankheit« oder »Nicht-Normalität« zugeschrieben worden. Die Möglichkeit der ausschließlich positiven Selbstdarstellung war kaum mehr gegeben, stattdessen wird explizit nach der ersten Wahrnehmung von »Krankheitssymptomen« gefragt und dies in einer Situation, in der viele Patientinnen gehofft haben mögen, durch die von ihnen gegebenen Informationen zur Findung der Ursache und zur Besserung ihres Leides beizutragen.

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»Beginn mit Schwächegefühl, starkem Kopfschmerz, ›sie sei mit den Nerven fertig‹. Sie arbeitete in der Gemeinde in der Kassenverwaltung und glaubte sich überarbei­ tet zu haben, die Rechnerei ist ihr zu viel geworden. Pat. steht hier allein – evakuiert aus Schlesien – Sie lies sich arbeitsunfähig schreiben; legte sich zu Hause zu Bett und zeigte eine Apathie mit zeitweiligem Stupor, geringe Nahrungsaufnahme auf Drängen hin, nachts wurde sie im Kuhstall des Bauern, bei dem sie wohnt, unter einer Kuh liegend gefunden. Keine Wahnideen, keine Sprachstörungen, keine Krampf­zustände.«63

Patientinnen und ihre Umgebung schrieben sich auch während des Krieges Arbeitsüberlastung zu, obwohl sie dem propagierten Menschenbild des Nationalsozialismus diametral entgegenstand. Zwei typische Beispiele sind die Anam­ neseangaben Sophie L.s und Maria T.s. Die in Bethel eingewiesene Sophie L. war ihrer eigenen Einschätzung und der ihres Ehemanns nach so überlastet durch die Arbeit in einer Uniformfabrik, dass sie sich völlig am Ende fühlte und überall am Körper Schmerzen hatte.64 Bei der Aufnahme Maria T.s thematisierte ihre Stiefmutter Überanstrengung als Erkrankungsgrund: »Sonst sehr tüchtig, […]. Seit 6 Jahren verheiratet, keine Kinder oder Fehlgeburten. Gute Ehe. Der Ehemann sei vielleicht etwas weich und nachgiebig. Zurzeit ist er im Felde. Pat. sorge sich seinetwegen sehr. Durch ihren Dienst sei sie sehr überanstrengt. Leide jetzt unter Schlafstörungen, Beängstigungen u. Entschlusslosigkeit. Ambulante ärztliche Behandlung sei erfolglos gewesen.«65

Die Aufforderung des Regimes an Frauen, im Krieg mehr Belastungen auf sich zu nehmen,66 stieß in der Realität an Grenzen, was die Frauen auch artikulierten. Die Erwerbsarbeitsforderung an Frauen stand dem seit der Industrialisierung vor allem in bürgerlichen Haushalten, aber zum Teil auch in Familien der Arbeiterklasse favorisierten und praktizierten Modell der Hausfrau entgegen.67 Die geschlechtsspezifische Sagbarkeit von »Überarbeitung« bei gleichzeitiger Nivellierung genderspezifischer Zuschreibung von Gesundheit durch Arbeit bestätigt einen Befund Sybille Steinbachers zur Geschlechterstereotypen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Steinbacher stellt fest, dass es eine »Flexibilisierung 63 HPA Untergöltzsch, Patientenakte Sign. 6976, Eintrag vom 16.4.1948, SächSta Chemnitz, 32810. 64 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 3850, HAB, Patientenakten Gilead III. 65 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 161/2443, Eintrag v. 12.1.1943, HAB, Patientenakten Mahanaim I. 66 Zur Propaganda der starken Frau im Krieg, vgl.: Süß, Tod, S.  74. Zum Umgang der Frauen mit der Forderung, »Männer in der Industrie, der Partei, der Wehrmacht und in den Behörden [zu]ersetzen sowie dort und anderswo anfallende kriegsbedingte Mehrarbeit [zu] schultern«, vgl.: Kramer, S. 12. Für die Zeit, in die dieses Beispiel fällt, hat Kramer das Bild der Kameradin als besonders wichtig herausgearbeitet, die neben effizienter Haushaltsführung auch noch andere außerhäusliche Tätigkeiten übernahm. Sie weist darauf hin, dass in diesem Bild – im Gegensatz zu dem ebenfalls wichtig bleibenden Bild der Mutter – die Geschlechtergrenzen am deutlichsten verwischt wurden, ebd., S. 344. 67 Vgl. zur Durchsetzung und weiten Verbreitung des Modells der Hausfrau im Zusammen­ hang mit Vorstellungen und Praxis von Gesundheit: Hoffmann, Alltag, S. 251.

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der Stereotype« gab, diese aber in ihrer Grundstruktur nicht angetastet wurden.68 Denn auch wenn das Verhältnis der Frauen zur Arbeit dem von Männern entsprach, verhielt es sich doch so, dass die räumliche Trennung geschlechtsspezifischer Arbeitsbereiche selbst bei weitgehender Auflösung im Arbeitsalltag in den Argumentationen von Patientinnen und Patienten und ihren Verwandten ihre Bedeutung behielt. Hierfür sprechen die geschlechtsspezifische Sagbarkeit von »Überarbeitung« während des Krieges sowie die Tatsache, dass Ehemänner Klagen ihrer Ehefrauen im Kontext von Erwerbsarbeit oft als legitim ansahen, Klagen und Vernachlässigung des Haushaltes aber meist negativ bewerteten. Ein dritter wichtiger Punkt für die Konstruktion von Arbeit als Krankheitsursache bei Männern wie bei Frauen ist, dass es im Zuge des Diskurses über Arbeitsüberlastung nicht allein um körperliche Überlastung ging. Hierauf weist die Begründung der Stiefmutter Maria T.s hin, die den Zustand ihrer Stieftochter aus der Sorge um ihren Ehemann an der Front und aus der Erschöpfung durch die Arbeit erklärte. Auch in anderen Krankengeschichten wurde »Überarbeitung« nicht nur als Konsequenz körperlicher Erschöpfung dargestellt. So spielten in manchen Erzählungen z. B. die Erwartungen an die Arbeit im weiteren Sinne eine Rolle. Frauen beklagten während des Krieges u. a., dass sie bei der Arbeit keine »Gemeinschaft« erlebten. Beispielsweise beschrieb eine 24-jährige Nachrichtenhelferin, dass sie zusätzlich zu der anstrengenden Arbeit auch aus anderen Gründen sehr unglücklich beim Nachrichtendienst und beim Luftschutz gewesen sei, denn »keiner kümmere sich um den anderen.«69 Die durch Propaganda geschürten Erwartungen, jene »Volksgemeinschaft« zu erleben, für die der einzelne Mensch bereit sein sollte, Leistung bis zur Erschöpfung zu bringen, wurden hier enttäuscht. Die Enttäuschung darüber, dass sich »keiner um den anderen kümmere«, zeigt aber auch, dass Maria T. eine ernsthafte Erwartung an ein reales Erleben von »Gemeinschaft« hatte.70 Dies ist in mehrfacher Hinsicht bedenkenswert: zum einen im Kontext der Forschungen zur »Volksgemeinschaft« und zum anderen insofern, als dass der Erwartungshorizont und die Einstellung zur Arbeit, wie in diesem Kapitel noch gezeigt wird, auch für die behandelnden Ärzte eine besondere Bedeutung besaß. Darüber hinaus sind die 68 Steinbacher, Differenz, S. 99. 69 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 161/2446, Eintrag v. 10.11.1943, HAB, Patientenakten Mahanaim I; da der Luftschutz als Selbstschutz konzipiert war, sollten v. a. Frauen hierfür rekrutiert werden. Zu Frauen im Luftschutz, vgl.: Kramer, S. 103 ff. u. 111. 70 Franka Maubach zeigt, dass der BDM stark zur Vergemeinschaftung von Frauen beitrug. Insofern knüpften die Erwartungen auch an reale Erfahrungen an. Diese Erwartungen hingen aber ebenfalls mit geschlechtsspezifischen Selbstdeutungsangeboten innerhalb der »Volksgemeinschaft« zusammen. Nicole Kramer zeigt drei Verhaltensleitbilder für Volksgenossinnen auf: die Mutter, die Kämpferin und die Kameradin. Das Bild der Mutter forderte dazu auf, sich als Frau um Andere – quasi um eine erweiterte Familie – zu kümmern und wies einen sehr starken Gemeinschaftsbezug auf. Maubach, S. 54 ff.; Kramer, S. 346 ff. Zur historischen Relevanz der Dichotomie von Erwartungsraum und Erfahrungshorizont vgl.: Koselleck, S. 349–375.

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Themen Anerkennung der Arbeit und Abweichungen der Realität vom eigenen Erwartungshorizont zwei Punkte, die später für die Stress- und in noch größerem Maße für die Burnoutkonzeption ganz wesentlich wurden.71 2.2 Arbeitsfähigkeit als Zeichen von Gesundheit im Zweiten Weltkrieg und der Bundesrepublik Noch verbreiteter als die Thematisierung von »Überarbeitung« in der NS-Zeit und in der Bundesrepublik erwies sich die Verknüpfung von Arbeitsfähigkeit und Gesundheit. Es konnte dabei um Hausarbeit, Arbeit in der Fabrik oder im Büro gehen. Fast jede Krankengeschichte erwähnte diesen Zusammenhang. Es handelt sich um ein schichtenübergreifendes Muster, das geschlechtsunabhängig vorkam. Im Folgenden wird die argumentative Herstellung dieses Zusammenhangs an einem Beispiel aus der Kriegszeit und an einem aus der Bun­des­repu­blik veranschaulicht. Danach wird der Zusammenhang von Arbeitsfähigkeit/Leistung und der Vorstellung eines gesunden Selbst in der Bundesrepublik anhand von psychiatrischen Einweisungen nach Suizidversuchen vertieft, um dann zu einer Interpretation der Befunde zu kommen. Sowohl in der Kriegszeit als auch in der Bundesrepublik gaben die Patientinnen und Patienten – sofern sie sich selbst als krank betrachteten – fast immer an, dass ihnen ihre eigene Krankheit auch daran aufgefallen sei, dass sie in der Ausübung ihrer Arbeit beeinträchtigt seien. Zahlreiche Symptome brachten Menschen mit unterschiedlichen Erkrankungen in Verbindung mit ihrer Leistungsfähigkeit: z. B. Mangel an Konzentrationsfähigkeit, Schlappheit, Stimmenhören oder Angstzustände, die von der Arbeit abhielten. Beispielsweise drängte die Patientin Lisa B. 1943 hartnäckig auf Aufnahme nach Bethel, obwohl ihr Hausarzt die Einweisung nicht für unbedingt nötig hielt. In der Anamnese ist Folgendes zur Frage angegeben, warum sie nach Bethel kommen wollte: »Vor innerer Unruhe, bzw. innerlichem Vibrieren meine sie immer, sie werde mit ihrer Arbeit nicht fertig. Ihren Haushalt habe sie aber bis zuletzt immer besorgen können. Ihre Schwiegermutter hätte deswegen gemeint, so schlimm könne es doch mit ihr nicht sein. Sie selbst fühle sich ständig bedrückt und mache sich Sorgen um ihren Zustand.«72 In Bethel wurde eine leichte Depression diagnostiziert. Dieses Beispiel macht die Bedeutung von Arbeitsfähigkeit für die Zuschreibung von Krankheit bei der Patientin oder dem Patienten und ihrer 71 In seiner Monographie zu eben diesen Phänomenen weist Kury darauf hin, dass Stress ein Massenphänomen in der Zeit nach 1945 ist und argumentiert, dass der fehlende wissenschaftliche Diskurs nichts darüber aussagt, ob Menschen zuvor Stress empfunden haben. Susanne Hoffmann hat in ihren autobiographischen Quellen ganz ähnliche Beschreibungen von »Stress« bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gefunden. Kury, S. 267, 11; Hoffmann, Alltag, S. 264. 72 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 1875, HAB, Patientenakten Mahanaim I.

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oder seiner Umgebung schlaglichtartig deutlich. Zugleich verweist es auf zwei Ebenen, die nicht unbedingt zusammenfallen: Das Gefühl der eingeschränkten Arbeitsfähigkeit und die Fremdwahrnehmung derselben. Den Indikator Arbeitsfähigkeit als Gradmesser für Gesundheit verwendeten beide Frauen, die Patientin und ihre Schwiegermutter kamen aber zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Hier zeigt sich erneut der besondere Aushandlungscharakter beim Feststellen psychischer Erkrankungen. Nicht nur zwischen Ärzten und Laien herrschten teils sehr unterschiedliche Vorstellungen, woran und auf welche Weise Krankheit festgemacht werden sollte. Wie in diesem Fall konnten auch schon die Einschätzungen der Laien gravierend divergieren.73 Eins von vielen möglichen Beispielen für die Bundesrepublik ist die Argumentation während der Aufnahme des verheirateten Karosseriebauers Hannes F. im Jahr 1962 in die LHA Marburg. Hannes F. wurde polizeilich eingewiesen, nachdem er in einem Tobsuchtsanfall Teile des Mobiliars zerstört und Fenster seiner Wohnung eingeschlagen hatte.74 Er selbst und seine Ehefrau brachten den von ihnen als »Nervenzusammenbruch« bezeichneten Vorfall in zweifacher Weise in Zusammenhang mit der Arbeit des Patienten. Zum einen gab Hannes F. auf die Frage, ob und wann ihm Veränderungen an sich selbst aufgefallen seien, zur Antwort, dass er schon einige Tage vor der Einweisung Schwindelgefühle bei der Arbeit gehabt und sich nicht habe konzentrieren können.75 Zum anderen nannten er und seine Frau als Ursache für den »Nervenzusammenbruch«, dass Hannes F. in seinem Betrieb Gesetzesverstöße bekannt geworden seien und er nun in großer Sorge gewesen sei, fälschlicherweise selbst damit in Zusammenhang gebracht zu werden. Er selbst stellte heraus, dass er »unehrliche« Machenschaften im Betrieb aus seinem tiefsten Inneren heraus ablehne. Seine Ehefrau lobte in diesem Zusammenhang seinen außergewöhnlichen »geraden und ordentlichen Charakter«.76 Die Eheleute sahen also den Ruf des Patienten als »ehrlicher Arbeiter« gefährdet. Dieser explizite Zusammenhang zwischen Arbeitstätigkeit, Anerkennung und psychischem Wohlbefinden findet sich in den Krankenakten aus Bethel und Marburg zwar immer wieder, er ist aber nicht so allgegenwärtig wie der Zusammenhang zwischen der Feststellung von »Unwohlfühlen« und der Arbeitsleistung, der in nahezu jeder Krankenakte zu finden ist. Häufig wurde auch die fehlende Arbeitsmotivation oder mangelnde Freude an der Arbeit als Zeichen gewertet, dass es etwas nicht in Ordnung war. In den Selbstbeschreibungen wurde dies oft mit den Worten gefasst, die Arbeit sei nur noch »mechanisch« erledigt worden.77 73 Völlig anders gestalteten sich Aushandlungen um Krankheit und Gesundheit unter Laien, wenn es ein akzeptiertes Messinstrument gab. Vgl.: Hess, Ökonomie, S. 237 f. 74 LHA Marburg, Patientenakte Sign. 16K14774M, Einweisungsschein d. Polizeiverwaltung v. 2.3.1962, LWV Hessen, 16. 75 Ebd., Eintrag v. 9.4.1962. 76 Ebd., Eintrag v. 24.4.1962. 77 U. a.: vBS Bethel, Patientenakte Sign. 2818, Eintrag v. 26.7.1951, HAB, Patientenakten Mo­ rija I.

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In der Bundesrepublik wurde darüber hinaus mehrfach Arbeitslosigkeit als Ursache von Selbstmorden angeführt.78 1959 beispielsweise wurde der 51 Jahre alte Jens T. nach einem Suizidversuch in die LHA Marburg eingewiesen. Nach einer Operation vier Jahre zuvor fand er keine Stelle mehr und ging Aushilfsarbeiten nach. »Als er wochenlang keine Bleibe u. Schlafstätte hatte, sei es ihm durch den Kopf gegangen u. er habe schließlich zu den Tabletten gegriffen. Er könne es nicht abstreiten, er wisse erst jetzt, wie teuer es ihm gekommen sei. Er sei eben zu alt u. niemand wolle ihn mehr in Stellung nehmen.«79 Der Patient führte hier nicht nur seine momentane Situation als Wohnungsloser an, sondern baute seine ganze Erklärung um das Thema seiner Arbeitslosigkeit auf. Die Angst, gar keine Arbeit mehr finden zu können, nannte er als zentrales Motiv. In den für die Studie gesichteten Akten aus der NS-Zeit und der DDR kam diese Begründung nicht vor. Für die DDR ist dies wenig erstaunlich, da es ungewollte Arbeitslosigkeit nicht gab.80 Für die NS-Zeit ist zu beachten, dass alle Akten aus der Kriegszeit stammen. Meines Erachtens sagt dieser Befund daher nichts über die Selbstbeurteilung der Patienten anhand ihrer Leistung und Anerkennung von Arbeit aus, sondern ist eher auf veränderte Maßstäbe im Krieg zurückzuführen. Beruflicher Erfolg hatte angesichts des Kriegszustands tendenziell geringere Priorität.81 Noch für den Beginn des Nationalsozialismus stellt Christian Goeschel fest, dass es besonders viele Selbstmorde gab, als deren Grund Arbeitslosigkeit angeführt wurde.82 Zu bedenken ist, dass die Stichprobe keine systematischen Aussagen über die Motive von Selbstmorden im »Dritten Reich«, der DDR und der Bundesrepublik erlaubt. Zwar kommen in der Ziehung für diese Studie regelmäßig Einweisungen wegen Suizidversuchen vor, es wurde aber nicht gezielt danach gezogen.83 Es ist lediglich auffällig, dass nur bei Suizidversuchen in der Bundesrepublik­ Arbeit und Leistung prominent auftauchten. Anders als zum »Dritten Reich« 78 Nicht nur in den Krankenakten war dies der Fall, auch bei der Durchsicht der psychia­ trischen Zeitschrift Der Nervenarzt fällt in vielen Artikeln zu unterschiedlichen Themen auf, wie zahlreich die Beispiele für Einweisungen sind, bei denen die Verzweiflung, keine Arbeit zu finden, als Grund für einen Suizidversuch genannt wurde. Vgl. u. a.: Friedrich Meinertz, Was ist inadäquat bei der Schizophrenie?, in: Der Nervenarzt, 6 (1955), S. 232–237, S. 232. 79 LHA Marburg, Patientenakte Sign. 16K13786M, Eintrag v. 10.1.1959, LWV Hessen, 16. 80 Zur insgesamt außergewöhnlich hohen Selbstmordrate in der DDR und ihren Gründen, vgl.: Grashoff; Grashoff hebt hervor, dass die Selbstmordmotive in der DDR meist mit Krankheit, Psychosen und familiären Konflikten im Zusammenhang standen, vgl. ebd., S. 122. 81 Zu veränderten Referenzrahmen im Krieg in direktem Zusammenhang mit dem individuellen Gefühl des Scheiterns, vgl.: Jeggle, S. 222. 82 Goeschel, S. 19. 83 Daher können auch keine Aussagen etwa zu möglichen geschlechtsspezifischen Unterschieden gemacht werden. Allgemein ist in der Forschung jedoch schon lange unumstritten, dass Arbeitslosigkeit, zumal in den ersten beiden Dritteln des 20. Jahrhunderts, von Männern viel stärker thematisiert wurde als von Frauen. Vgl. zusammenfassend hierzu: Hoffmann, Alltag, S. 253.

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und der DDR gibt es keine Studie zu Suiziden in der Bundesrepublik, in die dieser Befund eingebettet werden könnte. Zumindest untermauern die S­ uizid­ fälle den Befund, dass Arbeit, Leistung und die Anerkennung von beidem in der Bundesrepublik Vorstellungen des Selbst prägten. Die Ergebnisse dieses­ Kapitels bestätigen die in der Forschung breit geteilte Annahme, dass es eine Kontinuität des Leistungsethos von der NS-Zeit in die Bundesrepublik gab.84 Die Krankenakten sprechen dafür, dass es sich hierbei nicht um ein schichtspezifisches Elitenphänomen der Bundesrepublik handelte, wie es die von Wehler angestoßene Debatte um eine »entbräunte Leistungsgesellschaft« vermuten lassen könnte.85 Die Unterlagen zeigen, dass Ende der 1950er Jahre auch Fabrikarbeiter ihre Leistungsfähigkeit als wesentlich für ihre Vorstellung von einem gesunden Selbst betrachteten.86 Wie das erste Beispiel gezeigt hat, zogen nicht nur erwerbstätige Männer die Verbindung zwischen Gesundheit und Arbeitsfähigkeit. Bewusst wurde ein Beispiel gewählt, in dem zwei Frauen Gesundheit und Krankheit mit Hilfe des Indikators »Arbeitsfähigkeit« bestimmten. Die medizingeschichtliche Studie von Nicole Schweig zum Gesundheitsverhalten von Männern interpretiert die Verbindung von Arbeitsfähigkeit mit Gesundheit für die erste Hälfte des 20.  Jahrhunderts als spezifisch männliches Gesundheitsverhalten.87 In dem Sample dieser Studie lassen sich hingegen zahlreiche Fälle finden, in denen Frauen dieselbe Verbindung zogen. Vor dem Hintergrund einer »Taylorisierung der Hausfrau« seit dem Ersten Weltkrieg erscheint dieser Befund eher folgerichtig als überraschend. Über die aus den USA übernommene »Hauswirtschaftswissenschaft« stiegen Leistung und Zeitersparnis im Haushalt zu erstrebenswerten Zielen auf.88 Zwar sind die Ziele der neuen »Hauswirtschafts­ 84 Vgl. hierzu: Kapitel »Der Leistungsfanatismus des Nationalsozialismus – Ressource für das Wirtschaftswunder?«, in: Bahners u. Cammann, S. 107–124. 85 In der Debatte ging es hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, um die Leistungsträger der jungen Republik, vgl.: Ebd. 86 Dies passt zu Erkenntnissen, die Bänzinger zur schichtübergreifenden »Betriebsamkeit« in den 1950er Jahren gewonnen hat, vgl.: Bänzinger. 87 Schweig, S. 117. Dies ist ein ungewollter Effekt einer Studie, die nur ein Geschlecht untersucht, aber implizit auch Aussagen über das andere macht, etwa wenn Nicole Schweig Arbeitsfähigkeit in der Definition eines gesunden Selbst auf der Grundlage von ausschließlich von Männern verfassten Briefen als spezifisch männliches Gesundheitsverhalten erkennt. Die in der Forschung etablierte Zuschreibung von schicht- und berufsspezifischer Verinnerlichung von Leistungsstreben wird gerade durch neue Forschungen zur schichtübergreifenden Bedeutung von Leistung und Arbeit aufgebrochen. Vgl. erste Forschungsergebnisse von Nina Verheyen und Peter-Paul Bänzinger zur schichtübergreifenden individuellen Bedeutung von Arbeit und Leistung um die Wende zum 20. Jahrhundert, in der Weimarer Republik und in der frühen BRD: Bänzinger; Verheyen, S. 382–390. 88 Neue Konzepte der Haushaltsführung und der Bewertung dieser fanden weite Verbreitung bedingt durch den Ersten Weltkrieg, den Wohnungsbau der Weimarer Zeit, die Verbreitung der Ideen durch ein eigenes Institut, eine Zeitschrift, die Einführung in Lehrplänen und die Unterstützung durch die Frauenbewegung. Borscheid, S. 483.

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wissen­schaft« nicht alle erreicht worden, der wesentliche Punkt im Hinblick auf den Bezug von Arbeit zum gesunden Selbst ist aber, dass die Rolle der Hausfrau ganz anders gedacht wurde und dass Hausfrauen diese neue Einstellung positiv und mit Stolz aufnahmen.89 Die Befunde von Borscheid zur »taylorisierten« Hausfrau sind im Kontext dieses Kapitels zweifach bedeutsam. Zum einen passt es in das von ihm entworfene Bild der Hausfrau, dass diese ihre Gesundheit mittels ihrer Leistung in der Hausarbeit bewertete. Dies dürfte im »Dritten Reich« noch durch die »rassistisch grundierte Förderung von Hausarbeit und Mutterschaft« verstärkt worden sein, die zu Anerkennung und einer sozialen Aufwertung auch im öffentlichen Raum führte.90 Zum anderen könnte das im Bereich des Haushalts einmal positiv etablierte Modell die Aneignung und Verinnerlichung ähnlicher Erwartungen und Arbeitsrationalisierungen in der Erwerbsarbeit für Frauen erleichtert haben. Im Nationalsozialismus und in der Kriegszeit noch einmal mehr, gilt es zudem Sybille Steinbachers Feststellung zu berücksichtigen, dass, während der Mutterkult in seinen Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit von Frauen lange überschätzt wurde, weibliche Erwerbstätigkeit in der Tat das Alltagsleben vieler Frauen bestimmte. So kann sie feststellen, dass die »Trennung in männliche und weibliche Sphären […] im Zuge der Totalisierung des Krieges zunehmend« schwand.91 Anders verhält es sich im Rahmen der Einweisungspraxis mit der Zuschreibung Dritter. Ehemänner etwa akzeptierten und unterstützten die Zuschreibung von »Überarbeitung«, sofern es um Erwerbsarbeit ihrer Ehefrauen ging, nicht jedoch im Kontext von Hausarbeit. In der Selbstzuschreibung der Patientinnen und Patienten sind allerdings keine Unterschiede festzustellen. Ein wichtiges Ergebnis der Analyse der Krankenakten in diesem Kontext ist daher, dass dieses Arbeits- und Leistungsdenken weder schicht- noch geschlechtsabhängig war. 2.3 Arbeitsfähigkeit und »Überarbeitung« in der DDR In der DDR war die Situation eine gänzlich andere. Einerseits spielte Arbeit auf der organisatorischen Ebene im Gegensatz zur Kriegszeit und zur Bundesrepublik eine immense Rolle. Andererseits tauchten Argumentationen mit Arbeit seit dem Beginn der 1950er Jahre kaum mehr im Zusammenhang mit Erwerbsarbeit auf. Zuerst geht es im Folgenden um die neue Bedeutung von Arbeit auf der organisatorischen Ebene, danach um die veränderten Argumentationsmuster. Im Gegensatz zur Kriegszeit und zur Bundesrepublik kamen in der DDR Einweisungen durch den Betriebsarzt und Aufnahmen unmittelbar vom Arbeitsplatz in Begleitung von Arbeitskollegen häufig vor. Die Einweisung des 60-jährigen Janosch Sch. im Jahr 1950 nach Untergöltzsch zeigt exemplarisch, 89 Ebd., S. 484. 90 Steinbacher, Differenz, S. 97. 91 Ebd., S. 98 f.

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wie solche Einweisungen in der DDR abliefen. Der erste Eintrag in die Krankenakte lautete: »Wird laut beiliegendem ärztlichen Zeugnis von Herrn Dr. L.-C. eingewiesen. Kommt in Begleitung eines Arbeitskollegen direkt aus dem Betrieb. Bei der Aufnahme etwas abweisend, ruhig, in sich gekehrt. Soll sich während der Arbeit plötzlich verändert haben. Sei immer im Kreis gelaufen, so daß die Besorgnis entstand, er könne in das Triebwerk der rotierenden Maschine geraten.«92

Die Beschreibung einer plötzlichen Veränderung und einer damit zusammenhängenden gefährlichen Situation am Arbeitsplatz war eine typische Konstellation nicht nur in der DDR. Der geschilderte Umgang mit der Situation ist jedoch DDR-spezifisch und weist auf die umfassende lebensweltliche Veränderung durch die Abhängigkeit aller anderen Lebensbereiche vom Betrieb hin.­ Janosch Sch. wurde nicht nur vom Betriebsarzt eingewiesen, sondern er kam auch unmittelbar von seinem Arbeitsplatz zur Aufnahme, wobei ihn ein Kollege begleitete. Keiner dieser drei Umstände war in der Bundesrepublik üblich. In der Kriegszeit gab es in der Stichprobe zwar ebenfalls Einweisungen durch Betriebsärzte, aber lediglich ganz vereinzelt. In der Universitätsklinik Greifswald in ­Rodewisch und Großschweidnitz kam dies regelmäßiger vor.93 Insbesondere die Tatsache, dass der Patient weder vor der Einweisung nach Hause zurückkehrte – obwohl kein akuter Notfall vorlag, wie ein Suizidversuch oder gewalttätige Ausschreitungen gegen das Umfeld – noch ein Verwandter94 ihn in die Anstalt begleitete, zeigt, welch wichtige Funktion das soziale Umfeld des Arbeitsplatzes auch für existenzielle Entscheidungen in persönlichen Krisensituationen einnahm. Zudem machten in einer solchen Einweisungskonstellation Arbeitskollegen auch die ersten Angaben für die sogenannte »objektive Anamnese«. Die ersten Informationen, die der Arzt in der Anstalt erhielt, stammten also vom Betriebsarzt und einem Arbeitskollegen. Das veränderte die Ausgangslage für Arzt und Patientin oder Patient gegenüber einer Konstellation, in der die Referenzperson der Familie entstammte und der Hausarzt einwies. Die ersten Informationen besaßen durchaus folgenschwere Relevanz für das Schicksal der oder des Betroffenen, da die Ärzte Entscheidungen, die den Anstaltsaufenthalt prägten, relativ schnell nach der Aufnahme fällten, bei Einweisungen vom Arbeitsplatz also oft bevor noch mit Familienmitgliedern ge-

92 KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 8963, Eintrag v. 9.5.1950, SächSta Chemnitz, 32810. 93 Die Zahlen spiegeln die reale Bedeutung der Betriebsärzte nicht wider, da Betriebsärzte oft zunächst in ein Krankenhaus einwiesen und der Patient von dort in eine Heil- und Pflege­ anstalt weiterverwiesen wurde. In der Stichprobe tauchen diese Einweisungen daher unter der Rubrik »Einweisungen durch Krankenhäuser« auf. 94 Janosch Sch. hatte eine in der Nähe lebende Schwester, zu der er ein gutes Verhältnis hatte. Grund für die Begleitung durch den Arbeitskollegen war also nicht, dass es keine Verwandten gegeben hätte. Vgl.: KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 8963, Eintrag v. 11.5.1950, SächSta Chemnitz, 32810.

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sprochen wurde. Zu diesen frühen Entscheidungen gehörte auch die Zuordnung zu einer Station; also die Festlegung, ob die Patientin oder der Patient auf eine »ruhige« oder »unruhige« Station kam, ob sie oder er als »arbeitsfähig« eingestuft wurde und ob das Anstaltsgelände, z. B. für kleine Besorgungen, verlassen werden durfte. Obwohl das Arbeitsumfeld und der Betrieb in der Einweisung eine vergleichsweise große Rolle spielten, wurden weder Überlastung noch Arbeitsfähigkeit noch die soziale Konstellation am Arbeitsplatz von den Eingewiesenen besonders hervorgehoben. Im Fall Janosch Sch.s war es ein Zufall, dass er gerade am Arbeitsplatz absonderliches Verhalten zur Schau stellte. Die Fragen des Arztes verleiteten den Patienten auch nicht dazu, seine Beschwerden mit seinem Arbeitsplatz in Bezug zu setzen. In diesem Fall bleiben die Ursachen also im Dunkeln. In anderen Fällen führten Eingewiesene durchaus Gründe an, die jedoch in der Regel nicht mit der Arbeit im Zusammenhang standen. Ein Beispiel für eine Einweisung vom Arbeitsplatz ohne Bezug zur Arbeit ist die Einweisung des 34-jährigen Frank G., der in der Anamnese angab: »Gestern mittag sei seine Frau um 13 Uhr mit einem Schreiben nach Hause gekommen, welches beinhaltete, daß sie ein Jahr Gefängnis erhalten habe. Diese Strafe habe sie wegen einer Unterbrechung einer Schwangerschaft erhalten. Sie hätten vier kleine Kinder zu hause. Er habe um ¼ 2 Uhr zur Schicht gemußt und sich deshalb mit ihr nicht weiter aussprechen können. Während der Schicht habe er sich die schwersten Gedanken gemacht, vor allem um seine Frau, die vielleicht dann nicht mehr zurückkommen würde und auch um die Kinder. Er sei dann ohnmächtig geworden. Erst in Obergöltzsch sei er wieder zu sich gekommen.«95

Hier sowie in vielen anderen Einweisungen vom Arbeitsplatz aus war der Anlass eines psychischen Zusammenbruchs im familiären Bereich zu finden. Die Tatsache, dass der Patient vom Arbeitsplatz kam, zeigt lediglich – im Einklang mit der Forschung – die große Bedeutung der Betriebe für alle Lebensbereiche.96 Seit dem Beginn der 1950er Jahre tauchten »Überarbeitung« und die Zuschreibung von Krankheit aufgrund von Einschränkungen in der Arbeitsfähigkeit nur noch sehr selten im Zusammenhang mit Erwerbsarbeit auf. Stattdessen wurde Krankheit vermehrt an anderen Phänomenen festgemacht, die in der Kriegszeit und der jungen Bundesrepublik neben der Arbeitssphäre ebenfalls regelmäßig auftauchten, z. B. an Schlafstörungen oder Appetitlosigkeit. Hausfrauen hingegen führten weiterhin regelmäßig an, dass sie ihre Erkrankung vor allem an einem Nachlassen ihrer Leistungsfähigkeit bemerkten und hofften gesund zu werden, damit sich dies wieder ändern würde. Nicht untypisch blieb die argumentative Verbindung zwischen »Versagen« im Haushalt und psychischen Zusammenbrüchen bis hin zum Suizidversuch. Regina M. z. B., die Hausfrau

95 KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 5168, Eintrag v. 29.4.1953, SächSta Chemnitz, 32810. 96 Zur Bedeutung des Betriebs, vgl. u. a.: Kohli, S. 43.

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war, wurde 1954 in die Universitäts- und Nervenklinik Greifswald aufgenommen und gab laut der Anamnese an, sie schaffe es schon länger nicht mehr, ihren Haushalt zu besorgen und sich um ihr Kind zu kümmern, da sie deprimiert sei:97 »Weil ich mit meiner Arbeit nicht fertig wurde, habe ich versucht die Pulsadern aufzuschneiden.«98 Anders als in der NS-Zeit war die Erwähnung von Arbeit über den Bereich der Hausarbeit hinaus jedoch deutlich seltener und wies, wenn sie vorkam, auf Zusammenhänge mit bestimmten Berufen und Lebenssituationen hin. Nicht ungewöhnlich war die Selbstzuschreibung von »Überarbeitung« im direkten Zusammenhang mit den Aufstiegschancen, die die Neuordnung in der SBZ und frühen DDR bot. Während sich »Überarbeitung« in den Betrieben zumindest nicht in den Patientenakten niederschlug, nannten sie Ende der 1940er Jahre »Neubauern« und politische Aufsteiger. Die Tatsache, dass diese Gruppen negative Konsequenzen ihrer Arbeit thematisierten, zeigt, dass »Überarbeitung« nicht allein aus Gründen der Nicht-Sagbarkeit in den anderen Patientenakten keine Erwähnung fand. Zu den erwähnten Berufsgruppen ist zu bemerken, dass die Stichprobe nur vergleichsweise wenige Akten von Neubauern und politischen Aktivisten enthält und die Berufsverteilung in der Ziehung nicht berücksichtigt wurde. Die Nennung von »Überarbeitung« ist daher nicht repräsentativ für diese beiden Gruppen. Es lässt sich lediglich feststellen, dass »Überarbeitung« in den Akten von Arbeitern nicht erwähnt wurde, in den beiden genannten Gruppen jedoch vorkam, ohne dass eine Aussage über das Ausmaß dieses Phänomens gemacht werden könnte. Ein Beispiel für Überarbeitungserscheinungen im Kontext politischer Arbeit ist Ferdinand H., der 1955 auf Grund eines »völligen Erschöpfungszustands durch politische Arbeit« in Greifswald aufgenommen wurde. Neben seinem eigentlichen Beruf als Handelsvertreter arbeitete Herr H.  als Dozent an der Kreisparteischule. Diese sehr zeitintensive Nebentätigkeit, zu der zusätzlich noch die Teilnahme an politischen Schulungen kam, wurde von ihm sowie von den Ärzten als Ursache seiner Beschwerden betrachtet.99 Beides, Überarbeitung bei »Neubauern« und bei politischen Aktivisten, passt in das Bild der bisherigen Forschung. Für die »Neubauern« wurde herausgearbeitet, dass bedingt durch Material- und Viehmangel sowie durch die unzureichenden landwirtschaftlichen Kenntnisse viele ihr Land sehr schnell wieder aufgaben.100 Untersuchungen zu den Kadern haben ergeben, dass diese unter ständigem Druck standen, sich zeitintensiv weiterzubilden.101 Vor diesem Hin97 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1954/1345, Eintrag v. 6.7.1954, UA Greifswald, PsychN. 98 Ebd. 99 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1955/1087, Eintrag v. 12.12.1955, UA Greifswald, PsychN. 100 Bauerkämper, Bodenreform, S. 124 ff. 101 Zimmermann, S. 335.

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tergrund ist es wenig überraschend, dass diese beiden Gruppen auch über psychische Belastung durch die Arbeit klagten. Das bedeutet jedoch für die politischen Aufsteiger nicht, dass sie sich über die Arbeit an sich beklagt hätten. Ferdinand H.  z. B. wollte nicht weniger arbeiten, sondern wünschte, dass es ihm schnell besser gehe und er zu seinen zahlreichen Tätigkeiten zurückkehren könne.102 Die Haltung der politischen Aufsteiger kann mit dem von Jochen Hellbeck für die Sowjetunion anhand von autobiographischen Zeugnissen herausgearbeiteten Konzept des sozialistischen Selbst gefasst werden.103 Hellbeck argumentiert, dass das sowjetische Selbst in Kontinuität zu Selbstbildern des 19. Jahrhunderts darauf abhob, das Leben des Einzelnen einem übergeordneten Ziel unterzuordnen. Im sowjetischen Selbst blieb so der missionarische Anspruch des 19. Jahrhunderts enthalten; das höhere Ziel war nun die Errichtung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung.104 »Überarbeitung« wurde allerdings nicht nur im Zusammenhang mit Aufstiegschancen genannt, sondern ebenfalls im Kontext gesellschaftlichen Abstiegs, etwa bei Menschen, deren Berufslaufbahn aus politischen Gründen unterbrochen worden war. »Überarbeitung« war in diesen Fällen Teil einer allgemeinen Unzufriedenheit mit der Arbeits- und Aufstiegssituation in der DDR. Zum Beispiel gab der 49 Jahre alte Herbert B.105 bei seiner Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt Großschweidnitz im Jahr 1956 an: »Zu seinem Nervenzusammenbruch sei es wohl durch Überarbeitung gekommen, er habe doch für eine dreiköpfige Familie zu sorgen. Ein Sohn studiere in Berlin in der Techn. Hochschule. Pat. sei ehrgeizig und leide darunter, dass er als ehemaliger PG aus dem Staatsdienst entlassen worden sei und ihm alle Entwicklungsmöglichkeiten versperrt seien. Er habe schon vor dem Reichsbahninspektor gestanden.«106

1956 arbeitete Herbert B. als kaufmännischer Angestellter. Genaueres zu seiner Arbeit ist der Akte leider nicht zu entnehmen. Signifikant ist, dass es nicht allein um körperliche »Überlastung« ging, sondern zum einen um Sorge um die Finanzierung der Familie und zum anderen um einen Mangel an persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Der Zusammenhang zwischen Arbeit und Gesundheit blieb sowohl für das sozialistische Selbst als auch für das enttäuschte mittelständische Selbst weiterhin ein Thema.

102 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1955/1087, Eintrag v. 12.12.1955, UA Greifswald, PsychN. 103 Hier geht es weniger um eine Übertragung foucaultscher Konzepte disziplinarischer Macht, die als Selbstzwang internalisiert wird, als um sowjetische Konzepte des Selbst, die möglicherweise auch andere Wege gegangen sind als die von Foucault für die westliche Welt vorgeschlagene Deutung. Hellbeck, Introduction, S. 11–25. 104 Ders., Practice, S. 279–299. 105 KA Großschweidnitz, Patientenakte Sign. 754, HSta Dresden, 10822. 106 Ebd., Eintrag v. 5.6.1956.

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2.4 Interpretation: Unterschiedliche Vorstellungen in Ost und West Die Entwicklungen in der Nachkriegszeit unterschieden sich in Ost und West deutlich voneinander. Ohne Berücksichtigung der Befunde zur DRR könnte in Erwägung gezogen werden, dass es sich bei der Bedeutung von Arbeit für Vorstellungen eines gesunden Selbst um eine Grundgegebenheit der modernen industrialisierten und zunehmend rationalisierten Arbeitswelt gehandelt habe. Hierzu ist zu bemerken, dass Vorstellungen von Arbeit schon vor der NSZeit im 19. Jahrhundert das Selbstverständnis der Menschen erheblich beeinflussten.107 Dieser Ansatz erweist sich jedoch für die Erklärung der Befunde dieser Studie als nicht schlüssig. Es handelt sich bei den hier beschriebenen Verknüpfungen von Arbeit, Leistung und Gesundheit nicht um eine über Generationen verinnerlichte Arbeits- und Leistungsmentalität. Mentalitäten werden in der Tradition der Annales-Schule als dem individuellen Bewusstsein vorgeschaltete »kollektive Denkmuster und Bewusstseinsformen«108 verstanden, von denen angenommen wird, sie veränderten sich nur langsam. Sie werden meist als erklärend und nicht als zu Erklärendes angeführt.109 Da Mentalitäten sich nur langsam verändern,110 spricht der Wegfall der Arbeitsargumentation in der DDR dagegen, eine in der NS-Zeit oder bereits zuvor herausgebildete Leistungsmentalität zu konstatieren. Hier soll im Folgenden versucht werden, Kontinuitäten und Veränderungen des Leistungsethos zu analysieren und Ursachen dafür anzuführen. Der andersartige Befund für die DDR weist darauf hin, dass äußere Umstände gravierenden Einfluss auf die Vorstellung vom gesunden Selbst als arbeitsamem und leistungsbereitem Selbst ausübten. Die unmittelbaren Umstände des Arbeitslebens sind ausschlaggebend, um die Unterschiede in der DDR und der Bundesrepublik erklären zu können. Hier wird die These vertreten, dass es sich bei Vorstellungen vom gesunden Selbst um die – nicht unbedingt reflektierte  – Verinnerlichung und Rationalisierung von Le-

107 Vgl. etwa Kocka oder Hoffmann zum 19. Jahrhundert: Kocka, Last, S. 185–206; Hoffmann, Alltag, S.  249 ff. Prominent unter den psychiatrischen Forschungen ist Kraepelins »Arbeitskurve« zu nennen, die er selbst für seine größte Forschungsleistung hielt, vgl.: Schott u. Tölle, S. 120. 108 Jureit, S. 167. Zu den Ursprüngen der Mentalitätsforschung, wie sie die Schule der Annales prägte, vgl. Emile Durkheim: Durkheim, S. 46. 109 Zur Problematik, dass das Anführen von Mentalitäten in der Tradition der Annales dazu verführt, die Suche nach spezifischen Ursachen nicht weit genug zu führen, vgl.: GilcherHolthey, S. 487. Nach Gilcher-Holtey hingegen »sind Mentalitäten eine Summe von Handlungsoptionen, deren Wirkungsmacht durch situative Kontextbedingungen und intervenierende Variablen intensiviert und abgeschwächt werden kann.« (ebd., S. 496). Diese dynamische Definition von Mentalität wird hier nicht angewandt, da sie stark darauf abhebt, Handlungen besser zu erklären, das Ziel hier aber darin besteht die Denkmuster und ihre Ursachen differenzierter zu analysieren, ohne dass die Ebene der Handlungen eigentlich berührt wird. 110 Schöttler, S. 85–136.

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bensumständen handelt. Das Arbeits- und Leistungsdenken war Teil von individuellen Sinnwelten,111 die nur bei regelmäßiger Aktualisierung ihre Relevanz behielten. Während des Krieges wurde ein massiver Arbeits- und Leistungsdruck ausgeübt: Innerhalb der »arischen« Bevölkerung war Arbeitsleistung von Männern und Frauen im Haushalt, in der Kriegsführung oder in der Erwerbsarbeit eine Möglichkeit, »Zugehörigkeit« zu beanspruchen während mangelnde Arbeitsfähigkeit oder Leistungsbereitschaft ein starker Grund für den Ausschluss aus der »Volksgemeinschaft« waren. Auch in der Selbstwahrnehmung der Patientinnen und Patienten spielte Arbeitsfähigkeit eine wichtige Rolle, um sich als gesund zu betrachten. Letzteres blieb in der Bundesrepublik so, allerdings veränderte sich die Bezugsgröße. So sprechen die Einweisungsargumentationen für Michael Wildt, der gegen Wehlers These von einem »entbräunten Leistungsethos« eingewendet hat, dass Wehler den Unterschied zwischen rassenbiologischer und individueller Leistungsorientierung einebne.112 Die Argumentationen in den Einweisungen aus der Kriegszeit und der Bundesrepublik unterscheiden sich in genau diesem Punkt. Während in der Kriegszeit die individuelle Leistung oft an die »Volksgemeinschaft« als Ganze gebunden wurde, waren in der Bundesrepublik nur mehr die Patientin oder der Patient selbst und sein direktes Umfeld in die Argumentation eingeschlossen. Das »Volk« oder die »Gemeinschaft« als Bezugspunkt fielen zumindest in den Krankenakten der Bundesrepublik sehr schnell weg.113 Dieser Unterschied in der Bezugsgröße deutet darauf hin, dass die direkten gesellschaftlichen und politischen Umstände sich schnell auf Vorstellungen des Selbst auswirkten. Die Nachkriegsverhältnisse der »Zusammenbruchgesellschaft« hatten zu einer Konzentration auf das unmittelbare Lebensumfeld beigetragen: sie warfen den Einzelnen notgedrungen auf sich selbst und seine Familie zurück. Genau genommen sprechen die Krankenakten dafür, dass hierzu bereits die Kriegsumstände beigetragen hatten. Die Diskrepanz zwischen erwartetem Erleben der »Volksgemeinschaft« und der Rückbesinnung des Einzelnen auf sich selbst unter den Kriegsumständen wurde in Krankengeschichten, wie der der Nachrichtenhelferin Maria T., behandelt, die sich beklagte, dass sich die Kollegen nicht umeinander kümmerten. Auch die 111 Der Begriff Sinnwelt wird entsprechend der Verwendung in der Alltagsgeschichte etwa bei Lüdtke, Lindenberger oder Sabrow genutzt, vgl. z. B.: Lüdtke, Alltagsgeschichte, S. 631;­ Sabrow. 112 Vgl.: Kapitel »Der Leistungsfanatismus des Nationalsozialismus – Ressource für das Wirtschaftswunder?«, in: Bahners u. Cammann, S. 113 f. 113 Dies ist auch zu erwähnen, da Malte Thießen festgestellt hat, dass auf lokalpolitischer Ebene in der Nachkriegszeit gleichsam als Motivationsfaktor für den Wiederaufbau vor Ort weiterhin eine »Schicksalsgemeinschaft« beschworen wurde. Zumindest in den personenbezogenen Krankenakten findet sich zu dieser lokalpolitischen Weiterführung des Gemeinschaftsappels kein Äquivalent. Es wäre hierzu interessant, die Frage der Weiterführung des »Gemeinschaftsmythos« in Egodokumenten anderer Provenienz zu untersuchen. Zur lokalpolitischen Verwendung, vgl.: Thießen, Zeiten, S. 172.

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v. a. im Kapitel Gefahr und Sicherheit gezeigte radikale Grenzziehung in den Einweisungsargumentationen sowie Forschungsergebnisse zur Denunziation und dem Verhalten der Bevölkerung in den Bunkern sprechen hierfür.114 Noch deutlicher spricht für die Relevanz alltäglicher Lebens- und Arbeits­um­ stände, dass sich in den Patientenakten der DDR trotz des massiven propa­gan­ distischen Aufgebots zur Identifizierung mit der sozialistischen Arbeitsgesellschaft kaum Bezüge zur Arbeit finden. Der Befund, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der DDR den Zusammenhang zwischen Arbeitsfähigkeit und Gesundheit zumindest in den hier analysierten Krankenakten kaum mehr herstellten, stützt die These, dass die Rolle, die Arbeit in der Sinnwelt des einzelnen Menschen spielte, eng mit den konkreteren Kontexten zusammenhing. Diese begrenzten, welche Rolle Erwerbsarbeit für die Konstruktion des eigenen Selbst überhaupt spielen konnte. In der DDR wandelten sich die Arbeitsumstände sehr schnell.115 Die Arbeitsabläufe änderten sich durch die Einführung der Planwirtschaft und der Arbeitsplatzgarantie. Die eigentlich zur Leistungssteigerung eingeführten Normen hielten die Arbeiter problemlos künstlich niedrig. Außerdem gab es als Folge der Planwirtschaft vermehrt Unterbrechungen im Betriebsablauf und »unter den weichen Budgetzwängen, die für realsozialistische Betriebe typisch waren«, wurden Arbeitskräfte auch dort gehortet, »wo sie nicht ständig gebraucht wurden«.116 Mehr Geld zu verdienen führte zudem angesichts des begrenzten Warenangebots nicht unmittelbar zu einer Verbesserung des Lebensstandards. Gleichzeitig war es vielen Leuten aus politischen Gründen nicht mehr möglich, die Karrieren, die sie anstrebten, zu verfolgen. Damit wurde die tatsächliche Ausführung der Arbeit in der DDR für die Vorstellung des Selbst weniger wichtig. Auch der Befund, dass Patientinnen und Patienten in spezifisch abgrenzbaren Berufs- oder Arbeitssituationen, im Kontext von sozialem und politischem Ab- oder Aufstieg, weiterhin »Überarbeitung« thematisierten, lässt sich am schlüssigsten durch eine hohe Wertung der unmittelbaren Lebensumstände und Sinnwelten erklären. In diesem Sinne lassen sich für die frühe DDR drei unterschiedliche Vorstellungen des Selbst festmachen: das »arbeitsame« sowjetisch geprägte Selbst politischer Aufsteiger, das »arbeitsame« Selbst sozialer Absteiger und das mit weitem Abstand am häufigsten vertretene Selbst des real existierenden Sozialismus, für das die Arbeitstätigkeit selbst kaum mehr eine Rolle spielte. In der Bundesrepublik herrschte hingegen in Fragen der Zuschreibung eines gesunden Selbst eindeutig das auch von Peter-Paul Bänzinger für die 1950er Jahre schichtübergreifend konstatierte arbeitsame Selbst vor.117 114 Zur Denunziation und dem »Miteinander« während der Bombenangriffe, vgl.: DiewaldKerkmann; Süß, Tod, S. 331 ff. 115 Bereits 1949 unterschied sich die SBZ hier deutlich von den anderen Zonen: Fulbrook, Leben, S. 50. 116 Vgl. u. a.: Kohli, S. 41. 117 Bänzinger spricht von einem »betriebsamen« Selbst, da es ihm auch um die aktive Gestaltung von Freizeit geht. Vgl.: Bänzinger.

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Trotz der propagandistischen Aufwertung der Arbeit in der DDR taugte Leistungsfähigkeit in der Erwerbsarbeit für viele Menschen so paradoxerweise nicht mehr als Kriterium von Gesundheit. Das politisch-ökonomische System hatte gänzlich un-intendierte Nebenwirkungen für die Vorstellung vieler Bürgerinnen und Bürger vom gesunden Selbst. Dieser Befund bestätigt die in der Forschung mehrfach gemachte Feststellung, dass die »Zentralität der Arbeitsbeziehungen«118 in der DDR nicht mit einer besonderen Bedeutung der Arbeit an sich für den Arbeiter einherging.119 Die abnehmende Relevanz von Arbeit für die Konstruktion der eigenen Gesundheit, die aus den Patientenakten aus Greifswald, Rodewisch und Großschweidnitz hervorgeht, vertieft diesen Befund noch einmal. Er zeigt, dass die andere Bewertung der Erwerbsarbeit auch Auswirkungen auf grundlegende Vorstellungen von der eigenen Identität hatte und streicht heraus, wie sehr Identitätskonstruktionen von handfesten politischen und ökonomischen Bedingungen abhängen können und wie schnell sie sich unter Umständen ändern.

3. Arbeit und Leistung aus ärztlicher Sicht zwischen 1941 und 1963 Die Interpretation von Arbeit und Leistung in psychiatrischen Krankheitskonzepten kann in allen drei Staaten als Indikator für das Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft gelesen werden. Insbesondere in Rentengutachten wird dieser Zusammenhang explizit, da in ihnen verhandelt wurde, ob die Patientin oder der Patient als so krank zu betrachten war, dass sie oder er eine sozialstaatliche Leistung zugesprochen bekam. Von besonderer Bedeutung für diese Konzepte war ihre schicht- und geschlechtsspezifische Selektivität im wissenschaftlichen Diskurs und in der praktischen Anwendung. Angesichts der Tatsache, dass Patientinnen und Patienten unter dem Begriff »Überarbeitung« Beschwerden beschrieben, bei denen es nicht allein um körperliche Überlastung ging, sondern auch um solche, die mit dem erst später aufkommenden Begriff des »Stress« zu fassen wären, ergibt sich die Frage, wie diese Beschwerden von den Ärzten klassifiziert und bewertet wurden. Auch, wenn es wenig erstaunlich ist, dass es Selbstzuschreibungen von Stress bereits vor der entsprechenden Benennung gab,120 ist es durchaus von Relevanz, wie Ärzte und Laien mit dieser Deutungsdiskrepanz umgingen. Die ärztliche Deutung der von Patientinnen und Patienten beklagten »Überarbeitung« erweist sich innerhalb der psychiatrischen Betrachtung als eine besonders relevante Thematik, da seit dem Kaiserreich verschiedene, zum Teil gegensätzliche psychiatrische Ein­ 118 Kohli, S. 50. 119 Vgl. ebd. und Hübner, Zukunft, S. 181. 120 Vgl. hierzu: Kury, S. 11 ff.

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schätzungen und Gesellschaftsdeutungen aufeinandertrafen. Körperliche Müdigkeitserscheinungen, die die Arbeit einschränkten, waren bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gegenstand arbeitswissenschaftlicher Untersuchungen.121 In Anlehnung an die Thermodynamik und an Vorstellungen des Körpers in Analogie zu einer Maschine wurde körperliche Erschöpfung als natürlicher Vorgang konzipiert. Es wurde angenommen, die Erschöpfung schütze den Körper vor nicht mehr ausgleichbarer Überlastung.122 Körperliche Erschöpfung wurde so aus einem moralisierenden Diskurs gelöst und Teil eines naturwissenschaftlich-technischen Diskurses.123 Psychische Auswirkungen von Arbeit auf die Gesundheit gab es entsprechend der herrschenden psychiatrischen Lehre jedoch nicht. Dennoch war der arbeitende Mensch Gegenstand psychiatrischer Erörterungen. Er wurde im Kaiserreich und bis zum Beginn der Weimarer Republik in drei psychiatrischen Diskursen verhandelt: in jenem um sogenannte »Asoziale« und »Psychopathen«, in dem der traumatischen Neurose und dem der Neurasthenie. Unter der Diagnose »traumatische Neurose« wurden im Kaiserreich manche Nervenleiden noch als Berufskrankheiten anerkannt und auch entschädigt. Hier ging es allerdings nicht um psychische Auswirkungen, da die traumatische Neurose als somatische Erkrankung galt.124 Die Anerkennung von somatisch konstruierten Nervenleiden betraf zudem nur männlich dominierte Berufsfelder, beispielsweise die Eisenbahner. Postmitarbeiterinnen kämpften hingegen vergeblich darum, dass ihre nervösen Beschwerden als somatisch bedingte Berufskrankheiten anerkannt wurden.125 Psychische Beschwerden von Frauen aus der Mittelschicht im Zusammenhang mit Arbeit wurden hingegen als »Neurasthenie« diagnostiziert. »Neurasthenie« stellten wissenschaftliche Studien als Konsequenz weiblicher »Überarbeitung« dar, obwohl die meisten neurasthenischen Patientinnen gar nicht arbeiteten. Den Grund der »Überarbeitung« sah man in der geschlechtsbedingten mangelnden Eignung von Frauen zur Erwerbsarbeit. Somit postulierten die Mediziner auch hier eine körperlich bedingte Ursache.126 Im öffentlichen Diskurs um »Asoziale« und »Psychopathen« wurde in der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik die »Unterschicht« als Gefahr für das Wohlergehen des ganzen »Volkes« imaginiert. Die »Unterschicht« galt ­nahezu insgesamt als degeneriert127 und auch im psychiatrischen Diskurs wurden »Aso­ 121 Kocka, Last; Möckel, S. 119 ff. 122 Sarasin, S. 321. 123 Ebd. 124 Lerner, Psychiatry, S. 14. 125 Nolte, S. 195. 126 Karen Nolte nimmt an, dass Neurasthenie bei erwerbstätigen Frauen bedingt durch Vorurteile gegenüber arbeitenden Frauen diagnostiziert wurde und zeigt anhand von Krankenakten der LHA Marburg, dass »Überarbeitung« eigentlich meist auf finanzielle Schwierigkeiten zurückzuführen war. Ebd., S. 191 ff. 127 Vgl.: Ayaß, »Asoziale«, S. 13.

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zialität« und »Psychopathie« bestimmten zur Unterschicht gehörigen Personengruppen zugeschrieben, etwa Prostituierten oder »Vagabunden«.128 3.1 »Psychopathie« als Diagnose in der NS-Zeit Psychiatrischer Diskurs Die schicht- und geschlechtsspezifische Thematisierung von Arbeit veränderte sich bis zum Zweiten Weltkrieg gravierend. Der Neurastheniediskurs wurde – angestoßen von Kraepelin – zu Beginn des 20. Jahrhunderts biologistisch umgedeutet. Soziogenetische Erklärungen verloren rasch an Bedeutung und »Neurasthenie« wurde als Folge von Degeneration interpretiert.129 »Neurasthenie« und »Psychopathie« ließen sich in dieser Lesart auf die gleiche Ursache zurückführen. Allerdings verlor »Neurasthenie« als Diagnose und öffentlicher Diskussionsgegenstand schon in den 1920er Jahren erheblich an Gewicht.130 Mit dem Verschwinden der Diagnose der traumatischen Neurose seit dem Ersten Weltkrieg wurden Einschränkungen in der Erwerbsfähigkeit bei Männern nun nicht nur nicht mehr akzeptiert, sondern als Arbeitsverweigerung und »Rentenneurosen« gebrandmarkt. Neurose bedeutete in diesem Kontext, dass anders als in Oppenheimers Konzeption keine somatische Hirnveränderung angenommen wurde. Mit dem Wegfall der oppenheimschen Diagnose wurden Kriegsfolgen und psychiatrische Arbeitsfolgeerkrankungen in großen Teilen unter dem Begriff »Psychopathie« verhandelt. Die herrschende Lehre akzeptierte damit psychische Auswirkungen hoher Arbeitsbelastung nicht mehr als Erkrankungserscheinungen. Mit der Diagnose »Psychopathie« wurde die Äußerung dieser Beschwerden vielmehr als krankhaft und verwerflich klassifiziert – »Überarbeitung« oft mit Arbeitsunwille gleichgesetzt.131 Somit löste eine klare Dominanz des »Psychopathiediskurses« das Nebeneinander der unterschiedlichen Erklärungsansätze ab. Noch in der NS-Zeit lag dem Begriff »Psychopathie« allerdings keine klare Definition zu Grunde. Einigkeit herrschte lediglich darin, wie Donalies 1942 in der Zeitschrift Der Nervenarzt zusammenfasste, dass »auf dem Gebiete der Psychopathien eine begriffliche und terminologische Übereinstimmung kaum je erreicht werden«132 würde. Wesentliche Streitpunkte waren die genaue Klassifizierung der »Psychopathien« und die Frage, welche der Untergruppen in welchem Maße erblich bedingt seien, sowie die Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern.133 128 Zum psychiatrischen Diskurs um Vagabunden in der Kaiserzeit, vgl.: Althammer. 129 Kury, S. 49. 130 Ebd., S. 51. 131 Neuner, S. 149 ff. 132 Donalies, Forensische Psychiatrie und Gutachtertätigkeit, in: Der Nervenarzt, 3 (1942), S. 144. 133 Ebd. Die unterschiedlichen Forschungspositionen zur »Psychopathie« und ihre Entwicklung sind auch in dem zwischen 1923 und dem Ende der NS-Zeit acht Mal neu aufgelegten Buch von Kurt Schneider nachzuvollziehen: Schneider, Persönlichkeiten.

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Der Psychopathiediskurs befasste sich seit dem Kaiserreich mit verschiedenen »gesellschaftlichen Problemen«, die auch in der NS-Zeit bestimmend blieben, ohne eine spezifische inhaltliche Weiterentwicklung zu erfahren. Die »falsche« Einstellung zur Arbeit war neben und in Verbindung mit Sucht, Prostitution und Nicht-Sesshaftigkeit eines der wichtigsten unter dem Begriff »Psychopathie« verhandelten Themen. Das Verhältnis zur Arbeit erachteten dabei seit Kraepelins Beschreibung von »Psychopathen als Gemeinschaftsfremden« Autoren mit unterschiedlichen Grundannahmen zur »Psychopathie« als wichtig. Insbesondere in den Lehrbüchern, in denen der Fokus weniger auf akademischen Kontroversen als auf anwendungsnaher Beschreibung lag, wurde das einzelnen »Psychopathentypen« zugeschriebene Arbeitsverhalten dargelegt. In der vierten Auflage seines äußerst erfolgreichen Lehrbuchs aus dem Jahr 1936 beschrieb Oswald Bumke (1877–1950) z. B. den Typ »haltloser Psychopath« als scheiternd, »wo ernstes Nachdenken, zielbewusste Arbeit oder auch nur regelmäßige Pflichterfüllung erforderlich sind.«134 Im Anschluss führte er Beispiele für konkretes Versagen in bestimmten Tätigkeitsfeldern, wie der Landwirtschaft oder bei Büroarbeiten in einer Behörde, an.135 Die Bedeutung liegt nicht darin, dass diese Beschreibung NS-spezifisch oder neu gewesen wäre, sondern darin, dass es sich bei ihr nun um die einzig verbleibende akzeptierte Lesart von psychischen Beschwerden im­ Zusammenhang mit Arbeit handelte.136 Ärztliche Diagnosepraxis Beschrieben Patientinnen und Patienten ihre Erkrankungen als arbeitsbedingte Erschöpfungszustände, diagnostizierten Ärzte während des Zweiten Weltkrieges schichtenübergreifend und entsprechend der herrschenden Lehre ganz überwiegend »Psychopathie«. Zu bedenken ist, dass die Diagnose besonders oft Menschen aus niedrigeren Schichten traf, da diese den Großteil der Klientel in staatlichen Anstalten ausmachten. Die ärztliche Einschätzung wich dabei entsprechend der äußerst negativen Einordnung von »Überarbeitung« in der herrschenden wissenschaftlichen Lehre deutlich von der Selbsteinschätzung der Behandelten ab. Beispielsweise beschrieb der verantwortliche Arzt die Beschwerden von Sophie L., die sie selbst und ihr Ehemann auf gravierende »Überarbeitung« in einer Uniformfabrik zurückführten, in der Epikrise folgendermaßen: »Vorwiegend neurotisch fixiert in dem Bewusstsein eine schwerkranke Frau zu sein. Überbewertet vorhandene Beschwerden sicher erheblich, hat sich seit Jahren in die Rolle der elenden, schwächlichen Frau hineingelebt und ist vom Mann ganz darin bestärkt. Für endogen depr. Störungen kein Anhaltspunkt.«137 134 Bumke, S. 159. Ganz ähnlich, vgl. z. B.: Fuhrmann u. Korbsch, S. 87 ff. 135 Ebd., S. 87. 136 Zur Veränderung des Diskurses und der Praxis in der Weimarer Republik und zu Beginn der NS-Zeit, insbesondere zur Ablösung der traumatischen Neurose von der »Renten­ neurose«, vgl.: Neuner. 137 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 3850, HAB, Patientenakten Gilead III.

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Bei der Vielfalt der Psychopathiedefinitionen und der unklar umrissenen psychischen Grenzzustände, die nicht als Psychosen galten, ist im Einzelfall nicht immer zu rekonstruieren, in welchem Sinne oder in welcher Tradition eine Diagnose oder ärztliche Beschreibung zu interpretieren ist. In der Diagnostik herrschte insgesamt die Begrifflichkeit »Psychopathie« vor, manchmal wurde lediglich von einem »nervösen Erschöpfungszustand« gesprochen oder die Patientinnen und Patienten, wie im Fall Sophie L.s, als »neurotisch« bezeichnet. Allerdings handelte es sich deswegen nicht um eine grundlegend andere Krankheitsdeutung und Bewertung. Beide Zuschreibungen standen in der Praxis oft in direktem Zusammenhang mit der Diagnose »Psychopathie«. Die Zuschreibung eines »nervösen Erschöpfungszustandes« wurde meist als durch eine »psychopathische Persönlichkeit« verursacht angesehen, aber eben nicht zwingend. Eine typische ärztliche Beschreibung war der folgende nervenärztliche Befund aus dem Gefängnis und Zuchthaus Ziegenhain bei der Überweisung eines Insassen in die LHA Marburg: »Ausweislich der mir vorgelegten Papiere ist Pat. im Jahre 44 wegen schwerer seelischer Abartigkeit als wehruntauglich aus der Wehrmacht entlass. word. Aus einer Bescheinig. des behand. Arztes vom Jahre 40 geht hervor, dass Pat. an einer nervösen Erschöpfung u. Gemütsdepression gelitt. habe. Die eingeh. Explorat. ergibt, dass es sich um eine Psychopathie schwersten Grades mit Zwangsvorstellungen u. Selbstmordantrieben handelt; es kann ambulant nicht sicher entschieden werden, ob das Krankheitsbild zu einer endogenen Psychose aus dem Formenkreis der Schiziphr. gehört. Jedenfalls besteht dauernde Selbstmordgefahr; Pat. gehört desh. in eine Nervenheilanst. u. ist im Augenbl. sicher nicht haftfähig.«138

Dieses Beispiel verdeutlicht noch einmal den schmalen Grat zwischen »Psychopathie« und Psychose in der diagnostischen Praxis. Das andere, weit weniger typische Ende des Spektrums kann anhand der ärztlichen Einschätzung der bereits geschilderten Beschwerden der Nachrichtenhelferin Maria T. verdeutlicht werden, die sich durch ihre Arbeit überlastet sah. Die behandelnde Ärztin in Bethel, Dr. G., teilte dem einweisenden Kollegen mit: »Die hiesige Beobachtung ergab keinerlei Anhaltspunkte für eine Psychose. Es handelte sich bei der Pat. lediglich um einen nervösen Erschöpfungszustand. […] Es dürfte sich empfehlen, die Pat. in einer Stelle einzusetzen, wo sie keine Nachtschichten hätte u. vielleicht mehr mit Büroarbeiten beschäftigt werden könnte, die ihr anscheinend besserliegen als die ausschließliche Meldetätigkeit.«139

138 LHA Marburg, Patientenakte Sign. 16K10534M, Eintrag v. 4.1.1945, LWV Hessen, 16.  139 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 161/2446, Schreiben v. 10.11.1943, HAB, Patientenakten Mahanaim I.

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Hier brachte die Ärztin den nervösen Erschöpfungszustand nicht in Zusammenhang mit »Psychopathie« und nahm auch keine Schuldzuweisung vor.140 Die Ärztin, Dr. G., bemühte sich hingegen, die Situation für die Patientin zu verbessern. Mit ihrer Beurteilung wich sie auf semantischer Ebene nicht gravierend von der herrschenden Lehre ab, da sie das Begriffspaar »nervöser Erschöpfungszustand« benutzte, das wie erwähnt eine auch im Psychopathiediskurs eine gern genutzte Zuschreibung war. Gleichzeitig waren ihre Bewertung und Empfehlung ungewöhnlich. Es handelte sich hier um eine deutliche Abweichung von der üblichen Praxis, ohne sich völlig ins Abseits zu stellen. Trotz des herrschenden Diskurses gab es also weiterhin Handlungsspielraum in der Diagnosepraxis und der Bewertung von Patientinnen und Patienten, der aber offenbar nur selten zugunsten der Betroffenen genutzt wurde. 3.2 Managerkrankheit, »Psychopathie«, »Erschöpftsein«: Medizinische Deutungen von »Überarbeitung« in der Bundesrepublik Theoretische Konzepte In der frühen Bundesrepublik fächerte sich das Themenfeld Arbeit und »Überarbeitung« wieder vielschichtiger auf als während der NS-Zeit. Es wurde in drei unterschiedlichen Konzepten verhandelt. Der Psychopathiediskurs blieb zwar zweifellos zentral, entwickelte sich aber weiter. Im Zusammenhang mit dieser Weiterentwicklung gewann in den 1950er Jahren eine alternative Deutung von psychischen Arbeitsbelastungen als »Erschöpftsein« an Bedeutung. Neu war die Verhandlung von »Überarbeitung« als Managerkrankheit. Die Etablierung und Funktion der Managerkrankheit in der Nachkriegszeit ist jüngst von Patrick Kury detailliert analysiert worden.141 Kury hebt hervor, dass es sich bei der Managerkrankheit um eine spezifisch deutsche (und österreichische) Diagnose handelte, die nicht an die US-amerikanische psychiatrische Stressforschung des Zweiten Weltkriegs anschloss.142 Ohnehin diskutierten über die Managerkrankheit eher Ernährungswissenschaftler und Leistungsmediziner als Neurologen und Psychiater.143 Es herrschte Uneinigkeit darüber, welche Symptome Teil der Erkrankung seien. Einig hingegen waren sich sowohl Ärzte als auch Öffentlichkeit darüber, wer betroffen war, nämlich die deutsche Nachkriegselite, d. h. Männer in Führungspositionen. Kury stellt fest, dass sich eine Art »idée fixe« entwickelte, der zufolge es eine besonders hohe Sterblichkeit unter den Leistungsträgern der Nachkriegszeit gäbe, ohne dass hierfür hin140 Selbstverständlich taucht die Zuschreibung »nervöser Erschöpfungszustand« nicht erst im Zweiten Weltkrieg auf. Der Punkt ist, dass sie in dieser Zeit in semantischer Nähe zum­ Psychopathiediskurs auf unterschiedliche Weise genutzt wurde. 141 Kury, S. 109 ff. 142 Ebd., S. 114. 143 Ebd., S. 168.

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reichend empirische Belege vorlagen.144 Er deutet die Auseinandersetzung mit der Managerkrankheit daher als Entlastungsdiskurs für die Elite, die diese vor dem Vorwurf zu geringer Leistung schütze – ganz ähnlich wie Roelke den Neu­ rasthe­nie­diskurs im Kaiserreich interpretiert.145 »Die Interpretation der Managerkrankheit durch Zeitgenossen als Krankheitsphänomen der Eliten hält gerade angesichts der ins Feld geführten Fallbeispiele einer empirischen Überprüfung nicht stand. Dennoch und trotz kritischer Stimmen wurde die Managerkrankheit in der Nachkriegszeit als Problem von Eliten konstruiert, wohl nicht zuletzt um die bestehenden gesellschaftlichen Hierarchien zu festigen.«146 Während für die Elite der jungen Bundesrepublik Arbeitsüberlastung in der Managerkrankheit geradezu als Ausweis besonderer Leistung konstruiert wurde, blieb der etablierte und vorherrschende, wenn auch weniger lautstarke psychiatrische Diskurs zum Thema »Überarbeitung« und Leistung in doppelter Hinsicht ein anderer: Er betraf gerade nicht die Elite und rekonstruierte »Überarbeitung« und/oder Leistungsabfall als eine Mischung aus Charakterschwäche und erblicher Vorbelastung. Es handelte sich hierbei um eine leicht modifizierte Variante des Psychopathiediskurses. In der Nachkriegszeit setzte sich zunehmend die bereits zuvor populäre, zehngliedrige »Psychopathenklassifikation« Kurt Schneiders durch. In bekannten Lehrbüchern wurde das klassische Kapitel »Die klinischen Bilder psychopathischer Persönlichkeiten« nun »in Anlehnung an Kurt Schneider« verfasst.147 Unverändert blieb aber der enge Zusammenhang von Arbeit und Leistung mit bestimmten Formen der »Psychopathie«. Dies ist insofern wenig erstaunlich, als Schneiders Typisierung nicht neu war, sondern schon seit 1923 in sehr ähnlicher Form bestand. Insbesondere die »haltlosen« und die »willenlosen Psychopathen« wurden hinsichtlich ihrer Arbeits- und Leistungsbereitschaft und -fähigkeit nach wie vor äußerst negativ beurteilt. Der »Typus des Willenlosen« wird im Lehrbuch Ewalds aus dem Jahr 1959 direkt nach der einführenden Anmerkung, ihnen fehle es an Antrieb, ähnlich wie in den Lehrbüchern der NS-Zeit durch sein Verhältnis zur Arbeit beschrieben: »Unter günstigen Verhältnissen sind sie zuweilen leidlich brauchbare Mitarbeiter in untergebenen Stellen ohne Selbstständigkeit, die ihr Tagespensum in stark gedämpftem Tempo herunterleisten, gern zu spät kommen, weil sie sich zu Pünktlichkeit nicht aufraffen können, wie sie auch sonst jeder Schwierigkeit aus dem Wege gehen. Sie handeln im allgemeinen in Richtung des geringsten Widerstandes, werden sich nie übernehmen, erscheinen oft richtig faul und bringen ihre Zeit mit nichts hin. Sie sind auf mittlerer sozialer Stufe spießig und kleinbürgerlich, lahm und ohne jeden 144 Ebd., S. 119. 145 Ebd., S. 123; Roelcke, Krankheit, S. 26. 146 Kury, S. 124. 147 Zum Beispiel: Ewald, S. 380. Zur weitreichenden Bedeutung von Kurt Schneiders »Psychopathenlehre« auch für die amerikanische Psychiatrie und das einschlägige Diagnosewerk DSM, vgl.: Weber, »Insanity«, S. 22.

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Schwung. In ungünstigen Verhältnissen sind sie überaus verführbar, lassen sich leicht zu kleinen Durchstechereien mißbrauchen. Sind sie wirtschaftlich gesichert, so l­ assen sie gern andere für sich arbeiten und werden zu Drohnen, die sich in Sanatorien in Sommerfrischen herumtreiben, blasiert im Kafffeehaus herumsitzen, Zigaretten rauchen, sich bei geltungssüchtigem Einschlag auch an ästhetischen Zirkeln beteiligen, allerdings meist in völlig passiver Rolle, bestenfalls ein wenig Tennis schlagen, sich gern hübsch kleiden und gut frisieren, abends in der Bar sich oberflächlich amüsieren. Frauen sinken nicht selten in Richtung des Dirnentums ab.«148

Über Arbeit und Leistung wurde hier das Individuum in der Gesellschaft platziert. Je nach sozialem und ökonomischem Stand des »Psychopathen« schadete er demnach der Allgemeinheit auf unterschiedliche Weise, etwa indem man sich als Arbeitgeber nicht auf ihn verlassen konnte und er wenig zur Produktivität beitrug oder indem er sich – sofern er es sich leisten konnte – völlig dem­ Müßiggang hingab. Nicht leistungsbereit zu sein, wurde in dieser typischen Definition des »willenlosen Psychopathen« schichtübergreifend verurteilt. In der Nachkriegszeit gab es noch zwei weitere Neuerungen, die ebenfalls mit Kurt Schneider zusammenhingen. Die bisher vorherrschenden Psychopathiekonzepte, darunter das federführende von Kraepelin, beurteilten den »Psychopathen« als eine moralische Abweichung innerhalb eines lamarckschen Weltbildes. Kraepelin verurteilte die »Psychopathen« moralisch und konstruierte sie als »Degenerierte«, die eine Gefahr für den ganzen »Volkskörper« darstellten.149 Schneider beschrieb den »Psychopathen« ebenfalls als abweichend, ging anders als Kraepelin jedoch von einer Durchschnittsnorm aus statt von einer Wertnorm.150 Außerdem forderte Schneider dazu auf, den Begriff »Psychopathie« in der Kommunikation der Psychiater mit anderen Stellen des Fürsorgesystems zu vermeiden. Dies ist im Zusammenhang mit der immer wieder geübten Kritik an der Aufstellung von »Psychopathentypologien« zu sehen.151 Vor allem aber glaubte Schneider, dass der Begriff »Psychopathie« bald verschwinden werde. Er werde zwar zum damaligen Zeitpunkt in der psychiatrischen Praxis noch gebraucht, er sei aber schon »angekränkelt«.152 Deswegen argumentierte er, die Bezeichnung »Psychopath« solle besser nur noch im psychiatrischen Hausgebrauch benutzt werden: »Man tut also gut, z. B. in Berichten an Ärzte, Jugend148 Ebd., S. 383. 149 Engstrom, ›Question‹, S. 392. 150 Vgl. hierzu jeweils den Beginn des Kapitels »Der Begriff der psychopathischen Persönlichkeit« in den unterschiedlichen Ausgaben von: Schneider, Persönlichkeiten. Zum Wandel von der moralischen zur Durchschnittsnorm im internationalen Kontext und in der longue durée, vgl.: Weber, »Insanity«, S. 22. 151 Als einflussreiche Kritiker sind Ernst Kretschmer und Hans Heinze zu nennen, mit denen sich Schneider z. B. im Artikel auseinandersetzte: Kurt Schneider, Kritik der klinisch-typo­ logischen Psychopathenbetrachtung, in: Der Nervenarzt, 1 (1948), S. 6–9, S. 7. Schneider war außerdem ein Verfechter der Unterscheidung zwischen »Psychopathentypen« und Diagnosen; ihm zufolge dürfte der Begriff »Psychopath« in Diagnosen ohnehin nicht vorkommen. 152 Ebd., S. 9.

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ämter und in Gutachten aller Art nicht von ›Psychopathen‹ zu reden. Man schildere möglichst lebendig und anschaulich und ohne ›Fachausdrücke‹, was für ein Mensch das ist, um den es sich da handelt.«153 Trotz dieser Veränderungen überwogen die Kontinuitäten zu vorher dominanten Psychopathiekonzeptionen. Bei bestimmten »Psychopathentypen« wurde die Vererbung immer noch als eine wichtige Ursache gesehen – hierzu gehörten auch die »haltlosen« und die »willenlosen Psychopathen« –, während gleichzeitig gerade im Kontext von Arbeit weiterhin von einem individuellen Verschulden ausgegangen wurde. Diese Auffassung hing unmittelbar mit der Unterscheidung zwischen Form und Inhalt in der Psychiatrie zusammen. Nach wie vor galt die alte Unterteilung, psychische Abweichungen wie die »Psychopathien«, die zu den Neurosen im Gegensatz zu den Psychosen zählten, seien durch ihren Inhalt bestimmt. Das bedeutete, es gab keinen auf die Krankheit zurückzuführenden Verlauf bzw. keine daraus resultierende Form, sondern das »Abweichende« wurde von der Bewertung der Situation bzw. des Inhaltes durch die Patientin oder den Patienten in Abhängigkeit gedacht.154 Die individuelle Situationsbewertung als ausschlaggebendes Kriterium ließ zugleich persönliche Schuld zu. Auf Grund der dauerhaften Unklarheit, inwiefern diese Haltung vererbt sei oder nicht, blieb auch die Aufforderung zur eigenständigen Besserung der Patientin oder des Patienten immer im Raum stehen. Insbesondere in den Gutachten zur Berechtigung des Bezugs von sozialstaatlichen Leistungen führte die Feststellung individueller Schuld zu nicht zu unterschätzende Konsequenzen. Dies lässt sich exemplarisch an dem 1953 im Nervenarzt erschienenen Artikel Die ärztliche Begutachtung von Neurosen für die unterstützende Arbeitslosenhilfe von Dr. Paul Hülsmann zeigen, der im Arbeitsamt Essen angestellt war.155 Der Autor beschäftigte sich mit der Problematik, dass »neurotische Menschen«, die Rente beantragten, oft während des Verfahrens arbeitslos wurden. Hülsmann kam zu dem Schluss, dass »neurotisches Versagen im Arbeitsprozeß […] persönlichkeitsgebunden« sei.156 Er gestand dabei durchaus zu, dass es Fälle gäbe, in denen der Kranke de facto dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehe, obwohl er als »arbeitsfähig« begutachtet worden sei, wenn seine Beschwerden »psychopathischer« bzw. »neurotischer« Natur seien. Für diese Fälle verwies er unter Heranziehung eines klassischen Arguments darauf, dass »die praktische Erfahrung zeigt – wie nach dem ersten Weltkrieg bei den Kriegsneurotikern – daß ein Ausschluß aus der unterstützenden Arbeitslosenhilfe zur Aufgabe neurotischer Fehlhaltungen durch Begehrensvorstellungen führen kann.«157 Der »Psychopath« wurde in diesem Sinne »geheilt«, indem ihm der inhaltliche Ansatzpunkt für seine »Fehlvorstellungen« 153 Ebd. 154 Vgl. hier z. B.: ebd., S. 7. 155 Paul Hülsmann, Die ärztliche Begutachtung von Neurosen für die unterstützende Arbeitslosenhilfe, in: Der Nervenarzt, 11 (1953), S. 461 f. 156 Ebd., S. 462. 157 Ebd.

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genommen wurde. Sogenannte »Rentenneurotiker« wurden also weiterhin stark problematisiert und nach altbewährtem Rezept bekämpft. Daher blieben wesentliche Elemente des Psychopathiediskurses gerade im Bereich Arbeits- und Leistungsbewertung unverändert, obwohl es in anderer Hinsicht durchaus auch Neuerungen in der Psychopathie- und Neurosenkonzeption gab. Zu Beginn der 1960er Jahre meldeten sich äußerst vereinzelt auch andere Stimmen in der wissenschaftlichen Debatte zu Wort, die nachlassende Leistung oder Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit durch Überlastung zumindest in manchen Fällen als legitim und nicht als individuell verschuldet oder primär »erblich entartet« bewerteten. Der Direktor der Heidelberger Universitätsklinik, Walter Ritter von Baeyer (1904–1987), sprach sich hierfür in einem Artikel aus, der im Jahr 1961 im Nervenarzt erschien.158 Er negierte keineswegs die gängige Konstruktion des »schmarotzenden Psychopathen« und »Rentenneurotikers«, er wies jedoch darauf hin, dass nicht alle von den Patientinnen und Patienten als »Erschöpfungs- oder Überarbeitungszustand« beschriebenen Probleme damit erfasst werden könnten. Er argumentierte mit Hilfe von Fällen aus seiner praktischen psychiatrischen Tätigkeit. Dabei stellte er im Wesentlichen die etablierte Deutung in Frage, dass ein »Fehlbegehren«, Faulheit oder ähnliches die wichtigste Ursache für die Selbstzuschreibung von »Überarbeitung« oder Arbeitsunfähigkeit seien. Er verwies darauf, dass es auch möglich sei, dass dieser Zustand durch fehlenden Sinn oder fehlende Anerkennung ausgelöst werde und es sich mitunter um ein echtes »Nichtwollenkönnen« der Patientinnen und Patienten handele. Als Beispiele führte er Flüchtlinge an, die das neue Leben insgesamt als sinnlos empfänden und deren Arbeit daher auch kein Ziel mehr habe. Ähnlich bewertete er den Zustand eines Arbeiters, der besonders hart arbeitete, um sich ein Haus bauen zu können, in das dann aber gegen seinen Wunsch die alten Schwiegereltern mit einzogen. Als vergleichbar erachtete er außerdem die Situation von »so manchen Angestellten und Beamten auf mittlerer Stufe, die zwar an sich gerne ihren Dienst tun, durch die Abhängigkeit von schwierigen Vorgesetzen oder die Rivalität von Kollegen aber keiner unwidersprochenen Arbeitsfreude teilhaftig werden«.159 Baeyer beschritt hier einen Mittelweg. Zwar gestand er zu, dass schichtenübergreifend Patientinnen und Patienten, die unter »Erschöpftsein« litten, nicht zwingend »Psychopathen« seien. Allerdings distanzierte er sich von Positionen, die die Überanstrengung funktional – das heißt der Form nach – und nicht inhaltsbezogen konzipierten.160 Überanstrengung oder »Erschöpftsein« der Form nach zu konzipieren, hätte eine ganz erhebliche Aufwertung exogener Momente bedeutet, so dass die Arbeitswelt und nicht der in ihr arbeitende einzelne Mensch hätte problematisiert 158 W. von Baeyer, Erschöpfung und Erschöpftsein, in: Der Nervenarzt, 5 (1961), S. 193–199. 159 Ebd., S. 197. 160 Ebd., S.  194. Einer der wenigen Vertreter der funktionalen Auslegung in der deutschen Psychiatrie war Georg Stertz (1878–1959).

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werden müssen.161 Ebenfalls glaubte er nicht, dass es sich um das von Hans­ Selye beschriebene und in der angloamerikanischen Psychiatrie viel rezipierte Stresssyndrom handelte. Selye hatte im Zuge des Zweiten Weltkriegs Stress als endokrinologische Störung definiert und seine Konzeption hatte sich in den USA zügig etabliert.162 Bayer schloss nicht an die amerikanische Forschung an, sondern verwies darauf, dass das Phänomen des »Erschöpftseins«, das er beschreibe, der Neurasthenie der Kaiserzeit entspräche. Allerdings hielt er es für allgegenwärtig – nicht nur im Bürgertum, sondern in allen Schichten.163 Wie wenig durchsetzungsfähig in der frühen Bundesrepublik eine auch noch so vorsichtige Einschätzung von Arbeitsüberlastung ohne sofortige Schuldzuweisung war, zeigt sich darin, dass im selben Jahr im Nervenarzt eine Replik auf Bayers Artikel erschien, in der Johannes Heinrich Schultz (1884–1970) die Verwendung des Begriffs »Erschöpftsein« in Bayers Artikel kritisierte. Er argumentierte, der Gebrauch solcher Begriffe wie »Erschöpftsein« könnte dazu führen, dass zugestanden werde, die Patientinnen und Patienten bräuchten mehr Ruhe und Erholung und müssten nicht ihre Einstellung ändern. Um dies zu vermeiden, schlug er den seiner Meinung nach viel passenderen Terminus »Versagenszustand« vor.164 Zu bedenken ist, dass Schultz Psychiater und Psychotherapeut war und vor allem mit der Erfindung des autogenen Trainings – also einem Konzept zur »Arbeit« am Individuum – bekannt geworden war. Er gehörte zu den systemkonformen Psychotherapeuten im Nationalsozialismus.165 Wenn es um Arbeit ging, fanden die sonst oft sehr unterschiedliche Standpunkte vertretenden Psychiater und Psychotherapeuten einen gemeinsamen Nenner, da beide Professionen den arbeitenden Menschen und nicht die Umstände als Ursache des Problems ausmachten.166 161 Diese Konzeption hat sich bis heute nicht grundsätzlich geändert. Auch die Stresskonzeption, die sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in Deutschland durchsetzte, sieht immer noch den einzelnen Arbeitenden in der Position mit den Arbeitsanforderungen besser umzugehen, um einen »Burnout« zu vermeiden. Patrick Kury beurteilt diese Auffassung meines Erachtens zu Recht sehr negativ und fordert dazu auf, Stress wie im Schweden der 1950er und 60er Jahre wieder als gesamtgesellschaftliches Problem zu betrachten. Vgl. das Schlusskapitel in: Kury, S. 297. 162 Zu Selyes Stresskonzeption und den Gründen, warum sie sich im Gegensatz zum angelsächsischen und skandinavischen Raum in der Bundesrepublik nicht durchsetzte, vgl.: ebd., S. 109. 163 W. von Bayer. Erschöpfung und Erschöpftsein, in: Der Nervenarzt, 5 (1961), S. 193–199, hier: S. 193. 164 J. H. Schultz: Diskussionsbeitrag zur Arbeit von W. von Bayer »Erschöpfung und Erschöpft­ sein«, in: Der Nervenarzt, 10 (1961), S. 467. 165 Zu Schultz, vgl.: Brunner u. Steeger, S. 16–25. 166 Dies war keine ganz neue Entwicklung, sondern wurde von Stephanie Neuner auch für die eigentlich hart konkurrierenden Psychiater und Psychotherapeuten der Weimarer Republik und ihre Sicht auf den arbeitenden Menschen herausgearbeitet. Beide sahen – bei ­a llen sonstigen Unterschieden – Arbeit als heilsam an und Arbeitsfähigkeit als letztes Ziel ihrer Behandlung. Im Nationalsozialismus wurde das Interesse der verbliebenen Psychologen an Leistungsfähigkeit und Arbeitswille dominant, die sich nun in der »Neuen D ­ eutschen

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Überarbeitung, »Psychopathie« und legitime Erschöpfung in der ärztlichen Diagnosepraxis Die ärztlichen Beschreibungen der Patientinnen und Patienten und die Diagnosepraxis korrelierten mit den drei im Nervenarzt diskutierten Forschungsmeinungen. Die Verwendung der Begriffe und die Wertung der Beschwerden variierten gravierend von Arzt zu Arzt und zwar auch innerhalb derselben Anstalt. Im Folgenden wird dies am Beispiel von Einweisungen zur Rentenbegutachtung gezeigt. Rentengutachten eignen sich aus zwei Gründen besonders gut. Sie sind eindeutig einem bestimmten Arzt zuzuordnen und die Beurteilung hatte in jedem Fall deutliche Auswirkungen für die Patientin oder den Patienten. Die Gutachten stammen alle aus Bethel. Bethel wurde deswegen ausgewählt, weil nach dieser Stichprobe zwischen 1950 und 1963 20 Prozent der Einweisungen in diese Anstalt zur Rentenbegutachtung stattfanden. In der Stichprobe sind also von jedem gutachtenden Arzt mehrere Gutachten enthalten. Das Verfahren lief immer gleich ab. Ein Versicherungsamt, in Bethel handelte es sich dabei oft um das Oberversicherungsamt Detmold, veranlasste, dass die »Rentenangelegenheiten« einer Patientin oder eines Patienten in Bethel geprüft wurden. Die von Bodelschwinghschen Anstalten kontaktierten daraufhin die Patientin oder den Patienten und forderten ihn auf, sich an einem bestimmten Termin zu einer dreitägigen stationären Beobachtung einzufinden. Dem begutachtenden Arzt lagen zusätzlich Stellungnahmen anderer Ärzte und die Krankenakte vor, sofern die Patientin oder der Patient zuvor schon einmal in einer Anstalt gewesen war. Dies war auch der Fall, wenn die vorherigen stationären Behandlungen in einer anderen Einrichtung stattgefunden hatten. Die Akte wurde dann an die gutachtende Anstalt geschickt.167 Ein Beispiel für die Kontinuität tragender Elemente des Psychopathiediskurses um Arbeitsfähigkeit in der ärztlichen Praxis ist ein Rentengutachten Dr. K.s aus dem Jahre 1952. Es ist in zweierlei Hinsicht aussagekräftig: in Bezug auf die Darstellung der Beschwerden durch die Patientin und hinsichtlich der Seelenkunde« engagierten. Schultz etwa war von 1936 bis 1945 stellvertretender Direktor des sogenannten »Göring-Instituts«, des Deutschen Instituts für Psychologische Forschung und Psychotherapie. Jürgen Brunner und Florian Steeger bringen in einem Artikel zu Schultz Lebensweg zwei Punkte an, die dies erklären. Zum einen weisen sie darauf hin, dass die im Reich verbliebenen Psychotherapeuten ein besonderes Interesse hatten, sich gegenüber der »tonangebenden rassenhygienisch orientierten Psychiatrie zu legitimieren und zu verankern« und deswegen unter Druck standen, Erfolge entsprechend der natio­ nalsozialistischen Ideologie zu produzieren. Zum anderen stand  – in Verbindung mit dem gerade genannten Punkt  – als Ziel der Psychotherapie am Göring-­Institut berufliche Leistungssteigerung im Vordergrund. Das Institut war dementsprechend auch in der Deutschen Arbeitsfront verankert. Schultz’ Replik auf ­Baeyers Artikel zeigt, dass Schultz in der frühen Bundesrepublik seine in der NS-Zeit hart erkämpfte Stellung im Mainstream der Psychiatrie gegen jede noch so kleine Veränderung in Richtung einer moderateren Sichtweise auf Leistungs- und Arbeitserwartungen verteidigte. Vgl.: ebd. 167 Der Ablauf ist u. a. in folgender Einzelfallakte zu sehen: vBS Bethel, Patientenakte Sign. 13/186, HAB, Patientenakten Mahanaim I.

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Bewertung durch den Arzt. Die Patientin gab an, nicht mehr arbeiten zu können, da sie täglich unmittelbar nach Arbeitsende »stets völlig erschöpft, schlapp und schwach gleich ins Bett gegangen«168 sei. Die ehemalige Näherin, Verena M., erklärte ihre Erschöpfung so: »Die Anforderungen in einem modernen Betrieb seien eben zu gross. Sie habe das ­Arbeitstempo nicht mehr mithalten können, zum Schluss habe sie Knöpfe mit der Hand annähen müssen, im Akkord, wobei sie weniger geschafft habe als die jungen Mädchen. Das habe sie gewurmt zumal sie schlechter verdient habe.«169

In eine ähnliche Richtung hatte z. B. auch die Nachrichtenhelferin Maria T. 1943 argumentiert, die nicht nur die physische Arbeitsbelastung beklagte, sondern erklärte, der Zustand sei besonders schlimm, da die Zusammenarbeit schlecht sei und sich niemand um den anderen kümmere.170 Bei allen Unterschieden ging es auch hier um die Selbstwahrnehmung im Kontext des Arbeitsumfeldes, nicht allein um die Ausübung der Tätigkeit. Die Angaben der Näherin Verena M. verdeutlichen, dass es sich in diesem Fall nicht nur um direkte physiologische Folgen der Arbeit handelte, sondern zum einen um indirekte körperliche Folgen, wie Erschöpfung, und zum anderen um das Gefühl, dass ihre Arbeit im Vergleich weniger wert sei. Diese häufig vorkommende Erklärung ist bemerkenswert, denn die beiden Klagen, die bereits in den 1940er und 1950er Jahren angebracht wurden – das Gefühl dauernder Erschöpfung und der Eindruck, dass die Arbeit von der Umgebung nicht gewürdigt wird –, sind zwei Punkte, die auch im sich seit den 1970er Jahren durchsetzenden Stresskonzept Anerkennung fanden.171 Nachdem er neurologische Ursachen ausgeschlossen hatte, schrieb Dr. K. in seiner Beurteilung: »Auch aus dem jetzigen psychischen Befund lassen sich Hinweise für das Vorliegen einer seelisch-geistigen Erkrankung nicht entnehmen, und zwar weder im Sinne organisch-geistiger Veränderungen, noch im Sinne einer endogenen Psychose etwa depressiver od. schizophrener Art.  Auf Grund unserer Erhebungen meinen wir vielmehr, dass es sich bei Frl. [M., d. Vf.] um ein[e] aus nervenschwacher Familie stammende, immer etwas abartige und zudem intellektuell dürftige, wenn auch nicht schwachsinnige Persönlichkeit handelt, bei der es im Zusammenhang mit dem inzwischen Erreichen des Rückbildungsalters ohne Zweifel zu einem schicksalsmässigen Leistungsabfall gekommen ist. […] Auch heute noch bietet Frau [M., d. Vf.] auf Grund ihrer primitiven Grundstruktur und ihrer Einfalt deutliche ­demonstrative und psychogene Züge, wie sie ausserdem eindeutig von recht massiven Rentenbegehrungsvorstellungen beherrscht wird. Es ist allerdings glaubwürdig, dass die aller Wahrscheinlichkeit schon immer leistungsschwache und leicht erschöpfbare Frau sich jetzt 168 Ebd, Eintrag v. 29.9.1953. 169 Ebd. 170 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 161/2446, Eintrag v. 10.11.1943, HAB, Patientenakten­ Mahanaim I. 171 Kury, S. 223 ff.

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im Rückbildungsalter tatsächlich den Anforderungen in einem modernen Betriebe mit vorwiegender Akkordarbeit nicht mehr voll gewachsen fühlt. In ihrer persön­ lichen Reaktionsweise liegt es jedoch begründet, dass sie darauf nun derart reagiert, dass sie sich für überhaupt arbeitsunfähig hält.«172

Im letzten Satz des Gutachtens fasste er zusammen: »… wenn sie sich auf Grund ihrer Wesensabartigkeit und ihrer Rentenbegehrvorstellungen jetzt für invalide hält, so handelt es sich um abartige persönliche Reaktionsweisen, die im vorliegenden Falle keinen Krankheitswert beanspruchen können. Nervenärztlicherseits ist die Untersuchte nach alledem nicht invalide.«173 Wie auch immer die Beschwerden ärztlicherseits einzuordnen sein mögen, begrifflich und analytisch schloss Dr. K.s Bewertung nahtlos an die NS-Zeit an.174 Er führte eine familiäre Belastung an, erklärte die Reaktionsweise der Patientin zum Hauptproblem und beschrieb ihren Zustand u. a. mit den Worten »abartig« und »Rentenbegehrvorstellungen«. Wie in diesem Gutachten zu sehen ist und sich in anderen Gutachten Dr. K.s bestätigt, benutzte er den Begriff »Psychopathie« nicht, beschrieb die Patientinnen und Patienten aber mit typischen Elementen des Psychopathiediskurses. In anderen Gutachten aus den Jahren 1950 und 1960 qualifizierte er männliche Patienten z. B. als »abnormen Sonderling« und als »abartig«175 oder als »haltlose Persönlichkeit«176. Damit folgte Dr. K. der herrschenden Lehre, wie auch die meisten anderen Ärzte der hier analysierten Anstalten. Manche Ärzte verwendeten den Begriff »Psychopathie« auch weiter. Ihre Gutachten ähnelten in den sonstigen Begrifflichkeiten und im Erklärungsansatz sehr stark dem hier gegebenen Beispiel.177 Auffallend ist, dass die Zuschreibung charakterlicher Unzulänglichkeiten, die zu »abartigem Verhalten« führten, nicht schichtspezifisch ist: Im Fall des »abartigen und abnormen Sonderlings« ging es etwa um einen Berufsschul­lehrer.178 In Bethel wurden aber auch Gutachten erstellt, die nicht nur den Begriff »Psychopathie« mieden, sondern den dazugehörigen Erklärungsansatz ebenfalls nicht anwandten; Dr. R. gutachtete auf diese Weise. Er stellte z. B. einen »nervösen Erschöpfungszustand« fest, »der aber z.Zt. Berufs- oder Erwerbs172 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 13/186, Abschrift d. Gutachtens n. Beobachtung v. 29.9.1953– 1.10.1953 [o. D.], HAB, Patientenakten Mahanaim I. 173 Ebd. 174 Für die LHA ist der Befund ganz ähnlich. Dr. K. aus Bethel wurde lediglich deswegen als Beispiel ausgewählt, weil die Gutachten in Bethel eindeutig zuordbar waren. 175 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 141/2051, Gutachten v. 1.6.1950, HAB, Patientenakten­ Morija I. 176 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 52/526, Gutachten v. 21.12.1960, HAB, Patientenakten­ Morija I. 177 Vgl. für ein Gutachten eines Arztes, der regelmäßig den Begriff »Psychopathie« in den Gutachten benutzte, beispielsweise: vBS Bethel, Patientenakte Sign. 193/2818, HAB, Patientenakten Morija I. 178 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 141/2051, Gutachten v. 1.6.1950, HAB, Patientenakten­ Morija I.

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unfähigkeit noch nicht bedingt. Um dem vorzubeugen, möchten wir zu einem mehrwöchigen Heilverfahren raten. Nach dessen Abschluss sollte man endgültig zur Frage der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit Stellung nehmen.«179 Dr. R. sprach also im Sinne Baeyers von einem Erschöpfungszustand und plädierte genau für das, was Baeyers Kritiker Schultz in seiner Replik im Nervenarzt befürchtet hatte: Er schlug ein mehrwöchiges Heilverfahren vor. Statt dem Patienten durch Verweigerung staatlicher Hilfe zu der »Erkenntnis« zu verhelfen, dass »Begehrvorstellungen« zu nichts führten, riet er zur Behandlung des von den meisten Ärzten nicht mit Krankheitswert belegten »nervösen Erschöpfungszustands«. In der Praxis ist dies keine völlig neue Vorgehensweise, wenn man sich kurz die Diagnose »nervöser Erschöpfungszustand« und die dazu gehörige Bewertung und Empfehlung Dr. G.s aus der Kriegszeit in Erinnerung ruft.180 Wie im Kapitel Krankheit und Diagnostik bereits ausgeführt, war es typisch, dass Diagnosen, Krankheitsbilder sowie Umgangsweisen mit Patien­tinnen und Patienten zuerst in der Praxis auftauchten und später unter Verweis auf diese Praxis in den wissenschaftlichen Diskurs eingingen.181 3.3 »Überarbeitete« Diagnostik: Ein neuer wissenschaftlicher Diskurs mit Folgen für die psychiatrische Praxis in der SBZ/DDR Arbeit in der Einweisung: Fragen nach Gehalt und Beruf in der Anamnese Die Aufnahmen in Rodewisch und Großschweidnitz hoben sich durch ein anderes Vorgehen bei der ersten Befragung der Patientin oder des Patienten von der NS-Zeit und der Bundesrepublik ab. Das entsprach den Erkenntnissen der psychiatrischen Forschung im Ostblock zur Rolle von Arbeit und Arbeitsumfeld. Sowohl eine falsche Einstellung zur Arbeit als auch die Gegebenheiten und das Ansehen des Betriebes wurden als Ursache psychischer Erkrankungen gesehen. Die Bedeutung, die den konkreten Arbeitsbedingungen zugemessen wurde, zeigt sich beispielhaft in einem Artikel zur ärztlichen Begutachtung von Arbeitsneurosen von Werner Hollmann, Chefarzt an den Städtischen Krankenanstalten­ Potsdam.182 Hollmann führte zu den Ursachen von Arbeitsneurosen aus: »Bei den Störungen, die sich aus dem Betrieb selbst ergeben, ist aber auch das Ansehen des Betriebes, die örtliche Rangliste der Betriebe und die allgemeine Wertung ihres Produkts wichtig; da erweisen sich die Beziehungen zu dem Vorarbeiter und dem Meister 179 vBS Bethel, Patientenakte Sign. 101/1195, HAB, Patientenakten Mahanaim II. 180 In diesem Kapitel Unterkapitel »›Psychopathie‹ als Diagnose in der NS-Zeit«. 181 Vgl. hierzu auch die häufige Selbstbeschreibung der Psychiatrie als »Kennerschaft«, die sich aus diesem dauernden Bezug zur Praxis speist und dieses ursprünglich als defizitär beschriebene Verfahren somit wiederum als Ergebnis einer nur schwer erlernbaren »Expertise« und »Charakterfestigkeit« der Psychiater deutet im Kapitel »Krankheit und Diagnostik«. 182 Werner Hollmann, Soziale Therapie und ärztliche Begutachtung der Arbeitsneurosen, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie, 8 (1956), S. 267–275.

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und zu anderen Betriebsangehörigen als bedeutungsvoll, ferner die Stimmung in dem Arbeitskollektiv, die wieder von der menschlichen Haltung der Betriebsleitung abhängig ist, weiterhin die sozialen Einrichtungen, Anerkennungen, Vorbilder, Unterschiede in der Entlohnung, Lebensaussichten, die Schönheit des A ­ rbeitsplatzes, u. s. f. …«183

Die Ärzte in Rodewisch, Großschweidnitz und Greifswald fragten zwar nicht all die von Hollmann genannten Aspekte ab, aber sie deckten im Rahmen der ersten Exploration den Bereich »Arbeit« mit drei Standardfragen ab: Sie erkundigten sich nach der Höhe des letzten Lohnes, ob die Patientin oder der Patient damit auskomme und wie ihm die Arbeit gefiele. Die Antworten wurden genau notiert. Üblicherweise sah dies aus wie in der Krankengeschichte Janosch Sch.s: Wie die momentane Arbeit der Patientin oder dem Patienten gefiel, wurde während des Gesprächs an passender Stelle eingeflochten und entweder zu Beginn der Exploration oder am Schluss stellten die Ärzte Fragen nach Lohn und Auskommen, in diesem Fall als letzte Frage: »(Letzter Lohn?)184›90 Pfennige pro Stunde, 60–70 M alle zehn Tage.‹ Er sei damit ausgekommen.«185 Einige Zeilen vorher sprach der Patient über sich am Arbeitsplatz: »Er habe sich mit seinen Arbeitskameraden nicht mehr so recht verstehen können. (?)186 Die Arbeitssache habe sich eben so zugetragen, wie es überall vorkommt.«187 Trotz dieser größeren Beachtung von Arbeit und Arbeitsumständen wurde jedoch nicht direkt danach gefragt, ob die Patientin oder der Patient Zusammenhänge zwischen seiner Erkrankung und seiner Arbeit sähe. »Überarbeitung« in der ärztlichen Diagnostik: Von der »Psychopathie« zur Organneurose Die Fragen zum Einkommen, zum Arbeitsplatz und zur Zufriedenheit am Arbeitsplatz entsprachen den Veränderungen der psychiatrischen Forschung in der DDR. Im Folgenden steht die Frage im Fokus, in welchen Bereichen, wie und warum sich die wissenschaftliche Auffassung von Arbeit im Sozialismus von der der NS-Zeit und der Bundesrepublik unterschied. In diesem Kontext wird auch analysiert, ob dies Auswirkungen auf die ärztliche Praxis bei psychia­ trischen Einweisungen hatte. Während des Nationalsozialismus wurden sowohl »Unwille« als auch »Unfähigkeit« zu arbeiten unter der Diagnose »Psychopathie« gefasst oder  – die Vermischung von sozialem Ausschluss und Medikalisierung noch deutlicher machend – die Patientinnen und Patienten als »asoziale Psychopathen« klassifiziert. In der DDR verlor die Diagnose »Psychopathie« ihre Bedeutung in diesem 183 Ebd., S. 270. 184 In Rodewisch wurden die Fragen des Arztes meistens, wie hier zu sehen ist, in Kurzform in Klammern in der Krankengeschichte festgehalten. 185 KA Rodewisch, Patientenakte Sign. 8963, Eintrag v. 11.5.1950, SächSta Chemnitz, 32810. 186 Das Fragezeichen in der Klammer zeigt in den Akten aus Rodewisch an, dass hier vom Arzt noch einmal nachgehakt wurde. 187 Ebd.

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speziellen Kontext schnell. Bei Durchsicht der Zeitschrift Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie finden sich zwischen 1949, dem Ersterscheinungsjahr, und 1963 nur zwei Artikel mit »Psychopathie« im Titel, einer von 1951 und einer von 1953. Der Artikel von 1951 über Psychopathische Persönlichkeiten, ihre Kriminalität und ihre Stellung vor dem Gesetz188 stellte eine statistische Untersuchung des sogenannten »Krankenmaterials« der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der Universität Jena vor. Hier ging es um den Anteil von »Psychopathen« unter verurteilten Kriminellen zwischen 1920 und 1950. Der Artikel griff damit den anderen großen Strang des Psychopathie­diskur­ ses neben dem Fokus auf Arbeit und Leistung auf, die Pathologisierung von Kriminellen. Während Alkoholmissbrauch, Alter und Geschlecht in der Analyse eine prominente Rolle spielten, war Arbeit nicht von Interesse. In dem zweiten Artikel von 1953 mit dem Titel Zur Frage der Psychopathie189, dessen Autor der Universität Leipzig angehörte, ging es um eine Neuverortung der »Psychopathie« im pavlovschen System der höheren Nerventätigkeit. Nach ausführlicher Diskussion unterschiedlicher Ansätze aus Westdeutschland und des ­pavlovschen Ansatzes kam er zu dem Ergebnis: »In der sowjetischen Psychologie ist die Arbeitsrichtung klar bestimmt durch die dialektische Methode und die materialistische Theorie. In der bürgerlichen Psychologie geht es wesentlich chaotisch zu.«190 Nach dem Bekenntnis zur zielführenden sozialistischen Methodik wurde in den letzten Sätzen des Artikels die inhaltliche Neuerung für die Erforschung und Behandlung der »Psychopathie« noch einmal zusammengefasst: »Von der Praxis überholt ist auch die theoretische Orientierung am Durchschnitt als dem ›Normalen‹. Das ist ein spießbürgerlicher Standpunkt, der sich gegenüber dem Entwicklungsgesetz in Natur und Gesellschaft nicht halten kann.191 Noch ein anderer Punkt wandelt sich in der Psychopathiefrage. Neben anderen Bestimmungen des Begriffs hielt man die mangelnde Anpassungsbreite für ein Kriterium der Psycho­ pathie. Heute sieht man auch, nicht nur in der sowjetischen Wissenschaft,192 die Rolle des aktiven Verhaltens des Psychopathen und die Formbarkeit, die sich durch die Arbeit, und zwar die kollektive Arbeit für ihn ergibt.«193 188 H.v. Keyserlingk, Psychopathische Persönlichkeiten, ihre Kriminalität und ihre Stellung vor dem Gesetz, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie, 6 (1951), S. 180–207. 189 M. Bendrat, Zur Frage der Psychopathie, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie, 1 (1953), S.70–77. 190 Ebd., S. 77. 191 Dieser »spießbürgerliche« Standpunkt bezieht sich auf den von Kurt Schneider eingeführten Psychopathiebegriff, der in der Bundesrepublik mehrheitlich vertreten wurde. 192 Hier wird auf die oberflächlichen Gemeinsamkeiten des pavlovschen und freudschen Ansatzes angespielt, der in der frühen Bundesrepublik wieder etwas mehr Anhänger fand, vor allem in den USA aber eine Breitenwirkung erzielte. Die Gemeinsamkeit besteht in der Annahme, das Verhalten und den Charakter des Menschen beeinflussen zu können – im Gegensatz zu der im Nationalsozialismus stark gemachten erblichen Komponente. 193 Ebd.

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Eine wesentliche Neuerung im sowjetischen Psychopathiebegriff sowie auch in der sozialistischen Psychiatrie insgesamt war die Betonung exogener Faktoren und die Möglichkeit der gesellschaftlichen Erziehung.194 In keinem der beiden Artikel spielt Arbeitsverweigerung oder ähnliches eine Rolle. In dem zweiten Artikel wurde lediglich die Arbeit im sozialistischen Kollektiv als Teil der Heilung thematisiert. Das bedeutet jedoch nicht, dass Arbeit und Leistung nun nicht mehr in der Zeitschrift Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie verhandelt worden wären, die Einordnung war allerdings eine ganz andere. Wenn erneut die Titel zwischen 1949 und 1963 als Indikator herangezogen werden, kann festgestellt werden, dass Arbeit als Thema regelmäßig auftauchte.195 Nun ging es jedoch nicht mehr um die »Minderwertigkeit« von »Asozialen« und »Psychopathen«, sondern um den Einfluss der Arbeitsbedingungen auf den Menschen, um die Arbeitseinstellung und um Erschöpfung im Zuge der Arbeit. In einem Artikel von 1951 führte Werner Hollmann (1900–1987),196 der regelmäßig zu diesem Thema ver­ öffentlichte, alle denkbaren Zusammenhänge zwischen Arbeit und Krankheit aus. Es ging ihm sowohl um somatische als auch um psychische Erkrankungen.197 Für die psychischen Erkrankungen führte er ein Erklärungsmodell der sowjetischen Psychiatrie an, das der weiterentwickelten Pavlov-Forschung entstammte und das danach auch andere Autoren in zahlreichen Artikeln über Jahre hinweg immer wieder bemühten. Sein Ausgangspunkt waren sogenannte »Organ-«198 und »Arbeitsneurosen«: »Unter Organneurosen versteht man Krankheiten, die keine morphologische Grundlage haben, bei denen vielmehr physiologische Funktionen abwegig arbeiten, und deren Symptome nicht Ausdruck organischer Veränderungen, sondern Ausdruck seelisch-geistiger Störungen sind.«199 194 Nach Pavlov ist es möglich dem Menschen völlig neue Verhaltensweisen beizubringen/ bzw. ihn zu konditionieren. In Teilen wurde dieser Ansatz auch in der westlichen Welt sehr erfolgreich: »Pavlov wurde von den Gründern des Behaviorismus, der Verhaltenstherapie und Werbepsychologie, John B. Watson (1878–1958) und Burrhus F. Skinner (1904–1990), als Stammvater anerkannt.« Vgl.: Rüting, S. 123. 195 Es gab keinen Jahrgang in dem nicht mindestens ein Artikel dem Thema gewidmet war, meist waren es mehrere. 196 Werner Hollmann war ab 1950 Chefarzt der Inneren Abteilung des Bezirkskrankenhauses in Potsdam. In den 1930er Jahren war er Assistent bei Viktor von Weizsäcker in Heidelberg und beschäftigte sich dort mit »Neurotikern«. 197 Werner Hollmann, Krankheit und soziale Umwelt. Zur sozialen Pathogenese innerer Erkrankungen, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie, 1 (1951), S. 15–25. 198 Die hier skizzierte Variante der Organneurose basiert auf der pavlovschen Annahme, die Organe seien durch äußere Einflüsse unbegrenzt veränderbar. Vgl.: Rüting, S. 123. Organneurose als diagnostische Zuschreibung wurde aber nicht allein in der sozialistischen Psychiatrie benutzt. Der Begriff Organneurose wurde etwa ab 1941 auch bei Soldaten benutzt, die zuvor als Kriegszitterer oder Schüttler bezeichnet wurden. Vgl.: Quinkert u. a., S. 20. 199 Werner Hollmann, Krankheit und soziale Umwelt. Zur sozialen Pathogenese innerer Erkrankungen, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie, 1 (1951), S. 15–25, S. 18.

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Die Verbindung zwischen körperlichen Fehlfunktionen und Psyche war an sich kein Spezifikum der DDR. Sie wurde auch in der Bundesrepublik im Rahmen der psychiatrischen Deutung von psychischen Auffälligkeiten bei Kriegsheimkehrern gezogen, dort allerdings mit umgekehrter Bedeutung. Die psychischen Symptome der Kriegsheimkehrer wurden als »Dystrophie« auf organische Schäden durch Mangelernährung zurückgeführt.200 Mitte der 1950er Jahre wurde dann zunehmend der sozialen Bedingtheit Platz eingeräumt. Dies geschah allerdings maßgeblich durch Internisten, nicht durch Psychiater.201 Hollmann räumte der sozialen Bedingtheit außerordentliche Relevanz ein. Der Zusammenhang zwischen Lebenswegen und Krankheit hatte ihn bereits in den 1930er Jahren interessiert.202 In seinem Artikel von 1951 brachte er dieses ältere Interesse mit der neuen sozialistischen Forschungsvorgabe zusammen, die äußeren Faktoren höher zu gewichten sowie entsprechend der sowjetischen Pavlovschule deren Einfluss auf die Organe anzunehmen.203 Als Ursprung der »Organneurosen« nannte Hollmann soziale Konflikte, die das vegetative Nervensystem beeinflussten.204 Organneurosen entstanden laut dem Autor zwar nicht zwingend im Zusammenhang mit Erwerbsarbeit, jedoch sehr oft. Ursache für sie sei übermäßiger Ehrgeiz, der außer bei der Arbeit manchmal auch im familiären Bereich auftauche. Hollmann nannte als Beispiel für an Magenneurosen erkrankte Patienten »besonders ehrgeizige junge Menschen, die sich etwa als Facharbeiter oder Vorarbeiter vor ihren Kameraden hervortun möchten und sich dadurch aus der Masse der ungelernten Arbeiter heraus­heben möchten.«205 Den Ehrgeiz, der die Krankheit auslöse, sah der Autor dadurch bedingt, dass der ehrgeizige Mensch eigentlich ein verkappter Introvertierter sei. Mittels seines Ehrgeizes hoffe er, in eine herausgehobene Stellung zu gelangen. Somit würde er seiner introvertierten Neigung entsprechend aus dem Kollektiv gelöst.206 Die »Arbeitsneurosen« wurden nicht als Teil der organischen Neurosen aufgefasst, sondern gehörten zu den Neurasthenien. Als ihr Hauptsymptom etablierte sich schnelle Ermüdbarkeit während des Arbeitsprozesses. Als »Arbeitsneurose« bezeichneten die Mediziner also den Zustand, den die Patientinnen und Patienten gegenüber dem Arzt »Überarbeitung« nannten.207 Das Leiden an »Überarbeitung« sei grundsätzlich auf eine falsche Beziehung der ­Patientin 200 Goltermann, S. 209. 201 Ebd., S. 259. 202 1940 wurde etwa eine Vorlesungsreihe von ihm in Buchform veröffentlicht: Hollmann, Krankheit, Lebenskrise. 203 Rüting, S. 123. 204 Werner Hollmann, Krankheit und soziale Umwelt. Zur sozialen Pathogenese innerer Erkrankungen, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie, 1 (1951), S. 15–25, S. 18. 205 Ebd., S. 20. 206 Ebd. 207 Ebd., S. 23.

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oder des Patienten zur Arbeit zurückzuführen oder auf eine Übertragung von Unzufriedenheit in anderen Lebensbereichen auf die Arbeit, etwa im Bereich der Familie oder der Sexualität.208 Darüber hinaus wurde zwischen Antriebsermüdung und Übermüdung unterschieden. Antriebsermüdung komme bei Arbeitenden vor, die besonders viele »Reize« als Motivation brauchten. Sie seien daher antriebsschwach. Wenn sie nun versuchten, diese Antriebsschwäche zu überwinden, könne es schnell zu Überanstrengung kommen. Übermüdung hingegen sei dadurch bedingt, dass der Arbeitende zu viel Motivation habe. Schließlich hielt Hoffmann fest, dass Arbeitsneurosen bei Frauen häufiger vorkämen, während es bei Männern öfter Organneurosen gäbe.209 Anders als in den Diskursen zur »Psychopathie« und dem Neurasthenie­ diskurs der Kaiserzeit spielte in der sozialistischen Konzeption die Schichtzugehörigkeit naheliegender Weise keine Rolle und im Gegensatz zur Vorstellung vom »degenerierten Psychopathen« war auch Erblichkeit nicht von Relevanz. Wie Patrick Kury erwähnt, fiel die Managerkrankheit in der DDR nicht auf fruchtbaren Boden.210 Trotzdem findet sich in der Zeitschrift Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie ein aufschlussreicher Artikel zur Managerkrankheit. In diesem wurde zunächst herausgearbeitet, dass die westlichen Lebensumstände zur Erkrankung beitrügen und dass es entgegen der Bezeichnung um eine Erkrankung ginge, die es in allen Schichten gäbe.211 Der ­Logik des Kalten Kriegs folgend, führte die Autorin die westlichen Gesellschaftsverhältnisse als Ursache für die dortigen Erkrankungen ins Feld.212 Allerdings stellte sie dann fest, dass die Symptomatik der sogenannten Managerkrankheit gerade in der DDR in der Tat bei Menschen in Führungspositionen vorkomme.213 Dies führte sie auf zwei Faktoren zurück: erstens auf die vielen Neubesetzungen, die nach 1945 notwendig waren, und zweitens auf eine falsche Arbeitseinstellung.214 Im Kontext der falschen Arbeitseinstellung fasste sie die Beschwerden gemäß dem in Werner Hollmanns Artikel entwickelten Konzept der Arbeitsneurose als Übermotivation, die zu mangelnden Entspannungszei208 Ebd., S. 22 f. 209 Ebd., S. 23. Hier handelte es sich um eine Anwendung der von Pavlov vertretenen Idee, es gäbe ein dauerndes Wechselspiel zwischen »Reizen« und »Hemmungen« und eine Störung dieses Wechselspiels sei ursächlich für die unterschiedlichsten Erkrankungen und Verhaltensweisen. 210 Kury, S. 122. 211 Christa Hoppe, Katamnestische Untersuchungen zum Problem der sogenannten »Manager­ krankheit«, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie, 1 (1961), S. 23–28, S. 24. 212 Ebd., S. 24 f. 213 Der Befund dieses Artikels, dass psychische Folgen von Arbeitsüberlastung v. a. in der Führungsschicht vorkommen, deckt sich mit dem Befund auf Grundlage der Stichprobe für diese Dissertation, dass nur sehr wenige Menschen sich Überarbeitung zuschrieben, jedoch politische Aufsteiger äußerst häufig. Vgl. in diesem Kapitel das Unterkapitel »Arbeitsfähigkeit und ›Überarbeitung‹ in der DDR«. 214 Ebd., S. 25.

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ten führe. Als Lösung wurde u. a. autogenes Training vorgeschlagen.215 Wie erwähnt, war das autogene Training eine Erfindung Johannes Heinrich Schultzes, der als Psychotherapeut im »Göring-Institut« Karriere gemacht hatte. Seine Methode wurde sowohl in der westlichen Welt als auch auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs weiter verbreitet.216 Eine direkt hiermit zusammenhängende Gemeinsamkeit der psychiatrischen Konzeption von »Überarbeitung« war in der DDR und der Bundesrepublik, dass in beiden die Einstellung der Patientin oder des Patienten als wichtig erachtet wurde. Insbesondere drei Punkte sind im Rahmen der Neufassung der Arbeitsbeschwerden in der DDR herauszustellen: Erstens war Neurasthenie, die hier als Grund für unangemessene Übermüdung bei der Arbeit gesehen wurde, schon im Kaiserreich das bürgerliche Leiden unter den psychischen Erkrankungen.217 Mit dieser Diagnose wurden die Zustände von Verunsicherung und Nervosität in der bürgerlichen Welt erfasst, die Patientinnen und Patienten und Ärzte dann gemeinsam in einen psychiatrischen Legitimierungsdiskurs überführten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Diagnose Neurasthenie bereits das Verschwinden vorhergesagt, da sie nach der massenhaften Verbreitung um die Jahrhundertwende stetig ab­ genommen hatte. In der Psychiatrie der DDR erfuhr Neurasthenie jedoch zumindest in der wissenschaftlichen Diskussion eine Renaissance – gepaart mit einer inhaltlichen Umwertung. Nun ging es nicht mehr um Menschen, die unter den schnellen und bedrohlichen Begleitumständen der Hochindustrialisierung litten. Stattdessen fasste Neurasthenie in der sozialistischen Lesart die Menschen zusammen, die zur Erwerbsarbeit nicht motiviert genug waren oder die übermäßig ehrgeizige individuelle Ziele verfolgten und sich aus der Gemeinschaft herausheben wollten. Der sozialistische Neurastheniebegriff führte so einzelne Aspekte des alten Psychopathiebegriffs weiter. Auf die Annäherung des Neurastheniekonzepts an die »Psychopathie« durch Kraepelins biologistische Umdeutung wurde bereits aufmerksam gemacht. Diese biologistische Lesart wurde zwar nicht wieder aufgenommen, die Verbindung zwischen der Arbeitseinstellung des einzelnen Menschen und der Gesellschaft war aber ein zentrales Versatzstück des Psychopathiediskurses, in dem es immer um die Folgen für die Gesellschaft, nie in erster Linie um den Zustand der Patientin oder des ­Patienten ging. 215 Ebd., S. 25 f. 216 M. E. ist das auf zwei Ursachen zurückzuführen. Zum einen darauf, dass die amerikanische Verhaltenstherapie Pavlov zu ihren wesentlichen Einflüssen zählt und so im Bereich der Verhaltensforschung Parallelen zu Beginn des Kalten Krieges zu finden sind. Zum anderen ist der Fokus auf Arbeitsfähigkeit, wenn auch auf andere Weise und in Teilen aus anderen Gründen, eine Gemeinsamkeit von West- und Ostblock und autogenes Training war eine kostengünstige Möglichkeit diese zu verbessern. 217 Roelcke, Krankheit, S.30.

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Der zweite Punkt ist die Zuordnung von Organneurosen zu Männern und der neurasthenischen Antriebserschöpfung zu Frauen. Die psychiatrische Sicht auf erwerbstätige Frauen schloss an die der NS-Zeit an und ähnelte ihr. Die Annahme, Frauen litten häufiger an Arbeitsneurosen in der speziellen Form der »Antriebsmüdigkeit«, verweist erneut auf eine aus Sicht der Psychiater mangelnde Motivation von Hausfrauen, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Bei Männern hingegen lag in der NS-Zeit »Überarbeitung« jenseits des Sagbaren, weil jede Art von Erschöpfungssyndrom als biologische Minderwertigkeit oder/und als Verweigerung galt, die eigene Arbeitskraft für die »Volksgemeinschaft« voll einzusetzen. Dies änderte sich mit der Ablösung des Psychopathiediskurses durch den Ermüdungsdiskurs in der psychiatrischen Forschung. Ohne Zweifel wurden Arbeit und Leistung weiterhin als Forderung an den Einzelnen hochgehalten, als essentiell für den Aufbau des sozialistischen Staates betrachtet und dementsprechend propagiert. Allerdings thematisierte selbst die Propaganda, dass die Arbeiter sich erst die neue sozialistische Arbeitseinstellung aneignen müssten.218 Zudem unterschied sich die sozialistische Arbeitsvorstellung in zwei Punkten wesentlich von der des NS-Regimes. Zum einen wurden die Gründe für »ungenügende« Arbeitsleistungen und individuelle Erschöpfung anders konstruiert. Die als veränderlich angesehene Einstellung der Patientin oder des Patienten spielte ebenso eine Rolle wie äußere Umstände. Damit waren auch die Schrauben, an denen gedreht werden konnte, andere. Zum anderen wurden nicht »voll leistungsfähige« Männer im psychiatrischen Diskurs im Unterschied zur NS-Zeit nicht mehr in dem Maße stigmatisiert wie zuvor. Zwar wurde ihre Erkrankung nicht gutgeheißen und als gesellschaftliches Problem debattiert, aber es wurde die Möglichkeit der Besserung eingeräumt und auf die Bedeutung gesellschaftlicher Bedingungen hingewiesen. Auch die Artikel zur Arbeit in der psychiatrischen Zeitschrift stützten die Position, dass den Bürgerinnen und Bürgern der DDR eine Lernphase zugestanden werden müsse, um zum richtigen, nämlich dem sozialistischen Verhältnis zur Arbeit zu finden.219 Drittens sind die Artikel sowohl in der Begrifflichkeit als auch inhaltlich sehr stark von der sowjetischen Forschung beeinflusst. Nicht nur wird Übermüdung im pavlovschen Sinne interpretiert, auch die Sprache ist von pavlovschen Begriffen durchsetzt, wie etwa »Reize« und »Hemmungen«.220 Anders als in der im Kapitel Krankheit und Diagnostik analysierten Entwicklung der Forschungspositionen zur Schizophrenie, ist in den Forschungen zum Thema Arbeit und Gesundheit ein deutlicherer Bruch zur Zeit des National­ sozia­lismus und zu älteren Forschungstraditionen zu beobachten. Obwohl es 218 Korzilius, S. 40. 219 Vgl. hierzu beispielsweise die Artikel von Werner Hollmann. 220 Mit Pavlov wurde ein eigentlich veraltetes Konzept des 19.  Jahrhunderts von zügelloser­ Erregung und Hemmung als empirisch bewiesen etabliert. Vgl.: Rüting, S. 153 ff.

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auch in der Weimarer Republik Positionen gab, die Neurosen im Arbeitszusammenhang durch exogene Faktoren erklärten,221 wird in den Artikeln zur Arbeit in der Zeitschrift Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie nicht daran angeschlossen. Wie in dem Artikel Zur Frage der Psychopathie222gezeigt, war die westliche Forschung in manchen Artikeln sehr präsent, bildete aber lediglich den negativen Referenzrahmen, auf den allerdings oft ausführlich eingegangen wurde. Mehr Raum stand der Forschung aus den benachbarten sozialistischen Ländern zur Verfügung. Regelmäßig gab es gerade zum Thema Arbeit Beiträge aus anderen Ländern des Ostblocks, z. B. die Artikel Die Doppel­ belastung der Frau im Arbeitsprozeß von E. Klimková-Deutschová223 aus Prag oder Das Erlebnis der Arbeit von Stephan Török aus dem Institut für Krankenbeschäftigung Simaság, Ungarn.224 Hierin unterschied sich die Artikelauswahl nicht von der zu anderen Krankheitsgebieten, z. B. dem der Schizophrenie. Bemerkenswert ist eher, dass es unter den von deutschen Autoren geschrieben Beiträgen keine leicht abweichenden Meinungen gab. Die pavlovsche Tradition und der Ostblock als wissenschaftlicher Raum waren zumindest für die Forschung zur systemrelevanten Frage der Arbeit von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Anders als beim Aufbau des Gesundheitssystems in der DDR, griff die psychiatrische Forschung für diesen Bereich nicht auf Traditionen des Kaiser­ reichs oder der Weimarer Republik zurück. Obwohl die Psychiatrie in den beiden jungen deutschen Staaten keineswegs strikt getrennt war – dies zeigen sowohl die Artikel, in denen z. T. seitenlang westliche Forschungspositionen referiert wurden, als auch die Tat­sache, dass Ärzte aus beiden Staaten bis zum Bau der Mauer regelmäßig gemeinsam Kongresse besuchen konnten  –, wurden zumindest zum Thema Arbeit dezidiert »sozialistische« Forschungspositionen vertreten. Während eine Rezeption und regelmäßige positive Erwähnung der pavlovschen Positionen dem entsprechen, was angesichts der Zensur zu erwarten war, ist der völlige Bruch mit älteren Forschungspositionen gerade im Vergleich mit den merklichen Kontinuitäten zum Thema Schizophrenie überraschend. Die Auswertung der Zeitschriftenartikel zu Schizophrenie hat gezeigt, dass es trotz Zensur möglich war, Aspekte der alten herrschenden 221 Bereits in der Weimar Republik erklärten die Psychotherapeuten Neurosen im Zusammenhang mit Arbeit nicht wie die herrschende Lehre als Folge von unrechtmäßigen Begehrvorstellungen, die dann zu Rentenneurosen führten. Die Psychotherapeuten sahen zwar, wie die Psychiater, auch sozialpolitische Gründe als ausschlaggebend an, aber auf andere Weise. Während die herrschende Lehre annahm, der Sozialstaat schaffe Renten­ neurotiker, weil er Platz für ihre Begehrvorstellungen lasse, gingen die Psychotherapeuten davon aus, dass Neurosen durch die schlechten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse ausgelöst würden. Vgl. hierzu: Neuner, S. 149 ff. 222 M. Bendrat, Zur Frage der Psychopathie, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie, 1 (1953), S. 70–77. 223 E. Klimková-Deutschová, Die Doppelbelastung der Frau im Arbeitsprozeß, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie, 3 (1962), S.109–113. 224 Stephan Török, Das Erlebnis der Arbeit, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie, 4 (1959), S. 118–121.

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Lehre aufrecht zu erhalten, und dass ­unterschiedliche ­Erklärungsstränge, die sich nicht alle in gleichem Maße an der im Sozialismus herrschenden Lehre orientierten, nebeneinander existieren konnten. Der eklatante Bruch in den psychiatrischen Forschungen zu »Arbeit« lässt sich durch eine ganze Reihe von Gründen erklären. Zuerst werden Ursachen für den Bruch mit der herrschenden Lehre und anschließend für die nicht erfolgte Wiederaufnahme von alternativen Forschungspositionen aus der Weimarer Republik angeführt. Anders als die Forschungen zu Schizophrenie standen diejenigen rund um Arbeit eher im Mittelpunkt der politischen und öffentlichen Aufmerksamkeit, sie betrafen einen Kernbereich der sozialistischen Lehre. Es ist anzunehmen, dass dies zu einem höheren Anpassungsdruck führte. Hierfür spricht, dass sich nicht etwa das gesamte Konzept der »Psychopathie« veränderte oder abgelöst wurde, sondern dass »Arbeit und Gesundheit« nicht mehr mit ihm erfasst wurden, der Bereich »Sexualität und Gesundheit« aber weiterhin unter »Psychopathie« subsummiert wurde. Das neue politische Umfeld bot hinsichtlich des Themenfeldes Arbeit jedoch gleichzeitig auch Chancen für die Psychiatrie und Neurologie. Arbeit, Leistung und Gesundheit fielen in der NS-Zeit hauptsächlich in den Bereich »Psychopathie«, die als »Krankheitsbild«225 eine Schnittstelle zwischen Psychiatrie und Sozialhygiene bildete und damit an der Grenze des medizinischen Kompetenzbereichs zu verorten war. Zwar bot dies die Möglichkeit, den psychiatrischen Bereich auf gesellschaftliche Fragen auszudehnen, allerdings musste die Psychiatrie so auch andere Expertengruppen neben sich dulden. Die konsequente Umdeutung des Spannungsfeldes Arbeit und Gesundheit entsprechend der sozialistischen Lesart der »Diktatur des Cortex« trug erheblich zu einer Somatisierung und damit zu einer eindeutigeren Pathologisierung bei. Von der Grenze zwischen Psychiatrie und Gesellschaft wurden psychische Auffälligkeiten im Zusammenhang mit Arbeit und Leistung nun an die Schwelle von Psychiatrie und Neurologie verlegt und fielen somit allein in den medizinischen Bereich.226 Die Verbindung zur Gesellschaft blieb natürlich immer noch gegeben und wurde auch unentwegt betont. Allerdings war nun eindeutig, dass andere Bereiche, wie etwa die betriebliche und soziale Fürsorge, den medizinischen Experten zuarbeiten mussten. Eine ähnliche, die Forschung durchdringende Pavlovisierung im Feld der Schizophrenie hätte hingegen nicht zu einem äquivalenten Machtzuwachs für die psychiatrische und neurologische Profession geführt. Das Krankheitsbild war bereits »somatisiert«. Abgrenzung gegen die etablierte Sichtweise war im Gebiet Schizophrenie vor allem gegenüber amerikanischen Positionen nötig, in denen diese Sichtweise massiv angezweifelt wurde. Eine 225 Wie bereits erwähnt, herrschte keine Einigkeit darüber, ob »Psychopathie« überhaupt ein Krankheitsbild sei. 226 Zu den geradezu professionsstiftenden Anstrengungen der Psychiatrie, sich als somatisches Fachgebiet der Medizin zu etablieren, vgl.: Engstrom, Psychiatry, S. 51 u. 60 f.

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solche Deutung soll nicht suggerieren, dass kein Wissenschaftler in der frühen DDR an die von ihm vertretenen Theorien nach sowjetischen Vorbild geglaubt hätte. Mit Sicherheit gab es auch manchen überzeugten Pavlov-Anhänger unter den Psychiatern. Der Direktor der Universitäts- und Nervenklinik Greifswald, Hanns Schwarz, ist ein Beispiel hierfür.227 Auf Grund der insgesamt hohen personellen Kontinuität unter den Ärzten zur NS-Zeit gibt es trotzdem Anlass, nach Ursachen für die veränderte Deutung im Bereich Arbeit zu suchen, die über einen Gesinnungswandel hinausgehen.228 Dass nicht nur westliche Positionen und solche der NS-Zeit, sondern auch die Weimarer Tradition keine Fortsetzung fand, lässt sich mit zwei Überlegungen erklären: Erstens gab es wenig personelle Kontinuität unter den Psychologen, die in Weimar eine hörbare Alternative zur herrschenden Lehre angeboten hatten. Viele Psychologen waren während des Nationalsozialismus emigriert und die verbliebenen Psychotherapeuten verfolgten eine systemkonforme Richtung.229 Zweitens standen die Psychotherapeuten in Weimar im weitesten Sinne in einer freudschen Tradition, die die sowjetische Forschung grundsätzlich ablehnte. Zwar betonten sowohl die freudsche Position als auch die pavlovsche exogene Faktoren und bildeten beide in dieser Hinsicht einen Gegenpol zur Vererbungslehre in der Psychiatrie. Die pavlovsche Forschung verstand sich aber im Gegensatz zur freudschen als dezidiert somatisch. Die in der Sowjetunion etablierte Lehre der höheren Nerventätigkeit besagte, dass der gesamte Organismus über die oberste Hirnschicht gesteuert werde, diese Steuerung jedoch durch Konditionierung stark beeinflussbar sei.230 Auswirkungen der pavlovschen Lehre in die psychiatrische Praxis Es ist zweifelsfrei festzustellen, dass der wissenschaftliche Austausch in der psychiatrischen Fachzeitschrift sowjetisch geprägt war. Die psychiatrische Sicht auf die Klagen über »Überarbeitung«, wie sie in der psychiatrischen Zeitschrift zu finden ist, fügt sich daher auch nahtlos in ein Bild der 1950er Jahre ein, in dem die Arbeiter zu sozialistischen Menschen erzogen werden soll227 Vgl. zu Hanns Schwarz den Sammelband: Fischer u. Schmiedebach. 228 Zu Recht wird vor der vorschnellen Anwendung des sogenannten »Interessenmodells« zur Erklärung von wissenschaftlichem Wandel gewarnt und darauf hingewiesen, dass letztlich oft nicht überzeugend nachgewiesen werden kann, dass Interessen als nicht wissenschaftsimmanente Faktoren erklärender sind als die Argumentation der Ärzte. In den nicht zu Unrecht hierfür kritisierten Studien war die Ausgangssituation jedoch eine grundlegend andere. Es geht in den entsprechen Arbeiten um die Durchsetzung neuer Deutungen und Behandlungsmethoden, ohne dass es wie im Fall der frühen DDR einen politisch-ideologischen Bruch gegeben hätte. So wurde z. B. die Zunahme operativer Eingriffe im 19. Jahrhundert professionsgeschichtlich mit dem Interesse gedeutet, sich als eigener wichtiger Berufsstand etablieren zu wollen. Vgl. hierzu: Schlich, Fakten, S. 112 f. 229 Zur systemkonformen Neuen Deutschen Seelenkunde im Zusammenhang mit Vorstellungen von Arbeit, vgl.: Neuner, S. 213. 230 Detailliert zur Entwicklung und Etablierung der Höheren Nerventätigkeit in der sowjetischen Forschung, vgl.: Rüting, S. 109 ff.

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ten.231 Es handelte sich hierbei jedoch nicht ausschließlich um eine Anpassung in der wissenschaftlichen Textproduktion. Auswirkungen auf die Praxis sind feststellbar. Die Diagnose »Psychopathie« im Kontext mit Patientenklagen über Arbeit wurde in den hier analysierten Kliniken und Anstalten immer weniger genutzt. Dies kann sowohl an der Vergabe von Diagnosen entsprechend der sowjetischen Lehre, etwa »Organneurose«232 als auch an der Krankheitsbeschreibung und Diagnostik in Rentengutachten gezeigt werden, in denen sich die Frage nach Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitsunwilligkeit besonders scharf stellte. Bei Patientinnen und Patienten, die über psychische und somatische Beschwerden durch die Arbeit klagten, wurde ganz entsprechend des psychiatrischen Diskurses nun öfter eine Arbeits- oder Organneurose diagnostiziert. Hierbei finden sich insbesondere in Greifswald, aber auch in Rodewisch und Großschweidnitz, Krankenbeschreibungen und Diagnosen, die eins-zu-eins das Konzept der Organneurose, wie es in den Artikeln der psychiatrischen Zeitschriften beschrieben wurde, auf die Patientin oder den Patienten anwandten. Die besonders umfassende Umsetzung der sozialistischen Diagnostik in Greifswald hing vermutlich mit ihrem Direktor, Hanns Schwarz, zusammen, der wie erwähnt ein Anhänger Pavlovs war.233 Ein Beispiel für die punktgenaue Umsetzung der neuen herrschenden Lehre ist die folgende Krankheitsbeschreibung der 24-jährigen Sina U., die 1955 wegen anhaltenden Schluckaufs in Greifswald aufgenommen wurde: »Im Februar ds. Js. trat plötzlich bei Abschluß eines politischen Lehrganges ein ­Ructus bei der Pat. auf, der sich nicht beherrschen ließ. Die Pat. hatte dabei keinen üblen Geschmack im Mund und auch nicht das Gefühl, daß diese Beschwerden aus dem Magen kämen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, daß die Pat. dem Niveau des Lehrgangs geistig nicht gewachsen war. – durch Bettruhe und entsprechende Medikation ließ der Ructus dann nach, und Frl. [U., d. Vf.] begann am 7.Mai wieder ihre Arbeit. […] Diagnostisch möchten wir diesen Ructus als Ausdruck einer Organneurose an­ sehen.«234

Sowohl Überforderung als auch Unterforderung sowie der Versuch, den jeweiligen Zustand zu kompensieren, galten als typische Gründe für Organneurosen. Sie wurden als Zeichen dafür aufgefasst, dass die Patientin oder der Patient bisher nicht an dem idealen Arbeitsplatz oder Tätigkeitsfeld beschäftigt war. Bei der Forderung nach dem optimalen Arbeitsplatz handelte es sich um ein zweischneidiges Schwert. Zwar war ein Wechsel der Tätigkeit in den Betrie231 Diesem Ziel diente, wenn auch relativ erfolglos, u. a. die Errichtung von Arbeitsbrigaden in den Betrieben. Vgl.: Roesler. 232 Im Unterschied zur Bundesrepublik wurden hier anders konzipierte Krankheitsbilder angewandt und nicht nur der Begriff »Psychopathie« gemieden, wie Kurt Schneider es empfohlen hatte. Der Begriff Organneurose ist allerdings kein spezifisch sowjetischer. 233 Schmiedebach, S. 41. 234 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1955/582, UA Greifswald, PsychN.

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ben der DDR relativ einfach zu ermöglichen, allerdings bedeutete diese Krankheitsauffassung auch, dass es eigentlich für jeden den geeigneten Arbeitsplatz gab. Dies hatte Auswirkungen auf Frühverrentungen. Unter dem Begriff »soziale Thera­pie« sollte statt einer Verrentung versucht werden, einen passenden Arbeitsplatz für Menschen zu finden, die krankheitsbedingt Rente beanspruchten.235 In den Rentengutachten der drei hier untersuchten psychiatrischen Einrichtungen blieb die »Rentenneurose« durchaus ein Thema, zu dem Ärzte Stellung nahmen, etwa wenn sie beurteilen sollten, inwiefern die Patientin oder der Patient den »Eindruck eines Rentenkämpfers«236 machte. Diese psychiatrische Sichtweise fügte sich gut in das ökonomisch begründete Anliegen der DDR ein, Verrentungen sehr kritisch zu prüfen.237 Zwar wurde in der NS-Zeit wie in der DDR durch Verweigerung von Rente versucht, die Arbeitskraft der Menschen aus ökonomischen Gründen möglichst lange zu nutzen. Wie dies umgesetzt wurde, unterschied sich jedoch trotz des fortlaufenden Sprechens über die »Rentenneurose« erheblich. Es ist festzustellen, dass in den Rentengutachten aus Greifswald, Rodewisch und Großschweidnitz in den 1950er und frühen 1960er Jahren keine Diagnosen und Beschreibungen von Patienten mehr zu finden sind, die um die in der NS-Zeit üblichen Begriffe von »Psychopathie« und »asozial« kreisten. Üblicherweise benutzten die Ärzte in der NS-Zeit diese Zuschreibungen, wenn sie keine als somatisch bedingt geltende Erkrankung fanden, etwa bei chronischen Kopfschmerzen. In den hier untersuchten Einrichtungen in der DDR wurden Rentengutachten zu solchen Beschwerden ohne die Nutzung des alten abwertenden Wortschatzes verfasst. Hier soll die Begutachtung von M ­ arie S. als Beispiel dienen, die über Kopfschmerzen klagte, die sie an der Arbeit hinderten. Marie S. wurde in einem 1957 in Greifswald ausgestellten Gutachten eine Erwerbsminderung von 50 Prozent mit der Diagnose »migränöser Verstimmungszustand 316K«238 bescheinigt. Nachdem die Ärzte festgestellt hatten, dass keine neurologischen Auffälligkeiten zu finden seien, wurde die Patientin in dem Gutachten abschließend folgendermaßen beschrieben: »Psychisch fällt die Pat. durch primitive Schilderung ihrer Beschwerden auf, die sie intensiv vorbringt. Ihre Stimmung erscheint ein wenig gedrückt. Diagnostisch möchten wir glauben, daß es sich um Kopfschmerzen und Verstimmungszustände handelt mit einem hypochondrisch wirkenden Beschwerdekomplex als Ausdruck von Migräneäquivalenten. Die Erwerbsminderung von seiten unseres Fachgebietes schätzen wir auf 50 %.«239 235 Werner Hollmann, Soziale Therapie und ärztliche Begutachtung der Arbeitsneurosen, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie, 8 (1956), S. 267–275, S. 274. 236 Der Ausdruck wird z. B. in einer aus Greifswald stammenden Stellungnahme vom 17.10.1960 benutzt. In diesem Fall wird darauf hingewiesen, dass der Arzt gerade nicht den Eindruck habe, als handele es sich um einen »Rentenkämpfer«. Vgl.: PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1960/986, UA Greifswald, PsychN. 237 Boldorf, S. 467. 238 PsychN Greifswald, Patientenakte vorl. Sign. 1957/794, UA Greifswald, PsychN. 239 Ebd., S. 5 im Gutachten.

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Die ärztliche Beschreibung blieb wertend, wenn etwa auf die »primitive Schilderung ihrer Beschwerden« hingewiesen wird, sie war jedoch frei von den während der NS-Zeit (und auch zuvor) üblichen, stark stigmatisierenden Kategorien »Asozialer« oder »Psychopath«. Grundsätzlich ist es möglich, dass Ärzte anderer Kliniken hier anders verfuhren. Die Weiterführung der Begrifflichkeiten hätte allerdings deutlich gemacht, dass die psychiatrische Forschung der Sowjetunion zum Komplex Arbeit von der Klinik nicht umgesetzt wurde. Es ist also anzunehmen, dass sich Rentengutachten generell der neueren Sprachregelung anpassten. Hierfür spricht ebenfalls, dass auch zeitgenössische Mediziner den begrifflichen Wandel der Begutachtung feststellten. In einem Vortrag zur sozialmedizinischen Begutachtung im Rahmen der 15.  Sitzung der Psychiatrisch-Neurologischen Gesellschaft an den Universitäten Greifswald und Rostock wurde diese Veränderung z. B. herausgestellt: »Der Gestaltwandel der abnormen Reaktionen von den grob demonstrativen Formen (Hysterie, Pseudo­ demenz) zu den Intimformen (Organneurose, vegetative Dystonie)  ist im sozialversicherungsmedizinischen Bereich besonders deutlich.«240 Allerdings sagt diese Umstellung nicht unbedingt etwas über die Akzeptanz des sowjetischen Ansatzes unter den Psychiatern der DDR aus. Sicher erscheint lediglich, dass sie sich zumindest in offiziellen Stellungnahmen an die herrschende Doktrin anpassten. Aber auch wenn es sich um eine funktionale Anpassung handelte, ist hier ein deutlicher Bruch zur NS-Zeit zu sehen.241 Obwohl die Diagnose »Psychopathie« im Zusammenhang mit Arbeit und Leistung in den 1950er Jahren kaum mehr vergeben wurde, verschwand sie nicht. In anderen Kontexten blieb sie eine wichtige Diagnose. Insbesondere in Gutachten auf Unzurechnungsfähigkeit, die sich mit Sexualdelikten befassten, wurde sehr oft »Psychopathie« diagnostiziert. Nonkonforme Sexualität war, wie gezeigt, in der Kriegszeit auch unter »Psychopathie« verhandelt worden, oft gemeinsam mit Arbeit, wie etwa im Falle von geschlechtskranken Frauen. Während sich das Motiv Sexualität in der DDR weiterhin als zentral für den Psychopathiediskurs erwies, war dies für Arbeit und Leistung nicht der Fall. Dieser Befund passt zu Sven Korzilius’ Ergebnissen der Untersuchung der strafrechtlichen Verfolgung »Asozialer« in der DDR. Korzilius stellt ebenfalls fest, dass in den 1950er Jahren zwar offiziell der »Arbeitsbummelei« der Kampf angesagt wurde, die strafrechtliche Verfolgung sich aber auf das Gebiet Prostitution, nicht auf das der Arbeit konzentrierte.242

240 Psychiatrisch-Neurologische Gesellschaft an den Universitäten Greifswald und Rostock. 15. Sitzung am 9. Mai 1956 in Greifswald anläßlich des 50-jährigen Bestehens der Univ.Nervenklinik Greifswald, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie, 1 (1957), S. 29–33, S. 30. 241 Zu Zusammenhängen von wissenschaftlicher Praxis und Politik, vgl.: Roelcke, Suche. 242 Korzilius, S. 201 ff.

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Die These, dass die Pavlovkampagne und die sowjetische Position in der medizinischen Forschung keine praktischen Auswirkungen in der DDR gehabt habe, ist zumindest für den psychiatrischen Umgang mit Erkrankungen im Kontext von Arbeit nicht haltbar.243 Hier ist bereits in den 1950er Jahren eine durch­ Pavlov geprägte Veränderung in der Praxis festzustellen: Ärzte stellten neue Fragen bei den Einweisungen, vor allem stellten sie aber auch andere Diagnosen. Die neuen Diagnosen rückten die Patientin oder den Patienten zwar nicht in ein positives Licht, aber anders als zuvor zielten sie nicht darauf ab, Menschen dauerhaft zu stigmatisieren und aus der Gesellschaft auszuschließen. Diese Veränderungen in der Diagnosepraxis vollzogen sich nicht plötzlich, aber frühzeitig. Patientinnen und Patienten, die Überarbeitung und Ermüdungserscheinungen bei der Arbeit anführten, wurden in Rodewisch und Greifswald in den Jahren 1946 bis 1949 noch häufig mit der Diagnose »Psychopathie« belegt, in den 1950er Jahren dagegen kaum mehr. Wenn die Diagnose »Psychopathie« im Zusammenhang mit Arbeit in den 1950er Jahren noch vergeben wurde, dann in solchen Fällen, in denen die Patientin oder der Patient nicht arbeitete, hingegen nicht mehr, wenn Patientinnen und Patienten lediglich über die Arbeit klagten.

4. Zusammenfassung: Arbeit und Leistung im Vergleich Arbeits- und leistungbezogene Krankheitsvorstellungen und -konzepte spielten sowohl in der nationalsozialistischen Kriegsgesellschaft als auch in den beiden deutschen Nachfolgestaaten des »Dritten Reiches« eine wichtige Rolle, wenn es um Entscheidungen an der Schwelle zur Anstalt oder darum ging, wie Psy­ chiater, Angehörige und Betroffene die Grenze zwischen »Normalität« und »Abweichung« zogen. Kontinuität und Wandel dieser Vorstellungen, Theorien und Praktiken lassen sich in acht Punkten zusammenfassen: Erstens spielten Arbeit und Leistung in den Einweisungsaushandlungen der Kriegszeit eine zentrale Rolle. Angehörige argumentierten mit ihnen nicht nur, um Einweisungen zu legitimieren, sondern auch, wenn sie Anstaltsaufent­halte verhindern wollten. Arbeitsfähigkeit wurde in letzteren Fällen als Beleg dafür herangeführt, dass die Patientin oder der Patient ein nützliches Mitglied der »Volksgemeinschaft« war und eine Anstaltsunterbringung nicht im Interesse dieser seien könne. Dieser Befund ergänzt den starken Fokus der Forschung auf »Arbeitsunfähigkeit« und »-wille« als Ausgrenzungskriterium im Nationalsozialismus. Zweitens waren arbeitsbezogene Argumentationen im Einweisungsprozess in beiden Nachfolgestaaten weiterhin wichtig, allerdings unterschieden sie sich 243 Vgl.: Ernst, S. 335 ff. Vgl. zur Einflussnahme des Regimes auf die Inhalte der Zeitschrift Psychiatre, Neurologie und medizinische Psychologie: Teitge, Kumbier.

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in der Bundesrepublik in einem zentralen Punkt von der Kriegszeit und der DDR: in den Einweisungen der Bundesrepublik wurden keine Zusammenhänge zwischen der Leistung des Einzelnen und dem Wohlergehen aller hergestellt. Hier ist zu vermuten, dass die entsprechenden Argumentationen in der NS-Zeit und der DDR eine (instrumentelle) Aneignung und Nutzung der Propaganda der beiden Staaten durch Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen darstellten. Drittens veranlassten die Polizei und die Gesundheitsämter in der Bundesrepublik und der DDR deutlich seltener Einweisungen mit Begründungen, die sich um die Arbeitsfähigkeit und den Arbeitswillen der Patientin oder des Patienten drehten. Dies hängt mit den neuen Einweisungsmodi in beiden Staaten zusammen, die dazu führten, dass es viel weniger polizeiliche und amtsärztliche Einweisungen gab. In der DDR ist dies auch darauf zurückzuführen, dass in den 1950er Jahren der Fokus eher auf Prostituierten und Geschlechtskrankheiten lag als auf dem Ausschluss »Asozialer«. Es ist zwar gut möglich, dass die für die Kriegszeit gezeigten Verbindungen zwischen Leistungsfähigkeit und Geschlechtskrankheiten bei Frauen in der Bundesrepublik und der DDR weiter existierten. In der Einweisungspraxis sind sie allerdings nicht zu sehen, weil Geschlechtskranke nicht mehr nur auf Grund der venerischen Erkrankung in psychiatrische Anstalten kamen. Viertens waren die Kontinuitäten zwischen »Drittem Reich« und Bundes­ republik im Bereich der Vorstellungen vom gesunden und kranken Selbst deutlich größer als in der DDR. Dies gilt sowohl für die Perspektive der Patientinnen und Patienten als auch für die der Ärzte. Während im Zweiten Weltkrieg und in der Bundesrepublik die eigene Arbeitsleistung von großer Wichtigkeit für populäre Vorstellungen von Gesundheit war und sich eingewiesene Menschen regelmäßig »Überarbeitung« als Krankheitsursache zuschrieben, galt dies in der DDR nur für wenige berufliche Gruppen, die besonders an den gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten partizipierten, die die frühe DDR bot. Auch unterlagen der ärztliche Diskurs und die Praxis in der Bundesrepublik lediglich kleineren Veränderungen, während sie sich in der DDR deutlich wandelten. Der Psychopathiediskurs wurde, soweit er sich auf das Arbeitsverhalten bezog,244 von dem um Organ- und Arbeitsneurose abgelöst. Das hatte auch Auswirkungen auf die ärztliche Praxis. Die Tatsache, dass die Ärzteschaft in der DDR dem neuen Regime distanziert gegenüber stand, bedeutete nicht, dass sie die neuen Wissensbestände nicht anwandte. Dies mag zwar allein darauf zurückzuführen sein, dass Gutachten zur Erwerbsfähigkeit den geschützten Raum der eigenen medizinischen Institution verließen. Trotzdem sind hier zum einen eindeutige Veränderungen auch für die Patientinnen und Patienten zu konstatieren. Zum anderen ist auch eine solch funktional motivierte Anpassung aufschlussreich

244 Dieser Befund sagt nichts über die Weiterführung des Psychopathiediskurses in anderen Themenfeldern aus.

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für die in diesem Fall weitreichenden Auswirkungen der Beziehungen zwischen Wissenschaft und Politik in der Praxis.245 Die Klassifizierung und Bewertung von »Überarbeitung« hing in der Bundesrepublik stark von einzelnen Ärzten ab und differierte auch innerhalb einzelner Anstalten. In der DDR waren die Unterschiede geringer. In Greifswald ist jedoch eine besonders konsequente Umsetzung des pavlovschen Ansatzes zu konstatieren. Die psychiatrische Bewertung des arbeitenden Menschen basierte  – fünftens  – in Ost und West auf zwei unterschiedlichen Modellen. Dem sowjetischen Konzept lag das Modell eines ermüdenden »menschlichen Motors« zugrunde.246 In den Artikeln der Zeitschrift Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie wird ein ausgewogener Wechsel zwischen Aktivität und Ruhe als Rezept gegen Überarbeitungserscheinungen gepriesen.247 Auch einigen Formen der »Organneurose« liegt die Vorstellung zu Grunde, dass sich der Mensch über seine Kapazitäten hinaus belaste.248 Das westdeutsche Psychopathie-Konzept dagegen stellt eine determinierte Variante des später als »Humankapital« bekanntgewordenen Konzepts dar.249 Auf der einen Seite wurde von der Patientin oder dem Patienten erwartet, dass sie oder er sich unter erheblichen Anstrengungen selbst optimierte, um der Arbeitsanforderung gewachsen oder attraktiv für den Arbeitsmarkt zu sein. Auf der anderen Seite wurden die Gründe dafür, dass manche Patientinnen und Patienten dies nicht taten, in essentialistischen Vorstellungen von Schicht- (der anhaltende Diskurs über Vererbung von »Psychopathie«) und Geschlechtszugehörigkeit (der weibliche Körper als natürliche Begrenzung der Leistungsfähigkeit  – sofern diese außerhalb des Hauses stattfand) gesucht. Die Einstellung zur Arbeit und das Bemühen, sich selbst den Anforderungen anzupassen, rechneten die Ärzte etwa in den Gutachten zur Erwerbsminderung positiv an. Die Patientinnen und Patienten machten in diesen Fällen aus ärztlicher Sicht nicht den Eindruck eines »Psychopathen« oder »Rentenneurotikers«. Die Frage danach, ob eine Patientin oder ein Patient ein »Rentenneurotiker« sei, blieb auch in der DDR wichtig. Zum einen wurde zugestanden, dass die Bürger erst die sozialistische Arbeitseinstellung lernen müssten und zum anderen ist anzunehmen, dass der »Rentenkämpfer« ein passendes Versatzstück war, um nicht zu vielen Rentengesuchen stattzugeben. Sechstens variierte die Pavlovrezeption in der DDR je nachdem, ob es sich um Schizophrenie oder arbeitsbezogene Abweichungen handelte. Der Grad der Anpassung hing sowohl von der »politischen« Bedeutung des Krankheitsgebiets 245 Zur Bedeutung von Politik in den unterschiedlichsten Stadien wissenschaftlicher Praxis, vgl.: Roelcke, Suche. 246 Vgl. zum Modell des ermüdbaren menschlichen Motors: Sarasin. 247 Vgl. exemplarisch: Hoppe, S. 23–28. 248 Wie bereits erwähnt, wurden Organneurosen als Konsequenz von Unter- aber auch von Überforderung konzipiert. 249 Zur Durchsetzung des (nicht-determinierten) Konzepts des Humankapitals in der westlichen Welt im und durch den Kalten Krieg, vgl.: Bernet u. Gugerli.

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ab als auch davon, ob die sozialistische Position den medizinischen Anspruch der Profession stärkte, wie im Fall der neuen Diagnostik zu »Arbeitsbeschwerden«, oder nicht. Siebtens wies die Bedeutung von Arbeit für ein gesundes Selbst zwar geschlechtsspezifische Momente auf, diese waren aber weniger ausgeprägt als die bisherige Forschung nahelegt. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass nicht nur Männer, sondern auch Frauen in den 1940er und 1950er Jahren ihr gesundes Selbst über Arbeit definierten. In der DDR ist diese Selbstzuschreibung bei Frauen sogar häufiger zu finden, da sie bei erwerbstätigen Patienten schnell unwichtig wurde, in der Hausarbeit aber fortbestand, die weiterhin als Frauensache galt. Die Ergebnisse zur »Überarbeitung« relativieren dieses Bild wieder etwas: Unter den extremen Bedingungen des Krieges war »Überarbeitung« für Männer nicht sagbar; das deutet auf einen gesellschaftlichen Konsens über einen durch Arbeit und Leistung definiertes Männerbild hin. Die Akzeptanz von »Überarbeitung« bei erwerbstätigen Ehefrauen lässt dagegen andere gesellschaftliche und familiäre Erwartungshaltungen an Frauen erkennen: Arbeit in Form von Haushalt oder Erwerbsarbeit bestimmten die Selbstzuschreibungen von Frauen stärker, als dies Familie und Gesellschaft (sowie die aktuelle Forschung) erwarteten. Achtens kann festgestellt werden, dass die Familie in der frühen DDR eine große Rolle in den Narrativen der Patientinnen und Patienten spielte. Auch bei Einweisungen, die vom Betrieb aus initiiert wurden, handelte es sich aus Sicht der Eingewiesenen meist um ein familiäres Problem, das sich lediglich im Arbeitskontext manifestierte. Mit der Dichotomie Erwerbsarbeit und Freizeit lässt sich dieser Befund jedenfalls nicht beschreiben. Inwiefern die Bereiche Erwerbsarbeit und Privatleben zueinander gewichtet wurden und miteinander verflochten waren, lässt sich nicht nur an der Frage nach dem Maß an verfügbarer Freizeit und der Möglichkeit zu konsumieren festmachen, sondern gestaltete sich in der frühen DDR komplexer. Die Bedeutung der Lebensbereiche außerhalb der Erwerbsarbeit war zumindest im Zusammenhang mit geistiger Gesundheit und Wohlbefinden in der DDR nicht geringer als in der Bundesrepublik.

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Fazit Rückschau und Ausblick auf die Patientenakte als Quelle: Ein Plädoyer für die Kombination von hermeneutischem und funktionalem Ansatz Martina R., deren Einweisung in die Landesheilanstalt Marburg durch diese Studie geführt hat, wurde nach vier Wochen »als gesund nach Hause entlassen«1. In der Krankenakte ist notiert: »Es werden alle Schwierigkeiten ihres Lebens durchgesprochen u. feste Pläne für die Zukunft gemacht. Sie soll nicht zurück in das Haus ihrer Schwiegermutter, sondern zu anderen Verwandten, die bereit sind, sie und ihre Kinder aufzunehmen.«2 Auch im Zuge der Entlassung wird also die Relevanz der Familie betont, die als ein zentrales Ergebnis dieser Studie festzuhalten ist: Einweisungsentscheidungen können nur unter Berücksichtigung der Familien der Patientinnen und Patienten, dieser selbst und ihres sozialen Umfelds verstanden werden. Dieser Befund basiert maßgeblich auf der Analyse von 1424 Patientenakten. Deren Nutzung als Quelle ist allerdings nicht unumstritten. In den letzten Jahren ist angezweifelt worden, ob Krankenakten überhaupt aussagefähig für »inhaltliche« Fragen seien.3 Viele Studien konzentrieren sich auf eine funktionale Interpretation von Krankenakten, nicht auf eine hermeneutische Analyse.4 Dementsprechend wächst unser Wissen zur Entstehung psychiatrischen Wissens auf der einen Seite erfreulicherweise kontinuierlich an. Auf der anderen Seite wird der sozial- und gesellschaftsgeschichtlichen Einbettung der Psychiatrie, insbesondere unter der Berücksichtigung nicht-institutioneller Akteure, weit weniger Interesse entgegengebracht. Es herrscht mehr Einigkeit darüber, dass Krankenakten sinnvoll auf Verbindungen zwischen ärztlicher Dokumenta1 LHA Marburg, Patientenakte Sign. 16K10740F, Eintrag v. 18.4.1946. 2 Ebd., Eintrag v. 14.4.1946. 3 Nachdrücklich dagegen spricht sich u. a. aus: Ledebur, S. 144 f. Zur der dieser Kritik vorange­ gangenen Forderung Roy Porters den Blick des Patienten in medizinhistorische Untersuchungen miteinzubeziehen, siehe den viel zitierten Artikel: Porter, View, S. 175–198. Zur seltenen Umsetzung dieser Forderung, vgl.: Meier u. a., S. 41. 4 Diese Arbeiten befassen sich vor allem mit der Entstehung von psychiatrischem Wissen. Auf vielen ihrer Ergebnisse baute diese Studie auf ohne jedoch selbst einen in erster Linie wissensschaftsgeschichtlichen Zugang zu wählen. Für diese Studie als besonders wichtig zu nennen sind hier vor allem vier Sammelbände, zwei davon zu ärztlichen Fallberichten, und Monographien zu den Krankheitsbildern Schizophrenie und Multiple Sklerose, auf ­ ehrens die regelmäßig rekurriert wurde: Behrens u. Zelle, Fallbericht; darin insbesondere: B u. Zelle, Vorwort, S.  VII–XII; Brändli u. a.; Wernli; Hess u. Schmiedebach; Bernet, Schizophrenie; Murray. Zu nennen sind zudem stellvertretend für andere: Hess, Beobachtung, S. 293–340; Ledebur.

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tionspraxis und Verwaltungsfunktionen untersucht werden können als d ­ arüber, inwiefern sie auch den Blick von Patientinnen und Patienten spiegeln.5 Teils wurde mit Nachdruck betont, dass die Aussagekraft von Krankenakten auf die Analyse von »institutionellen Vorgaben der Führung der Krankenakten« und deren »Materialität und Medialität« beschränkt sei.6 Völlig zu Recht wird ­darauf hingewiesen, dass die »institutionellen Vorgaben der Führung der Krankenakten« und deren »Materialität und Medialität« analysierbar sind und aussagekräftig für das Verhältnis von Politik und Wissenschaft, vor allem aber um die Institutionsgebundenheit wissenschaftlicher Praxis zu rekonstruieren.7 Die Argumentation gegen eine hermeneutische Analyse erscheint vor dem Hintergrund dieser Arbeit jedoch nicht in allen Punkten zutreffend. Der Zweifel an der Aussagekraft der Krankengeschichten – über eine funktionale Analyse hinaus – beruht auf der Annahme, in modernen Gesellschaften werde Krankheit mit Unordnung in Verbindung gesetzt, »die nach wissenschaftlichen Maximen behandelt und gemäß vernünftigen Prinzipien geordnet werden muss. Damit fällt genau das, was in der jeweiligen Ordnung keinen Platz findet, die subjektive Sichtweise des Wahns, aus dem Protokoll und entzieht sich per se der (historischen) Rekonstruktion. Die nach Foucault im Zeitalter der Vernunft verstummten Stimmen des Wahnsinns werden somit als eine oft gesuchte und ebenso oft fälschlicherweise gefunden geglaubte Quelle der Psychiatriegeschichte charakterisiert.«8 Allerdings können auf Basis dieser Studie gute Gründe dafür angebracht werden, warum dies keine stichhaltige Argumentation gegen die hermeneutische Interpretation psychiatrischer Krankenakten ist. Die Argumentation setzt die Zuschreibung von »Wahnsinn« und Anstaltsbedürftigkeit als gegeben voraus. Diese Sichtweise lässt die wichtige Tatsache außer Acht, dass »Nicht-Normalität« und »Wahnsinn« gerade an der Schwelle zur Anstalt konstruiert werden. Die Schwelle zur Anstalt ist jedoch, wie in dieser Arbeit gezeigt, nicht allein durch institutionelle Akteure  – wie Ärzte und Anstaltsverwaltung  – geprägt, sondern auch durch die Funktion, welche die Anstalt für die Familien der Eingewiesenen, ihr soziales Umfeld und manchmal auch für die Patientinnen und Patienten selbst hatte. Die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Mehrwert 5 Vgl. zu diesem Meinungsbild: Tagungsbericht Psychiatrische Krankenakten als Material der Wissenschaftsgeschichte. Methodisches Vorgehen am Einzelfall. 17.05.2007–19.05.2007, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 10.06.2007, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/ id=1602 (letzter Zugriff: 21.6.2014). 6 So begründet Sophie Ledebur ihre Entscheidung für eine rein funktionale Analyse der psychiatrischen Krankenakten der Wiener Anstalt Am Steinhof damit, dass grundsätzlich zwischen einem funktionalem und einem hermeneutischen Ansatz zu unterscheiden sei, wobei der hermeneutische erfolglos versuche zu rekonstruieren, was die Quelle schlechterdings nicht hergebe, nämlich »Erfahrungswelten und Bedeutungshorizonte der Betroffenen«. L ­ edebur, S. 144 f. 7 Ebd., S. 145. Vgl. hierzu auch: Bernet, »Eintragen«, S. 64; Sammet, S. 339–367. 8 Meier u. a., S.41; paraphrasiert auch in: Ledebur, S. 145.

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von Krankenakten ist nicht auf die Dichotomie Arzt-Patient beschränkt. In dieser Studie hat sich gezeigt, wie aussagekräftig Patientenakten gerade für das Verhältnis der Familien der Patientinnen und Patienten zu medizinischen Einrichtungen und Ärzten sein können. Bei der Annäherung an das soziale Umfeld standen Briefe an die Anstalten zur Verfügung, es wurden jedoch auch Angaben in der Krankenakte berücksichtigt. Die Studie hat verdeutlicht, dass Krankenakten auch für die historische Verortung der Patientinnen und Patienten aufschlussreich sind. Zum einen passen bei weitem nicht alle Patientinnen und Patienten in das Bild des »ungeordneten Wahns«9, zum anderen muss und sollte das Ziel einer hermeneutischen Analyse nicht die Rekonstruktion von »Stimmen des Wahns« sein. Letzteres war auch kein Anliegen dieser Arbeit. Noch weniger ging es darum, »Einblicke in die Welt des Wahns« zu erhalten und authentische Stimmen des Wahnsinns zu rekonstruieren.10 Für Verstehbarkeit eines Teils der Patientenstimmen in den Anamnesen können hingegen einige Argumente angebracht werden. Grundsätzlich ist zwischen psychiatrischen und psychologischen Fragmenten zu unterscheiden. Die hier interpretierten psychiatrischen Anamnesen oder Explorationen enthalten keine psychologischen Deutungen, etwa Traumdeutungen11 oder Deutungen von Kindheitserlebnissen,12 aus denen die Stimmen der Patientinnen und des Patienten extrahiert werden müssten. Zudem kamen Menschen aus höchst unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlichen Stadien verschiedener Erkrankungen in die Anstalten. Viele von ihnen waren nicht entmündigt und wurden auch bei Anstaltseintritt nicht entmündigt. Dies weist darauf hin, dass nicht alle Patientinnen und Patienten unterschiedslos und in jeder Hinsicht als völlig irrational handelnde Personen eingeordnet wurden. Selbst bei der großen Zahl von Erkrankungen, deren Krankheitsbild sogenannte »Denkstörungen« kennzeichneten, z. B. Schizophrenie oder manischdepressives Irresein (MDI), nahmen zeitgenössische Psychiater an, dass auch diese Patientinnen und Patienten ihre Erkrankung zu Beginn oder in bestimmten Phasen selbst beschreiben und einordnen konnten. Die Ärzte auf beiden Seiten der ideologischen Mauer des Kalten Krieges vertraten z. B. den Standpunkt, dass selbst »Schizophrene« ihre Krankheit in den Anfangsstadien beschreiben konnten, obwohl diese ansonsten als das »Kranke« und »Fremde« schlechthin 9 Viele Patientinnen und Patienten waren nicht so krank, dass sie ihre Situation nicht mehr reflektieren konnten, oder ihre Erkrankungen verliefen schubförmig, so dass es teils von der gleichen Person äußerst geordnete und kaum verständliche Äußerungen oder Briefe gab. 10 Zum Einwand, ein hermeneutischer Ansatz ziele darauf ab »Erfahrungswelten« und »verstummte Stimmen des Wahnsinns« zu rekonstruieren, vgl.: Ledebur, S. 144. 11 In der Traumdeutung ist es z. B. kaum möglich, die Stimme der Patientin oder des Patienten von der Deutung des Arztes zu isolieren, vgl.: Behrens u. Zelle, Vorwort, S.XI. 12 Psychiatrie und Psychologie gingen in den 1940er bis 1960er Jahren weitgehend getrennte Wege. Insbesondere in den staatlichen Anstalten herrschte ohne Zweifel die Psychiatrie vor, die sich in sehr großen Teilen als somatische Disziplin verstand. Zum lange separaten Weg der Psychologie, vgl.: Roelcke, Psychotherapy, S. 486 f.

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galten.13 Sowohl in Universitätskliniken als auch in den Anstalten gab es auch neurologische Abteilungen. Bei vielen neurologischen Patientinnen und Patienten war nie die Rede von »Wahnsinn«. Zudem wurde Anstaltsbedürftigkeit innerhalb des Untersuchungszeitraums z. B. auch auf Grund von Geschlechtskrankheiten oder bei sogenannten »Asozialen« festgestellt. Ohne Frage sollte Vorsicht geboten sein, diesen beiden Gruppen das Vermögen, sich verständlich zu äußern, abzusprechen. Egodokumente – insbesondere sei hier an Briefe der Patientinnen und Patienten an die Anstalt gedacht – in den Krankenakten zeigen darüber hinaus ganz eindeutig, dass es Patientinnen und Patienten gab, die problemlos in der Lage waren, ihre Krankheit und ihre damit verbundenen Anliegen selbst zu rationalisieren. Etwa, wenn sie allgemein akzeptierte Gründe für einen Anstaltsaufenthalt, wie die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, anbrachten, bewegten sich die Patientinnen und Patienten durchaus auf dem Spielfeld der rationalen Argumentation einer modernen Industriegesellschaft.14 Wie Jens Gründler für seine Krankenakten in Schottland festgestellt hat, kann auch hier konstatiert werden, dass Egodokumente oft eins zu eins in die Akte übertragen wurden und daher nicht von einer Filterung der Aussagen bis zur Unverwertbarkeit auszugehen ist.15 Gerade das in den letzten Jahren geschärfte Verständnis für die spezifischen Bedingungen, unter denen Patientenakten entstehen, ermöglicht eine reflektierte und behutsame Inhaltsanalyse, die sich dabei stets ihrer Grenzen bewusst bleibt. Im Laufe dieser Arbeit wurden daher die Entstehung der Krankenakten, ihre Materialität, ihr Zustand und ihr Zweck immer wieder reflektiert. Beispielsweise wurden Angaben aus Lehrbüchern und psychiatrischen Zeitschriften dazu berücksichtigt, welche Fragen im Laufe einer Anamnese gestellt werden sollten. Aber auch die veränderten Bedingungen unter denen die Krankengeschichten entstanden und die insbesondere in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg den materiellen Mangel spiegelten, wurden in der Studie festgehalten. In Ergänzung zur inhaltlichen Analyse der Krankenakten lassen sich auch in ihrer Entstehung und Materialität Umstände der Einweisung erkennen. Beispielsweise spiegelt bereits das Papier der Krankenakte Martina R.s, die durch diese Arbeit geführt hat, die rudimentäre Ausstattung der Anstalten in den ersten Nachkriegsjahren. Martina R.s Krankengeschichte war auf den Formblättern der Landesheilanstalt Haina aufgenommen. Da es anscheinend nicht möglich war, neue Formblätter für die eigene Anstalt drucken zu lassen, nutzte die LHA Marburg 1946 die Vordrucke der ebenfalls in Hessen gele13 So ist beispielsweise in einem Artikel aus Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie vom April 1955 zu Schizophrenie beschrieben: »Solange der Krankheitsprozeß sich noch im Anfangsstadium befindet, können die Kranken das subjektive Bild ihrer Erkrankung beschreiben.« Tscholakow, S. 97. 14 Selbstverständlich gilt dies nicht für alle Patientinnen und Patienten. So gibt es in der Stichprobe für diese Arbeit auch Egodokumente, deren Sinn sich nicht unmittelbar erschließt. 15 Gründler, S. 115.

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genen Anstalt Haina. In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden in Marburg Aktendeckel so oft wiederverwendet, dass es zum Teil schwierig ist, auf den ersten Blick zu sagen, wessen Patientengeschichte sich zwischen den Aktendeckeln befindet. Die Angaben zu den Patientinnen und Patienten sind häufig auf losen, nicht standardisierten Blättern vermerkt. Kontexthistorische Spezifika prägten so die Krankenakte sowohl in ihrer Materialität als auch in ihrem Inhalt. Insgesamt spiegeln Krankenakten zwar sicher nicht die Biographien oder Gefühlslagen der Patientinnen und Patienten adäquat wider. Sie stellen jedoch eine wertvolle Quelle für Studien dar, die psychiatrie- und gesellschaftsgeschichtliche Fragen verbinden, da sie ein Artefakt der Interaktion des Klinik- und Anstaltspersonals mit anderen Institutionen sowie der Patientinnen und Patienten und ihrem sozialen Umfeld sind. Medizinhistorische Quellen auf alltags- und gesellschaftsgeschichtliche Fragen hin zu untersuchen, wäre auch vielversprechend, um einige in dieser Studie nur angerissene Themenfelder für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu behandeln. Gender- und altersspezifisch verortete psychische Krisen, wie Pubertät oder »Midlifecrisis«, aber auch die genderspezifische Zuschreibung von somatischen Krankheiten oder Veränderungen wären einer Analyse wert. Gerade die Bewertung altersspezifischer Krankheitserscheinungen durch Laien, Ärzte und Institutionen könnte auf Grund der systemspezifischen Unterschiede in der Altersvorsorge insbesondere im Ost-West-Vergleich aufschlussreich sein. Zu denken wäre auch an die in dieser Arbeit ab und an behandelten Krankheitsbilder Multiple Sklerose und Alkoholismus. Multiple Sklerose galt noch in den 1940er und 1950er Jahren als eine Krankheit, von der mehrheitlich Männer betroffen seien, während heute davon ausgegangen wird, dass die allermeisten Erkrankten Frauen sind. Hier stellt sich die Frage, inwiefern diese Veränderung mit genderspezifischen Verhaltensmustern im Arzt-Patient-Kontakt und mit der Selbstzuschreibung von Krankheit angesichts unterschiedlicher Alltagsanforderungen und Rhythmen zu tun hat. Alkoholismus wurde lange vor allem als männliches Problem gesehen.16 Auch hier könnte nach familiärer und gesellschaftlicher Rollenzuschreibung, Alltagsanforderungen sowie schichtspezifischen Problematisierungsdiskursen und ihren Veränderungen oder Kontinuitäten geforscht werden. Fragen solcher Art haben sich in dieser Studie in Kombination mit wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten als äußerst produktiv erwiesen: Die Ergebnisse des Vergleichs der Einweisungspraxis im »Dritten Reich«, der Bundesrepublik und der DDR verändern erstens unsere Vorstellungen über die Beziehungen von Staat, Wissenschaft und sozialer Praxis. Zweitens führen sie zu einem differenzierteren Bild der dominierenden Konzepte eines gesunden Selbst in arbeitszentrierten Staaten bzw. Gesellschaften. Drittens sind sie aufschlussreich für das Verhältnis von Freiheit(-sgrenzen), Gesellschaft und Staatlichkeit. 16 Zur Weimarer Republik und zur NS-Zeit, vgl. hierzu: Hauschildt.

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Staat – Wissenschaft – soziale Praxis Die Psychiatrie als Institution hatte in allen drei politischen Systemen nur geringen steuernden Einfluss auf die Entscheidung, wer eingewiesen wurde und wer nicht. Zwar ist die Einweisungspraxis geprägt durch die jeweils spezifische Einbettung medizinischer Institutionen in den Staat und ihre systemabhängige Ausrichtung. Hier handelt es sich jedoch in erster Linie um indirekte und nichtintendierte Auswirkungen des Gesundheitssystems, die die Machtrelationen an der Schwelle zur Anstalt tangierten: In der NS-Zeit mussten die Anstalten bei Überweisungen durch das Gesundheitsamt aufnehmen; dies beförderte Koalitionen zwischen dem sozialen Umfeld und den Amtsärzten. Die Einrichtung von Polikliniken in der DDR als ambulante Einrichtung verlagerte das Machtgefüge noch deutlicher zugunsten der medizinischen Laien. Die Patienten trafen Entscheidungen nun seltener in Räumen ärztlicher Expertise und öfter zu Hause. Soziale Aushandlungspraktiken zwischen privaten und institutionellen Akteuren betteten sich also in staatlich geschaffene Voraussetzungen ein. Nicht festzustellen ist jedoch eine erfolgreiche Steuerung von Einweisungsentscheidungen durch die Psychiatrie. In diesem Sinne kann eine relative Unabhängigkeit der psychiatrischen Einweisungspraxis von dem jeweiligen staatlichen System konstatiert werden: Entscheidungen nicht-institutioneller Akteure bestimmten während des Zweiten Weltkrieges, in der frühen Bundesrepublik und in der DDR wesentlich den Zugang zu psychiatrischen Einrichtungen. Hierzu zählen Patientinnen und Patienten, ihr soziales Umfeld – etwa Nachbarn und Nachbarinnen –, vor allem aber die eigene Familie. Diejenigen institutionellen Akteure, die immer an Einweisungen beteiligt waren, die Anstalts- und Klinikpsychiater, waren zudem nicht nur maßgeblich auf die Kooperation von Familien und Betroffenen angewiesen. Zusätzlich bedurfte es einer Initiative von außen und im Anschluss waren sie auf Informationen aus dem medizinischen Vorfeld angewiesen. Die ärztliche Zuschreibung von Krankheit war zwar zwingend notwendig, um die Einweisung zu legitimieren. Umgekehrt führte eine solche Zuschreibung allein aber nicht zu Einweisungen. In allen drei Systemen wurden Patientinnen und Patienten oft schon Jahre vor einem ersten Anstaltsaufenthalt psychiatrisch diagnostiziert. Aufgenommen wurden sie jedoch erst dann, wenn ihr soziales Umfeld sie nicht mehr für tragbar hielt oder – wohlgemerkt seltener – wenn die Betroffenen selbst dies anstrebten: Medizinische Kriterien waren für eine Einweisung notwendig, aber nicht hinreichend. Der Einfluss nicht-institutioneller Akteure auf medizinische Psychiatrisierungsentscheidungen ist in allen drei Systemen aussagekräftig für die Funktion von Psychiatrie in modernen, industrialisierten und planungsbasierten Gesellschaften. Psychiatrien wurden im Anschluss an Foucault als Indikatoren und Symbole der Moderne im Sinne von rationalisierten und planungsbasierten Gesellschaften beschrieben. Hier würden demnach die »Wahnsinnigen«, die Unberechenbaren, die Irrationalen nach wissenschaftlich-medizinischen Kriterien eingesperrt, für die in der »vernunftbasierten« Moderne kein Platz 300

ist.17 Diese Studie zeigt jedoch, dass der Zugang zu Psychiatrien zum einen gar nicht maßgeblich in der Hand von wissenschaftlichen Akteuren (Ärzten) oder anderen Akteuren lag, die einem Rechtfertigungszwang im Rahmen staatlicher Institutionen (Richtern) unterlagen. Zum anderen beschrieben die potentiellen Vertreter wissenschaftlicher Rationalität und Objektivität, die Psychiater, Einweisungsentscheidungen und Zuschreibungen von psychiatrischen Erkrankungen ihrerseits als eine intuitive Fähigkeit, der sie selbst die Wissenschaftlichkeit absprachen. Diese Selbstbeschreibung korreliert mit den Erkenntnissen zu psychiatrischen Praktiken dieser Studie: So führte mehr psychiatrisches Wissen in Form immer ausgefeilterer medizinischer Klassifikationen nicht zu einer einheitlicheren Praxis. Die obligatorische diagnostische Zuordnung im Zuge der Aufnahme hing vielmehr stark von der jeweiligen lokalen medizinischen Tradition ab. Diese lokale Gebundenheit steht im Zusammenhang mit der mächtigen Position der Anstalts- und Klinikleiter. Zugleich ist sie als Ergebnis von Pfadabhängigkeiten in der Praxis und von Voraussetzungen vor Ort zu verstehen, etwa räumlicher Aufteilungen. Gerade für die stark anwendungsbezogene Wissenschaft Medizin – mutmaßlich jedoch nicht nur für diese – legen die Ergebnisse dieser Studie eine große Diversität der Praktiken auf mittlerer institutioneller Ebene nahe. Ohne lokal geprägte tacit knowledge sind psychiatrische Aufnahmen gar nicht zu denken. Die Vorstellung von Wissenschaft als Instrument erfolgreicher zentraler Steuerung und Vereinheitlichung von Körper- und Verhaltensdeutungen und damit von sozialen Inklusions- und Exklusionsmechanismen wird durch die vorliegende Studie nicht gestützt. Dies ist bemerkenswert, da der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit in eine Periode fällt, die in besonderem Maße für ihren Glauben an Wissenschaftlichkeit und für ihre Planungseuphorie bekannt ist.18 Zumindest in den hier untersuchten Einweisungsprozessen findet sich davon in der Praxis nur wenig wieder. Von einer Verwissenschaftlichung sozialer Inklusions- und Exklusionsprozesse an der Schwelle zur Anstalt, die Spuren in der Praxis hinterließ, kann keine Rede sein. Sowohl die Selbstbeschreibung von Psychiatern als Kennern und Praktikern als auch der Wissensfluss von Familien zu »Experten« sprechen dagegen. Konstatiert werden kann dagegen ein für moderne Gesellschaften spezifischer Einordnungs- und Rationalisierungszwang. Die kausale Einordnung von Krankheiten und psychischen Ausnahmesituationen in den Lebensweg des Betroffenen durch diesen selbst und seine Umgebung zählen ebenso hierzu wie die ärztliche Suche nach dem perfekten Diagnosesystem. Die Quellen spiegeln Optimismus und Fortschrittsglaube und in diesem Sinne eine Beeinflussung medizinischer Laien durch wissenschaftliche Konzepte wider, nicht jedoch eine folgenreiche Verwissenschaftlichung der Einweisungspraxis: Neue T ­ herapien 17 Foucault, Psychologie, S. 132. 18 Zu Prozessen von Verwissenschaftlichung und Wissensgesellschaft in dieser Zeit, vgl.: Szöllösi-­Janze, Wissensgesellschaft.

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fanden so in der frühen Bundesrepublik und der DDR Eingang in die Argumentationen medizinischer »Laien«. Insbesondere Frauen eigneten sich Wissen über medizinische Behandlungsmöglichkeiten an. Diese Studie belegt eine stark geschlechtsspezifische medizinische Expertise in Familien auch für die 1940er bis 1960er Jahre. Kennzeichnend für den Transfer medizinischer Expertise in breitere Bevölkerungskreise ist jedoch zum einen, dass er sich auf Behandlungsmöglichkeiten beschränkte. Vorstellungen über Ursachen und Verlauf von Erkrankungen divergierten hingegen gravierend zwischen Familien und Psychiatern. Die Psychiater führten Fehldiagnosen auch darauf zurück, dass es kaum möglich sei, alle aus ihrer Sicht relevanten Hinweise zu erhalten, da Patientinnen und Patienten und ihr Umfeld sowie fachfremde Ärzte grundsätzlich andere Informationen als die aufnehmenden Mediziner für zentral erachteten. Zum anderen weist auch die Kommunikation über medizinische Behandlungsmethoden auf die Grenzen wissenschaftlicher Konzepte in der Praxis hin. Die Ärzte mussten ihrer Klientel regelmäßig erklären, dass Behandlungen entweder nicht zur Verfügung stünden oder keine bzw. nur sehr geringe Erfolgsaussichten hätten. In der Einweisungspraxis scheinen unterschiedliche wissenschaftliche und von Alltagswissen geprägte Begründungsordnungen auf. Beide dienten der Legitimation von Einweisungen. Der Psychiater als selbsternannter und durchaus akzeptierter Kenner managte diese an der Schwelle zur Anstalt. Er war daher in der Tat im besonderen Maße ein Agent der Moderne; jedoch nicht, weil er durch wissenschaftliches Wissen die soziale Praxis rationalisierte, sondern weil er als Scharnierfigur sehr unterschiedliche Wissensordnungen und Legitimationsbedürfnisse koordinierte, ineinander übersetzte und handhabbar machte. Seine Akzeptanz sowie die zunehmende Nachfrage nach psychiatrischen Plätzen trotz ausbleibender oder mäßiger Erfolge im Bereich Heilung, diagnostischer Zuordnung und Einschätzung von Sicherheitsrisiken zeigt in erster Linie das hohe Bedürfnis nach Regulierung und Legitimierung in allen drei untersuchten Gesellschaften an. Der Ablauf von psychiatrischen Einweisungen macht deutlich, dass im Rahmen von Überlegungen zu Wissensgesellschaften das Verhältnis von Alltags- und Praxiswissen noch vermehrt untersucht werden müsste – und zwar im Kontext mit wissenschaftlichem Wissen. Nur so können auch Aussagen über die Reichweite wissenschaftlichen Wissens gemacht und praktisches und Alltagswissen näher qualifiziert werden. Dies dürfte hilfreich sein, um schließlich eine differenzierte Vorstellung davon zu gewinnen, wie welche Art von Wissen, warum zu welchen gesellschaftlichen Veränderungen beitrug oder nicht. Deutsche Psychiatrien in der Mitte des 20.  Jahrhunderts sagen in diesem Sinne etwas über den möglicherweise spezifisch modernen Wunsch nach Zuordnung und Planbarkeit aus. Sie stehen aber nicht für weitreichende Auswirkungen einer Verwissenschaftlichung des Sozialen in der Praxis. Eher stehen sie für eine gesellschaftliche Selbstregulierung und soziale Kontrolle im Priva­ ten als für institutionelle und staatliche Kontrolle und Zwang oder einen Primat der Wissenschaft. Die hohe Relevanz von Ordnung, die sich in Klassifi302

zierungen von Krankheiten und Kranken zeigt, ist in der Tat symptomatisch für die Entwicklung der Psychiatrie als staatlich benötigter und genutzter Wissenschaft; allerdings war sie nicht Ursache, sondern Reaktion. Psychiatrische Einweisungen dienten zur Komplexitätsreduktion und Bewältigung des Alltagslebens unter Wahrung schicht- und genderspezifischer Normen. Die zunehmende Nachfrage nach Anstalts- und Klinikplätzen korrelierte so zum einen mit höheren Anforderungen in der Bewältigung des Alltagslebens, die z. B. die Pflege erkrankter Familienmitglieder zu Hause erschwerten. Zum anderen ist sie in Verbindung mit veränderten Arbeitsbedingungen zu sehen, die Erschöpfung, externe Kontrolle und psychischen Druck erhöhten. Schließlich nutzten bürgerliche Familien die Anstalten von Beginn an im Rahmen von Selbstthematisierung und zur Verfestigung und Durchsetzung standesgerechten Verhaltens. Der »Erfolg« psychiatrischer Anstalten ist eher als Reaktion auf wirtschaftliche Veränderungen, mit ihnen zusammenhängenden Arbeitsbedingungen und Klassen- oder Schichtbildung zu verstehen, als durch Prozesse der Verstaatlichung und Verwissenschaftlichung ausgelöst. Zugleich verweist die seit den 1960/70er Jahren wissenschaftlich und gesellschaftlich etablierte Meistererzählung vom gesteuerten und wissenschaftlich-rationalisierten institutionellen Zugriff der Psychiatrie auf den Menschen in der Moderne auf ein Bedürfnis nach übergeordneter Legitimation, nach Steuerungsillusionen und nach gesellschaftlicher Entlastung. Arbeit als systembedingte Differenzkategorie Die Studie zeigt, dass »Arbeit« eine zentrale Differenzkategorie in allen drei untersuchten Gesellschaften war. Spezifika und Gemeinsamkeiten der drei Systeme lassen sich hier besonders gut identifizieren. Die Kategorie Arbeit verfügte über Relevanz auf individueller Ebene im Rahmen der Konstruktion eines gesunden Selbst, im sozialen Mikrokosmos, auf institutioneller Ebene aus Sicht der Psychiater und auf staatlicher Ebene. Wertungen von Arbeit, Arbeitsfähigkeit und -wille sind relationale und dynamische Zuschreibungen. Zeitspezifische Veränderungen spiegelten sich in ihnen in besonderem Maße, da sie zur Bewertung von Einstellungen dienten und daher auch zeitgenössisch weniger essentialistisch imaginiert wurden als etwa Geschlecht oder »Rasse«. Frauen wie Männer machten während des Zweiten Weltkriegs und in der frühen Bundesrepublik ihre eigene Erkrankung fast immer an einer Veränderung ihrer Leistungsfähigkeit fest, sei es in Haushalts- oder Erwerbsarbeit. Arbeitsfä­ higkeit diente auf diese Weise geschlechtsübergreifend als Indikator für Gesundheit. Es kann konstatiert werden, dass die Selbstzuschreibung von Krankheit deutlich weniger Genderaspekte aufwies, als bisherige Forschungsergebnisse nahegelegt haben. Es ist in keiner Weise festzustellen, dass Männer im Kontext von Krankheit öfter oder ausführlicher auf ihre Arbeits- und Leistungsfähigkeit verwiesen. In der DDR verhielt es sich sogar tendenziell umgekehrt. Die im Zweiten Weltkrieg und in der Bundesrepublik omnipräsente A ­ rgumentation mit Arbeit wurde in der DDR sehr viel seltener im Kontext von außerhäus303

licher Arbeit angeführt. Im Rahmen von Hausarbeit blieb sie aber auch im »Arbeiter- und Bauernstaat« ein Thema. Verbindungen zwischen Arbeitsfähigkeit und Gesundheit knüpften so in den 1950er Jahren in der DDR in erster Linie Frauen. Im geschlechterübergreifenden Vergleich spielten Arbeit und Leistung in der frühen DDR eine geringere Rolle für Vorstellungen eines gesunden Selbst als in Nationalsozialismus und Bundesrepublik. Gleichzeitig gab es mehr Einweisungen vom Arbeitsplatz aus. Allerdings ging es bei diesen meist um familiäre Probleme, die am Arbeitsplatz zum psychischen Zusammenbruch führten. Die Selbstthematisierungen im Zuge der Einweisungspraxis lassen die frühe DDR mehrheitlich als eine mental ins Private zurückgezogene Gesellschaft erscheinen. Eine geschlechterübergreifende Hinwendung zur Familie ist im »Arbeiter- und Bauernstaat« zumindest in der persönlichen Wertung der Bürge­ rinnen und Bürger stärker zu erkennen als in der Bundesrepublik. Die seltene Erwähnung des Arbeitskriteriums bei Erwerbstätigen in der DDR spricht dafür, dass die systembedingten Arbeitsumstände Einfluss auf Vorstellungen vom gesunden Selbst hatten. Zu denken ist hier an den Mangel an Aufstiegsmöglichkeiten, die auch zu finanziellen und materiellen Vorteilen geführt hätten. Ebenso wären die politischen Voraussetzungen zu nennen, die nicht jedem eine identitätsstiftende Wunschlaufbahn ermöglichten. Wichtig sind zudem die zahlreichen Veränderungen in den Betrieben. Diese veränderten Alltagserfahrungen und Lebenschancen prägten das Leben der Menschen deutlich und relativ zügig bis in basale Vorstellungen der eigenen Gesundheit hinein. Gleichzeitig heißt dies, dass Vorstellungen von einem arbeitssamen und leistungsstarken Selbst keine Konstante im Leben moderner Menschen sind. Arbeitsfähigkeit und -wille wurden auch als Markierung normalen Verhaltens und von Zugehörigkeit angeführt. Dies galt für die beiden Diktaturen jedoch in umfassenderer Weise als für den westdeutschen Nachfolgestaat. In der Kriegszeit und in der DDR wurden ähnliche Bezüge zur ganzen Gesellschaft hergestellt, während in der Bundesrepublik der Bezugspunkt das unmittelbare soziale Umfeld war. Die anhaltende Bedeutung der Kriterien Arbeitsfähigkeit und -wille in Inklusions- und Exklusionsargumentationen spricht für eine Aneignung der Propaganda des »Arbeiter- und Bauernstaates«, während zugleich der Arbeitsalltag und die Karriereambitionen für viele Menschen in der DDR weniger wichtig wurden. Für Menschen, die politische Karrieren anstrebten, trafen die skizzierten Veränderungen nicht zu. Im Unterschied zur Kriegszeit nutzten Verwandte von Patientinnen und Patienten den Hinweis auf Fleiß und Arbeitsfähigkeit der Eingewiesenen auch, um Forderungen zu untermauern und Verbesserungen für ihre Angehörigen in der Anstalt zu erwirken. Inwiefern dies in irgendeiner Weise mit der Akzeptanz der sozialistischen Ideologie zu tun hatte oder ob es sich um rein instrumentelle Aneignung handelte, ist auf der Quellenbasis dieser Studie nicht zu sagen. Auch in der Kriegszeit scheint in den Einweisungen auf, dass das Versprechen der »Volksgemeinschaft« eben nicht nur eine Verheißung von oben war. Klarer als für die DDR kann festgestellt werden, dass es sich nicht um instrumentalisierte Propagandaversatz304

stücke handelte, sondern dass es reale Erwartungen gab, die im Krieg mitunter enttäuscht wurden. So wurde in Einweisungen während der Kriegszeit etwa mangelndes »Gemeinschafts- und Kameradschaftsgefühl« thematisiert. Die Grenzen des in beiden Staaten hochgehaltenen Gemeinschaftsgedankens waren jedoch sowohl im »Dritten Reich« als auch in der DDR beim Umgang mit älteren Mitbürgern erreicht. Alte Menschen wurden während des Krieges besonders häufig als störende, nichtproduktive und nicht kriegsrelevante »Elemente« psychiatrisiert. In der DDR wurde dies auf institutioneller Ebene fortgeführt, wenn auch ohne tödliche Konsequenzen: Psychiatrien wurden als Alternative für fehlende Altersheime genutzt oder man legte die beiden Einrichtungen, etwa in Rodewisch, einfach zusammen. Arbeits- und Leistungsfähigkeit können in allen drei Systemen als Sonde für Grenzziehung dienen: Vorstellungen von Arbeit und Leistung fungierten so in unterschiedlichem Maße als informelles Kriterium, um die formalen Kriterien für einen Anstaltseintritt, Krankheit und Gefährdung im Alltagsleben, festmachen zu können. Schließlich blieben auch die Diagnosen im Bereich der Arbeitserkrankungen nicht unberührt von dem jeweiligen politischen System. Das »Dritte Reich« zeichnet sich unbestritten durch eine Verengung psychiatrischer Deutungen bedingt durch den Ausschluss und die Ermordung jüdischer Wissenschaftler aus. Diese im internationalen Vergleich einseitige und rückwärtsgewandte psy­ chiatrische Interpretation prägte die Bundesrepublik bis in die 1960er Jahre. Gesundheitliche Einschränkungen, die die Betroffenen als Konsequenz von Arbeitsüberlastung deuteten, unterlagen seitens der Psychiater einer stark sozial selektiven Deutung als »Psychopathen«. Diese Deutung erreichte ihren Höhepunkt im Kontext der Verfolgung sogenannter »Asozialer« im Nationalsozialismus, bestand jedoch in der Bundesrepublik bis in die 1960er Jahre ungebrochen fort. Dieser Befund dürfte auch für die Einschätzung der Etablierung späterer Konzepte von »Arbeitsüberlastung« wie Stress oder Burnout von Relevanz sein. Neben wissenschaftsgeschichtlichen Gründen des internationalen Transfers von Konzepten der »Managerkrankheit« oder des »Stress«,19 könnte ein Grund für die vergleichsweise späte Übernahme des Stresskonzepts in der Bundesrepublik darin liegen, dass mit der Psychopathie ein etabliertes und akzeptiertes Konzept vorlag. Erst in dem Moment, in dem »Arbeitsüberlastung« als Problem der Mittelschicht auftauchte, entstand Bedarf nach einem neuen Konzept, um dies zu verhandeln. Zuvor konnten Klagen aus der »Unterschicht« auf der einen Seite im Rahmen des Psychopathiekonzepts gefasst werden. Auf der anderen Seite konnten Beschwerden der kleinen Gruppe von Führungskräften des jungen Staates unter dem Etikett der »Managerkrankheit« als verständliche, nahezu ehrenhafte Überlastung gezeichnet werden. In der DDR hingegen sind rund um den politisch als wichtig erachteten Bereich der Arbeitserkran19 Vgl. hierzu: Kury.

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kungen Veränderungen im Anschluss an sowjetische Deutungen festzustellen. Die ­Diagnose Psychopathie verlor ihre Bedeutung für die Bewertung von Arbeitsfähigkeit und -wille, während sie für die Stigmatisierung »sittlicher« und sexueller Abweichung federführend blieb. Psychopathie blieb so eng verbunden mit der Kategorie Gender: sie erfasste weibliche »Prostitution« und männliche Sexualdelikte. Hier spiegelt sich die auf den Bereich Arbeit fokussierte Aufmerksamkeitsökonomie der frühen DDR, denn ähnlich folgenreiche Veränderungen sind bei anderen in dieser Studie untersuchten Krankheitskonzepten, die nicht von unmittelbaren ideologischen Interesse waren, nicht festzustellen. Gebündelt durch das Prisma der Kategorie Arbeit lassen sich Kontinuitäten und Brüche zwischen den verschiedenen politischen Systemen ebenso ablesen, wie Veränderungen der Kategorien race, class und gender sowie der weniger im Fokus stehenden Kategorie Alter. Zeitgeschichte als Arbeitsgeschichte im Sinne einer integrativen Gesellschaftsgeschichte erscheint im Lichte der Ergebnisse dieser Studie eine vielversprechende Perspektive. Arbeit ist nicht nur in der historischen Retrospektive eine relationale Kategorie. Anders als die Kategorien »Rasse«, Gender und Alter wurde sie auch zeitgenössisch meist nicht essentialistisch aufgefasst. In diesem Sinne erlaubt die Kategorie Arbeit in besonderem Maße eine Analyse von Aushandlungsprozessen, Selbstreflexionen und innergesellschaftlichen Dynamiken. (Grenzen der) Freiheit – Gesellschaft – Staatlichkeit Im Rahmen der Einweisungspraxis unterschied sich die staatliche Intervention durch Gesundheitsämter, Polizei oder Justiz und die Zusammenarbeit der Bevölkerung mit diesen Institutionen in den drei politischen Systemen deutlich voneinander. Der Ablauf und die Häufigkeit von Zwangseinweisungen sind in besonderem Maße aussagekräftig für den Anspruch und die Reichweite staatlicher Intervention und somit für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Die Einweisungspraxis während des Zweiten Weltkriegs war stark durch Kollaboration seitens der Familie geprägt. Der Grad der staatlichen Intervention war im Vergleich am höchsten, zugleich jedoch am meisten akzeptiert: Die meisten Zwangseinweisungen initiierte oder tolerierte das soziale Umfeld der Betroffenen. Krankenhausärzte und Gesundheitsämter arbeiteten unmittelbar mit Familien zusammen. Einweisungen wurden zwischen diesen Parteien mit offenem Ausgang verhandelt. Viele Zwangseinweisungen wurden explizit durch kriegspragmatische und »kriegsmoralische« »Notwendigkeiten« gerechtfertigt: Die Familie könne den Luftschutzkeller nicht schnell genug erreichen, wenn sie den hinkenden Großvater mitnehmen müsste; oder geschlechtskranke Frauen wurden in Anstalten interniert, um eine Ansteckung von Soldaten auszuschließen. Betroffen waren Bevölkerungsgruppen, die schon zuvor strukturell marginalisiert waren, jedoch nicht alle routinemäßig psychiatrisiert worden waren: Alte Menschen, allein­ stehende Frauen, geschlechtskranke Frauen aus der Unterschicht, psychisch belastete Soldaten und sogenannte »Asoziale«. 306

Zwangseinweisungen während des Zweiten Weltkrieges, die trotz des Wissens über die Krankenmorde stattfanden, zeigen die Radikalisierung der NS-Gesellschaft. Sie spiegeln Normalitätsstandards und Toleranzgrenzen im Alltagsleben, die als unausweichlich eingeführt, akzeptiert und gerechtfertigt wurden. Wie ist dies zu erklären? Im »Dritten Reich« intensivierten verschiedene Gruppen ihr Gefühl von Zugehörigkeit und erlangten so auch materielle Vorteile. Dies geschah auf Kosten des Ausschlusses anderer, indem zum Teil etablierte Marginalisierungstraditionen ausgeweitet wurden. Neben dem von Beginn an zentralen Ausschlusskriterium »Rasse« wurden zunehmend die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft für die »Gemeinschaft« als Kriterium für Zugehörigkeit etabliert und akzeptiert. Im Krieg zog der Staat diese Kriterien enger, etwa durch die Internierung sogenannter »Asozialer«20 oder durch die Ausrichtung des medizinischen Apparates auf die arbeitende Bevölkerung.21 Diese Studie zeigt, dass eine rücksichtslosere Grenzziehung zugleich auch in und aus der Gesellschaft heraus praktiziert wurde. Familien und das soziale Umfeld stützten das Regime und ermöglichten die Fortführung des Krieges, indem sie die Ausgrenzung all jener praktizierten, die hierzu v. a. aus Krankheits- und Altersgründen nicht in der Lage waren. Dieser Ausschluss wurde gerade innerhalb von Familien nicht immer schmerzlos praktiziert. Trotzdem wurden Entscheidungen getroffen, die den Schutz immer kleinerer Gruppen – etwa Teile der Familien – priorisierten, um den erhofften Erfolg des Krieges zu gewährleisten. In diesem Sinne zeigt die Einweisungspraxis Zusammenhänge zwischen einer sich nach innen radikalisierenden und damit immer partikulareren, letztlich zerfallenden Gesellschaft und dem Anspruch und Glauben an den Aufbau, die Verteidigung und Expansion einer nationalsozialistischen »Gemeinschaft«. Herrschaft und soziale Praxis im Alltag gingen mehrheitlich Hand in Hand und entwickelten in ihrem Zusammenspiel gerade im Krieg oft tödliche Dynamiken des Ausschlusses, die als Normalität gelebt und akzeptiert und als unausweichlich gerechtfertigt wurden. Konkurrenz und Zerfall betrafen neben der Mikro- auch die Meso- und Makroebene. Die Krankenmorde liefen nach Beendigung der »Aktion T4« dezentral ab, katalysiert durch von oben initiierte Verlegungsmaßnahmen im Rahmen der »Aktion Brandt«. Auf mittlerer Ebene entschieden so Anstaltsleiter über Leben und Tod ihrer Patientinnen und Patienten. Zugleich hatten sie jedoch kaum Kontrolle über den Zugang zu den Anstalten. Krankenhäuser, Altersheime, Polizei und Anstalten standen während des Krieges, insbesondere in den Jahren 1944 und 1945, zunehmend in negativer Konkurrenz um ihre Klientel. Insbe­ sondere alte Menschen und Frauen im Verdacht, venerische Krankheiten zu haben, wurden von diesen Institutionen über die zentrale Legitimierungsstelle, die Gesundheitsämter, eingewiesen. Die zur Aufnahme verpflichteten Anstalten versuchten dies immer wieder aus Eigeninteresse zu verhindern: sie wiesen 20 Vgl. hierzu: Ayaß, »Asoziale«. 21 Süß, »Volkskörper, S. 263 ff.

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darauf hin, dass es sich nicht um psychiatrische »Fälle« handelte, um die Professionalität ihrer Einrichtung zu schützen. Da die Gesundheitsämter meist von den Familien und vom sozialen Umfeld, etwa den Nachbarn, in der Einweisung unterstützt wurden, scheiterte dies jedoch gewöhnlich. Die Einweisungspraxis zeigt, dass die Kriegsgesellschaft sich insgesamt durch hohe vertikale Harmonie und stetig geringer werdende horizontale Ausgewogenheit auszeichnete. In den Besatzungszonen und in beiden Nachfolgestaaten des »Dritten Reichs« war das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der Zwangseinweisungspraxis viel weniger im Einklang als während des Zweiten Weltkriegs. Regimeübergreifend hatte auch die Nachkriegsgesellschaft ein Interesse an der unkomplizierten Einweisung in psychiatrische Anstalten, das im Kontrast zum Schutz der Freiheit des Individuums stand. Gerade in der »Zusammenbruchgesellschaft«, aber auch in den 1950er und 1960er Jahren wurden Spannungen im sozialen Mikrokosmus vielfach durch Einweisungen gelöst. Dies betraf etwa die Situation in Lagern und in beengt zusammenlebenden Großfamilien oder geschah im Zuge der Integration »Vertriebener«. Die Rolle des Staates bei Einweisungen mit Zwang unterschied sich jedoch in Ost und West maßgeblich. In der frühen DDR war die staatliche Intervention im Vergleich der drei Systeme am geringsten. In diesem Punkt unterschieden sich die beiden Diktaturen deutlich voneinander. Im Kontrast zum Zweiten Weltkrieg gab es in der DDR viel weniger formale Zwangseinweisungen. Die dort untersuchten Anstalten zeichnen sich hingegen in besonderem Maß durch »außerstaatliche« Einweisungsaushandlungen aus. Einweisungen gegen den Willen der oder des Betroffenen entschieden Angehörige und Ärzte normalerweise gemeinsam, ohne dass es eine Intervention von Gesundheitsämtern, Polizei oder Justiz gegeben hätte. Das bis 1968 existierende rechtliche Vakuum füllten weder die Polizei noch die Gesundheitsämter aus, obwohl die Übergangsbestimmungen nach wie vor die polizeiliche Intervention bei »Gefahr« und Einweisungen mit amtsärztlichem Attest ermöglichten. Gängige theoretische Modelle einer Diktatur der Grenzen und Konzepte von einer durchherrschten Gesellschaft sind hier nicht weiterführend; insbesondere da auch Psychiater dem neuen Staat mehrheitlich kritisch gegenüberstanden und so keineswegs als Agenten des Staates verstanden werden können. Geeigneter für die Erklärung der Befunde dieser Arbeit ist die Vorstellung der Vergesellschaftung22 eines staatlichen Aufgabenbereichs. Entscheidungen über Sicherheit und Freiheit, an denen moderne Staaten sonst federführend beteiligt sind, wurden in der frühen DDR im Bereich der Psychiatrie weitgehend staatsfern gefällt und durchgeführt. Eine solche Vergesellschaftung ist darauf zurückzuführen, dass die SED-Diktatur in einem bereits zuvor stark durch den sozialen Mikrokosmos geprägten Bereich in mehrfacher Weise an ihre »Grenzen« stieß: Während zu Fragen der Arbeitsfähigkeit und Verrentung regelmäßig begutachtet wurde, zogen Entscheidungen über Einweisungen mit Zwang bis Mitte der 1960er Jahre überhaupt kein staatliches Interesse auf sich. 22 Zur Vergesellschaftung in der DRR, vgl.: Jessen, Gesellschaft, S. 106 f.

308

Hier wurden eindeutige Prioritäten gesetzt. Psychiatrische Expertise wurde im Hinblick auf die Bildung einer »sozialistischen Arbeitsgesellschaft« von Beginn an genutzt, der Schutz der Freiheit des Individuums war dagegen kein zentrales Thema. Hier waren die Grenzen staatlichen Interesses erreicht. Psychiatrische Einrichtungen funktionierten zudem im Wesentlichen auf Grund des großen gesellschaftlichen Bedarfs. Der Staat stellte lediglich eine rudimentäre Finanzierung zur Verfügung, die den Bedarf nicht annähernd deckte. Schließlich hatten die zentralen Akteure im Rahmen von Zwangseinweisungen, Ärzte und Familien, kein Interesse an einer Kooperation mit staatlichen Stellen, etwa mit den Gesundheitsämtern oder mit Gerichten. Zumindest in den 1950er und frühen 1960er Jahren symbolisiert die Psychiatrie so in dreifacher Weise die Grenzen der Diktatur: die Grenze staatlichen Interesses, die Grenzen staatlicher Kapazitäten, und die Grenzen der Akzeptanz des Staates in der Gesellschaft. Trotzdem greift hier nicht das Konzept der Diktatur der Grenzen. Dies ist zwar plausibel für alle Bereiche, in denen eine Durchherrschung der Gesellschaft angestrebt wurde, und beschreibt, inwiefern und warum dies erreicht werden konnte oder nicht. Diese Studie zeigt jedoch, dass eine Durchherrschung zumindest in der frühen DDR nicht in allen Bereichen angestrebt wurde. Die Möglichkeit, dass Unrecht auch durch staatliche Unterlassung bedingt sein könnte, nimmt in den Diskussionen zur DDR jedoch kaum Raum ein. Im Bezugsrahmen des Kalten Kriegs ist dies wenig verblüffend, denn es wurde stark in einer Dichotomie zwischen kapitalistisch freiheitlichen Systemen und sozialistisch-diktatorischen gedacht. Diese Dichotomie wurde auch nach 1989 weitgehend unreflektiert in den theoretischen Debatten über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der DDR reproduziert. So erschienen eine Vergesellschaftung des Staates und der Anspruch einer Durchherrschung der Gesellschaft als kontradiktorisch und nicht als komplementäre Charakteristika, die beide den Diktaturcharakter unterstreichen.23 Das Beispiel der Einweisungspraxis zeigt, dass dies zu schematisch gedacht ist. Das staatliche Desinteresse an der Zwangseinweisung in der frühen DDR ist durch ein Zusammenspiel ideologischer Faktoren mit einem schwachen, in seinen Kapazitäten begrenzten Staat zu erklären. Die SED-Herrschaft prägte den gesellschaftlichen Alltag zu Beginn durch den Versuch einer konzentrierten Durchherrschung bestimmter Felder, bei gleichzeitiger unrechtmäßiger Vernachlässigung und Vergesellschaftung anderer Bereiche. Dieses für das frühe SED-Regime symptomatische Zusammenspiel hatte im Feld der Psychiatrie vermutlich indirekte Auswirkungen 23 Jessens Konzept einer komplementären Verstaatlichung der Gesellschaft und einer Vergesellschaftung des Staates verblasste zusehends neben einer regen Forschung zu Fragen der Durchherrschung und ihrer Reichweite. In Forschungsständen wird das Konzept, wenn überhaupt lediglich kursorisch erwähnt. Vgl. exemplarisch etwa den Forschungsstand in: Kocka, Wissenschaft, S. 435–459. Auch Deutungsangebote, wie Fürsorgediktatur, Versorgungsdiktatur oder Erziehungsdiktatur, die den Widerspruch zwischen emanzipatorischen Charakter und diktatorischer Praxis auflösen möchten, gehen von einem allumfassenden Durchherrschungsanspruch aus. Vgl. zu diesen Konzepten: Jarausch.

309

auch für die spätere Phase des real existierenden Sozialismus: Der zwei Jahrzehnte lang funktionierende Modus der Zwangseinweisungen durch Familien und Anstaltsärzte dürfte meiner Einschätzung nach dazu beigetragen haben, dass die 1968 eingeführte gesetzliche Regelung das bisherige Vorgehen in weiten Teilen legitimierte. Während es in der DDR in der Einweisungspraxis verhältnismäßig wenig Berührungspunkte zwischen Staat und Gesellschaft gab, verhielt sich dies in Westdeutschland ganz anders. Die Zwangseinweisungspraxis in den westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik ist gekennzeichnet durch einen Antagonismus zwischen demokratischer Verrechtlichung von oben und dem eigensinnigen Widerstand dagegen seitens der ausführenden Institutionen und der Familien der Betroffenen. In der Besatzungszeit entwickelten insbesondere die bayerischen Verwaltungsstellen mit großer Energie Strategien, um die Umsetzung amerikanischer Direktiven zum Schutz der persönlichen Freiheit zu vermeiden. Auch in der Bundesrepublik veränderte der neu geschaffene rechtliche Schutz durch Artikel 104 GG die Praxis der Einweisungsentscheidung kaum. Die Entscheidungen von Familien, Hausärzten und Anstaltspsychiatern wurden erst im Nahhinein juristisch legitimiert. In den in dieser Arbeit analysierten Fällen verhält es sich zumeist so, dass die Patientin oder der Patient zuerst durch die Entscheidung der Familie mit Absegnung des Hausarztes in die Anstalt gebracht wurde, dort aufgenommen wurde und dann ein Richter, oft telefonisch benachrichtigt, die Einweisung bestätigte. Die westlichen Besatzungsmächte und die Bundesrepublik legten sehr viel mehr Gewicht auf Freiheitsrechte des Individuums als die Deutsche Demokratische Republik. Hieraus entsprangen die gesetzlichen Neuregelungen zum Schutz des Individuums. Diese richteten sich jedoch nicht gezielt auf den Bereich der Psychiatrie, sondern deckten diesen lediglich mit ab. Dieser fehlende Fokus dürfte die Weiterführung gewohnter Praktiken begünstigt haben. Die kontinuierlichen und ergebnislosen Diskussionen in der Bundesrepublik über Kostenabrechnungen, in denen der Charakter, die Legitimität und die Zuständigkeit bei Zwangseinweisungen verhandelt wurden, zeigen, wie lange das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in Westdeutschland umstritten blieb. Sowohl die Einweisungspraxis als auch die Diskussionen über Einweisungen weisen starke Kontinuitäten hinsichtlich der Vorstellungen von Sicherheit, Krankheit, Normalität und alltäglicher Toleranz auf der Mikro- und Mesoebene auf. Gerade weil der psychiatrische Sektor auch in der Bundesrepublik nicht besonders im staatlichen Fokus stand, wurden alte Mechanismen und Vorstellungen in hohem Maße weiterpraktiziert. Die Unterschiede in der Haltung politischer Akteure in Bayern und Hessen machen jedoch deutlich, dass klare Stellungnahmen und Anweisungen von oben durchaus zu Veränderungen führen konnten. Die Analyse der Einweisungspraxis lenkt den Blick auf staatsferne Aushandlungsprozesse in der DDR und beleuchtet das Verhältnis von Staat und Gesellschaft unter besonderer Berücksichtigung eigensinniger Handlungen auf Mikround Mesoebene in der Bundesrepublik. Die praxeologische Heran­gehens­weise 310

verändert so den Blickwinkel und führt zu ungewohnten Frage­stellungen, die etablierte Deutungen in der deutschen Zeitgeschichte verschieben. Dies gilt sowohl für den Vergleich der beiden Diktaturen mit der Bundesrepublik als auch für eine Einordnung und Bewertung psychiatrischen Wissens und psychiatrischer Einrichtungen in längere Entwicklungen: Psychiatrisches Wissen wurde als staatsrelevantes Praxiswissen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Zuge von Begutachtungen, Kriegsführung und Intelligenztests immer wichtiger. Es diente dem Staat zur Regulierung, Kontrolle, Planung und Prophylaxe. Diese Expertise wurde zum Teil durch stationäre Begutachtungen gewährleistet. Dies betraf jedoch insgesamt nur einen geringen Teil der Einweisungen. Mehr als drei Viertel aller Einweisungen wurden in der Mitte des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichem Grad aus der Gesellschaft heraus initiiert. Große Teile der Anstaltstätigkeiten waren für den Staat vor allem als Kostenfaktor von Bedeutung und die steigende Zahl der Einweisungen wurde ein Problem. Zugleich unterlag das Innere der Anstalten einer zunehmenden Differenzierung. In der Anstalt wurde zwischen ruhigen und unruhigen Patientinnen und Patienten, zwischen Behandlungs- und Pflegefällen, zwischen gefährlichen und ungefährlichen Untergebrachten, arbeitsfähigen und nicht-arbeitsfähigen Patientinnen und Patienten, wohlhabenden und auf die Fürsorge angewiesenen Eingewiesenen unterschieden. Für den weiteren Verlauf des 20.  Jahrhunderts wäre die Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie als eigene Fachrichtung zu nennen. Dieser Bemühung um differenzierte Zuordnung in der Anstalt steht eine Praxis der Einweisung gegenüber, die sich vor allem durch ihre Flexibilität und Anpassung an gesellschaftliche Verhältnisse sowie durch vielfältige Wege und Akteure auszeichnet. Die eindrücklich zu Tage tretende Breite der Anstaltsnutzung spiegelt sich nicht zur Gänze in öffentlichen Debatten zur Psychiatrie. Neben den viel diskutierten Zwangseinweisungen gab es ebenso Einweisungen, in denen sich Patientinnen und Patienten z. B. aus Angst vor sich selbst um Aufnahme bemühten, aber auch in der Hoffnung auf Hilfe und darauf, nach einem stationären Aufenthalt wieder im Familien- oder Arbeitsleben zurecht zu kommen. Das Spannungsfeld von Zwang und Freiwilligkeit, das sich hier öffnet, lässt sich besonders gut an der Praxis nachvollziehen, wenn auch nicht analytisch auflösen. Die Bemühungen um Zuordnung in der Anstalt sind nur vor dem Hintergrund einer solch flexiblen Schwelle zur Anstalt verständlich. Das äußerst heterogene »Krankenmaterial« bot den Anstalten die Möglichkeit der vielfachen Unterteilung anhand unterschiedlicher Kriterien. Die Anstalten selbst erwecken also den Eindruck, der Spiegel einer äußerst ausdifferenzierten Gesellschaft zu sein, für die Zuordnung durch Experten signifikant ist. Die vielfältige Einweisungspraxis legt hingegen den Schluss nahe, dass nur im geschlossenen Raum der Anstalt die erstrebte Ordnung möglich war und gerade der ungeordnete Zugang letztlich die Voraussetzung für das differenzierte Innere der Anstalt ist. Die Symbolik der Ordnung der »Irren« im Inneren der Anstalt verweist damit immer auf das Scheitern einer klaren funktionalen Zuordnung der Psychiatrie in der Gesellschaft. Eine möglichst eindeutige 311

Zuordnung wurde immer wieder verlangt, ohne je durchgesetzt zu werden. Psychiatrische Einrichtungen sind in ihrer Ambivalenz symptomatisch für die Hochmoderne.24 Sie sind sowohl ein Symbol konzentrierter wissenschaftlicher und staatlicher Bemühungen um Ordnung und Regulierung des »Sozialen« als auch Orte, die bestehen und expandieren, weil dies nicht gelingt. Psychiatrische Einrichtungen sind in diesem Sinne auch und in erster Linie ein Instrument sozialer Selbstregulierung von unten und damit ein Symptom der Anpassung sozialer Mikrokosmen an moderne Rationalisierungsentwicklungen.

24 Zum Konzept der Hochmoderne, vgl.: Herbert, Liberalisierung.

312

Dank Die vorliegende Studie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Dezember 2014 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Es ist mir eine große Freude, mich an dieser Stelle bei meinem Doktorvater Ralph Jessen zu bedanken, der ganz wesentlich dazu beigetragen hat, dass meine Promotionszeit eine unbeschwerte schöne Zeit war, die sich durch regelmäßige spannende Diskussionen auszeichnete. Ich danke ihm für die zahlreichen Gespräche, seine unermüdliche Unterstützung, sein großes Interesse und seine Begeisterung für meine Promotion. Für die Übernahme des Zweitgutachtens danke ich Ulrike Lindner. Margit Szöllösi-Janze danke ich für Unterstützung in jeglicher Hinsicht und für Ihre äußerst hilfreichen Kommentare zu meinem Manuskript im Drittgutachten. Mitchell Ash danke ich für die freundliche Aufnahme in das Kolleg »Naturwissenschaften im Historischen Kontext« im Herbst 2013 in Wien sowie für die Möglichkeit, mein Projekt in diesem Kreis und mit ihm zu diskutieren. Für die Teilnahme an ihrem Kolloquium und ihre Anmerkungen zu meiner Dissertation zu Beginn der Schreibphase in meiner Zeit in Wien bedanke ich mich bei Sybille Steinbacher. Klaus-Michael Mallmann danke ich für seine profunde Einschätzung meiner Promotionsidee ganz zu Beginn des Projekts. Thomas Stamm-Kuhlmann möchte ich für die Möglichkeit danken, während meiner Archivreise nach Greifswald an seinem Kolloquium teilzunehmen. Für eine schöne und diskussionsreiche Zeit in Greifswald bedanke ich mich ebenfalls bei Hedwig Richter und Frank Möller. Meine Forschungen wurden durch großzügige Stipendien der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities und des DAAD unterstützt. Die a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities hat mir nicht nur für meine gesamte Promotionszeit eine sichere Finanzierung geboten, sie hat auch meine zahlreichen und um­ fangreichen Archivreisen unbürokratisch finanziert. Vor allem bot sie mir jedoch die Möglichkeit, in ihren Räumlichkeiten zu arbeiten und mich dabei kontinuierlich mit Forscherinnen und Forschern auch aus anderen Disziplinen auszutauschen. Dieser laufende Dialog und die Freundschaft mit Corinna Kühn, Jule Schaffer, Cornelia Kratz und Britta Tewordt lassen mich an meine Zeit bei a.r.t.e.s. wehmütig zurückdenken. Zudem bedanke ich mich bei Stefan Grohé, der die a.r.t.e.s.-Klasse gemeinsam mit Ralph Jessen geleitet hat, auch für die nachdrückliche Unterstützung des Projektes »Erste Generation Promotion (EGP)« als Dekan der Philosophischen Fakultät. Ebenso danke ich Manuela Günther für die positiven und hilfreichen Gespräche und die Begleitung meiner Promotion in der Endphase als EGP-Mentorin. Für die schöne und erfolgreiche Zusammenarbeit in der Initiative EGP danke ich meinen Mitstreiterinnen Frauke Scheffler, ­Sandra 313

Vacca, Verena Limper und Ann-Kristin Kolwes. Im Verlauf der Jahre haben mir zudem viele Freundinnen und Freunde geholfen, indem Sie Ideen und Texte mit mir diskutiert haben. Hier danke ich stellvertretend Maximilian ­Ruland, Barbara Manthe, Robert Fuchs, Brian K. Feltman, Frauke Scheffler, ­Sascha ­Penshorn, Jens Gründler und Susanne Schregel. Ferner gilt mein herzlicher Dank den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den zahlreichen Archiven, die ich besucht habe. Die Bereitstellung von fast 1500 psychiatrischen Einzelfallakten war sehr zeitaufwendig und zum Teil rechtlich kompliziert. Ich bedanke mich insbesondere bei Christina Vanja und Dieter Ingold im Archiv des Landeswohlfahrtsverbands Hessen, bei N ­ ikolaus Braun im Archiv des Bezirk Oberbayern, bei Tobias Crabus im Staatsarchiv Chemnitz, bei Dirk Alvermann im Universitätsarchiv Greifswald und bei ­Kerstin­ Stockhecke im Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Schließlich bedanke ich mich für die Auszeichnung meines Dissertationsmanuskripts bei der Deutschen Gesellschaft für die Geschichte der Nervenheilkunde (DGGN), der Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte e. V., der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt und bei dem Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW). Ich danke den Herausgebern für die Aufnahme meines Manuskripts in die »Kritischen Studien«. Tobias Hasenberg und Claudia Liebers danke ich herzlich für das Lektorat. Schließlich danke ich der VG-Wort für die Übernahme der Druckkosten. Mein besonderer Dank gilt meiner Familie: Daniel Brewing danke ich nicht nur für zahlreiche Gespräche über meine Dissertation, sondern vor allem für eine wunderschöne Zeit neben der Arbeit. Ich danke auch meinen Geschwistern, Svenja, Moritz und Joel. Ich widme dieses Buch meinen Eltern Michael und Annette Coché. Von Annette habe ich ganz nebenbei und selbstverständlich ­gelernt, Dinge von vielen unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und diese Sehepunkte miteinander in Verbindung zu setzen. Ohne dies hätte ich diese Arbeit wohl nie geschrieben.

314

Anhang

Abkürzungen AB Oberbayern Archiv des Bezirks Oberbayern ALR Allgemeines Landrecht (Die Grundlage für die Unterbringung von Geisteskranken war bis zur Reichsgründung in Preußen das Allgemeine Landrecht von 1794) BA Bundesarchiv BRD Bundesrepublik Deutschland DAF Deutsche Arbeitsfront DDR Deutsche Demokratische Republik DSM Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (US-amerikanische Diagnoseklassifikation, erstmals 1952 erschienen) DZVG Deutsche Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen (in der SBZ) EH Eglfing-Haar GG Grundgesetz (BRD) GgGSB »Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über die Maßregeln der Sicherung und Besserung« vom 24. November 1933 GzVeN »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14. Juli 1933 HAB Hauptarchiv der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel HPA Heil- und Pflegeanstalt HSta Hauptstaatsarchiv ICD International Statistical Classification of Diseases and Related H ­ ealth Problems KA Krankenanstalten LA Landesanstalt LHA Landesheilanstalt LK Landeskrankenhaus LWV Landeswohlfahrtsverband MDI manisch-depressives Irresein MfG Ministerium für Gesundheitswesen (DDR) MS Multiple Sklerose NS Nationalsozialismus PVG Polizeiverwaltungsgesetz vom 1. Juni 1931 SächSta Sächsisches Staatsarchiv SBZ Sowjetische Besatzungszone PsychN Psychiatrische und Nervenklinik SMI Staatsministerium des Inneren StdA Stadtarchiv PStGB Polizeistrafgesetzbuch (hier immer: Polizeistrafgesetzbuch für Bayern vom 26.12.1871) StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung T Tabelle

317

vBS von Bodelschwinghsche Stiftungen ČSR Tschechoslowakischen Republik (1945–1960) ČSSR Tschechoslowakische Sozialistische Republik (1960–1990) WHO Weltgesundheitsorganisation ZPO Zivilprozessordnung

318

1. Statistische Auswertung des Einweisungswegs Erklärungen zur statistischen Auswertung: – »Fehlende Werte« zeigen an, dass in der Krankenakte keine Angaben aufgenommen worden sind. – Die Kategorie »nicht zuordbar« hingegen wurde verwendet, wenn Angaben in den Krankenakten vorhanden waren, diese jedoch nicht eindeutig entschlüsselt werden konnten, weil z. B. Abkürzungen nicht sicher zugeordnet werden konnten oder unterschiedliche Angaben festgehalten wurden, ohne dass eindeutig war, welche die korrekte war. – Zwangseinweisungen sind in drei Unterkategorien aufgeschlüsselt. Es wird differenziert zwischen richterlichen Einweisungen sowie durch die Polizei und das Gesundheitsamt initiierte Einweisungen. Die letzten beiden sind Einweisungen »auf Grund von Gefahr«, sie waren durch dieselben gesetzlichen Regelungen (PVG, in Bayern Art. 80/II PStGB) legitimiert. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass die hier unter »polizeilich« genannten Einweisungen zunächst ohne ärztliches Attest durchgeführt wurden, bei der Kategorie »ärztlich Gesundheitsamt« hingegen ein Attest eines Amtsarztes ausgestellt worden war. – Bei Einweisungen zur »Begutachtung § 51« handelt es sich um Stellungnahmen zur Unzurechnungsfähigkeit. – »Arbeitslager NS« und »Ausländerlager PostWWII« bezeichnen in den Tabellen die Lager, in denen die ausländischen Zwangsarbeiter in der NS-Zeit untergebracht waren und die auch nach Beendigung des Krieges noch einige Zeit weiter bestanden, bis die Zwangsarbeiter in ihre Heimatländer zurückkehren konnten. 1.1 Tabellen Einweisungsweg 1941 bis Kriegsende Dauerhafter Aufenthaltsort vor der Einweisung (Tabellen 1–5) T1 Universitäts- und Nervenklinik Greifswald Gültig

nicht zuordbar zu Hause Flüchtlingslager Militäreinsatz Gesamt

Häufigkeit

Prozent

3

4,1

Gültige Prozente 4,1

65

89,0

89,0

93,2

4

5,5

5,5

98,6 100,0

1

1,4

1,4

73

100,0

100,0

Kumulierte Prozente 4,1

319

T2 Heil- und Pflegeanstalt Untergöltzsch (ab 1947 Rodewisch) Häufigkeit Gültig

nicht zuordbar zu Hause

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

7

8,3

8,3

8,3

49

58,3

58,3

66,7

Psychiatrie/Psych.Abteilung

6

7,1

7,1

73,8

Gefängnis

3

3,6

3,6

77,4

Altersheim

5

6,0

6,0

83,3

Flüchtlingslager

1

1,2

1,2

84,5

Militäreinsatz

5

6,0

6,0

90,5

Pflegeheim

6

7,1

7,1

97,6

Flüchtling

1

1,2

1,2

98,8

bei Verwandten

1

1,2

1,2

100,0

84

100,0

100,0

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

13

16,7

16,7

16,7

1

1,3

1,3

17,9

Gesamt T3 Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar Gültig

nicht zuordbar Straße Reservelazarett zu Hause

Kumulierte Prozente

4

5,1

5,1

23,1

43

55,1

55,1

78,2

Psychiatrie/Psych.Abteilung

4

5,1

5,1

83,3

Gefängnis

2

2,6

2,6

85,9

Altersheim

1

1,3

1,3

87,2

Blindenanstalt

1

1,3

1,3

88,5

Arbeitslager NS

1

1,3

1,3

89,7

Ausländerlager PostWWII

3

3,8

3,8

93,6

Sanatorium

2

2,6

2,6

96,2

Erziehungsanstalt

1

1,3

1,3

97,4

Flüchtlingslager

1

1,3

1,3

98,7

Kinderheim

1

1,3

1,3

100,0

78

100,0

100,0

Gesamt

320

T4 Landesheilanstalt Marburg Gültig

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

nicht zuordbar

12

13,2

13,2

13,2

zu Hause

54

59,3

59,3

72,5

Psychiatrie/Psych.Abteilung

2

2,2

2,2

74,7

Gefängnis

1

1,1

1,1

75,8

Altersheim

4

4,4

4,4

80,2

Arbeitslager NS

2

2,2

2,2

82,4

Erziehungsanstalt

4

4,4

4,4

86,8

Militäreinsatz

4

4,4

4,4

91,2

Krankenhaus

2

2,2

2,2

93,4

Kriegsgefangenschaft/ Zwangs­a rbeiter

6

6,6

6,6

100,0

91

100,0

100,0

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

7

17,9

17,9

Gesamt

T5 Von Bodelschwinghsche Anstalten Bethel Gültig

nicht zuordbar zu Hause

Kumulierte Prozente 17,9

27

69,2

69,2

87,2

Psychiatrie/Psych.Abteilung

3

7,7

7,7

94,9

Militäreinsatz

1

2,6

2,6

97,4

Kriegsgefangenschaft

1

2,6

2,6

100,0

39

100,0

100,0

Gesamt

Aufenthaltsort unmittelbar vor der Einweisung (Tabellen 6–10) T6 Universitäts- und Nervenklinik Greifswald Häufigkeit Gültig

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

Nicht zuordbar

10

13,7

13,7

13,7

zu Hause

50

68,5

68,5

82,2

nicht-psych. Krankenhaus

8

11,0

11,0

93,2

aus Gefängnis

1

1,4

1,4

94,5

Flüchtlings/Umsiedlerlager

3

4,1

4,1

98,6

Arbeitsplatz

1

1,4

1,4

100,0

73

100,0

100,0

Gesamt

321

T7 Heil- und Pflegeanstalt Untergöltzsch (ab 1947 Rodewisch) Häufigkeit Gültig

Nicht zuordbar

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

9

10,7

10,7

10,7

zu Hause

28

33,3

33,3

44,0

anderes psych. Krankenhaus

11

13,1

13,1

57,1

nicht-psych. Krankenhaus

12

14,3

14,3

71,4

Gefängnis

1

1,2

1,2

72,6

Altersheim

9

10,7

10,7

83,3

ohne Wohnsitz

1

1,2

1,2

84,5

Militäreinsatz

4

4,8

4,8

89,3

von Verwandten

1

1,2

1,2

90,5

Pflegeheim

6

7,1

7,1

97,6

Flüchtlings/Umsiedlerlager

2

2,4

2,4

100,0

84

100,0

100,0

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

9

11,5

Gesamt T8 Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar Gültig

Nicht zuordbar

11,5

Kumulierte Prozente 11,5

zu Hause

14

17,9

17,9

29,5

anderes psych. Krankenhaus

34

43,6

43,6

73,1

nicht-psych. Krankenhaus

17

21,8

21,8

94,9

Gefängnis

2

2,6

2,6

97,4

über psychichiatrische Beratungsstelle

2

2,6

2,6

100,0

78

100,0

100,0

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

Nicht zuordbar

18

19,8

19,8

zu Hause

25

27,5

27,5

47,3

anderes psych. Krankenhaus

11

12,1

12,1

59,3

nicht-psych. Krankenhaus

82,4

Gesamt T9 Landesheilanstalt Marburg Gültig

Kumulierte Prozente 19,8

21

23,1

23,1

Gefängnis

5

5,5

5,5

87,9

Jugendamt

1

1,1

1,1

89,0

Altersheim

2

2,2

2,2

91,2

ohne Wohnsitz

1

1,1

1,1

92,3

Militäreinsatz

1

1,1

1,1

93,4

Erziehungsanstalt

4

4,4

4,4

97,8

Arbeitslager

2

2,2

2,2

100,0

91

100,0

100,0

Gesamt

322

T10 Von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel Häufigkeit Gültig

Nicht zuordbar zu Hause

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

9

23,1

23,1

23,1

18

46,2

46,2

69,2

anderes psych. Krankenhaus

3

7,7

7,7

76,9

nicht-psych. Krankenhaus

7

17,9

17,9

94,9

auf der Straße aufgegriffen

1

2,6

2,6

97,4

Militäreinsatz

1

2,6

2,6

100,0

39

100,0

100,0

Gesamt

Einweisende Institution (Tabellen 11–15) T11 Universitäts- und Nervenklinik Greifswald Gültig

nicht zuordbar

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

12

16,4

16,4

16,4

polizeilich

2

2,7

2,7

19,2

Gesundheitsamt

2

2,7

2,7

21,9

Krankenhaus

8

11,0

11,0

32,9

psychiatrische Abteilung/ Klinik

2

2,7

2,7

35,6

25

34,2

34,2

69,9

von zu Hause ohne ärztliche Überweisung

ärztliche Praxis

1

1,4

1,4

71,2

psych. Außenfürsorge, ambulante Untersuchung der aufnehm. Klinikärzte führt zu Einweisung

5

6,8

6,8

78,1

Begutachtung (Arbeitsfähigkeit, Invalidität, Arbeitsunfallfolge)

4

5,5

5,5

83,6

Begutachtung § 51

2

2,7

2,7

86,3

Begutachtung Erbgesundheitsgericht

9

12,3

12,3

98,6 100,0

Krankenkasse Gesamt

1

1,4

1,4

73

100,0

100,0

323

T12 Heil- und Pflegeanstalt Untergöltzsch (ab 1947 Rodewisch) Gültig

Häufigkeit

Prozent

14

16,7

16,7

16,7

2

2,4

2,4

19,0

nicht zuordbar Polizeilich Richterlich

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

1

1,2

1,2

20,2

Gesundheitsamt

21

25,0

25,0

45,2

Krankenhaus

12

14,3

14,3

59,5

psychiatrische Abteilung/ Klinik

14

16,7

16,7

76,2

ärztliche Praxis

15

17,9

17,9

94,0

von zu Hause ohne ärztliche Überweisung

4

4,8

4,8

98,8

Begutachtung Erbgesundheitsgericht

1

1,2

1,2

100,0

84

100,0

100,0

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

Gesamt T13 Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar Gültig

Kumulierte Prozente

nicht zuordbar

11

14,1

14,1

14,1

Polizeilich

31

5,1

5,1

19,2

Richterlich

3

3,8

3,8

Gesundheitsamt

4

39,7

39,7

Krankenhaus

12

15,4

15,4

78,2

psychiatrische Abteilung/ Klinik

11

14,1

14,1

92,3

ärztliche Praxis

3

3,8

3,8

96,2

von zu Hause ohne ärztliche Überweisung

3

3,8

3,8

100,0

78

100,0

100,0

Gesamt

324

23 62,8

T14 Landesheilanstalt Marburg Gültig

nicht zuordbar

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

10

11,0

11,0

11,0

Polizeilich

2

2,2

2,2

13,2

Richterlich

2

2,2

2,2

15,4

Gesundheitsamt

4

4,4

4,4

19,8

Krankenhaus

17

18,7

18,7

38,5

psychiatrische Abteilung/ Klinik

14

15,4

15,4

53,8

ärztliche Praxis

22

24,2

24,2

78,0

von zu Hause ohne ärztliche Überweisung

1

1,1

1,1

79,1

Begutachtung (Arbeits­ fähigkeit, Invalidität, Arbeitsunfallfolge)

1

1,1

1,1

80,2

14

15,4

15,4

95,6

zur Begutachtung Erbgesundheitsgericht

Begutachtung § 51

3

3,3

3,3

98,9

zur Begutachtung (Entmündigung)

1

1,1

1,1

100,0

91

100,0

100,0

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

12

30,8

30,8

Gesamt

T15 Von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel Gültig

nicht zuordbar

Kumulierte Prozente 30,8

Polizeilich

2

5,1

5,1

35,9

Krankenhaus

8

20,5

20,5

56,4

psychiatrische Abteilung/ Klinik

1

2,6

2,6

59,0

ärztliche Praxis

6

15,4

15,4

74,4

von zu Hause ohne ärztliche Überweisung

1

2,6

2,6

76,9

über informelle Anfrage

8

20,5

20,5

97,4

Begutachtung (Arbeits­ fähigkeit, Invalidität, Arbeitsunfallfolge)

1

2,6

2,6

100,0

39

100,0

100,0

Gesamt

325

1.2 Tabellen Einweisungsweg Kriegsende bis einschließlich 1949 Dauerhafter Aufenthaltsort vor der Einweisung (Tabellen 16–20) T16 Universitäts- und Nervenklinik Greifswald Häufigkeit Gültig

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

nicht zuordbar

7

7,4

7,5

7,5

Wanderhof NS

2

2,1

2,2

9,7

Militärarrest

1

1,1

1,1

10,8

Straße

1

1,1

1,1

11,8

zu Hause

70

74,5

75,3

87,1

Flüchtlingslager

10

10,6

10,8

97,8

1

1,1

1,1

98,9 100,0

Militäreinsatz Kriegsgefangenschaft

1

1,1

1,1

Gesamt

93

98,9

100,0

Fehlend System

1

1,1

Gesamt

94

100,0

T17 Heil- und Pflegeanstalt Untergöltzsch (ab 1947 Rodewisch) Häufigkeit Gültig

nicht zuordbar zu Hause Psychiatrie/Psych. Abteilung Altersheim

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

3

3,8

5,1

5,1

37

46,8

62,7

67,8

4

5,1

6,8

74,6

11

13,9

18,6

93,2 94,9

Flüchtlingslager

1

1,3

1,7

Pflegeheim

2

2,5

3,4

98,3

Männerheim der Heilsarmee

1

1,3

1,7

100,0

100,0

Gesamt

59

74,7

System

20

25,3

Fehlend Gesamt

79

100,0

Gesamt

94

100,0

326

T18 Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar Gültig

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

nicht zuordbar

8

11,4

11,4

11,4

Straße

3

4,3

4,3

15,7

zu Hause

41

58,6

58,6

74,3

Gefängnis

1

1,4

1,4

75,7

Pflegefamilie

1

1,4

1,4

77,1

Altersheim

5

7,1

7,1

84,3 92,9

Ausländerlager PostWWII

6

8,6

8,6

Flüchtlingslager

4

5,7

5,7

98,6

Kinderheim

1

1,4

1,4

100,0

70

100,0

100,0

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

12

12,8

12,8

12,8

1

1,1

1,1

13,8

Gesamt T19 Landesheilanstalt Marburg Gültig

nicht zuordbar Straße zu Hause

Kumulierte Prozente

65

69,1

69,1

83,0

Psychiatrie/Psych.Abteilung

3

3,2

3,2

86,2

Gefängnis

1

1,1

1,1

87,2

Flüchtlingslager

9

9,6

9,6

96,8

Krankenhaus

1

1,1

1,1

97,9 100,0

Kriegsgefangenschaft

2

2,1

2,1

94

100,0

100,0

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

4

12,1

12,1

zu Hause

25

75,8

75,8

87,9

Gefängnis

1

3,0

3,0

90,9

Flüchtlingslager

2

6,1

6,1

97,0

Kriegsgefangenschaft

1

3,0

3,0

100,0

33

100,0

100,0

Gesamt

T20 Von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel Gültig

nicht zuordbar

Gesamt

Kumulierte Prozente 12,1

327

Aufenthaltsort unmittelbar vor der Einweisung (Tabellen 21–25) T21 Universitäts- und Nervenklinik Greifswald Gültig

Häufigkeit

Prozent

ohne Angabe

20

21,3

Gültige Prozente 21,7

Kumulierte Prozente 21,7

von zu Hause

53

56,4

57,6

79,3

nicht-psych. Krankenhaus

14

14,9

15,2

94,6

Gefängnis

1

1,1

1,1

95,7

Flüchtlings-/Umsiedlerlager

4

4,3

4,3

100,0

100,0

Gesamt

92

97,9

Fehlend System

2

2,1

Gesamt

94

100,0

T22 Heil- und Pflegeanstalt Untergöltzsch (ab 1947 Rodewisch) Gültig

Häufigkeit

Prozent

ohne Angabe

4

5,1

Gültige Prozente 6,8

Kumulierte Prozente 6,8

von zu Hause

23

29,1

39,0

45,8

aus anderem psych. Krankenhaus

4

5,1

6,8

52,5

aus nicht-psych. Krankenhaus

8

10,1

13,6

66,1

aus Gefängnis

1

1,3

1,7

67,8

13

16,5

22,0

89,8

auf der Straße aufgegriffen

1

1,3

1,7

91,5

von Verwandten

2

2,5

3,4

94,9

Pflegeheim

1

1,3

1,7

96,6

Männerheim der Heilsarmme

1

1,3

1,7

98,3 100,0

Altersheim

Flüchtlings-/Umsiedlerlager

1

1,3

1,7

Gesamt

59

74,7

100,0

Fehlend System

20

25,3

Gesamt

79

100,0

328

T23 Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar Häufigkeit Gültig

Nicht zuordbar

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

4

5,7

5,7

5,7

von zu Hause

21

30,0

30,0

35,7

aus anderem psych. Krankenhaus

23

32,9

32,9

68,6

nicht-psych. Krankenhaus

18

25,7

25,7

94,3

Gefängnis

1

1,4

1,4

95,7

Altersheim

1

1,4

1,4

97,1

auf der Straße aufgegriffen

1

1,4

1,4

98,6 100,0

ohne Wohnsitz Gesamt

1

1,4

1,4

70

100,0

100,0

Gültige Prozente

T24 Landesheilanstalt Marburg Gültig

Häufigkeit

Prozent

Nicht zuordbar

13

13,8

13,8

13,8

zu Hause

40

42,6

42,6

56,4

aus anderem psych. Krankenhaus

18

19,1

19,1

75,5

aus nicht-psych. Krankenhaus

17

18,1

18,1

93,6

aus Gefängnis

2

2,1

2,1

95,7

Altersheim

2

2,1

2,1

97,9

auf der Straße aufgegriffen

1

1,1

1,1

98,9 100,0

aus Erziehungsanstalt Gesamt

1

1,1

1,1

94

100,0

100,0

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

5

15,2

15,2

Kumulierte Prozente

T25 Von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel Gültig

Nicht zuordbar zu Hause

Kumulierte Prozente 15,2

24

72,7

72,7

87,9

nicht-psych. Krankenhaus

2

6,1

6,1

93,9

Gefängnis

1

3,0

3,0

97,0

auf der Straße aufgegriffen

1

3,0

3,0

100,0

33

100,0

100,0

Gesamt

329

Einweisende Institution (Tabellen 26–30) T26 Universitäts-und Nervenklinik Greifswald Gültig

nicht zuordbar Polizeilich

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

19

20,2

20,4

20,4

3

3,2

3,2

23,7

Krankenhaus

14

14,9

15,1

38,7

ärztliche Praxis/Land­ ambulatorium/Poliklinik

40

42,6

43,0

81,7

von zu Hause ohne ärztliche Überweisung

2

2,1

2,2

83,9

psych. Außenfürsorge, ambulante Untersuchung der aufnehm. Klinikärzte führt zu Einweisung

3

3,2

3,2

87,1

zur Begutachtung bestellt (Arbeitsfähigkeit, Invalidität, Arbeitsunfallfolge)

7

7,4

7,5

94,6

Begutachtung § 51

4

4,3

4,3

98,9 100,0

Begutachtung (Pflege) Gesamt

1

1,1

1,1

93

98,9

100,0

Fehlend System

1

1,1

Gesamt

94

100,0

T27 Heil- und Pflegeanstalt Untergöltzsch (ab 1947 Rodewisch) Gültig

Häufigkeit

Prozent

16

20,3

Polizeilich

2

Gesundheitsamt

5

Krankenhaus psychiatrische Abteilung/ Klinik ärztliche Praxis/Landambulatorium/Poliklinik von zu Hause ohne ärztliche Überweisung

nicht zuordbar

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

27,1

27,1

2,5

3,4

30,5

6,3

8,5

39,0

8

10,1

13,6

52,5

5

6,3

8,5

61,0

22

27,8

37,3

98,3

1

1,3

1,7

100,0

Gesamt

59

74,7

100,0

Fehlend System

20

25,3

Gesamt

79

100,0

330

T28 Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar Gültig

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

nicht zuordbar

7

10,0

10,1

Kumulierte Prozente

Polizeilich

4

5,7

5,8

15,9

Gesundheitsamt

2

2,9

2,9

18,8

10,1

Krankenhaus

15

21,4

21,7

40,6

psychiatrische Abteilung/ Klinik

23

32,9

33,3

73,9

ärztliche Praxis

13

18,6

18,8

92,8

5

7,1

7,2

100,0

100,0

von zu Hause ohne ärztliche Überweisung Gesamt

69

98,6

Fehlend System

1

1,4

Gesamt

70

100,0

T29 Landesheilanstalt Marburg Gültig

Häufigkeit

Prozent

nicht zuordbar

9

9,6

9,6

9,6

Polizeilich

1

1,1

1,1

10,6

Richterlich

4

4,3

4,3

14,9

Gesundheitsamt

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

2

2,1

2,1

17,0

Krankenhaus

12

12,8

12,8

29,8

psychiatrische Abteilung/ Klinik

19

20,2

20,2

50,0

ärztliche Praxis

39

41,5

41,5

91,5

2

2,1

2,1

93,6

Begutachtung § 51

4

4,3

4,3

97,9

Begutachtung (Entmündigung)

1

1,1

1,1

98,9 100,0

von zu Hause ohne ärztliche Überweisung

Begutachtung (Ehescheidung)

1

1,1

1,1

94

100,0

100,0

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

12

36,4

36,4

Polizeilich

1

3,0

3,0

39,4

Gesundheitsamt

5

15,2

15,2

54,5

Gesamt

T30 Von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel Gültig

nicht zuordbar

Krankenhaus ärztliche Praxis von zu Hause ohne ärztliche Überweisung über inoffizielle Anfrage Gesamt

Kumulierte Prozente 36,4

2

6,1

6,1

60,6

10

30,3

30,3

90,9

2

6,1

6,1

97,0 100,0

1

3,0

3,0

33

100,0

100,0

331

1.3 Tabellen Einweisungsweg 1950 bis 1955 Dauerhafter Aufenthaltsort vor der Einweisung (Tabellen 31–34) T31 Universitäts- und Nervenklinik Greifswald Gültig

Häufigkeit

Prozent

nicht zuordbar

3

3,8

3,9

3,9

Reservelazarett

1

1,3

1,3

5,2

zu Hause

72

91,1

93,5

98,7

Gefängnis

1

1,3

1,3

100,0

100,0

Gesamt

77

97,5

Fehlend System

2

2,5

Gesamt

79

100,0

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

T32 Heil- und Pflegeanstalt Untergöltzsch (ab 1947 Rodewisch) Häufigkeit Gültig

nicht zuordbar

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

2

2,8

3,1

3,1

zu Hause

55

76,4

85,9

89,1

Gefängnis

2

2,8

3,1

92,2

Altersheim

2

2,8

3,1

95,3

Blindenanstalt

1

1,4

1,6

96,9

Krankenhaus

1

1,4

1,6

98,4

bei Verwandten

1

1,4

1,6

100,0

100,0

Gesamt

64

88,9

Fehlend System

8

11,1

Gesamt

72

100,0

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

T33 Landesheilanstalt Marburg Gültig

Kumulierte Prozente

nicht zuordbar

12

12,8

12,9

12,9

zu Hause

65

69,1

69,9

82,8

Psychiatrie/Psych.Abteilung

11

11,7

11,8

94,6

4

4,3

4,3

98,9 100,0

Altersheim Flüchtlingslager Gesamt

1

1,1

1,1

93

98,9

100,0

Fehlend System

1

1,1

Gesamt

94

100,0

332

T34 Von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel Häufigkeit Gültig

nicht zuordbar zu Hause

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

1

1,6

1,6

1,6

60

93,8

93,8

95,3

Altersheim

1

1,6

1,6

96,9

Flüchtlingslager

2

3,1

3,1

100,0

64

100,0

100,0

Gesamt

Aufenthaltsort unmittelbar vor der Einweisung (Tabellen 35–38) T35 Universitäts- und Nervenklinik Greifswald Häufigkeit Gültig

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

nicht zuordbar

7

8,9

9,1

9,1

von zu Hause

56

70,9

72,7

81,8

anderes psych. Krankenhaus aus nicht-psych. Krankenhaus aus Gefängnis

1

1,3

1,3

83,1

11

13,9

14,3

97,4

2

2,5

2,6

100,0

100,0

Gesamt

77

97,5

Fehlend System

2

2,5

Gesamt

79

100,0

T36 Heil- und Pflegeanstalt Untergöltzsch (ab 1947 Rodewisch) Gültig

Häufigkeit

Prozent

nicht zuordbar

12

16,7

18,8

18,8

von zu Hause

24

33,3

37,5

56,3

anderes psych. Krankenhaus

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

4

5,6

6,3

62,5

17

23,6

26,6

89,1

Gefängnis

2

2,8

3,1

92,2

Altersheim

2

2,8

3,1

95,3

auf der Straße aufgegriffen

1

1,4

1,6

96,9

Polizei

1

1,4

1,6

98,4 100,0

nicht-psych. Krankenhaus

Arbeitsplatz

1

1,4

1,6

Gesamt

64

88,9

100,0

Fehlend System

8

11,1

Gesamt

72

100,0

333

T37 Landesheilanstalt Marburg Gültig

nicht zuordbar zu Hause anderes psych. Krankenhaus nicht-psych. Krankenhaus Gefängnis Altersheim Gesamt Fehlend System Gesamt

Häufigkeit 10 37 20 20 2 4 93 1 94

Prozent 10,6 39,4 21,3 21,3 2,1 4,3 98,9 1,1 100,0

Gültige Prozente 10,8 39,8 21,5 21,5 2,2 4,3 100,0

Kumulierte Prozente 10,8 50,5 72,0 93,5 95,7 100,0

Prozent 3,1 89,1 6,3 1,6 100,0

Gültige Prozente 3,1 89,1 6,3 1,6 100,0

Kumulierte Prozente 3,1 92,2 98,4 100,0

T38 Von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel Gültig

Nicht zuordbar zu Hause nicht-psych. Krankenhaus Altersheim Gesamt

Häufigkeit 2 57 4 1 64

Einweisende Institution (Tabellen 39–42) T39 Universitäts- und Nervenklinik Greifswald Gültig

nicht zuordbar Polizeilich Krankenhaus ärztliche Praxis/Land­ ambulatorium/Poliklinik psych. Außenfürsorge, ambulante Untersuchung der aufnehm. Klinikärzte führt zu Einweisung Begutachtung (Arbeits­ fähigkeit, Invalidität, Arbeitsunfallfolge) Begutachtung § 51 Begutachtung (Pflege) Betriebsärztlich Interruptionsgutachten Begutachtung Anstaltsunterbringung Gesamt Fehlend System Gesamt

334

Häufigkeit 10 1 12 22

Prozent 12,7 1,3 15,2 27,8

Gültige Prozente 13,0 1,3 15,6 28,6

Kumulierte Prozente 13,0 14,3 29,9 58,4

8

10,1

10,4

68,8

17

21,5

22,1

90,9

1 1 3 1 1

1,3 1,3 3,8 1,3 1,3

1,3 1,3 3,9 1,3 1,3

92,2 93,5 97,4 98,7 100,0

77 2 79

97,5 2,5 100,0

100,0

T40 Heil- und Pflegeanstalt Untergöltzsch (ab 1947 Rodewisch) Gültig

nicht zuordbar Polizeilich

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

11

15,3

17,2

17,2

3

4,2

4,7

21,9

Richterlich

1

1,4

1,6

23,4

Gesundheitsamt

4

5,6

6,3

29,7

Krankenhaus

18

25,0

28,1

57,8

psychiatrische Abteilung/ Klinik

3

4,2

4,7

62,5

ärztliche Praxis/Land­ ambulatorium/Poliklinik

20

27,8

31,3

93,8

Begutachtung (Arbeitsfähigkeit, Invalidität, Arbeitsunfallfolge)

1

1,4

1,6

95,3

Begutachtung § 51

3

4,2

4,7

100,0

100,0

Gesamt

64

88,9

Fehlend System

8

11,1

Gesamt

72

100,0

Häufigkeit

Prozent

T41 Landesheilanstalt Marburg Gültig

nicht zuordbar

7

Polizeilich

3

Richterlich

6

Gesundheitsamt

7,4

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

7,5

7,5

3,2

3,2

10,8

6,4

6,5

17,2

5

5,3

5,4

22,6

Krankenhaus

17

18,1

18,3

40,9

psychiatrische Abteilung/ Klinik

20

21,3

21,5

62,4

ärztliche Praxis

27

28,7

29,0

91,4

3

3,2

3,2

94,6 100,0

von zu Hause ohne ärztliche Überweisung Begutachtung § 51 Gesamt

5

5,3

5,4

93

98,9

100,0

Fehlend System

1

1,1

Gesamt

94

100,0

335

T42 Von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel Gültig

Häufigkeit

Prozent

nicht zuordbar

6

9,4

9,4

Polizeilich

1

1,6

1,6

10,9

Krankenhaus

6

9,4

9,4

20,3

psychiatrische Abteilung/ Klinik

1

1,6

1,6

21,9

ärztliche Praxis

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente 9,4

33

51,6

51,6

73,4

von zu Hause ohne ärztliche Überweisung

4

6,3

6,3

79,7

psych. Außenfürsorge, ambulante Untersuchung der aufnehm. Klinikärzte führt zu Einweisung

1

1,6

1,6

81,3

Begutachtung (Arbeits­ fähigkeit, Invalidität, Arbeitsunfallfolge)

12

18,8

18,8

100,0

Gesamt

64

100,0

100,0

1.4 Tabellen Einweisungsweg 1956 bis 1963 Dauerhafter Aufenthaltsort vor der Einweisung (Tabellen 43–46) T43 Universitäts- und Nervenklinik Greifswald Gültig

nicht zuordbar zu Hause

Häufigkeit

Prozent

3

5,9

Gültige Prozente 5,9

Kumulierte Prozente 5,9

45

88,2

88,2

94,1

Psychiatrie/Psych.Abteilung

2

3,9

3,9

98,0

Altersheim

1

2,0

2,0

100,0

51

100,0

100,0

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

Gesamt T44 Landesanstalt Großschweidnitz Gültig

nicht zuordbar Wanderhof zu Hause

5

7,5

7,5

Kumulierte Prozente 7,5

1

1,5

1,5

9,0

50

74,6

74,6

83,6

Psychiatrie/Psych.Abteilung

2

3,0

3,0

86,6

Gefängnis

4

6,0

6,0

92,5

Altersheim

2

3,0

3,0

95,5

Flüchtlingslager

1

1,5

1,5

97,0

Pflegeheim

2

3,0

3,0

100,0

67

100,0

100,0

Gesamt

336

T45 Landesheilanstalt Marburg Häufigkeit Gültig

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

nicht zuordbar

7

7,8

7,9

7,9

Wanderhof

2

2,2

2,2

10,1

67

74,4

75,3

85,4

Psychiatrie/Psych.Abteilung

zu Hause

7

7,8

7,9

93,3

Gefängnis

1

1,1

1,1

94,4

Altersheim

1

1,1

1,1

95,5

Erziehungsanstalt

2

2,2

2,2

97,8

Krankenhaus

1

1,1

1,1

98,9 100,0

Bundeswehr Gesamt

1

1,1

1,1

89

98,9

100,0

Fehlend System

1

1,1

Gesamt

90

100,0

T46 von Bodelschwinhsche Stiftungen Bethel Gültig

nicht zuordbar zu Hause

Häufigkeit

Prozent

1

1,8

Gültige Prozente 1,8

Kumulierte Prozente 1,8

51

89,5

89,5

91,2

Psychiatrie/Psych.Abteilung

3

5,3

5,3

96,5

Altersheim

1

1,8

1,8

98,2

Flüchtlingslager

1

1,8

1,8

100,0

57

100,0

100,0

Gesamt

Aufenthaltsort unmittelbar vor der Einweisung (Tabellen 47–50) T47 Universitäts- und Nervenklinik Greifswald Häufigkeit Gültig

nicht zuordbar zu Hause

Prozent

Gültige Prozente

4

7,8

7,8

Kumulierte Prozente 7,8

37

72,5

72,5

80,4

anderes psych. Krankenhaus

2

3,9

3,9

84,3

nicht-psych. Krankenhaus

6

11,8

11,8

96,1

Gefängnis

1

2,0

2,0

98,0 100,0

Altersheim Gesamt

1

2,0

2,0

51

100,0

100,0

337

T48 Landesanstalt Großschweidnitz Häufigkeit Gültig

nicht zuordbar zu Hause anderes psych. Krankenhaus nicht-psych. Krankenhaus

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

4

6,0

6,0

6,0

37

55,2

55,2

61,2

2

3,0

3,0

64,2

12

17,9

17,9

82,1

Gefängnis

6

9,0

9,0

91,0

Altersheim

2

3,0

3,0

94,0

Pflegeheim

2

3,0

3,0

97,0

Polizei

1

1,5

1,5

98,5 100,0

Flüchtlings/Umsiedlerlager Gesamt

1

1,5

1,5

67

100,0

100,0

T49 Landesheilanstalt Marburg Gültig

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

nicht zuordbar

11

12,2

12,4

Kumulierte Prozente 12,4

zu Hause

46

51,1

51,7

64,0

anderes psych. Krankenhaus

15

16,7

16,9

80,9

nicht-psych. Krankenhaus

8

8,9

9,0

89,9

Gefängnis

3

3,3

3,4

93,3

Jugendamt

1

1,1

1,1

94,4

Altersheim

1

1,1

1,1

95,5

auf der Straße aufgegriffen

1

1,1

1,1

96,6

Erziehungsanstalt

2

2,2

2,2

98,9 100,0

Bundeswehr Gesamt

1

1,1

1,1

89

98,9

100,0

Fehlend System

1

1,1

Gesamt

90

100,0

T50 Von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel Häufigkeit Gültig

Nicht zuordbar

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

2

3,5

3,5

3,5

51

89,5

89,5

93,0

anderes psych. Krankenhaus

2

3,5

3,5

96,5

Altersheim

1

1,8

1,8

98,2 100,0

zu Hause

Polizei

1

1,8

1,8

Gesamt

57

100,0

100,0

338

Einweisende Institution (Tabellen 51–54) T51 Universitäts- und Nervenklink Greifswald Gültig

nicht zuordbar Krankenhaus psychiatrische Abteilung/Klinik Ärztliche Praxis/ Land­ ambulatorium/Poliklinik von zu Hause ohne ärztliche Überweisung psych. Außenfürsorge, ambulante Untersuchung der aufnehm. Klinikärzte führt zu Einweisung Begutachtung (Arbeits­ fähigkeit, Invalidität, Arbeitsunfallfolge) Begutachtung § 51 Begutachtung (Entmündigung) Betriebsärztlich Gesamt Fehlend System Gesamt

Häufigkeit 3 6 1 18

Prozent 5,9 11,8 2,0 35,3

Gültige Prozente 6,0 12,0 2,0 36,0

Kumulierte Prozente 6,0 18,0 20,0 56,0

1

2,0

2,0

58,0

5

9,8

10,0

68,0

9

17,6

18,0

86,0

4 1 2 50 1 51

7,8 2,0 3,9 98,0 2,0 100,0

8,0 2,0 4,0 100,0

94,0 96,0 100,0

Häufigkeit 7 3 2 1 12 2 27

Prozent 10,4 4,5 3,0 1,5 17,9 3,0 40,3

Gültige Prozente 10,4 4,5 3,0 1,5 17,9 3,0 40,3

Kumulierte Prozente 10,4 14,9 17,9 19,4 37,3 40,3 80,6

4

6,0

6,0

86,6

1

1,5

1,5

88,1

6 1 1 67

9,0 1,5 1,5 100,0

9,0 1,5 1,5 100,0

97,0 98,5 100,0

T52 Landesanstalt Großschweidnitz Gültig

nicht zuordbar Polizeilich Richterlich Gesundheitsamt Krankenhaus psychiatrische Abteilung/Klinik ärztliche Praxis/Land­ ambulatorium/Poliklinik psych. Außenfürsorge, ambulante Untersuchung der aufnehm. Klinikärzte führt zu Einweisung Begutachtung (Arbeits­ fähigkeit, Invalidität, Arbeitsunfallfolge) Begutachtung § 51 Betriebsärztlich Krankenkasse Gesamt

339

T53 Landesheilanstalt Marburg Gültig

nicht zuordbar

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

12

13,3

13,5

13,5

Polizeilich

6

6,7

6,7

20,2

Richterlich

9

10,0

10,1

30,3

Krankenhaus

8

8,9

9,0

39,3

psychiatrische Abteilung/ Klinik

11

12,2

12,4

51,7

ärztliche Praxis

32

35,6

36,0

87,6

von zu Hause ohne ärztliche Überweisung

4

4,4

4,5

92,1

Begutachtung (Arbeitsfähigkeit, Invalidität, Arbeitsunfallfolge)

2

2,2

2,2

94,4

Begutachtung § 51

4

4,4

4,5

98,9 100,0

Begutachtung (Pflege) Gesamt

1

1,1

1,1

89

98,9

100,0

Fehlend System

1

1,1

Gesamt

90

100,0

T54 Von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel Häufigkeit Gültig

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

nicht zuordbar

4

7,0

7,0

7,0

Richterlich

1

1,8

1,8

8,8

Krankenhaus

2

3,5

3,5

12,3

37

64,9

64,9

77,2

3

5,3

5,3

82,5

Begutachtung (Arbeits­ fähigkeit, Invalidität, Arbeitsunfallfolge)

10

17,5

17,5

100,0

Gesamt

57

100,0

100,0

ärztliche Praxis von zu Hause ohne ärztliche Überweisung

340

2. Weitere Statistische Auswertungen T55 Beendigung des Aufenthalts in der Universitäts- und Nervenklinik Greifswald 1950-1963 Häufigkeit Gültig

entlassen aus Klinik

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

114

89,1

89,8

89,8

gestorben in Klinik

5

3,9

3,9

93,7

in andere psychiatrische oder Pflegeeinrichtung überführt

4

3,1

3,1

96,9

entwichen

1

,8

,8

97,6

in eine chirurgische Klinik oder auf andere nicht psych. und nicht neurol. Station

3

2,3

2,4

100,0

127

99,2

100,0

Gesamt Fehlend System

1

,8

Gesamt

128

100,0

T56 HPA Untergöltzsch 1941 bis Kriegsende, Geschlechterverteilung bei Zwangseinweisungen Gültig

männlich

Häufigkeit

Prozent

7

33,3

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

33,3

33,3 100,0

weiblich

14

66,7

66,7

Gesamt

21

100,0

100,0

341

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen Ungedruckte Quellen Archiv des Bezirks Oberbayern

Jahrbücher Eglfing-Haar 1941 bis 1959 Patientenakten 1941 bis 1949: 180 Einzelfallakten nach Zufallszahlen

Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen

Patientenakten 1941 bis 1963: 370 Einzelfallakten nach Zufallszahlen

Bayerisches Hauptstaatsarchiv München

Akten des Staatsministeriums des Innern Nr. 80911 Fürsorge für Geisteskranke 1947–1955 Nr. 80914 Fürsorge für Geisteskranke 1961–

Bundesarchiv Koblenz

B 106/36773 Freiheitsentzug und Einschränkung für Geisteskranke, 1951–1963 B 142/1017 Isolierung von Infizierten Personen und Unterbringung von Geisteskranken. – Ausführung des Artikels 104 GG, 1949–1955 B 189/9106 Zwischenstaatliche Vereinbarungen über den Nachrichtenaustausch bei Anstaltseinweisungen, Entlassungen und den Tod von Geisteskranken  – Allgemeines, 1955–1969

Bundesarchiv Lichterfelde

DQ1 Ministerium für Gesundheitswesen 22109 Ministerium für Gesundheitswesen, Abt. Organisation des Gesundheitsschutzes, Psychiatrie 21228 Ministerium für Gesundheitswesen, Abt. Org. des Gesundheitsschutzes, Sektor Allg. Gesundheitsschutz/Psychiatrie, Eingaben aus der Bevölkerung Buchst S-Z 1963 21230 Ministerium für Gesundheitswesen, Eingaben aus der Bevölkerung 1959–62 Multiple Sklerose 3902, Ministerium für Gesundheitswesen, Eingaben Psychiatrie 1952–54 6691, Ministerium für Gesundheitswesen, 1955–67, Sektor spezielle med. Betreuung, Psychiatrie 21600 Ministerium für Gesundheitswesen, Staatliche Einrichtungen, u. a. Großschweidnitz u. Rodewisch, Stralsund und Ueckermünde

343

Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel

Patientenakten 1941–1963: 220 Einzelfallakten nach dem System GORT aus den Beständen: Mahanaim 1 Mahanaim 2 Morija 1 Morija 2 Gilead III

Hessisches Hauptstaatsarchiv Marburg

Bestand 180, Nr.  3589 Überwachung und Unterbringung von Geisteskranken 1901–1947 Bestand 401.13, Nr. 34: Krankheitsbekämpfung 1945–1953 Bestand 401.15, Nr. 83: Gesundheitswesen Bestand 401.17, Nr.  219: Hess. Beauftragter an der Grenzübergangsstelle Furth im Wald: Berichte über Einweisung von Heimatvertriebener ins Bundesgebiet und ins Land Hessen, 1950–1951

Landesarchiv Greifswald

Rep 200 9.1. Gesundheits- u. Sozialwesen, Sign. 14 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Rostock, Abt. Gesundheitswesen; Situations­ berichte über die Versorgung von psychiatrischen und neurologischen Patienten, 1957 Sign. 56 Rat des Bezirks Rostocks, Abt. Gesundheitswesen; Fachorgane der örtlichen Räte, Gesundheitswesen, Bezirk Rostock, Arbeit, Berichte

Landeshauptarchiv Schwerin

5.12–7/1 Ministerium für Medizinalangelegenheiten, 10054 Aufnahmebedingungen, Bd. 2

Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden

Bestand 10822, Landesanstalt Großschweidnitz, Krankenakten 1956–63: 66 Einzelfallakten nach dem System GORT

Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz

Bestand 32810 Sächsisches Krankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Rodewisch (Landeskrankenhaus), Krankenakten 1941–1955: 248 Einzelfallakten nach Zufallszahlen

Staatsarchiv München

Bestand: Polizeidirektion, Nr. 7979 Sammel-Akt: Heil- und Pflegeanstalt Haar, 1941 Bestand Landratsamt München, Nr. 59141 Heil- und Pflegeanstalt 1941–44 Nr. 20261 Geisteskranke, Krüppelhafte, Taubstumme u. Blinde 1851–1943

344

Stadtarchiv München

Bestand Gesundheitswesen, Nr. 117 Gesundheitsamt, Eheberatungsstelle

Universitätsarchiv Greifswald

Patientenakten 1941–1963: 400 Einzelfallakten nach dem System GORT

Gedruckte Quellen Psychiatrische Zeitschriften

Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie, Jahrgänge 1949–1963 Der Nervenarzt, Jahrgänge 1941–1963

Psychiatrische Lehrbücher und Monographien

Bumke, Oswald, Lehrbuch der Geisteskrankheiten, München 1936. Ewald, Gottfried, Neurologie und Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, München 1944. – Neurologie und Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, München 1948. – Neurologie und Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, München 1954. – Neurologie und Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, München 1959. Fuhrmann, Manfred u. Heinrich Korbsch, Lehrbuch der Psychiatrie für Studierende, Ärzte und Juristen, Leipzig 1937. Giljarowski, W. A., Lehrbuch der Psychiatrie, Berlin 1960. Hollmann, Werner, Krankheit, Lebenskrise und soziales Schicksal, Leipzig 1940. Kolle, Kurt, Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Berlin 1943. – Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Berlin 1949. – Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Stuttgart 1961. Lange, Johannes, Kurz gefasstes Lehrbuch der Psychiatrie, Leipzig 1936. Schneider, Kurt, Die psychopathischen Persönlichkeiten, Wien 1923 bis 1943 (Erste bis achte Auflage).

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Register Kursiv gestellte Seitenzahlen verweisen auf Fundstellen in den Anmerkungen. Aktion T4  10, 57, 60, 166, 220, 307 Aktion Brandt  11, 60, 110, 117, 129, 168, 307 Alter/Alte Menschen  21, 27, 34, 45, 74, 77, 99, 111, 118, 121 f., 125–128, 131, 134, ­137–139, 145, 148 f., 153, 157, 159, 161, 165, 168, 177, 279, 305–307 Alzheimer  138, 168, 176 Anamnese  21, 36, 107, 135 f., 148, 167, 175, 200, 206–212, 215, 227, 231, 248 f., 251, 256–258, 277, 297, 298 Antidepressiva siehe auch Psychopharmaka  223 Arbeitslosigkeit siehe Erwerbslosigkeit Arbeitsneurose  227, 280–282, 284, 289, 292 Asoziale  28, 32, 54 f., 129 f., 132 f., 138, 154, 161, 207, 230, 233, 245, 264, 278, 280, 290, 292, 298, 305–307 Autogenes Training  283 Bayern 39, 47, 85, 96, 130, 150, 151–153, 156, 310 Bayerisches Staatsministerium für Justiz  97 Baeyer, Walter von  185, 272, 274, 277 Bedingte Reflexe  193, 196 Betriebsarzt  67, 133, 205, 207, 233, 255 f. Bleuler, Eugen  44, 187 f. Bleuler, Manfred  187, 192 Braunmühl, Anton von  97 f., 102 f. Bulgarien 198 Bumke, Oswald  169, 266 Bürgertum  21, 24, 43–45, 52, 54, 86, 217, 219, 249, 273, 279, 283, 303, Bykov, Konstantin  196

Deutscher Verein für psychisch behinderte Personen 99 Deutsches Institut für psychologische ­ Forschung und Psychotherapie/»GöringInsitut«  274, 283 Diktatur des Cortex  193, 197 f., 286 DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders)  187, 191, 269 Epilepsie  19, 56, 146, 216 Ersatzkrankenhaus  60, 121, 129 Erschöpftsein  268, 272 f. Erster Weltkrieg  10, 15, 49 f., 118 f., 213, 254, 265, 271 Erwerbslosigkeit  240, 253 Ewald, Gottfried  269 Freud, Sigmund  195, 279, 287 Frischhormontherapie 224 Fuhrmann, Manfred  266 Fürsorgeverbände  17, 20, 57, 94–97, 208

Conrad, Klaus  175 f., 179 Cortex cerebri  193, 197, 227

Gehalt/Lohn  277 f. Geschlechtskrankheiten siehe venerische Krankheiten GG (Grundgesetz)  27, 152–154, 156, 310 GgGSB (Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über die Maßregeln der Sicherung und Besserung)  55 Giljarowski, Wladimir A.  191, 193 f., 210, 231 Griesinger, Wilhelm  40, 43, 45, 47, 181 Gutachten  21, 48 f., 56, 86, 99, 105, 124, 160, 199, 200–203, 205, 212, 214 f., 230, 236, 263, 271, 274, 276, 288–290, 292 f. GzVeN (Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses)  19, 55 f.

DAF (Deutsche Arbeitsfront)  67, 233, 274 Degeneration   52–55, 132, 202, 265 Demenz  123, 128, 138, 157, 290 Dementia Praecox  44, 169, 176, 181, 192

Haina, Heil- und Pflegeanstalt  39, 298 f. Halbierungserlass  57, 94–97, 99 Hausfrau 235, 239, 249, 254 f., 257, 284 Hessen  17, 39, 78, 93, 150–153, 156, 298, 310

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Hilfskrankenhaus 122 Hirnarteriosklerose 170 Hollmann, Werner  277 f., 280–282, 284, 289 Hoppe, Christa  282, 293 Hülsmann, Paul  271 Hysterie  50–52, 213, 290 Jaspers, Karl  176, 187 Jung, Richard  172–174, 180, 191 f. Kleist, Karl  184 Kaiserreich  32, 51–53, 132, 179, 202, 263 f., 266, 269, 283, 285 Kennerschaft  175–180, 182–184, 189, 198, 204 f., 211, 227, 277, Kraemer, Richard  175–181 Kraepelin, Emil  44, 52–54, 169, 179, 181, 192, 260, 265 f., 270, 283 Kriegszitterer  50, 119, 280 Kolle, Kurt  169, 170, 186, 210 f. Kretschmer, Ernst  54, 196 f., 270 Leipzig, Karl-Marx-Universität, psych. ­ Abteilung und Poliklinik  87, 89, Leipzig, Neurologisch-psychiatrische Klinik Karl-Marx-Universität  191, 193 f. Leipzig-Dösen, Nervenheilanstalt  70 Lemke, Rudolf  198 Liquor 185 Lokales Wissen  37, 171–174, 185, 189, 191 f., 195, 228, 301 Managerkrankheit  188, 268 f., 282, 305 MDI (manisch-depressives Irresein)  56, 120, 169, 170, 192, 297 Mechler, Achim  175 Merxhausen, Heil- und Pflegeanstalt  39 Meyer, Adolf  186 f. Ministerium für Arbeit und Berufsaus­ bildung 86 Ministerium für Gesundheitswesen  82, 85, 141 f., 190, 192 f., 195, 223–228 Morel, Bénédict Augustin  52–54 Multiple Sklerose  19, 63 f., 167, 180, ­223–226, 295, 299 Neurasthenie  52, 264 f., 269, 273, 281–283 Nobbe, Hermann  84 NRW  94, 98, 150–153, 201, 226 Nyirö, Gyula  198

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Oppenheimer, Hermann  49 f., 265 Organneurose  278, 280–282, 284, 288, 290, 293 Parkinson  83, 168 Pavlov, Ivan P.  33, 84, 190, 193, 195–198, 210, 227, 279, 280, 281–288, 291, 293, Pfannmüller, Hermann  18, 128 Polen 78 Poliklinik  46 f., 63, 83, 85, 87, 89–92, 94, 111, 133, 144, 205, 207, 244, 300 Präcox-Gefühl  176 f., 180, 183 Progressive Paralyse  135, 174, 202 Propaganda  19, 57, 61, 64, 74, 110, 165, 238 f., 245, 249, 250, 284, 292, 304 Propaphenin 88 Prophylaxe  40, 54, 165, 196, 311, Psychose  88, 119, 120, 160, 169 f., 176, 181, 185, 187 f., 192, 195, 196, 198, 201 f., 215, 219, 253, 267, 271, 275 Psychopathie  51, 54, 99, 129, 132–134, 169 f., 173, 181 f., 187, 195, 200–202, 207, 230, 244, 264–272, 274, 276, 278–280, 282– 286, 288–293, 305 f. Psychotherapie  51, 170, 186–189, 228, 273, 274, 283, 285, 287 Psychopharmaka  88, 168, 185–189, 223, 228 PVG (Polizeiverwaltungsgesetz)  46, 47, 114, 140 f., 152, Rentenneurose  51, 181, 230, 265 f., 272, 285, 289, 293 Rohkosttherapie 224 Rosenkötter, Lutz  188 Rostock 83–85, 90, 93, 99, 111, 290 Runge, Hans  107 Rüdin, Ernst  49, 54, 56 Rümke, Henricus C.  176 f. Sachsen 17, 33, 34, 39, 46, 47, 78, 82 f., 121, 191, 198, SBZ  34, 75, 78, 80, 86 f., 90, 140, 142, 149, 258, 262, 277 Scheid, Werner  172–174, 180, 191 Schizophrenie  19, 30, 44, 45, 54, 56, 102, 119 f., 145, 167–169, 170, 172, 174–177, 181, 183–190, 192, 195–198, 201–204, 218, 227 f., 241, 253, 275, 284–286, 293, 295, 297 f. Schneider, Kurt  176 f., 186, 187, 265, 269 f., 279, 288 Schönbrunn, Anstalt  25, 71, 122

Schultz, Johannes Heinrich  273, 277, 283 Schwachsinn  56, 99, 132, 200, 275 Schwarz, Hanns  194 f., 210, 287 f. Schweiz  185, 186, 189, 228 Selbstmord siehe Suizid Selye, Hans  188, 273 Soldaten  11, 27, 50 f., 77, 117–121, 123, 129, 134, 137, 165, 236, 237, 247, 280, 306 Stengel, Erwin  171 f., 190 f. Stertz, Georg  272 Stierlin, Helm  188 Stoffwechselerkrankungen  185, 197 Stralsund, psychiatrische Abteilung  83, 124, 243 Stress  52, 188, 251, 263, 268, 273, 275, 305 Suizid/Selbstmord  84, 88, 112, 125, 213, 243, 244, 251, 253 f., 256 f., 267 Sullivan, Herbert  186 f. Syphilis 135, 174 Tabes Dorsalis   174 Török, Stephan  285 Traumatische Neurose  49 f., 52, 264 f., 266 Trigeminusneuralgie 180 Tschechoslowakei/ČSR 78 Tscholakow, Kirill  198, 298 Tuberkulose/TBC  72, 83, 154, Uchtspringe, Heil- und Pflegeanstalt  84, 196 Ueckermünde, Heil- und Pflegeanstalt  83 Überarbeitung  33, 230, 247–251, 255, ­257–259, 262–266, 268 f., 272, 274, 277 f., 281–284, 287, 291–294 Ungarn  198, 285 Unterschicht  20, 24, 45, 52–54, 66, 132, 138, 161, 181, 264 f., 305 f.

Unzurechnungsfähigkeit (§ 51 StGB)  48, 55, 76, 85, 105, 114, 153, 155, 179, 182, 214, 290 UdSSR/Sowjetunion  10, 13, 20, 30, 37, 82, 87, 115, 191, 193–198, 210, 223, 226–228, 259, 262, 279–281, 284, 287 f., 290 f., 293, 306 USA  10, 53, 155, 164, 167, 185–189, 191, ­193–195, 197, 226, 228, 254, 268, 269, 273, 279, 283, 286, 310 Venerische Erkrankungen/Geschlechtskrankheiten  27, 32, 127, 131–133, 135, 137 f., 161, 165, 169, 174, 213, 237, 292, 298, 307 Vererbungslehre  53, 55, 215, 271, 287, 293 Verband der Angestellten Krankenkassen e. V. Hamburg  95, 96 Vertriebene  25, 59, 77–80, 111, 308 Vogt, Cécile  195, 196 Vogt, Oskar  195, 196 Walther, Rolf  83, 141, 196 f. Weimarer Republik  25, 40, 46 f., 51, 53, 81, 87, 89, 90, 98, 129, 138, 189, 233, 254, 264, 266, 273, 285–287, 299 WHO/Weltgesundheitsorganisation  171 f., 190 f., 194 f. Würzburger Schlüssel  53, 55, 168 f., 171 f., 190 f., 201, 213 f. Zittau, Poliklinik  87 f. Zusammenbruchgesellschaft  11, 25, 75, 112, 148, 239, 261, 308 Zschadraß, Heil- und Pflegeanstalt  126 Zweiter Internationaler Kongress für ­ Psychiatrie  186 f., 189, 192

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