Der stille Bürgerkrieg. Ernst Jünger und Carl Schmitt im Dritten Reich 978-3-938844-08-3

"Carl Schmitt ist in meiner und ich bin in seiner Biographie unvermeidlich", notierte Ernst Jünger am 18. Augu

1,035 90 5MB

German Pages 152 Year 2007

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Der stille Bürgerkrieg. Ernst Jünger und Carl Schmitt im Dritten Reich
 978-3-938844-08-3

Citation preview

DER STILLE BÜRGERKRIEG

.

MARTIN TIELKE

Martin Tielke

DER STILLE BÜRGERKRIEG ERNST JÜNGER UND CARL SCHMITT IM DRITTEN REICH

L IBRARY PETERBOROUGH, ONTARIO

LANDTVERLAG

Digitized by the Internet Archive in 2019 with funding from Kahle/Austin Foundation

https://archive.org/details/derstilleburgerkOOOOtiel

INHALT

Einleitung. Ernst Jünger - Zeuge des Schmerzes

7 15

Der Held legt seine Orden an . 26 Der Erste Weltkrieg. 38 Das Verhältnis zum Nationalsozialismus . 45 Bürgerkrieg und Weltbürgerkrieg . 55 Die Preisgabe der moralischen Kälte . 76 Das Tagebuch als Logbuch. 80 Carl Schmitt - Staatsrat ohne Staat

85

Hobbes und Melville . 96 Die Freundschaft kühlt ab .106 Geschichte im Konjunktiv .115 Das größere Verdienst.122 »Divinitas hamum in mare seculi mittit« .129 Editorische Nachbemerkung.141 Bildnachweis.142

EINLEITUNG

»Besser durch sie sterben, als für sie.« Carl Schmitt, 1943 1

Z

ur Zeit des Dritten Reiches hatte Ernst Jünger viele Freunde und Bekannte. Aber einen gab es, den er am

Ende seines Lebens rückblickend als den engsten Freund in jenen Jahren bezeichnete: Carl Schmitt.2 Und zu den letzten Worten Carl Schmitts vor seinem Tode 1985 gehört eines über Jünger: »Man kommt nicht leicht an ihn heran. Er hat seine Aura. Aber er ist ein echter Freund.«3 Diese Überein¬ stimmung hinsichtlich einer mehr als fünfzig Jahre währen¬ den Beziehung ist erstaunlich, weil das Verhältnis von Ernst Jünger und Carl Schmitt gewöhnlich als spannungsreich und konfliktgeladen beschrieben wird. Die Differenzen werden dabei mit Unterschieden in Charakter und Temperament oder schlicht mit der »Mißgunst« Carl Schmitts gegenüber dem nach 1945 Erfolgreicheren erklärt.4 Doch diese Erklärung

1

Ernst Jünger/Carl Schmitt, Briefe 1930-1983, hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel, Stuttgart 1999, S. 159. 2 Ernst Jünger mit Antonio Gnoli und Franco Volpi, Die kommenden Titanen, Wien/Leipzig 2002, S. 51 f. 3 Ernst Hüsmert, »Die letzten Jahre von Carl Schmitt«, in: Schmittiana 1, hrsg. von Piet Tommissen, 2. Auf]., Brüssel 1988,8.54. 4 Von »Mißgunst« spricht Helmuth Kiesel, der Herausgeber des Briefwech¬ sels Jünger-Schmitt (wie Anm. 1, S.880). Vgl. auch Paul Noack, »Capisco

9

bleibt unbefriedigend; sie führt sogar in die Irre, weil sie den Blick auf die Sache verstellt. Tatsächlich war das Verhältnis der beiden Männer von tiefgehenden sachlichen Differen¬ zen bestimmt, die mit dem Hinweis auf persönliche Eigen¬ arten oder Charakterschwächen gerade nicht erfaßt sind. Diese Unterschiede äußerten sich vor allem in zwei Punkten. Zum ersten in der Bewertung des Krieges. Ernst Jünger hatte ein existenzialistisches Verhältnis zum Krieg und überhöhte ihn zum mythischen Kampf, wobei er sich gern auf Homer berief. Dagegen war der Krieg für den ganz unmilitärischen Carl Schmitt lediglich ein Objekt wissen¬ schaftlichen Nachdenkens. Mit Clausewitz sah er ihn als die zweckrationale Fortführung der Politik mit anderen Mitteln. Zum zweiten zeigte sich der Unterschied darin, daß Jünger die Arbeit in der »technischen Werkstättenlandschaft« der Gegenwart glorifizierte und die Gestalt des Arbeiters als eine Zukunftsfigur feierte, während Schmitt sie nüchtern als überholt erkannte, und zwar gerade durch die moderne tech¬ nische Welt. Entsprechend gering schätzte er Jüngers Buch Der Arbeiter, auf das sein Autor so stolz war. Zu Jüngers Ver¬ druß hatte Schmitt dafür nur Spott übrig. Ob er denn auch die Tätigkeit der Engel im Himmel als Arbeit bezeichne, soll er Jünger gefragt haben. Die tiefere Ursache dieser gravierenden Differenzen hegt darin, daß Jünger in kosmischen Dimensionen lebte, aus de¬ nen er sich nicht in die Niederungen des Geschichtlichen herabheß. Ihm ging es um den ewig gültigen und immer et obmutesco. Eine Kontroverse zwischen Ernst Jünger und Carl Schmitt«, in: Peter R. Weilemann/Hanns Jürgen Küsters/Günter Buchstab (Hrsg.), Macht und Zeitkritik. Festschrift fiir Hans-Peter Schwarz zum 63. Geburtstag, Paderborn usw. 1999, S.723-728; ders., »Die Asymmetrie des Symmetri¬ schen. Die Beziehungen von Ernst Jünger und Carl Schmitt«, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2003, S. 85-93. Paul Noack hat über Schmitt wie Jünger jeweils auch eine Biographie vorgelegt.

10

gleichbleibenden Mythos. Carl Schmitt dagegen dachte ge¬ schichtlich-politisch und aut die konkrete historische Situa¬ tion bezogen. Jünger bewegte sich im Modus von Bildern und »Annäherungen«. Schmitt kam es als Jurist und vor allem als Schüler Max Webers auf analytische Durchdrin¬ gung und äußerste begriffliche Zuspitzung an. Er zielte auf die Besonderheit und Unwiederholbarkeit des einmaligen geschichtlichen Augenblicks. Jünger aber suchte das Allge¬ meine, in dem die Besonderheit aufgehoben ist — für Schmitt die Nacht, in der alle Katzen grau sind. Dieser fundamentale, jenseits aller persönlichen Eigenarten hegende Unterschied blieb lange Zeit latent. Jünger wurde er wohl nie in seinem vollen Ausmaß bewußt. Schmitt war sich darüber immer im klaren. Ab 1949 äußert er sich dazu mit wachsender Insistenz; zunächst intern im Tagebuch, dann mit großer, für Außen¬ stehende nicht ohne weiteres erkennbarer Schärfe in seinem Beitrag zu der Festschrift, die 1955 aus Anlaß des 60. Geburts¬ tages Jüngers erscheint. Der Gegensatz zwischen dem kühl analysierenden Juri¬ sten Carl Schmitt und dem bildverhafteten Augenmenschen Ernst Jünger, der die »Gestalt« dem Begriff vorzog, ist für je¬ den, der einen auch nur flüchtigen Blick in die Werke der beiden Autoren geworfen hat, kaum überraschend. Überra¬ schend aber und erklärungsbedürftig ist, daß die gegensätzli¬ chen politischen Optionen, für die sie sich in den polarisie¬ renden Anfangsjahren des Dritten Reiches entschieden, die Freundschaft in keiner Weise trüben konnten, daß sich diese Freundschaft vielmehr gerade in einer Zeit, in der Jünger und Schmitt politisch am weitesten auseinander lagen, be¬ sonders herzlich und intensiv gestaltete. Dafür spricht etwa die Tatsache, daß Jünger seinen zweiten, 1934 geborenen Sohn nach Carl Schmitt benannte und ihm diesen auch zum Paten gab. Und das, obwohl Jünger von Anfang an Distanz

11

zu den Nationalsozialisten hielt, auf die Carl Schmitt seine Karrierehoffnungen richtete. Die gegenseitige Herzlichkeit, in die die Ehefrauen einbezogen waren, sollte sich zum Ende des Dritten Reiches und unter den besonderen Bedrückun¬ gen des Krieges noch steigern. Erst nachdem der NS-Staat untergegangen war und damit der Betreff ihrer entgegenge¬ setzten politischen Optionen von 1933, brach der Gegensatz auf und wurde im Verhältnis von Carl Schmitt und Ernst Jünger virulent. Jetzt zeigte sich auch an ihrer Freundschaft, daß die von den Nazis teils behauptete, teils erzwungene Volksgemeinschaft in Wirklichkeit einen Bürgerkrieg ver¬ deckt hatte. Die nationalsozialistische Einschmelzung erwies sich um so mehr als Lüge, je lauter sie propagiert und je ver¬ bissener sie mit einer Flut von Sondergesetzen eingefordert wurde. Die Realität war der Bürgerkrieg. Daß er nicht offen geführt, vielmehr mit der Behauptung seines Gegenteils be¬ mäntelt wurde, machte seinen spezifischen Schrecken aus. Angesichts dieses zwischen 1933 und 1945 anwachsenden Schreckens zogen sich viele in die Sicherheit des Schweigens zurück, eines Schweigens allerdings, mit dem es seine beson¬ dere Bewandtnis hatte: Es war das bewußt gewählte Me¬ dium, in dem die Schweigenden das politische Geschehen kommentierten, und insofern war es nicht einfach nichts¬ sagend. Jünger und Schmitt sind Repräsentanten eines derart beredten Schweigens im Dritten Reich. Auch wo sie sich öffentlich äußern, wird das, was sie nicht oder zwischen den Zeilen sagen, wichtiger als das offen Gesagte. Ihre Schriften bekommen einen doppelten Boden. Jünger lehnte das neue Reich seit der »Machtergreifung« kompromißlos ab. Gleich¬ wohl veröffentlichte er weiterhin und verstummte erst im Krieg. Schmitt dagegen war 1933 zu weitgehenden Kompro¬ missen bereit und hielt es zunächst mit den Akteuren, denen er sich mit hemmungsloser publizistischer Unterstützung

12

andiente. Aber das half ihm nichts. Gerade sein hektisches, das gewohnte geistige Niveau unterschreitende Publizieren in dieser frühen Phase der NS-Herrschaft wirkte allzu be¬ müht. Es machte ihn verdächtig als jemand, dessen intellek¬ tuelle Loyalitäten ganz woanders lagen und der hier lediglich Pflichtübungen ableistete. Das merkten die Nazis schon bald. Schmitt mußte 1936 erkennen, daß sie ihn nicht als einen der Ihren ansahen. Er, der sich auf der Seite der Handelnden glaubte, fand sich aut der der Opfer wieder. In der Folge ver¬ siegte der Strom seiner Veröffentlichungen. Auf sein Schwei¬ gen angesprochen, pflegte er mit einem Macrobius-Zitat zu antworten: Non possum scribere contra eum, qui potest proscribere. (»Ich kann nicht gegen den schreiben, der mich auf die Proskriptionsliste setzen kann.«) Ernst Jünger hat die »Lemuren¬ welt«, in der zu leben er sich gezwungen sah, in der Parabel der »Marmorklippen« literarisiert; Carl Schmitt ist unter der Deckung von Thomas Hobbes den historischen Bedingun¬ gen und Wirkungen des erzwungenen Schweigens, der wachsenden Gegenwelt des Privaten, nachgegangen. Indem Jünger wie Schmitt hier eine virtuose Doppelbödigkeit ent¬ falten, sind sie — auf je eigene Weise — Zeugen und Diagno¬ stiker des im Untergrund geführten Bürgerkrieges, wobei der eine mehr Zeuge, der andere mehr Diagnostiker ist. Wenden wir uns zunächst der Zeugenschaft Jüngers zu, um sodann nach der Diagnose Carl Schmitts zu fragen, nach der falschen von 1933 und der richtigen von 1938.

13

ERNST JUNGER - ZEUGE DES SCHMERZES

»Nenne mir Dein Verhältnis zum Schmerz, und ich will Dir sagen, wer Du bist!« Ernst Jünger, SW 7, S. 145

F

ür Jünger und Schmitt fiel die Mitte ihres Lebens in die NS-Zeit, und für beide wurde der 50. Geburtstag eine

entscheidende biographische Wegmarke. Carl Schmitt, der Denker des Staates, muß am io. Juli 1938 in häuslicher Ge¬ burtstagsrunde konstatieren, daß er sein Objekt an die »Bewegung« verloren hat. Er beklagt seine persönliche Schwäche, seine Fähigkeit, sich betrügen zu lassen, und spricht von einem geheimnisvollen Weg nach innen.5 Ernst Jünger wundert sich am 29. März 1945, daß er überhaupt noch am Leben ist, und notiert in sein Tagebuch: »Das ist die Mitte des Lebens, wenn man es nicht mit der Elle, sondern auf der Waage mißt. Doch ist es in diesem Jahrhundert auch ein hohes Alter, wenn man den langen gefährlichen Anstieg bedenkt, besonders dessen, der sich nicht schonte und in den beiden großen Kriegen auf gefährlichen Posten stand — im ersten in den Wirbeln der Materialschlacht und während des zweiten in den dunklen Fährnissen der Dämonenwelt.« (SW 3, S.390).6 Damit sind zwei Erscheinungsweisen des Schreckens 5

Carl Schmitt, »Eine Tischrede (1938)«, in: Schmittiana 5, 1996, S.9-11.

6

SW = Ernst Jünger, Sämtliche Werke, Bd. 1-22, Stuttgart 1978-2003. Wenn nicht anders vermerkt, ist im Folgenden immer auf diese Ausgabe letzter Hand Bezug genommen.

17

benannt, die das 20. Jahrhundert kennzeichnen, und mit de¬ ren Beschreibung Ernst Jünger zum exemplarischen Zeugen dieses Jahrhunderts avancieren sollte. Versuchen wir, die im Zusammenhang mit Jünger ebenso häufig wie nichtssagend gebrauchte Formel »exemplarischer Zeuge des Jahrhunderts« zu verstehen und zu erklären, was die Entwicklung von den »Wirbeln der Materialschlacht« zu den »dunklen Fährnissen der Dämonenwelt« konkret be¬ deutet. Dabei rückt eine Person in den Vordergrund, die aus diesem Bürgerkrieg nicht mit dem Leben davonkam: der gleichnamige, erstgeborene Sohn Ernst Jüngers. Und es kommt auch das Verhältnis zu Carl Schmitt ins Bild, das zu dieser Zeugenschaft unlösbar dazugehört, denn, wie Jünger schrieb: »Carl Schmitt ist in meiner und ich bin in seiner Biographie unvermeidlich.« (SW 22, S. 192) Dem Jahrhundert angemessen, ist die Zeitzeugenschaft Jüngers vor allem eine des Schmerzes, den er in der gegen¬ aufklärerischen Tradition Baudelaires und Nietzsches als conditio, als unabänderliche Bedingung des Menschen und als sein geheimes Zentrum nachdrücklich bejaht.7 Jüngers Werk ist ein Protest gegen die moderne palliative Zudeckung des Schmerzes, die dessen Schicksalhaftigkeit verleugnet und ihn zu einer bloßen Störung degradiert. In der humanistischen Narkose erkennt Jünger »das Ausweichen vor der Verantwor¬ tung dort, wo sie ernsthaft zu werden beginnt« (SW 9,S. 114). Folglich lehnt er jede künstliche Betäubung des Schmerzes ab, um sich ihm bewußt auszusetzen und ihn so zu beherr¬ schen: »Man muß die Messer des Schmerzes am eigenen Leibe fühlen, wenn man mit ihnen sicher und kaltblütig operieren will; man muß die Münze kennen, mit der man 7

Vgl. hierzu Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, Frankfurt a.M. 1983 (zuerst München 1978).

18

bezahlt« (ebd.). Wenngleich Jünger davon überzeugt war, daß die Literatur keinen politischen Zwecken dient, wenngleich es ihm — auch in seinen explizit politischen Schriften — niemals um politische Parteinahme ging, so stellte diese Maxime ihn doch unweigerlich in das Kraftfeld des Politi¬ schen und schied seine Leser nach Freund und Feind. Sein künstlerisches Selbstverständnis war ja gerade die bewußte Zeitzeugenschaft, und er sah jedes seiner Bücher als ein Log¬ buch an. Jünger, der mit einer überscharfen Beobachtungs¬ gabe »gestraft« (SW 3, S. 34) war, verstand sich nicht als Dich¬ ter oder Schriftsteller, sondern als Autor, das heißt als jemand, der das spezifische Gewicht seiner Zeit hatte und zugleich die geistige Freiheit besaß, sie aus der Distanz zu sehen, auch auf Irrfahrten das Besteck aufzunehmen (SW 9, S.29) und die »Lage« zu beurteilen (SW 13, S.435). Der umfangreichste und wichtigste Teil des Jüngerschen Werkes ist folgerichtig der Form des Tagebuchs verpflichtet, das im Ersten Weltkrieg einsetzt und dessen letzte veröffent¬ lichte Teile aus dem Jahr 1996 stammen. Die vielen hundert Seiten dieses Journals schrieb Jünger mit blauschwarzer Tinte, mit einer Ausnahme: Am 12. Januar 1945, wenige Wo¬ chen vor dem 50. Geburtstag, ist der Eintrag rot. Er lautet: »Ernstei ist tot, gefallen, mein gutes Kind, schon seit dem 29. November des vorigen Jahres tot! Gestern, am 11. Januar 1945, abends kurz nach sieben Uhr kam die Nachricht an.« (SW 3, S. 360).8 Die für den Autor so typische kühle Sach¬ lichkeit und lakonische Kürze dieser Sätze lassen nicht er¬ kennen, daß Ernst Jünger, der Theoretiker des Schmerzes, hier die schmerzlichste Erfahrung seines Lebens mitteilt. Sie berührt sein Grundthema und führt ins Zentrum seines 8

Eine Ablichtung dieser Stelle aus dem Manuskript des Tagebuches findet sich in: Heimo Schwilk (Hrsg.), Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten, Stuttgart 1988,8.214.

19

Werkes. Wenn man dem Fall nachgeht, so wird bald deutlich, daß er weit mehr umschließt als privates Leid: Er eröffnet die Sicht hinter die politischen Ordnungsmasken auf das Medu¬ senantlitz des 20. Jahrhunderts mit seinen ideologischen Kriegen. Man erkennt, wie Jüngers kalter Blick sich wandelt und wo seine berühmte desinvolturc an ihre Grenze stößt. Der ältere, am i. Mai 1926 geborene gleichnamige Sohn Ernst Jüngers war am 6. September 1942 als Schüler an die Hermann-Lietz-Schule auf der ostfriesischen Insel Spieker¬ oog gekommen, nachdem er zuvor an der Schule gleichen Namens in Haubinda (Thüringen) gewesen war. Die Schüler wurden im Laufe des sich intensivierenden Bombenkrieges als Marinehelfer für die Flak-Batterien auf der Nachbarinsel Wangerooge herangezogen. Im zweiwöchigen Wechsel hat¬ ten sie Unterricht auf Spiekeroog und taten Dienst auf Wangerooge. In diesen Jungen hatte die Marine der Deut¬ schen Wehrmacht nicht gerade ihre ideologisch gefestigte¬ sten Helfer. Die eher auf Individualität als auf »Volksgemein¬ schaft« Wert legenden Hermann-Lietz-Schulen waren im Dritten Reich ein Fremdkörper. Hier fanden sich Kinder vor allem aus großbürgerlich-liberalen und nicht national¬ sozialistischen Familien. Ihnen war die kritische Distanz zum Regime in die Wiege gelegt. Sowohl auf Spiekeroog als auch auf Wangerooge hörten Jünger, sein Freund Wolf Jobst Siedler und andere regelmäßig ausländische Radiosender und diskutierten darüber. Das führte schließlich aufgrund einer Denunziation am 12. Januar 1944 zur Verhaftung von insgesamt 16 Schülern, die in Wangerooge vor ein MarineFeldgericht gestellt wurden. Siedler und Jünger galten als Rädelsführer. Jünger war insbesondere gefährdet durch eine Äußerung, wonach der Krieg sofort beendet und Hitler ge¬ henkt werden müsse; er, Jünger, wolle selbst mit am Strick

20

ziehen. Dafür gab es nur einen einzigen Zeugen; alle ande¬ ren bestritten, daß diese Worte gefallen waren. Dennoch hielt das Gericht Jünger dieser »unerhörten Äußerung« für über¬ fuhrt.9 Während die anderen vom Gericht als »Mitläufer« eingestuft wurden und mit Freispruch oder Einstellung des Verfah¬ rens davonkamen, wurden Siedler und |iinger als »Haupt¬ täter« mit Urteil vom io. Februar zu neun bzw. fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, daß die beiden sich des »Rundfunkverbrechens« und der »Wehr¬ kraftzersetzung« schuldig gemacht hätten. Siedler habe ge¬ gen § 2 der »Verordnung über außerordentliche Rundfunk¬ maßnahmen« verstoßen sowie gegen §5, Abs. 1, Ziff. 1 der »Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei

9

Bundesarchiv. Zentralnachweisstelle Aachen, Marine Akte 43955, Bl. 6if. Die Vorgänge sind ausführlich, aber im Detail nicht immer richtig darge¬ stellt in den Erinnerungen von Wolf Jobst Siedler, Ein Leben wird besichtigt, Berlin 2000. Siedler läßt keinen Zweifel daran, daß Jünger jene gefährliche Äußerung gemacht hat. »Aber hier bewährte sich die Solidarität unter uns Hermann-Lietzern. Keiner wollte den Satz gehört haben, obwohl doch alle dabeigewesen waren.« (Ebd., S. 155) Die Lehrer übten nicht diese Solidari¬ tät. Der Direktor der Schule auf Spiekeroog, Heinrich Dücker, bescheinigte Siedler undjünger im Prozeß, daß sie immer schon Unruhestifter und in je¬ der Hinsicht aufsässig gewesen seien. Eben dieser Dücker amtierte noch im Herbst 1947, als Siedler aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, als Schul¬ direktor, und als Siedler, der studieren wollte, eine Bescheinigung über den Schulbesuch bei ihm anforderte, bekam er von Dücker kommentarlos ein vorzügliches Zeugnis über ein Abitur, das er niemals abgelegt hatte — offen¬ bar Folge eines schlechten Gewissens (vgl. ebd., S. 169f.). Ernst Jünger schreibt 1991 im Tagebuch, daß er noch die Briefe von Lehrern aus Spiekeroog auf¬ bewahre, in denen sie sich über den Sohn entrüsten (SW 22, S.31). Drei Briefe des Sohnes Jünger aus dem Gefängnis und von der Front sind abge¬ druckt in: Kriegsbriefe gefallener Studenten, hrsg. von Walter Bähr und Hans W. Bähr, Tübingen und Stuttgart 1952, S. 394-397. Vgl. zu den Vorgängen auf Wangerooge auch die mehr oder weniger zutreffenden Darstellungen bei: Hans-Dietrich Nicolaisen, Die Flakhelfer. Luftwaffenhelfer und Marinehelfer im Zweiten Weltkrieg, Berlin/Frankfurt a.M./Wien 1981, S. 153-159; Günther Fahle, Verweigern, Weglaufen, Zersetzen. Deutsche Militärjustiz und ungehorsame Soldaten 1939-1945. Das Beispiel Ems-Jade, Bremen 1990, S. 167-176; Hans-

21

besonderem Einsatz«.10 Jünger habe ebenfalls gegen letzteren Paragraphen verstoßen, bei der Rundfunkverordnung aber statt gegen §2 gegen §

I.11

Die bei jugendlichen Straftätern

— sämtliche Angeklagten waren zum Zeitpunkt der Tat noch unter achtzehn — übliche Anwendung von Zuchtmitteln schied aus, da die Angeklagten der Wehrmachtsgerichtsbar¬ keit unterlagen, die derartige Mittel ausdrücklich verbot. Außerdem sei schon darum eine Gefängnisstrafe angebracht, weil die Täter keine Reue zeigten: »Die Hauptverhandlung hat in erschreckender Weise gezeigt, daß die überwiegende Mehrzahl der Angeklagten von dem selbstverständlichen va¬ terländischen Pflichtgefühl, wie es besonders in dem gegen¬ wärtigen Krieg von jedem anständigen Deutschen erwartet werden kann, weit entfernt ist. Bei kaum einem Angeklagten war auch nur die Spur einer Einsicht geschweige denn einer Reue festzustellen.«12 Zwei Tage nach Urteilsverkündung, am 12. Februar 1944, werden Siedler und Jünger, eskortiert

Jürgen Jürgens, Zeugnisse aus unheilvoller Zeit. Ein Kriegstagebuch über die Ereignisse 1939-1945 im Bereich Wangerooge—Spiekeroog— Langeoog sowie die Lage im Reich und an den Fronten, 4. Aufl., Jever 1991,S.422 f.;Norbert Haase, »Gefahr für die Manneszucht«. Verweigerung und Widerstand im Spiegel der Spruchtätigkeit von Marinegerichten in Wilhelmshaven 1939-1945, Hannover 1996, S. 228-230. 10 Die entsprechenden Paragraphen lauten: »Wer Nachrichten ausländischer Sender, die geeignet sind, die Widerstandskraft des deutschen Volkes zu ge¬ fährden, vorsätzlich verbreitet, wird mit Zuchthaus, in besonders schweren Fällen mit dem Tode bestraft.« (Reichsgesetzblatt, 1939, I, S. 1683) »Wegen Zersetzung der Wehrkraft wird mit dem Tode bestraft: i.Wer öffentlich dazu auffordert oder anreizt, die Erfüllung der Dienstpflicht in der deut¬ schen oder einer verbündeten Wehrmacht zu verweigern, oder sonst öffent¬ lich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen sucht.« (Ebd., S. 1456) 11 »Das absichtliche Abhören ausländischer Sender ist verboten. Zuwiderhand¬ lungen werden mit Zuchthaus bestraft. In leichteren Fällen kann auf Ge¬ fängnis erkannt werden. Die benutzten Empfangsanlagen werden eingezo¬ gen.« (Reichsgesetzblatt, 1939,1, S. 1683) 12 Marine Akte (wie Anm. 9), Bl. 62.

22

von Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr, zur Verbü¬ ßung ihrer Strafen nach Wilhelmshaven in das Gefängnis ver¬ bracht. Angesichts der Tatsache, daß sowohl § 2 der Rundfunk¬ verordnung wie auch § 5 der Kriegssonderstrafrechtsverord¬ nung die Todesstrafe vorsahen, fiel der Spruch des Wan¬ gerooger Feldgerichts überraschend milde aus. Das Gericht war offenbar nicht mit Nationalsozialisten besetzt, mit einer Ausnahme: Korvettenkapitän Lampe, der als einer der beiden militärischen Beisitzer fungierte, war durch Jüngers Äuße¬ rung, Hitler müsse gehenkt werden, und er selbst wolle da¬ bei mit am Strick ziehen, »iast aus der Fassung« gebracht.13 Lampe war »Alter Kämpfer« und hielt das milde Urteil für einen Skandal. Wolt Jobst Siedler schreibt in seinen Erinne¬ rungen, daß — von Lampe abgesehen — die Richter jenes Feldgerichts »jedenfalls keine parteitreuen Offiziere« und »wohl nicht ohne verstohlenes Wohlwollen gewesen« seien.14

13

Siedler, Ein Leben wird besichtigt (wie Anm. 9), S. 155 und 201. Der 1896 in Brake geborene Heinz Lampe hatte schon als Freiwilliger am Ersten Welt¬ krieg teilgenommen und es hier zum Leutnant der Marine gebracht. In rechten Kampfbünden bekämpfte er die Weimarer Republik, weshalb er zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Später stieg er zum SA-Brigadeflihrer in Aachen auf und gehörte der NSDAP-Fraktion im Deutschen Reichstag an (vgl. Deutsches Biographisches Archiv II 781, 309f.). Im Ok¬ tober 1941 war Lampe als Chef der Flak-Ausbildungskompanie und Kom¬ mandeur der Friedrich-August-Kaserne nach Wangerooge gekommen. Jürgens, Zeugnisse aus unheilvoller Zeit (wie Anm. 9), der mit Lampe in Wan¬ gerooge auch auf die Hasenjagd ging (S.332), urteilt über ihn: »ein belieb¬ ter, geachteter und vielfach ausgezeichneter Offizier, der als Teilnehmer am ■Marsch auf die Feldherrnhallei am 9. November 1923 Blutordenträger war«

(S.329L 14 Siedler, Ein Leben wird besichtigt (wie Anm. 9), S. 158 und 172. Im zweiten

Band seiner Erinnerungen berichtet Siedler von einem Gespräch mit Ge¬ neral Hans Speidel, der die NS-Militärstrafrechtspraxis genau kannte und es im nachhinein für ein »Wunder« ansah, daß Siedler und Jünger in dieser Sa¬ che mit dem Leben davonkamen (W. J. Siedler, Wir waren noch einmal davon¬ gekommen. Erinnerungen, München 2004, S. 29). In derTat standen die Mari¬ nerichter im Ruf besonderer Linientreue.

23

Dies habe sich darin ausgedrückt, daß das Gericht die Taten der Angeklagten in die erste Hälfte des Jahres

1943

zurück¬

verlegte, um sie noch nach dem Jugendstrafrecht aburteilen zu können. Hier irrt Siedler. Er selbst wurde erst am 17. Ja¬ nuar 1944, fünf Tage nach seiner Verhaftung, achtzehn, und er war der Älteste der ganzen Gruppe. Die Taten aller Betei¬ ligten fielen also ausnahmslos unter das Jugendstrafrecht, ob das Gericht nun milde war oder nicht. Aber das Urteil des Wangerooger Feldgerichts hatte seine schwache Stelle im §20 des Reichsjugendgerichtsgesetzes. Darm heißt es: »War der Jugendliche zur Zeit der Tat sittlich und geistig so ent¬ wickelt, daß er einem über achtzehn Jahre alten Täter gleich¬ gestellt werden kann, so wendet der Richter das allgemeine Strafrecht an, wenn das gesunde Volksempfinden es wegen der besonders verwerflichen Gesinnung des Täters und we¬ gen der Schwere der Tat fordert.«15 In der Handhabung dieses Paragraphen nun war das Wan¬ gerooger Feldgericht wohlwollend-inkonsequent. Einerseits hebt es ausführlich hervor, daß sowohl Siedler als auch Ernst Jünger körperlich und geistig weit entwickelt und in der Lage gewesen seien, die Schwere ihres Vergehens einzusehen. Das Gericht bescheinigt ihnen, daß sie schon zum Zeitpunkt der Tat eindeutig die sittliche Reife von Achtzehnjährigen hatten. Andererseits mochte es den §20 des Reichsjugend¬ gerichtsgesetzes dann doch nicht anwenden, weil bislang nichts gegen die beiden vorhege, sie durch ihre Einberufung als Mannehelfer aus ihrem normalen Entwicklungsgang her¬ ausgerissen und aus dem Gleichgewicht gebracht worden seien. Diese exkulpierende Sicht der Dinge war nicht unpro¬ blematisch und jedenfalls nicht zeitgemäß; ein überzeugt na¬ tionalsozialistischer Richter würde sie wohl ebensowenig

15 Reichsgesetzblatt, 1943,1, S. 641.

24

geteilt haben wie der Beisitzer Lampe. Da das Urteil der Be¬ stätigung durch das Oberkommando der Marine bedurfte, was in der Regel eine Verschärfung bedeutete, bestand akute Lebensgefahr für Siedler wie für Jünger. Und selbst wenn die Bestätigung erfolgen sollte, stand zu befürchten, daß die Ver¬ urteilten nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis und ohne den Schutz ihrer Militärpapiere von der Gestapo in Uberhaft genommen würden.

25

DER HELD LEGT SEINE ORDEN AN

Der Vater des verurteilten Marinehelfers Jünger, der als Hauptmann beim Wehrmachtsstab in Paris stationiert war, erfuhr in der Nacht vom n. auf den 12. Februar von den Vorgängen. Als man ihn gegen Mitternacht ans Telefon rief, lag er mit Grippe und und Fieberträumen im Bett und wollte zunächst nicht aufstehen. Bei dem Wort »Wilhelmshaven« aber elektrisierte ihn der Gedanke an den Sohn.16 Nachdem ihn der nächtliche Anrufer, der evangelische Marinedekan Friedrich Ronneberger aus Wilhelmshaven, telefonisch ms Bild gesetzt hatte, verbrachte Jünger die folgenden Tage mit hektischenTelefonaten. Er wirft seine ganze militärische Re¬ putation in die Waagschale, und da diese legendär ist, öffnen sich ihm auch viele Türen. Erleichtert stellt er fest, daß der Stab in Wilhelmshaven ein »weißer«, d.h. ein nicht national¬ sozialistischer ist, und dessen Chef, Admiral Erich Förste, »vernünftig« erscheint. Ebenso konstatiert er, daß der für die Deutsche Bucht zuständige Admiral und Gerichtsherr17 sei¬ nes Sohnes, Ernst Scheurlen in Cuxhaven, »nicht zu den Schwarzen zählt«. Uber den befreundeten Kommandanten von Hannover, General Paul Loehnmg, unterrichtet er seine Frau in Kirchhorst, damit sie sich um den Sohn kümmert. Gretha Jünger ist eine couragierte Frau und handelt sofort. Noch am selben Tag, am 15. Februar, fährt sie nach Wilhelms16 Dies und das Folgende nach dem Tagebuch Ernst Jüngers, in: SW 3,S.223fr. 17 Jünger schreibt, Scheurlen sei er »Oberster Gerichtsherr« seines Sohnes ge¬ wesen (SW 3, S. 251), was aber natürlich niemand anders als der Führer selbst war. Der Begriff dürfte von Hitler wohl erstmals im Zusammenhang der Röhm-Morde vom 30. Juni 1934 verwendet worden sein, die er mit einem nachträglichen Gesetz legalisierte und mit der Behauptung verantwortete, er sei »des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr«. Im NS-Militärstrafrecht wurde der Begriff 1939 gesetzlich verankert (Reichsgesetzblatt, 1939, I, S. 1459)- Scheurlen war demnach lediglich der für seinen Kommandobereich zuständige Gerichtsherr.

26

haven, wo es ihr sogar lange nach Ablauf der Besuchszeit, abends um 22 Uhr, gelingt, sich Einlaß in das Gefängnis zu verschaffen und den Sohn zu sprechen.18 Der Wärter, der das vorschriftswidrig arrangiert, ist ein freundlicher und hilfs¬ bereiter Mann. Aber als er ihr erzählt, daß hinter den Zellen¬ türen zum Tode Verurteilte sitzen, die oft genug weniger auf¬ reizende Sätze gesagt hätten als ihr Sohn, ist das für die Mutter doch etwas viel der Bonhomie. Das Gefängnis mit seinen »schauerlichen Gängen« erscheint Gretha Jünger als labyrinthisches Symbol für die Situation des ganzen Volkes. Allem in der unmittelbaren Begegnung ist noch Mensch¬ lichkeit zu finden: »Der Mann mir gegenüber, gestern noch fremd und heute bereits vertraut, errät meinen Gedanken¬ gang; sein Mitgefühl gilt der Mutter, dem Sohn, es gilt dem Menschen, von dem er annimmt, daß er wahr und der Lüge nicht fähig ist.«19 Am nächsten Morgen ist sie bei Kriegs¬ gerichtsrat Dr. Constabel, der für das Feldgericht als Anklage¬ vertreter fungiert hatte: »Ein Blick in seine Augen, — Gott sei Dank, er gehört nicht den Lemuren an, und man erkennt sich am Händedruck.« Die Gegner des Regimes verständi¬ gen sich stillschweigend und doch beredt. Natürlich muß Gretha mit ihren Äußerungen vorsichtig sein, aber das Ge¬ spräch ist frei von Winkelzügen: »ich begegne einem hohen Maß an Ritterlichkeit und Verständnis für meine Situation«. Sie erfährt, daß das Urteil noch bestätigt werden muß, was wohl eine Verschärfung bedeuten wird. Beim zweiten und jetzt regulären Besuch im Gefängnis an diesem Morgen ist ein anderer Wärter, eine mürrische »Kreatur«, dabei und

18 Detaillierte Schilderung in dem Erinnerungsbuch Gretha Jüngers, das sie nach dem Krieg unter ihrem Mädchennamen veröffentlichte: Gretha von Jeinsen, Die Palette. Tagebuchblätter und Briefe, Hamburg 1949, S.7öff. (Das Buch ist dem toten Sohn gewidmet.) 19 Ebd., S. 80.

27

beäugt Mutter und Sohn mit bösem Blick. Gretha Jünger hält ihn in seiner Ecke »wie die Löwin, der man ihr Junges stehlen will«. Sie findet den Widerstand des Sohnes ungebro¬ chen, seine Haltung klar und einfach. »Die Richter werden es als Verstocktheit bezeichnen, ich nehme sie hm als ein Zei¬ chen, daß es Blut von meinem Blute, daß es das Blut seines Vaters ist.« Der Sohn verlangt von ihr, daß sie kein Gnaden¬ gesuch stellt, und sie stimmt zu: »Nein, das wäre in unserer Situation wohl das letzte. Aber ich werde die Fuchsgänge aufstöbern, in denen sie sitzen, dessen sei gewiß, und ich werde unter Hunderten das menschliche Gesicht herausfinden, dessen Zügen ich vertrauen kann.«2'1 Hauptmann Jünger läßt sich beurlauben und fährt in der Sache seines Sohnes von Paris nach Berlin. Er will zum Oberbefehlshaber der Marine, Großadmiral Dömtz, beim Oberkommando in Lobetal nahe Bernau Vordringen, unter¬ läßt dann aber in letzter Minute den Besuch. Man hat ihn ge¬ warnt: Bei Dönitz zu intervenieren würde nur eine Verschär¬ fung des Urteils zur Folge haben.21 Der Heeresangehörige Ernst Jünger wird von den Marmeleuten mit glatter Höf¬ lichkeit abgefertigt und hat einen schweren Stand. Der Pari¬ ser Stab des Generals von Stülpnagel war schon lange vor dem 20. Juli als »weißer Stab« bekannt und in einen verdeck¬ ten Kampf mit anderen Herrschaftsinstanzen des Dritten

20

Ebd.,S.8i.

21 Vgl. hierzu neben der Darstellung Jüngers im Tagebuch (SW 3, S.227f.) auch Siedler, Ein Leben wird besichtigt (wie Anm. 9), S. 24fr. Laut Siedler, des¬ sen Vater ebenfalls dabei war, war es ein hoher Offizier aus dem Stab von Dönitz, der die Warnung aussprach. In der Tat war Dönitz Hitler nicht nur vorbehaltlos ergeben, er hat auch dessen Strafpraxis noch verschärft, wie z.B. sein »Erlaß gegen die Kritiksucht und Meckerei« vom 9. September 1943 zeigt (abgedruckt in: Norbert Haase, »Gefahr für die Manneszucht«, wie Anm. 9, S. 292 f.). Zu Dönitz und seinem geschönten Nachkriegsbild vgl. im übrigen Lars Oie Bodenstein, »Die Rolle von Karl Dönitz im Zweiten Welt¬ krieg«, in: »Historische Mitteilungen« (HMRG) 15, 2002, S. 1-82.

28

Reiches verwickelt. Immerhin kann Jünger bei dem Vertre¬ ter des Marinerichters Kranzbühler - Jünger schreibt fälsch¬ lich »Kranzberger«, doch handelt es sich um niemand ande¬ ren als Otto Kranzbühler, der dann Dönitz in Nürnberg so geschickt verteidigen sollte — das Urteil einsehen, um hier erstmals von der Äußerung des Sohnes zu erfahren, wonach Hitler aufgehängt werden müsse. Auch kann er lesen, daß Ernst bei der Verhandlung keine Reue gezeigt habe. Der Va¬ ter kommentiert das mit dem knappen Halbsatz: »was mir auch lieber ist«. Er bestätigt die gegensätzlichen Erfahrun¬ gen, die seine Frau in Wilhelmshaven gemacht hat: »Die Menschen, die man in einer solchen Sache trifft, geben ein gutes Bild der schwarzen und der weißen Fäden, aus denen das politische Gewebe gesponnen ist.« In Berlin wohnt Ernst Jünger bei Carl Schmitt, mit dem er abends bei gutem Rot¬ wein die politische Lage bespricht. Carl Schmitt, der politi¬ sche Theologe, »verglich sie mit der der Wiedertäufer wäh¬ rend der Belagerung. Noch zwei Tage vor der Eroberung von Münster versprach Bockelson seinen Anhängern das Paradies.«22 (SW 3,S.229) 22 Hier bezieht sich Schmitt auf das Widerstandsbuch Bockelson. Geschichte ei¬ nes Massenwahns von Fritz Reck-Malleczewen, Berlin 1937. Nach Auskunft von Dipl.-Ing. Ernst Hüsmert (Herscheid) und Dr. Gerd Giesler (Berlin) hat Schmitt das Buch, das von den Nazis zunächst nicht als Dokument des Wi¬ derstands erkannt wurde, ausdrücklich als solches an zahlreiche Freunde ausgeliehen; in dem Buch waren von Schmitt die Namen von etwa zwan¬ zig Personen, darunter Johannes Popitz und Ernst Jünger, notiert. Dieses Exemplar, das nicht identisch ist mit dem im Schmitt-Nachlaß im Nordrhein-westfälischen Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf aufbewahrten, ist seit 1982 verschollen (ffdl. Auskunft von Ernst Hüsmert). In der ersten Ausgabe des Pariser Tagebuchs von Ernst Jünger (E. Jünger, Strahlungen, Tübingen 1949, S. 483) ist dem Wiedertäufervergleich Schmitts ein Satz angeschlossen, den Jünger in den späteren Auflagen gestrichen hat, der jedoch für das Ver¬ ständnis seines Werkes aufschlußreich ist: »Die Beobachtung derartiger Vor¬ gänge innerhalb der Welt der Freiheit ist und bleibt ekelhaft für mich, und wird nur erträglich, wenn ich die Menschen als Objekte, more zoologico, ansehe, unter Zubilligung einiger Ausnahmen. Sandmeere, in denen Dia¬ manten verborgen sind.«

29

Jünger kehrt nach Paris zurück, um sich Anfang April er¬ neut beurlauben zu lassen. Mit seiner Frau fährt er jetzt nach Wilhelmshaven. Er muß sich seiner wirkungsvollen Aus¬ zeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg bedienen und be¬ merkt: »Das ist in diesen Zeiten die einzige Gelegenheit, da man seine Orden anlegen darf. — Wenn man seine Söhne in der Zelle besucht.«23 Jünger war einer der letzten Träger der von Friedrich dem Großen gestifteten höchsten Tapferkeits¬ auszeichnung, die das alte Preußen zu vergeben hatte. Aber diese große Tradition war jetzt pervertiert. Die alten Orden bewirkten nicht mehr Ruhm und Ehre, sondern gaben An¬ laß zur Verachtung. Jünger war sich bewußt, in einer Zeit zu leben, in der einen »am schwersten das Lob schädigen kann« (SW 5, S. 107). Nichts fürchtete er im Dritten Reich mehr, als von Elitler ausgezeichnet zu werden. An der Umbenen¬ nung der polnischen Stadt Lodz in Litzmannstadt und der Einrichtung des dortigen Gettos wird es ihm vollends klar: Elitler »hat den Namen dieses Generals, den Schlachtensiege zierten, auf alle Zeiten mit einer Schinderhütte verknüpft. Das war mir doch von Anfang an deutlich, daß seine Aus¬ zeichnungen am meisten zu fürchten seien ...« (SW 3, S. 176)

23 Zit. nach: Siedler, Ein Leben wird besichtigt (wie Anm. 9), S. 28; vgl. auch Paul Noack, Ernst Jünger. Eine Biographie, 2. Aull., Berlin 1998, S. 201, der den Aus¬ spruch leicht verändert wiedergibt. Von Jünger selbst ist der Satz nicht schriftlich überliefert, doch notiert er unter dem 24. Januar 1943 im Tage¬ buch: »Den schönen Ausspruch von Murat: >Ich trage Orden, damit man auf mich schießtnicht zuständig< sei. Aber dann breitete er seine Soutane aus, stellte sich vor das Guckloch der Tür und zog ein Stück Salami aus seiner Tasche, die wir noch in seiner Gegenwart essen mussten, da¬ mit nicht etwa Reste entdeckt würden. In den nächsten Mo¬ naten versorgte er uns in regelmäßigen Abständen mit Wurst, Brot und Käse, was ihm angesichts der Gefängniskost offen¬ sichtlich notwendig zu sein schien.«27 Daß der Sohn Jünger 1926 nach dem Willen des Vaters katholisch getauft werden sollte (was an der Mutter scheiterte; SW 21, S. 173), daß der durch den heftigen »antirömischen Affekt« (Carl Schmitt) der niedersächsischen Provinz geprägte Ernst Jünger (vgl. SW 4, S. 484) längst auf einem langen, erst 1996 in die Kon¬ version mündenden Weg zur römischen Kirche war, konnte der katholische Marinedekan von Wilhelmshaven natürlich nicht wissen; er konnte es vielleicht, falls er ein aufmerksa¬ mer Leser der Jüngerschen Werke war, erahnen.28 Gehandelt 27 Siedler, Ein Leben wird besichtigt (wie Anm. 9), S. 25. Daß es sich bei dem von Siedler namentlich nicht genannten katholischen Marinedekan um Paul Breuer handelt, verdanke ich der frdl. Mitteilung von Frau Martina Witton, Pfarrbüro St. Ansgar, Wilhelmshaven. Zu Breuer vgl. auch den kleinen Nachruf in: »Militärseelsorge. Zeitschrift des Kath. Militärbischofsamtes Bonn« 10,1968, S. 52f., sowie: Biographisches Lexikon der Katholischen Militär¬ seelsorge Deutschlands 1848 bis 1945, hrsg. von H.J. Brandt und P. Häger, Pader¬ born 2002, S.9öf. 28 In der ersten Fassung von Das Wäldchen 125 spricht Jünger 1925 von der nachaufklärerischen Sicht auf das Mittelalter, »die selbst uns in einer evan¬ gelischen Landschaft atheistisch erzogene Menschen mit einer noch unein¬ gestandenen Sehnsucht nach der katholischen Kirche erfüllt« (zit. nach:John King, »Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?» Writing and Rewriting the First World War, Schnellroda 2003, S.272). In späteren Fassungen ist diese Stelle gestrichen. Die über Leon Bloy führende Hinwendung Ernst Jüngers zum Katholizismus reklamierte übrigens Carl Schmitt - wohl nicht ganz zu Un-

33

hat er jedenfalls in der Überzeugung, daß die paulinische Er¬ mahnung zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit in dieser konkreten Situation nicht eben das Dringlichste war. Dekan Ronneberger vermittelt Ehepaar Jünger ein Tref¬ fen mit Admiral Scheurlen in Cuxhaven.29 Unterwegs im Zug wird Ernst Jünger von seinem Nachbarn, einem Kapitän, an¬ gesprochen, der ihn aufgrund seiner Ähnlichkeit mit dem Sohn erkennt. Wie sich herausstellt, ist es ebenjener Kapitän Lampe, der als militärischer Beisitzer des Wangerooger Feld¬ gerichts fungiert hatte. Jünger weiß nicht, daß Lampe ein besonderer Scharfmacher war, aber er ist auf der Hut.30 Er er¬ fährt von Lampe, daß die HJ — Jüngers Sohn ist Mitglied in der HJ - sich eingeschaltet hat und die Angelegenheit vor den Volksgerichtshof kommen soll, um dort nach der »Volks¬ schädlingsverordnung«31 abgeurteilt zu werden. Diese Nach¬ richt verursacht den Eltern in Cuxhaven eine schlaflose Nacht und gibt ihnen das Gefühl, daß nun alles in der Hand jenes Mannes hegt, den sie am folgenden Tag aufsuchen wol¬ len. In Admiral Ernst Scheurlen aber finden sie »einen vor¬ trefflichen Menschen« (SW 3, S.251); Gretha Jünger weiß »nach dem ersten Blick, den wir miteinander austauschen, recht — als sein Verdienst; vgl. Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951,hrsg. von Eberhard Freiherr von Medem, Berlin 1991,8.264. 29 Ronneberger war mit Scheurlen seit langem bekannt. Er hatte als Marine¬ pfarrer von Dezember 1928 bis Dezember 1929 eine Weltreise mit dem Kreuzer »Emden« gemacht, auf dem Scheurlen als Kapitänleutnant diente; vgl. Friedrich Ronneberger, Weltreisebilder vom Kreuzer Emden, Berlin 1930, S. 112. Zu Scheurlen vgl. Hans H. Hildebrand/Ernest Henriot, Deutschlands Admirale 1849-1945. Die militärischen Werdegänge der See-, Ingenieur-, Sanitäts-, Waffen- und Verwaltungsoffiziere im Admiralsrang, Band 3, Osnabrück 1990, S.2i5f.; zu Ronneberger ebd., Band 4, 1996, S. 141-142. 30 Jeinsen, Die Palette (wie Anm. 18), S. 84. Der Name des Kapitäns, den weder G. von Jeinsen noch E. Jünger nennen, ergibt sich aus Siedler, Ein Leben wird besichtigt (wie Anm. 9), S.201. 31 Die »Verordnung gegen Volksschädlinge« vom 5. September 1939 (Reichs¬ gesetzblatt, 1939,1, S. 1679) war die wichtigste gesetzliche Grundlage, auf der die Sondergerichte im Zweiten Weltkrieg rund 15 000 Todesurteile fällten.

34

daß unsere Sache in guten Händen ist.«32 Scheurlen versi¬ chert ihnen, daß die Marine nicht bereit sei, den Fall abzu¬ geben. Im Beisein der Eltern ruft er Dönitz in Berlin an, um sich diese Entscheidung schnell bestätigen zu lassen. Da man beiderseits um die Nazigesinnung von Dönitz weiß, wird das Telefongespräch sorgsam vorbesprochen. Mit Scheurlen erörtern die Eltern das Problem, daß ihr Sohn zwischen Haftentlassung und Wiedereintritt in das Heer eine kurze Zeit als Zivilist zu überbrücken hat, in der er dem Zugriff der Gestapo ausgesetzt sein würde. Auch hier sichert der Ad¬ miral seine Hilfe zu; er will den Sohn Jünger im Besitz sei¬ ner militärischen Papiere belassen.33 Nach einem kurzen Ur¬ laub soll er in das Panzerregiment Salzwedel eintreten. Die Eltern werden von dem Admiral anteilnehmend-herzlich ver¬ abschiedet. Als er ihnen die Tür öffnet, steht Kapitän Lampe da, um sich zum Dienstantritt zu melden: »Er wird mit Kälte empfangen.«34 Nach Siedlers Ansicht wurde die Gefahr, die von Lampe ausging, durch seine sofortige Versetzung zu ei¬ ner Marineinfanterie-Einheit im Osten abgewendet.35

32 Jeinsen, Die Palette (wie Anm. 18), S. 86. 33 Ebd., S. 84-87. Nach Siedler, Ein Leben wird besichtigt (wie Anm. 9), S. 174, hat man fiir die Bestätigung des Urteils den Urlaubsantritt von Dönitz ab¬ gewartet. Die schriftliche Urteilsbestätigung ist vom Oberkommando der Kriegsmarine in Berlin am 25.April 1944 ausgefertigt worden (Marine Akte, wie Anm. 9, Bl. 71). Hier ist auch entschieden, daß ein Strafrest zur Front¬ bewährung erlassen werden sollte, bei Siedler allerdings erst nach sechs Wo¬ chen »geschärftem Arrest«. Auch fiir Siedler war eine mögliche Uberhaft durch die Gestapo ein Problem. Als er im Juni 1944 aus dem Wilhelmshavener Gefängnis entlassen wurde, versteckte er sich auf Empfehlung von Carl Schmitt bei Jünger in Kirchhorst. Carl Schmitt war der Ansicht, daß die Gestapo es nicht wagen würde, in das Haus Ernst Jüngers einzudringen (nach Siedler, Ein Leben wird besichtigt [wie Anm. 9], S. 161 ff.). 34 Jeinsen, Die Palette (wie Anm. 18), S. 87. 35 Siedler, Ein Leben wird besichtigt (wie Anm. 9), S.201. Das dürfte falsch sein. Laut Jürgens, Zeugnisse aus unheilvoller Zeit (wie Anm. 9, S.445), ist Lampe am 6. Juni 1944 als »Nationalsozialistischer FührungsofFizier« hinter die In¬ vasionsfront in der Normandie versetzt worden.

35

Die Eltern gehen zu Fuß von ihrem Wilhelmshavener Hotel zum Gefängnis. An diesem Morgen gab es Flieger¬ alarm. Die Straßen werden immer leerer, und schließlich tre¬ ten auch Gretha und Ernst Jünger in einen Bunkerturm ein: Das Innere eines solchenTurmes gleicht der Höhlung eines Schnekkenhauses; um eine innere Spindel windet sich spiralig ein sanft an¬ steigender Gang empor, auf dem zahllose Bänke stehen. Hier harr¬ ten große Teile der Bevölkerung, auf das engste zusammengedrängt, der Dinge, die da kommen sollten. Das Schneckengehäuse war mit menschlichem Plasma gefüllt, das dumpfe Furcht ausschwitzte. In¬ dem ich die Windungen emporschritt, betrachtete ich die Gesich¬ ter, die dort übermüdet dämmerten. Die Bewohner solcher Städte bringen in diesen freudlosen Türmen hockend einen bedeutenden Teil ihrer Tage und auch ihrer Nächte zu. Wie in allen derartigen Einrichtungen findet man hier das traumhaft Vegetierende mit ma¬ schinellen Akten eng verquickt. Ich hörte das Summen von Venti¬ latoren, auch eine Stimme, die hin und wieder »Sauerstoff sparen« rief. (SW 3,S.25o)

Der Blick in diese Bunkerwelt — »eine besondere Abtei¬ lung des Infernos ..., die Dante bei seinem Rundgang über¬ sah« — flößt Jünger größeres Unbehagen ein als die Vorstel¬ lung, einen Bombenabwurf ungeschützt zu erleben, so daß er es vorzieht, mit seiner Frau den Bunker zu verlassen,36 um in einem von Trümmern umgebenen verwilderten Garten das Ende des Alarms abzuwarten. Im Gefängnis Anden sie den Sohn blaß und geschwächt, aber in guter Haltung vor (Abb. 3): Als ich ihn so in seinem Matrosenjäckchen vor mir sitzen sah, erin¬ nerte ich mich, wie sehr er als Kind auf kriegerischen Lorbeer hoffte und wie sein Sinnen und Trachten auf das Bestehen der Feldschlacht gerichtet war. Er wollte sich des Vaters würdig erweisen — und da¬ her zog es ihn zum gefährlichsten Punkt. »Wie gut hast du ihn doch

36 Während des Alarms durfte der Bunker eigentlich nicht verlassen werden. Vielleicht war der Luftschutzwart vom Pour le Merite so geblendet, daß er sich Jünger nicht in den Weg zu stellen wagte.

36

getroffen, mein Junge«, dachte ich bei mir, »und wie gut, daß ich das als Vater zu verstehen weiß.« Der Krieg, soweit er zwischen den Na¬ tionen spielt, stellt doch nur die grobe Kulisse dar — um andere, ge¬ fährlichere Preise geht der Kampf. Und gut erschien mir, daß ich mit den hohen Orden aus dem Ersten Weltkrieg diese bescheidene Zelle aufsuchte. Wir haben doch noch einen Glanz gekannt, der diesen Jungen nicht mehr beschieden ist, und darum ist ihr Ver¬ dienst das größere. (SW 3,8.251)

Dieser Tagebucheintrag Jüngers wirft Fragen auf: Warum ist der Nationenkrieg nur die grobe Kulisse? Was ist mit den anderen, gefährlicheren Preisen gemeint? Welcher Glanz ist hier verblichen, und wie kann es sein, daß das Verdienst des jugendlichen Flakhelfers größer ist als das des Pour-le-MeriteTrägers? So leicht diese kurzen Fragen zu stellen sind, so schwierig sind sie zu beantworten. Die Antwort erfordert es, die Bedeutung des Ersten Weltkrieges für Jünger näher ins Auge zu fassen, um sie daraufhin mit seiner Erfahrung des Zweiten zu vergleichen. Dann läßt sich erkennen, warum die Gefahr, in der der Sohn schwebte, etwas völlig anderes war als der Schrecken, aus dem der Vater im Ersten Weltkrieg so ruhmreich hervorgmg.

37

DER ERSTE WELTKRIEG

Ernst Jünger hat den Ersten Weltkrieg emphatisch begrüßt. Damit gab er sich nicht, wie ein gängiges Vorurteil wissen will, als Militarist zu erkennen. Vielmehr hatte diese Zustim¬ mung ihren Grund zunächst in der Überzeugung, daß Krieg der Ausdruck eines Naturhaft-Elementaren (»Stahlgewitter«) und damit eine nicht abzuschaffende, alle geschichtliche La¬ gen überdauernde Gegebenheit des menschlichen Lebens ist. Das Leben war für Jünger agonal, auf Kampf angelegt. Der Krieg ist daher vor allem ein übergeschichtliches Natur¬ ereignis, das immer war und immer sein wird. Alle morali¬ schen Einwürfe greifen zu kurz; der Krieg antwortet mit »einem schrecklichen Hohnlachen der Natur über ihre Unterstellung unter die Moral« (SW 8, S.24). Jünger war davon durchdrungen, daß die bloße Wirklich¬ keit, die das 19. Jahrhundert im Positivismus zur Weltan¬ schauung überhöht hatte, und neben der man nichts gelten lassen wollte, nicht alles ist. Die empirische Realität ist viel¬ mehr nur von einem Unwirklichen her richtig und vollstän¬ dig zu erkennen. Dieses Unwirkliche ist der Mythos. Größe und Gewalt des Mythos erfuhr Jünger im Krieg. Hier machte der überwunden geglaubte und zum Ammenmärchen er¬ klärte Mythos sein Recht geltend. Der Krieg ist genau so real und ewig, wie es der Mythos ist: »Aufgestanden ist er, wel¬ cher lange schlief / Aufgestanden unten aus Gewölben tief«, so beginnt Georg Heym sein Gedicht »Der Krieg«. Im Feuer von Maschinengewehren, Granaten und schwersten Ge¬ schützen, im Gasangriff, in einer mit verstümmelten Leichen übersäten Trichterlandschaft macht der nachbürgerliche Mensch, überraschend für ihn selbst, die Erfahrung des Mythos und stellt den Bezug zu den verschütteten Mächten wieder her.

38

Jünger weiß — was auch der Aufklärer Freud zum Leidwe¬ sen der Freudianer wußte -,daß der Mensch unter dem dün¬ nen Firnis seiner zivilisatorischen Rationalität nicht nur eine animalische, sondern auch eine zerstörerische Seite hat, daß Aggression und Todestrieb ein für allemal zu ihm gehören. Diese Mächte sind seit Kain und Abel anthropologische Konstanten und nicht in Psychologie, Soziologie oder Päd¬ agogik aufzulösen. Den Hochmut einer seicht gewordenen Aufklärung, wonach alles wissenschaftlich berechenbar und erklärbar, jeder Konflikt im vernünftigen »Diskurs« zu lösen, der gewalttätige »Feind« zum gewaltlosen »Gegner« zu zäh¬ men sei, machte der Krieg zuschanden. Nach Jünger ist der Krieg unausweichlich, weil »es zwischen Menschen, und wenn sie mit Engelszungen reden würden, eine Grenze des Wortes gibt« (SW 2, S. 158). Daß es möglich sei, den Krieg durch Vernunft und Moral abzuschaffen, dieses pazifistische Credo aller Gutmeinenden, war für ihn ein naiver Kmderglaube und Selbstbetrug. Die Natur des Menschen ist leider nicht so: »Die wahren Quellen des Krieges springen tief in unserer Brust und alles Gräßliche, was zuzeiten die Welt überflutet, ist nur ein Spiegelbild der menschlichen Seele, im Geschehen sich offenbarend.« (SW 7, S.43) Als Konservativer glaubte Jünger nicht an irdische Para¬ diese, und er war davon überzeugt, daß das Böse durch seine aufklärerische Leugnung nur um so schlimmer wird. Jünger bejahte den Krieg, weil er sich selbst nicht aufgeben wollte: »Wir dürfen ihn nicht leugnen, sonst wird er uns verschlin¬ gen.« (SW 7, S. 40) »Es hat keinen Sinn, sich einer Zerstörung entgegenzustellen, die unaufhaltsam ist.« (SW 9, S. 122) Den furchtbaren Seiten des Daseins ist mit gutgemeinter Vernei¬ nung, die nur ms sektiererische Abseits führt, nicht beizu¬ kommen, und auch das bloße Hinnehmen ist zu wenig. Die Bejahung einer unausweichlichen Entwicklung ist Bedin-

39

gung der Möglichkeit, die Überlegenheit des Menschen zu behaupten und sich nicht, auch nicht in der Materialschlacht, überwältigen und zum Objekt erniedrigen zu lassen. Jünger ging bewußt an die vorderste Front, weil dort, selbst im Feuer der Artillerie, noch Mann gegen Mann kämpfen konnte. Auf vorgeschobenem Posten, als Stoßtruppführer im Graben¬ kampf, sah er die Chance, nicht als anonymes Rädchen einer Kriegsmaschinerie, sondern als Mensch zu agieren und eine heroische Haltung zu beweisen. Hier hatte der Krieg noch Duell-Charakter, hier konnte man - so schien es Jünger — die alten Ideale von Ruhm und Ehre noch in die Wirklichkeit umsetzen. Es war Jünger entschieden zu billig, den Krieg emotional abzulehnen und ihn wie die Pazifisten als »sinn¬ los« abzutun. Er war davon durchdrungen, daß der Krieg einen Sinn hat und daß alles darauf ankam, diesen Sinn zu entziffern: »Das Klappern der Webstühle von Manchester, das Rasseln der Maschinengewehre von Langemarck — dies sind Zeichen, Worte und Sätze einer Prosa, die von uns ge¬ deutet und beherrscht werden will. Man gibt sich auf, wenn man dies zu überhören, wenn man es als sinnlos abzutun ge¬ denkt.« (SW 8, S. 141) Der Sinn des Krieges lag also für Jünger zunächst im übergeschichtlichen Mythos und in der agonalen Natur des Menschen, seine aktuelle Zuspitzung aber erhielt er durch die konkrete historische Situation. Der Fortschritt, diese »große Volkskirche des 19. Jahrhunderts« (SW 7, S. 123), er¬ wies sich als das, was er von Anfang an war: eine Illusion. Die Tabus einer liberal-humanistischen, saturierten Spätkultur wurden durch die harte Knegswirkhchkeit brutal beiseite gewischt. Nichts galt mehr von der gemütlich drapierten wilhelminischen Welt, in der man aufgewachsen war, für die es sich weder zu leben noch zu sterben lohnte, und vor der schon der Schüler Ernst Jünger 1913 nach Afrika ausgerissen

40

war. Jünger sah sich in Opposition zu dieser Zivilisation, weil sie jede Verbindung zu dem verloren hatte, was über die zu¬ fällige Lebensspanne zwischen Geburt und Tod hinausweist. Sie sah das Leben nicht mehr als »Vorposten«, sondern machte es selbst zum höchsten Gut. Ein solches Leben kann sich nicht mehr von sich absetzen, es findet keine Distanz mehr zu seiner eigenen Kontingenz. Und es kann sich schließlich selbst nicht mehr zum Opfer bringen, weil es nichts mehr gibt, das dieses Opfer wert wäre. (SW 7, S. 173) Luxus und Komfort sind die höchsten Güter einer Welt ge¬ worden, deren »Metaphysik die des Speisewagens ist«.37 Mit dem Kriegsausbruch 1914 aber schien das Opfer des Lebens plötzlich wieder möglich.38 In diesem Bewußtsein zieht Ernst Jünger in den Ersten Weltkrieg. Sem metaphysisches Bild vom Menschen, die alt¬ ehrwürdige, aber in Zeiten moderner »Selbstverwirkli¬ chung« abhanden gekommene Gewißheit, daß es höhere Güter als das individuelle Leben gibt, ermöglicht ihm jene überlegene Haltung, die einer stoischen Unverwundbarkeit gleichkam. Jünger weiß, daß das Leben immer gefährlich ist. Frieden und Sicherheit der modernen Zivilisation sind nur ein dünnes Eis. Es gilt nach wie vor der Satz aus dem ersten Brief des Apostel Paulus an die Thessalonicher: »Während

37 Ernst Jünger, Politische Publizistik tgig bis igj3, hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 534. 38 Darin hat die vielbeschriebene Begeisterung der Augusttage des Jahres 1914 ihre tiefere Ursache. Die Morituri jener Tage bejubelten ja nicht ihren be¬ vorstehenden Tod, sondern die Möglichkeit, zeigen zu können, daß es etwas Größeres gibt als das Leben. Der Kriegsausbruch 1914 wurde — und das war die Wahrnehmung vor allem in Deutschland, dem »Herzvolk der Moderne« (Modris Eksteins, Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg, Reinbek 1990, S. in) — als ekstatisches Gefühl einer Befreiung empfunden, als Erlösung von einer abgelebten und bigotten Kultur, als Durchbruch einer tieferen, aber von der modernen Zivilisation zugedeck¬ ten und geleugneten Wirklichkeit.

41

die Menschen sagen: Frieden und Sicherheit!, kommt plötz¬ lich Verderben über sie wie die Wehen über eine schwangere Frau, und es gibt kein Entrinnen.« Diese Situation muß ak¬ zeptiert werden und sie kann es auch, weil die äußeren Ver¬ hältnisse nur Anlaß zu innerer Bewährung sind; je gefährli¬ cher jene, um so größer diese. Insofern war der Krieg keine Sache des Todes, sondern des Lebens, ein Prüfstein für die Überlegenheit des Geistes, ohne den alle Technik, auch die vernichtende Technik, nichts ist. Mit provozierender Kaltblütigkeit gmg Leutnant Jünger so gestärkt durch die »Stahlgewitter« des Ersten Weltkrieges. Noch seine entsetzlichsten Auswüchse beschreibt er kühl und mit der Sachlichkeit des Naturwissenschaftlers. Die Ge¬ genwärtigkeit eines grausamen Todes wird mit Gleichmut,ja mit Verachtung hmgenommen. Aber die Botschaft, die darin liegt, bedeutet eben nicht — wie Jünger gerne vorgeworfen wird — Distanzlosigkeit gegenüber dem Kriegsgeschehen. Die mitleidlos-unbeteiligte, amoralische Zuschauerrolle ist in Wirklichkeit der Panzer eines Fiochempfindlichen. Die quasi wissenschaftliche Kälte ist Jüngers Rüstung, mit der er sich schützt, um das Unerträgliche auszuhalten. Seine auktoriale Souveränität verbirgt die eigene Verletzlichkeit: »Man zog ja über das Grausige hinweg mit genagelten Stiefeln.« (SW 7, S. 23) Die Kälte dieser Prosa ist daher nicht Ausdruck innerer Vereisung, sondern — im Gegenteil — überwachen Wahrnehmens. Die Konsequenz, die Jünger daraus zieht, lautet: Nicht das menschliche Leben ist kontingent, sondern das äußere Geschehen; jenes hat Teil am Ewigen und bleibt diesem damit unendlich überlegen. So führte die perma¬ nente Todesdrohung im Ersten Weltkrieg zu einem gestei¬ gerten Lebensgefuhl, weil sie erahnen ließ, daß hinter diesem Leben eine überindividuelle Ordnung steht, die sich um so deutlicher abhebt, je sinnloser die Wirklichkeit erscheint.

42

Wer sein Leben so todesverachtend einsetzt, der muß eine hohe Meinung von seiner Unzerstörbarbeit haben. Schon in seinem Frühwerk - das spätere läßt es noch deutlicher wer¬ den — ist Jünger davon überzeugt, daß keine Kugel dahin zu dringen vermag, wo die Seele des Menschen sitzt: »Die wert¬ vollste Erkenntnis, die aus der Schule des Krieges davonge¬ tragen wird, ist die, daß das Leben in seinem innersten Kerne ganz unzerstörbar ist.«39 Jünger wurde im Verlauf des Ersten Weltkrieges häutig verwundet; einigemale so schwer, daß er in die Nähe des Todes kam. Liier wird ihm dann erfahrbar, daß die Ewigkeit keine quantifizierbare Größe ist, sondern eine Qualität. Sie bemißt sich nicht nach Jahrmillionen, son¬ dern zeigt sich im »Augenblick« (SW 3, S. 649). In der Todes¬ erfahrung erschien Jünger das Leben plötzlich »wie durch einen Blitz erleuchtet« »in seiner innersten Gestalt« (SW 1, S. 293): »[Ich] empfand [...] bei der Erwartung des Todes we¬ der Schmerz noch Angst. Im Stürzen sah ich die weißen, glat¬ ten Kiesel im Lehm der Straße; ihre Anordnung war sinnvoll, notwendig wie die der Sterne und verkündete große Ge¬ heimnisse. Das war vertraut und wichtiger als das Gemetzel, das mich umgab.« (SW 1, S. 262) Jünger offenbart sich hier in einer plötzlichen Erleuchtung40 die Wahrheit jener griechi¬ schen Inschrift aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert: »Der Erde Kind bin ich und des sternenglänzenden Him¬ mels.« Das zufällige Stück Erde, auf das er tödlich verwundet fällt, wird zum Spiegel der Transzendenz und schürzt sich zur unmittelbaren, überwältigenden Erfahrung des Aufgehoben¬ seins im Kosmos. 39 Jünger, Politische Publizistik (wie Anm. 37), S.613. 40 Zur »Plötzlichkeit« als Kontingenz-transzendierende Wahrnehmungsform der Moderne - »Ausnahme« bei Kierkegaard und Carl Schmitt (bei diesem mit ausdrücklichem Bezug auf das biblische »Wunder«), »Chok« und »pro¬ fane Erleuchtung« bei Walter Benjamin - vgl. Bohrer, Ästhetik des Schreckens (wie Anm. 7).

43

Die metaphysische Gewißheit grundiert das Gesamtwerk dieses Autors. Wenn Georg Lukäcs als Merkmal des moder¬ nen Romans die »transzendentale Obdachlosigkeit« erkennt, so gilt das jedenfalls nicht für Ernst Jünger. Er bleibt mit Johann Georg Hamann davon überzeugt, daß es die Unsicht¬ barkeit ist, die der Mensch mit Gott gemein hat, und daß alles Sichtbare nur ein Fingerzeig ist. Als Spurenleser der Transzendenz sucht er in allen seinen Werken die Welt nach der Einbruchstelle des Absoluten ab. Immer stellt er seine persönliche Erfahrung in einen übergeordneten, kosmischen Zusammenhang, der den Nihilismus des frühen Jünger und seine politischen Schriften relativiert. Das gilt für den Gra¬ benkämpfer der Stahlgeuhtter von 1920 wie für den politi¬ schen Publizisten der Weimarer Nachkriegszeit, für den distanziert-beobachtenden Tagebuchautor ebenso wie für den schwarzen Romantiker des Abenteuerlichen Herzens oder den waldgängerhaften »Anarchen« aus dem späten Roman Eumeswil. Aber dazwischen liegt ein langer Weg, dessen Wendungen und Brüche im Werk erkennbar sind wie die »mit Ein- und Ausschüssen gerade zwanzig Narben« (SW 1, S. 299) am Körper seines Autors. Diese Wendungen variieren das immergleiche Motiv und ergeben das authentische Bild Jüngers. »Der Weg des Geistes ist der Umweg«, sagt Hegel, und Jünger ergänzt: »Das Heil liegt nicht am Ende des We¬ ges, sondern in der Figur, die seine Linie beschreibt.« (SW 9, S.29)

44

DAS VERHÄLTNIS ZUM NATIONALSOZIALISMUS

Mit dem Erscheinen der ersten Fassung seines Abenteuerli¬ chen Herzens schließt Jünger 1929 die Phase des Ersten Welt¬ krieges und seiner Nachwehen ab. Bis dahin lag ihm der Krieg »wie ein Stein im Magen« (SW 2i,S.32öf.). Nun wird aus dem politischen Autor, als der er fälschlich41 wahrge¬ nommen wurde, ein — wie Goebbels mit Verachtung sagen sollte — »Literat«. Freilich bleibt Jünger seinen zentralen Mo¬ tiven treu und überträgt die Haltung des Kriegers auf das bürgerliche Leben. Gegen das Sicherheitsdenken setzt er das abenteuerliche Herz. Ganz gleich, was geschieht, Jünger will bis an die Grenze seiner menschlichen Möglichkeiten ge¬ hen. Doch seine emphatische Modernisierungsbejahung, wie sie sich noch in dem Buch Der Arbeiter (1932) ausdrückt, ändert sich in dem Maße, in dem Jünger mit der nationalso¬ zialistischen Modernisierung konfrontiert wird. In Der Ar¬ beiter erscheint Jünger noch als der theoretische Meister des Geschehens. Er hat den Lauf der Welt durchschaut und kann sich als sein Herr fühlen, sich als Avantgardist an die Spitze der Bewegung setzen. Durch vorbehaltlose Bejahung dessen, was objektiv geschieht, gewinnt man die angemessene Hal¬ tung und einen überlegenen Standpunkt. Die zeitdiagno¬ stische Utopie hält aber der neuen Bedrohung nicht stand, und so wird aus dem nationairevolutionären Aktivisten der 41 Seine politische Publizistik der zwanziger Jahre, die Jünger selbst als Jugend¬ sünde ansah und nicht in die Gesamtausgabe seiner Werke aufnahm, zeigt vor allem eines: wie wenig politisch auch dieser Jünger ist. Die nationaire¬ volutionären Artikel sind vielmehr Ausdruck eines »tiefen Gekränktseins« darüber, daß die Siegermächte des Ersten Weltkrieges das besiegte Deutsch¬ land moralisch zu disqualifizieren und juristisch ins Unrecht zu setzen such¬ ten. (Peter Koslowski, Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers, München 1991, S. 48 ff.) Die nationale Rhetorik verbirgt ein übernationales Motiv: das Ideal, das auch den Besiegten ehrt, das Ideal der Ritterlichkeit. Von ihm sind die Kriegsbücher Jüngers durchdrungen.

45

zwanziger Jahre bereits in den dreißiger Jahren ein posthe¬ roischer, kontemplativer und schließlich auch resignativer Ernst Jünger. Schon die Titel seiner Werke lassen die Wand¬ lung erahnen. Statt In Stahlgewittern (1920), Der Kampf als inneres Erlebnis (1922) und Feuer und Blut (1925) lauten sie jetzt: Sizilianischer Brief an den Mann im Mond (1930), Blätter und Steine (1934), Lob der Vokale (1934). Und statt um realisti¬ sche Beschreibung des äußeren Geschehens geht es Jünger nun verstärkt um die surrealen Nachtseiten des Lebens. Der Realismus der Beschreibung trug schon in seinem Frühwerk surrealistische Züge, weil

die Wirklichkeit selbst, jene

»Traumlandschaften des Krieges« (SW 9, S. 148), es vorgab. Nun verstärkt sich die surrealistische Tendenz. Als 1938 die zweite Fassung des Abenteuerlichen Herzens erscheint, handelt es sich um ein so gut wie vollständig neues Buch, in dem die Bezüge auf die geschichtliche Wirklichkeit weitgehend ge¬ tilgt sind, der Text als reine Traumprosa erscheint. Aber wiederum hieße es, Jünger mißzuverstehen, wollte man das als Flucht aus der Zeit deuten. Gerade das Gegen¬ teil ist richtig. Jünger, der Zeuge des Jahrhunderts, mußte die Erfahrung machen, daß das Grauen der entfesselten Material¬ schlachten des Ersten Weltkrieges steigerbar war. Jetzt wird die mechanische Gewalt mit den »Genüssen der Folter« (SW 7, S. 168) verfeinert. Auch in dieser spezifischen Gefah¬ renzone behält Jünger seine gewohnte Kaltblütigkeit und Distanz bei. Er läßt seit Beginn der »Machtergreifung« nicht den geringsten Zweifel daran, daß er mit den Nazis nichts zu tun haben will. So verweigert er sich 1933 der »gesäuberten« Deutschen Akademie der Dichtung (vormals: Sektion für Dichtkunst in der Preußischen Akademie der Künste); er untersagt dem Völkischen Beobachter den Abdruck aus seinen Werken, weil er, wie er der Zeitung in einem Brief vom 14. Juni 1934 schreibt, unbedingt den Eindruck vermeiden will,

46

»daß ich Ihrem Blatte als Mitarbeiter angehöre«; er tritt aus seinem Soldatenverein aus, als dieser seine jüdischen Mitglie¬ der nicht mehr dulden will; er nimmt die Familie seines von der Gestapo verhafteten Freundes, des nationalrevolutionä¬ ren Politikers und Schriftstellers Ernst Niekisch, in seinem Haus aut und bietet dies auch seinem jüdischen Freund, dem Schriftsteller Valeriu Marcu, an. »Von Anfang an bis zum Ende des Krieges hatte ich mit den Leuten Schererei«, sollte er später sagen (SW 21, S. 329). Schon lange vor der »Machtergreifung« hatte jünger seine Sympathien für die Nazis aufgegeben und, elitär wie er war, ein distanziertes Verhältnis zu ihnen gepflegt. Bereits in den zwanziger Jahren hatte er die Versuche seines Bewunderers Adolt Hitler, ihn zur »Bewegung« herüberzuziehen (unter Inaussichtstellung hoher Prämien), kühl zurückgewiesen. Daran ändert sich auch jetzt, da die Nationalsozialisten die Macht ergriffen haben und noch höhere Prämien verteilen können, nichts.42 Wie schon 1927 lehnt Jünger auch 1933 das Angebot eines Reichstagsmandates für die NSDAP ab. Dem Vermittler soll er gesagt haben, er halte das Schreiben eines einzigen guten Verses für verdienstvoller, als 60 000 Trottel zu vertreten.43 Ein Demokrat war der anarchische Jünger me (und auch zu den Zeiten nicht, als die demokra¬ tischen Politiker Kohl und Mitterrand ihn hofierten). In sei¬ nem Elitismus sah er sich bestätigt durch die frenetisch ju¬ belnden Massen, die Hitler emportrugen und bis zuletzt, auch gegen den »20. Juli«, an der Macht hielten. »Man hat weniger die Tyrannen am Halse als rundum die Masse, die sie

42 Goebbels sagte: »Wir haben Jünger goldene Brücken gebaut, er wollte sie niemals beschreiten« (zit. nach: Ernst Jünger mit Antonio Gnoli und Franco Volpi, Die kommenden Titanen, wie Anm. 2, S. 65; vgl. SW 22, S. 100). 43 Karl O. Paetel, Ernst Jünger. Die Wandlung eines deutschen Dichters und Pa¬ trioten, Reprint der Ausgabe New York 1946, Koblenz 1995, S. 32.

47

schuf.« (SW 21, S. 152). Gegenüber dieser Masse war Jünger mißtrauisch, weil er wußte, daß sich in ihrem Jubel die Rufe von Raubtieren verbergen (SW 14, S. 220) und er auch die Zustimmung zur Selbstvernichtung (SW 3, S. 311 f.) spürte. Die Masse - oder, in Jüngers Terminologie, der »Demos« — war die Brutstätte der »niederen Dämonen« (Ernst Niekisch), die im Dritten Reich zur Herrschaft kamen. Jünger sagte später, daß Adolf Hitler, der in den Tagebü¬ chern jener Jahre unter dem Pseudonym »Kniebolo« er¬ scheint, sein »politischer Mentor ex negativo« gewesen sei. Dank Hitler habe er begriffen, daß er in der Politik nichts verloren habe: »... inmitten der durch ihn entfachten Begei¬ sterungsstürme fühlte ich, ganz abgesehen von ihrem Anlaß, ihrer Richtung und ihrem Inhalt, daß ich damit nichts zu tun hatte.« (SW 14, S. 129) Andererseits: Wenngleich die Werke Jüngers nicht als »politisch« im engeren Sinne bezeichnet werden können, so hat doch die Politik dann unübersehbar ihre Spuren hinterlassen. Das ist bei einem Autor, der sich als Zeitzeuge verstand, auch gar nicht anders möglich. Jünger wurde den Machthabern des Dritten Reiches zum Ärgernis, weil er dem spezifischen Schrecken der Zeit nicht auswich, weder durch äußere noch durch innere Emigration. Zur phä¬ nomenologischen Besonderheit dieses Schreckens gehörte es, daß ihn keiner zu benennen wagte. Doch Jünger war nicht der Mann, der es beim Lob der Vokale oder bei surrealistischer Traumprosa bewenden ließ. Allerdings können seine literarischen Mittel im Angesicht dieses Schreckens nicht mehr dieselben bleiben; sie müssen sich seiner neuen Qualität anpassen. Und da der neue Schrecken nicht direkt beschrieben werden kann, faßt ihn Jünger in der Parabel. Auf dem Höhepunkt der NS-Herrschaft erscheint seine Erzählung Auf den Marmorklippen, mit einem Entstehungsvermerk, der in seiner historischen

48

Konkretion einen scharfen Kontrast zu der scheinbar zeit¬ enthobenen Geschichte bildet: »Begonnen Ende Februar 1939 in Überlingen am Bodensee / Beendet am 28.Juli 1939 in Kirchhorst bei Hannover / Durchgesehen im September 1939 beim Heer.« Jüngers Werke erschienen im Pariser Wehrmachtsverlag, als sie in Deutschland schon nicht mehr gedruckt werden konnten. So weit reichte der Arm der Reichsschrifttumskammer nicht. Der Vermerk ist aber nicht nur ein dezenter Hinweis an den Zensor, für den das Heer tabu war, damit ist auch die Zeitenthobenheit der Marmor¬ klippen a priori dementiert. Der Autor signalisiert seinem Publikum, daß er nicht aus sicherer Distanz schreibt, son¬ dern im Bauch des Leviathan lebt und seine Erzählung alles andere als ahistorisch ist. Tatsächlich haben die Marmorklippen einen aktuell-politi¬ schen Hintergrund. Die Entstehung dieses in einem Zug in¬ nerhalb von wenigen Wochen niedergeschriebenen Werkes steht in Zusammenhang mit einem nächtlichen Besuch Heinrich von Trott zu Solz’ im Herbst 1938 bei Jünger in Überlingen.Trott, der mit seinem Bruder Adam den Wider¬ stand gegen Hitler organisierte, wollte Jünger ebenfalls hier¬ für gewinnen.44 Daß es hohe Offiziere waren, die an der Vor44 Über diesen »seltsam(en)« (SW 2, S. no) und »schicksalsvoll(en)« (SW 3, S.280) Besuch berichtet Jünger nur sehr zurückhaltend und andeutungs¬ weise (vgl. SW 22, S. 389). Doch hat der Besucher selbst sich gleich nach Ende des Dritten Reiches deutlich dazu geäußert: »Die Arbeit in der illega¬ len Widerstandsbewegung führte mich außer zu bekannten Antifaschisten in der Schweiz und ungezählten Unbekannten in Deutschland auch zu Ernst Jünger, der damals mit seinem Bruder Friedrich Georg am Bodensee lebte [...]. Wir wußten: Jünger war ein Feind Hitlers. In der Widerstands¬ bewegung konnte man nicht Männer brauchen, die schöngeistige Betrach¬ tungen über die »geistige Herkunft des Nationalsozialismus! anstellten, son¬ dern Kämpfer, die bereit waren, für das, was sie vertraten, Leib und Leben einzusetzen, ohne Rücksicht auf bürgerliche Sicherheit und Ansehen. Das hat Ernst Jünger getan.« (H. von Trott zu Solz, in: »Ausblick«, 1945, H.5, S. I22f.; hier zit. nach: Heidrun Ehrke-Rotermund/Erwin Rotermund,

49

Bereitung und Ausführung des Attentats beteiligt waren, hielt Jünger nicht für rühmlich, sondern für die ihnen zukom¬ mende Pflicht (SW 20, S. 64). Insofern war er grundsätzlich einverstanden. Dennoch blieb er gegenüber dem Plan, den Diktator zu töten, zurückhaltend (SW 3, S.242f., 288, 291, 476). Tyrannenmord ist für Jünger eine antike und mythische Kategorie, die nicht auf moderne Verhältnisse paßt, weil der moderne Tyrann - und das gehört zur neuen Form des Schreckens — im Unterschied zum antiken vom Volk getra¬ gen wird: »Der Demos ist sein eigener Tyrann« (SW 12, S. 510). In der Antike stand der Tyrann gegen das Volk, jetzt steht das Volk beim Tyrannen. Daher liegt für Jünger das Übel letzt¬ lich nicht in der Person des Diktators, denn die modernen Diktatoren lehren, daß Demokratie und Diktatur keine Ge¬ gensätze sind. Tatsächlich war die NSDAP die erste moderne Volkspartei und Hitler ein Machthaber, der sich zwar nicht ausschließlich, aber doch hauptsächlich mit Hilfe legaler, de¬ mokratischer Mittel durchgesetzt hat. Er war Ausdruck der Volkssouveränität, Verkörperung der Masse, die bis zum Schluß loyal zu ihm hielt. An seinen Bruder Friedrich Georg schreibt Jünger 1936, »daß die Demokratie dort am bösartig¬ sten ist, wo sie Beifall zollt«.45 Nicht der »Führer«, sondern seine Basis war hier das eigentliche Problem. Beide waren aufeinander bezogen: »Der Tyrannenmord, die Tötung des Tyrannen absque titulo, setzt Unterdrückte von Qualität vor¬ aus.« (SW 17, S. 245) Solche Qualität vermochte Jünger nicht zu sehen, und daher war aus seiner Sicht dem plebiszitären Demos durch Tyrannenmord nach antikem Muster nicht beizukommen. Zwischenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur »Verdeckten Schreib¬ weise« im »Dritten Reich«, München 1999,8.331). 45 Zit. nach Schwilk, Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten (wie Anm. 8), S. 148.

50

Diese Einsicht in die Besonderheiten der modernen, auf dem Humus der Demokratie gewachsenen Despotie ver¬ dankte Jünger Carl Schmitt, der ihn mit demjenigen Autor bekannt machte, der sie als erster formuliert hatte: Alexis de Tocqueville. An jenem Februarabend des Jahres 1944,311 dem Jünger mit Schmitt in dessen Wohnung in Berlin zusammen¬ saß, nachdem er tagsüber in der Sache seines Sohnes vergeb¬ lich aktiv gewesen war, erinnerte Schmitt zur Beschreibung der politischen »Lage« nicht nur an die Wiedertäufer von Münster, er las auch mit Jünger gemeinsam den Schluß des zweiten Bandes von Tocquevilles Democratie en Amerique. Hier sind die despotischen Gefahren der modernen Demo¬ kratie, das Ersticken der Freiheit in Gleichheit, Sozialismus und Volksgemeinschaft, vorausgesehen. Alexis deTocqueville war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland und sogar in seinem Heimatland Frankreich ein Vergessener. Nicht für Carl Schmitt. Schon in seinem Buch Die Diktatur von 1921 taucht der Name Tocqueville auf, und in seiner Verfassungslehre nimmt Schmitt 1928 ausdrücklich auf das »berühmte Kapitel« in Tocquevilles Amerikabuch Bezug,46 das nun den Gegenstand der gemeinsamen abendlichen Lek¬ türe bildet. Das Kapitel handelt über die Frage »Welche Art Despotismus die demokratischen Nationen zu befürchten haben«. In ihm konstatiert der Autor, daß der alte Begriff von Tyrannei für die moderne Demokratie überholt ist. Diese zeichnet sich dadurch aus, daß sie bei allgemeiner Gleichheit ihr Behagen im Hedonismus findet, dem sie alle Ideale aus¬ liefert, um in ihm zu erschlaffen. Die Staatsgewalt gehorcht in der Demokratie dem Imperativ, das Wohlleben für alle zu sichern, was zu einer immer umfassenderen gesetzlichen

46 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl., Neusatz aufBasis der 1928 erschiene¬ nen ersten Aufl., Berlin 1993, S. 201.

51

Regelung ihres Alltags führt. Die paternalistische staatliche Begleitung von der Geburt bis zum Tode hält die Menschen in der Kindheit fest, in der regressiven Apathie des Konsums. Ein Volk von Knechten aber, das am Ende dieses Prozesses steht, kann - so Tocqueville - unmöglich imstande sein, eine gute, freiheitliche und weise Regierung zu wählen. Der freie Wille ist überflüssig und störend, der Hang zum Wohlleben wird zur Mutter der Tyrannis. Der Demos wählt sich schlie߬ lich selbst seinen Despoten, der ihm Wohlleben und Gleich¬ heit verspricht und der doch nur die Kehrseite des eigenen knechtischen Charakters ist.47 Das Neue und Beunruhigende dieser Situation ist weni¬ ger die Person des Tyrannen, als vielmehr der Demos, dessen Ausdruck er ist. Den Tyrannen zu töten ist leichter als den Demos niederzuhalten, der ihm zujubelt und ihn trägt. Dazu hätte es im Dritten Reich eines außerordentlichen Mannes bedurft, in dem sich brutale Tatkraft mit Bildung verbindet und der nicht nur in der Lage gewesen wäre, einen charis¬ matischen Despoten vom Schlage Hitlers zu beseitigen, son¬ dern auch gegen den Widerstand der Mehrheit die Freiheit zurückzugewinnen. Das historische Vorbild eines derartigen Mannes war für Jünger Sulla. (SW 2, S. 18, 330, 454; SW 3, S. 255,274; SW 6, S. 167) Doch einen solchen Mann sah er im 47 Auf Tocqueville wurde Jünger von Schmitt erstmals in einem Brief vom 2. November 1941 hingewiesen, der auch den Fluchtpunkt seiner erneuten Beschäftigung mit Tocqueville, nämlich den Bürgerkrieg, erkennen läßt: »Der berühmte Historiker Tocqueville ist längst vergessen und nur noch ein mit Respekt weitergegebener Name ... Hier sehen Sie, in Situationen, die Ihnen längst ein Thema Ihres Interesses sind, besonders in wirklichen Bür¬ gerkriegssituationen des Tages und der Nacht, einen Mann, der seinem We¬ sen nach Moralist und Maler ist ...« (Jünger/Schmitt, Briefe, wie Anm. 1, S. 133). Ausführlicher äußert Schmitt sich zu Tocqueville 1946 in dem Ab¬ schnitt »Historiographia in Nuce: Alexis de Tocqueville« in: Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus, Köln 1950, S. 25-33, wo Tocqueville als ein Besiegter gezeichnet ist, der aber mit seinem Werk den Spruch, wonach die Sieger die Geschichte schreiben, widerlegt.

52

höheren Offizierskorps der Wehrmacht nicht. Nur einem mochte er Zutrauen, »den Koloß zu fällen« (SW 2, S. 17), das war Rommel. Ansonsten hielt er die Generäle für abstrakte Intelligenzen, »Spezialisten auf dem Gebiet der Befehlstech¬ nik« (SW 2, S.454). Seinen Pariser Oberbefehlshaber CarlHeinrich von Stülpnagel schätzte er als einen noblen und ge¬ bildeten Mann, ihm habe aber, wie sich am 20. Juli zeigen sollte, die notwendige Brutalität gefehlt. Jünger selbst wurde im Dritten Reich vollends deutlich, daß er kein politischer, sondern ein musischer Mensch war, und daß er folglich Wi¬ derstand mit seinen eigenen Mitteln, »allein durch reine Gei¬ stesmacht« (SW 15, S. 296), zu leisten habe. Mit den Marmorklippen hat er es beispielhaft getan.48 Ernst Jünger, der 1930 im Arbeiter konstatierte, daß mit »Artistik« nichts mehr auszurichten sei, legt hier ein hochartistisches Buch vor. Aber trotz aller Verfremdungen — dem vagemittelalterlichen Rahmen, der Phantastik des Stoffes, den symbolistischen Bildern, dem manieristischen Stil — war je¬ dem

Leser klar, daß hier »eine Mine lautlos explodierte«.49

Die Kühnheit dieses Buches ließ den Zeitgenossen den Atem stocken: »Das sind die Keller, darauf die stolzen Schlösser der Tyrannis sich erheben und über denen man die Wohlgerüche ihrer Feste sich kräuseln sieht: Stankhöhlen grauenhafter Sorte, darinnen auf alle Ewigkeit verworfenes Gelichter sich an der Schändung der Menschenwürde und Menschenfrei¬ heit schauerlich ergötzt.« (SW 15, S. 310E) Eine schneiden¬ dere Absage an die NS-Herrschaft war nicht denkbar, und sie 48 Die biographische Parallele ist nicht zu übersehen: Der Erzähler der Marmorklippen und sein Bruder sind ehemalige Elitekämpfer, die sich für eine rein geistige Existenz entschieden haben. 49 Als Jünger 1930 Carl Schmitts Begriff des Politischen las, spendete er dem Autor begeistertes Lob. Das Buch sei von einer unwiderstehlichen, schla¬ genden Evidenz, »eine Mine, die lautlos explodiert« (Ernst Jünger/Carl Schmitt, Briefe 1930-1983, wieAnm. uS.7).

53

auf dem Höhepunkt dieser Herrschaft und in ihrem Macht¬ bereich öffentlich formuliert zu haben, kam dem Todesmut, den Jünger im Ersten Weltkrieg bewiesen hatte, gleich. Spä¬ ter hat sich Jünger - auch hier, wo er sich leicht zum Wider¬ standskämpfer hätte promovieren lassen können — stolz und ungerührt dagegen verwahrt, daß mit den »Marmorklippen« direkt und ausschließlich die NS-Herrschaft gemeint gewe¬ sen sei.50 Es habe sich vielmehr um ein Buch über die Epo¬ che gehandelt, die durch Stalin ebenso repräsentiert wurde wie durch Hitler, und die er als »kainitische« verstand (SW 3, S. 347). Das ändert nichts daran, daß das deutsche Publikum jener Jahre — und dafür gibt es zahlreiche Zeugnisse — diese Erzählung mit dem Blick auf Hitler las, und viele »in der Feigheit und Niedertracht des Dritten Reiches die Marmor¬ klippen aufgenommen haben wie einen Regen in der Wü¬ ste«.51

50 Diesen unterkühlt-stolzen Verzicht auf das Einfahren leicht zu erringender Widerstands-Prämien kommentierte Thomas Mann mit Fassungslosigkeit. Am 14. Dezember 1945 schreibt er an Agnes E. Meyer: Jünger ist »zweifel¬ los ein begabter Mann, der ein viel zu gutes Deutsch schrieb für HitlerDeutschland. Er ist aber ein Wegbereiter und eiskalter Genüßling des Bar¬ barismus und hat noch jetzt, unter der Besetzung, offen erklärt, es sei lächerlich, zu glauben, daß sein Buch mit irgendwelcher Kritik am natio¬ nalsozialistischen Regime etwas zu tun habe.« So eindeutig hat Jünger, der grundsätzlich der Meinung war, daß, wer sich selbst kommentiere, sich un¬ ter sein Niveau begebe (SW 12, S. 514), es zwar niemals erklärt, aber er hatte eine Allergie gegen nachträglichen Widerstand (SW 22, S. 391), und die Ge¬ reiztheit Thomas Manns dürfte wohl auch damit zu tun haben, daß Jünger in jenen zwölfjahren auf der Bühne stand und um seinen Kopf spielte, wäh¬ rend Thomas Mann in der Loge saß. Der von Jünger im Machtbereich der Nazis gezeigte Mut hatte eine andere Qualität als der hinter den sicheren Pacific Palisades aufzubringende. Die GereiztheitThomas Manns gegenüber Ernst Jünger wurde von diesem erwidert (worin er übrigens mit Carl Schmitt übereinstimmte; vgl. unten, S. 105 mit Anm. 110).- Zur Diskretion Jüngers hinsichtlich der eigenen Haltung im Dritten Reich vgl. auch un¬ ten, Anm. 58. 51 Trott zu Solz (wie Anm. 44). Über die außerordentliche Wirkung des Bu¬ ches in Deutschland wie im Ausland vgl. Günter Scholdt, »>Gescheitert an

54

BÜRGERKRIEG UND WELTBÜRGERKRIEG

Vor allem unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges be¬ schreibt Jüngers Weg eine markante Wendung. Der Erste Weltkrieg kannte noch Symbole, »für die das männliche Opfer unbedenklich vollzogen werden« konnte.52 Dieses Symbol war für Jünger die Nation. Es ist für ihn schon im Zweiten Weltkrieg nicht mehr verwendungsfähig; einmal, weil es moralisch diskreditiert ist — »Deutschland, bleiche Mutter, wie sitzest du besudelt unter den Völkern« (Bertolt Brecht) —, dann aber vor allem, weil dieser Krieg eben kein bloßer Nationenkrieg mehr ist, sondern ein Weltanschau¬ ungskrieg, eine Wiederholung frühneuzeitlicher Religions¬ kriege unter den Bedingungen der Säkularisierung. Der Zweite Weltkrieg markiert den fließenden Übergang vom »symmetrischen« zum »asymmetrischen« Krieg.53 Jetzt geht

den MarmorklippenRaphael< gewohnt hatten, wurden gehenkt, begingen Selbstmord oder verschwanden schon vor der Niederlage in den Gefängnis¬ sen.« (SW 5, S. 574f.) Man war von Feinden aus den eigenen Reihen umstellt, ohne sie klar erkennen zu können; von den verschiedenen Sicherheitsdiensten, der SS, der Gestapo, von Mitgliedern der NSDAP, Emissären Berliner Ministerien, Vertretern der Pariser Botschaft. Und an eben dieser irregu¬ lären und asymmetrischen Front war Jünger eingesetzt: Er sollte »den unterirdischen Kampf zwischen Partei und Wehr¬ macht« untersuchen, insbesondere die von Hitler befohlene und vom Pariser Stab abgelehnte Praxis der Geiselerschie¬ ßungen dokumentieren. Die Schriftstücke, die er anfertigte — und nach dem 20. Juli verbrannte —, konnten ihn in höch¬ ste Gefahr bringen.55 Die neue Art der Gefährdung galt auch für den Sohn auf Spiekeroog. Auch er lebte, als Folge des Krieges, in einem irreal komfortablen Rahmen. Auf der ostfriesischen Insel gab es damals noch Fischer. Sie konnten ihre Krabben nicht mehr absetzen, weswegen die Hermann-Lietz-Schüler Krabben bis zum Überdruß aßen. Die Jungen gingen auch häufig ins

55 Hans Speidel, Aus unserer Zeit. Erinnerungen, Berlin / Frankfurt a.M. / Wien 1977, S. nof. Speidel war Jüngers direkter Vorgesetzter in Paris. Vgl. auch SW 2, S. 308. Jüngers Dokumentation über die Geiselerschießungen galt lange Zeit als verloren, doch ist kürzlich ein Durchschlag davon aufgetaucht. Der Text ist abgedruckt in: Sven Olav Berggötz, »Ernst Jünger und die Gei¬ seln. Die Denkschrift von Ernst Jünger über die Geiselerschießungen in Frankreich 1941/42«, in: »Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte« 51, 2003, S.405-472.

59

Inselhotel, und da dieses keine Gäste mehr hatte, waren sie es, die sich aus dem gut gefüllten Weinkeller bedienen lie¬ ßen.56 Der Denunziant saß unerkannt mit am Tisch, und schon eine falsche Drehung am Knopf des Radios konnte den Tod bedeuten. Die neue Qualität des Kampfes, die Bür¬ gerkriegssituation, wird bei den Rettungsversuchen der El¬ ternjünger für ihren Sohn greifbar. Gretha und Ernst Jünger wissen nicht, auf welche Menschen sie dabei treffen, aber klar ist: »Wo immer zwei Menschen einander begegnen, sind sie sich verdächtig — das beginnt schon mit dem Gruß.« (SW 2, S.472) Sie müssen einen sechsten Sinn entwickeln, um zu beurteilen, ob ihr Gegenüber Freund oder Femd ist; unter Hunderten müssen sie, wie Gretha Jünger notiert, das menschliche Gesicht herausfinden. Hier reicht das rationale Abwägen von Strategie und Taktik nicht mehr aus, und alles auf der Kriegsschule Gelernte wird nutzlos. Vielmehr sind jetzt spontane und gefühlsmäßige Entscheidungen gefragt. Tierhafte Instinkte werden für das Überleben wichtig. »Man beginnt, sich zu wittern; es wird unheimlich.« (SW 20, S. 208) Ernst Jünger hat diesen Wandel als Entwicklung vom heroischen zum dämonischen Schrecken beschrieben. Hero¬ isch war der Schrecken des Ersten Weltkrieges, weil die Ge¬ fahr mit der äußeren Situation korrespondierte. Dieser Krieg konnte noch — so schien es Jünger jedenfalls — ritterlich in offener Feldschlacht geführt werden. Der Feind stand ein¬ deutig auf der anderen Seite und war klar zu identifizieren. Der dämonische Schrecken des Dritten Reiches läßt diese klare Abgrenzung und Identifizierung nicht mehr zu. Die Gefahr hinter den Kulissen des Komforts wird unsichtbar und damit um so intensiver. Aber vor allem: Der dämonische 56 Schilderung bei Siedler, Ein Leben wird besichtigt (wie Anm. 9), S. i3of. und 139. Siedler schreibt, daß ihm hier auf Jahre hinaus der Appetit auf Krabben verleidet wurde.

60

Schrecken erlaubt es nicht mehr, den Kampf ritterlich zu fuhren; die traditionellen Begriffe von »Waffenehre« sind obsolet geworden. Die Kriegführung war keine Sache von Kavalieren mehr. Sie mußten jetzt absitzen und ihre stolzen Rösser wurden ein Fall für den Abdecker. Jetzt stellt sich niemand mehr zum Kampf auf und entbietet dem Gegner seinen Gruß, alle protokollarischen Höflichkeiten fallen weg. Stattdessen muß man damit rechnen, daß die Putzfrauen im Auftrag des eigenen Geheimdienstes die Papierkörbe kon¬ trollieren und der freundliche Zimmerkellner ein Agent ist (SW 14, S. 123 t'.), der mit einem kleinen Fingerzeig die ge¬ räuschlose »Liquidierung« veranlassen kann. Es gehört zum Drama der Freundschaft Ernst Jüngers mit Carl Schmitt, daß dieser die vom dämonischen Schrecken geprägte Situation Jüngers in Paris nicht sah, vielmehr nur ihre touristisch-komfortable Seite wahrnahm. Im Oktober 1941 fuhr Schmitt auf Einladung des Deutschen Instituts zu Vorträgen in die französische Hauptstadt, wo er sich eine Woche lang aufhielt. Eigentlich hatte er keine große Lust zu dieser Reise gehabt, sich aber schließlich auf Drängen Ernst und insbesondere Gretha Jüngers dazu herbeigelassen. Später gerät Schmitt im Gedanken an Paris geradezu ins Schwär¬ men. Die Stadt wurde für ihn zur Utopie, in der sich alle Bedrückungen der realen Welt verflüchtigten. Am 2. No¬ vember schreibt er an Jünger, daß »die Woche in Paris mir jetzt, in dem trüben Druck und der drückenden Triibnis heutigen Berliner Daseins, als eine Märchemnsel oder wie ein schwebender Paradiesgarten erscheint.«57 Der Anlaß der Reise, Schmitts Vortrag über »Staatliche Souveränität und freies Meer«, ist in seiner Rückschau nicht der Rede wert gegenüber den Erlebnissen, die er in Paris mit Jünger hatte,

57 Jünger/Schmitt, Briefe (wie Anm. 1), S. 132.

61

und den Eindrücken, die er von der Stadt erhielt. Die beiden machten Ausflüge nach Fort Royal, auf den Spuren Fascals, nach Rambouillet und Chartres. Die bekannte Photographie von Schmitt und Jünger auf dem Lac de Rambouillet (siehe Abb. i), entstand in diesen Tagen. Sie zeigt beide Männer in gespannter Aufmerksamkeit einander zugewandt, wobei der militärisch verkleidete Intellektuelle Jünger den Eindruck des gelehrigen Schülers macht, der die Hinweise seines Men¬ tors auf Tocqueville und Melville zur Deutung der Bürger¬ kriegslage interessiert aufnimmt. Offensichtlich fühlte Carl Schmitt sich 1941 in Paris wie befreit und sprach auch Drit¬ ten gegenüber mit riskanter Offenheit über seine problema¬ tische Stellung (SW 2, S. 265). Aus dem »trüben Druck und der drückenden Trübnis« seines Berliner Daseins kommend, wo er unter den Augen von SS und Gestapo »in wirklichen Bürgerkriegssituationen des Tages und der Nacht« lebte, wurde Paris für ihn ein Sehnsuchtsort. Er nahm die Stadt nicht als Besatzer wahr, sondern als Bildungsreisender, der nur den unverbindlichen schönen Schein sieht. Der Alltag Jüngers, den Schmitt nicht sah, war der Kampf in den eige¬ nen Reihen, die inoffizielle Bürgerkriegsfront innerhalb des Besatzungsapparates, in den Jünger eingebunden und in dem er mindestens einem solchen Druck ausgesetzt war wie Schmitt in Berlin. Jetzt gab es auch eine neue Kategorie von Opfern: »Im vorigen Krieg berichteten wir uns bei unseren Wiedersehen über die Verwundeten und Gefallenen, in diesem dazu noch über die Verschleppten und Ermordeten«, heißt es am 27. Mai 1943 (SW 3, S. 77). Am 6. Juni 1942 wird in Paris der gelbe Stern für Juden vorgeschrieben. Als Jünger am folgen¬ den Tag derart stigmatisierte Menschen begegnen, ist ihm sogleich auch der Einschnitt in seine persönliche Lebensge¬ schichte bewußt. Ab jetzt geniert er sich seiner Uniform und

62

seiner Auszeichnungen (SW 2, S. 336). Wochen später wird er Zeuge von Deportationen, er erlebt, wie Kinder von ihren Eltern getrennt werden, »so daß das Jammern in den Straßen zu hören war«, und er hält in einem sehr altmodisch klingen¬ den Notat fest, was ihm die Komfortkulisse zu verdecken sucht: »Ich darf in keinem Augenblick vergessen, daß ich von Unglücklichen, von bis in das Tiefste Leidenden umgeben bin. Was wäre ich sonst auch für ein Mensch, was für ein Offizier. Die Umtorm verpflichtet, Schutz zu gewähren, wo es irgend geht.«58 (SW 2, S. 347) »Wo es irgend geht« — das ist hier die entscheidende Relativierung! Daß man ihn zum Ritter des Ordens Pour le Merite gemacht hatte, bedeutete Jünger nicht nur eine Aus¬ zeichnung, sondern mindestens ebenso eine Verpflichtung, eben die zur Ritterlichkeit. Jünger war sich immer bewußt, 58 Jüngers erste Begegnung mit dem gelben Stern hatte übrigens 1996 ein Nachspiel, als der jüdische Arzt Georges See 111 seinen Memoiren berichtet, wie er Anfang Juni 1942 in der jüdischen Buchhandlung »Au sans pareil« in der Avenue Kleber ein Buch holte und beim Verlassen des Ladens zu seiner Verwunderung von einem deutschen Offizier militärisch gegrüßt wurde. Darauf hingewiesen, daß das mit einem Tagebucheintrag Jüngers vom 7. Juni 1942 korrespondiert, schreibt er an Jünger und bekommt von dem 101jährigen folgende Antwort (in Französisch): »Cher Monsieur, Sie haben gesehen, wie ich in der Avenue Kleber in die Buchhandlung von Madame Chardot, einer (jüdischen) Freundin von mir, eintrat. Bien ä vous, Ernst Jün¬ ger. PS: Ich habe den gelben Stern stets gegrüßt.« (»Gruß zurück nach 54 Jahren«, in: »Süddeutsche Zeitung« vom 26. August 1996). Es ist kennzeich¬ nend für Jünger, daß er dieses Detail in seinen öffentlichen Äußerungen nicht erwähnt, wie er auch nichts davon sagt, daß er jene Pariser Buchhänd¬ lerin vor der Deportation warnte, nachdem er am 16. Oktober 1943 durch Friedrich Hielscher (»Bogo«) darüber informiert worden war, welches Schicksal die deportiertenjuden im Osten erwartete (vgl. E.Jünger / F. Hiel¬ scher, Briefe 1927-1945, hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Ina Schmidt und Stefan Breuer, Stuttgart 2005, S.424; vgl. auch SW 22, S. 177f.). - Die Interpretation dieser Szene durch Andreas Steffens (»Scham in Uniform oder eine späte Aufklärung: Ernst Jünger grüßt >den SternWenn in einem Lande nur noch die von der staatlichen Macht organisierte Öffentlichkeit gilt, dann be¬ gibt sich die Seele eines Volkes auf den geheimnisvollen Weg, der nach Innen führt; dann wächst die Gegenkraft des Schweigens und der Stille.Privat< ist ein böses Stichwort. Ich verstehe etwas davon. Es hat mich tief beunruhigt.«108 Daß Carl Schmitt bei dem Wort »privat« derart zusam¬ menzuckt, daß er dessen Beiläufigkeit als scheinbar bezeich¬ net und ihm eine zentrale Bedeutung beimißt, führt zurück zum Arkanum seines Leviathan, zum anonym gehaltenen Waschzettel und zur Tischrede am Vorabend seines 50. Ge¬ burtstages. Es führt zu seinem Verständnis vom Staat und dem

106 Ebd., S. 242. 107 Ebd., S. 244. 108 Ebd., S.244f. Karl Korn spricht in seiner Rezension einmal die Rundbriefe an, die Jünger »sich selbst zelebrierend seit 1945 verschickt«. »Die Briefe wa¬ ren privat, wenngleich kollektiv >an die Freunde< gerichtet.« Zweitens kriti¬ siert er Heliopolis: »Wie privat aber und streckenweise öd belanglos sind die Begebenheiten in den luxuriös und raffiniert asketisch ausgestatteten Appar¬ tements all dieser Herren im Stabe ...« (»Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 24.12.1949)

110

durch ihn garantierten Zusammenhang von Schutz und Ge¬ horsam, der im Dritten Reich nicht mehr gegeben war; es fuhrt schließlich und vor allem zu seinem Selbstverständnis nach 1936. Zum Rückzug aus dem öffentlichen Leben ge¬ zwungen, war Carl Schmitts Existenz fortan eben nicht völlig privat gewesen, da er den Staatsratstitel behielt. Nur darin, daß er nicht in die reine Privatheit absank, sah er die Bedin¬ gung der Möglichkeit seines Überlebens in der Diktatur. Der »Staatsrat« war der Strohhalm, der ihn rettete. Der Rest staat¬ licher Öffentlichkeit, wie pervertiert auch immer, konnte ihn schützen. Zugleich war diese Öffentlichkeit so leer und hohl, daß sie den privaten Vorbehalt hervortrieb, die Welt des Schweigens und den geheimnisvollen Weg nach innen. Indem der Autor von Heliopolis »privat« wird, indem er, wie Karl Korn bemerke, auch das Öffentliche in privat-belangloser Weise behandelt, bestätigt Jünger die Hohlheit dieses Öffent¬ lichen. Er erkennt die Unterscheidung von Innen und Außen an, womit, wie im Leviathan beschrieben, die Überlegenheit des Inneren über das Außere schon gegeben ist. Der innere Vorbehalt, das Private, zerstört zwangsläufig das Öffentliche, und dadurch wird auch die Möglichkeit des Schutzes zer¬ stört. Die Menschen fallen auf den Naturzustand zurück, das homo homini lupus gilt wieder. Schmitt wie Jünger waren 1945 glücklich Entronnene; nach Schmitts Verständnis allem des¬ halb, weil sie im NS-Staat eben nicht völlig »privat« waren. Jünger als Wehrmachtsoffizier nicht und Schmitt nicht, weil er nach dem Verlust seiner Ämter 1936 den einen, entschei¬ denden Titel des Preußischen Staatsrates behalten konnte. Nach Schmitts Verknüpfung der Marmorklippen mit dem Leviathan mochte es zunächst so aussehen, als seien er und Jünger in völligem Einverständnis. Beide hatten sie sich als »Gegenkraft« empfunden. Entnazifizierbar war weder der eine noch der andere, weil keiner von beiden jemals Nazi

111

gewesen war. Das NS-Engagement Carl Schmitts war, wie bei seinem Freund Popitz, als ein taktisches zu sehen, was Ernst Jünger auch nie angezweifelt hatte. Aus ihrer national¬ sozialismuskritischen Gesinnung hatten sie voreinander me ein Hehl gemacht. Sie hatten in dem Bewußtsein gelebt, daß das Regime ebenfalls davon wußte und sie im Visier hatte. Beide hatten in spezifischer Bürgerkriegsgefahr geschwebt; beide waren sie ihr glücklich entronnen. Eigentlich hätten sie sich nach dem Krieg um so besser verstehen müssen, aber dem war nicht so. Mit seiner Reaktion auf Schmitts Brief macht Jünger al¬ les noch schlimmer. »Warum erstarren Sie, wenn Sie einen Pfiff hören?«, fragt er arglos zurück und offenbart damit, daß er Schmitts Leviathan gar nicht begriffen hat. Das Buch, das von seinem Autor wie kein anderes als »Logbuch« gemeint war, mit dem er ein verzweifeltes Signal aus dem Bauch des Fisches senden und sich als Opfer des dämonischen Schrekkens darstellen wollte, das er, als ein Dokument der Distanz zum NS-Staat, mit den Marmorklippen auf eine Stufe stellte, hatte Jünger in seinem Logbuch-Charakter nicht zur Kennt¬ nis genommen. Ihm fehlte jedes Verständnis für den Subtext, der doch das Wichtigste daran war. Gerade sein Buch über den »Leviathan« hatte Carl Schmitt mit dem meisten Herz¬ blut geschrieben. Der Staat, der »nur noch öffentlich« ist, war kein anderer als der NS-Staat, als jener »motorisierte Gesetz¬ geber«, der zum technischen Machtapparat ohne jedes meta¬ physische Fundament verkommen war. Hobbes hatte den Staat als »irdischen Gott« unter dem ewigen bezeichnet. Nun aber gab es nichts als den irdischen Gott, und für Carl Schmitt hieß das: »Wo es nur noch den irdischen Gott gibt, muß man Atheist werden.«109 Der Staatstheoretiker hatte sein

109 Carl Schmitt, Glossarium (wie Anm. 28), S.285. - Das ist die Weiterfiihrung von Dostojewskis »Wo Gott tot ist, bevölkern Dämonen die Altäre«.

112

Objekt verloren, und sein Buch vom Leviathan beschreibt diesen Verlust. Jetzt blieb nur noch der »geheimnisvolle Weg, der nach innen fuhrt«, ein gefährlicher, weil ungeschützter Weg. Für diese Gefahr, in der Carl Schmitt seit 1936 stand, hatte Ernst Jünger keinen Blick. Schmitts Botschaft, seine lebensbedrohliche Bürgerkriegslage betreffend, war bei dem Freund trotz so oft wiederholter Hinweise auf Benito Cereno nicht angekommen. Schmitt ist maßlos enttäuscht und wütet in seinem Glos¬ sarium, wo er die Regeln der Höflichkeit beiseite lassen kann, gegen Jünger. Dieser sei kalt und habe kein Gefühl für den anderen, er sei eine »Primadonna«, eine ihre Einfälle restlos verwertende »Vollmonade«, ein »ich-verpanzerter Block«. Jünger komme ihm vor »als sein eigener Vater«, wie »Strand¬ gut des Wilhelminismus«, er sei nicht besser als Thomas Mann.11" Schon gegen die Strahlungen hatte Schmitt seine Vorbehalte, die sich auf das Selbstverständnis in der Bürger¬ kriegslage bezogen. Wenn Jünger ihn als »Kronjurist ohne Krone« bezeichne, so erwidere er ihm: »Staatssoldat ohne Staat«. Sem Pour le Merite sei eine Auszeichnung im Rah¬ men des Staatenkrieges und eben nicht des Bürgerkrieges, in dem es keine Auszeichnung gebe. Hier gebe es nur das Vorbild des Scaeva aus den Pharsalia des Lucan — einem 110 Was aus dem Munde von Carl Schmitt etwas heißen will. Er war einer der ersten und schärfsten Kritiker Thomas Manns, den er in seinem dadaistischen Frühwerk Schattenrisse (1913) sagen ließ: »Ist es mir doch Schicksal und Beruf, das, was alle wissen, ebenfalls nicht zu übersehen und diese Son¬ derstellung niemandem zu verschweigen.« Schmitt behielt seine Ablehnung Manns lebenslang bei. Der Vorwurf war derselbe wie der, den er jetzt ge¬ genüberjünger äußert: ein »Verwerter« zu sein, und damit einem ökonomi¬ schen und eben keinem künstlerischen Kriterium zu genügen. Verschärft wurde die Gegnerschaft im Dritten Reich durch Manns Mißachtung der Relation von Schutz und Gehorsam. Schmitt sah Mann als »kalifornischen Rundfunkhelden«, der aus »angenehmster Deckung« heraus »arme, gequälte Menschen zum Widerstand« aufforderte. (Schmitt, Glossarium, wie Anm. 28, S. 158)

113

Lieblingsbuch Carl Schmitts

also den Tyrannenmord.

Doch an diese Figur reiche Jünger nicht heran, er habe im Bürgerkrieg jämmerlich versagt: «Jünger ist Privatier, aber leider kein Privateer geworden.«111 Er konstruiere sich sein Leben als gefährlich, habe aber in Paris doch eigentlich recht komfortabel gelebt. Mit der Gleichsetzung von «komfortabel« und »ungefähr¬ det« offenbart Schmitt nun seinerseits grobes Unverständnis für die spezifische Gefahrensituation Jüngers. Was er schon bei seinem Paris-Besuch 1941 nicht wahrnahm, das vermag er auch im nachhinein nicht zu erkennen: daß die «dunklen Fährnisse der Dämonenwelt« auch und gerade in einem Pariser Luxushotel zu bestehen waren. Und wenn er Jünger das Beispiel des Scaeva vorhielt, so sah er nicht, daß Jünger den Tyrannenmord nach antikem Vorbild wohl auch gerade unter dem Eindruck der von Schmitt initiierten TocquevilleLektiire als nicht angemessen verworfen hatte. So ist das Verhältnis von Ernst Jünger und Carl Schmitt im Dritten Reich von wechselseitiger Blindheit geprägt. In jeweils ent¬ scheidender Hinsicht verstanden sie einander nicht.

111 Carl Schmitt, Glossarium (wie Anm. 28), S.266; vgl. ebd., S.265, 278, 280, 284, 291 ff. Als Jean Giono sein Buch über Melville veröffentlichte (Pour saluer Melville, Paris 1941), fand Schmitt es ganz unerträglich wegen der »Pri¬ vatisierung« Melvilles. Qünger / Schmitt, Brte/e i9JO-ip5j,wie Anm. i,S. 121)

114

GESCHICHTE IM KONJUNKTIV

Der Kern ihrer Differenz wird dadurch sichtbar, daß Jünger jetzt etwas problematisiert, das bis dahin außerhalb der Dis¬ kussion geblieben war: die »folgenschwerste!.1 Entscheidung« Schmitts, sich 1933 von Göring zum Preußischen Staatsrat berufen haben zu lassen. Er habe dem Freund damals in der Friedrichstraße einen Rat erteilt, der sich im nachhinein als richtig erwiesen habe. Wäre Schmitt diesem Rat gefolgt und wie er selbst auf Distanz zum NS-Staat gegangen, so wäre er jetzt vielleicht nicht mehr am Leben, »aber berechtigt zum Urteil in letzter Instanz über mich«. Wäre umgekehrt er. Jünger, Schmitts Rat »und Beispiel« gefolgt, so wäre er heute ganz sicher nicht mehr am Leben, »weder physisch, noch sonst«.112 Damit bestätigte und bekräftigte Jünger in den Augen Schmitts seine Unfähigkeit, die geschichtliche Her¬ ausforderung anzunehmen: Statt die res gestae als das zu be¬ handeln, was sie sind, nämlich als Fakten, die ohne Wenn und Aber anerkannt werden müssen, argumentiert er mit Hilfe von irrealen Konditionalsätzen. »So spricht ein Überlebender zu einem Überlebenden«, heißt es bitter im Glossarium.m In Jüngers spekulativem Bühnenbild sind sie beide tot. Statt sich der Tatsache zu stellen, daß sie überlebt haben, weicht Jünger in die Ersatzwelt seines pseudomythologischen Romans aus. Carl Schmitt hatte mit seinem Engagement für den NSStaat einen Fehler gemacht. Das war bedauerlich und be¬ schämend, aber über diese Feststellung hinaus ist dazu nichts weiter zu sagen.114 Öffentliche Bußrituale sind dem Konser112 Jünger/Schnaitt, Briefe igjo-ig8j (wie Anna. i),S.247. 113 Carl Schmitt, Glossarium (wie Anm. 28), S.293. 114 Scham ist ein Grund, warum viele Kollaborateure des NS-Regimes nach 1945 über ihre Kollaboration nicht reden mochten.Wessen man sich schämt, das sucht man zu verbergen, und das Fehlen von Scham ist, so Sigmund Freud, ein Indiz fair - Schwachsinn. Was immer man Carl Schmitt nachsagen

115

vativen ein obszönes Schauspiel. »Wer beichten will, gehe hin und zeige sich dem Priester.«115 Nichts ist müßiger, als spekulative Szenarien zu entwerfen, was gewesen wäre, wenn man sich so oder so verhalten hätte. Carl Schmitt ging es immer um die »konkrete geschichtliche Situation«, die - siehe Herakht — einmalig und unwiederholbar ist. Historiker, die irreale Konditionalsätze bilden, werden der Geschichte nicht gerecht und verfehlen ihren Beruf. Schon in einem kleinen, im Winter 1946/47 entstandenen Text über seine studenti¬ schen Anfänge hat Schmitt die Unsinmgkeit irrealer Kondi¬ tionalsätze herausgestellt. Er hätte 1907 sein Studium, statt in Berlin, beinahe in Heidelberg begonnen und erlaubt sich für einen Moment die Spekulation, wie er hier auf Max Weber getroffen wäre, statt auf Josef Köhler und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf. Doch sogleich fällt er sich ins Wort: »Fangen wir nicht mit >Wenn< und >Hätte< an... Die Menschen bedienen sich gedankenlos des sprachlichen Vehikels irrealer Bedingungssätze für ihre Phantasien und Wünsche... Das sind sogenannte Uchronien, die noch we¬ niger Konsistenz haben als Utopien... Wir sollen unsere

kann, Schwachsinn gehört nicht dazu, und so ist seine Einsilbigkeit hin¬ sichtlich seines NS-Engagements erklärbar. In seiner Vernehmung durch den Ankläger in den Nürnberger Prozessen, Robert M. W. Kempner, vom 29.4.1947 findet sich folgender Dialog: »F. [= Kempner]: Schämen Sie sich, daß sie damals derartige Dinge geschrieben haben? A. [= Schmitt]: Heute selbstverständlich. Ich finde es nicht richtig, in dieser Blamage, die wir da erlitten haben, noch herumzuwühlen. F.: Ich will nicht herumwühlen. A.: Es ist schauerlich, sicher. Es gibt kein Wort darüber zu reden.« (Carl Schmitt, Antworten in Nürnberg, wie Anm. 75, S.66.) Das in der Literatur über Carl Schmitt sehr beliebte Einfordern eines öffentlichen Schuldbekenntnisses ist auch eine Art von Schamlosigkeit. 115 Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus (wie Anm. 47), S.77. Daß Carl Schmitt gerade mit den »gebrochenen Konfessionen« in Ex Captivitate Salus seine Vergangenheit sehr eindrucksvoll reflektiert und in dieser Hinsicht weit mehr Mut gehabt habe als beispielsweise Martin Heidegger, meint Jacob Taubes, Hä Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin 1987,8.7 und 32.

116

Sünden bereuen, aber wir können nicht ein Stück aus dem unteilbaren Ganzen des Geschehens herausnehmen und es durch ein gedachtes anderes Stück ersetzen. Es hat etwas Vor¬ lautes sagen zu wollen, was geschehen wäre, und es scheint mir unfromm, etwas wissen zu wollen, was nicht wirklich ge¬ schehen ist.«116 Kurz nach Ausbruch des Konflikts mit Ernst Jünger ver¬ teilt Schmitt an seine Freunde einen »Aufruf«, ihm irreale Bedingungssätze von Historikern mitzuteilen.117 Das war na¬ türlich als Scherz gemeint, aber es ist ein Reflex auf Jüngers Konstrukt ihrer beider Geschichte im Modus des Irrealis, und es zeigt, wie stark Schmitt die Sache beschäftigte. Er hielt mit Leon Bloy dagegen: »Tout ce qui arrive est adorable.« (»Was immer geschehe — es ist anbetungswert.« SW 20, S. 571) Aber Carl Schmitt, der gerade noch hervorgehoben hatte, daß durch seinen Einfluß Leon Bloy auch für Ernst Jünger zum zentralen Autor geworden war, muß nun erkennen, daß dieser an der Fassade Jünger »wie ein blindes Fenster hängt«, daß Jünger den entscheidenden Satz Bloys nicht verstanden hat.118

116 Carl Schmitt, »1907 Berlin«, in: Schmittiana 1 (wie Anm. 3), S. 14. 117 Siehe z.B. Carl Schmitt, Briefwechsel mit einem seiner Schüler (wie Anm. 94), S.i05f. Dieser Aufruf beginnt mit den Worten: »Ich habe beschlossen, Sammler zu werden« — schon das eine Anspielung auf den Käfersammler und Sammler letzter Worte Ernst Jünger. Als Beispiel für einen irrealen Be¬ dingungssatz eines Historikers fuhrt Schmitt eine Stelle aus Jacob Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen an: »Wenn die Religionsgesetze der Kaiser Konstantin und Theodosius nicht ergangen wären, würde die rö¬ misch-griechische Religion noch bis heute leben.« In den Augen Schmitts konnte sich ein Historiker nicht lächerlicher machen, als mit einem solchen Satz. 118 Carl Schmitt, Glossarium (wie Anm. 28), S.278. Zur Bedeutung Bloys für Jünger vgl. Daniele Beltran-Vidal, »Ernst Jünger et Leon Bloy«, in: »Revue de litterature comparee« 71, 1997,8.509-523^0 allerdings der Name Carl Schmitt nicht erscheint und, auf S.517, der Hintergrund von »Tout ce qui arrive est adorable« nicht erfaßt ist.

117

Das war für Schmitt das Ende ihrer herzlichen Freund¬ schaft. Am 5. Februar 1950 reagiert er kurz und knapp: »Capisco et obmutesco« (»Ich habe begriffen und verstumme«). Er verstummt zwar nicht völlig, doch ab jetzt sind seine Briefe an Jünger seltener, förmlicher und kürzer. Nach wie vor mit »In alter Freundschaft« unterzeichnet, stimmte ge¬ rade das nicht mehr. Die alte Herzlichkeit und Wärme sollte sich zwischen den beiden Männern me wieder einstellen. Ihren Konflikt tragen sie nur indirekt aus. 1951 ist es eine rätselhafte Widmung Jüngers für Schmitts Tochter Anima, die Schmitt beunruhigt, und über die er an Möhler schreibt: »Mich beschäftigt und quält die Eintragung Jüngers in das Buch von Anima: Achillesversen sollst Du suchen, aber an Wunden sollst Du nicht rühren, wenn Du sie nicht heilen kannst. Offenbar habe ich an eine Wunde gerührt.«119 Und als Möhler Schmitt zur Mitarbeit an der geplanten Festschrift zu Jüngers 60. Geburtstag einlädt, tut dieser sich sehr schwer damit: »Wie tief die Auseinandersetzung mit Jünger gehen wird, weiß ich selber noch nicht«, schreibt er am 3. März 1954 an Möhler.120 Als er seinen Beitrag nach vielem Hin und Her schließlich liefert, bestätigt der Herausgeber ihm umgehend, daß das Gespräch mit Jünger in dem Essay gerade durch Schmitts »unterirdische Gedankenführung« so aufregend werde.121 In der Tat nutzt Schmitt die Festschrift als Forum für eine sehr grundsätzliche und tiefgehende Auseinandersetzung. Er antwortet dem Geehrten in wissenschaftlich-sachlicher Form auf dessen Vorhaltungen von 1949. Sein Beitrag befaßt sich mit dem Kern ihrer Differenz, nämlich mit Jüngers mythi119 Schmitt an Möhler vom 16.12.1951, in: Carl Schmitt, Briefwechsel mit einem seiner Schüler (wie Anm. 94), S. 112. 120 Ebd., S. 156. 121 Ebd., S. 173.

118

schein und somit inadäquatem Verhältnis zur Geschichte. Was Carl Schmitt fünf Jahre zuvor nur seinem Tagebuch an¬ vertraute, was er im Freundeskreis nur im Gewand des Scher¬ zes andeutete, spricht er nun unter dem Etikett einer Be¬ schäftigung mit dem Ost-West-Gegensatz und Jüngers Der gordische Knoten öffentlich aus: Der Ost-West-Gegensatz ist nicht, wie Jünger meint, die Wiederkehr des Ewiggleichen, sondern eine Besonderheit und ohne Parallele. Nur als sol¬ che Besonderheit kann er richtig erfaßt werden. Eine mythi¬ sche Herangehensweise verfehlt das Thema. »Das geschicht¬ liche Denken ist Denken einmaliger Situationen und damit einmaliger Wahrheiten.« Irreale Bedingungssätze sind eine »Absurdität«. Eine geschichtliche Situation ist »erst dann begriffen, wenn wir sie als einmalige konkrete Antwort auf den Anruf einer ebenso einmaligen konkreten Situation be¬ griffen haben«.122 In diesem Festschrift-Beitrag markiert Schmitt — äußerlich konziliant und höflich, doch in der Sache kompromißlos und mit großer Schärfe - Jüngers Position als mythisch und ungeschichtlich. Vollends offenbar wird der Zusammenhang dieses Auf¬ satzes mit den Jünger-kritischen Einträgen im Glossarium, wenn Schmitt seinen Text mit dem Hinweis auf Heraklit schließt. Der griechische Philosoph war für Jünger wie für 122 Carl Schmitt, »Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West. Bemerkungen zu Ernst Jüngers Schrift >Der gordische Knotern «, in: Armin Möhler (Hrsg.), Freundschaftliche Begegnungen. Festschrift für Ernst Jünger zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1955; hier zitiert nach: Carl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos (wie Anm. 72), S. 523-551, Zitate auf S. 531 f. Als Beispiel dafür, wie man seinem Gegenstand historisch gerecht wird - und als (unausgesprochenes) Gegenbeispiel zu Jünger -, rühmt Schmitt vier Jahre später Reinhart Kosellecks Dissertation »Kritik und Krise«, wenn er in seiner Rezension (wie Anm. 90) schreibt, dieses Buch sei »der ganz konkrete Vollzug der geschichtlichen Einsicht, daß jede Zeit in den Fragen und Antworten ihrer eigenen Situation ihren eigenen Begriff des Politischen realisiert und erst mit dessen Verständnis begriffen und be¬ wältigt ist«.

119

Schmitt ein Leitstern an ihrem intellektuellen Himmel. Am 23. März 1933 hatte Schmitt Jünger eine zweisprachige Heraklit-Ausgabe geschenkt, in der dieser auch später immer wieder las (SW 3, S. 371); in den Augen Schmitts aber offen¬ bar nicht genug, denn Heraklit nicht zu beachten, war dann der massive Vorwurf im Glossarium. Heraklit ist die Scheide¬ münze, die Schnaitt von Jünger trennt. Zwar rühmt Schmitt den Jubilar in seinem Festschrift-Beitrag als »heraklitischen Geist« und will sich ausdrücklich hüten, ihn »auf das Prokrustes-Bett einer kümmerlichen Schul-Antithese zu spannen«, doch kann das nicht den tiefen Gegensatz verwischen, der hier aufscheint. Der Bezug auf Heraklit war für Schmitt keine unverbindlich-literarische Reminiszenz. Das erhellt aus dem Vorwort zu seiner 1940 publizierten Sammlung älterer Auf¬ sätze. Hier beruft Schmitt sich ausdrücklich auf Heraklit. Wie man nicht zweimal durch denselben Fluß gehen könne, so könne man auch nicht zweimal dieselbe Rede halten oder denselben Aufsatz schreiben. Schmitt veröffentlicht seine alten Texte — und zwar sowohl die, die ihn in den Augen der Nazis verdächtig machten, wie auch solche, die ihn bei den Nazigegnern kompromittierten — unverändert aufs neue und betont, daß sie an eine einmalige historische Situation ge¬ bunden und damit fixiert sind: »Sie sind in einem bestimm¬ ten Augenblick in den Fluß der Zeit eingegangen und heute längst nicht mehr in meiner Hand.«123 Mit dieser Haltung verkörpert Schmitt das Gegenteil von Jünger, der seine Texte ständig bearbeitete und von Auflage zu Auflage veränderte. Ernst Jünger hat diese sachliche Differenz zwar gespürt, aber offenbar nie ganz begriffen. Er hat auch ihre Heraus¬ arbeitung durch Schmitt nicht sehr beachtet. 1985 erhält er

123 Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar— Genf— Versailles 1923 -1939, Hamburg 1940.

120

von Piet Tommissen einen Sonderdruck von Schmitts Fest¬ schrift-Beitrag und notiert, daß er ihn »bislang nicht gekannt habe«! (SW 20, S. 568) Demnach hat er ihn 1955 kaum wahr¬ genommen, womit er für Schmitt dessen Vorwurf bestätigt haben dürfte, eine »Vollmonade« zu sein. Als Jünger schlie߬ lich die Anwürfe von 1949 im 1991 erschienenen Glossarium liest, reagiert er in der Weise, die auch für die Carl-SchmittLiteratur typisch ist: Er unterstellt Schmitt charakterliche Defizite. Daß dieser am selben Tag jene Anwürfe in sein Ta¬ gebuch geschrieben hat, an dem er ihm einen freundlichen Brief sandte, verweise aut eine »tiefgründige Ambivalenz« (SW 22, S. 160). Doch damit ist der Konflikt nicht erklärt. Wohl nur Gretha Jünger zuliebe brach Schmitt die Kor¬ respondenz nicht völlig ab. Als er aber i960 die Anzeige zum Tode Grethas erhält, schreibt er eine kurze Antwort und macht klar, daß er die Formel von 1950 nicht vergessen hat: »Lieber Ernst Jünger, diese Trauer nachricht ist uns eindring¬ liche Mahnung; ich höre sie deutlich und verstehe sie gut — capisco et obmutesco. Ihr Carl Schmitt.«124 Und jetzt, nach zehn Jahren, ist das capisco et obmutesco nicht einfach nur wieder¬ holt, sondern auch bekräftigt. Da er nun keine Rücksicht mehr auf Gretha Jünger nehmen muß, faßt Carl Schmitt das obmutesco wörtlich: Er stellt für acht Jahre seine Schreiben an Ernst Jünger ganz ein.

124 Jünger/Schmitt, Briefe (wie Anm. i), S.372. Erst als 1968 vonjünger ein kur¬ zer Gruß zum 80. Geburtstag Schmitts kommt, wird die Korrespondenz zö¬ gernd wieder aufgenommen. Es war Jünger, der dazu drängte, und interes¬ santerweise berief er sich dabei auf Schmitts 1950 verstorbene Frau, die ihn auf dem Sterbebett beschworen habe, es nicht zu einer Entfremdung kom¬ men zu lassen. Auch sei der Grund ihrer Entfremdung doch ephemer ge¬ wesen, er könne sich — was die Enttäuschung Schmitts von 1949 nicht ge¬ mildert haben dürfte — »der Anlässe nicht entsinnen« (ebd., S.376). In den verbleibenden Jahren bis zum Tode Schmitts werden im Vergleich nur noch wenige Briefe geschrieben.

121

DAS GROSSERE VERDIENST Bei allen Grenzen, die immer bestanden hatten und nach 1945 im Verhältnis zwischen Ernst Jünger und Carl Schmitt deutlich hervortraten, blieben beide doch bis in die letzten Tage des Dritten Reiches eng verbunden. Auch für Jünger ist das Bild des Schiffes die Metapher, die seine Lage in die¬ sen zwölf Jahren beschreibt. Er vergleicht sie mit einem »Sklavenschiff« (SW 3, S. 161), und er fragt sich: »Que diable ai-je ä faire dans cette galere?« (»Was zum Teufel habe ich auf dieser Galeere zu schaffen?«) (SW 6, S. 167) Mit der zuneh¬ mend anomisch werdenden Situation wird in seinem Werk ein literarischer Topos bedeutsam, der bis dahin eher am Rande vorkam: der des Verlorenen Postens. Der Begriff, den Jünger sowohl aus der kriegswissenschaftlichen Literatur wie auch von Nietzsche und Spengler her kannte und der auch schon in seinen Kriegsbüchern anzutreffen ist, erfährt nun eine charakteristische Bedeutungsverschiebung. Umschrieb er zunächst eine heroische Haltung im Kampf, so jetzt den resignativen Rückzug auf eine existenziahstische Position, durchaus in dem Bewußtsein, daß im verdeckten Bürger¬ krieg mit seinem dämonischen Schrecken die heroische Hal¬ tung unangemessen ist. Weder ist distanziertes Beobachten hinreichend, noch amoralische Kälte. In Blätter und Steine wurde dieser Positionswechsel bereits 1934 mit einem Epi¬ gramm angedeutet: »Im Angesicht des Todes bestätigt sich der hohe Rang des Menschen in der sokratischen Ironie und der cäsanschen Rede; dann aber im Schweigen der Schild¬ wache, die auf Verlorenem Posten fällt« (SW 12, S. 514). Vier Jahre später ist das in der zweiten Fassung des Abenteuerlichen Herzens theoretisch ausgeführt. Hier findet sich das Stück Historia in Nuce: der Verlorene Posten, in dem das Bild ge¬ schichtsphilosophisch eingerahmt ist.

122

Die völlige Resignation aber war Jüngers Sache nicht. Wie er schon im Ersten Weltkrieg mit aller Intensität den Sinn des Geschehens zu entziffern suchte, so richten sich auch jetzt seine literarischen Anstrengungen auf die Deu¬ tung des Krieges. Und wenn er auch keine literarischen Werke mehr veröffentlichte, so hat er darum die Arbeit nicht eingestellt. In der finstersten Kriegswirklichkeit, an der Kau¬ kasusfront, konzipiert er Ende 1942 die Erzählung »Der Steg von Masirah«, die dann in Heliopolis einging, in jenes von Carl Schmitt so bewunderte Kapitel »In der Kriegsschule«. Diese kleine Erzählung ist, im Gewand der Schauerromantik E. A. Poes, eine Parabel aut den Weltbürgerkrieg im Zeitalter hochentwickelter Waffentechnik und »stellt eine der ethi¬ schen Figuren dar« (SW 2, S.427ff.). Sie zeigt Menschen in einer Ausnahmesituation, zwei Gegner, die sich in für beide vollkommen aussichtsloser Lage gegenüberstehen. Ein Kampf wäre sinnlos, er würde nur zur Vernichtung aller führen. Fol¬ gerichtig wäre der politisch ausgehandelte Kompromiß die einzig mögliche Lösung. Auch das ist eine bemerkenswerte Weiterentwicklung Jüngers. Unter dem Eindruck des Zwei¬ ten Weltkrieges mit seinen Vernichtungsdimensionen sagt er: Es gibt Situationen, da ist Krieg keine Möglichkeit mehr. Zur Phänomenologie des dämonischen Schreckens ge¬ hört nicht nur, daß man unter seinem Regime als Stabsoffi¬ zier in Pariser Hotels ein höchst komfortables Leben führen konnte. Dazu gehört auch, daß der Hauptmann Jünger offi¬ ziell für die Zensur zuständig war, während er gleichzeitig eine politische Programmschrift verfaßte, die gegen alle Zensurvorschriften verstieß. Das mit Der Friede betitelte Werk wendete sich an die Jugend Europas und hatte die Be¬ endigung des Krieges zum Ziel. Schon 1941, in einer Zeit der größten deutschen Triumphe, entworfen, kursierte es hektographisch

vervielfältigt im Untergrund und sollte

123

noch während des Krieges als Jüngers (und seines Verlegers Benno Ziegler) Beitrag zum Widerstand erscheinen und den »20. Juli« theoretisch begleiten.125 Es ist hier nicht der Ort, über die Stärken und offensichtlichen Schwächen dieser Schrift zu urteilen. Wichtig ist in unserem Zusammenhang allein der Wandel von Jüngers Beurteilung des Krieges, den diese Schrift, wie zuvor bereits »Der Steg von Masirah«, mar¬ kiert. Die Sicht des Krieges als Agon, die Jünger in den zwanziger Jahren und noch 1933 in einem legendären Rund¬ funkgespräch 126 vertrat, ist jetzt aufgegeben. Der Friede stellt die wohl deutlichste Abkehr des Autors von seinen frühen Kriegsbüchern dar, weil der Krieg hier nicht mehr seinen Sinn in sich selbst hat. An die Stelle der mythisch-existenziahstischen Auffassung des Krieges tritt die politisch-instrumentelle: Der Krieg muß »Frucht« bringen (SW 7, S. 196); Sinn des Krieges ist der Friede! Die Abfassung dieses Werkes fiel dem Autor ungeheuer schwer, und lange hatte er sich mit

125 Über die abenteuerliche Entstehungsgeschichte dieser Schrift vgl. Piet Tommissen, »Ernst Jüngers Friedensschrift. Versuch einer Rekonstruktion ihrer Geschichte und ihres Schicksals«, in:Tobias Wimbauer (Hrsg.), Anarcli im Widerspruch (wie Anm. 61), S.243-292. 126 Am 1. Februar 1933 gab es im Berliner Deutschlandsender ein Streitgespräch zwischen Ernst Jünger und Paul Adams, einem Adepten Carl Schmitts, über den Krieg. Hier vertrat Jünger seine bekannte agonale Sichtweise, während Adams den von Clausewitz definierten und auch von Carl Schmitt vertre¬ tenen Standpunkt behauptete, wonach der Krieg die Fortsetzung der Poli¬ tik mit anderen Mitteln und sein Sinn der Friede sei. Das Tonband dieser Sendung muß als verloren gelten (frdl. Auskunft des Deutschen Rundfunk¬ archivs, Potsdam-Babelsberg, an denVerf. vom 10. April 2003). Eine gewisse Berühmtheit hat das Gespräch dadurch bekommen, daß Carl Schmitt es in der 3. Auflage von Der Begriff des Politischen als exemplarisch für den Gegen¬ satz zwischen bloß-kriegerischer und politischer Haltung zitiert. (Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 3. Auf!., Hamburg 1933,S. 10) Diese Diffe¬ renz zu Jünger ist wiederholt und sogar durch die namentliche Nennung Jüngers bekräftigt in dem von Schmitt verfaßten Artikel »Politik« im »Hand¬ buch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften« von 1936. Auch dieser grund¬ sätzliche politische Gegensatz konnte das freundschaftliche Verhältnis zwi¬ schen Schmitt und Jünger im Dritten Reich zu keinem Zeitpunkt trüben.

124

dem »Paradox« herumzuquälen, »daß ein Krieger vom Frie¬ den spricht« (SW 2, S. 19).127 Als die Schrift nach dem Krieg erscheint, trägt sie die Widmung: »Meinem Sohne Ernst Jünger. Geboren am 1.5. MCMXXVI. Gefallen am 29.11. MCMXLIV im Marmor¬ gebirge von Carrara.«128 Der Sohn Jünger wird am 29. April 1944 aus der Haft in Wilhelmshaven zur Bewährung an der Front entlassen. Nach der Ausbildung bei den Panzergrena¬ dieren in Salzwedel rückt er Ende Oktober ein. Ab dem 5. November steht er in einer Einheit der Waffen-SS an der Hauptkampflinie der italienischen Front. Am 29. November 1944 fällt er durch Kopfschuß von Partisanen in den Mar¬ morbrüchen von Carrara. Die Eltern erhalten die Todesnachricht mit großer Ver¬ spätung am 11. Januar 1945. Der Kompaniechef, der sie sandte, wußte sehr wohl, welcher »unerhörten Äußerung« wegen man den Sohn auf Wangerooge verurteilt hatte129 und zu welcher Art »Bewährung« er an der Front war. Den¬ noch schrieb er den Eltern ungerührt, daß ihr Sohn »für den Führer« gefallen sei (SW 3, S. 362). Nach allen Erfahrungen, die sie machen mußten, bleiben sie mißtrauisch: »Gefallen oder ermordet — das ist im Weltbürgerkrieg die Frage.« (SW 22, S. 173) Ernst Jünger erfährt, daß sein Sohn in einem Regi¬ ment kämpfte, das unter dem besonderen Befehl Himmlers

127 Vgl.Tommissen, »Ernst Jüngers Friedensschrift« (wieAnm. 125), S. 256h Der Friede erschien manchen derart als Fremdkörper im Werk Jüngers, daß so¬ gar seine Autorschaft in Frage gestellt wurde (vgl. ebd., S. 262). Das ist schon wegen der Widmung absurd. 128 So der Wortlaut in der Ausgabe Amsterdam 1946, zit. nach: Mühleisen, Bibliographie (wie Anm. 51), Nr. 0050. Ab 1965 änderte Jünger den Wortlaut. Die Widmung lautet nun: »Meinem lieben Sohn Ernst Jünger. * 1. 5.1926 f 29.11.1944 bei Carrara«. 129 Daß der Kompaniefuhrer genau informiert war, ergibt sich aus dem Brief des Sohnes vom 13. November 1944, in: Bähr/Bähr, Kriegsbriefe gefallener Studenten (wie Anm. 9), S.395f.

125

stand; des Mannes also, der in Anspielung auf die Marmor¬ klippen in Jüngers Pariser Tagebuch unter dem Namen »Schinderhannes« erscheint. So zweifelte er daran, daß der Tod seines Sohnes ein Soldatentod war. Mißtrauisch machte ihn vor allem, daß es ihm trotz intensiver Bemühungen nicht gelang, etwas über die näheren Umstände dieses Todes zu er¬ fahren. Der Kompaniechef verweigerte schlicht die Auskunft (SW 21, S. 257 f.). Erst als erbeinahe 100 Jahre alt war, am 14. März 1995, erhielt Jünger von einem Kameraden des Sohnes die Bestätigung, daß dieser tatsächlich im Kampf gefallen war. Bis dahin glaubte Jünger an einen vorsätzlichen Mord, mit dem man ihm »auf den Marmorkhppen« von Carrara seine Verachtung des Nationalsozialismus habe heimzahlen wollen. ZumTod seines Sohnes notiert Jünger am 13 .Januar 1945: »Der gute Junge. Von Kmd auf war es sein Bestreben, es dem Vater nachzutun. Nun hat er es gleich beim ersten Male bes¬ ser gemacht, ging so unendlich über ihn hinaus.« (SW 3, S. 360) Er begriff diesen Tod als eines der vielen Opfer des Krieges, aus dem der Friede als »Frucht« erwachsen muß. Diese Sicht hatte Konsequenzen: So sehr Jünger den Tod aufklären wollte, so sehr wollte er doch an die Vorgeschichte nicht rühren. Als er 1968 jemanden trifft, der auf Wangerooge dabei war und Einzelheiten der Verhaftung weiß, lenkt er vom Thema ab: »Wie oft kam ich in den Nächten seit vier¬ undzwanzig Jahren an diesen Brennpunkt, und ich war mir mit Perpetua [= Gretha Jünger] darin einig, daß jedes For¬ schen, vor allem nach Schuldigen, weniger klären als trüben würde, so wie der Ruß die Flamme trübt. Das Ephemere ver¬ dunkelt das Notwendige.« (SW 4, S.416) Der Brennpunkt, dem Ernst Jünger, der doch im Ersten Weltkrieg die Brenn¬ punkte nicht scheute, ganz bewußt ausweicht, lag in der Denunziation des Sohnes durch die eigenen Kameraden.

126

Sich mit ihr auseinanderzusetzen, die Schuldigen namhaft zu machen, hätte bedeutet, den Bürgerkrieg neu zu eröffnen, der doch gerade so mühsam überwunden worden war. Der Bürgerkrieg aber war - da hatte Carl Schmitt recht - nicht der Krieg Ernst Jüngers. Ernst Jünger hatte zu seinem Sohn, der ihm so ähnlich sah, ein besonderes, spiegelbildliches Verhältnis, das mit dem Tode des Jungen nicht beendet war, sondern an Intensität zunahm. Am 21. Todestag heißt es im Tagebuch: »Die Toten sind Spiegel, in denen wir unsere Unvollkommenheit ent¬ decken, unsere Fehler, Schwächen, Versäumnisse. Wir kön¬ nen sie nicht wieder gut machen.« (SW 4, S.227) Welches Versäumnis mag der Vater empfunden haben gegenüber dem ihm so ähnlichen Sohn? Dessen Tod war für Jünger einer der »Angel- und Wendepunkte« seines Lebens (SW 3, S. 361); eine Wunde, die sich im Unterschied zu seinen zahlreichen Schußwunden aus dem Ersten Weltkrieg niemals schließen sollte (SW 3, S. 382; SW 4, S.226). »Der Bürgerkrieg reißt andere Wunden: ich glaube, sie heilen nie«, sollte der alte Jünger sagen (SW 5, S. 148). Der 29. November wurde für ihn zum »Tag von Carrara« (SW 21, S.238). Der Grabstein, den er dem Sohn aut dem kleinen Friedhof in Wilflmgen, wohin er den Leichnam umbetten ließ, setzte - wie dann auch die ebenso schlicht gehaltenen Steine für seine Frau Gretha, sei¬ nen Sohn Carl Alexander und schließlich für sich selbst —, stammt aus den Marmorbrüchen von Carrara. Auch guten Freunden wie Ernst Niekisch verzieh er die Gedankenlosigkeit nicht, mit der sie von dem Sohn als dem »armen, verführten Jungen« sprachen (SW 20, S. 101). Für Jünger war er gerade nicht verführt, sondern das Beispiel da¬ für, daß im Dritten Reich Hochverrat begehen mußte, wer nicht des Landesverrates schuldig werden wollte (und vice versa). Die moderne Diktatur zwang die Menschen so oder

127

so zum Verrat. Diese Konsequenz hat der Sohn Ernst Jüngers erkannt und ausgesprochen, und dafür starb er in den »dunk¬ len Fährnissen der Dämonenwelt« einen verlogenen Tod. Er mußte »für den Führer« fallen, den er doch an den Galgen gewünscht hatte, mußte sich gerade jenen Ruhm erwerben, den er am allerwenigsten wollte. In einer schwierigen Bürger¬ kriegslage blieb er wehrlos gegen die ideologische Vereinnahmung seines Todes. Sein Kampf konnte nicht mehr offen und ehrenhaft geführt werden, und die Nationen stellten hier nur die »grobe Kulisse« dar. So fiel er auf Verlorenem Posten und blieb, wie so viele, »deren Namen vergessen oder me be¬ kannt geworden sind« (SW 13,5.458), ohne jede Chance, sich den klassischen Ruhm des Vaters zu erwerben. Und eben darum war in dessen Augen sein Verdienst »das größere«.

128

»DIVINITAS HAMUM IN MARE SECULI MITTIT«

Von den zahlreiche Kondolenzschreiben zum Tode des Soh¬ nes fällt eines heraus: die Karte, die der alte »Compere« Carl Schmitt am 31 .Januar 1945 an Ernst Jünger schickt. Die Um¬ stände dieser Kondolenz sowie Form und Inhalt sind ein denkwürdiges Dokument der Lebenswirklichkeit in der chaotischen Endphase des Dritten Reiches. Zugleich ist das Schreiben ein seltenes Zeugnis der Freundschaft, die zu diesein Zeitpunkt noch ganz ungestört ist. Was aber war aus dem großen Juristen Carl Schmitt geworden? Er, der in den An¬ fangsjahren des Dritten Reiches rastlos einen Titel nach dem anderen publiziert hatte, hielt sich in den letzten Jahren die¬ ses Reiches an die Maxime seines frühneuzeitlichen Kollegen John Seiden: »Wise men say nothing in dangerous times.« Schmitt zog sich jetzt in die Sicherheit des Schweigens zu¬ rück und veröffentlichte so gut wie gar nichts mehr. Das Reclambändchen Land und Meer, das 1942 noch erschien, kleidet die Beschreibung einer weltgeschichtlichen Raum¬ revolution in das Gewand einer Abenteuergeschichte für Jugendliche und deutet die Unabgeschlossenheit dieser Revolution nur an. Es ist, wie Henning Ritter, der das Buch sowohl mit den Augen des Jugendlichen wie des Erwachse¬ nen las, bemerkte, »ein Wunderwerk doppelter Lesbarkeit«.130 Carl Schmitt konzentrierte sich ansonsten auf seine Hoch¬ schullehrertätigkeit, die er intensiv und in sachlich-unideo¬ logischer Weise ausübte,131 und er hielt Vorträge vor Kolle¬ gen an Universitäten, die so weit entfernt lagen, wie es der

130 Henning Ritter, »Mein Besuch bei Carl Schmitt«, in: »Frankfurter Allge¬ meine Zeitung« vom 9.12.2006. 131 Vgl. Christian Tilitzki, »Carl Schmitt - Staatsrechtslehrer in Berlin. Ein¬ blicke in seinen Wirkungskreis anhand der Fakultätsakten 1934- 1944«.ln: »Siebte Etappe«, 1991,8.62-117.

129

Frontverlauf gerade noch zuließ, in Ungarn, in Rumänien, in Spanien und Portugal. Sie handelten von der »Lage der europäischen Rechtswissenschaft«, aber in ihnen reflektierte Schmitt nicht zuletzt seine eigene Lage. Wer genau hinhörte, konnte ihnen entnehmen, daß hier einer in dem reißenden Strom, den er 1933 mit entfesselt hatte, ums Überleben kämpfte. Diese Vorträge, die übrigens auch wieder von Tocqueville als dem »ersten Diagnostiker der Gesamtkrisis Europas« sprechen, preisen das römische Recht in einer Zeit, in der dieses als »artfremd« verpönt war. Sie beschwören die große Tradition des europäischen Rechts als kritische Instanz ge¬ gen die »Setzungs-Orgien« einer entfesselten Legislative. Sie sind eine Rücknahme des Aufsatzes von 1934 zu den RöhmMorden, in dem der Führer als Rechtsetzer gefeiert worden war. Angesichts der exzessiven Steigerung der Verordnungen und Sondergesetze in der Endphase des Dritten Reiches fin¬ det Carl Schmitt zurück zu seiner Kritik am Legalitätsposi¬ tivismus, die er vor 1933 so vehement vertreten hatte. Wah¬ res Recht, so kann man jetzt wieder von ihm hören, ist niemals Satzung durch den Gesetzgeber. Wo dieser Ge¬ setzgeber durch die modernen technischen Mittel immer schneller agiert und zum »motorisierten Gesetzgeber« wird, der das Recht zur »Bürgerkriegsparole« macht, da ist das letzte Asyl des Juristen die Rechtswissenschaft. »Sie muß sich aut ihre eigentliche Aufgabe besinnen und die in dem Über¬ maß der gesetzlichen Setzungen verlorengehende Einheit und Folgerichtigkeit des Rechts selbst zu wahren suchen.« Sie muß die »geheimnisvolle Krypta« finden, in der sie vor der Verfolgung geschützt ist.132

132 Carl Schmitt, Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft, Tübingen 1950, S.21 und 32. Diesem Text liegen die Vorträge zugrunde, die Schmitt 1943

130

Diese Vorträge hat Carl Schmitt mit Johannes Popitz ein¬ gehend besprochen, und ihre schriftliche Ausarbeitung sollte sein Beitrag für die Festschrift zu Popitz’ 60. Geburtstag am 2. Dezember 1944 werden. Doch zu diesem Zeitpunkt war das große Vorbild Popitz, der Schmitt 1933 in den Preußi¬ schen Staatsrat geholt hatte, infolge des 20. Juli längst inhaf¬ tiert, und es trennten ihn, als Schmitt Jünger kondolierte, nur noch Stunden von seiner Hinrichtung in Berlin-Plötzensee. Die Festschrift mußte ausfallen. Schmitts Beitrag erschien erst 1950; er wurde, wie es diskret in der Vorbemerkung heißt, »aus besonderen Gründen von der Festschrift getrennt für sich veröffentlicht«. Popitz war nicht das einzige NSOpfer, das Carl Schmitt am 31. Januar 1945 unter seinen Freunden zu beklagen hatte. Wilhelm Ahlmann hatte sich wenige Wochen zuvor, um der Hinrichtung zu entgehen, selbst getötet. Ihn konnte man 1951 nur noch postum mit ei¬ nem Gedenkbuch ehren.133 Ein weiterer Bekannter Schmitts,

und 1944 an verschiedenen europäischen Universitäten und in verschiedenen Sprachen gehalten hat. Die hier bestehenden Textvarianten ändern nichts an derTendenz. Vgl. Christian Tilitzki, »Die Vortragsreisen Carl Schmitts wäh¬ rend des Zweiten Weltkrieges«, in: Schmittiana 6, 1998, S.193-251; Peter Landau, »Carl Schmitts >Lage der europäischen Rechtswissenschaft^ von 1944«, in: ders., Rechtsphilosophie unter der Diktatur. Drei Beispiele deutschen Rechtsdenkens während des Zweiten Weltkriegs, Baden-Baden 2002, S. 13-21. 133 Tymbos fiir Wilhelm Ahlmann. Ein Gedenkbuch. Hrsg, von seinen Freunden, Berlin 1951; hier, S.241-251, Schmitts Beitrag »Recht und Raum«. Wie er seinen Beitrag für Popitz mit diesem diskutiert hatte, so hatte Schmitt auch diesen Aufsatz »Wilhelm Ahlmann im Herbst 1942 vorgetragen und mit ihm in vielen Gesprächen erörtert« (ebd., S.241). Dem Gedenken an Wilhelm Ahlmann ist 1950 auch Schmitts Ex Captivitate Salus (wie Anm. 47) gewid¬ met; die Widmung für den Freund, der blind war, lautet: Caecus Deo propius, der Blinde steht Gott näher. Den großen Sammelband Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, Berlin 1958, widmete Schmitt Johannes Popitz: »Mit ihm war ich in Berlin seit 1929 durch gemeinsame Arbeit und wissenschaftliche Interessen, durch Nachbarschaft und persönliches Ver¬ trauen und durch das gemeinsame deutsche Schicksal in wachsender Freundschaft bis zu seinem Tode am 2. Februar 1945 verbunden.« (Ebd.,S. 8)

131

Jens Jessen, war bereits am 30. November 1944 hingerichtet worden. Das gleiche Schicksal hatte den Franziskanerpater Kilian Kirchhoff, einen bedeutenden Hymnologen, am 24. April 1944 ereilt. Für den Bekannten aus der Jugendzeit hatte Schmitt sich vergeblich eingesetzt.134 So war das »Besser durch sie sterben, als für sie«, das Schmitt sich 1943 im Traum sagte, in seiner näheren Umgebung bittere Realität gewor¬ den. Und wie war es um Carl Schmitts persönliche Lage am 31 .Januar 1945 bestellt? Er, der in dieser anomischen Bürger¬ kriegszeit sein großartiges Buch über den »Nomos der Erde« und die »Flegung« des Krieges konzipierte, war zum »Volkssturmmann Schmitt« mutiert, der in »Albrechts Teerofen bei Dreilinden am Teltowkanal« eines der letzten Aufgebote des Regimes stellen mußte. Für sein Schreiben an den trauern¬ den Ernst Jünger hatte er nur eine Postkarte zur Hand, die mit der Briefmarke das Bild dessen zeigt, für den der Sohn Jünger angeblich gefallen war, und die die verzweifelten Male der Erziehungsdiktatur trägt. (Abb. 5 und 6) Sie ist auf der Vorderseite mit zeitgemäßer Lyrik bedruckt: »Faßt Koh¬ lenklau! / Er klaut das Gas / und stiehlt das Licht, / raubt Strom und Kohle. / Duldet’s nicht!«135 Zusätzlich ist sie mit zwei volkspädagogischen Stempeln verziert. Carl Schmitt, der Meister des »Unterlaufens«,136 konterkariert diese krude, zu einer Trauerkarte so wenig passende Propaganda auf seine Weise: Er schreibt in seiner schönen, auch jetzt unverändert

134 Vgl. Marianne Kesting, »Begegnungen mit Carl Schmitt« (wie Anm. 66), S. 103, Fußnote 49. 135 Dem »Kohlenklau«, einer mythischen Figur des Dritten Reiches, widmet Victor Klemperer in seiner »Lingua Tertii Imperii« ein eigenes Kapitel; vgl. V. Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig 1996 (zuerst Berlin 1947), S. 109-113. 136 Vgl. Schmitts Brief an Armin Möhler vom 4.12.1948, in: Carl Schmitt, Brief¬ wechsel mit einem seiner Schüler (wie Anm. 94), S. 37f.

132

schwungvollen Schrift in sakraler Sprache, in Latein, und er spricht dabei ganz offen von einer anderen als jener schauer¬ lichen »Vorsehung«, aut die Hitler sich berief: Amico et uxori salutem de. Ernestus non reliquit nos, sed antecessit. Cum sciam omnia pendere ex Dei sententia qui mutat corda hominum et fata populorum, rerum exitum patienter expecto. Salutein da specialiter mihi dilecto Carolo AlexandroP7 Daß diese Kondolenz für Ernst Jünger besonders wichtig war, sieht man daran, daß er die vielen anderen Bekundun¬ gen nur pauschal erwähnt, während er diese ins Tagebuch transkribiert. Doch obwohl er ein so scharfer Beobachter war und, wie ihm der Bruder Friedrich Georg einmal beschei¬ nigte, Indianeraugen hatte, machte er dabei Lesefehler: Statt pendere schrieb er — vielleicht unter dem Eindruck des Verlu¬ stes — perdere und das ex vor Dei sententia gibt er mit et wie¬ der (SW 3, S. 367).138 Diese Lesart verschiebt freilich, abge137 Auf deutsch lautet Schmitts Schreiben: »Ich grüße den Freund und die Gat¬ tin. Ernst hat uns nicht verlassen, sondern ist uns (nur) vorausgegangen. Da ich weiß, daß alles abhängt vom Willen Gottes, der die Herzen der Men¬ schen und die Geschicke der Völker lenkt, erwarte ich geduldig den Aus¬ gang der Dinge. Ganz besonders grüße ich meinen geliebten Carl Alexan¬ der.« Zur Beziehung Carl Schmitts zu seinem Patenkind Carl Alexander (1934- 1993), dem zweiten Sohn Jüngers, sagt die Mutter Gretha Jünger: «... selten fand ich eine Zuneigung natürlicher und gottgegeben als ich sie zwischen ihm und dem Kinde feststellen kann.« (Jeinsen, Die Palette, wie Anm. 18, S. 54). 138 Es ist erstaunlich, daß diese Fehler nicht nur in allen Ausgaben des Tage¬ buchs unkorrigiert bleiben (frdl. Mitteilung von Prof. Dr. Piet Tommissen, Grimbergen), sondern auch vom Herausgeber des Briefwechsels JüngerSchmitt übernommen sind (Jünger/Schmitt, Briefe, wie Anm. 1, S. 187), was erklären mag, warum sein entsprechender Kommentar (ebd., S.önf.), der doch ansonsten die Breite nicht scheut, keine Übersetzung anbietet. Das La¬ tein ist mit diesen Fehlern nämlich nicht konstruierbar. Erstaunlich auch, daß eine so kritische Altphilologin wie Annette Rink die Fehler unbemerkt passieren läßt (Annette Rink, Plutarch des Naturreichs: Ernst Jünger und die Antike,Würzburg 2001, S. I2f.). (Für Hilfe bei den Übersetzungsproblemen, die sich dann durch Entdeckung der Transkriptionsfehler als Scheinpro¬ bleme herausstellten, danke ich Prof. Dr. Wilt Aden Schröder und Dr. Klaus Lennartz, beide Universität Hamburg.)

133

sehen vom falschen Latein, den Sinn der Botschaft. Carl Schmitt hatte zwar etwas zu verlieren, sicher aber nicht seine fehlerfreie Beherrschung des Lateinischen. Er spricht hier nicht von Verlust. Was er dem Freund zum Ausdruck bringen wollte, war seine Ergebenheit in den Willen Gottes, die aus seinem Verständnis der Geschichte als Heilsgeschichte resul¬ tiert. Damit ist ein Selbstverständnis angedeutet, das wenige Monate später präzisiert wird. Schmitt versteht sich jetzt als »der schlechte, unwürdige und doch authentische Fall eines christlichen Epimetheus«.139 Das greift den Titel einer Abhand¬ lung des Dichters Konrad Weiß aus dem Jahre 1933 auf, in der das geschichtliche Handeln der Menschen als immer schon im providentiellen Plan Gottes beschlossen gesehen ist. Die göttliche Vorsehung ist für den Menschen uner¬ gründlich; der Sinn der Geschichte bleibt ihm dunkel. Ein christlich-epimetheisches Verständnis von Geschichte kann deren Sinn nur vertrauensvoll als die von Menschen nicht im voraus zu erkennende Verwirklichung des göttlichen Heils¬ plans begreifen und annehmen. Im zweiten Satz seines Bei¬ leidsschreibens an Jünger hat Schmitt ein solches epimetheisches Selbstverständnis, das er erstmals im Juni dieses Jahres, als Gefangener der Alliierten, auf seinen »Fall« bezieht, schon formuliert. Aber Epimetheus heißt auch: der im nachhinein, also zu spät Bedenkende. Carl Schmitt hat mit seiner anfänglichen Unterstützung des NS-Staates, seiner Illusion, »den Führer führen« und den Staat vor der »Bewegung« retten zu können, Schiffbruch er¬ litten. Er war — wie er schließlich eingestehen mußte — ein »schlechter« und »unwürdiger« Epimetheus, aber er sah sich 139 Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus (wie Anm. 47), S. 12; vgl. ebd. S. 52. Der Text mit dem Zitat ist datiert »Sommer 1945“. Der Anlaß war eine inquisi¬ torische Befragung Schmitts über seine Rolle im Dritten Reich durch sei¬ nen Berliner Kollegen Eduard Spranger im Juni 1945.

134

in eine Geschichte eingebunden, die so ablaufen mußte, wie sie abgelaufen ist. Als er Ostern 1985 stirbt, hält Jünger sein letztes nicht profanes Wort fest. Es war das Zitat ebenjenes Autors, auf den Schmitt Jünger schon früh hingewiesen hatte, und der ihm dann ebenfalls zum lebenslangen Vademecuni wurde, nämlich Leon Bloys: »Tout ce qui arrive est adorable.«140 Dieser Satz, der sich durch die Werke Schmitts und Jüngers als ein Leitmotiv hindurchzieht, ist die Essenz jenes christhch-epimetheischen Geschichtsverständnisses, wie es Schmitt insbesondere mit seinem Schlüsselbuch über den Leviathan andeutet. Carl Schmitt hat seine Bücher selbstverständlich nicht »illustriert«, aber — darauf hat Heinrich Meier aufmerksam gemacht - es gibt eine einzige Ausnahme, eben das LeviathanBuch. Hier findet sich am Ende des Textes eine kleine Zeich¬ nung, die wie eine schmückende Vignette daherkommt. (Abb. 8). Doch dieses Bildchen ist nicht nebensächlich und auch alles andere als harmlos. Es hat emblematischen Cha¬ rakter und ist wie der Text selbst esoterisch verschlüsselt. Für den, dem es gelingt, die Verschlüsselung zu öffnen, wirft das Bild ein helles Licht auf das Geschichtsverständnis Carl Schmitts. 140 »Was immer geschehe — es ist anbetungswert.« (SW 20, S. 571) — Jünger überliefert nur den deutschen Satz. Daß es aber das originale Bloy-Zitat war, bezeugt der Schmitt-Schüler Hans Franzen (H. Franzen, Im Wandel des Zeitgeistes tgji-tggi, München 1992, S.71). - Diese andeutenden Bemer¬ kungen über den Einfluß Leon Bloys auf Carl Schmitt und, durch ihn ver¬ mittelt, auf Ernst Jünger bleiben zwangsläufig unbefriedigend. Eine syste¬ matische Untersuchung der Bedeutung Leon Bloys (und des Renouveau catholique) für Carl Schmitt fehlt. Schmitts Verständnis von Geschichte als Hellsgeschichte ist aber, neben Konrad Weiß, ganz wesentlich durch Leon Bloy geprägt, und er empfand es geradzu als »unfromm«, das, was geschehen ist, in Frage zu stellen: »Gott hat zugelassen, was geschehen ist, und nicht zu¬ gelassen, was nicht geschehen ist. Tout ce qui arrive est adorable. Wer nicht im¬ stande ist, die Allmacht Gottes zu lobpreisen, sollte wenigstens vor ihr ver¬ stummen.« (Carl Schmitt, »1907 Berlin«, wie Anm. 116, S. 14)

135

Das scheinbar so harmlose kleine Schlußbild zeigt einen großen Fisch, der in seltsamerweise den Kopf verdreht hat. Das aber ist nur ein Ausschnitt aus einem größeren Bild. Die integrale Zeichnung, die überhaupt erst den Sinn ergibt, wird nicht gezeigt. Will man wissen, warum der Fisch so eigenartig den Kopf verdreht, so muß man sich die Mühe machen, das vollständige Bild zu suchen. Es handelt sich um die Leviathan-Darstellung im Hortus deliciarum der Äbtissin Herrad von Landsberg aus dem 12. Jahrhundert.141 (Abb. 7) Sie zeigt, wie Gottvater als Angler, in Anspielung auf die Stelle Hiob 40,20, den Leviathan fängt. Schmitt selbst liefert dafür den Hinweis, indem er dieses Bild auf S. 15 seines Leviathan-Buches eine »herrliche Zeichnung« nennt. Aber die Literaturstelle, die er als Beleg anführt, zeigt von dem Bild nur eine Rekonstruktion ohne Beschriftung. Ganz ver¬ ständlich wird das Bild erst in der Wiedergabe mit der origi¬ nalen Beschriftung. Hier trägt es den Titel: Divinitas hamum in mare seculi mittit, Gott wirft die Angel in das Meer der Zeit. Dieses Bild war Schmitt offenbar besonders wichtig.142 Es 141 Der Hortus deliciarum, ein für die heilsgeschichtliche Vorstellungswelt des christlichen Mittelalters zentrales Werk, fiel 1870 einem Bibliotheksbrand in Straßburg zum Opfer. Die Handschrift liegt in mehreren Rekonstruktionen vor, von denen die beste die des Aby-Warburg-Instituts ist: Herradis »Landsbergensis«, Hortus deliciarum, hrsg. von Rosalie Green (Studies of the Warburg Institute, 36), London/Leiden 1979 (Bd. 1: Rekonstruktion, Bd. 2: Kommentar). Das Bild des geköderten Leviathan ist hier die Nr. 101, das Scharnier von Altem und Neuem Testament bildend. Den esoterischen Charakter des von Schmitt zur Unkenntlichkeit verkürzten Bildes und seine Bedeutung im Kontext des Buches hat Heinrich Meier entschlüsselt (H. Meier, Die Lehre Carl Schmitts, wie Anm. 88, S. 177 und 262). Meier bezieht sich für das vollständige Bild auf eine ältere Rekonstruktion im ersten Band des Reallexikons zur Deutschen Kunstgeschichte (RDK), Sp. 695, die keine Be¬ schriftung aufweist, und aus der somit der Titel des Bildes nicht ersichtlich ist. Erst die Beschriftung aber liefert den entscheidenden Schlüssel. 142 Daß es Schmitt nicht auf den für sich selbst unverständlichen Ausschnitt an¬ kam, sondern auf das integrale Bild, bezeugt z. B. Gueydan de Roussel, dem er es zeigte; vgl. William Gueydan de Roussel, »Carl Schmitt, philosophe catholique et confesseur«, in: Schmittiana 3, 1991, S. 55.

136

darf als seine Antwort verstanden werden auf jene »Vor¬ sehung«, von der Hitler sprach. Wenn auch Ernst Jünger die esoterische Botschaft von Schmitts Leviathan-Buch nicht verstanden hat, so bewegt ihn dessen Postkarte zum Tode seines Sohnes, mit der die gleiche Botschaft transportiert wird. Er erinnert sich an Schmitts Sessel aus roter Seide, »in dem ich in seiner Woh¬ nung in Steglitz oftmals gesessen habe, wenn wir zu später Stunde bei gutem Wein den Laut der Welt betrachteten« (SW3, S. 367), und er bedenkt den Kontrast zur jetzigen Absenderangabe. Der jähe Wechsel des berühmten Freundes, noch immer ein Preußischer Staatsrat, vom Seidensessel in den Teerofen schien ihm der adäquate Ausdruck eines voll¬ ends anomisch gewordenen Krieges und die neue Ortsan¬ gabe sprechend. Es war wohl die Erfahrung dieser Peripetie, wenn Jünger beim Tode Carl Schmitts vierzig Jahre später schreiben sollte: »Die Gestalt Carl Schmitts ist zwar solitär, doch zugleich auf hoher Stufe typisch für persönliche Schick¬ sale im Weltbürgerkrieg.« (SW 20, S. 570) Vor allem aber be¬ eindruckt ihn, der schon in der Todeserfahrung des Ersten Weltkrieges eine ähnliche Haltung hatte, die ruhige Gewi߬ heit des Aufgehobenseins inmitten des allgemeinen Unter¬ gangs. Das Bild vom Vorausgehen evoziert den »sternenglänzenden Himmel« und mildert die Verlorenheit, die im Tod des Sohnes liegt. Und was Carl Schmitt in der apokalyptischen Situation des Kriegsendes christlich formuliert, das faßt der alte Krie¬ ger Ernst Jünger in ein Bild, das den vertrauten militärischen Begriff des Vorpostens ms Religiöse wendet: »Ernstei. Wenn einer aus der Familie stirbt, kann es auch sein, als ob beim Nahen großer Gefahren einVorposten entsandt würde. Denn dort herrscht Einsicht; wir aber kennen die Lage nicht.« (SW3, S. 391)

137

In der beständigen Reflexion auf die »Lage« trifft Jünger sich mit dem Situationsdenker Carl Schmitt, bei dem der Be¬ griff »Lage« immer wieder auch in die Titel seiner Veröffent¬ lichungen einging. Wie für Schmitt die Lage letztlich im dunklen Sinn der Geschichte verborgen bleibt, so muß auch Jünger schließlich zugeben: »Wir aber kennen die Lage nicht.« Das ist eine bemerkenswerte Aussage eines Autors, der doch beständig über die »Lage« nachdenkt, ohne sie — wie in den säkularen Religionen seines Jahrhunderts — auf den Fluchtpunkt eines angeblichen geschichtlichen Zieles ausrichten und damit immer alles im voraus schon wissen zu können. Mit solchem Verständnis hegt Jünger ganz auf der Linie des epimetheischen Geschichtsbildes von Carl Schmitt. Im Unterschied zu diesem hat er sich allerdings nicht vorzu¬ werfen, ein »schlechter« und »unwürdiger« Epimetheus zu sein, was nicht heißt, daß nicht auch sein Weg durch das Jahr¬ hundert der Ideologien neben vielen gefährlichen Begeg¬ nungen so manche Irrfahrt einschloß. Aber das war Jünger nicht wichtig. Wichtig war es vielmehr auch ihm, authentisch zu bleiben, was heißt: jederzeit »das Besteck aufzunehmen« und sich dem inkommensurablen Reichtum der Welt zu öff¬ nen. Angesichts dieses Reichtums hat Ernst Jünger sich bis zum Ende eine Haltung bewahrt, die in der Philosophie den Anfang bezeichnet: das Staunen. Es setzt eine offene und un¬ befangene, eine ideologiefreie Wahrnehmungsweise voraus, die auch für das Individuum gelten läßt, daß es in jedem Augenblick unmittelbar zu Gott ist. Alle Teleologisierung ist falsch, denn - um es noch einmal zu wiederholen — »das Heil hegt nicht am Ende des Weges, sondern in der Figur, die seine Linie beschreibt« (SW 9, S.29). Trotz Jüngers andauernder — und manchmal schon pene¬ tranter — Reflexion auf die »Lage« ist ihre Erkenntnis dies¬ seits des Todes letztlich nicht möglich. In der Todeserfahrung

138

und in den Träumen aber ist sie zu ertasten und zu erahnen. Daher Jüngers ständiges Hinausdrängen über das, was er käl¬ ter und schärfer als jeder andere konnte: Beobachten; daher sein lebenslanges Grenzgängertum zwischen Leben und Tod, sein Interesse an den letzten Worten Sterbender, die große Bedeutung der Träume für ihn; daher seine surrealistischen Neigungen, die Figuren und Capriccios des Abenteuerlichen Herzens, seine Experimente mit Drogen; daher seine Skepsis gegenüber Wissenschaft und Aufklärung, gegenüber der »Gewalt der Tatsachen« (SW 7, S.241); daher die Berufung aut Hamann, statt auf Kant. Alle Erkenntnis und jedes Wis¬ sen können nur den Sinn haben, ihre eigene Begrenztheit und die Armseligkeit der Tatsachen aufzuzeigen. »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen«, sagt Wittgenstein, der damit gerade nicht den Positivismus verteidigt. Denn er sagt schließlich und vor allem auch, daß es etwas gibt, über das man schweigen kann. Für den Theoretiker der Politik Carl Schmitt sind das Arcana, die lmText nicht ausgesprochen sind und die auszusprechen gefährlich ist, die aber gleichwohl zugegen sind. Schmitt wußte schon, warum er sich in den entscheidenden Situatio¬ nen an die Literatur, und zwar an die streng hermetische Literatur eines Theodor Däubler und Konrad Weiß, hielt. Der Literatur ist es Vorbehalten, den Ort des Zu-Verschwei¬ genden ins Auge zu fassen, ohne über ihn zu reden, ohne ihn zu zerreden. Literatur ist groß, wenn sie sich in dem, was sie sagt, nicht erschöpft, wenn das Unsagbare gegenwärtig ist, ohne daß das Arkanum verletzt wird, wenn der Dornbusch brennt, ohne zu verbrennen — so zum Beispiel bei Franz Kafka, Jorge Luis Borges, Julien Gracq; und so auch bei Ernst Jünger. Was bei Carl Schmitt machttheoretisch-diesseitig begründet ist, gewinnt bei Ernst Jünger eine metaphysische Dimension. Wie er »die Lage«, obwohl er sie doch immer

139

scharf ins Auge zu fassen sucht, letztlich nicht erkennen kann, wie das Eigentliche des Todes nicht erfahrbar und nicht mitteilbar ist und auch die nächste Nähe des Todes höchstens »große Geheimnisse« verkündet (s.oben S.43), so weisen Jüngers Bücher bei aller Realistik der Beschreibung über das Gegebene hinaus. Sie wecken den Sinn dafür, daß Wahrheit und Wesen der Dinge nur in Gleichnissen zu haben, daß sie wesentlich unsagbar sind. Seine Bücher erlauben allenfalls Annäherungen. Das markiert ihren Rang und darin hegt die Chance für den Leser, denn: »Die Absicht des echten und be¬ sinnlichen Lesens in wesentlichen Büchern kann immer nur darauf zielen, in die Nähe dessen zu kommen, was nicht in den Büchern steht und niemals in Büchern stehen kann.«143

143 Martin Heidegger, »Zu Ernst Jünger« (Gesamtausgabe, Abt. IV, Bd. 90), Frankfurt a.M. 2004, S.235.

140

EDITORISCHE NACHBEMERKUNG

Der vorliegende Essay »Der stille Bürgerkrieg« ist die vom Autor überarbeitete und erweiterte Fassung seines Aufsatzes »Der Schmerz als Währung unserer Zeit. Ernst Jünger in Wil¬ helmshaven«, erschienen in: Tota Frisia in Teilansichten. Hajo van Lengen zum 65. Geburtstag, hrsg. von Heinrich Schmidt,Wolf¬ gang Schwarz und Martin Tielke, Aurich 2005, S. 409-446. MARTIN tielke, geboren 1948, studierte Germanistik, Po¬ litikwissenschaft und Soziologie in Marburg, Göttingen und Berlin, wo er 1978 (an der Freien Universität) mit einer Arbeit über Adalbert Stifter promoviert wurde. Seit 1981 arbeitet er als wissenschaftlicher Bibliothekar bei der Ost¬ friesischen Landschaft in Aurich. Hier hat er sich haupt¬ sächlich mit regionalhistorischen Themen beschäftigt und darüber publiziert. Tielke ist Herausgeber des Biographischen Lexikons für Ostfriesland.

141

BILDNACHWEIS

Frontispiz (Martin Tielke): Dr. Martin Tielke, Aurich (Photo: Babett Ehrt). Abb. i, 2,3, 3, 6: Deutsches Literaturarchiv Marbach. Abb. 4: Dr. George Schwab, New York. Abb. 3, 6: Deutsches Literaturarchiv Marbach in Verbindung mit Prof. Dr. Jürgen Becker, München. Abb. 7: entnommen aus: Herradis Landsbergensis, Hortus deliciarum, hrsg. von Rosalie Green (Studies of the Warburg In¬ stitute, Bd. 36), London/Leiden 1979, Nr. 101. Abb. 8: ist entnommen aus: Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Flobbes. Sinn und Fehlschlag eines politschen Symbols, Hamburg 1938, S. 132 Autor und Verlag danken den Rechteinhabern für die freundlich erteilte Genehmigung zum Abdruck.

142

© 2007 Landt Verlag, Buchgewerbehaus Wilhelmstraße 118, 10963 Berlin. Gestaltung: Pauline Schimmelpenninck, Büro für Gestaltung, Berlin. Satz: Stefan Orendtt, Berlin. Gesetzt aus Bembo. Druck und Bindung: Offizin Andersen Nexö, Leipzig. Dieses Werk einschließlich aller Texte und Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts¬ gesetzes ohne Zustimmung des Verlags ist strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die digitale Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. ISBN 978-3-938844-08-3

www.landtverlag.de