Protestantische Predigtlehre: Eine Darstellung in Quellen 9783825235819, 3825235815

Worüber soll gepredigt werden? Wie sollen Predigten gestaltet sein? An wen sollen sie sich wenden? Ruth Conrad und Mart

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Protestantische Predigtlehre: Eine Darstellung in Quellen
 9783825235819, 3825235815

Table of contents :
Protestantische Predigtlehre
1. Einführung: Das Christentum als Religion des Wortes von Anfang an
2. Die Predigt in der Alten Kirche: Rhetorisch geschulte Darstellung der christlichen Wahrheit
Einführung
2.1 Augustin: Christliche Bildung
2.2 Kategorien der antiken Rhetorik: Die Rede als geordnete Arbeit am Gedanken
2.3 Gregor der Große: Die Orientierung am Hörer
3. Mittelalter: Die Gestaltung der Predigtpraxis
Einführung
3.1 Lehramtliche Festlegungen: Die Notwendigkeit des Lehramtes für die Predigt
3.2 Hrabanus Maurus: Notwendige Voraussetzungen des Predigers
3.3 Joh. Ulrich Surgants Manuale curatorum: Die Predigt nützt mehr zum Heil als die Eucharistie. Spätmittelalterliche Reformhomiletik
4. Reformation: Das neue Predigtverständnis als Ausdruck eines erneuerten Kirchenbegriffs
Einführung
4.1 Martin Luther
a. Die »Torgauer Formel«: Der Gottesdienst als ein dialogisches Geschehen
b. Viva vox evangelii: Die Predigt als mündliches Wort
c. Schmalkaldische Artikel: Die mehrfache Gestalt der Predigt
d. Gesetz und Evangelium in der christlichen Predigt: Notwendige Unterscheidungen
e. Der Gebrauch des Alten Testaments in der christlichen Predigt: Gründe und Grenzen
4.2 Melanchthon: Predigt als Lehre
4.3 Confessio Augustana, Art. IV, V, VII und XIV: Die öffentliche Predigt der Rechtfertigung als Grund der Kirche
4.4 Reformierte Tradition
a. Confessio Helvetica: Die Suffizienz der Predigt
b. Ulrich Zwingli: Der Prediger als Hirte
4.5 Andreas Hyperius: Volkstümliche Schriftauslegung und ihre pastoraltheologischen Voraussetzungen
4.6 Das Konzil von Trient: Die Auslegungsautorität des kirchlichen Lehramtes
5. Die Predigtideale in Altprotestantischer Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung als Entfaltungen des reformatorischen Erbes
Einführung
5.1 Altprotestantische Orthodoxie
a. Nicolaus Haas: Die Ordnung der Predigt
b. Valentin Ernst Löscher: Methoden der Predigtarbeit
5.2 Pietismus
a. Philipp Jacob Spener: Die Predigt als Mittel der Kirchenreform
b. August Hermann Francke: Erbauliche Predigt zum Zwecke der Bekehrung
5.3 Das Predigtideal der Aufklärung
a. Johann Lorenz von Mosheim: Vernünftige Erbauung als Ziel der Predigt
b. Johann Joachim Spalding: Die Predigt als Unterweisung zur Glückseligkeit
6. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Die Predigt als Darstellung des christlichen Bewusstseins
Einführung
6.1 Die Theorie der religiösen Rede nach der Praktischen Theologie: Homiletik als Kunstlehre
6.2 Die Würdigung des Vorfindlichen: Schleiermachers Gemeindeverständnis als Voraussetzung seiner Predigtauffassung
7. Der Streit um die Predigt im 19. Jahrhundert: Von der Missionspredigt zur »modernen Predigt«: Christian Palmer, Theodor Christlieb, Martin Schian, Ernst Troeltsch
Einführung
7.1 Christian Palmer: Der Streit um die Predigt als darstellendes oder wirksames Handeln
7.2 Theodor Christlieb: Die Notwendigkeit der Missionspredigt
7.3 Martin Schian: Psychologisch, konkret und individuell predigen
7.4 Ernst Troeltsch: Die Christusverkündigung und die Sozialformen der Religion
8. Die Krise der Predigtpraxis. Das Predigtverständnis der »Wort-Gottes-Theologie«: Karl Barth und Rudolf Bultmann
Einführung
8.1 Karl Barth: Die Normativität des Wortes Gottes
8.2 Rudolf Bultmann: Hermeneutische Homiletik
9. Entwicklungen der Homiletik im Kontext der »empirischen Wende« in der Praktischen Theologie: Ernst Lange, Gert Otto, Axel Denecke
Einführung
9.1 Ernst Lange: Die Predigt als Vermittlung zwischen Text und Situation
9.2 Gert Otto: Die Predigt als Rede
9.3 Axel Denecke: Die Predigt als persönliche Rede
10. Neuere Ansätze in der Homiletik
Einführung
10.1 Die »ästhetische Wende« der Homiletik
a. Gerhard Marcel Martin: Die Ästhetik als neue Verbündete der Predigt
b. Albrecht Beutel: Theologische Wurzeln der Rezeptionsästhetik
c. Wilfried Engemann: Die semiotische Neuformatierung der Predigtlehre
d. Martin Nicol: Die Predigt als Kunst unter szenischen Künsten – Dramaturgische Homiletik
10.2 Gerd Theißen: Das Kerygma der Predigt in der Zeichensprache des Glaubens
10.3 Michael Herbst: Vollmächtig und missionarisch predigen
10.4 Wilhelm Gräb: Predigt als stimmige religiöse Lebensdeutung
Copyright (chronologische Reihenfolge der abgedruckten Texte)
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Biblische Personen
Sachregister

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UTB 3581

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Oakville vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

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Protestantische Predigtlehre Eine Darstellung in Quellen

herausgegeben von Ruth Conrad und Martin Weeber

Mohr Siebeck

IV Ruth Conrad, geboren 1968, seit 2011 Privatdozentin für Praktische Theologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Pfarrerin der Württemberg. Landeskirche. Martin Weeber, geboren 1961, Dr. theol., Pfarrer in Gerlingen.

ISBN  978-3-8252-3581-9 (UTB Band 3581) Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Na­ tionalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. d-nb.de abrufbar.

© 2012 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg a.N. aus der Stempel Garamond gesetzt und von Hubert & Co. in Göttingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden.

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Vorwort

Die Predigtlehre der Gegenwart ist reich an Motiven, Anregungen und Einsichten. Ihre Kontur gewinnt sie freilich erst vor dem Hintergrund der homiletischen Tradition. Erst im Gesamtzusammenhang der Problemgeschichte wird deutlich, welche Gesichtspunkte immer wiederkehren, welche neu auftauchen – und welche vielleicht auch in der neueren Diskussion vergessen worden sind. Wir sind überzeugt, dass erst die Beschäftigung mit der Geschichte der Homiletik die Beiträge der Gegenwart sachgemäß zu würdigen lehrt1. Umgekehrt teilen wir selbstverständlich die Auffassung, dass ein bloß historischer Blickwinkel auf die Predigtlehre die gegenwärtigen Aufgaben nicht schon mit erledigt. Auch die Predigtlehre vollzieht sich, wie die gesamte Praktische Theologie, sachgemäß in der »Verbindung von Grundsätzen der christlichen Überlieferung mit Einsichten der gegenwärtigen Erfahrung zu der wissenschaftlichen Theorie, die die Grundlage der Verantwortung für die geschichtliche Gestalt der Kirche und für das gemeinsame Leben der Christen in der Kirche bildet«2. Die überlieferten Texte und die Beiträge aus der Gegenwart bilden zusammen die Grundlage für die eigenständige Urteilsbildung. Dieser Band stellt deshalb Quellen aus der Geschichte und aus der Gegenwart der Predigtlehre zusammen und ordnet sie durch verknüpfende Einleitungen in ihre historischen, systematischen und pragmatischen Zusammenhänge ein3. So werden im his1  Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts beklagte der katholische Theologe Anton Graf die zunehmend fehlende historische Vertiefung praktisch-theologischer Fragestellungen. Dabei wäre, so seine Einschätzung, »der Blick auf die verschiedenen Theorien der Verwaltung des geistlichen Amtes und seiner einzelnen Zweige, sowie der Blick auf die Art und Weise der Verwaltung selbst von unberechenbarem Nutzen. Durch die Geschichte könnte man z.B. die wahre und falsche Amtsverwaltung allseitig und praktisch tüchtig veranschaulichen, das Falsche als durch die Theorie und Praxis von Jahrhunderten widerlegt, das Wahre als durch Jahrhunderte empfohlen und bewiesen darstellen. Die Geschichte wäre es, durch welche man gleichsam die Probe der heutigen praktischen Theologie und ihrer Einzelheiten machen könnte und sollte«. Er sei, so Graf, der festen Überzeugung, »daß eine gute Geschichte z.B. der Homiletik und des Predigtwesens überhaupt […] in praktischer Beziehung wenigstens – mehr Werth hätte, als die beste Homiletik« (Anton Graf, Kritische Darstellung des gegenwärtigen Zustandes der Praktischen Theologie, Tübingen 1841, S. 274 f.). 2  Dietrich Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, 2., erweiterte Aufl., Berlin/ New York 1994, S. 3. 3  Diese Einordnungen müssen sich auf die allernotwendigsten Gesichtspunkte beschränken und sind gedacht als Ermunterung zu eigenen Verknüpfungen mit den Überzeugungen, die jede Theologin und jeder Theologe stets zu bilden im Begriffe sein soll. Vgl. Friedrich Schleiermachers klassische Formulierung dieses Anspruchs: »Von jedem evangelischen

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Vorwort

torischen Durchgang von der Alten Kirche bis zur unmittelbaren Gegenwart im Spiegel der Quellen die Themen, Problemkonstellationen und Perspektiven der Homiletik vorgestellt. Wer einen Quellenband zusammenstellt, wählt aus und setzt dadurch Schwerpunkte und Akzente. Das hat zur Konsequenz, dass Autoren und Texte unberücksichtigt bleiben, die ebenfalls präsentierungswürdig gewesen wären, ja, die dem einen oder anderen Benutzer vielleicht sogar präsentierungswürdiger erscheinen mögen. Aber eine Auswahl ist kein verbindlicher Kanon. An keiner Stelle wird daher der Anspruch der Vollständigkeit erhoben. Ausgewählt wurden solche Texte und Autoren, die sich aus unserer Perspektive sowohl im Hinblick auf die homiletische Theorie wie auch auf die Praxis der Predigt bewährt haben. Folgende Kriterien waren bei der Auswahl leitend: Neben Texten und Autoren, die mittlerweile den Status des Klassischen erreicht haben, sollten solche zu stehen kommen, die bislang wenig bis kaum berücksichtigt wurden, sich aber in der homiletischen Ausbildung bewährt haben. Die meisten Texte wurden in zahlreichen Homiletischen Proseminaren an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Tübingen erprobt und mit Studierenden diskutiert und haben ihre Qualität auch in der Examensvorbereitung erwiesen. Daneben haben wir auch einige Texte aufgenommen, die stets erwähnt, aber nirgendwo bequem zugänglich sind. Dazu gehören z.B. ein Auszug aus Ulrich Surgants »Manuale« sowie ein Abschnitt aus einem homiletischen Hilfsbuch aus der Zeit der altprotestantischen Orthodoxie. Wir haben die Auswahl auf die deutschsprachige Homiletik beschränkt. Diese erfährt freilich in den zurückliegenden Jahren vielerlei Anregung, vor allem aus der amerikanischen Homiletik sowie aus anders gelagerten kirchlichen Traditionen und aus dem interdisziplinären Diskurs mit anderen Wissenschaften. Dies zeigt exemplarisch der Text von Martin Nicol. Die hier präsentierten Texte reichen bis in die unmittelbare Gegenwart und nehmen auf aktuelle homiletische Diskussionen Bezug. Die plurale Situation gegenwärtiger homiletischer Debatten wird ohne Zuspitzung in programmatischer Absicht dokumentiert. Verschiedene, sich teilweise zueinander kontrovers verhaltende Ansätze werden nebeneinander gestellt. Aufsätze werden vollständig wiedergegeben, bei Abschnitten aus Monographien waren wir darauf bedacht, möglichst geschlossene Textblöcke zu dokumentieren. Bei einzelnen Texten (vor allem bei Augustin) waren freilich Kürzungen unvermeidlich, um den Umfang dieses Bandes in sinnvollen Grenzen zu halten. Theologen ist zu verlangen, daß er im Bilden einer eignen Überzeugung begriffen sei« (ders., Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen [1811/ 1830], hg. v. Dirk Schmid [De-Gruyter-Texte], Berlin/New York 2002, § 2219).

Vorwort

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Wenn die ausgewählten Quellen und die Essays im Leser die Lust am eigenen Nachdenken befördern und ihn anregen, zu diesem Zweck noch weitere Quellen zu studieren, dann erfüllt dieser Band seine Aufgabe. Bei der Erstellung dieses Bandes wurden wir großzügig unterstützt: Herr stud. theol. Michael Hornung (Tübingen), Frau Vikarin Stefanie Pflüger (Hegnach) und Frau Vikarin Sandra Renner (Rottenburg) haben mit großem Einsatz die Texte erfasst und korrigiert. Bei den Korrekturen hat uns außerdem Frau Anneliese Stein (Darmstadt) unterstützt. Pfarrer Michael Ogrzewalla (Erbach an der Donau) hat sich der mühevollen Aufgabe unterzogen, den Text von Ulrich Surgant zu transkribieren und aus dem spätmittelalterlichen Latein in ein angenehm lesbares Deutsch zu übertragen. Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank. Herr Dr. Henning Ziebritzki vom Tübinger Verlag Mohr Siebeck hat die Idee eines solchen Quellenbandes von Anfang an unterstützt und die Umsetzung umsichtig und freundlich befördert. Auch hier haben wir zu danken. Unser Dank gilt außerdem den Verlagen und Autoren, die dem Wiederabdruck von Texten zugestimmt haben. Stuttgart/Gerlingen, 7. November 2011 Ruth Conrad und Martin Weeber

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Hinweise zur Edition

Die ursprüngliche Zählung der Fußnoten in den einzelnen Texten wurde aufgegeben. Die Zählung beginnt in jedem Text neu. Auch wurde die Wiedergabe der Fußnoten nicht vereinheitlicht, sie folgt dem Original. Das betrifft auch die dort verwendeten Abkürzungen. Nur in einigen wenigen Fällen haben sich Eingriffe nahegelegt. Dies betrifft meist Texte, von denen kritische Editionen vorliegen. Solche Fälle wie weitere Eingriffe in die Quellentexte wurden markiert. Soweit notwendig wurden bibliographische Angaben vervollständigt. Dies war aber nur dort der Fall, wo Auszüge aus Monographien wiedergegeben werden oder wo die bibliographischen Angaben Uneindeutigkeiten erzeugt hätten. Alle Hervorhebungen wurden in der Wiedergabe vereinheitlicht kursiv gesetzt. Leitende Idee bei der Edition war die Benutzerfreundlichkeit, v.a. für Studierende. Textkritische Erwägungen u.ä. traten demgegenüber in den Hintergrund. In den jeweils vorangestellten einleitenden Essays folgen die Abkürzungen folgender Maßgabe: Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaften nach RGG4, hg. v. der Redaktion der RGG4 (UTB 2868), Tübingen 2007.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    V Zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   IX 1. Einführung: Das Christentum als Religion des Wortes von Anfang an . . . . . . . . . . . . .    1 2. Die Predigt in der Alten Kirche: Rhetorisch geschulte Darstellung der christlichen Wahrheit . . . . . . . . . . .    3 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    3 2.1 Augustin: Christliche Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    6 2.2 Kategorien der antiken Rhetorik: Die Rede als geordnete Arbeit am Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   16 2.3 Gregor der Große: Die Orientierung am Hörer . . . . . . . . . . . . . . . .   18 3. Mittelalter: Die Gestaltung der Predigtpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   21 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   21 3.1 Lehramtliche Festlegungen: Die Notwendigkeit des Lehramtes für die Predigt . . . . . . . . . . . . . .   23 3.2 Hrabanus Maurus: Notwendige Voraussetzungen des Predigers . . .   26 3.3 Joh. Ulrich Surgants Manuale curatorum: Die Predigt nützt mehr zum Heil als die Eucharistie. Spätmittelalterliche Reformhomiletik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   30 4. Reformation: Das neue Predigtverständnis als Ausdruck eines erneuerten Kirchenbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   39 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   39 4.1 Martin Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   43 a. Die »Torgauer Formel«: Der Gottesdienst als ein dialogisches Geschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   43 b. Viva vox evangelii: Die Predigt als mündliches Wort . . . . . . . . . . .   43 c. Schmalkaldische Artikel: Die mehrfache Gestalt der Predigt . . . .   44

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Inhaltsverzeichnis

d. Gesetz und Evangelium in der christlichen Predigt: Notwendige Unterscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    44 e. Der Gebrauch des Alten Testaments in der christlichen Predigt: Gründe und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    50 4.2 Melanchthon: Predigt als Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    61 4.3 Confessio Augustana, Art. IV, V, VII und XIV: Die öffentliche Predigt der Rechtfertigung als Grund der Kirche .    65 4.4 Reformierte Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    67 a. Confessio Helvetica: Die Suffizienz der Predigt . . . . . . . . . . . . .    67 b. Ulrich Zwingli: Der Prediger als Hirte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    69 4.5 Andreas Hyperius: Volkstümliche Schriftauslegung und ihre pastoraltheologischen Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . .    72 4.6 Das Konzil von Trient: Die Auslegungsautorität des kirchlichen Lehramtes . . . . . . . . . . . .    80 5. Die Predigtideale in Altprotestantischer Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung als Entfaltungen des reformatorischen Erbes .    81 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    81 5.1 Altprotestantische Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    85 a. Nicolaus Haas: Die Ordnung der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . .    85 b. Valentin Ernst Löscher: Methoden der Predigtarbeit . . . . . . . . .    89 5.2 Pietismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    92 a. Philipp Jacob Spener: Die Predigt als Mittel der Kirchenreform .    92 b. August Hermann Francke: Erbauliche Predigt zum Zwecke der Bekehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    95 5.3 Das Predigtideal der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   103 a. Johann Lorenz von Mosheim: Vernünftige Erbauung als Ziel der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   103 b. Johann Joachim Spalding: Die Predigt als Unterweisung zur Glückseligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   104 6. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Die Predigt als Darstellung des christlichen Bewusstseins . . . . . . . . . . .   113 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   113 6.1 Die Theorie der religiösen Rede nach der Praktischen Theologie: Homiletik als Kunstlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   116 6.2 Die Würdigung des Vorfindlichen: Schleiermachers Gemeindeverständnis als Voraussetzung seiner Predigtauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   124

Inhaltsverzeichnis

XIII

7. Der Streit um die Predigt im 19. Jahrhundert: Von der Missionspredigt zur »modernen Predigt«: Christian Palmer, Theodor Christlieb, Martin Schian, Ernst Troeltsch . . .   125 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   125 7.1 Christian Palmer: Der Streit um die Predigt als darstellendes oder wirksames Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   129 7.2 Theodor Christlieb: Die Notwendigkeit der Missionspredigt . . . .   135 7.3 Martin Schian: Psychologisch, konkret und individuell predigen .   137 7.4 Ernst Troeltsch: Die Christusverkündigung und die Sozialformen der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   156 8.  Die Krise der Predigtpraxis. Das Predigtverständnis der »Wort-Gottes-Theologie«: Karl Barth und Rudolf Bultmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   159 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   159 8.1 Karl Barth: Die Normativität des Wortes Gottes . . . . . . . . . . . . . .   162 8.2 Rudolf Bultmann: Hermeneutische Homiletik . . . . . . . . . . . . . . . .   184 9. Entwicklungen der Homiletik im Kontext der »empirischen Wende« in der Praktischen Theologie: Ernst Lange, Gert Otto, Axel Denecke . . .   191 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   191 9.1 Ernst Lange: Die Predigt als Vermittlung zwischen Text und Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   194 9.2  Gert Otto: Die Predigt als Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   227 9.3  Axel Denecke: Die Predigt als persönliche Rede . . . . . . . . . . . . . . .   246 10. Neuere Ansätze in der Homiletik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   255 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   255 10.1 Die »ästhetische Wende« der Homiletik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   258 a. Gerhard Marcel Martin: Die Ästhetik als neue Verbündete der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   258 b. Albrecht Beutel: Theologische Wurzeln der Rezeptionsästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   272 c. Wilfried Engemann: Die semiotische Neuformatierung der Predigtlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   291 d. Martin Nicol: Die Predigt als Kunst unter szenischen Künsten – Dramaturgische Homiletik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   296 10.2 Gerd Theißen: Das Kerygma der Predigt in der Zeichensprache des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   308

XIV



Inhaltsverzeichnis

10.3 Michael Herbst: Vollmächtig und missionarisch predigen . . . . .   332 10.4 Wilhelm Gräb: Predigt als stimmige religiöse Lebensdeutung . .   343

Copyright (alphabetische Reihenfolge der abgedruckten Texte) . . . . . . . . .   347 Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Biblische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

1

1.  Einführung:   Das Christentum als Religion des Wortes von Anfang an

Am Anfang war das Wort: Das Christentum ist aus Kommunikation entstanden und es erneuert sich immer wieder aus Kommunikation. Ein verstummendes Christentum käme an sein Ende. So gewiss es vielerlei Formen der Kommunikation gibt – Blicke, Gesten, Handlungen usw. – so sicher kommt doch der in Worten der Sprache sich vollziehenden Mitteilung die fundamentale und zentrale Stellung zu. Der galiläische Wanderprediger Jesus hat geredet, gepredigt: Seine Worte haben Menschen bewegt, verwandelt, getröstet, teils geheilt. Und auch die theologisch höchststufige Deutung Jesu durch die johanneische Theologie bedient sich der Kategorie des Wortes, um die Gegenwart Gottes in diesem einen ganz bestimmten Menschen auszusagen: Christus ist das ewige, Fleisch gewordene Wort Gottes. In ihm und durch ihn hat Gott zu uns geredet. Die Menschen, die sich durch dieses Wort angesprochen fanden, haben es weitergesagt, was und wer sie angesprochen hat: Der Fluss der christlichen Kommunikation entsprang und breitete sich aus. Was der auferstandene Christus nach dem Zeugnis des Matthäusevangeliums seinen Jüngern aufgetragen hat, wurde Wirklichkeit – in welch gebrochener und unvollkommener Form auch immer: »Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe« (Mt 28, 19 f.). Dieser Auftrag Jesu war nur zu verwirklichen unter Einschluss sprachlicher Kommunikation. Eine hervorgehobene Stellung hatte dabei stets die mündliche Kommunikation inne. Und so kann auch der Apostel Paulus, ohne dessen Briefe das Christentum, wie wir es kennen, gar nicht denkbar wäre, die Entstehung des Glaubens ganz eng an das mündliche Wort binden, an das Wort, das gehört wird: »So kommt der Glaube aus dem Hören, das Hören aber aus dem Wort Christi«1. Man hat mit Recht darauf hingewiesen, dass bei diesem Hören an ein »vielschichtiges mündliches Mitteilungsgeschehen« zu denken sei »und nicht nur an die Predigt«2. Aber man hat auch gute Gründe dafür anzuführen gewusst, dass 1  Röm 10,17. Aufschlussreich ist ein Vergleich verschiedener Übersetzungen der Stelle wie er etwa über www.bibleserver.com leicht vorgenommen werden kann. 2  Jörg Lauster, Zwischen Entzauberung und Remythisierung. Zum Verhältnis von Bibel und Dogma, in: ThLZ.F 21, Leipzig 2008, S. 28. Vgl. auch Lausters erhellende Deutung der Rede vom Reden Gottes: »Im Umgang mit der Bibel erleben Menschen etwas, was sie als ein konkretes Angesprochensein beschreiben. Wort Gottes meint dann nicht länger die quasi

2

1.  Einführung: Das Christentum als Religion des Wortes von Anfang an

die alte Übersetzung Martin Luthers den Sinn der Sache sehr präzise beschreibt: »So kompt der Glaube aus der Predigt«3. Dass die Predigt für das Leben des Christentums, der christlichen Kirche schlechterdings zentral ist: Diese Überzeugung war nicht zu allen Zeiten und ist nicht an allen Orten stark4. Aber immer wieder hat sich die Erneuerungsfähigkeit des Christentums auch darin gezeigt, dass das alte Wort auf neue Weise zur Sprache gebracht und sprachlich gedeutet wurde. Die Bedeutung der Predigt für die Zukunft des Christentums, zumal des protestantischen, dürfte nicht unterschätzt werden5.

objektive Vorstellung eines redenden Gottes, sondern es beschreibt vielmehr eine menschliche Reaktion. Wort-Gottes ist in diesem Sinne eine religiöse Deutungskategorie, mit der Menschen dieses innere Angesprochensein und Ergriffensein durch ein persönliches Gegenüber zum Ausdruck bringen. Wort-Gottes ist daher als ein Deutungsbegriff aufzufassen, mit dem Menschen eine spezifische Art der Gotteserfahrung beschreiben« (aaO., S. 23). 3  Vgl. Otfried Hofius, »Fides ex auditu«. Verkündigung und Glaube nach Römer 10, 4–17, in: Denkraum Katechismus. Festgabe für Oswald Bayer zum 70. Geburtstag, hg. v. Johannes von Lüpke und Edgar Thaidigsmann, Tübingen 2009, S. 71–86, 82: »Von daher gewinnt !ko• an unserer Stelle die präzise Bedeutung »Verkündigung« bzw. »Predigt«, die dann auch in dem sogleich folgenden Vers Röm 10,17 vorliegt«. 4  So pflegen etwa die Orthodoxen Kirchen eine eindrückliche Form des Christentums, bei der die Predigt innerhalb des Gottesdienstes kaum ein Gewicht hat. Vgl. Timothy Ware, The Orthodox Church, New Edition, London 1997, p. 264–306. 5  Einen beeindruckenden Aufschwung haben Predigt und Homiletik während der letzten Jahrzehnte auch in der Katholischen Kirche genommen. Ein Anknüpfungspunkt war hierbei die Liturgie-Konstitution »Sacrosanctum Concilium« des 2. Vatikanischen Konzils aus dem Jahre 1963, in der sich etliche Bemerkungen finden, die als eine Aufwertung der Predigt angesehen werden können. Schnell hat die reiche homiletische Diskussion innerhalb der katholischen Theologie auch Anschluss gefunden an die Gesprächslagen der evangelischen Homiletik und es findet ein reger ökumenischer Austausch statt.

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2.  Die Predigt in der Alten Kirche:   Rhetorisch geschulte Darstellung der christlichen Wahrheit

Einführung Immer wieder haben Historiker und Theologen – und auch schon Zeitgenossen – nach Gründen für den Aufstieg des Christentums in der Zeit der Alten Kirche gefragt. Welche Faktoren trugen dazu bei, dass aus einer kleinen Sekte eine große Kirche wurde? Immer wieder wurde dabei verwiesen auf die diakonischen Aktivitäten der Gemeinden: »Die praktische Liebestätigkeit war wohl die stärkste Einzelursache für den missionarischen Erfolg des Christentums«1. Neben dieser Liebestätigkeit ist freilich auch auf das Lebensdeutungspotential der christlichen Verkündigung zu verweisen. Aus dieser Lebensdeutung entsprang ja die Liebestätigkeit allererst. Vermittelt wurde die christliche Lebens-, Welt- und Geschichtsdeutung aber vor allem durch die Predigt. Gewiss hat auch immer wieder – wie es sachgemäß ist und nicht anders sein kann – das persönliche Erleben überzeugender Vorbilder dazu beigetragen, dass Menschen fasziniert wurden durch den Lebensentwurf der Christen. Aber die Predigt war doch das einzige Medium, um größeren Mengen an Menschen die christliche Botschaft nahezubringen. Die Voraussetzungen, um eine Predigt zu hören, waren relativ niedrig. Denn das Anhören der Predigt setzte nicht voraus, dass man getauft war: Der Gottesdienst in der Zeit der Alten Kirche war zweigeteilt. Der erste Teil war ein Wortgottesdienst, in dem die Predigt, oft auch mehrere Predigten, ihren Platz hatte. Der zweite Teil war ein Sakramentsgottesdienst, zu dem nur getaufte Christen zugelassen waren 2. 1  Henry Chadwick, Die Kirche in der antiken Welt, Berlin 1972, S. 58. Die Formen dieser Liebestätigkeit waren vielfältig: »Die christliche Nächstenliebe äußerte sich in der Fürsorge für die Armen, für Witwen und Waisen, in Besuchen bei den Brüdern im Gefängnis oder bei denen, die zur Zwangsarbeit in den Bergwerken verurteilt waren, was soviel wie den Tod bei lebendigem Leibe bedeutete, und in sozialen Hilfsaktionen in Katastrophenzeiten, bei Hungersnot, Erdbeben, Seuchen oder Krieg. […] Ein besonderer Dienst, den die Gemeinde an armen Brüdern leistete (und worin sie dem Vorbild der Synagoge folgte), bestand darin, daß sie für ihr Begräbnis sorgte« (aaO., S. 59). 2  Dass auch für die getauften Christen gelegentlich der Wortgottesdienst das eigentliche Interesse auf sich zog, zeigt sich schön in einer Ermahnung des Bischofs Cäsarius von Arles: »Caesarius mußte seine Herde ermahnen, nicht schon nach den Psalmen und Lesungen die Kirche zu verlassen, sondern zur Messe zu bleiben« (aaO., S. 284 f., Anm. 6).

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2.  Die Predigt in der Alten Kirche

Die Predigten also waren jedermann zugänglich. Und war der Ruf der Prediger gut, dann konnte es durchaus geschehen, dass sich Hörer einfanden, die zunächst nur auf den intellektuellen Genuss einer glänzenden Rede aus waren. Das berühmteste Beispiel hierfür ist Augustinus, der von sich berichtet, er habe sich die Predigten des Bischofs Ambrosius in Mailand zunächst nur aus intellektueller Neugier und aus fachlichem Interesse als Rhetor angehört3. Die antike Stadtkultur war durch eine weitverbreitete Lust an Intellektualität geprägt. So schreibt etwa Hans Lietzmann in seiner »Geschichte der Alten ­Kirche« mit Blick auf Verhältnisse im Osten: »Die griechische Gemeinde war von Haus aus zum Anhören kunstvoller Reden geneigt – das war das Ergebnis einer jahrhundertelangen Erziehung zur Rhetorik – und so durfte man ihr unbedenklich eine Predigtmenge zumuten, die unter anderen Umständen abschreckend gewirkt hätte. Es wird nicht selten vorgekommen sein, daß die begeisterten Redner die für den Wortgottesdienst übliche Zeit von zwei Stunden überschritten, und sie durften auf die Verzeihung ihrer Hörer zählen, wenn sie den Reiz künstle­ rischer Gestaltung mit fesselndem Inhalt zu verbinden wußten. Sie konnten sogar auf Äußerungen des Beifalls rechnen, obwohl das verpönt war und von ernsten Predigern gerügt wurde«4. Der kurze Blick auf die altkirchliche Praxis macht einen Sachverhalt deutlich und erklärt einen anderen. Zum einen war mit relativ guten Rezeptionsbedingungen für die Predigten zu rechnen: Die intellektuell anspruchsvolle christliche Rede traf auf passende Hörererwartungen. Zum anderen erklärt sich durch die selbstverständliche Vertrautheit der Prediger mit den Traditionen der Rhetorik, dass sich eine eigentliche Homiletik kaum ausbilden musste. Das bedeutendste Beispiel einer Predigtlehre stammt von dem schon erwähnten Augustin. Bevor auf dieses Werk eingegangen wird, sei noch einmal kurz an den Bildungsgang Augustins erinnert: Er war als Rhetor ausgebildet worden. Und er war auf der Suche nach einer verlässlichen und überzeugenden Lebensdeutung. In seinen »Bekenntnissen« schildert er diesen biographischen Suchprozess auf anrührende Weise: Die von ihm angestrebte innere Ruhe findet er in all den philosophischen und religiösen Richtungen, die er durchmustert und durchprobiert, nicht. Erst der christliche Glaube bietet ihm jene Orientierung und Lebensgewissheit, deren er bedarf. Bemerkenswert ist nun, dass es nicht zuletzt die intellektuelle Leistungsfähigkeit der christlichen Verkündigung ist, die ihn anzieht: »In Mailand begegnete Augustin zum ersten Mal in seinem Leben einem christlichen Intellektuellen, der ihm Achtung abnötigte. Die Predigten des Am3 

Vgl. aaO., S. 254. Hans Lietzmann, Geschichte der Alten Kirche. Mit einem Vorwort v. Christoph Markschies, 4./5. Aufl. in einem Bd., Berlin/New York 1999, (III, 295), S. 949. 4 

Einführung

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brosius in der Kathedrale bezauberten ihn zuerst durch ihre rhetorische Meisterschaft, aber bald beeindruckten sie ihn auch durch ihren Inhalt, durch die Verbindung christlicher Frömmigkeit mit der Sprache der neuplatonischen Mystik und durch ihre überzeugenden Deutungen problematischer Abschnitte des Alten Testaments, die die spöttischen Einwände der Manichäer beantworteten«5. Augustinus begegnete in den Predigten des Ambrosius eine Verkündigung, die auf der intellektuellen Höhe ihrer Zeit war. Auf einen früheren Zeitpunkt bezogen formuliert Adolf von Harnack, was auch noch Augustin – und mit ihm viele andere – beeindruckt hat: »Eine mächtige Kirche mit einem eindrucksvollen Kultus, mit Priestern und Sakramenten ist vorhanden, und sie umschließt eine Glaubenslehre und Religionsphilosophie, die mit jeder anderen siegreich zu rivalisieren vermag«6. Und wo wurde diese Glaubenslehre und Religionsphilosophie öffentlich zugänglich und populär? In der Predigt. Das Verhältnis zwischen inhaltlicher Erschließung der christlichen Verkündigung und den Fragen der praktischen Gestaltung der Predigt lässt sich symbolhaft in der Entstehungsgeschichte und im Aufbau der »Homiletik« Au­g ustins abgebildet finden. Es ist das vierte Buch von Augustins Schrift »De doctrina ­christiana«, dem die Bezeichnung als einer »Homiletik« beigelegt wird7. Dieses Buch entstand in zwei Etappen. Zunächst verfasste Augustin um 397 die ersten drei Bücher (genauer: 1,1–3,5). Dreissig Jahre später fügte er das vierte Buch hinzu (genauer: 3,36–4,64)8. Die Bücher 1–3 behandeln »die Fragen nach einer biblischen Hermeneutik«, das vierte Buch entwickelt eine »kirchliche Rhetorik«9. Um es in der Sprache der traditionellen Homiletik zu formulieren: Zunächst geht es um die Frage der Stoffgewinnung, dann erst um die Frage der Stoffdarbietung. Die Homiletik setzt also das Begriffenhaben der darzustellenden Sachverhalte voraus. Diese Reihenfolge mag trivial erscheinen, erinnert aber die Predigtlehre aller Zeiten daran, dass sie sich nur entfalten kann auf der Grundlage eines genauen Verstehens der Glaubensgehalte: Worum geht es in der Bibel und im Christen­t um überhaupt? Worin besteht das Wesen des christlichen Glaubens? Erst im Anschluss an diese Klärungen können dann die Gestaltungsfragen der Predigt erörtert werden. Dies tut Augustin dann in dem vierten Buch, der »Ho5 

Chadwick, Die Kirche in der antiken Welt, S. 254 f. Adolf v. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 1902, S. 358 7  »Das 4. Buch seiner Schrift De doctrina christiana, im Jahre 427 als reife Frucht eines reichen bischöflichen und theologischen Lebens geschrieben, trägt mit Recht den Ehrennamen der ersten Homiletik der christlichen Kirche« (Ernst Christian Achelis, Lehrbuch der Praktischen Theologie, Bd. 2, Leipzig 1911, S. 88). 8  Gaetano Letteri, De doctrina christiana. Über die christliche Wissensaneignung und Lehre, in: Volker H. Drecoll (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, S. 377–393, 377. 9  Ebd. 6 

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2.  Die Predigt in der Alten Kirche

miletik«. Zwar bemüht er sich dort immer wieder um den Aufweis der Distanz zwischen christlicher und heidnischer Redekunst. Allein: Die Aufnahme der Kategorien der klassischen antiken Rhetorik ist unübersehbar. Die Beschäftigung mit der antiken Rhetorik bietet ein aufschlussreiches Bildungsvergnügen. Die Lektüre der Klassiker der Rhetorik (in erster Linie ist hier zu denken an Aristoteles, Cicero und Quintilian) lohnt stets und ist allen immer wieder nahezulegen, die sich mit Fragen der Predigtlehre beschäftigen. Als einen ersten Überblick über die Kategorien der antiken Redekunst haben wir einen tabellarischen Überblick abgedruckt, den Albrecht Grözinger zusammengestellt hat. Eine gute Darstellung und reiche Anregungen zu vertiefender Lektüre bieten die entsprechenden Passagen des Lehrbuches von Gert Ueding und Bernd Steinbrink (vgl. Literaturhinweise). Als zweiten Text aus der Zeit der Alten Kirche bieten wir einen Auszug aus der Pastoralregel Gregors des Großen. Dieser vom Jahre 590 bis zum Jahre 604 amtierende Papst schreibt mit den abgedruckten Passagen auf unvergessliche Weise den Predigenden aller Zeiten die notwendige Berücksichtigung der unterschiedlichen Hörer und Hörergruppen ins homiletische Pflichtenheft.

Weiterführende Literaturhinweise: Volker H. Drecoll (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007. Christoph Markschies, Zwischen den Welten wandern. Strukturen des antiken Christentums, Frankfurt am Main 1997. Gert Ueding/Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik: Geschichte – Technik – Methode, Stuttgart 42005.

2.1  Augustin: Christliche Bildung  Aurelius Augustinus, Die christliche Bildung (De doctrina christiana). Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Karla Pollmann, Stuttgart: Reclam, 2002, S. 149–211 (in Auszügen)1.

Viertes Buch I.1.1. Dieses mein Werk, das den Titel »Die christliche Bildung« trägt, hatte ich in der Untergliederung am Anfang des ersten Buches in zwei Hauptabschnitte unterteilt. Denn nach dem Proömium, wo ich denjenigen geantwortet habe, die 1  [Die Fußnoten der Ausgabe von Karla Pollmann wurden nur so weit übernommen, als es für das Verständnis unabdingbar schien. Dadurch weicht die Nummerierung in diesem Abdruck vom Original ab.]

2.1  Augustin: Christliche Bildung

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dieses Unternehmen vielleicht tadeln würden, sagte ich: »Zwei Dinge sind es, von denen die gesamte Auslegung der Hl. Schrift abhängt: erstens die Methode, wie man diejenigen Dinge entdeckt, die man verstehen muß, und zweitens die Methode, wie man die Dinge, die man verstanden hat, weitergibt 2. Wir wollen zuerst über das Entdecken und später über das Weitergeben sprechen.« 2. Weil ich ja über das Entdecken schon vieles gesagt und drei Bücher über diesen ersten Teil fertiggestellt habe, werde ich nun mit Hilfe des Herrn ein wenig über das Weitergeben sprechen, damit ich, sofern möglich, in einem Buch alles abschließe und das ganze Werk auf vier Bücher begrenzt wird. 2.3. Daher dämpfe ich in dieser Vorrede zuerst die Erwartung derjenigen Leser, die etwa glauben, daß ich rhetorische Vorschriften geben werde, wie ich sie in weltlichen Schulen gelernt und gelehrt habe, und ermahne sie, diese nicht von mir zu erwarten; nicht weil sie keinen Nutzen haben könnten, sondern weil, wenn sie einen haben, dies andernorts gelernt werden muß, wenn irgendein guter Mensch eventuell Muße dazu hat, auch dies zu lernen. Doch bei mir darf man danach weder in diesem noch in einem anderen Werk suchen. II.3.4. Denn weil durch die Rhetorik sowohl von Wahrem als auch von Falschem überzeugt wird, wer wagte da zu sagen, daß die Wahrheit mit ihren Verteidigern waffenlos gegen die Lüge bestehen muß, so daß jene, die offensichtlich von falschen Dingen zu überzeugen versuchen, es|150 verstehen, den Hörer im Einleitungsteil ihrer Rede wohlwollend, aufmerksam oder aufnahmefähig zu machen, diese solches aber nicht vermögen? Sollten jene Falsches bündig, klar und plausibel erzählen, diese dagegen Wahres so, daß es langweilig anzuhören und nicht zu verstehen ist und deswegen schließlich nicht gerne geglaubt wird? Sollten jene mit täuschenden Argumenten die Wahrheit angreifen und die Falschheit aussäen, diese aber weder das Wahre verteidigen noch das Falsche zurückweisen können? Sollten jene die Gemüter der Zuhörer zum Irrtum verführen und zwingen und dabei in ihrer Rede erschrecken, betrüben, aufheitern und glühend ermahnen, diese dagegen träge und emotionslos für die Wahrheit einschlafen? Wer könnte so töricht sein, dies für weise zu halten? 5. Da also die Redekunst in der moralisch neutralen Mitte gelegen ist und sehr viel in der Überredung sowohl zu schlechten als auch zu guten Dingen hin vermag, warum wird sie dann nicht auch von guten Christen im Studium erworben, damit sie der Wahrheit diene, wenn die Schlechten sie, um ihre verkehrten und nichtigen Absichten zu erreichen, zum Gebrauch der Ungerechtigkeit und des Irrtums beanspruchen? III.4.6. Aber alle Regeln und Vorschriften zur Rhetorik, aufgrund derer in Verbindung mit einem sehr reichen Wortschatz und stilistischer Ausschmückung 2 

Modus inveniendi, modus proferendi.

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2.  Die Predigt in der Alten Kirche

in einer kunstfertigen und geübten Sprechweise das zustande kommt, was Redegabe oder Beredsamkeit genannt wird, müssen außerhalb dieses meines Werkes gelernt werden, in einem hierfür gesonderten, passenden Zeitraum, in dem dafür angemessenen und geeigneten Lebensalter, und zwar von denen, die dies schnell können. […] |151 Es genügt, daß dies die Sorge junger Leute ist, und nicht einmal von all denjenigen, die wir zum Nutzen der Kirche ausbilden wollen, sondern von denen, die noch nicht durch eine Verpflichtung gebunden sind, die drängender ist und dieser Sache gegenüber eindeutig Priorität genießt. Denn wenn ein scharfer und leidenschaftlicher Verstand vorhanden ist, wird die Beredsamkeit leichter von denen erworben, die beredte Menschen lesen oder hören, als von denjenigen, die die Vorschriften der Beredsamkeit befolgen. Es mangelt nicht an kirchlichen Schriften […] durch deren Lektüre ein begabter Mensch, auch wenn er dies nicht eigens anstrebt, sondern sich nur auf die dort erwähnten inhaltlichen Dinge konzentriert, sich auch die in deren Worten enthaltene Beredsamkeit bei der Lektüre aneignet, besonders dann, wenn die Übung des Schreibens oder Diktierens hinzukommt, sowie schließlich auch die des Redens über das, was er gemäß der Regel der Frömmigkeit und des Glaubens empfindet. Wenn aber solch eine Begabung fehlt, werden weder jene rhetorischen Vorschriften erfaßt, noch nützen sie etwas, wenn sie, mit großer Mühe eingetrichtert, zu einem noch so winzigen Bruchteil erfaßt werden. Denn nicht einmal diejenigen, die diese gelernt haben und mit reichem Wortschatz und Schmuck reden, können während ihrer Rede an diese Regeln denken, um sie zu befolgen, es sei denn, sie reden über genau diese rhetorischen Regeln. […] |152 5.12. Wenn daher aus sprachlosen Säuglingen nur dann sprechende Wesen werden, wenn sie die Redeweisen der Sprechenden lernen, warum können dann nicht Leute ohne irgendeine Redekunst beredt werden, allein indem sie die beredten Formulierungen der Beredsamen lesen, hören und nachahmen, soweit ihnen dies eben möglich ist? Lernen wir denn nicht aus der Praxis selbst, daß dies so geschehen kann? Denn wir kennen sehr viele Leute, die ohne rhetorische Vorschriften beredsamer sind als zahlreiche, die jene gelernt haben, aber wir kennen keinen, der beredsam ist, ohne daß er Erörterungen oder Äußerungen von Beredten gelesen und gehört hat. 13. Denn es würde auch Kindern nicht die grammatische Kenntnis fehlen, aufgrund derer die Korrektheit der Redeweise gelernt wird, wenn sie die Möglichkeit hätten, unter Menschen, die korrekt sprechen, aufzuwachsen und zu leben. Obgleich sie zwar keine Bezeichnungen für grammatische Fehler kennen, würden sie doch alles Fehlerhafte, das sie aus dem Munde eines Sprechenden vernehmen, gemäß ihrer gesunden Gewohnheit tadeln und in ihrer eigenen

2.1  Augustin: Christliche Bildung

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Sprechweise vermeiden, ebenso wie sogar analphabetische Stadtbewohner die Landbewohner wegen ihrer rohen Sprechweise tadeln. IV.6.14. Der Studierende und Lehrer der Hl. Schrift muß also als Verteidiger des rechten Glaubens und Bekämpfer des Irrtums Gutes lehren und vor dem Schlechten warnen|153 und in dieser Tätigkeit der mündlichen Unterweisung die Ablehnenden gewinnen, die Nachlässigen aufrichten und denen, die nicht wissen, worum es geht, beibringen, was sie erwarten müssen. Sobald man aber die Zuhörer wohlwollend, aufmerksam und aufnahmefähig entweder vorgefunden oder selbst gemacht hat, muß man das übrige durchführen, wie es der jeweilige Fall erfordert. Wenn die Zuhörer belehrt werden müssen, muß man es in einer Erzählung erreichen (wenn es in der Tat nötig sein sollte), damit nun die Sache, um die es geht, besser erkannt wird. 15. Damit aber das Bezweifelte fundiert wird, muß man Sachbeweise hinzuziehen und vernünftig argumentieren. Wenn dagegen die Zuhörer eher aufgewühlt als belehrt werden müssen, so daß sie in der aktiven Umsetzung dessen, was sie schon wissen, nicht erlahmen und sie den Dingen zustimmen, von denen sie zugeben, daß sie wahr sind, ist es nötig, mit größerer Wucht zu sprechen. Dort sind Beschwörungen und Vorwürfe, anfeuernde und ermahnende Reden notwendig, und was sonst noch die Gemüter zu bewegen vermag. 7.16. Dies alles, was ich gesagt habe, führen freilich fast alle Menschen beständig aus, wenn sie sich irgendwie rednerisch betätigen. V.17. Aber da die einen es abgestumpft, formlos und kalt tun, die anderen aber scharfsinnig, ausgeschmückt und leidenschaftlich, ist es schon nötig, daß derjenige sich der hier behandelten Aufgabe stellt, der weise erörtern oder sprechen kann, auch wenn er es nicht beredsam vermag, so daß er den Zuhörern nützt, wenngleich weniger, als er nützen würde, wenn er beredsam sprechen könnte. Vor dem aber, der von unverständiger Beredsamkeit überströmt, muß man sich um so mehr hüten, je mehr der Zuhörer von ihm in dem, was zu hören unnütz ist, erfreut wird und, weil er ja hört, daß er beredt spricht, glaubt, daß er auch wahrhaft spricht. […] |154 19. Die Weisheit eines christlichen Redners steht nun in einem direkten Verhältnis zu seinem Fortschritt im Verständnis der Heiligen Schrift. Ich meine damit nicht, inwieweit er viel in der Bibel liest und auswendig lernt, sondern inwieweit er es gut versteht und sorgfältig ihre Bedeutungen durchdenkt. Es gibt nämlich Leute, die die Bibel lesen und dann vernachlässigen: Sie lesen sie, um sie mechanisch auswendig zu lernen, und vernachlässigen dabei das Verständnis ihres Inhalts. 20. Denen sind ganz ohne Zweifel bei weitem diejenigen vorzuziehen, die die Bibelworte weniger gut auswendig kennen und dafür mit den Augen ihres Herzens den Kern der Bibel sehen. Aber besser als diese beiden ist

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2.  Die Predigt in der Alten Kirche

jener, der sowohl nach Wunsch die Bibel zitiert als auch sie so versteht, wie er sollte. 8.21. Wenn jemand über etwas weise sprechen muß und es nicht auf beredsame Weise tun kann, dann sollte er sich unbedingt eng an den Wortlaut der Bibel halten. Je mehr er sieht, daß er in seinen eigenen Möglichkeiten recht dürftig ist, desto mehr muß er in den Bibelworten beschlagen sein, damit er, was er mit seinen eigenen Worten gesagt hat, durch die Worte der Schrift untermauert und damit er, der mit seinen eigenen Worten recht unbedeutend war, sozusagen durch das Zeugnis wahrhaft gewichtiger Dinge an Bedeutung gewinnt. Ein Redner, der weniger durch seine|155 Redeweise erfreuen kann, erfreut durch seine Argumentationsweise. […] |170 66. Was nützt nämlich die Korrektheit der Redeweise, wenn der Verstand des Zuhörers ihr nicht folgt, da es doch überhaupt keinen Grund zum Sprechen gibt, wenn das, was wir sagen, diejenigen nicht verstehen, derentwegen wir sprechen, damit sie verstehen? Wer also lehrt, wird alle Wörter vermeiden, welche nicht für seine Adressaten geeignet sind; und wenn er anstelle von solchen problematischen Wörtern andere in einer korrekten Form verwenden kann, die verstanden werden, soll er diese vorziehen. Wenn er es aber nicht kann, entweder weil es sie nicht gibt oder weil sie ihm im Augenblick nicht einfallen, kann er auch sprachlich weniger korrekte Wörter gebrauchen, da dabei doch die Sache selbst korrekt gelehrt und gelernt wird. 25.67. Es muß freilich nicht nur in Gesprächen, sei es mit einer Einzelperson oder mit mehreren, sondern auch ganz besonders vor der Gemeinde, wenn eine Predigt gehalten wird, darauf geachtet werden, daß wir unmittelbar verstanden werden, weil zwar in Gesprächen jeder die Möglichkeit hat, Fragen zu stellen; wo aber alle schweigen, um einem einzigen zuzuhören, und alle Gesichter sich ihm aufmerksam zuwenden, dort ist es nicht üblich und nicht schicklich, daß jeder das nachfragt, was er nicht verstanden hat: und deshalb muß die Sorgfalt des Redners am meisten dem, der nicht dazwischenfragen kann, zu Hilfe kommen. 68. Die nach Erkenntnis begierige Menge pflegt mit ihrer Bewegung anzuzeigen, ob sie verstanden hat. Solange sie dies nicht anzeigt, muß das, was behandelt wird, in vielfältiger Variation der Rede hin und her gewendet werden, was denen nicht möglich ist, die einen vorbereiteten und Wort für Wort auswendig gelernten Text vortragen3. Sobald feststeht, daß die Gemeinde es verstanden hat, muß entweder die Predigt beendet oder zu einem anderen Thema übergegangen werden. 3  Augustin fordert als Ideal eine relativ frei improvisierende Rede, die ein Maximum an flexiblem Eingehen auf die Geistesverfassung und Aufnahmefähigkeit der Zuhörer ermög­ licht […].

2.1  Augustin: Christliche Bildung

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69. Wie nämlich der Redner willkommen ist, der da klärt, was verstanden werden soll, so ist der lästig, der bereits Verstandenes immer wieder aufs neue einprägt, jeden-|171 falls denjenigen, deren ganze Erwartung darauf ausgerichtet ist, die Schwierigkeiten des ausgebreiteten Materials aufzulösen. Denn für den Genuß des Zuhörers werden auch bekannte Dinge gesagt, wo nicht auf diese Dinge selbst, sondern auf die Art, wie sie gesagt werden, geachtet wird. Wenn auch die entsprechende Redeweise schon bekannt ist und den Zuhörern gefällt, besteht fast kein Unterschied, ob der, der spricht, ein Redner oder ein Vorleser ist. 70. Es pflegen nämlich auch die Dinge, welche bequem niedergeschrieben sind, nicht nur von denen, die sie neu kennenlernen, mit Freude gelesen zu werden, sondern auch von denjenigen, denen sie schon bekannt sind und denen das Vergessen sie bis jetzt nicht aus der Erinnerung gelöscht hat, nicht ohne Genuß wieder gelesen, oder von beiden Gruppen gern gehört, wenn sie vorgelesen werden. Jeder aber, der diese Dinge schon wieder vergessen hat, wird, wenn man ihn wieder daran erinnert, belehrt. Aber ich handle jetzt nicht davon, wie man mit der Redekunst erfreut, sondern mein Thema ist, wie diejenigen belehrt werden müssen, die etwas lernen wollen4. 71. Der aber ist der beste Redner, der erreichen kann, daß sein Zuhörer Wahres hört und das, was er hört, versteht. Wenn man zu diesem Ziel gelangt ist, muß man sich nicht länger um die Sache selbst bemühen, als ob sie noch länger gelehrt werden müßte, sondern eventuell um ihre Anempfehlung, damit sie sich dem Herzen einprägt. Wenn dies offensichtlich getan werden muß, sollte man es in Maßen tun, damit der Zuhörer dessen nicht überdrüssig wird. XI.26.72. Ferner hat die Beredsamkeit beim Lehren nicht die Funktion, beliebt zu machen, was einem Schrecken einjagt, oder die Zuhörer dazu zu veranlassen, etwas zu tun, was sie ablehnen, sondern Unklares zu verdeutlichen. Wenn dies nun in einer ungefälligen rhetorischen Form geschieht, stellt sich der Erfolg freilich nur bei wenigen, sehr lerneifrigen Leuten ein, die den Lehrstoff, obgleich er nachlässig und ungepflegt vorgetragen wird, dennoch kennen-|172 lernen wollen. Wenn sie dies erreicht haben, weiden sie sich an der Wahrheit selbst und haben ihre Freude daran; es ist ein hervorragendes Kennzeichen guter Veranlagung, die in Worten ausgedrückte Wahrheit zu lieben und nicht die Worte an sich. 73. Was nämlich nützt ein goldener Schlüssel, wenn er nicht öffnen kann, was wir wollen? Oder was schadet ein hölzerner, wenn er dies kann, da wir doch lediglich danach streben, etwas Verschlossenes zu öffnen? Aber weil ja 4 

Die drei Aufgaben der Rede sind es, zu belehren (docere), zu erfreuen (delectare) und zu erschüttern (movere). […]

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2.  Die Predigt in der Alten Kirche

eine gewisse Ähnlichkeit zwischen sich Ernährenden und Lernenden besteht, müssen wegen der Trägheit der Mehrheit sogar die Nahrungsmittel selbst, ohne die man nicht leben kann, gewürzt werden. XII.27.74. Es hat nämlich ein gewisser Redner gesagt, und zwar mit Recht, daß der Redner so sprechen muß, »daß er belehrt, erfreut und erschüttert«. Dann hat er hinzugefügt: »Es gehört zur Notwendigkeit, zu lehren, zur Gefälligkeit, zu erfreuen, zum Sieg, zu erschüttern«5. Was von diesen dreien an erster Stelle steht, d.h. die Notwendigkeit, zu lehren, besteht aus den Dingen, von denen wir inhaltlich sprechen, die übrigen zwei bestehen aus der Art und Weise, wie wir sprechen. Wer also redet, wenn er lehren will, soll, solange er nicht verstanden wird, noch nicht glauben, daß er dem, den er belehren will, gesagt habe, was er möchte. Denn auch wenn er gesagt hat, was er selbst erkennt, darf er noch nicht glauben, daß er es jenem gesagt habe, von dem es nicht verstanden worden ist; wenn er aber verstanden worden ist, hat er es gesagt, egal, wie er es gesagt hat. 75. Wenn er aber den, zu dem er spricht, auch erfreuen oder erschüttern will, wird er dies nicht durch die Art und Weise seines Redestils erreichen; sondern es kommt darauf an, wie er spricht, um es zu erreichen. So wie der Zuhörer erfreut werden muß, damit seine Aufmerksamkeit erhalten bleibt, ebenso muß er erschüttert werden, damit er zum Handeln bewegt wird. Wie es erfreut, wenn der Redner|173 angenehm spricht, so wird man erschüttert, wenn man schätzt, was der Redner verspricht, wenn man fürchtet, was er androht, haßt, was er anklagt, freudig empfängt, was er empfiehlt, betrauert, was er als betrauernswert hervorhebt, sich über das freut, was er als Anlaß zur Freude preist, sich derer erbarmt, die er als erbarmenswürdig in seiner Rede vor Augen stellt, und wenn man diejenigen meidet, die er in Abschreckung als Leute vorstellt, vor denen man sich in acht nehmen muß – und was auch immer sonst noch durch die Beredsamkeit im erhabenen Stil erreicht werden kann, um die Gemüter der Zuhörer zu erschüttern, nicht damit sie wissen, was getan werden muß, sondern damit sie das tun, wovon sie bereits wissen, daß es getan werden muß. Wenn sie dies aber noch nicht wissen, müssen sie auf jeden Fall erst belehrt und dann erschüttert werden. Und vielleicht werden sie, nachdem sie die Dinge selbst erkannt haben, bereits dadurch so erschüttert werden, daß es gar nicht nötig ist, sie durch größere Kräfte der Beredsamkeit zusätzlich zu erschüttern. Wenn dies trotzdem nötig ist, muß es getan werden; es ist aber dann nötig, wenn sie, obgleich sie wissen, was getan werden muß, es nicht tun. Daher ist es auch notwendig zu lehren. Die Menschen können nämlich tun und unterlassen, was

5 

Cicero, Orator 21, 69.

2.1  Augustin: Christliche Bildung

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sie wissen. Wer aber könnte sagen, daß sie das tun müssen, was sie gar nicht wissen? Und aus diesem Grund besteht keine Notwendigkeit zu erschüttern, weil es nicht immer nötig ist, wenn nur der Zuhörer mit dem ihn belehrenden oder erfreuenden Redner einer Meinung ist. Deshalb ist Erschüttern Zeichen des Sieges, weil es geschehen kann, daß jemand belehrt und erfreut wird und dennoch nicht zustimmt. 77. Was aber nützen jene zwei, wenn dieses dritte fehlt? Aber es ist nicht einmal notwendig zu erfreuen6, da ja, wenn durch die Rede Wahres gezeigt wird – was sich auf die Pflicht des Lehrens bezieht –, durch den Redestil nicht erreicht und auch nicht angestrebt wird, daß die wahren Dinge selbst oder die Redeweise selbst erfreut, sondern die|174 geoffenbarten wahren Dinge erfreuen durch sich selbst, eben weil sie wahr sind. Daher erfreuen zumeist auch falsche Dinge, wenn sie entlarvt und überzeugend widerlegt werden. Denn sie erfreuen nicht, weil sie falsch sind, sondern weil es eben wahr ist, daß sie falsch sind, und ebenso erfreut auch der Redestil, durch den gezeigt wurde, daß dies wahr ist. […] 79. Wenn nämlich solche Dinge gelehrt werden, wo es genügt, zu glauben oder zu verstehen, dann bedeutet, ihnen zuzustimmen, nichts anderes, als zu bekennen, daß sie wahr sind. Wenn aber das gelehrt wird, was getan werden muß, und es deshalb gelehrt wird, damit es getan wird, dann wird vergeblich davon überzeugt, daß das Gesagte wahr ist, und dann erfreut umsonst der Redestil an sich, wenn der Zuhörer es nicht so aufnimmt, daß er es tut. Ein Kirchenredner muß also, wenn er etwas rät, was getan werden muß, nicht nur lehren, damit er unterweist, und erfreuen, damit er die Aufmerksamkeit des Zuhörers fesselt, sondern auch erschüttern, damit er siegt. […] XV.32.87. Deshalb bemüht sich dieser unser christlicher Redner, wenn er Gerechtes, Heiliges und Gutes sagt – denn er darf nämlich von nichts anderem reden – nach besten Kräften, daß er während seiner Rede mit aufmerksa-|177 mem Verständnis, Bereitwilligkeit und Gehorsam angehört wird. Er soll nicht daran zweifeln, daß er, wenn und insofern er dazu in der Lage ist, dies mehr aufgrund der Frömmigkeit seiner Gebete als durch seine rhetorische Fähigkeit vermag, so daß er durch seine Gebete für sich und für jene, die er ansprechen will, Beter (orator) ist, bevor er zum Redner (dictor) wird. Genau zu dem Zeitpunkt, wenn er sich für seine Rede bereitmacht, soll er, bevor er seine Zunge für den Vortrag 6  Augustin wendet sich hier dezidiert gegen eine Auffassung von Rhetorik, die den Zuhörer durch ihren Ausdruck um seiner selbst willen erfreuen will. Die kunstvolle epideiktische Preisrede und die Deklamation ohne übergeordnetes inhaltliches oder moralisches Ziel waren zur Zeit Augustins sehr beliebt. […] Von dieser oberflächlichen und daher falschen Art des Erfreuens unterscheidet er das Erfreuen, das durch die Erkenntnis der Wahrheit herbeigeführt wird, also auf inhaltlicher Erkenntnis beruht. Schließlich kann es noch ein von Gott bewirktes Erfreuen geben, welches mit der Liebe zusammenhängt […].

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2.  Die Predigt in der Alten Kirche

löst, seine dürstende Seele zu Gott erheben, damit er ausspeien kann, was er getrunken hat, oder ausgießen, was er in sich angefüllt hat. […] |179 95. Wie nämlich die Heilmittel für den Körper, welche von Menschen für Menschen angewendet werden, nur denen nützen, denen Gott Gesundung gewährt, der sogar ohne menschliches Eingreifen heilen kann, während jene Heilmittel ohne Gott nichts vermögen, aber trotzdem angewendet werden […], ebenso nützen auch die Hilfsmittel der Gelehrsamkeit, die durch Menschen vermittelt erden, der Seele nur dann, wenn Gott gewährt, daß sie nützen, der den Menschen das Evangelium auch ohne die Vermittlung und Hilfe von Menschen hätte geben können [Gal 1,11 f.]. XVII.34.96. Wer sich bemüht, durch seine Rede davon zu überzeugen, was gut ist, wobei er keines der drei rhetorischen Ziele vernachlässigt (nämlich Belehren, Erfreuen|180 und Erschüttern), der soll beten und darauf hinarbeiten, daß er, wie wir weiter oben gesagt haben, mit Verständnis, Bereitwilligkeit und Gehorsam angehört wird. Wenn er dies angemessen und zutreffend macht, kann er zu Recht beredsam genannt werden, auch wenn er die Zustimmung des Hörers nicht erreicht. Auf diese drei Ziele nämlich (nämlich Belehren, Erfreuen und Erschüttern) hat offensichtlich auch der weiter oben zitierte Autor der römischen Beredsamkeit jene drei Stilprinzipien beziehen wollen, wenn er in ähnlicher Weise sagt: »Der also wird beredsam sein, der über eine kleine Angelegenheit verhalten, eine mittlere gemäßigt und über eine bedeutende erhaben reden kann«, wie wenn er auch jene drei Redeziele hinzufügen und in ein und demselben Satz folgendes erklären würde: »Der also wird beredsam sein, der, um zu lehren, über eine kleine Angelegenheit verhalten, um zu erfreuen, über eine mittlere gemäßigt, um zu erschüttern, über eine bedeutende erhaben reden kann«. […] |199 XXII.51.134. Und es soll niemand glauben, daß es gegen die Lehren der Rhetorik sei, diese Stilarten zu mischen; sondern insoweit es angemessen geschehen kann, muß eine Rede durch alle Stilarten variiert werden. Denn wenn in einer Rede ein einziger Stil zu stark dominiert, fesselt dies die Aufmerksamkeit des Hörers weniger stark. Wenn aber vom einen zum anderen Stil gewechselt wird, schreitet die Rede, auch wenn sie länger dauert, angenehmer voran; obgleich sogar die einzelnen Stilarten ihre Verschiedenheiten haben, wenn sie von geübten Rednern verwendet werden, die dadurch vermeiden, daß die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer erlahmt oder abstumpft. Indessen kann für sich allein der verhaltene Stil leichter als der erhabene für längere Zeit ertragen werden. […] |203 143. Denn wenn es die grundsätzliche Aufgabe der Beredsamkeit ist, in allen drei Stilarten für das Ziel der Überzeugung angemessen zu reden, ihr Ziel aber das, wovon man in seiner Rede überzeugen möchte, dann gelangt der Redner nicht zum Ziel der Beredsamkeit, wenn er nicht die Überzeugung seiner Zuhörer erreicht, selbst wenn er in allen drei Stilarten in für die Überzeugung

2.1  Augustin: Christliche Bildung

15

angemessener Weise redet. Er überzeugt im verhaltenen Stil davon, daß, was er sagt, wahr ist; er überzeugt im erhabenen Stil davon, daß das getan werden muß, wovon die Zuhörer schon wissen, daß es getan werden muß, und es doch nicht tun; er überzeugt im gemäßigten Stil davon, daß er schön und ausgeschmückt redet. Wozu haben wir dieses letztere Ziel nötig? 144. Nach ihm sollen die streben, die in Wortgeklingel schwelgen und mit ihren Preisreden und anderen Redegattungen dieser Art angeben, wo der Zuhörer nicht belehrt oder zum Handeln bewegt, sondern nur erfreut werden soll. Wir aber sollen dieses letztere Ziel auf ein anderes Ziel beziehen, daß wir nämlich, was wir mit dem erhabenen Redestil bewirken wollen (d.h., daß ein guter Lebenswandel geliebt und ein schlechter vermieden wird), auch mit dem mittleren Stil anstreben. Aber der mittlere Stil ist nicht angemessen, wenn die Menschen der rechten Handlung so abgeneigt sind, daß sie zu dieser offensichtlich im erhabe-|204 nen Stil gedrängt werden müssen, oder wenn sie bereits recht handeln, daß sie es eifriger tun und fest darin beharren. So geschieht es, daß wir auch die Ausschmückung der gemäßigten Redeweise nicht prahlerisch, sondern klug einsetzen, wobei wir uns aber nicht mit dem Ziel begnügen, den Hörer bloß zu erfreuen, sondern eher darauf hinarbeiten, daß auch durch diesen mittleren Stil zu dem Guten, wovon wir überzeugen wollen, verholfen wird. XXVI.56.145. Deshalb dürfen jene drei Punkte, welche wir oben vorgestellt haben (nämlich daß jemand, der weise spricht, wenn er auch beredsam sprechen will, sich bemühen muß, verständig, bereitwillig und gehorsam angehört zu werden), nicht so verstanden werden, als ob diese Einzelaufgaben jeweils eher einer der drei Stilarten so zugeordnet werden sollten, daß es sich auf die schlichte Redeweise bezieht, verständig angehört zu werden, auf die gemäßigte bereitwillig, auf die erhabene gehorsam – sondern eher so, daß der Redner ständig diese drei Einzelaufgaben im Kopf hat und sich nach besten Kräften um sie bemüht, selbst wenn er sich jeweils in einem bestimmten einzelnen Redestil betätigt. Wir wollen nämlich jemanden auch dann nicht langweilen, wenn wir verhalten reden, und daher wollen wir nicht nur verständig, sondern auch bereitwillig angehört werden. 146. Wenn wir nun mit Hilfe der göttlichen Schriftzeugnisse lehren, was wir zu sagen haben, was streben wir dann anderes an, als daß wir gehorsam angehört werden, d.h., daß ihnen geglaubt wird, wobei jener hilft, zu dem gesagt, worden ist: »Deine Zeugnisse sind überaus glaubwürdig gemacht worden« (Ps 92,5)? Was aber strebt jemand anderes an, als daß ihm geglaubt wird, wenn er irgend etwas selbst im verhaltenen Stil den Lernenden erzählt? Und wer wollte ihn anhören, wenn er den Hörer nicht durch ein gewisses Maß an rhetorischer Annehmlichkeit festhält? Denn wer wüßte nicht, daß ein Redner, der nicht verstanden wird, weder bereitwillig noch gehorsam angehört werden kann? […]

16

2.  Die Predigt in der Alten Kirche

|206 XXVII.59.151. Was aber das gehorsame Zuhören anbelangt, hat der Lebensstil des Redners ein größeres Gewicht als eine wie auch immer bedeutende Erhabenheit des Redestils. Denn wer weise und beredsam redet, aber liederlich lebt, bildet sicherlich viele Lerneifrige aus, obgleich »er für seine eigene Seele unnütz ist« (Sir 37,21), wie geschrieben steht. Daher sagt der Apostel: »Sei es im Vorwand, sei es in Wahrheit, Christus soll verkündet werden« (Phil 1,18) Chri­stus aber ist die Wahrheit (Joh 14,6), und dennoch kann die Wahrheit sogar durch die Unwahrheit verkündigt werden, d.h., daß mit schlechtem und täuschendem Herzen verkündet wird, was recht und wahr ist.

2.2  Kategorien der antiken Rhetorik:   Die Rede als geordnete Arbeit am Gedanken  Albrecht Grözinger, Die Sprache des Menschen. Ein Handbuch. Grundwissen für Theologinnen und Theologen, München: Chr. Kaiser, 1991, S. 81. Problemhorizont Lateinischer Fachterminus

Griechischer Fachterminus

A. Voraussetzungen für einen guten Redner

praesuppositiones

0posc4seiV

a) Naturanlage

natura

f0siV

b) Ausbildung (Wissen, Kunstlehre)

doctrina (scientia, ars)

paide6a (§pist•mh, t4cnh)

c) Erfahrung (Übung)

usus (exercitatio)

§mpeir6a (mel4th)

B. Arbeitsmethoden

res (rationes)

m4qodoi

a) Unterricht

ars

t4cnh

b) Nachahmung

imitatio

m6mhsiV

c) Übung

exercitatio

=skhsiV

C. Arten der Rede

genera causarum

g4nh t>n l8gwn

a) Gerichtsrede

genus iudiciale

g4noV dikanik8n

b) Staatsrede

genus deliberativum

g4noV dhmhgorik8n

c) Gelegenheitsrede (Festrede)

genus demonstrativum

g4noV §pideiktik8n

2.2  Kategorien der antiken Rhetorik: Die Rede als geordnete Arbeit am Gedanken

Problemhorizont Lateinischer Fachterminus

Griechischer Fachterminus

D. Arbeitsstadien des Redners

officia oratoris

]rga toæ ı•toroV

a) Auffinden der Hauptgesichtspunkte

inventio

e‚resiV

b) Stoffgliederung

dispositio

t2xiV

c) Darstellung

elocutio

l4xiV

d) Memorieren

memoria

mn•mh

e) Vortrag

pronuntiatio (actio)

´p8krisiV

E. Beweisgründe

probationes

p6steiV

a) unmittelbare Beweise

pr. inartificiales

p6steiV =tecnoi

b) »künstliche« Beweise

pr. artificiales

p6steiV ]ntecnoi

F. Redeteile

partes orationis

m4rh toæ l8goæ

a) Einleitung

exordium

proo6mion

b) Erzählung des Hergangs

narratio

17

di•ghsiV

c) Präzisierung des Sachverhalts divisio (partitio)

pr8qesiV

d) Beweisführung

argumentatio

p6stiV

e) Schluß

peroratio (conclusio)

§p6logoV

G. Stilqualitäten

virtutes dicendi

!reta5 tΩV l4xewV

a) Sprachrichtigkeit

latinitas (puritas)

$llhnism8V

b) Deutlichkeit

perspicuitas

saf•neia

c) Angemessenheit

aptum

pr4pon

d) Redeschmuck

ornatus

k8smoV

e) Kürze

brevitas

suntom6a

H. Stilarten

genera elocutionis

caraktΩreV tΩV l4xewV

a) schlichter Stil

genus subtile

car. %scn8V

b) mittlerer Stil

genus medium (mixtum)

car. m4soV

c) erhabener Stil

genus grande (sublime)

car. megaloprep•V

18

2.  Die Predigt in der Alten Kirche

2.3  Gregor der Große: Die Orientierung am Hörer  Gregor der Große, Buch der Pastoralregel. Mit einem Anhang: Zwölf Briefe Gregors des Grossen. Aus dem Lateinischen übersetzt v. Prälat Joseph Funk (Bibliothek der Kirchenväter II. Reihe Bd. IV), München: Verlag Josef Kösel & Friedrich Pustet, 1933, S. 130–133.

Dritter Teil: Wie der Seelsorger, der ein gutes Leben führt, seine Untergebenen lehren und ermahnen muß Einleitung Nachdem wir gezeigt haben, wie der Seelsorger beschaffen sein muß, wollen wir jetzt darlegen, wie er lehren muß. Wie nämlich schon lange vor uns Gregor von Nazianz seligen Andenkens gelehrt hat, eignet sich eine und dieselbe Ermahnung nicht für alle, da nicht alle die gleiche Sittenbeschaffenheit besitzen. Oft nämlich schadet dem einen das, was dem andern nützt; so sind auch oft dieselben Kräuter, welche den einen Tieren als Futter dienen, für andere tödlich; ein leises Zischen besänftigt Pferde, reizt aber junge Hunde. Eine Arznei, die diese Krankheit hindert, steigert eine andere; ein Brot, das die Großen kräftigt, bringt Kleinen den Tod. Deshalb muß sich die Ansprache eines Lehrers nach der Beschaffenheit der Zuhörer richten, damit sie einerseits den Bedürfnissen der einzelnen entgegenkommt, andererseits aber doch der Kunst nicht entbehrt, allgemein zu erbauen. Denn was sind die in Aufmerksamkeit gespannten Gemüter der Zuhörer anderes als, wenn ich so sagen darf, die gespannten Saiten einer Zither? Der Künstler schlägt sie, damit ihr Gesang nicht von dem seinigen abweicht, auf verschiedentliche Art. Und so geben die Saiten eine zusammenstimmende Melodie, weil sie zwar mit demselben Stäbchen, aber nicht mit demselben Schlag|131 berührt werden. So muß auch jeder Lehrer, um seine Zuhörer alle in der einen Tugend der Liebe zu erbauen, zwar aus einer Lehre heraus sprechen, darf aber doch nicht mit der gleichen Ermahnung an jedes Herz rühren. I. Kapitel: Von der Mannigfaltigkeit in der Kunst des Predigens Anders sind zu ermahnen die Männer und anders die Frauen; anders die Jünglinge, anders die Greise; anders die Armen, anders die Reichen; anders die Fröhlichen, anders die Trauernden; anders Untergebene, anders Vorgesetzte; anders Diener, anders Herren; anders die Weisen dieser Welt, anders die Einfältigen; anders die Dreisten, anders die Schüchternen; anders die Hochmütigen, anders die Kleinmütigen;

2.3  Gregor der Große: Die Orientierung am Hörer

19

anders Ungeduldige, anders Geduldige; anders die Wohlwollenden, anders die Neidischen; anders die Aufrichtigen, anders die Unaufrichtigen; anders Gesunde, anders Kranke; anders diejenigen, die sich vor Gottes Strafen fürchten und deshalb unschuldig leben, anders, die so in der Bosheit verhärtet sind, daß sie auch durch Strafgerichte sich nicht bessern lassen; anders die zu Schweigsamen, anders die Geschwätzigen; anders die Trägen, anders die Raschen; anders die Sanftmütigen, anders die Zornigen; anders die Demütigen, anders die Stolzen; anders Eigensinnige, anders Wankelmütige; anders die Schwelger, anders die Mäßigen; anders, die das Ihrige barmherzig mitteilen, anders, die fremdes Gut an sich zu reißen suchen; anders, die weder fremdes Gut an sich reißen noch das Ihrige hergeben, anders, die zwar von ihrem Eigentum|132 mitteilen, aber dabei doch nicht aufhören, fremdes Gut sich anzueignen; anders die Unverträglichen, anders die Friedfertigen; anders die Händelstifter, anders die Friedensstifter; anders die, welche die Worte des göttlichen Gesetzes nicht recht verstehen, anders die, welche sie zwar recht verstehen, aber nicht demütig davon reden; anders die, welche zwar würdig predigen könnten, aus zu großer Demut aber sich davor fürchten; anders diejenigen, welche ihre Unvollkommenheit und ihre Jugend vom Predigen abhalten sollte, die aber doch ihr voreiliger Eifer dazu antreibt; anders diejenigen, die in ihren zeitlichen Bestrebungen Glück haben, anders jene, die zwar nach dem Irdischen Verlangen haben, dabei aber von Ungemach und Widerwärtigkeiten verfolgt werden; anders die Verehelichten, anders die Ledigen; anders, die in fleischliche Dinge eingeweiht sind, anders jene, welche davon nichts wissen; anders, die Tatsünden, anders, die Gedankensünden zu bereuen haben; anders, die ihre Vergehen zwar beklagen, aber sie doch nicht aufgeben, anders, die sie zwar aufgeben, aber nicht beklagen; anders, die sich ihrer bösen Werke rühmen, anders, die sich zwar darüber anklagen, sie aber doch nicht meiden; anders, die von einer plötzlichen Begierde überwältigt werden, anders, die mit Überlegung sich in die Fesseln der Sünde begeben;

20

2.  Die Predigt in der Alten Kirche

anders, die sehr oft, wenn auch nur geringe Sünden begehen, anders, die sich vor kleinen Fehlern in acht nehmen, aber bisweilen in große fallen; anders, die das Gute nicht einmal in Angriff nehmen, anders, die das Begonnene nicht vollenden; anders, die das Böse heimlich tun, das Gute aber öffentlich, anders, die ihre guten Werke geheim halten, aber|133 doch durch gewisse Handlungen eine schlimme Meinung von sich zulassen: Doch was nützt es, alles das zusammen aufzuzählen, wenn wir nicht auch im einzelnen in aller Kürze zeigen, wie die Ermahnung zu geschehen hat? Anders also sind Männer, anders Frauen zu ermahnen; denn jenen ist Schwereres, diesen Leichteres aufzuerlegen; jenen sollen große Dinge Übung verschaffen, diese sollen leichte Dinge auf anziehende Art zur Bekehrung führen, Anders sind Jünglinge, anders Greise zu ermahnen; denn jene bringt häufig eine strenge Ermahnung auf den rechten Weg, diese aber macht eine freundliche Bitte zur Besserung geneigt. Denn es steht geschrieben: »Einen Älteren fahre nicht hart an, sondern ermahne ihn wie einen Vater.1«

1 

1 Tim 5, 1.

21

3.  Mittelalter: Die Gestaltung der Predigtpraxis

Einführung Auch das Mittelalter hat eine reiche Predigtkultur ausgebildet. Freilich war die Predigt oft an sehr spezielle Situationen und Hörerkreise gebunden: Mönchspredigten, Bischofspredigten, Universitätspredigten, Kurial-, Konzils- und Synodalpredigten, Kreuzzugspredigten waren oft theologische und homiletische Glanzleistungen – aber der religiöse Alltag der Gemeinden war hinsichtlich der dort zu hörenden Predigten im Schnitt sehr viel bescheidener. Johann Baptist Schneyer, der Geschichtsschreiber der katholischen Predigt, beschreibt den Bildungsstand der durchschnittlichen Prediger nüchtern: »In den Niederungen der Kirche und des Reiches, also in den Pfarreien der Städte und der Dörfer war die Predigt mühsam und bescheiden genug. Soweit es auf die Bischöfe ankam, waren sie um die Heranbildung eines für sein Amt befähigten Priesternachwuchses durch die Gründung von Kloster- und Kathedralschulen besorgt. Sie richteten Elementarschulen ein, an denen man Lesen und Schreiben lernte, und höhere Schulen, die im Trivium und Quadrivium mit den notwendigen Lateinkenntnissen humanistische Bildung vermittelten. Viele Priester haben ihre Ausbildung in dieser Schule beschlossen. Sie sind zeitlebens sacerdotes simplici, illiterati geblieben, denen mitunter sogar das Predigen verboten wurde. Die Bischöfe gaben sich damit zufrieden, wenn sie die bereits auf der Synode von Aachen 802 festgesetzten Pflichten einigermaßen erfüllten, wenn sie also das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser beherrschten, die Sakramente spenden konnten, sich auf den Kalender des Kirchenjahres verstanden und mit den entsprechenden Perikopen die dazu gehörenden Väterhomilien vorlesen konnten. An eine eigene selbständige Predigtarbeit war damals bei vielen Priestern schon wegen der geringen Zahl theologischer Schulen nicht zu denken«1. In den Kontext der Bemühungen, die Bildung der Priester zu heben, gehört das Werk »De Institutione clericorum« von Hrabanus Maurus, aus dem wir Auszüge abdrucken, die sich auf die Predigt beziehen. Den eher wenigen Werken zur Predigttheorie tritt in reicher Vielfalt eine Literaturgattung zur Seite, die mit all ihren Ambivalenzen bis heute besteht und ihre Notwendigkeit hat – die Predigthilfsliteratur, die sehr direkt auf die Praxis zielt: Sammlungen von Themen, Beispielgeschichten und ganzen Predigten. Ein 1 

Johann Baptist Schneyer, Geschichte der katholischen Predigt, Freiburg 1969, S. 103

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3.  Mittelalter: Die Gestaltung der Predigtpraxis

sprechender und deshalb oft zitierter Titel eines solchen Predigthilfsbuches lautet »Dormi secure«: Dem Prediger wird ein ruhiger Schlaf versprochen, denn am Sonntagmorgen kann er einfach das Buch aufschlagen und eine Predigt daraus vorlesen. Der aus späterer Sicht beklagenswerte Zustand der Predigtkultur musste freilich nicht unbedingt als gravierend empfunden werden, denn die Predigt war für das religiöse System keineswegs zentral. Im Mittelpunkt standen die Sakramente (Eucharistie und Buße in ihrem funktionalen Zusammenhang), und der Sinn der Predigt bestand in erster Linie im pädagogischen Hinweis auf die Möglichkeit und Notwendigkeit der sakramentalen Heilsaneignung. Die Predigt wurde von kirchlicher Seite immer wieder auch unter dem Gesichtspunkt wahrgenommen, dass sie ein Medium war, dessen sich jene Gruppen bedienten, die man als häretisch ansah. »Die Predigtbefugnis liegt traditionell beim Bischof« – und so verwundert es nicht, dass sich die kirchliche Gesetzgebung »weit mehr mit dem Verbot der Laienpredigt als mit der Einschärfung der Predigtpflicht der Kleriker« beschäftigte2. Die Szene ändert sich mit dem späten Mittelalter. Mit dem Aufblühen der Stadtkultur steigen die religiösen Bildungsansprüche der Bürger: »Die Überbetonung und Mechanisierung des sakramentalen Lebens im Mittelalter rief einen immer stärkeren Hunger nach dem Wort hervor, nach einer Verkündigung und einem Zuspruch des Evangeliums, den man verstehen konnte und nicht nur als eine geheimnisvolle Zeremonie über sich ergehen lassen mußte«3. Ein Ausdruck dieses vertieften gedanklichen Interesses an der Religion ist die Einrichtung sogenannter Prädikaturen, d.h. von Stellen speziell für Prediger. Diesen Prädikanten wurde eine gründliche theologische Bildung ermöglicht und abverlangt. Die Predigt begann allmählich einen wichtigeren Rang im religiösen Leben einzunehmen, vor allem in den Städten. In der Reformationszeit waren dann diese theologisch gut gebildeten Prädikanten oft wichtige Träger der Glaubenserneuerung. In den Kontext des aufblühenden Interesses an der Predigt zum Ausgang des Mittelalters gehört das »Handbuch des Predigers« von Ulrich Surgant, aus dem wir die ersten vier Kapitel abdrucken. Über dieses Werk wurde geurteilt, es biete den »Abschluß mittelalterlicher Homiletik, der den Gesamtertrag derselben darbietet und insofern als die vollendetste Homiletik vor der Reformation anzusehen« sei4. 2  Hans Martin Müller, Homiletik. Eine evangelische Predigtlehre, Berlin/New York, S. 39, 41. 3  Eberhard Weismann, Der Predigtgottesdienst und die verwandten Formen, in: Leiturgia. Handbuch des Evangelischen Gottesdienstes. Bd. III, Kassel 1956, S. 1–97, 25. 4  Ernst Christian Achelis, Lehrbuch der Praktischen Theologie, Bd. 2, Leipzig 1911, S. 102.

3.1  Lehramtliche Festlegungen: Die Notwendigkeit des Lehramtes für die Predigt

23

Weiterführende Literaturhinweise: Johann Baptist Schneyer, Geschichte der katholischen Predigt, Freiburg 1969, S. 97–230. Dietrich Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, 2., erweiterte Aufl., Berlin/New York 1994, S. 346–351. Dorothea Roth, Die mittelalterliche Predigttheorie und das Manuale Curatorum des Johann Ulrich Surgant (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft Bd. 58), Basel/Stuttgart 1956.

3.1  Lehramtliche Festlegungen:   Die Notwendigkeit des Lehramtes für die Predigt  Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen u. unter Mitarbeit v. Helmut Hoping hg. v. Peter Hünermann, Freiburg / Basel / Wien: Herder, 422009, S. 333 (761); 337 f. (770); 362 (809).

Verbot der Laienpredigt Synode von Verona, Ende Oktober-Anfang November 1184

Et quoniam nonnulli sub specie pietatis … auctoritatem sibi vindicant praedicandi …, omnes, qui vel prohibiti vel non missi, praeter auctoritatem ab Apostolica Sede vel epi­ scopo loci susceptam publice vel privatim praedicare praesump­serint, et universos, qui de sacramento corporis et sanguinis Domini ­nostri Iesu Christi vel de baptismate seu de peccatorum confessione, matri­ monio vel reliquis ecclesiasticis sacra­mentis aliter sentire aut ­docere non metuunt, quam sacrosancta Romana Ecclesia praedicat et obser­ vat, et generaliter quoscumque ­eadem Romana Ecclesia vel singuli episcopi per dioeceses suas cum consilio clericorum vel clerici ipsi, Sede vacante, cum consilio, si oportuerit, vicinorum episcoporum

Und weil manche unter dem Anschein von Frömmigkeit … für sich die Autorität beanspruchen, zu predigen …, binden wir alle mit dem gleichen Band des immerwährenden Anathema, die entweder verbotenermaßen oder nicht gesandt, ohne vom Apostolischen Stuhl oder Ortsbischof eine Ermächtigung erhalten zu haben, öffentlich oder privat zu predigen wagen, und alle, die sich nicht fürchten, über das Sakrament des Leibes und Blutes unseres Herrn Jesus Christus oder über die Taufe oder über die Beichte der Sünden, die Ehe oder die übrigen kirchlichen Sakramente anders zu denken oder zu lehren, als es die hochheilige Römische Kirche predigt und beachtet, sowie allgemein alle, die ebendiese Römische Kirche

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3.  Mittelalter: Die Gestaltung der Predigtpraxis

­ aereticos iudicaverint, pari vinculo h perpetui anathematis innodamus.

oder die einzelnen Bischöfe in ihren Diözesen mit dem Rat der Kleriker oder die Kleriker selbst, wenn der Stuhl unbesetzt war, falls erforderlich, mit dem Rat der benachbarten Bischöfe für häretisch beurteilt haben.

| 337 Die Notwendigkeit des Lehramtes der Kirche für die Auslegung der Hl. Schrift Brief »Cum ex iniuncto« an die Einwohner von Metz, 12. Juli 1199 Significavit Nobis venerabilis frater Noster episcopus Metensis per litteras suas, quod tam in dioecesi quam urbe Metensi laicorum et mulierum multitudo non modica, tracta quodammodo desiderio Scripturarum, Evangelia, Epistolas Pauli, Psalterium, Moralia Iob et plures alios ­libros sibi fecit in Gallico sermone transferri; … [quo vero factum est,] ut secretis conventionibus talia inter se laici et mulieres eructare praesumant et sibi invicem praedicare: qui etiam aspernantur eorum consortium, qui se similibus non immiscent … . Quidam etiam ex eis simplicitatem sacer­dotum suorum fastidiunt; et cum ­ipsis per eos verbum salutis proponitur, se melius habere in libellis suis et prudentius se posse id eloqui, submurmurant in occulto.

Unser ehrwürdiger Bruder, der ­Bischof von Metz, teilte Uns in seinem Schreiben mit, daß sowohl in der Diö­zese wie in der Stadt Metz eine nicht unbedeutende Menge von Laien und Frauen, gewissermaßen von dem Verlangen nach den Schriften gezogen, sich die Evangelien, die Briefe des Paulus, den Psalter, die Moralia Iob (Gregors des Großen) und mehrere andere Bücher in französische ­Sprache übertragen ließ; … [so geschah es aber,] daß in geheimen Zusammenkünften Laien und Frauen solches untereinander auszukotzen und sich gegenseitig zu predigen wagen: sie verschmähen auch den Umgang mit denen, die sich nicht an Ähnlichem beteiligen … . Manche von ihnen verschmähen auch die Einfachheit ihrer Priester; und wenn ihnen durch diese das Wort des Heiles vorgetragen wird, murren sie im|338 Verborgenen, sie hätten in ihren Schriften Besseres und sie könnten es klüger ausdrücken.

3.1  Lehramtliche Festlegungen: Die Notwendigkeit des Lehramtes für die Predigt

|338 Licet autem desiderium intelligendi divinas Scripturas et secundum eas studium adhortandi reprehendendum non sit, sed potius commendandum, in eo tamen apparent merito arguendi, quod tales occulta conven­ ticula sua celebrant, officium sibi prae­dicationis usurpant, sacerdotum simplicitatem eludunt et eorum consortium aspernantur qui talibus non inhaerent. Deus enim … in tantum odit opera tenebrarum, ut [Apostolis] … praeceperit dicens: »Quod dico vobis in tenebris, dicite in lumine, et quod in aure auditis, praedicate super tecta« [Mt 10,27]; per hoc manifeste denuntians, quod evangelica praedicatio non in occultis conventiculis, sicut haeretici faciunt, sed in ecclesia iuxta morem catholicum est publice proponenda. …

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Wenn aber auch das Verlangen, die göttlichen Schriften zu verstehen, und das Bemühen, ihnen gemäß zu ermahnen, nicht zu tadeln, sondern vielmehr zu empfehlen ist, so sind diese dennoch offenbar darin zu Recht zu tadeln, daß sie ihre verborgenen Zusammenkünfte abhalten, sich das Amt der Verkündigung anmaßen, die Einfachheit der ­Priester verspotten und den Umgang mit denen verschmähen, die sich mit solchem nicht befassen. Gott … haßt nämlich die Werke der Fin­sternis so sehr, daß er [den Apo­steln] … gebot und sagte: »Was ich euch in der ­Fin­ster­nis sage, das sagt im Licht, und was ihr im Ohr hört, das verkündet über die Dächer« [Mt 10,27]; ­dadurch tut er deutlich kund, daß die Verkündigung des Evangeliums nicht in verborgenen Zusammenkünften, wie es die Häretiker tun, sondern gemäß dem katholischen Brauch in der ­Kirche öffentlich vorzutragen ist. …

Die Notwendigkeit der Missio canonica 4. Konzil im Lateran (12. Ökum.): 11.–30. November 1215; Kapitel 3: Über die Häretiker (Waldenser): |362 Quia vero »nonnulli sub specie pietatis, virtutem eius (iuxta quod ait Apostolus) abnegantes [cf. 2 Tim 3,5], auctoritatem sibi vindicant praedicandi, cum idem Apostolus dicat: ›Quomodo praedicabunt, nisi mittantur?‹ [Rm 10,15], omnes, qui prohibiti vel non missi, praeter auctoritatem ab Apostolica Sede vel catho-

Weil aber »manche unter dem Anschein von Frömmigkeit, sich von ­ihrer Kraft [aber] (wie der Apostel sagt) lossagend [vgl. 2 Tim 3,5], für sich die Autorität beanspruchen, zu predigen, obwohl derselbe Apostel sagt: ›Wie sollen sie predigen, wenn sie nicht gesandt werden?‹ [Röm 10,15], ‹deshalb› sollen alle, die

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3.  Mittelalter: Die Gestaltung der Predigtpraxis

lico episcopo loci susceptam, publice vel privatim praedicationis officium usurpare praesumpserint«, excommunicationis vinculo innodentur: et nisi quantocius resipuerint, alia competenti poena plectantur.

verbotenermaßen oder nicht gesandt, ohne vom Apostolischen Stuhl oder dem katholischen Ortsbischof eine Ermächtigung erhalten zu haben, öffentlich oder privat das Amt der Predigt sich anzumaßen wagen«, mit dem Band der Exkommunikation gebunden werden: Und wenn sie nicht schleunigst wieder Vernunft annehmen, sollen sie mit einer anderen geeigneten Strafe bestraft werden.

3.2  Hrabanus Maurus: Notwendige Voraussetzungen des Predigers  Hrabanus Maurus, De Institutione Clericorum. Über die Unterweisung der Geistlichen. Erster Teilband. Übersetzt u. eingeleitet v. Detlev Zimpel (Fontes Christiani Bd. 61 / 1), Turnhout: Brepols Publishers, 2006, S. 455–461; 465–469 (in Auszügen)1.

Es beginnt das dritte Buch 1. Was sich für jene zu wissen und zu verstehen gebührt, die dem heiligen Stand beitreten möchten Die kirchliche Unterweisung erläutert also in vielfältiger Darstellung, daß der hochheilige Stand der Geistlichen zum göttlichen Dienst ausgestattet werden muß, weil vor allem diejenigen, die in irgendeiner hohen Stelle eingesetzt die Leitung der Regierung in der Kirche innehaben, auch die Fülle des Wissens und die Korrektheit des Lebens und die Vollkommenheit der Ausbildung haben müssen. Und es ist ihnen nämlich nicht erlaubt, irgendetwas davon zu vernachlässigen, mit dem sie entweder sich oder die ihnen Unterstellten unterrichten müssen, das heißt die Kenntnis der Heiligen Schrift, die reine Wahrheit der Geschichte, die Arten der übertragenen Rede, die Bezeichnung der mystischen Dinge, den Nutzen aller Unterrichtsfächer, die Ehrbarkeit des Lebens in der Rechtschaffenheit der Sitten, die Feinheit im Vortrag der Predigten, die Unterscheidungsfähigkeit in der Darstellung der Lehrsätze (und) die Verschiedenheit der Heilmittel gegen die Vielfalt des Kummers. Wer dies also nicht kennt, kann 1  [Im Folgenden wird nur die deutschsprachige Übersetzung wiedergegeben. Auf die Wiedergabe der editorischen Hinweise wurde bis auf wenige Ausnahmen aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet. Die Ausnahmen betreffen die Nachweise der von Hrabanus Maurus verwendeten Texte.]

3.2  Hrabanus Maurus: Notwendige Voraussetzungen des Predigers

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nicht einmal seinen (eigenen) Nutzen gut einrichten, von dem der anderen ganz zu schweigen, und daher ist es nötig, daß ein künftiger Lenker des Volkes, solange er noch Zeit hat, sich vorher die Waffen vorbereitet, mit denen er nachher die Feinde tapfer überwinden und die ihm anvertraute Herde angemessen verteidigen soll. Schlimm nämlich ist es, erst dann etwas lernen zu wollen, wenn man, als Hirte eingesetzt, lehren muß, und gefährlich ist es, demjenigen die Last eines Lehramtes aufzuladen, der nicht, durch die Hilfe des Wissens gestärkt, in der Lage ist, diese zu tragen. »Keine Kunst werde erdreistet, gelehrt zu werden, wenn nicht zuvor in angestrengter Vorberei-|457 tung gelernt wird. Von Unkundigen also wird das geistliche Lehramt (nur) in Leichtfertigkeit empfangen, da ja die Kunst aller Künste die Leitung der Seelen ist! Wer nämlich wüßte nicht, daß die Wunden der Seelen verborgener sind als die Wunden der Waffengewalt? Und dennoch fürchten sich oft diejenigen nicht, die in keiner Weise die geistlichen Vorschriften kennengelernt haben, sich als Ärzte der Seele zu bekennen, während doch diejenigen, die die Kraft der Salben nicht kennen, sich schämen (würden), als Ärzte des Leibes betrachtet zu werden«. Denn »es gibt nicht wenige, die innerhalb der heiligen Kirche« nur aus Ehrgeiz »den Gipfel der Leitung erstreben und« – »was durch die Wahrheit bezeugt wird – die erste Begrüßung, auf dem Markt, den ersten Platz beim Mahl, den höchsten Sitz, bei den Versammlungen verlangen, sie, die dem empfangenen Amt der Seelsorge um so weniger würdig zu dienen wissen, je mehr sie zum Lehramt der Demut aus reiner Überheblichkeit gelangt sind.« »Gegen sie klagte der Herr durch den Propheten, indem er sagte: ›Sie haben Könige eingesetzt ohne mein Zutun, sie haben Fürsten aufgestellt, ohne daß ich es wußte‹ (Hos 8,4). Und aus sich selbst heraus nämlich und nicht aus dem Willen des allerhöchsten Lenkers regieren sie, die, durch keinerlei Tugenden gefestigt, in keiner Weise göttlich berufen, sondern durch ihre eigene Begierde entflammt, die Spitze der Leitung mehr an sich raffen als erlangen; welche gleichwohl der Richter des Hauses hin­ auswirft und nicht kennt, denn er duldet sie (zwar), indem er sie zuläßt, gewiß (aber) verwirft er sie durch das Urteil der Überprüfung.« »Die Unwissenheit der Hirten« also »wird durch die Stimme der Wahrheit gescholten, wenn sie durch den Propheten sagt: ›Diese Hirten kannten keine Einsicht‹ (Jes 56,11 Vg.); und ›Die sich mit dem Gesetz befassen, kannten mich nicht‹ (Jer 2,8). Die Wahrheit beklagt also, daß sie von jenen nicht erkannt wird und verkündet offen, daß sie die Herrschaft der Nichtwissenden nicht|459 kennt, weil gewiß jene, die das, was dem Herrn gehört, nicht kennen, vom Herrn nicht erkannt werden, mit Bestätigung durch Paulus, der sagt: »Erkennt einer das nicht, so wird er nicht erkannt« (1 Kor 14, 38). Diese Unwissenheit der Hirten entspricht freilich oft der der Untergebenen, die man, obgleich sie das Licht des Wissens ohne eigene Schuld nicht haben, dennoch mit strengem Urteil verfolgt, da diese (sc. die

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Hirten) durch ihre Unwissenheit auch diejenigen, die folgen, schädigen. Daher nämlich spricht die Wahrheit im Evangelium durch sich selbst: ›Wenn aber ein Blinder einen Blinden führt, so werden beide in die Grube fallen‹ (Mt 15, 14)2. Auch gibt es nicht wenige, die kundig mit Sorgfalt die geistlichen Vorschriften erforschen, aber was sie mit dem Verstand durchdringen, mit ihrer Lebensführung mißachten; schnell lehren sie, was sie nicht durch Arbeit, sondern durch Nachdenken erlernt haben, und was sie mit Worten verkünden, bekämpfen sie mit ihrem Lebenswandel. Daher kommt es, daß die Herde, wenn ein Hirte über den Abgrund geht, bis zum Absturz folgt. Aus diesem Grund nämlich klagt der Herr durch den Propheten gegen das erbärmliche Wissen der Hirten, indem er sagt: ›(Ist es euch zuwenig,), die beste Weide abzuweiden, daß ihr den Rest eurer Weide mit euren Füßen zerstampft, das klare Wasser zu trinken, und das übrige mit euren Füßen trübt? Und meine Schafe müssen, was ihr mit euren Füßen zerstampft habt, abweiden, und was ihr mit euren Füßen trübe gemacht habt, trinken‹ (Ez 34,18 f.). Das reinste Wasser trinken natürlich die Hirten, wenn sie die Fluten der Wahrheit richtig wahrnehmend ausschöpfen; aber dasselbe Wasser mit den Füßen zu trüben, heißt die Mühen der heiligen Meditation durch schlechte Lebensführung zu verderben. Das von deren Füßen getrübte Wasser nämlich trinken die Schafe, wenn sie als Untergebene ihrerseits nicht den Worten folgen, die sie hören, sondern nur dem, was sie sehen (und) die Beispiele der Verworfenheit nachahmen.« »Hierzu wie-|461 derum sagt der Herr durch den Propheten: ›Sie sind dem Hause Israel Anlaß zur Verschuldung geworden‹ (Ez 44,12). Niemand schadet ja mehr in der Kirche als der, der verkehrt handelnd den Namen oder den Stand der Heiligkeit hat. Alle Unwürdigen würden nämlich die Last einer solchen Anklage fliehen, wenn sie den Urteilsspruch der Wahrheit mit dem besorgten Ohr des Herzens abwägen würden, die sagt: ›Wer aber einem von diesen Kleinen Ärgernis gibt, dem wäre es besser, wenn ihm ein Mühlstein an den Hals gehängt und er in der Tiefe des Meeres versenkt würde‹ (Mt 18,6; Lk 17,2). Mit dem Mühlstein wird ja der Verlauf und die Mühe des weltlichen Lebens ausgedrückt, und mit der Tiefe des Meeres wird die äußerste Verdammung bezeichnet. Wer also, zum Ideal der Heiligkeit hingeführt, durch Wort oder Beispiel andere zugrunde richtet, hätte es wahrlich besser gehabt, wenn diesen unter dem vorherigen Zustand weltliche Taten zum Tode binden würden, als daß ihn der heilige Dienst in Schuld anderen als nachahmenswert darstellen würde, weil ihn ja, wenn er allein fallen würde, je nachdem die Höllenstrafe leichter ertragbar quälen würde.«3 Aber weil beides nötig ist, sowohl, 2  »Keine Kunst – fallen«: Gregor der Grosse, past. 1, 1 (SCh 381, 128–132), mit einigen Auslassungen (vgl. Anführungszeichen). 3  »Auch – würde«: Gregor der Grosse, past. 1, 2 (SCh 381, 134–136), mit einigen Auslassungen (vgl. Anführungszeichen).

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daß die Klugheit eine gute Lebensführung erleuchtet, als auch, daß eine gute Lebensführung die Klugheit empfiehlt, wollen wir beides in diesem Buch, wenn der Herr zustimmt, in gehöriger Ordnung erklären, das heißt, daß diejenigen, die in den heiligen Ständen der Kirche entweder schon dem Herrn dienen, oder dabei sind, Diener zu werden, wissen, welcher Ausbildung im Geiste sie bedürfen und wie sehr einer nüchternen Lebensführung im Beispiel, und welcher Tugend und Unterscheidungsgabe im Lehren, damit nicht die Lebensführung uneins sei mit der Klugheit und die Rede nicht abweiche vom Wandel. […] |465 3. Mit welchen schwer verständlichen Stellen die Heilige Schrift verhüllt ist, und daß es niemandem erlaubt ist, sie unbesonnen zu lesen »Die Heilige Schrift« also, »von der so vielen Schwächen des menschlichen Willens Hilfe geleistet wird, hervorgegangen aus einer (einzigen) Sprache, von der sie günstigerweise über den ganzen Erdkreis ausgesät werden konnte, wurde durch die verschiedenen Sprachen der Übersetzer weit und breit verteilt, damit sie den Völkern zu ihrem Heile bekannt wurde. Diese (sc. die Heilige Schrift) lesend wünschen sie nichts anderes, als die Gedanken und den Willen derer zu finden, von denen sie geschrieben wurde und dadurch den Willen Gottes, nach|467 welchem, so glauben wir, diese Menschen geredet haben.«4 »Aber durch viele und vielschichtige Unverständlichkeiten und Mehrdeutigkeiten werden die getäuscht, die unbesonnen lesen, indem sie das eine für das andere halten, an bestimmten Stellen aber finden sie nicht einmal, was sie sogar fälschlich verdächtigen, (und) so führen sie bestimmte, verhüllt gemachte Aussagen in dichteste (geistige) Finsternis. Ich bezweifle nicht, daß dies alles göttlich vorgesehen ist, um den Hochmut durch Mühe zu zähmen und um den Verstand vom Überdruß zu erfrischen‹, dem leicht Erreichtes meistens weniger wert ist.5 Es gibt nämlich in den heiligen Büchern zahlreiche schwierige Stellen durch übertragene (bildliche) Ausdrücke, es gibt ferner viele herausragende Stellen wegen der Größe der Dinge, und daher ist es nötig, daß sie sowohl mit dem Scharfsinn des Verstandes als auch mit dem Scharfsinn der Phantasie untersucht werden, und die untersuchten Stellen nach ihrer Bedeutung verstanden werden, und die verstandenen wegen ihrer Würde verehrt werden. »Denn niemand wird bezweifeln, daß durch Vergleichbares irgend etwas leichter erkannt wird und daß mit irgendeiner Schwierigkeit Gesuchtes viel schwieriger gefunden wird. Diejenigen nämlich, die durchaus nicht finden, was sie suchen, mühen sich mit Hunger; diejenigen aber, die nicht suchen, weil sie es sogleich haben, werden 4  5 

Augustinus, doctr. Christ. 2, 5 (6) (CCL 32, 35). Augustinus, doctr. Christ. 2, 6 (7) (CCL 32, 35).

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geringschätzig mehr als schlaff; in beiden Fällen aber muß man sich vor Trägheit hüten. Großartig also und heilsam hat der Heilige Geist die heilige Schrift so gestaltet, daß sie durch offensichtlichere Stellen dem Hunger zu Hilfe kommt, durch dunklere aber die Geringschätzung|469 vertreibt. Fast nichts nämlich von jenen dunklen Stellen wird sich ermitteln lassen, was nicht in klarster Weise ausgedrückt (auch) anderswo gefunden wird.«6

3.3  Joh. Ulrich Surgants Manuale curatorum:   Die Predigt nützt mehr zum Heil als die Eucharistie.   Spätmittelalterliche Reformhomiletik  Handbuch für Seelsorger, das eine Anleitung zum Predigen bietet durch lateinische und volkssprachliche Rede, praktisch erläutert, mit allen anderen zur Seelsorge gehörenden Dingen, wohl ausgestattet, so zweckdienlich wie heilsam [Basel 1502]7.

|fol. 1 recto Erste Betrachtung Beginn des ersten Buches von der Art und Kunst des Predigens Was die Predigt /das Predigen sei und welche ihre besonderen Vorrechte Die Predigt ist die angemessene und zukommende Austeilung des Wortes Gottes. Oder auch nach Alanus: Die wörtliche Predigt ist die offenbare und öffentliche Unterrichtung des Glaubens und der Sitten, sie dient der Belehrung der Menschen. Sie geht hervor aus den Pfaden der Vernunft und der Quelle der (theologischen) Autoritäten. Sie wird »wörtlich« genannt, weil es drei Arten der Predigt gibt, wie unten noch gesagt werden soll. Sie wird »offenbar« genannt, weil sie öffentlich anzubieten ist. Daher Matthäus sagt, 10,27: »Was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern«. […] Wenn nämlich die Predigt verborgen wäre, würde sie verdächtig sein und nach häretischer Lehre riechen. Daher, wenn die Predigt nur einem angeboten werden sollte, dann würde man sie nicht Predigt nennen, sondern Unterweisung. Eine jeweils besondere Art der Predigt ergibt sich schriftlich, so zum Beispiel der Apostel Paulus den Römern und Korinthern usw. Briefe schrieb,

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Augustinus, doctr. Christ. 2, 6 (8) (CCL 32, 36). [Die hier vorgelegte Übertragung wurde erstellt von Pfarrer Michael Ogrzewalla, Erbach/Donau. Eine historisch-kritische Ausgabe dieses Werkes liegt derzeit nicht vor.] 7 

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durch die Tat, so wie »jede Tat Christi uns eine Unterweisung ist« (Gregor der Große), durch das Wort, wovon Markus spricht im Kapitel 16: »Geht und predigt aller Kreatur.« Von dieser Predigt durch das Wort sprechen wir im Folgenden. Und sie soll geschehen um Gott die Ehre zu geben und um des Heils der Menschen willen, nicht um Gewinn zu machen oder wegen des eigenen Ruhmes wie es der Heilige Thomas sagt (in einem Kommentar zu Röm. 10) Die Predigt nützt nämlich mehr zum Heil, als die Feier der Heiligen Eucharistie. […] Es ist also die Predigt ein besonderes Amt und mit Vorrechten ausgestattet. […] Daher, wenn irgendeinem das Amt insgesamt untersagt wird, dann kann dieser auch nicht predigen […]. Und das Predigtamt ist von der Kirche vielfach mit Vorrechten ausgestattet.|fol. 1 verso Das erste Vorrecht: Wer dieses Amt erwerben will, von welchem Orden er auch sei oder welchen kirchlichen Rang er auch habe, so soll er dennoch die Erlaubnis seiner Vorgesetzten einholen. Sonst sollen die Mönche das Predigtamt nicht haben. […] Daher, wenn ein Ordensmann dazu nicht befähigt ist, darf er rechtmäßig nicht hierfür eingesetzt und zu diesem Amt befördert werden. Zweites Vorrecht: Kein Laie darf zum Predigtamt zugelassen werden, ja sie werden unter Androhung der Exkommunikation davon abgehalten, […] außer dass einer von Gott geschickt wird. Der muss es jedoch beweisen durch handfeste Zeichen. Es darf nämlich nicht einfach einer zugelassen werden, der von sich behauptet, er sei von Gott durch eine Vision geschickt worden, wenn er das nicht beweisen kann, so wie auch Mose, wie im Exodus beschrieben, von Gott zum Pharao geschickt wurde und es durch ein Wunder bewies. Es genügt allerdings zum Beweis das Zeugnis einer Urkunde oder von erprobten Männern. Drittens: Kein Kleriker soll zu diesem Amt zugelassen werden, es sei denn, er sei entsandt durch seine Vorgesetzten. Vgl. Röm. 10 »Wie sollen sie predigen, wenn sie nicht gesandt werden?«. Wenn aber einem die Seelsorge anvertraut wird, so kann man das verstehen als »gesandt von der Kirche«, wenigstens in Bezug auf die ihm unterstehenden Menschen, denen er predigen soll. Und so soll man das Wort von Gregor verstehen: »Er sei Leiter, wo es gesagt wurde.« […] Das Amt der Verkündigung, das heißt der Predigt oder des Predigers empfängt jeder, der in den Priesterdienst eintritt, das heißt in den Herrschaftsdienst der Kirche. Die Ordensleute haben das von einem Privileg her. Im Übrigen hat aber der Bischof dieses Recht zum Predigen. Viertens: Dass man nicht heimlich, sondern öffentlich predigen soll, wie in Matth. 10 gesagt wird: »von den Dächern«, das heißt öffentlich […]. Daher sollen verborgene Konventikel getadelt werden, wenn dort gepredigt wird, wie als der Häresie verdächtig.

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Fünftens: Dass den Kathedralkirchen und den regulierten Kirchen Prediger vorgesetzt werden, die die Bischöfe als Mithelfer haben können. […] Von den übrigen Dingen, die sich auf das Heil des christlichen Volkes beziehen, ist das Futter des Wortes Gottes, wie man weiß, ganz besonders wichtig. Daher wird es den Bischöfen aufgetragen, dass sie zur Ausübung des Predigtamtes geeignete Männer zu sich nehmen, fähig in Wort und Tat, die dann an ihrer Statt auferbauen, wenn diese es nicht vermögen wegen der Beschäftigung oder anderer ihnen anvertrauter Menschen wegen, und dass dann die Bischöfe ihnen die notwendigen Dinge dazu verschaffen. Sechstens: Dass es Stellvertreter des Bischofs geben soll, das heißt aus der Beauftragung eben jener Bischöfe selbst, die jene ihnen übertragen müssen, wenn sie denn geeignet sind, die also auch helfen sollen beim Beichte hören und anderen Dingen, die zum ewigen Heil gehören […]. So wie auch Paulus Begleiter hatte zum Predigen, Barnabas, Titus, Timotheus. Und Petrus hatte Linus und Cletus, um die Seelen zu leiten. Siebtens: Dass, wenn sich einer um dieses Amt bewirbt, dass der zum Studium der Theologie geschickt werde […]. Denn: Wie kläglich ist es dem, ein Lehrer zu sein, der niemals ein Schüler war. Und von den Aposteln wurde als Begleiter zum Predigen Matthias erwählt, der gelehrt war im Gesetz. Achtens: Dass sie zu Recht von denen, denen sie predigen, zeitliche Dinge fordern können und annehmen wie einen Lohn. 1. Kor. 9, 11: »Wenn wir euch zugut Geistliches säen, ist es dann zuviel, wenn wir Leibliches von euch ernten?« Weshalb auch Nicolaus von Lyra sagt: »Es ist vernünftig, dass dem, der die größeren Güter austeilt, wozu ja die geistlichen Dinge gehören, die geringeren angedient werden, welches die leiblichen sind« […]. Gott ordnete an, dass die, die das Evangelium verkünden, auch vom Evangelium leben sollen. Und auch der Herr setzte fest, dass die, die das Evangelium predigen, vom Evangelium leben sollen. Um das anzudeuten schickte er die Apostel zum Predigen ohne Ranzen, Geldbeutel und ohne Geld, damit sie von den Abgaben lebten, wie er es auch selbst tat. […] Sie können dieses Geld nehmen, sogar von Exkommunizierten. Neuntens: Dass, wenn die Anfrage gemacht wurde wegen des Predigens vor dem Vorgesetzten oder dem Leiter der Kirche, dass diese bald zugelassen werde. […] Zwölftens: Dass zur Predigt, wenn einer predigt, auch der Exkommunizierte zugelassen werde, und nicht aus der Kirche geworfen werde wie es bei sakramentalen Handlungen geschieht. Das gleiche gilt für die allgemein bekannten Wucherer, Sünder, Ketzer und Ungläubigen, damit ihnen durch die Predigt Anstoß gegeben werde zur Bekehrung. Denn Christus sagte in Markus 6: »Predigt das Evangelium aller Kreatur«, und schloss dabei niemanden aus. […]

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Vierzehntens: Dass der Unwürdige und Unfähige zu diesem Amt nicht zugelassen werde. […] Der Apostel schreibt an Titus 1, 9: »damit er die Kraft habe, zu ermahnen mit der heilsamen Lehre, und zurechtzuweisen, die widersprechen«. Und von Simachus dem Papst [lesen wir]: »Niemand wird billig die Person des Ermahners akzeptieren, wenn der nicht durch seine Taten die Irrtümer verdammt und die Unschuld des Lebens durch seinen Lebenswandel erweist.« Fünfzehntens: Dass diese gewissen Personen Vorlesungen über Recht und weltliche Philosophie nicht hören sollen, damit nicht dadurch das Predigtamt vernachlässigt werde. […] Es ziemt dem, der Nützliches predigen will, die Heiligen Schriften zu kennen und die Gesetze der Kirche, nicht die weltlichen Rechtswerke oder Dinge der Medizin. Daher sagt Christus Lk. 6, dass er ihnen den Sinn eröffnete, das heißt den Aposteln, dass sie die Heiligen Schriften verstünden. Sechzehntens: Dass das Wort Gottes ruhig vorgetragen werde in der Art und Weise, dass nicht irgend ein verborgener Sünder ins Angesicht erwähnt werde, das heißt, in dem man ihn direkt beim Namen nennt. […] Siebzehntens: Das Amt der Prediger ist hervorgehoben in der Kirche Gottes […]. Und das zu Recht, denn dazu ist ja auch Christus gesandt worden, Jesaja 63: »Der Geist Gottes über mir, dass er mich salbe, er schickte mich um den Armen das Evangelium zu verkünden«, und daraus ist dann die Bekehrung der Welt|fol. 3 recto zu Gott erfolgt. Röm. 10, 17 »Der Glaube kommt aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi«, wie aber sollen sie hören ohne Prediger? Und der Heilige Bernhard sagt: »Woher kommt denn all das Licht auf der Welt, wenn nicht durch Jesu Predigt?« Achtzehntens: Dass viele und große Ablässe gewährt wurden von vielen Päpsten denen, die die Predigten bestimmter Prediger hören, wie das an den Privilegien von Ordensleuten und der übrigen anderen gesehen werden kann. Neunzehntens: Dass ein besonderer Lohn den Predigern vorbehalten ist in den Himmeln, nämlich eine goldene Krone als zukommender Lohn, die den Doktoren gegeben wird, gemäß dem Wort aus dem zweiten Timotheusbrief, Kap. vier: »Ich habe den Lauf vollendet«, das heißt der Predigt, »ich habe den Glauben gehalten«, das heißt in dem ich mich gläubig verhielt, »hinfort liegt für mich die Krone bereit« und so weiter. Zweite Erwägung. Wer darf wohl predigen? Welche aber zum Amt der Predigt zugelassen werden sollen, fragt Wilhelm [von Paris]. Und darauf wird geantwortet: Es ist zu unterscheiden, ob hier nach reinen Laien gefragt wird oder nach Klerikern. Beim ersten Fall wird so geantwortet, dass sie [die Laien] nicht predigen dürfen aufgrund zweier Gedankenschlüsse.

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Erster Gedankenschluss: Frauen dürfen auf gar keinen Fall predigen. Dieser Schluss wird bewiesen dadurch, weil zu predigen ein männliches Amt ist, wie […] der Apostel schreibt 1. Kor. 14, 34: »Die Frauen sollen schweigen in den Kirchen«. Desgleichen 1. Tim. 2, 12: »Einer Frau gestatte ich nicht zu lehren« […]. Der Grund aber, weshalb den Frauen der Predigtakt verboten ist, kann nach Thomas ein dreifacher sein. Erstens wegen der Beschaffenheit des weiblichen Geschlechtes, dem wegen der Sünde zukommt, dem Manne unterworfen zu sein. Öffentlich zu lehren kommt aber den Untergebenen nicht zu, sondern viel mehr den Vorgesetzten. Der zweite Grund ist, dass nicht die Gemüter der Menschen oder Männer zur Wollust gelockt werden, weil doch gesagt wird im Sirach 9, 1: »Die Rede der Frau entbrennt wie ein Feuer, und wegen dem Anblick der Frau sind viele untergegangen.« Der dritte Grund: Weil Frauen allgemein unverständig sind, und in der Weisheit nicht vollkommen, so dass ihnen billigerweise nicht die öffentliche Lehre anvertraut werden kann; in privatem Kreis aber können sie dennoch lehren, was sie wissen. Zweiter Gedankenschluss: Laien ist es verboten zu lehren. Dieser Schluss wird weitläufig behandelt, |fol. 3 verso weil sie auf gar keinen Fall Priester weder öffentlich noch privat tadeln dürfen, […] ja wenn sie es denn tun, sind sie zu exkommunizieren […]. Laien, welchen Beruf sie auch immer haben mögen, dürfen nicht predigen, ja wenn sie predigen, dann begehen sie eine Todsünde. Sie verstoßen gegen ein Gebot der Kirche, da ja doch geboten wird, dass sie zu exkommunizieren sind. […] Also sündigen sie schwer, denn die Exkommunikation gibt es doch nur für ganz schwere Vergehen. Die einzelnen Ämter müssen nämlich Einzelnen übertragen werden. […] Und nicht nur in Bezug auf den Glauben oder die Predigt, sondern auch in andere kirchliche Geschäfte, welche auch immer es seien, dürfen sich Laien nicht einmischen. […] Gregor IX. verbot allen Laien das Amt des Predigens. […] Es darf allerdings ein Laie seinen Nächsten ermahnen zum Weg der Wahrheit, gemäß der Heiligen Schrift, […] auch über den Glauben dürfen verständige Laien disputieren, wie zum Beispiel erfahrene Magister und Doktoren, wenn Kleriker sie anfragen. Wenn nun von den Klerikern gefragt wird, ob denn alle predigen dürfen, muss man unterscheiden, ob von den Vorgesetzten die Rede ist oder von den anderen Klerikern, und dann wird man mit den folgenden Schlüssen antworten. Erster Schluss: Der Papst darf überall predigen, und kann, wen er will, damit beauftragen. Das aber können seine Vertreter nicht. Zweiter Schluss: Jeder Bischof darf überall predigen in eigener Person, wenn es nicht ausdrücklich durch andere Bischöfe in deren Diözesen ausdrücklich verboten sein sollte, weil sie auf dem ganzen Erdkreis diesbezüglich vom Herrn

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selbst dieses Vorrecht haben. Matthäi am Letzten: »Geht in die ganze Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur«. Ein Bischof kann allerdings eine|fol. 4 recto Genehmigung zum Predigen nur in seiner eigenen Diözese erteilen. Dritter Schluss: Die im Rang niedrigeren Vorgesetzten dürfen ebenfalls predigen den ihnen anbefohlenen Untergebenen. Wir fügen hinzu, auch dann, wenn solche Vorgesetzten nur Diakone wären. Die Kirche nämlich verpflichtet die Vorgesetzten, dass sie in Bezug auf die Predigt sehr sorgfältig seien. Und so können Diakone ihren Untergebenen predigen, nicht jedoch anderen, und dies kraft der ihnen übertragenen Seelsorge- bzw. Aufsichtsfunktion. Denn da der Text des Evangeliums in der Rede durch einen Diakon überliefert wird, so dass man versteht, dass er ein Herold des Evangeliums Christi sei, deshalb wird sein Amt »Predigen« oder wörtlich »Vorsagen« genannt, das heißt das Evangelium zu lesen, in dem er das Evangelium und die Epistel rezitiert, die ja zum Neuen Testament gehören, und daher würdiger und von größerer Kraft sind als die, die zum Alten Testament gehören, die auch den einfacheren Lektoren erlaubt sind zu lesen. Das darf aber nicht als predigen verstanden werden, nämlich das öffentliche Darlegen des Wortes Gottes, weil ihnen das nicht erlaubt ist wegen ihres Ranges, das nur den Magistern in Theologie oder den Bischöfen oder anderen erlaubt ist, die zu diesem Amt der Predigt oder der Seelsorge erwählt sind. So wie der Apostel sagt: »Wie sollen sie predigen, wenn sie nicht gesandt sind?« Vierter Schluss: Die Bettelbrüder können gerne in ihren Kirchen und ihren Orten, sowie auf öffentlichen Plätzen predigen, den Klerikern und dem Volk das Wort auslegen, ausgenommen in der Stunde, in der die Vorgesetzten dieser Orte predigen wollten, oder vor sich predigen lassen wollten […], wenn nicht anderes durch den Willen wiederum ihrer Vorgesetzen festgelegt wurde oder durch besondere Erlaubnis bestimmt wurde. Fünfter Schluss: Andere Kleriker, die keine Vorgesetzten sind und auch keine Seelsorge haben, können in der Regel nicht predigen, es sei denn, sie sind Magister in der Theologie, die sind nämlich bevorrechtigt wie die Doktoren des Glaubens, die dürfen mit einer versammelten Menge an Menschen öffentlich über den Glauben disputieren. Und so ist das Predigtamt ein priesterliches Amt […]. Andere Kleriker dürfen öffentlich nicht predigen. Nicht öffentlich aber unter Gläubigen können sie es tun, allerdings nicht mit|fol. 4 verso den Feinden des Glaubens, vor allem nicht in Bezug auf die Geheimnisse des Glaubens. Damit nicht etwa solche Häretiker so provozieren, weil sie diese dann so täuschen und betrügen können mit einigen Worten, und weil dann nichts zu antworten nicht sehr nützlich wäre, wegen der Zuhörer, die dann glauben können, es gäbe nichts, was denen geantwortet werden könnte.

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Sechster Schluss: Zum Amt eines Gemeindepfarrers oder eines Leiters oder Seelsorgers oder eines Leutpriesters oder eines Hirten gehört es aber, zu predigen. Denn da sie die Sorge für das Volk haben, sind sie gehalten die Menschen zu belehren durch Predigten. […] Siebter Schluss: Die Priester, die mit ständiger Vertretung betraut sind, und auch die zeitlichen Stellvertreter in den erlaubten Fällen können anderen die Erlaubnis geben zu predigen. […] Jeder Priester kann die Erlaubnis zum Predigen geben in der ihm anvertrauten Kirche. Achter Schluss: Wer in Todsünde lebt, wenn der predigt, der begeht eine Todsünde. Der Grund: wenn er nicht eifrig danach trachtet, darüber zu trauern, dann wird gesagt, er verachte [das Wort Gottes], und daher sündigt er […]. Dennoch genügt in Bezug auf das Predigen die Reue oder Zerknirschung, auch wenn in diesem Moment tatsächlich noch nicht gebeichtet worden sein sollte. Neunter Schluss: Die das Predigtamt innehaben, müssen in der Wissenschaft unterrichtet sein. Denn der, der dazu bestimmt ist, andere zu lehren, der darf nicht in der Zeit, die dazu bestimmt ist, die Lehre zu lehren, hinzulernen worüber er andere eigentlich unterrichten soll, das heißt, er hätte vorher lernen sollen, wie Alexander von Hales sagt im dritten Teil seiner Summe, dass der Akt des Lehrens ein dreifacher ist: Der eine besteht ganz einfach im Ermahnen, der kommt allen zu, und denen genügt es die Gebote zu kennen und das was man glauben muss. Zweitens der Akt des Predigens, und der kommt denen zu, die|fol. 5 recto das von ihrem Amt her haben. Und denen die das tun, die müssen das, was man glauben soll und die Gebote auslegen, nach dem was im 1. Petr. 3 steht: »Bereit zu sein, jedem der das fordert, Rechenschaft abzulegen.« Der dritte Akt des Lehrens ist der, wenn einer einen Lehrstuhl innehat, und die müssen alles wissen, was zu ihrer Lehre gehört. Daraus folgt, dass die Prediger stets eifrig die Heiligen Studien betreiben müssen, und nicht erst dann danach zu lernen trachten, wenn sie aufgrund ihres Auftrags und Amtes andere lehren sollen, wie oben schon ausgeführt wurde. […] Der zehnte Schluss: Der Prediger ist gehalten, die Dinge zu tun, die er predigt. Symmachus sagt: Keiner darf das Amt des Predigers ergreifen, wenn er nicht mit seinen Handlungen die Irrtümer verdammt und die Liebe zur Unschuld durch seinen Lebenswandel erweist. Und Alexander sagt in seiner Summe: Was immer einer in einer Predigt behauptet, es sei heilsnotwendig zu tun, das soll er auch selbst halten. […] Der elfte Schluss: Ein Prediger muss drei Dinge haben: Erstens, dass er innerlich vor Liebe brenne. 1. Kor. 13, 1 »Wenn ich mit Menschen und mit Engelszungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.« Zweitens, dass er äußerlich durch sein Leben strahle. Gregor in den Homilien zu den Zehn Jungfrauen: »Wessen Leben verachtet wird, des-

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sen Predigt wird notwendigerweise auch verachtet. […] Denn wer gut predigt, und schlecht lebt, der lehrt Gott wie er ihn selbst zu verdammen habe. […] Drittens: Er muss kompetent zum Predigen sein, wobei er auf vier Dinge besonders achten muss. Erstens auf die Zeit, das heißt die passende Zeit, weshalb Gregor als er über 2. Tim. 4 spricht, sagt: »Predige das Wort, steh dazu, es sei zur Zeit oder Unzeit«, sagt er. Dem Wort »unpassende Zeit«, stellt er »passende Zeit« voran, weil er sich im Geist seiner Zuhörer selbst unmöglich macht durch seine Schwachheit, wenn die ungünstige Gelegenheit nicht weiß, dass sie eine günstige Gelegenheit hat. Das zweite ist der Ort, weil die Predigt entweder in einer Kirche oder an einem anderen würdigen Ort geschehen soll, nicht aber an privaten Orten oder Häusern und durch geheime Vereinigungen von Laien, damit nicht ein Verdacht auf Häresie aufkomme. […] Matth. 10, 27: »Was euch ins Ohr gesagt wird, das predigt auf den Dächern.« […] Das Dritte ist das Fassungsvermögen der Zuhörer, denn den Weisen und den Gelehrten kann man hohe und tiefe Dinge predigen, Einfachen dagegen|fol. 5 verso nur weniges und ganz Deutliches. 1. Kor. 2, 2: »Weisheit sprachen wir unter den Vollkommenen« und 1. Kor. 3, 2: »Milch gab ich euch zu trinken, nicht feste Speise, denn ihr konntet (sie noch nicht vertragen)« etc. Desgleichen sind den Ungläubigen die Geheimnisse des Glaubens nicht zu predigen, wenn sich nicht Zeichen zeigen, dass sie sich bekehren wollen, und dann aber mit Vorsicht. […] Viertens, die Qualität dessen, was zu sagen ist, dass er nämlich wirklich Nützliches predigt. Jes. 48, 17: »Ich der Herr lehre dich Nützliches«, nicht dagegen Fabeln und verwirrende sprachliche Künste.etc. Dritte Überlegung. Was zu predigen ist. Darüber, was von den Predigern unbedingt gelehrt werden muss. Es geht dabei um fünf Dinge. Erstens darum, was man glauben soll, wie die Glaubensartikel. Zweitens, was zu tun und zu beachten ist wie die Gebote. Drittens, was zu fliehen ist, wie die Sünde. Viertens, was zu fürchten ist, wie der ewige Tod. Fünftens, was zu erstreben ist wie (himmlischer) Ruhm. Daher der Apostel in 1. Kor. 14, 19 sagt: »Ich will in der Gemeinde lieber fünf Worte sprechen«, das heißt wenige, »mit meinem Verstand«, das heißt, dass ich verstehe und von anderen verstanden werde, und sie so unterweise, als zehntausend Worte in Zungen, das heißt, eine gewaltige Menge an Worten ohne Verständnis. Es sagt also der Apostel, er wolle in besonderer Weise fünf Worte sprechen, weil die oben genannten fünf Begriffe durch das, was gepredigt wird, die Gegenstände der Kirche ankündigen sollen, nämlich was zu glauben ist, zu tun, zu vermeiden, zu fürchten und zu hoffen. Die Predigt muss nämlich von den Dingen handeln, die zum Glauben gehören, und das soll an erster Stelle stehen.

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3.  Mittelalter: Die Gestaltung der Predigtpraxis

Weiter von den Dingen, die sich auf die Sitten beziehen, und so die anderen vier Begriffe, nämlich von den Tugenden und den Lastern, von der Strafe und dem Ruhm. Und weil diese Dinge kurz und bündig gepredigt werden sollen, darum spricht der Apostel von fünf Worten, das heißt von wenigen. Und all diese Dinge stehen in der Heiligen Schrift. Daher ist die Heilige Schrift die angemessene Grundlage der Predigt. […] Es ist die selbe Schrift, die allein immer wahr ist|fol. 6 recto in allen ihren Teilen. […] Die Lehren der Philosophen und der Heiden haben mit der Wahrheit auch Irrtümer untergemischt. Ja, die Lehren selbst der katholischen Doktoren verfehlen dann und wann die Wahrheit oder sind manchmal zweifelhaft, weil »jeder Mensch ein Lügner« (Ps. 115, 1) ist, das heißt aus sich heraus. Der Grund für diese Verschiedenheit in den Auffassungen: die Lehren der Menschen stützen sich auf das Licht der natürlichen Vernunft, die die Erkenntnis des Wahren verfehlen kann. Aber die Lehre der Heiligen Schrift stützt sich auf die göttliche Wahrheit, die unfehlbar ist. […]

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4.  Reformation: Das neue Predigtverständnis als Ausdruck   eines erneuerten Kirchenbegriffs

Einführung Die Predigt ist keine Erfindung der Reformation. Aber die Reformatoren haben ihr ausnahmslos eine Zentralstellung im Gottesdienst zugewiesen1. Der Gottesdienst wird dabei verstanden als ein dialogisches Geschehen: In der Predigt gewinnt die Anrede Gottes an die Menschen Raum, die in Gebet und Lobgesang antworten. In der »Torgauer Formel« ist dieses neue Verständnis des Gottesdienstes prägnant formuliert. Im Hintergrund steht die Neubestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch: Schöpfer und Geschöpf beziehen sich auf einander im Verhältnis von Wort und Glaube. Es kommt, zunächst in der Theologie Luthers, zu einer »frappierenden Gewichtsverlagerung auf die Seite des Glaubens […], nachdem doch für das Mittelalter spätestens seit dem 12. Jahrhundert die Liebe und nicht der Glaube als die für das Heil entscheidende Lebensform des Christen gegolten hat«2. Allein durch den Glauben erlangt der Mensch das Heil: »Sola fide« – so lautet die fundamentale Formel für die religiöse Grundeinsicht der Reformation. Diese »Zentralstellung des Glaubensbegriffs verbindet bekanntlicherweise die unterschiedlichen Reformationsströmungen miteinander«3. Die Predigt wird für alle Reformatoren zum Medium und Ort der Heilsvermittlung. Die Predigt verweist also nicht mehr auf das Sakrament als das eigentliche Mittel des Heils, sondern sie bietet selber das Heil dar4. 1  Vgl. Luthers Forderung, »das die Christlich gemeyne nymer soll zu samen komen / es werde denn da selbs Gottis Wort gepredigt und gebett / es sey auch auffs kurtzist […] darumb wo nicht gotts wort predigt wirt / ists besser das man widder singe noch leße / noch zu samen kome.« (Martin Luther, Von Gottesdiensts in der Gemeine, 1523, WA 12, zit. nach BoA 2, S. 424–426, 424). 2  Berndt Hamm, Warum wurde für Luther der Glaube zum Zentralbegriff des christlichen Lebens?, in: Ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, S. 65–89, 65 f. 3  AaO., S. 65. 4  Die Aufwertung der Predigt spiegelt also einen grundlegenden Wandel im Religionsverständnis wider. Ernst Troeltsch hat diesen Wandel mit der ihm eigenen Kraft der Einseitigkeit beschrieben als eine Umstellung des Mediums der Heilsaneignung vom Sakrament auf das Wort und den Gedanken: »Die religiöse Zentralidee des Protestantismus ist die Auflösung des Sakramentsbegriffes, des echten und wahren katholischen Sakramentsbegriffes; wenn die Reformatoren zwei »Sakramente« haben bestehen lassen, so sind das keine ei-

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Die Theologen der Reformationszeit haben Luthers Auffassung der Predigt abgewandelt und fortgeführt, weitere Aspekte berücksichtigt und Akzente anders gesetzt. Seine wesentlichen Grundeinsichten haben sie freilich festgehalten. Nun fällt es nicht ganz leicht, Luthers Anschauungen über die Aufgabe und die Eigenart der Predigt darzustellen. Denn zum einen hat Luther keine ausgearbeitete Predigtlehre vorgelegt. Seine Predigtlehre muss daher aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen rekonstruiert werden: aus verstreuten Äußerungen etwa in den Tischreden, aus Vorreden zu Predigtsammlungen – und nicht zuletzt aus seiner eigenen Predigtpraxis. Zum anderen sind seine homiletischen Einsichten so eng mit seiner Theologie insgesamt verknüpft, dass sie sich nur schwer aus deren Gesamtzusammenhang herauslösen lassen. Luthers Predigtlehre verstehen heißt seine Theologie verstehen – und seine Predigtlehre umfassend darzustellen hieße seine Theologie umfassend darzustellen. Zwei Gesichtspunkte treten freilich bei jedem Versuch, Luthers Predigtlehre zu beschreiben, immer wieder in den Vordergrund: Die rechte Predigt ist erstens Evangeliumspredigt – und sie ist zweitens Predigt von Gesetz und Evangelium. Weder wäre es ratsam, das Evangelium ohne das Gesetz zu verkündigen, noch wäre es heilsam, das Gesetz ohne das Evangelium zu predigen: »[I]nstitutum est ministerium verbi, ut utrumque, id est, legem et Evangelium doceamus. Alterum sine altero non potest commode doceri nec sine periculo tractari, ut medicus non debet tantum versari in inquirendis et ostendendis causis morborum, neque tantum in curaturis, sed utrumque providendum agat. Sic hic quoque bene dividendum est, ne una tantum pars tradatur in ecclesiis, vel pavor et dolor vel consolatio et gaudium, sed utrumque simul. Nam desperatio, si sola fuerit, mala est et ipsa mors. Sin autem accedat Evangelium, ibi fit evangelica desperatio, quae bona est. Nam ea ducit nos ad Christum, siquidem scriptum est: Pauperes evangelizantur, id est, perterriti et afflicti«5.

Das Amt der Wortverkündigung ist demnach eingerichtet, um beides zu verkündigen: das Gesetz und das Evangelium. Luther vergleicht den Prediger mit dem Arzt, der auch zweierlei leisten muss: Die Aufdeckung der Krankheit (das wäre die Predigt des Gesetzes) und die Behandlung der Krankheit (das wäre die Predigt des Evangeliums). Die isolierte Predigt des Gesetzes führt zur Verzweiflung: das ist schlecht und der Tod selber. Aber sobald das Evangelium hinzutritt, wird die Verzweiflung heilsam und gut, weil sie zu Christus führt. gentlichen Sakramente mehr, sondern nur besondere Darstellungsformen des Wortes. […] Das erste und Entscheidende ist die Verwandelung des religiösen Grundvorgangs aus einem sakramentalen, wenn auch noch so ethisierten und vergeistigten Zauber in ein rein durchsichtiges Ereignis des Gedankens und der Gesinnung. […] Alles empfängt einen Zug zum Gedanklichen und Erkenntnismäßigen.« (Ernst Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, hg. v. Volker Drehsen in Zusammenarbeit mit Christian Albrecht [Ernst Troeltsch KGA Bd. 7], Berlin/New York 2004, S. 114, 118, 119). 5  Martin Luther, Aus der zweiten Disputation wider die Antinomer, 1538, BoA 7, S. 20, Z. 20–29.

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Nun kann die Predigt von Gesetz und Evangelium nicht an bestimmte Texte geknüpft werden: Ein und derselbe Text kann zum Evangelium und er kann zum Gesetz werden. Luther hat immer wieder Formeln gebildet, die das Verhältnis von Gesetz und Evangelium sehr prägnant beschreiben – aber er hat ebenso oft darauf hingewiesen, dass es die höchste theologische Kunst sei, die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium jeweils aktuell zu vollziehen. Die Einsicht, dass die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium stark situativ bedingt ist, dürfte einer der Gründe für die Hochschätzung der mündlichen Verkündigung, der »viva vox evangelii«, durch Luther sein: Die Möglichkeit des sensiblen Situationsbezugs ist einer der Vorzüge mündlicher Rede. Zwei Texte Luthers sollen den Problemhorizont einer an den Polen von Gesetz und Evangelium orientierten Predigt eröffnen: Zum einen »Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll« (1522) – ein Text, den Luther als Einleitung einer Sammlung seiner Predigten verfasst hat, mit der Absicht, über die Grundsätze Auskunft zu geben, die ihn bei seiner Predigttätigkeit geleitet haben. Zum anderen »Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mose sollen schicken« (1525). Dieser Text, der selber aus einer Predigt hervorgegangen ist, weckt das Bewusstsein dafür, dass eine bloß wörtliche und direkte Übertragung biblischer Weisungen auf die eigene Gegenwart leicht in die Irre führt und die Botschaft des Evangeliums verdunkelt. Philipp Melanchthon (1497–1560), Luthers Freund und Berater, fügt Luthers Beschreibung der Predigtaufgabe vor allem das Moment der Lehre hinzu – kaum verwunderlich bei jenem Manne, der mit guten Gründen als begnadeter Lehrer und Bildungstheoretiker im kirchengeschichtlichen Gedächtnis verbucht wird. Aus seiner Feder stammt auch die wohl wichtigste Bekenntnisschrift der lutherischen Kirche, die »Confessio Augustana« aus dem Jahre 1530. Aus diesem Bekenntnis wurden vier Artikel aufgenommen. Diese Artikel sind vor allem deshalb von Bedeutung für die Predigtlehre, weil sie die Kirche ganz von der Evangeliumsverkündigung her bestimmt sein lassen: Durch das äußere Wort von der Rechtfertigung durch den Glauben an Christus (Artikel IV) schafft Gott, wo und wann er will, den Glauben (Artikel V). Der Kommunikation dieses äußeren Wortes in der Doppelgestalt von Predigt und Sakrament dient die Kirche (Artikel VII) als die Versammlung der Gläubigen. Und die Aufgabe der kirchlichen Amtsträger besteht in der öffentlichen Verkündigung des Evangeliums (Artikel XIV). Für die schweizerisch-reformierte Tradition stehen in unserer Quellensammlung die Texte von Ulrich Zwingli (1484–1531) und Heinrich Bullinger (1504–1575). Es zeigt sich an ihnen die große Nähe zur Theologie Luthers und des Luthertums. Freilich werden auch charakteristische andere Akzente deut-

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lich: Bei Zwingli etwa die starke Betonung der persönlichen Vorbildlichkeit des Predigers, bei Bullinger die vorsichtige Offenheit für den Gedanken, Gott könne ausnahmsweise Menschen auch erleuchten ohne das äußere Wort. Andreas Hyperius (1511–1564), der eigentliche homiletische Theoretiker der Reformation, fügt der Wichtigkeit der Lehre und der ethischen Vorbildlichkeit des Predigers das Moment der Lehrgabe hinzu, die dem Prediger von Gott verliehen worden sein muss, freilich vom Prediger auch in gewisser Weise gepflegt zu werden bedarf: durch Gebet und Berufseifer. Charakteristisch sind für die Predigtlehre des Hyperius ferner die Rezeption der Kategorien der antiken Rhetorik sowie die Betonung der bürgerlichen (also nicht nur theologischen) Bildung des Predigers. Die Sprengkraft der reformatorischen Schriftauslegung dokumentiert auf ihre Weise die abgedruckte Passage des Tridentinischen Konzils: Dem reformatorischen Pathos der Schriftauslegung werden die Autorität der »heiligen Mutter Kirche« und der Konsens der theologischen Väter entgegengesetzt.

Weiterführende Literaturhinweise: Hans Martin Müller, Homiletik. Eine evangelische Predigtlehre, Berlin/New York 1996, S. 45–75. Manfred Josuttis, Theologie des Gottesdienstes bei Luther, in: Friedrich Wintzer, Manfred Josuttis, Dietrich Rössler, Wolfgang Steck (Hg.), Praktische Theologie (Neukirchener Arbeitsbücher), 5., überarbeitete u. erweiterte Aufl., Neukirchen 1997, S. 32–43. Dietrich Rössler, Beispiel und Erfahrung. Zu Luthers Homiletik (1983), in: Ders., Überlieferung und Erfahrung. Gesammelte Aufsätze zur Praktischen Theologie, hg. v. ­Christian Albrecht und Martin Weeber (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 1), Tübingen 2006, S. 20–32. Dietrich Rössler, Der Kirchenbegriff der Praktischen Theologie. Anmerkungen zu CA VII, in: Ders., Überlieferung und Erfahrung. Gesammelte Aufsätze zur Praktischen Theologie, hg. v. Christian Albrecht und Martin Weeber (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 1), Tübingen 2006, S. 181–185. Eilert Herms, Das Evangelium für das Volk. Praxis und Theorie der Predigt bei Luther, in: Ders., Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992, S. 20–55.

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4.1  Martin Luther a. Die »Torgauer Formel«: Der Gottesdienst als ein dialogisches Geschehen  WA 49, 588, 12–22. Predigt am 17. Sonntag nach Trinitatis, bei der Einweihung der Schloßkirche zu Torgau gehalten.

MEin lieben Freunde, Wir sollen itzt dis newe Haus einsegnen und weihen unserm HERrn Jhesu CHRisto, Welches mir nicht allein gebürt und zustehet, Sondern ir solt auch zu gleich an den Sprengel und Reuchfass greiffen, auff das dis newe Haus dahin gericht werde, das nichts anders darin geschehe, denn das unser lieber Herr selbs mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir widerumb mit jm reden durch Gebet und Lobgesang, Darumb, damit es recht und Christlich eingeweihet und gesegnet werde, nicht wie der Papisten Kirchen mit jrem Bischoffs Chresem und reuchern, sondern nach Gottes befehl und willen, Wollen wir anfahen Gottes wort zu hören und zu handlen, Und das solchs fruchtbarlich geschehe auff sein Gebot und gnedige zusagung, mit einander jn anruffen und ein Vater unser sprechen.

b. Viva vox evangelii: Die Predigt als mündliches Wort  Operationes in psalmos (1519–21), in: WA 5, 537, 10 ff., hier zitiert nach BoA 7, S. 3, 26–4,7. [Zu Psalm 17 (18), 45: In auditu auris obedivit mihi] …

» … Alterum mysterium est, in Ecclesia non satis esse libros scribi et legi, sed necessarium esse dici et audiri. Ideo enim Christus nihil scripsit, sed omnia dixit, Apostoli pauca scripserunt, sed plurima dixerunt. Ita cum posset ps. 18 dicere: ›In omnem terram exivit‹ liber eorum, potius dixit: ›Exivit sonus eorum‹ idest viva vox, ›Et in fines orbis terrae‹ non scriptura, sed ›verba eorum‹. Item ›Non sunt loquelae neque sermones, quorum non audiantur voces eorum‹. ›Nota audiantur voces eorum‹, non ait: legantur libri eorum. Novi enim testamenti ministerium non in lapideis et mortuis tabulis est deformatum, sed in vivae vocis sonum positum. Inde et alibi dicit ›deus locutus est in sancto suo‹. Nunc enim loquitur in|4 Ecclesia qui olim scripsit in synagoga, per scripturas sanctas promisit Euangelium, Ro. 1., Sed per verbum vivum perficit et implet Euangelium. Unde magis conandum, ut multi sint concionatores quam boni scriptores in Ecclesia. Quo sensu et Paulus ad Galatas scribit: ›Vellem modo praesens esse apud vos, ut mutarem vocem meam‹, quod multa possint et efficatius voce tractari, quae scriptis non possunt.«

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c. Schmalkaldische Artikel: Die mehrfache Gestalt der Predigt  Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg.im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 101986, S. 449, 6–14.

III. Teil. Falsche Buße der Papisten, Evangelium, Taufe Vom Evangelio

IV. De evangelio.

Wir wollen nu wieder zum Evangelio kommen, welchs gibt nicht einerleiweise Rat und Hulf wider die Sunde; denn Gott ist reich in seiner Gnade: erstlich durchs mundlich Wort, darin gepredigt wird Vergebung der Sunde in alle Welt, welchs ist das eigentliche Ampt des Evangelii, zum andern durch die Taufe, zum dritten durchs heilig Sakrament des Altars, zum vierden durch die Kraft der Schlussel und auch per mutuum colloquium et consolationem fratrum, Matth. 18.: »Ubi duo fuerint congregati« etc.

Nunc ad evangelium redibimus, quod non uno modo consulit et auxi­liatur nobis contra peccatum. Deus enim superabundanter dives et liberalis est gratia et bonitate sua. Primum per verbum vocale, quo iubet praedicari remissionem peccatorum in universo mundo. Et hoc est proprium officium evangelii. Secundo per baptismum. Tertio per venerandum sacramentum altaris. Quarto per potestatem clavium atque etiam per mutuum colloquium et consolationem fratrum, Matthaei 18.: ›Ubi duo aut tres fuerint congregati‹ etc.

d. Gesetz und Evangelium in der christlichen Predigt:   Notwendige Unterscheidungen  Martin Luther, Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll (1522), in: Ders., Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bornkamm u. Gerhard Ebeling. Bd. 2, Frankfurt: Insel-Verlag, 21983, S. 198–205.

Es ist eine feste Gewohnheit, daß man die Evangelien nach den Büchern zählt und nennt und sagt: Es gibt vier Evangelien. Daher ist’s gekommen, daß man nicht weiß, was St. Paulus und Petrus in ihren Briefen sagen, und daß ihre Lehre als Zusatz zur Lehre der Evangelien angesehen wird, wie auch eine Vorrede des Hieronymus sich hören läßt. Danach ist es eine noch schlimmere Gewohnheit, daß man die Evangelien und die Briefe als Gesetzbücher ansieht, worin man lernen soll, was wir tun sollen, und worin uns die Werke Christi

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nicht anders denn als Vorbild vor Augen gestellt werden. Wo nun diese zwei irrigen Meinungen im Herzen bleiben, da kann weder Evangelium noch Brief nützlich und christlich gelesen werden; es bleiben lauter Heiden wie zuvor. Darum soll man wissen, daß es nur ein Evangelium gibt, dies aber durch viele Apostel beschrieben worden ist. Ein jeder Brief des Paulus und Petrus, dazu die Apostelgeschichte des Lukas ist ein Evangelium, auch wenn sie nicht alle Werke und Worte Christi erzählen, sondern das eine sie kürzer und weniger zahlreich als das andere enthält. Ist doch auch von den großen vier Evangelien keines, das alle Worte und Werke Christi enthält – ist auch nicht nötig. Evangelium ist und soll nichts anderes sein als eine Rede oder Geschichte von Christus. Gleichwie es unter den Menschen geschieht, daß man ein Buch von einem König oder Fürsten schreibt, was er zu seiner Zeit getan und geredet und erlitten hat, wie man dies auch auf mancherlei Weise beschreiben kann, der eine länger, der andere kürzer. So soll das Evangelium nichts anderes sein und ist nichts anderes als eine Chronik, Geschichte, Erzählung von Christus: Wer er sei, was er getan, geredet und erlitten habe; welches der eine kurz, der andere lang, der eine so, der andere anders beschrieben hat. Denn aufs kürzeste gesagt ist das Evangelium eine Rede von Christus, daß er Gottes Sohn und für uns Mensch geworden, gestorben und auferstanden und als Herr über alle Dinge|199 gesetzt worden sei. Soviel nimmt St. Paulus sich in seinen Briefen vor und streicht das heraus; alle die Wunder und Lebensumstände, die in den vier Evangelien beschrieben sind, läßt er dahingestellt und schließt doch genügend und reichlich das ganze volle Evangelium ein, wie das im Gruß Röm. 1,1–4 klar und fein zu sehen ist, wo er sagt, was das Evangelium sei, und spricht: »Paulus, ein Knecht Jesu Christi, berufener Apostel und Beauftragter zum Evangelium Gottes, welches dieser zuvor versprochen hat durch seine Propheten in der heiligen Schrift von seinem Sohn, der ihm geboren ist aus dem Samen Davids nach dem Fleisch, der verklärt ist zum Sohn Gottes in der Kraft gemäß dem Geist der Heiligung aufgrund der Auferstehung von den Toten, der da ist Jesus Christus, unser Herr« usw. Da siehst du, daß das Evangelium eine Geschichte ist von Christus, Gottes und Davids Sohn, gestorben und auferstanden und zum Herrn eingesetzt, welches die ganze Summe des Evangeliums ist. Wie es nun nicht mehr als einen Christus gibt, so gibt es und kann es nicht mehr als ein Evangelium geben. Insofern auch Paulus und Petrus nichts anderes als Christus auf die eben genannte Weise lehren, können ihre Briefe nichts anderes als das Evangelium sein. Ja, insofern auch die Propheten das Evangelium verkündigt und von Christus gesprochen haben, wie hier St. Paulus vermeldet und jedermann wohl weiß, ist ihre Lehre eben an dem Ort, wo sie von Christus reden, nichts anderes denn das wahre, reine, rechte Evangelium, als hätte es Lukas oder

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Matthäus niedergeschrieben. So hat z.B. Jesaja, wenn er in Kapitel 53 sagt, wie er für uns sterben und unsere Sünde tragen sollte, das reine Evangelium geschrieben. Und ich sage fürwahr: Wer sich nicht diese Auffassung vom Evangelium zu eigen macht, der wird nie in der Schrift Erleuchtung erhalten noch den rechten Grund finden. Zum zweiten: Daß du nicht aus Christus einen Mose|200 machst, als biete er nicht mehr denn Lehre und gebe Beispiele, wie es die anderen Heiligen tun, als sei das Evangelium ein Lehr- oder Gesetzbuch! Darum sollst du Christi Wort, Werk und Leiden auf zweierlei Weise auffassen. Einmal als Vorbild, das dir vor Augen gestellt wird; dem sollst du folgen und auch so tun, wie St. Petrus sagt, 1. Petr. 2,21: »Christus hat für uns gelitten und hat uns damit ein Vorbild hinterlassen.« Ganz wie du ihn beten, fasten, den Leuten helfen und Liebe erzeigen siehst, so sollst du auch tun im Blick auf dich und deinen Nächsten. Aber das ist das wenigste am Evangelium, wonach es auch noch nicht Evangelium heißen kann. Denn damit ist Christus dir nichts weiter nutz denn ein anderer Heiliger. Sein Leben bleibt bei ihm und hilft dir doch nichts, und kurzum: Diese Weise macht keinen Christen, es macht nur Heuchler; es muß noch sehr viel weiter mit dir kommen. Wiewohl jetzt lange Zeit hindurch dies die allerbeste (und dennoch selten geübte) Predigtweise gewesen ist. Das Hauptstück und der Grund des Evangeliums ist, daß du Christus, ehe du ihn zum Vorbild nimmst, zuvor entgegennehmest und erkennest als eine Gabe und ein Geschenk, das dir von Gott gegeben und dein eigen sei. So daß du, wenn du ihm zusiehst oder hörst, daß er etwas tut oder leidet, nicht zweifelst, er selbst, Christus, sei mit solchem Tun und Leiden dein, und darauf könnest du dich nicht weniger verlassen, als wenn du es getan hättest, ja, als wenn du eben dieser Christus wärest. Sieh, das heißt das Evangelium recht erkannt, das ist: die überschwengliche Güte Gottes, die kein Prophet, kein Apostel, kein Engel je ganz hat aussagen, kein Herz je genug hat bestaunen und begreifen können. Das ist das große Feuer der Liebe Gottes zu uns, davon wird das Herz und Gewissen froh, sicher und zufrieden; das heißt den christlichen Glauben gepredigt. Davon heißt solche Predigt »Evangelium«, das bedeutet auf deutsch soviel wie eine fröhliche,|201 gute, tröstliche Botschaft; nach dieser Botschaft werden die Apostel »zwölf Boten« genannt. Daher sagt Jesaja 9,6: »Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben.« Ist er uns gegeben, so muß er unser sein, so müssen wir uns auch seiner als des Unseren annehmen. Und Röm. 8,32 heißt es: »Wie hätte er uns nicht alle Dinge geben sollen mit seinem Sohn?« Sieh, wenn du auf solche Weise Christus annimmst als Gabe, dir zu eigen gegeben, und nicht daran zweifelst, so bist du ein Christ. Dieser Glaube erlöst dich von Sünden, Tod und Hölle, macht, daß du alle Dinge überwindest. Ach, davon kann niemand genug reden; da muß man

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klagen, daß solche Predigt in der Welt verschwiegen bleibt, obwohl alle Tage das Evangelium gerühmt wird. Wenn du nun Christus so als Grund und Hauptgut deiner Seligkeit hast, dann folgt daraus das andere: daß du ihn auch zum Vorbild nehmest, dich auch deinem Nächsten ebenso zum Dienst ergebest, wie du siehst, daß er sich dir ergeben hat. Sieh, da gehen denn Glaube und Liebe im Schwang, da ist Gottes Gebot erfüllt und der Mensch fröhlich und unerschrocken, alle Dinge zu tun und zu leiden. Darum sieh nur recht darauf: Christus als Gabe nährt deinen Glauben und macht dich zum Christen. Aber Christus als Vorbild übt dich in Werken. Die machen dich nicht zum Christen, sondern sie gehen von dir aus als einem, der schon zuvor zum Christen gemacht ist. So weit wie Gabe und Exempel sich nun unterscheiden, so weit unterscheiden sich auch Glaube und Werke. Der Glaube hat nichts Eigenes, sondern nur Christi Werk und Leben. Die Werke haben etwas Eigenes von dir, sollen aber auch nicht dein Eigentum, sondern das des Nächsten sein. Darum siehst du: »Evangelium« ist eigentlich nicht ein Buch der Gesetze und Gebote, das von uns unser Tun forderte, sondern ein Buch der göttlichen Verheißungen, in dem er uns alle seine Güter und Wohltaten in Christus|202 verheißt, anbietet und gibt. Daß aber Christus und die Apostel viele gute Lehren geben und das Gesetz auslegen, ist unter die Wohltaten zu rechnen wie ein anderes Werk Christi, denn recht lehren ist die geringste Wohltat nicht. Darum sehen wir auch, daß er nicht greulich drängt und treibt, wie es Mose in seinem Buch tut und es die Art des Gebotes ist, sondern lieblich und freundlich lehrt, nur sagt, was zu tun und zu lassen sei, wie es den Übeltätern und Wohltätern ergehen werde, niemanden treibt und zwingt. Ja, er lehrt auch so sanft, daß er mehr anspornt denn gebietet, hebt an und sagt: »Selig sind die Armen, selig sind die Sanftmütigen« usw. (Matth.  5,3.5). Und die Apostel gebrauchen auch gemeinhin die Worte: Ich vermahne, ich bitte, ich flehe usw. Aber Mose, der spricht: Ich gebiete, ich verbiete; droht und schreckt daneben mit greulicher Strafe und Pein. Nach dieser Unterrichtung kannst du mit Nutzen die Evangelien lesen und hören. Wenn du nun das Evangelienbuch auftust, liest oder hörst, wie Christus hierhin oder dahin kommt oder jemand zu ihm gebracht wird, sollst du dadurch die Predigt oder das Evangelium vernehmen, durch welches er zu dir kommt oder du zu ihm gebracht wirst. Denn das Evangelium predigen ist nichts anderes, als Christus zu uns kommen lassen oder uns zu ihm bringen. Wenn du aber siehst, wie er wirkt und jedermann hilft, zu dem er kommt und der zu ihm gebracht wird, sollst du wissen, daß der Glaube solches in dir wirke und Christus deiner Seele eben diese Hilfe und Güte durchs Evangelium anbietet. Hältst du hier still

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und läßt dir Gutes tun – das heißt: wenn du es glaubst, daß er dir wohltue und helfe –, so hast du es gewiß, so ist Christus dein und dir als Gabe geschenkt. Danach ist’s nötig, daß du ein Vorbild daraus machst und deinem Nächsten auch so hilfst und tust, auch ihm als Gabe und Vorbild gegeben bist. Davon sagt Jes.  40,1 f.: »Seid getrost, seid getrost, mein liebes Volk,|203 spricht euer Herr Gott. Redet Jerusalem zu Herzen und ruft ihr zu: Ihre Sünde ist ihr vergeben, ein Ende hat ihre Missetat, sie hat zwiefaches Gut empfangen von der Hand Gottes für alle ihre Sünde.« Diese zwiefachen Güter sind die zwei Stücke in Christus: Gabe und Vorbild. Sie sind auch bezeichnet durch die zweierlei ­Stücke des Erbes, die das Gesetz Moses dem erstgeborenen Sohn zueignet (5.  Mose 21,17), und durch viele andere bildartige Hinweise. Freilich ist es Sünd und Schande, daß es mit uns Christen soweit gekommen ist und wir so nachlässig im Evangelium gewesen sind, daß wir’s nicht allein nicht verstehen, sondern zuallererst nötig haben, daß man uns mit anderen Büchern und Auslegungen zeige, was darin zu suchen und zu erwarten sei. Sind doch die Evangelien und die Briefe der Apostel deshalb geschrieben, weil sie selbst solche Zeiger sein und uns in die Schriften der Propheten und des Mose im Alten Testament weisen wollen. Dort sollen wir selbst lesen und sehen, wie Christus in die Windeln gewickelt und in die Krippe gelegt ist, das meint: wie er in den Schriften der Propheten enthalten ist. Da sollte unser Studieren und Lesen sich üben und sehen, was Christus sei, wozu er gegeben sei, wie er zuvor versprochen sei und wie sich alle Schrift auf ihn beziehe, wie er selbst sagt Joh.  5,46: »Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir, denn von mir hat er geschrieben«; und: »Forschet und suchet in der Schrift, denn diese ist’s, die von mir Zeugnis gibt.« (Joh. 5,39) Das meint St. Paulus in Röm. 1,2, wo er am Anfang im Gruß sagt, das Evangelium sei von Gott zuvor versprochen durch die Propheten in der heiligen Schrift. Daher geschieht’s, daß die Evangelisten und Apostel uns immerdar in die Schrift weisen und sprechen: »So steht’s geschrieben«; und: »Das ist geschehen, damit die Schriften der Propheten erfüllt würden« usw. Und Apg. 17,11, da die Thessalonicher das Evangelium mit ganzem Verlangen hörten, sagt Lukas,| 204 daß sie Tag und Nacht in der Schrift studiert und geforscht haben, ob es so wahr wäre. Ebenso spricht St. Petrus bei der Niederschrift seines Briefs mitten im Anfangsteil: »Nach diesem eurem Heil haben die Propheten sich erkundigt, die von dieser Gnade in euch geweissagt haben, und geforscht, auf welche oder was für eine Zeit der Geist Christi hinzeigte, der in ihnen war und durch sie die Leiden, die in Christus sind, und die nachfolgende Herrlichkeit vorherverkündigte; ihnen ist es auch geoffenbart, denn nicht für sich selbst, sondern für uns haben sie solche Dinge kundgetan, welche jetzt unter euch gepredigt worden sind durch den heiligen Geist, der vom Himmel gesandt ist

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– Dinge, welche selbst die Engel zu schauen begehren.« (1. Petr. 1,10–12) Was will St. Petrus hiermit anderes, als uns in die Schrift hineinführen? Als wollte er sagen: Wir predigen und öffnen euch die Schrift durch den heiligen Geist, so daß ihr selbst lesen und sehen könnt, was drinnen ist und von welcher Zeit die Propheten geschrieben haben; wie er auch Apg.  3,24 sagt: »Von diesen Tagen haben geredet alle Propheten seit Samuel, die je geweissagt haben.« Darum spricht auch Lukas, daß Christus den Aposteln das Verständnis aufgetan habe, so daß sie die Schrift verstanden (Luk. 24,45). Und Christus sagt Joh. 10,2 ff., er sei die Tür, durch ihn müsse man hineingehen; und wer durch ihn hineingeht, dem tut der Türwächter (der heilige Geist) auf, daß er Weide und Seligkeit findet. So daß sich am Ende bewahrheitet, daß das Evangelium selbst Zeiger und Wegleiter in die Schrift ist, wie auch ich mit dieser Vorrede gerne das Evangelium zeigen und eine Anleitung geben wollte. Aber sieh nur, was für feine, zarte, fromme Kinder wir sind: Damit wir nicht in der Schrift zu studieren und Christus dort kennenzulernen brauchen, halten wir das ganze Alte Testament für nichts, für etwas, das nun aus sei und nichts mehr gelte. Dabei trägt es doch allein den Namen »heilige Schrift«, und »Evangelium« sollte eigent-|205 lich nicht Schrift, sondern mündliches Wort sein, das die Schrift zu uns hinbrächte, wie es Christus und die Apostel getan haben. Darum hat auch Christus selbst nichts geschrieben, sondern nur geredet, und seine Lehre nicht Schrift, sondern Evangelium, das meint: eine gute Botschaft oder Verkündigung, genannt, die nicht mit der Feder, sondern mit dem Mund verbreitet werden sollte. Und so fahren wir nun zu und machen aus dem Evangelium ein Gesetzbuch, eine Gebotslehre, aus Christus einen Mose, aus dem Helfer einen bloßen Lehrer. Was sollte Gott nicht über ein solch dummes, verkehrtes Volk verhängen? Es ist recht und billig, daß er uns in des Papstes Lehre und in Menschenlügen hat abgleiten lassen, da wir seine Schrift fahren ließen und anstelle der heiligen Schrift die Dekretalen eines lügenhaften Narren und bösen Betrügers lernen mußten. O wollte Gott, daß doch bei den Christen das lautere Evangelium bekannt wäre und diese meine Arbeit nur schleunigst nutzlos und unnötig würde, so wäre gewiß Hoffnung, daß auch die heilige Schrift wieder hervor und zu ihrer Würde käme. Das sei genug zur Vorrede und Unterweisung aufs kürzeste gesagt; in der Auslegung wollen wir mehr davon sagen. Amen.

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e. Der Gebrauch des Alten Testaments in der christlichen Predigt:   Gründe und Grenzen  Martin Luther, Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mose sollen schicken (1525), in: Ders., Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bornkamm u. Gerhard Ebeling. Bd. 2, Frankfurt: Insel-Verlag, 21983, S. 207–224.

Liebe Freunde, ihr habt oft gehört, daß keine öffentliche Predigt je vom Himmel herab ergangen sei außer zweimal nur. Wohl hat Gott sonst oft durch und mit Menschen auf Erden geredet, wie etwa durch und mit den heiligen Erzvätern Adam, Noah, Abraham, lsaak, Jakob und anderen mehr bis zu Mose. Aber durch diese und mit diesen hat er nicht mit solcher herrlichen Pracht und äußerlichem Wesen oder öffentlichem Geschrei und Ausrufen geredet, wie er es diese zwei Male getan hat. Sondern er hat ihnen innerlich das Herz erleuchtet und durch ihren Mund geredet, wie es Zacharias, der Vater Johannes des Täufers, in seinem Gesang kundtut, wo er spricht: »Wie er vorzeiten geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten.« (Luk. 1,70) Die erste Predigt nun steht im zweiten Buch Mose, wo Gott sich selber vom Himmel herab mit großer Pracht und herrlicher Gewalt hat hören lassen zu der Zeit, als er dem Volk Israel das Gesetz gab mit Donnern und Blitzen, mit Rauchdampf und sehr starken Posaunen, so daß das Volk alles hörte und darüber erzitterte und erschrak (2. Mose 19,16). Sodann hat Gott noch eine zweite öffentliche Predigt ausgehen lassen durch den heiligen Geist am Pfingsttag. Denn damals kam der heilige Geist auch mit großer Pracht und äußerlichem Ansehen, so nämlich, daß »ein schnelles Brausen nach Art eines gewaltigen Windes vom Himmel kam und das ganze Haus erfüllte, worin die Jünger saßen. Und man sah an ihnen ihre Zungen zerteilt und als wären sie feurig, und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und alle wurden voll des heiligen Geistes und fingen an, mit anderen Zungen zu predigen und zu reden.« (Apg. 2,2–4) Das geschah mit großer Pracht und herrlicher Gewalt, so daß die Apostel danach so gewaltig predigten, daß die Predigten, die jetzt in der Welt ergehen, kaum ein Schatten gegen ihre Predigten sind, nämlich nach äußerlichem Prunk und Wesen. Denn sie rede-|208 ten in allen möglichen Zungen und taten große Wunderzeichen, wie das Lukas in der Apostelgeschichte beschreibt. Aber durch die jetzigen Prediger läßt Gott sich weder hören noch sehen; es geht nicht öffentlich zu, nicht vom Himmel herab. Darum habe ich gesagt: Es gibt nur zwei besondere und öffentliche Predigten, die man gesehen und gehört hat vom Himmel herab ergehen. Wiewohl Gott der Vater mit Christus auch vom Himmel herab redete, als dieser im Jordan getauft wurde, und auf dem Berg Tabor. Aber das geschah nicht vor der Gemeinde.

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Die zweite Predigt, die zuvor durch den Mund und in den Büchern der heiligen Propheten angekündigt war, wollte er in die Welt senden. Solcherart wird er nicht mehr öffentlich mit Predigten reden, sondern beim dritten Mal wird er selber persönlich kommen mit göttlicher Herrlichkeit, so daß alle Kreaturen vor ihm zittern und beben werden. Und er wird ihnen nicht mehr predigen, sondern sie werden ihn selber sehen und fühlen. Die erste Predigt und Lehre ist das Gesetz Gottes, die zweite ist das Evangelium. Diese zwei Predigten kommen nicht aufs gleiche heraus. Darum muß man ein gutes Verständnis dafür haben, daß man sie zu unterscheiden verstehe und wisse, was das Gesetz sei und was das Evangelium. Das Gesetz gebietet und fordert von uns, was wir tun sollen, es ist allein auf unser Tun gerichtet und besteht im Fordern. Denn Gott spricht durch das Gesetz: Tu das, laß das, das will ich von dir haben. Das Evangelium aber predigt nicht, was wir tun oder lassen sollen, fordert nichts von uns, sondern wendet es um, tut das Gegenteil und sagt nicht: Tu dies, tu das, sondern heißt uns nur den Schoß hinhalten und nehmen und spricht: Sieh, lieber Mensch, das hat dir Gott getan, er hat seinen Sohn für dich ins Fleisch gesteckt, hat ihn um deinetwillen erwürgen lassen und dich von Sünde, Tod, Teufel und Hölle|209 errettet: das glaube und nimm es an, so wirst du selig. So gibt es zweierlei Lehre und zweierlei Werke: Gottes und des Menschen. Und wie wir und Gott voneinander unterschieden sind, so sind auch die zwei Lehren voneinander unterschieden. Denn das Evangelium lehrt allein, was uns von Gott geschenkt ist, nicht was wir Gott geben und tun sollen, wie das Gesetz zu tun pflegt. Hier wollen wir sehen, wie die erste Predigt erschollen sei und mit welcher Pracht Gott auf dem Berg Sinai das Gesetz gegeben habe. Er hat sich den Ort besonders deshalb erwählt, weil er da hat gesehen und gehört werden wollen. Nicht daß Gott so auch geredet habe, denn er hat keinen Mund, keine Zungen oder Lippen wie wir. Aber der, der den Mund aller Menschen geschaffen und gemacht hat, kann auch die Sprache und Stimme machen. Denn niemand könnte ein Wort reden, Gott gäbe es ihm denn zuvor; wie der Prophet sagt, es wäre unmöglich zu reden, Gott gäbe es uns denn zuvor in den Mund. So ist die Sprache, Rede und Stimme eine Gabe Gottes wie andere Gaben, wie z.B. die Frucht an den Bäumen. Der nun, welcher den Mund geschaffen hat und die Sprache in ihn legt, kann auch die Sprache machen, obschon kein Mund vorhanden ist. Die Worte nun, die hier bei Mose geschrieben stehen, sind durch einen Engel geredet worden. Nicht daß ein Engel allein dagewesen wäre, sondern es war eine große Menge und ein unzähliges Heer, die Gott gedient und auf dem Berg Sinai vor dem Volk Israel gepredigt haben. Der Engel aber, der hier geredet hat und das Wort führte, redete, wie wenn Gott selber redete und spräche: »Ich

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bin der Herr dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthaus geführt habe« usw. (2. Mose 20,1); wie wenn Petrus oder Paulus an Gottes Statt redeten und sprächen: »Ich bin euer Gott, der ich euch selig machen will durch meinen allerliebsten Sohn« usw. Paulus spricht zu den Galatern, daß das Gesetz durch die Engel angeordnet sei (Gal. 3,19). Das heißt: Es sind|210 Engel verordnet gewesen, damit sie an Gottes Statt dem Volk Israel das Gesetz Gottes gäben und Mose es als ein Mittler von den Engeln empfangen sollte. Das sage ich dazu, daß ihr wißt, wer das Gesetz gegeben habe. Er hat es aber alles deshalb getan, weil er die Juden damit zwingen, fassen und herbeitreiben wollte. Was das aber für eine Stimme gewesen sei, könnt ihr euch gewiß denken. Es ist eine Stimme wie eines Menschen Stimme gewesen, so daß man sie gut gehört hat; die Silben und Buchstaben haben daher geklungen, daß es das leibliche Ohr hat fassen können. Es ist aber eine kräftige, herrliche und große Stimme gewesen, wie im 5. Buch Mose steht, wo er spricht, daß sie die Stimme gehört und keinen Menschen gesehen haben, sondern sie haben eine starke Stimme gehört (5. Mose 4,12), denn er hat eine starke Stimme geführt. Wie wenn wir im Dunkeln eine Stimme von einem hohen Turm oder Dach hörten und doch niemanden sähen, sondern hörten allein eine starke Stimme wie von einem Mann. Und darum wird sie auch Stimme Gottes genannt, weil sie über eine menschliche Stimme hinausgegangen ist. Nun werdet ihr hören, wieso Gott sich zu der Stimme angeschickt hat, mit der er sein Volk bewegen und munter machen wollte. Er hatte nämlich im Sinn, das äußere geistliche Regiment anzufangen. Denn zuvor hat der Text gesagt, wie Mose auf Rat seines Schwagers Jethro das weltliche Regiment eingesetzt, Hauptleute und Richter verordnet hat. Darüber hinaus gibt es noch ein geistliches Regiment, in welchem Gott in den Herzen der Menschen regiert. Und dieses Reich kann man nicht sehen, denn es besteht allein im Glauben und wird währen bis zum Jüngsten Tag. Das sind nun zwei Reiche: Das weltliche, das mit dem Schwert regiert und äußerlich sichtbar ist; das geistliche, das allein mit Gnade und Vergebung der Sünde regiert, und dieses Reich sieht man nicht mit leiblichen Augen,|211 sondern es wird allein mit dem Glauben erfaßt. Zwischen diesen beiden Reichen ist noch ein anderes Reich in die Mitte gesetzt, halb geistlich und halb weltlich. Das legt die Juden fest mit Geboten und äußerlichen Zeremonien, wie sie sich gegen Gott und die Menschen vor der Welt in äußerlichem Gebaren verhalten sollen.

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Das Gesetz Moses bindet nicht die Heiden, sondern allein die Juden Das Gesetz Moses geht die Juden an, es bindet uns somit von vornherein nicht mehr. Denn dieses Gesetz ist allein dem Volk Israel gegeben; Israel hat es für sich und seine Nachkommen angenommen, und die Heiden sind hier ausgeschlossen. Wiewohl die Heiden auch etliche Gesetze mit den Juden gemeinsam haben, wie etwa daß es einen Gott gebe, daß man niemandem ein Leid antue, daß man nicht ehebreche oder stehle und dergleichen andere mehr. Das alles ist ihnen von Natur ins Herz geschrieben, und sie haben’s nicht vom Himmel herab gehört wie die Juden. Darum geht dieser ganze Text die Heiden nicht an. Das sage ich um der Schwarmgeister willen, denn ihr seht und hört, wie sie Mose lesen. Sie berufen sich kräftig auf ihn und bringen vor, wie Mose das Volk mit Geboten regiert habe, wollen klug sein, wollen Weiteres wissen als was im Evangelium enthalten ist, achten den Glauben für zu wenig, bringen etwas Neues auf, rühmen sich und geben vor, es stehe im Alten Testament, wollen nach dem Buchstaben des Gesetzes Moses das Volk regieren, als ob man’s zuvor nie gelesen hätte. Das wollen wir aber nicht zugestehen. Ich wollte eher mein Leben lang nicht mehr predigen, ehe ich Mose wieder einlassen und Christus uns aus dem Herzen reißen lassen wollte. Wir wollen Mose nicht zum Regenten oder Gesetzgeber mehr haben, ja, auch Gott selber will es nicht haben. Mose ist ein Mittler|212 und Gesetzgeber allein des jüdischen Volkes gewesen: denen hat er das Gesetz gegeben. Man muß den Rottengeistern folgendermaßen das Maul stopfen. Wenn sie sagen: So spricht Mose, da steht’s bei Mose geschrieben und dergleichen, so sprich du: Mose geht uns nicht an. Wenn ich Mose in einem Gebot annehme, so muß ich den ganzen Mose annehmen. Somit würde daraus folgen: Wenn ich Mose als Meister und Gesetzgeber annehme, so müßte ich mich beschneiden lassen, nach jüdischer Weise die Kleider waschen und ebenso essen und trinken, mich kleiden und jenes ganze Wesen einhalten, wie es den Juden im Gesetz geboten war. Auf solche Weise wollen wir Mose nicht halten noch annehmen. Mose ist tot, sein Regiment ist aus gewesen, als Christus kam; seither gilt er nicht. Daß aber Mose die Heiden nicht binde, kann man aus dem Text im zweiten Buch Mose beweisen, wo Gott selber spricht: »Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthaus, geführt habe.« (2.  Mose 20,2) Aus diesem Text ersehen wir klar, daß selbst die zehn Gebote uns nicht angehen. Denn er hat ja nicht uns aus Ägypten geführt, sondern allein die Juden. Die Rottengeister wollen uns Mose mit allen Geboten auf den Hals legen. Das wollen wir sein lassen. Mose wollen wir für einen Lehrer halten, aber für unsern Gesetzgeber wollen wir ihn nicht halten, es sei denn, daß er mit dem Neuen Testament und dem natürlichen Gesetz übereinstimme. Darum ist es

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klar genug, daß Mose der Juden Gesetzgeber ist und nicht der Heiden. Denn in diesem Text hat Mose den Juden ein besonderes Zeichen gegeben, bei welchem sie Gott ergreifen sollen: wenn sie ihn als den Gott anrufen, der sie aus Ägyptenland geführt hat. Die Christen haben ein anderes Zeichen, bei welchem sie Gott fassen als den, der ihnen seinen Sohn »zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und Heiligung und zur Erlösung gemacht« hat (1. Kor. 1,30). |213 Weiter kann man es mit dem dritten Gebot bewahrheiten, daß Mose weder die Heiden noch die Christen angeht. Denn Paulus und das Neue Testament heben den Sabbat auf, so daß man mit Händen greifen kann, daß der Sabbat den Juden allein gegeben ist, denen dies ein strenges Gebot war. Auch die Propheten haben darauf verwiesen, daß der Juden Sabbat aufgehoben werden sollte. Jesaja spricht: »Wenn der Heiland kommen wird, so wird eine solche Zeit sein: ein Sabbat am andern, ein Neumond am andern« usw. (Jes.  66,23). Als wollte er sagen: Es wird alle Tage Sabbat sein, es wird ein solches Volk sein, das keinen Unterschied zwischen den Tagen haben wird. Denn im Neuen Testament ist der Sabbat nach der groben, äußerlichen Weise hinfällig, denn es ist alle Tage heiliger Tag usw. Wenn dir nun einer Mose mit seinen Geboten vorhält und dich drängen will, diese zu halten, so sprich: Geh hin zu den Juden mit deinem Mose. Ich bin kein Jude, laß mich unbehelligt mit Mose. Wenn ich Mose in einem Stück annehme (spricht Paulus Gal. 5,3), so bin ich schuldig, das ganze Gesetz zu halten. Denn kein Pünktlein geht uns an bei Mose. Möchte nun einer sagen: Warum predigst du denn Mose, wenn er uns nicht angeht? Antwort: Darum will ich Mose behalten und nicht unter die Bank stecken, weil ich dreierlei bei Mose finde, das uns auch nützlich sein kann. Zum ersten: Die dem Volk Israel gegebenen Gebote, die das äußerliche Wesen betreffen, laß ich fahren; sie zwingen und dringen mich nicht. Diese Gesetze sind tot und abgetan, außer sofern ich sie gern und willig aus Mose annehmen will. Wie wenn ich spräche: So hat Mose regiert, es dünkt mich gut zu sein, ich will ihm in dem oder jenem Stück folgen. Ich wollte wohl gerne, daß die Herren nach dem Vorbild Moses regierten. Und wenn ich Kaiser wäre, würde ich ein Vorbild für Gesetze daraus|214 nehmen. Nicht daß mich Mose zwingen dürfte, sondern daß mir’s frei stünde, es ihm nachzutun und solch ein Regiment zu führen wie er regiert hat, etwa mit der Abgabe des Zehnten; das ist ein wirklich feines Gebot. Denn mit dem Zehnten würden alle anderen Zinse aufgehoben. Und es wäre auch für den gemeinen Mann erträglicher, den Zehnten zu geben als Rente und Pachtzins. Wenn ich beispielsweise zehn Kühe hätte, gäbe ich eine, hätte ich fünf, gäbe ich nichts. Wenn mir wenig auf dem Feld wüchse, gäbe ich wenig, wenn mir viel wüchse, gäbe ich viel; das stünde in Gottes Gewalt. Aber so muß ich die heidnischen Zinse geben, und sollte gleich der Hagel alle

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Früchte erschlagen. Bin ich hundert Gulden Zinse schuldig, so muß ich’s geben, selbst wenn keine Frucht auf dem Feld wüchse. Das ist auch des Papstes Dekret und Regiment. Es ginge aber gerechter zu, wenn es so geordnet wäre: Wenn mir viel wüchse, daß ich viel gäbe, wenn mir wenig wüchse, daß ich wenig gäbe. Weiter: In Mose ist auch enthalten, daß keiner einen Acker als ein ewiges Erbgut verkaufen durfte, sondern allein bis zum Halljahr oder Jubeljahr. Und wenn dieses Jahr kam, so kam ein jeder wieder zu seinem Acker oder seinen Gütern, die er verkauft hatte, und so blieben die Güter in der Familie (3.Mose 25). So gibt es noch andere über die Maßen schöne Gebote bei Mose, die man annehmen, gebrauchen und im Schwange gehen lassen könnte. Nicht daß man dadurch zwingen oder gezwungen werden dürfte, sondern (wie ich vorhin gesagt habe) der Kaiser könnte sich ein Vorbild daraus nehmen, aus Mose ein feines Regiment einzurichten, wie auch die Römer ein feines Regiment geführt haben und wie auch der Sachsenspiegel eines ist, an den man sich hierzulande hält. Die Heiden sind Mose keinen Gehorsam schuldig. Mose ist der Juden Sachsenspiegel. Wenn aber solcherart ein gutes Vorbild fürs Regieren daraus genommen würde, könnte man dieses ungezwungen beibehalten, so lange|215 man wollte. Ebenso steht bei Mose folgendes: Wenn einer ohne Kinder starb, so sollte der Bruder oder der nächste Verwandte die Frau heimführen und zur Hausfrau haben und dem verstorbenen Bruder oder Verwandten Nachkommen zeugen, und das erste Kind wurde dem verstorbenen Bruder oder Verwandten zugerechnet (5. Mose 25,5 f.). Und das ist auch ein feines Gebot. Dergleichen Gebote gibt es noch viel mehr bei Mose, die könnte man alle zu einem feinen Regiment herausklauben und dadurch Land und Leute ordentlich und ehrlich regieren. Wenn nun die Rottengeister kommen und sprechen: Mose hat es geboten, so laß du Mose fahren und sprich: Ich frage nicht nach dem, was Mose geboten hat. Ja, sprechen sie, er hat geboten, man solle nur einen Gott haben, solle dem trauen und glauben, nicht bei seinem Namen schwören, Vater und Mutter ehren, nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen, nicht falsches Zeugnis geben, nicht eines andern Weib noch Gut begehren – soll man denn das nicht halten? Dann sprich so: Die Natur hat diese Gesetze auch. Die Natur gibt Weisung, daß man Gott anrufen soll, das bekunden auch die Heiden. Denn es ist nie ein Heide gewesen, der nicht seine Götter angerufen hat, wiewohl sie den rechten Gott verfehlt haben, wie auch die Juden. Denn die Juden haben auch Abgötterei gehabt wie die Heiden, nur daß die Juden das Gesetz empfangen haben. Die Heiden aber haben’s ins Herz geschrieben, und es gibt keinen Unterschied, wie auch St. Paulus im Römerbrief kundtut: »Die Heiden, die kein Gesetz haben, die haben das Gesetz in ihrem Herzen geschrieben.« (Röm. 2,14 f.) Wie aber die Juden irren, so irren auch die Heiden. Und deshalb ist es der Natur gemäß: Gott ehren, nicht stehlen, nicht ehebrechen, nicht falsches Zeugnis geben, nicht tot-

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schlagen. Es ist nicht neu, was Mose gebietet. Denn was Gott den Juden durch Mose vom Himmel gegeben hat, das hat er auch in aller Men-|216 schen Herzen, der Juden sowohl wie der Heiden, geschrieben, nur daß er’s den Juden als seinem eigenen erwählten Volk zum Überfluß auch mit leiblicher Stimme und Schrift hat aufschreiben und verkündigen lassen. So halte ich nun die Gebote, die Mose gegeben hat, nicht deshalb, weil Mose sie geboten hat, sondern weil sie mir von Natur eingepflanzt sind und Mose hier ganz mit der Natur übereinstimmt usw. Aber die anderen Gebote bei Mose, die nicht von Natur allen Menschen eingepflanzt sind, halten die Heiden nicht, gehen sie auch nicht an, wie etwa die vom Zehnten und anderem, die doch auch schön sind; ich wollte, wir hätten sie auch, wie ich gesagt habe. Das ist nun das erste, das ich bei Mose sehen soll, nämlich die Gebote, zu welchen ich in nichts verpflichtet bin, außer sofern sie einem jeden von Natur eingeprägt und in sein Herz geschrieben sind. Das zweite Stück, das bei Mose zu beachten ist Zum zweiten finde ich bei Mose, was ich aus der Natur nicht habe. Das sind nun die Verheißungen und Zusagen Gottes in Christus. Und das ist im Grunde das Beste am ganzen Mose; etwas, das nicht von Natur in die Herzen der Menschen geschrieben ist, sondern vom Himmel herabkommt. Wie dies: daß Gott verheißen hat, daß sein Sohn ins Fleisch geboren werden sollte. Das verkündigt uns das Evangelium. Und das sind nun nicht Gebote, fordern auch nichts von uns, daß wir etwas tun oder lassen sollen, sondern es sind tröstliche, fröhliche Verheißungen Gottes, die wir annehmen und auf die wir uns kecklich verlassen sollen wider alle Anfechtungen der Sünde, des Todes, des Teufels und der Hölle. Und das ist das Wichtigste bei Mose, welches uns Heiden auch angehört. Das erste, die Gebote nämlich,|217 gehen uns nicht an. Aber das zweite sollen wir von Herzen wahrnehmen und Mose deshalb lesen, weil so treffliche Zusagen darin geschrieben stehen, mit denen ich meinen schwachen Glauben stärken kann. Denn so geht es im Reich Christi zu, wie ich’s bei Mose lese; dort finde ich auch den rechten Grund. Und eben auf diese Weise soll ich Mose annehmen und nicht unter die Bank stecken: Zum ersten, weil er schöne Beispiele von Gesetzen gibt, die daraus entnommen werden mögen, um äußerlich Land und Leute fein ordentlich zu regieren. Zum zweiten sind darin die Zusagen Gottes, mit denen der Glaube gestärkt und erhalten wird. So wenn Gott zu der Schlange sagt, wie im ersten Buch Mose geschrieben steht: »Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; dieser soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse beißen.« (1.  Mose 3,15) Das ist das erste

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Evangelium und die erste Verheißung, die auf Erden von Christus ergangen ist, daß er Sünde, Tod und Hölle überwinden und uns aus der Gewalt der Schlange erretten sollte. Daran glaubte Adam mit allen seinen Nachkommen, davon ist er auch Christ geworden und gerettet worden aus seinem Fall. Desgleichen wurde Abraham diese Zusage von Gott gegeben, wie ebenfalls im ersten Buch Mose steht, wo er so zu ihm sagte: »Durch deinen Namen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden.« (1. Mose 22,18) Das war das zweite Evangelium von Christus, daß durch ihn alle Menschen gesegnet und selig werden sollen, wie es St. Paulus im Brief an die Galater auslegt (Gal. 3,8 ff.). Weiter spricht Mose im fünften Buch zu dem Volk Israel: »Einen Propheten wie mich wird der Herr, dein Gott, dir aus dir und aus deinen Brüdern erwecken, dem sollt ihr gehorchen, wie du denn von dem Herrn, deinem Gott, am Horeb erbeten hast am Tag der Versammlung.« Und gleich danach gibt Mose die Worte, die Gott zu ihm geredet hat, so wieder: »Ich will ihnen|218 einen Propheten, wie du bist, aus ihren Brüdern erwecken und meine Worte in seinen Mund geben, der soll zu ihnen alles reden, was ich ihm gebieten werde. Und wer meine Worte nicht hören wird, die er in meinem Namen reden wird, von dem will ich’s fordern.« (5.Mose 18,15 f.18 f.) Das ist alles von Christus gesagt, daß er eine neue Predigt auf die Erde bringen sollte. Im Alten Testament sind viele derartige Sprüche, an die sich die gläubigen Juden gehalten haben und welche die heiligen Apostel oft verwendeten und anführten. Aber unsere Rottengeister fahren zu; bei allem, was sie in Mose lesen, sprechen sie: Da redet Gott, das kann niemand leugnen, darum muß man’s halten. Da fällt denn der Pöbel ein: Hui, hat es Gott geredet, wer will dawiderreden? Da werden sie denn herbeigetrieben wie die Schweine über den Trog. Unsere lieben Propheten haben es dem Volk so vorgeplappert: Liebes Volk, Gott hat sein Volk geheißen, daß sie die Amalekiter totschlagen sollten, und andere Sprüche mehr. Daraus ist Jammer und Not gekommen; da sind die Bauern aufgestanden, haben keinen Unterschied gewußt, sind derart von den tollen Rottengeistern in diesen Irrtum geführt worden. Wenn da gelehrte Prediger gewesen wären, die hätten den falschen Propheten entgegentreten und ihnen wehren und so zu ihnen sprechen können: Liebe Rottengeister, es ist wahr, Gott hat es Mose geboten und hat so zum Volk geredet. Aber wir sind nicht das Volk, zu dem es der Herr redet. Mein Lieber, Gott hat auch mit Adam geredet – ich bin darum nicht Adam. Er hat Abraham geboten, er solle seinen Sohn erwürgen – ich bin darum nicht Abraham, so daß ich meinen Sohn erwürgen würde. So hat er auch mit David geredet. Es ist alles Gottes Wort, wahr ist’s. Aber Gottes Wort hin, Gottes Wort her, ich muß wissen und achthaben, zu wem das Wort Gottes geredet wird. Es ist noch lange nicht an dem, daß du das Volk seist, mit dem Gott geredet hat. Die falschen Propheten sprechen: Du bist das|219 Volk, Gott redet mit dir. Das

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beweise mir! – So hätten sie niedergestreckt werden können. Aber sie wollten geschlagen sein, und so ist der Pöbel zum Teufel gefahren. Man muß mit der Schrift sorgfältig umgehen und verfahren. Das Wort ist nun seit Anbeginn auf mancherlei Weise ergangen. Man muß nicht allein darauf sehen, ob es Gottes Wort sei, ob Gott es geredet habe, sondern vielmehr, zu wem es geredet sei, ob es dich betreffe oder einen anderen. Da gibt’s denn einen Unterschied wie Sommer und Winter. Gott hat zu David viel geredet, hat ihn dies und jenes tun geheißen. Aber es geht mich nicht an, es ist nicht auch zu mir geredet. Er kann es gewiß zu mir reden, wenn er es so haben will. Du mußt auf das Wort sehen, das dich betrifft, das zu dir geredet wird, und nicht auf das, das einen andern betrifft. Es gibt zweierlei Wort in der Schrift: Das eine geht mich nicht an, betrifft mich auch nicht, das andere betrifft mich. Und auf dasjenige, das mich angeht, kann ich’s kühnlich wagen und mich darauf als auf einen starken Felsen verlassen. Betrifft es mich nicht, so soll ich still halten. Die falschen Propheten fahren zu und sprechen: Liebes Volk, das ist das Wort Gottes. Es ist wahr, wir können’s ja nicht leugnen. Wir sind aber nicht das Volk, zu dem er redet. Gott hat uns auch weder dies noch jenes geheißen, das er ihnen zu tun befohlen hat. Die Rottengeister fuhren zu, wollten etwas Neues aufbringen, sagten: Man muß auch das Alte Testament halten. Haben so die Bauern in einen Schweiß geführt, den sie nicht so bald abwischen werden; ja, sie haben das arme Volk an Leib und Gut, an Weib und Kind zugrunde gerichtet, wie wir leider erfahren und gesehen haben. Die tollen Leute meinten, man hätte ihnen jenes Wort Gottes vorenthalten, es hätte ihnen niemand gesagt, daß sie die Gottlosen totschlagen sollten. Aber es geschieht ihnen recht, sie wollten niemandem folgen oder ihn hören. Ich hab es selber gesehen und erfahren, wie toll, rasend und unsinnig sie waren. |220 Darum sprich zu diesen Rottengeistern so: Laß Mose und sein Volk beieinander; es ist mit ihnen aus, er geht mich nicht an. Ich höre das Wort, das mich betrifft. Wir haben das Evangelium. Christus spricht: »Geht hin und predigt das Evangelium«, nicht allein den Juden, wie Mose, sondern »allen Heiden«, ja »allen Kreaturen«. Mir ist gesagt: »Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig« (Mark. 16,15 f.), und: »Geh hin und tu deinem Nächsten, wie dir geschehen ist.« (Luk. 10,36 f.) Diese Worte betreffen auch mich, denn ich bin eine von allen Kreaturen. Wenn Christus nicht hinzugesetzt hätte: »Predigt allen Kreaturen«, so wollte ich mich nicht darum kümmern, wollte nicht getauft werden und mich so dazu verhalten, wie ich mich jetzt zu Mose verhalte. Um den kümmere ich mich rein gar nicht. Er geht mich auch nicht an, denn er ist nicht mir, sondern allein den Juden gegeben. Wenn indessen Christus spricht, man solle das Evangelium: »Wer glaubt und getauft wird, der wird selig werden« nicht einem Volk allein, nicht an diesem oder jenem Ort der Welt, sondern allen Kreaturen pre-

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digen, so ist niemand ausgenommen, sondern es sind alle Kreaturen darin inbegriffen. Niemand braucht daran zu zweifeln, es solle auch ihm das Evangelium gepredigt werden. So glaube ich denn dem Wort, es gehe mich an, ich gehöre auch unter das Evangelium und in das Neue Testament. Darum wage ich’s auf das Wort, und sollte es mir hunderttausendmal den Hals kosten. Diesen Unterschied sollen wohl beachten, erfassen und zu Herzen nehmen die Prediger, die andere Leute lehren wollen, ja alle Christen. Denn daran ist schlechterdings alles gelegen. Wenn es die Bauern so verstanden hätten, wären viele von ihnen am Leben geblieben und nicht so jämmerlich verführt und zugrunde gerichtet worden. Und wofern wir’s anders verstehen werden, so machen wir Sekten und Rotten, wenn wir unter den Pöbel, in das tolle, unver-|221 ständige Volk so ohne allen Unterschied speien und geifern: Gottes Wort! Halt, lieber Gesell, so nicht. Es ist die Frage, ob es dir gesagt sei oder nicht. Gott redet auch wohl zu den Engeln, Holz, Fischen, Vögeln, Tieren und zu allen Kreaturen – es geht darum nicht mich an. Ich soll auf das sehen, das mich betrifft, das mir gesagt ist, womit er mich mahnt, treibt und fordert. Dafür nimm ein Beispiel: Stell dir vor, ein Hausvater hätte Frau, Tochter, Sohn, Magd und Knecht. Nun spräche er zum Knecht und hieße ihn die Pferde anspannen und ins Holz fahren, den Acker pflügen und dergleichen Arbeit tun. Zu der Magd spräche er, sie solle die Kühe melken, buttern und dergleichen. Zur Frau aber, sie solle die Küche besorgen, zur Tochter, sie solle spinnen und die Betten machen. Das alles wären Worte eines Herrn, eines Hausvaters. Nun ginge die Magd her und wollte mit den Pferden umgehen, wollte ins Holz fahren. Der Knecht setzte sich unter die Kühe und wollte melken. Die Tochter wollte mit dem Wagen fahren, wollte pflügen. Die Frau wollte die Betten machen, wollte spinnen und würde die Küche versäumen. Und sie wollten folgendermaßen sprechen: Der Herr hat es geheißen, es ist der Befehl des Hausvaters. Da sollte der Hausvater dreinfahren und einen Knüppel nehmen und sie alle zusammen auf einen Haufen schmeißen und sprechen: Wiewohl es mein Befehl ist, so hab ich’s doch nicht dir befohlen, hab einem jeden seinen Bescheid gegeben, dabei hättet ihr bleiben sollen. So verhält es sich auch mit dem Wort Gottes. Wenn ich mich dessen annehmen wollte, was er einem andern befohlen hat, und sprechen wollte: Du hast es doch gesagt, würde er sprechen: Wer weiß dir dafür Dank? Ich habe es doch nicht dir gesagt. Man muß einen guten Unterschied machen, ob das Wort einen einzelnen betrifft oder alle zusammen. Wenn nun der Hausvater spräche: Am Freitag wollen wir Fleisch essen, wäre das ein allen im Hause|222 gemeinsam geltendes Wort. So betrifft es allein die Juden, was von Gott der Gebote halber zu Mose geredet worden ist. Aber das Evangelium geht durch die ganze Welt

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durch und durch. Niemand wird ausgenommen, sondern allen Kreaturen wird es zu Ohren gebracht. Darum soll sich alle Welt dessen annehmen, und so annehmen, als sei es einem jeden besonders ins Ohr gesagt. Das Wort: »Wir sollen einander lieb haben« (1. Joh. 3,23), geht mich an, denn es geht alle an, die zum Evangelium gehören. So lesen wir Mose nicht deshalb, weil er uns betrifft, so daß wir ihn halten müßten, sondern weil er zusammenstimmt mit dem natürlichen Gesetz und besser abgefaßt ist, als die Heiden es je hätten tun können. So sind die zehn Gebote ein Spiegel für unser Leben, darin wir sehen, woran es uns fehlt usw. Die Rottengeister haben Mose auch in bezug auf die Bilder nicht recht verstanden, denn das Bilderverbot geht auch allein die Juden an usw. Zum zweiten, wie soeben gesagt ist, lesen wir Mose um der Verheißungen willen, die von Christus reden, der nicht allein den Juden, sondern auch den Heiden zugehört. Denn durch ihn sollten alle Heiden den Segen und die Benedeiung haben, wie Abraham verheißen war. Das dritte Stück, das bei Mose wahrzunehmen ist Zum dritten lesen wir Mose wegen der schönen Beispiele des Glaubens, der Liebe und des Kreuzes bei den lieben heiligen Vätern Adam, Abel, Noah, Abraham, Isaak, Jakob, Mose und so die ganze Reihe durch. Daran sollen wir lernen, Gott zu vertrauen und ihn zu lieben. Umgekehrt sehen wir auch die Beispiele des Unglaubens der Gottlosen und des Zornes Gottes, wie Gott den Ungläubigen ihren Unglauben nicht nachsieht, wie er Kain, lsmael, Esau, die ganze Welt mit der Sintflut, Sodom und Gomorra gestraft hat, und dergleichen Strafen noch viel|223 mehr, die er über die Gottlosen hat ergehen lassen. Und die Beispiele sind nötig. Denn wiewohl ich nicht Kain bin, so werde ich doch mit Kain die gleiche Strafe empfangen, wenn ich tue, wie Kain getan hat. Man findet an keinem anderen Ort so schöne Beispiele vom Glauben sowohl wie vom Unglauben als eben bei Mose. Darum soll man Mose nicht unter die Bank stecken. Und so wird das Alte Testament recht verstanden, wenn man die schönen Sprüche von Christus aus den Propheten behält, wenn man die schönen Beispiele gut erfaßt und beachtet und wenn wir die Gesetze nach unserem Wohlgefallen gebrauchen und sie uns zunutze machen. Beschluss Ich habe gesagt, daß alle Christen und insbesondere die, die andere Leute lehren wollen und mit dem Wort Gottes umgehen, sich wohl vorsehen und Mose recht begreifen: daß wir ihn da, wo er Gebote gibt, nur soweit annehmen, wie er sich mit dem natürlichen Gesetz zusammenreimt. Mose sei ein Meister und Lehrer

4.2  Melanchthon: Predigt als Lehre

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der Juden. Wir haben unsern Meister Christus, der uns vorgelegt hat, was wir wissen, halten, tun und lassen sollen. Aber das ist wahr, Mose schreibt neben den Gesetzen schöne Beispiele von Glauben und Unglauben, Bestrafung der Gottlosen, Erhöhung der Frommen und Gläubigen, und auch die lieblichen und tröstlichen Zusagen von Christus, deren wir uns annehmen sollen. So auch bei den Evangelisten, etwa in der Geschichte von den zehn Aussätzigen: Es geht mich nicht an, daß Christus sie zum Priester gehen und ihr Opfer darbringen heißt. Das Beispiel ihres Glaubens geht mich an, daß ich Christus glaube wie sie. Davon ist nun genug geredet, und es ist wohl zu beachten. Denn darauf kommt es an; es haben viele große,|224 vortreffliche Leute dabei fehlgegriffen, und es stoßen sich noch heutigen Tages viele große Prediger daran. Sie verstehen Mose nicht zu predigen, können sich nicht recht darein schicken, sind unsinnig, toben, rasen und wüten, plappern ins Volk: Gottes Wort, Gottes Wort, Gottes Wort, verführen die armen Leute und stoßen sie in die Grube. Es haben viele gelehrte Leute nicht gewußt, wieweit Mose gelehrt werden sollte. Origenes, Hieronymus und ihresgleichen haben nicht klar gezeigt, wie weit Mose gilt. Das habe ich zu einer Einführung in Mose sagen wollen: Wie man sich darein schicken soll und wie Mose verstanden und angenommen und nicht gänzlich unter die Bank gesteckt werden soll. Bei ihm ist so eine schöne Ordnung und schönes äußerliches Regiment enthalten, daß es eine Lust ist, ungeachtet daß er viel Treffliches und Schönes sonst beschreibt, wie ihr gehört habt. Solches ist nicht allein nicht zu verwerfen, sondern auch hoch zu achten und mit ernstem Herzen anzunehmen als dienlich zur Förderung und Stärkung unseres christlichen Glaubens, durch welchen wie wir so auch die lieben heiligen Väter selig geworden sind.

4.2  Melanchthon: Predigt als Lehre  Philipp Melanchthon, Unterricht der Visitatoren an die Pfarhern ym Kurfurstenthum zu Sachssen 1528, in: Robert Stupperich (Hg.), Melanchthons Werke in Auswahl. Bd. 1. Reformatorische Schriften, Gütersloh: C. Bertelsmann Verlag, 1951, S. 221–2351.

Von der Lere NU befinden wir an der Lere unter andern fürnemlich diesen fehl, das wiewol etlich vom glauben, dadurch wir gerecht werden sollen, predigen, doch nicht genugsam angezeigt wird, wie man zu dem glauben komen sol, und fast alle ein stück Christlicher Lere unterlassen, on welchs auch niemand verstehen mag, 1 

[Die Zeilenanmerkungen wurden in Fußnoten umgewandelt.]

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4.  Reformation

Was Glauben ist odder heisset. Denn Christus spricht, Luce am letzten capitel 2, Das man predigen sol ynn seinem namen Busse und vergebung der sunden. Aber viel itzund sagen allein von vergebung der sunde, und sagen nichts ­odder wenig von der Busse. So doch on busse keyn vergebung der sunden ist, Es kan auch vergebung der sunden nicht verstanden werden on busse. Und so man die vergebung der sunden predigt on busse, folget, das die leut wenen, sie haben schon vergebung der sunden erlanget, und werden dadurch sicher und forchtlos, Welchs denn grösser irrthum und sunde ist, denn alle irrthumb vor dieser zeit gewesen sind. Und vor war zubesorgen ist, wie Christus spricht ­Matthei am 12. capitel3, das das letzte erger werde denn das erste. Darumb haben wir die Pfarher unterricht und vermanet, das sie, wie sie schüldig sind, das Evangelion gantz predigen, und nicht ein stück on das ander. Denn Gott spricht Deuteronomii am vierden4: »Man sol nicht zu seinem wort odder davon thun,« Und die itzigen prediger schelten den Bapst, er hab viel zusatz zu der schrifft gethan, Als denn leyder allzu wahr ist. Diese aber, so die busse nicht predigen, reissen ein gros stück von der schrifft, Und sagen die weil von fleischessen und der gleichen geringen stücken, Wiewol sie auch nicht zu schweigen|222 sind, zu rechter zeit, umb der tyrannen willen, zuverteidigen die Christliche freyheit, Was ist aber das anders, denn wie Christus spricht, Matth. 23.5, »ein fliegen seygen, und ein camel verschlingen?« Also haben wir sie vermanet, das sie vleissig und offt die leut zur busse vermanen, Rew und leyd vber die sunde zu haben und zuerschrecken für Gottes gericht. Und das sie auch nicht das grössest und nötigst stück der busse nachlassen, denn beyde Johannes und Christus die Phariseer umb yhre heylige heucheley herter straffen denn gemeyne sunder. Also sollen die Prediger ynn dem gemeinen man die grobe sunde straffen. Aber wo falsche heilickeit ist, viel herter zur busse vermanen. Denn wiewol etlich achten, man sol nichts leren für dem glauben, sondern die busse aus und nach dem glauben folgend leren, auff das die widdersacher nicht sagen mügen, man widderrüffe unser vorige Lere. So ist aber doch anzusehen, weil die busse und gesetz auch zu dem gemeinen glauben gehören. Denn man mus ia zuuor glewben, das Gott sey, der da drewe, gebiete und schrecke etc. So sey es für den gemeinen groben man, das man solche stück des glaubens las bleiben unter dem namen busse, gebot, gesetz, forcht etc. auff das sie deste unterschiedlicher den glauben Christi verstehen, welchen die Apostel iustificantem fidem, das ist, der da gerecht macht und sunde vertilget, nennen, welchs 2 

Lc 24, 47. Mt 12, 45. 4  Dtn 4, 2. 5  Mt 23, 24. 3 

4.2  Melanchthon: Predigt als Lehre

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der glaub von dem gebot und busse nicht thut, und doch der gemein man, uber dem wort glauben, irre wird und frage auffbringet on nutz. Von den zehen geboten DArumb sollen sie die zehen gebot offt und vleyssig predigen, und die auslegen und anzeigen, nicht allein die gebot, sondern auch wie Gott straffen wird die, so sie nicht halten, wie auch Got solche offt zeitlich gestrafft hat. Denn solche exempel sind geschriben, das man sie den leuten für halte, wie die Engel zu Abraham sprachen, da sie sagten zu yhm, Genesis .xix.6, wie Gott Sodoma straffen wolt, und mit hellischem feur verbrennen. Denn sie wissten, er würde es seinen nachkomen sagen, das sie Gott lernten fürchten.|223 So sollen sie auch etliche besondere laster, Als ehebruch, seufferey, neyd und haß straffen, und anzeigen, wie Gott die selben gestrafft hat, damit er anzeigt, das er on zweiffel nach diesem leben viel herter straffen wird, wo sie sich hie nicht bessern. Und sollen also die leut zur Gottes forcht, zur busse und rew gereitzt und vermanet werden, und das sicher und forchtlos leben gestrafft werden. Darumb sagt auch Paulus zu den Römern am dritten capitel.7 »Durch das gesetz kompt nür erkentnis der sunde.« Denn sunde erkennen ist nichts anders als denn wahrhafftige Rew. Daneben ist denn nützlich, das man vom glauben predige. Also, das wer rew und leyd umb seine sunde habe, das der selbig glewben sol, das yhm sein sunde, nicht umb unsers verdiensts, sondern umb Christus willen, vergeben werden. Wo denn das rewig und erschrocken gewissen dauon fried, trost und freud empfehet, das es hört, das uns die sunde vergeben sind, umb Christus willen, das heisst der Glaub, der uns für Gott gerecht macht, Und sollen die leut vleyssig vermanen, das dieser Glaub nicht künne seyn on ernstliche und wahrhafftige rew und schrecken für Gott, wie geschrieben ist, ym cx. Psalm8 und Eccle­ siastici9 am ersten: »Der weisheit anfang ist Gott fürchten,« Und Esaias sagt am letzten10: »Auff welchen sihet Gott denn allein auff ein erschrocken und rewig hertz?« Solchs sol offt gesagt werden, das die leut nicht ynn falschen wahn komen und meynen, sie haben glauben, so sie doch noch weyt dauon sind. Und sol angezeigt werden, das allein ynn dem glauben sein müge die warhafftige rew 6 

Gen 19 ff. Rm 3, 20. 8  Ps 111, 10. 9  Prov 1, 7/Eccles 1, 16. 10  Jes 66, 2. 7 

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4.  Reformation

und leid tragen vber yhre sunde. Das ander, wo nicht Rew ist, ist ein gemalter Glawb, Denn rechter glaub sol trost und freude bringen an Gott, Solcher trost und freud wird nicht gefület, wo nicht Rew und schrecken ist, wie Christus Matthei am xi.11, sagt: »Den armen wird das Euangelion gepredigt.« Diese zwey sind die ersten stücke des Christlichen lebens, Busse, odder Rew und leyd, und Glauben, dadurch wir erlangen vergebung der sunde und gerecht werden für Gott, und sol ynn uns beydes wachssen und zunemen.|224 Das dritte stück Christlichs lebens ist gute werck thun, Als keuscheyt, den nechsten lieben, yhm helffen, nicht liegen, nicht betriegen, nicht stelen, nicht todschlagen, nicht rachgirig sein, nicht mit eygen gewalt rechen etce. Darumb sollen abermals die zehen gebot vleissig gepredigt werden, darynn denn alle gute werck verfasset sind. Und heissen darumb gute werck, nicht allein das sie dem nechsten zu gut geschehen, Sondern auch, das sie Gott geboten hat, Derhalben sie auch Gott wol gefallen. Gott hat auch keyn wolgefallen an den, die sie nicht thun, wie Michee am 6.12 stehet: »O mensch, ich wil dir zeigen, was gut ist, und was Gott von dir foddert, nemlich, das gericht thun, Ja thun was recht ist, lust haben, dem nechsten guts zuthun, und ynn forcht für Gott wandeln.« Das erste gebot Gottes leret Gott förchten, Denn Got drewet do denen, so yhnen nicht achten, Es leret auch Got gleuben und trawen, Denn Got sagt zu, er wölle den gut thun, die yhn lieben, das ist, die sich zu yhm gutes versehen, Wie Esaie. 64.13 und ynn der I. Corinth. 2. capitel14 stehet: »Das keyn auge gesehen hat und keyn ohre gehört hat und ynn keynes menschen hertz gestigen ist, das Gott bereyt hat denen, die yhn lieben.« Das ander gebot leret, das man Gottes namen nicht mißbrauche. Das ist aber Gottes namen recht brauchen, yhn anruffen ynn allen nöten, leyplichen odder geistlichen, wie er geboten hat ym 49. Psalm15: »Rüff mich an ynn der zeit der not, So will ich dich erretten, So soltu mich preysen.« Und Gott sagt ynn dem selben Psalm, das das der rechte dienst sey, damit man yhm dienen künde, Ihn anrüffen und bitten, das er helffe, Dabey auch yhm dancksagen umb seine gutthat, Denn Gott spricht daselbst16, »So soltu mich preysen.« Item, »Wer danck opffert, der preyset mich, Und das ist der weg, das ich yhm zeige das heyl Gottes.«

11 

Mt 11, 5. Mi 6, 8. 13  Jes 64, 3. 14  1. Cor 2, 9. 15  Ps 50, 15. 16  Ps 50, 23. 12 

4.3  Confessio Augustana, Art. IV, V, VII und XIV

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Hie sollen auch die Pfarher und Prediger die leut vermanen, zu beten, Denn das ist die erfüllung dieses gebots, Beten, das ist, Gott umb hülff ansuchen ynn allen anfechtung. Und sollen die leut unterrichten, was beten sey, und wie man beten sol.

4.3  Confessio Augustana, Art. IV, V, VII und XIV:   Die öffentliche Predigt der Rechtfertigung als Grund der Kirche  Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 101986, S. 56, 58, 61, 69.

IV. Von der Rechtfertigung.

IV. De iustificatione.

Weiter wird gelehrt, daß wir Vergebung der Sunde und Gerechtigkeit vor Gott nicht erlangen mogen durch unser Verdienst, Werk und Genugtun, sonder daß wir Vergebung der Sunde bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnaden umb Christus willen durch den Glauben, so wir glauben, dass Christus fur uns gelitten habe und daß uns umb seinen willen die Sunde vergeben, ­Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird. Dann diesen Glauben will Gott fur Gerechtigkeit vor ihme halten und zurechnen, wie Sant Paul sagt zun Romern am 3. und 4.

Item docent, quod homines non possint iustificari coram Deo propriis ­viribus, meritis aut operibus, sed ­gratis iustificentur propter Christum per fidem, cum credunt se in gratiam recipi et peccata remitti propter Christum, qui sua morte pro nostris peccatis satisfecit. Hanc fidem imputat Deus pro iustitia coram ipso, Rom. 3 et 4.

|58 V. Vom Predigtamt.

V. De ministerio ecclesiastico.

Solchen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, Evangelium und Sakrament geben, dadurch er als durch Mittel den heiligen Geist gibt, welcher den Glauben, wo und wenn er will, in denen, so das Evangelium hören, wirket, welches

Ut hanc fidem consequamur, institutum est ministerium docendi evan­ gelii et porrigendi sacramenta. Nam per verbum et sacramenta tamquam per instrumenta donatur ­spiritus sanctus, qui fidem efficit, ubi et quando visum est Deo, in his, qui

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4.  Reformation

da lehret, daß wir durch Christus Verdienst, nicht durch unser Verdienst, ein gnädigen Gott haben, so wir solchs glauben. Und werden verdammt die Wiedertaufer und andere, so lehren, daß wir ohn das leiblich Wort des Evangelii den heiligen Geist durch eigene ­Bereitung, Gedanken und Werk erlangen.

a­ udiunt evangelium, scilicet quod Deus non propter nostra merita, sed propter Christum iustificet hos, qui credunt se propter Christum in gratiam recipi. Gala. 3: Ut promissionem spiritus accipiamus per fidem. Damnant Anabaptistas et alios, qui sentiunt spiritum sanctum contigere hominibus sine verbo externo per ­ipsorum praeparationes et opera.

| 61 VII. Von der Kirche.

VII. De ecclesia.

Es wird auch gelehret, daß alle Zeit musse ein heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden. Dann dies ist gnug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakrament dem gottlichen Wort gemäß gereicht werden. Und ist nicht not zur wahren Einigkeit der christlichen Kirche, daß allenthalben gleichformige Ceremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden, wie Paulus spricht zun Ephesern am 4.: »Ein Leib, ein Geist, wie ihr berufen seid zu einerlei Hoffnung euers Berufs, ein Herr, ein Glaub, ein Tauf.«

Item docent, quod una sancta ecclesia perpetuo mansura sit: Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta. Et ad ­ veram unitatem ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum. Nec necesse est ubique similes esse tra­ditiones humanas seu ritus aut ­cerimonias ab hominibus institutas; ­sicut inquit Paulus: Una fides, unum ­baptisma, unus Deus et pater omnium etc.

4.4  Reformierte Tradition

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| 69 XIV. Vom Kirchenregiment.

XIV. De ordine ecclesiastico.

Vom Kirchenregiment wird gelehrt, daß niemand in der Kirchen offentlich lehren oder predigen oder Sakrament reichen soll ohn ordentlichen Beruf.

De ordine ecclesiastico docent, quod nemo debeat in ecclesia publice ­docere aut sacramenta administrare nisi rite vocatus.

4.4  Reformierte Tradition a. Confessio Helvetica: Die Suffizienz der Predigt  Heinrich Bullinger, Das zweite helvetische Bekenntnis (1566). Ins Deutsche übertragen v. Walter Hildebrandt u. Rudolf Zimmermann. Mit einer Darstellung von Entstehung und Geltung sowie einem Namen-Verzeichnis, Zürich: Theologischer Verlag, 51998, S. 17–19.

I. Kapitel: Die Heilige Schrift, das wahre Wort Gottes Wir glauben und bekennen, daß die kanonischen Schriften der heiligen Propheten und Apostel beider Testamente das wahre Wort Gottes sind, und daß sie aus sich selbst heraus Kraft und Grund genug haben, ohne der Bestätigung durch Menschen zu bedürfen. Denn Gott selbst hat zu den Vätern, Propheten und Aposteln gesprochen und spricht auch jetzt noch zu uns durch die heiligen Schriften. Und in dieser Heiligen Schrift besitzt die ganze Kirche Christi eine vollständige Darstellung dessen, was immer zur rechten Belehrung über den seligmachenden Glauben und ein Gott wohlgefälliges Leben gehört. Deshalb wird von Gott deutlich verboten, etwas dazu oder davon zu tun (5. Mose 4, 2). Wir sind darum der Ansicht, daß man aus diesen Schriften die wahre Weisheit und Frömmigkeit, die Verbesserung und Leitung der Kirchen, die Unterweisung in allen Pflichten der Frömmigkeit und endlich den Beweis der Lehren und den Gegenbeweis oder die Widerlegung aller Irrtümer, aber auch alle Ermahnungen gewinnen müsse, nach jenem Apostelwort: »Jede von Gottes Geist eingegebene Schrift ist auch nütze zur Lehre, zur Überführung usw.« (2. Tim. 3, 16). Und wiederum sagt der Apo­ stel zu Timotheus (1. Tim. 3, 15): »Dies schreibe ich dir … damit du wissest, wie man sich verhalten muß im Hause Gottes« usw. Ferner schreibt derselbe|18 Apo­ stel an die Thessalonicher: « … daß ihr das von uns gepredigte Wort Gottes, als ihr es empfingt, aufgenommen habt nicht als Wort von Menschen, sondern wie es in Wahrheit ist, als Wort Gottes usw.« (1. Thess. 2, 13). Denn der Herr hat selbst im Evangelium gesagt (Mt. 10, 20; Luk. 10, 16; Joh. 13, 20): »Denn nicht ihr seid es, die reden, sondern der Geist eures Vaters ist’s, der in euch redet. Deshalb: wer euch hört, der hört mich, und wer euch verwirft, der verwirft mich.«

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4.  Reformation

Wenn also heute dieses Wort Gottes durch rechtmäßig berufene Prediger in der Kirche verkündigt wird, glauben wir, daß Gottes Wort selbst verkündigt und von den Gläubigen vernommen werde, daß man aber auch kein anderes Wort Gottes erfinden oder vom Himmel her erwarten dürfe: und auch jetzt müssen wir auf das Wort selber achten, das gepredigt wird, und nicht auf den verkündigenden Diener; ja, wenn dieser sogar ein arger Bösewicht und Sünder wäre, so bleibt nichtsdestoweniger das Wort Gottes wahr und gut. Nach unserer Ansicht darf man jene äußere Predigt auch nicht deshalb für gleichsam unnütz halten, weil die Unterweisung in der wahren Religion von der inneren Erleuchtung des Geistes abhange: deshalb, weil geschrieben stehe (Jer. 31, 34): »Da wird keiner mehr den andern, keiner seinen Bruder belehren und sprechen »Erkennet den Herrn«, sondern sie werden mich alle erkennen …« Und (1. Kor. 3, 7): »Somit ist weder der etwas, welcher pflanzt, noch der, welcher begießt, sondern Gott, der das Gedeihen gibt.« Obwohl nämlich (Joh. 6,44) niemand zu Christus kommen kann, es sei denn, daß der Vater ihn ziehe, und daß er inwendig vom Heiligen Geist erleuchtet sei, wissen wir doch, daß Gott|19 will, man solle sein Wort überall auch öffentlich verkündigen. Gott hätte freilich den Cornelius – in der Apostelgeschichte – auch ohne den Dienst des heiligen Petrus durch seinen Heiligen Geist oder durch den Dienst eines Engels unterweisen können, er wies ihn aber nichtsdestoweniger an Petrus, von dem der Engel sagt: »Dieser wird dir sagen, was du tun sollst« (Apg. 10, 6). Denn der, der durch die Gabe des Heiligen Geistes die Menschen inwendig erleuchtet, derselbe gibt seinen Jüngern den Befehl: »Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium allen, die erschaffen sind!« (Mk. 16, 15). Daher predigte Paulus in Philippi der Purpurkrämerin Lydia das Evangelium äußerlich, innerlich aber »tat ihr der Herr das Herz auf« (Apg. 16,14). Ebenso kommt Paulus (in Röm. 10, 13–17) nach einer feinen Entwicklung seiner Gedanken zu dem Schluß: »Also kommt der Glaube aus der Predigt, die Predigt aber durch das Wort Christi.« Wir geben allerdings zu, Gott könne Menschen auch ohne die äußere Verkündigung erleuchten, wann und welche er wolle: das liegt in seiner Allmacht. Wir reden aber von der gewöhnlichen Art, wie die Menschen unterwiesen werden müssen, wie sie uns durch Befehl und Beispiel von Gott überliefert ist.

4.4  Reformierte Tradition

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b. Ulrich Zwingli: Der Prediger als Hirte  Huldrych Zwingli, Der Hirt (1524), in: Ders., Schriften I. Im Auftrag des Zwingli­ vereins hg. v. Thomas Brunnschweiler und Samuel Lutz unter Mitarbeit von Hans Ulrich Bächtold, Andreas Beriger, Christine Christ-von Wedel, Rainer Henrich, Hans Rudolf Lavater, Peter Opitz, Ernst Saxer und Peter Winzeler, Zürich: Theologischer Verlag, 1995, S. 243–312, hier S. 260–265.

So darf der Hirt seine Schafe auf keine andere Weide führen, als auf der er selber zuvor schon geweidet worden ist. Das heißt: auf der Weide der Erkenntnis Gottes und des Vertrauens zu ihm. Er muß also Gott schon vorher erkannt und alle Zuversicht auf ihn gesetzt haben. Dann soll er zu predigen anfangen, wie Christus angefangen hat, Matthäus 4,17: »Bessert euch!« Auch die Vorhut Christi, Johannes, hat so begonnen [vgl. Mt 3,2]. Es bessert sich aber keiner, der nicht weiß, wie aussichtslos es um ihn steht. Darum muß hier die tödliche Krankheit, dann erst das Gesundwerden gepredigt werden. Es soll sich niemand täuschen, als ob Christus Matthäus 10,7 und Markus 16,15 nur dazu aufgefordert hätte, das Heil, beziehungsweise das Evangelium, zu verkündigen. Denn bevor einer das Medikament nimmt, muß das Übel erkannt sein. An den genannten Stellen bezieht Christus|261 freilich das Wort »Evangelium« auf die Gnade, denn das Evangelium ist die Botschaft der sicheren Gnade Gottes. Ebenso notwendig ist freilich die Sündenerkenntnis, die nichts als Selbstverzweiflung bringt und uns mit Macht zu Gottes Erbarmen treibt. Dieses ist uns aber sicher, denn Gott hat seinen Sohn »für uns hingegeben« [Röm 8,32]. Deshalb benennt Christus an diesen Stellen das Erlösungswerk nach der Arznei. In Lukas 24,47 indes nennt er die Buße oder Besserung und die Vergebung in einem Zuge, wenn er spricht: »Also mußte in seinem« – nämlich Christi – »Namen die Buße oder Besserung und die Vergebung allen Völkern gepredigt werden.« Sieh, hier sind Evangelium und Buße beieinander. Denn niemand kann sich am Evangelium recht freuen, der die tödliche Krankheit der Sünde zuvor nicht recht erkannt hat. Wenn nun der Mensch sein Elend eingesehen und das Heil in Christus gefunden hat, so ist es ihm nicht mehr erlaubt, in der Sünde zu leben: »Da wir nun in Christus der Sünde abgestorben sind, können wir nicht mehr in ihr leben« (Röm 6,2). Darum muß der Hirt auch gut aufpassen, daß seine nunmehr gewaschenen Schäflein nicht wieder in den Dreck fallen. Das heißt: nachdem die Gläubigen zur Erkenntnis ihres Heilands gekommen sind und die freundliche Gnade Gottes erfahren haben, sollen sie künftig ein rechtschaffenes Leben führen, damit sie nicht mehr im Tod leben. Gleich wie »Christus, der nach der Auferstehung von den Toten nie mehr stirbt« [Röm 6,9], sollen auch sie »den alten Menschen ausund den neuen anziehen, der Gott ebenbildlich ist« [Eph 4,22.24], das heißt: den

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4.  Reformation

Herrn Jesus Christus. Diesen »anziehen« meint nichts anderes als leben, wie er gelebt hat. Darum befiehlt er Matthäus 28,19–20 den Jüngern: »Geht hin, lehrt alle Völker. Tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Gei­ stes. Lehrt sie auch alles halten, was ich euch geboten habe.« Denn wer sein Leben nicht täglich ändert, nachdem ihn Christus erlöst hat, der treibt mit dem Namen Christi Spott und entehrt und erniedrigt ihn bei den Ungläubigen. Darum|262 sagt 1. Petrus 4,1–3 auch der heilige Petrus: »Weil nun Christus im Fleisch für uns gelitten hat, so bewaffnet euch nun mit der gleichen Gesinnung. Denn als er im Fleisch gelitten hat, hat er die Sünde verstummen lassen, damit ihr eure übrige Zeit nicht in menschlichen Begierden, sondern im Willen Gottes lebt. Denn es ist genug, daß wir unser bisheriges Leben in heidnischer Willkür verbracht haben: in Ausschweifungen, Begierden und Weinorgien, in Fressen und Saufen und in frevelhaftem Götzendienst.« Daraus geht hervor, daß es nicht genug ist, auf das Heil hinzuweisen, sondern es gilt auch zu verhindern, daß es verlorengeht oder entehrt wird. Am besten gelingt dies, wenn der Hirt ins Werk setzt, was er mit Worten lehrt. Das ist es, was Christus Matthäus 5,19 so dringlich fordert: »Wer nur eines dieser kleinsten Gebote auflöst und die Menschen so lehrt, wird im Himmelreich der Kleinste genannt werden. Wer sie aber tut und lehrt, wird im Himmelreich groß sein.« Denn das ist gewiß: Wie schön man immer über Gott redet, das Leben aber nicht nach ihm gestaltet, so ist es ja doch nur eine Heuchelei. Das gleiche sagt Paulus in Titus 1,16: »Sie geben vor, Gott zu kennen, doch mit der Tat verleugnen sie ihn. Solche sind verabscheuungswürdig, untauglich, zu nichts Gutem zu gebrauchen.« Ebenso in Römer 2,21–24: »Du lehrst andere, und dich selber lehrst du nicht. Du predigst, man soll nicht stehlen, du aber stiehlst. Du redest, man soll die Ehe nicht brechen, und du brichst sie. Du verwirfst die Götzen, aber in heiligen Dingen bist du lässig. Du rühmst dich, das Gesetz zu halten, doch mit seiner Übertretung bereitest du Gott Schande. Euretwegen kommt es, daß die Heiden den Namen Gottes lästern!« Darum muß der Hirt peinlich darauf bedacht sein, mit der Tat nicht zu brechen, was er mit dem Wort lehrt. Denn durch Werke, die dem Wort Gottes nicht entsprechen, lassen sich die Schwachen im Glauben leicht davon abbringen. Dabei muß man sehr auf der Hut sein, daß der Hirt nicht ein Deckmäntelchen statt seines wahren Kleids überwerfe. Er soll|263 sich also nicht mit Kappen und Kutten behängen, inwendig aber voll Habsucht stecken, wie dies heute bei den meisten Mönchen und Theologen üblich ist. Auch nicht tiefe Bücklinge machen und von hochfahrendem Sinn sein, oder ein weißes Hemd anhaben, sich aber schweinischer aufführen als ein Eber; hohe Schuhe und Hüte tragen, aber vor Neid und Haß platzen, haufenweise Psalmen murmeln und das klare Wort Gottes verlassen, und dergleichen mehr. Bei alledem lernt auch das ein-

4.4  Reformierte Tradition

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fache Volk nur zu heucheln, innerlich aber bleibt es bei seinen Leidenschaften. Darum muß der Hirt sein Leben nicht nach Lehren gestalten, die von Menschen erfunden sind, sondern nach dem Wort Gottes, das er predigt. Sonst pflanzt er nichts als Scheinheiligkeit. Da Christus das vollkommene Vorbild ist, so sehe der Hirt zu, sich einzig nach dessen Beispiel auszurichten. Christus hat sich keiner Heuchelei bedient, darum ist es auch uns nicht erlaubt, sich mit ihr zu befassen. Der »Satz vom Vorbild Gottes«1 gilt auch in seiner Umkehrung. Weil er ein so vollkommenes Gut ist, dem nichts mangeln kann, so kann sich auch keiner ausdenken, wie das Göttliche zu verbessern oder zu ergänzen wäre. Darum muß der Hirt in diesen Dingen, wie es einem Vater zusteht, Erzieher sein. Der treibt auch keine Narrenpossen, um seinen Kindern etwas abzubetteln, sondern er setzt alles daran, sie zu einem untadeligen Leben zu erziehen: Freundlich, unfähig zu etwas Bösem, bescheiden in allem, jeder Unmäßigkeit abhold. Darin muß auch der Hirt sich üben. Deshalb wird er von Christus ein Hausvater oder Haushalter genannt [vgl. Lk 12,42–48]. Auch Paulus klagt, die Korinther hätten zwar unzählige Lehrer, »aber nur wenige Väter« (vgl. 1. Kor 4,15). Daraus entnehmen wir ganz klar, daß solche, die uns nicht Väter sind, auch keine rechten Lehrer sind. Väter sind mit Tat und Lehre beflissen, uneigennützig für ihre Kinder da zu sein. Deshalb sind solche nie rechte Hirten, die ihren Pflichtbefohlenen keine väterliche Gesinnung entgegenbringen. Wenn sich die Lehrer nicht Mühe geben in den Dingen, die sie leh-|264 ren, so sind sie keine rechten Lehrer. Wenden sie an, was sie aus Gottes Wort lehren, so ist das lebendige Beispiel lehrreicher als hunderttausend Worte. Lehren und leben sie aber nicht das Wort Gottes, sondern Menschenlehre und hohles Geschwätz, so sind sie wirklich jene falschen Propheten, die Gott töten heißt [vgl. Jer 14,15]. Auf diese kommen wir später zurück. Deshalb muß der Hirt nicht alles, was wir für gut erachten, zum Vorbild erklären, sondern nur die Dinge, die Gott uns lehrt und abverlangt. Was aber gepredigt werden soll, geht aus dem bisher Gesagten klar genug hervor: nichts anderes nämlich als das Wort Gottes. Aus diesem soll der Hirt seinen Anbefohlenen ihre üble Lage erklären. Haben sie die erkannt, und fühlen sie, daß sie aus eigenen Kräften nicht selig werden können, so soll er sie an die Gnade Gottes verweisen, damit sie sich ihr anvertrauen. Er sage ihnen, Gott habe uns als Pfand seiner Gnade seinen einzigen Sohn gegeben, unsern Herrn Jesus Christus, durch den wir in Ewigkeit einen sicheren Zugang zu Gott haben [vgl. Röm 5,2]. Wenn sie die Seligkeit und das Pfand der Gnade Gottes im Glauben angenommen haben und jetzt Gott angehören – zuvor gehörten sie dem Fleisch und der Verdammnis an –, so sind 1 

[…] Der Sinn: Was Gott (nicht) tut, soll auch der Mensch (nicht) tun.

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4.  Reformation

sie auch schuldig, künftig nach dem Willen Gottes zu leben [vgl. 1. Petr 4,2], denn sie sind ein »neues Geschöpf« (vgl. Gal 6,15). Darum muß der Hirt unbedingt verhindern, daß die geheilten Schäflein wieder krank werden. Dies alles ist nur mit dem Worte Gottes zu bewältigen, weswegen er darin vor allen anderen Dingen unterrichtet sein muß. Es kann nur aus heiliger biblischer Schrift erlernt werden. Das Einprägen des Buchstabens tut es freilich nicht, wenn Gott dem Hirten nicht das Herz »zieht« [vgl. Joh 6,44], damit er dem Wort Glauben schenke und es nicht nach Lust und Laune verdrehe, sondern der göttlichen Eingebung offen halte. Paulus faßt dies alles kurz in die Worte 2. Timotheus 3,16–17: »Jede Schrift, die von Gott eingegeben ist, ist auch nützlich zu lehren, zu|265 strafen, zurechtzuweisen, zur Erziehung in der Rechtschaffenheit, damit der Mensch Gottes bei vollen Kräften sei, zu jedem guten Werk ausgerüstet und vollkommen.« Dieser Art sei darum alles Weiden des Hirten.

4.5  Andreas Hyperius: Volkstümliche Schriftauslegung   und ihre pastoraltheologischen Voraussetzungen  Andreas Hyperius, Die Homiletik und die Katechetik, verdeutscht u. mit Einleitungen versehen von Dr. G. Chr. Achelis und Dr. Eugen Sachsse, Berlin: Reuther und Reichard, 1901, S. 17–26.

Erstes Buch. Allgemeine Predigtlehre. Kapitel 1. Der Begriff der volkstümlichen Schriftauslegung und die Erhabenheit des öffentlichen Lehramtes. Es giebt, wie allbekannt, eine doppelte Art der Schriftauslegung in der Kirche, die wissenschaftliche und die volkstümliche. Jene ist für die Kreise gelehrter Männer und der studierenden Jünglinge, die schon einigermaßen in der Wissenschaft vorgeschritten sind, angemessen; diese ist völlig dem Zweck angepaßt, die buntgemischte Menge zu unterweisen, die zum größten Teil aus rohen, unerfahrenen und ungebildeten Leuten besteht. Jene wird innerhalb enger Schulwände getriebenen; diese hat ihren Ort in geräumigen Gotteshäusern. Jene ist kurz gefaßt und bündig, mit einem Duft philosophischer Vornehmheit und Strenge, diese ist breit angelegt, bewegt sich frei, ist wortreich, liebt rednerischen Schmuck und ist für die Öffentlichkeit berechnet. In jener wird meistens auf logische Kürze und Einfachheit gedrungen, in dieser gewinnt die rednerische Wortfülle und Weitschweifigkeit den meisten Beifall. In vielen Schriften der Alten kann dieser Unterschied leicht wahrgenommen werden. In volkstümlicher Auslegung ergehen sich die allermeisten Reden der Propheten und Christi, ebenso nicht wenige Ermahnun-

4.5  Andreas Hyperius: Volkstümliche Schriftauslegung

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gen, Zurechtweisungen, Tröstungen des Apostels Paulus, endlich auch was wir unter dem Titel Homilieen oder Sermone oder Kunstreden bei den heiligen Vätern Origenes, Chrysostomus, Basilius, Gregor von Nazianz, Augustin, Maximus (von Tours), Leo (dem Großen), und hernach bei Gregor (dem Großen), Beda (venerabilis), Bernhard (von Clairvaux) u.a. lesen; auch mögen die Erklärungen Augustins zum Evangelium Johannis und zu einigen Psalmen hierhergerechnet|18 werden. In das Gebiet der wissenschaftlichen Auslegung gehören einige der gewichtigeren und scharfsinnigeren Abhandlungen des Paulus; ich habe die Abhandlung über die Rechtfertigung des Menschen in den Briefen an die Römer und Galater, ebenso einiges im ersten Brief an die Korinther im Auge, außerdem zwei Abhandlungen in dem Brief an die Hebräer: über die beiden Naturen in Christo und über die Aufhebung des gesetzlichen Priestertums und das ewige Priestertum Christi. Derselben Klasse dürfen auch alle Kommentare des Hieronymus zu den Propheten, des Ambrosius zu den Briefen des Paulus, ebenso die Briefe und Abhandlungen des Augustin zugezählt werden. Kurz gesagt, ein Mann mit gesundem Urteil wird auf grund unserer Darlegungen in allen ähnlichen Fällen entscheiden können, welche Art der Auslegung er in jeder vorliegenden Schrift anzunehmen hat. Übrigens haben wir neulich schon einige Ausführungen über die wissenschaftliche Schriftauslegung gegeben, als wir das Werk über den Betrieb des theologischen Studiums verfaßten; jetzt ist es angezeigt, da von gar mancher Seite gerade dies oft und vielfach erbeten wurde, die volkstümliche Schriftauslegung, oder, was dasselbe ist, die Anfertigung von gemeinfaßlichen Predigten in den Vordergrund zu rücken. Wenn dies nun auch weniger wissenschaftlich ist, wie ich gern zugebe, so werden wir doch die Arbeit unternehmen und wir hoffen sie auch durchzuführen –, wie es für die Gegenwart und für die Auffassungskraft derer berechnet und angemessen ist, die wir auszubilden haben, ich meine die Anfänger und Neulinge. Ich finde für gut, dies Werk in zwei Bücher zu teilen; im ersten beabsichtige ich alles das, was im allgemeinen allen Predigten gemeinsam ist, darzulegen, im zweiten, was den einzelnen Predigtgattungen eigentümlich ist und was darin sorgfältig beachtet und bemerkt werden muß. Ferner wird es in dieser Einleitung zum ersten Buch sehr nützlich sein, daran zu erinnern, wie erhaben das Amt derer ist, die dem Volk die göttlichen Offenbarungen vortragen. Unter allen, vornehmlich den kirchlichen Ämtern ist es das bei weitem wertvollste: das wird niemand bestreiten wollen oder können. Denn es ist anerkannt, daß in diesem Amt die vornehmste und hervorragendste Leistung des ganzen Dien­stes am Evangelium enthalten ist. Denn Christus, als er von der Erde schied, legte es in seinen Geboten seinen Jüngern ans Herz, sie sollten allem voran das Gebiet des Lehrens eifrig pflegen. »Gehet hin«, spricht er, »in die ganze Welt und predigt|19 das Evangelium aller Kreatur« Mark. 16. In dieser Stelle wird das Lehramt der Obliegenheit zu

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taufen oder der Austeilung der Sakramente vorangestellt, wie ja auch das Hören des Wortes notwendig dem Bekenntnis des Glaubens vorangehen muß. Darin ist es auch begründet, daß der Apostel 1. Kor. 1 die Berechtigung zu lehren, als ob es die eigentümliche Pflicht des Apostelstandes wäre, als sein Recht in Anspruch nimmt und den Andern die anderen Handlungen überläßt. »Nicht hat Chri­stus mich gesandt zu taufen, sondern das Evangelium zu predigen,« spricht er. Es giebt auch kein untrüglicheres Kennzeichen, wodurch die wahre Kirche von der falschen unterschieden wird, als die gesunde Lehre; auch die Sektierer mögen in ihren Konventikeln die Sakramente haben, die gesunde Lehre können sie jedoch nicht aufweisen. Fragen wir endlich nach dem Gottesdienst, der Gott am innig­ sten wohlgefällt, so besteht auch dieser fürwahr in der öffentlichen Verkündigung des Evangeliums. Deshalb stand wiederum der Apostel Paulus Röm. 1 nicht an, sich des zu rühmen, er diene Gott in Wahrheit und im Geist dadurch, daß er das Evangelium Jesu Christi verkündige. Aus diesen Gründen verkündete derselbe Apostel ebenso weise wie eindringlich, daß alle, die für diesen Lebensberuf sich rüsten, ein köstliches Werk begehren; und wiederum, daß alle, die ihn recht ausrichten, von allen zu lieben und des höchsten Preises für würdig zu halten sind. »Wer ein Bischofsamt begehret«, spricht er, »der begehrt ein köstliches Werk. Und die Ältesten, die wohl vorstehen, die halte man zwiefacher Ehre wert, sonderlich die da arbeiten im Wort und in der Lehre. Denn es spricht die Schrift: du sollst nicht dem Ochsen das Maul verbinden, der da drischt, und: ein Arbeiter ist seines Lohnes wert.« 1. Tim. 3 und 5. Kapitel 2. Die unerläßliche Ausrüstung dessen, der das Lehramt in der Kirche übernimmt. Von allem anderen abgesehen muß jeder, der in der Kirche das herrliche Amt, das Volk zu lehren, übernimmt, vornehmlich mit drei Dingen ausgerüstet sein: mit der Lehre, mit Reinheit der Sitten und mit dem Geist oder der Kraft zu lehren. 1. Die Lehre ist dopelter Art: sie handelt von göttlichen Dingen, die wir im eigentlichen Sinne Theologie nennen, und sie|20 handelt von menschlichen Dingen, unter denen wir nicht nur die sogenannten freien Künste und die auf den Universitäten gewöhnlich getriebenen Teile der Philosophie oder auch die Sprachen verstehen, sondern auch eine bürgerliche Bildung und Erkenntnis in öffentlichen Angelegenheiten. Beide Arten der Lehre sind dem Prediger sehr notwendig; jene, damit er die Lehrsätze der christlichen Religion in lauterer Weise treiben, die Wohlgesinnten in frommen Anschauungen befestigen, die Bösen und Übelgesinnten widerlegen könne; diese dagegen, damit er mit größerer Gewandtheit und Gefälligkeit alles verrichte, aber auch die Fehler aller Art, die bei den Men-

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schen der verschiedenen Stände sich finden, ans Licht ziehe und strafe. Denn wie wird der gegen den Wucher und die vielen unbilligen Geschäftsverträge, oder auch gegen schlechte und eingewurzelte allgemein angenommene Gewohnheiten seine Rede verständig einrichten, der keinerlei Kenntnis der bürgerlichen Geschäfte hat. Jesaja, wenn er Kap. 22 die thörichten Pläne, worauf in der Königszeit die Gottlosen sich mehr als auf Gott verließen, verwirft, und wenn er an vielen anderen Stellen verschiedene Sünden rügt, zeigt genugsam, daß er der bürgerlichen Angelegenheiten keineswegs unkundig war. Wie vieles findest du überdies bei Jeremia, Hesekiel, Daniel und den übrigen Propheten, was deutlich genug beweist, daß sie viele bürgerliche Dinge aufmerksam zu beobachten und weise abzuschätzen wußten. Dasselbe aber bezeugt Christus selbst von sich in den meisten Gleichnissen, wie in dem vom ungerechten Haushalter Luk. 16, von anvertrauten Pfunden Matth. 25 und in vielen eigentlichen Reden. Auch aus der Apostelgeschichte und aus den Briefen kann leicht ersehen werden, daß der Apostel Paulus sogar mit den Gesetzen und dem Gerichtsverfahren der Römer wohl bekannt war. Das Ergebnis also ist sicherlich, daß die Lehrer der Kirche nicht nur in göttlichen, sondern auch in menschlichen, insonderheit in öffentlichen Angelegenheiten einigermaßen erfahren sein müssen, und zwar so weit erfahren, wie es zur Beratung der ihnen anvertrauten Heerde und vor allem zur Verhütung von Fehltritten aller Art unerläßlich ist. 2. Daß die Heiligkeit des Lebens bei einem Lehrer des Evangeliums erfordert wird, kann jeder daran beurteilen, daß es nichts nützt, die Kirche Gottes durch Reden zu erbauen, wenn das, was aufgebaut ist, durch schlechte Sitten wieder gestört wird. Das tugendhafte Leben ist sozusagen das Siegel, wodurch die gesunde Lehre bei den Hörern bestätigt wird. Christum, den|21 wir verkündigen hören, müssen alle sich als ihren Meister vor Augen stellen, mächtig nicht nur im Wort, sondern auch im Werk. Deshalb gab der Apostel so sehr sorgfältige Vorschriften darüber, wie die Bischöfe oder Ältesten, aber auch die Diakonen mit ihrem ganzen Hause, beschaffen sein sollten, mit welchen Tugenden er sie vor allem geschmückt, von welchen Fehlern er sie unberührt wünsche 1. Tim. 3 und Tit. 1. Es ist freilich nicht zu vergessen, daß, wenn es uns nicht zu teil wird, lauter solche und in jeder Beziehung gesegnete Prediger, wie wir sie wünschen, zu haben, wir auch die zu tragen und zu lieben schuldig sind, deren Lehre gesund und von keinerlei Aussatz der Ketzerei und gottloser Ansichten vergiftet ist. Es mögen einige aus Neid oder aus Streitsucht oder aus Vorwand lehren: wenn sie nur Christum verkünden, so ist es gut, und wir haben Gott dafür zu danken Phil. 1. Niemand wird ohne sittliche Fehler geboren, groß ist die menschliche Gebrechlichkeit, und von allen Seiten umgeben uns gleichsam böse Hausgeister, die unablässig uns zur Sünde reizen; andererseits vermag niemand den giftigen Bissen der Verleumdung zu entfliehen. Denn zu allen Zeiten (vorzugsweise zu der unsrigen) kannst du

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eine böswillige Masse – doch was sage ich: Masse? – selbst auch solche Leute, die sich über das geringe Volk hocherhaben wähnen, sehen, wie sie die Zähne wetzen, um Diener der Gemeinde in den Staub zu ziehen, selbst wenn sie keine gerechte Ursache dazu haben. Sehr viele haben es erfahren, daß Handlungen, die an sich keinen Vorwurf verdienen, als ungeheure Verbrechen ausgelegt werden, und in den Anklagen werden aus Mücken Elefanten gemacht, ja mehr als das. Daher wird kein Verständiger sein Ohr leichthin denen leihen, die oft und gern die Lehrer der Kirche tadeln. Darin ist es begründet, daß derselbe Apostel, wie er eindringlich vorschrieb, wie die Lebenshaltung der Ältesten beschaffen sein müsse, ebenso vorsichtig und weise ermahnt, keine Anklage gegen einen Ältesten anzunehmen, als auf zwei oder drei Zeugen. 1 Tim. 5. 3. Zum Dritten sagten wir, dem Prediger sei Geist und Kraft zu lehren unerläßlich. Unter der Bezeichnung »Geist und Kraft« verstehe ich die eigentüm­liche Tüchtigkeit, die gesunde Lehre vorzutragen und die Herzen zu bewegen und emporzuziehen, damit so viele wie möglich reichste Früchte bringen und so wenige wie möglich die Kraft oder den Mut haben, etwas, als wäre es unfruchtbar, zu verwerfen. Diese Tüchtigkeit wird mitunter Kraft (d0namiV, potentia), mitunter Freimütigkeit im Reden (parrhs6a, fiducia), dann wieder Gewalt (§xous6a, potestas), dann wieder Geist (pneæma, spiritus), Beweisung des|22 Geistes und der Kraft (!p8deixiV pne0matoV ka5 dun2mewV, ostensio spiritus ac potentiae) genannt. So sagen die Evangelisten von Christus: »er lehrte, als der da Gewalt [Vollmacht] hatte« Matth. 7 Mark. 1. Und Luk. 4 heißt es: »Alle waren betroffen über seine Lehre, denn sein Wort war ein Wort mit Vollmacht [Gewalt].« Und der Apo­ stel Paulus schreibt 1 Kor. 2: »Mein Wort und Verkünden stand nicht auf Überredungskunst der (menschlichen) Weisheit, sondern auf dem Erweise von Geist und Kraft, damit unser Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gotteskraft.« Derselben Redewendung bedient sich der Apostel Kap. 4. In Apostelgesch. Kap. 4 wird Petrus des heiligen Geistes voll wegen seiner Unumwundenheit im Reden bewundert. Und in demselben Kapitel bitten die Apostel Gott, er möge seinen Knechten es geben, mit aller Freimütigkeit zu predigen; dahin gehört auch, daß Kap. 6 Stephanus gefeiert wird, weil er voll Glaubens und Un­er­ schrocken­heit oder vielmehr voll Kraft (es steht nämlich da das Wort dun2mewV) redete, daß ferner niemand der Weisheit und dem Geist, der in ihm redete, zu widerstehen vermochte. Auf derselben Linie liegt, was der Herr zu Jeremia spricht: »Siehe, ich habe meine Worte in deinen Mund gelegt, siehe, ich habe dich heute für die Völker und für die Königreiche bestellt [mit dem Auftrage], auszurotten und zu zerstören, zu verderben und niederzureißen, zu bauen und zu pflanzen« Jerem. 1. Es giebt auch noch manche andere Stellen, in denen über diese Tüchtigkeit und Kraft zu lehren lichtvoll gehandelt wird. Es ist aber deutlich, daß der Apostel diese drei Dinge: die Lehre, die Lebensreinheit und die Tüchtigkeit oder

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Kraft zu lehren, an der Stelle miteinander verbindet, wo er zu Timotheus sagt: »Halte dich an das Mu­ster der gesunden Reden, die du von mir gehöret hast in Glauben und Liebe in Christo Jesu. Bewahre die edle Mitgabe durch den heiligen Geist, der in uns wohnt.« 2. Tim. 1. Gesunde Reden bezeichnet die Lehre, Glauben und Liebe die Lebensreinheit, die edle Mitgabe und Heiliger Geist die Tüchtigkeit oder die Gabe zu lehren deutlich genug, wenn es auch nicht dasselbe ist. So sehr aber ist allen, die das Volk belehren wollen, Kraft und Tüchtigkeit zu lehren, wie wir sie soeben deutlich gemacht haben, unerläßlich, daß sie, auch wenn sie mit Lehre und Sittenreinheit wohl ausgerüstet sind, niemals hoffen dürfen, etwas Anerkennenswertes zu stande zu bringen, wenn jene eine Bedingung ihnen fehlt. Umsomehr müssen alle, die zur Lehrthätigkeit sich bereiten, oder in sie schon eingetreten sind, sich eifrig bemühen, daß sie geschmückt wie mit wissenschaftlicher|23 Bildung und heiligen Sitten, so mit Geist und Kraft zu lehren, auf dem öffentlichen Schauplatz der Kirche erscheinen. Übrigens wird Geist und Kraft im Lehren, um mit wenigen Worten dies hinzuzufügen, 1. als Gnadengabe von Gott in der ersten Berufung dargereicht; 2. das Wachstum dieser Gabe aber wird von Gott durch anhaltendes Gebet erlangt; 3. sie wird genährt und erhalten durch brennenden Eifer, das Seelenheil der Hörer zu schaffen. Der erste Punkt ist ohne Frage deutlich. Denn welche Gott zu dem herrlichen Amt, das Volk zu lehren, in der Kirche zu erwählen würdigt, die ehrt er auch alsbald und reichlich durch seinen Geist und durch die Gaben, die zu so großem Werk unerläßlich sind. Ein ausgiebiger Zeuge ist für sich selbst Jeremia Kap. 1. Zeuge ist ferner Christus, da er den Aposteln und Jüngern die Sendung und die Gabe des Heil. Geistes verheißt, der sie selbst alle Wahrheit lehren, der ihr Herz stärken und unterweisen und in den schwersten Gefahren selbst vor Königen und Fürsten zu rechter Zeit ihnen das darreichen wird, was sie sagen sollen. Joh. 16; Matth. 10. Der zweite Punkt ergiebt sich daraus mit aller Deutlichkeit, daß die Apo­stel in Apostelgesch. 4 Gott bitten, er möge ihnen geben, das Wort zu reden mit aller Freudigkeit und allem Freimut. Und Paulus geht nicht nur selbst Gott mit unablässiger Bitte darum an, sondern er bittet und beschwört auch andere, dasselbe zu thun: »Betet«, spricht er (an die Epheser 6), »für mich, daß mir das Wort gegeben werde mit Aufthun meines Mundes mit Freimut, zu verkünden das Geheimnis meines Evangeliums, für das ich werbe in Fesseln, daß ich freimütig damit hervortreten möge, wie es meine Pflicht ist zu reden.« Ebenso im 2. Brief an die Thessalonicher 3: »Betet, Brüder, für uns, daß das Wort des Herrn seinen Lauf habe und verherrlicht werde.« Daher ist denn auch in allen Kirchen die Sitte aufgekommen, bei allen gottesdienstlichen Reden mit öffentlicher Anrufung Gottes zu beginnen. In dieser Anrufung geziemt es sich für alle, von

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ganzem Herzen zu bitten, zuerst, daß die Lehrer das Wort Gottes rein und mit Freudigkeit erklären, sodann, daß Gott die Herzen der Hörer erleuchten wolle, die vorgetragene Lehre recht zu verstehen und recht zu gebrauchen. Was den dritten Punkt angeht, so ist gewiß, daß, wenn mit frommem und brennendem Eifer das von Gott gegebene Amt verrichtet wird, Gott nach seiner Güte ohne allen Zweifel gesegneten Erfolg verleihen wird. Denn es ist nicht Gottes Wille, die schweren Mühen und|24 den Fleiß heiliger Menschen, die ernstlich seine Ehre suchen, in stich zu lassen. Und wahrlich, wer an seiner Berufung nicht zweifelt, wer der Wahrheit der Lehre, die er vorträgt, gewiß ist, wer keines offenkundigen Vergehens bezichtigt werden kann, wer ein gutes Gewissen hat über seinen Glauben und seinen Fleiß, wer nichts vornehmlicher und ernstlicher begehrt, als den Namen Gottes auf Erden zu heiligen und daß Christus so viele Seelen wie möglich gewinne, – der verkündet auch ohne allen Zweifel voll Zuversicht und Unerschrockenheit die Gebote Gottes. Die scharfe und machtvolle Rede eines solchen Predigers trifft und durchdringt der Hörer Herzen; er feuert die Menschen nicht nur an, ihr Leben zu bessern, er treibt und zwingt sie förmlich dazu. Deshalb bleibt auch keinem die Erfahrung fern, daß er von Gott mit Geist und besonderer Kraft zu lehren begabt sei. Solchen Eifer aber und solche fromme Regungen beschreibt der Apostel 1. Thess. 2 mit kundiger Hand; seine Worte sind es wert, von uns beachtet und von allen Predigern beständig sich vor Augen gehalten zu werden: »Ihr wisset es selbst, Brüder, daß unser Auftreten bei euch nicht ein eitles war. Vielmehr nach all dem Leiden und der Mishandlung, die wir, wie ihr wisset, vorher in Philippi erduldet hatten, schöpften wir den Mut in unserm Herrn, das Evangelium Gottes in schwerem Kampfe bei euch zu verkünden. Unsere Ansprache kam nicht aus Schwärmerei oder Unlauterkeit, noch geschah sie in Truglist, sondern da uns Gott gewürdigt hat, uns mit dem Evangelium zu betrauen, so reden wir, nicht Menschen zu Gefallen, sondern dem Gott, der unsere Herzen prüft. Wir haben es weder auf Schmeicheleien angelegt, wie ihr wisset, noch uns mit Kunstgriffen der Habsucht abgegeben – Gott ist des Zeuge –, noch suchten wir Ehre von Menschen, weder von euch noch von anderen. Wir konnten uns in die Brust werfen als Apostel Christi; aber wir traten unter euch auf so linde, wie die nährende Mutter ihre Kinder hegt. So hat es uns zu euch gezogen und getrieben, euch nicht nur das Evangelium Gottes darzubringen, sondern unser Leben; denn wir hatten euch lieb gewonnen. Ihr gedenket wohl noch, meine Brüder, unserer Mühen und Beschwerden; Tag und Nacht arbeiteten wir, um niemand zur Last zu fallen, während wir euch das Evangelium Gottes verkündeten. Ihr seid Zeugen und Gott ist Zeuge, wie fromm, gerecht und tadellos wir gegen euch Gläubige uns stellten, wie wir – ihr wisset es – als wie ein Vater für seine Kinder, für jeden einzelnen hatten Mahnung und Ermunterung und Beschwörung, daß ihr möch-

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tet würdig wandeln des Gottes, der euch berief zu seinem Reich und seiner|25 Herrlichkeit.« – Diese Worte, wenn sie so sorgfältig wie sie’s verdienen erwogen werden, zeugen doch ganz deutlich, daß der Apostel in Geist und Kraft gelehrt hat; gleichwohl bestätigen dies noch mehr die Worte, die gleich darauf über den herrlichen Erfolg seiner eigenen Predigten angefügt werden: »Darum danken auch wir Gott ohne Unterlaß dafür, daß ihr das Gotteswort, das ihr von uns zu hören bekamt, aufgenommen habt, nicht als Menschenwort, sondern als das, was es in Wahrheit ist, Gottes Wort, wie es sich auch wirksam erweist in euch, die ihr glaubt.« Dieselbe Willensrichtung, dasselbe Streben, derselbe Feuereifer läßt sich auch in der Rede Apostelgesch. 20 beobachten, die der Apostel an die Ältesten der Gemeinde zu Ephesus hielt, kurz bevor er nach Jerusalem reiste. Doch wir haben keine Zeit, wenn wir nicht über Gebühr weitläufig sein wollen, jene Rede hier zu wiederholen. Allein über dies alles, ich meine die Lehre, die Schuldlosigkeit des Lebenswandels, und den Geist und die Kraft zu lehren, lassen sich weit mehr Beobachtungen anstellen in den Briefen an Timotheus und Titus; da diese in ihrem ganzen Umfange augenscheinlich zu dem Zweck geschrieben sind, alle Pflichten des Predigers darzulegen, so wird jeder, der zum öffentlichen Lehramt sich bestimmt, sie wie sie es verdienen oft lesen und immer wieder lesen. Ich wollte aber dies nur vorausschicken, damit es klar würde, wie das öffentliche Lehramt in den Kirchen wahrlich um vieles erhabener und schwieriger ist, als die meisten denken, und wie niemand es leichthin annehmen, geschweige denn an sich reißen darf. Nicht wenige suchen die Kirchenleitung zu erlangen, aber sie machen sich keine oder doch nur recht wenig Sorge, wie sie von Gott die Kraft zu lehren erlangen. Am wenigsten von allen geziemt es jedoch den Bischöfen [Superintendenten], beliebigen Bewerbern diese verehrungswürdige Thätigkeit sofort anzuvertrauen. Nicht ohne Grund nämlich sagte der Apostel, dieser weise Baumeister in der Gemeinde Gottes: »Lege keinem so schnell die Hände auf und mache nicht gemeinsame Sache mit fremden Sünden« 1. Tim. 5. Kapitel 3. Der Zweck des Predigers. Welches der Zweck des Predigers ist, kann aus dem, was wir soeben gesagt haben, so ziemlich ersehen werden. Dies ist sein Werk, dies seine Arbeit, daß er mit allem Eifer und aller Anstrengung das befördere, was zum Heil der Menschen|26 und zu ihrer Versöhnung mit Gott dient. Darauf bezieht es sich, daß Apostelgesch. 13 und 1. Kor. 15 das Evangelium das Wort des Heils genannt wird, durch das die Menschen das Heil erlangen. Und 1. Kor. 1 sagt der Apostel mit klaren Worten: »Es beschloß Gott, durch die Thorheit der Verkündigung zu erretten die Glaubenden«; in demselben Briefe Kap. 9: »Ich bin allen alles geworden, um allerwege etliche zu retten.« Dann aber giebt der Prediger den Erweis, daß er mit ganzem Herzen und mannhaftem Sinn darauf bedacht ist, den

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geistlichen Gewinn der Seelen zu befördern, wenn er wahre und heilbringende Glaubenssätze vorträgt und beweist, falsche aber und schädliche tadelt und mit kräftigen Gründen bestreitet, wenn er emsig es einschärft, was zu frommer und gerechter Lebensführung unerläßlich ist, darauf die, welche gesündigt haben, streng zurechtweist in dem Wunsche, sie auf den [Lebens=]Weg zurückzuführen; endlich wenn er die Trägen ermahnt, beschwört, schilt, die Bekümmerten aber tröstet, kurz: nichts unterläßt, was nach seiner Überzeugung die Herzen zum Heiland Christus führen oder ziehen kann.

4.6  Das Konzil von Trient:   Die Auslegungsautorität des kirchlichen Lehramtes  Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen u. unter Mitarbeit v. Helmut Hoping hg. v. Peter Hünermann, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 422009, S. 498 (1507).

4. Sitzung, 8. April 1546 b) Dekret über die Vulgata-Ausgabe der Bibel und die Auslegungsweise der Heiligen Schrift Praeterea ad coercenda petulantia ­ ingenia decernit, ut nemo, suae prudentiae innixus, in rebus fidei et morum, ad aedificationem doctrinae christianae pertinentium, sacram Scripturam ad suos sensus contorquens, contra eum sensum, quem ­tenuit et tenet sancta mater Ecclesia, cuius est iudicare de vero sensu et interpretatione Scripturarum sanctarum, aut etiam contra unanimem consensum Patrum ipsam Scripturam sacram interpretari audeat, etiamsi huiusmodi interpretationes nullo umquam tempore in lucem edendae forent. …

Außerdem beschließt es, um leichtfertige Geister zu zügeln, daß niemand wagen soll, auf eigene Klugheit gestützt in Fragen des Glaubens und der Sitten, soweit sie zum Gebäude christlicher Lehre gehören, die heilige Schrift nach den eigenen Ansichten zu verdrehen und diese selbe heilige Schrift gegen jenen Sinn, den die heilige Mutter Kirche festgehalten hat und festhält, deren Aufgabe es ist, über den wahren Sinn und die Auslegung der heiligen Schriften zu urteilen, oder auch gegen die einmütige Übereinstimmung der Väter auszulegen, auch wenn diese Auslegungen zu gar keiner Zeit für die Veröffentlichung bestimmt sein sollten….

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5.  Die Predigtideale in Altprotestantischer Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung als Entfaltungen   des reformatorischen Erbes

Einführung Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung hätten, so die Einsicht bei Hans Martin Müller, »je auf ihre Weise einen Einzelaspekt der reformatorischen Predigt der Glaubensgerechtigkeit zur Geltung gebracht […]: die Orthodoxie den Lehrgehalt, der dem christlichen Glauben den Charakter einer Wahrheitserkenntnis sichert; der Pietismus die persönliche Ergriffenheit des Herzens und Gewissens, wodurch der Glaube als fides apprehensiva sich ausspricht; die Aufklärung die handlungsleitende Deutlichkeit, die den Glauben mit der Frömmigkeit als praktischer Moralität verbindet«1. Dieses Diktum Müllers hilft, die homiletische Theoriebildung dieser drei theologiegeschichtlichen Etappen in ihrer Eigenständigkeit einer positiven Würdigung zu unterziehen und sie konstruktiv auf die reformatorischen Entscheidungen bezüglich der Predigt zu beziehen. Die Predigtlehre der altprotestantischen Orthodoxie ist durch verzerrende Darstellungen allgemein in den Ruf geraten, formalistisch und intellektuell-erfahrungsfeindlich zu sein. Was den Vorwurf des Formalismus anbelangt, ist es zwar richtig, dass der Predigtaufbau in der lutherischen Orthodoxie in der Regel einem gleichbleibenden Schema folgt: Exordium – Propositio – Tractatio – Applicatio – Conclusio. Auch entwickelte sich, im Anschluss an Hyperius, die Empfehlung, die Applicatio fünffach zu entfalten. Die Theorie vom fünffachen usus umfasst den usus didascalicus (Lehre), den usus elenchticus (Widerlegung von Irrlehren), den usus paedeuticus (Mahnung), den usus epanorthoticus (Strafe der Widerstrebenden) und den usus consolatorius (Trost). Die Form aber stand im Dienst des Inhaltes: Es ging um Erbauung. Diese erfolgte im Modus der Lehre und zielte auf die Praxis des gelebten religiösen Lebens. Wahrer Glaube und rechtes Leben sollten miteinander in Beziehung gebracht werden. Und dass die dogmatische Behandlung der Schrift einen breiten Raum einnimmt, lässt sich auf die Notwendigkeit der konfessionellen Identitätsbildung zurückführen. Die Schrift wird zum formalen Erkenntnisprinzip. Der 1 

Hans Martin Müller, Homiletik. Eine evangelische Predigtlehre, Berlin/New York 1996, S. 97.

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5.  Die Predigtideale in Altprotestantischer Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung

Bezug der Predigt auf die Schrift kann ein analytischer sein (Homilie) oder ein synthetischer (Themapredigt). Im Folgenden werden zwei Texte aus dieser Zeit dokumentiert. Von Nico­ laus Haas (1665–1715), Pfarrer und Schulinspektor in Blowitz, stammt ein Entwurf für einen möglichen Aufbau einer Predigt zum Evangelium für den Ersten Advent. Der Text gehört zur Gattung der damals wie heute beliebten Predigthilfeliteratur und zeigt die oben beschriebenen Prinzipien von Aufbau und Durchführung einer Predigt in exemplarischer Weise. Für die Behandlung der biblischen Texte wurden neben der analytischen und synthetischen Methode weitere Methoden entwickelt, die als Hilfestellung für die Ausarbeitung von Dispositionen gedacht waren. Solche Methoden werden am Beispiel eines Textes von Valentin Ernst Löscher (1673–1749) vorgestellt, einem der letzten großen Vertreter der lutherischen Orthodoxie, der sich v.a. in der Auseinandersetzung mit der entstehehnde pietistischen Bewegung sowie gegen eine mögliche Union zwischen Lutheranern und Reformierten und gegen die Frühaufklärung engagierte. Dieser kämpferische Grundzug zeigt sich auch im hier wiedergegebenen Text. Die Kritik des Pietismus an Predigtpraxis und Predigtlehre der Orthodoxie entstand aufgrund formalistischer und konfessionspolemischer Exzesse, die ein zwar verbreitetes, aber kein prinzipielles Phänomen waren. Diese Kritik findet sich in dem wiedergegebenen Auszug aus Philipp Jacob Speners »Pia Desideria«. Spener (1635–1705) war in der Tradition der lutherischen Orthodoxie ausgebildet und verstand sich zeitlebens als lutherischer Theologe. Seine Schrift zielt auf eine Reform der Kirche, die nach seinem Verständnis wesentlich beim Pfarrstand und in der Theologenausbildung anzusetzen hatte. Die Schrift besteht aus drei Hauptteilen: Auf die ›Diagnose‹ des gegenwärtigen Verfalls folgt die ›Prognose‹, nämlich die ›Hoffnung bessrer Zeiten‹. Sechs konkrete Reformvorschläge schließen sich im Sinne eines möglichen Therapieansatzes an: Der erste Vorschlag zielt darauf, durch die Förderung privaten Schriftstudiums und öffentlicher Bibelstunden das Wort Gottes reichlich zu verbreiten, der zweite erinnert an Luthers Vorstellung vom allgemeinen geistlichen Priestertum, der dritte fordert die Liebe als die praxis pietatis des Christen, der vierte wendet sich gegen übermäßige theologische Streitigkeiten, der fünfte plädiert für eine Reform des Theologiestudiums, z.B. durch eine geistliche Fürsorge der Professoren für die Studenten oder durch die Einführung homiletischer, katechetischer und poimenischer Übungen. Der sechste Reformvorschlag hat die Predigt zum Gegenstand. Spener weist ihr also eine zentrale Bedeutung für die Reform der Kirche zu und bindet seine homiletischen Überlegungen in ein pastoraltheologisches und ekklesiologisches Gesamtkonzept ein. Zugleich schränkt er die Bedeutung der Predigt als alleiniges religiöses Kommunikationsmedium

Einführung

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behutsam ein, indem er sogenannte collegia pietatis einrichtet, in welchen den Laien eine selbständige und die Einzelperikope überschreitende Schriftlektüre ermöglicht werden sollte. Auch August Hermann Francke (1663–1727), der Begründer des hallischen Pietismus, bleibt in seinen homiletischen Vorschlägen Grundansichten lutherischer Theologie verpflichtet und betont ebenfalls nachdrücklich den Zusammenhang von Theologie und Pastoraltheologie. Nur ein frommer Pfarrer vermag erbaulich zu predigen. Und hatte bereits Spener angedeutet, dass es für den Christenmenschen nicht genüge, getauft zu sein, wenn nicht eine Wiedergeburt des inneren Menschen hinzutrete, so vertritt Francke die Notwendigkeit einer (möglichst datierbaren) Bekehrung. Ein Gedanke, der sich bis in die Gegenwart hinein gehalten hat und in entsprechenden Predigten wie homiletischen Entwürfen das organisierende Zentrum bildet: Die Predigt erfolgt zum Zweck der Bekehrung der Hörer. Sie hat daher dem Hörer die Ordnung des Heils aufzuzeigen, also den Weg zu einer echten Bekehrung und zum rechten Leben im Glauben. Mit seiner Orientierung am Individuum steht der Pietismus in partieller Nähe zur Aufklärung und ist immer schon ein Kind der Neuzeit, so nachhaltig er sich von deren gesellschaftlich-religiösen Folgen zu distanzieren sucht. Die Theologie der Aufklärung steht demgegenüber der Neuzeit und ihren Folgen sehr viel wohlwollender gegenüber. Ja, sie begreift die Neuzeit selbst als eine Folge des Christentums. Die Epoche der Aufklärung ist in der Kirchen-und Theologiegeschichtsschreibung äußerst umstritten: Gilt sie den einen als eine Zeit, in welcher die Wurzeln einer bis in die Gegenwart reichenden Krise des Christentums liegen, so urteilen die anderen, es seien in der Aufklärung Weisen des Umgangs mit der christlichen Überlieferung ausgearbeitet worden, welche das Christentum allererst modernitäts- und damit zukunftsfähig machten. In der Darstellung der Geschichte von Predigt und Predigtlehre dominierte lange Zeit eine Sicht, welche von der Aufklärungshomiletik ein Schreckensbild malte oder sie der Lächerlichkeit preisgab: Die Theologen der Aufklärung hätten das Christentum auf eine Religion der Nützlichkeit und Glücksbeförderung reduziert und es habe ihnen jeglicher Sinn für die Abgründigkeit des Glaubens gefehlt. Erst allmählich gewinnt in der Theologie eine differenziertere Sicht der Epoche an Bedeutung, welche die Eigenart und Absichten der Aufklärungstheologen weder verdammt noch verherrlicht, sondern abgewogen würdigt. Die abgedruckten Texte stammen von Johann Lorenz von Mosheim, einem frühen und von Johann Joachim Spalding, einem späten Vertreter der deutschen Aufklärungstheologie. An beiden wird deutlich, dass die Aufklärung in Deutschland, im Gegensatz zu Frankreich und England, eine christentumsfreundliche war, zu deren Trägern viele Theologen gehörten.

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5.  Die Predigtideale in Altprotestantischer Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung

Johann Lorenz von Mosheim (1693–1755) galt zu seinen Lebzeiten vielen als der bedeutendste Theologe der Zeit. Er war von ungeheurer Gelehrsamkeit und Produktivität. Sein Hauptarbeitsfeld war die Kirchengeschichte, umfasste aber daneben praktisch alle Felder der theologischen Wissenschaft – auch die Praktische Thelogie. Darüber hinaus war er ein berühmter Prediger, der als ein »Bahnbrecher der modernen Predigt« gilt2. Seinen Ausführungen zur Predigtlehre ist die Fülle seiner praktischen Kanzelerfahrung anzumerken. Auch Johann Joachim Spalding (1714–1804) galt als einer der angesehensten Prediger seiner Zeit. Er verfasste eine in zahlreichen Auflagen veröffentlichte Schrift über die »Bestimmung des Menschen«, in welcher es ihm offensichtlich gelang, das religiöse Bewusstsein der Epoche auf eine Weise auszusprechen, die sich viele Leser zu eigen machen konnten: Das Christentum ist im Kern etwas Einfaches, sein Sinn und Zweck die Glückseligkeit der Menschen. Für die Predigtlehre von besonderem Interesse ist Spaldings Schrift »Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung«. Spalding entwirft hier eine Predigtlehre im Rahmen einer Theorie des Pfarrberufes. Er macht damit deutlich, wie eng für den Protestantismus beides zusammenhängt: Pfarrer sind Prediger. Diese Verteidigungsschrift für den vielen nicht mehr selbstverständlich erscheinenden Pfarrberuf 3 diente »als Modell für die literarische Gestaltung von Pfarrerfiguren und beeinflußte Generationen von Pfarrern in ihrem Amtsverständnis nachhaltig«4. Spaldings Ausführungen sind geleitet von der Absicht, aufgeklärte Erbauung zu ermöglichen – und sie lassen sich lesen als ein geglückter Fall von erbaulicher Aufklärung über die Religion und das menschliche Leben. Genau darin besteht für Spalding die Aufgabe der Predigt: Sie muss aus christlicher Sicht Auskunft geben über die Bestimmung des Menschen. 2  Vgl. folgende Titelformulierung: Martin Peters, Der Bahnbrecher der modernen Predigt Johann Lorenz Mosheim in seinen homiletischen Anschauungen dargestellt und gewürdigt. Ein Beitrag zur Geschichte der Homiletik, Leipzig 1910. 3  Spalding setzt sich in seiner Schrift explizit auseinander mit David Humes Auffassung, dass die ganze Religion im Grunde ein Betrug der Priester sei und mit der daraus resultierenden Verachtung des Pfarrberufs. An Spaldings Auseinandersetzung mit Humes Religionskritik wird exemplarisch deutlich, dass eine neuzeitliche Predigtlehre, wenn sie von Gewicht sein will, nicht auskommt ohne die Verankerung in einer Religions- oder Christentumstheorie. Vgl. auch Ulrich Dreesman, Aufklärung der Religion. Die Religionstheologie Johann Joachim Spaldings, Stuttgart 2008. 4  Albrecht Beutel, Einleitung, in: Johann Joachim Spalding, Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (11772; 21773; 31791), hg. v. Tobias Jersak, Tübingen 2002 [ = Johann Joachim Spalding, Kritische Ausgabe, hg. v. Albrecht Beutel, Erste Abteilung: Schriften, Bd. 3], S. XXIX. – Die Frage nach der »Nutzbarkeit« wurde in der Zeit der Aufklärung im Blick auf die verschiedensten Kulturphänomene gestellt. In dieser Frage kommt der Wille zum Ausdruck, die Welt zu verstehen, in der die Menschen leben. Es geht also nicht darum, etwa die Religion auf platte Nützlichkeit zu reduzieren.

5.1  Altprotestantische Orthodoxie

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Weiterführende Literaturhinweise: Johannes Wallmann, Der Pietismus (UTB 2598), 2. leicht überarbeitete Aufl., Göttingen 1995. Hans Martin Müller, Homiletik. Eine evangelische Predigtlehre, Berlin/New York 1996, S. 77–97. Martin Schian, Orthodoxie und Pietismus im Kampf um die Predigt, Gießen 1912. Albrecht Haizmann, Erbaulichkeit als Kriterium der Predigt bei Philipp Jakob Spener, in: Christian Albrecht/Martin Weeber (Hg.), Klassiker der protestantischen Predigtlehre. Einführungen in homiletische Theorieentwürfe von Luther bis Lange (UTB 2292), Tübingen 2002, S. 48–73. Werner Schütz, Die Kanzel als Katheder der Aufklärung, in: WSA 1 (1974), S. 137–171. Albrecht Beutel, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium (UTB 3180), Göttingen 2009. Ulrich Dreesman, Erbauliche Aufklärung. Zur Predigttheorie Johann Lorenz von Mosheims, in: Christian Albrecht/Martin Weeber (Hg.), Klassiker der protestantischen Predigtlehre. Einführungen in homiletische Theorieentwürfe von Luther bis Lange (UTB 2292), Tübingen 2002, S. 74–92. Albrecht Beutel, »Gebessert und zum Himmel tüchtig gemacht.« Die Theologie der Predigt nach Johann Joachim Spalding, in: Wilfried Engemann (Hg.), Theologie der Predigt. Grundlagen – Modelle – Konsequenzen (APTh 21), Göttingen 2001, S. 161–187.

5.1  Altprotestantische Orthodoxie a. Nicolaus Haas: Die Ordnung der Predigt  Nicolaus Haas, Der Geistliche Redner Oder Gründliche Unterrichtung Vor Angehende Prediger / Was dieselbige Bey ihrem Antritt / sorgfältiger Verwaltung / allerhand ordentlichen und ausser=ordentlichen Zufällen / auch endlicher Niederlegung ihres Amts / so wohl mit GOTT / als ihren Zuhörern zu reden haben. In vier Theile abgetheilet Und Mit nöthigen Registern versehen, Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch, 1693, S. 136–143.

Das erste Capitel / Von denen Ordentlichen Predigten über die Sonn- und Fest=tägliche Evangelia. Zwar möchte ich hier meiner Feder die Ruhe gönnen / indem neulichst der so fromme als gelehrte Prediger zu Rochlitz / Herr M. Caspar Fiedler / in seinem artigen Tractat unter dem Titul: Mund und Weißheit der Diener GOttes / denen jenigen / die da lernen wollen / wie sie diese Evangelia / so in unsern Kirchen jährlich gepredigt werden / der Gemeinde GOttes recht ordentlich und mit Frucht vortragen mögen / stattliche Anleitung gegeben hat; So liegen auch einem jeden bereits vor Augen M. Christophori|137 Dauderstadts bekannter Doctor Evangelicus, D. Andreæ Christophori Schubarts allererst vor wenig Jahren erweiterter Lehr=Tempel / M. Johann Grävens unlängst herausgekommener Daduchus Sacer,

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wie auch Herrn D. Joh. Friedrich Mayers Farrago Dispositionum, welche er seinem Museo Ministri Ecclesiæ im andern Theil einverleibet / und sonderlich werden hierinnen des fürtreflichen und nie gnug belobten Herrn D. Jo. Benedicti Carpzovii schöne Dispositiones, welche er nur neulichst in seinem Tyrocinio homiletico an das Licht gesetzet / einem gnugsame Nachricht ertheilen. Doch damit ich nichts schuldig bleibe / soll allhier der kurtze Abriß meiner einfältigen meditationen über die Evangelischen Texte dem Leser mitgetheilet werden. Zuvorher aber setze ich folgendes Gebet / welches ein Prediger / wenn er auff die Cantzel gehet / zu seinem GOTT abschicken kan: Mein GOtt und Vater im Himmel! ich soll anitzo an diese heilige Stätte als ein Botschaffter an CHristus statt treten / und deine liebste Ge=|138 meinde / welche JEsus mit seinem Blut so theuer erlöset hat / aus deinem göttlichen und seligmachenden Worte unterrichten. Weiln ich aber von mir selber / als von mir selber / hierzu nicht tüchtig bin / so werffe ich mich vor dem Throne deiner Barmhertzigkeit demüthigst nieder / die theuren Gaben und den kräfftigen Beystand deines guten Geistes zu meinem heiligen Vorhaben zu erbitten. Ach hilff mir HErr! in dieser Stunde / und gib deinem Knechte / wie und was er anitzo reden soll / mehre mein Gedächtnüß / schärffe meine Sinnen / ­stärcke meine Kräffte / daß ich alles / was ich zu reden in deinem Nahmen mir fürgesetzet / ohne Anstoß möge vorbringen / rühre und reinige durch deinen göttlichen Finger meine unreine Lippen / öffne den schwachen Mund / löse die stammlende Zunge / laß mich itzt predigen / womit ich kan bestehen / und kein unnützes Wort aus meinem Munde gehen / und da in meinem Amt ich reden soll und muß / so gib dem Worte Krafft und Nachdruck ohn Verdruß. Thue auff die Ohren meiner Zuhörer / daß sie dein Wort recht hören / und sich daraus zum|139 ewigen Leben erbauen / erleuchte die Augen ihres Verstandes / damit sie vernehmen was des Geistes GOttes ist / rühre und erwecke ihrer aller Hertzen / wie das Hertz der frommen Lydiæ, daß sie diese Predigt als GOttes Wort annehmen / in einem feinen und guten Hertzen bewahren / und Frucht bringen in Gedult. Also laß / liebster Vater! durch mich elenden Menschen deinen werthen Nahmen geheiligt / deinen heiligen Willen vollbracht / und meiner Zuhörer ewige Seligkeit befördert werden. Ach HErr! höre / ach HErr! sey gnädig / ach HErr! mercke auf und thue es; Erhöre mich / erhöre mich / ich will dich preisen ewiglich / Amen!

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Dom. I. Advent. Evang. Matth. XXI, I-9. Præloq[uium] Jauchtzet ihr Himmel / freue dich Erde! Lobet ihr Berge mit jauchtzen! denn der HERR hat sein Volck getröstet und erbarmet sich seiner Elenden. Mit solchen Jauchtzen und Frolocken / meine Liebsten! heben wir billich beym|140 Antritt des neuen Kirchen Jahrs die H. Advents Zeit an: Also muß itzo unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens seyn / indem wir bey Eröffnung des H. Evangelien=Buchs versichert werden / daß der so lang verlangte Heyland der Welt vom Himmel kommen / und der HErr unser Erbarmer uns zum Trost auff Erden erschienen sey / Esa.XLIX,8. Auff daß aber unser Advents=HErr diese unsre Freude sich wohl gefallen lasse / und so offt wir im angehenden Kirchen=Jahre an dieser H. Stätte uns in seinem Nahmen versamlen werden / mit seiner Gnade zu uns komme / und seiner Elenden sich allezeit erbarme / so kommet / last uns niederfallen auf unsre Knie / und ihn anruffen. Exord[ium] Saget den verzagten Hertzen: Seyd getrost / fürchtet euch nicht / sehet / euer GOTT der kommt zur Rache / GOtt der da vergilt / kommt und wird euch helffen: Also befahl vormahls der liebreiche GOtt denen heiligen Propheten im A.T. sein trauriges Volck mit der erfreulichen Ankunfft des Messia zu trösten / Esa. XXXV,4. Gewißlich / keine angenehme-|141 re Zeitung hätten die Ohren der heiligen Väter hören können / als eben diese: Sehet / euer GOtt kommt. Wie dem allen aber / so waren sie doch darinn unglücklich / daß sie die Erfüllung dieser Vertröstung nicht erlebet / sondern mit Hoffnung sich biß in ihr Grab abspeisen musten. Allein wie selig sind dargegen nunmehro unsre Augen im Neuen Testament? Luc.X,23. Sehet / euer GOtt kommt! rufft uns der Evangelist Matthäus im heutigen Evangelio zu / und weiset uns / wie der verheissene Messias und WeltHeyland sich einstelle / wie JEsus / der da ist GOTT über alles gelobet in Ewigkeit / nun komme / und wolle uns die gewüntschte Hülffe leisten. Ey so wollen wir dahero zu dieser Zeit / da unser Heil näher ist als da wirs gläubten / unsre Augen und Hertzen / Sinnen und Gedancken auf Propos[itio] den zu uns kommenden GOtt richten / und sehen / wie ihn unser Text uns vorstellet: I.) Als herrlich und majestätisch. II.) Als gnädig und hülffreich. III.) Als preiß= und glorwürdig.|142

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Tractatio. Ob gleich fleischliche Augen und irrdisch=gesinnete Hertzen an unserm Advents=HErrn anitzo wenig herrliches und majestätisches erblicken können / so zeiget doch denen gläubigen Christen / wie er allerdings I.) herrlich und ma­ jestätisch sey / der Evangelist / so wohl a) in den Nahmen / welche er ihm zulegt. Heisset ihn absolutè HERR / einen König / gibt ihm den Nahmen JEsus / der über alle Nahmen ist; als auch b) in den Wercken / welche er beschreibet V.2.3. aus welchen die Herrligkeit seiner göttlichen Allwissenheit und Allmacht sattsam zu ersehen. So herrlich und so majestätisch / so gnädig und hülffreich ist er II.) denn auff seine Huld und Gnade hat längst Zacharias das Volck Gottes / nach Aussage Matthäi / vertröstet V.5. Wir hören a) wer sich seiner Gnade und Hülffe zu erfreuen habe? Tochter Zion und Jerusalem. b) Wie solche beschaffen sey? sie sey I.) unvergleichlich. Siehe! der König kommt zun Unterthanen / Gerechte zun Sündern / sc. 2.) Höchst erfreulich / man hat drüber zu jauchtzen unn zu fro­ locken.|143 III.) Preiß= und glorwürdig. Der Evangelist kan nicht gnugsam erzehlen / wie bey seinem Eintritt gen Jerusalem das Volck ihn a) so wohl mit Worten / als b) mit Thaten gepriesen und beehret habe: Und lehret uns / wie er würdig sey zu nehmen Preiß und Ehre / sc. Apoc.IV,II. Usus. Elencht[icus] widerlegt die heutigen Jüden / welche diesen zu uns kommenden GOtt nicht erkennen noch annehmen wollen vor den Meßiam / sondern auf einen andern warten. Pæd[agogicus] Ermahnet / ihm entgegen zu gehen und bey seiner Ankunfft zu bewillkommen mit gläubigen / mit gehorsamen / mit danckbaren Hertzen. Consol[atorius] Tröstet mit seiner Gnade und Hülffe in allen / so wohl leiblichen als geistlichen Nöthen. Ach biß willkommen du edler Gast! Der du uns Sünder nicht verschmähet hast.

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b. Valentin Ernst Löscher: Methoden der Predigtarbeit  Valentin Ernst Löscher, Edle Andachts-Früchte / oder 68. Auserlesene Oerter der Heiligen Schrifft / so von der Andacht handeln / zur Ermunderung des Geistes / in so vielen Predigten / nach XXV. unterschiedenen Methodis ausgeführet / Darinnen die Theologia Mystica Orthodoxa in VI. Theilen vorgetragen wird. Nebst Einem Vorbericht von der Theologia Mystica, und zwey Anhängen: I. Von dem Nuzen der Theologiæ Mysticæ wider die Päbstler / II. Von den Gränzen der Andacht und des Enthusiasmi, Dresden: Paul ­Günther Pfotenhauer, 1711, Bl. )()()()(2r-)()()()(5r.1

Bericht von dem Gebrauch dieses Buchs / sonderlich in XXV. methodis ­Concionandi. I. NEben denen bißhero gezeigten zwey Haupt=Absichten 2 / habe ich noch vier zuläßliche Neben=Absichten gehabt / womit sonderlich auf den Nutzen anderer / so wohl studirender / als ungelehrten / gesehen. Der erste ist / weil die Sache sich ohne dem besser in Predigten abfassen liesse / zugleich fünff und zwantzig Methodos concionandi denen angehenden zu zeigen / und (welches bißher am meisten desideriret worden) mit Exempeln dieselbe zu erläutern. Ich theile die methodos concionandi ein in methodos dispositionis & elaborationis: Jene bestehen nur in der Ordnung und Einrichtung der|)()()()(2v Predigt: diese in der Ausarbeitung und Redens Art. Die methodi dispositionis sind: 1. Methodus Paraphrastica simplex, welche denen Frantzosischen Predigern sehr gemein ist / bestehet darinnen / daß / ohne Eintheilung des Texts / derselbe durch eine nicht unterbrochene Paraphrasin erkläret wird / und die Usus zuletzt allein stehen. […] 2. Methodus Paraphrastica mixta, welche der seelige Lutherus / Balduinus und andere alte Evangelische Lehrer gebrauchen / daher sie auch Balduiniana genennet wird / braucht auch keine oder gar geringe Eintheilung des Texts / und mischet die Usus immer in die Paraphrasin ein. […]

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[Die Wiedergabe folgt der Blattzählung im Original.] [Löschers Werk verfolgt nach eigener Aussage eine doppelte Intention: einerseits »dem gefallenen Christen-Wandel aufzuhelffen« und andererseits »[d]ie Theologiam Mysticam Orthodoxam auszuführen« (aaO., Vorbericht, ohne Blattpaginierung). Mit Theologia Mystica bezeichnet Löscher gegenüber der Theologia Thetica eine Theologie, die nicht nur die Glaubensgegenstände einer wissenschaftlichen Darstellung und Erörterung zu unterziehen vermag, sondern die auf inneres Wachstum, gemeint ist eine Veränderung in Verstand, Willen und Affekten, zielt. »So ist demnach die Theologia Mystica pura, wie sie durch Beystand Gottes in diesem Buche wird vorgestellet werden / ein Theil der Christlichen Theologiæ, darinnen das innerliche Wachsthum erneuerter Christen zu einer Heil. Andacht vorgestellet wird« (aaO., Vorbericht XV, ohne Blattpaginierung).] 2 

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3. Methodus Dogmatica, welche denen Engelländern fast eigen ist / theilet zwar den Text genau ein / erkläret ihn aber sehr wenig / sondern ziehet aus allen prægnanten Worten desselben Dogmata und Observationes, und braucht an statt der Usuum meditationes, oder|)()()()(3r Andachten. […] 4. Methodus Fundamentalis, einer von denen raresten / beruhet darauf / daß man die drey fundamenta concionandi, so in jedweden Text stecken / nemlich das fundamentum docendi, oder den articulum fidei aut morum, das fundamentum movendi, oder den Affect, und das fundamentum delectandi, oder die schöne Redens=Art / das Simile und dergleichen angenehmes / so im Text ­stecket / ausführet / und der Usus bey jedweden fundamento gleich daran gehänget wird. […] 5. Methodus Potismatica, so denen Jesuiten sehr behaget / wenn man aus dem Text lauter Potismata ziehet / und ihn nicht weiter / als er darzu dienet / erkläret / die Usus aber auslässet. […] 6. Methodus Articulata, wird von dem seeligen Ægid. Hunnio, der ihn fleißig gebraucht / Hunnania genennet / und beruhet darauf / daß man ohne sonderliche Eintheilung immer ein Wort|)()()()(3v des Texts nach dem andern erkläret / und die Usus darzwischen bey jeden Wort einmischet. […] 7. Methodus Ursiniana, von dem seeligen J. H. Ursino, der ihn gebraucht / also genennet / richtet die Predigt nach Art einer profan Oration ein / daß darinnen Narratio, Propositio, Confirmatio und Confutatio anzutreffen ist. […] 8. Methodus Zetetica ist / wenn man eine oder mehr Fragen aus dem Text loco Tractationis vorstellet / und an statt der Usuum Casus conscientiæ ausführet. […] 9. Methodus Paralleletica ist / wenn man 2. Parallel-Sprüche / deren einer an statt des Texts vorgelesen / der andere aber statt des Exordii ausgeführet wird / zugleich disponiret / und erkläret / auch die Usus auß beyden zugleich herführet. […] 10. Methodus Aphoristica ist / wenn an statt des Thematis zwey oder mehr Aphorismi aus dem Text vorgestellet / und erkläret werden. […]|)()()()(4r II. Und dieses alles sind solche methodi, die insgemeim selten gebrauchet werden; nun folgen die so öffters vorkommen / und Thematicæ genennet werden / nemlich: 11. Methodus Thematica naturalis, ist der allergemeinste / und jederman bekandt. […] 12. Methodus Allegorica, sive schematica, wenn das Thema allegoricum ist / die allegorie durchaus behalten wird. […] 13. Methodus Antonomastica, wenn das Thema von einer bekandten Historie hergenommen ist. […]

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14. Methodus Arguta, wenn das Thema, und die partes argutiæ, oder conceptus inexpectati sind. […] 15. Methodus Phraseologica, wenn das Thema und die Ausführung aus einer Biblischen phrasi fliessen.[…]|)()()()(4v 16. Methodus Ritualis, wenn das Thema und die Ausführung von einer bekandten Ceremonien der alten Kirche genommen ist. […] 17. Methodus Dialogistica, wenn an statt des Thematis und der Partition aus dem Text ein Geistliches Gespräch angestellet wird. […] 18. Methodus Hymnica, wenn der Text mit einem bekandten Liede durchgeführet wird. […] 19. Methodus Emblematica, wenn an statt des Thematis, oder derer Theile / Emblemata vorgestellet werden. […] III. Hierauf folgen 6. Methodi Elaborationis, als: 20. Methodus Oratoria, welche von Frantzosen und Italiänern sehr gebrauchet wird / wenn der stylus ausgezieret / und mit Rhetorischen Figuren und Affecten alles erfüllet ist. […]|)()()()(5r 21. Methodus Exegetica, wenn man den Grund=Text / die antecedentia und consequentia fleißig durchgehet. […] 22. Methodus Concordantialis, wenn man die vornehmsten Worte aus der Concordanz ausführet / und sich starck an die loca parallela hält. […] 23. Methodus nervosa, welche die Engelländer sehr treiben / heist / wenn man kurtze und unterbrochene paragraphos brauchet / und immer argutias suchet. […] 24. Methodus precatoria, wenn man alles in Form eines Gebets / oder Andacht / ausarbeitet. […] 25. Methodus mixta wird aus diesen allen zusammen gesetzet. […]

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5.2  Pietismus a. Philipp Jacob Spener: Die Predigt als Mittel der Kirchenreform  Philipp Jacob Spener, Pia Desideria, oder Hertzliches Verlangen / Nach Gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen / sampt einigen dahin einfältig abzweckenden Christlichen Vorschlagen, Frankfurt am Mayn: Johann David Zunners, 1675, hg. v. Kurt Aland (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 170), 3. durchgesehene Aufl., Berlin: Verlag Walter de Gruyter, 1964, S. 78–81.

Neben diesem zu ihrem eigenen Christentum dienlichen Exercitiis1, solte auch wol nutzlich seyn / wo ihnen von ihren Præceptoribus gelegenheit gemacht würde / zu einigen vorübungen der dinge / damit sie in ihrem Ampt dermahl eins umbzugehen haben werden: Zuweilen einige unwissende zu unterrichten / krancke zu trösten / und dergleichen; Vornehmlich aber in den Predigten sich also zu üben / daß ihnen bald gezeigt werde / wie sie alles in solchen Predigten zu der erbauung einzurichten. Wie ich dann jetzo noch dieses vor das 6. mittel anhänge / wodurch der Christlichen|79 Kirchen zu besserm stand geholfen werden möchte / wo nehmlich die Predigten auch also von allen eingerichtet würden / daß der zweck deroselben / nehmlich glaube und dessen früchten / bey den Zuhörern bestmüglichst befördert werden. Es ist zwar freylich an dem / daß wenig Orth unserer Religion seyn werden / da mangel sollte seyn / daß nicht gnug Predigten gehalten würden. Aber viel gottselige gemüther finden gleichwol nicht wenig mangel an vielen Predigten. Indem es solche Prediger gibt / welche offters ihre meiste Predigen mit dergleichen dingen zubringen / damit sie sich vor gelehrte leute darstellen / obs wol die Zuhörer nicht verstehen: Da müssen offt viele frembde Sprachen herbey / da etwa nicht ein einiger in der Kirchen ein wort davon weiß: Wie manche tragen wol etwa mehr sorge davor / daß ja das Exordium sich recht schicke / und die zusammenfügung artig; daß die Disposition kunstreich und etwa verborgen gnug; daß alle Theile recht nach der Redekunst abgemessen und aufgeziert seyen / als wie sie solche Materien wehleten und durch GOttes Gnade ausführeten / darvon der Zuhörer im leben und sterben nutzen haben mag. So solle es nun nicht seyn / sondern weil die Cantzel nicht der jenige Ort ist / da man seine kunst mit pracht sehen lassen / sondern das Wort deß HERRN einfältig aber gewaltig predigen / und dieses das Göttliche mittel seyn 1  [Gemeint sind universitäre Übungen, in denen sich Theologiestudierende und angehende Pfarrer in die Theologie als eines habitus practicus einfinden können, der die ausschließlich wissenschaftliche Haltung bewusst überschreiten solle. Vgl. aaO., S. 76: »So wäre dahin zugedencken / wie allerhand übungen angestellet werden möchten / in denen auch das gemüth zu den jenigen dingen / die zu der praxi und eigenen erbauung gehören / gewehnet und darinn geübet würde«.]

5.2  Pietismus

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solte / die leute selig zu machen / so solle billich alles auch nach diesem zweck gerichtet werden. Und hat sich darinnen der Prediger vielmehr nach seinen zuhörern / weil sie nach ihm nicht können / zu richten: Allezeit aber mehr auff die einfältige / so den meisten theil machen als auff etliche wenige gelehrte / wo sich dergleichen antreffen lassen / zu sehen. Gleich wie nun der Catechismus die erste rudimenta in sich fasset / deß Christenthums / und alle auß demselben zu erst ihren glauben gelernet / so solle nicht nur derselbe / vielmehr dem verstand als worten nach / immer fleissiger in Kinderlehren / auch wo man die alte darbey haben kan / so wol bey denselben / getrieben / und ein Prediger darüber nicht müde werden: sondern hat der Prediger gelegenheit / so thut er auch wol in den Predigen das jenige immer den leuten wieder vorzulegen / was sie einmahl gelernet / und sich selbs dessen nicht zu schämen. Was ein und andere anmerckungen sonsten sind / die bey den Predigten zu beobachten / übergehe hier gern. Das vornehmste aber achte ich dieses zu seyn / weil ja unser gantzes Christenthum bestehet in dem innern oder neuen menschen / dessen Seele der Glaube und seine würckungen die früchten deß lebens sind: Daß dann die Predigten insgesampt dahin gerichtet solten werden. Eins theils zwar die theure Wolthaten Gottes / |80 wie sie auff den innern Menschen zielen / also vorzutragen / daß daher der glaube und in demselben solcher innere mensch immer mehr und mehr gestärcket werde: Anderen theils aber die werck also zu treiben / daß wir bey leibe nicht zu frieden seyen / die leute allein zu unterlassung der äusserlichen laster und übung der äusserlichen tugenden zu treiben / und also gleichsam nur mit dem äusserlichen menschen es zu thun haben / das die Heydnische Ethic auch thun kann: Sondern daß wir den grund recht in dem hertzen legen; zeigen / es seye lauter heucheley / was nicht auß diesem grunde gehet / und daher die leute gewehnen / erstlich an solchem innerlichen zu arbeiten / die Liebe GOttes und deß Nechsten bey sich durch gehörige mittel zu erwecken / und nachmahl auß solchem erst zu würcken. Daher auch solle man fleissig treiben / wie alle Göttliche Mittel deß Worts und Sacramenten / es mit solchem innerlichen Menschen zu thun haben / und es ja nicht gnug seye / daß wir das Wort mit dem äusserlichen ohr hören / sondern wie wirs auch in das hertz dringen müssen lassen / daß wir daselbs den Heiligen Geist reden hören / das ist seine versiegelung und krafft des Worts mit lebendiger bewegung und trost fühlen: Also / daß es nicht gnug seye / getaufft seyn / sondern / daß unser innerlicher Mensch / darinnen wir Christum vermittels desselben angezogen / ihn auch müsse anbehalten / und dessen zeugnuß an dem äusserlichen leben zeigen: Daß es nicht gnug seye / äusserlich das H. Abendmahl empfangen zu haben / sondern / daß auch unser innerlicher mensch durch solche selige Speise müsse wahrhafftig gemehret werden: Daß es nicht gnug seye / äusserlich mit

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5.  Die Predigtideale in Altprotestantischer Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung

dem munde zu beten / sondern / daß das rechte und vornehmste gebeth in unserm innerlichen menschen geschehe / und sich entweder in wort erst außlasse / oder aber wol gar in der Seele bleibe / und doch daselbs GOtt finde und antreffe: Daß es nicht gnug seye / GOtt seinen Dienst in dem äusserlichen Tempel zu leisten / sondern / daß unser innerliche mensch den vornehmsten dienst GOtt in seinem eigenen Tempel / er seye jetzt in dem äusserlichen oder nicht / leisten müsse; und was dergleichen ist. Darauff / weil darinnen die rechte krafft deß gantzen Christenthums stehet / sind billich ins gemein die Predigten zurichten. Und würde gewißlich / wo solches geschehe / vielmehr erbauung als auff diese weise bey vielen geschiehet erfolgen. Ein herrliches Exempel dessen haben wir an gegenwärtiger deß Sel. theuren und geistreichen Lehrers weiland Herrn Johann Arndten Postill. Gleich wie solcher vortrefflicher Lehrer und Nachfolger LUTHERI, den er auch so gar in denen allermeisten etwa von einigen übel=verstandenen / und daher mißdeuteten Redens=arten zum vorgänger hat / in seinen übrigen geist=|81 reichen Schrifften alles auff den rechten Kern den innern Menschen gerichtet / also gehet auch diese hiermit auffs neue der Christlichen Kirchen vor augen liegende gantze Postill auff solchen haupt=zweck. Dahero gleichwie in seinem leben seine zuhörer dessen herrlich erbauet worden / so haben auch bißher die krafft solches methodi und gottseliger arbeit / viel tausend fromme Seelen kräfftig empfunden / GOTT vor solche theure gaben demüthig danck gesagt / und deß lieben Autoris gedächtnuß in dem segen destomehr erhalten. Es hat solchen nutzen dieses herrlichen Buchs unter andern auch bezeuget / die mehrmahlige aufflage desselben / so doch allemahl abgegangen / und immer mehr und mehr gesucht worden. Damit gezeiget / es sey diese arbeit nicht der jenigen art / wie so viel andere / die mit ihrem Autore so bald sterben / oder nicht länger angenehm sind / als sie ihrer neulichkeit wegen von deroselben begierigen leuten gebraucht werden. Es bedarff aber weder der Autor selbs noch diese gegenwärtige auch andere seine Arbeiten meines ruhms / und bin Ich der jenige nicht / durch dessen zeugnuß sein preiß vermehret werden möchte / der ich mirs vielmehr vor eine ehr und nutzen halte / unser seinen Discipulis ihn zu ehren: Jedoch bin ich gewiß / wo nach dieser art alle unsere Lehr / Schrifften und Predigten eingerichtet würden / so würde es gewißlich so vieler Klagen nicht bedörffen / wie wir billich jetzo offters führen müssen.

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b. August Hermann Francke: Erbauliche Predigt zum Zwecke der Bekehrung  August Hermann Francke, Send- Schreiben vom erbaulichen Predigen. 1725, in: Ders., Predigten II, hg. v. Erhard Peschke (TGP Abt. II: August Hermann Francke Schriften und Predigten, hg. v. Erhard Peschke, Bd. 10), Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1989, S. 3–101.

Es war denn dieses die Frage, die in ietzt gedachtem Send-Schreiben solte beantwortet werden: Wie ein treuer Lehrer / der gern seine Predigten zur Gewinnung und Erbauung seiner Zuhörer immer weislicher einrichten / und ihnen CHristum immer besser verkündigen und vor die Augen mahlen wolte / die Sache anzugreiffen habe / daß er denselbigen seinen so guten Zweck erreichen möge? Hierauf ist nun nachfolgende Antwort von mir gegeben: Erstlich setze ich voraus, daß der Lehrer sich darinnen treu beweise, daß er halte (im Hertzen, in seinen Worten und in seinem Wandel) an dem Fürbilde der heilsamen Worte (oder der reinen Apostolischen Lehre) vom Glauben und von der Liebe in Christo JEsu / und diese gute Beylage bewahre durch den Heiligen Geist / der in ihm wohnet. 2 Tim. 1, 13. 14. Zum andern würde zu des Lehrers in der Frage beschriebenen Zweck nicht wenig dienen, wenn die Kennzeichen eines noch unbekehrten, und eines wahrhaftig bekehrten Menschen in denen Predigten so klar und deutlich, und zwar öfters, möchten vor Augen geleget werden, daß ein ieder sich selbst leicht darnach prüfen könte, zu welcher Classe er gehörete, zu den Unbekehrten, oder zu den Bekehrten. Es gehöret aber eine wahre Weisheit dazu, daß solche Kennzeichen recht vorgetragen werden. Denn wenn nicht alle Vorsichtigkeit dabey gebrauchet wird, können auch leicht durch unrichtige Kennzeichen bald ein Theil der Zuhörer in grosse Sicherheit, bald ein Theil derselben in Angst, Furcht und Schrecken, so, daß doch keine Besserung darauf erfolget, gesetzet werden. Wenn aber der Lehrer selber im rechten Zustande ist, wird es ihm so schwer nicht seyn, die rechte Maasse zu treffen, und auch hierinnen bey der Richtschnur der Apostolischen Lehre zu bleiben. Zum dritten wird auch zu diesem Zweck dienen, daß der Unterscheid immer deutlicher und klärer gezeiget werde zwischen einem blossen äusserlichen, ehrbaren und moralen Wesen, und zwischen einem solchen Wandel, der aus einer vorhergegangenen wahren Erkäntniß des innerlichen Seelen‑Verderbens, aus wahrer Contrition oder Zerknirschung des Hertzens, und aus einem wahren lebendigen Glauben herfliesse; Sintemal es fast unglaublich ist, wie sich eine so 1  [Alle textkritischen Hinweise der Edition wurden stillschweigend getilgt. Umlautungen mit hochgestelltem e wurden der Lesbarkeit halber aufgelöst.]

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grosse Menge derer, die in andern Dingen klug genug sind, noch immer heutiges Tages in diesem Stück betrüge, auch an solchen|4 Orten, wo das Wort GOttes mit allem Nachdruck vorgetragen und recht getheilet wird. Zum vierdten ist um solches Selbst-Betrugs willen zum höchsten von­ nöthen, daß die Zuhörer aufs allerdeutlichste unterrichtet werden, wie sie sich selber prüfen sollen, ob sie iemals von ihrem Sünden-Schlaf recht aufge­ wachet sind? Ob sie von den Stricken des Satans recht nüchtern worden? Ob sie iemals ihr Sünden-Elend und tiefes Verderben recht gründlich erkant haben? Ob sie Grund und Ursach haben sich für bekehrt zu halten? Ob sie auch die wahren Kennzeichen der Bekehrung und des wahren lebendigen Glaubens an ihnen befinden? u.s.f. Oder ob sie nicht vielmehr sich bey einer blossen äusserlichen Ehrbarkeit, u. bey Enthaltung von groben Lastern und einiger mündlichen Ubung des Gebets, Kirchen-gehen, Predigt-hören, und dergleichen, schon für wahre Gläubige, und für Nachfolger CHristi halten, und sich damit trösten, daß, weil sie doch so arg nicht wären, als andere, sie schon würden selig werden. Zum fünften würde höchst nützlich seyn, wenn auch der Unterscheid zwischen einem gesetzlichen, mit knechtischer Furcht, Angst, Zwang und dergleichen verknüpften Wesen, (darinnen viele, denen es doch ein ziemlicher Ernst ist, stecken bleiben,) und zwischen einem rechten Evangelischen und neuen Wesen des Geistes, (das immer in Kraft fort grünet, blühet und Frucht träget, und in kindlicher Freudigkeit vor GOTT und Menschen geführet wird,) öfters gezeiget würde. Denn wenn dieses öfters und weislich geschähe, würden die Seelen nicht nur aus der Sicherheit aufgewecket, sondern auch leichter zum kindlichen, süssen und zuversichtlichen Umgang mit GOTT gebracht werden. Zu dem Ende ist vornehmlich vonnöthen, und gehöret sonderlich hieher, daß den Zuhörern nicht allein gesaget werde, was sie thun und wie sie beschaffen seyn sollen; sondern daß ihnen auch ihr natürliches und gäntzliches Unvermögen in geistlichen Dingen aus GOttes Wort fleißig vorgestellet, hingegen aus demselben immer zugleich deutlich und nachdrücklich gezeiget werde, woher sie die Gnade und Kraft, wie zu einer wahren und gründlichen Bekehrung, also zu aller rechtschaffenen innerlichen und äusserlichen Ubung des Guten her­ zu­nehmen haben, wie sie nemlich ohne CHristum nichts thun können, wie er selbst gesaget hat Joh. 15, 5: Ohne mich könnet ihr nichts thun. Und wie sie hingegen durch CHristum alles vermögen, wie Paulus spricht Phil. 4, 13: Ich vermag alles durch den / der mich mächtig machet / CHristus. So sind sie immer, beydes auf die Gnade unsers HErrn JEsu CHristi, durch welche sie aus seinen Wunden die Vergebung ihrer Sünden (in der Ordnung wahrer Erkäntniß und Bereuung derselben) empfangen, und auf desselben göttliche Kraft, die ihnen von eben demselben ihrem Heylande zum Leben und göttlichen Wandel ge-

5.2  Pietismus

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schencket ist, (2 Petr. 1, 1. 2. 3.) zu weisen. Denn wenn diß nicht beydes geschiehet, so wird die Apostolische Lehr-Art nicht beobachtet, und ist dann kein Wunder, so auch der Apostolische Segen zurück bleibet, und die Zuhörer entweder nur in ein gesetzliches Wesen durch die stetige Vorhaltung ihrer obliegenden Pflicht, oder in einen falschen Trost und fleischliche Sicherheit durch unrechte Application des|5 Evangelii gebracht werden. Hingegen, wenn diß an keiner Seiten versäumet wird, da, da werden die Seelen aus dem Sünden-Schlaf recht erwecket, zu CHristo gebracht, und, wie durch dessen Gnade reichlich getröstet, also auch durch dessen Kraft in ein neues Leben versetzet, und in der Ubung eines Christlichen Wandels ie mehr und mehr gefördert. Zum sechsten ist gar nöthig und heilsam, daß nicht nur den Leuten gesagt werde, daß sie sich, bekehren sollen / und daß sie die Kraft von CHristo dazu zu empfangen haben; sondern daß ihnen auch dabey in einer ieglichen Predigt, (ob gleich bald kürtzer, bald ausführlicher,) die gantze Ordnung der wahren Bekehrung gezeiget werde, WIE sie zur gründlichen Erkäntniß ihres Seelen-Zustandes, und zu einer wahren Bekehrung gelangen, WIE sie aus ihrem Verderben errettet, und WIE sie in einen bessern Zustand gesetzet werden können, also, daß ein ieder aus einer ieglichen Predigt gleichsam eine gnugsame Antwort auf die Frage kriegt: Wie soll ichs angreiffen / daß ich ein wahres Kind GOttes / und Erbe des ewigen Lebens werde? Denn wenn einer sonst gleich viele gute Lehren, und manche nachdrückliche Bestrafungen, Ermahnungen und Tröstungen, und sonst nachdrückliche Sententien oder Aussprüche in der Predigt vorbringt, es ist aber kein rechter Zusammenhang in der Rede, daß denn daher der Zuhörer auch die Ordnung des Heyls und den Weg GOttes daraus nicht recht verstehen noch ins Gemüthe fassen kan; so ist denn der Zuhörer gleich einem, der viele feine Lappen geschenckt bekommen, die sich aber nicht auf sein alt Kleid schicken, und daraus er doch auch kein Kleid machen kan. Der aber aus einer Predigt lernet, wie er bisher und annoch beschaffen sey, und wie er hingegen seyn solte, auch wie er zu einer seligen Aenderung seines Zustandes gelangen könne, der ist alsdann gleich einem, der ein gantzes Kleid kriegt, daß er mit Freuden anziehen und tragen kan. Hierzu aber gehöret an Seiten des Lehrers, der gerne eine iede Predigt zu diesem Zweck richten will, ein gar grosser Ernst, daß es ihm um nichts anders zu thun sey, als daß er seine Zuhörer zu CHristo bringe; Desgleichen auch die Weisheit, in einer ieden Predigt so viel zu sagen, daß ein ieglicher Zuhörer, wenn er gleich keine Predigt weiter von ihm hörete, doch zum wenigsten auf die rechte Spur gebracht werde, der er nur folgen dürffe, um, im Grunde geändert, ein rechter Christ und ewig selig zu werden. Um solchen göttlichen Ernst, und um solche wahre Weisheit, die Ordnung des Heyls in einer ieglichen Predigt recht zu beobachten, und in die Gemüther zu pflantzen, hat

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5.  Die Predigtideale in Altprotestantischer Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung

ein ieglicher Lehrer grosse Ursache GOTT ohne Unterlaß in seinem Gebet anzuflehen. Zum siebenten würde bey denen Zuhörern es einen grossen Nachdruck haben, wenn ihnen öfters auf eine nachdrückliche Art und ausführlicher möchte vorgestellet werden, wie gar ernstlich und einfältig man mit Gott im Gebet kämpfen und ringen müsse, damit das, was man aus GOttes Wort gelernet, zur rechten Kraft und Ausübung bey einem komme, und man so werde, wie einen GOttes Wort haben wolle. Weil aber die meisten Menschen dencken, sie können nicht beten, wenn sie kein Gebet-Buch haben, und daraus eine Gebets-Formul herlesen, so ist höchst nöthig, und zur wahren|6 Bekehrung der Zuhörer dienlich und heilsam, daß der Lehrer sie gleichsam bey der Hand nehme, und ihnen aufs deutlichste zeige, wie sie mit GOTT anders nicht umgehen sollen, als wie die Kinder mit ihrem lieben Vater, und wie sie ihm ihre Noth, und allen ihren Seelen-Zustand so klagen sollen, wie sie es selbst in ihrem Hertzen erkennen, wenn sie auch gleich nicht viel Worte davon machen könten, oder ihre Worte nicht sonderlich zusammen hingen; weil GOtt der HErr nicht auf die künstlichen Worte und Reden, sondern auf das Hertz sehe; wie wir denn von solchem einfältigen Gebet auch Exempel genug in der Schrift finden. Einen grossen Nutzen würde es dißfalls haben, wenn ein Lehrer auch öfters seinen Zuhörern vorsagte, wie sie es machen müßten, wenn sie aus ihrem Hertzen und mit ihren eigenen Worten beten wolten, und wie sie mit GOTT sprechen könten, und wie sie doch auch an solche Worte, die er ihnen vorsagte, nicht gebunden wären, sondern wie sie sich selbst nach und nach gewöhnen möchten, ihr Hertz gantz einfältiglich vor GOTT auszuschütten, wie im 62. Psalm im 9. Vers stehet: Lieben Leute / schüttet euer Hertz vor ihm aus. Zum achten ist zum allerhöchsten in denen Predigten vonnöthen, daß ohne Unterlaß auf eine wahre Veränderung des Hertzens gedrungen werde, davon leider! die allerwenigsten Menschen auch nur einen äusserlichen Begriff und Wissenschaft, geschweige eine wahre Erkäntniß haben; und zwar nicht nur auf eine Haupt-Veränderung in der Busse, daß man das Gute liebe, so man zuvor gehasset, und das Böse hasse, so man zuvor geliebet, und daß man aus dem Unglauben zum Glauben, aus dem Wahn-Glauben zum wahren Glauben komme; sondern auch auf dieselbige selige Veränderung, die in der Erneuerung immer weiter und weiter und bis an unsers Lebens Ende fortgehet, und davon Paulus redet 2 Cor. 3, 18. Nun aber (wenn die Decke abgethan, und der Geist des HErrn da ist,) schauen wir alle (spiegelt sich in uns allen) die Klarheit des HERRN / wie in einem Spiegel / mit aufgedecktem Angesicht / und wir werden verkläret in dasselbige Bilde / von einer Klarheit zur andern / als vom HErrn / der der Geist ist. Denn diese selige Veränderung

5.2  Pietismus

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fasset in sich eine stetige Erneuerung im Geiste des Gemüthes, und bringet immer eine schönere Veränderung in das Ebenbilde CHristi mit sich. Zum neunten ist sonderlich nöthig, daß die gantze Lehre vom Christenthum, und von dessen Führung, süß und lieblich vorgestellet werde, so und dergestalt, daß ein ieder dadurch völlig überzeuget werde, wenn er wolle, daß ihm recht wohl seyn solle, und daß er zum rechten Frieden und zur Ruhe seines Gemüthes kommen möge, so dürfte er sich nur von gantzem Hertzen zu GOTT wenden, da werde ers finden und sonst nirgends; und daß das Christenthum keines weges ein ängstliches Wesen sey, davor man sich zu fürchten habe; sondern vielmehr eine solche liebliche und angenehme Sache, die ein ieder auch um ihrer Lieblichkeit willen suchen solle; und wenns auch gleich einen Kampf, und zwar einen gar ernstlichen Kampf, kostete, so hätte man doch darnach desto mehr Ruhe und Frieden. Zum zehnten wäre höchst zu wünschen, daß gute und getreue Lehrer sich nicht allzu lange bey Erklärung der Texte aufhielten, sondern vielmehr,|7 wenn sie den rechten Verstand ihres Textes angewiesen / und (zwar gründlich, doch kürtzlich) bewiesen / (sintemal hieran auch nicht wenig gelegen ist,) so bald möglich zur Application eileten, die Zuhörer dabey selbst mit geziemendem Ernst anredeten, und sie recht deutlich darauf wiesen, wie sie ihnen den kurtz-erklärten Text zu ihrer Bekehrung, und denn im Glauben und Leben recht zu Nutz machen solten. Die Erfahrung würde bald lehren, daß diß mehr Frucht bey den Zuhörern schaffete, als wenn sie sich erst lang in der Erklärung aufgehalten, und denn die Application, weil die Zeit verflossen, nur kurtz macheten. Zum eilften wäre auch zum höchsten zu wünschen, daß die Seelen von ihren treuen Hirten fleißig und öfters möchten zu Christo, dem Ertz-Hirten, selbst gewiesen, und mit beweglichen Worten, Reitzungen und Evangelischen Gründen zu ihm gerufen, gelocket und gleichsam genöthiget würden, wie eine GluckHenne ihre Küchlein locket, wenn sie ein gut Körnlein für sie findet; So machte es der HErr JEsus selbst, wenn er rief Matth. 11, 28: Kommet her zu mir alle / die ihr mühselig und beladen seyd / ich will euch erquicken / u.s.f. Und Joh. 7, 37. 38: Wen da dürstet / der komme zu mir / und trincke; Wer an mich gläubet / wie die Schrift saget / von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fliessen; und so an vielen Orten; wie es auch im alten Testament Esaias (als Cap. 55, 1. u.f.) und im neuen Paulus (siehe 2 Cor. 5, 11,) und Johannes vor andern also machen. Auch spricht CHristus selbst Matth. 23, 37. Wie oft habe ich deine Kinder / Jerusalem / versammlen wollen / wie eine Henne versammlet ihre Küchlein unter ihre Flügel. Denn CHristus rief zu sich / als der HErr und Meister, der Erlöser und Bräutigam; Wir aber, spricht Paulus 2 Cor. 4, 5. predigen nicht uns selbst / sondern JEsum CHrist / daß er sey der HERR / und weisen dem-

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5.  Die Predigtideale in Altprotestantischer Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung

nach nur auf ihn. Wenn aber diß geschehen soll, so muß das Hertz des Lehrers in einer wahrhaftigen und grossen Liebe zu seinen Zuhörern stehen, und muß selbst in der Liebe CHristi recht entzündet seyn, daß er nichts mehr wünsche, suche und begehre, als alle seine Zuhörer zu CHristo zu bringen, und sie ihm insgesamt in seine Arme zu liefern, wenn sie sich nur dazu wolten bewegen lassen; daß also die Zuhörer ein Exempel der wahren und brünstigen Liebe zu CHristo von ihm nehmen können. Zum zwölften ist zu dem Ende auch vonnöthen, daß CHristus nach seiner Schönheit, Freundlichkeit, grossen Reichthum und Gnaden-Schätzen, und nicht nur nach seiner niedrigen Menschheit, sondern auch nach seiner göttlichen Herrlichkeit, und nach allem Guten, so in ihm ist, öfters und recht lebhaft den Zuhörern vorgestellet werde, damit die Seelen ihn lieb gewinnen, und zu ihm, als zu dem rechten Bräutigam, den ihnen die Heil. Schrift anweiset, Lust kriegen, ihm das Hertz geben, und sich gedrungen finden, ihn zu bitten, ja mit ihm recht darum zu kämpfen, daß er ihnen doch seine Liebe recht wolle zu erkennen geben, und sie ihnen durch den Heil. Geist in ihr Hertz giessen, (Röm. 5, 5.) auch seine Majestät und Herrlichkeit ihnen immer mehr offenbaren und ins Hertz eindrücken wolle, damit sie ihn, als ihren himmlischen Gemahl recht lieben und ehren mögen, als durch den sie zum Vater kommen, und ewig bey ihm wohnen sollen.|8 Zum dreyzehenten muß auf die Liebe CHristi nothwendig mehr gedrungen werden, als insgemein zu geschehen pfleget. Denn die Liebe CHristi fliesset zu allernächst aus seiner erkanten Liebe gegen uns, und aus der erlangten Vergebung der Sünden, oder unserer Rechtfertigung durch den Glauben an ihn, wenn wir uns sein Leiden, Sterben und Blutvergiessen, und sein gantzes Verdienst und von ihm uns erworbene Seligkeit recht und in gehöriger Ordnung appliciren und zueignen. Je mehr nun CHristus geliebet wird, und zwar darum, daß er uns erst geliebet hat, ie besser gehet auch die gantze Führung unsers Chri­ stenthums von statten, und fliesset da alles aus der rechten Quelle; auch siehet da ein Lehrer ie mehr und mehr seine Lust und Freude an dem Zunehmen und Wachsthum seiner folgsamen Zuhörer. Aber der Lehrer mag wohl zusehen, daß er selber CHristum in der Wahrheit lieb habe, wenn er also bey seinen Zuhörern auf die Liebe CHristi dringen will, damit er kein tönend Ertz und klingende Schelle sey, wie Paulus warnet 1 Cor. 13, 1. und daß zum guten und erbaulichen Predigen diß vornehmlich gehöre, daß es der Lehrer nicht dabey lasse, daß er von der Liebe CHristi predige, und sie von seinen Zuhörern erfordere, sondern selbst CHristum recht lieb habe; solches hat einer wohl ausgedrucket, da er auf die Frage: Wie man doch am besten und erbaulichsten möchte predigen lernen? geantwortet: Si multum ames Christum, wenn du CHristum recht hertzlich lieb haben wirst. Diß müssen aber nicht blosse Worte seyn, sondern die That muß

5.2  Pietismus

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es ausweisen; wie CHristus spricht: Ihr seyd meine Freunde / so ihr thut / was ich euch gebiete / Joh. 15, 14. d. i. so beweiset ihrs, daß ihr meine Freunde seyd, die mich lieb haben. Zum vierzehnten ist auch dieses eine höchstnöthige Sache, daß treue Lehrer mehr, als insgemein geschiehet, auf eine gründliche Verleugnung der Welt und der weltlichen Lüste, und alles irdischen und nur zu dieser Zeit gehörigen Wesens dringen; wie CHristus in seinem gantzen Lauf immer vornehmlich und mit klaren nachdrücklichen Worten darauf gedrungen hat, z.E. Matth. 16, 24. 25. 26. Luc. 14, 25–33. Denn es sind deren ietzt viele, die gelernet haben viele Worte vom Christenthum zu machen, einen guten Schein annehmen, auch äusserlich viel Gutes thun; aber auf keine rechte Verleugnung ihrer selbst kommen wollen; daher es doch, wenns recht zum Treffen kommt, nichts mit ihnen ist. Es müßte aber so auf die Verleugnung gedrungen werden, daß es keine heydnische, und so zu reden, eine philosophische Verleugnung werde, das ist, die nur aus äusserlichen Vernunfts-Gründen herkomme; sondern eine solche Verleugnung, daß man CHristum so lieb hätte, daß man NB. um seinet willen ({neken !utoæ, Matth. 16, 25.) Wollüste, zeitlich Gut, Ehre, Gemächlichkeit, ja das Leben selbst verleugnete. Zum funfzehenten würde zu dem allen nicht wenig beytragen, wenn ein Lehrer nebst den schönsten und kräftigsten Stellen in den Schriften der Propheten und Apostel, und absonderlich in den Reden CHristi selbst, öfters alte oder neue gute Kern-Schriften den Zuhörern recommendirete, in denen ein rechter Apostolischer und Evangelischer Geist hervor leuchtete, damit die Menschen auch daheim das Feuer und die Flamme der Liebe GOttes und ihres Heylandes in ihrer Seele unterhalten möchten. Zum Exempel: Statii|9 Lutherus redivivus, (welches Buch Anno 1721. wieder aufgeleget ist zu Franckfurt und Leipzig, und in Breßlau bey Herrn Mich. Hubert in Commiss.) ist nichts anders, als ein Auszug aus den Schriften Lutheri, da man die rechten Kern-Stellen aus ihm, zum wenigsten die vornehmsten, beysammen findet, und zwar sonderlich solche, dadurch man zu einem recht kräftigen, Evangelischen und Frucht-vollen Wesen des Christenthums kan aufgewecket und ermuntert werden. Doch wird diß nur zum Exempel gegeben, da sonst GOTT seiner Kirchen einen nicht geringen Schatz von guten erbaulichen und sehr erwecklichen Schriften verliehen hat. Es soll aber der Lehrer nicht meynen, es hätten allein seine Zuhörer dieses Mittel zu ihrer mehrern Erweckung, Stärckung und Aufmunterung nöthig; er selbst aber dürfe nur solche Schriften lesen, daß er den Stilum draus lernete, und daß er andern was draus vorsagen könte, wie es leider! manche machen; sondern er muß auch selbst vor allen andern daraus seine Erbauung und Besserung suchen, und also die Gaben, so GOTT andern verliehen, gebrauchen, daß sie erst bey ihm selbst Frucht tragen, und dann bey andern.

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Zum sechzehenten haben auch treue Lehrer nicht zu vergessen, ihren lieben Zuhörern den Umgang mit solchen Seelen zu recommendiren, denen ihr Christenthum ein rechtschaffener und gründlicher Ernst ist, und die demnach in rechter Glaubens-Kraft einher zu gehen sich befleißigen, besonders auch den Geist des Gebets in gutem Maaß empfangen haben; Denn wie eine Kohle die andere anzündet, so zündet ein Mensch, wenn das Feuer der Liebe Christi in ihm wohnet, den andern durch sein Christlich Gespräch, durch sein Gebet, und durch seinen gottseligen Umgang, auch zu derselbigen Liebe an, und macht ihn darinnen immer brünstiger und feuriger. Darum haben Lehrer, so viel an ihnen ist, zu suchen, daß sie eine solche Christliche Conversation unter ihren Christlich-gesinnten Zuhörern mit Beobachtung guter Ordnung, 1 Cor. 14, 40. in Schwang bringen, und deßwegen ihnen, wie Paulus den Colossern Cap. 3, 16. öfters zurufen: Lasset das Wort CHristi unter euch reichlich wohnen / in aller Weisheit / lehret und vermahnet euch selbst mit Psalmen und Lob- Gesängen / und geistlichen lieblichen Liedern / und singet dem HErrn in eurem Hertzen (d.i. mit wahrer Andacht.) Wozu denn auch der herrliche Schatz alter und neuer Lieder, damit GOTT die Evangelische Kirche begnadiget hat, und dafür er billig hoch zu preisen ist, nicht wenig beytragen wird. Diese Beantwortung der vorgelegten Frage habe ich mit diesem kleinen Gebet daselbst beschlossen: Ach HErr / HErr! gib deiner Kirchen zu diesen unsern Zeiten und ferner hin Lehrer und Hirten nach deinem Hertzen / die die Schafe zu CHristo bringen / und sie durch seinen Geist weiden mit aller Treue und Wahrheit. Drucke doch auch|10 einem ieden Lehrer tief in sein Hertz / daß weder der da pflantzet / noch der da begeusset / etwas ist / sondern du / der du das Gedeyen gibst / alles bist / damit er nicht meyne / er wolle es durch sein predigen ausrichten / sondern dich so wol / um den Segen und um das Gedeyen / als um die Weisheit / so zum erbaulichen Lehren erfordert wird / demüthiglich / ernstlich und unabläßig anflehe. Amen! Amen!

5.3  Das Predigtideal der Aufklärung

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5.3  Das Predigtideal der Aufklärung a. Johann Lorenz von Mosheim: Vernünftige Erbauung als Ziel der Predigt  Johann Lorenz von Mosheim, Anweisung erbaulich zu predigen. Aus den vielfältigen Vorlesungen des seeligen Herrn Kanzlers verfasset und zum Drucke befördert von ­Christian Ernst von Windheim, Erlangen: Walters, 1763. Reprint: Neu hg. u. eingeleitet v. Dirk Fleischer (Wissen und Kritik. Texte und Beiträge zur Methodologie des historischen und theologischen Denkens seit der Aufklärung, Bd. 12), Waltrop: Hartmut Spenner, 1998, S. 109–177 (in Auswahl).

Das erste Hauptstück. Von den allgemeinen Regeln der geistlichen Beredsamkeit, oder von der homiletischen Klugheit. § 1 […] Die Absichten einer Predigt heissen mit einem Worte: die Erbauung. Hier­ aus fliesset zuerst diese Hautpregel: Es müssen keine andere Sachen auf der Kanzel vorgetragen werden,|110 als solche, die zur Erbauung etwas beytragen können: und alles dasienige, was zur Erbauung dienen kann, muß auf eine solche Art und Weise vorgetragen werden, wie es der Zustand der Personen zugiebet, die da sollen erbauet werden. […] |114 § 2 Die Erbauung gehet beide Kräfte der Seele an, den Verstand und den Willen. Die Wahr|115-heiten der Gottseeligkeit gehören zusammen, und der Wille kann unmöglich gewonnen werden, wenn der Verstand nicht vorher ist erleuchtet worden. Hieraus folgt diese unwidersprechliche Regel: Ein kluger Prediger muß seine Predigt auf eine solche Weise einrichten, daß so wohl der Verstand erleuchtet, als der Wille erweckt und gerühret werde. Es ist also unrecht, ob es gleich gewöhnlich ist, daß einer dem Verstand allein, oder dem Willen allein prediget. […] |120 § 3 Da der Verstand durch unsere Predigten soll erbauet werden, so folgt diese Regel nothwendig: Man muß dem Verstande predigen. Dem Verstande predigen begreyffet aber zweyerley: 1) dem Verstande einen vollständigen und reinen Begriff beybringen, und ihn unterrichten; 2) Den Verstand überzeugen, oder ihn durch tüchtige Beweisthümer überführen, daß der Unterricht wahr sey, den man ihm gegeben hat. Diejenigen fehlen also wider die Absicht der Predigt, die nicht so wohl dem Verstande, als der Einbildung der Menschen, als dem Witze der Menschen, als der Neubegierde der Menschen, als den Ohren der Menschen predigen. […]

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|176 § 10 Der andere Hauptzweck der Predigt ist, den Willen zu erbauen und zu bessern. Der Wille wird erbauet, wenn entweder in demselben ein guter Vorsatz aufgerichtet, oder der gute Vorsatz, der bereits vorhanden ist, gestärket wird. Der Vorsatz, den ein Prediger aufrichten will, ist die Bekehrung, oder der Entschluß, sich bekehren|177 zu lassen: und der Vorsatz, den er stärken will, ist die Heiligung, oder der Entschluß, sich immer eine grössere Fertigkeit zu erwerben, Gott zu lieben und ihm zu gehorsamen. Unter diesen beyden Hauptentschliessungen liegen sehr viele besondere Schlüsse des Willens; die aber alle ihren Grund im Glauben und in der Liebe haben, und nicht bestehen können, wo die beyden Hauptentschliessungen nicht vorhanden, aufgerichtet und befestiget sind. Kein Vorsatz des Willens kann entstehen, wo nicht der Zuhörer in Bewegung gesetzt wird. Wer aber den Willen bewegen will, muß die Begierden und Affecten, die in dem Willen wohnen, aufbringen; und, da unsere Hauptbegierde das Verlangen ist, glücklich zu seyn: so muß man zeigen, daß die Entschliessung, die hervorgebracht werden soll, entweder ein Unglück von uns entferne, oder unsere Glückseeligkeit befördere. Auf diese Weise werden die Affecten der Liebe und des Hasses, der Freude und der Traurigkeit erreget. Damit aber diese Entschliessung recht fest und dauerhaft werde: so muß dieselbe, auf vernünftige Vorstellungen gegründet werden. Eine blinde Bewegung des Willens ist von keiner Dauer, und ist ein Kunststück der Gauckler und Comödianten. Eine vernünftige Bewegung des Willens geschiehet durch Gründe und Ursachen, die der Verstand begreift, und für gültig erkennet.« […] b. Johann Joachim Spalding: Die Predigt als Unterweisung zur Glückseligkeit  Johann Joachim Spalding, Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (11772; 21773; 31791), hg. v. Tobias Jersak [ = Johann Joachim Spalding, Kritische Ausgabe, hg. v. Albrecht Beutel, Erste Abteilung: Schriften, Bd. 3], Tübingen: Mohr Siebeck, 2002, S. 121–135.

Zweyte Abtheilung. Beförderung der Nutzbarkeit des Predigtamtes, durch diejenigen, welche es verwalten.1 Es ist aber freylich nicht unsere Sache, ob und wie weit darin durch äusser­ liche Veranstaltungen etwas gebessert werden könne. Wir haben nur die einzige Sorge auf uns, daß wir an unserm Theile durch unsere Denkungsart und durch unser Verhalten dem Zwecke, zu welchem wir arbeiten, keine Hinderungen in den Weg legen, sondern mit der aufmerksamsten Sorgfalt und mit den treuesten 1  [Die Textedition gibt im fortlaufenden Text die 2. Auflage von 1773 gemäß dem Exemplar der Tübinger Universitätsbibliothek wieder. Auf die Wiedergabe der Textvarianten, die sich in der von Tobias Jersak edierten Ausgabe finden, wurde verzichtet.]

5.3  Das Predigtideal der Aufklärung

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Bemühungen, denselben in einem immer grösseren Maaße zu erreichen suchen. Dieser thätige Geist des Eifers und der Treue würde gewiß allgemeiner seyn, wenn die Seele eines jeden Predigers mehr von der Wichtigkeit und Würde seines Amtes durchdrungen wäre, und wenn er die Empfindung davon oft durch wiederholte Ueberlegungen bey sich zu erneuren suchte. |122 Ein jeder von uns hat eine so beträchtliche Anzahl von Menschen um sich, die durch seinen Dienst fromm, zufrieden und glückselig werden sollen. Ihnen darin Unterricht, Rath und Erweckung zu geben, Erkenntnisse in ihre Seelen zu pflanzen, die ihr Gemüth und ihren Wandel regieren können, diese Erkenntnisse bey ihnen lebhaft und wirksam zu machen, die Anwendung derselben auf die in ihrem Leben vorkommenden Umstände ihnen zu erleichtern, sie nach und nach immer mehr zu der eigenen Erfahrung zu bringen, wie unbeschreiblich gut sie es bey einem reinen Gewissen und bey der Gnade Gottes haben, hier und Freudigkeit in ihren Herzen zu gründen, und zu-gleich durch diese Vorbereitung sie gleichsam an der Hand zum Himmel zu leiten; das ist unser Geschäft und unser Beruf; dazu sind wir bestellet; sonst bedürfte man unser nicht; dazu haben wir die feyerlichste Verpflichtung übernommen, da wir, bey unserer Ordination und Einführung, Gott und Menschen versprachen, daß wir, als Prediger, unser Amt gewissenhaft führen wollten. Dieß erwartet man mit allem Rechte von uns; und nur gerade in dem Maaße sind wir nutzbar und achtungswürdig, als wir dieser Erwartung wircklich Genüge thun. Wo ist eine Arbeit in der Welt, die an etwas wichtigeres gewendet würde, die sich aber auch mit einem größeren Seegen belohnete? Das muß nothwendig ein jedes Gemüth erheben und mit einer heiligen Begierde anfeuren, in diesem grossen Berufe nicht unnütz zu seyn; ein jedes Gemüth nämlich, welches nicht durch unwürdige Trägheit, oder durch den niederträchtigsten Eigennutz, zu allen edlen christlichen Gesinnungen gegen Gott und Menschen verdorben ist, und welches nicht in sich selbst die Materialien|123 zu den schrecklichsten Selbstverdammungen häufen will. So vieles haben wir in unsern Händen zur Erfüllung der göttlichen Absichten und zum Glücke der Welt; aber so viel ist es auch, was von unsern Händen wird gefodert werden. O daß ich dieß insonderheit meinen jüngern Brüdern, den angehenden Geistlichen, tief in ihre Seelen rufen könnte! daß ich ihnen einen starken unauslöschlichen Eindruck davon geben könnte, was das ist, wozu sie sich anheischig machen, indem sie in ein Predigtamt treten! Sie dürfen nicht besorgen, daß ich sie mit fanatischen Aengstlichkeiten schrecken werde. Aber das wünschte ich, daß sie den ganzen Umfang ihrer zu übernehmenden Verbindlichkeiten, nach Gründen der Wahrheit, die ihnen selbst einleuchten müssen, vor den Augen des allwissenden heiligen Gottes, mit einer solchen Erweckung ihres Gewissens bedenken mögten, welche sie auf ihre ganze Lebenszeit für Leichtsinn, Trägheit und niedrigen Nebenabsichten bey

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einem so würdigen Geschäfte zu verwahren im Stande wäre. Ihnen wird es aufgetragen, eine ganze Menge weiser, besser und glücklicher zu machen; und diese Menge, das sind ihre Brüder, von Gott geliebte, mit der Fähigkeit der Vernunft begabte, zur Ewigkeit erschaffene, von Jesu Christo erlösete Menschen. Diese erwarten von ihnen ihr wesentliches Wohl; diesen sollen sie Erkenntnisse, Anweisungen, Ermunterungen geben, des Glücks im Herzen und des Glücks des Himmels fähig zu werden. Wenn sie den hohen Werth, aber auch die heiligen Verpflichtungen, dieses Berufs vergessen können; wenn sie eine Predigerstelle bloß als eine Bedienung ansehen, wovon sie mit mehrerer Gemächlichkeit zehren wollen; wenn sie ohne rührende Empfindung von dem Nutzen, der durch sie für mensch-|124 liche Seelen gestiftet werden soll, und der die höchste aller unserer Angelegenheiten betrifft, nur darauf sinnen können, wie sie ihre Wirthschaft nutzen, ihre Hebungen vermehren, ihrer Eitelkeit Nahrung schaffen, oder sich gute Tage machen wollen, so weiß ich nicht, ob eine unwürdigere Denkungsart, und zugleich eine schwerere Verantwortung in der Welt möglich sey. Das edelste Geschäft würde dann auf die schändlichste Weise erniedriget, und die anvertraute Sorge für die Tugend und Glückseligkeit einer ganzen Gemeine in ein mechanisches Tagewerk, gewinnsüchtiges Gewerbe oder gedankenloses Wohlleben verwandelt werden. Das verhüte Gott bey einem jeden, der ein Predigtamt begehret und übernimmt! Und er erhalte auch die bessern Gedanken hierüber bey uns andern, die wir, zum Theil schon seit langer Zeit, die schätzbarste Arbeit auf uns haben, nehmlich Weisheit, und zwar Weisheit zur Seligkeit, zu lehren! Wir können es uns selbst nie zu oft und zu ernstlich wieder sagen, wozu wir eigentlich Prediger sind, damit unsere Aufmerksamkeit hiebey nicht von ihrem hauptsächlichen Gegenstande abgeleitet werde, und unser Eifer nicht einschlafe. Von dieser allgemeinern und ernstlichern Erwägung des Zwecks unsers Amtes würde auch vornehmlich erst die Vergrößerung des wirklichen Nutzens desselben zu erwarten seyn, in so weit solche von uns abhänget. So bald wir gerne und von ganzem Herzen das Gute schaffen wollen, welches unser Beruf von uns fodert, so wird uns auch die Frage stets als äusserst wichtig in dem Sinne liegen müssen: Was haben wir hierin eigentlich zu thun?|125 und wie können wir es am besten ins Werk richten? Die hohen Redensarten, daß wir unsere Zuhörer zu Gott, zu einer glückseligen Ewigkeit führen sollen, daß wir ihre Seelen vom Verderben retten sollen, die müssen doch erst in ihre einfacheren faßlichern Begriffe aufgelöset werden, wenn wir klar einsehen wollen, welches denn eigentlich dabey unser Geschäfft sey. Es wird damit im Grunde nichts weiter gesagt, als daß wir, vermittelst des Unterrichts in der Religion, und vermittelst der den menschlichen Gemüthern davon zu gebenden Eindrücke, sie in die Verfassung setzen sollen, die zum Glücklichwerden nöthig ist. Und da mögen wir die ganze Sache ansehen, von

5.3  Das Predigtideal der Aufklärung

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welcher Seite wir wollen, so wird es sich zeigen, daß alle unsere Erkenntnisse von Gott und göttlichen Dingen, uns auf keine andere Art zu etwas nützen können, daß die ganze Religion uns in keiner andern Betrachtung wichtig seyn kan, als in so weit dadurch Richtigkeit der Gesinnungen gewirkt, und ein solcher Grund der Beruhigung, des Trostes und der Hofnung gegeben wird, welcher wirklich den Bedürfnissen und Wünschen der menschlichen Seele ein Genüge thut. Dieß ist im Grunde eben das, was in dem neuen Testamente, wenn wir nur auf den wahren Sinn der daselbst gebrauchten Ausdrücke recht merken wollen, unter der Predigt der Buße und des Glaubens verstanden wird; gebesserter Sinn und beruhigendes Vertrauen. Dieser Trost aber und diese Beruhigung aufs Gegenwärtige und Zukünftige kann nach der unveränderlichen Natur der Sache selbst, nur da statt haben, wo der Mensch dazu durch|126 Rechtschaffenheit des Herzens und des Lebens fähig ist. Folglich bleibt die letztere, die thätige gute Gesinnung, allemal die Hauptsache worauf wir zu arbeiten|127 haben, weil sie theils die Bedingung und theils, in gewissem Verstande, eine wirkende Ursache der wahren menschlichen Glückseligkeit ausmacht. Es ist nämlich die Einrichtung Gottes in unserer Natur, daß dasjenige, was wir rechtmäßige, tugendhafte Gesinnung nennen, so wohl in dem unmittelbaren Bewußtseyn, als auch in seinen Folgen, an und für sich allemal etwas angenehmes bey sich führet, daß es eine Art von Verbesserung, Erhöhung und grösserer Vollkommenheit unsers Wesens schafft; und diese Verbindung zwischen Tugend und innerlichem Glücke, als Ursache und Wirkung, bleibt so lange, als wir Menschen bleiben. Wir werden uns also auch in der zukünftigen ewigen Welt in eben den Gesinnungen glücklich finden, welche uns hie mit uns selbst zufrieden machen. Ohne Uebereinstimmung unserer Neigungen mit der ewigen Wahrheit der Dinge, ohne Bewunderung, Verehrung und Liebe Gottes, ohne Menschenliebe, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit, ohne Unterwerfung unserer Triebe unter die Oberherrschaft der Vernunft, ist nicht nur kein Himmel für uns möglich, sondern diese Gesinnungen machen ihn auch gewissermaßen selbst; sie bringen reines, dauerhaftes Vergnügen in die Seele des-|128 jenigen, der sie ausübet, und in die Gesellschaft, mit welcher er sich vereiniget findet. Das ist die Erklärung, welche Gott in der Natur gethan hat, daß kein anderer Weg uns zu dem eigentlichen höchsten Ziele unserer Wünsche führe, als der Weg der Tugend. Diese Erklärung müßte durch eine andere, wenigstens eben so zuverläßige, widerrufen oder eingeschränkt seyn, wenn sie nicht noch beständig das entscheidende Regelmaaß unserer Anweisungen bleiben sollte. Daran fehlet aber so viel, daß vielmehr das Evangelium Jesu Christi gerade auf eben diesen Grund bauet, eben diese Nothwendigkeit der moralischen Güte zum Glücklichwerden einschärfet, und sie durchgehends zu der eigentlichen unumgänglichen Bedingung macht, um Gott wohlgefällig und seiner gnädigen Belohnung theilhaftig zu werden.

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5.  Die Predigtideale in Altprotestantischer Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung

Eben dieß Evangelium, welches wir zu predigen haben, diese Unterweisung des Sohnes Gottes zu unserer höchsten und ewigen Glückseligkeit, welche sich durch die eigene Heiligkeit und Kraft ihres Inhalts nicht weniger, als durch die hinzugefügten Bestätigungen, als göttlich, rechtfertiget, gehet durchaus auf nichts anders, als den Zustand der Seele in uns anzurichten, den ich genannt habe: Besserung und Ruhe. Alle Bewegungsgründe, welche dem Gemüthe seine wahre heilsame Richtung geben können, werden darin vereiniget, und sie werden noch dringender und wirksamer dadurch gemacht, daß die eigentliche herschende Empfindung, die da überall, als der Hauptzweck sichtbar wird, Vertrauen und Liebe ist. Ein Gott voll Erbarmung, ein Vater, der seine Kinder darum gerne tugendhaft und gut haben will, weil es ihr Glück ist, der ihnen eine jede Freude gönnet, wenn sie nur nicht schäd-|129 lich ist, der durch die liebreichsten Verheißungen seiner Verzeihung auch dem Verschuldeten Muth und Freudigkeit zur Rückkehr giebt, der ihnen zu dem Ende einen Erlöser vom Himmel sendet, damit derselbe ihnen den Weg dahin, durch seine Lehre, durch seine Ermunterung, durch die Aufopferung seines Lebens selbst, heller, leichter und sicherer machen soll; das ist, nach meiner besten Einsicht, der eigentliche Inhalt, der Geist und das Wesen des Christenthums. Es scheinet mir offenbar zu seyn, daß die Lehre Jesu, indem sie nothwendig alles das mit in sich schließet und aufnimmt, was irgend zur Reinigung der menschlichen Seele und zur Aufhelfung der Tugend dienen kann, zugleich dieß neue und stark wirkende Gewicht der kindlichen Liebe und Zuversicht dazu legt, oder wenigstens solches weit lebhafter und eindringender macht. Der Sinn nun, die ganze Gemüthsfaßung, die dadurch hervorgebracht wird, wenn jene vereinigten Ueberzeugungen ihre völlige Kraft in der Seele bekommen, diese eigene Lust an dem, was Gott uns vorschreibet, diese freudige Zuneigung, dieser willige dankbare Gehorsam, durch untrügliche Hoffnungen und durch den zuverläßigsten Trost unterstützt, wenn das nicht dasjenige ist, was einen Menschen zum Christen, zum Theilnehmer der Seligkeit macht, so, dünkt mich, müßten wir eine andere Natur und ein anderes Evangelium haben, als uns wirklich gegeben worden. Wir finden nirgends eine Anzeige oder Vorschrift, daß uns an unserer Seite sonst noch etwas willkührlich von Gott verordnetes, außerdem, was sich auf die Rechtschaffenheit und die Beruhigung unsers Geistes beziehet, nöthig sey, um den ganzen Zweck unserer Erschaffung zu erreichen; und da die Beruhigung|130 stets die Richtigkeit der Gemüthsfassung und des Verhaltens voraussetzet, da jene immer nur eine Folge, aber auch, bey gehöriger Erkenntniß, und bey der übrigen erforderlichen Beschaffenheit der Umstände, immer eine unausbleibliche Folge von dieser ist, so scheinet mir daraus das erste und wesentlichste Geschäft unsers Amtes offenbar zu seyn, nämlich, die Menschen gut und recht gesinnet zu machen, damit sie ruhig und glücklich werden kön-

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nen. Hierin allein finde ich die wahre Heilsordnung, zu welcher Gott schon in unserer menschlichen Natur den Grund gelegt, und welche er uns in seinem geoffenbarten Worte so ausdrücklich angewiesen hat. Ich bitte also meine Brüder, die Prediger, diesen Gedanken ihrer ernsthaften Ueberlegung werth zu achten, ob sie damit einig seyn, und ihn als eine entschiedene Grundregel bey sich feste setzen können, weil sonst nicht allein Verschiedenheiten, sondern auch wirkliche Widersprüche in unsern Bemühungen unvermeidlich seyn würden; und diese könnten wohl keine andere, als für die eigentliche Abzweckung der Religion sehr nachtheilige, Wirkungen haben. Wenn wir aber darin einig seyn sollten, daß unsere Arbeiten hauptsächlich auf die Besserung und Gottseligkeit, und auf die damit so genau zusammenhangende Gemüthsruhe der Menschen gehen müssen, so bedarf es dann noch wieder einer gleichmässigen sorgfältigen Prüfung, was für Lehren wir zu diesem Ende zu treiben haben, was für Erkenntnisse und Betrachtungen im Grunde dazu dienen, daß unsere Christen das werden, was sie seyn sollen. Es kann unmöglich damit genug seyn, daß wir überhaupt annehmen, die christliche Glaubenslehre, welche von jedermann für eine Lehre der Gottseligkeit erkannt|131 werde, sey einmal nach ihrem ganzen Umfange und nach ihren nöthigen Bestimmungen in den kirchlichen Bekenntnißbüchern, in den Katechismen und in den größeren dogmatischen Werken der Gottesgelehrten, begränzt und festgesetzt; und wir dürfen nur das vortragen und einschärfen, was da stehe, so predigten wir das heiligende und tröstende Christenthum, so würde das schon seine guten Früchte bringen, wenn wir gleich nicht allemal einsehen oder sagen könnten, wie diese Früchte daraus zu erwarten wären. Es ist, wie Gott weiß, nicht Begierde zu tadeln bey mir, sondern eine aus langer gewissenhafter Beobachtung entstandene Ueberzeugung, wenn ich diese Art zu verfahren für eine der größten Hindernisse des Nutzens halte, den wir durch die Predigt des Christenthums stiften könnten. Wir haben freylich größere und kleinere Sammlungen von Religionssätzen mit ihren Beweisen, Erläuterungen und Folgerungen. Aber ehe wir einen jeden Theil des Inhalts derselben für gleich wichtig, und zur Unterweisung unserer Christen für gleich nothwendig hielten, sollten wir sie selbst erst Stückweise und genau mit dem nun festgesetzten Zwecke unseres Amtes vergleichen, um zu unserer eigenen Befriedigung einzusehen, wie weit sie dazu etwas beytragen. Wenn wir auch nicht einmal dem Ursprunge und der Veranlassung mancher solcher be-|132 stimmten Behauptungen nachforschen wollen, durch was für Streitigkeiten sie zuerst in Bewegung gebracht, oder durch was für Stimmen sie zu ihrem nachherigen Ansehen und Gewichte erhoben worden, da sie oft vorhin in dieser ihrer gegenwärtigen Gestalt gänzlich unbekannt gewesen, so würde es doch allemal Gewissenssache für uns seyn, unsere Zuhörer irgend

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5.  Die Predigtideale in Altprotestantischer Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung

etwas, als unentbehrlich zu ihrer Glückseligkeit, zu lehren, davon wir uns selbst nicht aus eigener gegründeter Einsicht Rechenschaft geben können, daß es sie besser machen, oder ihnen bey einer wahren Besserung mehr Zuversicht und Zufriedenheit geben werde. Hier ist nicht von der Wahrheit oder Falschheit aller dieser Sätze und Meinungen die Frage. Sie mögen immer ihren zuverläßigen und erweislichen Grund haben; sie mögen auch immer dem gelehrten scharfsinnigen Untersucher für seinen Verstand eine Beschäftigung geben, die ihm angenehm ist; deswegen wird daraus noch keine eigentliche Lehre der Religion; kein Stück der Erkenntniß, welche die Menschen zu Gott führet und glücklich macht. Und eine solche Erkenntniß ist es doch allein, deren Ausbreitung für uns, als Prediger, gehöret; sonst thun wir, an statt nützlich zu seyn, ganz vergebliche Arbeit. Wer sich also nicht in die große Gefahr setzen will, seines ganzen Zwecks in diesem wichtigen Geschäfte zu verfehlen, der hat wohl Ursache, oft und ernstlich hiebey mit sich selbst zu Rathe zu gehen, und sich mit gewissenhafter Furcht vor Gott die Frage vorzulegen: was muß ich meinen Zuhörern sagen, damit sie gute Christen werden? was für Vorstellungen und Betrachtungen muß|133 ich in ihren Gemüthern lebendig machen, um sie zu einer thätigen Liebe Gottes und der Tugend zu bringen? wodurch können die Empfindungen von Billigkeit, Dankbarkeit und eigenem Vortheil bey ihnen erwecket werden, welche die grossen Triebfedern eines rechtschaffenen Bestrebens und Verhaltens sind? was dienet insonderheit dem großen vermischten Haufen der Einfältigen, die sich nicht selbst durch eigenes Lesen und Nachdenken so gut helfen können, zum Antriebe und zur Unterstützung in ihrer Gottseligkeit? Es wäre zu unverantwortlich, daß jemand das Amt eines Predigers über sich nehmen sollte, der nicht von der menschlichen Natur und von der Art, wie die Wahrheit in die Seele wirket, so viel Kenntniß hätte, daß er sich selber, nach einer bedachtsamen Ueberlegung diese Fragen beantworten und darnach die Auswahl dessen, was eigentlich nöthige und nützliche Lehre der Religion ist, anstellen könnte. Ein sehr sicherer Führer dabey wird ihm vornehmlich die Aufmerksamkeit auf sein eigenes Herz werden, wenn er Treue genug gegen Gott und gegen sein Gewissen hat, selbst ein rechtschaffener Christ zu seyn. Er darf dann nur bedenken, woher sein Gemüth die heilsamsten und kräftigsten Eindrücke zur Gottseligkeit bekommen habe, was es für Vorstellungen gewesen oder noch sind, durch welche seine Gesinnungen geändert, durch welche eine jede Unordnung der Seele ihm verhaßt und die aufrichtige Ergebung an Gott ihm sein Glück und seine Freude geworden; durch welche er auch itzt noch in der Liebe des Guten gestärkt und zur Ausübung der christlichen Tugend ermuntert wird. Je mehr ihn diese seine eigene Erfahrung leitet, desto sicherer|134 wird er bey andern die Gründe brauchen können, welche wirklich etwas über das menschliche Herz vermögen; und bey aller Verschiedenheit in den Fähigkeiten, Erkenntnissen

5.3  Das Predigtideal der Aufklärung

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und Denkungsarten, für welche er freylich seine individuale Erfahrung nicht in allen Stücken zu einer allgemeinen beständigen Methode machen muß, wird er sich dann doch immer so viel leichter in die Stelle derer, die er lehren und führen soll, setzen, und ihnen das sagen können, was ihnen zur Besserung und zum rechtschaffenen Leben sowohl, als zum wahren Frieden der Seele nützt. Das thun aber nie bloß theoretische Lehren, die entweder von unsern Zuhörern gar nicht verstanden, noch als wirkliche Wahrheit erkannt werden können, oder die doch, wenn sie auch etwas dabey denken und ihnen aus Gründen Beyfall geben, keine Beziehung auf ihre Gesinnungen haben, noch darin etwas Gutes wirken. Ich muß über diesen Punkt das sagen, was ich auf dem Herzen habe; und ich hoffe, daß redliche Freunde Gottes, der Menschen und der Wahrheit, wo nicht mir durchgehends beystimmen, doch wenigstens meine Bedenklichkeiten ohne Unwillen und Bitterkeit, einer gewissenhaften ruhigen Erwägung würdigen werden. Es ist mir überwiegend wahrscheinlich, daß die von uns gepredigte Religion mehr merkliche Würkung thun, mehr Tugend und Glückseligkeit in die Welt, und mehr Menschen zum Himmel, bringen müßte, wenn alle unfruchtbare speculativische Lehrmeinungen aus dem eigentlichen christlichen Unterrichte wegblieben, und desto mehr diejenigen Vorstellungen getrieben würden, welche wirklich auf das Gemüth|135 und Leben einen Einfluß haben.

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6.  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher:   Die Predigt als Darstellung des christlichen Bewusstseins

Einführung Schleiermachers Verständnis der Predigt ergibt sich aus seinem Verständnis der Religion, aber es kann nur dann sachgemäß und umfassend verstanden werden, wenn sein Verständnis der Kirche und sein Verständnis der Dogmatik einbezogen werden. Darstellungen, die Schleiermachers Auffassung der Predigt allein aus dem Religionsbegriff der »Reden über die Religion« ableiten wollen, unterschlagen Schleiermachers reifere Einsichten – und sie vermögen Schleiermachers eigene Predigtpraxis nicht zu erhellen. Epochal – wenn auch nicht völlig ohne Vorläufer – ist Schleiermachers Verortung der Religion im Gefühl. Die Religion ist, wie die berühmten Formulierungen in den »Reden« lauten, weder Metaphysik noch Moral, sondern »Anschauung und Gefühl«, »Sinn und Geschmak fürs Unendliche«1. Die Religion gehört also weder dem Bereich einer theoretisch-spekulativen Welterfassung zu, noch ist sie eine Funktion der Moralbegründung oder Moralentfaltung. Religion ist in ihrem Kern ein bestimmtes Lebensgefühl. Im Falle des Christentums ist dieses Lebensgefühl bestimmt durch den Bezug auf den Erlöser Jesus von Nazareth. Das Lebensgefühl Jesu nun war dadurch bestimmt, dass er sich durchgehend auf Gott bezogen empfunden hat. Und an diesem Lebensgefühl gibt der Erlöser den Glaubenden Anteil. Dabei ist zunächst an die Gemeinschaft der Jünger zu denken, die sich dann aber ausweitet zu der Gemeinschaft der Kirche. Der Erlöser stiftet dadurch ein neues »Gesamtleben der Erlösung«, welches dem »Gesamtleben der Sünde« entgegengesetzt ist 2. Spätere Generationen können keinen direkten Eindruck mehr von der Gestalt Jesu gewinnen: Für sie ersetzen die Texte des Neuen Testaments die persönliche Begegnung mit 1  Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799, p. 50.53), hg. v. Günter Meckenstock (De-Gruyter-Texte), Berlin/New York 2001, S. 79 f. 2  Vgl. z.B. den Leitsatz des § 87 der zweiten Auflage der Glaubenslehre: »Wir sind uns aller im christlichen Leben vorkommenden Annäherungen an den Zustand der Seligkeit bewußt als begründet in einem neuen göttlich gewirkten Gesamtleben, welches dem Gesamtleben der Sünde und der darin entwickelten Unseligkeit entgegenwirkt.« (Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2. Aufl. 1830/31, als 7. Aufl. hg. v. Martin Redeker, 2 Bde., Berlin 1960, Bd. 2, S. 15).

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6.  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

Jesus. Die Kirche lebt also von dem Bezug auf Jesus von Nazareth, der freilich kein direkter, sondern ein durch die neutestamentlichen Texte vermittelter ist3. Diese Texte vermögen es auch aus großem zeitlichem Abstand heraus, das Lebensgefühl Jesu zu vermitteln. Das macht ihre Bedeutung für die Predigt aus – und ihre Unersetzbarkeit. Die Aneignung der Texte geschieht nun in der Regel im Kontext der kirchlichen Gemeinschaft, konkret: im Gottesdienst. Da die Texte auf eine Wandlung des Lebensgefühls zielen, oder aber darauf, das gewandelte Lebensgefühl zu bestärken, reicht es nicht, sie in der Weise des Unterrichts rein nach ihrem sachlichen Gehalt zu entfalten. Hier wird nun der Kunstcharakter des Gottesdienstes wichtig: Denn die Kunst ist jene Kulturform, die in besonderer Weise Lebensgefühle auszudrücken, zu bestärken und auch zu formen vermag. Im Gottesdienst vereinen sich Kunstäusserungen der verschiedensten Art: die Gesangskunst, die Musik überhaupt, die Bildende Kunst, die Baukunst – und eben auch die Redekunst in der Predigt und in den Gebeten. »Der Zwekk des Kultus ist die darstellende Mittheilung des stärker erregten religiösen Bewußtseins«4. Der hier auftauchende Begriff eines darstellenden Handelns verbindet Kunst und Religion. Es geht bei dieser Handlungsart, im Gegensatz zum »wirksamen« Handeln, nicht um ein Wirken auf die äußere Welt. Während das wirksame Handeln auf einen »Effect« zielt, »der außer der Thätigkeit selbst liegt«, bringt das darstellende Handeln ein Bewusstsein zum Ausdruck. Es hat damit seinen Sinn in sich selber: »Alle Kunst hat in der Darstellung ihr Wesen, und alles, was nichts anderes sein will als Darstellung, ist Kunst. Beides läßt sich auf den christlichen Cultus anwenden«5. Der Kirche anzugehören bedeutet im Kern, ein bestimmtes Lebensgefühl zu teilen. Nun haben es Gefühle für Schleiermacher an sich, dass sie zur Mitteilung drängen. Das gilt natürlich auch für das Lebensgefühl der Christen. Das religiöse Bewusstsein drängt von sich selber aus zur Darstellung, gemäß der allgemeinen Regel, nach der »das innerliche« stets »auch äußerlich in die Erscheinung heraustreten« will.6 Die Aufgabe des Predigers besteht nun darin, ausgehend von den neutestamentlichen Texten das christliche Lebensgefühl zum Ausdruck zu bringen – und zwar auf eine ansprechende, anregende, mit3  Zu Schleiermachers Schriftverständnis vgl. Martin Weeber, Schleiermachers Eschatologie. Eine Untersuchung zum theologischen Spätwerk, Gütersloh 2000, S. 48–73. 4  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg. v. Jacob Frerichs, Berlin: Georg Reimer 1850, in: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke. 1. Abtheilung. Zur Theologie. 13. Band. Photomechanischer Nachdr., Berlin/New York 1983, S. 75 (im Original hervorgehoben). 5  AaO., S. 71 f. 6  AaO., S. 72.

Einführung

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hin kunstvolle Weise. Damit befördert, klärt und bestärkt er das religiöse Bewusstsein der Hörer: »Durch einzelne Momente, z.B. Gebete, sammelt sich der Mensch zum religiösen Bewußtsein; doch ist das nur ein kleines und er fühlt das Bedürfnis der Belebung und Erhöhung des Bewußtseins, und die giebt der öffentliche Cultus«. Der Gottesdienst unterbricht die Geschäftigkeit des Alltags, das wirksame Handeln wird zurückgestellt, und dieser »Zeitraum wird […] religiös erfüllt durch die Darstellung des herrschenden religiösen Bewußtseins«7. Wichtig ist dabei für Schleiermacher, dass diejenigen, die für den Gottesdienst Verantwortung tragen, davon ausgehen, dass sie das christliche Lebensgefühl mit der Gemeinde teilen. Das unterscheidet die gottesdienstliche Predigt von der Missionspredigt. Kennzeichnend für Schleiermachers Predigten sind deren sprachliche Schlichtheit, ihre gedankliche Klarheit und der fast vollständige Verzicht auf sprachliche Bilder. Es ist eine Ästhetik der Reduktion, die hier herrscht. Diese Eigenart seiner Predigten findet ihre Begründung in der großen Nähe zur Dogmatik, die Schleiermacher der Predigt zuweist. Die ursprünglichen Äußerungsformen des religiösen Bewußtseins sind zwar der »dichterische« und der »rednerische« Ausdruck, dennoch gehört die Predigt zusammen mit den Sätzen der Dogmatik in das »darstellend-belehrende Sprachgebiet.«8 Die hier erläuterten Zusammenhänge bilden den Hintergrund für die im Folgenden abgedruckten Ausführungen zur Predigtlehre in der »Praktischen Theologie«. Dort nimmt Schleiermacher, gemäß seiner Aufgabenbestimmung dieser theologischen Subdisziplin, jene Kunstregeln in den Blick, welche die Prediger bei der Ausarbeitung ihrer sprachlichen Darstellung des christlichen Bewusstseins leiten. Diese Kunstregeln wollen jeweils individuell angeeignet und angewandt werden, im Gegensatz zu mechanischen Regeln, welche keinen talentierten und gebildeten Anwender voraussetzen würden.

Weiterführende Literaturhinweise: Christian Albrecht, Schleiermachers Predigtlehre. Eine Skizze vor dem Hintergrund ­seines philosophisch-theologischen Gesamtsystems, in: Christian Albrecht/Martin Weeber (Hg.), Klassiker der protestantischen Predigtlehre. Einführungen in homiletische Theorieentwürfe von Luther bis Lange (UTB 2292), Tübingen 2002, S. 93–119. Wilhelm Gräb, Predigt als Mitteilung des Glaubens. Studien zu einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht, Gütersloh 1988, S. 168–235. 7 

AaO., S. 72. Schleiermacher, Der christliche Glaube, S. 107. – Die Sätze der Dogmatik unterscheiden sich von den Sätzen der Predigt dadurch, dass bei ihnen der »höchst mögliche Grad der Bestimmtheit« angestrebt wird (§ 16, Leitsatz, aaO., S. 107) – Zu Schleiermachers Theorie der verschiedenen religiösen Sprachgebiete vgl. Weeber, Schleiermachers Eschatologie, S. 32–45. 8 

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6.  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

6.1  Die Theorie der religiösen Rede nach der Praktischen Theologie: Homiletik als Kunstlehre  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg. v. Jacob Frerichs, Berlin: Georg Reimer 1850, in: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke. 1. Abtheilung. Zur Theologie. 13. Band. Photomechanischer Nachdr., Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1983, S. 201–207, 212–217.

IV. Theorie der religiösen Rede. Einleitung. Das wesentliche davon, daß hier der Geistliche zwar ebenfalls als Organ der Gemeine nur in der Darstellung des gemeinschaftlichen auftritt, aber doch im eigentlichen Sinn von seiner Persönlichkeit aus productiv, das haben wir schon auseinandergesezt. Hier nun bedarf es offenbar einer eigentlichen Technik, wozu die Principien eben so in einer allgemeinen Disciplin liegen wie die des Kirchengesanges, nämlich in der allgemeinen rhetorischen; aber hier können wir uns nicht so kurz fassen wie dort, weil den Gesang weder zu dichten noch die Melodie zu erfinden das Amt des Geistlichen ist. Es hat|202 eine große Schwierigkeit, daß wir uns auf die rechten Grenzen beschränken, und dann auch an sich für einen der selbst ausübender ist, eine allgemeine Theorie hinzustellen. Die Erfahrung zeigt zu sehr, wie schwer man dem entgeht seine eigene Methode als allgemeine und das subjective als objectiv gültig dazustellen. Was die Grenzen betrifft: so ist schwer es sich klar zu machen durch bloße Vorschriften ohne sie an Beispielen zu verdeutlichen, und das lezte führt zu weit. Was die Theorie eigentlich leisten kann, haben wir im allgemeinen gesehen; sie kann nie die Virtuosität hervorbringen, nur die Anlage die ein jeder dazu hat leiten, mehr kritisch und durch Cautelen wirken. Das positive was sie thun kann, ist daß sie die verschiedenen Verfahrungsarten und die Momente die in einer jeden liegen auseinandersezt, damit sich jeder daraus aneignen kann was sich für ihn am meisten schikkt. Die Wirksamkeit einer solchen Theorie ist sehr verschieden je nachdem das Talent ist was dazu gehört. Je specieller das Talent ist, desto mehr gilt daß die Theorie den Künstler nicht macht. So z.B. sind die poetische und musikalische Composition besondere Talente, die nur in wenigen zu einer gewissen Stärke kommen, und da kann die Theorie nie anders verfahren, als Cautele aufstellen, die Idee des richtigen geben; aber auf die Production selbst kann sie keinen positiven Einfluß haben. Wie ist es in dieser Beziehung mit der religiösen Rede? Keineswegs werden wir hier auf ein specielles Talent zurükkgeführt; es wird nicht vorausgesezt, daß einer nicht könne dahin kom-

6.1  Die Theorie der religiösen Rede nach der Praktischen Theologie

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men auf diesem Gebiet zu produciren, in welchem sich das religiöse Element bis zu einer gewissen Stärke entwikkelt hat. Von diesem aus gilt zu der Production selbst gar kein besonderes Talent. Der Sprache bedienen wir uns alle und sie versirt hier auf einem Gebiet wo keine Virtuosität erforderlich ist, und das wodurch die Composition selber ein seinen Zwekk erreichendes wohlgeordnetes Ganze wird, ist das was allen die auf dem wissenschaftlichen Gebiet versiren gemeinsam sein muß, nämlich nur das Herr sein über die Combination seiner Gedanken. Jeder der über-|203 haupt in das kirchlich Leben auf selbstthätige Weise einzugreifen den wahren Beruf hat, hat alles in sich was ihn zum tüchtigen religiösen Redner machen kann. Alles äußerliche ist hier von sehr geringer Bedeutung. Ein etwas schöneres wohlklingenderes Organ macht hier einen unbedeutenden Unterschied. Anders ist es wenn einer einmal auftreten soll um eine große Wirkung hervorzubringen; aber da hier das öffentliche Auftreten ein sich wiederholendes ist, so wird alles störende dieser Art bald verschwinden, wenn das übrige dazu wirkt die Gemeine beim Vortrag festzuhalten. Weil das Talent hier ein so allgemeines ist, können wir uns begnügen mit dem was die Theorie leisten kann. Ist das Talent für die religiöse Rede ein allgemeines: wie ist es mit dem Inhalt der religiösen Rede? Ist es dem Inhalte nach der ganze Cyklus der religiösen Vorstellungen, der in der Rede vorkommen kann, oder bleiben einige ausgeschlossen? Es fragt sich, Haben wir andere Begrenzungen für die religiöse Rede anzunehmen, oder giebt es deren gar keine? Die Geschichte der Homiletik giebt Zeugnis davon, wie verschieden diese Frage beantwortet worden; jeder ausgezeichnete Homiletiker hat zu bestimmen gesucht, welche Vorstellungen in der Rede Raum fänden und welche nicht, und hat sich den Kreis groß oder klein gestellt. Hingegen hat es immer ausübende Künstler gegeben die an diese Vorschriften sich durchaus nicht gehalten haben, sondern alle Vorstellungen behandelt die in das religiöse Gebiet fallen. Die Differenz ist so groß daß einige schlechthin zur Hauptsache machen was andre gradezu verwerfen. Um hier den rechten Weg zu finden, muß man ausgehen vom Verhältniß der Rede zum ganzen des Cultus und des einzelnen Redners zum gemeinsamen Gebiet. Was das erste betrifft: so herrscht in der Rede die größte Freiheit zwischen den Punkten die das liturgische Element begrenzen. Der Prediger ist auf der einen Seite Organ seiner Kirche, auf der anderen Repräsentant seiner Gemeine; dies liegt in seiner Stellung. Als Organ seiner Kirche darf er nicht im Wider-| 204 spruch sein mit dem was ihre Einheit constituirt, als Repräsentant seiner Gemeine muß er ausgehen von der gemeinsamen Anregung; und dies beides ist sein Grenzpunkt, weiter aber auch nichts. Vermittelst des Einflusses seiner lebendigen Persönlichkeit soll er die gemeinsame Anregung leiten und ihr eine bestimmte Richtung geben. Schon von dieser Seite angesehen giebt es nichts

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6.  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

was seines Inhaltes wegen aus dem Gebiet der religiösen Rede ausgeschlossen werden müßte; nur das unchristliche und das der Kirchengemeinschaft widerstrebende kann ausgeschlossen bleiben. Auch giebt es keine religiöse Erregung die nicht unter Umständen eine gemeinsame sein könnte, von der der Geistliche auszugehen im Stande wäre. Die Hauptpunkte der heiligen christlichen Geschichte treten im Kirchenjahr hervor, und alles was sich daran schließen läßt, kann an eine Erregung und gemeinsame Stimmung angeknüpft werden Was gäbe es aber was sich daran nicht anknüpfen ließe? Jede religiöse Vorstellung geht auf diese Hauptpunkte zurükk. Alles was dem eigenthümlich christlichen Charakter gemäß in der religiösen Erregung seinen Plaz findet, kann in der religiösen Rede vorkommen, und wenn man hier Grenzen stekkt, so waltet ein Mißverständniß ob; desgleichen wenn man sagt, es gäbe gewisse Dinge die man nicht oft genug wiederholen könne, und deshalb die andern vernachlässigt. Man glaubt, es lassen sich gewisse Gegenstände nicht anders behandeln als in der technischen Sprache, und in so fern dies recht ist, hat man Recht; jedoch nichts was eine eigenthümlich christliche Lehre ist, ist in diesem Fall, daß es sich nur auf technischem Gebiet der Sprache behandeln ließe; dies spricht schon gegen die ganze Geschichte und Bildung der christlichen Lehre. Sagt man nun, In die technische Sprache ist manches aufgenommen das eigentlich nur das Verhältniß feststellt zwischen verschiedenen Elementen des christlichen Glaubens: so fällt dies allerdings außerhalb der religiösen Rede, denn es ist Reflexionssache, nicht Gemüthssache. Die meisten Theoretiker führen die Trinitätslehre zum Beispiel an. In ihrer Form gehört sie freilich nicht|205 auf die Kanzel, denn sie ist kein ursprüngliches Element des christlichen Glaubens, sondern ist nur im System als Verhältniß verschiedener Punkte des Systems zu einander. Die Elemente für sich gehören aber zum christlichen Glauben und dürfen nicht von der Rede ausgeschlossen bleiben; nur die systematische Auffassung, da sie kein Act der Gemüthsstimmung ist, gehört nicht hieher. Das richtige fürs christliche Leben sind die einzelnen Elemente, nicht die Art der Auffassung des Verhältnisses. Dies ist ein Normalfall für alles ähnliche, und alle solche Fälle die man ausschließen möchte, haben diese zwei Seiten: die systematische Combination, und die Elemente die dem christlichen Glauben wesentlich angehören. Auf der anderen Seite, diejenigen welche meinen, es gäbe einen kleinen Cyklus von Gegenständen den man so oft als möglich vortragen müsse und wegen Mangel an Zeit anderes ausschließen: diese wollen nicht zugeben, daß man gewisse Regionen des kirchlichen Jahres ansehen muß als solche in denen das festliche des kirchlichen Jahres Null wird; denn das wesentliche das sie meinen bezieht sich auf die Hauptpunkte die in den Festen urgirt werden. Die religiöse Rede verlangt auch Gegenstände zu behandeln die die Gemeine gemeinsam und religiös bewegen; was das Leben selbst giebt zu vernachlässigen und sich nur an das zu halten was

6.1  Die Theorie der religiösen Rede nach der Praktischen Theologie

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die christlichen Feste darbieten, ist einseitig. Der Trieb der Mittheilung und Darstellung, das herrschende im Geistlichen, verhält sich in keiner Beschränkung zu dem Inhalt der religiösen Vorstellungen. Es wird dabei vorausgesezt daß der Geistliche mit dem Lehrtypus seiner Kirche in Uebereinstimmung steht, natürlich in der lebendigen protestantischen Freiheit; indem er in der Geschichte lebt und das besondere immer aufs allgemeine bezieht: so muß ihn der Geist seiner Kirche so durchdrungen haben daß alles was ihn afficirt ihn religiös afficirt; niemals wird er glauben seinem Beruf Genüge geleistet zu haben, wenn nicht die Totalität seiner Amtsführung auch die Totalität seiner ganzen religiösen Selbstdarstellung ist. Wenn die|206 christliche Lehre den Schematismus zu solcher Totalität ausspricht und die Feste ihn auch in sich tragen und das gewöhnliche Leben dazukommt, das mehr oder minder afficirt: so ergiebt sich, daß nicht nur im ganzen Leben des Geistlichen sondern schon im jährlichen Cyklus eine Totalität religiöser Darstellungen gegeben sein muß. Bedenkt man, wie in der Rede selbst eine große Mannigfaltigkeit von Vorstellungen möglich ist: so sieht man, wie die Form die Sache schon begünstigt, und wie hier gar keine Beschränkung stattfinden kann. Es soll nichts geben was den Geistlichen bewegt, das ihn nicht auch religiös bewege; es darf also nur die Religiosität des Inhalts der Form der Vorstellung eine Grenze bestimmen. Das scheint sich von selbst zu verstehen, wenn nicht äußere Verhältnisse unsere Sache verunreinigt hätten. Der Geistliche in der protestantischen Kirche, der unter der Vormundschaft der Regierung steht, wird auch als Diener des Staates angesehen, und so macht man ihm zuweilen Zumuthungen seinen Reden eine andere als religiöse Richtung zu geben. (Kuhpokkenimpfung; Gemeinesteuer.) Auch solche Gegenstände ließen sich religiös ansehen; aber dies will man nicht, sondern verlangt ein Eingehen in die Sache selbst. Auf der anderen Seite geschieht zuweilen das Gegentheil, und die Regierungen mögen nicht daß gewisse Gegenstände auf eine religiöse Weise behandelt werden, sondern hätten dieses lieber bei Seite gestellt. Dem Geistlichen fällt es anheim alles religiös zu behandeln, wenn es dazu Zeit ist; nie darf er sich aus dem rein religiösen Charakter herausreißen lassen. Eine schwierige Aufgabe wäre nun zu bestimmen, wie weit die Grenzen der Religion gehen und wo das irreligiöse anhebt. Sobald ein Gegenstand auf eine andere als religiöse Art behandelt wird, so muß man auch aus dem Kreise der religiösen Vorstellungen, den man sich gestekkt hat, herausgehen. Sobald man z.B. die Nüzlichkeit einer Sache auseinandersezt und ihre Vortheile behandelt: so ginge dies aus dem religiösen Charakter heraus; wenn auch eine religiöse Anwendung nachher erfolgte, die Harmonie wäre doch|207 gestört. Einen organisch für sich bestehenden Theil dürfen sie nicht bilden, sondern müssen immer untergeordnet bleiben. […]

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|212 Der Cultus muß eine Beziehung auf den Typus der christlichen Frömmigkeit haben, der sich an bestimmte Punkte der Erlösung anschließt. Die zweite Aufgabe aber ist das Verhältniß des Cultus zum geschichtlichen Leben der Gemeine. Diese beiden Aufgaben beziehen sich gegenseitig auf einander; herrscht das momentane Interesse vor in der Gemeine: so ist das Bedürfniß der ersteren Aufgabe da, im umgekehrten Fall der lezteren. Doch beides ist sehr schwankend und unbestimmt. Es giebt viele Gemeinen die durchaus gewisse Punkte im Cultus wollen herausgehoben wissen, und verheimlichen das was ihnen im Leben vorliegt, d.h. sie trennen irriger Weise das geistliche und weltliche, während das erstere an das zweite anknüpfen sollte und einwirken. Es fragt sich also, Soll der Geistliche sich rein daran halten was in der Gemeine ist? oder soll er sie aus ihrem unvollkommenen Zustande herausbringen? Eine allgemeine Formel läßt sich nicht aufstellen, und die Hauptaufgabe ist die, beides zu verbinden, einmal sich in die Gemeine einzuleben und sich Einfluß bei ihr zu verschaffen, andererseits sie dahin zu führen, wohin er sie führen will. Stellt man sich auf die Gewohnheit der Gemeine allein: so ist dies null und nichtig, wenn es nicht mit obiger Absicht verbunden ist. Aber ebenso wenn der Geistliche von allem herkömmlichen absieht:|213 so erreicht er seinen Zwekk nicht, weil er sich nicht vorher mit der Gemeine einlebt. Diese zwei Momente müssen also immer verbunden werden; das erste ist der Zeit nach das erste, das zweite ist der Bedeutung nach das wichtigere. Wenn die Gemeine in Gewohnheit immer mehr erstarrt, oder auf der anderen Seite das Verhältniß des Geistlichen zur Gemeine immer loser wird: so liegt in beiden Fällen ein verkehrtes Benehmen des Geistlichen zu Grunde. Es kommt auf den Zustand der Gemeine an, was jeder einzelne Geistliche zu thun hat; er muß ihre Frömmigkeit festhalten an dem christlichen Urbild der Gemeine, andererseits muß er ihre Frömmigkeit in Verhältniß bringen zu dem was ihr äußeres Leben bewegt. Das wesentliche in der religiösen Rede ist also eine Mittheilung des religiösen Bewußtseins, die die Versammlung leicht auffassen kann, und die in einer solchen Region sich bewegt, daß die Hörer geneigt sind sie aufzufassen. Nur unter diesen beiden Bedingungen erreicht sie ihren Zwekk. Behandeln wir sie als Theil des Cultus: so müssen wir sie auch nach ihrem Zeitmaaß bestimmen. Das Maaß ist ein relatives und ein absolutes. Das absolute Maaß der Rede liegt in der Fassungskraft der Gemeine, das relative in dem Verhältniß dieses Elementes zu den andern. Ersteres ist schon vag und verschieden, abhängig von der Gewöhnung an diese Form auf anderen Gebieten, ist aber fähig einer Erhöhung und Herabstimmung je nach Interesse das man an der Sache nimmt. In Holland ist man an sehr lange Predigten gewöhnt ohne sonstige Gewohnheit der öffentlichen Reden, nur nach dem Interesse und der bestimmten Art und Weise des Zusammenseins; z.B. sie nehmen die Bibel mit, schlagen die Stellen der Predigt

6.1  Die Theorie der religiösen Rede nach der Praktischen Theologie

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auf und können so länger aushalten. Allein dies ist zufällig. Absolut können wir darüber nichts festsezen, sondern nur relativ, und auch dies ist verschieden. Wenn in einer bestimmten Zeit mehrere Gottesdienste auf einander folgen in einer Kirche: so begrenzt dies die religiöse Rede von selbst, wie die andern Elemente. Anderswo ist der Geistliche genöthigt|214 ein bestimmtes Maaß zu halten weil er zu bestimmter Zeit an einem anderen Orte auftreten muß. Wie können wir nach einem durchschnittlichen Verhältniß die Capacität der Gemeine für eine zusammenhängende Rede bestimmen? Die Meinungen gehen nicht sehr auseinander; eine Stunde wird schon für zu lang erkannt, eine halbe Stunde ist aber zu wenig und fällt auf Rechnung des Geistlichen. Natürlich kann der Geistliche durch die Einrichtung seiner Rede den guten Willen und die intellectuelle Capacität sehr steigern. Hätten wir ein bestimmtes Zeitmaaß für den sonntäglichen Gottesdienst: so würde das Maaß dieser Rede durch das der übrigen Theile bestimmt. Nun ist aber dieses Gesammtmaaß des Gottesdienstes nicht bestimmt, sondern in verschiedenen Gegenden ist es verschieden und ebenso das Verhältniß der Theile. Worauf beruhen diese Maaßdifferenzen? Wir stellen zwei ganz verschiedene Gesichtspunkte auf. 1) Jedes Element übt eine eigenthümliche Wirkung aus, darum muß der Theil am meisten hervorgehoben werden welchen die Gemeine am nöthigsten hat. 2) Was die Gemeinen am besten verstehen, muß am meisten hervortreten, und das schwierigere muß zurükkstehen. Aber das schwierige kann grade das nothwendige sein, und umgekehrt, und so entstände ein Conflict. Messen wir den Gesang nach der Nothwendigkeit: so muß er da am längsten dauern wo es am nothwendigsten ist das Bewußtsein der Gemeinschaft zu erregen. Es läßt sich nachweisen daß sich danach auch die Sache gestaltet hat. In allen Gegenden der evangelischen Kirche wo es an der Organisation der Gemeine fehlt, finden wir die größten Gesangsmassen; wo sich aber eine lebendige Gemeineverfassung findet, da wird in der Regel weniger lang gesungen. Früher war hier ein charakteristischer Unterschied, indem die reformirten Gemeinen eine Gemeineverfassung hatten, die Lutheraner nicht. Darum sangen leztere viel länger als die ersteren. Dies über die Nothwendigkeit. Nun die Leichtigkeit oder Schwierigkeit der Auffassung. Bei der Predigt haben wir eine große Differenz vorauszusezen: fremde Gedanken in einem größeren Com-|215 plexus aufzunehmen, dazu gehört eine Gewöhnung im Leben; wo in keiner anderen Beziehung öffentlich geredet wird und wenig gelesen, da kann auch die Auffassungskraft für die religiöse Rede nur sehr gering sein. Indeß die Uebung im Lesen ist von weniger Bedeutung als die im Hören oder Reden, da ich dort wieder anfangen kann, wenn ich mich zerstreut habe. Wo also die wenigste literarische Bildung ist und die wenigste Gewöhnung an Reden im öffentlichen Verkehr, da ist die Schwierigkeit der Auffassung für die religiöse Rede am größten, und so steigt es in langer Linie

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6.  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

aufwärts. Die Rede selbst kann allerdings auch populärer sein und unpopulärer, und wenn sie jenes ist, darf sie auch länger sein. Wäre Belehrung Zwekk der religiösen Rede: so müßte diese da am längsten sein wo Belehrung am nöthigsten wäre; da aber die Erbauung Zwekk des Gottesdienstes ist: so stellt sich die Sache etwas anders. Wenn ich aber erbauen will: so muß ich mir doch auch durch Belehrung den Weg bahnen, und so entsteht auch die Nothwendigkeit der Belehrung, und die Sache bleibt dieselbe. Diese Nothwendigkeit der Belehrung ist natürlich auch am größten wo die literarische Bildung und die Gewöhnung an öffentliche Reden am niedrigsten stehen. Dies scheint also einen Gegensaz zu bilden zu obigem. Der Gesang schmiegt sich der schwierigeren Auffassung an: durch das langsame Fortschreiten kann der Gedanke mit Muße sich innerlich bewegen, und es können Zwischengedanken eintreten; bei der religiösen Rede nicht. Auch in der Rede wird das bildliche besser gefaßt als das abstracte; nun bewegt sich der Gesang ja eben in Bildern, die Rede weit mehr in Formeln. Auf dieser Bildungstufe ist also eine größere Wirksamkeit des Gesanges, im entgegengesezten Fall der Rede; und im ersteren Fall ist der Gesang länger, im entgegengesezten die Rede. Das Verhältniß zu den anderen Elementen läßt sich also nicht bestimmt aussprechen. Es giebt Gemeinen die viel Neigung zum Gesang haben und lieber eine kleine Predigt, und umgekehrt. Ist das ein Punkt wo der Geistliche der Gemeine nachgeben muß, oder soll er auf diese|216 Richtung des Geschmakkes einwirken? Der Geistliche muß sich immer zwiefach betrachten, als Glied der Gemeine und als Leiter des Cultus. Im ersten Fall hat er nur seinen bestimmten Theil am allgemeinen Urtheil, und er kann nicht annehmen, daß bei jedem Gemeinegliede der Geschmakk auf ein Urtheil sich gründet. Findet er nach seinem Urtheil das bisherige Verhältniß in der Gemeine nachtheilig, so muß er auf Veränderung wirken, aber nur dadurch, daß er sich zuerst mit seiner Gemeine einlebt und erst dann die leitende Thätigkeit anfängt. Hat eine Gemeine noch sehr wenig Capacität für die Rede und hat der Geistliche das Mittel zur Abhülfe noch nicht gefunden: so kann er das Maximum der Erbauung nur in einem Uebergewicht des Gesanges finden. Diese Vorliebe für den Gesang ist aber oft nur ganz äußerlich und geht nicht auf den Gehalt ein; in diesem Fall muß der Geistliche dem Uebelstand abhelfen durch Erhöhung des Interesses an der Rede. Wie ist das Verhältniß des Maaßes der Rede zum liturgischen Elemente? Denken wir uns das liturgische Element zurükkgedrängt auf ein geringes Maaß, und den Gesang zuerst in Beziehung auf das liturgische Element, dann auf die Predigt, und endlich als Schluß: so wird so ziemlich die religiöse Rede die Hälfte des Gottesdienstes ausmachen; ist das liturgische Element stärker: so ist sie mehr eingeschränkt. Die bestehende Form der religiösen Rede müssen wir uns als zufällig denken, dann wird sich ergeben, was wesentlich und unwesentlich ist. Dabei müssen

6.1  Die Theorie der religiösen Rede nach der Praktischen Theologie

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wir auf den Begriff der religiösen Rede zurükkgehen. Sie ist eine zusammenhängende Folge von Gedanken; der Zwekk zu dem sie aufgestellt wird, ist kein anderer als das religiöse Bewußtsein der anwesenden zu beleben, so wie wir schon früher gesagt haben, die ganze Anstalt des Cultus sei eine Anstalt für die Circulation des religiösen Bewußtseins. Daß nun hier die Belehrung allerdings auch ein Moment bildet, ist natürlich nicht zu läugnen, aber nur ein untergeordnetes. Die Hauptsache bleibt immer die Belebung des religiösen Bewußtseins, die Erbauung.|217 Allein wenn wir nun fragen, Was kann um diese zu bewirken, außer der Klarheit und richtigen Methode in der Darstellung der einzelnen Gedanken in so fern sie Reflexionen des Selbstbewußtseins sind, geschehen um den Zusammenhang zwischen der Vorstellung und der lebendigen Thätigkeit zu vermitteln: so werden wir sagen müssen, daß ein fremdartiges Motiv den Zwekk zerstören würde; jede Einwirkung die auf der Kraft sinnlicher Momente beruht, würde offenbar dem Zwekke entgegen sein. Das führt wol darauf, als auf den ersten wichtigsten Kanon in dieser Beziehung, daß die Kraft dazu in der Vorstellung selbst liegen muß, und nichts anderes nöthig sei als nur die religiöse Mittheilung der religiösen Vorstellung, so wie sie im mittheilenden selbst im lebendigen Zusammenhang mit der Thätigkeit stehe; daß also der Zwekk nicht die bloße Mittheilung des Inhaltes ist, aber doch der Zwekk erreicht werden kann dadurch daß sie ihren Inhalt auch rein und lauter mittheilt. Es ist nun der innere Zusammenhang postulirt, und dieser ist die eigentliche Einheit der Rede, d.h. wenn wir uns die Gedanken der Rede vereinzelt denken: so muß unter ihnen eine natürliche Verbindung stattfinden, vermöge deren sich das ganze als Einheit darstellt. Die natürliche Folge davon ist die, daß so wie die Zuhörer durch den ganzen Act des Cultus in den Zustand der Aufregung gesezt werden, wenn das ganze geschlossen ist sie sich im Zustande der Befriedigung befinden. Wenn eine Menge Vorstellungen erregt werden ohne Zusammenhang, so könnte solche Befriedigung nicht entstehen. Je mehr man die Gedanken vereinzelt, desto weniger ist ein Grund, warum man aufhört; zeigt sich aber das vorgetragene als abgeschlossenes Ganze: so ist die Befriedigung das Ziel der Aufregung. Hieraus scheint als Folge hervorzugehen, daß die Zuhörer vorher von dieser Einheit der Rede unterrichtet werden müssen, damit ihre Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang gerichtet werde.

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6.  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

6.2  Die Würdigung des Vorfindlichen:   Schleiermachers Gemeindeverständnis als Voraussetzung   seiner Predigtauffassung  Predigten von F. Schleiermacher. Erste Sammlung. Dritte Auflage, Berlin: Verlag der Realschulbuchhandlung, 1816, ohne Seitenzählung [Xf].

Andern wird freilich Manches wunderlich vorkommen; zum Beispiel, daß ich immer so rede, als gäbe es noch Gemeinen der Gläubigen und eine christliche Kirche; als wäre die Religion noch ein Band, welches die Christen auf eine eigenthümliche Art vereinigt. Es sieht allerdings nicht aus, als verhielte es sich so: aber ich sehe nicht, wie wir umhin können, dies dennoch vorauszusezen. Sollen unsere religiösen Zusammenkünfte eine Missionsanstalt sein, um die Menschen erst zu Christen zu machen: so müßten wir ohnedies ganz anders zu Werke gehen. Soll aber von ihrem Verhältniß zum Christenthum gar nicht die Rede sein: so sehe ich nicht ein, warum vom Christenthum die Rede ist. Vielleicht kommt auch die Sache dadurch wieder zu Stande, daß man sie voraussezt; wenigstens giebt es nichts verderblicheres für unsere religiösen Vorträge, als das Schwanken zwischen jenen beiden Ansichten, ob wir als zu Christen reden sollen, oder als zu Nichtchristen.

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7.  Der Streit um die Predigt im 19. Jahrhundert:   Von der Missionspredigt zur »modernen Predigt«:   Christian Palmer, Theodor Christlieb, Martin Schian,   Ernst Troeltsch

Einführung Im 19. Jahrhundert wird die Kirche zum zentralen Thema der evangelischen Theologie. Fragen des Wesens und der Aufgabe von Kirche, Probleme der inneren Ordnung und des äußeren Verhältnisses zu Staat und Gesellschaft rücken ins Zentrum der Theologie ein. Diese Schwerpunktverlagerung hat Folgen für die Homiletik. Die homiletischen Diskussionen des 19. Jahrhunderts lassen sich immer auch als ekklesiologische Debatten lesen. Diese Verbindung von Predigtbegriff und Kirchenverständnis ist nicht nur zeitbedingt, sie ist eine Konsequenz des reformatorischen Kirchenbegriffs, wie ihn CA VII formuliert. Heinrich Bassermann (1849–1909), Praktischer Theologe an der Universität Heidelberg, hat diesen Zusammenhang einmal so formuliert: »Ist Predigen unter allen Umständen ein Tun, welches in der christlichen Kirchengemeinschaft bezw. durch sie, jedenfalls auf Grund ihrer Existenz und im Zusammenhang damit stattfindet, so wird ein homiletisches Prinzip unweigerlich aus dem Wesen dieser christlichen Kirchengemeinschaft entspringen. Dies Wesen selbst wird sich in kritischer Vergleichung mit anderen religiösen Gemeinschaften durch die Religionsphilosophie und -Geschichte sowie durch die Ethik fixieren lassen und von ihm wird sich eine Wesenseigentümlichkeit aller Predigt herleiten lassen müssen«1. Die Frage nach dem Wesen der Predigt wird im 19. Jahrhundert auf die Frage nach dem Zweck der Predigt zugespitzt. Und: Welche Wirkung intendiert die Predigt? Unterschieden werden Kultus- und Missionspredigt. Wird die Predigt in der Tradition Schleiermachers als Kultuspredigt und damit als »darstellendes Handeln« verstanden, dann ist die gemeinsame religiöse Empfindung die Voraussetzung, nicht der Zweck des Kultus und der Predigt. Ihr Zweck bzw. Ziel liegt in der Erbauung der im Kultus versammelten Gläubigen. Wird die Predigt dagegen als Missionspredigt und damit als »wirksames Handeln« ver1  Heinrich Bassermann, Theorie und Praxis mit besonderer Berücksichtigung der Predigt, in: MPTh 3 (1906), S. 6–21, jetzt in: Ders., Beiträge zur praktischen Theologie. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Leipzig 1909, S. 68–83, 77.

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7.  Der Streit um die Predigt im 19. Jahrhundert

standen, dann ist der persönliche und erweckte Glaube des Einzelnen die erhoffte Wirkung der Predigt. Hinter einem solchen Predigtverständnis steht eine distanzierte Haltung zur kirchlichen wie gesellschaftlichen Entwicklung der eigenen Gegenwart. Der christliche Glaube kann bei den Gottesdienstbesuchern nicht länger selbstverständlich vorausgesetzt werden. Er muss durch die Predigt erst generiert oder doch zumindest wieder erweckt werden. Die homiletische Diskussion des 19. Jahrhunderts ist also weitgehend eine Diskussion um Schleiermachers Kategorien des darstellenden und wirksamen Handelns, wobei diese Kategorien zunehmend vergröbernd gebraucht werden und zu Schablonen ekklesiologischer Feindbilder erstarren. Die Auseinandersetzung mit Schleiermachers Predigtverständnis, wie sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts geführt wird, ist eine Auseinandersetzung um die in der eigenen Gegenwart gebotene Aufgabe der Predigt und damit der Kirche. Die Homiletik entfaltet sich als eine Funktion der jeweils zugrunde liegenden Ekklesiologie. Ernst Troeltsch (1865–1923) hat diesen Zusammenhang in seiner berühmten Schrift »Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen« systematisiert. Am Ende seines Durchgangs durch die Christentumsgeschichte urteilt er, das Christentum trete stets in drei verschiedenen, gleichermaßen legitimen Sozialformen auf: »Kirche«, »Sekte« und »Mystik«. Jede dieser Sozialformen habe eine eigene Gestalt der Christusverkündigung entwickelt. Diese Beobachtung ist im Hinblick auf die Reflexion des je eigenen Predigtverständnisses von so großer Bedeutung, dass wir diesen Abschnitt aus den »Soziallehren« in diese Quellensammlung aufgenommen haben. Daneben haben wir drei Texte gestellt, die sich vor diesem Hintergrund wechselseitig auslegen. Christian Palmer (1811–1875) hat in der Einleitung zur ersten Auflage seiner »Evangelischen Homiletik«, einem der meist benutzten Homiletik-Lehrbücher des 19. Jahrhunderts, die Auseinandersetzung um Missions- und Kultuspredigt in der Gegenüberstellung des Predigtverständnisses von Schleiermacher und dem von Rudolf Ewald Stier (1800–1862) entfaltet. Stier hatte im Anschluss an Mt 28, 18–20 auch die sonntägliche Gemeindepredigt als Missionspredigt verstanden. Auch wenn Stiers homiletisches Programm heute nahezu vergessen ist, zeigt seine Rezeption durch Palmer doch, dass er in der homiletischen Diskussion der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts präsent war und als eine zentrale Gegenposition zu Schleiermacher zur Kenntnis genommen wurde. Die von ihm vorgeschlagene Verbindung von Homiletik und Missionstheologie erfreut sich auch gegenwärtig wachsender Beliebtheit. Palmer dagegen plädiert für die Kultuspredigt. Als Vertreter eines missionarisch orientierten Predigtverständnisses gilt neben Stier vor allem Theodor Christlieb (1833–1889). Im Unterschied zu Stier argumentiert Christlieb nicht nur biblisch, sondern auch im Hinblick auf einen empirisch nachweisbaren Rückgang an Kirchlichkeit und erweckter Frömmig-

Einführung

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keit. Dies mache eine Neuorientierung der gottesdienstlichen Predigt als einem immer auch wirksamen Handeln notwendig. Um 1900 bemühten sich Theologen in der Tradition Schleiermachers, die Praktische Theologie an Phänomene gelebter Religion anzuschließen. Innerhalb der Homiletik wollte man durch das Programm einer »modernen Predigt« auf Phänomene der Entkirchlichung und Entchristlichung nicht konfrontativ, sondern konstruktiv reagieren. In der ersten Auflage der RGG, dem Kompendium liberal-kulturprotestantischer Theologietradition, heißt es daher im Hinblick auf die Predigt: »Eine Reaktion gegen die Einseitigkeiten und Unzulänglichkeiten der herrschenden Predigtweise tritt mit der ›modernen Theologie‹, zunächst in der Schule A. Ritschls, ein. Indem in ihr der Unterschied zwischen Religion und Theologie zu lebendigem Bewusstsein gebracht und der Gedanke mit Energie ergriffen wurde, dass Christentum Leben und Kraft und nicht Lehre sei, indem endlich hier auch eine freudigere Stellung zu dem modernen Geistesleben gewonnen war, war für die Predigt eine neue Zuversicht und ein neues Programm gewonnen. Mehr gesunde Psychologie, mehr gesunder Realismus, mehr lebendiges Eingehen auf die Bedürfnisse der Gemeinde und ihre Eigenart, mehr kasuelle Gestaltung, mehr spezielle Themen und dabei sichere Zielstrebigkeit der einzelnen Predigt, dabei eine von falschem Pathos und schlechter Aesthetik freie Sprache, eine natürliche, von allem falsch Pastoralen freie Haltung des Geistlichen auf der Kanzel, ist ihr Programm. Vor allem: die Predigt persönliche Bezeugung erlebter und erlebbarer Frömmigkeit; die Predigt nicht Lehre, wohl aber voll von begrifflicher Klarheit«2.

Die Predigt sollte stärker am Hörer und dessen Erfahrungen orientiert werden. Dazu aber muss dem Prediger die Lebenswelt des Hörers bekannt gemacht werden: Die Gründung der praktisch-theologischen Subdisziplinen Religiöse Volks- und Kirchenkunde sowie die Etablierung der Religionspsychologie sind Konsequenzen dieser Einsicht. Dabei ist die Orientierung der homiletischen Theorie am Hörer keine nachgängige, nämlich erst dort, wo es um die Applikation des Predigtinhaltes geht. Sie bestimmt vielmehr bereits im Vorfeld die Anlage wie Entfaltung des homiletischen Verfahrens. »Moderne Predigt« ist daher situations- wie höreradäquate Predigt. Sie hat kasuellen Charakter. Später hat u.a. Ernst Lange an diese Gedanken angeschlossen. Aufgrund des öffentlichen Bedeutungsschwundes des Christentums, dem »Abfall der Massen«, wie Otto Baumgarten es nannte3, gestand man der Predigt eine immer auch didaktische, gelegentlich gar missionarische Wirkung zu. Darstellendes und wirksames Handeln gehören im Hinblick auf die Predigt zusammen. Die Frage der Wirkung einer Predigt wird dabei gelegentlich verkürzt zur Frage nach der richtigen Methode der Predigt. Vertreter dieses Programms waren u.a. 2 

Paul Drews †, Art. Predigt, in: RGG1 4 (1913), Sp. 1736–1755, 1754 (Hervorh. im Orig.). Otto Baumgarten, Predigt-Probleme. Hauptfragen der heutigen Evangeliumsverkündigung, Tübingen/Leipzig 1904, S. 2. 3 

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7.  Der Streit um die Predigt im 19. Jahrhundert

Friedrich Niebergall (1866–1932), Otto Baumgarten (1858–1934), Paul Drews (1858–1912) und Martin Schian (1869–1944). Der hier wiedergegebene Text von Schian thematisiert das Anliegen eines »modernen« bzw. neuzeitlichen Predigtideals im Vergleich mit anderen Predigtidealen dieser Zeit, u.a. auch dem erwecklichen. Eine Besonderheit der Methodik dieses Aufsatzes bedarf eigener Erwähnung: Die Orientierung der Homiletik an der konkreten Predigtpraxis zeigt sich in diesem Text anhand der Umstellung von der deduktiven auf die induktive Methode: Konkrete Predigtbeispiele bilden den Argumentationshintergrund. Dabei ist es im Einzelnen nur zweitrangig wichtig, wer und was sich hinter den zahlreichen zitierten Predigtbänden verbirgt. Entscheidend ist, dass ausgehend von der empirischen Predigtpraxis, wie sie sich in gedruckten Predigtbänden findet, argumentiert wird.

Weiterführende Literaturhinweise: Friedrich Wintzer, Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der ›dialektischen Theologie‹ in Grundzügen (APTh 6), Göttingen 1969. Eckart Beutel, Homiletik – ein Teil der Liturgik. Christian Palmers vermittlungstheologisch geprägte Predigtlehre, in: Christian Albrecht/Martin Weeber (Hg.), Klassiker der protestantischen Predigtlehre. Einführungen in homiletische Theorieentwürfe von Luther bis Lange (UTB 2292), Tübingen 2002, S. 120–143. Theodor Christlieb, Art. Homiletik, in: RE2 6 (1879), S. 270–294, bes. S. 277–282. Martin Weeber, Kultivierte Kulturdistanz. Die Homiletik Theodor Christliebs, in: Christian Albrecht/Martin Weeber (Hg.), Klassiker der protestantischen Predigtlehre. Einführungen in homiletische Theorieentwürfe von Luther bis Lange (UTB 2292), Tübingen 2002, S. 11–160. Paul Drews, Die Predigt im 19. Jahrhundert, Gießen 1903. Friedrich Niebergall, Die moderne Predigt, in: ZThK (1905), S. 203–271. Hans Martin Dober, Die moderne Predigt. Über Friedrich Niebergalls Homiletik, in: Christian Albrecht/Martin Weeber (Hg.), Klassiker der protestantischen Predigtlehre. Einführungen in homiletische Theorieentwürfe von Luther bis Lange (UTB 2292), Tübingen 2002, S. 161–183. Wilhelm Gräb, Die Predigt liberaler Theologen um 1900, in: Der deutsche Protestantismus um 1900, hg. v. Friedrich Wilhelm Graf/Hans Martin Müller (VWGTh 9), Gütersloh 1996, S. 103–130. Wolfgang Steck, Das homiletische Verfahren. Zur modernen Predigttheorie (APTh 13), Göttingen 1974.

7.1  Christian Palmer: Der Streit um die Predigt

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7.1  Christian Palmer:   Der Streit um die Predigt als darstellendes oder wirksames Handeln  Christian Palmer, Evangelische Homiletik, Stuttgart: J. F. Steinkopf’sche Buchhandlung, 1842, S. 1–10.

Prolegomena. 1. Grundgedanken Der Begriff der Predigt setzt den der Gemeinde und ihres Gottesdienstes vor­ aus. Zunächst zwar scheint die Predigt hievon ganz unabhängig zu seyn, denn so wie im Alten Testament die daselbst ganz einheimische Idee eines durch Menschen im Auftrage Gottes geschehenden Bezeugens der göttlichen Rathschlüsse und Gebote nicht nur niemals mit dem Cultus in Verbindung gebracht wird, sondern das Predigen selbst gewissermaßen eine Opposition gegen den Cultus bildet, und wie es gar nicht nothwendig an eine Gemeinde, eine Versammlung, sondern eben so oft an Einzelne sich richtet: so liegt ja in dem Begriffe der Ankündigung und Bezeugung des Heiles, das in Christo der Menschheit geschenkt ist, im Darbieten desselben und Auffordern zu seiner Annahme, noch gar nichts, was das Vorhandenseyn einer Gemeinde und eines gemeinsamen Gottesdienstes nothwendig machte. Ja streng genommen, steht auch im Neuen Testament der Begriff der Predigt in keiner wesentlichen Beziehung zum Cultus. Jedenfalls hat Harms nicht Unrecht, wenn er (Pastoraltheol. I. 4te Rede) als These aufstellt: »Die Predigt hat keine göttliche Einsetzung.«1 Denn daß der Auftrag Christi: »prediget das Evangelium aller Creatur« auf die Missionspredigt und nicht auf die als Theil des Cultus erscheinende Kirchenpredigt gehe, ist sehr klar; und ob es nicht ein mehr sinnreicher als streng beweisbarer Gedanke ist, wenn Stier (Biblische Keryktik 2 S. 162) die Worte Jesu: »Lehret sie halten Alles, was ich|2 euch befohlen habe« als Stiftung des kirchlichen Predigtamtes ansieht, lassen wir dahin gestellt seyn. Doch vielleicht sind beide, die Missionspredigt und die Kirchenpredigt, so durchaus Eins, daß mit jener auch diese gestiftet ist. So heißt es in der eben genannten Schrift S. 2. »Die Menschen, an welche der Herold Gottes zum Verkünden, Lehren und Bezeugen des göttlichen Rathschlusses gesandt wird, sind im Grunde, eben in sofern ihnen erst gepredigt wird, als von Gott entfremdet und entfernt, als noch außerhalb des Reiches Gottes zu denken. Der erste große Hauptzweck aller Verkündigung 1  [Claus Harms, Pastoral-Theologie. In Reden an Theologiestudirende. Erstes Buch: Der Prediger, wie ihn die Pastoral-Theologie thun lehret, hinsichtlich der Predigt, der Kinderlehre und der Vorbereitung der Confirmanden, Stuttgart 1834, S. 42.] 2  [Rudolf Stier, Kurzer Grundriß einer biblischen Keryktik, oder einer Anweisung, durch das Wort Gottes sich zur Predigtkunst zu bilden. Mit besonderer Beziehung auf Mission und Kanzel. Den Einverstandnen zur weitern Entwicklung vorgelegt, Halle 1830.]

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7.  Der Streit um die Predigt im 19. Jahrhundert

und Anbietung geht Solche an, die noch nicht wissen, was ihnen gesagt, und noch nicht haben, was ihnen dargereicht werden soll; und auch die Predigt an Jerusalem oder das schon erwählte und zum Theil schon belehrte oder bekehrte Volk Gottes wendet sich doch eigentlich an das noch widerstreitende Natürlichmenschliche in ihm. Der, welchem gepredigt wird, ist im Grund immer der natürliche Mensch in seiner Blindheit und Sündigkeit.« Hiernach wäre also kein wesentlicher Unterschied zwischen der Missionspredigt und der Predigt in der Gemeinde; auch in letzterer wäre es eigentlich doch nur das vorhandene Heidnische oder Jüdische, dem gepredigt wird. Direct entgegen steht dieser Ansicht die von Schleiermacher, bei dem man gewiß ebensoviel Recht hat, das dogma­ tische Verfahren vom homiletischen, als dieses von jenem abzuleiten. Schweizer (in der Schrift: Schleiermachers Wirksamkeit als Prediger3, S. 12.13) sagt von ihm: es sey das zwar seine eigenthümliche Macht gewesen, gebildete Ungläubige zum Christenthum zu leiten; er habe aber derlei Zuhörer nicht gerne gesehen, denn »obgleich er sich mit mächtigen Waffen ausgerüstet sah, dieselben zu widerlegen, und ihres Mangels an Selbstkenntniß und Tiefe zu überführen, so wußte er sich doch seine Predigten als gemeinsame Erbauung von Christen zu erhalten; denn eben in seiner rein christlichen Ansicht vom Gottesdienste und der Predigt|3 wurzelte hauptsächlich die Lust und Liebe, mit welcher er auf der Kanzel auftrat. Er wollte als zu Brüdern sprechen, deren christliches Bewußtseyn er entwickele, nicht erst gründe; er wollte es ihnen nachweisen, aufzeigen, läutern, befestigen, nicht als etwas Neues in sie hineintragen.« Nach Schleiermacher ist (ebend. S. 62) »die religiöse Mittheilung nur in dem Grade möglich, als das Mitgetheilte auch den Andern als Element der christlichen Lehre gilt, das Bewußtseyn folglich ein gleiches ist.« – Sehen wir der Sache recht auf den Grund, so hebt Stier als das Wesentliche aller Predigt das Auffordern, Mahnen, Strafen an, und weil nun Beides bei Christen und bei Nichtchristen, welchen von Beiden man nun predigen mag, stattfinden muß, so ist auch die Predigt beidemal die gleiche; Schleiermacher dagegen, wie das seine Predigten selbst zeigen, dringt nicht direct auf den Menschen ein, sondern stellt die evangelische Lehre ruhig in ihrem innern Zusammenhange dar, ihr selbst es überlassend, sich im Geiste des Hörers Geltung und Folgeleistung zu verschaffen. Noch anders gefaßt stellt sich die Sache so dar: Der Eine rückt das Negative, das eben vermittelst der Predigt selbst negirt werden soll, in den Vordergrund, und findet dieses bei den Christen und Heiden als im Wesentlichen dasselbe; der Andere dagegen hebt das Positive, das in der Predigt nur seinen gemeinsamen Ausdruck, seine Entwicklung und Darstellung findet, das aber nur in der bereits christlichen Gemeinde sich findet, hervor, jenes Negative beinahe ignorirend. Es kann nun 3 

[Alexander Schweizer, Schleiermachers Wirksamkeit als Prediger, Halle 1834.]

7.1  Christian Palmer: Der Streit um die Predigt

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kein Zweifel seyn, daß Beides sich gegenseitig ergänzen muß. Aber nun fragt es sich, wenn das Positive, das nur in der christlichen Gemeinde ist, zusammengenommen wird mit dem Negativen, das in Christen und Heiden ist, ob nicht dadurch alsbald das Letztere, wie es bei Christen ist, ein anderes werde, als es bei Heiden ist? Wenn ich in der Mitte der Christengemeinde auf das, was in ihr im Ganzen oder in ihren einzelnen Gliedern noch|4 heidnisch ist, eindringe, so gibt es hiezu keinen andern Weg, als durch ihr Christliches hindurch; dieses allein gibt mir die Berechtigung, jenes anzugreifen; nur weil sie dieses in sich haben, lassen sie sich jenes gefallen und nehmen es zu Herzen; denn schon vorher ist dieselbe Erkenntniß, derselbe Glaube in ihnen; ich bin in diesem Falle blos der Dolmetscher ihres eigenen christlichen Herzens gegen ihr eigenes noch nicht christliches Herz. Wie das im System der christlichen Lehre immer einen wesentlichen Unterschied machen muß zwischen der Sünde des Unbekehrten und der der Bekehrten, so wird auch die Predigt, so weit sie negativ verfahren muß, eine andere seyn in jenem als in diesem Fall. Wir wissen zwar sehr wohl, daß der Gegensatz zwischen Bekehrten und Unbekehrten nicht identisch ist mit dem zwischen Christen und Heiden; aber wir glauben, daß, wenn der Geistliche die Gemeinde vor sich hat, die zuerst durch gemeinsamen christlichen Gesang, dann durch gemeinsames Gebet, ja schon durch ihr freiwilliges Daseyn in der Kirche, in ihrer eigenen Kirche, sich als eine Christengemeinde darstellt, – er doch an einer wesentlich andern Stelle sich weiß als der Missionar; daß dann gewiß nicht der Gedanke, hier seyen neben Bekehrten auch noch viele Unbekehrte, und in den Bekehrten selbst sey noch so viel Unbekehrtes, der vorherrschende ist, sondern daß das Erste, die Grundstimmung in ihm das Gemeingefühl Eines Glaubens ist, das denn auch seine Berechtigung darin findet, daß sie Alle, die da versammelt stehen, Getaufte sind4. Oft genug wird der Prediger jene Differenz zwischen dem Christlichen und Unchristlichen in der Gemeinde selbst hervorheben müssen, gewiß mehr und schärfer, als dieß Schleiermacher gethan hat5; allein wovon er ausgeht und auf|5 was er immer wieder zurückkommt, das ist jenes gemeinsam Erkannte und Geglaubte. Es wäre auch sonderbar, wenn der Geistliche, nachdem er in der Predigt das Daseyn einer Gemeinde ignorirt und sich an die Zuhörer, nur in so weit sie noch unbekehrt oder nicht völlig bekehrt sind, gewendet hätte, nun auf einmal wieder im Schlußgebet, das auf die Predigt folgt, im Namen Aller reden und sie Alle somit als Gemeinde anerkennen würde.

4  Vergl. Harms »mit Zungen reden«, in den Studien und Kritiken von Ullmann und Umbreit, 1833. 3. Heft, S. 306 »Wir predigen vor Confirmierten« u.s.w. 5  S. die vortreffliche Recension der Schleiermacher’schen Festpredigten von Dr. Sack, Studien und Kritiken 1831. 2. Heft, S. 360 f.

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7.  Der Streit um die Predigt im 19. Jahrhundert

Wir trennen somit die Missionspredigt und die Kirchenpredigt, obgleich das zu predigende Evangelium in beiden eins und dasselbe ist, dennoch strenge von einander; jene ruht auf dem unmittelbaren Befehl des Erlösers, der jedoch nicht als äußerliches, beliebig gegebenes Mandat anzusehen, sondern Eins ist mit dem in die Kirche gelegten eigenen, innern Triebe, sich auszubreiten; diese aber, die Predigt in der Gemeinde, ist als Theil ihres Gottesdienstes aus dem geistigen Leben der Gemeinde selbst hervorgegangen, und setzt beides, Gemeinde und Cultus voraus6. Sie hat somit auch|6 eine göttliche Einsetzung, aber in andrem Sinn als die Missionspredigt; sie ruht nicht, wie diese, auf einem ausdrücklichen Befehl Christi, sondern auf der das Gemeindeleben bildenden und leitenden Kraft des Geistes der Kirche, welcher aber der Geist Gottes ist. Indem nehmlich die Missionspredigt eine Gemeinde hervorruft, theilt sich das durch die Predigt vermittelte Geistesleben allen Gliedern der Gemeinde mit; »Ihr seyd an allen ­Stücken reich gemacht durch Christum«, sagt Paulus zu den Korinthiern 1 Kor. 1, 5 ff. »an aller Lehre und aller Erkenntniß; wie denn die Predigt von Christo in Euch kräftig geworden ist, also daß Ihr keinen Mangel habt an irgendeiner Gabe.« Und Johannes schreibt 1 Joh 2, 20, 27. »Ihr habt die Salbung von dem, der heilig ist, und wisset Alles. Und die Salbung, die Ihr von ihm empfangen habt, bleibt bei Euch, und bedürfet nicht, daß Euch Jemand lehre.« Hiedurch ist die Gemeinde so ziemlich auf die gleiche Linie gehoben mit dem, der zuvor als Bote des Heiles über ihr stand; seine Tendenz war, sie zu sich heraufzuziehen; ist das geschehen, so ist die Predigt in ihrer ursprünglichen Form, als Mittel jenes Heraufziehens, überflüssig, und der zuvor ihr Apostel war, ist nun Ihrer Einer geworden, es findet nur noch Gemeinschaft Statt 7. In 6  Daß die Rationalisten sich in diese Art, die Predigt aufzufassen, nicht finden können, ist begreiflich, da, wie bekannt, der Sinn für geistige Anschauung bei ihnen völlig unentwickelt ist. So widerlegt Dr. Alt in seiner »kurzen Anleitung zur kirchlichen Beredtsamkeit« (Leipzig 1840) S. 5. 6 die Ansicht, der Prediger sey Träger des religiösen Gemeinde-Bewußtseyns, mit allerlei Gründen; ja er bringt die Ansicht in den Verdacht der Demagogie, da sie, wie er sagt, nur zu einer Zeit möglich sey, wo man die geistliche und die weltliche Macht nur als von der Menge geschaffen und bestellt, nicht mehr aber von einer höhern Auctorität eingesezt und geweiht ansehen wolle!! Als ob, wenn z.B. irgend eine hervorstehende Persönlichkeit als Träger und Repräsentant des Geistes der Gemeinschaft, der sie angehört, betrachtet wird, die Menge den Mann geschaffen und bestellt hätte! – Wie halten diese Kanzelredner so eifersüchtig auf ihre unmittelbare göttliche Sendung, während ihnen doch die Depeschen, die sie in dem Fall zu überbringen gehabt hätten, größtentheils müssen abhanden gekommen seyn! 7  Hiegegen scheinen Stellen, wie Eph. 4, 11. 2 Tim. 2, 2; 4, 2 zu streiten, da sie nicht nur eine göttliche Einsetzung des bleibenden Lehramtes, sondern auch das wirkliche Daseyn desselben in den ersten Gemeinden wahrscheinlich machen könnten. Allein es ist zu bedenken, daß in der Stelle des Epheserbriefes das Geseztseyn zu Evangelisten, Lehrern u.s.f. sich auf die empfangenen Gaben gründet, also keineswegs, was sich historisch gar nicht nachweisen ließe und aus dieser Stelle nicht gefolgert werden kann, auf unmittelbare Einsetzung

7.1  Christian Palmer: Der Streit um die Predigt

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diesem Sinne sprach auch|7 Luther häufig davon, daß jeder Gläubige selbst schon innerlich von Gott belehrt werde und deßwegen ein eigener geistlicher Stand an sich nicht nothwendig sey. Allein dieses gemeinsame Geistesleben, je mehr es sich durch die gewöhnlichen, irdischen Verhältnisse und Bedürfnisse in der Welt gehemmt und gestört fühlt, sucht und schafft sich um so gewisser eine eigene Sphäre, in der es ungehemmt sich zur Erscheinung bringen, sich bethätigen kann; es schafft sich seinen Cultus. Und zwar wird dieser zunächst eben nur die Form der völligen Gemeinschaft haben; seine Elemente sind Gebet, Gesang, und vor Allem das Abendmahl. Allein das göttliche Leben, durch dessen Mittheilung die Gemeinde entstanden ist, ist nicht anders auf Erden erschienen als in einer Person; es ist persönlich geworden in Christo. Gleichwie einerseits auf dieser Persönlichkeit und der persönlichen That Christi all’ unser Trost und Heil beruht, so bewirkt sie andererseits in allen denen, die Christum im Glauben aufnehmen, so kräftig und nachhaltig eine neue, geheiligte Persönlichkeit, sich zwar an­schließend an die natürliche Individualität, diese aber durch und durch erneuernd und verklärend, daß es nicht fehlen kann, es muß sich dieses individuelle Element auch im Cultus, neben und mit jenen gemeinsamen Lebensäußerungen offenbaren und geltend machen. Hieraus haben wir die in den Gemeinden zur| 8 apostolischen Zeit vorkommenden Charismata zu begreifen, so weit dieselben unmittelbar auf den Cultus Bezug haben. Diese Charismata erscheinen nun aber, so zu sagen, als ein, der ersten, frischen Kraft des die Einzelnen erfüllenden Gemeindegeistes natürliches Uebersprudeln desselben, dessen Uebermaaß und Ungestüm über kurz oder lang einem ruhigeren, geordneteren Hervortreten der Persönlichkeiten Platz machen mußte8. Nur Eines gab es, wodurch sich die Persönlichkeit, der Gemeinde gegenüber, Gehör und Geltung nicht nur erdes Amtes; das Amt ist die sich von selbst machende Folge der Gabe. Dieses nun fand Statt in dem bereits entwickelteren Zustande der Gemeinden, auf welche denn auch die Stellen im Timotheusbriefe sich beziehen, während|7wir oben nur von dem ersten Momente sprechen, aus dem schneller oder langsamer jener secundäre Zustand hervorgehen mußte. Die Worte an Timotheus nehmen überdieß auf Irrlehrer Rücksicht, denen durch Lehre entgegengearbeitet werden soll; dieß ist ein sattsamer Beweis, daß jener erste Moment – wir könnten ihn einen idealen nennen – längst vorüber war. Daß endlich in den Gemeinden, in welchen ein Apostel oder unmittelbarer Apostelschüler sich längere Zeit aufhielt, seine persönliche Auctorität jene, wenn auch innerlich vollzogene, Gleichheit niemals äußerlich werden ließ, ist begreiflich, hebt aber die innere Wahrheit des oben dargestellten Entwicklungsganges nicht auf. – Man vergleiche [August Neander, Geschichte der Pflanzung und Leitung der Christlichen Kirche durch die Apostel, als selbstständiger Nachtrag zu der allgemeinen Geschichte der christlichen Religion und Kirche, Hamburg 1832, S. 171 ff.] 8  Den Zusammenhang der Predigt mit den Charismen hat neuerdings Dr. Paniel in seiner Geschichte der Homiletik, I. Bd. S. 72 ff. gut entwickelt. [Karl Friedrich Paniel, Pragmatische Geschichte der christlichen Beredsamkeit und der Homiletik, von den ersten Zeiten des Christenthums bis auf unsre Zeit. Nach den Quellen bearbeitet und mit Proben aus den Schriften der christlichen Redner versehen, Leipzig 1839 ff.]

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7.  Der Streit um die Predigt im 19. Jahrhundert

werben, sondern auch unangefochten bewahren konnte – was bei den, bald in einen gewissen Kampf gerathenden Charismen nicht möglich war –; nur Eines, wodurch die freieste, lebendigste Subjectivität doch wiederum den objectiven Charakter gemeinsamer Erbauung gewinnen konnte: das war der Gedanke, das Denken, und sein adäquater Ausdruck, seine Incarnation, das freie, aber von Gedanken erfüllte, die gedachte, durchdachte Wahrheit darstellende und der mit= und nach=denkenden Gemeinde darbietende Wort. Das ist die Predigt; sie ist derjenige Theil des christlichen Cultus, in welchem das, in der Gemeinde vorhandene, verbreitete Geistesleben in der freien, lebendigen Persönlichkeit als ein von dieser im Gedanken erfaßtes und durch das Wort, den Träger und Offenbarer des Gedankens, zur Gemeinde zurückkehrendes in Wirklichkeit hervortritt9. So|9 erscheint in der Predigt die christliche Wahrheit (Wahrheit im vollen, Johanneischen Sinne genommen) immer auf’s Neue lebendig und persönlich geworden; und gerade dieß Persönliche ist die Quelle des ganz einzigen, eigenthümlichen Genusses, den die Gemeinde an der Predigt hat; so wie die Wahrheit durch das mündliche, den Gedanken lebensvoll aussprechende Wort ihre größte erregende, bewegende, anfassende Macht gewinnt10, wie ja bekanntlich ganz dieselben Worte gesprochen einen ganz andern Eindruck machen als geschrieben und gelesen. Diese Zwei aber, jener Genuß11 und diese Anregung, sind die wesentlichen Factoren der Erbauung, und sofern beide in der Predigt auf eigenthümliche Weise sich finden, ist auch die Erbauung durch die Predigt eine ganz eigenthümliche. – Es ist nun aber auch klar, daß die Predigt, wenn ihr Wesen dieses ist, wie wir es angegeben haben, nicht der zufälligen, augenblick­ lichen Erregung dieses oder jenes Gemeindegliedes anheim gestellt werden kann; eine Persönlichkeit, die so die christliche Wahrheit im klaren, lebenskräftigen Gedanken erfassen, und den Gedanken im rechten Wort wiedergeben, die sich überhaupt in ihrer Eigenthümlichkeit darstellen soll, muß hiezu eben 9  Man könnte zwar auch die Katechese als einen Theil des Cultus ansehen, in welchem die Persönlichkeit des Geistlichen hervortrete; allein diese ist, obwohl sie sich in der Gewandtheit im Fragen, in der Art, mit den Kindern zu reden u.s.f. kund geben muß, doch gerade durch die Form des Dialogs und das Verständniß der Kinder sehr beschränkt und gebunden; überdieß ist die Katechese vorwiegend eine didactische Thätigkeit; will man sie anders als mit der Predigt verwandt ansehen, so ließe sie sich vielleicht eher | 9 mit der Missionspredigt, soweit diese didactisch ist, in Beziehung setzen, obwohl auch diese noch bedeutend abweichende Seiten darbietet. Was aber die Hauptsache ist, das ist der Umstand, daß die Katechese streng genommen kein Cultustheil ist, indem sie die Menschen erst zur Theilnahme am Cultus vorbereitet. Es fehlt ihr daher auch die Feierlichkeit; sie ist so zu sagen nur ein Schulehalten in Gegenwart der Gemeinde, ja oft genug selbst ohne diese. Die alte Kirche kannte keine Kinderlehre in unserem Sinne. 10  Luther sagt irgendwo: »Nach dem geschriebenen Wort Gottes fraget der Teufel nichts; wo man’s aber redet und predigt, da fleucht er.« 11  Dieses Genießen, das wir als Element der Erbauung ansehen, entspricht dem delectare, das die Alten (z.B. Quintilian) außer dem movere und flectere vom Redner fordern.

7.2  Theodor Christlieb: Die Notwendigkeit der Missionspredigt

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so sehr von Natur begabt als durch Kunst gebildet, geläutert seyn; woraus|10 die Nothwendigkeit eines eigenen Predigerstandes und der speciell hierauf gerichteten Bildung hervorgeht, die aber auf nichts Anderes und Höheres hinzuarbeiten hat als eben auf die Erzeugung einer solchen freien, lebendigen Persönlichkeit.

7.2  Theodor Christlieb: Die Notwendigkeit der Missionspredigt  Theodor Christlieb, Homiletik. Vorlesungen, hg. v. Theodor Haarbeck, Basel: Jaeger & Kober, 1893, S. 5–8 (in Auszügen).

Die Mehrzahl unserer deutschen Homiletiker hält […] immer noch an der Auffassung der Homiletik als Theorie der Gemeindepredigt fest. Es handelt sich, sagen sie, bei der Predigt nur um ein Stück im Kultus der bereits Gläubigen, nicht um die Verkündigung des Evangeliums nach aussen vor Juden und Heiden. Das letztere ist etwas Besonderes für sich, man kann es Evangelistik nennen, die darum auch besonders neben der Homiletik abgehandelt werden muss. […]. Eine weitere strikte Folge dieser Auffassung für Wesen und Zweck der Predigt selbst ist dann die, dass man ihr als Aufgabe bloss das feiernde, darstellende, erbauliche, nicht das erweckliche Moment zuweist. Hierbei wird aber der Predigtzweck in Anbetracht unserer heutigen kirchlichen Bedürfnisse doch viel zu eng und einseitig gefasst. Wir stossen deshalb hier gleich auf einen Punkt, ja einen Hauptpunkt, an dem die bisherige Homiletik entschieden der Fortbildung bedarf. Darf ich denn – vollends in unseren Staatskirchen – die »Gemeinden« ohne weiteres als aus Gläubigen bestehend heute noch voraussetzen? Entsteht denn bei der heutigen Zersetzung der Gemeinden durch Unglauben, Indifferentismus, ja Atheismus bis hinab in den Arbeiterstand das Bedürfnis der Neuevangelisierung, einer Neugewinnung für den Glauben bei Unzähligen nicht unabweisbar? Oder soll etwa die Kirche diese Aufgabe immer nur den Ausserkirchlichen überlassen? Nicht als ob die Taufe (die aber auch schon da und dort unterlassen wird) und Konfirmation nicht einen Unterschied begründeten auch zwischen unseren blossen Namens­ christen und den Heiden; aber hat denn diesen gegenüber der Prediger nicht die Aufgabe, so wo möglich wieder zum Glauben zu erwecken? Soll er zu ihnen immer nur so reden, als wären sie gläubige Brüder, also immer nur erbaulich, nie erwecklich? Und wenn beides nötig ist, müssen wir dann nicht einen Predigtbegriff postulieren, in dem auch beides enthalten ist, der also […] die Aufgabe der Erweckung zum Glauben bei den nicht mehr oder noch nicht Glaubenden in der Gemeinde mit umfasst? […]

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7.  Der Streit um die Predigt im 19. Jahrhundert

|7 [Es ist nicht zu leugnen,] »dass bei der heutigen bunten Zusammensetzung unserer meisten ›Gemeinden‹ aus Gläubigen, Halbgläubigen und auch vielen ganz Unkirchlichen, ja Ungläubigen, eine gewissen Missions- oder Neuevangelisierungsaufgabe wieder ersteht auch für die Gemeindepredigt. Die homiletische Behandlung aller als kirchlich Gläubiger wird da leicht zu einer gefährlichen Fiktion; daher eine Theorie der bloss erbaulichen Gemeindepredigt, die in allen Hörern nicht etwa bloss den gemeinsamen objektiven Kirchenglauben, sondern wirklichen persönlichen Herzensglauben voraussetzt, im Unterschied von der Anleitung auch zur Erweckung, respektive Neugründung des Glaubens in den von ihm Abgefallenen je länger je mehr für unsere Bedürfnisse unzureichend und unfruchtbar zu werden droht. Ist jene ganz allgemeine Fassung der Predigtaufgabe für kirchliche Verhältnisse zu weit, so die letztere für Zeiten des Abfalls vom Glauben zu eng. Daher ist unsere Wissenschaft auf einem Predigtbegriff aufzubauen, der das kultisch darstellende, erbauliche Moment für die schon Gläubigen, wie das wirksam erweckliche, neuverbreitende für die nicht mehr oder noch nicht wahrhaft Glaubenden zugleich enthält. Und dies ist der biblisch christliche Begriff der Predigt als des Zeugens von Christo, der unter Anknüpfung an die ursprünglich missionskeryktische Aufgabe (vergl. das Urzeugnis der Apostel) prinzipiell das erbauliche und erweckliche Moment, formell die schlicht analytische wie die kunstvoll synthetische Predigtweise einschliesst, und dazu unter allen am ­meisten auch die innere Bedingung einer gesegneten Wirkung der Predigt andeutet. – Uns ist|8 daher die Homiletik die wissenschaftliche Darstellung der Erfordernisse der Predigt als des kultischen Zeugens von Christo, also die Theorie, beziehungsweise Theorie und Geschichte der Gemeindepredigt (im Unterschied von der Missionskeryktik), aber nicht in jenem historischen engeren Sinn der kultischen Rede bloss an Gläubige, sondern an die Gemeinde überhaupt, unter Berücksichtigung aller ihrer jeweiligen Bedürfnisse. Wenn je, so muss heute die Homiletik wesentlich Martyretik sein, d.h. im Geist und Umfang dieses Begriffs ausgeführt werden, ohne dass der traditionelle Name deshalb notwendig verdrängt zu werden braucht.

7.3  Martin Schian: Psychologisch, konkret und individuell predigen

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7.3  Martin Schian: Psychologisch, konkret und individuell predigen  Martin Schian, Neuzeitliche Predigtideale, in: Monatsschrift für Pastoraltheologie Jg. 1, Berlin: Verlag von Reuther & Reichard, 1904, S. 88–1091.

»Neuzeitliche« Predigtideale! Da das zweite Wort dieses Themas ein Fremdwort enthält, wird es deutlich sein, daß nicht bloß Deutschtümelei die Übersetzung »neuzeitlich« für »modern« eingesetzt hat. Nein, – »modern« in Verbindung mit Kirche, Religion, Theologie und auch Predigt hat einen unangenehmen Beigeschmack. Es erweckt den Schein, als wolle man sich mit solchen ernsten Dingen nach den Launen der wechselnden Mode richten. Und das soll uns fern sein. Andererseits soll »neuzeitlich« nicht etwa die farblose Bedeutung haben: »in neuerer Zeit aufgestellt«. Es können neue Predigtideale im Gegensatz zu den herrschenden aufgestellt werden, die durchaus nicht neuzeitlich sind, d.h. die geltend gemacht werden ganz ohne Rücksicht auf das, was die neue Zeit – nicht bloß will, sondern auch auf das, was sie braucht. Wollte jemand heut eine überwiegend dogmatische Predigt fordern, so wäre das ein neues Ideal gegenüber dem jetzt regierenden, aber es wäre zeitlos, weil es Suchen und Fragen und Bedürfen unserer Zeit schlechthin ignorierte. Von solchen Idealen wollen wir nicht reden. Uns handelt es sich nur um Predigtideale, die für unsere Zeit berechnet sind, die in Rücksicht auf die Strömungen unserer Zeit – vielleicht auch im Gegensatz zu ihnen, vielleicht in Zustimmung, aber jedenfalls im Blick auf dieselben – gebildet sind. Ganz allgemein gefaßt, haben wir alle ohne Ausnahme ein solches neuzeitliches Predigtideal. Denn wir alle wollen eine Predigt, die ewigkeitsgemäß ist, indem sie das Evangelium kündet, die aber auch zeitgemäß ist, indem sie es so verkündet, wie es die Menschen unserer Zeit am besten trifft 2. Ja, wir bleiben noch einig, wenn wir etliche genauere Bestimmungen hinzufügen: sie muß auf eigenem Erleben ruhen, religiös=kräftig, praktisch=anfassend, volkstümlich=verständlich sein; sie muß für jede Gemeinde in jeder Situation das Rechte bieten. Aber wie viele verschiedene Mittel und Wege gibt es zur Erreichung dieses Ideals! Wollen wir nicht im Allgemeinen stecken bleiben, so müssen wir den einzelnen neuzeitlichen Predigtidealen nachgehen. Wir|89 gruppieren sie so, daß diejenigen voranstehen, welche nur eine besondere Art der Predigt neben auch – be1  Vortrag, geh. auf der Generalversammlung des schles. Pfarrervereins in Breslau am 6. Okt. 1904. 2  Hierzu die sehr klaren Ausführungen von Th. Haering, Zeitgemäße Predigt. Göttingen 1904. S. 4 ff., vgl. Leitsätze 1–3 auf S. 42. Diesen Darlegungen stimme ich in vollem Umfange zu.

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7.  Der Streit um die Predigt im 19. Jahrhundert

rechtigten anderen Arten fordern, während an zweiter Stelle von den Idealforderungen die Rede sein wird, welche die Predigt als Ganzes betreffen. 1. Das Ideal der apologetischen Predigten 3 ist eigentlich kein neuzeitliches. Im Grunde lebt darin doch nur das Sehnen nach der alten Kontroverspredigt wieder auf. Wir wissen ja, wie sehr diese den Predigern vergangener Zeiten ans Herz gewachsen war. Zu den fünf Genera der Predigt, welche einst Hyperius[4] aufstellte, gehört auch das genus redargutivum. Der fünffache Usus, der nachher lange die lutherische Predigt beherrschte, schließt die Widerlegung anderer Meinungen ein. Auch für Schleiermachers5 Zeit war die Frage der Kontroverspredigt wichtig. Trotzdem wird die apologetische Predigt auch gerade mit Rücksicht auf unsere Zeit gefordert. Wir beklagen die wachsende Entfremdung weitester Kreise von der christlichen Wahrheit. Wir beobachten, wie die Bestreitung derselben – etwa von seiten der Naturwissenschaft – selbst auf solche Eindruck macht, die sich zur Kirche halten. Ist der Wunsch nicht berechtigt, daß die Predigt – nicht regelmäßig, aber doch auch nicht ganz selten – die Haltlosigkeit dieser Einwürfe aufzeigt, die unerschütterliche Festigkeit des Evangeliums dartut? Ich möchte nicht mit einem neueren Beurteiler einfach erklären: »wir lehnen diese Predigtweise ab«6. Allerdings, es darf kein Wort in der Predigt gesprochen werden, welches sich an Gegner wendet, die nicht in der Kirche sind. Die apologetische Predigt hat nur insofern Sinn, als sie Zweifel, Fragen und Bedenken bespricht, die in den Herzen der Kirchgänger selber Raum gewonnen haben oder doch Raum gewinnen könnten. Aber wir leugnen ja nicht, daß neu auftauchende Angriffe auch manche aus dieser Zahl – wir haben doch nicht bloß ernste, feste, reife Christen zu Kirchgängern! – wirklich innerlich bewegen können. Des weiteren wäre eine apologetische Predigt sofort ein Unding, wenn sie sich in Einzelheiten wissenschaftlichen Charakters verlieren wollte.|90 Das ist ihr nach Raum, Zeit und Hörerschaft schlechthin zu verbieten. Aber es gibt auch eine andere Apologie. Warum soll nicht die Predigt die Unangreifbarkeit des recht verstandenen christlichen Glaubens dartun, seine Unabhängigkeit von naturwissenschaftlichen oder philosophischen Gedankengängen betonen, sein 3  Bd. 3 der neuen Sammlung »Die evangelische Predigt an der Schwelle des 20. Jahrhunderts« (hrsg. von J. F. Winter) soll »Apologetische Predigten« enthalten. 4  Vgl. meine Aufsätze: »Die Homiletik des Andr. Hyperius«. Ztschr.f. pr. Th. 1896, S. 309 ff. 5  F. Schleiermacher, Die praktische Theologie ed. Frerichs 1850, S. 207 ff. 6  G. Mayer, Fürs geistliche Amt, Gütersloh 1904. Aufsatz: Moderne Predigtideale. S. 113.

7.3  Martin Schian: Psychologisch, konkret und individuell predigen

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heiliges Recht aus dem ewigen Bedürfen des Menschenherzens, das nur in ihm Erfüllung finden kann, erweisen? Sie muß sich nur mit alledem nicht an das nüchterne Denken wenden, sondern an das religiöse Herz; sie muß mehr Zeugnis als Beweis geben. Verstehen wir es so, dann werden wir zwar immer noch nicht Sonntag um Sonntag apologetische Predigten halten, vielleicht sogar nie auch nur eine bloß=apologetische Predigt der Gemeinde bieten, aber wir werden das apologetische Moment für die Predigt unserer Zeit mitbenützen, damit sie alle Gerechtigkeit erfülle. Der Aufschwung sozialen Interesses in der evangelischen Kirche vor jetzt etwa anderthalb Jahrzehnten hat das Ideal der sozialen Predigt gezeitigt. Das ist in jeder Hinsicht ein neuzeitliches Ideal. Denn die soziale Frage, mag sie auch niemals tot gewesen sein, ist doch zu unserer Zeit ganz besonders lebendig. Den vierten Stand bewegt nichts anderes so wie sie; und wenn gerade dieser Stand, der numerisch stärkste unseres Volkes, heutzutage in seinem Gros gar kein rechtes Verhältnis zur Kirche finden kann, so hängt es eben mit der sozialen Frage zusammen. Also nehme die Predigt darauf Rücksicht! Muß sie nicht – nach Webers Ausdruck7 – Bußpredigt sein über all’ die sozialen Sünden unserer Zeit, aus denen die soziale Frage ihre Bitterkeit und Schärfe empfangen hat, – und Glaubenspredigt zur Ehre dessen, der auch auf sozialem Gebiet der einzige Friedensmittler und Friedefürst ist, Jesus ­Christus? Natürlich wird auch hier sehr viel darauf ankommen, wie man die soziale Predigt näher bestimmt. An die Kontroversen, welche über diesen Gegenstand z.B. zwischen H. Cremer und Bierling gepflogen worden sind, wie an die ganze Litteratur zur Sache kann hier nur ganz kurz erinnert werden8. Aber das sei gesagt: so gewiß auch wir dem allgemeinen Einverständnis beipflichten werden, wonach|91 von der Predigt alles Sozialwissenschaftliche, alles Sozialwirtschaftliche und alles Sozialpolitische fern zu bleiben hat, damit sie sich auf das Religiöse und das Sittliche beschränke, – so gewiß ferner jede einseitig soziale Orientierung der Predigt als schädlich zu bezeichnen sein wird, – es muß ihr doch überall auf das Ganze des Glaubens und der Liebe ankommen, – so gewiß muß der Prediger anderseits heutzutage ganz besonders auch das geltend machen, was vom Evangelium aus zur sozialen Sache zu sagen ist. Er darf nicht abstrakt individualistisch verfahren, er darf die so7  Lic. Weber, Christus ist unser Friede. Soziale Zeitpredigten und Betrachtungen. Bd. I. Göttingen 1892. Voran steht ein Aufsatz: Über die soziale Aufgabe der Predigt in unserer Zeit. Dort vgl. S. VIII. 8  H. Cremer, Die soziale Frage und die Predigt. Verhandlungen des 5. Evang.-soz. Kongresses 1894, S. 11 ff.; H. Cremer, Die Aufgabe und Bedeutung der Predigt in der gegenwärtigen Krisis 1892; Bierling, Die Predigtaufgabe unserer Kirche gegenüber der Sozialdemokratie. Christl. Welt 1892, Sp. 331 ff.; vgl. Herzog-Hauck Real-Enz. 3 in dem demnächst erscheinenden Bd. XV, S. 709.

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zialen Sünden nicht ungerügt lassen, er muß das Evangelium als die Macht verkünden, welche zwar nicht die sozialen Fragen lösen, aber zur Lösung der sozialen Frage das rechte Herz geben kann. Soweit ich zu sehen vermag, ist die soziale Predigt, wenigstens die in die Öffentlichkeit gedrungene, auch kaum irgendwo in anderem Sinne geübt worden, – es sei denn von Kalthoff 9. Die Weberschen Sammlungen »Christus ist unser Friede«10 wie die Doerries­ schen Predigten »Das Evangelium der Armen«11 verlassen diese Linie nicht. Und so werden wir festhalten müssen, daß nicht etwa nur soziale Predigten zu halten sind, auch nicht ein Jahrgang derselben hintereinander, daß aber die Predigt des Evangeliums auch die soziale Gesinnung pflegen muß. Über apologetische und über soziale Predigten ist schon so viel gesprochen worden, daß mir besondere Kürze geboten schien. Nicht ganz im gleichen Maß gilt das von der erwecklichen Predigt12. Ich brauche nur an die Evangelisationsbewegung zu erinnern, im Besonderen noch an E. Schrenk und Samuel Keller, um anzudeuten, welche praktische Bedeutung gerade dieses Predigtideal in jüngster Zeit gewonnen hat13. Völlig neu ist es freilich auch nicht; denn erstens hat es verzweifelte Ähnlichkeit mit der Missionspredigt – nur daß die »erweckliche« Predigt sich an die Unbekehrten in der Christenheit wendet –,|92 und zweitens kann es seine Verwandtschaft mit dem ursprünglich methodistischen Predigttypus, wie Wesley und Whitefield ihn eingeführt haben, nicht verleugnen. Dennoch darf ihm nicht bestritten werden, daß es – zumal für Deutschland – besonderen Zuständen in der evangelischen Kirche Rechnung trägt, wie sie gerade jetzt sich auffällig bemerkbar gemacht haben. Und ebenso sicher ist, daß seine Vertreter ernstlich bemüht sind, genau für den modernen Menschen zu reden. Das tadelt S. Keller an der Durchschnittspredigt: »Die Planke, die aus dem Alltagsdenken der Zeitgenossen zu der Schriftwahrheit herüberführt, – die Planke fehlt den meisten!« Die übrigen Sondereigenschaften der erwecklichen Predigt sind nicht gerade im gleichen Sinn »neuzeitlich«, aber sie fügen sich harmonisch zum neuzeitlichen Gesamtcharakter: Keller betont vor allem,

9 

A. Kalthoff, An der Wende des Jahrhunderts. Kanzelreden über die sozialen Kämpfe unserer Zeit. 1898. M. E. fallen viele der dort behandelten Themata aus dem Predigtcharakter heraus. 10  S. oben. Auch die 2. Sammlung erschien 1892. 11  3. Aufl. Göttingen 1904. 12  Vgl. z.B. W. Martius, Die erweckliche Predigt. Bd. 22, Heft 5 der Zeitfragen des christl. Volkslebens. 13  Für Schrenk verweise ich besonders auf P. Grünberg, Die Evangelisationsvorträge des Prediger Elias Schrenk. Ztschr.f. Theol. u. Kirche 1897, S. 265 ff. Von S. Keller existieren bis jetzt 3 Sammlungen: Am Lebensstrom 1898; Menschenfragen und Gottesantworten 1901; Ausgewählte Predigten (ohne Jahreszahl). Dresden u. Leipzig (1904?).

7.3  Martin Schian: Psychologisch, konkret und individuell predigen

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daß die Predigt durch und durch auf eigenem Erleben ruhen muß, und daß der Prediger es stets darauf ablegen muß, eine Wirkung zu erzielen14. Ein sachliches Urteil über dieses Predigtideal muß nicht bloß die leitenden Grundsätze berücksichtigen, sondern auch die bisher geübte praktische Ausführung. Grundsätzlich verfehlt ist es, immer und überall Bekehrungspredigt zu fordern. Die Bekehrungspredigt, selbst in der abgeschwächten Form, in welcher sie Keller vertritt, darf nur der eine von zwei Polen sein, zwischen denen sich die Predigt bewegt: das andere gleichfalls einseitige Extrem ist die Anschauung Schleiermachers, der, ausgehend von der Auffassung des Kultus als der Darstellung des gemeinsamen religiösen Lebens, stets unter der Voraussetzung spricht, daß es noch Gemeinden der Gläubigen gibt15. Immerhin liegt die Aufgabe der Predigt im Gottesdienst der Gemeinde entschieden mehr in der Richtung der Gedanken Schleiermachers als in der Linie der Bekehrungspredigt. Und zwar urteilen wir so nicht etwa aus grauer Theorie heraus, sondern aus der Kenntnis der wirklich die Kirche füllenden Gemeinde. In der Art, wie die erweckliche Predigt die Brücke zwischen dem modernen Denken und der Schriftwahrheit schlägt, erkennen wir feinstes Verständnis, vielfach geradezu praktische Genialität, allerdings auch wieder engmethodistische Einseitigkeit. Man lese den jüngst erschienenen Band Kellerscher Predigten! Alles Neuzeitliche wird benützt: Sprechweise, Stil, Großstadtleben, Naturwissenschaft, Eisenbahn und tausend andere|93 Dinge. Aber wie wird es benützt? Nur als Anschauungs=, Gleichnismaterial für die Aufzeigung innerster, geistlicher Wahrheiten16. Das heißt anknüpfen an das Denken des Alltagslebens, aber das ist kein Durchdringen des heutigen Denkens wie des heutigen Lebens. Die Religion bleibt eine Insel, durch breite Meerarme vom wirklichen praktischen Leben getrennt. Und das ist nicht bloß bei Keller so; das ist Grundzug aller zum Methodismus neigenden Predigt. – Die anderen Forderungen der erwecklichen Predigt registrieren wir vielfach zustimmend. Nichts predigen, was man nicht erlebt hat! – ist das nicht eigentlich genau das, was Baumgarten in seinem scharf modern ausgedrückten Satze meint: »Interessante Predigten sind Ichpredigten«17 oder in dem anderen: »Wir dürfen nur wirklich Erlebtes, an der Schrift Erlebtes, predigen, es sei denn, daß wir es deutlich machen, daß wir im Erlebnis eines anderen ein Ideal darstellen, das wir Gott bitten, in uns selbst 14  Obige Sätze beziehen sich auf die Einleitung, welche K. der an dritter Stelle genannten Sammlung vorausgeschickt hat (S. XI ff.): Unser Predigen. Das Zitat dort S. XV. 15  Schleiermacher, Vorwort zur ersten Sammlung seiner Predigten 1801 (Neue Ausg. 1843, Bd. I, S. 6 f.) 16  Keller, Ausgewählte Predigten, vgl. bes. S. 15 (Chinin); S. 17 (Tagelohnfestsetzung); S. 43 (Zielstrebig); S. 46/7 (Seefahrt); S. 79 (Großstadtleben) u.s.f. 17  O. Baumgarten, Predigtprobleme S. 52.

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zu erwecken«. Und das Wirkenwollen? So allgemein gefaßt, ist das selbstverständlich auch unser Grundsatz. Eine Predigt, die nicht wirken wollte, ist ein Gerede, aber keine Predigt. Was also sagen wir zum Ideal der erwecklichen Predigt im Ganzen? Daß es völlig falsch wäre, für jede Gelegenheit solche Predigt zu fordern, daß es aber ebenso falsch wäre, sie für jede Gelegenheit abzulehnen, daß es Einseitigkeiten umschließt, die wir nicht mitmachen können, wie insbesondere die große Gefahr damit sich verbindet, daß mehr auf die Nerven als auf die Seele gewirkt wird; endlich aber, daß in der Energie, mit der diese Predigt genau die Menschen der Neuzeit zu treffen und auf sie zu wirken sich müht, auch in der Wucht, mit der die Verkündung von nur Selbsterlebtem verlangt wird, wertvolle Gedanken für eine Neubildung unserer Predigt vorliegen. Während die bisher aufgezählten Ideale sich in der Öffentlichkeit bereits erhebliche Beachtung errungen haben, gilt das weniger von einer anderen Reihe, obschon Männer mit klingendem Namen sie vertreten haben. E. Sulze hat in seinem vielgenannten Buch über »Die evangelische Gemeinde« als Hauptpredigt rund und klar die Katechismuspredigt gefordert18. Über die wichtigsten Dinge soll nicht bloß ge-|94 legentlich geredet werden, wenn zufällig die fortlaufende Erklärung der heiligen Schrift oder eine geschichtliche Betrachtung darauf führt«, sondern die Predigt muß »die Glaubens= und Sittenlehre zu ihrem Inhalt haben, sie im Zusammenhange darstellen und damit die Ergebnisse der biblischen und geschichtlichen Unterweisung der Gemeinde erschließen«19. Näher bestimmt wird diese Predigt durch die Erklärung, daß »alles, was der Gemeinde vorzutragen ist, durch seinen Inhalt erbauen und nur erbauen soll«20. Wo Sulze vom Vortrag der Glaubens= und Sittenlehre in der Kirche spricht, meint er nichts Wissenschaftliches, nichts Dogmatisches, vielmehr »eine solche Darstellung des Wirkens und der Ordnungen Gottes wie auch der Wirksamkeit Jesu und des hl. Geistes«, »die den Zweck hat, die Herzen der Hörer für die Hingebung an diese Wirksamkeit Gottes, Christi, des hl. Geistes und für die Unterordnung unter die Ordnungen Gottes zu gewinnen«. Der lutherische Katechismus als geschichtliches Bekenntnis der Gemeinde soll – in umgeänderter Ordnung – Grundlage dieser Predigt sein. Das Sulzesche Ideal der Katechismuspredigt, so wenig modern es an sich, so wenig neu es überhaupt ist, kann doch als neuzeitlich gelten: die durchschnittliche Predigt, welche Sulze reformieren will, geht ja ganz andere Bahnen. Praktisch wirksam sind seine Vorschläge freilich nur sehr vereinzelt geworden; ich 18  Besonders in dem Abschnitt »Predigt und Konfirmandenunterricht« S. 65 ff. und in dem anderen »Das Bekenntnis und die Predigt« S. 246 ff. Dazu Leitsatz 11, S. 272. 19  Ebenda S. 246. 20  Ebenda S. 246/47 Anm.

7.3  Martin Schian: Psychologisch, konkret und individuell predigen

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nenne z.B. Apostolikumpredigten von Ehlers 21. Es wird nicht schwer zu verstehen sein, warum das so gekommen ist. Einmal liegt bei Lehrpredigten die Gefahr des Dogmatisierens wirklich nah. Es gehört ein Künstler dazu, um eine rein erbaulich-religiöse Lehrpredigt zu halten. Und das Dogmatische will man ja Gott sei Dank!, übrigens ganz im Einverständnis mit Sulze, aus der Predigt herausweisen! Sodann aber waltet gewiß das Gefühl vor, daß Sulzes Vorschlag eine Einseitigkeit bedeutet. Wir verlangen von der Predigt noch anderes als Einführung ins Bekenntnis der Gemeinde. Sie soll uns innerlich anfassen und fördern, sie soll als Zeugnis der Gottesgemeinschaft uns selbst zur Gottesgemeinschaft erheben, sie soll uns Wege durch das Labyrinth der Fragen des heutigen Lebens weisen. Auch Sulzes Lehrpredigt soll »religiös-erwecklich« sein; aber sie wird es um so weniger sein, je mehr sie Lehrpredigt ist. Drittens spricht ein Idealismus mit, den ich nicht teilen kann: wievielen wird ununterbrochene Teilnahme an solchen streng zusammenhängenden Predigtgängen|95 möglich sein? – Ganz etwas anderes aber ist es, wenn wir solche Lehrpredigt nur als eine, nicht (was auch Sulze nicht wollte) als einzige, auch nicht als Hauptart der Predigt nehmen. Über die Art, wie solche Lehrpredigt, namentlich in größeren Zusammenhängen, zu ermöglichen wäre, folgt nachher ein kurzes Wort. Hier sei alsbald ein anderes Predigideal angeschlossen, das gleichfalls E. Sulze vertreten hat: Die geschichtliche Predigt22. Wir erinnern uns an Mathesius’ Predigten über Luthers Leben; da haben wir ein Vorbild; im übrigen aber ist für unsere Zeit dieser Gedanke neu, wenigstens soweit er nicht bloß biblisch=geschichtliche, sondern auch kirchengeschichtliche Predigten anregt. Sehe ich recht, so haben wir auch weiter keine praktische Ausführung desselben als eine Beispiels halber von Sulze in der »Christlichen Welt« veröffentlichte Geschichtspredigt über den dreißigjährigen Krieg23. Nun mag eine solche religiöse Geschichtsbetrachtung, die nicht bei abstrakten Allgemeinheiten stehen bleibt, sondern tief ins konkrete Tatsachenmaterial hineingreift, gerade für eine evangelische Gemeinde ohne Zweifel förderlich und nützlich sein; aber ebenso fest scheint mir zu stehen, daß sie im Rahmen unserer Gemeindegottesdienste keinen Raum hat. Es ist doch wohl nicht bloß Zufall, daß die erwähnte Beispielspredigt so lang ausgefallen ist und zugleich so erhebliche Ansprüche an die Fassungskraft der Hörer stellt; eine einfache Gemeinde würde beim Anhören derselben nicht auf ihre Rechnung kommen. Es ist ja auch Sulzes eigene Meinung, daß diese Art Predigten in besondere – sagen wir: Gottesdienste oder auch Erbauungsstunden zu legen sind24. Es ist des weiteren sein eigener Satz, 21 

Erschienen 1897. E. Sulze, Die evangelische Gemeinde 1891, S. 63 ff. 23  Christl. Welt 1903, Sp. 3 ff. 24  E. Sulze, Die evangelische Gemeinde, S. 65, vgl. S. 66 oben. 22 

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7.  Der Streit um die Predigt im 19. Jahrhundert

daß diese Weise der Erbauung nur für wirkliche, in sich geeinte Gemeinden möglich ist, nicht für ein lose gefügtes Predigtpublikum 25. Also entspricht es nur der Ansicht des Urhebers dieses Predigtideals, wenn wir dasselbe für die eigentlichen Gemeindegottesdienste, mindestens für die Hauptgottesdienste, wie sie heut sind, ablehnen. Aber eben dieser Vorschlag Sulzes bringt uns auf die Frage: können nicht Predigtarten, welche für unsere großen Hauptgottesdienste nicht geeignet sind, bei anderer Gelegenheit unterkommen? Selbst für die Sulzeschen Katechismuspredigten, die er freilich als einzig berechtigte Art der Kultuspredigt betrachtet, wird vielleicht, wo sie als solche nicht|96 anerkannt werden, bei anderen gottesdienstlichen Veranstaltungen reichlicherer Raum sein. Dem allen kommt ein Vorschlag von J. Smend entgegen, der beides vereinigt: Aufstellung neuer Predigtideale und weise Rücksicht auf die Eigenart der kultisch eingerahmten Predigt. Er verlangt in seiner 1902 erschienenen Abhandlung »Zur Frage der Kultusrede«26, daß drei verschiedene Arten von Gottesdiensten geschaffen werden: 1. Predigtlose Gottesdienste; 2. Zusammenkünfte, in denen das Moment der Betrachtung seine selbständige Entfaltung findet, wesentlich homiletisch gemeinte Feiern in denen sich das Wort in breiterem Strom ergießen darf; 3. Predigtgottesdienste, in denen die Predigt als Kultusrede ihren Platz hat, aber auch unter bestimmter Zucht steht. Von den predigtlosen Gottesdiensten ist hier nicht weiter zu reden; und die Predigt als Kultusrede entspricht wesentlich dem, was auch sonst grundsätzlich für die im Gemeindegottesdienst gebotene homiletische Aussprache gefordert wird27. Neu aber ist die zweite Gruppe, neu allerdings nicht durch die Art der Feier, welche diese Predigten umschließen soll: unsere Nebengottesdienste und Bibelstunden sind doch großenteils Predigtgottesdienste mit bescheidener liturgischer Zutat –, aber neu durch die für diese Gelegenheiten geforderte Pre­digt­ art. Hier soll biblische Geschichte, Kirchengeschichte, Schriftlehre, Bekenntnis, Kirchenlied behandelt werden. Hier sollen Dogmatik und Ethik, Apologetik und Polemik zu Worte kommen und die Streitfragen der Zeit und des Tages zur Erörterung gelangen. Im übrigen sollen diese Predigten nicht in Nebengottesdiensten gehalten werden, sondern sie sollen auch äußerlich gleicher Ehre teilhaftig sein wie die kultisch eingerahmten 28. Wir sehen wohl: wird diese Forderung Smends als berechtigt anerkannt, so findet sich auch Raum für Sulzes Predigtideale, für geschichtliche Predigten und 25 

Ebenda S. 63. 65. Tübingen und Leipzig 1902, S. 234 ff. Vgl. meinen Aufsatz »Reform der Predigt« in Christl. Welt 1904, Sp. 315 ff. und Smend, Der evang. Gottesdienst, Göttingen 1904, S. 18 ff., bes. S. 39 Anm. 27  Vgl. hierfür bes. Der evang. Gottesdienst S. 38. 28  Zur Frage der Kultusrede S. 236. 26 

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Katechismuspredigten. Dann wird zugleich freilich der gesamte Predigtbetrieb von heut revolutioniert. Es gibt dann nicht mehr eine alleinberechtigte, sondern zwei je nach Gelegenheit gleichberechtigte Predigtweisen. Aber obwohl es nicht leicht wird, ein Predigtideal zu verfechten, welches sich nur gegen die heut geltende Sitte einführen kann, stehe ich nicht an, in der Hauptsache voll auf Smends Seite zu treten. Wie Smend, möchte auch ich der Kultusrede ihr altes Recht gewahrt wissen; und ob man die neue Gattung von Predigt=|97 betrachtungen auch äußerlich mit jener ganz gleichstellen soll, möchte ich dahingestellt sein lassen: für unsere Verhältnisse würde das ja doch zunächst schlechthin unerreichbar sein. Das aber scheint mir erreichbar, daß wir der Predigt mindestens in Nebengottesdiensten und in Bibelstunden freiere Bewegung gönnen. Hier soll nicht immer das Bloß=Erbauliche regieren, hier sollen die tausend Fragen, die der Christ auf dem Herzen hat, ihre Antwort finden. Die Kultusrede im Predigtgottesdienst wird dadurch zugleich entlastet werden. 2. Doch wir brechen in der Aufzählung dieser Predigtideale, die eine besondere Predigtart neben anderen gleichfalls berechtigten fordern, hier ab. In der Besprechung der Forderung Sulzes, der im Hauptgottesdienst lediglich der Katechismuspredigt die Stelle der richtigen Kultuspredigt zuweisen will, ist die jener ersten Gruppe gezogene Grenze eigentlich bereits überschritten worden. Nur daß eben auch der Katechismuspredigt nur ein Recht neben anderen zugebilligt werden konnte! Aber wichtiger noch als diese Einzelideale erscheint, was in jüngster Zeit als Ideal für die Predigt als Ganzes aufgestellt worden ist. Theorie und Praxis, Homiletik und Predigt, haben nicht immer in enger Verbindung gestanden. Aber jetzt wieder will es dem Beobachter scheinen, als ob, was in der Predigt langsam durch ragende Vorbilder sich Geltung errungen hat, nun auch in theoretischem Niederschlag der theologischen Welt zum Bewußtsein käme. Wir mögen sehr verschiedene Predigtvorbilder vor Augen haben, auch sehr mannigfaltige Ansichten im Kopf haben, aber wir spüren doch alle, daß eine Umwälzung auf homiletischem Gebiet sich an den Namen Friedrich Naumann knüpft. Und wiederum: er steht nicht allein. Mit wachsender Klarheit ist Albert Bitzius als eine Art Vorgänger von Naumann hervorgetreten. Und andere beginnen ihm zu folgen: genannt sei vor allem Doerries. Was diese Prediger – neben anderen – uns gelehrt, das machen wir uns jetzt allmählich klar, das fassen wir in Formeln, das verarbeiten wir in Vorschlägen. Es ist das nicht die schlechteste Methode, homiletische Theorieen zu entwickeln. Sie sind von vornherein durch die Praxis legitimiert.

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Um was handelt es sich bei der Predigt Bitzius=Naumann=Doerries?29 Durchaus nicht um ihre besondere theologische Richtung. Naumanns Andachten trugen bereits ihre ausgeprägte Art, als er|98 theologisch ganz zu den »Altgläubigen« zählte. Was als Predigtideal jenen Predigten entnommen werden kann, das gilt für die Prediger jeder theologischen Richtung. In manchem wichtigen Stück läßt es sich auch praktisch aus Predigten aller Lager belegen. Nein, es handelt sich um Anderes. Nicht in einer kurzen Formel ist auszusagen, was von diesen Vorgängern her sich allmählich vielen als neuzeitliches Predigtideal aufdrängt. Vollständig sind die einzelnen Fäden, aus denen dies Ideal gewebt ist, überhaupt schwer klarzulegen. Aber ein paar Hauptlinien, auf denen wir ihm näher kommen können, sind ohne weiteres herauszuheben.[30] Zunächst: ein wichtiger Zug in diesem großen neuzeitlichen Predigtideal ist der: wir brauchen konkrete, spezielle Predigt. Konkret steht hier im Gegensatz zu: farblos, allgemein, abstrakt. Die Predigt steht ja wie kaum eine andere Rede unter der Wucht der furchtbaren Gefahr der Allgemeinheiten. Ihr Gegenstand, die Religion, verführt leicht zu solchen. Jeder von uns weiß, daß es viel leichter ist, konkret, anschaulich, faßlich zu bleiben, wenn man einen geschichtlichen Vortrag hält, als wenn man predigen soll. Dazu kommt, daß so oft gepredigt wird. Ich kann den Notschrei, den jüngst ein Prediger erklingen ließ, den Notschrei über den allzu häufigen Zwang zur Predigt, namentlich für die Landpfarrer, vollkommen begreifen31. Je häufiger aber die Kanzel zu besteigen ist, je öfter ähnliche Gegenstände wieder und wieder zu behandeln sind, je größer allein die Zahl der Weihnachtspredigten ist, welche der Einzelne zu halten hat, um so furchtbarer wird die Gefahr, daß die gleichen, naheliegenden, allgemeinen Gedanken das Füllmaterial abgeben müssen. Diese allgemeinen Gedanken mögen gewiß die besten, die christlichsten, die bewährtesten sein, – aber eben als allgemeine Gedanken sind sie ebenso gewiß die wirkungslosesten. Es ist doch einmal wahr: der Mensch hört einfach nicht mehr zu, wenn ihm immer dasselbe gesagt wird. Fragen wir doch nicht bloß, wieviele Leute in der Kirche sitzen, sondern wieviele Leute wirklich auf unsere Predigten hören! Wir müssen, damit sie hören, alles Blasse, Farblose, Allgemeine, Abgebrauchte lassen. Wir müssen konkret predigen!

29  F. Naumann, Gotteshilfe. Gesamtausgabe. Göttingen 1902; A. Bitzius, 6 Sammlungen Predigten seit 1883. Bonn; von Doerries außer dem oben (S. 91) angeführten Band noch »Die Botschaft der Freude«. Göttingen 1903. 30  Schleiermacher, Die prakt. Theologie S. 76 u.a. [Der genaue Standort der Fussnote lässt sich nicht mehr ermitteln.] 31  Monatschrift für die kirchliche Praxis 1904, S. 163 ff.

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Mit dieser Idealforderung hängt aufs engste das zusammen, was letzthin P. Drews mit großer Energie betont hat32. Er will nicht bloß zentrale, sondern auch, ja nicht zuletzt, spezielle Themata. Natürlich will er nicht etwa jene berüchtigten Themen vertreten, wie sie manche|99 – wirklich nur manche – rationalistische Prediger je zuweilen behandelt haben. Nein, religiöse, christliche Gegenstände müssen es sein. Aber diese christlichen Gegenstände sollen nicht so allgemein gefasst werden, daß man unter jedes Thema wieder mit leichter Mühe so ziemlich alle Gedanken unterbringen kann, sondern so, daß sie spezielle Fragen aus der religiösen Gedankenwelt, aus dem Gebiet des christlichen Lebens erörtern. So hat es, wie einst Mosheim, auch Schleiermacher ähnlich gefordert; so haben es zahlreiche Prediger aus der Mitte und dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht gemacht. Drews legt gerade an Ahlfelds und an Geroks Predigten dar, wie farblos, wie überschriftmäßig die Themata geworden sind. Aber so muß es wieder werden, wenn die Predigt auf der Höhe ihrer Aufgabe stehen soll. Keiner von uns wird leugnen, daß eine Predigt mit allgemeinem Thema doch sehr konkret durchgeführt sein kann. Keiner von uns – auch Drews nicht – wird meinen, daß nicht jene Predigten Ahlfelds und Geroks von großem Segen gewesen sind. Keiner von uns wird der Ansicht sein – auch Drews ist es nicht –, daß zentrale Themata entbehrt werden könnten. Wir werden es nie unterlassen dürfen, die Hauptwahrheiten des christlichen Glaubens zu besprechen, die Hauptlinien für seine praktische Betätigung zu ziehen. Das kann ja auch konkret geschehen; und über spezielle Themen kann, wie wieder Drews selber hervorhebt, gleichfalls sehr geistlos und öde gepredigt werden33. Aber das alles zugegeben, – wir werden doch ein gut Teil faßlicher und anfassender, praktischer und interessanter predigen, wenn wir spezieller predigen. Drews weist auf Albert Bitzius hin; der habe dafür aufs neue die Bahn gebrochen34. In der Tat, Bitzius sollte noch viel mehr beachtet werden. Ich nenne ein paar seiner Themata aus dem ersten Band (Zeit und Ewigkeit); sie stehen neben anderen, zentraleren: Christenmut, Tatkraft, Unerschrockenheit; Christliche Gleichheit; Der Kampf zwischen Liebe und Pflicht; Die heilsame Macht über andere; Die Privaterbauung; Die Taufe; Der öffentliche Gottesdienst … u.a. m. In diesen speziellen Fassungen folgten ihm Neuere: ­Doerries muß ich besonders nennen. Er wird unter Umständen dabei konkret=lehrhaft, aber religiös=lehrhaft; ich finde in dem Jahrgang »Die Botschaft der Freude« eine Predigt über das Thema »Der Jungfrauensohn«, eine andere über »Stellvertretendes Leiden«, eine über »Das Wunder«35, alles Themata, die sehr spe32 

P. Drews, Die Predigt im 19. Jahrhundert. Gießen 1903. Drews aaO. S. 58. 34  Ebenda S. 52 ff. 35  Doerries aaO. S. 204 ff. 145 ff. 495 ff. 33 

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ziell sind und doch ganz in die Tiefe gehen. Auch Gegner|100 hat diese Pre­digtart. Längst vor Drews hat E. Sulze seinen Abscheu gegen »Erfindungspredigten« ausgesprochen; und wenn er da auch noch besondere Dinge im Auge haben mag – wie z.B. geradezu willkürlich gewählte Überschriften –, so protestiert er doch ausdrücklich gegen »mikrologische Themata«, bei denen das Gesamtbewußtsein der Gemeinde ruhig untergehen könne, und verlangt für Thema und Ausführung »die notwendige Allgemeinheit«36. Aber ich behaupte, daß auch seine geschichtlichen Predigten und seine Katechismuspredigten spezielle Predigten sein werden. Man muß nur das Spezielle nicht gleich Nebensächlich, Unwichtig nehmen. Was gefordert wird, ist nur eine reinliche Aussonderung eines bestimmten, immer aber eines wichtigen Stoffs aus dem Riesengebiet, das der Predigt zur Verfügung steht. Was perhorresziert wird, ist nur jene Bequemlichkeit, die so und so oft wieder die gleichen Gedanken bringt, weil eine Predigt über ein Stück der christlichen Wahrheit zu halten zu mühsam ist. Aber eine Reihe von Predigten über Katechismuswahrheiten kann ich mir garnicht anders denken, als außerordentlich speziell. Da wird ja jedes Mal etwas Bestimmtes, Besonderes verhandelt; da dürfen doch so ins Einzelne gehende Themen wie das 4. und 5. Gebot nicht fehlen. Ich glaube zwar, daß eine gewisse Differenz mit Sulze bleiben wird: er verurteilt mit der »Erfindungspredigt« allzu vieles, was doch aus der Rücksicht auf die bestimmte Gemeinde, aus der Anknüpfung an Zeitverhältnisse und Zeitereignisse geboren sein kann37. Aber der Meinung bin ich allerdings, daß auch Sulzes Gegensatz zu dieser speziellen Predigt kein vollkommener ist. Zu zweit: Wir müssen zeitgemäße Predigt – im engeren Sinne des Wortes – fordern. Was neuerdings energischer betont wird, ist dies: der Prediger hat keine zeitlose Gemeinde vor sich; vielmehr leben seine Hörer mit ihm in einer bestimmten Zeit. Und jedes Menschenkind, so einfacher Art es sei, ist irgendwie in diese seine Zeit hineingetaucht. Natürlich gilt das in sehr verschiedenem Umfange. Manches alte Mütterlein auf dem Lande, das Gedrucktes nicht mehr gut lesen kann und dessen Horizont nicht über die Grenztafeln des Dorfes hinausgeht, spürt nicht viel von der Zeit: es sei denn, daß es die Stärke des Kirchenbesuchs von einst und jetzt und das veränderte Betragen der Jugend mit dem von früher vergliche. Anders der gebildete Mann, der alle geistigen Bewegungen, alle geschichtlich einschneidenden Begebnisse|101 miterlebt, als wären sie sein ganz individuelles Erlebnis. Aber anders als jenes Mütterchen auch der Fabrikarbeiter, der die soziale Frage studiert und mit der Naturwissenschaft liebäugelt. Weil aber so die Gemeinde – und zwar irgendwie jede Gemeinde – in ih36 

Sulze, Die evang. Gemeinde S. 72 ff. 249 ff. Warum ist »Die Kirchenregister des verflossenen Jahres« (Draeseke) ein ungeeignetes, mikrologisches Thema? Warum: »Falsch und Krumm ist allzeit um« (Ahlfeld)? Vgl. Sulze S. 73. 37 

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rer Zeit lebt, darum soll der Prediger auch in seiner Predigt in dieser Zeit leben. Das große Mißverständnis, als wollte und sollte er die Weisheit der Zeit an die Stelle der ewigen Wahrheit setzen, brauche ich nicht erst abzuwehren; was vor einigen Jahren Th. Haering über »zeitgemäße Predigt« ausgeführt hat: daß es »unantastbare Voraussetzung« sein muß38, daß sie Predigt des seinem Anspruch nach ewigen Evangeliums ist, das bleibt auch für uns hier voll in Geltung. Aber die Predigt soll nicht auf dem Isolierschemel sein. Sie soll nicht tun, als hörte die Welt bei den Mauern der Kirche auf. Sie soll nicht bloß ein religiöses Sondergebiet des menschlichen Herzens treffen, das durch hohe Wälle sorglich von allem übrigen Erleben, Wollen und Fühlen abgegrenzt ist und das nur beim Gottesdienst oder bei der Abendmahlsfeier einmal über die herabgelassene Zugbrücke neue Seelenspeise einführen läßt: sie soll vielmehr den ganzen Menschen mit allem seinem Denken und Wollen, Handeln und Nichthandeln aufs Korn nehmen. Dieser Mensch ist aber nicht zeitlos. Und darum darf die Predigt auch nicht zeitlos sein. Sie muß die Zeit mit Ewigkeitsgehalt zu durchdringen trachten. Auch S. Keller schöpft aus dem Leben der Zeit. Aber gerade an dem Gegensatz Keller-Naumann läßt sich zeigen, worauf es ankommt. Ein Beispiel! Keller predigt über Arbeitslosigkeit39. Er schildert eine Szene aus dem Osten von Berlin. Zweihundert Menschen – vom müden Greis bis zum zwölfjährigen Kind – stehen und warten auf die Verteilung des Arbeitsnachweises: sie sind arbeitslos. Wie er nun angesichts dieses Elends über Arbeitslosigkeit grübelt, – »da schlug plötzlich der Gedanke um: Gibt es nicht auch im Geistlichen eine Arbeitslosigkeit?« Und nun folgt eine ganze Predigt über die »Arbeitslosigkeit im Geistlichen.« Und jenes erschütternde Bild aus dem Anfang der Predigt ist vergessen; es hat ja seine Dienste getan; es hat die Sinne gereizt, die Nerven gespannt; es ist als Gleichnis für die geistliche Arbeitslosigkeit benützt worden. Das heißt, was die Zeit gibt, formell und äußerlich benützen. Aber das heißt nicht, die Zeit und das in der Zeit lebende Herz mit Ewigkeitsgehalt durchdringen! Wie anders Naumann! Wir haben ja keine Predigten von ihm.|102 Aber an einer seiner Andachten möchte ich das zu verdeutlichen suchen, worauf es mir hier ankommt. Ich wähle diejenige, welche die Überschrift trägt: »Im Eisenwerk« und das Textwort 1 Mos. 28,16: Gewißlich ist der Herr an diesem Ort, und ich wußte es nicht40. Die Arbeit am Hochofen, an den Gluten fließenden Feuers wird beschrieben. Und nun das Problem: diesen Arbeitern sagt der Prediger am Sonntag in der Kirche: Alle Berufsarbeit ist Gottesdienst! Sie glauben, 38 

Th. Haering aaO. S. 42. Ausgewählte Predigten S. 79 ff. 40  Gesamtausgabe S. 385 f. 39 

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alle Berufsarbeit sei Herrendienst. Was den einzelnen mit dem Hochofen verbindet, ist der Lohn, nur der Lohn. Es nützt nicht, ihnen einfach zu sagen: Alle Berufsarbeit ist Gottesdienst, – es sei denn, daß man sich darüber mit ihm verständigt, daß in den Flammen des Hochofens ein göttlicher Weltplan verborgen liegt. Er muß sich die moderne Technik als Ausfluß göttlichen Waltens vorstellen; er muß glauben, daß die Gluten und Gebläse Urkräfte einer neuen Zeit sind, daß sie mithelfen müssen, damit es besser werde unter den Menschen. Gott ist im Getriebe. Wenn er es nicht ist, dann hat es keinen Zweck, ihn vor Menschen zu verkündigen, deren ganzes Leben an Bäche fließenden Eisens gepflanzt ist. Aber eine Andacht über das Eisenwerk steht naturgemäß besonders unter dem Einflusse der neuen Zeit. Denken wir darum noch an eine andere, die das Thema führt: Ruhe41. Da wird jeder Prediger exemplifizieren auf die Unruhe des heutigen Lebens. Naumann tut das auch. Aber er folgert nun nicht bloß: du mußt auch für eine ruhige Stunde am Tage sorgen. Auch das ist seine Meinung: Überarbeit schädigt den Glauben. Aber er stellt die Forderung nicht bloß an den Einzelnen, der sie vielleicht beim besten Willen nicht erfüllen kann; er stellt es als allgemeines Postulat auf: Vermehrung ruhiger Zeit. Er faßt die ganze Frage in der Tiefe: wie verträgt sich Christentum mit Unruhe, die keine Zeit zur Besinnung gibt? Und dann erst weist er in ergreifender Schlichtheit auf die ewige Ruhe hin. So mit der Religion die Zeit durchdringen, das heißt zeitgemäß predigen. Dazu bedarf es gar keiner eigentlichen Zeitpredigten, wie sie freilich auch einmal ihr Recht haben. Julius Werner42 gab letzthin ein beachtenswertes Bändchen heraus. Dazu bedarf es aber jedenfalls tiefen Verständnisses für die Zeit, in der wir leben. Wem diese Zeit nichts anderes ist als eine Zeit des schlechthin zu verwerfenden Un-|103 glaubens, wer mit nichts anderem als mit den einmal festgelegten Kategorieen an diese Zeit herantreten kann, wer nicht auf ihre tiefsten, schier unterirdischen Bewegungen lauscht, der kann so nicht predigen. Auch unter denen, die so predigen wollen, findet sich nirgend schablonisierte Manier, sondern überall freieste, mannigfaltigste Verschiedenheit. Im Grunde ist eben jede Predigt, die auf wirklichem Verständnis unserer Zeit beruht, der man es abfühlt, daß der Prediger seine Zeit versteht, eine Predigt nach diesem Ideal, mag sie nun ausdrücklich auf Zeitfragen eingehen oder nicht. Und nun ein drittes Charakteristikum des Predigtideals, welches die neue Zeit uns erwachsen ließ. Die Predigt muß psychologisch orientiert sein. Um diese Frage der Psychologie in der Predigt hat sich schon eine ganze Zahl von Männern der Praxis wie der Wissenschaft bemüht. Dürselen stellte ausdrücklich das Thema 41 

42 

Gesamtausgabe S. 416. J. Werner, Das Licht des Lebens. Zeitpredigten. Gütersloh 1901.

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»Homiletik und Psychologie« auf, aber er ging nicht in die Tiefe43. F. Niebergall fragte: Wie predigen wir dem modernen Menschen? und gab zur Antwort eine Untersuchung über Motive und Quietive, d.h. also über das Problem, wie der Mensch von heute wirklich mit den Mitteln des Evangeliums gefaßt, angetrieben und getröstet werden kann44. Er ging in diesem Buch tief in die Psychologie hin­ ein; aber er fand auch gerade damit Nachfolge. Arndt Scheller besprach gleichfalls »die Beeinflussung der Seele in Predigt und Unterricht,« nur sehr einseitig heraushebend, daß als Motive und Quietive nichts anderes als »Güter« gelten dürfen45. O. Baumgarten kam in seinen »Predigt=Problemen« mit gleicher schlagender Kraft wie auf andere einschlägige Probleme auch auf das psychologische zu sprechen; wenigstens wird es überall mit berücksichtigt46. Und ganz in letzter Zeit hat Pfarrer Walther Wolff in Aachen einen hübschen Vortrag veröffentlicht: »Wie predigen wir der Gemeinde der Gegenwart?«,47 der sehr nachdrücklich erklärt: »Wir müssen psychologisch predigen.« Was ist mit dieser Forderung eigentlich gemeint? Da ich sie neben jene andere von der zeitgemäßen Predigt stelle, schließe ich das dort Erörterte hier völlig aus. Über das Durchdringen der Zeitfragen und =Zustände hinaus muß die psychologische Predigt in die Tiefe der Seele|104 gehen. Es gilt, die Gemeinde nicht bloß als eine Gemeinde unserer Zeit im allgemeinen anzusehen; es gilt auch nicht bloß das »moderne Bewußtsein« zu studieren, sondern es tut not, diese bestimmte Gemeinde, ja diese bestimmten Schichten, diese besonderen Glieder der Gemeinde so anzureden, daß das Wort gerade auf sie wirkt. Daß ein Dorfpfarrer – recht verstanden! – Dorfpredigten, ein Stadtgeistlicher – wieder cum grano salis! – Stadtpredigten halten muß, das gehört hierher. Das ist natürlich nie ganz vergessen worden; irgendwie hat jeder sich danach gerichtet. Aber es soll mit vollem Bewusstsein, mit lebhaftester Energie danach verfahren werden: das hat man uns heut ins Gewissen gerufen. Frenssens Dorfpredigten haben es vielleicht mehr durch ihren Namen als durch ihre Art getan; von allem anderen abgesehen, was man für und wider seine Predigten sagen kann, scheint mir doch festzustehen, daß sie nicht in irgend besonderem Maß das Prädikat »Dorfpredigten« verdienen48. Aber vergleichen wir einen Band Predigten wie die von H. Kaiser herausgegebenen »Sonntagsklänge,« in dem sich Themata finden wie: Bete und arbeite, Wintersorge, Wintersegen; Wetterwendisch; Aussaat und Ernte, Der Christ und

43 

Berlin 1897. Tübingen und Leipzig 1902. 45  Leipzig 1903. Nicht ohne gute Bemerkungen, aber in der Hauptsache recht anfechtbar. 46  Tübingen und Leipzig 1904. Vgl. bes. S. 82 f. 47  Gießen 1904; vgl. bes. S. 35 ff. 48  Vgl. die Kritik von Rolffs Theol. Rundschau 1904 S. 229 ff. 44 

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das Wetter, Ein Gang durchs Feld, Dein Kirchensitz, Erbschaften, Heiße Arbeit – so sehen wir, daß hier wirklich Predigten für eine Landgemeinde vorliegen49. Das Ideal der psychologischen Predigt ist aber mit dieser Forderung nicht erschöpft. Die besondere Stimmung der Gemeinde verlangt weitere Rücksicht. Sind nicht auch Stadtgemeinden unter sich sehr verschieden? Niebergall gab einen ganzen großen Abschnitt, der den Titel führt »Der Mensch«50. Er unterschied dabei Psychologisches und Volkskundliches. Er vermied dabei bereits durchaus einen naheliegenden Fehler, nämlich den, die Gemeindestimmung allzu einheitlich zu nehmen. Ich gestehe, daß – die Predigt im ganzen angesehen – Baumgarten und in seiner Nachfolge Wolff diese Vielgestaltigkeit des geistigen Bewußtseins mir noch zu wenig gewürdigt haben. Baumgarten stellt die beiden Größen »biblisches Bewußtsein« und »modernes Bewußtsein« als zwei geschlossene Ganzheiten einander gegenüber51. Wolff 52 sucht Grundzüge herauszustellen, welche allen Gruppen von Gemeindegliedern gemeinsam sind und also als Kennzeichen der Gemeinde der Gegenwart|105 angesehen werden können. Ich leugne es nicht: es gibt solche allgemein gültigen Grundzüge. Aber sie sind viel weniger konkret, viel weniger »modern«, als sie hier erscheinen. Wer nicht bloß, wie Baumgarten tut, an moderne Menschen im engeren Sinne des Wortes denkt, sondern an die Gesamtheit unserer jetzigen Gemeinden, der wird noch viele Gemeindeteile finden, für deren religiöses Denken das moderne Bewußtsein nahezu ausgeschaltet ist. Psychologisch predigen, das heißt: alle diese Verschiedenheiten würdigen, jeder Stimmung und Strömung ins Herz sehen und – entsprechend dem Resultat seine Predigt gestalten. Aber so scharf das betont werden muß, damit wir nicht in den Fehler einer Vereinerleiung von Gemeindebewußtsein und modernem Bewußtsein verfallen, so nachdrücklich muß anderseits im Namen der psychologischen Predigt energische Berücksichtigung der tatsächlich irgendwie modernen Grundlage unseres Gemeindebewußtseins verlangt werden. Selbst in den Köpfen der konservativsten Bauerngemeinde sprechen recht unkonservative Gedanken mit. Auch Gemeindeglieder, welche sehr fest »im Bekenntnis stehen«, haben innerlich oft mit modernen Fragen zu tun. Und in jedem Fall besteht die Unterscheidung von biblischem und modernem Bewußtsein zu Recht. Hundertmal merken wir – nicht etwa bloß, daß die Gemeinde zu wenig in der Bibel lebt, daß biblische Redewendungen ihr fremd sind, ihr also übersetzt werden müssen, sondern auch, daß die Fähigkeit geschwunden ist, sich in die biblischen Gedankengänge in schlichtem 49 

Gotha 1902; eine Sammlung von Predigten vieler verschiedener Autoren. Niebergall aaO. S. 64 ff. 51  Baumgarten aaO. S. 82 ff. 52  Wolff aaO. S. 21 ff. (er beachtet übrigens die Schwierigkeit, die in der Verschiedenheit der Schriften begründet liegt, wohl: S. 20 f.). 50 

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Nachdenken derselben hineinzuversetzen. Und diese Fähigkeit ist deshalb geschwunden, weil sich – ob auch in sehr verschiedenem Maß – doch die Voraussetzungen unseres Denkens geändert haben. Psychologisch predigen – das heißt: so predigen, daß die Gemeinde, wie sie heut ist, daß jeder Einzelne in seiner Art sich vom Prediger verstanden fühlt und die Predigt als für sich berechnet empfindet. Dazu noch eins. Die psychologische Predigt tritt auch in Gegensatz zu jeder mit Allgemeinplätzen arbeitenden Predigt. Man hat die Allgemeinplätze immer bekämpft und denkt daran nicht etwa erst heut. Aber das Grausen vor Allgemeinheiten ist allerdings noch größer geworden. Je mehr heut einer den feinen Regungen der Seele nachgehen kann, je besser er es versteht, Motive und Quietive ganz entsprechend der Situation zu bringen, je gründlichere Seelenkenntnis er besitzt, je enger er seelsorgerlich mit seiner Gemeinde verwachsen ist, um so wirksamer kann er predigen. In diesem Sinn hat einmal ein »moderner« Theologe wie Jülicher einen altgläubigen Prediger wie den Hallenser|106 Heinrich Hoffmann ausdrücklich einen »modernen Prediger« genannt53. Psychologisch predigen, – das heißt: unter Vermeidung jeder Allgemeinheit, in heiliger Keuschheit und sorglich erwogener Wahrhaftigkeit den Seelenregungen des Hörers nachgehen. Nach drei Seiten hin suchte ich das Predigtideal zu schildern, wie es Praxis und Theorie der letzten Zeit hat unter uns erwachsen lassen. Es verlangt zeitgemäße, konkrete und psychologische Predigt. Wenigstens sind das, soweit ich sehen kann, die wichtigsten Grundzüge dieses Ideals. Die einzigen Züge desselben sind es nicht. Es gehört dazu das Streben nach interessanter Predigt, wobei aber interessant nur als Gegensatz zu »langweilig,« nicht im Sinne der künstlichen und unsachgemäßen Interesseerweckung gemeint ist54. Immerhin hat sich der Begriff des »Interessanten« außerordentlich gegen früher verschoben; das liegt eben daran, daß heute die Predigt sich gegenüber unzähligen anderen geistlichen Darbietungen behaupten muß, während sie früher die einzige war. Auch das Bestreben nach kurzer Predigt gehört hierher; wir haben alle die Empfindung, daß unsere Zeit eine Anhäufung religiösen Redestoffes nicht verträgt; auch die Empfänglichsten wollen ihn in kleineren Dosen, in konzentrierterer Form. Aber die Hauptcharakteristika sind die vorhin dargelegten: zeitgemäß, konkret, psychologisch. Wollte ich nur berichten, ich könnte hier abbrechen. Aber ich bin zugleich als Anwalt dieses so gezeichneten neuzeitlichen Ideals aufgetreten. Darum muß ich dasselbe noch kurz gegen naheliegende Einwände verteidigen. Widerspricht dieses Ideal etwa den berechtigten, altanerkannten Forderungen evangelischer 53 

54 

Christliche Welt 1899 S. 939. Baumgarten aaO. S. 36 ff. (Langweilige und interessante Predigten).

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7.  Der Streit um die Predigt im 19. Jahrhundert

Homiletik? Ist nicht deren Absehen vor allem darauf gerichtet, daß die Predigt evangeliumsgemäß, daß sie textgemäß und daß sie Zeugnis sei? Nimmt demgegenüber dies neuzeitliche Ideal nicht viel zu viel Rücksicht auf Zeit und Menschen? Was den Zeugnischarakter angeht, so ist davon vorhin schon die Rede gewesen55. Hier ist kein grundsätzlicher Unterschied. Wenn wir an jene alten Streitigkeiten zurückdenken, bei denen es sich darum handelte, ob nur die Predigt des Wiedergeborenen wirksam sei oder auch die des Unwiedergeborenen, so steht das neuzeitliche Predigtideal in einer Phalanx mit der gesamten evangelischen Homiletik. Wir wollen nicht darüber rechten, ob nicht auch durch ein Wort, das nicht aus|107 eigenem Herzen kommt, eine Wirkung geschehen könne. Aber fordern müssen wir: Die Predigt soll Zeugnis sein! Das allein ist doch gemeint, wenn Baumgarten in seiner prononzierten Sprache verlangt, der Prediger solle sich selbst predigen, das sei das sicherste Mittel, um andern zu predigen56. Selbst Samuel Keller kann diesen Grundsatz nicht schärfer betonen. Gehen wir in die Einzelheiten, so umschließt das neue Ideal freilich auch Abweichungen: die unbedingte Wahrhaftigkeit, die da gefordert wird, erstreckt sich auf das Durchfühlenlassen des eigenen Ringens und Suchens. Aber eben das ist die Konsequenz der »Zeugnispredigt;« was wäre es für eine Utopie, von jedem Fünfundzwanzigjährigen zu verlangen, daß er als Fertiger rede! Sodann die Textgemäßheit. Versteht man sie so, daß der Prediger einen bestimmten, womöglich vorgeschriebenen Text einfach auszulegen habe, so wie die reformierte Homiletik, wie ein Andreas Hyperius es einst gemeint hat, dann klafft allerdings zwischen diesem Wunsch und unserem Ideal eine Kluft57. Aber die lutherische Homiletik hat doch immer schon eine Vermittlung zwischen Text und Gemeinde erstrebt. In dieser Vermittlung wird auch die Möglichkeit einer Verständigung liegen. Daß man den Text auf die besonderen Anliegen dieser Gemeinde, dieser Menschen anzuwenden habe, ist allgemein selbstverständlich, daß man, wenn man zeitgemäß und konkret predigt, nicht ohne Text oder gar textwidrig zu predigen brauche, steht auch fest. Drews hat z.B. gerade gegenüber Steinmeyer und seinem kategorischen Diktum: »Der Text ergibt den Stoff,« hervorgehoben, wie gerade Steinmeyer, indem er ganz kurze und spezielle Texte wählte, auch zu ganz speziellen Themen gekommen ist58. Über zahllose Texte kann man, mit Texttreue und Texterschöpfung ganz im Sinn unseres Ideals predigen. Anderseits muß allerdings vom Standpunkt dieses Ideals aus festgehalten werden, daß zweierlei Beschränkungen unstatthaft sind. Ein55 

Siehe oben S. 93. [vgl. in dieser Ausgabe S. 142.] Baumgarten aaO. S. 53. Diese Sätze sind auch für das Folgende zu vergleichen. 57  Vgl. meine oben angeführten Aufsätze über Hyperius S. 306 ff. 58  Drews aaO. S. 38 Anm. 56 

7.3  Martin Schian: Psychologisch, konkret und individuell predigen

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mal die Festlegung auf Zwangstexte. Die Perikopenreihen mögen recht nützlich sein; sie helfen dem unsäglich oft auf die Kanzel zitierten Prediger über manche Sorge der Wahl hinweg. Aber sie werden zum Fluch, wo sie zum bindenden Zwang gemacht werden, oder wo sie einer sich selber dazu macht59. Und sodann: eine Pflicht,|108 in jedem Falle den Gesamttext bis in seine Einzelheiten auszunutzen, kann nicht anerkannt werden. Das ist eine formelle Zwangsjacke ohne sachliches Recht. Man predigt textgemäß, auch wo man Wichtiges, auf das es ankommt, herausgreift. Das geschilderte Ideal umschließt allerdings bei der Stoffwahl eine größere Berücksichtigung der Gemeinde, als sie bisher üblich ist. Aber das bedeutet – unter genannten Kautelen – keinen Gegensatz zur Textgemäßheit. Und erst recht kann die Predigt dieser Art auch evangeliumsgemäß sein. Jedenfalls ist das auch die eigentliche Grundforderung; die Textgemäßheit soll ja die Evangeliumsgemäßheit nur verbürgen. Über das, was evangeliumsgemäß ist, sind die Meinungen im einzelnen heutzutage geteilt. Mir liegt es heute nicht an, auf diesen Streitpunkt einzugehen. Nein, mir ist viel wichtiger die Betonung des Satzes: das geschilderte neuzeitliche Ideal verträgt sich nicht etwa bloß mit der sogenannten »modernen« Theologie, sondern es soll und will für Theologen jeder Richtung gelten. Auch der »altgläubige« Prediger kann und soll – ohne jede Verleugnung seiner Auffassung des Evangeliums – zeitgemäß, konkret, psychologisch predigen. Wie z.B. die »erweckliche« Predigt sicherlich moderne Art trägt, ohne doch von moderner Theologie sich beeinflussen zu lassen, so kann die gesamte neuere Predigt jene Forderungen acceptieren, ohne inhaltliche Konzessionen zu machen. 3. Eine Reihe einzelner Predigtideale habe ich aufgestellt; eine Schilderung eines die Gesamtpredigt betreffenden Ideals habe ich folgen lassen. Es erübrigt die Frage: Wie verhalten sich jene einzelnen Predigtarten, die doch keineswegs alle verworfen, sondern fast alle, wenn auch z.T. mit Einschränkungen, anerkannt wurden, zu diesem umfassenden Ideal? Darauf sei die kurze Antwort gegeben: als verschiedene Predigtarten, in denen die Verwirklichung des umfassenden Ideals möglich ist. Sobald wir aufhören, alle jene einzelnen Predigtarten als einzig und ausschließlich richtige zu fassen, sind wir auf dem rechten Weg. Wie wertvoll wäre z.B. eine praktische Ausführung der Smendschen Gedanken über eine sich freier bewegende Predigt! Nur möchte ich, solange wir diese Gele59  Ich darf hier auf meine kleine Schrift »Wider die Perikopen« verweisen. Hefte zur Christl. Welt No. 29 (1897).

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7.  Der Streit um die Predigt im 19. Jahrhundert

genheiten nicht haben, oder auch nur, solange diese »Predigten« nicht gleichen Rang mit den kultischen Predigtgottesdiensten haben, die sehr streng kultische Haltung der eigentlichen Kultpredigt nicht durchgeführt wissen. Wie wichtig ist auch der Sulzesche Gedanke religiös-praktischer Lehr=|109 predigt, – falls man nur nicht mit ihm lediglich solche gehalten wissen will! Wie trefflich läßt sich in diesen Formen, aber auch in denen der apologetischen und der sozialen Predigt das Ideal der zeitgemäßen, der konkreten und der psychologischen Predigt verwirklichen! Denn in der Tat: die Predigt muß mannigfaltig sein! Das ist die Forderung, welche sich aus unserer ersten Betrachtung noch für die Gesamtpredigt ergibt. Nur keine Schablone! Nur nicht den Zwang der Einerleiheit! Das Leben ist mannigfaltig; und die Predigt muß dem Leben nachgehen; die Zeit ist mannigfaltig; und die Predigt muß alle Regungen der Zeit beachten. Die Gemeinde ist mannigfaltig; und es soll keiner leer ausgehen. So laßt uns denn mannigfaltig predigen: apologetisch, sozial, geschichtlich, lehrhaft, ja, wo es not tut, erwecklich! Aber laßt uns immer predigen, wie unsere Zeit es braucht, wie unsere Gemeinde es haben muß! Man kann heut sehr pessimistische Urteile über die Predigt hören: über ihre Wirkungslosigkeit, ihre mangelnde Volkstümlichkeit und Zugkraft. Manche mögen übertrieben sein; andere sind berechtigt. Jedenfalls müssen sie uns treiben, nachzusinnen, wie die evangelische Predigt wieder eine Großmacht im Leben unseres Volkes werden könne. Nicht verzagen wollen wir an ihrer eingeborenen Kraft; denn das ist die Kraft des Evangeliums. Sondern arbeiten wollen wir, daß diese Kraft sich für unsere Zeit wirksam entfalte. Das wird, so glaube ich, geschehen, wenn wir mit Ernst und Eifer die Aufgabe in der geschilderten Richtung angreifen. Sie ist schwierig; denn es handelt sich um ein Ideal. Aber sie ist herrlich; denn, was uns vorschwebt, ist wirklich ein Ideal!

7.4  Ernst Troeltsch:   Die Christusverkündigung und die Sozialformen der Religion  Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Anastatischer Neudruck der Ausgabe von 1912, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 1, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1919, S. 967–969.

I. Es ist klar geworden, wie wenig eindeutig bestimmt das Evangelium und das Urchristentum in der Gestaltung der religiösen Gemeinschaft selbst war. Das Evangelium Jesu war freie personalistische Religiosität mit dem Drang nach innerstem Verstehen und Verbinden der Seelen, aber ohne jede Richtung auf kultische Organisation, auf Schaffung einer Religionsgemeinschaft. Erst in dem

7.4  Ernst Troeltsch: Die Christusverkündigung und die Sozialform der Religion

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Glauben an Jesus, in der Erhöhung des Auferstandenen zu dem Kultmittelpunkt einer neuen Gemeinde trat die Notwendigkeit hierzu ein. Dabei zeigten sich von Anfang an die drei Haupttypen der soziologischen Selbstgestaltung der christlichen Idee: die Kirche, die Sekte und die Mystik. Die Kirche ist die mit dem Ergebnis des Erlösungswerkes ausgestattete Heils- und Gnadenanstalt, die Massen aufnehmen und der Welt sich anpassen kann, weil sie von der subjektiven Heiligkeit um des objektiven Gnaden- und Erlösungsschatzes willen bis zu einem gewissen Grade absehen kann. Die Sekte ist die freie Vereinigung strenger und bewußter Christen, die als wahrhaft Widergeborene zusammentreten, von der Welt sich scheiden, auf kleine Kreise beschränkt bleiben, statt der Gnade das Gesetz betonen und in ihrem Kreise mit größerem oder geringerem Radikalismus die christliche Lebensordnung der Liebe aufrichten, alles zur Anbahnung und in der Erwartung des kommenden Gottesreiches. Die Mystik ist die Verinnerlichung und Unmittelbarmachung der in Kult und Lehre verfestigten Ideenwelt zu einem rein persönlich-innerlichen Gemütsbesitz, wobei nur fließende und ganz persönlich bedingte Gruppenbildungen sich sammeln können, im übrigen Kultus, Dogma und Geschichtsbeziehung zur Verflüssigung neigen. Diese drei Formen sind schon in den Anfängen vorgebildet und treten bis heute auf jedem Konfessionsgebiet nebeneinander auf mit allerhand Verschlingungen und Uebergängen untereinander. Zu einer großen Massenwirkung sind nur die Kirchen befähigt. Die Sekten nähern im Fall der Massenausbreitung sich den Kirchen an. Die Mystik hat Wahlverwandtschaft zur Autonomie der Wissenschaft und bildet das Asyl für die Religiosität wissenschaftlich gebildeter Schichten; in wissenschaftlich unberührten Schichten wird sie zum Orgiasmus und zur gefühlsmäßigen Devotion, mit alledem eine gern gepflegte Ergänzung von Kirchen und Sekten. 2. Es erhellt die Abhängigkeit der ganzen christlichen Vorstellungswelt und des Dogmas, von den soziologischen Grundbe-|968 dingungen, von der jeweiligen Gemeinschaftsidee. Das einzige besondere christliche Ur-Dogma, das Dogma von der Göttlichkeit des Christus, entsprang erst aus dem Christuskult und dieser wiederum aus der Notwendigkeit der Zusammenscharung der Gemeinde des neuen Geistes. Der Christuskult ist der Organisationspunkt einer christlichen Gemeinschaft und der Schöpfer des christlichen Dogmas. Da der Kultgott der Christen, nicht wie ein anderer Mysteriengott polytheistisch zu verstehen ist, sondern die erlösende Offenbarung des monotheistischen Gottes der Propheten darstellt, so wird aus dem Christusdogma das Trinitätsdogma. Alle philosophischen und mythologischen Entlehnungen sind nur Mittel für diesen aus der inneren Notwendigkeit der christlichen Kultgemeinschaft sich bildenden Gedanken. Dieses Christusdogma gewinnt nun aber auf dem Boden der Kirche, der Sekte und der Mystik eine sehr verschiedene Bedeutung.

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7.  Der Streit um die Predigt im 19. Jahrhundert

Der Christus der Kirche ist der Erlöser, der in seinem Heilswerk die Erlösung und Begnadigung ein für allemal vollbracht hat und, durch Amt, Wort und Sakramente in der Kirche wunderbar wirkend, sein Heilswerk den einzelnen zueignet. Der Christus der Sekte ist der Herr, das Vorbild und der Gesetzgeber von göttlicher Würde und Autorität, der seine Gemeinde in der irdischen Pilgerschaft durch Schmach und Elend gehen läßt, aber die eigentliche Erlösung bei seiner Wiederkunft und der Aufrichtung des Gottesreiches vollziehen wird. Der Christus der Mystik ist ein innerlich geistiges, in jeder Erregung frommen Gefühls, jeder Wirkung des Samens und Funkens gegenwärtiges Prinzip, das in dem geschichtlichen Christus göttlich verkörpert war, aber nur in innerer Geistes­wirkung erkannt und bejaht werden kann und das daher mit dem göttlichen verborgenen Lebensgrunde des Menschen überhaupt zusammenfällt. Wie mit dem Ur-Dogma, so geht es auch mit allen anderen. Wie das Christus­ dogma die ursprüngliche Jesus-Verkündigung vom Gottesreich in sich aufgezehrt hat, so ist mit den Wandelungen des Christusdogmas auf den verschiedenen Gebieten auch das Schicksal dieses zweiten christlichen Hauptgedankens bestimmt. Die Kirche ist das Christusreich und daher mit dem Gottesreich in der Welt identisch oder doch das Mittel seiner beständigen Erzeugung. In der Sekte bleibt Jesus der Verkündiger und Bringer des kommenden Gottesreiches und sie neigt zum Chiliasmus. In der Mystik ist die Christusherrschaft die Herrschaft des göttlichen Geistes und daher ist hier das Gottesreich lediglich inwendig in uns. Ganz analog|969 steht es mit dem Erlösungsgedanken. Für die Kirche ist das Erlösungswerk fertig im Sühnetod des Christus; es stattet die Kirche mit der Kraft der Sündenvergebung und Heiligung aus. Für die Sekte liegt die eigentliche Erlösung in der Wiederkunft Christi und der Aufrichtung des Reiches, wofür alles andere nur Vorbereitung war. Für die Mystik ist die Erlösung der immer neu sich wiederholende Vorgang der Einswerdung der Seele mit Gott, wofür Christus nur Anreger und Symbol ist. Die verschiedenen Typen mischen und verbinden sich in Wirklichkeit natürlich ebenso wie die Typen der christlichen Gemeinschaftsidee. Aber von dieser Abstraktion aus versteht man doch die Dogmengeschichte sehr viel klarer und einfacher, als das bisher der Fall war.

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8.  Die Krise der Predigtpraxis.   Das Predigtverständnis der »Wort-Gottes-Theologie«:   Karl Barth und Rudolf Bultmann

Einführung Der Erste Weltkrieg markiert eine gesellschaftlich-kulturelle Epochenzäsur. Auch innerhalb der Theologie kam es als Folge der Erschütterungen und der Desavouierung einer historischen Weltorientierung zu verschiedenen Neueinsätzen1. Neben der Lutherrenaissance (v.a. Karl Holl, 1866–1926) und dem Programm des religiösen Sozialismus (Hermann Kutter, 1863–1931 und Leonhard Ragaz, 1868–1945) war der sog. »dialektischen Theologie« bzw. »Wort-Gottes-Theologie« eine langfristige Wirkung beschieden. Namhafte Vertreter sind Karl Barth, Friedrich Gogarten (1887–1967), Emil Brunner (1889–1966) und Rudolf Bultmann. Von ersterem und letzterem wird im Folgenden jeweils ein Text dokumentiert. Karl Barths (1886–1968) Neufassung des Predigtbegriffs nimmt ihren Ausgang in einer als krisenhaft wahrgenommenen Predigtpraxis: »Aber es war nun einmal so: die bekannte Situation des Pfarrers am Samstag an seinem Schreibtisch, am Sonntag auf der Kanzel verdichtete sich bei mir zu jener Randbemerkung zu aller Theologie, zuletzt in der Form eines ganzen Römerbriefkommentars, und ähnlich ist es meinen Freunden ergangen. Nicht als ob ich etwa einen Ausweg gefunden hätte aus jener kritischen Situation, gerade das nicht, wohl aber wurde mir diese kritische Situation selbst zur Erläuterung des Wesens aller Theologie. Was kann die Theologie anderes sein als der Ausdruck dieser ausweglosen Lage und Frage des Pfarrers, die möglichst wahrhaftige Beschreibung des Gedränges, in das der Mensch kommt, wenn er an diese Aufgabe sich heranwagt, ein Ruf also aus großer Not und großer Hoffnung auf Errettung?«2.

Die Krise der Praxis erfordert einen neuen Predigtbegriff, dessen Pointe darin besteht, eben just die Unmöglichkeit menschlicher Rede von Gott zur Voraussetzung der Predigt zu erheben. Barths Homiletik zielt auf die Erhebung eines 1  Zu dieser »antihistorischen Revolution« vgl. u.a. Friedrich Wilhelm Graf, Die »anti­ historische Revolution« in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre, in: Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre. FS zum 60. Geburtstag von Wolfhart Pannenberg. Mit einem bibliographischen Anhang hg. v. Jan Rohls und ­Gunther Wenz, Göttingen 1988, S. 377–405. 2  Karl Barth, Not und Verheißung christlicher Verkündigung (1922), jetzt in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. v. Holger Fintze (Karl Barth Gesamtausgabe, III. Vorträge und kleinere Arbeiten), Zürich 1990, S. 65–97, 70 f.

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8.  Die Krise der Predigtpraxis

normativen, systematisch-theologischen Predigtbegriffs, in dessen Zentrum das Gotteswort als alleiniger Inhalt und Anlass der Predigt steht. Sie lässt sich als eine »prinzipielle Homiletik in praktischer Absicht« bezeichnen3. Fragen nach dem empirischen Hörer treten in programmatischer Konsequenz ebenso in den Hintergrund wie Probleme der Gestaltbarkeit der Predigt. Solche Themen gelten als »Kinderspiel«. »Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen, und eben damit Gott die Ehre geben. Das ist unsre Bedrängnis. Alles Andre ist daneben Kinderspiel«4. Das Problem der Predigt besteht nicht in der Frage: »wie macht man das?, sondern: wie kann man das?«5. Der hier dokumentierte Text »Menschenwort und Gotteswort in der christlichen Predigt« geht auf einen Vortrag Barths im November 1924 vor Pfarrern und theologisch Interessierten in Königsberg zurück und entfaltet diesen Sachverhalt bereits in seinem Aufbau und im Verhältnis der einzelnen Abschnitte zueinander. Mit Hilfe der christologischen Zwei-Naturen-Lehre entfaltet Barth sein Verständnis des paradoxen Verhältnisses von Gotteswort und Menschenwort. Diesen Zusammenhang hat Barth später in der berühmten Doppelthese in der Einleitung seiner Homiletik-Vorlesung besonders prägnant formuliert: »1. Die Predigt ist Gottes Wort, gesprochen von ihm selbst unter Inanspruchnahme des Dienstes der in freier Rede stattfindenden, Menschen der Gegenwart angehenden Erklärung eines biblischen Textes durch einen in der ihrem Auftrag gehorsamen Kirche dazu Berufenen. 2. Die Predigt ist der der Kirche befohlene Versuch, dem Worte Gottes selbst durch einen dazu Berufenen so zu dienen, daß ein biblischer Text Menschen der Gegenwart als gerade sie angehend in freier Rede erklärt wird als Verkündigung dessen, was sie von Gott selbst zu hören haben. […] Hinter beiden Formeln steht letztlich der entscheidende Satz der Christologie von der Einheit Gottes und des Menschen in Jesus Christus« 6.

Rudolf Bultmanns (1884–1976) Anfänge liegen, darin Barth vergleichbar, in der Tradition Schleiermachers und der liberalen Theologie. Der Abwendung Barths vom Paradigma einer »liberalen Theologie« hat er sich teilweise angeschlossen, ging jedoch früh, v.a. auf exegetisch-hermeneutischem Gebiet und veranlasst durch die Rezeption der Existenzphilosophie Martin Heideggers

3  Vgl. Wilhelm Gräb, Predigt als Mitteilung des Glaubens. Studien zu einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht, Gütersloh 1988. 4  Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (1922), jetzt in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. v. Holger Fintze (Karl Barth Gesamtausgabe, III. Vorträge und kleinere Arbeiten), Zürich 1990, S. 144–175, 151. 5  Barth, Not und Verheißung, S. 72. 6  Karl Barth, Homiletik. Wesen und Vorbereitung der Predigt. Nachschrift des homiletischen Seminars 1932/33, besorgt v. Günter Seyfferth, Zürich 31986, S. 30 f.

Einführung

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eigenständige Wege, so dass Barth das Verhältnis zwischen sich und Bultmann einmal als das zwischen einem Elefanten und einem Walfisch bezeichnet hat – bei noch so ­großer Anstrengung könnten sie sich nicht verständigen und verstehen7. Im Rahmen einer theologischen Hermeneutik widmet sich Bultmann ausführlich der Frage, wie das Kerygma der biblischen Texte in unterschiedlichen historischen Konstellationen zu verkündigen sei und hebt auf dessen existentiale Bedeutung ab. Die menschliche Wirklichkeit ist immer auch der Verstehenshorizont für die Wirklichkeit Gottes. Während Barth die Möglichkeit menschlicher Rede von Gott zunehmend christologisch-offenbarungstheologisch begründet, bestimmt Bultmann das Gotteswort im Menschenwort als »Anrede« und kann von daher dessen Anspruch auf Anerkennung entfalten. Gemeinsam ist beiden Denkansätzen die Orientierung ihrer Theologie auf den Vollzug in der Predigt, d.h. die Verkündigung stellt den Ernstfall jeder Theologie dar. Theologie begründet sich in der Predigt und zielt auf dieselbe. Gemeinsam ist beiden Ansätzen ferner die Bestimmung des Menschen durch das verkündigte Wort Gottes: »Verkündigung ist Anrede, und zwar autoritative Anrede, die Anrede des Wortes Gottes, das paradoxerweise durch einen Menschen, eben den Prediger, gesprochen wird«8. Und es liegt in der Konsequenz beider Ansätze, dass die Predigt zur Schrift- bzw. Textauslegung wird und die exegetische Arbeit zum zentralen Moment der Predigtvorbereitung.

Weiterführende Literaturhinweise: Hermann Fischer, Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, S. 9–38, zu Barths späterer Theologie S. 77–96, zu Bultmann S. 99–102. Friedrich Wintzer, Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der ›dialektischen Theologie‹ in Grundzügen (APTh 6), Göttingen 1969, S. 184 ff. Wilhelm Gräb, Predigt als Mitteilung des Glaubens. Studien zu einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht, Gütersloh 1988, S. 50–114. Friedemann Voigt, Predigt als theologischer Begriff. Die Predigtlehre Barths, in: Christian Albrecht/Martin Weeber (Hg.), Klassiker der protestantischen Predigtlehre. Einführungen in homiletische Theorieentwürfe von Luther bis Lange (UTB 2292), Tübingen 2002, S. 184–201. Eberhard Hauschildt, Rudolf Bultmanns Predigten. Existentiale Interpretation und Luthe­r isches Erbe. Mit einem neuen Verzeichnis der Veröffentlichungen Bultmanns (MThST 26), Marburg 1986, S. 107–155. 7  Karl Barth, Gesamtausgabe V. Briefe, Bd. 1: Karl Barth – Rudolf Bultmann, Briefwechsel 1922–1966, hg. v. Bernd Jaspert, Zürich 1971, S. 196. 8  Rudolf Bultmann, Allgemeine Wahrheiten und christliche Verkündigung (1957), jetzt in: Ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Bd. 3, Tübingen 31965, S. 166–177, 166.

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8.  Die Krise der Predigtpraxis

Martin Evang, Rudolf Bultmann in seiner Frühzeit (BHTh 74), Tübingen 1988, S. 133–175. Dietrich Rössler, Das Problem der Homiletik, in: ThPr 1 (1966), S. 14–28, u.a. wieder abgedruckt in: Ders., Überlieferung und Erfahrung. Gesammelte Aufsätze zur Praktischen Theologie, hg. v. Christian Albrecht und Martin Weeber (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 1), Tübingen 2006, S. 222–237.

8.1  Karl Barth: Die Normativität des Wortes Gottes  Karl Barth, Menschenwort und Gotteswort in der christlichen Predigt (1924), in: Zwischen den Zeiten 3 (1925), S. 119–140, jetzt in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1922– 1925, hg. v. Holger Fintze (Karl Barth Gesamtausgabe III), Zürich: Theologischer Verlag, 1990, S. 430–4571.

I. Die christliche Predigt geschieht in der Voraussetzung, daß Gottes in seiner Offenbarung gesprochenes und in der Schrift bezeugtes Wort unter Dienstleistung der Kirche auch heute sich hören lassen will. Unsre altprotestantischen Väter lebten der Auffassung, daß das, was in der christlichen Predigt verkündigt und vernommen werde, nicht mehr und nicht weniger als Gottes Wort sei: »Praedicatio verbi Dei est verbum Dei. Proinde cum hodie hoc Dei verbum (nämlich das in der Schrift bezeugte) per praedicatores … annunciatur in ecclesia, credimus ipsum Dei verbum annunciari, et a fidelibus recipi«, schreibt Bullinger im I. Kapitel der Conf. Helv. Post2. Und ihm sekundiert der Lutheraner|431 Joh. Gerhard: »Unum idemque Dei verbum est, sive praedicationis sive scriptionis modo nobis innotescat.«3 Es wäre gewiß reizvoll, der historischen Umstände zu gedenken, unter denen diese These damals aufgestellt worden ist. Bei Bullinger z.B. kann kein Zweifel bestehen, daß sie zunächst die Gegenthese war zu der täuferischen Lehre, daß Gott, nachdem er in der Schrift einmal äußerlich gesprochen, dem Menschen der Folgezeit nicht ohne die Schrift, aber im übrigen durch sein direkt in das Herz des Einzelnen gesprochenes inneres Wort sich mitteile. Aber alle derartigen Reminiszenzen

1  [Die folgenden Fussnoten geben die ursprünglichen Anmerkungen Barths wieder. Diejenigen editorischen und herausgeberischen Angaben von Holger Fintze, die für ein sachgemäßes Verständnis notwendig schienen, wurden im Folgenden – beschränkt auf das notwendige Maß – übernommen, in eckige Klammern gesetzt und an entsprechender Stelle eingefügt. Dort verwendete Abkürzungen wurden stillschweigend aufgelöst.] 2  K. Müller, Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche, S. 171. [Confessio helvetica posterior (1562).] 3  H. Schmid, Die Dogmatik der ev. luth. Kirche, 4. Aufl., S. 20.

8.1  Karl Barth: Die Normativität des Wortes Gottes

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könnten uns doch die Frage nicht ersparen und nicht erleichtern, ob diese These mit ihrer merkwürdigen Identifikation von Menschenwort und Gotteswort in der christlichen Predigt, wie sie auch entstanden sein möge, nicht Ausdruck eines Sachverhalts ist, ohne den das Faktum der christlichen Predigt (in unsrer protestantischen Kirche ganz besonders) in sich unbegreiflich und sinnlos wäre, auf dessen Boden wir alle als christliche, als protestantische Theologen also schon stehen, ganz einerlei, wie wir uns zu jener These stellen mögen. Daß dem so sei, das ist die Behauptung meines ersten Leitsatzes. Ich erinnere zunächst an folgendes: Die Reformation hat es gewagt, das Verhältnis von Sakrament und Predigt umzukehren. Genau auf dem Höhepunkt des christlichen Gottes­ dienstes, auf dem in der katholischen Kirche die eucharistische Wandlung vollzogen wird, wird im Protestantismus gepredigt. Genau den ernsten, beziehungsvollen, aber gegenüber dem eigentlichen kirchlichen Zentrum dogmatisch und kultisch unverkennbar nur supplementären Charakter, den dort die Predigt hat, haben bei uns die Sakramente. Was bedeutet diese Umkehrung? Bedenken wir, daß die katholische Kirche das Sakrament definiert als »res sensibus subjecta, quae ex Dei institutione sanctitatis et justitiae tum significandae tum efficiendae vim habet»4, und daß nach katholischer Lehre die Bedeutung speziell des Altarsakraments vor den übrigen darin besteht, daß in ihm »nicht nur die göttliche Gnade enthalten ist, sondern der Ur-|432 heber der Gnade selbst»5. Wenn nun die Meinung bei jener reformatorischen Umkehrung sicher nicht die gewesen ist, mit der jetzt in das kirchliche Zentrum rückenden Schriftauslegung dieses Zentrum von jener »vis sanctitatis et justitiae significandae et efficiendae«, von jener Gegenwart des Urhebers aller Gnade zu entblößen, etwas Minderwertiges in das kirchliche Zentrum zu stellen – im Gegenteil! –, dann ist offenbar der Satz: »Praedicatio verbi Dei est verbum Dei« gerade für die protestantische Kirche sinnvoll und notwendig. Eine zweite Erwägung führt uns zu demselben Ergebnis: Die Predigt ist auf alle Fälle, wie stark man auch ihren Charakter als Darstellung menschlicher Glaubenserfahrung und Gewissensüberzeugtheit betonen mag, das Wagnis, von Gott zu reden als von einer gegenständlichen Realität. Wenn die Kirche das nicht tun wollte, könnte sie von Gott nur schweigen, eventuell lallen oder musizieren. Sie wagt es aber, von Gott zu reden. Das ist ein unmögliches Unternehmen. Kants Vernunftkritik6 ist in dieser Beziehung nur die negative Näher4  Cat. Rom. II I Qu. 6. [Catechismus Romanus (1566), P.II, Cap. I, Qu. 6 (in: Libri symbolici ecclesiae catholicae, edd. Fr. G. Streitwolf et R. E. Klener, Tom.I, Gottingae 1846, p. 241): »Quare, ut explicatius, quid sacramentum sit, declaretur, docendum erit, rem esse sensibus subjectam, quae ex Dei institutione …«.] 5  (B.) Bartmann, Grundr. d. Dogmatik, Freiburg 1923, S. 440. 6  Ich gedenke, mich meiner Beziehungen zum »Neukantianismus« auch in Zukunft

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8.  Die Krise der Predigtpraxis

bestimmung dessen, was schon Ex. 3 [,14] zu lesen steht: Gott offenbart seinen Namen, indem er ihn verhüllt. »Ich bin, der ich bin!« Auch der scheinbar nur als Gegenfüßler Kants zu verstehende Thomas von Aquino, auch unsre wegen ihrer allzu großen Metaphysikfreudigkeit oft verdächtigten altprotestantischen Orthodoxen haben, wenn nicht alles täuscht, sogar prinzipieller als wir, gewußt, Gott ist incomprehensibilis 7, auch in seiner Of-|433 fenbarung, gerade in seiner Offenbarung. Von ihm reden als von einer gegenständlichen Realität, als von einem Er – von ihm, dem unaufhehbaren Ich! –, das ist gerade angesichts der Krippe zu Bethlehem, gerade angesichts des Kreuzes von Golgatha, auf die Luther so oft und mit Recht verwiesen hat, ein unerhörtes Paradox. Dieses Paradox wagt die Kirche. Und die protestantische Kirche wagt es – wahrhaftig, das Mysterium ist zum mindesten nicht kleiner als das der eucharistischen Wandlung –, dieses Paradox in das kirchliche Zentrum zu rücken. Wenn dieses Wagnis keine Tollheit ist und kein Frevel, wenn es auf einer sinnvollen Voraussetzung beruht, kann es dann eine andre sein als die, daß es uns geboten ist, von Gott zu reden, weil Gott sich offenbart hat, und zwar »in Windeln gewickelt« [Lk. 2,12], – man erlaube mir eine kleine, übrigens nicht neue Allegorese8 – in die Hülle der Objektivität, die es uns erlaubt, ja die es kategorisch von uns verlangt, von ihm zu reden, daß also zwischen unserm Er und seinem Ich, zwischen unserm Reden von ihm und über ihn und seinem eigenen Reden von sich selbst eine höchst indirekte, aber höchst wahre, höchst notwendige Identität besteht: »Praedicatio verbi Dei est verbum Dei»?

nicht zu schämen. (…). [Im gleichen Heft 2 von ZZ, Jg. 3 (1925) erschien ein Aufsatz von E. Peterson, Der Lobgesang der Engel und der mystische Lobpreis, S. 141–153. S. 147 heißt es: »Es ist seit dem Neukantianismus üblich geworden – und der Neukantianismus steht nicht nur hinter Ritschl und seinen Schülern, sondern auch noch hinter Barth und Gogarten –, daß von dem Glauben in einer reichlich undialektischen Weise geredet wird. Die Furcht, daß eine Metaphysik jemals Gegenstand des Glaubens werden könnte, hat dazu geführt, daß man den Glauben in einer so abstrakten Weise von aller Welt des Seins losgelöst hat, daß er fast wie der moderne Funktionsbegriff nur noch über den Dingen schwebt …«.] 7  [Vgl. Thomas von Aquino, Summa theologica I q. 12 a.7. – Zur Lehre von der »incomprehensibilitas Dei« in der Orthodoxie vgl. die Belege bei H. Heppe, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, dargestellt und aus den Quellen belegt, neu durchgesehen und hg. v. E. Bizer, Neukirchen 19582, 47; K. A. von Hase, Hutterus redivivus oder Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repertorium für Studirende, Leipzig 186210, S. 142; vgl. auch die Belege in KD II/1, S. 207 f.] 8  [Vgl. z.B. M. Luther, WA.TR I,108,25–29 (Nr.257): »Aber ich vermahne und warne jdermann, daß er das Speculiren lasse anstehen und flattere nicht zu hoch, sondern bleibe hienieden bei der Krippen und Windeln, darinnen Christus lieget, in welchem wohnet die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, wie Paulus saget Colos. 2. Da kann man Gottes nicht feilen, sondern trifft und findet ihn gewißlich. Ich wollt gerne, daß man diese Regel nach meinem Tode hielte.« – Vgl. auch WA 42,295,31–36; 40/I, 77,28–78,13; 79,28–80,13.]

8.1  Karl Barth: Die Normativität des Wortes Gottes

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Versuchen wir es, noch einer dritten Spur zu folgen. Die Predigt ist Rede von Gott, aber Anrede, Rede ad hominem. Sie versetzt den Hörer in eine sehr bedenkliche, sehr kritische Situation. Sie beansprucht, ihm Antwort zu geben auf eine Frage, die sie selbst erst ihm zur Frage macht. Sie deckt seine verschwiegenste Not auf und nennt sie Gericht. Sie bietet ihm Gnade an, eine Errettungsmöglichkeit, die notwendig außerhalb seines Gesichtskreises liegt. Sie verkündigt ihm den vor der Tür stehenden Sieger und Sieg über den Zwiespalt seiner Existenz, vielleicht in dem Augenblick, wo er sich eben mit diesem Zwiespalt als der notwendigen Grenze der Menschheit abgefunden, wer weiß, sogar in aufrichtiger Frömmigkeit abgefunden hatte. Sie fordert Entscheidung von ihm. Sie|434 verlangt Glauben und Gehorsam. Im Namen Gottes und für Gott, gewiß, aber von Mann zu Mann, ein Sünder und Sterblicher von seinesgleichen. Und sie kann sich, wenn sie kein faules Salz [vgl. Mt. 5,13] ist, nicht damit begnügen, Gewissensforschung und Gesinnungspflege zu treiben, obwohl schon das kühn genug ist; sie wagt es, muß es wagen, die Zeichen der Zeit zu deuten, die Könige so gut wie die Massen vor das ewige Gesetz zu stellen, prophetisches Wort an die Zeit und zur Lage zu sein. Vor das Gesetz Gottes die Gesellschaft zu stellen, ja, aber in Menschenworten, mit allen Gefahren menschlicher Leidenschaft, Kurzsichtigkeit und Ungerechtigkeit, von denen solche umgeben sind. Und nun dieses Amt nicht als Beruf und Vorzug Einzelner, sondern als Institut, als Amt, das die Person tragen soll und nicht umgekehrt! Daß die Täufer, gegen die Bullinger jenes Wort schrieb, und mit ihnen die Mystiker aller Zeiten gegen die Annahme eines »verbum divinum externum«, gegen die Möglichkeit solch aktueller Anrede im Namen Gottes von Mann zu Mann sich sträubten, daß sie das höchstens in Fällen besonderer direkter Inspiration, aber gerade nicht als kirchliches Institut gelten lassen wollten, wer würde das nicht verstehen? Wehe uns, wenn es uns selbstverständlich wäre! Die kirchliche Predigt aber ist das Amt dieser höchst kritischen Anrede ad hominem. Wenn wir das nicht mehr wollten mit der Predigt, sollten wir zusammenpacken und gehen. Wie aber sollen wir den maßlosen Anspruch, den wir damit erheben, auch nur vor uns selbst rechtfertigen? Welche noch so tiefe Überzeugung, welches noch so hohe Erlebnis, welches noch so ausgebreitete Theologiestudium gibt uns die Legitimation, uns so redend zwischen Gott und unsere Mitmenschen zu stellen? Woher dieses Amt? Ist nicht auch in dieser Hinsicht das Faktum der christlichen Predigt in sich sinnlos und unbegreiflich – ethisch unmöglich, wäre jetzt zu sagen – ohne jene Voraussetzung, daß es sich in dem Menschenwort, das hier geredet werden soll und muß, um Gottes eigenes Wort handelt, der solches zu tun allein das Recht hat, weil er Gott ist, der aber solches nun einmal nicht ohne uns tun will? Und bleibt uns dann, wenn wir die christliche Predigt wollen, etwas Anderes übrig, als uns resolut auf den Boden dieser Voraussetzung zu stellen?

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8.  Die Krise der Predigtpraxis

Von einigen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, soll heute die Rede sein. Aber es wird zur Klarheit auch des Folgenden nützlich sein, wenn wir noch einen Augenblick bei der Voraussetzung selbst, bei den verschiedenen Momenten, aus denen sie sich zusammensetzt, stehen bleiben. Zweierlei scheint mir hier entscheidend: Erstlich: Die christliche Kirche wagt es, von Gott zu reden, weil sie ihn selbst reden zu hören meint, weil sie sich selbst von ihm angeredet weiß. Anrede Gottes, Wort Gottes! Wie man sich auch zu diesem Begriff stellen mag, alles kommt zunächst darauf an, daß man sich klar macht: was die Kirche damit meint, ist etwas Spezifisches, Unvergleichliches, eine Kategorie für sich. Wer das biblische »Und Gott sprach …«, das hier letztlich gemeint ist, unter einen Begriff zusammenfaßt mit den Theophanien und Inspirationen der Religionswelt, mit der philosophischen Idee der Grenze, des Ursprungs oder des Dings an sich, mit der Lehre, der ethischen Quintessenz oder dem gefühlsmäßig erlauschten lebendigen Pulsschlag der allgemeinen Geschichte, mit der Stimme der Natur oder mit der Stimme des eigenen Herzens oder Gewissens, der tut damit etwas Erlaubtes, unter einem bestimmten wissenschaftlichen und menschlichen Gesichtspunkt sogar Notwendiges; er meint, wenn er den Inbegriff aller dieser Worte das »Wort Gottes« nennt, u.U. etwas sehr Tiefsinniges; er meint aber unter allen Umstünden nicht das, was die Kirche damit meint, nicht das Wort, das, wenn er ein Christ ist, in der Taufe auch zu ihm gesagt ist. Daß es zu ihm gesagt ist, das ist das kategorial Verschiedene dieses Wortes, das er sofort übersieht, sobald er sich betrachtend und verallgemeinernd danebenstellt. Was von Gott zu mir gesagt ist, das kann ich nicht mit Anderm, das gewiß (von irgendwem zu irgendjemandem) auch gesagt ist, in eine Reihe stellen, auch nicht an die höchste Stelle einer Reihe. Sonst ist es eben nicht von Gott, nicht zu mir, nicht gesagt. Was von Gott zu mir gesagt ist, das ist eo ipso behaftend, in Anspruch, in Beschlag nehmend, Diskussion und Widerspruch, ja schon Vergleich und objektive Betrachtung ausschließend. Alle Gründe, mit denen wir uns klar machen können, inwiefern das Wort Gottes im Vergleich zu andern Worten den Vorzug verdient, können nur Gründe a posteriori sein. Gottes Wort begründet seine Geltung selbst, indem es von ihm zu mir gesprochen wird. Ein Warum? und ein Darum ist hier ausgeschlossen. Sonst ist es nicht Gottes Wort. Ich kann versagen, ich kann verleugnen, ich kann den Gehorsam verweigern;|436 aber ich kann nicht in Abrede stellen, daß der Begriff »Wort Gottes« diese kategoriale Eigenart hat. So beschaffen ist das Wort, das in der Taufe an den Menschen gerichtet wird, die Anrede Gottes, die die christliche Kirche zu hören meint. Es ist nicht ein allgemeines wahrzunehmendes oder auch nicht wahrzunehmendes göttliches Tönen und Klingen, Leben, Weben und Sein [vgl. Act. 17,28], von dem der Mensch als solcher umgeben wäre, sondern ein bestimmtes Wort, so

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einig und bestimmt, wie seine eigene Existenz, durch das er – es handelt sich um ein Ereignis – zur Rede gestellt ist. Nur das Ärgernis ist möglich gegenüber dem Worte Gottes oder der Glaube, der Gehorsam oder eben die Empörung. Ein Wort, demgegenüber eine andere Haltung möglich ist, ist jedenfalls nicht das Wort Gottes. Kirche ist die Gemeinschaft in diesem bestimmten Von-Gott-Angeredetund -zur-Rede-Gestellt-Sein. In diesem Sinn nennt sie die Bibel Gottes Wort. Hier, an dieser Stelle des unbegrenzten Feldes der Möglichkeiten, in den Runen dieser Partikel antiker Religions- und Literaturgeschichte meint sie Gott reden zu hören. Warum gerade hier? Die Frage ist begreiflich, menschlich, aber sie ist, christlich betrachtet, ein Denkfehler, absolut unsachlich. Die sachliche Antwort kann, so hart das klingen mag, allein lauten: die Bibel ist Gottes Wort, weil sie es ist. Gewiß, dieses »ist«, der Vorzug der Bibel vor den Upanishaden oder vor dem Koran oder vor Goethes Faust, läßt sich nachträglich mehr oder weniger einleuchtend erläutern. Aber nicht diese möglichen Erläuterungen, also z.B. nicht die Einzigartigkeit des Urchristentums innerhalb der hellenistischen Religionsgeschichte, auf die der Historiker X im Gegensatz zu den Historikern Y und Z seinen klugen Finger legen kann, nicht das ethisch Bezwingende, das ein spezifisch abendländisch bzw. deutsch eingestelltes Gewissen von seinem Standpunkt aus ganz mit Recht in seiner mit Auswahl gelesenen Bibel entdeckt haben mag, auch nicht der vielberedete unmittelbare Eindruck der »historischen Persönlichkeit« Jesu, wie sie, nie ohne allerlei Willkür, hinter den biblischen Texten eruiert worden ist – nicht derartige nachträgliche Feststellungen, denen mindestens das Fragezeichen früher oder später doch zu folgen pflegt, sind der Grund des Satzes, daß die Bibel Gottes Wort ist. Das alles sind bestenfalls Überzeugungen. Und was sich auf Überzeugungen gründen läßt, das sind Sekten. Wir reden aber hier von dem, worauf sich die christliche Kirche begründet. Hat der Protestantismus|437 es gewagt, auch an dieser Stelle einen katholischen Satz umzukehren und die Autorität der Kirche auf die Autorität der Bibel zu begründen, so wird er hoffentlich christlichen Takt genug besitzen, um einzusehen, daß es doch einfach nicht geht, die Autorität der Bibel auf ein aus Luthertum und Idealismus wunderlich gemischtes Normsystem oder ähnliche moderne Velleitäten zu begründen. Nein, jener Satz: die Bibel ist Gottes Wort! gilt, und das ist der Grund, auf den die christliche Kirche sich gründet, weil es Gott gefallen hat, durch die Bibel zu uns zu reden. Was die Kirche zu hören meint und was sie danach zum Reden veranlaßt, das ist nicht eine Überredung, sondern ein Befehl. Was Luther in Marburg Zwingli entgegenschleuderte, war sachlich ganz richtig und Zwingli gegenüber nicht ganz unangebracht: »Wenn der Herr mir Holzöpfel fürleite und hieße es mich nehmen und essen, sollt

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ich nit fragen: warum?»9 Das bedeutet nicht die Proklamierung des »credo, quia absurdum»10, wohl aber des »credo, ut intelligam»11, der Unumkehrbarkeit dieser Reihenfolge. Kein, auch kein ethisches intelligere kann dem Credo vorangehen. Es ist primär, oder es ist nicht credo. Was die Kirche zu hören meint, das ist das Wort Gottes in der Hülle, in der Verborgenheit des Propheten- und Apostelwortes. In der Tat: was Gott uns »fürleit« als sein Wort, das ist dem nicht-sehenden Auge so etwas wie Holzäpfel: Menschenworte, die keineswegs Offenbarung sind, nur|438 Zeugnis von der Offenbarung sein wollen. Unsichtbar hinter ihnen steht das »Deus dixit« selber, von dem sie zeugen. »Literae, verba caro sunt«, schrieb wieder Bullinger 12, und noch an der Schwelle des 17. Jahrhunderts Barth. Keckermann: »Libri canonici sunt medium, quo Deus naturam, voluntatem, gratiam suam nobis cognoscendam dedit»13. Es war der Anfang vom Ende, der Anfang der neuprotestantischen Theologie, die von der Kategorie »Wort Gottes« nichts mehr weiß, als man im 17. Jahrhundert durch Aufrichtung der Verbalinspirationslehre die Schranke zwischen Schrift und Offenbarung niederriß, einen an sich und unmittelbar heiligen Buchstaben aufrichtete und damit die Verborgenheit des Wortes Gottes, das man zu hören meinte, leugnete, indem man es zu einer öffentlichen, direkten, auf dem Papier nachweisbaren Sache machte. Kein Wunder, daß man bald darauf das Wort Gottes gar nicht mehr vernahm. Wort Gottes an uns kann es nicht anders geben als in der Verborgenheit wirklichen, echten, nicht bloß soufflierten oder diktierten, sondern von unsereins gedachten, geformten und ausgesprochenen Menschenwortes. Als solches tritt es an uns heran, eine Objektivität, verständlich, aber auch mißverständlich, deutlich, aber auch zweideutig, ein Paradox, das sich auftun muß, das eingesehen sein will, und darum und so eben als Befehl an uns, als Aufforderung zum Glaubensgehorsam, zur ´pako« p6stewV (Röm. 1,5; 16,26], die keinen, gar keinen andern Grund hat und kennt als die Erkenntnis, daß es Gott gefällt, durch das Menschenwort, das nur Zeugnis von ihm sein kann, sich selbst zu verherrlichen, Subjekt zu sein in der Hülle von Objektivität, in der er uns im 9  Zwinglis Werke I1 3, 48.34. [Huldreich Zwingli’s Werke, edd. M. Schuler et J. Schultheß, Bd. II/3, Zürich 1841, S. 48.] 10  [Zu diesem gewöhnlich Tertullian zugeschriebenen, bei diesem jedoch so nicht nachweisbaren Diktum vgl. Fr. Loofs, Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, Halle 19064, S.155.] 11  [Anselm von Canterbury, Proslogion, cap. I, in: S. Anselmi Cantuariensis archiepiscopi opera omnia, ed. Fr. S. Schmitt, Vol. I, Seccovii 1938, p. 100,18: »Neque enim quaero intelligere ut credam, sed credo ut intelligam.«.] 12  A. Schweizer, Glaubenslehre der reform. Kirche I 200. [A. Schweizer, Die Glaubenslehre der evangelisch-reformierten Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt, Bd. I, ­Zürich 1844, S. 200. Hervorhebung v. Barth.] 13  Ebendas. I 201 [Hervorhebung v. Barth.]

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Propheten- und Apostelwort entgegentritt, entsprechend der andern, noch größern Enthüllung in der Verhüllung, auf die dieses Menschenwort zurückweist: Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit [Joh. 1,14]. Wir sahen! Weil es Fleisch ward? Oder obwohl es Fleisch ward? Beides in Einem, ist zu sagen. Beides gehört zu diesem »Wir sahen«. Das Sehen selbst aber geht|439 mitten hindurch: Wir sahen, – indem es das Wort war. Genau so steht es auch mit dem Zeugnis von ihm. »Wer glaubt unsrer Predigt, und wem wird der Arm des Herrn offenbart?« [Jes. 53,1; vgl. Röm. 10,16], fragen die Propheten und Apostel bis heute. Auf dieselbe Objektivität ihres Menschenwortes können wir reagieren, indem wir Ärgernis nehmen oder indem wir glauben. Calvin gibt auf jene Frage im Namen der christlichen Kirche die Antwort: »Summa scripturae probatio a Dei loquentis persona sumitur.«14 In diesem Sinn, nicht aus Überzeugung, sondern weil sie Gott die Ehre zu geben nicht unterlassen kann, meint die Kirche in der Bibel sein Wort zu hören. Das zweite Moment in der Voraussetzung der christlichen Predigt besteht darin, daß die Kirche der Meinung ist, daß das Wort Gottes auch heute, und zwar unter ihrer eigenen Dienstleistung, sich hören lassen wolle. Wir dürfen das Doppelte, das damit gesagt ist, keinen Augenblick voneinander trennen, keinen Augenblick auch es anderswoher verstehen wollen als aus dem eben entwickelten Begriff des Wortes Gottes. Wort Gottes ohne die Gegenwart, ohne den Augenblick des jetzt angeredeten Menschen, Wort Gottes als historische Größe, das wäre ein hölzernes Eisen, das wäre nicht das Wort Gottes. Es müßte wieder eingesehen werden, daß es theologisch ein Denkfehler ist, wenn man von Jesus Christus auch nur einen Augenblick historisch redet, abgesehen von dem Faktum, daß wir auf seinen Namen getauft sind, als ob er nicht bei uns sein wollte alle Tage bis an der Welt Ende [vgl. Mt. 28,20]. Das Ich-und-Du-Verhältnis, in dem das Wort Gottes gesprochen ist, erlaubt uns nicht, dieses Wort auch nur einen Augenblick zu historisieren. Das ist, wenn es geschieht, immer der Bruch des mit Abraham und seinem Geschlecht geschlossenen Bundes. Heute, heute, so ihr seine Stimme höret …! [Hebr. 3,7 f.; 4,7]. Dieses Heute ist so unentrinnbar wie die Stimme selbst. Nur in actu, im Augenblick ist sie diese Stimme. Aber das ist nicht alles. Ist das Wort Gottes nur im Augenblick und ist der Augenblick das Angeredetsein von Gott, so haben wir dieses Angeredetsein bereits bezeichnet als ein Zur-Rede-gestellt-Sein. Überzeugungen, Einsichten, Ideen, Erlebnisse kann man verschweigen, und es ist oft wirklich ratsam und kein Schade, wenn das geschieht. Das Wort Gottes kann man nicht verschweigen. »Da dachte ich: Wohlan, ich will sein nicht mehr geden-|440 ken und nicht mehr in seinem Na14 

Institutio I 7,4.

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men predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennend Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, daß ich’s nicht leiden konnte« (Jer. 20,9). Um jenes begeisterte Mitteilen aus der freudigen Fülle inneren Besitzes, wie es einem bei einem Schleiermacher so rätselhaft begegnet, scheint es sich also hier nicht zu handeln, sondern eher um eine Not, aber um eine notwendige Not: »Der Löwe brüllt; wer sollte sich nicht fürchten? Der Herr Herr redet; wer sollte nicht weissagen ?« (Amos 3,8). Unaufhaltsame Konsequenz dringt in jenem Akt vom Hören zum Reden, von dem Wort zu den Worten, von dem Befehl zum Glaubensgehorsam zu dem andern Befehl, der doch kein anderer ist, sondern nur seine Ausführungsbestimmung: Gehet hin in alle Welt und prediget …! [Mk. 16,15], von der congregatio electorum zu der ecclesia visibilis mit ihrem ministerium verbi divini, ihrem Dienst am Wort. In der Objektivität des Menschenworts ist das Gotteswort hörbar geworden. In derselben Objektivität will es sich wieder und weiter hören lassen. Hier hat, das Wort ist eben gefallen, die Kirche ihre ratio existendi. Sie ist die Gemeinschaft der Angeredeten, der zur Rede Gestellten. Wo das Wort ist, da ist auch die Kirche. Wenn es keine Kirche gäbe, würde sie sofort entstehen, nein geschaffen werden, weil es das Wort gibt. Sie ist der »mystische Leib« des fleischgewordenen Wortes, wie unsre Alten gesagt haben15. Aber davon hat schon Paulus geredet: wo dieses Haupt ist, Christus, da ist auch dieser Leib16 , und seine Funktion ist es, jenen zu verkündigen, bis daß er kommt [vgl. 1. Kor. 2,26]. Mit der Kirche selbst ist auch das Predigtamt der Kirche – nicht erfunden, und sowenig wie die Kirche selbst naturrechtlich zu begründen, aber eingesetzt durch das Wort selbst zum Dienst am Wort. Begründung ihres Rechtes, das Wort zu »ergreifen« durch ihr Menschenwort? Kann sie eine andere Begründung geben als die unter Furcht und Zittern [vgl. 1. Kor. 2,3 u.ö.] zu gebende eine, daß es so Gottes Wohlgefallen ist? Das ist die andere Seite der Voraussetzung der christlichen Predigt.|441 II. Diese Dienstleistung der Kirche, also die Aufgabe der Predigt als einer menschlichen Rede über Gott, kann nur darin bestehen, Gottes eigenem Wort Aufmerksamkeit, Respekt und sachliches Verständnis zu verschaffen. Gott spricht: spricht sein ewiges Wort in Jesus Christus, spricht sein Wort für alle Zeiten im Zeugnis der Propheten und Apostel, spricht sein Wort für den Augenblick, und hier soll die Kirche mit ihrem Predigtamt dienend dabei sein. 15  [Die Bezeichnung der Kirche als »corpus (Christi) mysticum« begegnet seit dem Ende des 12. Jahrhunderts häufig; vgl. M. Schmaus, Katholische Dogmatik, Bd. III/I, München 19583–5, S.46 f.] 16  [Vgl. Röm. 12,4–6; 1. Kor. 12, 12–27; Eph. 1,23; 5,23; Kol. 1,18.]

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Das ist die Voraussetzung, von der wir kommen und auf der nun weiterzubauen ist. Was heißt »verbi divini ministerium»? Darauf will unsre zweite These zunächst grundsätzlich Antwort geben. Vor allem ist hier der Ort zu bestimmen, wo dieser Dienst stattfindet. Es ist das eine Wort Gottes, dem dieser Dienst gilt Aber es ist etwas anderes, ob man Offenbarung sagt oder Schrift oder Predigt. Wir stehen im selben Dienst wie Jesus Christus, wie die Propheten und Apostel. Aber in einem andern Sinn ist unsereiner »Diener« als Paulus, der doæloV }Ihsoæ Cristoæ [Röm. 1,1; vgl. Phil. 1,1], in einem ganz andern vollends als der Knecht Gottes, der selbst das Wort ist. Hier sind Distanzen zu beachten, die nicht ungestraft ignoriert werden. Unsre Dienstleistung muß begründet sein in der negativen, aber sehr fruchtbaren Einsicht, daß es sich nie und unter keinen Umständen darum handeln kann, daß wir die Offenbarung an uns reißen, das ewige Wort sprechen, das »Deus dixit«, das die Propheten und Apostel vernommen haben, wiederholen wollen. Es ist gesprochen und so, als das, das gesprochen ist, muß es weiter sprechen. Dienst verlangt Disziplin, und Disziplin verlangt Subordination. Es kann nur zu Katastrophen führen, wenn der Diener am Predigtwort sich eingestandener- oder uneingestandermaßen vermißt, zu sein und zu tun, was nur einem zukommt; das Wort muß in völliger prinzipieller Einsamkeit und Einzigartigkeit für sich stehen, sonst wird der Dienst der Kirche zur Empörung. Nicht dieselbe, aber eine ebenso prinzipielle Distanz besteht und ist zu beachten zwischen Predigt und Bibel. Der Eintritt des ursprünglichen, unmittellbaren Wortes in die Geschichte, als Schriftwort, ist in seiner Weise auch etwas kategorial Einzigartiges. Das ist bezeichnet durch den durchaus zu Recht bestehenden Begriff des Kanons. Es war kein glücklicher Ge-|442 danke von H. Stephan17, Luther in aller Form unter die Propheten zu versetzen, wie es überhaupt eine von den vielen modernen Taktlosigkeiten ist, daß man auf den Gedanken hat kommen können, den Unterschied zwischen dem Zeugnis der Schrift und dem durch sie veranlaßten Zeugnis der Kirche, zwischen einem Apostel und einem Genie18, zu verwischen, die Bibel, die Geschichte und sich selbst fortwährend in einem Atemzug zu nennen. Dienst heißt Gehorsam: Gehorsam gegen Gottes Befehl, der uns überbracht wird. Die Überbringer sind die Propheten und Apostel mit ihrem Wort. Daran haben wir uns zu halten. 17  Glaubenslehre 1921, S.24 [H. Stephan, Glaubenslehre. Der evangelische Glaube und seine Weltanschauung, Gießen 1921, S. 24: »Sie (scil. die Propheten) führen von den großen Zeiten Israels über Paulus bis hinab in die Begründung des Protestantismus; wir werden vorläufig mit allgemeiner Zustimmung der evangelischen Christenheit Luther als letzten Propheten bezeichnen dürfen.«] 18  [Vgl. S. Kierkegaard, Über den Unterschied zwischen einem Apostel und einem ­Genie (1847), in: ders., Der Begriff des Auserwählten, übers. von Th. Haecker, Hellerau 1917, S.313–333.]

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Sodann, zweitens, haben wir unsre eigene Situation und ihre Möglichkeiten ins Auge zu fassen, wiederum mit dem Resultat einiger negativer Feststellungen (negativ voll heimlicher Positivität!). Was bedeutet das: die Predigt ist Gottes Wort? Entweder eine fromme Hyperbel, eine liturgische Formel, die man nicht pressen, d.h. nicht ernst nehmen darf, oder also dieselbe unerhörte strenge und gnädige Gotteswirklichkeit, die wir meinen, wenn wir Offenbarung und wenn wir Heilige Schrift sagen. Gerade dann kann es offenbar keine theologische Überheblichkeit bedeuten. Der Pfarrer ist schlecht und recht der Pfarrer mit seinem Menschenwort, wie auch Jesaja und Paulus schlecht und recht Jesaja und Paulus waren, er so wenig wie sie eine Weidenflöte des Hl. Geistes. Ja noch höher hinauf: die ehrliche, echte, irdische Menschlichkeit unsres Dienstes in der Predigt darf so wenig geleugnet werden wie die menschliche Natur Christi in der Offenbarung. Das Wort Gottes ist auch in der Gegenwart in der Verborgenheit. Wir können nur Menschenworte reden, und das ist in der Ordnung so. Wir sollen Menschenworte reden als solche, die Gottes Wort gehört haben und wissen, daß Gott selber wieder und weiter sein Wort sprechen will. Damit ist die|443 Grenze und die Aufgabe unsres Dienstes gegeben. Die Grenze: er kann auf keinen Fall darin bestehen, daß wir Gott selbst auf den Plan führen, das Wort Gottes selbst sprechen wollen. Das Wort Gottes geht nicht über unsre Lippen; es ist und bleibt immer Gottes eigenes Wort. Seine Gedanken sind nicht unsre Gedanken [vgl. Jes. 55,8], auch nicht in den Augenblicken unsrer höchsten Bereitschaft, Aufgeschlossenheit und Begeisterung, auch dann nicht, wenn wir wörtlich die Bibel zitieren; denn auch im Bibelzitat ist das Wort Gottes in der Verborgenheit. Es bleibt bei der Verlegenheit, in die uns die Aufgabe der Predigt gerade dann versetzen muß, wenn wir wissen, um was es geht. Wer nicht lieber nicht predigen würde (man denke an Mose [vgl. Ex. 4,10.13], Jesaja [vgl. Jes. 6,5], Jeremia [vgl. Jer. 1,6], Jona [vgl. Jona 1,3]), der hat vielleicht die Situation noch nicht verstanden. Es bleibt bei jenen eingangs geschilderten Unmöglichkeiten: wir sollen über Gott reden, wo wir doch wissen müssen, daß man »über« Gott gar nicht reden kann, wo doch der Anspruch, mit dem wir damit auftreten, unsern Mitmenschen gegenüber ganz unerträglich ist. Im Alten Testament wird das Wort des Herrn häufig eine »Last« genannt.19 Das ist es, vor allem und zuerst für den, der es ausrichten soll. Menschlich geredet können wir unter der Last des »ministerium verbi divini« jeden Augenblick nur zusammenbrechen. Was uns hält, ist exklusiv die Tatsache, daß es uns befohlen, von Gott befohlen ist. Aber diese Tatsache ist verborgen, und so sind wir in den Augen scharf­ blickender Mitmenschen und gewiß auch in unsern eigenen Augen fort und fort Zusammenbrechende, von allen Seiten Umzingelte, unmittelbar vor der Kapi19 

[Vgl. z.B.Jes.13,1; 14,28; 15,1; 17,1 u.ö.; Hab. 1,1; Sach.9,1; 12,1; Mal.1,1.]

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tulation Stehende. Uns selber das größte Wunder, ist ein kleiner Mut zum Weiterfahren, gerade genug zum Leben, jeden Morgen wieder da, wie das Öl im Krug der Witwe von Zarpath [vgl. 1. Kön. 17,8–16]. Das ist kein leidiger Übelstand unsres Dienstes. Das kann und das soll nicht »überwunden« werden. Da gibt es kein tröstliches »Andrerseits«, mit dem wir der damit verbundenen Unannehmlichkeit wieder entrinnen könnten. Das ist die Situation, in der wir begreifen müssen, was wir sollen20. In diesem Gedränge, an|444 dieser Grenze wird unsre Aufgabe sichtbar: Wir können Gottes eigenes Wort nicht ersetzen durch unser Wort, wohl aber verkündigen; d.h. Kunde von ihm geben, annuntiare, khr0ssein, seine Herolde oder Vorläufer sein. Dazu scheint Gott den Dienst der Kirche zu beanspruchen. In diesem Sinn will er sein Wort, das er selbst spricht, doch nicht ohne uns sprechen. Wir können, und das ist die Aufgabe der Kirche, kundtun, daß es so etwas wie Gottes Wort an den Menschen gibt. Wir können mit unsern Menschenworten den Versuch machen, um das verborgene Wort herum eine Zone von »Aufmerksamkeit, Respekt und sachlichem Verständnis« zu schaffen, wie ich in der These sage, innerhalb der menschlichen Gedanken sozusagen einen Raum zu schaffen, oder sagen wir noch bescheidener: abzustecken, warnende, verheißende, bedeutungsvolle Zeichen aufzurichten aller Welt zum Zeugnis, Zeichen, an denen sie wenigstens nicht vorbei sehen, die sie nicht ohne Weiteres mit andern Zeichen verwechseln, deren kategorialen Sinn sie nicht verkennen kann, auch wenn sie den König, der da verkündigt wird, selbst nicht erkennt oder verleugnet. Das zu tun, liegt im Bereich menschlicher Möglichkeit; ist es doch nichts anderes als die Demonstration, durch die die Kirche sich als Kirche, d.h. als die Gemeinschaft der Angeredeten und zur Rede Gestellten betätigt. Es ist die Linie Johannes des Täufers, auf der die Kirche steht. Was sie tun kann und soll, ist das Zeigen seines ausgereckten Fingers21: Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt! [Joh. 1,29]. Verkündigung, Ankündigung in diesem Sinn war auch die Predigt der Apostel, ja noch mehr: auch die|445 menschliche Predigt Jesu Christi selbst. Über das: Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen, øggiken [Mk. 1,15] geht das Menschenwort auch in Vgl. meinen Elgersburger Vortrag »Das Wort Gottes als Aufgabe der Theo-| 444 logie« von 1922 (Ges. Vorträge, S. 156 ff.) […], dessen Aufstellungen ich in allen wesentlichen Teilen aufrechterhalte, der aber jetzt gewissermaßen zur Etappe geworden ist. [K. Barth, Das Wort Gottes und die Theologie (Gesammelte Vorträge I, München 1924.19252.19293. Zollikon o.J.] 21  [Die »zeigende, nur zeigende Hand Johannes des Täufers« (K. Barth, »Unterricht in der christlichen Religion«, I. Bd., aaO., S. 186; ebenso ders., Die christliche Dogmatik im Entwurf, I. Bd.: Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik. 1927, hrsg. von G. Sauter, Zürich 1982, S. 341) war Barth anschaulich geworden im Kreuzigungsbild des Isenheimer Altars von M. Grünewald, von dem eine Reproduktion seit 1919 (…) stets über oder neben Barths Schreibtisch hing. (…).] 20 

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diesem Mund nicht hinaus. Das ist die Verborgenheit des Gotteswortes. Ihm in seiner Verborgenheit und darum ihrerseits in dieser höchst aktiven, höchst verantwortungsvollen, höchst dringlich redenden Zurückhaltung hat die Predigt als Menschenwort zu dienen. Bereitet dem Herrn den Weg! [Mt. 3,3]. Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch! [Ps. 24,7.9]. Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! [Mt. 21,9]. Das kann, das soll dieses Menschenwort sagen. Mehr als das soll es nicht wollen. Mehr wäre weniger. Deo soli ­gloria! III. Die Predigt wendet sich an den Menschen als an den Gefangenen Gottes, der nach Gott fragen muß und nach Gott nur fragen kann. Das Wort Gottes richtet sich an den Menschen. Von dieser zweiten Seite des Problems ist nun zu reden. Auch die Predigt wendet sich an den Menschen. Aber es gilt große Vorsicht zu üben, wenn man dazu übergeht, ihren Begriff nun auch von daher zu bestimmen. Sie ist »ministerium verbi divini«, Gottesdienst, auch indem sie sich an den Menschen wendet. Gottesdienst wird damit nicht zum Menschendienst, auch nicht teilweise. Er bleibt ganz und exklusiv Gottesdienst. Die christliche Predigt kann sich unmöglich die verschiedenen Anliegen des Menschen zu eigen machen, nicht weil sie sie nicht kennte, nicht weil sie sie verachtete, nicht als ob der Prediger sie nicht in seinem eigenen Herzen trüge, sondern weil die Predigt ihr eigenes Anliegen an den Menschen hat. Sie kann und darf ihm nicht »aus dem Herzen« reden, weder aus seinem gebildeten, noch aus seinem bürgerlichen, noch aus seinem proletarischen, noch aus seinem deutschen oder französischen, noch sogar aus seinem frommen Herzen. Sie hat ihm ins Herz zu reden, und das ist zweierlei. Es kann menschlich sehr gut gemeint, es kann ethisch sehr schön zu begründen sein, wenn die Kirche sich dazu hergibt, wenigstens teilweise auch eine Anstalt zur Pflege der im besten Sinn höchsten menschlichen Güter zu sein, wenn sie sich also z.B., wie während des Krieges in allen Ländern geschehen, mit dem ganzen ernsten Pathos des Gesetzes und des Evangeliums für das einsetzt, was der eigene kämpfende Staat will. Aber hier lauert der Verrat am Worte Gottes. Die ka-|446 tholische Kirche weiß trotz alles raffinierten Menschendienstes, den es auch dort gibt, relativ mehr als wir von jener leidenschaftlich-einseitig-exklusiven Parteinahme für Gottes Angelegenheiten, die für die christliche Kirche einfach konstitutiv ist. Sie beschäftigt sich viel primitiver, kann man sagen, aber vielleicht gerade darum viel reinlicher als wir einfach mit dem ewigen Heil des Menschen und darin denn doch mit dem Anliegen Gottes an ihn. Gerade darum vielleicht fühlen so viele gerade moderne Menschen sich von ihr so viel besser verstanden als von uns. Steht es

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nicht so, daß die Kirche den Menschen, an den sie sich wendet, am besten versteht, wenn sie nicht ihn verstehen will, sondern das an ihn gerichtete ewige, in die Zeit eingegangene, in der Gegenwart lebendige Gotteswort – und von da aus dann, unter dem einen Aspekt, daß dieses Wort zu ihm gesprochen ist, auch ihn, den Menschen? Was ist der Mensch unter der Voraussetzung – »daß du sein gedenkest!« [Ps. 8,5], daß es so etwas gibt wie Gottes Wort an den Menschen? Offenbar wird er unter dieser Voraussetzung verstanden als bedürftig, als harrend der in diesem Worte gegebenen Antwort, als Fragender. Indem Gott ihn anredet, anerkennt er ihn in dieser Bedürftigkeit, als einen, der nach ihm fragen muß. Freilich nur fragen kann. Er, Gott, gibt ja die Antwort, immer ist sie seine Antwort. Er, Gott, fragt nicht, sondern spricht positiv. Menschenworte werden, so positiv sie klingen mögen, immer nur verhüllte Fragen nach Gott sein können. Aber dieses Fragen, so versteht ja die Kirche ihr eigenes Reden, ist immer schon ein Echo der göttlichen Antwort. In diesem Licht wird sie den Menschen überhaupt verstehen müssen. Sie würde das Wort Gottes selbst schlecht gehört haben, wenn sie nicht, bevor sie den Mund auftut gegenüber den Menschen, mit der Realität ihrer Beziehung zu Gott unbedingt rechnen würde, wenn sie sie als etwas anderes anreden würde denn als Gefangene Gottes, die ihm, wie sie sich auch stellen mögen, auf keinen Fall aus der Schule laufen können. Gott hat gesprochen, also ist der Mensch auf Gott ansprechbar. Diese Voraussetzung in Bezug auf den Menschen bedeutet ein Doppeltes. Erstlich: die Kirche sieht den Menschen, wie er ist: in der ganzen Zerklüftung seines Wesens zwischen Engel und Tier, in der Not seiner Heimatlosigkeit, die ihm nicht nur anhaftet, sondern die ihm, dem Kind Adams, die Not seiner Exi­stenz ist, in seiner unendlich sich häufenden Schuld, dadurch begangen, daß er in Freiheit immer wieder tut, was|447 Adam tat, sein will wie Gott [vgl. Gen. 3,5], statt sich zu bescheiden, der Mensch zu sein, in seinem endgültigen Verhaftetsein in diese Situation, aus der er sich mit keinem Werk, keinem Aufschwung, keinem Glauben lösen kann. Aber auf das alles redet ihn die christliche Predigt nicht an. Sie hat nicht das Amt, die Verdammnis, sondern die Versöhnung zu verkündigen [vgl. 2. Kor. 3,9; 5,18]. Sie sieht alles, wie es ist, und nennt es schonungslos beim Namen. Aber sie glaubt a priori nicht an die Gottlosigkeit, die Unwissenheit, die Sünde, den Widerspruch des Menschen. In dem Augenblick, wo der Prediger sich als Verkündiger des Wortes Gottes an seine Mitmenschen wendet, muß, so wahr es Gnade und Gnade allein ist, was ihn selbst zu einem Hörenden gemacht, jener Glaube an das Böse im Menschen fallen. Er muß ihn vielmehr zu Gott rechnen mit derselben automatischen Selbstverständlichkeit, mit der er sich selbst, nicht wissend wie ihm geschieht, unter das Wort stellt. Als Gefangenen muß er ihn anreden, ja, aber als Gefangenen Zions, der auch an den Wassern Babylons Jerusalems gedenken muß [vgl.

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Ps. 137,1.6]. Nicht weil er nun törichterweise an ein Gutes im Menschen glaubte, oder gar an sein unbewußtes Christentum 22. Er glaubt aber, daß keinem Menschen die Frage nach Gott etwas Fremdes sein kann. Er glaubt, sage ich, ohne zu sehen [vgl. Joh. 20,29], wie aller Glaube, auf das Wort hin, wahrlich ohne die geringste Illusion über den Menschen, aber durch das Wort in die Unmöglichkeit versetzt, etwas anderes zu glauben, als daß in aller Verlorenheit des Menschen seine Frage, sein Hunger und Durst nach dem, was als Wahrheit und Errettung nur in Gott sein kann, das Allerrealste im Menschen ist. Nicht als etwas, was ihm gutzuschreiben wäre, aber als Reflex der Liebe Gottes, die uns zuerst geliebt [vgl. 1. Joh. 4,19]. Oder ist das Wort nicht gesprochen? Ist Christus nicht auferstanden [vgl. 1. Kor. 15,14]? Ist er auferstanden, ist es wahr, daß der Vater ihm alles unter die Füße getan hat [vgl. 1. Kor. 15,27], dann, und das ist hier unser Erstes: herunter vom Standpunkt der Pharisäerkirche, die es wagt, die Menschen unter ein anderes Gericht zu stellen als unter das, unter dem sie selbst steht und von dem sie wissen muß, daß es Gnade ist. Den Menschen verstehen heißt verstehen, daß er in all seinem Irren Gott sucht und daß er Gott nicht suchen würde, wenn er|448 ihn nicht schon gefunden hätte. Die Kirche muß den Mut und die Demut haben, den Menschen besser zu verstehen, als er sich selbst versteht, ihn, der von unten ist, von oben, von Gott aus zu verstehen um Christi willen. Sie hat es wahrlich selber am nötigsten, so verstanden zu werden. Und zweitens: Die Kirche sieht die Bedrängnis des Menschen, die ihm gerade daraus erwächst, daß seine tiefste Realität seine Frage nach Gott ist. Mit dem Schicksal, mit der Natur, mit den Göttern und Götzen kann man fertig werden. Mit Gott kann man nicht fertig werden. Und weil die Kirche daran glaubt, daß der Mensch nach Gott fragen muß, darum weiß sie, daß seine Lebensunruhe unstillbar ist, daß sie in immer neuen Formen immer wieder aufbrechen wird, anders in unsrer Zeit als in vergangenen Tagen, anders im persönlichen Leben, anders in den großen Problemen des öffentlichen, des Völkerlebens, anders in der Jugend, anders im Alter, aber immer wieder aufbrechen. Weil Gott gesprochen hat, leiden wir an einer Wunde, die sich nie mehr und nirgends schließen kann. Die Menschen rufen nach Ruhe in dieser Unruhe, nach Trost in dieser Bedrängnis, sie kommen, wenn sie aller andern Beschwichtigung müde geworden sind, auch wohl zu uns in die Kirche. Die Kirche wird doch wissen, was sie zu tun hat?! Wissen, daß auch sie, wie so viele andere leidige Tröster, den Menschen nicht verstehen würde, wenn sie ihm jetzt entsprechen, wenn sie diese Ruhe, diesen Trost, die Beschwichtigung, daß es mit der Frage nach Gott eine so schlimme Sache nicht sei, ihm geben würde? Weiß sie nicht, daß diese Frage 22 

[Zu dem auf Richard Rothe (1799–1867) zurückgehenden Begriff »unbewußtes Chri­ stentum« vgl. A. Hausrath, Richard Rothe und seine Freunde, Bd. II, Berlin 1906, S. 363.405 f.]

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das Echo ist von Gottes Wort? Daß gerade in dieser Frage Gottes Hand auf den Menschen gelegt ist? Daß es vor Gott und darum auch vor jener unstillbaren Lebensunruhe keine Sicherung geben darf als die, die Gott selber schafft durch sein Wort, die wir aber geradezu verhindern, wenn wir sie schaffen wollen mit unserm Wort? Kann die Kirche sich anderswohin stellen als unter das Wort, d.h. aber ehrlicher, radikaler, folgerichtiger als die Welt in die Frage nach Gott und insofern mitten in die Welt hinein? Sollte es nicht sein, daß die Menschen – auch in dieser Hinsicht besser zu verstehen, als sie sich selbst verstehen – bei uns keineswegs das suchen, was sie zu suchen vorgeben, jenes Entrinnen, wo doch kein Entrinnen ist, jenen Frieden, der kein Friede sein kann,|449 jene Sicherheit, die morgen schon, auch als religiöse Sicherheit, zusammenbricht, sondern eine Stätte der Aufrichtigkeit und Folgerichtigkeit, wo anerkannt wird, wie es steht um uns, daß wir wirklich Gefangene Gottes sind und darum so in die Enge getrieben, darum so unfähig, uns zu beruhigen und beruhigen zu lassen, daß wir nach Gott nur fragen können und darin eben uns selbst zu erkennen haben, erkennen dürfen als angeredet von ihm: daß wir aus diesem Fragen nicht mehr herauskommen. Sollte die Kirche wirklich gut tun, sofern sie sich mit ihrem ministerium verbi an den Menschen wendet, ihn auf etwas anderes anzureden als darauf? Sollte sie es aber nicht wagen, ihn darauf freudig anzureden? Und wie sollte das Anliegen, das wahre Anliegen des Menschen besser auf seine Rechnung kommen, als wenn die Kirche in unbekümmerter Sachlichkeit ihrem eigenen Anliegen an den Menschen (das doch nicht ihr eigenes ist) nachgeht? IV. Die Antwort der Predigt ist grundsätzlich eine indirekte Antwort. Sie soll nicht selbst offenbaren wollen; sie soll aber als Erklärung des biblischen Zeugnisses auf die Offenbarung hinweisen. Wir haben in der Begründung des dritten Leitsatzes nicht von dem geredet, was die christliche Predigt tun soll, sondern von dem, was bei diesem Tun, sofern die Predigt sich an den Menschen wendet, zu wissen, zu bedenken und was darum zu unterlassen ist. Keinen Augenblick darf die Kirche vergessen, daß es sich, indem sie sich mit ihrem Menschenwort an die Menschen wendet, um das Wort Gottes handelt, das an diese gerichtet ist, und daß sie darum die Menschen nur unter dem ganz bestimmten Aspekt ansprechen darf, unter dem sie stehen als durch Gott angesprochen: als Gottes Gefangene, als Gottes Gefangene, auf ihre Frage nach Gott, auf ihre Frage nach Gott, so will ich akzentuierend noch einmal zusammenfassen. Aber nicht darin besteht das Anliegen der Predigt, den Menschen an diese seine Frage zu erinnern, ja sie geradezu als Feuerbrand

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in sein Herz zu schleudern, obwohl es nicht anders|450 sein kann, als daß das auch geschieht und geschehen muß. Das Wort Gottes selbst ist ja nicht Frage, sondern Antwort, positivste Antwort, sein Echo oder Reflex nur ist die Frage des Menschen. Welche Verkennung der Situation wäre es also, wenn die Verkündigung des Wortes Gottes sich auflösen würde in eine Darstellung der Problematik des Menschen! Damit würde sie ja den Menschen erst recht wieder bei sich selbst festhalten, für sich selbst interessieren, ihn in sich selbst, nämlich in seiner eigenen Problematik unter dem Vorwand, sie sei Reflex und Echo göttlicher Stimme, sich beruhigen lassen. Das hieße nicht das Kommen des Königs verkündigen; das wäre vielmehr die Erklärung: er kommt noch lange nicht. Also das, was im Dienst des Wortes zu geben ist, das ist dem Menschen gegenüber zweifellos Antwort auf seine Frage nach Gott. Wenn es auch Gott gegenüber immer selber nur ein Fragen nach ihm sein kann. Aber nun darf nichts vergessen werden von dem, was wir bis jetzt gesagt haben, weder das, daß Gottes Wort nur als sein eigenes, als das direkt aus seinem Munde gehende Wort Gottes Wort ist, noch das, daß unsere Aufgabe bei diesem göttlichen Tun Verkündigung, Ankündigung, Heroldsamt sein soll auf der Linie Johannes des Täufers, noch auch das zuletzt Gehörte, daß der Mensch, an den wir uns als ministri verbi wenden, als Mensch gerade als nach Gott Fragender von Gott angeredet ist und also von diesem Nach-Gott-Fragen unter keinen Umständen etwa durch unsre Worte dispensiert werden darf, weil sonst Gottes Wort, die Antwort, ihm verloren ginge. Aus diesen Prämissen ziehe ich den Schluß: Die Antwort der Predigt ist grundsätzlich eine indirekte Antwort. Indirekt heißt nicht: keine Antwort, heißt nicht: eine zweideutige, doppelsinnige, heißt nicht: eine ausweichende Antwort. Indirekt heißt eine Antwort, die klar und bestimmt auf die von einem andern gegebene und zu gebende Antwort verweist. Dieser Andere ist hier natürlich Gott und seine Antwort sein eigenes Wort. Dieser Hinweis ist das, was in der christlichen Predigt positiv zu geschehen hat. So gefaßt entspricht ihre Aufgabe den soeben noch einmal aufgestellten Bedingungen: Sie greift nicht ein in Gottes Belange, sie versieht aber ihren bestimmt umschränkten, aber gebotenen und notwendigen Dienst, mit dem sie sich an den Menschen wendet, ohne ihm doch etwas anderes zu erlauben, als sich mit seiner Frage an Gott selbst zu wenden. Der Verweis, von dem wir reden, ist der Verweis auf Gottes Offenbarung in Jesus Christus. Das ist das unwiederholbare, einzigartige, nur in sich selbst|451 begründete eigene Wort Gottes. Hier ist die Antwort gegeben auf die Frage des Menschen, die Antwort, daß wir einen heiligen und gnädigen Gott haben, bei dem für den Sünder Vergebung ist, für den Irrenden Gesetz, für den Verlorenen Errettung, für den Sterbenden Hoffnung, die Antwort: Siehe, ich mache alles neu! [Apk. 21,5]. Aber eben das können wir nicht offenbaren und sollen wir auch nicht offenbaren wollen. In dem Augenblick, wo wir das

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direkt mitteilen wollen als unser Erlebnis, als unsren Besitz, als unsre Gewißheit und wie das alles heißt, fallen wir Gott ins Wort, vergessen, daß alle Menschen Lügner sind [vgl. Röm. 3,4], und machen Gott durch Mißbrauch seines Namens unglaubwürdig bei den Leuten. Sondern darauf können wir nur, darauf sollen wir aber verweisen. Wir sind keine Propheten, keine Apostel, keine Zeugen der Auferstehung. Die Inanspruchnahme direkter Inspiration haben wir als Diener am Wort grundsätzlich zu unterlassen. Wir können aber legitime Zeugen zweiter Hand sein, indem wir uns an das Zeugnis halten, durch das der göttliche Befehl die Kirche geschaffen und erhalten hat, durch das er auch an uns kommt, das biblische Zeugnis von der Offenbarung. Die Ausführung jenes Verweises besteht darin, daß wir den »Befehl wiederholen«, wie der militärische Terminus lautet: »Wiederholen« kat1 pneæma zu verstehen: es geht darum, die Menschenworte der Schrift als Zeugnis von der Offenbarung zu verstehen, das Medium als Medium zu begreifen, den Versuch zu wagen, die Gedanken der biblischen Schriftsteller nachzudenken, ja endlich, in heiliger Treue in unsre Gedanken sie übersetzend, sie selber zu denken, um sodann, nicht in unserm eigenen Namen, nicht mit dem Anspruch, mehr zu sein, als uns zukommt, sondern als sorgfältige, aber unsre ganze Sorgfalt auf den verborgenen Skopus des Textes verwendende Ausleger und Erklärer der Schrift von Gott zu reden zu den Menschen. Zu den Menschen. Predigt fällt nicht zusammen mit Exegese überhaupt, obwohl sie in ihrer Substanz nichts anderes sein kann als eben Exegese. Sie hat sich aber, die Gedanken der Schrift nachdenkend, selber denkend, an die Menschen zu wenden, das Gespräch zu führen zwischen dem ewigen Anliegen Gottes und den zeitlichen Anliegen der Menschen – aber als Gottes Parteigängerin –, die kleinen Fragen der Menschen in das Licht der großen Antwort Gottes zu ­r ücken und dadurch in Zusammenhang mit ihrer eigenen großen Frage und dadurch die große Antwort Gottes ihnen ans Herz zu legen. Aber das alles »scriptura duce et|452 magistra« (Calvin)23, nicht auf eigene Faust. Wo das geschieht, nicht mehr als das, aber das in vollem Ernst, in Furcht und Zittern [vgl. 1. Kor. 2,3 u.ö.], weil die Verantwortlichkeit auch so eine erdrückende ist, aber auch in Freudigkeit, weil es eine legitim überbundene und übernommene Verantwortlichkeit ist, da ist die wahre Kirche, auch die wahre sichtbare Kirche, die Kirche, die nichts anderes will als dienen und die in der strengen Beschränkung, die sie sich auferlegt weiß, nicht als Meister, aber als treuen Knecht sich sehen lassen darf auch vor den Leuten. Denn wenn der Verweis, der das Wesen ihres Dienstes ist, aufmerksam und sachgemäß vollzogen wird, wenn wir uns wirklich halten an den Befehl, wie er uns selbst gegeben ist, dann wird es zwar nicht 23 

[J. Calvin, Inst. I 6 (Überschrift): »Ut ad Deum creatorem quis perveniat, opus esse scriptura duce et magistra.«]

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ausbleiben, daß wir vor Gott immer noch unnütze Knechte sind, zu den Menschen aber, die das mit uns auch sind, sagen dürfen, daß wir getan haben, was wir zu tun schuldig waren [vgl. Lk. 17,10]. Was wir brauchen, gerade heute, wo die schwerste Bedrängnis der Kirche wahrlich nicht von außen kommt, sondern von innen, aus der Verkennung der Distanzen, Kräfte und Möglichkeiten, aus der Unklarheit über das, was wir sollen und wollen, über das, was unsrer protestantischen Kirche insbesondere wieder – nicht ein prahlerisches Selbstbewußtsein gegen »Rom«, davon haben wir genug und übergenug, aber – Daseinsberechtigung als wirkliche christliche Kirche geben müßte, das wäre die Rückkehr zu einer strengen, bescheidenen, aber heimlich höchst unbedingten Schrifttheologie, – wenn Sie auch das kat1 pneæma verstehen wollen: zu einer reformierten Theologie, wie sie auch die ­Luthers war. Mit ihr hat der Protestantismus begonnen. Wenn er auf die Dauer auf anderer Grundlage weiter da sein wollte, so hätte er keine Daseinsberechtigung. V. Für die wissenschaftliche Theologie ergeben sich unter diesem Gesichtspunkt beispielsweise folgende Problemstellungen: Für die biblische Exegese: Verständnis der Schrift als des ordnungsmäßigen Mediums zwischen der Offenbarung und der gegenwärtigen Verkündigung (Kanon); für die Dogmatik: Besinnung auf die aus der Relation zwischen|453 Offenbarung, Schrift und Verkündigung sich ergebenden Grundsätze der Predigt; für die Homiletik: die Kunstlehre einer Rede, die wirklich den Menschen vor Gott stellen soll. Fürchten Sie nicht, daß ich Sie nun noch mit einer ganzen theologischen Enzyklopädie überfallen werde. Das wird nur schon aus dem Grund nicht geschehen, weil ich, ehrlich gestanden, durchaus noch nicht weiß und vielleicht nie wissen werde, wie eine theologische Enzyklopädie unter den ausgeführten Voraussetzungen aussehen müßte. Auch die drei Punkte, in denen ich »beispielsweise« zu formulieren versucht habe, wie ich mir die Problemstellung gewisser theologischer Disziplinen denke, sind anspruchsloser gemeint, als sie vielleicht aussehen, sollen mehr Fragen sein als Antworten. Fragen an Stellen, wo mir die Not besonders brennend scheint. Ich habe diese These eigentlich nur aufgestellt, um einen Anspruch anzumelden, und will mich darüber ganz kurz fassen. Der Anspruch geht dahin, daß, wenn die entwickelten Gesichtspunkte notwendig und richtig sind, die wissenschaftliche Theologie unmöglich daran vorübergehen kann. Das Wort Theologie, Schrifttheologie, ist ja schon am Ende des letzten Absatzes gefallen. Die Selbstbesinnung der Kirche auf das, was sie soll und was sie kann, muß ganz von selbst zu einer Selbstbesinnung der Theologie werden. Wenn die Kirche wieder weiß, was sie will, dann wird es auch die Theo-

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logie wieder wissen. Vielleicht daß sie sich sogar entschließen müßte, voran zu gehen. Jedenfalls darf sie nicht zurückbleiben. Die Sache geht sie mindestens ebensosehr an wie die Kirche. Mit der Kirche steht sie, und mit der Kirche fällt sie. Ich will auf die alte Klage nicht eintreten, daß die neuere Theologie geradezu von der Unkirchlichkeit ihrer Methoden lebt, weil sie allzu wahr ist. Es gehört auch einmal der Finger darauf gelegt, daß, wie jedes Volk die Regierung, so jede Kirche die Theologie hat, die sie verdient, daß die Kirche (ich meine auch und ich meine gerade die »positive« Richtung in der Kirche) die Klage über Unkirchlichkeit der Methode vielleicht auch einmal gegen sich selbst erheben sollte. Oder weiß die heutige Kirche etwa besser als die heutige Theologie, was »Wort Gottes« ist in seiner positiven und negativen Beziehung zum Menschenwort? Aber ich will damit die Theologie nicht|454 entschuldigen. Wir brauchen zweifellos eine an Haupt und Gliedern neue, nicht eine sog. »gläubigere«, nicht eine unkritischere, nicht eine praktischere, aber eine sachlichere Theologie. Und ihre Sachlichkeit müßte darin bestehen, daß sie im Unterschied zu allen andern Fakultäten als christliche Theologie, wie ihr Name sagt, mit der Kategorie l8goV toæ qeoæ wieder rechnen lernen würde wie die Mathematik mit ihren Axiomen, wie die Physik mit dem Gesetz der Erhaltung der Kraft. Ohne das, als sog. Religionswissenschaft, ist sie gegenstandslos. Ausgehend von dem Axiom, dem Gesetz, der Wahrheit so klar wie die Sonne, daß Gott in Jesus Christus gesprochen hat, spricht und sprechen wird, würde sie mit unaufhaltsamer Konsequenz das, was wir vorhin als Schrifttheologie bezeichnet haben. Ich will die in der These erwähnten Punkte nur streifen. Sie müßte als Bibelexegese vor allem den Begriff des Kanons wieder kaltblütig ernstnehmen lernen, das Alte und Neue Testament durchaus nicht als irgendeine fromme Literatur lesen, was jeder Philologe oder Religionshistoriker auch kann, sondern als diejenige Stelle, wo die christliche Kirche merkwürdigerweise jenen Befehl zu bekommen, jenes Medium zu sehen meint, durch das sie in die Offenbarung hineinsieht, durch das die Offenbarung sie zur Predigt nötigt. Rein historische Bibelforschung ist eine in sich mögliche und sinnvolle Sache, aber sie spielt sich außerhalb der Theologie ab. Der Begriff der Geschichte ist kein theologischer Begriff. In der Theologie kann alles historische Betrachten und Analysieren nur Randglosse, Parergon, Prolegomenon sein. Paulus der Apostel, nicht Paulus der fromme Mensch oder Denker ist Gegenstand der theologischen Exegese. Sie müßte als Dogmatik vor allem bescheidener werden, nicht gleich den ganzen christlichen Glauben oder gar die sog. »christliche Weltanschauung»24 beschreiben wollen, sondern sich 24  [Vgl. z.B. J. Kaftan, Dogmatik, Tübingen 19013/4, wo die §§ 25 (S. 247 ff.) und 26 (S. 257) mit »Die christliche Weltanschauung« überschrieben sind, sowie den Untertitel der Glaubenslehre von H. Stephan (siehe oben Anm. 17).]

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an die doch wahrhaftig gewiesene Aufgabe halten, Erzieherin zu sein zu einem strengen, seiner besonderen Kategorien bewußten christlichen Denken, – statt den beiden großen Götzen: der Apologetik und dem System zu opfern, nach innen sich zu wenden, die Predigt der Kirche an den beiden Instanzen, auf die sie|455 sich angeblich bezieht, Offenbarung und Schrift, zu messen, und sie an die aus dieser Relation sich ergebenden Grundsätze zu erinnern. Sie müßte als Homiletik eine »Kunstlehre»25 sein wollen, die den zukünftigen Prediger auf das Gedränge zwischen Gott und den Menschen, das seiner wartet, vorbereitet, nicht um ihm Anweisungen zu geben, sich daraus zu befreien, sondern um ihm klar zu machen, daß dort eben, in der Folge von Niederlagen, die seiner dort warten, die allenfalls »gut« zu nennenden Predigten geboren werden. Ich breche kurz ab. Das alles sollen ja nur Pfeile der Sehnsucht sein, um aufmerksam zu machen darauf: wir haben auch in der Theologie alle Hände voll zu tun, wenn es je in Zukunft auch da etwas mehr Ernst, sachlichen nüchternen Ernst gelten sollte als bisher. Als theologischer Reformator fühle ich mich nicht, ich weiß warum, ich weiß nämlich, wie schwer es ist, die Sache auch nur im kleinsten Punkt wirklich anders, geschweige denn wirklich besser zu machen, als sie in den letzten zwei Jahrhunderten gemacht worden ist. Aber einzusehen, daß und in welcher Richtung eine Sache anders und besser gemacht werden müßte, ist vielleicht auch schon etwas wert. VI. Die menschliche Möglichkeit der Predigt sowohl als der wissenschaftlichen Theologie steht und fällt mit der Bitte um den Heiligen Geist, durch den Gott sein Wort selbst spricht und zu Gehör bringt und sich damit zum Dienst seiner Kirche bekennt. Es würde mir leid tun, wenn diese meine letzte These als frommer Schnörkel unter das Ganze aufgefaßt würde. Ich meine damit, daß ich zum Schluß auf die Bitte um den Geist hinweise als auf das Eine Notwendige [vgl. Lk. 10,42], das wir tun müssen, nur noch einmal den|455 Punkt zu bezeichnen, auf dessen Herausarbeitung mir heute alles ankam: daß die christliche Predigt wirklich und wahrlich Gottes Wort ist und sein soll, daß sie aber als Menschenwort ganz und gar lebt von dem Wort, das aus Gottes eigenem Munde geht [vgl. Mt. 4,4], ganz und gar diesem dienen soll. Die Situation, die sich daraus für die Kirche ergibt, ist hart. Es ist eben hart, sich unter die Hebr. 11,1 gestellte Bedingung wirklich zu stellen. Wir haben von der Voraussetzung gesprochen, ohne die die 25 

[Zum Ausdruck vgl. Fr. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums (18302), hrsg. von H. Scholz, Leipzig 1910, S.53.55(§§133 f.138).]

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Predigt unmöglich ist. Aber wer setzt sie, wer gibt sie uns, diese Voraussetzung, das wirkliche eigene Sprechen Gottes, wenn die Kirche redet? Wer macht uns gewiß, daß die Stimme, von der sich die Kirche angeredet und zum Reden veranlaßt fühlt, keines Dämons, nicht unsrer eigenen Stimme spottendes Echo, sondern Gottes Stimme ist? Wir haben uns besonnen auf das, was ministerium verbi unter diesen Umständen bedeuten müsse. Aber wer gibt uns den Mut und die Demut, eine Arbeit zu tun, die, vielleicht in prägnanterem Sinn als irgendeine andre Arbeit, ein Dienst und nur ein Dienst sein kann? Wie soll das menschenmöglich sein, ohne alle Mystik und Aufgeregtheit, in ruhiger, zielbewußter Arbeit, doch eben bei jedem einzelnen Schritt Gott und in immer neuen Brechungen und Zerbrechungen immer wieder Gott die Ehre zu geben und dessen froh zu sein, daß uns dieses Amt gegeben ist [vgl. 2. Kor. 5,18]? Und dann haben wir zuletzt von der Theologie und ihren Aufgaben wenigstens ein paar flüchtig streifende Worte gesagt: brauche ich zu sagen, daß sie es sich zweimal überlegen wird, bevor sie aus der Behäbigkeit und Sicherheit dessen, was sie jetzt wissenschaftliche Methode nennt, sich herauslocken lassen wird auf den freien weiten Ozean ohne Grund und Boden, wo es außer dem freien selbstherrlichen Wort gar nichts gibt, was den Menschen hält? Die Situation ist hart, die wir als unsre eigene erkannt haben. Ich wollte nicht schließen, ohne auf die letzte Möglichkeit, die ultima ratio hingewiesen zu haben, die in dieser Situation in Betracht kommt. Auf des Menschen Seite nämlich, soweit das Auge reicht. Jenseits des Letzten, was die Kirche tun kann, ihres Gebets, steht Gott und spricht sein Wort und bekennt sich zum Dienst der Kirche, die wirklich seine Kirche ist. Die Wirklichkeit des eigenen Wortes Gottes in der Predigt ist der Heilige Geist. Die Lücke, der Hohlraum, auf den wir überall stießen in unsern Erwägungen, die Stelle, wo unser Glaube, immer wieder unser Glaube erfordert würde, diese rätselhafte Stelle, wo wir als Abrahams Kinder uns an nichts als an die Ver-|457 heißung klammern können, ist der Ort, wo der Geist mit der Fülle seiner Gaben alles wahr macht, wonach wir als Pilger in der Ferne immer nur ausschauen können. Auf des Menschen Seite bleibt das Gebet, das starke Schreien nach der Wirklichkeit Gottes, die letzte Möglichkeit. Sie weist zurück und erinnert uns an Not und Kampf. Sie weist vorwärts und erinnert uns an das brabeçon, an die =nw klΩsiV (Phil. 3[,14]), auf die hin wir laufen. Daß wir laufen und nicht müde werden [vgl. Jes. 40,31], das wird uns selber immer unbegreiflich sein. Das ist die Treue und Barmherzigkeit des Herrn der Kirche, der uns gerufen hat.

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8.2  Rudolf Bultmann: Hermeneutische Homiletik  Rudolf Bultmann, Echte und säkularisierte Verkündigung im 20. Jahrhundert (1955), Universitas (10) 1955, S. 699–706; jetzt in: Ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Dritter Band, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 31965, S. 122–130.

Was heißt Verkündigung? Offenbar ist Verkündigung nicht einfache Mitteilung von Tatsachen. Wenn naturwissenschaftliche oder historische Forschung eine Entdeckung gemacht hat, so ist deren Mitteilung keine Verkündigung. Ebenso ist Verkündigung von Lehre oder Belehrung zu unterscheiden; der Vortrag etwa mathematischer oder philosophischer Lehren ist keine Verkündigung. Warum? Verkündigung meint doch eine Kundgabe, die den Hörer unmittelbar anredet und zu einem bestimmten Verhalten auffordert. Indirekt kann freilich auch eine Tatsachenmitteilung Verkündigung sein. Wenn ich z.B. den Vortrag eines Historikers über das Geschichtsbild und die Europapolitik des Nationalsozialismus höre, so vernehme ich darin zugleich einen Appell, einen Aufruf zu politischer Besinnung. Indirekt kann auch philosophische Belehrung den Charakter von Verkündigung gewinnen. Wenn sie z.B. das Wesen des menschlichen Seins und den Sinn von Gewissen und Entscheidung klarlegt, so kann sie den Leser oder Hörer zur Besinnung auf sich selbst führen und ihm die Frage nach der Echtheit seiner Existenz brennend machen und so als Appell wirken. Ich zögere nicht, derartige Mitteilung oder Besinnung echte Verkündigung zu nennen. Aber wenn ich nach dem Unterschied zwischen echter und säkularisierter Verkündigung gefragt werde, so ist dabei offenbar vorausgesetzt, daß echte Verkündigung religiöse oder speziell christliche Verkündigung ist. Nur von einer solchen kann ja gesagt werden, daß sie säkularisiert wird. Der in einer Mitteilung oder Belehrung enthaltene Appell kann wohl säkular heißen, aber nicht säkularisiert. Worin also besteht die Eigenart religiöser und speziell christlicher|123 Verkündigung? Daß sie Anrede, Aufruf ist, versteht sich von selbst. Deshalb wird sie im Neuen Testament oft Kerygma, d.h. Heroldsruf, oder Evangelium, d.h. Botschaft, genannt. Der Ruf, der in ihr erklingt und vernommen wird, ist der Ruf Gottes. Für viele Menschen ist heute die Kunst solche Verkündigung, sei es die Dichtung oder die bildende Kunst. Aber spricht sich in der Kunst anderes aus als der Mensch selbst in seinen reichen und abgründigen Möglichkeiten? Bringt sie nicht so dem Hörer oder Betrachter seine eigenen Möglichkeiten zum Bewußtsein, bald beglückend, bald erschreckend? Es ist freilich möglich, daß auch die Kunst zu einer indirekten Verkündigung wird, wenn sie das menschliche Sein in einer Tiefe enthüllt, daß sie die Fragwürdigkeit des Menschen und seine Grenzen zum Bewußtsein bringt. Aber ist sie damit Anrede Gottes und nicht

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nur die Anrede des sich bis auf den Grund seines Daseins prüfenden Menschen an sich selbst? Aber wie redet denn Gott den Menschen an? Das Alte Testament kennt Gottes in der Natur erklingende Anrede. »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Feste verkündigt seiner Hände Werk.« Diese Verkündigung zwingt den Menschen zur Bewunderung, zu Schrecken und Ehrfurcht, daß er seiner Kleinheit inne wird angesichts der in der Natur obwaltenden Macht Gottes. Aber diese Verkündigung wendet sich nicht an die Reflexion. Es ist Säkularisierung, wenn Gottes Anrede in der Natur verstanden wird als die Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Naturgeschehens, aus denen man auf die Weisheit des Schöpfers schließen möchte. Aber so gesehen verkündigt die Natur in Wahrheit nichts mehr. Denn die so erfaßte Weisheit ist keine andere als die des Menschen, nicht die des Schöpfers. Nach der Bibel sind aber Gottes Herolde vor allem Menschen, im Alten Testament die Propheten, im Neuen Jesus von Nazareth und die Apostel. Was sie verkünden, sind nicht ihre eigenen Gedanken und Urteile, sondern der Ruf Gottes, den sie verkünden müssen, ob sie wollen oder nicht. »Der Löwe brüllt, wer fürchtet sich nicht? Jahwe redet, wer wird nicht Prophet?« – so formuliert es der Prophet Amos. Solche Rede des Boten ist Rede mit Autorität, mit einer Autorität, wie menschliche Rede sie sonst nicht hat. Aber der Herold redet ja nicht aus eigener Autorität und beansprucht für seine Person keine Geltung, wie Paulus sagt: »Wir verkünden nicht uns selbst, sondern Christus Jesus als Herrn.« Über diese Verkündigung gibt es daher keine Diskussion; sie fordert einfach Glauben. |124 Echte christliche Verkündigung ist also eine solche, die Ruf Gottes durch Menschenmund zu sein beansprucht und die als Autorität Glauben fordert. Ihr ist eben die Paradoxie eigen, daß in ihr Gottes Ruf im Menschenwort begegnet. Diese Paradoxie ist am deutlichsten im Johannes-Evangelium zum Ausdruck gebracht. Hier ist in aller Schärfe der Anstoß deutlich gemacht, den Jesus, ein Mensch, bietet durch seinen Anspruch, als Offenbarer das Wort Gottes zu reden. Die Worte, die er redet, sind Gottes Worte; er redet nicht von sich aus. Diese Paradoxie spricht der Prolog des Evangeliums in dem Satz aus: »Das Wort ward Fleisch.« Diese Paradoxie gilt aber auch für die kirchliche Verkündigung. »Wer euch hört, der hört mich, und wer euch verwirft, der verwirft mich« spricht Jesus im Lukas-Evangelium. Und in diesem Sinne sagt Paulus, daß Gott, indem er durch Christus die Welt mit sich versöhnt hat, zugleich den »Dienst«, das »Wort« von der Versöhnung eingesetzt hat; und daher kann er sagen: »So sind wir denn Gesandte an Christi Statt, dergestalt, daß Gott durch uns ruft.« Als Gottes Wort hat die Verkündigung der Kirche ihren Sinn, da der Prediger nicht seine eigene Anschauung vorträgt, nicht von sich aus mahnt und tröstet, sondern das Wort Gottes weitergibt als autoritatives Wort.

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Mit alledem ist die Verkündigung zunächst nur formal charakterisiert; aber diese formale Beschreibung ist entscheidend wichtig, da sie einen Maßstab gibt, an dem echte Verkündigung zu messen ist. Denn damit ist gesagt, 1. daß christliche Verkündigung nicht die Vermittlung einer Weltanschauung ist, daß sie nicht allgemeine Wahrheiten vorträgt, über deren Gründe man reflektieren, über die man diskutieren kann. Sie ist durch Menschen vermittelte autoritative Anrede, die Glauben fordert. Es kommt alles darauf an, daß sich die kirchliche Verkündigung dessen bewußt ist, und daß sie als wirkliche Anrede den Hörer in seiner konkreten Situation trifft, so daß er sich gefragt, gefordert, getröstet weiß, daß er nicht ausweichen kann. Es ist damit 2. gesagt, daß die Verkündigung nicht mit Belehrung verwechselt werden darf. Das soll nicht heißen, daß die Predigt nicht auch belehren und das Denken der Hörer anregen könne und auch solle; und angesichts mancher langweiligen Predigten, die man hören muß, ist zu wünschen, daß die Predigt auch interessant ist. Aber alles Belehrende und Interessante hat in der Predigt nur sein Recht, wenn es im Dienste der Verkündigung steht, wenn die Predigt zeigt, welche Fragen in diesem oder jenem Lebensgebiet enthalten sind und welche Antwort sie im Licht des Wortes Gottes empfangen. |125 Die Verkündigung wird auch säkularisiert, wenn sie ethische Belehrung ist; denn eine solche gibt es auch außerhalb des Glaubens, und man kann sie sich bei Heiden wie Sokrates holen. Es gibt, auf den Inhalt der moralischen Forderungen gesehen, keine spezifisch christliche Ethik; und wenn man etwa das Liebesgebot als ein spezifisch christliches Gebot bezeichnen wollte, so soll man bedenken, daß Paulus das Liebesgebot die Zusammenfassung der Gebote des Gesetzes nennt; diese aber können jedem Menschen bekannt sein, ehe er die christliche Verkündigung gehört hat. Jedermann hat ein Gewissen und kann wissen, was gut und böse ist. Echte christliche Verkündigung hat in bezug auf die Ethik nicht besondere Forderungen vorzubringen, aber sie hat zweierlei deutlich zu machen. Einmal die Frage, die jeder an sich selbst zu richten hat, wie denn sein tatsächliches Verhalten jenen wohlbekannten Forderungen entspricht. Und wenn er dann – wie zu erwarten – zugibt, daß er nicht vollkommen ist, sondern sich oft und immer wieder verfehlt, so hat sie ihn dahin zu führen, daß er sich nicht damit tröstet, seine Mängel als ein bloßes »Noch nicht« anzusehen und im strebenden Sich-Bemühen darüber hinauszukommen (so gewiß solches Streben gefordert ist), sondern daß er sich fragt, worin dieses ständige »Noch nicht« seinen tiefsten Grund habe, und daß er dann dessen inne wird, daß er nicht die Kraft hat, des Bösen in ihm Herr zu werden, von sich selbst als dem alten Menschen frei zu werden, sondern nur mit jenem Zöllner sprechen kann: »Gott, sei mir Sünder gnädig!« Echte Verkündigung hat also dem Menschen zu zeigen, daß er der Vergebung bedarf, und ihre Paradoxie kommt darin zutage, daß sie als Menschenwort die Vergebung Gottes zuspricht.

8.2  Rudolf Bultmann: Hermeneutische Homiletik

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Säkularisiert ist die Verkündigung, wenn die Befreiung, die sie als Gottes Vergebung dem Menschen zuspricht, zum Geschäft des Psychotherapeuten gemacht wird, der durch seine Methode die Befreiung des Menschen, so wie er durch seine Vergangenheit geworden ist, herbeiführen will. Der Vergebung Gottes bedarf es dann nicht mehr. Der Therapeut hat den Beichtvater ersetzt. Und doch zeigt sich darin, daß so viele Menschen zum Therapeuten ihre Zuflucht nehmen, ein Angewiesensein auf Autorität und ein Verlangen nach ihr; es zeigt sich vor allem darin, daß der Patient dem Therapeuten gegenüber so oft »hörig« wird. Das andere, was echte Verkündigung in der Frage der Ethik zu sagen hat, betrifft das Liebesgebot. Sie hat nämlich zu zeigen, daß nur derjenige Mensch dieses Gebot erfüllen kann, der von sich selbst|126 zu reiner Hingabe an den andern befreit ist. Freiheit ist keine natürliche Eigenschaft des Menschen, sondern sie ist nur jeweils Ereignis, und sie wird Ereignis da, wo der Mensch durch das Wort der Vergebung von sich selbst befreit ist und dadurch offen für die ihm im Nächsten begegnende, Antwort heischende Frage. So wenig wie christliche Verkündigung ethische Belehrung oder therapeutische Behandlung ist, so wenig ist sie dogmatische Belehrung. Dogmatische Belehrung ist keine Anrede, kein autoritatives Wort, das Glauben fordert. Nur scheinbar ist das der Fall, wenn nämlich zur Belehrung die Forderung hinzugefügt wird, daß man das, was da gesagt wird, glauben müsse. Wohl läßt sich der Inhalt der Verkündigung auch in dogmatischen Sätzen formulieren. Die Tatsache z.B., daß die Verkündigung den Menschen daraufhin anredet, daß er der Vergebung Gottes bedarf, kann in der Lehre von der Erbsünde zum Ausdruck gebracht werden. Aber die glaubende Annahme solcher Verkündigung findet ihren Ausdruck nur in dem Bekenntnis: »Gott, sei mir Sünder gnädig!« und nicht in der Zustimmung zu einem Dogma von der Erbsünde. In Wahrheit ist es, so seltsam es klingen mag, Säkularisierung der Verkündigung, wenn Predigt oder Unterricht dogmatische Sätze vortragen, die man glauben soll. Denn dogmatische Sätze haben den Charakter von allgemeinen Wahrheiten, die man für wahr halten kann. Aber Für-wahr-Halten heißt nicht Glauben. Luther hat das gewußt, wenn er in der Erklärung des 2. Glaubensartikels alle dogmatischen Aussagen dem einen Satz unterordnet: »Ich glaube, daß Jesus Christus … sei mein Herr.« Oder wenn er in seiner Vorlesung über den Römerbrief sagt: »An Christus glauben heißt, auf ihn mit dem ganzen Herzen gerichtet sein und alles auf ihn hin orientieren.« An Christus glauben heißt nicht, hohe Lehren über seine Person für wahr halten, sondern dem Wort glauben, in dem er uns anredet, durch das er unser Herr werden will. Wir sind, indem wir von Christus redeten, unvermerkt von der formalen Charakteristik der christlichen Verkündigung zu ihrem Inhalt übergegangen.

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8.  Die Krise der Predigtpraxis

Denn worin besteht dieser? In der Weihnachtsgeschichte erklingt die Engelbotschaft: »Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren!« Entsprechend heißt es im Titusbrief: »Erschienen ist die Gnade Gottes allen Menschen zum Heil.« Inhalt der Botschaft ist also ein Ereignis, eine geschichtliche Tatsache: die Erscheinung Jesu von|127 Nazareth, seine Geburt, aber damit zugleich sein Wirken, sein Tod und seine Auferstehung. Paulus kann auch sagen, daß der Inhalt seiner Verkündigung das Kreuz Christi sei, oder er kann sagen: »Wenn du mit deinem Munde Jesus als den Herrn bekennst und mit deinem Herzen glaubst, daß Gott ihn von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet werden.« Dann wäre also echte christliche Verkündigung doch die Mitteilung einer historischen Tatsache? Ja und Nein! Denn es ist die Mitteilung einer historischen Tatsache, die zugleich etwas mehr, etwas anderes ist als eine historische Tatsache, so daß auch die Mitteilung etwas anderes ist als bloße Mitteilung. Wenn in der Engelbotschaft die Geburt Jesu die des »Heilands«, d.h. des Retters genannt wird, und wenn im Titusbrief seine Erscheinung als die der »Gnade Gottes allen Menschen zum Heil« bezeichnet wird, so wird in der ­Sprache geredet, die wir als die der Eschatologie bezeichnen. Eschatologie ist die Rede von den »letzten Dingen«, vom Ende dieser Welt und vom Anbruch einer neuen Welt. Die Engelbotschaft und das Wort des Titusbriefes antworten auf die Frage und die Sehnsucht der Menschen: »Wann kommt das Heil der Welt? Wann bricht der große Tag an, an dem das Licht aufstrahlt, das alles Dunkel des Erdenlebens vertreibt?« Das ist also der Inhalt der Verkündigung: die Erscheinung Jesu ist das Ende der alten Welt und der Anbruch der neuen. So hat Paulus es verstanden, wenn er sagt: »Als die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn.« Und deshalb kann er seine Leser anreden: »Siehe, jetzt ist die hochwillkommene Zeit; siehe, jetzt ist der Tag des Heils.« Und deshalb läßt das Johannes-Evangelium Jesus sprechen: »Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tode ins Leben hinübergeschritten.« Jesu Erscheinung ist also nicht als eine innergeschichtliche verstanden, sondern als das Ende der Geschichte. Aber die Paradoxie der Verkündigung ist die, daß das Ereignis, das der Geschichte ein Ende setzt, innerhalb der Geschichte geschehen ist. Die Mitteilung dieses Ereignisses ist deshalb etwas anderes als sonst die Mitteilung geschichtlicher Ereignisse, und sie ist recht verstanden nur, wenn sie als der Anruf verstanden wird, in der Erscheinung Jesu das Ende der Welt zu sehen. Aber in welchem Sinne? Der ältesten Christenheit kam die Paradoxie zunächst nicht zum Bewußtsein; denn nach ihrer Meinung stand das Ende der Welt un-|128 mittelbar bevor. Aber heute, da die Welt weiterbesteht und die Geschichte weiterläuft?

8.2  Rudolf Bultmann: Hermeneutische Homiletik

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Nun, jedenfalls gemessen am Neuen Testament, sagt die christliche Verkündigung, daß die Erscheinung Jesu kein innerweltliches Ereignis sei, sondern das Ende der Welt bedeute. Demnach ist die Verkündigung dort säkularisiert, wo Jesus als innergeschichtliche Erscheinung verstanden wird, als Phänomen der Geistesgeschichte, als Heros und Vorbild der Frömmigkeit, als Bringer einer neuen reinen Ethik, wo von den heilsamen Wirkungen geredet wird, die von ihm ausgegangen sind, und sei es in noch so hohen Worten. Aber wie kann echte Verkündigung heute jene Paradoxie verkündigen? Jedenfalls nicht so, daß sie eine Erzählung von Jesu Leben und seinen Taten gibt; denn dann hätte sie sich in historische Mitteilung aufgelöst. Echte Verkündigung verkündigt ihn als das Ende der Welt, wenn sie ihn als den Herrn verkündigt. »Herr ist Jesus Christus«, das ist das älteste christliche Bekenntnis. Was heißt das? Es heißt: die gleiche Paradoxie für das eigene Leben gelten zu lassen und, obwohl innerhalb dieser Welt lebend, ihr doch enthoben zu sein, sich von ihr schon gelöst zu haben. Es heißt: sein Leben nicht auf das Hiesige und Jetzige, auf die in ihren Gesetzen durchschaubare, verfügbare und beherrschbare Welt zu gründen. Es heißt: in den Zwecken weltlichen Tuns keine letzten Zwecke, in dem Sinn weltlicher Arbeit keinen letzten Sinn zu sehen. Es heißt: solange wir in der Welt sind, ihr in jener Distanz gegenüberzustehen, die Paulus als die Haltung des »als ob nicht« bezeichnet: »Die Weinenden als weinten sie nicht, die Fröhlichen als freuten sie sich nicht« usw. Es heißt deshalb auch: durch Not und Leid sich nicht in Verzweiflung bringen zu lassen, sondern vielmehr in jene Distanz, die dann das Wort des Paulus nachsprechen läßt: »Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark«, weil er den Herrn zu sich sprechen hört: »Genug ist dir meine Gnade; denn die Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung.« Es heißt endlich: die Herrschaft des Herrn verstehen zu lernen als das Geschenk der Freiheit, in der der Mensch von sich selbst frei zu einem neuen Menschen wird. In diesem Sinne Jesus als den Herrn anzuerkennen, heißt glauben. Glauben heißt in Einem: Vertrauen und Gehorchen. Es heißt aber nicht: irgendwelche Lehren über Christus annehmen. Wohl hat die alte Kirche all das, was Christus bedeutet, in dogmatischen Lehren zum Ausdruck gebracht, und diese Lehren haben sich in der kirch-|129 lichen Tradition fortgeerbt. Als symbolischer Ausdruck dessen, was Christus für uns ist, mögen solche Bekenntnisse weitergesprochen werden. Wo sie aber als Glaubensgesetze den Menschen auferlegt werden, sind sie mißbraucht, und an die Stelle echten Bekennens ist dann die Zustimmung zu Lehren getreten. Echte Verkündigung ist eine solche, die Jesus Christus als Herrn verkündigt, in welchen Worten und Begriffen auch immer. Es kommt darauf an, daß er im verkündigten Wort selbst als der Herr gegenwärtig ist, und daß, wo dieses Wort

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8.  Die Krise der Predigtpraxis

erklingt, das Ende der Welt für den Hörer gegenwärtig wird, indem es diesen vor die Entscheidung stellt, ob er zur alten oder zur neuen Welt gehören will, ob er der Alte bleiben oder ein Neuer werden will. Wo erklingt dieses Wort? Die christliche Kirche will es in jedem Gottesdienst erklingen lassen. Es wäre jedoch falsch zu meinen, daß nur der offizielle Prediger der rechte Verkündiger sein könne. Luther sagt an einer Stelle seiner Römerbrief-Vorlesung, indem er zugleich den falschen Dogmenglauben kritisiert, daß die Häretiker wohl bekennen und sich dessen rühmen, daß sie an Christus glauben, »entsprechend dem, was die Evangelien von ihm reden, daß er geboren ward, gelitten hat, gestorben ist. Aber sie glauben nicht an das, was ihm eigentümlich zugehört. Und was ist das? Die Kirche, d.h. auch jedes Wort, das aus dem Munde eines Predigers der Kirche oder eines guten und heiligen Mannes kommt, ist ein Wort Christi, der sagte: ›Wer euch hört, der hört mich‹«. Es gilt, an Christus zu glauben, »wo und durch wen er redet. Daher muß man sich ernstlich in acht nehmen, daß wir nicht im eigenen Sinn hartnäckig sind, damit wir nicht Christus widerstehen und ungläubig sind, von dem wir nicht wissen, wann, wo, wie und durch wen er zu uns redet. Und es geschieht fast immer hier und dann, auf irgendeine Weise und durch irgendwen, wo und wie wir es nicht vermuten«. Ja, man kann schließlich auch fragen, ob die Verkündigung immer nur im gesprochenen Wort erfolgen muß, und ob sie nicht auch durch wortloses Tun geschehen kann. Gewiß kann auch die Tat den Charakter der Anrede haben. Nur handelt es sich bei einem Tun, das als christliche Verkündigung wirken kann, nicht um die etwaigen Wirkungen der christlichen Religion in der abendländischen Kultur, sondern um den Erweis christlicher Liebe von Mensch zu Mensch. Steht nicht das Werk Albert Schweitzers als Verkündigung durch die Tat vor uns? Die Tat der Liebe öffnet dem, der sie empfängt, den Weg,|130 von sich frei zu werden, indem er hineingezogen wird in das Reich des Waltens der Liebe und angeleitet wird, auch das von Menschenmund gesprochene Wort der Verkündigung als Gottes Wort zu verstehen.

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9.  Entwicklungen der Homiletik im Kontext   der »empirischen Wende« in der Praktischen Theologie:   Ernst Lange, Gert Otto, Axel Denecke

Einführung »Die Predigt nach dem 2. Weltkrieg führt die im Kirchenkampf begonnenen Ansätze weiter: sie will grundsätzlich Text-Predigt sein, zu Kirche und Gemeinde führen, zugleich aber auch der neuen Öffentlichkeits-Verantwortung des Chri­sten wie der Christenheit Rechnung tragen. […] Das Verständnis der Predigt als der das Heilsgeschehen vergegenwärtigenden Verkündigung, die das Kerygma herausarbeitende […] Exegese des Textes, die Rücksicht auf die soziologisch-religionssoziologischen Strukturwandlungen der Predigtgemeinde, die Bemühung um die Sprache der Predigt, aber auch um das Sprechen des Predigers – dies dürften die Kennzeichen der Bemühung um die Predigt der jüngsten Vergangenheit sein. Es läßt sich freilich nicht leugnen, daß bei aller biblisch-kirchlichen Korrektheit ›durch die Predigten auf deutschen Kanzeln nicht selten ein Hauch gespenstischer Monotonie‹ weht«, so die Einschätzung der Predigtpraxis am Beginn der 1960er durch Alfred Niebergall1. Erneut war es die Predigtpraxis, die die Predigttheorie zur Neubesinnung herausforderte. Dietrich Rössler hatte in einem oft zitierten Aufsatz im Jahr 1966 anhand von Predigtanalysen nachgewiesen, dass die Predigttheorie der WortGottes-Theorie mit ihrem starken Fokus auf die Exegese in der Praxis nicht das leiste, was sie selbst einfordere und hatte daher eine Neubestimmung des Verhältnisses von prinzipiellen und praktischen homiletischen Fragestellungen angemahnt: »Eine Predigtlehre, in der sich Prinzip und Erfahrung kritisch vermitteln, mag in jeder Epoche eine neue Aufgabe sein. Ganz gewiß ist sie das homiletische Problem der Gegenwart«2. Im September 1967 fand in Esslingen eine homiletische Arbeitstagung statt, als deren Ergebnis das Entstehen der »Predigtstudien«, einer bis heute existierenden Predigthilfe, zu notieren ist.

1  Alfred Niebergall, Art. Predigt, I. Geschichte der Predigt, in: RGG3 5 (1961), Sp. 516– 530, 527 (im Orig. teilw. hervorgehoben). 2  Dietrich Rössler, Das Problem der Homiletik, in: ThPr 1 (1966), S.14–28, u.a. wieder abgedruckt in: Ders., Überlieferung und Erfahrung. Gesammelte Aufsätze zur Praktischen Theologie, hg. v. Christian Albrecht und Martin Weeber (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 1), Tübingen 2006, S .222–237, 237.

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9.  Entwicklungen der Homiletik im Kontext der »empirischen Wende«

Der dort von Ernst Lange (1927–1974) gehaltene Eröffnungsvortrag kann mit Fug und Recht als eine Sternstunde der Homiletik bezeichnet werden. Lange verweist die dogmatische Frage Barths, was Predigen denn sei, in den Bereich systematisch- und praktisch-theologischer Prolegomena. Die Frage nach dem Wesen der Predigt stellt sich homiletisch vielmehr stärker als eine Frage der religiösen Gegenwartshermeneutik. Von hieraus wird das konkrete homiletische Verfahren verstärkt ins Zentrum der Predigttheorie gerückt: Welche Vor­ aussetzungen sind nötig, um eine Predigt »zu machen«? Hörer und Prediger werden daher, nicht nur, aber auch als empirische Subjekte wahrgenommen. Die Frage nach der gelebten Religion wird in den Prozess der Predigtvorbereitung konstitutiv eingebunden. Damit wird auch die Bedeutung der Exegese für die Predigt durch die funktionale Einbindung der biblischen Perikope in einen Verstehenszirkel von Text und Situation behutsam eingeschränkt und die Predigt wird in einen größeren, verschiedene Elemente umfassenden Kommunikationsprozess des Evangeliums eingezeichnet. Ernst Lange schließt seine homiletischen Überlegungen einerseits an zentrale Denkfiguren der systematisch-theologischen Tradition seiner Lehrer an, zugleich rezipiert er aktuelle sozialwissenschaftliche Erkenntnisse sowie Denkfiguren Schleiermachers und einer liberalen Theologietradition um 1900. Dort hatte sich, wie oben gezeigt, unter dem programmatischen Titel der »Modernen Predigt« die Forderung nach einer prinzipiell begründeten Einbeziehung der Empirie Gehör verschafft. Hatte also bereits Ernst Lange die Predigt als ein grundsätzlich dialogisches Geschehen bestimmt – die berühmte Formulierung lautet: »Predigen heißt: Ich rede mit dem Hörer über sein Leben – im Licht der Verheißung«3 – so kommt Gert Otto (1927–2005), neben Manfred Josuttis, das Verdienst zu, den Aspekt der Rede und damit die klassische Verbindung von Homiletik und Rhetorik in Erinnerung gebracht zu haben. Auch Ottos Argumentation erfolgt in enger Auseinandersetzung mit den theologischen Lehrern Barth und Bultmann. Um diese theologische Diskussion zu dokumentieren, geben wir im Folgenden neben den bekannten Thesen auch die Einleitung in Ottos Programmschrift »Predigt als Rede« wieder. Und hatte Ernst Lange bereits eine Reintegration pastoraltheologischer Fragestellungen in die Homiletik angemahnt, so wurde dieser Aspekt erneut von Manfred Josuttis und mit starkem Fokus von Axel Denecke und seiner Forderung der »persönlichen Predigt« vertieft. Dieser Beitrag stammt ursprünglich

3 

Ernst Lange, Zur Aufgabe der christlichen Rede, in: Ders., Predigen als Beruf: Aufsätze, hg. v. Rüdiger Schloz, Stuttgart 1976, S. 52–67, 58.

Einführung

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bereits aus dem Jahr 1979 und wurde jüngst vom Autor selbst um den Aspekt des »vollmächtigen Predigens« vertieft4. Gert Otto und Axel Denecke wollen demnach als eine Fortsetzung Langes gelesen werden. Sie gehören bereits in den Bereich der Wirkungsgeschichte, legen aber aufgrund ihrer einseitigen Schwerpunktsetzung wesentliche Fragestellungen frei, nämlich das Verhältnis der Homiletik zur Rhetorik, mithin der Aspekt der Kommunikation sowie das Verhältnis der Homiletik zur Pastoraltheologie, womit der Aspekt der Kommunikation in den Horizont von Amt und Gemeinde eingerückt wird.

Weiterführende Literaturhinweise: Dietrich Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, 2., erweiterte Aufl., Berlin/New York 1994, S. 46–60 (zur empirischen Wende in der Praktischen Theologie). Rudolf Bohren, Die Differenz zwischen Meinen und Sagen. Anmerkungen zu Ernst Lange, Predigen als Beruf, in: PTh 9 (1981), S. 416–429 (eine kritische, teilweise freilich sehr polemische Auseinandersetzung mit Ernst Lange). Volker Drehsen, Predigtlegitimation im homiletischen Verfahren: Ernst Lange, in: ­Christian Albrecht/Martin Weeber (Hg.), Klassiker der protestantischen Predigtlehre. Einführungen in homiletische Theorieentwürfe von Luther bis Lange (UTB 2292), Tübingen 2002, S. 225–246. Wilhelm Gräb, »Ich rede mit dem Hörer über sein Leben«. Ernst Langes Anstöße zu einer neuen Homiletik, in: PTh 86 (1997), S. 498–516. Jan Hermelink, Die homiletische Situation. Zur jüngeren Geschichte eines Predigtproblems (APTh 24), Göttingen 1992. Gert Otto, Predigt als rhetorische Aufgabe. Homiletische Perspektiven, NeukirchenVluyn 1987. Ders., Rhetorische Predigtlehre. Ein Grundriss, Mainz/Leipzig 1999. Jörg Rothermundt, Der Heilige Geist und die Rhetorik. Theologische Grundlinien einer empirischen Homiletik, Gütersloh 1984, S. 31–35. Manfred Josuttis, Der Prediger in der Predigt. Sündiger Mensch oder mündiger Zeuge (1974), jetzt in: Wilfried Engemann/Frank M. Lütze (Hg.), Grundfragen der Predigt. Ein Studienbuch, Leipzig 22009, S. 81–103.

4  Vgl. hierzu Axel Denecke, Vollmächtig und liberal. Predigen in der Tradition des Juden Jesus. Mit einem Lernprogramm für die Praxis, Berlin/Münster/Wien/Zürich/London 2006.

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9.  Entwicklungen der Homiletik im Kontext der »empirischen Wende«

9.1  Ernst Lange:   Die Predigt als Vermittlung zwischen Text und Situation  Ernst Lange, Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, in: Ders., Predigen als Beruf: Aufsätze, hg. v. Rüdiger Schloz, Stuttgart: Kreuz Verlag, 1976, S. 9–511.

I. Die gegenwärtige Problematik des Predigens »Die Bedeutung der traditionellen Predigt«, erklärte ein Sozialwissenschaftler, als er von dem Plan dieser homiletischen Arbeitstagung erfuhr, »wird von der Kirche heute vermutlich stark überschätzt. Die pluralistische Gesellschaft erfordert ein hochdifferenziertes System religiöser Versorgung. Das herkömmliche Predigen dürfte in diesem Versorgungssystem eine viel geringere Rolle spielen, als wir meinen.« Eine Fülle von Indizien scheint dieses Urteil zu stützen. Ich erinnere nur an so widerspruchsvolle Tatbestände wie diesen: geringe und nach wie vor fallende Teilnahmeziffern im Hinblick auf den ortsgemeindlichen Gottesdienst auf der einen Seite; andererseits eine verblüffend hohe Teilnahme an den religiösen Sendungen in Rundfunk und Fernsehen; wachsender Konsum religiöser Literatur, besonders solcher informierenden Charakters; eine Publizität theologischer Sachverhalte etwa in der Massenpresse, wie es sie wahrscheinlich seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Die Kommunikationschancen der Kirche jenseits des ortsgemeindlichen Gottesdienstes, ja die faktisch sich vollziehende transparochiale Kommunikation dieser Art dürften heute, in Zahlen ausgedrückt, diejenigen im Medium des Gemeindegottesdienstes und in der gemeindlichen Predigt um ein Vielfaches übersteigen, ohne daß die|10 Kirche dem, außer durch die zögernde Einrichtung von »Sonderpfarrämtern«, irgendwie angemessen Rechnung trüge. Oder, wie bereits vielfach vermerkt, die Tatsache, daß einer ständigen Abnahme der Wirkung und Bedeutung des Dienstes der Kirche im Bereich des persönlichen Lebens ihrer Glieder, im Bereich der Frömmigkeit, des Lebensstils und der persönlichen Beziehungen vermutlich eine erhebliche Zunahme ihrer gesellschaftlichen Wirkung und Bedeutung im Bereich der Diakonie, der öffentlichen Meinung, der Erwachsenenbildung usw. gegenübersteht, bis hin zu einer steigenden Repräsentanz von ausgesprochen kirchlichen Leuten in Schlüsselfunktionen des öffentlichen Lebens. 1  Vortrag bei einer Arbeitstagung zu diesem Thema am 22. September 1967 in Esslingen, abgedruckt in dem gleichnamigen Beiheft I der »Predigtstudien«, herausgegeben von Ernst Lange in Verbindung mit Peter Krusche und Dietrich Rössler, Kreuz Verlag Stuttgart, Berlin 1968, S. 11–46.

9.1  Ernst Lange: Die Predigt als Vermittlung zwischen Text und Situation

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Oder jenes ganz andersartige Phänomen, das Rudolf Bohren nicht sehr glücklich die »Baalisierung der Amtshandlungen der Kirche« nennt. Richtig und wichtig an Bohrens Analyse ist doch der Hinweis darauf, daß die Handlungen der Kirche im volkskirchlichen Raum viel lauter und deutlicher sprechen als die dabei gehaltenen Reden und daß es ein hoffnungsloses Unterfangen ist, von der »Verkündigung« bei diesen Handlungen her ihr gesellschaftlich-familiäres Gewicht und ihre traditionelle Auslegung in der volkskirchlichen Frömmigkeit umstellen zu wollen. Schließlich wäre auch der Nachweis nicht schwierig, daß selbst innerhalb der Ortsgemeinde, innerhalb ihres vereinskirchlichen Binnenlebens die Bedeutung der Predigt und des sonntäglichen Gottesdienstes zugunsten anderer Begegnungsformen – Freizeiten, Seminare, gesellige und Bildungsveranstaltungen, diakonische Leistungen – ständig abnimmt. Gleichwohl ist es nach meiner Meinung nicht ratsam, sich dem oben zitierten Urteil von der untergeordneten Bedeutung der Predigt im »System religiöser Versorgung« allzu rasch und unkritisch anzuvertrauen. An diesem Urteil stört mich nicht so sehr die Qualifizierung der Predigt als eines religiösen Vorgangs. Der weite und hochformalisierte Religionsbegriff der Gesellschaftswissenschaften erlaubt es doch immerhin, sich der unglücklichen Bannwirkung des Redens von der »religionslosen Welt« und dem »religionslosen modernen Menschen« begründet zu entziehen. Verlorengegangen ist die Selbstverständlichkeit und Allgemeingültig-|11 keit bestimmter religiöser Sy­steme, nicht aber die Notwendigkeit, sich des Sinnes von Dasein zu vergewissern und sich mit anderen über diesen Sinn von Dasein in religiösen Symbolen zu verständigen und zu vereinigen. Die Menschen von heute sind dementsprechend keineswegs irreligiös, wohl aber ist ihre religiöse Entscheidung gekennzeichnet durch Pragmatismus, Distanz und Vorbehalt. Das Neue ist nicht, daß man ohne Religion lebt, sondern daß man religiöse Sinngebung wählt, und zwar unter dem Vorbehalt, ob sie sich in der Wirklichkeit des alltäglichen Daseins als gewißmachend bewährt. In diesem Sinn ist das religiöse Bedürfnis ganz sicher nach wie vor das Medium der Begegnung, der Auseinandersetzung, der Kommunikation zwischen Kirche und Zeitgenossen, und es wird immer auch den Ausdruck gelungener Kommunikation in der Lebensgestalt, als Frömmigkeit, entscheidend mitbestimmen. Infolgedessen ist es dringend notwendig, bei der Frage nach den Bedingungen möglicher Verständigung das Bedürfnis der Zeitgenossen sehr viel ernster zu nehmen, als das lange geschehen ist. Zu kritisieren ist in jenem Urteil, wie mir scheint, eher der Begriff der »Versorgung«. Denn er unterstellt, Kommunikation des Evangeliums laufe lediglich auf die Befriedigung der religiösen Bedürfnisse, des Bedürfnisses nach Sinnvergewisserung des Zeitgenossen hinaus. Das aber widerspricht der kritischen,

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9.  Entwicklungen der Homiletik im Kontext der »empirischen Wende«

der deformierenden und daseinserneuernden – richtenden und rettenden –, die Situation, den Status quo aufbrechenden, verändernden und auf den Aufbruch, die Veränderung verpflichtenden Bedeutung des Evangeliums. Vergewisserung findet statt, wo die Kommunikation des Evangeliums gelingt, aber nicht unbedingt so, wie sie weithin erfragt wird, als Rechtfertigung des Status quo, sondern als seine Aufhebung. Fraglich erscheint mir an jenem Urteil in unserem Zusammenhang vor allem, wie die Verdrängung der gottesdienstlichen Predigt aus ihrer zentralen Stellung im Dienst der Kirche zu beurteilen ist. Man könnte zum Beispiel fragen: Hat sie als isolierte Funktion der Kirche eine solche zentrale Stellung überhaupt je gehabt? Hatte sie ihre unbestreitbar große Wirkung in manchen Phasen der Kirchengeschichte|12 nicht immer nur als eine, freilich besonders sichtbare, Phase in einem viel breiter angelegten Kommunikationsprozeß, also in ihrem Wirkungszusammenhang mit kirchlicher und allgemeiner Erziehung, mit dem Geflecht der das bürgerliche Leben umfassenden und durchdringenden Amtshandlungen, mit Bußinstitut und Seelsorge? So daß also, wenn ein Funktionsverlust der ortsgemeindlichen Predigt zu konstatieren wäre, sofort gefragt werden müßte, ob das nur für die isolierte Position der Predigt gilt oder für den gesamten Prozeß, in dem sie stand und mehr denn je steht? Das wird doch aber in jenem oben zitierten Urteil gerade bestritten: Der Kommunikationsprozeß, in dem die gottesdienstliche Predigt eine Phase ist, sei differenzierter denn je, und es sei mindestens fraglich, ob seine Bedeutung und Wirkung im ganzen abgenommen habe. Ist dann nicht vielleicht doch die Feststellung ihres Bedeutungsschwundes vor allem eine polemische Reaktion auf ihre in der Tat gefährliche Isolierung und quasisakramentale Überhöhung in der allerjüngsten Theologieund Kirchengeschichte? Es ist ja sicherlich richtig, daß fast alles, was seit dem Aufbruch der Dialektischen Theologie über die Predigt gesagt wird, sich in erstaunlicher und erstaunlich unkritischer, unreflektierter Weise immer auf die gottesdienstliche Rede am Sonntagvormittag bezieht. Sie ist in der Tat für diese jüngste Theologiegeschichte so etwas wie der Inbegriff dessen, was man »Verkündigung« nennt, ihre reinste, ihre eigentliche Gestalt. Und sie eignet sich für diesen Verkündigungsbegriff gerade, weil sie so ungeheuer problematisch ist, so monologisch, so autoritär von oben nach unten, so unkritisierbar, so scheinbar unabhängig von der konkreten Situation, so ungeheuer verletzlich, gefährdet, jedem Mißbrauch ausgesetzt. An ihr läßt sich jene »Unmöglichkeit der Rede von Gott« besonders klar darstellen, die in den frühen Aufsätzen Barths immer wieder so eindringlich geschildert wird. An ihr wird infolgedessen auch gleichsam mit Händen greifbar, wie dieser unmögliche Versuch nur darin seine Rechtfertigung haben kann, daß »Gott selbst redet«, wobei die Unverfügbarkeit dieses Wunders das Problem verantwortlicher, das heißt um wirksame Kom-

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munikation bemühter menschlicher Rede auf der Kanzel bereits relativiert, bevor es überhaupt als selbständiges Problem for-|13 muliert werden kann. Und weil der, dem diese unmögliche Aufgabe zugemutet wird, ja nun alsbald entlastet werden muß, wird er auf den Bibeltext verwiesen, den er nur noch möglichst getreu, möglichst ohne jede Rücksicht auf das Verständigungsproblem, dessen Lösung er getrost dem Heiligen Geist überlassen darf, auszulegen hat, weil im Bibeltext »irgendwie« das Problem »Gotteswort im Menschenwort« immer schon gelöst sein soll. Und nun wird diese so problematisierte und überlastete Position Sonntagspredigt normativ gemacht für alle anderen Kommunikationsbemühungen der Kirche. »Verkündigung« in diesem Sinn, als Dienst an Gottes eigenem Wort durch treuliche Textauslegung, soll alle Kommunikation in der Kirche sein, auch die Rede bei der Amtshandlung, auch der Unterricht, auch das Gespräch bei der Seelsorge, auch die Volksmission usw. Und da diese anderen Kommunikationsbemühungen diesem Anspruch unterschiedlichen Widerstand leisten, mehr als die Sonntagspredigt, werden sie eben von daher stark problematisiert, was die Monopolstellung der Sonntagspredigt umgekehrt wieder zementiert. Ist die Behauptung vom Bedeutungsschwund der Sonntagspredigt nicht viel mehr an diesem Predigtanspruch als an der kirchlichen Wirklichkeit orientiert? Die Kritik dieses Anspruches, sowohl im Hinblick auf seine theologische Problematik als auch auf die kirchliche Wirklichkeit, ist in der Tat notwendig und überfällig. Aber muß sie, darf sie dazu führen, daß das Problem der Sonntagspredigt als solches heruntergespielt wird? Sollte man nicht vielmehr so argumentieren: Die sonntägliche Predigt ist eine unter vielen Verständigungsbemühungen der Kirche, die sich nach Situation, Funktion, Struktur und Vollzugsform voneinander klar unterscheiden und auch unterschieden werden müssen, die aber, sofern es sich in ihnen allen um den Wirkungszusammenhang »Kommunikation des Evangeliums« handelt, auch, einen Problemzusammenhang bilden. Es geht in allen diesen Kommunikationsformen um das Problem der bezeugenden Interpretation der biblischen Überlieferung. Dieses Problem stellt sich bei der Sonntagspredigt besonders scharf und drängend, und zwar wegen der speziellen Situation dieser Bemühung. Will man nun nicht behaupten, daß im Wir-|14 kungszusammenhang »Kommunikation des Evangeliums« die Phase der sonntäglichen Predigt gegenwärtig schlechtweg entbehrlich ist, ohne daß der Zusammenhang als solcher leidet und eine Lücke bekommt, dann ist es geboten, dieser Phase im Kommunikationsprozeß nach wie vor besondere Aufmerksamkeit zu widmen, eben weil sie besonders prekär ist. Man ist hier mit dem Grundproblem der bezeugenden Interpretation der biblischen Überlieferung in besonders bedrängender Weise konfrontiert, und indem man es streng im Hinblick auf die besondere Situation, Funktion und Struktur dieser

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Phase, aber auch im Bezug auf den größeren Wirkungszusammenhang erörtert, wird das auch den anderen Kommunikationsbemühungen in jenem »System religiöser Versorgung« zugute kommen. Ich bin der Meinung, daß die Sonntagspredigt und die ihr verwandten Kommunikationsformen, also etwa die Predigten bei den Amtshandlungen, zumindest gegenwärtig noch unentbehrliche und keinesfalls zu vernachlässigende Phasen im Wirkungszusammenhang »Kommunikation des Evangeliums« sind. Aus der Fülle möglicher Argumente möchte ich hier nur drei ganz praktische anführen: a) Zumindest im Bewußtsein der Mitgliedschaft unserer Kirche, und zwar sowohl der Kirchentreuen als auch der Distanzierten, ist die evangelische ­K irche nach wie vor die Kirche der Sonntagspredigt, das heißt des durch die Predigt charakterisierten Gottesdienstes. Das traditionelle Inbild der evange­ lischen Kirche ist der Prediger im Talar auf der Kanzel. Die darin sich aussprechende Erwartungshaltung ist auf allen Seiten so ausgeprägt, daß Dienste und Leistungen der Kirche in der Gesellschaft, daß Begegnungen des Zeitgenossen mit der Kirche, die nicht in der Predigt und in der Teilnahme an der Predigt kulminieren, von keiner Seite als »vollgültige« Begegnungen gewertet werden. Alle Bemühungen um einen gewandelten Kirchenbegriff und ein gewandeltes »Image« der Kirche im Sinne des Konzeptes »Kirche für die Welt«, »Gemeinden für andere«, alle Bemühungen um ein neues Vertrauen zwischen kirchlicher Institution und Zeitgenossenschaft ändern vorläufig nichts daran, daß das zeitgenössische Bewußtsein die evangelische Kirche bei ihrem traditionellen Anspruch, die predigende Kirche zu sein, nach|15 wie vor behaftet und sie hier auf die eigentliche Probe gestellt sieht. Die Kirche kann sich vorläufig aus dieser Testsituation nicht selbst entlassen oder in ihr entlasten. Nicht nur die Kerngemeinde macht den distanziert Kirchlichen zum »Randsiedler«, er sieht sich selber so. Er weiß, daß er fehlt, wo die evangelische Kirche nach seiner Ansicht ganz sie selber ist, und er fehlt bewußt. Eben darum wird er in der Begegnung mit einem Vertreter der institutionellen Kirche sofort apologetisch und verteidigt sich mit dem Argument, daß sich das Christsein ja schließlich nicht am Kirchgang entscheide. Seine Begründung dafür, daß er fehlt, ist fast durchweg die unverständliche, langweilige, nichtssagende, irrelevante, abstrakte, autoritäre oder pathetische Predigt. Ein beliebtes Alibi kirchlicher Funktionäre angesichts dieser umfassenden Reserve gegenüber der Predigt, der distanzierte Zeitgenosse urteile hier über etwas, das er nicht kenne, ist bei näherem Hinsehen schlicht falsch. Immer noch gilt, daß fast jeder Zeitgenosse während seiner Konfirmandenzeit mit Paß und Stempel hat regelmäßig zur Kirche gehen müssen. Dann sind da die gottesdienstlichen Sendungen im Rundfunk und im Fernsehen – wer schaltet schon

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am Sonnabendabend vor dem späten Krimi seinen Fernseher für fünf Minuten ab, wenn das Wort zum Sonntag kommt; wer in Deutschland wird also nicht häufig genug Zeuge der Schande Israels? Man muß sich auch immer wieder vor Augen halten: im Verlauf weniger Jahre begegnet in einem großstädtischen Bezirk wie Berlin-Spandau jeder der vierzig Pfarrer nahezu jedem der Spandauer Bürger mehrfach bei Taufen, Konfirmationen, Trauungen und vor allem bei Beerdigungen, weil die Sitte, bei solchen Anlässen Nachbarschaft oder berufliche Beziehung auszudrücken, nach wie vor ziemlich zwingend ist. Und entgegen einer in der Kirche umgehenden Zwecklüge sind die Menschen in diesen Schnittpunkten ihrer persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Existenz außerordentlich engagiert und keineswegs hörunwillig. Der Zeitgenosse weiß sehr wohl, wovon er redet, wenn er die Predigt unverständlich, pathetisch, irrelevant, langweilig nennt, und warum er zu der Kirche, die sich selbst und die er als die predigende Kirche versteht, Distanz hält.|16 b) Im Hinblick auf die Präsenzgemeinde, die Kerngemeinde aber gilt noch viel dringlicher, daß die Kirche gezwungen ist, der Predigt nach wie vor erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen. Hier, im sonntäglichen Gottesdienst, werden all die gefährlichen Haltungen und Einstellungen eingeübt und gepflegt, um deren Überwindung wir doch bemüht sind. Hier, und zwar aus dem Sog der Situation heraus, ist der fundamentalistische Kult des heiligen Buches in vollem Schwunge, hier der unverantwortliche, weil interpretationslose Gebrauch der heiligen Formel, hier droht, in der Knappheit der Rede, angesichts der feierlichen Stimmung und der offenkundigen Wehrlosigkeit der Gemeinde, angesichts der Mischung der Generationen und Frömmigkeitsstile ständig die Flucht in die doppelte Wahrheit, hier greift die unbeholfene und unreflektierte Sprache in ihrer Not zu den ungedeckten Wechseln großer Worte, hier verwandelt sich, weil die Gemeindesituation so ungreifbar scheint, die konkrete Verheißung in Vertröstung, die konkrete Weisung in den Dauerappell, der Bußruf in die Schimpferei. Hier wird der Pfarrer, weil er doch applizieren muß, zu dem über alles urteilenden und für nichts wirklich zuständigen Hans-Dampfin-allen-Gassen, hier perenniert der Klerikalismus. Der monologisierende, hörunfähige, autoritäre Pfarrer erzeugt die sich wegduckende, schweigende, passive Gemeinde und wird von ihr erzeugt. Hier werden, um der Anschaulichkeit willen, in exegetischen Schwarzweiß-Zeichnungen die Wurzeln eines latenten Antisemitismus gelegt, hier regieren auch die anderen Vereinfachungen, die sich im Dauergebrauch zu Vorurteilen verdichten: Die evangelische Kirche ist in ihren meisten Vollzügen viel, viel besser als ihr Ruf; aber hier, in ihrer traditionellen Zentralfunktion, verspielt sie ihn immer wieder, einfach weil die Situation so ungeheuer anspruchsvoll und gefährlich ist und für ihren verantwortlichen Gebrauch so außerordentlich wenig Hilfe zur Verfügung steht.

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Eine Kirche, die um ihre Erneuerung besorgt ist, kann angesichts dieser Situation, die so leicht und so vielfältig und meist im besten Willen mißbraucht werden kann, nicht gleichgültig werden. Sie kann es aber auch darum nicht, weil eben umgekehrt der verantwortliche Gebrauch dieser Situation sich in den gesamten Wirkungszusammenhang »Kommunikation|17 des Evangeliums« hinein positiv auswirkt. Ist es nicht so, daß die sich nun eben doch immer mehr wandelnde Stellung der volkskirchlichen Mitgliedschaft zu den Juden, zum Problem von Krieg und Frieden, zur individualen und gesellschaftlichen Diakonie, zur »Welt«, daß ein sich langsam einstellendes Gefühl wachsender Weltverantwortung eine Wirkung vornehmlich der im ganzen doch so unbefriedigenden sonntäglichen Predigt ist? Die Predigt ist nach wie vor, nur auf ihre meßbaren Wirkungen hin betrachtet, ein sozialpädagogisches Instrument ersten Ranges, sie wirkt über längere Zeiträume hin klimaverändernd, vielleicht – jedenfalls in manchen Punkten – gar nicht viel weniger als die Presse, weil die Predigt es mit ganz wenigen Gegenständen zu tun hat und diese immer wieder erörtert. Man sollte auch von daher, gerade im Interesse einer wie auch immer verstandenen Kirchenreform, angesichts dieser entscheidenden Schleuse möglicher Reform keinesfalls resignieren. c) Es gibt noch einen anderen Gesichtspunkt, warum das Predigtproblem keinesfalls heruntergespielt werden darf, sondern im Gegenteil besonders ernst genommen werden muß: An dieser Stelle steht das Selbstverständnis der Pfarrer auf dem Spiel. Es geht für die Pfarrer in der Sonntagspredigt um Sinn und Unsinn ihres Dienstes, um Resignation oder Arbeitsfreude, um Krankheit oder Gesundheit. Mag man auch mit einem gewissen Recht behaupten können, daß der Schwerpunkt des Pfarrberufs und seiner Bedeutung faktisch gar nicht mehr im Sonntagsgottesdienst liegt, trotzdem entscheidet sich für die meisten an dieser Stelle immer noch ihre Stellung zu ihrem Beruf, empfinden sie hier die Differenz zwischen Berufsanspruch und Berufswirklichkeit am empfindlichsten. Das Pfarramt, zu dem wir ausgebildet werden und ausbilden, ist nach wie vor in seinem Kern das Predigtamt, das Amt, das die gottesdienstliche Predigt der Kirche zu tragen und zu verantworten hat. Hier konzentriert sich die Erwartung, die Hoffnung eines jungen Pfarrers auf seinen Beruf. Hier ist er darum auch am anfälligsten für Enttäuschung und Resignation. »Man bleibt«, so erklärte ein Berliner Pfarrer bei einer Umfrage zum Thema »Berufsbild und Berufswirklichkeit des Pfarrers«, »mit seiner theologischen Überzeugung ein Einzel-|18 gänger und Fremder in seiner Gemeinde, da man der Gemeinde unmöglich seine ›Theologie‹ predigen kann. Jedenfalls hat sie sich seit meinem Studium nicht wesentlich verändert.« Man war ausgezogen in der Überzeugung von der Eigenmacht, der Eigenbewegung und Alleingenügsamkeit des Wortes, dem die Predigt dient. Und nun macht man die verwirrende Er-

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fahrung, daß man gerade hier, im Kern des Dienstes, merkwürdig isoliert bleibt, daß man nichts ausrichtet, nichts bewirkt, nichts verändert. Und zwar nicht in dem Sinn, in dem der Theologe darauf vorbereitet ist: Selbstverständlich verfügt der Prediger nicht über die Heilswirkung der Botschaft, der er dient. Aber er kommt, wie es scheint, mit seiner Verkündigung gar nicht erst an den Punkt, an dem sich Glauben und Unglauben entscheiden. Er kann sich nicht verständlich machen. Er kann die gläserne Wand nicht durchbrechen, die ihn vom Hörer, vom Zeitgenossen trennt. Die Worte, die er spricht, stiften weder Ja noch Nein, weder den Aufbruch der Gemeinde noch den Abbruch verfehlter Beziehungen zu ihr. Drinnen und draußen bleibt alles beim alten, als spräche man nicht. Selbstverständlich hat die weitverbreitete Resignation unter den Pfarrern auch andere Gründe als die Predigtmisere. Die entscheidende Frage ist die, ob nicht das Pfarramt in seiner traditionellen Gestalt als parochiales Amt von Grund auf dysfunktional geworden ist. Aber ganz sicher ist die Predigt einer der empfindlichsten Punkte im Selbstverständnis des Pfarrers. Resignation an dieser Stelle zwingt, weil die Wunde ja gleichsam von Woche zu Woche offengehalten wird, zu irgendwelchen Kompensationen. Liturgismus, Sakramentalismus, Fundamentalismus, Rückzug in ein magisches Amtsverständnis, Gereiztheit gegen die Dauerbeunruhigung durch die immer komplizierter werdende Theologie sind ideologische Möglichkeiten – das selbstlaufende Vokabular, die Selbstentlastung durch rhetorische Routine, die Flucht in den befriedigenderen Gemeindebetrieb praktische Möglichkeiten der Kompensation. Und selbstverständlich vergrößern solche Kompensationen den Schaden, sowohl sachlich, was die kirchliche Arbeit, als auch persönlich, was das Selbstvertrauen und die Vertrauenswürdigkeit des Pfarrers anlangt. Und wenn es keinen anderen Grund gäbe, die Predigt, das heißt die Praxis des sonntäg-|19 lichen Predigens in den Gemeinden zum Gegenstand erhöhter Aufmerksamkeit zu machen, als den, daß der für die Funktionsfähigkeit und den Wandel der gegenwärtigen Kirche entscheidende Berufsstand an dieser Stelle weithin krank ist – dieser Grund würde ausreichen. II. Funktion und Struktur des homiletischen Aktes a) Zu fragen ist in diesem Zusammenhang nicht nach der Predigt als praedicatio verbi divini, als Ursprung der Kirche, nach ihrem Wesen und ihrer Verheißung, sondern nach dem konkreten homiletischen Akt, nach der wöchentlichen Predigtaufgabe und ihrer Lösung. Die praedicatio verbi divini ist Gegenstand systematisch-theologischer Erwägung, das heißt der Bemühung um die Verantwortung der christlichen Wahrheit im Horizont der Welterkenntnis und Welterfahrung der jeweiligen Gegenwart. Der Predigtbegriff, der dabei zustande

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kommt, ist als solcher für die Praktische Theologie, für die Homiletik untauglich. Denn er entsteht, wie er auch aussieht, angesichts der Frage nach der Verheißung, die die Kirche mit ihrem Predigtauftrag hat, ohne ihn sich – das steckt schon im Begriff der Verheißung – selbst erfüllen zu können. Die Praktische Theologie aber, als das Nachdenken über die Vollzüge der gegenwärtigen ­K irche und ihre verantwortliche Wahrnehmung, fragt nach dem Auftrag, der diese Verheißung hat, und nach seiner verantwortlichen Erfüllung. Und indem sie so fragt, muß sie methodisch weitgehend von der Verheißung des Auftrags ab­strahieren, jedenfalls kann ihr die Verheißung niemals als Antwort auf die Frage nach dem verantwortlichen Vollzug von Predigt dienen. Mit H. D. ­Bastian zu sprechen: das Wort Gottes ist kein Instrument kirchlicher Rede, so wahr die kirchliche Rede ein Instrument des Wortes Gottes werden soll. Gegenstand praktisch-theologischer Erwägung ist die Verantwortung, die durch den Predigtauftrag der Kirche konstituiert wird, die menschliche Verantwortung und ihre Wahrnehmung. Und es dient in der Tat der Klarheit, wenn Bastian fordert, über diese Verantwortung und ihre Wahrnehmung sei nachzudenken, etsi Deus, etsi Spiritus Sanctus non daretur.|20 Der systematisch-theologische Predigtbegriff, die Frage also, was Predigt theologisch sei, gehört in die Prolegomena der Praktischen Theologie. Und diese Frage darf die andere, die eigentlich homiletische Frage, wie man eine Predigt mache, besser, was man tue, wenn man predige, und wie man es verantwortlich tun könne, nicht relativieren und als »Kinderspiel«, als bloß technisches Problem abqualifizieren, sondern sie muß sie als selbständige Frage ermöglichen und begründen und dann freilich auch begrenzen. b) Der homiletische Akt ist eine Verständigungsbemühung. Gegenstand dieser Bemühung ist die christliche Überlieferung in ihrer Relevanz für die gegenwärtige Situation des Hörers und der Hörergemeinde. Die Verheißung dieser Verständigungsbemühung ist das Einverständnis und die Einwilligung des Glaubens in das Bekenntnis der christlichen Kirche, daß Jesus Christus der Herr sei, und zwar in der zugespitzten Form, daß er sei mein Herr in je meiner Situation. Der homiletische Akt verfügt nicht über diese seine Erfüllung. Er hat aber ein Ziel, ein erreichbares Ziel, er hat eine Funktion. Seine Funktion ist die Verständigung mit dem Hörer über die gegenwärtige Relevanz der christlichen Überlieferung. Diese Funktionsbestimmung ist sicher in vielem unzureichend. Sie ist aber vor allem darin unzureichend, daß sie den homiletischen Akt nicht von anderen Kommunikationsbemühungen und Kommunikationsformen der Kirche zu unterscheiden vermag. Um die Relevanz der christlichen Überlieferung geht es ja schließlich auch in den Arbeitsformen des Katechumenats, des Gemeindewie des Jugendkatechumenats, in der Seelsorge, letztlich auch in der Diako-

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nie und im Religionsunterricht an der Schule, wenngleich da der Begriff der Relevanz sicherlich anders bestimmt werden muß. Genauer wird man sagen müssen, daß die genannte Funktionsbestimmung im Grunde den Kommunikationsprozeß in allen Phasen und Stufen, den Wirkungszusammenhang kennzeichnet. Tatsächlich gibt es, soweit ich sehe, keinerlei Möglichkeit, die ortsgemeindliche Predigt von anderen Kommunikationsbemühungen der Kirche zu unterscheiden als von der Situation her. Verschiedene Situationen fordern die Kommunikationsbemühung der Kirche in verschiedenen, jeweils der speziellen Situa-|21 tion angemessenen Vollzugsformen heraus. Worin sich die Situation der sonntäglich versammelten Gemeinde in der Parochie von andern Situationen unterscheidet, welche besonderen Verständigungsbedingungen durch diese traditionelle Zentralversammlung der Ortsgemeinde gegeben sind, kann hier nicht ins einzelne erörtert werden. Hier soll nur aufzählend auf die entscheidenden Merkmale hingewiesen werden: 1.  die traditionelle Funktion dieser Zusammenkunft als Hauptversammlung der Parochie, das heißt ihr institutionelles Gewicht; 2.  ihre durch das Herkommen bestimmte kultische Gestalt; 3.  ihr enormer Funktionsverlust in dieser traditionellen Funktion, ihr faktischer, aber von der Kirche noch nicht wirklich wahrgenommener Funktionswandel; 4.  ihre gegenwärtige, nach Gegenden verschiedene, aber doch gewisse gemeinsame Züge aufweisende Zusammensetzung und 5.  ihre für den Prediger quälende Unübersichtlichkeit als homiletische Situation. Ihr institutionelles Gewicht bestimmt die Predigt im Gemeindegottesdienst als vorläufig wichtigste Kommunikationsform. Der kultische Zusammenhang, in dem sie steht, zieht ihr in der Zielsetzung, im Redestil und hinsichtlich ihrer Verständigungschancen ganz enge Grenzen und bringt sie in eine besondere Gefährdung, von der vorhin schon die Rede war. Der praktische Funktionsverlust, der Funktionswandel der Zentralversammlung der Parochie, erschwert ihr die Erfüllung der traditionellen Erwartungen, die von der Kirche und von der Hörergemeinde in sie gesetzt werden, eröffnet ihr aber auch neue Möglichkeiten. Die besondere Zusammensetzung mit dem Vorherrschen von alten Leuten, Kindern und Jugendlichen, von ganz einverständigen Kerngemeindlern und ganz unvorbereiteten Konfirmanden macht das Verständigungsproblem außerordentlich kompliziert. Und ihre Unübersichtlichkeit behindert die Konkretion, erzwingt ein höchst allgemeines, im Gemeinplatz allzu oft steckenbleibendes Reden. c) Die Erkenntnis, daß sich die Kommunikationsbemühungen der Kirche nur hinsichtlich der Situation, auf die sie bezogen sind, unterscheiden lassen,

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hat aber auch noch eine|22 andere Bedeutung. Erst sie führt nämlich über ein allgemeines Bedenken der Vollzugsform Gemeindepredigt hinaus zum einzelnen homiletischen Akt. Die besondere Verständigungsaufgabe des einzelnen homiletischen Aktes bestimmt sich nur scheinbar, vorläufig und ungenau von dem Bibeltext, von der durch die Kirche vorgegebenen Perikope und dem Kirchenjahrscharakter des Sonntags her. Ihre eigentliche Bestimmung ergibt sich vielmehr aus der besonderen homiletischen Situation. Unter homiletischer Situation soll diejenige spezifische Situation des Hörers, bzw. der Hörergruppe verstanden werden, durch die sich die Kirche, eingedenk ihres Auftrags, zur Predigt, das heißt zu einem konkreten, dieser Situation entsprechenden Predigtakt her­ aus­ge­for­dert sieht. Und die Aufgabe des homiletischen Aktes ist, von daher gesehen und formal ausgedrückt, die Klärung dieser homiletischen Situation. Es ist lange genug üblich gewesen, die kirchliche Predigt bei den Amtshandlungen vom Typus der Sonntagspredigt her, also von dem an diesem Typus wenn nicht gewonnenen, so doch demonstrierten Verkündigungsanspruch und Predigtbegriff her zu beurteilen und einzuordnen. Dann wird gerade die augenfällige Besonderheit der Kasualrede, nämlich ihr klarer Situationsbezug, dubios. Diesem Situationsbezug zu verfallen, wird der Prediger gewarnt und nachdrücklich auf seine eigentliche Aufgabe – Dienst an der Eigenbewegung des Wortes Gottes durch treue Textauslegung – verpflichtet. Es dient aber der von uns gesuchten Klarheit mehr, wenn man umgekehrt verfährt und, ohne die Kommunikationsformen zu vermischen, fragt, ob nicht die Sonntagspredigt in ihrer Problematik von der Kasualrede her verstehbar wird. Bei der Bemühung um die Kasualrede ist das zumindest zeitlich die erste Kenntnisnahme von einer besonderen Situation, von besonderen Menschen und ihrem Geschick. In diese Situation wird die Kirche, aus welchen Motiven auch immer, einberufen, um zu handeln und zu reden. Dadurch wird diese Situation für die Kirche zur homiletischen Situation. Kennzeichnend für diese Situation ist, daß in ihr Schicksale, Erfahrungen, Erwartungen, Konventionen, Vorverständnisse als Niederschlag der Wirkungsgeschichte der Evangeliumspredigt dem Auftrag der Kirche, die Relevanz der christlichen Überlieferung in dieser|23 Situation und für sie zu bezeugen, einen bestimmten Widerstand leisten, aber auch bestimmte besondere Kommunikationswege und Kommunikations­ chancen eröffnen. Kennzeichnend für die homiletische Situation ist auch, daß der Prediger ihr zunächst nicht mit einem bestimmten Text, sondern mit einer allgemeinen Predigttradition gegenübersteht, die als solche bereits bis zu einem gewissen Grad auf die homiletische Situation zugespitzt ist: er hat die Taufe zu interpretieren und zu bezeugen oder die christliche Ehe oder das christliche Verständnis des Todes im Licht des Osterzeugnisses. Greift er nun zum Text, so hat dieser Text eine diese vorgegebene Predigttradition profilierende und doch

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wohl auch verfremdende Funktion. Solche Profilierung und Verfremdung ist sinnvoll, weil die vorgegebene Predigttradition sowohl für die Hörergemeinde als auch für den Prediger bis zu einem gewissen Grad das Selbstverständliche und eben darum nicht mehr recht Hörbare geworden ist. Aber was eigentlich mitzuteilen ist, ist nicht die Eigenaussage des Textes, sondern diese durch die Situation herausgeforderte Predigttradition. Der Text wird dabei nicht eigentlich zünftig ausgelegt, sondern im Interesse der Verständigung verbraucht. Die Frage ist, ob nicht die Sonntagspredigt wesentliche Merkmale mit der Kasualrede gemeinsam hat. Ob es nicht auch hier eine, freilich außerordentlich schwer beschreibbare, aber gleichwohl von Fall zu Fall spezifische Situation gibt, die mit den in ihr enthaltenen Widerständen und Kommunikationschancen die eigentliche Vorgabe, die eigentliche Herausforderung der Predigt darstellt, wobei das Besondere eben die Unübersichtlichkeit dieser Situation und die Tatsache ist, daß der Prediger, der Ortspfarrer an ihr in einem ganz andern Sinn immer schon teilhat, durch sie belastet und bestimmt ist als beim Kasus. Eben darum aber bedarf diese homiletische Situation einer immer neuen, viel schwierigeren Verstehensbemühung. Und gibt es nicht auch bei der Sonntagspredigt eine durch den Katechismus, durch den Kirchenjahrestermin, durch den Frömmigkeitsstil der Gemeinde, durch die Theologie und die Sprache des Predigers, durch das homiletische Klima, das mit der Geschichte der jeweiligen Gemeinde zusammenhängt, usw. vorgegebene, gleichsam selbstverständ-|24 liche Predigttradition, die den Prediger bei der Wahrnehmung und Auslegung seines Textes immer schon bestimmt, und zwar mit Recht und Notwendigkeit, von der er sich jedenfalls nicht durch einen Gewaltakt wird befreien können? Und ist nicht also auch bei der Sonntagspredigt die Funktion des Textes eine diese Predigttradition nicht einfach aufhebende, wohl aber kontrollierende, profilierende und verfremdende? Entscheidend ist hier nur – und das scheint mir unbestreitbar zu sein –, daß jede Kommunikationsbemühung der Kirche durch eine bestimmte Hörersituation herausgefordert ist, die eben durch diese Herausforderung, die sie enthält, für die Kirche zur homiletischen Situation wird, und daß es die eigentliche Aufgabe der predigenden Kirche ist, nicht Texte zünftig auszulegen, sondern diese Situation zu klären dadurch, daß sie die Relevanz der christlichen Überlieferung für diese Situation und in ihr verständlich macht und bezeugt. d) Die homiletische Situation leistet, das kam schon zur Sprache, der Bemühung des Predigers um verständliche Bezeugung der Relevanz der christlichen Überlieferung im Hic et Nunc einen spezifischen Widerstand. Dieser Widerstand ist die Summe einer großen Vielfalt von Faktoren. Persönliches Geschick und Zeitgeschick wirken sich in diesem Kraftfeld ebenso aus wie Stimmungen, Spannungen zwischen Prediger und Hörergemeinde oder innerhalb der Hörer-

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gemeinde, Erwartungen, Befürchtungen und ganz äußere Einflüsse von Wetter, Jahreszeit usw. Entscheidenden Einfluß hat in der sonntäglichen Versammlung der örtlichen Gemeinde vor allem das Vorverständnis von der christlichen Überlieferung, von der Rolle des Predigers und der Gemeinde, von der Frömmigkeit und vom Bibeltext, in dem sich die Wirkungsgeschichte der bisherigen Predigt, das »Christentum« in allen Stadien der Bewahrung, der Verdünnung, des Verfalls und der Verkehrung meldet. Auch dieses Vorverständnis ist selbstverständlich nicht eindeutig, sondern ein kompliziertes Kraftfeld. Der Prediger hat an ihm teil in dem Maße, in dem er an seiner Gemeinde teilhat, er ist ein sehr wirksamer Faktor in diesem Kraftfeld, aber er kann es selbstverständlich nicht auf eine bequeme Formel bringen. In seiner Wirkung freilich ist dieser Widerstand, so vielfältig| 25 seine Ursachen sein mögen, klar zu beschreiben. Er ist das, was alle bisherige Predigt des Evangeliums für den einzelnen Hörer und für die Hörergemeinde irrelevant zu machen droht oder faktisch irrelevant macht. Er ist das Ensemble der Enttäuschungen, der Ängste, der versäumten Entscheidungen, der vertanen Gelegenheiten der Liebe, der Einsprüche verletzter Gewissen, der Verweigerung von Freiheit und Gehorsam, der schlechten Erfahrungen von Christen mit der Welt, mit der Gemeinde und mit sich selbst. Er verkörpert die Resignation des Glaubens angesichts der Verheißungslosigkeit des alltäglichen Daseins in ihren verschiedenen Gestalten als Zweifel, Skepsis, Zynismus, Quietismus, Trägheit, Stumpfheit, Verzweiflung – die Kapitulation des Glaubens vor der Unausweichlichkeit der Tatsachen. Er ist das, was jetzt und hier vielstimmig gegen Gott, gegen die Vertrauenswürdigkeit Gottes und gegen die Möglichkeit, den Sinn des Gehorsams gegenüber Gott spricht. Im Kern ist also, biblisch gesprochen, die homiletische Situation die Situation der Anfechtung, die Situation, in der Gott sich entzieht, als Grund des Glaubens entzogen ist, in der er angesichts der Verheißungslosigkeit der andrängenden Wirklichkeit unaussprechbar wird. Inwieweit diese Situation von den Hörern als Anfechtung erfahren wird, mag dahingestellt bleiben. Sie ist Anfechtung im eigentlichen Sinne jedenfalls für den Prediger, der in dieser Situation relevant von Gott reden soll. Sie ist es um so mehr, je mehr er an seinen Hörern und ihrem Dasein teilhat. Angesichts der Sprache der Tatsachen verschlägt es ihm die ihm aufgetragene Rede von Gott. Andererseits nötigt ihn eben dieser Prozeßcharakter der homiletischen Situation und nicht nur etwa die unausweichliche Tatsache, daß nächsten Sonntag wieder Gottesdienst zu halten sein wird, zur Aussage. Erst angesichts dieser Einsicht in den Anfechtungscharakter der homiletischen Situation wird es sinnvoll, zu sagen, die homiletische Situation sei diejenige Situation, durch die die Kirche sich, eingedenk ihres Auftrags, jeweils in einem ganz bestimmten Sinn zur Predigt herausgefordert sieht.

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e) Der homiletische Akt ist die Bemühung um Klärung der homiletischen Situa­tion. Klärung ist mehr als Erhellung. Im|26 Schachspiel etwa erfolgt Klärung der Situation durch einen Zug, der aus einer Bedrohung herausführt, also durch eine reale Veränderung der Situation. Andererseits hat das Wort Klärung einen glücklichen Anklang an den Begriff der Aufklärung. Beide Aspekte des Wortes sind hilfreich für das Nachdenken über Funktion und Struktur des homiletischen Aktes. Denn einerseits ist daran festzuhalten, daß Predigt eine Verständigungsbemühung ist, die streng im Bereich zwischenmenschlicher Kommunikation, ihrer Bedingungen und Möglichkeiten bleibt. Andererseits zielt diese Bemühung auf eine Situation, die in ihrem Kern eine Situation der Anfechtung ist und also nicht durch bloße Erhellung, sondern nur durch Befreiung verändert werden kann. Natürlich kann Erhellung befreiend wirken, Aufklärung ist Befreiung der Vernunft. Betrifft die Unfreiheit aber den Glauben und seinen Gehorsam in der ihm aufgegebenen Wirklichkeit, dann hilft letztlich nichts, als daß der Glaube wieder Grund bekommt, und der Grund des Glaubens ist Gott allein, Gott in seiner aktuellen Zuwendung zu mir, Gottes befreiendes Wort an mich. Die Predigt kann das Wunder der Befreiung des Glaubens schlechterdings nicht bewirken. Kann sie ihm den Weg bereiten? Der Glaube wird unfrei durch den Druck der Realität seines Daseins, durch den Zwang des Sachverhalts, er wird mundtot gemacht durch die Sprache der Tatsachen. Der Anspruch Gottes verstummt, geht unter im Stimmengewirr der alltäglichen Ansprüche und Zwänge, er verliert sich, seine Bedeutung für diese alltägliche Wirklichkeit, seine Beziehung auf sie wird undeutlich, dubios. Der Anspruch der Wirklichkeit erweist sich als stärker denn der Anspruch Gottes. Die Christusverheißung, der sich der Glaube verdankt und auf die hin er mit seiner Welt in Hoffnung und Liebe umgeht, wird kraftlos angesichts der Verheißungslosigkeit, der Unveränderlichkeit des Status quo, oder sie gerät über Kreuz mit den Verheißungen, Verlockungen und Verführungen, die die alltägliche Existenz des Menschen in ihren verschiedenen Bezugsfeldern ja immer auch enthält. Und auch hier ist es zuerst und zuletzt die Bedeutung, der Bezug, die Wirkmacht der Verheißung, die in Zweifel gerät. Mit einem Wort: die gegenwär-|27 tige Wirklichkeit Gottes wird strittig angesichts der wirklichen Gegenwart. Die Predigt hat den Glauben nicht von dem Gedränge der Wirklichkeit zu entlasten, das ist ohnehin unmöglich; sie hat auch das, was gegen Gott spricht, nicht einfach beziehungslos zu kontrieren mit dem biblischen Zeugnis von dem Geschehen, von dem Menschen, der für Gott spricht, Jesus Christus. Sondern sie hat Verheißung und Wirklichkeit miteinander zu versprechen, so daß verständlich wird, wie die Christusverheißung auch und gerade diese den Glauben

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bedrängende Wirklichkeit betrifft, aufbricht, in ihrer Bedeutung für den Glaubenden verändert und wie umgekehrt auch und gerade diese ihn umgebende Wirklichkeit im Licht der Verheißung auf eine eigentümliche Weise für Gott, für den Glauben und seinen Gehorsam in Liebe und Hoffnung zu sprechen beginnt. Die den Glauben bedrängende Wirklichkeit soll durch die Predigt also nicht zum Schweigen gebracht, sondern im Gegenteil neu zum Zeugnis für Gott aufgerufen, zur Sprache gebracht werden, und zwar so, daß in dieser Wirklichkeit Gottesdienst und Götzendienst, Treue und Verrat, Hoffnung und Illusion, Wahrheit und Lüge, die Chance der Freiheit und die Gefahr der Unfreiheit sich voneinander unterscheiden und so der Weg des Glaubens in Liebe und Hoffnung sichtbar wird. Ob er gegangen werden wird, ist der Predigt entzogen. Klärung der Situation ist also in der Tat, streng im Rahmen zwischenmenschlicher Kommunikationsmöglichkeiten, Veränderung der Situation. Die Veränderung betrifft den Zwang, den die Realität auf den Glauben ausübt. Dieser Zwang, dieser Bann wird gebrochen. Es wird, mit Miskotte zu sprechen, sichtbar, wie »Gott sich in der Wirklichkeit von der Wirklichkeit unterscheidet« als ihre Wahrheit, ihr Heil, ihre Chance, ihre Zukunft, wie diese Wirklichkeit immer noch und erneut das dem Glauben verheißene, eröffnete und aufgegebene Land ist. Was geschieht, ist Bannbruch, Exorzismus. Und in diesem Sinn könnte man und sollte man es dann vielleicht doch schlicht Aufklärung nennen und damit dem Vorgang der Aufklärung seine eigentliche Intention und Würde als Exorzismus zurückgeben. f) Die Klärung der homiletischen Situation geschieht durch|28 bezeugende Interpretation der biblischen Überlieferung. Der Prediger ist nach Miskotte Interpret und Zeuge. Die beiden Funktionen sind untrennbar aufeinander bezogen und können nur miteinander erfüllt werden, selbst wenn sie, wie in bestimmten Stufen des Gemeindekatechumenats, faktisch auf verschiedene Träger verteilt sein sollten. Der Begriff »Zeugnis« meint dabei nicht eine besondere Art erwecklichen Per-Du-Redens, auch nicht die Bürgschaft des Predigers mit seinem eigenen Glauben, sondern streng im Sinn des Begriffes des Augenzeugen die verantwortliche Aussage über das, was er bei seiner Bemühung um das Ver-Sprechen von Verheißungstradition und Situation, bei seiner Predigtarbeit, wahrgenommen hat: Die Relevanz der Überlieferung in der und für die homiletische Situation. Dies ist die Frage, die den homiletischen Akt ausgelöst hat: Welche Relevanz hat die Christusverheißung im Hic et Nunc des Hörers? Um die Beantwortung dieser Frage bemüht sich der Prediger in seiner Arbeit. Gelingt ihm die Arbeit, dann kann er sagen, wie er die Relevanz der Überlieferung für die Situation sieht, wie er sie wahrnimmt. Und eben das hat er nun verständlich zu sagen, und für das, was er hier sagt, ist er persönlich haftbar. Er ist haftbar dafür, daß er verstanden wird. Er ist haftbar insofern, als er sich

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dem Kreuzverhör, dem Gespräch über seine Aussage, der Diskussion, der Infragestellung dessen, was er gesagt hat, aussetzen muß. Er ist haftbar auch für die Folgen seiner Aussage, für die Entscheidungen, die sie auslöst oder verhindert, das heißt, seine homiletische Verantwortung konstituiert eine seelsorgerliche, eine diakonische Verantwortung. Er ist haftbar auch dafür, daß er der Glaubwürdigkeit der Aussage nicht durch seine persönliche Unglaubwürdigkeit im Wege steht, daß er sich keine Zuständigkeit anmaßt, die er nicht hat usw. Und diese persönliche Haftung kann er nicht auf den Text abschieben. Denn was er über die Relevanz der Überlieferung im Hic et Nunc sagt, das steht nicht im Text. Freilich muß er zeigen können, inwiefern seine Aussage überlieferungsgemäß ist, wie sie in der Überlieferung vorbereitet, ermöglicht, angestoßen, aufgegeben ist, wie sie mit der Intention und der Struktur der Überlieferung übereinstimmt. Auch für diese Übereinstimmung ist er haftbar, er ist Zeuge als|29 Interpret und Interpret als Zeuge. Aber als Aktualisierung dieser Überlieferung für eine bestimmte, in ihrer Weise einmalige homiletische Situation ist seine Aussage neues Wort, nicht Repetition, sondern verantwortliche Neuformung der Überlieferung. Der biblischen Überlieferung wird dadurch nicht Gewalt angetan, sondern entsprochen. Sie kann gar nicht anders als bezeugend, in dieser Weise bezeugend interpretiert werden. Als Zeugnis von Jesus Christus als der endgültigen – ephapax –, ein für allemal und auf das Ende, auf die Vollendung hin gültigen und wirksamen Verheißung und als Ruf zum Vertrauen auf diese endgültige Verheißung fordert sie ihre Bezeugung, die Zuspitzung des Ein-für-allemal auf das Diesmal selbst heraus. In ihrer eigentlichen Intention kann sie gar nicht zur Sprache gebracht werden, es sei denn so, daß ihre lebensentscheidende Relevanz für das jeweilige Hic et Nunc zur Sprache gebracht wird, und zwar verständlich, so daß Einverständnis oder Ablehnung möglich wird. Andererseits ist klar, daß der Prediger sein Zeugnis nicht anders als in der Interpretation der biblischen Überlieferung gewinnen kann. Denn gerade dies steht ja in Frage: die Relevanz des in dieser Überlieferung ursprünglich und normativ bezeugten Christusglaubens für die homiletische Situation. Und diese Frage hat die Dringlichkeit der Anfechtung, sie zwingt, aufs Wort zu merken. Was zwischen Prediger und Gemeinde vom Christentum gewußt, verstanden, angeeignet ist, was zwischen ihnen selbstverständlich ist, eben das ist fraglich geworden. Aus diesem Bestand läßt sich die Relevanz des Christusglaubens gerade nicht verständlich machen, das ist ja das Herausfordernde der homiletischen Situation. So ist die Rückkehr an den Ursprung des Glaubens, zum biblischen Zeugnis, erforderlich. Und eben darum ist der Prediger mit seiner Hörergemeinde in der Regel an den bestimmten Text, an die Perikope verwiesen. Denn das Christentum als Quersumme der Texte, als angeeigneter

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Katechismus gehört ja mit in den fraglich gewordenen Bestand. Gerade in der vorläufig fremden, unangeeigneten, unerschlossenen, durch das besondere Profil des Einzeltextes versiegelten Gestalt des biblischen Glaubenszeugnisses bekommt die Relevanzfrage|30 erst ihre volle Schärfe, die dabei möglicherweise zu gewinnende Antwort ihre optimale Stringenz, Klarheit und Aussprechbarkeit. Der Widerstand der Situation hat seine Entsprechung im Widerstand des Einzeltextes. Zwischen Text und Situation und ihrer anfänglichen Beziehungslosigkeit, Gleichgültigkeit gegeneinander werden die Fragen radikal, die Antworten, wenn sie möglich sind, entsprechend relevant. g) Predigtarbeit wird von daher erkennbar als ein Prozeßgeschehen zwischen Tradition und Situation, Predigtvorbereitung die Vorbereitung dieses Prozesses, bei dem der Prediger – das unterscheidet die Sonntagspredigt charakte­ristisch von anderen Kommunikationsbemühungen – beides wird sein müssen: Anwalt der Hörergemeinde in ihrer jeweiligen Lage und Anwalt der Überlieferung in der besonderen Gestalt des Textes. Dabei ist der Prediger zunächst Anwalt der Hörergemeinde, denn es ist die homiletische Situation, durch die der homiletische Akt jeweils herausgefordert wird. Der Prediger hat sich, so weit wie möglich, klarzuwerden über den besonderen Charakter dieser Herausforderung, über die Art des Widerstandes, den die Situation der Kommunikationsbemühung der Kirche leistet. Was macht die Überlieferung des Glaubens jetzt und hier für diese Menschen irrelevant, was macht ihre Relevanz zumindest zweifelhaft? Es bedarf nach allem, was hier schon überlegt worden ist, keiner ausführlichen Darlegung mehr, wie schwierig diese Frage zu beantworten ist, nicht nur der Vielzahl der Faktoren wegen, die hier ins Gewicht fallen, sondern vor allem darum, weil Entscheidendes für den Prediger überhaupt unbekannt und unerkennbar bleiben wird. Gibt es überhaupt eine methodische Erhellung der homiletischen Situation und bis zu welchem Grad? Offenbar geht aller methodischen Erschließung etwas Existentielles voraus, eine Haltung vorbehaltloser Partizipation, vorbehaltloser Teilhabe am Geschick des Hörers, die durch homiletische Technik auf keine Weise zu ersetzen ist. Denn es ist ja, abgesehen von der Möglichkeit des Gesprächs mit dem Hörer in der Kontinuität des Gemeindelebens, auf das in der Tat bei diesem Verständnis der Predigtaufgabe erhebliches Gewicht fällt, abgesehen auch von der nach meiner Ansicht außerordentlich wichtigen|31 Möglichkeit formeller Predigtvorbereitung und Predigtnachbesprechung mit Gemeindegliedern, nur das eigene Bewußtsein und Betroffensein vom Geschick des Hörers, das der Prediger sich bei seiner Predigtvorbereitung methodisch erschließen kann. Seine Intuition wird dabei immer eine entscheidende Rolle spielen, und sie ist eine Funktion seiner Teilhabe, seines Interesses, seines Engagements mit dem Hörer.

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Andererseits hat Partizipation als Voraussetzung von Kommunikation auch ihre institutionelle Seite. In der klassischen Parochie hat sich das Partizipationsproblem praktisch gar nicht gestellt. Denn die Parochie selbst war umfassende, institutionelle Teilhabe der Kirche am gesellschaftlichen Leben im übersichtlichen Raum des Dorfes oder der Kleinstadt. Kirchliches und bürgerliches Leben waren fast deckungsgleich und durchdrangen sich wechselseitig. Der Orts­pfarrer war nicht nur ex officio, sondern kraft seiner Zugehörigkeit, seiner Stellung im Zentrum des gesellschaftlichen Lebens, seiner Kompetenz für alle Fragen dieses Lebens, seiner Kenntnis aller Menschen, um die es ging, und ihrer Beziehungen kommunikationsfähig in jeder Hinsicht. Erst mit dem Zerbruch dieser parochialen Symbiose stellt sich das Partizipationsproblem hierzulande ebenso dringlich, wie es sich etwa auf dem Missionsfeld stellt. Die volkskirchlichen Gemeinden sind extrem unübersichtlich, das gesellschaftliche Leben spielt sich fast ausschließlich außerhalb der Zuständigkeit, Kompetenz und Reichweite des Ortspfarrers ab; dessen Distanz zum Alltag seiner Gemeindeglieder ist so groß, daß seine Zeitgenossenschaft, seine Kommunikationsfähigkeit ernstlich in Frage steht. An dieser Stelle ist das Predigtproblem offenbar direkt verbunden mit dem Problem der kirchlichen Strukturen, mit den Problemen der Kirchenreform. Aber selbst mit einer befriedigenden Lösung des Strukturproblems wäre die Frage der Partizipation als Voraussetzung von Kommunikation nicht erledigt. Die Präsenz der Kirche in der Gesellschaft und damit ihre Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit ist überhaupt nur noch in sehr engen Grenzen institutionell zu sichern, sie muß von Personen und Gruppen geleistet werden, und die Institutionen können nur die Voraussetzungen für diese persönliche Leistung von Partizipation, Präsenz und Kompetenz schaffen.|32 Für den Predigtvollzug muß die Einsicht genügen, in welch hohem Maß die Möglichkeit der Erhellung der Situation eine Frage der persönlichen Teilhabe des Predigers an seiner Hörergemeinde ist. Keine homiletische Methode kann diese ersetzen. Zu den empfindlichsten Belastungen der heutigen Predigtarbeit gehört jedenfalls, daß die gängige homiletische Theorie die gefährliche Distanz des Predigers zu seinen Hörern mit Behauptungen wie der, daß der Hörer im Texte stecke und daß das Kerygma die Situation schaffe, in der es zum Hören kommen kann, theologisch rechtfertigt und geradezu verklärt. Faktisch wird dadurch nur die eigentliche Übersetzungsarbeit dem Hörer angelastet. Soviel ist aber richtig, daß der Prediger, selbst der voll partizipierende Prediger nicht anders zu wachsender Klarheit über seine homiletische Situation kommt als so, daß er in ihr nach seinem Text fragt, und zu wachsender Klarheit über seinen Text so, daß er von ihm her nach seiner Situation fragt. Es ist also nicht so, daß die Frage nach der Situation und die Frage nach dem Text und seiner Eigenaussage zwei voneinander getrennte Arbeitsschritte wären. Text und

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Situation bilden einen Verstehenszirkel, der im Verlauf der Predigtvorbereitung mehrfach abgeschritten wird. Schon mit der ersten Kenntnisnahme vom Bibeltext aktualisiert sich im Prediger seine Kenntnis von der Verstehenssituation seiner Gemeinde, an der er selbst ja teilhat. Er weiß intuitiv, meint jedenfalls zu wissen, wie seine Gemeinde diesen Text bei der Lesung vernehmen, welches Vorverständnis vom Text in ihr dabei wach werden, an welchen Stellen sie Anstoß nehmen wird, welche Wörter ihr Verstehensschwierigkeiten bereiten werden, welche Mißverständnisse drohen usw. Auf dem Hintergrund dieses seines Vorverständnisses vom Vorverständnis der Gemeinde fragt er nun exegetisch nach der Eigenaussage seines Textes. Und je klarer sich ihm diese Eigenaussage erschließt, um so klarer wird ihm auch, wie gleichgültig diese Aussage gegen seine Situation ist und aus welchen Gründen, wie groß andererseits der intellektuelle und existentielle Widerstand seiner Situation gegen diese Aussage ist und welche Ursachen das hat. Indem er nun diese Gründe und Ursachen reflektiert, und zwar im Licht seines Textverständnis-|33 ses, wird ihm seine Situation klarer. Er versteht, warum seine Hörergemeinde nicht versteht, mißversteht, umzudeuten versuchen wird. Er eignet sich die Fragen, Anstöße, Zweifel seiner Hörer an, sie werden seine eigenen. Als Anwalt seiner Hörer wird der Prediger kritischer gegen seinen Text, und zwar gegen den Relevanzanspruch, der in ihm impliziert ist. Denn der Text selbst ist ja schon Bezeugung der Relevanz des Verheißungsgeschehens für einen bestimmten Augenblick in der Gewißheit seiner Relevanz für jeden Augenblick. Der Prediger fragt nun: Was wurde da relevant und wie, gegen welchen Widerstand wurde es relevant? Gefragt wird nun also nicht mehr nach dem isolierten Text als solchem, sondern nach dem Vorgang des Relevantwerdens des Verheißungsgeschehens, nach der Struktur und der Bewegung des Interpretationsvorganges, der im Text Gestalt geworden ist. So erschließt sich der Text in seiner geschichtlichen Tiefe als Phase in der Bewegung der traditio fidei, frühere, ursprünglichere Stufen der Tradition und der Interpretation werden in ihm, hinter ihm erkennbar. Es kommt zu so etwas wie einer homiletischen Textkritik, in der Textgestalt wird Relevantes und Irrelevantes, Historisch-Abständiges und Aktuelles, Aktualisierbares unterscheidbar, und zwar nicht einfach unter der gefährlichen Frage: »Was kann ich heute und hier noch sagen?«, sondern mit der legitimen Frage: »Wo werde ich als Anwalt meiner Hörer Zeuge des Relevantwerdens der Überlieferung in ihrer Bewegung von Situation zu Situation?« Eng verbunden mit solcher homiletischen Textkritik ist aber auch eine homiletische Situationskritik. Mir wird in der intensiven Beschäftigung mit dem Text klar, welche Fragen meiner Hörer sich erledigen, weil sie falsch gestellt sind, welche Anstöße entfallen, weil sie nicht die Substanz der Überlieferung betreffen, wo der eigent-

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liche Widerstand meiner Hörer sitzt, mein eigentlicher Widerstand, und wo es sich nur um Vorwände handelt, in denen sich dieser eigentliche Widerstand vor sich selbst verbirgt. Ich kann also auch innerhalb der homiletischen Situation in zunehmendem Maße zwischen Relevantem und Irrelevantem, zwischen Scheinproblemen und wirklichen Problemen sowohl des Verstehens als auch des Annehmens des biblischen Zeugnisses unterscheiden.|34 Irgendwo im Vorgang des mehrfachen Abschreitens dieses Zirkels zwischen Tradition und Situation kommt es zum Predigteinfall. Das heißt, es wird wahrscheinlich zu einer ganzen Reihe von Einfällen kommen, schon beim ersten Lesen des Textes und immer wieder auf dem Weg des wachsenden Verstehens der eigentlichen Spannung zwischen Text und Situation. Aber es wird sich ein Einfall nach dem anderen erledigen als nicht zureichend, es wird ein einziger Einfall sich in immer größerer Klarheit aufdrängen. Es ließe sich begründen, warum es theoretisch nur eine einzige optimale Möglichkeit der Klärung der homiletischen Situation geben kann, die sowohl dem Text als auch den Hörern, als auch der Individualität des Predigers ganz gerecht wird, nur eine einzige Predigtmöglichkeit, die den Rang des notwendigen Wortes, des jetzt und hier die Klärung herbeiführenden Wortes hat. Faktisch liegt in der Nähe dieser optimalen Interpretationsmöglichkeit eine ganze Reihe von möglichen Einfällen, die dann auf dem Weg vom Predigtentschluß zur ausformulierten Predigt noch vielerlei verschiedene Ausgestaltungen zulassen. Gleichwohl gibt es so etwas wie einen Durchbruch in der Predigtarbeit, einen Einfall, der zwingend ist, gegenüber anderen, die nur möglich sind, eine allmähliche oder plötzlich durchbrechende Klarheit, worin die Relevanz der Überlieferung für das Hic et Nunc der Hörer im Kern liegt und wie sie zu bezeugen sein wird. Der Einfall ist kein Offenbarungsereignis. Er ist ein Durchbruch im Verstehen und zur Möglichkeit des Verständlichmachens, der der Kontrolle und der Kritik unterliegt und der verantwortlichen Ausführung bedarf. Es ist gleichwohl ratsam, auf die besondere Kennzeichnung und Hervorhebung des Augenblicks durchbrechender Klarheit nicht zu verzichten. Ein solcher Verzicht, wie er im Interesse der homiletischen Theorie vom Dienst am Wort Gottes durch Schriftauslegung lange gefordert und geübt wurde, führt nur entweder zur Unterdrückung der schöpferischen Aspekte der Predigtbemühung oder zu ihrem unreflektierten und unkontrollierten Gebrauch. Eins wäre so schlimm wie das andere. Der hermeneutische Zirkel zwischen Text und Situation bleibt auch jenseits des Einfalls in Kraft: der Einfall führt zu|35 einer erneuten Musterung der Situation, nun im Hinblick auf die Frage, wie er zu einer verständlichen Rede ausgebaut werden kann. Der so entstehende Predigtentwurf als das »neue Wort«, als das Zeugnis des Predigers, für das er voll haftbar ist, ist wiederum zurück-

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zukoppeln auf den Text, inwiefern er im Hinblick auf dessen Eigenaussage verantwortet werden kann. h) Der Auftrag der Predigt ist die verständliche Bezeugung der Relevanz der biblischen Überlieferung für die homiletische Situation. Der homiletische Akt als isolierte Bemühung vermag aber diesen Auftrag nicht zu erfüllen. Er ist faktisch nur eine Phase in einem mehrphasigen Interpretationsvorgang. Denn die sonntägliche Predigt ist notgedrungen ein »Wort für viele«, das die Konzentration auf die Situation des einzelnen Menschen, der einzelnen Gruppe, der speziellen Auftragslage schuldig bleiben muß. In den Interpretationsstufen des Gemeindekatechumenats, des mutuum colloquium fratrum und des Einzelgesprächs, die den Hörer stufenweise immer stärker an der Über-Setzung des Zeugnisses in seine eigene Lebenssituation beteiligen, bekommt die Predigt erst ihren vollen Sinn als Phase im größeren Kommunikationsprozeß […]. III. Auf der Suche nach einem neuen homiletischen Verfahren Einige der hier Anwesenden haben mit mir zusammen ein Schema der Predigthilfe entwickelt, nach dem in den nächsten Jahren Arbeitshilfen für die Sonntagspredigt und andere homiletische Aufgaben erarbeitet und veröffentlicht werden sollen (vgl. die im Anschluß an diesen Aufsatz veröffentlichten Thesen und den im Juli 1968 erschienenen ersten Halbband der »Predigtstudien zur Perikopenreihe III«). Alle Beteiligten sind sich sehr klar darüber, wie vorläufig und in vieler Hinsicht unbefriedigend dieses Schema ist. Die Frage nach dem neuen homiletischen Verfahren meint aber natürlich mehr als solche publizistischen Arbeitshilfen für|36 den Prediger. Sie meint die Arbeit des Predigers selbst und ihre Methode, die er auf der Hochschule und im Predigerseminar lernt und dann von Woche zu Woche im Gedränge der Gemeindearbeit anwendet. Niemand kann sie ihm abnehmen, und man kann ihm von außen, auf publizistischem Weg, auch nur sehr begrenzt dabei helfen. Das gilt um so mehr, wenn das hier dargelegte Verständnis des homiletischen Aktes als Kommunikationsbemühung, die auf eine ganz bestimmte Hörersituation bezogen ist und mit diesem Situationsbezug steht und fällt, richtig sein sollte. Was hätte ein solches homiletisches Verfahren zu leisten? 1. Es hätte die Predigtaufgabe zu entmythologisieren und zu entdramatisieren. Der Prediger ist nicht verantwortlich dafür, daß Wort Gottes geschieht und daß das Wort Gottes sich Glauben verschafft. Die Kommunikation des Evangeliums, der auch seine Predigt dient, hat diese Verheißung, aber der Prediger ist nicht haftbar für die Erfüllung dieser Verheißung. Daß er in diesem Horizont der Verheißung redet, befreit und mahnt ihn, seine Sache so gut wie irgend möglich zu machen, tröstet ihn in der Erfahrung, wie wenig seine Verständigungs-

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bemühung ausrichtet, und kritisiert alle seine Versuche, den Offenbarer, den Erwecker, den Priester, den Statthalter der Autorität Gottes machen zu wollen, mehr sein zu wollen, als er im Rahmen seines begrenzten Auftrags sein kann: ein Interpret der christlichen Überlieferung in ihrer Relevanz für das Leben der Hörer. Andererseits müßte ein neues Verfahren die Aufgabe des Predigers streng im Rahmen des Interpretationsauftrags doch auch wieder aufwerten. Der Prediger hat mehr zu tun, als biblische Texte möglichst wortgetreu in möglichst heutiger Sprache nachzusprechen. Er hat als Anwalt seiner Hörer zu verstehen und neu verständlich zu machen, worin die Relevanz des in den biblischen Texten bezeugten Verheißungsgeschehens für ihr gegenwärtiges Leben liegt. Seine Rede ist in diesem Sinn »neues Wort«, nicht »neues Wort Gottes«, wohl aber ein neues Wort der Kirche, das sie so noch nie gesprochen hat und das doch übereinstimmen soll mit dem, was sie bisher gesagt hat. Und so, wie die Dinge liegen, ist er in der Situation des Gemeindegottesdienstes der einzige, der dieses neue Wort|37 für seine Gemeinde finden und ihr sagen kann. Jedenfalls ist er der, der dafür besonders ausgebildet und angestellt worden ist. 2. Ein neues Verfahren hätte dem Prediger möglichst wirksame und leicht hantierbare Methoden zur Erschließung der Situation an die Hand zu geben, in der er jetzt und hier reden und durch seine Rede Klarheit schaffen soll. Und dies ist mit Abstand das schwierigste Problem der Predigtarbeit. Denn was hieße Erschließung der Situation? a) Kenntnis des besonderen Hörerkreises, mit dem der Prediger es zu tun hat, der Menschen und Menschengruppen, ihrer Beziehungen untereinander und zur Umwelt, ihrer Nöte, Probleme und Bedürfnisse, ihres intellektuellen Vermögens, ihres Schicksals und ihrer Frömmigkeit; Kenntnis der alten Leute, die da sitzen, und des Problems des Altwerdens und Altseins in der Leistungsgesellschaft; Kenntnis der Konfirmanden, der Jugendlichen, die da sitzen, und ihrer außerordentlich komplizierten Übergangssituation – physiologisch, intelligenzmäßig, psychologisch, sozial, religiös: der Phase der teils akzelerierten, teils prolongierten Pubertät usw. Kenntnis aber auch der religiösen Differenzierung seines Hörerkreises. Ganz unterschiedliche Distanzen zur Kirche, zum Christentum, zu ihm selbst als Vertreter der Institution sind da im Spiel, ganz unterschiedliche Bedürfnislagen. Kein homiletisches Verfahren kann dem Prediger diese Kenntnis seiner Gemeinde vermitteln. Sie ist teils Frage seiner Menschenkenntnis, teils seiner psycho­logischen und soziologischen Ausbildung auf der Universität und der Weiterbildung in diesen Dingen durch Lektüre und Tagungen, teils und vor allem eine Frage seiner Partizipation, seines Interesses, seines Engagements gegenüber den Menschen, für die er da ist. Ein homiletisches Verfahren kann

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lediglich die Frage nach dem Hörerkreis wachhalten und ihre Bedeutung für den Predigtvollzug unterstreichen. b) Kenntnis des gesellschaftlichen Kraft- und Beziehungsfeldes, in dem der Hörerkreis steht und das die Kommunikationsbemühung der Predigt auf vielfältige Weise bedingt und beeinflußt. Wir haben bei unseren Bemühungen um ein Arbeitsschema der Predigthilfe einfach zu unserer eigenen Ver-|38 ständigung unterschieden zwischen einer »Lage vor Ort« und einer »homiletischen Großwetterlage«. Unterscheidungen dieser Art, wenn sie auch präziser sein sollten als die unsrige, sind für ein homiletisches Verfahren unerläßlich. Denn nicht nur kommt der Prediger zur Kenntnis dieser Einflüsse auf verschiedene Weise, sie stellen auch der Predigt unterschiedliche Aufgaben. Zur »homiletischen Großwetterlage« gehört der Makrokosmos der Gesellschaftsordnung und des gesellschaftlichen Lebens in seinem ständigen raschen Wandel, gehören politische Ereignisse und Ideen, aber vor allem auch ihre Wirkung auf die Menschen: Ängste, Hoffnungen, Resignation, das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den großen gesellschaftlichen Prozessen; gehören Art und Struktur der Weltwahrnehmung, Welterkenntnis und Weltbewältigung im wissenschaftlich-technischen Zeitalter, in der hominisierten Welt und der ganz unterschiedliche Grad, in dem die Wahrnehmung, die Erkenntnis und die Lebensbewältigung der Zeitgenossen davon bereits geprägt sind; gehört die Einsicht, daß die Erfahrung der Nichterfahrbarkeit Gottes in der Lebenswelt des Zeitgenossen heute ebensosehr Ausgangspunkt religiöser Kommunikation ist wie vor der Aufklärung die Erfahrung der selbstverständlichen Erfahrbarkeit Gottes, aber auch die Einsicht, daß in dieser Hinsicht die Predigthörer in keiner Weise einer des anderen Zeitgenossen sind. Die homiletische Großwetterlage enthält alle die Faktoren, die als Zeitgeschick mehr oder weniger hingenommen werden müssen. Den Prediger interessieren aber nicht nur diese Faktoren selbst, von denen er durch Massenmedien und intensive Lektüre Kenntnis nehmen kann, sondern vor allem ihre Wirkung und ihre Verarbeitung durch seine Hörer, also das, was aus der Großwetterlage in die Lage vor Ort hineinwirkt. Und das lernt er nur durch Gespräche, durch gemeinsames Studium dieser Faktoren mit den Hörern. Hier wie an vielen anderen Stellen wird deutlich, wie die homiletische Verantwortung zum Ernstnehmen des Kommunikationsprozesses jenseits der Gottesdienste, hier also des Gemeindekatechumenats zwingt. In der Lage vor Ort geht es um diejenigen Ereignisse, Beziehungen, Konflikte, Stimmungen, Urteile und Vorurteile, die der Prediger, weil sie nur lokale, kommunale oder gemeind-|39 liche Bedeutung haben, nicht aus den Zeitungen erfährt, sondern nur durch eigene Ermittlung oder durch Austausch und gemeinsames Studium mit anderen kirchlichen Mitarbeitern, und die andererseits durch die Predigt beeinflußt, geklärt, verändert werden können

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und sollen, weil sie im unmittelbaren Verantwortungsbereich von Prediger und Gemeinde liegen. Auch in diesem Punkt »Kenntnis der Lage« ist durch ein homiletisches Verfahren dem Prediger nur wenig Hilfe zu geben. Immerhin gibt es hier nun doch schon einen ganzen Katalog von Fragen und Anstößen für die Meditation, die zur bewußten Einbeziehung der »Lage« in die Predigtarbeit ermutigen und nötigen könnte. c) Kenntnis des Vorverständnisses der Gemeinde von der christlichen Überlieferung. Das ist das Feld, in dem das Verfahren wirklich Hilfen und Methoden bieten kann. Da ist nicht nur die Möglichkeit der methodischen und kritischen Besinnung über die eigene bisherige Predigt mit ihren positiven und negativen Wirkungen (die Analyse der eigenen Predigt vom Vorsonntag und die Reaktion, die sie hervorgerufen hat, einschließlich der Predigtkritik in einem Gemeindekreis sollten zum festen Bestand der Predigtvorbereitung gehören). Da ist der Luthertext mit seinem Wörterbestand, der zugleich einen bestimmten Bestand oder Fehlbestand an Verständnis signalisiert. Da sind Predigten anderer Leute, da sind Gesangbuchlieder, da ist der Katechismus, da ist die Liturgie, da ist das religiöse Brauchtum in allen Stadien des Verfalls. Da sind Sprichwörter, Redensarten, Tabuformeln, Aufschriften auf Grabsteinen, da sind die Erfahrungen der Gemeindebesuche und der Amtshandlungsgespräche, da ist die unerschöpfliche Orientierungsmöglichkeit beim Religions- und Konfirmandenunterricht, wo man die zum Teil noch begründeten Urteile der Väter in den Vorurteilen, in den Ressentiments der Söhne aufspüren kann. All das ist Niederschlag der Wirkungsgeschichte der Predigt und der Auseinandersetzung dieser Predigt mit der Antipredigt der Ideologien, Weltanschauungen, Tabus und Vorurteile. All das sind Spuren und Dokumente gegenwärtiger Frömmigkeit und der JedermannIdeologie, die mit ihr im Streit liegt. Ein einziges erstes Lesen des Luthertextes löst bereits eine Fülle von Assoziationen aus, die, kritisch reflek-|40 tiert, das eigene Vorverständnis und das Vorverständnis der Hörergemeinde als Bedingung künftiger Verständigung klären helfen. Zur methodischen Erschließung dieser Quellen könnte und müßte ein neues homiletisches Verfahren zweifellos Hilfe geben. Auf jeden Fall ist es nötig, daß »der Zeitgenosse«, der Hörer, der moderne Mensch, der in der hermeneutischen Diskussion herumgeistert und den ich persönlich für ein in abstrakter Manier ausgeführtes Selbstbildnis des homo academicus halte, für die Predigtarbeit abgelöst wird von den Hörern, den bestimmten Zeitgenossen, mit denen ich es heute und hier zu tun habe und die ich so genau wie möglich zu kennen und zu erkennen versuchen muß. Es bleibt ein sehr glücklicher und wichtiger Hinweis von H. D. Bastian, daß diese meine Hörer im Unterschied zum »modernen Menschen« nicht nur Ohren haben,

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sondern auch einen Mund. Sie können fragen, dreinreden, Zweifel äußern, protestieren, sie können sich mir auch zu erkennen geben, wenn ich um sie werbe. 3. Ein angemessenes homiletisches Verfahren hätte die Funktion des Textes in der Predigtarbeit klar zu präzisieren und gegenüber der bisherigen homiletischen Theorie neu zu bestimmen. Die bisherige Theorie räumt dem Text, der Perikope und der exegetischen Arbeit an der Perikope in einem so hohen Maße den Primat in der Predigtarbeit ein, daß sich die Predigtarbeit für manche in der exegetischen Bemühung um die Perikope in ihrem Kontext nahezu erschöpft. Hermann Diems These, daß der Prediger, dem sich in der Exegese der Text als Kerygma vom Handeln des dreieinigen Gottes erschlossen hat, nun vom Zeugnis des Textes sich einfach tragen lassen könne, und zwar doch wohl zur Predigt hinübertragen, wie ein Schwimmer sich vom Strom tragen läßt, ist nur ein Beispiel. Zunächst ist festzustellen, daß der exegetische Anspruch, obwohl etwa bei Johannes Wolf durchaus so begründet, daß er den Prediger von allzu steilen Vorstellungen über seinen Auftrag entlasten und ihm eine klare, erfüllbare Aufgabe stellen soll, faktisch die Pfarrer bei dem derzeitigen Stand der Exegese total überfordert. Sie wissen, was Exegese sein und leisten müßte, und erfahren doch von Woche zu Woche, wie|41 wenig sie dem zu entsprechen vermögen. Die Frage, wie viele Prediger im Gedränge des Alltags selbst auf die eigene Übersetzung aus dem Urtext verzichten – und nicht nur bei alttestamentlichen Texten –, gehört so sehr in die Intimsphäre eines Theologen, daß noch nicht einmal, soweit ich weiß, religionssoziologische Untersuchungen sie bisher zu stellen gewagt haben. Könnte man sie stellen, das Ergebnis würde erschreckend sein. Faktisch wird der Prediger durch den exegetischen Anspruch den Spezialisten in die Arme getrieben, den Kommentatoren und Verfassern von wissenschaftlichen Meditationen, die ihm das komplizierte Material aufbereiten und mehr oder weniger, oft weniger, verständlich machen. Dagegen wäre an sich gar nichts einzuwenden, wäre da nicht der Anspruch, daß man nur durch intensive eigene Exegese zu einer verantwortbaren Predigt kommen kann. Dieser Anspruch macht dem Pfarrer, da er ihm in der Regel nicht zu genügen vermag und da er ganz genau weiß, wie schwach seine Predigten oft sind, das Gewissen außerordentlich schwer, und die dadurch entstehende Dauermalaise macht ihn dann auch unfähig, für seine Predigt in die Waagschale zu werfen, was er nun wirklich hat: Kenntnis seiner Gemeinde, Zeitgefühl, Liebe zu ihr, und die Phantasie, die eine Funktion der Liebe ist. Die Analyse moderner Predigten (etwa die in Dietrich Rösslers Aufsatz im Eröffnungsheft der Theologia Practica) ergibt zudem, daß selbst sehr erfahrene Exegeten in ihrer Predigt erstaunlich wenig Gebrauch von ihrer intimen Kenntnis des speziellen Profils eines Textes machen. Ob ihre Predigten gut sind, und sie sind ja oft sehr gut, auch im Sinne unserer Bestimmung des Predigtauftrags, entscheidet sich nur in ganz geringem Maß an der zünftigen Exegese des Einzeltextes; ins Gewicht fällt

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viel mehr die große interpretatorische Erfahrung, in der sich die Kenntnis der Überlieferung mit der Reflexion auf ihre Übersetzbarkeit und also mit einem geschärften Zeitgefühl verschränkt. Der übersteigerte exegetische Anspruch an den Prediger gehört zu den unsere kirchliche Gegenwart außerordentlich belastenden Unredlichkeiten. Er dürfte zudem einer der Gründe dafür sein, warum so viele Pfarrer eine immer größere Animosität gegen die sogenannte moderne Theologie entwickeln. Nicht die Thesen dieser Theologie als solche sind|42 das Ärgerliche, sondern die Tatsache, daß sie die eigentliche Übersetzungslast immer mehr auf den Prediger abschiebt und ihm zugleich die Übersetzungsmöglichkeiten, die er hat, immer verdächtiger macht und die Übersetzungshilfe, auf die er angewiesen ist, notorisch schuldig bleibt. Auszugehen wäre in einem neuen homiletischen Verfahren von der begrenzten Funktion, die der Einzeltext und seine Exegese in der Predigtarbeit haben. Gefragt ist der Prediger in seiner homiletischen Situation keineswegs nach der Relevanz seiner Perikope. Als historischer Text ist sie Zeugnis des Relevantwerdens der christlichen Überlieferung in einer ganz bestimmten, vergangenen Situation und als solche völlig irrelevant für das Hic et Nunc. Gefragt ist der Prediger in seiner Situation nach der Relevanz des Verheißungsgeschehens, das in der christlichen Überlieferung und vor allem in ihrer ursprünglichen, normativen Gestalt, den biblischen Texten, bezeugt ist und das in einer ganz bestimmten Weise unter dem Verdacht der Irrelevanz steht. Aber die christliche Überlieferung, das biblische Zeugnis, das Verheißungsgeschehen ist kein sinnvoller Gegenstand der Interpretation im einzelnen homiletischen Akt. Es gibt keine Generalformel für die Fülle der Glaubensüberlieferung, auch keine biblische, auch keinen Lehrtest der Kirche, der nicht alsbald wieder die detaillierte Interpretation herausforderte. Und selbst wenn es möglich wäre, im einzelnen homiletischen Akt das Ganze des christlichen Glaubens zu verantworten, so wie der Prediger es nach seinem Verständnis vermag – die homiletische Situation ist nicht dadurch zu klären, daß der Prediger dieses sein Verständnis repetiert. Denn sofern er teilhat an seiner Hörergemeinde, und in dem Maße, in dem er teilhat, ist ja mit dem Verständnis der Gemeinde auch sein Verständnis vom christlichen Glauben in die Krise, in den Verdacht der Irrelevanz geraten. Darum bedarf er des Textes, des einzelnen biblischen Textes, der Perikope. a) Der Text verfremdet das, was sich von selbst versteht und nun als selbstverständlich in Zweifel geraten ist. In seiner Fremdheit und Besonderheit erzwingt er die Überprüfung des Selbstverständlichen.|43 b) Der Text, in seiner durch seine historische Situation herausgeforderten Besonderheit, profiliert die Überlieferung des Glaubens und das Ereignis ihres Relevantwerdens für das Leben bestimmter Menschen. So ermöglicht und er-

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zwingt er die Konkretion der Rede, gibt ihr eine bestimmte abgrenzbare Thematik. c) Der Text ermöglicht der Hörergemeinde die kritische Distanz gegenüber dem Zeugnis des Predigers und diesem selbst die Kontrolle seiner Rede, seiner homiletischen Einfälle, seiner Formeln, seiner Bilder, seiner Urteile hinsichtlich ihrer Überlieferungsgemäßheit. Er zwingt den Prediger sich selbst, seiner Kirche und seiner Gemeinde gegenüber zur Rechenschaft über das, was er sagt, und die Gründe, warum er es so und nicht anders sagt. All das aber bedeutet in keiner Weise die absolute Herrschaft des Textes und der Exegese über die Predigt. Seine verfremdende, profilierende und kontrollierende Funktion übt der Text auch da aus, wo der Prediger im mehrfachen Abschreiten des Verstehenszirkels zwischen Text und Situation zu der Erkenntnis kommt, daß er nur bestimmte Elemente des Textes in sein Zeugnis aufnehmen kann, andere aber vernachlässigen muß, oder daß er über die Thematik des Textes hinausgreifen oder daß er womöglich in einem bestimmten Sinn gegen den Text predigen muß. Auf jeden Fall differenziert sich dem Prediger in der exegetischen Beschäftigung mit dem Text das Verheißungsgeschehen selbst von der besonderen historischen Gestalt seines Relevantwerdens, wie sie sich im Text dokumentiert, ohne daß er beides säuberlich voneinander trennen könnte und dürfte. Die Differenz, die da sichtbar wird, ermöglicht ihm eine begründbare homiletische Kritik an seinem Text. Er ist ja nicht Zeuge des Textes, sondern Zeuge des Verheißungsgeschehens, er hat nicht das alte Wort des Textes nachzusagen, sondern das neue Wort zu wagen, das jetzt und hier notwendig ist. Daß er es nicht unbegründet und unkontrollierbar sagt, dafür sorgt die Textbindung. Daß er es in persönlicher Haftung riskieren muß, kann ihm kein Text ersparen. 4. Ein neues Verfahren hätte, das ergibt sich schon mit dem letzten Punkt, die Funktion des Predigers als Interpret und|44 Zeuge klar zu definieren, auch hinsichtlich seines unentbehrlichen Beitrags als Person, als Individualität mit ihrer besonderen Begabung, Begrenzung und Ausbildung, mit ihrer Schlüsselrolle im Beziehungsfeld der Gemeinde. Was dieser Beitrag wiegt, entscheidet sich natürlich vor allem außerhalb des homiletischen Auftragsfeldes im engeren Sinn, zum Beispiel am Grad der Partizipation des Predigers an seiner Gemeinde, ihrem persönlichen, gemeindlichen und ihrem Zeitgeschick und an der Weise, wie die sonntägliche Predigt sinnvoll zusammengeordnet ist mit anderen Kommunikationsbemühungen, mit den Veranstaltungen des Kinder-, Jugend- und Gemeindekatechumenats, inwieweit sie sich aus diesem Wirkungszusammenhang speisen und in ihn wiederum fortsetzen kann. In der Predigtarbeit selbst ist es vor allem der Einfall und seine sprachliche Ausführung und Ausformung, wo die Individualität des Predigers voll zum

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Zug kommt und kommen muß. Zwar kommt der Einfall nicht unverhofft, er entsteht bei dem mehrfachen Abschreiten jenes hermeneutischen Zirkels zwischen Text und Situation als intuitive Wahrnehmung einer Möglichkeit der Anordnung und Auswertung des dabei gewonnenen Materials für die Predigt. Aber er ist eben doch ein Ergebnis der Intuition, der interpretatorischen Phantasie, er kommt oft überraschend und hat etwas Schöpferisches. Eben darum bedarf er der Kontrolle, er muß verantwortbar sein gegenüber dem Text und im Hinblick auf die Person des Predigers: der Prediger muß das ausführen können, was ihm da eingefallen ist; was er jetzt sagen will, muß ihm zu-stehen (Kompetenz), es muß ihm wohl anstehen (Glaubwürdigkeit und Redlichkeit) und es muß ihm stehen (Takt und Geschmack). Ein homiletisches Verfahren, das der gegenwärtigen Auftragslage entspricht, müßte seiner ganzen Anlage nach Mut zum Einfall machen und Methoden zu seiner Prüfung darbieten. Es müßte schließlich im Hinblick auf die Ausführung der Predigt das verschüttete Erbe der Rhetorik, mindestens die Fragestellungen der klassischen Rhetorik, aktualisieren. Denn die Predigt ist ein Verständigungsauftrag und als solcher angewiesen auf den kontrollierten Einsatz aller sprachlichen Ein-|45 wirkungsmöglichkeiten, genau wie der Religionsunterricht und andere Kommunikationsbemühungen der Kirche. Das Erbe der Rhetorik wird heute vor allem von den Massenmedien verwaltet; von ihnen wird man lernen müssen bei sorgfältiger Unterscheidung der Situationen und in der Schule der Wissenschaften, die das Kommunikationsproblem untersuchen: Soziologie, Sozial­psycho­ logie, Psychologie, Kybernetik, Informationswissenschaft. Das entscheidende Mittel zur Schulung der Prediger im verantwortlichen Umgang mit der Sprache ist die methodische Predigtkritik. Es gehört mit zu den Folgen eines dogmatisch überfrachteten und überhöhten Predigtbegriffs, daß die Predigtkritik außer im homiletischen Seminar so gut wie überhaupt nicht geübt wird, weder in der Gemeinde noch in den Pfarrkonventen und Pastoralkollegs noch in wissenschaftlicher Bemühung. Infolgedessen fehlt es auch völlig an Kriterien, die dem Pfarrer wenigstens die Selbstkritik ermöglichten. Das gesuchte homiletische Verfahren hätte hier eine seiner wesentlichen Funktionen. Natürlich könnte man im Zusammenhang der Frage nach der Rolle der Individualität des Predigers noch sehr viel radikaler vorgehen. Man kann und man muß wohl fragen, ob tatsächlich jeder Pfarrer von der Kirche verpflichtet werden kann, zu predigen. Jeder Pfarrer hat teilzunehmen an dem Gesamtauftrag der Kommunikation des Evangeliums in der Fülle der parochialen und transparochialen Herausforderungen. Aber gibt es irgendeine zureichende Begründung für die Forderung, jeder Pfarrer müsse dies, trotz seiner ganz andersartigen Begabung, in der Weise der sonntäglichen Predigt tun?

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Die im monopolistischen parochialen Pfarramt konzentrierten Funktionen beginnen sich zu differenzieren. Es gibt Pfarrer, deren Hauptbegabung der Unterricht ist, andere, die die Gabe der Seelsorge haben, andere mit einem organisatorischen Talent, andere, die die geborenen Makler, die geborenen Vermittler zwischen verschiedenen Problembereichen, Interessen, Sachkenntnissen – etwa an einer Evangelischen Akademie – sind. Und es gibt Pfarrer mit einer speziellen rhetorischen und interpretatorischen Begabung. Warum dem nicht Rechnung tragen? Warum|46 nicht die Tatsache, daß sich längst eine Differenzierung kirchlicher Stützpunkte nach ihrer Funktion in der Umwelt ankündigt (Frankfurt am Main – Nordweststadt), positiv aufnehmen und einige von ihnen in zentraler Lage als Zentralkirchen, als spezielle Predigtkirchen ausbauen mit Teams von Pfarrern und Laien, deren besondere Aufgabe eben die Vorbereitung und verantwortliche Durchführung von Predigtgottesdiensten ist? Warum nicht wenigstens diejenigen Pfarrer, die eine besondere Begabung und Erfahrung im Umgang mit den Massenmedien haben, einer rigorosen Spezialausbildung unterwerfen und von allem anderen entlasten? Die Reichweite dieser Medien würde das mehr als rechtfertigen. Aber das traditionelle Verständnis des Pfarramtes macht solche Spezialisierungen gegenwärtig offenbar unmöglich. 5. Ein neues homiletisches Verfahren müßte den Prediger bei der Einsicht festhalten, in welchem Maße er heute auf das kontinuierliche Gespräch mit dem Hörer angewiesen ist. Er braucht das Gespräch mit dem Hörer zur Vorbereitung seiner Predigt, denn nur durch den Hörer gibt sich ihm die Situation zu erkennen, die seine Predigt herausfordert. Er braucht das Gespräch mit dem Hörer vor allem auch, um möglichst genau zu wissen, mit welchem Vorverständnis von der christlichen Überlieferung in Gestalt des Textes die Hörergemeinde ihm gegenübersitzen wird. Beide Erwägungen nötigen zur Einrichtung von Predigtvorbereitungskreisen in den Gemeinden. Der Prediger braucht das Gespräch mit dem Hörer im Anschluß an die Predigt, in der Konsequenz seiner Predigt, um sich zu vergewissern, wie weit er sich verständlich gemacht, was seine Predigt ausgerichtet und angerichtet hat. Der Sonntagsgottesdienst gibt der Gemeinde keine Möglichkeit, das kritische Amen zur Predigt zu sagen, von dem 1. Kor. 14 die Rede ist. Der Prediger muß es sich verschaffen, schon um seiner homiletischen Selbstkritik willen. Vor allem aber muß er es sich verschaffen um der Gemeinde willen. Geht es bei der Kommunikation des Evangeliums um die verständliche Bezeugung der Relevanz der Überlieferung des Glaubens für das Hic et Nunc, dann ist die sonntägliche Predigt in ihrer Isolierung prinzipiell nicht ausreichend|47 zur Erfüllung des Kommunikationsauftrags. Die sonntägliche Predigt kann, trotz al-

9.1  Ernst Lange: Die Predigt als Vermittlung zwischen Text und Situation

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ler Bemühung um Situationsgemäßheit, niemals etwas anderes als das »Wort für alle«, das »Wort für viele«, also ein allgemeines, in der notwendigen Konkretion behindertes Wort sein. Sie muß also, davon war ja schon die Rede, durch weitere Stufen der Interpretation ergänzt werden, den Katechumenat, das mutuum colloquium und das Einzelgespräch. Ziel dieser von der Predigt ausgelösten und zur Predigt zurückführenden Gespräche ist das Relevantwerden der christlichen Überlieferung für die spezielle Lebenssituation, die spezielle Auftragslage des einzelnen Hörers in seinen gesellschaftlichen Gruppierungen, die Diaspora des Glaubens. Gefragt ist letztlich nach Christus als der endgültigen Verheißung, der Verheißung also auch meines alltäglichen Daseins, auf die hin ich als Glaubender in Liebe und Hoffnung mit meiner Umwelt umgehen, sie ertragen und verändern kann. Die Predigt kann nie etwas anderes sein als ein Gesprächsgang in dem Versuch einer Antwort auf diese Frage. Und ob sie ein sinnvoller Gesprächsgang ist, entscheidet sich daran, in welchem Maße sie aus dem Gespräch erwächst und wiederum ins Gespräch hineinführt. 6. Das homiletische Verfahren muß hantierbar sein. Es gibt eine ganze Reihe von durchaus positiven Anweisungen zur Predigtarbeit, sowohl innerhalb der praktisch-theologischen Tradition der Dialektischen Theologie als auch jenseits dieses Ansatzes. Sie haben alle, wie mir scheint, eines gemeinsam: sie rechnen damit, daß der Pfarrer sich zwei oder drei Arbeitstage lang intensiv mit seiner Predigt beschäftigen kann. Der Pfarrer kann das nicht, und er wird es angesichts der zurückgehenden Bedeutung des sonntäglichen Gottesdienstes immer weniger können und dürfen. Das ist ja einer der Gründe, warum die verbreiteten und mindestens zum Teil sehr guten wissenschaftlichen Meditationen faktisch für viele eine geringe Hilfe sind und manchmal sogar eine negative, entmutigende Wirkung haben. Sie würden nur helfen, wenn sie wirklich angeeignet werden könnten. Und das allein würde in der Regel einen ganzen Arbeitstag und mehr erfordern. Und dann ist für die Ausformulierung der Predigt ja noch gar nichts getan.|48 Appelle nützen nicht, sie machen nur das Gewissen schwer. Daß der Pfarrer so wenig Zeit für seine Predigt hat, liegt nicht an seinem bösen Willen, an seiner Trägheit, an seiner Resignation, an seiner falschen Zeiteinteilung, an seiner mangelnden Einsicht in das Wesentliche – das alles sind ja erst Folgen der Überforderung –, sondern es hat strukturelle Gründe. Sein Amt ist, angesichts der exzentrischen Lage der Kirche in der Gesellschaft, dysfunktional geworden. Er kann nicht zugleich einer volkskirchlichen Mitgliederschaft dienen, deren Teilnahme zwar abnimmt, deren Ansprüche aber gestiegen sind, einfach weil die Zahlen gestiegen sind,

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9.  Entwicklungen der Homiletik im Kontext der »empirischen Wende«

und zugleich einer vereinskirchlichen Gemeinde, die ein intensives Binnenleben zu führen wünscht, zu seiner Aufrechterhaltung aber überall – darin noch ganz volkskirchlich – die Initiative des Pfarrers verlangt, und zugleich einer Kirche für andere, die vorläufig nicht existiert, obgleich der Pfarrer in der Regel über genug Phantasie verfügt, um zu begreifen, welche Verheißung und welche zwingende Kraft dieses Konzept von Kirche hat. Man kann aus diesem Nicht-Können den Schluß ziehen, die ganze Position Ortsgemeinde mit ihrer Zentralfunktion, dem Sonntagsgottesdienst, sei erledigt und sinnlos. Aber der notwendige Wandel der Kirche im Wandel der Zeit ist, wenn man nicht völlig den Reißbrettentwürfen verfällt, eine Frage verantwortlich geleisteter Übergänge. Einer der Orte, an denen der Übergang fällig und, wie ich glaube, möglich ist, ist die Ortsgemeinde. Und das Übergehen wird nicht zustande kommen ohne die Predigt, die nun einmal im Leben der Gemeinden eine wesentliche Bedeutung hat. Gesucht ist ein neues homiletisches Verfahren. Es muß in der Realität gemeindlichen Lebens hantierbar sein. Es muß die Freude am Predigen fördern.|49 IV. Thesen zur Aufgabe der Predigthilfe 2 1. Predigt ist formal gesehen ein Auftrag zur Kommunikation. Sie ist Mitteilung an den Hörer, die auf sein Einverständnis und seine Einwilligung zielt. Sind Einverständnis und Einwilligung dabei als Akte persönlicher Entscheidung letztlich unverfügbar, so setzen sie doch allemal Verständigung voraus. Für das Gelingen solcher Verständigung sind die Kommunizierenden voll verantwortlich. Verständlichkeit der Predigt ist daher unabdingbares Kriterium ihrer Auftragsgemäßheit. Das bestimmt die Vorbereitung der Predigt in allen ihren Phasen. 2. Inhaltlich gesehen ist Predigt bezeugende Interpretation der biblischen Überlieferung. Dem Hörer soll verständlich bezeugt werden, wie ihn das in der Bibel bezeugte Geschehen in seiner gegenwärtigen Situation angeht und trifft, zum Glauben befreit und zum Gehorsam ermutigt. Er selbst soll durch die Predigt davon Zeuge werden, wie Jesus Christus gegenwärtig »Herr der Situation« ist, d.h., wie der Glaube an Christus des Hörers Situation erhellt, klärt, ver2  Die nachstehenden Thesen stellen gleichsam das Redaktionsprogramm der »Predigtstudien« dar, die seit 1. Juli 1968 mit zwei Bänden im Jahr beim Kreuz Verlag erscheinen. Jedenfalls drücken sie den Konsensus des Kreises der Herausgeber aus, die im übrigen aus ganz verschiedenen theologischen Lagern stammen. Bei der homiletischen Arbeitstagung in Esslingen, September 1967, wurde der Inhalt dieser Thesen von Ernst Lange ausführlich erläutert und dann in mehreren Gesprächsgängen diskutiert.

9.1  Ernst Lange: Die Predigt als Vermittlung zwischen Text und Situation

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ändert und mit Verheißung erfüllt. Wo es gelingt, die biblische Überlieferung mit der gegenwärtigen Situation des Hörers zu »ver-sprechen«, ist dem Predigtauftrag Genüge getan. Predigt gleicht also einem Lichtbogen zwischen zwei Polen: Tradition und Situation, Geschichte und Gegenwart, Botschaft und Bezeugung sind Korrelate und gehören untrennbar zusammen. Der Prediger steht vor der Aufgabe, eine verständliche Aussage darüber zu machen, wie »Christus jetzt und hier für den jeweiligen Hörer Herr der Situation« ist. 3. Der Hörer in seiner Situation ist der Zielpunkt des Weges, den der Prediger zu gehen hat. Es genügt nicht, biblische Texte zu interpretieren und dann mehr oder weniger unkon-|50 trolliert und ungezielt zu applizieren. Der heutige Hörer steckt ebensowenig im Text wie seine gegenwärtige Situation. Die Frage nach dem Hörer und seiner Situation hat daher selbständigen Rang neben und in der Regel (zeitlich, wenn auch nicht theologisch) sogar vor der Frage nach der Überlieferung (zum Beispiel bei der Kasualrede). Die Betonung der »Was-Frage« darf nicht länger die spezifisch homiletischen Fragen desavouieren: Wem ist jetzt und hier zu predigen? Durch welche Situation sieht sich die Kirche jetzt und hier zur Predigt herausgefordert? Wozu soll in dieser Situation gepredigt werden? Wie kann in dieser Situation dem besonderen Hörer verständlich gepredigt werden? Erst diese homiletischen Fragen konkretisieren die »Was-Frage«. Predigtvorbereitung ist der methodische Versuch, zu einer verständlichen Aussage darüber zu kommen, wie die gegenwärtige Situation die Rückfrage nach der Überlieferung auslöst, wie umgekehrt die Überlieferung diese gegenwärtige Situation erhellt, klärt und verheißungsvoll macht, wie also Tradition und Situation sich »versprechen«. 4. Predigthilfe ist demnach mehr als Hilfe zur Textauslegung und meditativen Aneignung eines biblischen Textes. Sie ist immer zugleich Einweisung in die »homiletische Situation«. Gemeint ist damit diejenige Situation, durch die die predigende Kirche sich jetzt und hier zur Verkündigung herausgefordert sieht. Die konkrete »homiletische Situation« ist dabei generell nur in Umrissen beschreibbar. Ihre genaueren Konturen sind nur »vor Ort« erkennbar. Da letztlich jeder Hörer in einer spezifischen, nur ihm selbst bekannten und erhellbaren Lage ist, bleibt der Prediger auf die Kommunikation mit dem Hörer angewiesen. Gemeindeglieder, die die Wirklichkeit aus verschiedenen Perspektiven kennen, müssen die Rede der Kirche mitverantworten, wenn die Predigt nicht beziehungslos und belanglos werden soll. Predigt und Predigtvorbereitung tragen daher prinzipiell dialogische Struktur. Sie sind ein aus dem Dialog erwachsendes und den Dialog wiederum eröffnendes Geschehen. Besondere Arbeitsformen

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9.  Entwicklungen der Homiletik im Kontext der »empirischen Wende«

gemeinsamer Predigtvorbereitung, Predigtbesprechung und Predigtkritik in der Gemeinde nötigen sich von daher auf.|51 5. Die Frage nach dem Hörer oder Hörerkreis, die »homiletische Großwetterlage« mit ihren allgemeinen Bedingungen des Lebens in den sozialen Beziehungsfeldern (Politik, Wirtschaft, Arbeit, Kirche, kulturelles Leben, öffentliche Meinung usw.), die örtliche Situation, der besondere Anlaß der Predigt, der Kasus – das alles bedingt und bestimmt die speziellen Formen der Kommunikation. Es zeigt sich daran zugleich die spezielle Schwierigkeit jeder Predigthilfe von außen. Denn letztlich sind solche Fragen präzis nur vom einzelnen Prediger zu beantworten. Predigthilfe kann darum nicht mehr sein als Vermittlung der Impulse, des Materials und der Methoden zur Beantwortung der Frage nach sachgerechter und situationsgemäßer Auslegung. Sie ist Hilfe zur Selbsthilfe. 6. Beim mehrfachen Abschreiten des Verstehenszirkels zwischen Tradition und Situation kommt es zu »homiletischen Einfällen«, von denen schließlich einer als in der Spannung zwischen Text und Situation begründet und darum mehr oder weniger zwingend übrigbleibt. Der Einfall ist kein Offenbarungsereignis, sondern ein Durchbruch im Verstehen und zur Möglichkeit des Verständlichmachens. Er ergibt sich nicht direkt aus dem Text, etwa als sein Skopus, sondern aus dem spannungsreichen Aufeinandertreffen von Textverständnis und Situationsverständnis. Ihm folgend wird der Prediger auf jeden Fall nicht den Text nachsprechen, sondern sein eigenes »neues Wort« sagen. Eben darum bedarf der »Einfall« und der aus ihm folgende homiletische Entwurf der theologischen Kontrolle, und zwar der exegetischen und systematischen, aber auch der soziologisch-ideologiekritischen, psychologischen und sprachlichen Kontrolle. 7. Predigthilfe als Hilfe zur Selbsthilfe wird mithin bereitzustellen haben: a)  Hilfen zum Verstehen der Überlieferung und der homiletischen Situation; b)  Material und Methoden zur Kontrolle des Einfalls und des homiletischen Entwurfs.

9.2  Gert Otto: Die Predigt als Rede

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9.2  Gert Otto: Die Predigt als Rede  Gert Otto, Predigt als Rede. Über die Wechselwirkungen von Homiletik und Rhetorik, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz: Kohlhammer, 1976, S. 9–34.

0. Verständigung mit dem Leser Rhetorik, rhetorisch meint im deutschen Sprachgebrauch: glanzvolle Rede, formal gekonnt – was immer auch der Inhalt sei. Wer also von Rhetorik spricht, ist bei uns abgestempelt. Was könnte er anders meinen als schön schimmernde Außenseiten? Ich bitte den Leser, dieses Vorurteil, also die mitgebrachte Meinung, was Rhetorik sei oder vermöge, vorerst aufzugeben – nur um zu überprüfen, ob es sich dennoch bestätigt, ob es also in der Rhetorik wirklich nur ums Äußerliche, nur ums Formale geht. Denn das ist die Frage. Ich biete ein anderes Vorurteil an, auch ein Vorurteil, das nicht minder zur Überprüfung ansteht. Mein Vorurteil – es hat übrigens ebenso ehrwürdige Väter wie das andere – lautet so: Wahrheit ist nicht zu haben ohne den Prozeß der Wahrheitsfindung und der Mitteilung von Wahrheit. Was wahr ist, ist nicht per se wahr, sondern in Auseinandersetzung mit dem, was unwahr ist, und es ist wahr für die, denen ich es mitteilen will. Mit dem Weg, auf dem ich Wahrheit finde, und mit der Weise, sie andern mitzuteilen, damit es ihre Wahrheit werde, hat es Rhetorik zu tun. Das heißt: Wahrheit ist nicht eine Substanz, von der ich die Form ihrer Verbreitung abtrennen könnte. Freilich, wenn man diesen Satz bestreitet, dann ist Rhetorik in der Tat etwas, wie man gern sagt, nur »Formales«. Mit diesem Rhetorik-Verständnis wird hier nicht gearbeitet. In diesem Buch wird Rhetorik, unter Berufung auf ihre beste inhaltliche Tradition und gegen ihren eigenen Formalismus, bei ihrer stärksten Seite genommen. Rhetorik ist das Stichwort, das den komplexen Prozeß signalisiert, um den es geht: um das Finden von Wahrheit, die mitteilbar gemacht werden soll für Zeitgenossen. In diesem Sinne ist hier von Rhetorik die Rede. Daß dies alles im Blick auf Predigt geschieht, wird manchen zusätzlich irritieren, weil wir gewöhnt worden sind, Predigt theologisch, nicht aber rhetorisch zu betrachten. Das ist eine vergleichsweise moderne Gewohnheit – und hier bitte ich den Leser ein zweites Mal, mitgebrachte Vorentscheidungen für eine kurze Zeit aufzugeben, um mein Vorurteil zu überprüfen: Predigt gehört in die Rhetorik hinein, weil sie eine genuine Redesituation darstellt (was übrigens in der Rhetorik noch nie jemand zu bestreiten in den Sinn gekommen ist, sondern nur in|10 der Theologie; die Geschichte der Rhetorik ist nämlich ohne die Geschichte der Predigt und der Predigtlehre gar nicht denkbar).

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9.  Entwicklungen der Homiletik im Kontext der »empirischen Wende«

Wie gesagt: Für den Leser seien dies Vorurteile – sie stehen der Überprüfung, der Widerlegung oder auch der Bewahrheitung offen. Worum es mir geht, ist der Versuch, Rhetorik als inhaltliche Kategorie für die Predigt zu verstehen, wobei die Form immer zum Inhalt gehört. So wie es Konfuzius auf seine Weise verdeutlicht hat: »Wenn die Sprache nicht stimmt, so ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist; ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeihen Moral und Kunst nicht; gedeihen Moral und Kunst nicht, so trifft die Justiz nicht; trifft die Justiz nicht, so weiß die Nation nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Also dulde man keine Willkürlichkeit in den Worten. Das ist es, worauf alles ankommt.« Ich möchte mit diesen Hinweisen von vornherein über mein Interesse und mein Ziel keinen Zweifel lassen, damit sich der Leser darauf einstellen kann, und sei es, um sich zu wehren. Weil ich dies erwarte – denn es ist des Lesers Recht –, werde ich nichts unversucht lassen, den geneigten oder abgeneigten Leser zu überzeugen. Darum habe ich auch für die Mitteilung des Hauptgedankens […] der bei uns zu Lande als »wissenschaftlich« geltenden kühlen Distanz gegenüber dem Gegenstand wie dem Adressaten den Abschied gegeben. Ich kann und mag hier nicht »distanziert« oder »objektiv« reden, und ich scheue die Mitteilung des subjektiven Engagements nicht, soweit meine Argumente dafür reichen. Vielleicht gelingt es auf diese Weise, ein Buch zu schreiben, das der Praxis annähernd gerecht wird – was ja wohl heißen wird: das die Praxis verändern, verbessern hilft. Insofern ist das Buch selber ein »rhetorisches« Experiment. Ob es zugleich nach andern Maßstäben »wissenschaftlich« genug ist, ist mir ziemlich gleichgültig, wie vermutlich auch den Lesern, die ich mir wünsche. |11 1. Vorklärungen und Ausgangspunkte 1.1. Zur gegenwärtigen Problematik von Predigt und Homiletik 1.1.1. Zu Situation und Wertung der Predigt Allgemeine Urteile Der durchschnittliche außerkirchliche Sprachgebrauch ist verräterisch. In Willy Brandts großer Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 26. September 1973 – anläßlich der Aufnahme der Bundesrepublik – findet sich eine allein durch die Wortwahl bezeichnende Passage. Nach eher analytischen Ausführungen über Konfliktsituationen im weltweiten Maßstab fährt Brandt fort: »Ich predige dabei kein konfliktloses, kein spannungsloses Dasein. Das

9.2  Gert Otto: Die Predigt als Rede

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wäre eine blutarme Illusion. Ich rede von den fruchtlosen und negativen Konflikten, die uns täglich bestätigen, daß der Mensch in Furcht vor dem Menschen fähig ist, sich selbst zu zerstören.« Was zeigt sich hier wie in einem Brennspiegel? Das Wort »predigen« legt sich für Brandt nahe, wo es um eine unwirkliche Sicht der Welt geht, um die – gemessen an den wahren Zuständen – naive Vorstellung eines konfliktlosen, spannungslosen Daseins. »Predigen« steht also hier für »blutarme Illusion«. Der parallel gebaute Folgesatz, in dem die Realität hart dagegen gehalten wird, beginnt mit einem vom Redner offensichtlich ebenfalls als gegensätzlich empfundenen Verb: »Ich rede von …« Das zugespitzte Beispiel kann für viele andere stehen. Der Sprachgebrauch dokumentiert die Predigtverdrossenheit des Zeitgenossen. Und schon im Sprachgebrauch ist der Lasterkatalog enthalten, den man auf näheres Befragen von vielen zu hören bekommen kann. Daß er durch Einzelbeispiele immer auch widerlegt werden kann, darf nicht hindern, ihn ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen. Die Hauptvorwürfe, die sich in der Tat allesamt am Material von Predigten verifizieren lassen, kann man so zusammenfassen: – Ich, als Hörer, komme mit meinem konkreten Leben, mit meinen Problemen in der Predigt nicht vor. – Die Predigt ist so allgemein oder so abstrakt, daß sie nichts-|12 sagend ist, wo sie konkret sein müßte, wenn ich verstehen soll, was gemeint ist. – Die theologischen Probleme, die der Prediger verhandelt, mögen seine Fragen betreffen – meine Fragen sind es nicht. – Ich will nicht dauernd mit dem moralischen Zeigefinger bedroht werden, auch nicht die Schelte bekommen, die denen gilt, die nicht zuhören. Diese Einwände tauchen in zahllosen Variationen auf. Es ist einfach, viele mit diesen Einwänden zusammenhängende Mißverständnisse, sicher auch Ungerechtigkeiten, zu erklären – zu einfach. Denn der Tatbestand bleibt bestehen: So reagieren viele auf viele Predigten. Dies ist zur Kenntnis zu nehmen, ehe man es wegerklärt. Denn es könnte ja sein, daß es mit der durchschnittlichen Predigt zusammenhängt, selbst wenn es komplizierter ist, als die Vorwürfe vermuten lassen? Deswegen muß die Lehre von der Predigt solche Einwände und Pauschalurteile zum Ausgangspunkt der Überlegung machen, statt sie durch dogmatische Setzungen, durch fachtheologische Axiome oder steile Prämissen zu überspielen. Anders gesagt: In den Ansatz des Nachdenkens über die Predigt als Rede gehört die Reaktion des Hörers auf die Rede grundlegend hinein. Und die öffentliche Reaktion – also die der Nichtkirchgänger vor allem – aufs Predigen schwankt zwischen belanglos, langweilig und überflüssig. Ist ein Predigtverständnis denkbar, ist eine Wahrnehmung der Predigtaufgabe möglich, die geeignet wären, dieses Urteil zu widerlegen?

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9.  Entwicklungen der Homiletik im Kontext der »empirischen Wende«

Erwartungen der Predigthörer Dem Allgemeinurteil der Öffentlichkeit steht das Bild gegenüber, das sich aus Erwartungen, Einschätzungen und Wertungen der Gemeindeglieder ergibt. Trotz aller Vorbehalte, die gegenüber Meinungsumfragen, speziell im kirchlich-religiösen Bereich, bestehen, sind die beiden empirischen Untersuchungen der VELKD und der EKD über Gottesdienst und Kirchlichkeit für uns aufschlußreich. »Die Predigt ist wesentliches Element des Gottesdienstes. Gefragt, weswegen man zur Kirche gehe, suchen … 45 % der Kirchenbesucher im weitesten Sinne die Antwort heraus: wegen der Predigt« (91)1. Die knappe Hälfte der Gottesdienstbesucher begegnet nach der VELKD-Untersuchung der Predigt mit er-|13 heblichen Erwartungen. Dies scheint mir aufschlußreicher als das andere Ergebnis, daß 75 % als Predigtthema das »Wort Gottes« wünschen, aber nur 10 % »Politische Tagesfragen«; hier verfehlt die Themenliste eindeutig die Problematik und führt die Befragten auf falsche Wege: Wenn man »Wort Gottes« als abgelöstes Thema gegenüber andern selbständigen Themen wie »Gewissen«, »Mensch und Gesellschaft« oder eben »Politische Tagesfragen« zur Auswahl anbietet, so suggeriert man den Befragten, daß eine solche unsinnige Aufteilung möglich sei – und sie fallen prompt darauf herein (was freilich auch etwas sagt, und zwar über das, was sie z.B. in Predigten gelernt haben). Inhaltlich ergiebiger ist in diesem Zusammenhang die Auswertung der EKDErhebung. Hier zeigt sich, daß sich, gegenläufig zu verbreiteter theologischer Kritik, positive Erwartungen gegenüber der Kirche vorzugsweise im Zusammenhang der Amtshandlungen ausdrücken. »Das sind Handlungen, in denen sich das kirchliche Angebot mit wichtigen lebensgeschichtlichen und sozialen Bedürfnissen der Mitglieder besonders deutlich verschränkt« (236). Die Interpretation dieser Beobachtung lautet: »Je stärker das liturgische Handeln und die Predigt der Kirche auf die lebensgeschichtlichen und sozialen Bedürfnisse der Mitglieder (an deren Ernst und gleichsam evangelischer Berechtigung und Relevanz nicht gezweifelt werden kann) eingehen, desto größer ist die Nachfrage und die Teilnahme« (240). Daraus wird hinsichtlich der Bedeutung und Funktion des Gottesdienstes und der Predigt – und zwar jetzt verallgemeinernd: des Sonntagsgottesdienstes und der Sonntagspredigt, nicht der sog. Amtshandlungen – im Erwartungshorizont des Gottesdienstbesuchers die Folgerung gezogen: Sie erfüllen offensichtlich bestehende Erwartungen nicht zureichend. Vielmehr zeigt sich in 1  Für Zitate sind die bibliographischen Angaben jeweils dem am Ende des Kapitels stehenden Abschnitt »Belege, Materialien, Hintergründe« zu entnehmen; die Seitenangaben sind im Text in Klammer beigefügt.

9.2  Gert Otto: Die Predigt als Rede

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ihrem Angebot »ein Defizit an lebensgeschichtlich und sozial relevanter Religion, letztlich ein Mißlingen von Kommunikation und Interpretation. Daß dieses Mißlingen ein zwangsläufiges Ergebnis schicksalhaft sich vollziehender gesellschaftlicher Prozesse sei, kann nicht als ausgemacht gelten« (240). Nimmt man jetzt das öffentliche Pauschalurteil über die Belanglosigkeit der Predigt und die hohe, weitgehend unerfüllte Erwartung der Gottesdienstbesucher zusammen, so ergibt sich trotz verschiedenem Ausgangspunkt und unterschiedlicher Beziehung zur Kirche ein verblüffend gleichartiges Urteil: Beide Seiten vermissen bzw. fordern in der Predigt die konkrete, lebensbezogene Aussage. Das sollte für die Predigttheorie zu denken geben. |14 Probleme der Prediger Die Zeit, die Prediger in die Vorbereitung ihrer Predigt investieren, ist erheblich. Eine Befragung über »Berufsverständnis und Berufswirklichkeit Berliner Gemeindepfarrer 1963« ergibt für die Vorbereitung auf Gottesdienste und Amtshandlungen wöchentlich im Durchschnitt 13,3 Stunden (in den verschiedenen Altersgruppen etwas schwankend). Das ist der höchste Wert in der Skala der verschiedenartigen Tätigkeitsfelder eines Gemeindepfarrers. Nimmt man die etwas andere Fragestellung einer katholischen Erhebung über »Priester und Predigt«, nämlich nach der durchschnittlichen Vorbereitungszeit einer Sonntagspredigt, so ist das Bild nicht wesentlich anders: Bei über 80 % der Befragten sind es durchschnittlich ca. fünf Stunden (44,8 % bis zu drei Stunden; 41,6 % bis zu sieben Stunden). Das ist, vorsichtig verglichen mit entsprechenden Tätigkeiten in andern Berufen (z.B. Lehrern auf der Oberstufe des Gymnasiums oder Richtern oder Anwälten), für die Bewältigung einer allwöchentlich wiederkehrenden Aufgabe im zeitlichen Umfang von etwa zwanzig Minuten ein unverhältnismäßig zeitintensiver Aufwand. Diese Intensität läßt sich vermutlich kaum vom Umfang oder Schwierigkeitsgrad der Aufgabe her erklären; sie hängt vielmehr mit Verständnis und Funktion der Aufgabe im Zusammenhang des Selbstverständnisses des Pfarrers zusammen. Kurz gesagt: Ihre Identität gewinnen viele Pfarrer als Prediger. Predigt ist Ort der Identitätsfindung für Pfarrer. Dies hängt mit Weichenstellungen der Dialektischen Theologie, aber in deren Folge durchaus auch der kerygmatischexistentialen Theologie zusammen, in deren Zusammenhang Verkündigung allein im Vollzug der Predigt kulminierte und Predigt – zugespitzt – weniger als Rede zu Menschen, sondern eher als Ausruf des Wortes Gottes verstanden wird – weitgehend unabhängig davon, wie immer die menschliche Situation auch beschaffen sei, oder existential: gegenüber gleichbleibenden menschlichen Grundsituationen. Predigt ist weniger Rede zu konkreten Adressaten, sondern Ort theologischen Selbstvollzugs. Nimmt man hinzu, daß man nach Karl Barth

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oder Eduard Thurneysen nur predigen kann als einer, der weiß, daß er’s nicht kann, und macht man sich die aus dieser These folgende psychische Lebenslage eines Menschen klar, der allwöchentlich predigen muß (als einer, dessen Theologie ihm das Bewußtsein gibt, es nicht zu können), so liegt die überanstrengte Situation auf der Hand. Kein Wunder, daß es|15 schwer ist, mit Pfarrern sachlich über Probleme der Predigt zu diskutieren; kein Wunder, daß es schwer ist, mit Pfarrern über ihre eigene Predigt zu diskutieren, denn jede kritische Anfrage trifft viel tiefer ins Persönliche, als es der Fragesteller meint oder will. Charakteristisch ist nun, daß diese theologische Hochstilisierung, ablesbar am unübertrefflichen Stellenwert, den man der Textbindung und der Textauslegung für die Predigt zumißt, für die konkrete, die faktisch produzierte und gehaltene Predigt wenig oder gar nichts austrägt. Das kann man an Beobachtungen, die uns später noch beschäftigen werden, leicht belegen (vgl. 1.1.2.). Fassen wir die drei Aspekte – allgemeine Urteile, Erwartungen der Predigthörer, Probleme der Prediger –, unter denen wir uns skizzenhaft und stichwortartig der gegenwärtigen Problematik von Predigt und Predigtlehre genähert haben, zusammen, so ergibt sich: – Im öffentlichen Bewußtsein ist die Predigt blutleer und wirklichkeitsarm. – Predigthörer verlangen nach Einbeziehung ihrer konkreten Lebenssituation in die Predigt. – Der arbeits- und zeitintensiven Predigtvorbereitung entspricht eine theologische Überanstrengung, die dem Identitätsgewinn des Predigers als Theologen, nicht aber dem Zuhörer in seiner Lebenswirklichkeit dient. – Ausnahmen bestätigen die Regel. 1.1.2. Zur herrschenden Lehre von der Predigt Sonntag für Sonntag und dazu noch in der Woche wird landauf, landab gepredigt. Teils neben, teils hinter dieser Praxis – die Beziehungen sind ambivalent – steht eine Predigtlehre, die in ihrem Kern relativ klar umreißbar ist. Sie ist durch theologische Weichenstellungen charakterisiert, die mit den Namen Rudolf Bultmann und Karl Barth verbunden sind. Weichenstellungen, die direkt oder indirekt nachwirken, unabhängig davon, ob sich der einzelne dessen bewußt ist oder nicht. Damit ist zugleich die durchgängige Warnung verbunden: Hände weg von der Rhetorik! Das ist leicht an Aufsätzen Bultmanns und Barths zu verdeutlichen. Ich gehe dabei von Bultmanns Aufsatz »Allgemeine Wahrheiten und christliche Verkündigung« (1957) aus, ergänze ihn mit dem Aufsatz »Echte und säkularisierte Verkündigung|16 im 20. Jahrhundert« (1955) und schlage die Brücke zu sehr viel früheren Ausführungen Barths und Thurneysens.

9.2  Gert Otto: Die Predigt als Rede

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Für Bultmann steht fest: »Verkündigung ist Anrede, und zwar autoritative Anrede, die Anrede des Wortes Gottes, das paradoxerweise durch einen Menschen, eben den Prediger, gesprochen wird« (166; vgl. auch 124). Es geht um den »Ruf Gottes« (123) und seine besondere Autorität (123). Predigt kennzeichnet sich gegenüber andern Anrede- oder Aussageformen dadurch, daß ihr »ein Wort der Schrift als Text zugrunde l(i)egt, in dessen Auslegung sie besteht« (167). Dieses Schriftwort unterscheidet sich qualitativ schier unermeßlich vom Dichterwort, weil in jenem immer nur »allgemeine Wahrheiten, d.h. Wahrheiten, die jedermann zugänglich sind« (167) ausgesprochen werden können; oder anders: weil sich in der Kunst immer nur »der Mensch selbst« ausspricht (123). Dagegen hat die »Anrede des Wortes Gottes ihren Sinn darin …, daß sie hier und jetzt dich und mich trifft« (167). Dabei wird etwas Spezifisches mitgeteilt, nämlich das Ereignis der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Das Paradoxe ist dabei, »daß in dieser ›Mitteilung‹ sich jenes Geschehen stets neu vollzieht, indem ein historisches Ereignis als eschatologisches Ereignis verkündigt wird« (168; vgl. auch 127). Mitteilende Anrede in diesem Sinn kann sich der Mensch niemals selbst sagen, er kann sie sich »immer wieder nur sagen lassen« (170). Der Ton liegt dabei ebenso auf »sagen lassen« wie auf »immer wieder«, weil die Wahrheit der Verkündigung »gerade nicht ›einleuchtend‹, sondern paradox, ein Ärgernis für den ›natürlichen‹ Menschen« (170) ist. Diese je hier und jetzt dem einzelnen geltende Wahrheit der Verkündigung ruft in die Entscheidung. »Über diese Verkündigung gibt es daher keine Diskussion; sie fordert einfach Glauben« (123). Oder: »Glauben heißt in Einem: Vertrauen und Gehorchen« (128; vgl. auch 129). Auf dem Hintergrund der prinzipiellen Trennung zwischen allgemeinen Wahrheiten und der Wahrheit christlicher Verkündigung kann Bultmann nach ihrer Zusammengehörigkeit fragen. Es ist der Zusammenhang von Gesetz und Evangelium, der hier das begriffliche und theologische Gerüst abgibt. »Das Evangelium wendet sich an den Menschen. Zum Menschsein gehört es, unter dem Gesetz zu stehen – oder wir können jetzt auch sagen: im Bereich der allgemeinen Wahrheiten zu leben« (174). Dabei geht es nicht um die Frage der »Anknüpfung«, sondern um die schlichte Tatsache, daß der von der Gnade Angeredete eben der Mensch ist, der unter dem Gesetz (im weiteren Sinne gemeint)|17 lebt. Nur als ein solcher kann er überhaupt die Rede von der Gnade verstehen. Von hieraus haben »allgemeine Wahrheiten, sofern sie in der konkreten Situation als Anrede begegnen, ihren notwendigen Platz in der Verkündigung des Evangeliums« (175). Schließlich stellt die Verkündigung in ein bestimmtes Verhältnis zur Welt. Da Jesus als das Ende der Welt zu verkündigen ist, folgt daraus für den Glaubenden, »die gleiche Paradoxie für das eigene Leben gelten zu lassen und, ob-

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wohl innerhalb dieser Welt lebend, ihr doch enthoben sein, sich von ihr schon gelöst zu haben« (128). Was kennzeichnet dieses Verkündigungsverständnis? Ich hebe eine Reihe von Gesichtspunkten hervor, deren Auswahl – um eine solche handelt es sich – durch die weiteren Überlegungen gesteuert ist: – Verkündigung wird als Predigt verstanden, und zwar nahezu ausschließlich. – Predigt ist autoritative Anrede. – Formale und inhaltliche Schriftbindung gehören notwendig zur Predigt. Das Wort der Schrift hat eigene Autorität und eigene Qualität gegenüber jedem andern Wort. – Der Predigthörer wird in die Entscheidung gestellt. Dem autoritativen Charakter der Predigt entspricht es, daß Glauben, und das heißt Gehorsam, gefordert ist, über den nicht zu diskutieren ist. – Der Inhalt der Verkündigung distanziert von der vergehenden Welt. Mit diesem Verständnis von Verkündigung repräsentiert Bultmann, urteilt man nach landläufig zu hörenden Predigten, nicht nur den common sense der Diener des Wortes, sondern zugleich steht er in einem breiten theologischen Traditionsstrom: dem der Dialektischen Theologie. Dies scheint mir in unserem Zusammenhang schwerer zu wiegen als die Differenzen, die etwa Barth und Bultmann bezüglich ihrer Predigten in ihrem jetzt vorliegenden Briefwechsel selbst thematisiert haben. Wenn zum Beispiel Barth in seinem 1935 gehaltenen Vortrag über »Die Gemeindemäßigkeit der Predigt« gegen die »freundliche Synthese« zwischen einer Argumentation »von Christus her« und »vom Menschen her« votiert, so mag seine Polemik gegen wen auch immer gerichtet sein – die Zusammenfassung liegt jedenfalls wieder sehr dicht bei Bultmanns eigener Gedankenführung: »Die interessierte Frage nach der Gemeinde und|18 ihren anthropologischen, soziologischen und politischen Möglichkeiten würde zur ersten Frage werden, die Form würde den Inhalt vergewaltigen, die Predigt würde von daher bestimmt und dann würde die Predigt das, was sie wirklich nicht werden soll: eine Aktion im luftleeren Raum!« Von daher stimmen Barth und Bultmann in ihren prinzipiellen Äußerungen zur Bindung der Predigt an den Text, in ihrem Grundverständnis der Predigt als Textauslegung und der Ablehnung anthropologisch orientierter Fragen überein. Dem gegenüber wirken die einschlägigen Äußerungen Thurneysens wie eine nochmalige Übersteigerung. Aber unabhängig von ihrem historischen Ort scheint mir ein Nachklang dieser Emphase bis in die heutige Predigtpraxis deutlich spürbar:

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»Der deus absconditus, die ganz tiefe Verborgenheit und Unzugänglichkeit Gottes für den Menschen auf der einen Seite – Gott wäre nicht Gott, wenn es Brücken, direkte Wege und Zugänge ebenen Fußes vom Boden des Menschen zu ihm hinüber gäbe –, und auf der anderen Seite der Mensch und sein Deuten, Benennen und Künden dessen, was kein Auge (kein Auge!) gesehen und kein Ohr (kein Ohr!) gehört und was in keines Menschen (in keines Menschen!) Herz gekommen ist, unser Begreifen dessen, das nur als unbegreiflich begriffen werden kann, unser Reden von dem, über den zu reden nicht möglich ist, weil nur in seinem eigenen Worte von ihm geredet werden könnte, die unerhörte Frohbotschaft vom Begegnen Gottes mit dem Menschen, des Gottes, der in einem Lichte wohnt, da niemand zukann, mit dem Menschen, der sterben, nichts weniger als sterben muß, wenn er Gott begegnet. Wer will hier einen Brückenschlag wagen …?« Folgerichtig lautet die Konsequenz: »Nur in der tiefen Einsicht kann gepredigt werden, daß eigentlich nicht gepredigt werden kann.« Es wäre dringlich einer Untersuchung wert, welche psychischen Wirkungen für den Prediger und sein Selbstverständnis, seine Selbsteinschätzung, sein Selbstgefühl diese Sicht auf die Dauer haben muß – diese Sicht einer Aufgabe, von der man zugleich sagt, sie sei innerhalb der Vielfalt des zu Leistenden die größte. Daß dies nicht vergangene Positionen, sondern bis heute wirksame Orientierungen sind, ist an neueren Untersuchungen und an Predigthilfen leicht nachweisbar. Am nächsten liegt ein Blick in die neueste große Homiletik, die weit ausgreift, aber festhält: »Nichts gegen den Glanz der Rhetorik, nur ist die Schönheit der Predigt von anderer Qualität, wenn sie nicht einen falschen Schein gibt.« Oder auch: »Abstrahiert eine Predigtlehre vom|19 Inhalt, um sich dem Rhetorischen zuzuwenden, in Absehung von dem, was zu verkündigen ist, verliert sie den Inhalt an ein fremdes Gesetz«. So Rudolf Bohren in seiner Predigtlehre (1971). Natürlich ist hier der Einwand berechtigt: Bultmann ist nicht Barth, und Thurneysen ist nicht Bohren. Aber mein Interesse ist hier auch nicht, eine detaillierte Analyse vorzulegen (die gewiß notwendig sein mag), sondern Ausgangspunkte und Wirkungen zu zeigen, mit denen wir es bis heute, vielfältig gebrochen, zu tun haben. Den Wirkungen gegenüber relativieren sich die theologischen Differenzierungen (und Differenzen) bei den Vätern. Sogar der eigene andere historische Ort der Ausgangspunkte – der für damals alle Legitimierungen in sich bergen mag – spielt für die Wirkungen nicht immer eine Rolle. Das haben die Väter nicht in der Hand. Und bemerkenswert bleibt, was nicht nachwirkt: Daß etwa Barths Sprache zutiefst rhetorisch geprägt ist, nicht nur in der expressionistischen Färbung des Römerbriefkommentars, auch in weiten Teilen noch der Kirchlichen Dogmatik, hatte für die Predigtlehre keine Folgen,

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weder für seine eigene noch für die seiner Anhänger; Thurneysens antirheto­ rische Polemik ist rhetorisch gekonnt angelegt, aber dies hat nicht gewirkt. Oder: ­Bohrens eindrucksvolle Nähe zur Poesie, zu poetischer Sprache, die Teile seiner Predigtlehre so überzeugend macht, wirkt sich, wenn ich’s recht verstehe, für den theologischen Ansatz des Ganzen nicht aus. Das macht ja den Umgang mit diesem Buch oft so schwierig: daß es implizit poetisch-rhetorisch in der Ausführung ist, aber explizit theologisch gerade dies nicht sein will. Also bleibt jenseits aller Differenzierungen, fast unvertretbar pauschal, für unsern Zusammenhang zweierlei festzuhalten. Einerseits wird prinzipiell von einem Rhetorikverständnis ausgegangen, das, vom Vorurteil traditioneller antirhetorischer Polemik in Deutschland besetzt, unter Rhetorik nach wie vor nichts anderes verstehen kann als etwas Äußerliches, etwas dem Inhalt gegenüber Außenseitiges – und diese Außenseite ist Mache, ist falscher Glanz, ist im Grunde Mittel der Verführung, also zumal dem Worte Gottes gegenüber unangemessen. Andererseits, damit aber tief zusammenhängend, regiert nach wie vor das Denkmodell: Von der Exegese zur Predigt – also die normierende Vorstellung, die für die Theologie der letzten Jahrzehnte so ungemein folgenreich gewesen ist, daß aus der Exegese eines biblischen Textes (mitsamt seiner Autorität) sich nahezu alles, alle Entscheidungen und alle Verwirklichungen, mehr|20 oder minder »automatisch« ergeben, so daß anderweitige Erwägungen, etwa rhetorische für die Predigt, nicht nur überflüssig, sondern schlicht unangemessen sind. Daß die Qualität einer Predigt, also die Frage, ob und wie welcher Inhalt den Predigthörer erreicht – und das wäre ja vielleicht nicht gerade das nebensächlichste Kriterium –, von vielem, aber nachweislich nicht von der Exegese allein abhängt, ist offenbar ein ungehörter Einwand, obwohl man ihn langsam, aber sicher schlüssig nachweisen kann. Will man ein sehr plattes Beispiel, so nehme man zehn Examenspredigten: in der Regel steht hinter jeder eine handwerklich gute, solide gemachte (wenn auch meist lediglich aus Kommentaren zusammengeschriebene) Exegese – aber die Predigten sind, von Ausnahmen abgesehen, weltfremd, klischeehaft, langweilig, blaß, unvital. Will man ein anspruchsvolleres Beispiel als Beleg, so nehme man ein paar Predigten »berühmter Leute«, die nachweisbar theologisch unterschiedlich orientiert sind; man nehme ein paar Predigten von ihnen über denselben Text – und was wird man feststellen? Entweder, trotz vermutbar unterschiedlicher Exegese, oft verblüffend gleichartige Predigten – oder Unterschiede in der Predigt, die keineswegs exegetisch gedeckt oder erklärbar sind. Das hat Dietrich Rössler schon vor Jahren nachgewiesen. Was zeigt sich also? Eben dies, daß die homiletische Theorie eines ist und die Praxis der Predigt ein anderes. Aber was? Vielleicht kann die Orientierung an der Redesituation, also an der Rhetorik, neben manchem andern

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auch dies durchschaubarer machen: daß nämlich die faktische Predigt und ihre Vorbereitung sich längst schon an vielem andern orientiert als an der Exegese allein – nur die einen wollen’s nicht wahrhaben (weil nicht sein kann, was nicht sein darf), und die andern sind sich dessen gar nicht bewußt, aber beide fahren längst einen andern Kurs. Täten sie’s bewußt und reflektiert und vor allem guten Gewissens, könnte die Predigt sowohl an Freiheit wie an Qualität gewinnen. Auch wenn es so ist, daß sich die Praxis vieler Prediger weniger an der herrschenden Predigtlehre orientiert, darf man sich nicht dabei beruhigen. Denn: –  Die Diskrepanz zwischen Praxis und Theorie führt noch nicht ohne weiteres zu einer Verbesserung der Praxis. –  Viele, die in ihrer Praxis andere Wege gehen, meinen dennoch der gängigen oder traditionellen oder einmal gelernten homiletischen Theorie zu entsprechen, weil sie diese Versicherung brauchen.|21 –  Andere irritiert – und zwar in hemmendem Sinne –, daß ihre Praxis der herrschenden Homiletik widerspricht, und sie fragen mit Recht nach besserer Fundierung ihrer Praxis. Deswegen ist neu mit der homiletischen Überlegung einzusetzen. Neu? Nicht so neu, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein, angefangen bei der Alten Kirche, ist eine Homiletik, die sich nicht in Kontakt und Auseinandersetzung mit der Rhetorik begreift, schlicht unvorstellbar. Hier wäre eine Fülle von Material aufzuarbeiten. Daß dies nicht geschehen kann, um unreflektiert an vergangene Vorstellungen anzuknüpfen, wird sich von selbst verstehen. Wenn wir durch die Dialektische Theologie verschüttete Problemstellungen, hier also die des Zusammenhangs von Rhetorik und Homiletik, heute wieder aufnehmen, dann wissen wir dabei zweierlei: Die Dialektische Theologie hatte Gründe für ihre große, aggressive Polemik gegen das neunzehnte Jahrhundert – aber die Theologie, die Praktische Theologie, insonderheit die Homiletik des neunzehnten Jahrhunderts war so flach nicht immer, wie sie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erschien, der Dialektischen Theologie erscheinen mußte. Das kann man heute sehen, nach den Wirkungen der Dialektischen Theologie.

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1.2. Der »neue« Ansatz: Predigt als Rede oder Homiletik als Rhetorik. – Sieben Thesen mit Erläuterungen […] These 1: Die Predigt ist eine Rede […] Was heißt das? Daß die These zu formulieren und zu erläutern notwendig scheint, kennzeichnet die Lage. Denn was wäre denn selbstverständlicher als eben dies, daß die Predigt eine Rede ist, die Rede eines einzelnen, der erreichen möchte, daß eine Gruppe von|22 Zuhörern ihn versteht? Dennoch wird so in gängiger Homiletik nicht argumentiert, vielmehr von theologischen Setzungen her. Dies wollen wir umkehren und das Faktum Rede ernst nehmen. Also: Homiletik als Rhetorik. Rhetorik ist, so scheint es, nach der Geschichte ihrer Verachtung in Deutschland, wieder gesellschaftsfähig geworden. Einschlägige Veröffentlichungen bis in Taschenbuchreihen hinein, neue Lehrbücher für Schulen, Programmangebote von Volkshochschulen belegen es. Die Wendung ist verblüffend. Im Jahre 1965 stellte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung die Preisfrage: Gibt es Maßstäbe für die Kunst der öffentlichen Rede in Deutschland? Die Situation, in der die Frage gestellt ist, wird durch den Titel jener Schrift charakterisiert, die preisgekrönt wurde: Das öffentliche Schweigen (Magass). Und noch 1969 schreibt Walter Jens in den Vorbemerkungen zu seinem Buch »Von deutscher Rede«: »Wer anno 69 das Epitheton ›rhetorisch‹, benutzt, hat Pejoratives im Sinn. Eloquenz: Das ist Scholastik, Periodenputz, Phrase und routinierter Betrieb, ein mechanisches Transportieren von längst nicht mehr gültigen Formeln …« Das ist mindestens teilweise anders geworden, sicher nicht zuletzt unter dem Einfluß der Arbeiten von Jens. Bedeutende rhetorische Untersuchungen über verschiedene Autoren (z.B. Schiller, Nietzsche) oder Zeiträume (z.B. Barock) sind erschienen; qualifizierte Einführungen in die Rhetorik (z.B. Geissner; Kopperschmidt) – nicht äußerlich bleibende Redetechniken – liegen vor, und die Sammlungen bemerkenswerter Reden mehren sich. Was heißt es, auf diesem Hintergrund Aufgabe, Gestalt und Vollzug der Predigt rhetorisch zu begreifen? Man kann es sich an einer genuin rhetorischen Fragestellung leicht verdeutlichen: am Verhältnis von Form und Inhalt. Gängige Argumentation meint, der Inhalt sei das Entscheidende, die Form das Zweitrangige. Die klassische Aufteilung in »materiale« und »formale« Homiletik folgt genau diesem Schema. Letztlich steht dahinter die Auffassung, man könne die Wahrheit an sich, den Inhalt an sich haben; die Form, auch der

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Weg, auf dem die Wahrheit gewonnen oder vermittelt werden, seien dagegen sekundär. Beschränken wir das komplexe Problem hier auf die Redesituation: In ihr jedenfalls gilt, daß Form und Inhalt, Wahrheit und die Weise ihrer Vermittlung untrennbar ineinander verwoben sind. Der Weg der Mitteilung entscheidet über die Mitteilung selbst. Es gibt keinen Inhalt an sich (in der Rede), sondern nur Inhalte für andere, Inhalte, die|23 durch die Tatsache ihrer Übermittlung mitkonstituiert werden. Folglich sind Fragen des Redeaufbaus, der Wahl der sprachlichen Mittel, der Entscheidung zwischen verschiedenen Materialien, Beispielen, Themen usw. keine dem »eigentlichen« Inhalt äußerlichen Fragen, nicht »nur« rhetorische Erwägungen, die ja lediglich die Form angehen, nichts nur »Formales« – und wie die üblichen Redewendungen alle heißen –, sondern sie betreffen immer die Sache selbst. Preisfrage: Wie müßte eigentlich aussehen, was sich in der homiletischen Tradition »Meditation« nennt, wenn Form und Vollzug der Predigt in diesem Sinne erwogen würden? These 2: Tendenziell will die Predigt einen Dialog eröffnen. […] Was heißt das? So viel Mißbrauch auch mit einer inflationistischen Rede von Dialog und dialogischer Struktur getrieben worden ist, so wenig ist bisher realisiert, worum es geht: um die Überwindung autoritärer Struktur trotz des monologischen Charakters. Daß augenblicklich nur einer redet, soll ihn, den Redenden, nicht zur Befehlsausgabestelle machen und soll sie, die Hörenden, nicht unversehens zu bloß Gehorchenden machen. Wie ist das erreichbar? Indem die alte rhetorische Einsicht nicht nur beschworen, sondern wahrgemacht wird, daß sich jede Rede eines einzelnen allein aus der Grundsituation des Gesprächs heraus versteht. Adam Müller sagt 1816 in seinen »Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland«: »Eine Rede ist also nichts anderes als ein abgeschlossenes Gespräch, welches in allen seinen wesentlichen sichtbaren und unsichtbaren Teilen durch den Mund eines Menschen an die Welt tritt. Der Redner vereinigt drei Personen in sich, zuvörderst die beiden Sprecher des Gesprächs in ihrer eigentümlichen Farbe und Manier, dann aber, beide gedämpft, veredelt sichtbar und unsichtbar versöhnt durch eine dritte höhere Person, die Seele des Redners, die über dem Streite der Glieder thront … Der Kanzelredner, welcher das Gemeinschaftliche allein zur Sprache bringen wollte, der die göttlichen Wahrheiten, der die harmonische Regel für das höhere Leben unseres Geschlechts allein darreichen wollte, ohne die Parteien, ohne den Kampf der irdischen Wahrheit mit dem irdischen Irrtum, würde einsam bleiben in seiner Höhe, zurückschrecken, anstatt zu erheben.« Gewiß, Adam Müllers Suada|24 ist nicht die unsere; aber geht es deswegen um anderes? Allenfalls darum, den

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Gesprächscharakter einer Rede, einer Predigt noch extremer zu fassen, als er es getan hat: Nicht ein »abgeschlossenes Gespräch« ist eine Rede, sondern eine Zwischenstation im Gesprächslauf. Gespräch geht ihr voran und ermöglicht sie, Gespräch folgt ihr. Oder anders: Rede lebt von sozialer Situation. Dies ist nicht einfach abgehakt mit sogenannten Predigtnachgesprächen, sondern es hat mit dem Selbstverständnis des Predigers zu tun, als eines Menschen, der nur reden kann, weil und wenn er mit andern redet und andere mit ihm reden. Und es hat fernerhin mit der Struktur seiner Rede zu tun: Sie ist in dem Maße dialogisch, das weitere Gespräch fördernd, in dem sie nicht nur seine (selbstverständlich richtige) Auffassung bringt, sondern Gründe und Gegengründe. Daraufhin analysiere man Reden, Wahlreden oder Werbereden oder – Predigten. These 3: Die Sprache biete viele Möglichkeiten […] Was heißt das? »Beredsamkeit ist die Poesie der Prosa«, hat der amerikanische Dichter William Cullen Bryant einmal gesagt. Rückt also die Predigt in die Nähe der Poesie, wird sie gar zur Lyrik? Analysiert man Predigten in sprachlich-stilistischer Hinsicht, so kann man oft ein eigentümliches Schwanken beobachten: Der Redner bewegt sich zwischen der Sprache der Wissenschaft, der Sprache begrifflichen Denkens, der Sprache der Abstraktion einerseits und billiger Konkretisierung, salopper Modernisierung, modischem Slang andererseits. Wie das kommt, ist leicht erklärbar. Hier spiegelt sich in der Rede vieles und verrät nur zu deutlich, wer der Redner ist und woher er kommt: –  aus einer Studiensituation, auch schon Schulsituation, die dem Menschen in aller Regel nur erlaubt, Kopf auf zwei Beinen zu sein; –  aus einem theologischen Wissenschaftsbetrieb, der kaum Antennen für nichtintellektuelle Faktoren hat, weswegen ja auch das Studium eher an der Heran­bildung künftiger Professoren orientiert ist als an künftiger Berufspraxis; –  aus einer gesellschaftlichen Situation, die Bedingung seiner Erziehung war, in der Emotionen unfein sind, und erst recht, sie zu zeigen: »Ein deutscher Junge/Mann weint nicht!« |25 Die Folgen liegen auf der Hand. Entweder wird in der Predigt die Sprache der Wissenschaft fortgesetzt, natürlich vereinfacht, so weit es gelingt, aber damit ist das Genus »Rede« mit dem Genus »Sachvortrag« gründlich verwechselt; oder, in der Erkenntnis, daß es so nicht geht, also besten Willens, wird ins Arsenal der Banalitäten und Geschmacklosigkeiten gegriffen. Das Deutsch der Regenbogenpresse auf der Kanzel.

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Was verlorengegangen ist, was in der Vorbereitung gewonnen werden muß, ist der Mut zur bildhaften Sprache, die Kraft, ansatzweise »poetisch« zu werden. Die These mag befremden. Das beweist nur, wie wenig uns vertraut ist, was den Redner zum Redner, die Rede zur Rede macht: nämlich die Nähe ihrer ­Sprache zur Poesie. Rhetorik und Poetik sind ursprünglich verwandt, und beide sind dabei als erlernbar gedacht. Auch wenn wir weder alte rhetorische noch alte poetische Stilmuster werden imitieren wollen, die Nähe zwischen Rhetorik und Poetik, also die Sprache der Bilder als Sprache der Rede werden wir nicht entbehren können. Bilder literarischer Herkunft, aus verschiedensten Bereichen, Fabel oder Parabel, Lyrik oder Sprichwort, Bilder der Umgangssprache oder des alltäglichen Lebens, wir sind auf ihre transzendierende, d.h. den Hörer weiter-bringende Sprachkraft angewiesen, wenn wir mehr sagen wollen als Banalitäten, die nicht tragen. Wir sind auf sie angewiesen, wenn wir »Leben« ansagen wollen. Dabei wird zugleich sichtbar: Das kann die historisch-kritische Exegese eines Textes allein gar nicht leisten; dies ist vielmehr ein eigener Arbeitsgang, wenn die Predigt in ihrer Aussage produktiv, eigenständig sein soll. Dahinzukommen regen theologische, literarische Arbeiten an, jene wichtigsten Helfer bei der Predigtvorbereitung: z.B. Ernst Blochs bedeutendes Kapitel »Der Tagtraum ist keine Vorstufe des nächtlichen Traums« aus dem »Prinzip Hoffnung«; Peter Hacks’ großer Essay über das Poetische; Hans Magnus Enzensbergers und Hilde Domins Vorund Nachworte zu ihren Anthologien – aber auch des antirhetorischen Poeten Rudolf Bohrens Ausführungen zur Poesie, um nur diese paar Beispiele zu nennen und von der für die Predigt notwendigen permanenten Lektüre von Dichtung ganz zu schweigen. |26 These 4: Gottesdienst (Ritual) nötigt zur Predigt. […] Was heißt das? Jede Gruppe, die Kontinuität, Bestand zwischen gestern und heute und in Zukunft haben will, braucht zweierlei: Symbolische Vergegenwärtigungen und diskursive Weiterführungen. Das gilt im säkularen Bereich ebenso wie im religiösen Zusammenhang. Strukturell ist es wiederzufinden bei Cliquenbildungen wie bei politischen Versammlungen wie in der Grundform jeden Typs von Gottesdienst. Liegt auf der Seite der Liturgie, der Lesungen, der feststehenden Sprachelemente stärker die symbolische Vergegenwärtigung, so auf der Seite der dialogischen, der gesprächseröffnenden oder -weiterführenden Predigt (vgl. These 2) der Beitrag zur diskursiven Weiterführung.

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Weiter zugespitzt heißt das: Das Verständnis von Gottesdienst und Predigt hängt vom Verständnis von Kirche und Glaube ab. Kirche ist der Ort, wo im Sinne der Botschaft Jesu und in Auseinandersetzung mit ihrer Wirkungsgeschichte gefragt wird, was in der jeweiligen Gegenwart konkret heißt: christlicher Glaube und christliches Leben. Kirche ist also der Ort der Auseinandersetzung mit konkretem Leben, weil Glaube nur als konkreter Glaube inmitten seiner Zeit in Übereinstimmung mit Jesus ist. Der Gottesdienst bietet Formen an, in denen sich Leben und Glauben artikulieren können. Solcher Formen bedürfen wir (von Grußformeln bis zu Liturgien), weil wir dem Leben nicht permanent originale »Fassungen« geben können. Aber gleichzeitig ist die Gefahr solcher Formen unübersehbar: Sie erstarren und werden unverständlich; sie verselbständigen sich und werden funktionslos. Dieser Gefahr ist dadurch zu wehren, daß als gleichwertig angesehen wird, was im Widerspruch zueinander steht: die Fortsetzung überlieferter Formen und ihre Durchbrechung. Die Predigt ist in diesem Zusammenhang »Gelegenheitsrede«. Die biblische Tradition kritisch aufnehmend, wird in der Predigt am Material von Welt/Leben / Erfahrung der Hörer wie des Predigers jeweils konkretisiert, was in dieser Situation, angesichts dieser Gelegenheit, bei diesem Anlaß heißt: von Gott reden und an Jesus glauben. »Christlich« ist also nicht nur, »was Jesus … wirklich gelehrt und vorgetragen, wörtlich befohlen und verboten« hat. »Christlich ist und heißt auch alles das-|27 jenige, was Jesus und seine Gesandten … ganz gewiß lehren und vortragen, befehlen oder verbieten würden, wenn sie unter uns lebten, wenn sie unsere Denk- und Sinnesart beobachteten und unsere Lebensweise sähen« (J. G. Marezoll, Über die Bestimmung des Kanzelredners, 1793). Damit ist abgewehrt: Predigt als bloße Wiederholung der Tradition; Predigt als Vervielfältigung wissenschaftlicher Theologie oder Exegese oder Dogmatik; Predigt als akademisch-theologisches Privileg. These 5: Der Prediger spricht zu Menschen in Situationen. […] Was heißt das? Alle theologisch-dogmatischen Feststellungen über das Wort Gottes als fremdes Wort können nicht aus der Welt schaffen, daß ein Redner sich verständlicherweise wünscht, seine Zuhörer mögen verstehen, was er sagt. So doch wohl auch der Prediger. Gleichwohl ist bekannt genug, daß viele, die versuchen, Predigten anzuhören, bekennen: Ich verstehe nicht, wovon die Rede ist, weil sich mein Leben woanders abspielt. Wie ist das zu überwinden?

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Es gibt nur einen Weg, einen, wie ich finde, sehr menschlichen Weg: Der Hörer – mit seinen spezifischen Erfahrungen, mit seinen Erwartungen, mit seinen Erlebnissen, in seiner Gestimmtheit usw. – ist ebenso ernst zu nehmen wie der »Inhalt«. Es gibt den Inhalt nicht ohne den Hörer! Er ist nicht der »Adressat«, dessen Namen ich lediglich auf den Umschlag schreibe, ohne weiter zu bedenken, an wen ich denn eigentlich schreibe. Es gibt keinen Inhalt für sich, sondern was Inhalt einer Predigt ist, wird immer durch den Hörer mitkonstituiert. Andernfalls kann einer noch so viel reden, es ist Nicht-Inhalt. Nicht-Inhalt bewirkt nichts. Jede Rede aber will wirken, will etwas bewirken, und so auch die Predigt. Was man im Blick auf diese Hörer, in dieser Situation, innerhalb dieser Begrenztheit erreichen und bewirken will – z.B. an Ermutigung oder Trost, an Kritik oder Aufklärung oder Information, an schärferer Einsicht oder hoch gestimmter Freude – ist eine der wichtigsten Fragen, die offen oder insgeheim hinter jeder Vorbereitung steht. |28 These 6: Die Predigt ist eine unter anderen Mitteilungsformen. […] Was heißt das? Im Zusammenhang des Bultmannschen Verkündigungsbegriffs und des Predigtverständnisses der Dialektischen Theologie ist Verkündigung = Predigt (also nicht nur Predigt = Verkündigung). Vielleicht ist dies die letzte Ausprägung einer Tradition, die bis in die Anfänge zurückreicht und – neben vielem andern – durch zweierlei charakterisiert ist. Mündliche Predigt, durch einen für mehrere, die zuhören, ist als der entscheidende Verbreitungs- und Verständigungsmodus des Glaubens entstanden, als die Mehrheit der Bevölkerung weder lesen noch schreiben konnte. Dies nötigte zur mündlichen Weitergabe in Form der Predigt. Sie ist sodann zu ihrer Blüte und zu ihrer stärksten Wirkung gelangt, als sie in dieser Form unter den Bedingungen ihrer Zeit, nämlich des Mittelalters, das entscheidende Medium der Veröffentlichung und der Herstellung voröffentlicher Verhältnisse war. Weder die Entstehung noch die Blüte der Predigt sind aus ihrem sozialen Kontext zu lösen. Der heutige soziale Kontext ist aber ein anderer. Nimmt man hinzu, daß die bisher vorliegenden kommunikationswissenschaftlichen Untersuchungen in all ihrer Vorläufigkeit doch den Schluß zulassen: Effekt und Reichweite der Predigt sind begrenzt – so wird man sich nur dann für eine optimale Handhabung der Redeform Predigt einsetzen können, wenn zugleich deutlich ist: Gleichberechtigt neben der Predigt stehen vielfältige andere Mitteilungsformen, z.B. das Flugblatt, der Brief, der Zeitungsartikel, die Funk- und Fernsehsendung. Wenn hier nur die Predigt rhetorisch reflektiert wird, so hängt das mit ihrem traditionellen Ort zusammen und mit selbstgewählter Begren-

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zung des Themas, nicht etwa mit ihrer Überschätzung bzw. der Unterschätzung anderer Mitteilungsformen, die nicht minder der rhetorisch orientierten Erörterung bedürfen. These 7: Viele Wege führen zur Predigt (nicht nur die Exegese). […] Was heißt das? Die rhetorische Tradition kann lehren, daß zur Vorbereitung einer Rede diverse Schritte, verschiedenartige Arbeitsgänge|29 nötig sind. Diese Einsicht ist gegen die theologische Forderung zu setzen, daß der Weg allein von der Exegese zur Predigt führe. Gleichwohl bleibt zu beachten, welche Funktion und welchen Stellenwert biblischer Text und historisch-kritische Exegese für die Predigtvorbereitung haben. Daß Predigt (wie die Kirche überhaupt) mit biblischer Überlieferung zu tun hat, wird kein vernünftiger Mensch bestreiten. Was zur Debatte steht, ist differenzierter: Wie kommt der Text in der Predigtvorbereitung ins Spiel, und was trägt er für die Gestaltung der Predigt aus? Die Frage stellen, heißt der Vorstellung den Abschied geben, daß allein die Exegese des Textes Profil und Inhalt der Predigt bestimmen würde – eine Vorstellung, die gewiß als solche noch vertreten wird, aber in der Predigtpraxis gar nicht mehr leitet (hat sie faktisch je geleitet?). So sehr der, der allsonntäglich predigen muß, auf Anregungen und Material und also zum Beispiel auf das »Potential« biblischer Überlieferung angewiesen ist, so sehr ist vor einer Bindung der Predigt an den »Text« zu warnen, die so beschaffen ist, daß sie unfrei oder den Prediger zum Rezitator von Tradition statt zum lebendigen Redner in einer konkreten Situation macht. Wo immer biblische Texte die Predigt mitbestimmen, da gilt: Predigt schmilzt den Bibeltext ein, schmilzt ihn um in Wort, Vorstellung, Problematik, Leben gegenwärtiger Hörer. Das Bild vom Einschmelzen sagt deutlich genug, daß biblische Texte in der Predigt unkenntlich, unerkennbar werden können. Sehr oft werden sie es müssen, soll ihre Intention zur Geltung kommen und heute verstanden werden können. Das Kriterium der »Bibelgemäßheit« einer Predigt ist also niemals ihre äußerliche Nähe zu biblischen Aussagen oder Vorstellungen, wie ja auch die Verlesung eines Textes vor der Predigt nicht automatisch sichert, daß die Predigt »textgemäß« ist. Biblische Texte sind Material, das bei der Bewältigung der Predigtaufgabe helfen kann. Es gibt notwendiges anderes Material. Deswegen wird man sinnvollerweise am biblischen Material nicht vorbeigehen; man wird es vielmehr in großer Freiheit benutzen, in jener Freiheit, die nötig ist, um dem Vorgang einer öffentlichen Rede, die den Hörern gerecht werden und d.h. sie erreichen soll, zu

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entsprechen. – Anders gesagt: Der Prediger ist auf der Hut davor, nicht in den schlimmen, weil der Eigenart christlichen Glaubens zutiefst widersprechenden Fehler zu verfallen, gerade durch die Predigt das Beieinander von ge-|30 glaubtem Leben und gelebtem Glauben umzufunktionieren in schlechte Buchstabenreligion (was leider viele Predigten tun und auch noch für »schriftgemäß«, »textgebunden«, »Textpredigt« usw. halten). Belege, Materialien, Hintergründe zu Abschnitt 1. Zur Einführung in die Gesamtthematik des Buches: a) rhetorisch A. Müller, Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland (1816) W. Magass, Das öffentliche Schweigen (1967) H. Geissner, Rede in der Öffentlichkeit (1969) W. Jens, Rhetorik, in: Merker-Stammler, Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. III (1971) (Bibliographie!) J. Kopperschmidt, Rhetorik (1973) (Bibliographie!) H. Schanze (Hg.), Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.– 20. Jahrhundert (FAT 2095 / 1974) (Bibliographie!) b) homiletisch M. Josuttis, Homiletik und Rhetorik, in: Monatsschrift für Pastoraltheologie 57. Jahrg./1968/511 ff. Ev. Theologie, 32. Jahrg./1972/Heft 1 (Beiträge von Josuttis, Barie, Wiedemann, Kaufmann) J. Kleemann, Die Predigt, in: Klostermann/Zerfass (Hg.), Praktische Theologie heute (1974) G. Otto, Der Mensch in seiner Welt, in: Theologia Practica II. Jahrg./1967/289 ff. ders., Thesen zur Problematik der Predigt in der Gegenwart, in: Cornehl/Bahr (Hg.), Gottesdienst und Öffentlichkeit (1970) ders., Wider den »Mythos« der Verkündigung, in: Theologia Practica VII. Jahrg./ 1972/316 ff. ders., Zum Thema: Predigt, Kommunikation und Rhetorik, in: Betz/Schottroff (Hg.), Neues Testament und christliche Existenz. Festschrift für Herbert Braun (1973) ders., Predigt als Rede, in: Theologia Practica XI. Jahrg./1976/82 ff. (Meine Arbeiten sind, an einigen Stellen auch wörtlich, in das Buch eingegangen; das schließt Korrekturen an früheren Thesen ein.) Zu 1.1. zitierte Literatur: G. Schmidtchen, Gottesdienst in einer rationalen Welt (1973) H. Hild (Hg.), Wie stabil ist die Kirche? (1974) Y. Spiegel, Der Pfarrer im Amt (1970)| 31 Sozialteam Adelsried, Priester und Predigt (1971) R. Bultmann, Allgemeine Wahrheiten und christliche Verkündigung

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9.  Entwicklungen der Homiletik im Kontext der »empirischen Wende«

ders., Echte und säkularisierte Verkündigung im 20. Jahrhundert, beide in: Glauben und Verstehen, Bd. 3 (1960)1 K. Barth, Die Gemeindemäßigkeit der Predigt, in: G. Hummel (Hg.), Aufgabe der Predigt (1971) E. Thurneysen, Die Aufgabe der Predigt, in: G. Hummel (Hg.), Aufgabe der Predigt (1971) R. Bohren, Predigtlehre (1971; 3. Aufl. 1974); vgl. dazu auch die Besprechungen von H.-G. Geyer, Zum Lob einer Homiletik, in: Verkündigung und Forschung 18. Jg./1973/1 ff. und von G. Mainberger, in: Theologia Practica VIII. Jg./1973/69 ff. D. Rößler, Das Problem der Homiletik, in: Theologia Practica I. Jg./1966/14 ff. […] | 33 Zu 1.2. zitierte Literatur: W. Magass, Das öffentliche Schweigen (1967) W. Jens, Von deutscher Rede (1869) G. Ueding, Schillers Rhetorik (Diss. Tübingen 1969) J. Goth, Nietzsche und die Rhetorik (1970) H. Geißner, Rede in der Öffentlichkeit (1969) ders., Rhetorik (1974) J. Kopperschmidt, Rhetorik (1973) A. Müller, Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland (1816) E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung Bd. 1 (1969) P. Hacks, Das Poetische (es 544/1972) |34 H. M. Enzensberger, Museum der modernen Poesie (dtv-sr 35/36–1964) H. Domin (Hg.), Nachkrieg und Unfrieden (1970) Dies., Wozu Lyrik heute (1968) R. Bohren, Nur Poesie kann für die Liebe sprechen, in: Ev. Kommentare 5. Jg./1972/649 ff. Ders., Novalis: Verheißung und Versuchung der Romantik, in: Theologia Viatorum XI (1973), 27 ff. J. G. Marezoll, Über die Bestimmung des Kanzelredners (1793)

9.3  Axel Denecke: Die Predigt als persönliche Rede  Axel Denecke, Persönlich Predigen. Erweiterte und aktualisierte Neuauflage. Mit einem kommunikationspsychologischen Geleitwort von Friedemann Schulz von Thun. Hamburger Theologische Studien Bd. 24, Münster/Hamburg/London: LIT Verlag, 2001, S. 42–50.

Leitlinien für persönliches Predigen […]

1 

Siehe in diesem Band Nr. 8.2, S. 184–190.

9.3  Axel Denecke: Die Predigt als persönliche Rede

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a) Rückblick: Christlich predigen heißt persönlich predigen 1. Ich predige, rede, theologisiere stets »persönlich«, ob ich es will oder nicht, ob ich es mir bewußt mache oder es mir verheimliche. 1.1. Gerade auch die angeblich »streng sachbezogen auf das Wort Gottes« ausgerichtete Predigt und Theologie ist in starkem Maße persönlich – auch biographisch – geprägt, ohne daß das der Hörer allerdings verstehen und einordnen kann. 1.2. Darin liegt ein wesentlicher Grund für Verstehensschwierigkeiten und Kommunikationsbarrieren in der Predigt.

2. Die »theologische Rechtfertigung« des bewußten persönlichen Predigens liegt in der sachgemäßen Auslegung der Christusoffenbarung, konkret des Inkarnationsgeschehens. 2.1. Die unumkehrbare Tendenz des Wortes Gottes, sich im »Fleisch« zu verleib­lichen, ist weder durch Theologie noch durch die konkrete Predigttätigkeit rückgängig zu machen. 2.2. Gott will sich in der vorfindlichen »Fleischlichkeit« in unserer menschlichen Wirklichkeit finden und dort in seiner »Herrlichkeit« entdeckbar werden lassen.|43 2.3. Die Bejahung der »Fleischlichkeit« heißt Bejahung der Person des Theologen und des Predigers. 2.4. Verleugnung und Ausgrenzung der Person (als zwar unvermeidbarer, aber möglichst auszumerzender Störfaktor) heißt doketisches Überspringen der vorfindlichen Wirklichkeit, auch der Glaubenswirklichkeit. Sprache und Wirklichkeit, Predigt und Wort, treten auseinander. Die – unbeabsichtigte – Folge ist ein Denken und Reden in zwei »Wirklichkeitsbereichen«. 2.5. Das Christusgeschehen jedoch zielt hin auf Versöhnung, Vermählung der göttlichen und menschlichen Wirklichkeit. »Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.«

3. Der »Personwerdung« Gottes in Jesus Christus korrespondiert die »Personwerdung« des christlichen Kerygmas im persönlichen Glauben und Zweifel der Menschen, die Zeugnis für diese Personwerdung in ihrer Person ablegen. 3.1. In, mit und unter den persönlichen Glaubenserfahrungen der Christen will Gott sich finden lassen, nicht an ihnen vorbei. 3.2. Die »Reinheit« und »Souveränität« des Wortes Gottes zeigt sich – solange das Reich Gottes noch aussteht – nicht anders als vermischt mit und in den konkreten Glaubenserfahrungen der Menschen, die mit ihrem Leben, Reden und Tun dafür Zeugnis ablegen. 3.3. Im Prediger – und in jedem Christen – selbst zeigt sich die utopische Identität von »Sprache und Wirklichkeit«, »Glaube und Wirklichkeit«. Diese Identität ist im christlichen Prediger nicht feststellbar und verfügbar. Sie ist lediglich sub contrario erlebbar im konkreten Vollzug. Darin kann eine Identifizierung mit anderen Menschen geschehen. 3.4. Christlich predigen (und reden) heißt daher: persönlich predigen (und reden). Persönlich predigen heißt: Es ist selbstverständliches christliches Gemeingut, »ich« zu sagen in der Predigt, von sich und seinem Glauben un-verborgen zu sprechen.

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9.  Entwicklungen der Homiletik im Kontext der »empirischen Wende«

4. Es ist notwendig, daß in der »homiletischen Theorie und Praxis« die Person des Predigers auch durch empirische Untersuchungen einen größeren Refle­ xionsraum erhält als bisher. 4.1. Im kommunikationstheoretischen Dreigestirn –  Prediger (Sender, Kommunikator) –  Predigt (Botschaft, Mitteilung) –  Hörer (Adressat, Empfänger) der Kommunikationswissenschaft, die in den letzten Jahren für die Homiletik nutzbar gemacht wurde, ist bisher die »Person des Predigers« noch weitgehend ausgespart worden. 4.2. Das hat seinen Grund zum Teil darin, daß die »Subjektivität«, »Individualität« und »Einmaligkeit« eines jedes Predigers sich bisher am stärksten gegen methodische Verallgemeinerung und damit »Verobjektivierung« zu sperren schien. Jeder Prediger hat seine ganz persönliche und unverwechselbare Biographie, die nicht oder nur sehr schwer auf andere übertragbar und damit zu verallgemeinern ist.|44 4.3. Es lassen sich jedoch bei aller Individualität und Einmaligkeit eines jeden Predigers vergleichbare und damit auch auf andere übertragbare Faktoren herausarbeiten, die auf eine annäherungsweise Verallgemeinerung hinzielen. 4.4. Zwischen völliger Gleichheit (Identität) der Prediger und völliger Verschiedenartigkeit (Differenz) der Prediger gibt es das breite Mittelfeld struktureller Ähnlichkeit. Dadurch wird Kommunikation überhaupt erst möglich (nur Differenz: Kommunikation wäre unmöglich) und auch nötig (nur Identität: Kommunikation wäre unnötig). 4.5. Auf den Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten »mittlerer Reichweite« zwischen allen Predigern beruht die Berechtigung, nach den methodischen Gesichtspunkten zu suchen, um die Persönlichkeit des Predigers und seine Fähigkeit, persönlich zu predigen, stärker als bisher offenzulegen. 4.6. Wer befähigt ist, sich selbst bewußter, eindeutiger und offener in seine Predigt einzubringen, der hat gelernt, die christliche Botschaft sachgemäßer zu verkündigen.

b) Abgrenzungen: Mögliche Mißverständnisse des persönlichen Predigens 1. Persönlich predigen ist keine bloße Technik, die ich mir aneigne und anwende Mit dem Programm des persönlichen Predigens ist sehr schnell das Mißverständnis verbunden, es handele sich dabei nur um eine »bloße Methode« des Predigens in der Reihe vieler anderer aus der Kommunikationswissenschaft entwickelter Techniken. Diesem Mißverständnis kann durch die berechtigte Betonung der Frage nach dem »Wie« der Predigt Vorschub geleistet werden. Gerade die Untersuchung des homiletischen Ansatzes der dialektischen Theologie hat jedoch deutlich gemacht, daß ›Methode‹ und ›Inhalt‹ › ›Wie‹ und ›Was‹ der Predigt untrennbar miteinander verbunden sind. Das Programm des persönlichen Predigens ist zunächst ein aus dem Verständnis des Inkarnationsgeschehens gewonnenes Sachprogramm, das allerdings gerade aus seiner inhaltlichen Position heraus die Frage nach der ›Methode‹ oder ›Technik‹ nicht als zweitrangig beiseite schiebt. Gerade weil Inhalt und Form, Was und Wie, Sachaussage und Methode nicht zu trennen sind, wäre es eine verhängnisvolle Verkürzung, hinter dem persönlichen Predigen bloß eine neue pragmatische Methode und Technik vermuten zu wollen. Konkret heißt das:

9.3  Axel Denecke: Die Predigt als persönliche Rede

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2. Persönlich Predigen ist nicht identisch mit »Ich-Sagen« Es wäre zu kurz geschlossen und Zeichen eines vereinfachenden Dranges nach pragmatischen Patentrezepten, wenn persönliches Predigen durch bloßes »Ich-Sagen« auf der Kanzel gewonnen würde. Sicherlich kann zunächst als einfache Hilfsregel die Bitte ausgesprochen werden: »Sprich per ›Ich‹ auf der Kanzel und nicht per ›Man‹ oder ›Wir‹ oder ›Ihr‹«. Und ebenso sicher ist in der gegenwärtigen Verkündigungssituation diese Bitte noch mit Nachdruck als einfache, handbare Regel zur Selbstkontrolle auszusprechen1.|45 Aber ebenso sicher meint persönlich Predigen mehr als »bloß« Ich-Sagen auf der Kanzel. Dies aus drei Gründen: Zunächst hat, wie gezeigt, jede Predigt immer bereits persönliche Elemente in sich, unabhängig davon, mit welchen rhetorischen Mitteln ich es zum Ausdruck bringe. Gerade auch eine bewußt mit ›man‹ operierende Predigt kann unbewußt Ausdruck einer persönlichen Predigt sein. Denn persönlich Predigen ist eine Frage der inneren Einstellung, nicht eine Frage der Verwendung eines bestimmten Possessivpronomens. Sodann gibt es verschiedene »Formen des Ichs auf der Kanzel«2, die in unterschiedlicher Weise dem Ziel, persönlich zu predigen, angemessen erscheinen. Der Anlaß, die Gemeindesituation, das Thema usw. bestimmen mit, ob es angemessen und legitim ist, per ›Ich‹ auf der Kanzel zu reden und wenn es legitim ist, in welcher Form. Schließlich kann auch das bewußt eingesetzte ›Ich‹ auf der Kanzel zu einer Inflation des ›Ichs‹ führen, so daß der Hörer verärgert und abgestoßen wird. Es ist ihm nicht mehr möglich, die kritische Distanz des Predigers zu sich selbst zu spüren. Er gewinnt den Eindruck, der Prediger wolle durch Bespiegelung seiner privaten Erfahrungen sich dem Hörer aufdrängen und unentbehrlich machen. Deshalb:

3. »Persönlich predigen« heißt nicht »privat predigen« Sicher stellt der Prediger in der Predigt sich selbst und seine Glaubenserfahrungen dem Hörer zur Verfügung. Er tut dies jedoch nicht aus einem Privatinteresse heraus, um sich selbst ins rechte Licht zu setzen, sondern weil er glaubt, gerade dadurch der von ihm intendierten Sache – die Verkündigung des freimachenden Evangeliums – am angemessensten gerecht werden zu können. Wer »privat« predigt, stellt sich selbst in den Mittelpunkt, weil er glaubt, daß er seine Person mit seinen Erfahrungen und Erlebnissen zum Zentrum der Predigt machen soll. Er möchte durch seine Person die von ihm verkündigte Sache überstrahlen und die Hörer an seine Person in ihrer Außergewöhnlichkeit binden. Er fragt nicht mehr danach, ob seine persönlichen Mitteilungen für den Hörer auch akzeptabel und nachvollziehbar sein können oder in privatistische Selbstspiegelung ausarten. Wer privat predigt, predigt sich als Selbstzweck, will den Hörer an sich als unaustauschbare Person fesseln. Das wäre Zeichen hybrider Selbstüberschätzung, der Verdunklung des Evangeliums durch die Macht und den Selbstdarstellungsanspruch der Privatperson des Predigers. Wer persönlich predigt, stellt die Wirkungsmacht des Evangeliums dadurch in den Mittelpunkt, daß er seine Person und seine Glaubenserfahrungen bereitwillig anderen zur Verfügung stellt, um damit auf Christus – das Ziel seiner Predigt – zu verweisen. Dadurch, daß er von seinen Glaubenserfahrungen spricht, gibt er nicht sich selbst, sondern dem Evangelium die Ehre, das nicht unabhängig von seiner Person freischwebend über allem wahr ist, sondern sich inkarniert hat »in, mit und unter« seiner Person. 1  Vgl. dazu [Manfred] Josuttis, [Die Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion. Grundprobleme der Praktischen Theologie, München 1974], 70 ff. Anders [Emanuel] Hirsch, [Predigerfibel, Berlin 1964], 48. 2  Vgl. Josuttis, aaO. 91 ff.

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9.  Entwicklungen der Homiletik im Kontext der »empirischen Wende«

Wer persönlich predigt, spricht von sich, um vom Evangelium zu sprechen. Er legt|46 Zeugnis ab von der Wirkungsmacht des Evangeliums in der konkreten Person des Predigers. Seine Person ist kein Selbstzweck, sondern hat exemplarischen Verweischarakter auf Christus hin, in dem sich die Hörer in gleicher Weise als auf Christus verwiesen erfahren können.

4. Persönlich predigen bedeutet nicht »Distanzlosigkeit« zu sich selbst Wer »privat« predigt, hat keine Distanz zu sich. Ihm fehlt der kritische Blick dafür, ob seine persönliche Predigt und seine persönliche Glaubenserfahrung tatsächlich als exemplarische Verdichtung allgemeiner Glaubenserfahrung nachvollziehbar sind. In seiner unkritischen, reflexionslosen Unmittelbarkeit zu sich wird er alle Erfahrungen unterschiedslos in gleicher Weise als mitteilungsfähig und -würdig erachten. Wer persönlich predigt, redet zwar im Vollzug unmittelbar und unbefangen von sich selbst, bewahrt jedoch in der Reflexion vorher und nachher die kritische Distanz zu sich, um zu prüfen, welche Erfahrungen tatsächlich so weit und tief tragen, um exemplarische Kraft in der Weitervermittlung an andere zu gewinnen. In der kritischen Distanz zu sich wird er seine Erfahrungen unterschiedlich gewichten und zwischen geschlossen privaten, ja intimen Glaubenserfahrungen und offenen persönlichen und damit exemplarischen unterscheiden. Für den Hörer ist diese kritische Distanz zu sich selbst auch in der Art der Vermittlung der Erfahrungen ein wichtiges Kriterium dafür, ob er diese dem Prediger abnehmen kann.

5. Persönlich predigen hat keine »verobjektivierende Beweiskraft« Ich kann durch den Einsatz meiner Person in der Predigt zwar unmittelbar Zeugnis für den Wahrheitsgehalt des von mir Gesagten ablegen. Ich darf jedoch nicht meinen, daß das, was für mich überzeugend, überführend, ja mich umwandelnd oder auch nur meinen Glauben stärkend gewesen ist, auch andere in der gleichen Weise betreffen muß. Der Verschiedenartigkeit der Person entspricht vielmehr auch eine Verschiedenartigkeit der Erfahrungen, so daß es zu allen noch so überwältigenden Erfahrungen auch gegenteilige gibt. Persönliche Zeugnisse des Predigers über seinen Glauben und seine Zweifel sind daher keine ›andemonstrierbaren‹ Tatsachen, die in sich allgemein schlüssig sind, sondern sie sind getragen von der subjektiven Entscheidung des einzelnen und in ihrer Überzeugungskraft abhängig von der Zurückhaltung, mit der sie der Prediger einbringt. Das bedeutet also: Persönlich predigen zwingt nicht eigene Erfahrungen anderen auf.

6. Persönlich predigen bleibt nicht in den Grenzen der eigenen ­Glaubenserfahrung hängen Zur kritischen Distanz und zum Verzicht auf Manipulation durch den unwiderstehlichen Glanz der eigenen Person gehört am Ende, die eigene Person in der Predigt ständig zu transzendieren. Der Prediger darf sich nicht selbst genug sein, seine persönlichen Glaubenserfahrungen zum Gegenstand der Predigt zu erheben. Er schätzt diese sicher und setzt sie auch bewußt als Hilfe zur Kommunikation ein,|47 aber er weiß auch um die Gefahr, daß er – wenn er ständig in sich selbst hineinhorcht – oftmals nur zum wiederholten Male das gleiche zu hören bekommt. Die eigene Person ist begrenzt, kann im besten Fall nur einen kleinen Ausschnitt aus der Wirklichkeit aufnehmen und wiedergeben, kann sehr schnell – vom Hörer meist instinktiv erkannt – bei den eigenen Lieblingsthemen und Lieblingserfahrungen landen. Kritische Distanz zu sich selbst bedeutet hier auch: Sich mit seinen noch so eindrucksvollen Erfahrungen nie begnügen, über sich hinausschauen, mit

9.3  Axel Denecke: Die Predigt als persönliche Rede

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Phantasie und Offenheit nach neuen, bisher unbekannten und unvermuteten Erfahrungen Ausschau halten, die in das eigene Leben und den eigenen Glauben integriert und dann auch weitervermittelt werden können. Persönlich Predigen ist also kein in sich abgeschlossener Kreis, sondern ein nach vorn offener, unabgeschlossener Entwicklungsprozeß, in den der Hörer einbezogen werden kann.

Diese recht programmatischen Abgrenzungen gegen Mißverständnisse sollen zum Schluß ins Positive gewendet werden, indem, wieder recht programmatisch und wohl auch bereits indirekt Gesagtes nur noch direkt markierend, pointiert Positionen gesetzt werden. c) Position: Kriterien für gelungenes persönliches Predigen 1. Persönlich Predigen heißt: Ich sagen Ich stelle das Licht meines Glaubens, die Geschichte seiner Erfahrungen nicht unter den Scheffel. Ich vertraue darauf, daß mein Glaube es wert ist, anderen mitgeteilt zu werden, weil es ja nicht »mein« Glaube ist – besitzanzeigendes Fürwort –, sondern ein Geschenk, das dazu da ist, anderen weitergegeben zu werden.

2. Persönlich Predigen heißt: angstfrei predigen Ich habe keine Angst mehr, daß der Hörer mich und meine Predigt beurteilt, ob sie richtig und gut, theologisch eindeutig, exegetisch korrekt, dogmatisch abgesichert ist. Ich habe nicht mehr zwanghaft eine möglichst vorzeigbare Leistung aus mir herauszupressen. Ich bin frei davon, mich an anderen messen und vergleichen zu müssen. Ich vertraue dagegen auf meine unbefangene Bereitschaft, ich zu sagen, gebe mich damit vertrauensvoll in die Hände meiner Predigthörer. Ich liefere mich ihnen aus und bin gewiß, daß die Hörer mir nicht von vornherein ablehnend gegenüberstehen. Denn ich weiß, daß ich nicht so unterschiedlich und andersartig bin, als daß ich nicht gemeinsame Erfahrungen mit anderen habe, über die wir reden können, an denen wir jeder unseren Glauben wiederentdecken können.

3. Persönlich Predigen heißt: eindeutig reden Wenn ich in der Predigt »ich« sage, so gebe ich damit meinen Standort und mein Interesse zu erkennen. Der Hörer tappt nicht mehr im Dunkeln. Er weiß, warum ich etwas sage und wohin ich ihn führen will. Ich verstecke mich nicht mehr hinter vermeintlichen Sachaussagen, sondern öffne mich dem Hörer, so daß er sich in mir – partiell – wiederfinden kann oder auch – partiell – sich distanzieren kann. Jede| 48 Predigt beinhaltet zwar am Ende ein Stück meiner Person, aber jetzt weiß dies der Hörer auch: Er sieht klar und hat die Möglichkeit, sich darauf einzustellen. Persönlich Predigen liefert daher auch einen Beitrag zum Thema »verständlich predigen«.

4. Persönlich Predigen heißt: frei, offen, unbefangen predigen Ich bin befreit davon, mich durch vermeintliche Sachautoritäten absichern zu müssen. Es reicht aus, unbefangen von mir selbst und meinem Glauben zu erzählen. Dieser Glaube ist nicht geringer als der von anderen Menschen. Im Gegenteil: Der Glaube ist es wert,

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9.  Entwicklungen der Homiletik im Kontext der »empirischen Wende«

anderen als Chance zur Anknüpfung oder auch zum Widerspruch mitgeteilt zu werden. Wenn ich mich dem anderen öffne, erhält er die Möglichkeit, sich selbst zu öffnen. Wenn ich die Freiheit gewonnen habe, von mir selbst zu reden, gewinnt er die Freiheit, auch von sich zu reden. Wenn ich mich nicht mehr hinter unpersönlichen Sachaussagen verstecken muß, braucht auch er sich nicht mehr in eine Festung einzuigeln, kann auch er unbefangen, frei und offen hören und reden.

5. Persönlich Predigen heißt: greifbar und angreifbar predigen Der Prediger selbst wird greifbar, damit auch an-greifbar. Er entzieht sich nicht mehr in eine ungreifbare und für den Nicht-Theologen damit unangreifbare Festung abgewogener und ausgewogener Richtigkeiten. Der Hörer erhält die Chance, im Miteinander oder auch im Gegenüber eine eigene Position zu gewinnen. Das trägt nicht nur zur sogenannten Lebendigkeit, sondern auch zur Dialogfähigkeit der Predigt bei.

6. Persönlich Predigen heißt: demokratisch predigen Der Prediger und der Hörer stehen auf einer gleichberechtigten Ebene. Ich bin nicht mehr die im Grunde unerschütterliche und unangreifbare theologische Sachautorität, an deren dogmatischer Artikulationsfähigkeit doch kein Hörer heranreichen kann. Ich bin als Prediger zu greifen, anzugreifen, zu kritisieren, gerade auch in den für den Hörer vergleichbaren Aussagen oft unvollkommener und mittelmäßiger Glaubenserfahrung. Ich stehe nicht mehr über dem Hörer als der, der sie über den rechten Glauben belehrt, sondern stehe mitten unter den Hörern als einer, der sich mit den Hörern auf die Suche nach Möglichkeiten, seinen Glauben zu erproben, macht. Der Hörer hat Mitspracherecht, ein Widerspruchsrecht, ein Recht, meine Glaubenserfahrung bei sich selbst anders – auf seine unaustauschbare Person bezogen – weiterzuführen.

7. Persönlich Predigen heißt: solidarisch mit dem Hörer sein (ihn ernst nehmen) Ich bin auf einer Stufe mit dem Hörer, stelle mich ihm durch Mitteilung meines Glaubens und Zweifels exemplarisch zur Verfügung. Dabei ist der Hörer ein konkretes und kein abstraktes Gegenüber. Er hat ein Anrecht darauf, daß ich mich nicht vor ihm verstecke. Ich traue dem Hörer zu, daß er imstande ist, zwischen dem Unaustauschbaren, Einmaligen meiner Person und dem übertragbar Allgemeinen, zwischen dem Biographischen und Exemplarischen der persönlichen Predigt unter-|49 scheiden zu können. Der Hörer erkennt, was auf ihn zukommt, kann demgegenüber selbständig persönlich agieren und reagieren.

8. Persönlich Predigen heißt: mit dem Hörer ins Gespräch kommen Indem ich von mir rede, ermuntere ich den Hörer, von sich zu reden. Indem ich es wage, meine gelungenen und oft auch mißlungenen Glaubenserfahrungen zu erzählen, befreie ich den Hörer dazu, auch von seinen alltäglichen – gelungenen und mißlungenen – Glaubensversuchen zu reden. Am Gegenüber zu mir und mit mir wird ihm klar, daß auch er die Fähigkeit besitzt, »Ich« zu sagen, seinen Glauben hilfreich für andere und sich selbst auszusprechen, als vollwertiges Glied in der »Gemeinschaft der Gläubigen«.

9.3  Axel Denecke: Die Predigt als persönliche Rede

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9. Persönlich Predigen heißt: den Hörer einladen, selbst »Ich« zu sagen Diese These ergibt sich aus dem Vorhergehenden. Wenn Jesus der Mensch gewesen ist, der in exemplarisch gelungener Weise »Ich« sagen konnte, darin seine Verbindung (Identität) mit Gott fand, so ist ein Schritt in der Nachfolge, diesen Weg Jesu mit unseren Mitteln weiter zu beschreiten. »Ich« sagen lerne ich am Gegenüber zu anderen Personen, die »Ich« sagen. Wenn ich mir die Freiheit nehme, persönlich zu predigen, schenke ich damit anderen die Freiheit, persönlich zu hören, persönlich zu antworten, persönlich weiterzuerzählen. In dieser Kette des Ich-Sagens ist der Prediger auf der Kanzel ein wichtiges Mittelglied.

10. Persönlich Predigen heißt: von sich abgeben, sich verschenken Gegen die vordergründige Unterstellung, persönlich predigen hieße »Selbstbespiegelung«, »Individualisierung der Predigt«, »Privatisierung der Predigt«, »Distanz zum Hörer durch Beschäftigung mit sich selbst« muß gesagt werden: Wer »Ich« sagt, gibt sich damit selbst preis und gibt damit von sich an andere ab. Er schenkt das, was ihm geschenkt worden ist, vermittelt und geprägt durch seine Person, an andere weiter, damit auch sie es weiterschenken können. Wer persönlich predigt, ist von dem Wahn befreit, Glaubenswahrheiten als heiligen und unantastbaren objektiven Schatz besitzen zu müssen und zwanghaft vor Verlust (Infragestellung der Wahrheit) schützen und verteidigen zu müssen. Er braucht sein Glück (seinen Glauben, seine Einsichten) nicht mehr wie einen unverdienten Raub an sich zu raffen, sondern stellt es und sich anderen zur Verfügung. Ich lasse über mich verfügen, ohne mich dabei zu verlieren. Ich nehme damit konkret eine Beziehung zu meinem Hörer auf, gewinne ein »Verhältnis« zu ihm und gebe ihm die Chance, ein Verhältnis zu mir zu gewinnen. Ich gebe ab von dem, was ich habe, ich gebe ab von mir, ohne daß ich »etwas« aufgebe. Der Hörer wird eingeladen, auch von sich abzugeben, ohne sich aufzugeben.

11. Persönlich Predigen heißt am Ende: bescheiden predigen Ich verzichte bei alledem auf eine möglichst abgeschlossene und abgerundete Predigt, die den Hörer durch Mitteilung von ehrfurchterregenden und sorgsam aufeinander abgestimmten Glaubenswahrheiten als Nicht-Wissenden (Weniger-Wis-|50 senden) behandelt. Ich gebe mich dagegen mit meinen durchaus nicht ehrfurchtheischenden, unabgeschlossenen, unabgerundeten Glaubenserfahrungen anderen zu erkennen. Mein Glaube ist recht mittelmäßig, unfertig, mehr krumm als gerade, mehr von Niederlagen als von Siegen geprägt. Diesen Glauben erachte ich für wert, daß er anderen mitgeteilt wird. Der Hörer braucht sich vor solch einem Glauben nicht zu fürchten und zu verstecken. Sein eigener Glaube ist dagegen nicht mehr unscheinbar und klein. Der Hörer gewinnt die Fähigkeit, seinen eigenen bescheidenen Glauben auch auszusprechen, den eigenen und bescheidenen Glauben für wert und wichtig zu erachten. Wenn wir bescheiden predigen, predigen wir menschlicher und damit wohl auch christlicher.

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10.  Neuere Ansätze in der Homiletik

Einführung Hans Martin Müller hat in Bezug auf die jüngeren Entwicklungen in der Homiletik einmal kritisch vermerkt, es werde »in der Regel nicht mehr eine geschlossene Systematik der Predigt gesucht oder aufgestellt, sondern die Homiletik löst sich in die Behandlung von Einzelproblemen auf«. Das Ergebnis sei ein »theoretisch nicht fundierter Methodenpluralismus«1. Man mag dieses Urteil zwar nicht umstandslos pauschalisieren, aber ein gewisser Wahrheitsgehalt ist bei näherem Studium der einschlägigen Texte doch nicht abzustreiten. Hatte sich schon im vorhergehenden Kapitel gezeigt, dass dem homiletischen Programm Ernst Langes ein systematisch-theologischer Theorieanspruch und damit verbunden pastoraltheologische und religionssoziologische Grundeinsichten sowie ein ekklesiologischer Gesamtanspruch zugrundelag, wohingegen die Ansätze von Otto und Denecke Spezialisierungen und Zuspitzungen darstellen. Die damit verbundene Tendenz, Einzelaspekte zum organisierenden Zentrum einer homiletischen Theorie zu erheben, zeigt sich in den jüngeren und jüngsten Ansätzen verstärkt. In einem ersten Teilabschnitt werden fünf Texte und Autoren präsentiert, die auf eine programmatische Verbindung der Homiletik mit Aspekten der Rezeptionsästhetik abheben. Gerhard Marcel Martin hat in seiner Marburger Antrittsvorlesung im Jahr 1983 in kritischer Abgrenzung zu Gert Otto vermerkt, dass die Verbindung von Homiletik und Rhetorik das kommunikativdialogische Geschehen zu stark und einseitig aus der Perspektive der Person des Predigers betrachte. Im Anschluss an Umberto Ecos Rede vom »offenen Kunstwerk« empfiehlt Martin daher einen »Koalitionswechsel« der Homiletik von der Rhetorik bzw. Kommunikationswissenschaft hin zur Ästhetik, um damit den selbstproduktiven Anteil des Hörers innerhalb des Predigtgeschehens angemessener würdigen zu können. Albrecht Beutel hat in einer kritischen Auseinandersetzung mit Martins Text dessen Anspruch auf einen Paradigmenwechsel behutsam historisch kontextualisiert und im Anschluss an Luther Fragen der homiletischen Produktions- und Rezeptionsästhetik theologisch fundiert. Was Martin von der Ästhetik zu entlehnen sucht, wird als konstitutiver Bestand-

1 

Hans Martin Müller, Art. Homiletik, in: TRE 15 (1986), S. 526–565, 552.

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10.  Neuere Ansätze in der Homiletik

teil reformatorischer Theologie selbst nachgewiesen 2. Beutels Text leistet damit implizit das, was Hans Martin Müller von der Homiletik prinzipiell fordert. Wilfried Engemann versucht in seinem Ansatz einer semiotischen Homiletik ebenfalls Umberto Eco für die Predigtarbeit fruchtbar zu machen und betont, die Ergänzungs- und Fortsetzungsfähigkeit der Predigt müsse in dieser strukturell bereits angelegt sein. »Die Aufnahme des Modells des ›offenen Kunstwerks‹ in die Homiletik ist darüber hinaus mit der Erwartung verbunden, dem Hörer jene Zuarbeit nicht nur zu ermöglichen, sondern ihn – durch die Predigtstruktur selbst – zum Verstehen herauszufordern und beim Verstehen zu leiten. Es gilt, die Beteiligung des Hörers, seine ›Arbeit mit der Predigt‹ vorzusehen, statt seine Ergänzungen erübrigen zu wollen«3. Die Predigt unterliegt dem Anspruch einer faktischen wie taktischen Ambiguität. Martin Nicols Programm einer »dramaturgischen Homiletik« greift auf Ideen einer »new homiletic« aus Amerika zurück, welche ihre Wurzeln u.a. in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung sieht und verbindet diese mit Gedanken einer an Schleiermacher orientierten Rezeptionsästhetik und dem Gedanken der Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes, wie er sich innerhalb der Wort-Gottes-Theologie, besonders bei Hans Joachim Iwand (1899–1960) findet. Die Predigt wird zum Ereignis des Wortes Gottes. Ihr kommt die Aufgabe der Inszenierung und Gestaltung einer im Text immer schon vorhandenen Spannung zu. Da der Hörer immer schon im Text steckt, gilt es, den Hörer in den Text einzuführen statt diesen auszulegen. Als Paradigma der Predigt als einer Kunst unter Künsten gilt der Film. Neben diesen Texten, die sämtlich die homiletische Theorie in den Kontext ästhetischer Fragestellungen einzeichnen, haben wir drei weitere aktuell diskutierte und nach unserer Ansicht relevante Ansätze gestellt. Der Neutestamentler Gerd Theißen setzt mit seinem Text bei der Motivation des Predigers an und versucht im Hinblick auf die Predigt eine Verbindung von moderner, zeitgemäßer Hermeneutik und kerygmatischem Anspruch fruchtbar zu machen: Die Predigt soll »zur Dialogaufnahme mit Gott verhelfen. Das entspricht konservativer kerygmatischer Homiletik. Aber mit ihr wird eine ›liberale‹ Hermeneutik verbunden: Ohne Bilder kann man nicht von Gott reden. […] Wenn das erste Ziel jeder Predigt ist, den Dialog mit Gott aufzunehmen, ist eine 2  Gerhard Marcel Martin verweist zur Fortsetzung seiner eigenen Spur im Rahmen dieses Wiederabdrucks der Antrittvorlesung ausdrücklich auf folgenden neueren Beitrag: Ders., Zwischen Eco und Bibliodrama – Erfahrungen mit einem neuen Predigtansatz, in: Erich Garhammer/Heinz-Günther Schöttler (Hg.), Predigt als offenes Kunstwerk. Homiletik und Rezeptionsästhetik, München 1998, S. 51–62. 3  Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik (UTB 2128), Tübingen/Basel 2002, S. 316 f. (Hervorh. im Orig.); 2., vollständig überarbeitete u. erweiterte Auflage 2011, S. 196 (ohne Hervorh.).

Einführung

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Predigt ohne Bilder und Gleichnisse nicht möglich«4. Die predigtpraktischen Hinweise werden also vor dem Hintergrund einer prinzipiellen Bestimmung der Erfordernisse einer Predigt entfaltet. Das organisierende Zentrum der Homiletik ist hier der Predigtinhalt, nämlich die christliche Freiheit, welche sich der Rechtfertigung verdankt. Von diesem Zentralgedanken ausgehend legt sich alles aus. Die homiletische Theorie von Michael Herbst ist in das Programm eines missionarischen Gemeindeaufbaus einzuzeichnen. Der Prediger ist verstanden als ein Beauftragter Gottes. Die Predigt verdankt ihre Wirksamkeit dieser Beauftragung. Daher ist Predigt vollmächtige Rede von Gott. Gegenüber denjenigen Ansätzen, die von einer grundsätzlichen Offenheit der Predigt ausgehen, kommt es hier wie bei Theißen, jedoch in unterschiedlicher Perspektivierung und Motivation, zu einer kerygmatischen Zuspitzung. Wilhelm Gräb versteht im Anschluss an Ernst Lange die Predigt als religiöse Lebensdeutung. Sie bietet einen symbolischen Raum zur religiösen Sinnvergewisserung, indem sie es dem Hörer ermöglicht, seine individuellen und fragmentarischen Erfahrungen auf ein sinnstiftendes Ganzes zu beziehen. Die Kompetenz des Predigers ist eine Wahrnehmungs- und Deutungskompetenz: Er muss die religiöse Lebenswirklichkeit der Hörer kennen und religiös so zu deuten vermögen, dass der Hörer sich diese Deutung zueigen machen kann.

Weiterführende Literaturhinweise: Überblick: Wilfried Engemann, Homiletische Literatur zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Schwerpunkte, Problemanzeigen und Perspektiven, in: ThR 75 (2010), S. 163–200.304–341. Uta Pohl-Patalong/Frank Muchlinsky, Predigen im Plural. Homiletische Aspekte, Hamburg 2001. Homiletik und Rezeptionsästhetik: Umberto Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. Aus dem Italienischen von Heinz G. Held (1987), München 31998. Ders., Das offene Kunstwerk. Übers. v. Günter Memmert (stw 222), Frankfurt/Main 1977. Birgit Weyel, Umberto Eco. Religion als poetisches Konzept der Weltdeutung, in: Volker Drehsen/Wilhelm Gräb/Birgit Weyel (Hg.), Kompendium Religionstheorie (UTB 2705), Göttingen 2005, S. 317–328. Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik (UTB 2128), Tübingen/Basel 2002; 2. vollständig überarbeitete u. erweiterte Aufl. 2011.

4 

Gerd Theißen, Predigen in Bildern und Gleichnissen. Metapher, Symbol und Mythos als Poesie des Heiligen, in: EvTh 66 (2006), S. 341–356, 355 f. (Hervorh. im Orig.).

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10.  Neuere Ansätze in der Homiletik

Ders., Personen, Zeichen und das Evangelium. Argumentationsmuster der Praktischen Theologie (APrTh 23), Leipzig 2003. Zur »dramaturgischen Homiletik«: Alexander Deeg/Martin Nicol, Was eine Göttinger Predigtmeditation leisten kann, in: Göttinger Predigtmeditationen 62 (2007), S. 3–17. Martin Nicol/Alexander Deeg, Im Wechselschritt zur Kanzel. Praxisbuch Dramatur­ gische Homiletik, Göttingen 2005. Zu Gerd Theißen: Gerd Theißen, Zeichensprache des Glaubens. Chancen der Predigt heute, Gütersloh 1994.

10.1  Die »ästhetische Wende« der Homiletik a. Gerhard Marcel Martin: Die Ästhetik als neue Verbündete der Predigt  Gerhard Marcel Martin, Predigt als »offenes Kunstwerk«? Zum Dialog zwischen ­Homiletik und Rezeptionsästhetik, in: EvTh 39 (1984), München: Kaiser, S. 46–581.

I. Ein neues Paradigma Die Rede- und Literaturgattung Predigt ist in den sechziger und siebziger Jahren stark diskutiert und bis ins Grundsätzliche problematisiert worden, Defizitanmeldungen haben jederzeit panegyrische Attitüden, aber auch Aktualisierungen homiletischer Positionen innerhalb der Grenzen der dialektischen Theologie überlagert und übertönt. Die Tatsache, daß »das Kommunikationsmittel Predigt«, das »abgesehen von den technischen Massenmedien … unter der erwachsenen Bevölkerung der BRD die höchste Teilnehmer (Hörer-)zahl«2 hat, wirkt bei solcher kritischen Bestandsaufnahme geradezu absurd. Die phantastischen Möglichkeiten sind keine. Der statistisch betrachtet spektakuläre Erfolg ist eigentlich ein programmierter Mißerfolg. Die grundsätzlichste Kritik bei Dahm läßt sich kurz zusammenfassen. Predigt, deren »Hauptaufgabe in unserer Zeit« sein sollte, »zur Veränderung 1  Diese Problemanzeige ist bis auf die Anmerkungen weitgehend textidentisch mit meiner praktisch-theologischen Antrittsvorlesung, die ich als Mitglied des Fachbereichs Evange­ lische Theologie am 14. Juni 1983 an der Philipps-Universität Marburg/Lahn gehalten habe. – Bei der Sichtung neuerer Fragestellungen der Homiletik stieß ich auf mein Thema. Der vorliegende Beitrag möchte gegenwärtige Diskussionen in den ihnen eigenen Zusammenhängen sehen und fortsetzen, aber auch – durch den Dialogansatz mit Literaturwissenschaft und Ästhetik – ein kritisches Gegenüber zu ihm sein. Konsequenzen für die Theorie der Homiletik, für die Predigtpraxis und auch für die Pastoraltheologie, die hier nur sehr fragmentarisch angedeutet sind, beabsichtige ich in absehbarer Zeit in einer Vorlesung zu entfalten. 2  K.-W. Dahm, Beruf: Pfarrer, München 19743, 319.

10.1  Die »ästhetische Wende« der Homiletik

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eingelebter pseudo-christlicher Bewußtseinsstrukturen … beizutragen«, ist dazu nicht geeignet, weil sie »Einbahn-Kommunikation« ist; »ihr fehlt die Reziprozität, die wirkliche Kommunikation erst konstituiert«3. Predigt ist nicht effizient, mag sie emotional überwiegend positiv wirken, »aufrichten, trösten, ermutigen, erschüttern«; kognitiv ist sie so gut wie wirkungslos.4 Ergänzungen der Kommunikation erscheinen Dahm dringend notwendig, etwa Predigtvorbereitungskreise und methodisch geregelte und verantwortete Predigtnachgespräche. Dahms Erwartung, daß so Lernprozesse in der Kirche in Gang gebracht werden könnten, scheint aber nicht besonders groß. Punkt 5.2 in seiner Thesenreihe »Stationen des Hörens« konstatiert lapidar: »Der Hauptwirkungsgrad von Predigt liegt also offensichtlich nicht in einem kognitiven Lernvorgang, sondern in einer emotionalen Erfahrung.«5 Ganz im Kontext der um 1970 breit geführten Diskussion stehen Vorträge bzw. Zeitschriftenbeiträge von Hans-Dieter Schneider und Traugott|47 Stählin, die mit ihrer Signalwirkung und in ihren präzisen Problemstellungen inzwischen zur Standardliteratur homiletischer Arbeit an theologischen Fakultäten und Seminaren avanciert sind. Stählin diskutierte 1971 »kommunikationsfördernde und -hindernde Elemente in der Predigt«6. Schneider fragte, erklärtermaßen sozialpsychologisch, »unter welchen Voraussetzungen … Verkündigung Einstellungen ändern« kann7. Schneider kommt, von der gleichen Fragestellung ausgehend wie Dahm, zu gleichen, wiewohl ausdifferenzierteren »Folgerungen für die Predigt«: »Beteiligung der Gemeindeglieder/Dezentralisierung der Kommunikationsstruktur/Diskussion in Kleingruppen/Veränderung der Gruppenzugehörigkeit/Vervielfältigung der Kommunikationskanäle.«8 Aber auch bei ihm gibt es resignative Töne, was die Effektivitätssteigerung der Predigt anbelangt. Er will »nicht aus…schließen, daß eine gewisse Bedeutungsverlagerung von der Predigt auf andere Aktivitäten hin erfolgen muß«9. Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, daß sich in Ernst Langes Aufsatzsammlung »Predigen als Beruf« die die siebziger und die achtziger Jahre prägende kritische Analyse der Predigtsituation und deren kommunikationswissenschaftliche, sozialpsychologische, homiletische und theologische Bearbeitung besonders verdichtet. In seinem in diesem Band veröffentlichten Vor3 

Ebd. AaO. 320. 5  AaO. 317. 6  T. Stählin, Kommunikationsfördernde und -hindernde Elemente in der Predigt, in: WPKG 61, 1972, 297–308. 7  H.-D. Schneider, Unter welchen Voraussetzungen kann Verkündigung Einstellungen ändern?, in: MPTh 58, 1969, 246–257. 8  AaO. 254 ff. 9  AaO. 254. 4 

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trag von 1967 »Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit« hat Lange das alternative Grundkonzept von Arbeitshilfen zur Predigtvorbereitung, das der seit 1968 erscheinenden »Predigtstudien«, entwickelt. Das von ihm vorgeschlagene neue homiletische Verfahren grenzt sich ab gegen das Predigtverständnis der dialektischen Theologie10 und gegen »übersteigerte exegetische Ansprüch(e)«11 und will die »Was-Frage« der Predigt nicht isoliert und nicht mehr diskutiert wissen, als die Wem-, die Wozu- und die Wie-Frage.12 Entsprechendes Gewicht bekommt die »homiletische Situation« als die »spezifische Situation des Hörers, bzw. der Hörergruppe …, durch die sich die Kirche, eingedenk ihres Auftrags, zur Predigt, das heißt zu einem konkreten, dieser Situation entsprechenden Predigtakt herausgefordert sieht«13, wobei Lange unterschieden wissen will zwischen einer »homiletischen Großwetterlage« und der jeweiligen »Lage vor Ort«14 Auch Lange will durch Predigtvorbereitungskreise und Nachgespräche15 den Kommunikationsprozeß verbessern und ihn anschließen an ein kirchliches Gesamtkatechumenat, an das »mutuum|48 colloquium fratrum« und das »Einzelgespräch«16. Aber auch bei ihm sind gegenüber solch einem umfassenden Programm realitätsnahe bis resignative Selbsteinsprüche unüberhörbar. »Die sonntägliche Predigt kann, trotz aller Bemühungen um Situationsgemäßheit, niemals etwas anderes als das ›Wort für alle‹, das ›Wort für viele‹, also ein allgemeines, in der notwendigen Konkretion behindertes Wort sein.«17 Zweifellos, Theologie als kritische kirchliche Wissenschaft hat in den genannten Positionen auf unübersehbare Defizite der Predigt-Kommunikation aufmerksam gemacht; solche Kritik ist ihre Aufgabe. Affirmation, logische Stabilisierungsstrategien, Bejahungsspezialisten (H. Hesse) gibt es genug. Gerade dann ist aber auch eine abermals kritische Rückfrage an die Ausgangspunkte dieser Kritik erlaubt, erst recht angesichts der praktischen Nichtrealisierbarkeit ihrer Postulate. Wie selbstverständlich ist eigentlich die Prämisse dieser Kritik, nach der auch für Predigt und Gottesdienst das Modell der unrealisierbaren, gerade so aber »idealen Kommunikation« gilt, bei der »die empfangene Nachricht beim Rezipienten genau derjenigen entsprechen« würde, »die der Kommunikator konzipiert und ausgesendet hat«18? Demgegenüber ist schon das Kommunikationsmodell, das Dahm seinen Überlegungen zugrunde gelegt 10 

E. Lange, Predigen als Beruf, Stuttgart 1976, 12. [siehe in diesem Band S. 194–226.] AaO. 41. 12  AaO. 50. 13  AaO. 22. 14  AaO. 38. 15  AaO. 46. 16  AaO. 35. 47. 17  AaO. 47. 18  Stählin, 299. 11 

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hat, erfreulich komplexer; auch er konstatiert in einem Grundsatzbeitrag in den Predigtstudien von 1970 »Zur gegenwärtigen Predigtnot« im Prozeß der Predigtkommunikation das »System von reduzierender Filterung«, nennt als »Verarbeitungsstation« des Hörens aber auch die »Kettenreaktion von Assoziationen«19, zu der nicht nur das zerstreute Abschweifen gehören muß, sondern auch themenbestimmtere, wiewohl freie »persönliche() Erinnerungen und Gedanken«20. Impulse der Predigt können also aufgenommen und selbständig bearbeitet und »bespielt« werden; der Rezipient kann etwas empfangen, was der Kommunikator so gar nicht ausgesendet hat, was aber auch mehr und anderes ist als reiner Themenwechsel oder Abbruch der intendierten Kommunikation. Trotzdem, wenn Predigt auch und gerade nach Dahm offensichtlich selbst mit stützenden Maßnahmen nicht zu leisten vermag, was von ihr unter den Prämissen der Kommunikationswissenschaft zu fordern ist, sondern ihre Wirkung vielmehr im Bereich der Assoziationen und der Emotionen im Sinne von Trost, Ermutigung, Erschütterung hat, wäre es dann nicht erwägenswert, das Paradigma, nach dem sich Predigt in Produktion und Rezeption ausrichtet, zu ändern? Nicht etwa um einen interdisziplinären Dialog schließlich doch affirmativ werden zu lassen und zu verharmlosen nach der Parole des polnischen Aphoristikers Lec: »Kürzen wir das Meter- 49 maß. Seien wir größer!«21, sondern gerade um ihn reziproker, komplexer, anspruchsvoller zu machen. Gibt es ein solches Modell, das dem faktischen Aufnahmeprozeß von Predigt mehr entspricht, das für freie Reaktionen einen offenen Raum vorsieht, das zu Assoziationen und zur emotionalen Rezeption einlädt? Als ein solches Paradigma will ich im folgenden Umberto Eco’s Modell des »offenen Kunstwerks« diskutieren. Dabei soll nicht verschwiegen werden, welche theologisch-hermeneutischen und praktischen Konsequenzen der Koalitionswechsel der Homiletik von der Kommunikationswissenschaft zur Ästhetik mit sich brächte. Nach Eco treffen sich »viele() moderne() Ästhetiken« in der »Vorstellung«, daß »das Kunstwerk … eine grundsätzlich mehrdeutige Botschaft« ist, eine »Mehrheit von Signifikaten (Bedeutungen), die in einem einzigen Signifikanten (Bedeutungsträger) enthalten sind«22 – so daß es gerade kein Manko wäre, wenn ein Wort oder ein Bild verschiedene Rezeptionen möglich machte. Durchaus dialogfähig und dialogbereit mit den Zeichen- und Kommunikationswissenschaften, reflektiert das Modell eines offenen Kunstwerks die »Struktur einer

19  K.-W. Dahm, Hören und Verstehen, in: Predigtstudien. Perikopenreihe IV, 2. Halbbd. Stuttgart 1970, 9–20, 14. 20  Dahm, Hören und Verstehen, 18. 21  St. J. Lec, Neue unfrisierte Gedanken, München 1964, 7. 22  U. Eco, Das offene Kunstwerk (stw 222), Frankfurt 1977, 8.

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Rezeptionsbeziehung«23 – nämlich »eine Beziehung der Nichteindeutigkeit«24. Ein Kunstwerk, welches »Offenheitsniveau« es auch repräsentiert25, bietet »ein Feld von Relationen«26 , von »konnotativen Signifikaten«27, eine »konnotative Aura«28, ein »Suggestivitätsfeld«29, ein »Reizfeld«30; »jedes Kunstwerk, auch wenn es nach einer ausdrücklichen oder unausdrücklichen Poetik der Notwendigkeit produziert wurde, (ist) wesensmäßig offen … für eine virtuell unendliche Reihe möglicher Lesarten, deren jede das Werk gemäß einer persönlichen Perspektive, Geschmacksrichtung, Ausführung neu belebt.«31 Ließe sich im Predigen das Modell »offenes Kunstwerk« realisieren, könnte das Grunddilemma von Lange eine überraschende Entschärfung, wenn nicht sogar eine Lösung finden: das »Wort für alle« müßte nicht ein »in der notwendigen Konkretion behindertes Wort sein«, sondern fände in der Rezeption der Hörer verschiedene Konkretionen.32 Etwas pointiert: Predigt als offenes Kunstwerk räumte den Hörern selbst die Gelegenheit ein, ihre Situation in das Predigtgeschehen einzubringen. Es wäre dann nicht|50 mehr primär die Aufgabe des Predigers, die Situation anderer und für andere zu klären. Die Suche nach der homiletischen Großwetterlage und der Lage vor Ort würde damit nicht gegenstandslos, wohl aber entdramatisiert; theologisch-meteorologische Institute in Stuttgart, Darmstadt und anderswo könnten ihre Etats senken. Wäre Predigt denkbar und machbar als ein Feld für verschiedene Ernteerfahrungen, dann verlöre auch die von Schneider beschworene »Entscheidung« des Predigers an Plausiblität, »entweder über die Köpfe eines Teils der Gottesdienstbesucher hinwegzureden oder eine andere Gruppe zu langweilen«33. Verläßt der Prediger den Bereich denotativer Eindeutigkeit, muß nicht nur mit Schneider vor konnotativen »Missverständnissen«34 gewarnt werden; verschiedene, wiewohl nicht beliebige Konnotationsmöglichkeiten könnten diese Langeweile der einen und die Überforderung der anderen kurieren. Gelingt es dem Prediger, ein lebendiges Feld denotativer Möglichkeiten zu schaffen, braucht er 23 

AaO. 15. AaO. 17. 25  Vgl. aaO. 60, 89. In der Diskussion beziehe ich mich mehr auf die allgemeine, jedem Kunstwerk zukommende und zugesprochene Offenheit als auf die spezifische Offenheit vieler moderner Kunst. 26  AaO. 54. 27  AaO. 79 28  AaO. 72. 29  Ebd. 30  AaO. 80. 31  AaO. 57. 32  Lange, 47. 33  Schneider, 252. 34  Ebd. 24 

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nicht einen »Gemeinplatz« nach dem anderen in Beton zu gießen, wovor Lange zu Recht Angst hat35; und auch die Hörer, so wäre zu hoffen, werden solche Gemeinplätze, auf denen sie sich im ideologischen Schulterschluß und in der Zwangseinmütigkeit des Glaubens versammelt wissen sollen, weder suchen noch vermissen. II. Alte Fragestellungen in neuem Licht Auch bei einigen ironischen und triumphalistischen Nebensätzen: durch einen Paradigmenwechsel sind die zentralen Themen der Predigt- und Gottesdienstdebatte der siebziger Jahre natürlich keineswegs erledigt; sie tauchen nur in einem neuen und – wie ich hoffe – manchmal überraschenden anderen Licht auf. Manfred Josuttis hat für die gegenwärtige Diskussion verschiedene Gottesdienstverständnisse typenhaft herausgearbeitet: das kerygmatische, das kultische, das politische und das kreative.36 Was hieße Predigt als »offenes Kunstwerk« in diesen zu unterscheidenden und als solche gerade aufeinander zu beziehenden gottesdienstlichen Gesamtarrangements – einmal vorausgesetzt, daß sie auch bestimmte Predigttypen zur Folge haben bzw. möglicherweise sogar voraussetzen? Einigermaßen schnell anfreunden mag man sich mit dem Gedanken, daß das Modell des offenen Kunstwerks ein enges, objektivistisches, kultisches Verständnis aufzusprengen vermöchte, ohne ihm grundsätzlich zu widersprechen, sind doch Kult wie Kunstwerk an Form und Formung interessiert, teilen ästhetische Maßstäbe und vermögen sich im confinium von Ästhetik und Religion zu begegnen. Was, nahezu spiegelsymmetrisch, auch für den Austausch zwischen offenem Kunstwerk und kreativem Predigt- und Gottesdienstkonzept gälte. Der Anspruch der Kunst, des ernsten|51 Spiels und des spielerischen Ernstes, könnte Kreativitätseuphorien und -ideologien unter Kritik und Kontrolle bringen. So könnten sich kultisches und kreatives Gottesdienst- und Predigtverständnis unter dem Modell des offenen Kunstwerks näherkommen. Sie träfen sich in der Wahrheit des Kunstwerks, das eine Welt für sich, ein anderes, konzentrierteres und verspielteres, dabei nach außen, zur Welt und zum Subjekt keineswegs kommunikationsloses System ist. Theologisch unausweichlich und umstritten wird die Diskussion zwischen dem Konzept des offenen Kunstwerks und dem kerygmatischen Predigt- und Gottesdienstverständnis sein. Könnte es auch hier gelingen, in der Aufnahme 35 

36 

143 ff.

Lange, 21. M. Josuttis, Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion, München 1974,

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des Paradigmas offenes Kunstwerk die berechtigten Anliegen der KerygmaTheologie nicht aufzugeben und darüber hinaus dem Dialog neue Perspektiven abzugewinnen? Ich höre die kritische Rückfrage: Lieferte nicht Eco’s Konzept der Offenheit und Mehrdeutigkeit das Evangelium, den Zuspruch der frei geschenkten Liebe Gottes, der schädlichsten Uneindeutigkeit, neuer religiöser Skrupulosität, gesetzlichem Mißverständnis aus?! Könnte das nicht zu einem ästhetisch dirigierten Rückfall in liberale Theologie oder einem Vor-Fall in einen unverbindlichen, Kirchen in ihrer Einheit und in ihrem streithaften Zusammenleben bedrohenden Pluralismus führen? Wäre die Sprache des Evangeliums ausschließlich jurisdiktionell, wäre dieser Einwand unüberwindbar. Die Sprache der Rechtssprechung ist eindeutig und nicht mehrdeutig, weil es in ihrem Vollzug nicht halboffene Gefängnis­ türen oder Drittelköpfungen gibt. Jede Mehrdeutigkeit verunklärte den Prozeß, würde zur Vermischung von Gesetz und Evangelium, von Verurteilung und Freispruch führen.37 In der für die Reformation zentralen Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium ist »Evangelium« in der Tat stark jurisdiktionell verstanden; das »Evangelium« überbietet nun aber auch die Strenge, die Eindeutigkeit und die bisweilen tödliche Logik des Gesetzes, indem es in den Raum und die Zeit der Gnade Gottes einlädt. Das Gesetz als Gesetz zwingt in die Konsequenz, das Evangelium setzt frei, läßt leben im Bereich der Liebe, die wesensmäßig inkonsequent ist. In diesem Sinn löst Evangelium Eindeutigkeit gerade auf. Das Evangelium als die Geschichte und Wirkung der Person und der Botschaft Jesu hat starre Plausibilitätsstrukturen in Politik und Religion, im Krankheitsverständnis und im Ritualverhalten aufgebrochen und in Bewegung gebracht. Evangelium als die frohe Botschaft vom nahen Einbruch des Reiches Gottes, das Evangelium nach Johannes, das die Wirklichkeit des Vaters gegen »diese Welt« stellt, sprengt das Wahrnehmungs- und Lebensfeld. Aus der gefängnishaften Eindeutigkeit und Blindheit der Welt wird sehende Mehrdeutigkeit. »Reich Gottes«, das in Anknüpfung und Widerspruch zu dieser Welt angesagt wird, ist ja nicht ein geschlossenes System gegen ein anderes, sondern ermöglicht Transzendierung der|52 vorhandenen Welt. Mündet schon nach Adorno jeder (philosophische) Gedanke, der sich nicht selbst enthauptet, in Transzendenz – wieviel mehr dieser theologische. Am Ende des kurzen Gedankenweges über Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit des Evangeliums wage ich zu formulieren: »Evangelium«, strukturalistisch betrachtet, heißt, daß Gott, Welt und Mensch verschieden »lesbar« werden, daß 37 

Zur Hermeneutik der Gesetzlichkeit und zur gesetzlichen Verfälschung der Predigt vgl. M. Josuttis, Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, München 1966.

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es nicht nur eine, sondern mehrere Plausibilitäten und unausweichliche Erfahrungs- und Erwartungshorizonte gibt, die sich als solche gegenseitig relativieren und damit zugleich in Relation setzen. Davon lebt noch die Theologie, die diese Relation als eine paradoxe behauptet. In diesem Zusammenhang meinte »Evangelium« die Bereicherung und Aufsprengung des Denotativen durch Konnotatives oder, mit dem Psychoanalytiker Alfred Lorenzer formuliert, die Bewegung vom Zeichen und vom Klischee zum Symbol, die Resymbolisierung der Welt.38 In diesem Sinn macht das Evangelium sich selbst und die Welt zusammen zu einem offenen Kunstwerk und entspricht das offene Kunstwerk einer Wirkung des Evangeliums.39 Exkursartig und kurz soll nicht unerwähnt bleiben, daß Eco, Semiotiker und akademischer »Zeichen«-Lehrer höchsten Grades, in seinem Roman-Erstling »Der Name der Rose« vom Umgang mit Zeichen als genauso gefährlicher wie fröhlicher Kunst und Wissenschaft erzählt – eine Kunst und eine Wissenschaft, die im Konzept einer Resymbolisierung als Befreiung und Freisetzung solcherart angedeutetem Evangeliums-Verständnis keineswegs widersprechen; sie stellen es vielmehr fabulierend und essayistisch, theologiegeschichtlich und hermeneutisch hochbelesen dar. Die Metapher, die sich durch den ganzen Roman hindurchzieht, die ihn vielleicht am wirkungsvollsten strukturiert, ist die des »Lachens«. Darum kreisen die Gespräche der Mönche, darum wird gemordet und darin wäre die Freiheit: nur wo die jeweilige Wahrheit selbst zum Lachen gebracht wird, bewahren wir uns und andere davor, »zu Sklaven unserer Einbildungen« zu werden.40 Lachen befreit von der Angst. Der Teufel hingegen ist der Wahrheitsfanatiker, der nicht lachen kann. Am Ende stehen aber – wie im Evangelium – nicht die absolute Relativität, die Ironie oder der Zynismus angesichts der so relativen und relativierten Wahrheiten, sondern Hoffnung auf Aufklärung und die keineswegs aggressionsgehemmte Liebe und Heiterkeit des heiligen Franz.

III. Mehrdeutigkeit ist nicht gleich Beliebigkeit Aufgabe der Predigt dieses Evangeliums könnte es dann sein, nicht nur die Eindeutigkeit von Gottes »Ja« (2Kor 1,19 f.), sondern auch die dadurch be-|53 wirkte Mehrdeutigkeit aller Erfahrung zu vermitteln. Mit Niels Hasselmann ließe sich 38  Vgl. zuletzt und anderes früheres auch exkursartig zusammenfassend, obendrein im engeren Dialogbereich Theologie – Psychoanalyse diskutierend: A. Lorenzer, Das Konzil der Buchhalter, Frankfurt 1981. 39  In diesem Gedankengang, in dem ich Entsprechungen zwischen Struktur und Wirkung von Poesie/Kunstwerk und Predigt behaupte, könnte ich viele hermeneutische Voraussetzungen und Konsequenzen folgender zwei Essays teilen, die ihre Einsichten in der Auseinandersetzung allerdings an sehr anderem Material (und mit keinem Wort am Werk Eco’s) entwickeln: H. Wernicke, Dichterische Wirklichkeit und christliche Verkündigung. Versuch einer Verhältnisbestimmung, in: ThPr 5, 1970 13–32. – H. Braunschweiger, Auf dem Weg zu einer poetischen Homiletik, in: EvTh 34, 1979, 127–143. 40  U. Eco, Der Name der Rose. München/Wien 1982, 624; vgl. meine diesen Exkurs ausführlicher fortsetzende Rezension dieses Romans, in: WzM 35, 1983, 372 f.

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als »Predigtziel« ohne weiteres »die Erweiterung, Erhellung und Vertiefung« menschlicher »Existenz« nennen.41 Predigt als offenes Kunstwerk könnte so die Dynamik des Evangeliums mitvollziehen, neu vollziehen, im Eco’schen Sinne zur »Aufführung« bringen. Sie könnte verschiedene Lesarten der Gottes-, Weltund Selbsterfahrung neben- und ineinanderstellen; der Hörer fände Anschluß an wirkliche und mögliche Erfahrung. Ein wesentlicher Aspekt von Eco’s Konzept darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden: Mehrdeutigkeit heißt nie Beliebigkeit Die aus der Physik übernommene Metapher »Feld« meint nicht totale Beliebigkeit, nicht ein »Chaos der Relationen«42 oder, informationstheoretisch formuliert, ein allgemeines »Rauschen«43, sondern auch Begrenzungen. Das Feld lenkt die verschiedenen möglichen Auffassungen und leitet die Wahlakte. Predigt als offenes Kunstwerk hieße also nicht, was Dahm mit Recht als absolutes Defizit ansieht, daß »der Hörer in die Predigt hineinprojiziert, was er aus ihr herausnehmen will«44. Das Feld »(läßt) Beziehung kommunikativ werden … und (macht) sie nicht zu einem absurden Dialog … zwischen einem Signal, das kein Signal, sondern Rauschen ist, und einer Rezeption, die nicht Rezeption, sondern solipsistisch wahnhaftes Phantasieren ist«45. Dies zu kontrollieren, dazu ist die Kommunikationswissenschaft durchaus geeignet; nachträglich, nach dem Paradigmenwechsel, erhielte sie wieder eine ihr durchaus angemessene Aufgabe. Daß das neutestamentliche Transzendieren der vorhandenen Welt in Person und Botschaft Jesu Christi und die so bewirkte Offenheit und Mehrdeutigkeit des Gottes-, Welt- und Menschenverständnisses nicht beliebig und damit auch nicht unverbindlich, subjektivistisch und damit nicht mehr inter-subjektiv wird, dafür sorgt das vielschichtige, aber begrenzte Bild Jesu, wie es das Neue Testament zeichnet und wie es in der Wirkungsgeschichte des Evangeliums bis zur Zerreißprobe immer wieder zu rekonstruieren und zu aktualisieren versucht worden ist. In diesem Sinne behält sogar die Behauptung der dialektischen Theologie Recht, daß der Text die Situation setzt.46 Der Prediger kann und wird also einen »Schlüssel« einführen, wie es Eco am Beispiel von James Joyce demonstriert (und hier von mir auf Predigt umformuliert wird), »weil er möchte, daß« die Predigt »in einem bestimmten Sinn« gehört wird, ganz zentral z.B., daß das Evangelium nicht mit dem Gesetz verwechselt oder vermischt wird. »Doch besitzt dieser ›Sinn‹ den Reichtum des Kosmos« [und 41 

N. Hasselmann, Predigthilfen und Predigtvorbereitung, Gütersloh 1977, 258. Eco, Kunstwerk, 54. 43  AaO. 178. 44  Dahm, Beruf: Pfarrer, 316. 45  Eco, Kunstwerk, 178. 46  Gegen das Verdikt Langes, 24, 32. 42 

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Gottes; G. M. M.], und der Prediger »hat den Ehrgeiz, ihn die Totalität von Raum und Zeit einschließen zu lassen – der möglichen Zeiten und Räume.«47|54 Daß ein derart verstandenes kerygmatisches Predigt- und Gottesdienstverständnis das politische nicht aus-, sondern einschließt48, wird nach allem nicht überraschen; spätestens hier begegnen sich auch der Anspruch und die sowohl erhoffte wie behauptete Wirksamkeit von Predigt und offenem Kunstwerk: Politische Predigt soll politisches Bewußtsein aufklären und zur Aktion anstiften.49 Moderne Kunst, »wenn sie zum ständigen Zerbrechen der Modelle und Schemata erzieht«, kann »ein pädagogisches Instrument mit befreiender Funktion darstellen«50. »Offenheit« kann, etwa bei Brecht, »zum Instrument revolutionärer Pädagogik« werden.51 Ästhetik und (politisches) Engagement schließen sich für Eco keineswegs aus.52 In den letzten Eco-Zitaten wird dem offenen Kunstwerk genau die von mir beschriebene Wirkung des Evangeliums zugeschrieben, Relativierung, ja Abbruch regionaler, zu enger Wirklichkeitsdefinitionen.53 Daß bei solchem Vergleich realer und postulierter Wirkungen zwischen christlicher Predigt, Literatur und konsequenter Resymbolisierung Unterschiede nicht unerheblich werden, bleibt selbstverständlich; sie betreffen, wie an anderer Stelle auch schon angedeutet, das jeweilige historisch wirkliche und in Literatur und Leben überlieferte »Material«, sie betreffen auch den politischen und sozial-psychologischen Ort ihrer »Aufführung«. IV. Einige theologisch-hermeneutische und praktische Konsequenzen Die in Karl Barths Homiletik so vehement vorgetragene Ablehnung sowohl eines theoretischen als auch eines praktischen Skopos in der Predigtarbeit gewinnt in unserem Zusammenhang neuen Sinn und zusätzliche Argumente.54 Predigt als offenes Kunstwerk kann, wie Barth fordert und wie es die Predigtgattung Homilie vorsieht, dem Text Vers für Vers folgen und so – ich nehme Stichworte Eco’s auf – ein »Feld von Relationen«, von »konnotativen Signifi47 

Eco, Kunstwerk, 39. Auch nach M. Josuttis stehen beide Typen als theologische Positionen durchaus nahe beieinander, vgl. Josuttis, Praxis, 145. 49  Vgl. aaO. 181. 50  Eco, Kunstwerk, 153 (wenn auch in der Form einer rhetorischen Frage zum Ausdruck gebracht). 51  AaO. 41. 52  Vgl. seinen Essay: Form als Engagement, in: Eco, Kunstwerk, 237 ff. 53  Schon im Exkurs zu Eco’s Roman »Der Name der Rose« hatte ich inhaltliche Vergleiche mit dem Evangelium riskiert. 54  K. Barth, Homiletik. Zürich 1966, 34 und 84 ff. 48 

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katen«, eine »konnotative Aura«, ein »Suggestivitätsfeld«55 schaffen. Auf diese Weise kann Predigt sich und den ihr zugrundeliegenden Text wirklich zu Gehör bringen, ein Gehör, das nicht sofort eingeschränkt und kanalisiert wird durch eine Einsinnigkeit, die ein bestimmtes Lehr-, Erzähl- oder Handlungsziel penetrant durchzusetzen versucht. Folgt die Predigt dem Modell des offenen Kunstwerks, dann muß sich der Hörer eben nicht unter einem allzu weiten und meist lehrformelhaften Skopos einfinden, der auf die Hälfte oder sogar mehr als die Hälfte|55 aller Predigttexte zuträfe, wie etwa »Gott ist Herr der Geschichte« oder »der unabhängige, souveräne Gnadenwille Gottes«56. Vielmehr gewährte ihm die Predigt Zeit und Raum, neue Erfahrungen des Glaubens und Verstehens im Zusammenspiel der Überlieferung und seiner Situation zu machen. Gewiß läßt sich einwenden, einmal vorausgesetzt, ein biblischer Text sei mehrdeutig, habe viele Konnotationsmöglichkeiten und Skopoi, dann wäre und bliebe es aber Aufgabe der konkreten Predigt, jeweils einen Sinn herauszuarbeiten; beim nächsten Mal könne sie, wenn der Text wieder an der (Perikopen-) Reihe sei, einen anderen Aspekt pointieren. Läßt man sich aber auch bei dieser Problemstellung in der Predigtarbeit auf das Modell des offenen Kunstwerks ein, dann wird man zugeben und nicht bedauern, daß – selbst bei Lehrpredigten – völlige Einsinnigkeit angesichts der Überlieferung, der Auslegungsgeschichte und der Vorerfahrungen und Konnotationen von Prediger und Hörer unmöglich zu erreichen ist. Das macht gerade den Reichtum und die befreiende Lebendigkeit des Textes, des Predigens und des Hörens aus. Eine Spielart der Homilie kann die reproduktive und produktive Nacherzählung sein. Narrative Theologie findet hier eine hermeneutisch-theologische Begründung. Predigt als offenes Kunstwerk könnte Geschichte und Gegengeschichten erzählend konfrontieren, brauchte allen Ernst des Spiels und alle Heiterkeit kreativer Aktivität, um der Enge der gesellschaftlich konstruierten und kontrollierten offiziellen Wirklichkeiten57 die Weite anarchistischer, d.h. herrschaftsfreier (und nicht bombenlegender) möglicher Welten gegenüberzustellen. Ein grandioses Beispiel, jedenfalls aus der Literaturgattung der erbaulichen Rede anführbar, bietet Kierkegaard am Anfang von »Furcht und Zittern«, wo er vier Versionen der sog. Opferung Isaaks (Gen 22) kommentarlos nebeneinander erzählt, gefolgt von der »Lobrede auf Abraham«. So gerät diese Geschichte in Bewegung. Kierkegaard erzählt, füllt aus, was nicht in ihr steht, aber in ihr stehen könnte, Verschiedenes, sich Widersprechendes, sich Ausschließendes. Wo 55 

Vgl. Anm. 26 – Anm. 29. Vgl. die kritische Auseinandersetzung mit solchen Skoposbestimmungen bei V. Metelmann, Der Jakobskampf am Jabbok, in: WzM 26, 1974, 69–82, bes. 71. 57  Vgl. P. L. Berger/T. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt 1972. 56 

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der Text »zwischen den Zeilen« Freiheit läßt, lädt er ein zur aktiven und produktiven Interpretation als Fortsetzung, als Ergänzung. In seiner, wie er es selber nennt, »dialektischen Lyrik« demonstriert Kierkegaard, daß die Rezeption reicher sein kann und muß als die Vorlage. Mit zwei Einwänden möchte ich mich an dieser Stelle noch auseinandersetzen, die ich erwarte, wenn deutlich geworden ist, daß durch das Paradigma des offenen Kunstwerks literarische Ansprüche an die Predigt steigen, so sehr inzwischen auch deutlich geworden sein mag, daß es bei dieser Begegnung von Theologie und Kunst nicht um einen ästhetischen Höhenflug geht, sondern eher um eine Landung, nämlich um ein Eingehen auf faktische Rezeptionsvorgänge im Hören.|56 Einwand I: Literarisch anspruchsvolle und ausgearbeitete Formen verlangen so viel Konzentration auf das nachvollziehende Verstehen, daß sie eigene aktive Rezeption, produktive Ergänzung, biographische Assoziation eher hemmen als befördern. Hier helfen in der Tat nur offene Formen, die literarische Ansprüche bisweilen hintanzustellen zwingen mögen. Die Kunstform würde möglicherweise unvollkommener, aber der mit dem Modell »offenes Kunstwerk« im Zusammenhang mit der Predigtarbeit gemeinten Sache würde gedient, wenn im Predigt- und Gottesdienstvollzug zum aktiven Hören angeleitet würde, etwa durch Zwischenfragen, Pausen, Imaginationsanleitungen, Meditationen usw. Dem Predigthörer kann man auf verschiedenste Weise Räume und Zeiten für eigene Assoziation und Aneignung gewähren. Anschauliche Rede, Symbole, Erzählen haben dabei ihre wichtige Funktion. Einwand II: Literarisch anspruchsvolle und ausgearbeitete Formen von Predigt beschränken radikal die gerade neu entdeckten Möglichkeiten des Predigers, »ich« zu sagen (statt eines vereinnahmenden klerikalen »wir«); im schlimmsten Fall bieten sie dem Prediger neue Versteckmöglichkeiten und bringen die Gemeinde um dessen persönliches Zeugnis.58 Im Dialog mit der Rezeptionsästhetik möchte ich antworten: Auch die Predigt im Ich-Stil ist eine literarische Gattung und keineswegs ein besonders unmittelbarer konfessorischer Akt ohne bestimmte und die Aussage mitbestimmende Form. Dabei kann die Palette der Ich-Rede ziemlich breit sein, sobald sich nämlich das rein lebensgeschichtliche Ich des Predigers erweitert in Richtung repräsentatives, exemplarisches oder gar fiktives Ich.59 In der Anwendung des Modells offenes Kunstwerk auf die Predigtarbeit wird der Hörer dazu angeregt, selbst »ich« zu sagen, statt in reine Affirmation 58  Zum Problem vgl. H. van der Geest, Du hast mich angesprochen, Zürich 1978, 163 und die folgende Anmerkung. 59  Vgl. Josuttis, Praxis, 92 ff.

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– »ich auch« – oder pure Kritik – »ich nicht« – hineingetrieben zu werden. Wo der Hörer, durchaus in Übereinstimmung mit der Vision vom Priestertum aller Gläubigen, befreit ist von der schlechten Alternative, ob ihm die Predigt gefallen oder nicht gefallen habe, wird allererst aktive Rezeption möglich; die weiterführenden Fragen, über die ab und zu im Predigtnachgespräch auch zu reden wäre, hießen dann: Was ist dir dazu eingefallen? Was hat das bei dir in Bewegung gebracht? Der Predigthörer hätte, selbst bei einer Ich-Rede des Predigers, die Chance, seinerseits ich zu sagen und lernte es schließlich, »ich« und »ich« zu unterscheiden. Schließlich ein letzter Gesichtspunkt: Ließe sich solches Programm auch nur ansatzweise literarisch, ästhetisch und theologisch verwirklichen, wäre an einer entscheidenden Stelle eine Alternative in Bewegung geraten, die alle theologischen Dialogpartner mit der Kommunikationswissenschaft, auch noch M. Josuttis, nennen und offensichtlich für unüberwindbar halten: Entweder wollen Gottesdienst und Predigt einen Lernprozeß in Gang bringen – »vom Unglauben zum Glauben« / »Anstiftung zur … Aktion« / Freisetzung »schöpferische(r) Potenzen« – was angesichts|57 der faktischen Kommunikationsstrukturen in der Kirche ungeheuer schwer zu bewerkstelligen ist60, oder sie dienen – wie im kultischen Konzept ganz deutlich und dort auch realisierbar – purer Stabilisierung und Bestätigung. Die Gattung offenes Kunstwerk bewegt sich nach allen Charakteristika, die uns beschäftigt haben, im Feld zwischen den Extremen Bestätigung einerseits, Lernverpflichtung, Handlungsanweisung, Kreativitätsdruck andererseits. Rezeption, noch die immer wiederholte Teilnahme am Ritus, heißt Aktualisierung, »Aufführung«, »Konkretisation«61. Subjekt der Aneignung und Inhalt des Angeeigneten bewegen sich frei im Feld von Latenz und Manifestation, von Aktiv und Passiv; offene Kunstwerke regen an »zu einem stets erneuerten und vertieften Erfassen«62. Noch die kultisch-liturgische Wiederholung könnte dann in Bewegung setzen, Lern-Erfahrung bewirken. Neues, anderes könnte in der alten symbolisch-rituellen Interaktionsform entdeckt werden. Wiederholung bewirkt nicht nur Bestätigung63, sondern ist in ihrer tieferen existenzphilosophischen und rituellen Bedeutung eng verbunden mit der theoretischen und praktischen Kategorie des Übens. Alle Fähigkeiten des Menschen wollen nicht nur einstudiert und ausgebildet, sondern auch geübt sein. »Üben« heißt nicht, etwas Neues erlernen; »üben« tue ich etwas, was ich 60 

AaO. 181. Vgl. den Sammelband von R. Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik (UTB 303), München 19792, darin bes. auch den einleitenden Beitrag vom Hg.: Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik, 9–41. 62  Eco, Kunstwerk, 88. 63  Gegen Josuttis, Praxis, 184. 61 

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kann, was ich nicht verlernen will, womit ich vielmehr weiter und ggf. auch neue Erfahrungen machen will. Bei Körperübungen wie Yoga und Tai Chi Chuan ist dies evident, gilt aber auch für geistliche und ganzheitliche Übungen. Üben setzt sogar voraus, daß ich etwas kann. Solche »Übung macht den Meister«. Die Übung der Liturgie ist darum auch rezeptionsästhetisch durchaus relevant. V. Schluß: Von der Pflicht als Intellektueller Ich wollte zeigen, daß und wie Eco’s Modell des offenen Kunstwerks auf Predigt (und Gottesdienst) angewandt, gegenwärtige Diskussionen bereichern und verändern könnte; manche Fragestellungen würden aufgelöst, andere präzisiert, neue kämen hinzu. In dem allen ist aber das Beobachtungs- und Theoriefeld der »Rezeptionsästhetik« kein Schwert, um Gordische Knoten in der Homiletik zu zerschlagen. Dies wäre theologischem Denken auch gar nicht angemessen, war der diese Arbeit bestimmende Herr doch eher gewaltlos und freundlich und wollte ohne Rüstung leben. Ich glaube auch kaum, daß ich den Eindruck erweckt habe, als ob durch den Paradigmenwechsel in Predigttheorie und -praxis alle Probleme gelöst wären. Der Dialog mit den Kommunikationswissenschaften z.B. wird keineswegs gegenstandslos. Gottesdienstbefragungen, religionssoziologische und theologische Untersuchungen zur Wirkung von Gottesdienst und|58 Predigt bleiben notwendig64; freilich könnten sich einige ihrer Fragerichtungen leicht ändern. Das Gespräch mit zahlreichen anderen homiletischen Ansätzen steht aus, die auf ihre Weise dem Hörer in seiner kreativen, politischen, spirituellen Aktivität Aufmerksamkeit schenken.65 Nicht alle Probleme sind gelöst, im Gegenteil, neue, vielleicht angemessenere, werden allererst formulierbar – ganz im Sinn vom bereits vielzitierten Umberto Eco und um mit einem Satz von ihm vom Pariser kulturpolitischen Kongreß »Création et développement« Mitte Februar 1983 zu schließen: »… ich tue nur meine Pflicht als Intellektueller, d.h. ich löse keine Krisen, sondern ich schaffe sie überhaupt erst.«66

64  Vgl. die Homiletiken und homiletischen Forschungsprojekte, die Hörererwartungen und -assoziationen schon stark mit einbeziehen wollen, bzw. jedenfalls das Problem sehen. z.B. H. Hild (Hg.), Wie stabil ist die Kirche? Gelnhausen/Berlin 1974. – G. Schmidtchen, Gottesdienst in einer rationalen Welt, Stuttgart 1973. – K.-F. Daiber u.a., Predigen und Hören I/II, München 1980/1983. – H. van der Geest. – H. Chr. Piper, Predigtanalysen, Göttingen 1976. 65  Z.B. O. Haendler, Die Predigt, Berlin 19603. – R. Bohren, Predigtlehre, München 19804. 66  Frankfurter Rundschau v. 19. 3. 1983, Feuilleton, III. – Ich danke Herrn stud. theol. Gert Rühlemann für bibliographische Arbeit.

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b. Albrecht Beutel: Theologische Wurzeln der Rezeptionsästhetik  Albrecht Beutel, Offene Predigt. Homiletische Bemerkungen zu Sprache und Sache, in: PTh 77 (1988), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 518–537.

Offene Predigt – der Titel könnte als Parole verstanden werden und entspräche damit einer aktuellen homiletischen Tendenz1. Und daß man offen und ehrlich predigen soll, anstatt die eigenen Vorbehalte, Fragen und Zweifel scheinheilig der Gemeinde zu verschweigen, formuliert denn auch in der Tat eine elementare homiletische Maxime. Aber die Mehrdeutigkeit des titulierenden Stichworts läßt es als Parole kaum geeignet erscheinen. In ihm klingt ja zugleich auch dies an, daß eine Predigt offen sein soll für die Welt ihrer Hörer, anstatt nur unvermittelt eine kirchliche Binnenkultur zu reproduzieren. Ebenso könnte gemeint sein, daß die Kanzelrede wesenhaft unabgeschlossen ist, solange sie nicht durch ein Gegenüber als es|519 selbst betreffend gehört und so beglaubigt wird. Das wiederum verweist an eine Offenheit, die sich nur je im Vollzug von Predigt einstellen und dann den als unerbittlich erfahrenen Zusammenhang des eigenen Lebens transzendieren kann. Öffnende Predigt also: die Ohren öffnend, die Herzen – und den Himmel. »Per hoc verbum (sc. dei praedicatum) aperitur ­coelum, remissio peccatorum consequitur.«2 Will man diese Bildformel, in die Luther seine Auffassung vom Wesen evangelischer Predigt einmal verdichtet hat, nicht ohnehin als heillose Übersteigerung des Predigtbegriffs sowie als unselige Überforderung des Predigers verabschieden, so wird man nicht umhin können, ihre Wahrheit auch argumentativ zu vermitteln. Eben dies soll hier versucht werden. Dabei dürfte sich zunächst empfehlen, mit dem jüngst vorgelegten Versuch, die Predigt als »offenes Kunstwerk« zu verstehen3, in ein kritisches Gespräch einzutreten (I). Dann sollen die Denkspuren beleuchtet werden, denen dieser Versuch – ob nun bewußt oder nicht – entsprungen ist (II). Schließlich wird zu prüfen sein, ob und, wenn ja, wie sich in solchen Spuren die Predigtaufgabe sachgemäß bestimmen läßt (III).

1 

Eine Galerie neuerer, appellativer homiletischer Titel hat soeben H. M. Müller zusammengestellt: Art. Homiletik, TRE 15, 550, 31–40. 2  WA 15; 720, 35 f. (1524). Aus dem Kontext ist ersichtlich, daß das verbum dei praedicatum gemeint ist. Im übrigen begegnet die an biblische Wendungen (vgl. etwa Joh 1,51; Act 7,55) erinnernde Rede vom Öffnen des Himmels bei Luther immer wieder; vgl. z.B. WA 17, 2; 244, 27. 3  G. M. Martin, Predigt als »offenes Kunstwerk«? Zum Dialog zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik, EvTh 44/1984, 46–58. Vgl. dazu H. Schröer, Umberto Eco als Predigthelfer? Fragen an Gerhard Marcel Martin, ebd., 58–63. – In die Liturgik hat K.-H. Bieritz den Ansatz Ecos eingebracht: Gottesdienst als ›offenes Kunstwerk‹? Zur Dramaturgie des Gottesdienstes, in: PTh 75/1986, 358–373.

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I. Gerhard Marcel Martin hat seinen Versuch, das Phänomen Predigt rezeptionsästhetisch zu deuten, als Problemanzeige deklariert. In Wahrheit präsentiert er damit eine anregende und mit innovatorischem Anspruch versehene Problemlösungsstrategie. Die kommunikationswissenschaftlich orientierte Predigtkritik der letzten zwanzig Jahre, repräsentativ vertreten durch Karl Wilhelm Dahm und Ernst Lange, bildet die Folie seiner Überlegungen. Ohne deren Legitimation prinzipiell bestreiten zu wollen, hält Martin – zumal »angesichts der praktischen Nichtrealisierbarkeit ihrer Postulate« – eine »kritische Rückfrage an die Ausgangspunkte dieser Kritik«4 für geboten. Sie führt ihn zu der Einsicht, daß die Homiletik wegen der unzureichenden Leistungsfähigkeit der kommunikationswissenschaftlichen Ansätze »ein neues Paradigma« benötige. Martin greift damit auf einen Begriff zurück, dessen Be-|520 liebtheitskurve in der aktuellen (theologischen) Theoriedebatte sich, wie es scheint, umgekehrt proportional verhält zu der denotativen Klarheit seines Gebrauchs5. Da Martin selbst den Begriff »Paradigma« aber synonym zu »Modell« verwendet6 , wird man dieser Sprachregelung folgen und seine nicht unproblematische Verwendung des Begriffs übergehen können. Umberto Ecos Modell des »offenen Kunstwerks«, meint Martin, könnte geeignet sein, den »faktischen Aufnahmeprozeß von Predigt« angemessener als bisher zu erfassen. Dieses Modell reflektiere die Struktur einer Rezeptionsbeziehung, die prinzipiell mehrdeutig, ja »wesensmäßig offen ist für eine virtuell unendliche Reihe möglicher Lesarten«7. Entsprechend will Martin das Predigtgeschehen verstehen. Das »Wort für alle« könnte in der Rezeption der Hörer verschiedene Konkretionen finden, indem es ihnen die Gelegenheit einräumt8, ihre Situation in das Predigtgeschehen einzubringen. Ein lebendiges Feld denotativer Möglichkeiten zu schaffen, wäre demzufolge die eigentliche Aufgabe des Pre­ digers9.

4 

G. M. Martin, aaO., 48. Zum wissenschaftstheoretischen Gebrauch von »Paradigma« und »Paradigmenwechsel« vgl. grundlegend Th. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolution (stw 25), Frankfurt 21976. Für die theologische Debatte vgl. die von H. Küng und D. Tracy herausgegebenen Bände: Theologie – wohin? Auf dem Weg zu einem neuen Paradigma, Gütersloh 1984; Das neue Paradigma von Theologie. Strukturen und Dimensionen, Gütersloh 1986. Eine bündige, theologisch-kritische Begriffsklärung hat in dem zuletzt genannten Band E. Jüngel vorgelegt: Antwort an Josef Blank, aaO., 66–71. 6  G. M. Martin, aaO., 49. 7  U. Eco, Das offene Kunstwerk (stw 222), Frankfurt 1977, 57; bei Martin, aaO., 49 ­zitiert. 8  Martin müßte genauer sagen: die Notwendigkeit auferlegt. 9  G. M. Martin, aaO., 50. 5 

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Den homiletischen Gewinn seines Versuchs, die Predigt als »offenes Kunstwerk« zu verstehen, sucht Martin durch eine Applikation auf die vier Weisen des Gottesdienstverständnisses, die Josuttis typenhaft unterschieden hat, zu veranschaulichen10. Schon im kultischen und kreativen Verständnis könne sein Modell eine vermittelnde Funktion ausüben. Die eigentliche Bewährungsprobe habe es aber erst im kerygmatischen Predigt- und Gottesdienstverständnis zu bestehen, welches für Martin das bei Josuttis als vierten Typus unterschiedene politische Verständnis mit einschließt11. Indem das Evangelium die unerbittliche Konsequenz des Gesetzes unterbricht, löst es solche Eindeutigkeit auf und befreit zu christlicher Liebe, »die wesensmäßig inkonsequent ist«12. »Evangelium« bedeutet dann,|521 daß Gott, Welt und Mensch verschieden lesbar werden und konnotative Mehrdeutigkeit13 die denotative Geschlossenheit aufsprengt. In solcher »Resymbolisierung der Welt« (A. Lorenzer) mache das Evangelium »sich selbst und die Welt zusammen zu einem offenen Kunstwerk«14. Bedenkt man den theoretischen Aufwand, den Martin betreibt, sowie den damit verbundenen integrativen Anspruch15, so nehmen sich die praktischen Konsequenzen, die er gegen Ende seiner Überlegungen andeutet, vergleichsweise enttäuschend aus. Für eine homilieartige, »narrative« Predigtweise, die den Text, ihm folgend, wirklich zu Gehör bringt, anstatt ihn gleich auf einen Skopus einzuschränken16 , haben sich auch mit herkömmlichen homiletischen Gesichtspunkten schon gute Gründe ins Feld führen lassen. Und wenn Martin empfiehlt, die Gottesdienstbesucher »zum aktiven Hören« anzuleiten, »etwa durch Zwischenfragen, Pausen, Imaginationsanleitungen, Meditationen

10  M. Josuttis, Das Ziel des Gottesdienstes – Aktion oder Feier?, in: ders., Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion, München 1974, 142–163. Josuttis unterscheidet hier eine kultische, kerygmatische, politische und kreative Gottesdienstkonzeption. ­Martin setzt voraus, daß diese vier Typen »auch bestimmte Predigttypen zur Folge haben bzw. möglicherweise sogar voraussetzen« (aaO., 50). 11  G. M. Martin, aaO., 54. 12  Ebd., 51. – Ob es erhellend ist, die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu der von Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit in Entsprechung zu setzen, darf bezweifelt werden. Aber selbst wenn man sich darauf einließe, wäre gegen |521 Martin einzuwenden, daß die Unterscheidung von Ein- und Mehrdeutigkeit zunächst als Strukturmoment des Evangeliums selbst zur Geltung kommen müßte. Es ist ja gerade die Eindeutigkeit meines Gottesverhältnisses (Glaube), die eine Mehrdeutigkeit (treffender würde man sagen: eine Vielfalt) meines Weltverhältnisses (Liebe) ermöglicht. 13  Martin unterscheidet solche Mehrdeutigkeit kategorial (und unter abermaligem Rückgriff auf Eco) von Beliebigkeit: aaO., 52–54. 14  G. M. Martin, aaO., 52. 15  »Nachträglich, nach dem Paradigmenwechsel, erhielte sie (sc. die Kommunikationswissenschaft) wieder eine ihr durchaus angemessene Aufgabe« (G. M. Martin, aaO., 53). 16  Vgl. G. M. Martin, aaO., 54.

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usw.«17, dann könnte man sich an den Einwand erinnert fühlen, den er selbst gegen die kommunikationswissenschaftlich orientierte Predigttheorie geltend gemacht hat: daß diese nämlich gerade »angesichts der praktischen Nichtrealisierbarkeit ihrer Postulate«18 zu kritisieren sei. Mit solcher Sophisterei steht man freilich in der Gefahr, sich die Auseinandersetzung mit Martin zu leicht zu machen. Wichtiger als der Hinweis auf das innere Gefälle seines Textes ist darum die Frage nach seinem Umgang mit dem von Eco eingebrachten, semiotischen Modell des »offenen Kunstwerks«19. Zwei Einwände, scheint mir, drängen sich auf. Zum einen bleibt bei Martin undeutlich, inwiefern man die Predigt als offenes Kunstwerk verstehen kann. Für Ecos Modell ist ja entscheidend, daß es »nicht eine angeblich objektive Struktur der Werke wieder(gibt),|522 sondern die Struktur einer Rezeptionsbeziehung«20. Das legt nahe, bei Martin von einer Entsprechung der Relationen zwischen Kunstwerk und Rezipient sowie zwischen Predigt und Hörer auszugehen. Wie kann er dann aber sagen, »das Evangelium (mache) sich selbst und die Welt zusammen zu einem offenen Kunstwerk und … das offene Kunstwerk (entspreche) einer Wirkung des Evangeliums«21? Was ist in diesem Satz mit »Evangelium« gemeint: die Rechtfertigungsbotschaft oder das neutestamentliche Zeugnis der Rechtfertigungsbotschaft oder die Predigt über ein neutestamentliches Zeugnis der Rechtfertigungsbotschaft? Um das Evangelium im Modell des offenen Kunstwerks angemessen denken zu können, müßte man offenbar drei Relationen unterscheiden, auf die es gleichermaßen anzuwenden wäre: das Verhältnis von Botschaft und Text, von Text und Predigt, von Predigt und Hörer. Jeder einzelne neutestamentliche Text hätte so als eine Lesart der Rechtfertigungsbotschaft zu gelten, jede Predigt als eine Lesart des einzelnen Textes, jedes verstehende Hören als eine Lesart einer einzelnen Predigt. Die strukturelle wie die rezeptionsästhetische Differenz zwischen Predigt und Kunstwerk stehen einer unmittelbaren homiletischen Applikation des Ecoschen Modells entgegen. Zum andern ist bei Eco offenkundig, daß seine Rede vom offenen Kunstwerk hypothetisch-deskriptiven, nicht aber normativen Charakter hat 22; er spricht 17 

Ebd., 56. Ebd., 48. 19  Zu Eco vgl. des weiteren seine Arbeiten: Zeichen. Einführung in seinen Begriff und seine Geschichte (es 895), Frankfurt 1977. – Einführung in die Semiotik (UTB 105), München 1972, v.a. 145–167; dieser »Die ästhetische Botschaft« überschriebene Abschnitt ist wieder abgedruckt in: D. Henrich, W. Iser (Hrsg.), Theorien der Kunst, Frankfurt 1982, 404– 428. 20  U. Eco, Kunstwerk, 15. 21  G. M. Martin, aaO., 52. 22  Vgl. U. Eco, Kunstwerk, 10–18. 18 

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von ihm »als einer epistemologischen Metapher«23. Auch Martin hat zunächst den »faktischen Aufnahmeprozeß von Predigt«24 im Blick. Im Fortgang seiner Überlegungen tritt aber der Anspruch, mit dem besseren Modell auch die bessere Predigt zu ermöglichen, immer deutlicher zutage25. Schon seinem einleitenden Wort vom »Koalitionswechsel«26 , den die Homiletik von der Kommunikationswissenschaft zur Ästhetik vollziehen müsse, ist diese Neigung unschwer zu entnehmen. Aufs Ganze gesehen, scheint die homiletische Intention Martins weniger darauf zu zielen, im Modell des offenen Kunstwerks (unter das für Eco faktisch jedes Kunstwerk fällt) auch die Predigt zu denken, als vielmehr darauf, eine erneuerte, »offene« Weise des Predigens und Predigthörens zu ermöglichen|523 und einzuüben – und also auf das, was Eco ein »Kunstwerk in Bewegung« genannt hat27. II. 1. Wie immer man Martins Umgang mit Eco beurteilen mag: sein homiletischer Vorstoß verdient jedenfalls, beachtet und kritisch gewürdigt zu werden. Mit ihm hat Martin eine wesentliche Dimension des evangelischen Predigtverständnisses neu formuliert und so auch der sich abzeichnenden Tendenz entsprochen, dem ästhetischen Aspekt der Homiletik (wie überhaupt der Praktischen Theologie) eine Schlüsselfunktion zuzuschreiben 28. Daß erst der Hörer die Predigt vollständig und eindeutig machen kann, ist für Martin die homiletische Variante der rezeptionsästhetischen Einsicht in die schlechterdings konstitutive Funktion des Rezipienten. Nun ist aber die Erkenntnis, daß erst der Betrachter die Kunstwerke zu dem macht, was sie sind, keineswegs ästhetischen Ursprungs. Werner Hofmann hat in seinem anregenden Essay »Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion«29 die These plausibel gemacht, daß die Reformatoren in ihrer Auseinan23 

Ebd., 17. G. M. Martin, 49. 25  Anstelle einzelner Textbelege sei darauf verwiesen, daß Martin in dem Absatz, der die Anwendung des Ecoschen Modells auf die Predigt zum Gegenstand hat (aaO., 49 f.), fast durchweg im Potentialis redet: ein grammatisches Indiz dafür, daß es ihm um eine zu erstrebende Möglichkeit, nicht um eine zu beschreibende Wirklichkeit geht. 26  G. M. Martin, aaO., 49. 27  U. Eco, Kunstwerk, 47; vgl. 46–59. – »Das Kunstwerk in Bewegung … bietet die Möglichkeit für eine Vielzahl persönlicher Eingriffe, ist aber keine amorphe Aufforderung zu einem beliebigen Eingreifen: es ist … die Einladung, sich frei in eine Welt einzufügen, die gleichwohl noch immer die vom Künstler gewollte ist« (54 f.). 28  Vgl. etwa A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik, München 1986. 29  W. Hofmann, Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion, in: Luther und die Folgen für die Kunst. Katalog d. Ausstellung in d. Hamburger Kunsthalle, hrsg. von 24 

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dersetzung mit der Bilderfrage »zu Begründern einer neuen, aus der Negation gewonnenen Kunsttheorie«30 geworden seien. Der entscheidende Anteil sei freilich Luther zuzuschreiben, dessen moderate und nüchterne Einschätzung ihn von der zwiespältig-hintersinnigen Auffassung Zwinglis wie von der dezidiert ablehnenden Haltung Calvins (die in ihrer Radikalität der Haltung Karlstadts ähnlich sei) wohltuend unterschieden31 habe. Im reformatorischen Streit um die Bilder hat Luther die eigentliche Gefahr nicht in den Bildern gesehen, sondern in ihren abergläubischen Anbetern: »Die bilder seindt weder o e sonst noch so, sie seindt weder gut noch boße, man mag sie han oder nicht haben.«32 ­Luther hat die Bilder als Adiaphora qualifiziert und die Entschei-|524 dung, wie mit ihnen umzugehen sei, allein dem Betrachter überlassen 33. Eben damit aber habe Luther »den Grund für die Betrachterästhetik« gelegt, »die Kunst als einen (nominalistischen) Vereinbarungsbegriff auffaßt. Der Betrachter soll vor dem Kunstwerk seine Freiheit erproben. Er hat das letzte Wort.«34

Luthers Äußerungen zur Bilderfrage, durch die er die Betrachterästhetik mit begründet hat, waren freilich nicht als kunstwissenschaftlicher Impuls gemeint, sondern als eine situationsbezogene Zuspitzung seines reformatorischen Wortund Sprachverständnisses. Der Rezipient entscheidet darüber, was das Rezipierte für ihn ist: So etwa ließe sich die Grundstruktur der zentralen reformatorischen Relation von Wort und Glaube bestimmen. Diese Struktur gewinnt in Luthers Lehre vom Vergebungswort35 ebenso Gestalt wie in seiner Sakramentslehre36 oder der Lehre vom Schöpfungswort Gottes37, auch übrigens in so peripher anmutenden Dingen wie etwa seiner Fabeltheorie38 – und auch in seinen Äußerungen zur Bilderfrage. W. Hofmann, München 1983, 23–71. – Vgl. auch J. Rohls, »… unser Knie beugen wir doch nicht mehr«. Bilderverbot und bildende Kunst im Zeitalter der Reformation, ZThK 81/1984, (322–351) v.a. 323–327. 30  W. Hofmann, aaO., 33. 31  Vgl. ebd., 32–35. 32  WA 10,3; 35,7–9 (1522). 33  W. Hofmann, aaO., 46: »Mit diesem Freibrief beginnt die Moderne«. Ebd., 51: »Theoretisch beginnt die Musealisierung des Kunstwerks mit der Reformation«. 34  W. Hofmann, aaO., 50. Hervorhebung wie im Original. 35  Daß Luthers außerordentlich vielschichtiges Wort- und Sprachverständnis hier nicht entfaltet werden kann, versteht sich. Die folgenden Textstellen sind darum nicht als repräsentative Belege gemeint, sondern als beliebige Erinnerungen an einen komplexen Zusammenhang. – WA 2; 719,7 f. (1519): »Es ligt … gantz an deynem glauben, ßo vill du gleubist, ßo vill du hast«. – WA 49; 95,7 f.(1540): »Remissio peccatorum fit in momento, quando fide arripis verbum …, si credis, es beatus.« 36  BSLK 520, 38–40 (1529): »Wer denselbigen Worten (sc. der Einsetzung des Abendmahls) gläubt, der hat, was sie sagen und wie sie lauten«. 37  Anstelle einschlägiger Textbelege sei auf das erhellende Buch von O. Bayer verwiesen: Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung, Tübingen 1986, v.a. 33–108. 38  Darin scheint mir der entscheidende Unterschied von Luthers Fabel(nach)dichtung

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So gesehen, hat Martin seinen homiletischen Vorstoß auf eine Erkenntnis gegründet, die er zwar aus der Rezeptionsästhetik bezogen hat und die dort auch tradiert und entfaltet wurde, die ihrer Herkunft und ihrer Struktur nach aber genuin reformatorisch ist. 2. Die konstitutive Funktion des Rezipienten hat Luther nicht nur in der Bilderfrage betont. Auch seine homiletische Theorie ist von dieser|525 Auffassung durchdrungen. Wobei es sich versteht, daß von homiletischer Theorie bei ­Luther nicht in modernem Sinn die Rede sein kann, sondern nur im Sinne einer hermeneutisch reflektierten Rekonstruktion der seine Predigtarbeit bestimmenden Leitgedanken. Nun hat zwar Luthers Lehre vom Wort Gottes in der Forschung immer die ihr gebührende, zentrale Aufmerksamkeit gefunden. Das mag jedoch mit dazu geführt haben, daß die eigentlich homiletischen Fragen bei ihm eine meist nur marginale Behandlung erfuhren. Oft hat man sich damit begnügt, ein paar kernige Sprüche zur Predigt – an denen es bei Luther wahrhaftig nicht fehlt39! – zu verknüpfen und zu kommentieren. Eine historisch-kritische Auswertung und systematische Interpretation nicht nur der einschlägigen Bemerkungen Luthers, sondern ebenso seiner praktischen Predigtarbeit ist aber vergleichsweise selten versucht worden. Zu den bemerkenswertesten neueren Arbeiten zählt Richard Lischers Frage nach der »Funktion des Narrativen in Luthers Predigt«40. Im Anschluß an das »Story«-Konzept von Ritschl und Jones41 hat Lischer die Bedeutung, die dem Erzählerischen in Luthers Predigtarbeit zukommt, mit eindringender Klarheit rekonstruiert. Demnach geht Luther, wenn er auf der Kanzel die biblischen Geschichten erzählt, immer davon aus, daß die Menschen, denen er sie erzählt, »analoge Gedanken und Erfahrungen durchleben«42. Dies anzunehmen, haben ihn freilich nicht differenzierte soziologische Höreranalysen bewogen, vielmehr die fundamentale theologische Einsicht, zur mittelalterlichen Bispel-Literatur zu liegen. Eine die sprachtheoretischen Grundlagen dieser Differenz hinreichend berücksichtigende Bearbeitung dieser Frage steht m. W. noch aus; vgl. aber H. de Boor, Über Fabel und Bispel (Sitzungsberichte der Bayer. Akademie der Wiss., Philos.-histor. Klasse), 1966, H. 1, v.a. 33 ff. (»Die Fabel (trägt) ihre Lehre in sich, das ›bispel‹ muß sie deutend ausbreiten«, ebd., 35). – Zu Luthers Fabeldichtung und -theorie vgl. K. Doderer, Über das ›betriegen zur Warheit‹. Die Fabelbearbeitungen Martin Luthers, WW 14/1964, 379–388; K. Düwel, J. Ohlemacher, »das ist der wellt lauf«. Zugänge zu Luthers Fabeldichtung, in: Martin Luther, hrsg. von H. L. Arnold (text + kritik Sonderband), München 1983, 121–143. 39  Luthers wichtigste Äußerungen zur Predigt hat E. Hirsch in BoA 7, 1–38 zusammengestellt. Ob sich allein aus ihnen, wie Hirsch meint, »seine homiletische Theorie erheben läßt« (ebd., 1), mag dahingestellt bleiben. 40  R. Lischer, Die Funktion des Narrativen in Luthers Predigt. Der Zusammenhang von Rhetorik und Anthropologie, in: A. Beutel, V. Drehsen, H. M. Müller (Hrsg.), Homiletisches Lesebuch. Texte zur heutigen Predigtlehre, Tübingen 1986, 309–329. 41  D. Ritschl u. H. O. Jones, ›Story‹ als Rohmaterial der Theologie (ThExh 192), München 1976. 42  R. Lischer, aaO., 315.

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wonach »die Schuld vor einem heiligen Gott … wie eine Fessel alle Menschen miteinander verbindet«43. Das verwandelt die Menschen unter seiner Kanzel in »Hörer des Wortes«44. Die ebenso ungewöhnliche wie ansprechende Lebensnähe von Luthers Predigten gründet also nicht in einer möglichst genauen Erfassung der speziellen homiletischen Situation, sondern darin, daß er mich als Hörer des Wortes anspricht. In der narrativen Reproduktion einer biblischen Geschichte bringt Luther die Problematik einer menschlichen Situation zur Anschauung. Anstatt nun aber deren Lösung in Gestalt einer abstrakten kerygmatischen Formel zu präsentieren, läßt er das Evangelium »als Antwort aus der Erzählung hervorgehen … Die Lösung wird nicht verkündigt, sondern im Gang der Erzählung erreicht«45. Menschliche Lebensgeschichte wird so auf die ›story‹ Gottes hin transparent ge-|526 macht. Das eröffnet den Hörern die Möglichkeit, an Gottes Geschichte teilzunehmen46. Luthers erzählendes Predigen will dem Hörer helfen, diese Möglichkeit als seine Möglichkeit zu realisieren; sie lädt ihn ein, »an einer neuen Lebensweise teilzuhaben«47. Luthers erzählendes Predigen, schließt Lischer, ist in seiner Form eschatologisch – und in seinem Ton48.

3. Das damit angedeutete homiletische Konzept kann in seiner Bedeutung aber nur erfaßt und gewürdigt werden, wenn man zugleich auch die Prämisse bedenkt, mit der es in Luthers Theologie verankert ist. Sein pointierter homiletischer Gebrauch des Erzählerischen, durch den der Hörer in Gottes Geschichte hineingenommen, ja hinein verwandelt wird, erhellt den narrativen Horizont des lutherischen »semper sumus in motu«49. Solche Verwandlung, die die Erzählstruktur menschlichen Lebens auf die des Evangeliums ausrichtet und sie von ihr her versteht, vollzieht sich in einer Sprachbewegung, die Luther als spezifisch christlich verstanden hat. Denn was einen Christen kenntlich macht, ist allein seine Sprache. »Christianus debet e esse nova creatura …, qui aliter loquatur, cogitet de allen stucken, quam die welt von judi50 cirt.« . »Wenn man die zungen und ohren hinweg thut, so bleibt kein merckliche unterscheid zwisschen dem Reich Christi und der welt. Denn ein Christ gehet jnn eusserlichem e leben daher wie ein ungleubiger, er bawet, ackert, pfluget eben wie andere, nimpt kein sonder thun noch werck fur, weder jnn essen, trinken, erbeiten, schlaffen noch anderm. Allein diese zwey gliedmas machen einen unterscheid unter Christen und unchristen, das ein Christ anderst redet und höret.«51

43 

Ebd. Ebd., 315 f. 45  Ebd., 318. 46  Vgl. ebd., 321 f. 47  Ebd., 320. 48  Vgl. ebd., 328 f. 49  WA 4; 364,14 f. (1513/15). Vgl. auch WA 7, 336,30–36 sowie WA 38; 568,37: »Christianus non est in facto, sed in fieri«. 50  WA 36; 255,7–9 (1532). 51  WA 37; 513,20–26 (1534). 44 

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Das ist das sprachtheologische Fundament, in dem Luthers erzählendes Predigen gründet. Es erschöpfend darzustellen, kann hier nicht der Ort sein. Der Versuch, es anhand seiner 13. Predigt über 1.Kor 15 exemplarisch zu erhellen, mag statt dessen genügen52. In den beiden Versen, die der Predigt zugrunde liegen, hat Paulus das leibliche Sterben des Menschen mit dem Aussäen eines Samens verglichen53. Diese gleich-|527 nishafte Veranschaulichung eines Glaubensartikels greift Luther auf und spinnt sie noch fort. Nun kann das Gleichnis den Auferstehungsglauben durchaus nicht begründen, setzt ihn als Verstehensbedingung vielmehr voraus. Wer die Auferstehung der Toten nicht glaubt, dem wird auch das Gleichnis nichts sagen54. Die Gleichnisrede dient dazu, den geistlichen Sinn der knappen Glaubensaussage55 ausmalend zu veranschaulichen und so zu einem konkreten, auf das eigene Leben bezogenen Umgang mit dem Auferstehungsglauben anzuleiten. Der sprachliche Reichtum dieser gleichnishaften Rede ist eine Frucht des Glaubens56. »Christiani sollen ihre zungen anders schaben«57; sie sollen »novam sprach, celeste deudsch«58 reden. Das Neue an dieser »nova sprach« sind nicht ihre Vokabeln, sondern ihr Gebrauch der Vokabeln. Die Wörter verändern ihren Sinn, wenn man die Dinge gleichnishaft sieht59. Sie überspringen nicht die Wirklichkeit, sondern nehmen sie ernst, sprechen ihr aber ein anderes Telos zu60. Luther erweitert noch das paulinische Bild von der Saat, indem er Gott als Subjekt des Säens in dessen Mitte rückt. Das könnte der ursprünglichen Intention entsprechen, kommt bei Paulus jedoch allenfalls andeutungsweise zur Geltung. Gott wird zum Säemann, der die Menschen in den Ackerboden wirft: »Sic ipse (sc. dominus) greifft in sack, dich, me bey kopff, den ins wasser, galgen etc. Nos sein kornlin, quando me heut, morgen ergreift, so ghe ich hin ut priores et sequentes.« 61 Die Predigthörer sehen sich in dieses 52  WA 36; 638,21–648, 22 (22. 12. 1532). – Die folgenden Ausführungen sind der außerordentlich eindrücklichen Interpretation dieser Predigt verpflichtet, die Gerhard Ebeling am 3.April 1986 dem Löwensteiner Kreis vorgetragen und später zum dritten Abschnitt seines Aufsatzes »Des Todes Tod. Luthers Theologie der Konfrontation mit dem Tode« (ZThK 84/1987, (162–194) 179–187) verdichtet hat. Dort hat Ebeling auch die abgekürzte deutschlateinische Predigtnachschrift Rörers in eine lesbare Gestalt gebracht (189–194). 53  1. Kor 15, 36 f.: Was du |527 säest, wird nicht lebendig, es sterbe denn. Und was du säest, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, etwa Weizen oder der andern eines. 54  WA 36; 639,22–640,3: Qui prius non credit per gwaltigen locos scripturae, quod sit resurrectio mortuorum, haec non movebit similitudo et pictura, quam Paulus einfuret. Sed qui jens credit, quod sit resurrectio mortuorum, et non dubitat am verbo dei et credit ­Christum resurrexisse, dem ist haec gemeld ut scharnitzel etc. ut deste baß da bey fassen kan et in cor bild. 55  Ebd., 641,2: Resurrectio mortuorum ist mit brevibus verbis gered. 56  Vgl. WA 21; 233,28 f.(1534): Der heilige Geist … weis die wort recht zu kewen und zu keltern, das sie safft und krafft haben und geben. 57  WA 36; 644,5. 58  WA 36; 646,8 f. 59  Vgl. auch WA 42; 195,20 f. (1535/45): Mutatis rebus etiam verba mutantur in alium ­sensum et fit plane nova Grammatica. 60  Das ist eine Formulierung aus dem in Anm. 52 genannten Vortrag G. Ebelings, die sich in der dann publizierten Kurzform nicht mehr findet. 61  WA 36; 642,1–3.

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Bild hineinversetzt; sie lernen sich als Saatgut Gottes verstehen und werden so genötigt, mit der Einübung in die »novam sprach« sogleich zu beginnen. Wird der eigene Tod als Saatwurf Gottes verstanden, so lernt man auch, in der scheinbaren Verwesung des Saatkorns die göttliche Verheißung zu sehen. Der neue usus vocabuli, den Luther den Christen zuspricht, lebt aus der Teilhabe an der neuen Perspektive, in die der Glaube versetzt. Der Glaube beurteilt die Dinge nicht nach menschlichem Ermessen, sondern sieht sie mit den Augen Gottes an. Das nötigt den Glaubenden, in den Prozeß eines allumfassenden Umdenkens einzutreten. Indem der Glaube das Urteil Gottes übernimmt, gebraucht er »novam Grammaticam«62, »novam rhetoricam«63, »novam|528 sprach«64. Weil die Christen »ander leut sind, die nicht mehr jrdisch leben noch reden, sondern himlisch als Gottes e kinder und der Engel gesellen, so mussen sie auch andere sprache furen. Darumb haben sie auch einen andern meister, den Heiligen geist, der sie durch Gottes wort leret diese sprache verstehen und reden, die man jm himel redet«65. Auf das Gleichnis von der Saat bezogen hieße das, die Menschen, die wir begraben, nicht als »ein stinckend, verfaulet ass oder e todten bein« zu verstehen, sondern als »eitel kornlin, die da bald sollen daher wachsen, une e sterblich un unverweslich, viel schuner denn die grune saat auff dem felde, wenn es somer 66 wird« . »Das ist nova sprach de resurrectione mortuorum.« 67 Die »nova sprach«, das Vermögen, derart »auff recht himlisch deudsch«68 zu reden, ist eine Frucht des Glaubens. Solche Teilhabe an der Sprache Gottes bedarf freilich einer lebenslangen Übung und Pflege, weil sie sich ein Leben lang gegen die Sprache der Vernunft behaupten muß. Luther hat mit seinem Predigen immer wieder versucht, seine Hörer in die himmlische Sprache einzuüben und sie so zu dem zu machen, was sie sein sollen: zu Theologen in des Wortes eminenter Bedeutung, zu Menschen also, die nicht nur von Gott, sondern auch wie Gott zu reden wissen69. »Omnes sumus Theologi, heisst ein iglicher Christ. Theologia: Gottes wort, Theologus: Gottes worter redet. Das sollen alle Christen sein.«70

Die gottesdienstliche Kanzelrede wird für Luther zur Sprachschule des Glaubens. 4. »Luthers narratives Predigen ist in seiner Form eschatologisch«71: Dieser Satz formuliert das zusammenfassende Ergebnis der Studie, die Lischer dem Erzählerischen in Luthers Predigt gewidmet hat. Die knappe Skizze der sprachtheologischen Grundlagen von Luthers Predigtarbeit hat die Gültigkeit dieses Satzes nun noch bekräftigt. Aber Lischer hatte Luthers Predigen ja nicht nur in seiner Form als eschatologisch charakterisiert, sondern ebenso auch in seinem 62 

Z.B. WA 42; 195,21 (1535/45). Z.B. WA 40,3; 487,2 (1534/35). 64  Z.B. WA 36; 646,8 f. 65  Ebd., 644,15–19. 66  Ebd., 644,21–25. 67  Ebd., 647,2 f. 68  Ebd., 644,25 f. 69  Das bedeutet freilich noch wesentlich mehr, als hier gezeigt werden konnte. Als Theologe wie Gott reden zu können, meint ja nicht nur, Gottes Urteil zu übernehmen, sondern auch, an der Kraft teilzuhaben, die Gottes Wort eignet und die geschehen läßt, was er sagt. Das auszuführen, bedürfte aber eines extensiven Rekurses auf Luthers Verständnis des Predigtwortes, der Sakramente, von Beichte und Vergebung, des Gebets und der Kirche. 70  WA 41; 11,9–11 (1535). 71  R. Lischer, aaO., 328 f. 63 

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Ton. Es wäre denn auch in der Tat verwunderlich, wenn die »nova sprach«, die Luther den Christen zuschreibt und in die er seine Predigthörer einüben will, nicht auch seine eigene Gestaltung von Sprache geprägt und beeinflußt hätte. In der umfangreichen sprachwissenschaftlichen Erforschung der Luthersprache72 ist dieser Aspekt meist ganz unbeachtet geblieben73. Im-|529 merhin ist aber die lange Zeit vorherrschende Neigung, Luthers rhetorische Kompetenz zu unterschätzen, wenn nicht überhaupt zu bestreiten, inzwischen einer differenzierteren Wahrnehmung seines Begriffs und Gebrauchs von Rhetorik gewichen74. Ohne Luthers rhetorische Gestaltung von Sprache nun im einzelnen profilieren zu können, sei doch wenigstens darauf verwiesen, daß er sich die Auffassung der klassischen Rhetorik ganz zu eigen gemacht hatte, wonach das aptum (die Angemessenheit) 75 »die eigentlich regulative Kategorie im rhetorischen System darstellt«76. Die Forderungen des aptum gehen davon aus, daß eine sprachliche Äußerung um so stärker wirken kann, je mehr sie »den außer ihr liegenden Gegebenheiten angemessen ist«77; sie orientieren sich dabei vor allem am sachlichen Gegenstand der Äußerung, an der Situation, in die hinein sie ergehen soll, sowie an dem Publikum, das sie vorfindet oder erwartet78. Die muttersprachliche Verkündigung (also nicht allein die Kanzelrede) betreffend, meinte Luther, mit der Orientierung an der Tradition des sermo humilis den Forderungen des aptum am ehesten entsprechen zu können. Weitreichende theoretische Begründungen hielt er nicht für nötig; ihm genügte, auf Christus zu verweisen, der 72 

Eine bündige Themen- und Literaturübersicht bietet H. Wolf, Martin Luther. Eine Einführung in germanistische Luther-Studien, Stuttgart 1980. 73  Das mag mit daran liegen, daß die (historische) Theologie von der Sprachwissenschaft vielfach nur zögernd als Hilfswissenschaft herangezogen wird. Umgekehrt scheinen aber auch nicht wenige Theologen zu meinen, die als fachfremd empfundene Frage nach Struktur und Gestalt von Luthers eigener Sprache habe mit seinem theologischen Wort- und Sprachverständnis nichts zu tun. 74  Als wichtigen theologischen Beitrag hierzu vgl. etwa H. A. Oberman, »Immo«, ­Luthers reformatorische Entdeckungen im Spiegel der Rhetorik, in: Lutheriana. Zum 500. Geburtstag Martin Luthers von Mitarbeitern der Weimarer Ausgabe, hrsg. von G. Hammer u. K.-H. zur Mühlen, Köln/Wien 1984, 17–38. 75  Vgl. G. Ueding u. B. Steinbrink, Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, Stuttgart 21986, 202–206. – Zu Luther vgl. Wolf, aaO., 96 f. 76  Ueding/Steinbrink, aaO., 202. 77  Ebd., 206. 78  Ein instruktives Beispiel bietet B. Stolts Vergleich von lateinischer und deutscher Fassung von Luthers Freiheitsschrift (B. Stolt, Studien zu Luthers Freiheitstraktat mit besonderer Rücksicht auf das Verhältnis der lateinischen und deutschen Fassung zueinander und die Stilmittel der Rhetorik, Stockholm 1969). Während der lateinische Text eine hochrhetorische Gestaltung aufweise (schwerer Redeschmuck, raffinierte Allegorien und Metaphern mit subtilen Allusionen und Nebenbedeutungen), sei die deutsche Fassung von schlichter, geschlossener Eindringlichkeit (ornatus facilis).

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die Tugend der schlichten und unprätentiösen Rede meisterhaft repräsentiert habe: ­»Christus hat am aller einfeltigsten geredt vnd war doch eloquentia selbst … Drumb ists am besten vnd die hochste eloquentia simpliciter dicere.«79 In solcher Weise angemessen von Gott zu reden, galt Luther freilich nicht als eine zwar angenehme, ihren Inhalt aber nicht tangierende Form, vielmehr als der authentische Ausdruck dessen, daß man überhaupt erst bei der Sache ist. »Qui bene scit aliquid, bene potest|530 docere … Eloquentia coniuncta est cum sapientia. Deus, qui dat sapientiam, dat et verbum, ut loqui possimus.«80 Das fleischgewordene Wort Gottes ist für Luther immer auch normatives Exempel dafür, wie man in menschlichen Worten das Wort Gottes angemessen zur Sprache bringen kann. Luthers Vorliebe für tropisches Reden81 entspricht dem rhetorischen Postulat der Angemessenheit. Insbesondere die Bildhaftigkeit gilt ihm als hervorragende Möglichkeit einer dem Evangelium angemessenen Sprache. Wenn Luther auf der Kanzel immer wieder Aussagen in Handlungen umsetzt und vorgegebene Bilder noch ausbaut und fortspinnt, so produziert er damit durchaus kein schmuckreiches Blendwerk für etwas, das ebensogut auch kurz und bündig gesagt werden könnte. Die Bildhaftigkeit ist bei ihm ein konstitutives Element seiner Sprache; sie ist ihm, beim Predigen zumal, Medium des Begreifens. Luthers bildhafte Predigtsprache gewährt den Hörern einen Raum, in dem sie die »nova sprach« und also die Übernahme des Urteils Gottes erproben und erlernen können. Die Sachhälfte seiner Gleichnisse läßt sich immer als Glaubensaussage formulieren und knüpft damit an Vertrautes und Bewährtes an. Ihre Bildhälfte aber transzendiert das Vertraute und eröffnet so eine qualitativ neue Perspektive. Es ist die Perspektive einer neuen, mit den Augen Gottes gesehenen und in der Sprache Gottes aussagbar gewordenen Welt. III. 1. Unter dem Eindruck der sprachtheologischen Konsistenz von Luthers Predigtverständnis sowie der suggestiven Kraft seines Predigens, die selbst den überkommenen abbreviaturhaften Nachschriften noch abzuspüren ist, könnte man geneigt sein, sich von der Repristination seiner homiletischen Praxis eine bereichernde Anregung der gegenwärtigen homiletischen Arbeit zu erhoffen. Aber selbst wenn sich dies aus wissenschaftstheoretischen Gründen nicht ohnehin verböte, würde doch bereits eine flüchtige Kenntnisnahme der Widerstän79 

WATR 4; 664,22–24 (1540). WA 25; 27,15–17 (1527). Vgl. auch Z. 17–26. 81  Vgl. H. Wolf, aaO., 97–99. 80 

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digkeit, die dem Prediger Luther zeitlebens aus seiner Wittenberger Gemeinde entgegenschlug und die ihn einmal sogar zu einer befristeten Verweigerung des Predigtdienstes nötigte82, jedes euphorische Urteil, seine Predigtarbeit betreffend, zunichte machen. Von Luther homiletisch zu lernen kann nur bedeuten, in der Be-|531 schäftigung mit Praxis und Theorie seines Predigens sich die Verantwortung für die eigene Predigtarbeit schärfen zu lassen. Das gilt zumal für Luthers Forderung nach Angemessenheit. Was hier von ihm gelernt werden kann, sind weniger die konkreten Formen, in denen er das aptum verwirklichte – obwohl sicher auch deren Studium homiletisch profitabel sein kann –, als vielmehr die theoretische und praktische Konsequenz, mit der er sich den Forderungen dieser regulativen rhetorischen Kategorie gestellt hat. Dabei dürfte sich nach allem verstehen, daß damit nicht eine äußerlich bleibende Wohlgefälligkeit der Predigtsprache gemeint ist, vielmehr der hermeneutische Ermöglichungsgrund von Predigt überhaupt. Die Sorge um die angemessene Predigtsprache ist zugleich die Sorge um die der Predigt zukommende Sache: es ist die Sorge um eine ihrer Sache angemessene Sprache. Von der ›Sache der Predigt‹ zu reden mag freilich den Anschein erwecken, als stünde ›die Sache‹ – das Evangelium oder die Botschaft oder das Kerygma oder wie immer man sie nennen mag – den Hörern, denen sie nahegebracht werden soll, gegenüber. Verhielte es sich so, dann wäre die Rhetorik für den Kanzelredner in der Tat nichts anderes als ein katalogisierter Formenschatz, dessen er sich beliebig und mechanisch bedienen könnte. Rhetorik wäre so als eine Technik verstanden, mit deren Hilfe sich die Umsetzung ›der Sache‹ noch ein bißchen gefälliger und freundlicher gestalten ließe. Nun steht die Sache der Predigt aber nicht etwa den Hörern gegenüber, ist vielmehr eben mit dem sich im Akt des Predigens vollziehenden Umsetzungsprozeß identisch. Indem die Predigt, ihrem Wesen entsprechend, Glauben weckt, »ex verbo dei et corde tuo una res fiat«83. Gerade von Luther läßt sich lernen, daß das Wesen des Wortes Gottes darin besteht, anzukommen und als es selbst gehört zu werden84. Wo immer Predigt gelingt, hat das Evangelium seine Hörer erreicht und ist aus Gottes Wort und menschlichem Hören »una res« geworden. Diese »una res« ist die eigentliche Sache der Predigt. Deren sprachliche 82  Noch immer lesenswert ist die Zusammenstellung bei H. Werdermann, Luthers Wittenberger Gemeinde, wiederhergestellt aus seinen Predigten, Gütersloh o. J. (1929), 11–23. Vgl. neuerdings die komprimierte Darstellung des Problems in: M. Brecht, Martin Luther, Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986, 280 f. 83  WA 32; 151,19 (1530). 84  Luthers frühes, viel zitiertes »natura enim verbi est audiri« (WA 4; 9,18 f.; 1513/15) formuliert eine Konstante seines Wortverständnisses. Der defiziente Charakter menschlicher Sprache gründet für Luther darin, daß das Wirksamwerden nicht zu ihrem Wesen gehört.

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Gestaltung dient nicht der bloßen Übermittlung, ist vielmehr das Medium, in dem allein sie sich ereignen kann. Wie immer man die Aufgabe der Predigt im einzelnen bestimmen mag: den Anspruch, Möglichkeiten der Bewältigung von nicht mehr integrationsfähigen Differenzerfahrungen zu entwickeln und anzubieten, wird man ihr schwerlich erlassen können. Sollte damit ein prinzipieller (wenn auch explikationspflichtiger) Konsens formuliert sein, so hätte evangelische Predigt jedenfalls mehr zu leisten, als über Glaubenswahrheiten zu belehren oder zu christlichem Handeln aufzurufen. In eben diesen Funk-|532 tionen scheint sich freilich das Selbstverständnis nicht weniger Predigten, die man heute hören und lesen kann, zu erschöpfen. Belehrung und Ermahnung indes zielen immer darauf, einzelne Meinungen und Handlungsziele zu verbessern oder zu ergänzen; beides vollzieht sich als partielle Optimierung innerhalb eines gegebenen Rahmens. Das Evangelium will aber nicht nur dieses oder jenes am Menschen erneuern, sondern vor allem ihn selbst; es will nicht einzelne Meinungen und Ziele ändern, sondern den ganzen Menschen verwandeln. In der Rede vom Urteil Gottes, an dem der Glaubende teilgewinne und das ihm eine neue, mit den Augen Gottes gesehene und in der Sprache Gottes aussagbar werdende Welt eröffne, fand das seinen bildkräftigen Ausdruck. 2. So sehr die Gegenstände pastoraler Belehrung und Ermahnung differieren, ja einander widersprechen mögen: die Neigung zu lehrhafter oder appellativer Predigt ist fast allenthalben anzutreffen; sie gründet, jenseits aller theologischen Positionen und Richtungen, in einem gemeinsamen, instrumentellen Gebrauch von Sprache. Dieser Gebrauch setzt die Gegenstände und Sachverhalte, auf die er sprechend Bezug nimmt, als immer schon gegeben voraus. Die Sprache ist für ihn ein Instrument, mit dem sich innerhalb einer problemlos vorhandenen, immer schon gegebenen Wirklichkeit Einzelnes bezeichnen und Verschiedenes aufeinander beziehen läßt85. Nun gibt es freilich das, was man Wirklichkeit zu nennen pflegt, immer nur als meine (oder unsere) Wirklichkeit. Als solche ist sie stets »das Resultat eines Interpretationsvorgangs, einer Strukturierung, die auch anders vollzogen werden könnte und die tatsächlich zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Situationen und von verschiedenen Menschen unterschiedlich vollzogen wird«86. Die sprachlichen Zeichen sind dabei als ein Mittel eben jener Strukturierung zu verstehen, »durch die eine Welt … erst gebildet wird«87. So gesehen, bezeichnet der instrumentelle Sprachgebrauch nicht Gegenstände und Sachverhalte, die immer schon vorhanden sind, sondern läßt 85  Vgl. dazu grundlegend J. Anderegg, Sprache und Verwandlung. Zur literarischen Ästhetik, Göttingen 1985. 86  J. Anderegg, aaO., 39. 87  Ebd., 40.

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umgekehrt die Dinge, von denen er spricht, erst als immer schon gegeben und vorhanden erscheinen. Das Bezeichnete erhält, indem es bezeichnet wird, den Charakter von etwas, das man haben und worauf man Bezug nehmen kann. Der instrumentelle Sprachgebrauch erweckt so »den Eindruck, mit dem richtigen Zeichen habe man auch schon die Sache selbst«88. Wer Sprache instrumentell gebraucht, konstituiert eben damit die Wirklichkeit, auf die er etikettierend Bezug nimmt89.|533 Instrumentell gebrauchte Sprache setzt die Ordnung, innerhalb derer sie einzelnes bezeichnet, notwendig als gegeben voraus. Diese Ordnung insgesamt in Frage zu stellen, transzendiert ihre Möglichkeiten. Wer nicht einzelne Bedeutungen klären, sondern einen neuen sinnstiftenden Horizont suchen will, muß Sprache darum anders als nur instrumentell gebrauchen90. Johannes Anderegg hat dafür die Kategorie der Medialität ins Spiel gebracht. Da sinnbildendes Ordnen nicht unmittelbar über die zu ordnenden Dinge verfüge, sondern den Charakter des Interpretierens habe, bedürfe der Sinnbildende »eines ›Mittleren‹ zwischen sich als dem Subjekt der Sinnbildung und dem, was in Zusammenhang gebracht werden soll …: Er bedarf eines Mediums«91. Ein zu Sinnbildung anhaltender und sie ermöglichender Sprachgebrauch macht die Sprache zum eigentlichen Ort der sinnbildenden Auseinandersetzung und läßt, indem er sie medial gebraucht, »das, worum es geht, als etwas erfahren, das in erprobendem Begreifen und Konstituieren prozeßhaft gebildet werden muß«92. Während der instrumentelle Sprachgebrauch den Zusammenhang, in dem er seine Bezeichnungen vornimmt, als fraglos gegeben voraussetzt, beginnt sich in medial gebrauchter Sprache das sinnstiftende Ganze immer erst prozeßhaft herauszubilden. Dieser Sinnbildungsprozeß vollzieht sich mit Hilfe sprachlicher Zeichen, die freilich nicht immer schon vorhanden sind, sich vielmehr erst im Akt der Sinnbildung als solche erweisen93. Der Unterschied zwischen instrumentellem und medialem Sprachgebrauch läßt sich also weder lexisch noch grammatisch ermitteln. Mediale Zeichen können sich als solche immer erst im 88 

Ebd., 45. Daß diese im Anschluß an Anderegg formulierten sprachtheoretischen Ein-|533 sichten eine breite (sprach-) philosophische Tradition repräsentieren, bedarf keiner Erwähnung. 90  Die gelegentlich empfohlene »performative Sprachhandlung« (z.B., von J. L. Austin ausgehend, O. Bayer: Performatives Wort als Sache der Theologie, in: ders., Was ist das: Theologie? Eine Skizze, Stuttgart 1973, 24–39; zur Kritik vgl. W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 375) kommt dafür kaum in Betracht, weil auch sie, wie die instrumentell gebrauchte Sprache, einen konventional geprägten Rahmen voraussetzt. 91  J. Anderegg, aaO., 50. 92  Ebd., 51. Die Hervorhebungen wurden aufgelöst. 93  Ebd., 56: »Der Prozeß der Sinnbildung ist also auch und in erster Linie ein Prozeß der Zeichenfindung, der Zeichenbildung«. 89 

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Prozeß der Sinnbildung erweisen; indem sie »Noch-nicht-Begriffenes begreifbar erscheinen lassen«94, bewähren sie sich als Medium der Sinnbildung und verwandeln darin ihre Instrumentalität in Medialität. »Wer Sprache als Medium für Sinnbildung versteht, vollzieht selbst einen Prozeß der Verwandlung.«95 Wenn sich der mediale Gebrauch von Sprache auch nicht aufgrund ›objektiver‹ Merkmale identifizieren läßt, sondern nur für den, der sich selbst|534 auf den Prozeß einer Zeichen- und Sinnbildung einläßt, erkennbar ist96 , so gibt es doch eine Reihe von rhetorischen Figuren, die die Zeichenhaftigkeit medialer Sprache in besonderer Weise zu veranschaulichen imstande sind. Zu ihnen zählen vor allem die Metapher, zu deren Wesen es ja gehört, Gewohntes zu verwandeln, sowie die Analogiebildung und das – freilich nicht als konventionalisiertes Zeichen, sondern als Medium kreativer zeichenbildender Potenz verstandene – Symbol97. Die Differenz zwischen Gesagtem und Gemeintem, die instrumentellem Reden als prinzipiell vermeidbar erscheint, ist für die genannten Figuren wie überhaupt für den medialen Gebrauch von Sprache konstitutiv. Diese mediale Differenz zwischen verfügbarer und entstehender Welt ermöglicht überhaupt erst sinnbildende Prozesse und verweist den Sinnbildenden aus der hermetischen Geschlossenheit einer instrumentell versicherten Welt in die Offenheit eines Weges, auf dem er über das Gesagte hinauskommen muß, um das sinnstiftend Gemeinte zu erreichen98. – Indem christliche Predigt einer auf sich selbst beschränkten Welt die Gnade Gottes zusagt und in solcher Zusage – die, wie sich versteht, in unterschiedlichster Gestalt ergehen kann – sich als evangelisch erweist, macht sie in pointierter Weise von medialer Sprache Gebrauch. Daß der geschlossene, als verbindlich immer schon vorausgesetzte Zusammenhang unserer Wirklichkeit auf Gott hin transzendiert wird und die mit den ›Augen Gottes‹ wahrgenommene Welt einen neuen Sinnzusammenhang repräsentiert, kann überhaupt erst in medialer Sprache ausgesagt werden. Daraus erhellt, daß der hier vorgeschlagene Begriff des Medialen nicht dazu dienen kann, evangelische Predigt erst ermöglichen oder doch entscheidend optimieren zu wollen. Der Verweis auf die Kategorie der Medialität soll vielmehr einen der Sprachwissenschaft entlehnten Terminus bereitstellen, der in treffender Weise zu sagen erlaubt, was in recht betriebener Predigt des Evangeliums sich immer schon vollzieht. Das läßt den Versuch, den der Predigt angemessenen und also dem Evangelium gemäßen Sprachgebrauch als medial zu bestimmen, in einer großen sprachphilosophischen Tradition ver94 

Ebd. Ebd., 57. 96  Vgl. dazu auch W. Hofmann, aaO., 46–50. 97  Vgl. J. Anderegg, aaO., 59–64. 98  Vgl. ebd., 65–69. 95 

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wurzelt sein. Diese Verwurzelung explizierend zu ergründen, wäre gewiß nicht ohne Reiz. Nicht um sie kann es hier aber gehen, vielmehr einzig darum, die für das Predigtgeschehen konstitutive Funktion der Sprache erneut in Erinnerung zu rufen. Zwar hat der Streit um Inhalte und Themen der Predigt sein unbestrittenes Recht und bedarf eines fortwährend kritischen und kompetenten Engagements. Ihn sachgerecht zu führen, setzt freilich voraus, daß man sich über die theologisch begründete Pflicht zu sprachgestalterischer Sorgfalt verständigt hat und also darüber, wie sich das dem Predigtamt aufgetragene äußere Wort in|535 homiletisch verantwortlicher Weise als eine Gestalt des verbum incarnatum denken läßt. 3. Die Rede von der offenen oder öffnenden Predigt formuliert durchaus keine Parole: das immerhin dürfte sich nun verstehen. Bildhaft benennt sie vielmehr das Prinzip evangelisch verstandener Predigt. Im Stichwort der Medialität ist ihr zudem eine Kategorie erwachsen, mit deren Hilfe sich das ästhetische aptum der Predigt in deutlicher und obendrein interdisziplinär kommunikabler Weise bestimmen läßt. Nun hat der mediale Sprachgebrauch zweifellos in der Literatur seinen bevorzugten Ort; im Gedicht, meint Anderegg99, gar seinen paradigmatischen Ort. Und doch ist er, anstatt darauf beschränkt zu sein, überall möglich, wo geschriebene oder gesprochene Sprache die Menschen nicht nur belehren oder ermahnen, sondern verwandeln will. Die Frage, was man denn also zu tun habe, um beim Predigen die Sprache medial zu gebrauchen, führt gleichwohl in eine gewisse Verlegenheit. Diese gründet freilich in der Sache. Es kann für mediales Reden keine allgemein gültigen Rezepte, keine verbindlichen Anleitungen geben. Gäbe es sie, erschiene das Mediale als instrumentalisierbar und so gerade nicht mehr als es selbst. Wenn es aber gewissermaßen zu den pastoralen Amtspflichten gehört, die Sprache auch medial zu gebrauchen, wird man die Frage, wie das zu erlernen sei, kaum einfach übergehen können. Die Empfehlung liegt nahe, sich mit medialer Sprache zunächst dort vertraut zu machen, wo sie ihren bevorzugten Ort hat: in literarischen Texten. Das soll durchaus nicht zu anmaßenden Imitationen verleiten100, wohl aber dazu, sich von dichterischer Sprache sensibilisieren und so das eigene Sprachgefühl wecken und stärken zu lassen. Wer Sprache in die Medialität verwandeln will, bedarf eines Freiraums, in dem er der Notwendigkeit zu rascher Verständigung und Entscheidung enthoben ist. In der Nachdenklichkeit sieht Anderegg diesen Freiraum gewährt: »Wenn wir, frei von Zwängen, den Zeitdruck fernhalten und das Handeln suspendieren, um 99 

Vgl. ebd., 122–134. Nichts ist für den Predigthörer peinlicher, als wenn ein durch und durch prosaisches Gemüt auf der Kanzel poetisch wird. 100 

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Sinnbildungen zu erproben, so pflegen wir von Nachdenklichkeit zu sprechen. Und da, wo Nachdenklichkeit möglich ist, hat der mediale Sprachgebrauch seinen Ort.«101 Solche Nachdenklichkeit kostet Zeit. Eben sie aber, die freie Zeit der Nachdenklichkeit, ist im pastoralen Wochenplan kaum vorgesehen. Die der Predigtvorbereitung zugedachte Zeit ist in der Regel scharf kalkuliert und knapp bemessen; meist erschöpft sie sich in der routiniert betriebenen Ausarbeitung eines vortragsfähigen Predigtmanuskripts. Wer in der Predigt Medialität ermöglichen will, muß in der Tat die Zeit, die er nicht hat,|536 sich dafür nehmen. Das erfordert nicht nur den Mut, in der Fülle pastoraler Pflichten die Priorität der Predigtaufgabe noch stärker zu akzentuieren, sondern ebenso auch die Bereitschaft, sich – in des Wortes strenger Bedeutung – homiletisch zu bescheiden. Auf allgemeine dogmatische Formeln und abstrakte Parolen kann eine Predigt durchaus verzichten. Anstatt orthodoxe Gelehrsamkeit aufzuhäufen oder in anmaßender – nämlich assertorischer – Weise von Dingen zu reden, die im Reich zur Linken ihren Ort haben und darum in vernünftiger Erörterung, nicht aber mit konfessorischem Pathos zu traktieren sind, erlaubt es homiletische Bescheidenheit, sich auf das zu beschränken, was man sich selber in der Arbeit an Text und Situation erworben hat. Derart als Prozeß der Aneignung verstanden, ist Nachdenklichkeit ein konstitutives Element der Predigtvorbereitung; sie entspricht darin der herkömmlich so genannten Predigtmeditation102. In solcher Bescheidenheit predigen zu können, setzt gewiß eine angemessene, über das Bestehende vielleicht noch hinausreichende Form homiletischer Ausbildung voraus. Stärker als eine auf das Belehren und Ermahnen reduzierte Predigtweise setzt es aber auch eine gewisse einschlägige Begabung voraus. Die Erkenntnis, daß wie überall, so auch unter Theologen die Gaben verschieden verteilt sind103, wird kaum zu umgehen sein. Aus ihr die richtigen Schlüsse zu ziehen, ist Ausdruck theologischer Verantwortung. Wenn es auch keine allgemein gültigen Rezepte dafür geben kann, wie ­Sprache medial zu gebrauchen sei, so sind die verschiedenen Formen des bildhaften Redens doch sicher in besonderer Weise geeignet, Medialität zu ermöglichen. Daß die biblischen und vor allem die synoptischen Bilder und Gleichnisse von außergewöhnlicher, ja uneinholbarer Sachnähe sind, formuliert dabei kein dogmatisches Prinzip, sondern eine homiletische Erfahrung. Die biblischen Bildformen sind homiletisch fast nicht zu erschöpfen, wenn man nur, anstatt sie immer gleich 101 

J. Anderegg, aaO., 73. Vgl. E. Hirsch, Predigerfibel, Berlin 1964, 104–141; J. Henkys, Predigtmeditation, WPKG 69/1980, 2–13. 103  Vgl. H. M. Müller, Predigt als Charisma, in: T. Rendtorff (Hrsg.), Charisma und Institution, Gütersloh 1985, 439–451. 102 

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auf den Punkt bringen zu wollen, auf spielerische Weise mit ihnen umgeht. Wobei sich versteht, daß damit durchaus keine unverbindliche Spielerei gemeint ist; dafür wäre nicht nur die Bibel, sondern jeder gute literarische Text zu schade. Mit den biblischen Bildformen spielerisch umzugehen meint vielmehr, sie in der Predigt als Bilder ernstzunehmen, sich selbst mitsamt den Hörern in sie hineinzudenken und so im Akt des Predigens sie weiterzuspielen. Die Bilder und Gleichnisse werden dabei zu einem Spiel-Raum, in dem man, pointiert und mit Ernst Lange gesagt, Reich Gottes spielen kann104. Legitim ist solches Spiel freilich erst, wenn man auch in theologisch abstrakter|537 Sprache zu sagen vermag, was mit dem spielerischen Bildgebrauch intendiert ist und was in ihm sich vollzieht. Diese Phase der theologisch reflektierenden Rechenschaft hat in der Predigtvorbereitung ihren Ort. Wer sie dort vernachlässigt, neigt dann nicht selten dazu, sie an ganz ungeeigneter Stelle nachzuholen: auf der Kanzel. So wird man nach allem die Aufgabe evangelischer Predigt dahin verstehen können, daß sie Prediger und Hörer in die Bewegung einüben soll, das Urteil Gottes zu übernehmen und das eigene Leben mitsamt seiner Welt und seiner Geschichte im Licht des Evangeliums zu sehen. »Per hoc verbum (sc. dei praedicatum) aperitur coelum«105, hatte Luther resümiert. Das macht die Predigtaufgabe zu einer Interpretationsaufgabe, deren Lösung – die gelingende sinnstiftende Ordnung – nur im Vollzug der Interpretation sich einstellen kann. Wer dergestalt die Predigt als einen Interpretationsakt und die gottesdienstliche Gemeinde als eine Interpretationsgemeinschaft versteht, erkennt zugleich die konstitutive Bedeutung, die dem Element des Spielerischen für die Predigt zukommt. Die Aufgabe evangelisch verstandener Predigt ist es, die Menschen von ihren festgefügten Rollen, die ihnen eine sich instrumentell vergewissernde Welt auferlegt, zu unterscheiden und eben dies als einen Akt der Befreiung und Verwandlung erfahrbar zu machen. Die Predigt, könnte man sagen, soll das werden, was die biblischen Bilder sind: Spiel-Raum des Reiches Gottes. Sie böte so nicht allein den Raum, in dem man ›Spiel hat‹ und sich darin als von seinen lebensgeschichtlichen Fixierungen unterschieden erfährt, sondern dazu auch den Raum, in dem man miteinander Reich Gottes spielen kann. Die Metapher impliziert, daß nicht beliebig, sondern nach festen Regeln gespielt wird: Im Unterschied zu unseren weltlichen Rollen gelten in dem Spiel, das die Predigt inszeniert, die Spielregeln Gottes. Die Aufgabe der Belehrung und Ermahnung zielt auf erfolgreichen Abschluß; er tritt ein, sobald die Lehre gelernt und die Ermahnung befolgt wor104  E. Lange, Was nützt uns der Gottesdienst? (1973), in: ders., Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgie und Pfarramt, München 1982, 83–95, 89 f. 105  Siehe Anm. 2.

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den ist. Die mediale Erfahrung des Verwandeltwerdens dagegen läßt sich nicht konservieren. Jeder Versuch, sie bleibend festzuhalten, müßte ja ihre Medialität instrumentalisieren. Das Spiel des Reiches Gottes zielt nicht auf erfolgreichen Abschluß. Zu seinen Regeln gehört, daß es ohne Ende ist. Evangelischer Predigt bleibt darum aufgetragen, diesem Spiel, sooft es unterbrochen wird, wieder Raum zu geben und es erneut zu beginnen. c. Wilfried Engemann: Die semiotische Neuformatierung der Predigtlehre  Wilfried Engemann, Predigen und Zeichen setzen. Eine homiletische Skizze mit Beispielen, in: Uta Pohl-Patalong/Frank Muchlinsky (Hg.), Predigen im Plural. Homiletische Perspektive, Hamburg: E.B.-Verlag, 2001, S. 7–121.

Homiletik in semiotischer Perspektive2 Im Prozess der Vorbereitung auf die Predigt gibt es manchmal einen Moment, der zu einer regelrechten Hürde werden und die Arbeit an der Predigt – länger als einen Moment – blockieren kann. Ich meine jenen Moment, in dem einem schon während der Lektüre des Textes die Ahnung überkommt, ›es‹ schon wieder sagen zu müssen: dass »Gott uns ohne Bedingungen annimmt«, dass »wir durch Christus mit Gott versöhnt sind«, dass »Gott uns immer wieder Hoffnung schenkt« usw. Frohe Botschaft, geronnen zu stilistischen Lösungen. Gewiss – wer predigt, will mehr als stilistische (Auf-)Lösungen des Predigttextes. Er will, was den Text angeht, sich nach allen Regeln der hermeneutischexegetischen Kunst mit ihm auseinandersetzen, ihn im Kontext gegenwärtiger Lebenserfahrung verstehen und auf dieser Basis mit dem Hörer über sein – des Hörers – Leben reden (Ernst Lange).|8 Viele Predigerinnen und Prediger haben dies verstanden; dementsprechend bemühen sie sich um Interpretationen dafür, dass »Gott sich in Jesus Christus mit uns verbündet hat«. Aber was dann erscheint, bleibt allzu oft ein Zitat einer etablierten christlich-religiösen Stilistik. Was wird denn gesagt, wenn gesagt 1  Bearbeitete und durch Anmerkungen ergänzte Fassung meines Beitrages Semio­t ischer Essay über die eine und andere Predigt, in: PSt [S] III/1, 1992, 9–24. […] 2  Den theoretischen Rahmen des hier nur skizzierten Ansatzes habe ich in meiner Habilitationsschrift Semiotische Homiletik. Prämissen ~ Analysen ~ Konsequenzen (Tübingen 1992) vorgestellt. Die wichtigsten Reformulierungen und Zuspitzungen der dort formulierten Thesen finden sich in meinen Aufsätzen Unser Text sagt… (ZThK 93 (1996), 450–480) und Der Spielraum der Predigt und der Ernst der Verkündigung (in: PSt [S] II/2, 1998, 9–30). Eine kurzgefasste Einführung in die Rezeption und Entwicklung der Semiotik in die Praktische Theologie stellt mein Artikel Semiotik ~ praktisch-theologisch (TRE Bd. 31, 134–142) dar.

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wird, dass sich die »Dauerhaftigkeit der Liebe Gottes darin ausdrückt«, dass »er am Prinzip der Gnade festhält«? Sagt dieses etwas anderes als jenes? Und vor allem: Was sagt ›es‹ der Hörerin noch? Musste ›es‹ wirklich gesagt werden? Semiotik – Lehre von den Zeichen. Ihr erster Hauptsatz könnte etwa lauten: Menschen verstehen etwas bzw. verständigen sich ausschließlich durch Zeichen. Ihr zweiter Hauptsatz: Zeichen fungieren nur insofern als Zeichen, als (a) etwas wahrgenommen und (b) mit etwas anderem, nicht (in derselben Weise) Wahrnehmbaren, verbunden wird. Das je Wahrgenommene, d.h. die Zeichengestalt, nennen wir Signifikant; den diesem Zeichen zugeordneten Inhalt, seine Bedeutung, nennen wir Signifikat. Zu einem Zeichen kommt es also, wenn etwas ›als signifikant‹ wahrgenommen wird, d.h., wenn einem Ausdruck eine Bedeutung beigemessen, wenn eine (sprachliche, gestische usw.) Gestalt mit einem Inhalt verbunden wird. Deshalb ist unter einem Zeichen die im jeweiligen Akt des Erkennens bzw. Kommunizierens hergestellte Verbindung eines bestimmten Ausdrucks mit einer bestimmten Bedeutung zu verstehen. Verstehen beruht also auf Zeichenbildung, und Zeichenbildung beruht auf der »apperzeptiven Ergänzung«3 von etwas als signifikant Wahrgenommenen. Vom Prediger zu erwarten, dass er mit seiner Predigt (ein) Zeichen setze, hieße dann im Klartext: Gib mir eine Predigt, durch die ich mehr wahrnehmen kann als das, was in deinem Manuskript steht. Versuche nicht, mir alles zu sagen, aber was auch immer du sagst, richte es so ein, dass ich es ergänzen kann. Denn – um mit Goethe zu sprechen: »Den Stoff sieht jedermann vor sich. Den Gehalt findet nur der, der etwas dazuzutun hat.«4 Die Ursache dafür, dass Predigten – auf ganz unterschiedlichen Ansätzen basierend – sich wieder und wieder im Abschreiten theologischer Richtigkeiten verlaufen, sehe ich darin, dass Prediger und|9 Predigerinnen die Ergänzungsbedürftigkeit der Kanzelrede eher als Dilemma empfinden, als dass sie sie akzeptieren und bewusst in Richtung ihrer Ergänzungsfähigkeit gestalten. Von der Zeichenlehre her wird also eine Predigt, der nichts mehr hinzuzufügen ist, prinzipiell in Frage gestellt.5 Die Rezeption semiotischer Einsichten in die Homiletik führt dazu, die Ergänzungs- und Fortsetzungsfähigkeit der Predigt, mithin ihre Zeichentauglichkeit, zu fördern. Das hat wesentlich damit zu tun, 3  Diese treffende Formulierung hat Karl Bühler schon 1934 im Rahmen erster Überlegungen zur Zeichenlehre als einer interdisziplinären Disziplin geprägt. Vgl. K. Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart 21965, 28. 4  J. W. v. Goethe, Maximen und Reflexionen, Berlin 1982, 56 f. 5  Da es hier hin und wieder Missverständnisse ausgelöst hat, nutze ich den bearbeiteten Wiederabdruck zu einer wichtigen Korrektur: Der letzte Teilsatz vor dieser Fußnote wurde in der Erstfassung durch ein Versehen nicht mitgedruckt, so dass dort paradoxerweise zu lesen ist, die mangelnde Ergänzungsfähigkeit der Predigt sei als homiletisches Kriterium anzuerkennen (vgl. PSt [S] III/1, 1992, 11).

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die einzelnen Signifikations- und Kommunikationsprozesse, in die sich der Predigtvorgang zergliedern lässt,6 offen zu halten, statt sie im »redundanten Exzess«7 zum Erliegen zu bringen. Eine semiotisch reflektierte Homiletik hat nichts mit einer Diffamierung bewährter homiletischer Prinzipien zu tun, zu denen u.a. die persönliche Auseinandersetzung mit dem Text, die wohlüberlegte Einbringung des ›Ich auf der Kanzel‹ und die Analyse gegenwärtiger Lebenswirklichkeit gehören. Es gibt aber homiletische Kriterien, die unabhängig davon gelten, ob man das Evangelium in Form von Geschichten plausibilisiert, zur klassischen Lehrpredigt neigt oder die Predigt in der Öffentlichkeit als politische Herausforderung begreift. Die hier zur Disposition stehenden Kriterien ergeben sich zunächst aus dem Umstand, dass die Predigt ein Werk ist, das nicht am Schreibtisch abgeschlossen werden kann, sondern das einer Fortsetzung bedarf, um vollendet zu werden bzw. um zu wirken. Mit anderen Worten, die Predigt soll die Hörenden dazu herausfordern und befähigen, ihren Part zu übernehmen. Wie die Predigerin in Auseinandersetzung mit dem Textzeugnis zu einem eigenen Zeugnis gekommen ist, ist es nun am Hörer – angeleitet durch das Zeugnis der Predigt – die Relevanz des Evangeliums für sein Leben zu erkennen. Die Hörerin soll mit der Predigt etwas anfangen können. Sie soll das, was sie hört, mit anderem verbinden können, was sie nicht hört.|10 Die im Verkündigungsprozess notwendigerweise hin zum Hörer wandernde Kompetenz in der Vermittlung zwischen Tradition und Situation darf nicht ignoriert werden. Das hieße nämlich, die Hörerin um ›ihre‹ Predigt zu bringen. Genau dies geschieht aber, wenn eine Predigt so präsentiert wird, dass sie keine Anhaltspunkte für eine Fortsetzung bietet. Demgegenüber gilt es zu berücksichtigen, dass im Predigtgeschehen nicht nur zwei Texte eine Rolle spielen (Bibeltext und Predigt), sondern drei: Der Hörer ›versteht‹ die Predigt nur, wenn er mit ihr das Gleiche tut, was die Predigerin mit dem Bibeltext tut, wenn sie auf der Basis eines überlieferten Textes zu einem eigenen Text gelangt. Er entwirft einen Text zu einem Text. Um die texttheoretische Gleichrangigkeit der Textebenen auch sprachlich festzuhalten, könnte man – analog zum Manuskript (dem mit der Hand Geschriebenen) auf Seiten des Predigers – von einem Auredit (dem mit dem Ohr Gehörten) auf seiten der Hörerin sprechen. In dieser Hinsicht besteht die homiletische Kunst darin, dem Hörer zu seinem ›Text‹ zu verhelfen. Kommt dieser Text nicht zustande, waren die beiden vorausliegenden Texte (Bibeltext und Predigt) vielleicht ein Gott wohlgefälliges Lobopfer, haben 6  Vgl. dazu die Übersicht in meinem Beitrag Texte über Texte. Die Beziehungen zwischen Theologie, Literaturwissenschaft und Rezeptionsästhetik, PrTh 35 (2000), 227–245, 232. 7  Vgl. W. Engemann, Wider den redundanten Exzess. Semiotisches Plädoyer für eine ergänzungsbedürftige Predigt, ThLZ 115 (1990), 786–880.

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aber die ihnen zugedachte Funktion, konkrete Botschaft für die Hörerin zu werden, nicht erfüllt. Die oben erwähnte ›homiletische Kunst‹ setzt voraus, sich von der Vorstellung zu verabschieden, eine Predigt habe lediglich historische Texte zu aktualisieren. Demgegenüber kommt es darauf an, dass ein Bibeltext in der Predigt historisch wird, indem dem Textzeugnis der Bibel das Zeugnis der Predigerin als Ergebnis der Auseinandersetzung mit diesem Schriftzeugnis folgt. Die Predigt muss dann ihrerseits historisch werden. Der Hörer hat sie nicht schon verstanden, wenn er sie nur wiederholen kann. Vielmehr soll er mit Hilfe der Predigt in Erschließungsräume eintreten können, in denen er gewissermaßen seine ihm vertraute persönliche Welt unter den Bedingungen des Reiches Gottes wahrnehmen kann.8 Nach diesen Bemerkungen ist es eine heikle Sache, zwei eigene Predigten vorzustellen und zu kommentieren. Denn im Grunde widerspricht es dem Plädoyer für eine ergänzungsbedürftige Predigt, ihr Erklärungen nachzuliefern, zu sagen: So habe ich das gemacht, und das habe ich damit gemeint. Ein wirklich ergänzungsbedürftiger und|11 -fähiger Text, so gearbeitet, dass der Rezipient und die Rezipientin im Text den Schlüssel zum Verständnis dieses Textes finden kann, evoziert selbst seine Lesarten. Und nach Umberto Eco, dem Konstrukteur der »Theorie des offenen Kunstwerks«, sollte der Autor eines Werks »das Zeitliche segnen, nachdem er es geschrieben hat«, um die »Eigenbewegung des Textes nicht (zu) stören«9. Wenn ich im weiteren dennoch ›Erklärendes‹ zu zwei Texten sage, die als Predigten konzipiert und Hörern und Hörerinnen (hin)gehalten wurden, dann nicht, um sie inhaltlich zu vertiefen, auch nicht, weil ich sie für unverständlich hielte oder ihr ›richtiges‹ Verständnis sichern wollte. Es geht also nicht um eine Fortsetzung der Interpretation dieser Predigten, sondern um eine Kommentierung ihrer interpretierenden Struktur, nicht um das Was, sondern um das Wie der Gestaltung der ›Botschaft‹. Semiotisch argumentierender Theologie wird hin und wieder vorgeworfen, dass sie die Klarheit und Konkretion der Botschaft vernachlässige, indem sie sie der Interpretationsbedürftigkeit der Zeichen aussetze und es den potenziellen Rezipienten und Rezipientinnen überlasse, mit der Beliebigkeit der Botschaft fertig zu werden. Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass die in der Interpretationsbedürftigkeit einer Predigt liegende Offenheit gerade nicht das Resultat einer diffusen Konzeption, sondern Begleitumstand einer sehr bewussten Prä8  Näheres dazu in meinem Beitrag Der Spielraum der Predigt und der Ernst der Verkündigung, in: PSt [S] II/2, 1998, 9–30. 9  U. Eco, Nachschrift zum Namen der Rose, München 1986, 14.

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sentation der Botschaft ist. Die konkrete Botschaft kann nicht durch einen breiten Redundanzrahmen garantiert werden, sondern stellt sich vielmehr in der unumgänglichen interpretatorischen Auseinandersetzung mit der individuellen (Zeichen-)Sprache des Werks – oder überhaupt nicht – ein. Der naheliegende Schlüssel zu dieser Sprache ist in der individuellen Struktur des Textes selbst zu sehen, durch die er etwas so sagt, wie kein Text sonst es sagt. Jede Perikope hat ihre spezifische Struktur, in der die jeweiligen Signifikanten angeordnet sind. Einem Text ›gerecht‹ zu werden, heißt deshalb auch, dass man in der Predigt nicht nur die womöglich vorausgeahnten Inhalte berücksichtigt, sondern zuvor klärt, wie der Text seine Bedeutung produziert. Semiotisch argumentierende Theologie steht also mit der Exegese keineswegs auf ›Kriegsfuß‹10.|12 Dass ein (Bibel)text ungleich mehr bedeuten bzw. sagen kann als die Predigt, die über ihn gehalten wird, ist zunächst einmal unausweichliche Folge der interpretatorischen Beschränkung der Aussagemöglichkeiten des Textes (als Quelle der Botschaft). Das Predigtmanuskript ist Resultat der Kooperative zwischen Text und Prediger, das den Text – wie schon gesagt – im Moment der Interpretation historisch werden lässt. Dem Text folgt in einer Predigt das Zeugnis der Predigerin. Allerdings kann eine Predigt ihrerseits wiederum zur ›Quelle der Botschaft‹ werden. Das setzt freilich voraus, dass der Prediger versucht, die Botschaft wiederum so zu sagen, wie noch keine andere Predigt sie gesagt hat, dass er sich also auch um eine individuelle Struktur seiner Rede, um ›Werke‹ bemüht, die sich voneinander unterscheiden. Aus semiotischer Sicht gelingt das nur, wenn die Predigt einem Idiolekt folgt. Das geschieht, wenn sie das, was sie sagt, nicht nur dadurch sagt, dass sie es in bestimmte Begriffe bringt (Lexik), sondern dass sie es auch durch eine bestimmte Gattung repräsentiert (durch eine Geschichte, einen Brief, einen Appell, ein Klagelied usw.), dass sie eine dieser Gattung angemessene Syntax verwendet, eine entsprechende rhetorische Strategie benutzt usw. Diese Eigensprache wird die Rezeptionsarbeit der Hörenden keineswegs behindern, sondern sie nur entautomatisieren, sie nicht erübrigen, sondern provozieren, nicht sich selbst überlassen, sondern – auf mehreren Ebenen – in eine bestimmte Richtung weisen. […]

10  Vgl. dazu das Kapitel III.3 (Predigen gemäß der Schrift. Die Frage nach dem Text der Predigt) in meiner Einführung in die Homiletik, deren Erscheinen für 2001 (UTB Francke, Tübingen) vorgesehen ist. [Mittlerweile erschienen: Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik (UTB 2128), Tübingen/Basel 2002; 2. vollständig überarbeitete u. erweiterte Aufl. 2011. Auf den Wiederabdruck der beiden Predigten wurde hier verzichtet.]

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d. Martin Nicol:   Die Predigt als Kunst unter szenischen Künsten – Dramaturgische Homiletik  Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, 2., durchgesehene und überarbeitete Auflage, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005, S. 29–37.65–721.

1.2 Kunst unter Künsten Paradigma Produktion, Performance und Rezeption von Kunst werden zum Paradigma für den Predigtprozess. Dramaturgische Homiletik leitet dazu an, Predigen als Kunst unter Künsten wahrzunehmen. Beobachtungen Für mich war die Entdeckung, dass Predigen und Predigtmachen sehr konkret mit künstlerischer Arbeit zu tun hat, ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine erneuerte Homiletik. In der Erinnerung verdichten sich viele Anstöße in einer Begebenheit: Eine Buchhandlung in Chicago ist besonders originell: der Seminary CO-OP Bookstore. Die Kellerräume sind eine Zumutung: im Winter überhitzt, weil der Heizungskeller integriert ist, im Sommer drückend heiß, weil die Lüftung nicht ausreicht. Die Leute aber sind freundlich, die Schätze in den unterirdischen Gängen einzigartig, Bücher über Bücher. An den Regalen vergisst man schnell, dass Barnes & Noble im ganzen Land ihre vollklimatisierten Buchhandlungen betreiben. Als ich vor Jahren zum ersten Mal in Chicago war, zog es mich natürlich auch in die Unterwelt des Bookstore. Ich ging ans Homiletikregal, zog ein Buch heraus und blätterte: auf die Musik der Sprache hören, das Ohr trainieren, Sinn vermitteln durch Klang, auf die eigene Musik hören, das Predigtkonzept als musikalische Partitur. Noch wusste ich nicht, wie schön der Kollege, der das Buch geschrieben hat, Flöte spielt. Ich wusste nur, dass in dem Buch von Thomas H. Troeger Lebensbereiche in eins kamen, die normalerweise getrennt auf der Agenda stehen: Predigt als Beruf und Musik als Hobby. Hier hatte einer die Metaphern der Musik konsequent auf den Predigtvorgang angewendet: Predigen als Konzert, Predigen als musikalisches Ereignis, Predigen als Kunst.|30

Die Verwandtschaft der Predigtarbeit zur Kunst und zu den Künsten kommt neuerdings vielfältig zur Geltung. Für Bernard Reymond ist es vor allem das Theater, das seine Homiletik inspiriert: 1  [Zitate, die im Original nicht nachgewiesen werden, werden auch hier bei der Wiedergabe nicht nachgewiesen, um den Charakter der Schrift als homiletischer Programmschrift und weniger als einer wissenschaftlichen Untersuchung beizubehalten. Dies gilt auch für die Wiedergabe der im Original uneinheitlichen bibliographischen Nachweise. Bei den nachgewiesenen Zitaten wurden die bibliographischen Angaben entsprechend den Angaben des buchinternen Literaturverzeichnisses ergänzt. Interne Verweiszeichen wurden stillschweigend entfernt, da sie im Rahmen einer auszugsweisen Wiedergabe sinnlos bleiben.]

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»Im Bewusstsein des Einflusses, den eine Kunstart auf die Ausarbeitung einer Theologie haben kann, habe ich mich gefragt …, welche unter den Künsten mich am meisten geprägt und unter der Hand, meine eigene Weise, die Probleme anzupacken, bestimmt hat. Ich antworte ohne Zögern: das Theater.« [Bernard Reymond, De vive voix. Oraliture et prédication, Genève 1998, S. 13 f.]

Ein amerikanischer Kollege, selbst Meister der Improvisation am Klavier, lokalisiert seine homiletische Wende in dem Moment, als er Kunst und Predigt nicht mehr als getrennte Lebensbereiche erlebte: »An den Tasten hatte ich teil an einer narrativen Form von Kunst; auf der Kanzel war ich ein deduktiver, thematischer Prediger. Über Jahre hatte mein Predigen wenig Einfluss auf mein Klavierspiel. Mein Klavierspiel jedoch veränderte vollständig mein Predigen.« [Eugene Lowry, The Narrative Quality of Experience as a Bridge to Preaching, in: Journeys toward Narrative Preaching, hg. v. Wayne Bradley Robinson, New York 1990, S. 67– 77, hier S. 70].

Anderen wird das Kino zur Leitkunst für die Predigtarbeit. David Buttrick entdeckt in den biblischen Texten Szenarios für Filme: »Biblische Sprache ist nicht wie ein Stillleben, aus dem ein objektiver Betrachter einen Gegenstand als Thema einer Diskussion herausnimmt; sie gleicht mehr einem Stück Film, das in einer bewegten Sequenz Sinn zum Ereignis macht.« [David Buttrick, On Doing Homiletics Today, in: Intersections. Post-Critical Studies in Preaching, hg. v. Richard L. Eslinger, Grand Rapids 1994, S. 88–104, hier S. 95].

Charles Rice sieht Liturgie und Predigt insgesamt in Nachbarschaft zu Kunst und Künsten: »Was die Kirche am Sonntagmorgen tut, ist im besten Sinn des Wortes kunstvoll, und sobald wir das so sehen, öffnen sich die Tore weit zu Drama, Literatur und allen visuellen Künsten.« [Charles L. Rice, The Embodied Word. Preaching as Art and Liturgy, Minneapolis 1991, S. 95].|31

Wo Predigen als Kunst unter Künsten verstanden wird, befinden wir uns im Bereich einer ästhetischen Homiletik. Diese ist dabei, sich weltweit zu einem Basiskonzept homiletischer Arbeit zu entwickeln. Skizzen Das Leben und das Resümee Schönes lässt sich nicht zusammenfassen. [Paul Valéry, Cahiers/Hefte, hg. v. Hartmut Köhler/Jürgen Schmidt-Radefeldt, Bd.VI, Frankfurt/Main 1993, S. 581] Rien de beau ne se peut résumer. [Paul Valéry, Cahiers, hg. v. Judith Robinson, Bd.II, Paris 1974, S. 1384]

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Die Bemerkung des Dichters charakterisiert das Problem, auf das eine ästhe­ tische Homiletik allenthalben stößt, und weist zugleich auf die Faszination, die sie ausübt. Der Aphorismus sagt, was ästhetische Praxis dezidiert nicht will, und lässt erahnen, was sich ihr an Neuland eröffnet. Dabei ist dem nahe liegenden Missverständnis zu wehren, es ginge einer homiletischen Ästhetik nur um »Schönes« im strikten Sinn des Wortes. Darum geht es auch. An dieser Stelle aber soll »Schönes« für alles stehen, was in den Gestaltungsbereich ästhetischer Praxis und in den Deutehorizont ästhetischer Theorie tritt. Es geht um professionelle Gestaltungen im Bereich der Künste ebenso wie um Gestaltungen im Alltag. Es geht um die Wahrnehmung aller Wirklichkeit, um Schönes also, weniger Schönes und gar nicht Schönes. Theologie unternimmt es üblicherweise, Sachverhalte zusammenzufassen. Wo man Wirklichkeit denkt, fasst man sie notwendigerweise in abstrahierende Sätze. Beispiel Segen: »Der Segen gehört zum Handeln der Kirche«. Bei diesem Satz ist kein bestimmter Segensinhalt im Blick, keine segnende Person und keine, die den Segen empfängt, keine Situation des Segnens, kein geprägtes Segensritual. Der Satz enthält kein Fremdwort und ist doch hoch abstrakt; er stellt eine zusammenfassende Formulierung dar für die unüberschaubar vielen Segenshandlungen der Kirche und der Kirchen in Geschichte und Gegenwart.| 32 »Der Herr segne dich.« Wenn ich diesen Satz nicht nur zitiere, sondern seiner Intention gemäß spreche, dann vollzieht sich Segen: an einem Ort, zu einer bestimmten Zeit, zwischen lebendigen Menschen mit ihren Erwartungen und Enttäuschungen.

Auf der Reflexionsebene der Theologie kann ich Segen zusammenfassen. Wo aber Segen Segen sein soll, kann ich nur segnen oder den Mund halten. Leben ist immer Gestalt, ist immer entfaltetes Leben. Die Zusammenfassung, das Resümee treibt dem Leben das Leben aus. Zusammenfassen macht Sinn auf der Reflexionsebene der Wissenschaft. Dort aber, wo es darum geht, dem Leben selbst Sprache zu verleihen, sind solche Zusammenfassungen unangemessen. Der Satz »Kinder sind in hohem Maß begeisterungsfähig« ist eine Zusammenfassung. Als Lebensphänomen aber bedürfte die Begeisterungsfähigkeit von Kindern der sprachlich-szenischen Entfaltung. Etwa so: Am Pfingstmontag war ich mit unserer zweijährigen Tochter auf der Bergkirchweih. Erstmals. Tickets für das Karussell: zuerst einzeln, die Fahrt 2,50 DM, dann im Pack, fünf Fahrten für DM 10,00. Kommt auf die Dauer billiger. Unserer Tochter war das alles egal. Hauptsache, sie konnte fahren. In einem blauen Auto, Sportwagen, am Steuer. Atemlos. Der ganze kleine Mensch tat jetzt nur eines: Autofahren. Selbstvergessen. Total hingegeben. Vergaß zu lenken. Dachte an die Hupe nicht. Fuhr einfach. Und wollte die Fahrt nicht beenden: »Noch einmal Autofahren!«

Nicht über die Dinge reden, sondern machen, dass die Dinge selbst geschehen (to make things happen): Das wäre die Devise einer Homiletik, die sich standhaft weigert, das Schöne am Ende doch zusammenzufassen.

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Hermeneutischer Gebrauch von Kunst Auch die traditionelle Predigt erschöpft sich keineswegs in zusammenfassenden Sätzen. Aber sie geht in der Regel von Zusammenfassungen aus, um diese dann mit Beispielen und Bildern zu veranschaulichen. Herkömmlich versucht die Predigtarbeit einen Weg von der Abstraktion in die Konkretion, von der Explikation zur Applikation. Predigt ist dann|33 gemeindetaugliche Übermittlung einer Botschaft, die sich auch kürzer formulieren, eben zusammenfassen lässt. Die Drei-Punkte-Predigt mit Einleitung und Schluss ist die klassische Form solcher Verkündigung. In diesem Predigttyp dient Kunst wie etwa die Literatur der Illustrierung und Exemplifizierung von zusammenfassenden Predigtgedanken (instrumenteller Gebrauch). Ästhetische Homiletik geht davon aus, dass es keinen Inhalt gibt von der Art, dass er sich zusammenfassen und dann in Form packen ließe. Ästhetik hat es mit Phänomenen zu tun, und bei Phänomenen bilden Inhalt und Form immer schon diese oder jene Gestalt. Künstlerisches Handeln gestaltet Wirklichkeit als Raum, Sprache, Klang, Farbe – wie sollte man so etwas zusammenfassen? Künstlerisch predigen hat kaum noch etwas zu tun mit der traditionellen Illustrierung. Künstlerisch predigen hieße: mit der kundigen Leidenschaft der Bühne, des Konzertpodiums, der Literatur, des Ateliers oder des Films sich selbst und andere der Weltwirklichkeit Gottes aussetzen. Kunst erschließt Wirklichkeit (hermeneutischer Gebrauch). Performing Arts »Schönes lässt sich nicht zusammenfassen« – die Künste wissen um die Richtigkeit dieses Satzes. Von ihnen kann die Predigt lernen. Im Grunde kann sie von allen Künsten lernen, einschließlich der Kunst, mit der Menschen ihrem Leben Gestalt geben (Lebenskunst). Lernen kann sie zunächst, dass sich Schönes bzw. Leben nicht zusammenfassen lässt. Man erzählt, dass einst Robert Schumann, nachdem er eine komplizierte Etude gespielt hatte, nach einer Erklärung des Stücks gefragt wurde. Zur Antwort setzte er sich hin und spielte das Stück noch einmal. Seine Musik ließ sich nicht zusammenfassen.

Traditionelle Nähe besteht zwischen der Kanzel-Kunst des Wortes und der Kunst des Wortes in der Literatur. Wenn ich aber nach Künsten suche, die der Predigtkunst auch phänomenologisch in besonderer Weise nahe stehen, dann fällt der Blick auf die, wie die Angelsachsen sie nennen, Performing|34 Arts. Gemeint sind Künste, die zeitlich bewegte Abläufe gestalten und auf das Ereignis der Aufführung (performance) zielen, also etwa Tanz, Musik, Theater oder Film. Wo man Predigt als Ereignis versteht, liegt die Nähe gerade zu diesen Künsten auf der Hand. Die Predigt wäre dann Ereignis in Analogie zur Performance im Bereich der Performing Arts.

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Sprache und Wirklichkeit Die Sprache der Predigt ist, wie etwa auch in einem Theaterstück, nicht beliebig. Fragen der Sprachgestalt sind auch Fragen von inhaltlichem Belang. Das gehört zu den Grundannahmen einer erneuerten Homiletik, die von der untrennbaren Einheit von Inhalt und Form ausgeht. Dem korrespondieren neuere Einsichten zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit. »Wirklichkeit«, so der Neu­ testamentler Hans Weder, »liegt nicht einfach jenseits der Sprache vor. Sie wird vielmehr durch je verschiedene Sprache verschieden konstruiert.« Von Anfang an hat die Neue Homiletik in den USA dem Zusammenhang von Form und Inhalt, von Sprache und Wirklichkeit nachgespürt. Ihre Suchbewegungen in Richtung auf eine lebensnahe Predigt waren stets integral mit bibelwissenschaftlichen Suchbewegungen verknüpft. Die Bibel kam als ein Stück Literatur in den Blick, nun freilich weniger historisch im Sinn antiker literarischer Zeugnisse, sondern ästhetisch im Sinn von sprachlichen Gestaltungen mit je eigentümlichen kommunikativen Implikationen (Thomas G. Long). Insbesondere die Gleichnisse Jesu waren es, die eine solche Blickweise befördert haben. In den Gleichnissen kommt, so ein weitgehender Konsens neuerer theologischer Forschung, die Wirklichkeit des Gottesreichs als Ereignis der Sprache zur Geltung. In jedem Fall wäre die Predigt schlecht beraten, sich nicht von der Sprachkunst der Bibel inspirieren zu lassen. Mike Graves sagt treffend, was es hieße, die Gestaltvorgaben der Bibel auf der Kanzel nicht zu beachten: »Die Worte von ›Ein|35 feste Burg ist unser Gott‹ auf die Melodie von ›Happy Birthday‹ zu singen verletzt nicht nur die Tonart, sondern auch den Takt.« Gestaltete Bewegung »Schönes lässt sich nicht zusammenfassen.« Leitvorstellung für die Predigtarbeit ist nicht die Zusammenfassung, sondern die Entfaltung. Es gehört zu den Grundeinsichten von New Homiletic, dass es Aufgabe der Predigt nicht sei, eine Wahrheit des Glaubens zu erklären (deductive preaching), sondern Erfahrungen des Glaubens zu teilen (inductive preaching). Der Blick richtet sich von der Drei-Punkte-Predigt weg und auf andere Formen hin, die sich als Entfaltungen in der Zeit verstehen und damit der zeitlichen Struktur menschlicher Erfahrung besser entsprechen. Die narrative Predigt war es zunächst, die homiletisch dominierte. Bald jedoch weitete sich das Verständnis von Narrativität. Es ging nicht mehr ausschließlich um das Erzählen von Geschichten, sondern prinzipiell, mit Eugene Lowry, um Predigt als gestaltete Zeit (ordered form of moving time) oder, mit David Buttrick, um Predigt als gestaltete Bewegung (plotted mobility). Das neue Konzept von Predigt als gestalteter Bewegung setzt eine andere Zugangsweise zur Predigtaufgabe voraus. Richard A. Jensen brachte die Wende auf

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den Begriff. Es gehe darum, nicht wie bisher in Ideen zu denken (thinking in ideas), sondern narrativ (thinking in story). Auch hier geht es nicht um Story­ telling in dem Sinn, dass ausschließlich Geschichten erzählt werden müssten. Es geht, allgemeiner, um ein entfaltendes im Gegenüber zu einem zusammenfassenden Denken. Es geht um eine grundsätzlich andere Haltung. Und das mit predigtpraktischen Konsequenzen: Wenn Predigt insgesamt gestaltete Bewegung sein soll, dann sind auch ihre einzelnen Teile als bewegte Einheiten zu gestalten. David Buttrick spricht von Moves. Das sind kleinere bewegte Einheiten, den Sequenzen eines Films (movie) vergleichbar.|36 Film statt Vorlesung Die neue Weise, an die Predigtaufgabe heranzugehen, wird am deutlichsten, wenn man das traditionelle Paradigma der Vorlesung durch das Paradigma des Films abgelöst sieht. Auf der Kanzel werden nicht Gedanken in einzelnen Punkten entwickelt, sondern bewegte Bilder in Sequenzen oder Moves inszeniert. Man könnte, wie Jana Childers oder Bernard Reymond, statt an den Film auch an das Theater denken. Es ist durch seine Live-Performance der Predigt tatsächlich näher als der Film. Mir scheint aber, dass das Theater ein zu elitäres Paradigma bedeuten würde. Ins Theater gehen manche Menschen zuweilen, während der Film, vor allem im Fernsehen, längst den Alltag aller bestimmt. Predigt als Film würde sich profilieren in einer Gesellschaft, deren Wahrnehmungsvermögen längst durch die bewegten Bilder des Films bestimmt ist. Nach meinen Erfahrungen mit homiletischer Didaktik ist das Film-Paradigma gut geeignet, einen neuen, ästhetischen Zugang zur Predigtarbeit zu eröffnen. Dramaturgische Homiletik Ob nun Theater oder Film das Paradigma abgeben, in jedem Fall wird das Predigtmachen zu einer Kunst, die Spannung gestaltet. Es legt sich nahe, die zugehörige Kunst-Lehre als »Dramaturgische Homiletik« zu kennzeichnen. Dramaturgie hat immer mit Spannung zu tun. Es geht um Spannungen in der Vorlage, die zur Entfaltung locken. Es geht in der Predigt selbst um Spannungsverläufe, die kluge Disposition erfordern. Es geht um Spannungen der Zuhörer, denen die Predigtspannung in der einen oder anderen Weise zu korrespondieren hat. Es geht um den Spannungsbogen des Gottesdienstes, in dem sich die Predigt mit ihrer Binnenspannung positioniert. In der Predigt werden biblische Worte, Bilder und Geschichten für die Kanzel inszeniert. Das ist die Grundvoraussetzung dieser Dramaturgischen Homiletik. Sie begreift den gesamten Predigtprozess als dramaturgische Aufgabe. »Schönes lässt sich nicht zusammenfassen« – ich habe, Valérys Satz im Ohr, ein schlechtes Gewissen: Ich versuche hier eine Zusammenfassung, während

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10.  Neuere Ansätze in der Homiletik

sich Predigtkunst doch nur in der konkreten Entfaltung erlernen ließe. Dass sich bald auch im deutschsprachigen Bereich Experimentierstätten auftun, weit geöffnete homiletische Ateliers, in denen sich eine Predigt-Kunst unter Künsten entfalten kann, das ist meine Hoffnung. Literatur Jana Childers, Performing the Word. Preaching as Theatre, Nashville 1998. Bernard Reymond, De vive voix. Oraliture et prédication, Genève 1998, S. 47–58. Martin Nicol, Preaching as Performing Art. Ästhetische Homiletik in den USA: PTh 89 (2000) 435–453. […]

| 65 1.6  Einander ins Bild setzen Leitbild Predigen heißt: Einander ins Bild setzen. In der Predigt selbst wie im gesamten Predigtprozess setzen Predigerin und Gemeinde einander in die Worte, Bilder und Geschichten der Bibel. »Predigtmachen« wird zum Leitbild für eine Predigtarbeit zwischen Kunst und Handwerk. Beobachtungen Beim Predigen setzen wir einander in die Worte, Bilder und Geschichten der Bibel. Da treten wir, wenn es Zeit ist, barfuß vor den brennenden Dornbusch, sitzen auf störrischen Eseltieren, schütteln den Kopf über verworrene Familiengeschichten, jagen außer Atem mit dem Sportler nach dem Ziel, vernehmen klingende Schellen, flüchten vor dem Drachen, begegnen unversehens einer Frau auf der Mondsichel und sehen verwundert eine Stadt vom Himmel kommen. Der Dichter Günter Eich (1955) ermuntert auf seine Weise, sich ins Bild setzen zu lassen: Japanischer Holzschnitt Ein rosa Pferd, gezäumt und gesattelt, – für wen? Wie nah der Reiter auch sei, er bleibt verborgen. Komm du für ihn, tritt in das Bild ein und ergreif die Zügel!|66

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Tritt in das Bild ein! Die Bibel ist voll von bewegenden Worten, flammenden Bildern, dramatischen Geschichten. Tritt ein! Aufgabe der Predigt ist es, ihre biblische Vorgabe so zu inszenieren, dass ich eintreten kann. Eintreten mit allem, was zu mir gehört. Wenn Günter Eichs Reiter ins Bild tritt und sich aufs Pferd setzt, lässt er seine Lebensgeschichte nicht außen vor. Auch ich habe sie dabei, die Geschichte und Geschichten meines Lebens, wenn ich biblisch ins Bild gesetzt werde. Vor dem Dornbusch der Bibel muss gestanden haben, wer die Dornbüsche nicht übersehen will im eigenen Leben. Don M. Wardlaw erzählt exemplarisch von einem Pfarrer. Der hatte über lange Jahre viel gepredigt und sehr richtig. Dann gingen ihm die Augen auf. Auf einmal sah er sie: all die brennenden Dornbüsche ringsum. Gelebt hatte er und gepredigt, mitten unter brennenden Dornbüschen. Aber bemerkt hatte er sie nicht. Wo Dornbüsche brannten, hatte er Brombeeren gepflückt. Brombeeren sind an sich nicht schlecht. Aber wir, Predigende und Hörende, sollten nicht ausgerechnet dann Brombeeren pflücken, wenn der Dornbusch brennt. Umgekehrt ist es sinnlos, quälend lange nach brennenden Dornbüschen Ausschau zu halten, dafür aber die Brombeeren verkommen zu lassen. Damit wir, wenn es Zeit ist, weder die Brombeeren übersehen noch an brennenden Dornbüschen vorübergehen, ist es gut, einander ins Bild zu setzen. Wir brauchen die Worte, Bilder und Geschichten der Bibel. Wir brauchen sie, um Gott zu hören, wenn der Dornbusch brennt. Um nicht ohne Klage zu sein, wenn Gott schweigt. Um die Welt nehmen zu können, wie sie von Gott her ist. Um Visionen zu haben, was aus der Welt werden wird und aus uns. Skizzen Ins Bild setzen »Einander ins Bild setzen«: Die Leitformulierung spielt mit dem Doppelsinn der deutschen Wendung »ins Bild setzen«. Sie oszilliert zwischen den Polen Information und Imagination.|67 Auf Information zielt zunächst der übertragene Gebrauch der Wendung: Wenn ich jemanden informiere, setze ich sie oder ihn ins Bild. Auch wenn eine dramaturgische Homiletik die Predigt konzeptionell absetzt von Lehre über den Glauben, so schließt sie doch nicht von vornherein aus, dass die Predigt nötigenfalls durch Information Sachverhalte klären hilft.

Der Akzent dieser Dramaturgischen Homiletik liegt auf dem Pol der Imagination: Predigt setzt ins Bild bzw. in die Bilder der Bibel. Es kann sich dabei um einzelne Bilder handeln oder um Geschichten als Sequenzen bewegter Bilder. In diesen Fällen ist unmittelbar nachvollziehbar, dass Predigt ins Bild setzt.

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Was aber, wenn es sich um Bibelworte handelt, deren Bildgehalt zunächst gegen Null tendiert? Die Erfahrung zeigt, dass sich auch zu scheinbar abstrakten Sätzen oder Passagen schon beim ersten Hören Bilder und Bildfolgen einstellen. Bilder aus dem eigenen Lebenskontext mischen sich mit den Texten der Bibel. Es macht Sinn, prägnant vom »Bild« zu sprechen, wo es um die Worte, Bilder und Geschichten der Bibel geht und zugleich um die eigenen Bilder, die sich anlagern. Dass Bildanteile derer, die auslegen, in den Auslegungsvorgang einfließen, sollte nicht verwundern. Wo die Sprache des Glaubens lebendig gesprochen wird, steht sie selbstverständlich im Austausch mit aller Sprache: Die Sprache des Glaubens ist »in die Sprache der Welt tief eingesenkt« (Gerhard Ebeling). Die Sprache des Glaubens verkümmert ohne die Sprache der Welt, und die Texte der Bibel bleiben verschlossen, wenn sie sich nicht vernetzen mit den Bildern, die wir mitbringen. Im Kontext unserer Bilder geraten die Texte der Bibel in Bewegung. Und umgekehrt.

Einander ins Bild setzen, das heißt: sich in den Worten, Bildern und Geschichten der Bibel verorten. Das kann auf verschiedenen kirchlichen Praxisfeldern geschehen. Damit es homiletisch gelingt, muss die biblische Vorgabe als Predigtrede inszeniert und gottesdienstlich zur Aufführung gebracht werden. Dazu anzuleiten ist die Aufgabe einer dramaturgischen Homiletik.|68 Bildwelten Der Akzent auf dem Bild begründet sich zunächst mit den Gegebenheiten menschlicher Kommunikation. Es ist eine Erfahrung, dass Menschen Bildern leichter folgen können als abstrakten Begriffen. Wenn ich in Bildern rede, wird die Predigt verständlich. Es kommt hinzu, dass wir in einer Gesellschaft predigen, deren Erleben massiv durch Bilder bestimmt ist. Rund um die Uhr und in fast allen Lebenslagen vermitteln die Medien Bilder, gute und böse. Sich in der Welt zurechtfinden heißt für uns alle: sich in medialen Bildwelten orientieren. Eine Predigt, die ins Bild setzt, streut die Worte, Bilder und Geschichten der Bibel mitten unter die Eindrücke aus medialen Bildwelten. Sie tut das in der Hoffnung, dass im allgegenwärtigen Kampf der Bilder die Bilder von einem Leben in der Gotteswirklichkeit eine Chance haben. Der wichtigste Grund, den Akzent der Homiletik so deutlich aufs Bild zu setzen, liegt in der Bibel selbst. Altes wie Neues Testament lassen keinen Zweifel: In der Sprache der Bilder kündigt sich, die eingefahrenen Sprachspiele unterbrechend, das Neue und Andere des Gottesreichs an. Vom Neuen Testament her ist die Gleichnisrede Jesu dem christlichen Reden von Gott als Modell vorgegeben. Nicht in Begriffen kann letztlich von Gott geredet werden, sondern nur in Bildern. Das tun die Gleichnisse als bewohnbare und »bewohnte Bild-

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welten« (Christian Link). Die Metapher bzw. das Gleichnis als entfaltete Metapher ist die Keimzelle elementaren Redens von Gott. Mit Metaphern umzugehen gehört zu dem, was unbedingt können muss, wer predigt. Von Poeten, Filmschaffenden oder Liedermachern lässt sich dafür eine Menge lernen. Fragt man zum Beispiel, wo denn der Dornbusch wirklich brennt, so wird man ernüchtert feststellen: auf Kanzeln selten. Dagegen genügt der Dichterin Rose Ausländer ein kurzer Blick auf eine glühende Sonne aus Farben: »Auch hier / brannte der Strauch«. So beginnt das Gedicht (Arles, 1975), und schon wird das Leben des Malers Vincent van Gogh selbst zur Metapher eines in die Gottespräsenz getriebenen Lebens.|69 Wechselseitigkeit Predigen heißt: Einander ins Bild setzen. Wechselseitig. Das klingt nach purer Ironie angesichts einer Kanzelrede, die monologisch verfasst ist. Einer spricht, die anderen hören – daran hat sich bis heute nichts geändert. Natürlich sind es zunächst die Hörenden, die durch die Predigerin ins Bild gesetzt werden. Das ist beim Theater ganz ähnlich. Auch dort agieren die Schauspieler auf der Bühne, während das Publikum zusieht. Und doch gehen Theatermacher davon aus, dass die »Zuschauer« mitmachen, auf ihre Weise. Jürgen Flimm, Regisseur am Theater, benennt die spezifische Wechselseitigkeit in einem Interview (DIE ZEIT Nr. 14, 29.03.2001): »… das Theater ist aufs Mitmachen der Zuschauer angewiesen. Ein Theaterabend ist ein Dialog. Ein Dialog zwischen dem Schauspieler und dem Publikum. Die entscheidende Frage also ist: Werden die Geschichten auf der Bühne so erzählt, dass die Leute noch daran teilhaben können? Oder fühlen sie sich ausgesperrt, überfordert? Wenn im Theater kein Dialog stattfindet, sondern nur noch ein Monolog – dann führt das zu dieser elenden, präpotenten Langeweile.«

Es lohnt sich, einen Blick auf den Predigtprozess als ganzen zu werfen. Schon bei der Produktion der Predigt hat sich die Predigerin selbst in den Worten, Bildern und Geschichten der Bibel verortet. Dass sie dabei bereits die künftig Hörenden im Blick hat, versteht sich von selbst. Die Predigtsituation mit ihrer spezifischen Hörergemeinde bedeutet jedes Mal eine Herausforderung, die auch den Prediger oder die Predigerin neu ins Bild scheinbar vertrauter Texte setzt. Ähnliches gilt für die Predigt selbst. Es entspricht den Einsichten der Rezeptionsästhetik, dass die Kanzelrede nicht einseitig eine Botschaft vermittelt. Vielmehr eröffnet sie einen Raum der Kommunikation, in dem sich bei allen Beteiligten das Sinnpotenzial eines Textes entfalten kann. Auch wenn die Rollen von Reden und Hören klar verteilt sind, so geschieht doch das Verstehen eines Bibelworts in der Predigt wechselseitig. Manifest wird solches Verstehen oft erst im Feedback, also wenn die Predigt schon vorbei ist. Da kann es geschehen,

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dass die Predigerin im Nachhinein noch|70 einmal ins Bild gesetzt wird – durch die Gemeinde und ganz anders vielleicht, als es der vorgängigen Verortung entsprach. Was die Hörer verstehen, ihr jeweiliges »Auredit« (Wilfried Engemann), sieht deutlich anders aus als das Manuskript der Predigerin. Eine Vision solcher Wechselseitigkeit hat Gerhard Schöne, der Liedermacher, entworfen. Er zeigt, wie das geht: Einander ins Bild setzen. Mit leichter Hand inszeniert er Rezeptionsästhetik als Kinderspiel (Das Perlhuhn im Schnee, 2000): Ich sehe was, was du nicht siehst. Das macht mir Mut. Und du siehst etwas anderes. Und das ist gut. Wenn du schon schwarz siehst, sehe ich vielleicht ein Licht. Und du entdeckst, wonach ich such und find es nicht. Ich sehe was, was du nicht siehst. Das sing ich dir. Und du siehst etwas anderes. Ach, zeig es mir. Ich habe nicht den Durchblick, nicht den Überblick. Und doch, vielleicht braucht jemand grad mein Puzzlestück. Ich sehe was, was du nicht siehst. Groß ist die Welt! Die Wege sind so oft verzweigt und zugestellt. Wie gut, wenn es dann jemand gibt, der bei mir ist und zu mir sagt: »Ich sehe was, was du nicht siehst!«

Predigtmachen Dramaturgische Homiletik konzipiert Predigen als Kunst. Wer predigt, wird zum Künstler oder zur Künstlerin. Beides ist nicht unproblematisch. Taugen Kunst und Künstlertum zum Leitbild fürs Predigen? Werden nicht Vorstellungen vom Genie, Kaffeehaus und Boheme zum Paradigma für eine Tätigkeit, die sich weit eher durch solide Professionalität als durch genialische Attitude auszeichnen sollte? Bedeutet Predigen als Kunst nicht eine völlig überspannte Erwartung an das, was Sonntag für Sonntag zwischen Prediger und Gemeinde mit einiger Normalität ablaufen muss? Als Alternative zum elitären Kunst-Paradigma scheint sich das Handwerk anzubieten. Kunst und Handwerk sind verwandt; zu jeder Kunst gehört handwerkliches Können. Aber die Differenz bleibt. Vom Handwerk erwartet man zu Recht|70 das Gelingen, das perfekte Produkt. Demgegenüber ist die Kunst eine Tätigkeit, »deren Wirkung riskant bleibt, die aber gewagt werden muss« (Henning Luther). Um der Unverfügbarkeit des Predigtereignisses willen darf Predigt nicht nach dem Leitbild des Handwerks verlaufen. Die offenen Prozesse der Rezeption verlangen Predigt als (offenes) Kunstwerk. Als Leitbild für eine Predigtarbeit zwischen Kunst und Handwerk schlage ich vor: Predigtmachen. Wer Predigt gestaltet, ist Predigtmacherin oder Predigtmacher. Vorteil des Begriffs ist zunächst, dass er neu ist und unverbraucht.

10.1  Die »ästhetische Wende« der Homiletik

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Das Leitbild vom »Predigtmachen« hat die Chance, sich mit spezifisch homiletischen Vorstellungen zu füllen. Predigtmachen ist eine Kunst eigener Art und eigener Würde. Wozu sich der Predigtmacher grundsätzlich nicht mehr eignet: Vorlesungen oder Vorträge zu halten, Besinnungsaufsätze vorzulesen oder einfach Gedankensplitter und Assoziationen zu verstreuen. Predigtmacher sind einer predigtspezifischen Dramaturgik kundig. Sie haben Erfahrung, wie man das macht: das Szenario einer biblischen Vorgabe als Predigtrede inszenieren und zur Aufführung bringen. »Predigtmachen« taugt zum Leitbild für eine Homiletik, die sich im Wechselspiel mit Kunst und Künsten erneuert. Durch die Verwandtschaft mit dem Filmemacher, dem Theater- oder dem Liedermacher stehen Predigtmacherin und Predigtmacher nicht beziehungslos im Raum. Es gibt Leute, bei denen ich mir Rat holen kann. Leute, für die der Umgang mit Bildern täglich Brot ist. Leute, die Spannungsbögen gestalten können. Die Unterhaltung nicht als unangemessene Kategorie ansehen. Die um den Zusammenhang zwischen Inhalt und Form wissen. Die Zauber und Anspannung der Live Performance aus eigener Erfahrung kennen. Die ihre Kunst ausüben im Spiegel und im Kreuzfeuer der Kritik. Es gibt Leute, bei denen ich mir Rat holen kann und die, vielleicht, auch einmal Rat brauchen von mir. Predigtmachen – Kunst unter Künsten. Ist die künstlerische Komponente auf diese Weise mittelschwer präsent, so repräsentiert das »Machen« im Predigt-Macher die handwerkliche Komponente. Predigten müssen gemacht werden, einfach gemacht, und das unter Zeitdruck.|71 Solches Machen bedeutet nicht Machbarkeit. Predigtmachen bleibt dem Risiko des Gelingens ausgesetzt. Der einst den Begriff »Liedermacher« kreiert hat, Wolf Biermann, sagt es treffend: »,Wie macht man Lieder …‘ – unter diesem Titel habe ich in Westberlin und Hamburg Workshops veranstaltet, in denen nichts geworkt und nicht geshopt wurde, und ich lehrte die Leute alles, was ich selbst nicht weiß.«

Literatur Henning Luther, Predigt als inszenierter Text. Überlegungen zur Kunst der Predigt: ThPr 18 (1983) 89–100. Jana Childers, Performing the Word. Preaching as Theatre, Nashville, 1998. Bernard Reymond, Le prédicateur, ›virtuose‹ de la religion: Schleiermacher aurait-il vu juste?, in: ETR 72 (1997) 163–173. Klaus Raschzok, »Methode der Predigt«. Vom homiletischen Nutzen einer zeitgenössischen Künstlertheorie: ZThK 97 (2000) 110–127.

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10.2  Gerd Theißen:   Das Kerygma der Predigt in der Zeichensprache des Glaubens  Gerd Theißen, Über homiletische Killerparolen oder die Chancen protestantischer Predigt heute1, in: PrTh 32 (1997), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 179–202.

Der Untertitel »Chancen der Predigt« weckt falsche Erwartungen. Nicht Marktchancen der Predigt sind gemeint, als sei sie ein schwer verkäufliches Produkt, das in einigen Nischen unserer Gesellschaft vielleicht mehr Aufnahmebereitschaft hat, als seine Verkäufer glauben. Wenn wir einmal in der Marketing-Sprache bleiben, so können wir unter Chancen auch etwas anderes verstehen: nicht Verkaufs-, sondern Verbesserungschancen des Produkts. Selbst wenn es nicht mehr Abnehmer fände, könnte durch qualitative Verbesserung die Zufriedenheit der Abnehmer und damit die Motivation der Verkäufer gesteigert werden. Oder noch|180 besser: Es könnte seine objektive Aufgabe besser erfüllen. Wer sagt, daß sich damit nicht auch die Zufriedenheit der Adressaten und manchmal ihre Zahl vermehren könnten? Aber zunächst geht es um die Verbesserung der Predigt – um die Chance, daß durch menschliche Worte ein Tropfen Ewigkeit in dies Leben fällt. Damit ist auch gesagt, daß die Chancen der Predigt im folgenden nicht durch empirische Untersuchungen nachgewiesen werden. Das ist eine wichtige Aufgabe, aber führt nur begrenzt weiter. Ein Ergebnis, das man aus der empirischen Predigtforschung ableiten könnte, ist jedoch in unserem Zusammenhang wichtig: Gegenwärtige Predigten scheinen von Predigthörern und -hörerinnen positiver beurteilt zu werden als von den Predigern und Predigerinnen selbst. 2 Die Erwar1  Überarbeiteter Vortrag vor der Gesamtephorenrüste der Kirche von Berlin- Brandenburg am 23.10.1995 in Hirschluch und vor dem Pfarrkonvent des Kirchenkreises Nauen und Falkensee am 20.3.1996. Einer Diskussion im Predigerseminar in Heidelberg vom 27.10.96 verdanke ich wichtige Anregungen. Einige der folgenden Überlegungen habe ich ausführlicher entfaltet in: Zeichensprache des Glaubens. Chancen der Predigt heute, Gütersloh 1994. 2  Vgl. O. Schreuder, Die schweigende Mehrheit, Conc (D) 14 (1978) 18–22 = A. Beutel/ V. Drehsen/H. M. Müller, Das Homiletische Lesebuch. Texte zur heutigen Predigtlehre, Tübingen 1986, 251–260; dort S. 259: »Unsere ausgedehnte und genaue, wenn auch nicht repräsentative Felderkundung legt nahe, daß tatsächlich so etwas wie eine ›Predigtnot der Kirchen‹ existiert. Die Definition dieser ›Predigtnot‹ weicht allerdings ab von jener Charakterisierung, die Theologen, selbstkritische Geistliche und intellektuelle Laien dafür oft zur Hand haben. Zu ihr gehört – nach den Ergebnissen unserer Forschung – keineswegs, daß der größte Teil des Kirchenvolks von Unbehagen über die Verkündigung erfüllt ist, weil die Prediger ihrem Auftrag nicht nachkommen. Im Gegenteil, bringt man diese Masse durch Befragung zum Sprechen, dann offenbart sie sich als ›schweigende Mehrheit‹, die über den Gang der Dinge überwiegend positiv urteilt.« Gerade darin aber liegt ein Problem: »Die ›Predigtnot‹ der Kirchen geht aus dem Umstand hervor, daß sie einer Masse Menschen konfrontiert

10.2  Gerd Theißen: Das Kerygma der Predigt in der Zeichensprache des Glaubens

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tungen an sie sind höher als die Bedeutung, die Prediger ihnen zuschreiben. Hier gibt es einen Widerspruch – und damit eine Chance, die wir in der Hand haben, weil wir als Prediger viele Rahmenbedingungen der Predigt zwar nicht ändern können, wohl aber unser Selbstverständnis und unsere Einstellung zur Aufgabe. Warum liegt hier eine Chance für die Predigt? Ich darf das mit einer biographisch begründeten Analogie illustrieren. Als ich in den 70er Jahren anfing, in Schulen zu unterrichten, war eines der größten Hemmnisse für uns junge Lehrer die Diskreditierung des Unterrichtens als kaschierte Form autoritärer Machtausübung. Sie schuf ein schlechtes Gewissen und lähmte die Motivation zum Unterricht. Anstatt durch Verarbeitung mißlicher Erfahrungen die eigene Kompetenz zu steigern, klagte man larmoyant über das System und lähmte sich selbst. Die richtige Erkenntnis, daß Unterricht Machtausübung ist – oder genauer: der Kampf darum, jenes Minimum an Macht auszuüben, das eine Klasse zu koordinierter Arbeit nötig hat –, erwies sich als eine pädagogische Killerparole. Könnte es nicht sein, daß auch manche klugen homiletischen Überlegungen als solche »Killersätze« wirken? Auch gegen die Absicht derer,|181 die sie formulieren? Lassen Sie mich daher (sehr plakativ) vier homiletische »Killersätze« nennen, die oft unausgesprochen die Motivation zur Predigt lähmen: 1. Der erste Killersatz herrschte in den 70er Jahren: »Predigt ist Diktatur des Predigers« – eine autoritäre Kommunikationsform. Selbst wenn man sie mit den progressivsten Inhalten auszufüllen suchte, müsse ihre un-dialogische Struktur alle guten Absichten zunichte machen! 2. Der zweite homiletische Killersatz wurde in den 80er Jahren prominent: Predigt wurde als Diktatur der Exegese über den Text denunziert. Sinn konstituiere sich durch aktives Lesen und Hören. Die Predigt aber versuche diese kreative Hörertätigkeit zu steuern und zu unterbinden. Gelenkte Rezeption stand gegen freie Rezeption. 3. Ein dritter Killersatz geistert in den 90er Jahren herum: Predigt gilt als Diktatur des Kopfes über das Leben, sie sei Symptom eines verkopften Protestantismus. Heilmittel seien Meditation, Liturgie, Sakrament – verstanden als non-verbale Kommunikation, kurz: »Spiritualität«.3

werden, deren Solidaritätsgefühle einen unartikulierten Totalitätscharakter tragen. Dadurch werden die Kirchen gehindert, für diese Glieder auf differenzierte Art und Weise tätig zu werden.« (S.260). Man möchte hinzufügen, daß die Predigtnot auch darin besteht, daß bei denen, die nicht zum Gottesdienst kommen, oft ebenso undifferenzierte Ablehnungshaltungen der Predigt gegenüber bestehen. 3  Zur Illustration dieser Einstellung sei die Reaktion eines (mir sympathischen) Theologen auf mein Buch: »Zeichensprache des Glaubens« genannt, der in ihr eine kirchenzerstörende Überschätzung der Predigt dokumentiert sah. Er war besorgt, daß die non-verbalen und nicht-kognitiven Aspekte des Gottesdienstes zu kurz kommen.

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4. Ich füge als vierten Killersatz den religionskritischen Basissatz der Moderne seit der Aufklärung hinzu. Predigt gilt als Diktatur der Transzendenz über das Leben. Sie zeige in Form und Inhalt den Verzicht auf mündige, selbstverantwortete Lebensgestaltung. Von der Kanzel gelenktes Leben steht gegen Selbstbestimmung und Selbstentfaltung! Natürlich kann man zu solchen »Killer«-Sätzen4 Gegen-Sätze formulieren. Aber solche Antithesen bewirken keine homiletische Auferstehung, nachdem die Killerparolen die Predigtmotivation begraben haben, im Gegenteil, sie verschärfen das Problem! Im folgenden formuliere ich vier Gegenthesen, auch um die vier Dimensionen der Predigt ins Bewußtsein zu heben, die von den vier homiletischen »Killersätzen« jeweils ausgeleuchtet werden. 1. Die kommunikative Dimension der Predigt wird durch den Satz getroffen: Predigt sei Diktatur des Predigers. Meines Erachtens ist das Gegenteil ebenso plausibel: Predigt unterliegt auch einem Diktat des Hö-|182 rers! Selten ist eine Redeform so abhängig von den Erwartungen der Hörer, von ritualisierten Mustern, festen Reizwörtern und dem Hochhalten bestimmter Werte! Die Gemeinde übt eine Präventivzensur über den Prediger aus! Die Frage ist: Wer herrscht hier über wen? Und unser Problem ist: Wie kommen wir über Predigten hinaus, die ein Tauziehen um Einfluß und Macht sind? Wie kommen wir zu Predigten im Geist der Freiheit? Und das heißt: zu wirklich protestantischen Predigten! 2. Die hermeneutisch-exegetische Dimension wird durch den zweiten Satz getroffen: Predigt sei Diktatur der Exegese über den Textsinn, der von sich her offen sei. Auch hier darf man dagegen halten: Ist die Predigt nicht ebenso Machtausübung eines alten Buches über die Gegenwart? Zeigt die homiletische Rebellion gegen das Primat der Exegese in den letzten Jahren nicht, daß viele die Bindung an gewissenhaft ausgelegte Texte als Fessel empfinden? Die Frage ist wiederum: Wer herrscht über wen? Die Ausleger über den Text oder der Text über den Ausleger? Und unsere Frage ist: Wie kommen wir über Predigten hinaus, in der sich Vergangenheit und Gegenwart gegenseitig vergewaltigen? Wie kommen wir zu Predigten, in denen die Freiheit des Geistes und nicht die tötende Macht des Buchstabens zum Zuge kommt? Aber in der die Freiheit des Geistes auch nicht den Buchstaben tötet, indem sich die Predigt vom Text löst? 4  Zu den vier im folgenden formulierten homiletischen Killerparolen werden im Laufe der Ausführungen noch weitere hinzukommen – Killersätze, die einerseits die zunehmend als schwieriger erlebte Predigtsituation, andererseits die zunehmend anspruchsvolleren homiletischen Theorien verinnerlichen: Verlustangst, die sich in Sätzen kleidet wie: »Es kommen ja doch immer weniger«, und Versagensangst, die sich zu der inneren Überzeugung verdichtet: »Ich mache ja doch alles falsch.« Wenn man sich klar macht, daß Verlust- und Versagensangst zu depressiven Reaktionen führt, wird man der Überwindung solcher homiletischen Killerparolen eine große Bedeutung zuschreiben.

10.2  Gerd Theißen: Das Kerygma der Predigt in der Zeichensprache des Glaubens

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Wie kommen wir zu wirklich protestantischen Predigten – zu Predigten im Geist der Freiheit! 3. Die existenziale Dimension der Predigt ist in der dritten Killerparole gemeint: Predigt als Diktatur des Kopfes. Ebenso gut könnte man behaupten, daß in Predigten der »Kopf« in den Dienst irrationaler Gewißheiten tritt. Sind die kognitiven Argumente in den Predigten denn mehr als eine dünne Oberfläche, durch die hindurch nicht-kognitive Gewißheiten vermittelt werden? Werden wir nicht immer wieder durch Predigt dazu überredet, dies Leben anzunehmen, an prosozialen Motivationen festzuhalten, Mut zum Leben zu haben – und das letztlich ohne rationale Begründung? Wer herrscht hier über wen? Der Kopf über das Leben? Oder das Leben über den Kopf? Und auch hier wieder die entscheidende Frage: Wie gelangen wir zu Predigten, in denen beide in ein freies Verhältnis zueinander treten? Zu Predigten, die dem großen Experiment des Protestantismus entsprechen, »nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch einen Gedanken gerechtfertigt ist«.5 4. Die theologische Dimension der Predigt wird mit der vierten Killerparole angesprochen: Predigt als Transzendenzdiktatur. Hier können wir mit Recht zurückfragen: Stehen Predigten nicht ebenso in der Gefahr, daß Menschen das Geheimnis der Transzendenz domestizieren, das Unverfügbare in Formeln verfügbar machen, das Unbegreifliche in Pseudobegriffen verkleiden? Sind Predigten nicht ein nie endender Versuch, Gott für die eigenen Zwecke zu engagieren – für die eigenen Werte,|183 die eigenen Institutionen und die eigene Macht? Wer herrscht hier über wen? Und auch hier stellt sich die Frage: Wie gelangen wir zu Predigten, in denen keiner herrscht, sondern Freiheit herrscht – auch zwischen Gott und Mensch? Möglicherweise hinterlassen diese Ausführungen einen traurigen Eindruck. Denn was macht es aus, ob die Predigt mehr Diktat des Predigers oder der Gemeinde, mehr Diktat des Kopfes oder irrationaler Gewißheit, ob sie Diktat der Ausleger oder der Texte, Machtausübung Gottes oder des Menschen ist? Die Alternativen sind unerfreulich. Predigen scheint so oder so in Zwänge eingebunden. Auch wenn die Metapher der »Diktatur« für solche Einschränkungen rhetorisch übertrieben sein mag, so ist die Übertreibung doch sachlich gerechtfertigt. Denn für die protestantische Predigt steht Zentrales auf dem Spiel! Warum? Weil Protestantismus die Konfession der Freiheit ist. Die libertas christiana ist von Gott geschenkte Freiheit, die dazu verpflichtet, sich für freie Verhältnisse im persönlichen und sozialen Leben einzusetzen. Auch wenn die ganze Welt (einschließlich des Menschen selbst) für viele nur ein Gewimmel 5 

G. W. F. Hegel, Die Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, Theorie-Werkausgabe 7, Frankfurt 1970, 27.

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von determinierten Molekülen und Prozessen sein mag – für den protestantischen Glauben ist der Mensch zur Freiheit durch das Wort Gottes gerufen, zum Exodus aus all dem, was ihn determiniert! Auch wenn die ganze Gesellschaft manchen ein System mit Eigengesetzlichkeiten zu sein scheint, in dem das Freiheitsbewußtsein von Menschen und Gruppen eine Illusion ist, um das System besser am Laufen zu halten – für den protestantischen Glauben ist der Mensch dazu aufgerufen, soziale Prozesse auch ethisch zu steuern. Auch wenn der Mensch selbst in seinem eigenen Leben nicht Herr im Haus ist, sondern von Prägungen, Konditionierungen, Traumata und Verstärkungen wie eine Marionette abhängig ist – der Adressat protestantischer Predigt ist ein Mensch, der dazu erwählt ist, sein Leben verantwortlich zu gestalten. Er hat die Aufgabe, sich nicht treiben zu lassen, sondern sein Leben als Heimat anzunehmen und zur Heimat für sich und für andere zu machen. Der Tropfen Ewigkeit, der in der protestantischen Predigt in dies Leben fallen soll, ist ein Tropfen Freiheit.6 |184 Aber wenn nun die protestantische Predigt selbst von Unfreiheiten gekennzeichnet ist, konterkariert ihr Vollzug nicht das, was ihr Inhalt sein sollte? Werden die Aporien protestantischer Predigt nicht immer größer? Unser Thema sind freilich nicht die Aporien der Predigt, sondern ihre Chancen. Nicht die einschränkenden Bedingungen, denen Predigten unterliegen, sondern die 6  Was Protestantismus ist, läßt sich nur schwer in wenigen Worten sagen. Zunächst handelt es sich um eine innerchristliche Bewegung, die im 16. Jahrhundert aufbrach, um durch Rückgriff auf die Bibel, d.h. auf die Anfänge des Christentums und das Wort Gottes, Kirche und corpus christianum zu reformieren. Die Berufung auf Schrift und Wort (als kritischer Instanz gegenüber allen Institutionen und den von ihnen kontrollierten Sakramenten und Ämtern) ist daher das formale protestantische Prinzip: Das sola scriptura ist ein Grundaxiom des Protestantismus. Das materiale protestantische Prinzip aber ist auf der Grundlage der Schrift die Rechtfertigung (sola gratia, sola fide und sine lege) und die in ihr begründete Freiheit des Menschen. Die unbedingte Anerkennung des Menschen durch Gott, unabhängig von seinen Taten, seiner Herkunft, seinem Geschick ist daher das entscheidende inhaltliche Grundaxiom des Protestantismus. Mit dem Eintritt in die durch Aufklärung geprägte moderne Welt wurden diese Grundaxiome modifiziert: Das Schriftprinzip wurde als protestantisches Formalprinzip zur Erkenntnisgrundlage für den Geist des Christentums, wie er in den Anfängen|184 und seinen geschichtlichen Quellen besonders klar hervortritt, d.h. das geschichtliche Bewußtsein veränderte die vorkritische Bezugnahme auf die Schrift: Die heilige Schrift wurde zum historischen Dokument der normativen Anfänge relativiert. Das protestantische Materialprinzip der unbedingten Anerkennung des Menschen durch Gott wurde dagegen ausgeweitet zur Anerkennung der unantastbaren Würde des Menschen. Das ökumenische Bewußtsein (im weitesten Sinne) betrachtet alle Menschen auf der Welt ohne Ansehen ihrer Person und ihrer Herkunft als Adressaten der Liebe Gottes. Das protestantische Materialprinzip konvergiert dadurch mit der Menschenrechtstradition. Das geschichtliche und das ökumenische Bewußtsein haben somit den Protestantismus tiefgreifend verändert – und zugleich gespalten. Denn nicht alle ließen sich auf die kritische Auseinandersetzung mit den eigenen historischen Grundlagen und auf den offenen Dialog mit allen Konfessionen und Religionen ein. Vgl. zum Thema insgesamt F. W. Graf/K. Tanner, Pro­ testantische Identität heute, Gütersloh 1992.

10.2  Gerd Theißen: Das Kerygma der Predigt in der Zeichensprache des Glaubens

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Möglichkeiten, die es in, mit und unter allen Einschränkungen gibt. Beides gehört zusammen: Nur wo nicht alle Möglichkeiten offenstehen, ist es sinnvoll, von »Chancen« zu sprechen. Nur wo viele Türen verschlossen sind, erlebt man die offene Tür als Weg ins Freie. Nur wo es Widerstände gibt, wird die trotz allem gelingende Kommunikation zum großen Glück. Für die Predigt gilt wie für unser ganzes Leben: Wir können nicht gegen unsere Möglichkeiten, sondern nur in ihnen zufrieden und erfolgreich sein. Je schmerzlicher die Grenzen sind, um so größer ist die Verpflichtung, die Chancen in diesen Grenzen zu nutzen, sie dort zu ergreifen, wo sie vorhanden sind – und nicht etwa durch innere »Killerparolen« diese Grenzen noch enger zu ziehen, als sie es ohnehin schon sind. Ich bin überzeugt, daß es trotz aller einschränkenden Rahmenbedingungen möglich ist, durch die Predigt den Funken der libertas christiana ins Leben zu werfen und Predigten so zu gestalten, daß ihre Form dieser Chance entspricht. Dazu im folgenden ein paar Gedanken, und zwar zu jeder der vier Dimensionen der Predigt. I. Zur kommunikativen Dimension der Predigt Predigten sind einseitige Kommunikationsformen. Hörer und Hörerinnen können – wenigstens in mitteleuropäischen Kirchen – nicht unmittelbar reagieren und Stellung nehmen. Und doch scheint es gerade hier notwendig. Denn selten geschieht Kommunikation durch so viel Filter hindurch: Hörer rezipieren nur, was sie durch den Filter ihrer Einstellungen und Werte, ihrer Vorurteile und Interessen sowie ihrer aktuellen Befindlichkeit hindurch an sich heranlassen.7 Der Prediger artikuliert|185 nur, was in den von ihm antizipierten Gattungserwartungen möglich ist. Für ihn ist vieles festgelegt. Nicht nur, daß er seine Predigt nicht mit »Prost«, sondern mit »Amen« schließen muß. Denn so sicher wie das Amen sind auch viele andere Stich- und Reizworte in der Kirche. Und dennoch kann man die These vertreten, daß gerade diese »gefilterte Kommunikation« Chancen für eine freie Kommunikation gibt. Betrachten wir das Problem zunächst aus der Perspektive der Hörer. Daß wir nicht unmittelbar zur Predigt Stellung nehmen können, ist nicht nur Einschränkung, sondern auch Entlastung. Wo sonst werden wir von einem Menschen so persönlich angeredet und sind gleichzeitig davor geschützt, Rechenschaft darüber ablegen zu müssen, was wir mit dem Gehörten machen? Wir als Hörer wählen aus, was wir an uns heranlassen! Wir als Hörer entscheiden, was 7  Vgl. K. W. Dahm, Hören und Verstehen. Kommunikations-soziologische Überlegungen zur gegenwärtigen Predigtnot, Predigtstudien IV, 2 (1970) 9–20, überarbeitet in: ders., Beruf: Pfarrer. Empirische Aspekte zur Funktion von Kirche und|185 Religion in unserer Gesellschaft, München 1971, 218–244 = Homiletisches Lesebuch (s. o. Anm. 2), 242–252.

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in unserem Leben wirksam werden soll! Und gerade deshalb sind wir prinzipiell bereit, uns in einer Weise zu öffnen wie sonst selten. Wer in einen Gottesdienst kommt, ist bereit, sich vom Menschen auf der Kanzel in Dinge hineinreden zu lassen, über die er im Alltag kaum kommuniziert und oft auch gar nicht kommunizieren kann. Diese Bereitschaft für eine Öffnung bis in die Tiefe hinein ist nur dann ohne Risiken möglich, wenn wir jederzeit die Freiheit haben, einen Riegel vorzuschieben und unsere Verletzlichkeit vor dem eindringenden Wort zu »schützen«. Bei der Gestaltung der Predigt sollten wir diese Freiheit des Hörers im Auge haben. Wenn wir zum Predigtthema verschiedene Variationen von Stellungnahmen und Perspektiven bringen, z.B. verschiedene Schriftgelehrte zu unserem Predigttext fiktiv um Rat fragen, so kann der Hörer frei wählen, für welche er sich entscheidet. Oder genauer: Wir machen bewußt, daß er schon immer frei gewählt hat, was er mit nach Hause trägt. Dasselbe gilt für alle fiktionalen Geschichten. Sie ermöglichen eine innere Distanzierung. Man kann als Hörer immer sagen: Es ist ja nur erfunden! Aber wenn uns etwas durch die fiktionale Form hindurch so anspricht, daß wir schlichte Wahrheit erfahren – dann sind wir, die Hörer, es, die den fiktionalen Raum verlassen und aus ihm Erkenntnis des Wirklichen gewinnen. So stimmt also beides: In der Predigt spielt sich gefilterte Kommunikation ab. Aber diese Filter sind notwendige Schutzfilter gegen manche homiletische Emission von der Kanzel, die unsere innere »Umwelt« verletzen und zerstören würde – um sofort durchlässig zu werden, wenn wir als Hörer es wollen. Dann aber öffnen wir uns mehr als sonst. Nun dasselbe Problem noch einmal aus der Perspektive des Predigers. Richtig ist, er wird durch Erwartungen der Gemeinde eingeschränkt. Daher die Angst: Kann er in dieser so stark gattungsgesteuerten Kommunikationsform noch authentisch er selbst sein? Ist er nicht notorisch damit beschäftigt, sich zu verleugnen und zu »verbergen«? Aus meiner Erfahrung darf ich sagen: Selten öffne ich mich so persönlich wie auf der Kanzel, auch dort, wo ich nichts von mir erzähle. Und das gerade|186 deshalb, weil ich durch die unilaterale Kommunikation geschützt bin. Wenn ich im alltäglichen Dialog etwas von mir preisgebe, so bin ich Gegenfragen und Reaktionen ausgesetzt, die ich nicht in der Hand habe. Daher halte ich mich von vornherein zurück. Ich würde sonst zu verletzlich. In einer Predigt aber kann ich vorher sorgfältig überlegen, was ich von mir preisgebe – oft ohne daß die Hörer es merken, oft verwandelt in allgemeine Gedanken, Bilder, fiktionale Erzählungen. Ich kann Dinge sagen, bei denen ich im alltäglichen Dialog viel zu scheu wäre, sie zu sagen. Die Herausforderung, ganz Persönliches dabei in einer Weise zu gestalten, die allen zugänglich ist, gibt dabei oft eine Freiheit gegenüber allzu Persönlichem: Freiheit uns selbst gegenüber. Man muß dazu nicht in großem Frieden mit sich selbst leben. Für mich ist immer wieder erstaunlich, daß sehr fragwürdige und neurotische Menschen

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gute Prediger sein können. Gerade weil sie an dem ganzen ungelebten und ungekonnten Leben nicht unangefochten vorbeileben, können sie jene verborgenen Ängste und Peinlichkeiten artikulieren, die in uns allen vorhanden sind: die kleinen und großen Phobien, die irrationalen Zwänge, die Macken und Mucken des Lebens.8 Unser Fazit zum ersten Gedankengang ist also: Predigen ist eine Kommunikation wie durch Filter hindurch – Filter, die durch die Persönlichkeit des Predigers und der Hörer gegeben sind. Aber in dieser Kommunikation werden auf beiden Seiten Tiefenschichten angerührt, die wir im Alltag aus der Kommunikation ausklammern. Und natürlich hängt das damit zusammen, daß beide, Prediger und Gemeinde, in der Predigt aus ihren Alltagsbeziehungen heraustreten und sub specie dei Dinge aufrühren, die oft sehr schräg, sehr peinlich, sehr schmerzlich wären, wenn wir sie ausschließlich sub specie hominum betrachten würden. Wir sollten also die unilaterale Kommunikationsform der Predigt nicht ständig damit entschuldigen, daß jede Predigt eingebettet ist in einen Dialog mit der Gemeinde. Das ist richtig und wichtig. Aber in diesem Dialog bildet sie eine »Unterbrechung« – und diese Unterbrechung, bei der unmittelbare Stellungnahmen zeitweilig suspendiert sind, hat ihre eigenen Chancen. Die Einbettung in den Dialog des Lebens mit und in der Gemeinde bringt natürlich zusätzliche Chancen. Manchmal hoffe ich, daß in meinen Predigten jemand sitzt, mit dem ich im Alltag zu tun hatte – weil ich ihm da etwas nicht sagen konnte, was ich ihm gerne sagen würde. Schon die Ausklammerung religiöser Sprache aus weiten Bereichen des Alltags läßt hier vieles ungesagt. Bei begrenzten thematischen Predigtreihen schiene es mir sinnvoll, nicht nur homiletisches Material in die Hand des Predigers zu geben – auf daß er seine Gemeinde besser beeinflussen kann, sondern noch wichtiger: Informationen und Denkimpulse in die|187 Hände der Hörer zu legen, damit sie die Predigt selbsttätiger verwerten. Warum also nicht bei begrenzten Predigtreihen im Gottesdienst ein kleines Heft (eine Sondernummer des Gemeindeblatts) mit Informationen, Fragen und Impulsen zur Predigtreihe verteilen? Nicht zuletzt, um ein wenig für die Predigtreihe zu werben! Und damit sind wir bei einer anderen Dimension der Predigt: Sie ist nicht nur Kommunikation, die durch die Person von Prediger und Hörer gefiltert ist – sie ist Kommunikation, die durch die Beschäftigung mit einem Bibeltext »gefiltert« und gesteuert ist. Ist das nun eine weitere Einschränkung oder eine neue Chance für eine freiere Kommunikation? 8  Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei betont: Predigtkompetenz steigt gewiß nicht mit dem Grad unserer Neurotizismen, sondern nur in dem Maße, wie wir mit ihnen umgehen können. Und umgekehrt gilt: Menschen mit geringen Neurotizismen haben eine große Chance zur Offenheit sich selbst und anderen gegenüber.

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II. Zur hermeneutischen Dimension der Predigt Predigen ist eine durch den Predigttext gesteuerte und insofern durch ihn eingeschränkte Kommunikation. In Zeiten strenger Offenbarungstheologie war diese Steuerung durch den Text unproblematisch. Es gab einen unangefochtenen Primat des Textes. Er bestand grob vereinfacht (und etwas karikiert) darin: Durch Exegese mußte aus dem Text dessen Skopos herausgearbeitet, durch Homiletik dieser umgesetzt, d.h. eingekleidet, illustriert und vermittelt werden. Der Text diktierte die Exegese, die Exegese diktierte die Predigt, die Predigt diktierte die Rezeption beim Hörer. Predigen war ein Sich-Einreihen in eine Diktatkette – von der allerobersten Instanz bis nach unten. Heute, in Zeiten einer gewissen Offenbarungsmüdigkeit, wird der Primat des Textes in Frage gestellt. Andere Faktoren erscheinen der modernen Homiletik als wichtiger: die Person des Predigers, der Hörer, die Situation, die Rhetorik. Das heimliche Predigtmodell unserer Zeit sieht – grob vereinfacht und karikiert – so aus: Man problematisiert am Anfang ein wenig den Text. Der stammt ja aus einem sehr alten Buch; und heute sind die Verhältnisse ganz anders. Dann läßt man sich vom Text ein Stichwort geben, um in die Gegenwart zu springen. Der Text wird nicht sehr ernst genommen. (Nebenbei: Das ist ein Alarmsignal. Krisen im Verhältnis zum Bibeltext sind immer auch Krisen des Protestantismus.) Diese Relativierung des Textes erhält durch die postmoderne Hermeneutik Auftrieb. Texte sind hermeneutisch polyvalent. Sie sind ein Sinnpotential, das immer wieder neu entfaltet wird. Hörer und Leser schaffen am Sinn des Textes mit – indem sie dessen potentiellen in aktuellen Sinn überführen. Nicht der Autor hat also den Sinn des Textes geschaffen, der Leser und Hörer muß ihn immer wieder erneut mitschaffen. Nicht nur der Autor ist inspiriert; inspiriert ist ebenso der Leser, der ihn zum Sprechen bringt.9 Nicht der Autor diktiert, was die Absicht des Textes|188 ist; Leser und Hörer diktieren kräftig mit. Das Problem ist heute daher nicht die Abhängigkeit der Predigt von exegetischen Diktatketten, sondern die Beliebigkeit der Auslegungen. Wenn jede Auslegung

9  Vgl. den Titel des Buches von U. H. J. Körtner, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994. Meine Einstellung zu hermeneutischen Grund­ fragen ist weithin identisch mit der »analytischen Hermeneutik«, die M. Leiner in: Psychologie und Exegese. Grundlagen einer textpsychologischen Exegese des Neuen Testaments, Gütersloh 1995, 206–234, entwickelt hat. Hier werden die Vorgaben des Textes und die Kreativität des Verstehens m.E. in|188 ein Gleichgewicht gebracht. Eine ausgezeichnete Einführung in die neuere semiotische Hermeneutik aus homiletischer Perspektive ist W. Engemann: »Unser Text sagt…« Hermeneutischer Versuch zur Interpretation und Überwindung des »Texttods« in der Predigt, ZThK 93 (1996) 450–480.

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möglich ist, findet keine statt; denn dann wird der Zusammenhang zwischen Text und Auslegung zufällig. Die postmoderne Hermeneutik befreit Interpretation und Interpreten vom tötenden Buchstaben. Aber deswegen weht in ihr noch nicht der lebendig machende Geist. Zwar weht der Geist, aber er macht nicht lebendig. Er tötet im Gegenteil oft sogar den Buchstaben. Und doch meine ich, ist eine Hermeneutik im Geiste der Freiheit möglich, bei der die Vorgaben des Textes nicht als Einschränkung, sondern als Chance zu neuem Reden erlebt werden – eine Hermeneutik zwischen offenbarungstheologischer Unterwerfung unter das Diktat heiliger Texte und postmoderner Resignation vor der Beliebigkeit verschiedener Interpretationen und Lesarten. Modell für solch ein Textverständnis kann die Sprache sein. Jede konkrete Sprache besteht aus einer Fülle von Regeln, Elementen und Mustern – lauter Einschränkungen aus einer viel größeren Fülle potentiell möglicher Strukturen. Und doch erleben wir unsere Sprache nicht als Einschränkung. Wenn wir erst einmal ihre Grammatik und ihr Vokabular internalisiert haben, können wir Sätze bilden, die bisher keiner gebildet hat. Und Menschen können sie verstehen, obwohl sie noch nie diese Sätze gehört haben. Gerade Sprachkompetenz, die Internalisierung linguistischer Regeln – und das heißt: von Einschränkungen –, befähigt zu ganz neuen Sprachäußerungen. Religionen sind Zeichensprachen. Die Bibel ist das Fundament der jüdischen und christlichen Zeichensprache. Wir erlernen diese Sprache fast genau so wie unsere Muttersprache. Wir internalisieren ihre Regeln und können dann aufgrund dieser internalisierten Regeln neue Sätze und Texte schaffen.10 Das geht oft unbewußt vonstatten. Theologie besteht zu einem großen Teil nur darin, die unbewußten Regeln der religiösen Zeichensprache bewußt zu artikulieren. Biblisch informierte Theologie sucht nach der verborgenen Grammatik der biblischen Zeichensprache. Wenn wir sie beherrschen, können wir neue Texte schaffen, die ganz und gar biblischen Geist atmen – und dennoch so nicht in der Bibel stehen. Mein Idealbild|189 von Predigt besteht in solchen Texten: Texten weniger über die Bibel als aus der Bibel heraus, Texten mit einer biblischen Grammatik, aber nicht unbedingt nur mit biblischen Vokabeln. Ich habe versucht, einige dieser biblischen Grundregeln zu formulie10  Ich nenne hier nur drei Veröffentlichungen, die für dies Verständnis von Religion als »objektiver Zeichensprache« wichtig sind: D. Ritschl, Die Erfahrung der Wahrheit. Die Steuerung von Denken und Handeln durch implizite Axiome, in: ders., Konzepte, Ökumene, Medizin, Ethik, Ges. Aufsätze, München 1986, 147–166. G. A. Lindbeck, Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter, ThB 90, Gütersloh 1994 (engl. 1984). Die Betonung der objektiven »Zeichen« entspricht im übrigen der Bedeutung des verbum externum in den reformatorischen Kirchen.

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ren.11 Ich nenne hier nur zwei. Einmal das Grundmotiv der Umkehr und das des Positionswechsels. Das Grundmotiv der Umkehr sagt: Alle Menschen haben in der Begegnung mit Gott eine Chance, ihr Leben grundlegend zu verändern. Keiner ist festgelegt auf das, was er einmal war. Und das gilt bis zur letzten Minute. Selbst der Verbrecher am Kreuz neben Jesus kehrt noch um. Dies Grundmotiv der Umkehr strukturiert biblische Texte von den Propheten bis hin zur Apokalypse. Wer in der Bibel lebt, wird es unwillkürlich internalisieren. Und natürlich kann er aufgrund solch einer Grundüberzeugung neue Texte schaffen, in denen sie zum Ausdruck kommt. Das Grundmotiv des Positionswechsels sagt: Vor Gott verkehren sich die Rangstufen von oben und unten. Er erniedrigt und erhöht. Wer der Erste sein will, soll der Letzte sein. Auch das begegnet uns in der ganzen Bibel vom Lied der Hanna bis zum Philipperhymnus. Wer in der Bibel lebt, wird dies Grundmotiv unwillkürlich internalisieren und von ihm getrieben neue Texte schaffen, die es zum Ausdruck bringen. Nun könnte man sagen: die Grammatik biblischen Glaubens bleibt, aber sein Vokabular ändert sich. Wir schaffen moderne Geschichten und Texte mit anderen Inhalten – aber aufgrund derselben Grundmotive. Das ist möglich. In Predigten jedoch sollte nicht nur die Grammatik der Bibel erhalten bleiben, sondern auch ihr Vokabular – dieser reiche Schatz an Bildern und Metaphern, an Personen und Erzählungen, an Worten und Wendungen, den wir in der Bibel haben. Wir können mit diesem Vokabular gewissermaßen spielen. Wir können es frei variieren. Wir können es auch mit neuen Vokabeln mischen. Vorausgesetzt ist nur eins: daß unsere Predigten den Grundmotiven der Bibel entsprechen. Je mehr wir uns an diese Regeln binden, um so mehr Freiheit haben wir, biblische Texte kreativ zu variieren oder durch neue Texte fortzuschreiben. Die entscheidende Differenzierung zwischen Grammatik der religiösen Zeichensprache und konkretem Text kann man sich an einem Grenzfall klarmachen, den jeder Prediger kennt: Es gibt biblische Texte, die uns gegen den Strich gehen. Und zwar nicht, weil hier ein totaliter aliter in unsere Welt einbricht, das wir als göttliches Geheimnis zu respektieren haben – sondern weil wir inhumane Wertungen finden, engherzige Aussagen, abergläubische Vorstellungen usw. Wenn man über Texte mit solchen Elementen predigt, predigt man gegen 11  In: Zeichensprache des Glaubens, 29–34, habe ich sehr kurz 15 solcher Grundmotive skizziert: das Schöpfungs-, Weisheits-, Wunder-, Hoffnungs-, Umkehr-, Exodus-, Glaubens-, Inkarnations-, Stellvertretungs-, Positionswechsel-, Agape-, Selbststigmatisierungs-, Gerichts-, Distanz- und Rechtfertigungsmotiv. Es handelt sich dabei nicht um eine geschlossene Liste von Grundmotiven. Die einzelnen Motive lassen sich auch anders zusammenfassen, einteilen und durch weitere ergänzen.

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den Text. Aber warum tun|190 wir es mit so gutem Gewissen? Oder genauer: Warum sollten wir es mit gutem Gewissen tun? Wer sich dessen gewiß ist, daß er die Grundmotive der Bibel internalisiert hat, korrigiert hier gewissermaßen die konkreten Texte von tieferliegenden biblischen Maximen her. Inhumane Wertungen widersprechen dem Liebesgebot – und oft noch vielem anderen. Wir predigen wohl gegen den Text, aber nicht gegen die Bibel, sondern im Sinne dessen, was wir als ihren Geist erkannt haben. Was hier die Grammatik der biblischen Zeichensprache genannt wird oder ihre Grundregeln und Grundmotive, wird in der traditionellen Hermeneutik nämlich der »Geist« genannt, der vom Buchstaben zu unterscheiden ist. Der Geist gibt Freiheit – Freiheit auch vom Buchstaben. Aber er gibt auch Freiheit zum Buchstaben, d.h. die Freiheit, mit den Buchstaben des biblischen Textes, mit seinem Vokabular, seinen Bildern, Personen und Erzählungen kreativ zu spielen. Jedem Prediger und Predigthörer werden genug Beispiele einfallen.12 Daher nur einige Stichworte: Man kann Texte in mannigfacher Weise variieren. Jede Metapher enthält Variationsmöglichkeiten. Das ist schon in der Bibel so. Ein Samenkorn ist dort vielerlei: es kann Menschen meinen, es kann das Wort meinen, es kann die Taten der Menschen meinen – es kann schließlich (im JohEv) Jesus selbst meinen, der als Samenkorn stirbt, um in der Gemeinde als Frucht der Auferstehung zu neuem Leben zu kommen. Die Bibel selbst lehrt uns solche Variationen. Wir können Erzählungen variieren, so wie es die verschiedenen Evangelien mit denselben Erzählungen tun. Wir setzen das fort, wenn wir die Geschichten aus der Perspektive eines anderen erzählen. Oder wenn wir einen neuen Beobachter einführen – wie etwa im JohEv den Lieblingsjünger, der das ganze Leben und Wort Jesu noch einmal aus einer vertieften (johanneischen) Sicht darstellen soll! Wir können Antwortbriefe an Paulus schreiben: Was haben die Galater wohl auf seine Epistel geantwortet? Wir können den Paulus als Streithahn darstellen. Und dann wieder (wie im Eph) als Apostel des Friedens! Für solche Variationen des Bibeltextes gibt es exegetisch und homiletisch gute Gründe. Drei exegetische Gründe seien angeführt: Erstens: Die Formgeschichte hat uns die große Fülle der biblischen Formensprache vor Augen geführt: Mythos, Sage, Hymne, Sentenz, Apophthegma, Gleichnis usw. Wir lesen die Bibel in der Mannigfaltigkeit ihrer Formen und Gattungen als Zeugnis eines Dialogs zwischen Gott und Menschen. Man pre12  Meine eigenen Predigtversuche kann man nachlesen in: Die offene Tür. Biblische Variationen zu Predigttexten, München 1990, 19922; Lichtspuren. Predigten und Bibelarbeiten, Gütersloh 1994. Manche der im folgenden angedeuteten Beispiele spielen auf dort veröffentlichte Predigten an sowie auf die Predigten von Petra v. Gemünden, die in »Zeichensprache des Glaubens«, 163–182, als Predigtbeispiele wiedergegeben sind.

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digt nicht im Geist der Bibel, wenn man alle Predigten in wenige Formen preßt mit weithin überraschungsfreiem Ablauf.|191 Zweitens: Traditions- und Redaktionsgeschichte haben gezeigt, daß dieselben Texte immer wieder neu formuliert und überarbeitet wurden – oft mit einem überraschend neuen Sinn, der den überlieferten Stoffen entnommen wurde. Wir predigen im Geiste der Bibel, wenn wir die biblischen Texte immer wieder neu variieren und modifizieren – etwa, indem wir das Gleichnis vom verlorenen Sohn als Gleichnis vom verlorenen Vater neu erzählen usw. Drittens: Intertextualitätsforschung hat gezeigt, das Neue Testament ist durch und durch ein intertextuell auf das Alte Testament bezogener Text und im Neuen Testament sind manche Texte auf andere intertextuell bezogen. Das explizite Zitat ist nur eine Grenzform solcher Intertextualität. Sie hat viele Formen. Auch Predigten sind intertextuelle Texte – bezogen auf Prätexte, die in ihnen aufgenommen, reproduziert, variiert und kommentiert werden. Wir predigen im Geiste der Bibel, wenn wir die Bibel in unseren Predigten in mannigfaltiger Weise intertextuell präsent sein lassen. Hinzu kommen zwei spezifisch homiletische Gründe. Wenn wir Texte durch Perspektivenwechsel variieren, also z.B. den Mord Abels an Kain aus der Perspektive eines Exegeten, Philosophen, Soziologen und Richters analysieren, dann demonstrieren wir schon durch die Form ein Stück Freiheit: Im Raum der Kirche sind viele Perspektiven zulässig. Das ist um so notwendiger, weil manche Menschen meinen, in der Kirche würden selbst die Gefühle normiert (abgesehen von allem anderen, was da angeblich normiert würde). Predigten mit einer pluralistischen Perspektive können dem entgegen wirken. Das zweite Argument hängt eng damit zusammen und wurde schon einmal genannt: Mannig­fache Perspektiven lassen den Hörern Freiheit, mit welcher sie sich identifizieren wollen. Freie und selbstgewählte Identifizierung aber geschieht bewußter und hat nachhaltigere Wirkung als das, wozu man überredet worden ist. Es geht also bei diesem Plädoyer für kreative, textvariierende und weniger überraschungsfreie Predigten nicht einfach um mehr Phantasie. Natürlich ist Abwechslung gut. Aber es geht darum, im biblischen Geiste zu predigen und schon in der Form der Predigt protestantische Freiheit zum Ausdruck zu bringen. Der Grundgedanke zur hermeneutischen Dimension der Predigt kann abschließend so zusammengefaßt werden: Predigen ist ein Geschehen, das vielen Einschränkungen unterliegt. Die Bindung an den biblischen Text kann als eine zusätzlich begrenzende Vorgabe für die Kommunikation zwischen Prediger und Gemeinde erlebt werden, aber auch als Anstoß zur Kommunikationserweiterung: Wer die Grammatik der Bibel internalisiert hat, kann im biblischen Geiste in Freiheit mit dem Buchstaben der Bibel spielen. Je sicherer er sich dessen ist, daß er die Grundmotive der Bibel verstanden hat und von ihnen durchdrungen ist,

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um so gelöster kann er mit dem konkreten Text und seinen Vokabeln umgehen. Bindung schafft Freiheit – eine Freiheit des Geistes gegenüber dem Buchstaben, die den Buchstaben nicht tötet, sondern ihm neues Leben gibt.|192 Aber will eine Predigt wirklich ein »Spiel« mit der Bibel sein? Will sie nicht vor allem das Leben erhellen? Damit kommen wir zur existenziellen Dimension der Predigt. III. Die existenzielle Dimension der Predigt Viele mißtrauen heute der Predigt, weil sie auf die Kraft des Wortes und des Gedankens setzt. Predigt sei Ausdruck eines Diktats des Kopfes über das Leben, ihre Überschätzung eine protestantische Krankheit. In einer Gesellschaft mit immer perfekter organisierten kognitiven Prozessen suche man gerade in Kirche und Gemeinde als Ausgleich dazu: ganzheitliche Meditation, liturgische Ästhetik, spirituelle Tiefenbohrungen. Die Predigt ist besonders der Kritik ausgesetzt, wenn sie als Textauslegung auftritt – vermittelt durch jene rationalen Methoden von Textauslegung, die wir »historisch-kritische Methoden« nennen. Ganz andere Auslegungstypen haben zur Zeit Konjunktur: Wer (wie E. Drewermann) in der Bibel die Bildersprache des Unbewußten sieht und mit eindringlicher Rhetorik überall das Ringen des Menschen um Ganzheit, Selbstverwirklichung und Individuation findet – und das mit einer massiven Polemik gegen die wissenschaftliche (d.h. historisch-kritische) Forschung verbindet –, der findet viel Beifall. Und das sollte uns nachdenklich machen. Denn worin besteht die Attraktivität dieser Auslegung? Sie wird als existenzerhellend erfahren. Sie zeigt: Im Bibeltext geht es um unsere Probleme. E. Drewermann hat einmal ein einprägsames Bild für den Unterschied zwischen seiner tiefenpsychologischen Methode und der historisch-kritischen Forschung gebraucht.13 Die Bibel ist wie eine Oase, von der wir uns beim Zug durch die Wüste der Geschichte immer weiter entfernen. Mit den üblichen rationalen Methoden können wir immer nur eine wachsende Distanz zwischen ihr und uns feststellen. Aber die Oase speist sich aus einem unterirdischen See, der tief unter der ganzen Wüste liegt. Durch Tiefenbohrungen psychologischer Exegese können wir das lebendige Wasser, das in der Oase an die Oberfläche kommt, überall anzapfen – mögen wir uns auch noch so weit von der Oase entfernen. Diese Tiefenbohrungen 13  E. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, 2 Bde, Olten/Freiburg 1984/85, Bd. 1, 14 f. Zur exegetischen Auseinandersetzung mit ihm durch protestantische Theologen vgl. G. Lüdemann, Texte und Träume, Göttingen 1992; J. Fischer, Heilendes Bild oder Wirklichkeit schaffendes Wort?, in: ders., Glaube als Erkenntnis, München 1989, 119–148; J. Frey, ­Eugen Drewermann und die biblische Exegese. Eine methodisch-kritische Analyse, Tübingen 1995; H. Raguse, Psychoanalyse und biblische Interpretation. Eine Auseinandersetzung mit E. Drewermann, Stuttgart 1993.

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reichen nämlich bis in den unbewußten Raum der Archetypen, der zeitlos alle Jahrhunderte verbindet. Nun bin auch ich für Tiefenbohrungen – nämlich für die Suche nach Tiefenstrukturen unter den Oberflächenstrukturen der Texte. Aber wir stoßen dabei nicht auf zeitlose Archetypen, sondern geschichtlich gewor-|193 dene Basismotive und Axiome des biblischen Glaubens, die geschichtlich tradiert werden und die manchmal mit archetypischen Mustern des Erlebens und Verhaltens übereinstimmen mögen, manchmal ihnen aber auch widersprechen. Auch diese geschichtlichen Basismotive sind zum Teil unbewußt. Aber sie sind bewußtseinsfähig. In ihnen steckt eine große Weisheit, die ich gerne als Anpassungsweisheit deute. In der biologischen Evolution haben alle Organismen einen Anpassungswert. Sie bilden in ihrer Struktur die Struktur der umgebenden Wirklichkeit ab. Sie erhalten Vorinformationen über sie. Aber diese Passung ist ganz unabhängig vom Bewußtsein. Das Auge ist ein Anpassungsorgan an das Licht, und es funktioniert schon seit Jahrmillionen, ehe moderne Biologen durchschauten, wie es funktioniert. Und so sind auch die Religionen große Zeichensysteme mit Anpassungswert an eine uns unbekannte letzte Wirklichkeit. Sie erhalten eine große Weisheit, die unseren rationalen Erklärungen vorausgeht. Predigten sind m.E. Reaktualisierungen der biblischen Zeichenwelt als Chance für eine Dialogaufnahme mit einer letzten Wirklichkeit. Die biblische Zeichenwelt enthält dabei eine Weisheit, die uns voraus ist. Diese Weisheit ist in den Grundmotiven, der Grammatik dieser Zeichensprache, enthalten. Aber diese Grammatik ist ratiomorph – so wie die uns zunächst unbewußten Regeln einer Grammatik ratiomorph sind. Sie lassen sich freilich rational bewußt machen, mögen sie auch in uns »vor-rational« wirksam sein. Was hier unter der Weisheit (oder der »ratiomorphen« Struktur) der biblischen Zeichensprache verstanden wird, sei an den beiden schon einmal erwähnten Grundmotiven gezeigt. Das Umkehrmotiv begegnet uns auch in der Wissenschaft – aber hier in einem auf kognitive Prozesse begrenzten Sinn. Wissenschaftliches Denken besteht in der Falsifikation von Hypothesen. Es ist eine ständige Umkehr im Denken. In der Bibel begegnet das Umkehrmotiv als Motiv des ganzen Lebens. Es geht nicht nur um die Korrektur unserer Irrtümer. Es geht um die Korrektur unseres Lebens – unserer Motivationen, Handlungen und Einstellungen. Umkehr ist »ratiomorph«. Wir finden sie in der entwickeltesten Form der Ratio, in der Wissenschaft. Aber sie durchdringt das ganze Leben. Der Positionswechsel steht hinter der bisher einzigen rationalen Form des Umgangs mit Macht: der Demokratie. Sie basiert darauf, daß die, die die Ersten sind, bereit sein müssen, die Letzten zu werden, d.h. sich abwählen zu lassen. Das bildet eine gewisse Garantie dafür, daß die Gesetze, die sie machen, so

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konzipiert sind, daß sie auch in der Position des Machtlosen unter ihnen leben können. In der Bibel aber ist das Positionswechselmotiv ein Motiv des ganzen Lebens. Es gilt im Verhältnis zu Kindern, Schwachen, im Alltag und in der Gemeinde. Es gilt vor Gott. Es ist ratiomorph – aber übersteigt seine rationale Erscheinung im Bereich moderner Politik. Durch Umkehr und Positionswechsel unterscheiden wir Menschen uns von den Tieren. Umkehr und Verhaltensänderungen sind in der biologischen Evolution nur durch das Aussterben von Arten und Gattungen|194 möglich, durch genetische Veränderungen aufgrund von Mutation und Selektion. Und wo wir Sozietäten von Tieren finden, gilt das Gegenteil des Positionswechsels. Das stärkste Leittier dominiert. Die Schwachen haben im Ernstfall das Nachsehen. Entziffern wir also die Grundmotive der Bibel, so können sie unser Leben in drei Dimensionen erhellen: Das persönliche Leben, in dem es bis ganz zuletzt die Chance der Umkehr gibt; das soziale Leben, das z.B. durch Institutionen des Positionswechsels Machtmißbrauch rational begrenzt; und schließlich unsere Stellung im Kosmos, in dem wir die ersten Freigelassenen der biologischen Evolution sind. Existenzerhellung wird verkürzt verstanden, wenn sie nur auf Persönliches bezogen wird. Wie aber schafft es die Predigt, in diesen drei Dimensionen unseres Lebens existenzerhellend zu wirken? Nicht durch Aussenden emotionaler Impulse! Nicht durch ethische Appelle! Das Wichtigste, was hier geschieht, ist immer wieder eine kognitive Umstrukturierung unserer Wahrnehmung und unseres Denkens. Veränderung beginnt auch hier im Kopf. Veränderung beginnt in einem neuen Denken, Urteilen, Wahrnehmen, aber auch in einem neuen Vorstellen, Phantasieren und Imaginieren. All das gehört zu den kognitiven Prozessen. Emotionale Wirkungen der Predigt sind von ihnen abhängig. Was kognitive Umstrukturierung ist, können wir an den Gleichnissen lernen: Natürlich kann man auf den verlorenen Samen starren und sich durch ihn faszinieren lassen; aber wir können auch auf den wachsenden Samen schauen und uns über dessen wunderbare Vermehrung mehr freuen als über die Verluste (Mk 4,26 ff). Natürlich können wir die gleiche Belohnung aller Arbeiter unabhängig von ihrer Arbeitszeit als ungerecht anprangern; aber wir können in ihr auch die Güte dessen sehen, der die Letzten wie die Ersten belohnt (Mt 20,1 ff). Natürlich können wir in der Feier für den zurückgekehrten verlorenen Sohn eine ungerechtfertigte Bevorzugung des Versagers sehen; aber wir können sie auch als Feier des Lebens verstehen, das noch einmal von vorne beginnen darf (Lk 15,11 ff). Kognitive Umstrukturierung besteht darin, das halb leere Glas als halb voll zu betrachten – mit enormen Auswirkungen auf Motivation und Emotion. Die Diskreditierung kognitiver Prozesse in der Predigt, die in der tatsächlich gelebten Homiletik heute verbreitet ist, ist m.E. ein Verhängnis – nicht, weil

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ich Gefühlen und Motivationen zu wenig Raum einräume, sondern weil wir vor allem über kognitive Bilder Umstrukturierungen von Gefühlen und Motiven bewirken können. Meine These ist: Im Zentrum protestantischer Predigt steht eine der gewaltigsten kognitiven Umstrukturierungen der Menschheitsgeschichte: Der Sünder darf sich sub specie dei als Gerechter betrachten. Wobei Gott freilich nicht nur ein Glas, das halb leer von guten Werken ist, als ein halb volles Glas betrachtet. Gott kann schöpferisch umstrukurieren: In seinen Augen ist der Sünder ein Gerechter und das kann dem gerechtfertigten Sünder Motivation und Kraft geben, zu werden, was er in Gottes Augen schon immer ist! Wenn wir die Geschichten und Bilder der Bibel immer wieder aktualisieren, um mit ihrer Hilfe diese Rechtferti-|195 gung des Sünders zuzusprechen, so vollziehen wir das, was ich »kognitive Umstrukturierung« nenne! Wir ermöglichen eine neue Wahrnehmung von uns selbst, von anderen Menschen, von Welt und Gott. Kognitive Umstrukturierung wirkt dabei als Indikativ, nicht als Imperativ. Sie läßt etwas neu sehen. Man kann sie nicht befehlen, man kann sie nur ermöglichen! Daher sei kurz skizziert, inwiefern der zentrale Inhalt der protestantischen Predigt, die Rechtfertigungsbotschaft, eine Chance bedeutet, in alle existenzielle Dimensionen des Lebens durch kognitive Umstrukturierung hineinzuwirken. 1) Zunächst ein paar Worte zur persönlichen Dimension – insbesondere zur emotionalen Bedeutung der Rechtfertigungsbotschaft. Depressive Stimmungen sind Folge vieler psychischer Probleme, keineswegs nur ein Merkmal depressiver Persönlichkeitsstrukturen. Depressive Stimmungen sind normal. Aber sie verfestigen sich durch negative Selbstkommentierung. Es mag vieles gegen den eigenen Willen verlaufen, Mißerfolg oder Schicksalsschläge oder eine notorische Diskrepanz zwischen Wünschen und Realität – zur depressiven Stimmung verfestigt sich all das erst, wenn wir es generalisierend kommentieren. Wenn wir zu uns selbst sagen: »Ich bin jemand, der immer Pech hat« anstatt: »Ich habe Pech gehabt!«. Oder »Ich bin ein Versager« anstatt: »Das ist mir mißlungen«. Oder »Mein Leben ist eine Wüste« anstatt: »Ich muß jetzt durch diese Wüste hindurch«. Der Kern der Rechtfertigungsbotschaft ist geeignet, solche depressionsschaffende Generalisierungen aufzuheben: Sie trennt Person und Werk, Person und Status, Person und Geschick. Sie sagt: Was auch immer man getan hat, das berührt nicht das grundsätzliche Ja Gottes zum eigenen Leben. Was immer mir widerfahren ist, das kann nicht in Frage stellen, daß ich ein Geschöpf und ein Kind Gottes bin. Was immer ich für eine Rolle einnehme, das kann nicht daran rütteln, daß ich in meiner Rolle nicht weniger wichtig bin als der höchste Engel im Himmel. Wir haben in jedem Gottesdienst depressiv gestimmte Menschen. Wir helfen ihnen am besten dadurch, daß wir ihnen ermöglichen, ihre kognitive Selbstwahrneh-

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mung zu verändern. Die Rechtfertigungsbotschaft hat einen antidepressiven Gehalt. Und das heißt: Sie hat emotionale Bedeutung.14 |196 2) Zur sozialen Dimension nur wenige Worte: die Rechtfertigungsbotschaft läßt uns nicht nur bei uns selbst, sondern bei jedem Menschen zwischen Person und Werk unterscheiden. Jeder Mensch wird im Lichte einer unbedingten Anerkennung ohne Rücksicht auf Werke, Status, Erfolg, Mißerfolg, Herkunft und Geschlecht gesehen. Es muß nicht breit entfaltet werden, warum in dieser Wahrnehmung anderer Menschen vor jedem konkreten ethischen Imperativ der Schlüssel zur sozialen Verantwortung liegt. Es gibt zwischen einer so verstandenen Rechtfertigungslehre und den vielen politischen Programmen des 20. Jahrhunderts keine Äquidistanz. 3) Es mag befremden, daß in meinen Überlegungen auch der kosmischen Dimension menschlicher Existenz für die Predigt solch ein großer Wert zugeschrieben wird. Unsere Predigten sind an diesem Punkt verarmt. Sie widmen sich selten der Aufgabe, dem Menschen einen Platz im riesigen Kosmos zuzuweisen. Und doch ist das wichtig. Wir sind als Menschen die ersten Freigelassenen der Schöpfung. Und auf unserem Planeten liegt der Faden der weiteren Evolution (auch) in unseren Händen. Wir haben mit unserer Kultur und unserer Religion einen Schritt über die Grenzen biologischer Evolution getan. Innerhalb der biologischen Evolution unterliegen wir dem Selektionsprinzip, der Verwerfung des Nicht-Angepaßten zugunsten dessen, was besser geeignet ist, Lebensressourcen auf Kosten anderer auszunutzen. Das Evangelium mit der Rechtfertigungsbotschaft in der Mitte ist Aufhebung dieses Selektionsprinzips: Wenn Menschen unbedingt anerkannt werden, wird nicht mehr selegiert zwischen Guten und Bösen, Geeigneten und Ungeeigneten, Tüchtigen und Unfähigen. Insofern bricht mit der Rechtfertigungsbotschaft mitten in diese Welt eine andere Wirklichkeit hinein, die Grundgesetzen dieser Welt widerspricht.15 14  Beim Formulieren dieses Abschnittes habe ich Aussagen von Pfarrern und Pfarrerinnen im Ohr, die auf einem Pfarrkonvent versicherten, daß die Rechtfertigungsbotschaft des Paulus (und der Reformation) für sie in der Seelsorge keine Hilfe sei. Wenn ich im folgenden zu zeigen versuche, daß sie einen großen »therapeutischen Wert« besitzt, so meine ich nicht, daß sie in diesem Wert aufgeht. Die neuere Paulusexegese hat gezeigt, daß die Rechtfertigungsaussagen bei Paulus die Dimension des individuellen Lebens weit übersteigen: Rechtfertigung wird entweder als kosmisches Geschehen (E. Käsemann) oder als ein soziales Geschehen – die Ermöglichung der Aufnahme von Menschen aus allen Völkern in die Gemeinde (K. Stendahl) – gedeutet. Dabei gelangt Paulus keineswegs zu widerspruchsfreien Aussagen. Einen guten Überblick über die neue Paulusdiskussion gibt Ch. Strecker: Paulus aus einer neuen Perspektive, Kirche und Israel 11 (1996) 3–18. 15  Grundzüge solch einer evolutionären Sicht des biblischen Glaubens habe ich skizziert in: Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München 1984; Evolutionäre Religionstheorie und biblische Hermeneutik, WzM 37 (1985) 107–118; L’herméneutique biblique et la recherche de la vérité religieuse, RThP 122 (1990) 485–503. Ausdrücklich sei jedoch betont: Es kommt mir nicht darauf an, daß die kosmische Dimension der Predigt in den oben nur kurz

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10.  Neuere Ansätze in der Homiletik

Für die Predigt gilt m.E.: In allen Dimensionen sollte sie Existenzerhellung sein – durch kognitive Umstrukturierung unserer Wahrnehmung unserer selbst, der anderen Menschen und des Kosmos. Wir haben hier eine Botschaft, die man immer wieder Menschen zurufen muß, damit sie in Gewißheit und innerem Frieden nach Hause gehen können, in der Ge-|197 wißheit: »Ich bin unendlich viel wert« – und mit erneuter Kraft, sich für die einzusetzen, die in unserer Gesellschaft wie Dreck behandelt werden, und zu wissen: als Ebenbild Gottes haben wir einen Auftrag, diese Schöpfung zu bewahren. Das Thema protestantischer Predigt ist in allen existenziellen Dimensionen: Freiheit – Freiheit von innerer Lähmung, Freiheit von sozialer Kontrolle, Freiheit von der Herrschaft des Selektionsprinzips. Diese Freiheit soll die pro­ testantische Predigt nicht nur inhaltlich predigen, sondern als Form verkörpern, als Freiheit, sich selbst und die Welt neu und anders zu sehen durch eine immer wieder erneuerte kognitive Umstrukturierung. (Und nebenbei: Eben darin bestehen diese homiletischen Bemühungen. Sie sollen dazu helfen, die unzweifelhaften Einschränkungen, unter denen Predigten stattfinden, auch einmal anders zu sehen: als Chancen! Sie möchten durch kognitive Umstrukturierung zum Predigen motivieren, Freiheit von jenen inneren Blockaden schaffen, die beim Predigen demotivieren.) Es gibt noch weitere homiletische »Killerparolen«, die bei der Predigtvorbereitung blockieren können, vor allem die Erwartung: »Es kommen ja doch nur wenige!« Oder: »Es kommen immer weniger!« Der Umgang mit Erfolgslosigkeitserfahrungen dieser Art ist für die innere Motivation aller in der Gemeinde tätigen Menschen heute entscheidend. Was kann man in einer solchen Situation zu sich selbst (und zu anderen) sagen? Noch immer gilt: »Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen« (Mt 18,20). Das ist auch für den Gottesdienst von Bedeutung. Wo immer ein Funke Ewigkeit in dies Leben schlägt, geschieht etwas, das unendlichen Wert hat – unabhängig von der Zahl der Versammelten. Ferner gilt: Die christliche Gemeinde versammelt sich am Sonntag an vielen Orten. Christen sind eine Minorität, aber eine auf der ganzen Welt verbreitete Minorität. Das ökumenische Bewußtsein, mit vielen auf der ganzen Welt verbunden zu sein, sollte gerade in kleinen Gottesdiensten artikuliert werden. Schließlich ist an den Gedanken der Stellvertretung zu erinnern. Die wenigen, die zusammenkommen, um Gott zu loben und zu danken, handeln auch stellvertretend für die, die es (aus welchen Gründen auch immer) nicht tun oder nicht tun können.

angedeuteten evolutionstheoretischen Kategorien zum Ausdruck kommt. Wichtiger ist, daß sie überhaupt präsent ist – sei es in schlichter Entfaltung biblischer Schöpfungsaussagen, sei es in phänomenologischer Erhellung unseres Schöpfungserlebens oder in poetischen Visionen der Natur, wie sie in den lateinamerikanischen Psalmen Ernesto Cardenals enthalten sind. Vgl. E. Cardenal, In der Nacht leuchten die Wörter, Das poetische Werk Bd. 1, GTB 441, Gütersloh 1987, 129–164, bes. S.138 f., 154–57, 162 f. Einen guten Überblick über die vielfältigen Wege, Theologie und Naturwissenschaft in Beziehung zu setzen, ist V. Mortensen: Theologie und Naturwissenschaft, Gütersloh 1995.

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Insgesamt sollte man bedenken: Wenn wenige gegen den allgemeinen Trend kommen, dann sind diese wenigen um so mehr zu achten und zu lieben. Begegnet man ihnen mit einem »klammheimlichen Mißmut« darüber, daß es nur so wenige sind, so antwortet man in einer menschlich unfairen Weise auf ihre Bereitschaft. Daß wir unabhängig davon alles tun sollten, um den Gottesdienstbesuch möglichst vieler zu ermöglichen, versteht sich von selbst. Aber in geistigen und geistlichen Fragen gilt: Erfolg hat man nicht dadurch, daß man sich innerlich von Erfolgen abhängig macht.

IV. Die theo-logische Dimension der Predigt Unser Thema sind die Chancen der Predigt. Die entscheidende Chance der Predigt ist, daß sie einen Dialog mit Gott ermöglicht, fortführt und vertieft. Kein Prediger hat dieses Ziel in seiner Hand. Er kann seine Predigt noch so gut vorbereiten, sie muß deswegen nicht zur Erfüllung kommen. Wir kennen im Leben vergleichbare Kommunikationsformen: Eine Liebeserklärung kann noch so perfekt formuliert sein – und es gibt zwei-|198 fellos bessere und schlechtere Liebeserklärungen –, aber ob sie ihr Ziel erreicht, hängt nicht allein von ihr ab. Ob sich der andere Mensch ihr öffnet oder nicht, liegt allein in seiner Hand. Ein Musikstück kann mit viel Technik vorbereitet, mit Fleiß geübt worden sein – und doch ist eine gelungene Aufführung mehr als alles, was durch Fleiß erreicht werden kann. Wir sprechen ja nicht umsonst in altväterlicher Sprache vom »begnadeten Künstler«. Die Predigt ist irgendwo zwischen Liebeserklärung und Kunstwerk angesiedelt. Sie muß geplant, mit Arbeit vorbereitet sein – aber sie hat deswegen keine Garantie, daß sie bewirkt, was ihre eigentliche Intention ist. Aber sie kann so geplant sein, daß sie an dieser Intention von vornherein vorbeigeht. Predigten, die politische, psychotherapeutische oder pädagogische Vorträge sind, verfehlen ihr Ziel. Denn die biblische Zeichensprache enthält wohl eine Menge politisch, psychotherapeutisch und pädagogisch Relevantes, aber in ihr ist alles auf ein Grundaxiom bezogen: auf den einen und einzigen Gott. Eine Predigt, die nicht durch und durch auf Gott bezogen ist, auch dort, wo sie ihn nicht explizit erwähnt, wird schnell zu einer beliebigen Rede, mag sie uns unter anderen Aspekten auch noch so sympathisch sein. Hier begegnet uns freilich die Grundproblematik von Glauben und Religion in der modernen Zeit: Für manche Zeitgenossen ist der Glaube an Gott eine Art Transzendenzdiktatur über das Leben. Glauben ist für sie eine Weigerung, endlich selbständig und mündig zu werden. Diese Grundproblematik allen Redens von Gott kann hier nicht angemessen diskutiert werden. Aber es sei darauf hingewiesen, daß der Gott der Bibel sich selbst als einen Gott definiert, der aus Unfreiheit in Freiheit führt. Das erste Gebot lautet – in der Fassung des Kleinen Katechismus –: »Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir!« In postmodernen Zeiten wird solch ein Monotheismus oft als

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Diktatur eines Prinzips über alles andere verstanden. Der Glaube an den einen und einzigen Gott ist in den Ruf geraten, Unterdrückung der anderen Götter (alternativer Werte, Realitäten, Sichtweisen) zu sein. Aber wenn wir die volle Fassung des ersten Gebots in der Bibel (und nicht im Kleinen Katechismus) lesen, können wir dieser Verwerfung aller anderen Götter vielleicht doch etwas abgewinnen. Dort steht nämlich (ebenso wie im Heidelberger Katechismus): »Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.« Und erst dann folgt: »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.« Dieser Gott definiert sich zuerst als ein Gott, der in die Freiheit führt. Und erst dann warnt er davor, sich anderen Göttern anzuschließen. Dadurch werden die anderen Götter als solche definiert, die nicht in die Freiheit führen. Und daraus möchte ich schließen: Jeder Gott, der nicht in die Freiheit führt, ist eine Götze. Auch der christliche Gott wird zum Götzen, wenn er nicht in die Freiheit, sondern in Unfreiheit führt. Predigten im Namen dieses Gottes sollten daran erkennbar sein, daß sie in die Freiheit führen. Aber gerade in diesem Zentrum der Predigt, dort, wo sie den Funken der|199 Freiheit ins Leben werfen und Menschen mit dem Geheimnis Gottes konfrontieren will, ist der Prediger in erhöhter Gefahr, seine innere Freiheit zu verlieren. Denn die Aufgabe der Predigt ist so groß, daß er ihr gegenüber tiefe Versagensangst empfinden muß. Wie soll er in einer sich säkularisierenden Welt mit der Ohnmacht seiner Worte Transzendenz gegenwärtig machen, so daß sie mitten im Leben erfahren wird? Wie soll er, wenn ihm doch selbst oft der Himmel verschlossen scheint, durch Worte einen Spalt in die abgeschotteten Höhlen modernen Bewußtseins hineintreiben? Wie soll er in einer Gesellschaft, in der das Licht des wahren Lebens nur gebrochen leuchtet (und oft auch in seinem Herzen nur kümmerlich glimmt), Funken dieses Lichtes sprühen lassen? Kleinlaut liest er in homiletischen Büchern all die sorgfältig ausgedachten und gut gemeinten Anweisungen dessen, was er tun soll. Eingeschüchtert stoßen er oder sie auf lauter Verbote dessen, was sie nicht tun sollen. Beides, Gebote und Verbote, überfordern. Hören wir uns einmal die Zehn Gebote der Homiletik an:   1. Du sollst von dem einen und einzigen Gott predigen, der aus aller Sklaverei herausführt, und von nichts sonst, damit ein Funken seiner Freiheit ins Leben fällt.   2. Du sollst in Bildern und Gleichnissen predigen und dabei alles auswerten, was im Himmel und was auf Erden und was unter der Erde ist!   3. Du sollst den Namen Deines Gottes nicht mißbrauchen, um Deine persönlichen Probleme auf der Kanzel auszuagieren!   4. Du sollst am Sabbat intensiv an Deiner Predigt arbeiten und von Deiner Familie, von Mitarbeitern und der Gemeinde verlangen, daß sie Dich in Ruhe lassen!   5. Du sollst alle Autoritäten in Deiner Predigt mit Achtung behandeln, besonders, wenn Du sie schroff kritisieren mußt, damit es Dir wohl ergehe in Deiner Stadt und Deiner Gemeinde!   6. Du sollst Deine Gemeinde nicht durch Langeweile töten!

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  7. Du sollst in Deiner Predigt keine erotischen Nebensignale senden!   8. Du sollst gute Predigtgedanken stehlen, wo immer Du sie findest!   9. Du sollst kein falsches Zeugnis geben, hinter dem Du nicht persönlich stehen kannst! 10. Du sollst nicht eifersüchtig werden auf die Predigtkunst des Pfarrers und der Pfarrerin in Deiner Nachbarschaft, weil sie mehr Zulauf haben als Du!

Angesichts dieses homiletischen Dekalogs muß sich jeder Prediger als Sünder erleben. Wenn er sieht, wie die Predigtsituation immer schwieriger wird und gleichzeitig die homiletische Kunst immer komplizierter, so wird er die Homiletik bald nicht mehr als Hilfe und Motivationsimpuls erleben, sondern als vorwurfsvolle Anklage. Sie wird zur gesetzlichen Forderung und nimmt so dem Prediger das Wichtigste, das er hat: seine innere Freiheit. Die Zehn Gebote der Homiletik, so richtig sie sind, werden dann zu zehn homiletischen Killerparolen. Wie soll der Prediger den Funken der Freiheit in das Leben werfen, wenn er sich von außen einer ständig überfordernden Predigtsituation und von innen einer ebenso überfordernden Homiletik gegenüber sieht? Darum ist die schlimmste homiletische Killerparole der innere Satz: »Ich mache ja doch alles falsch!« Daher sei am Ende betont: In einer protestantischen|200 Homiletik gilt die Rechtfertigungsbotschaft an erster Stelle dem Prediger selbst. Die große Aufgabe der Predigt ist nicht erträumten, sondern real existierenden Menschen anvertraut – Menschen mit Widersprüchen, mit Unfreiheit in ihrem Inneren, mit homiletischen Defiziten. Den perfekten Prediger gibt es nicht. Predigten ohne homiletische Defizite wurden noch nicht gehalten. Besser ist es, wir begehen unsere homiletischen Fehler mit Selbstbewußtsein. Dann kommt immer noch mehr »rüber«, als wenn wir homiletische Richtigkeiten mit innerlich gebrochenem Selbstvertrauen vortragen. Eine gute Homiletik muß daher den Prediger lehren, sich von der Homiletik am Ende wieder frei zu machen. Protestantische Predigten sind erst dann wirklich protestanisch, wenn sie in Inhalt und Form vom Geist der Freiheit bestimmt sind. Aber wo es Freiheit gibt, wachsen auch die Gefahren der Unfreiheit. Und sie müssen uns bewußt sein. In diesem Sinne, als Warnsignale, haben die hier zitierten homiletischen »Killerparolen« eine wichtige Funktion – dann nämlich, wenn man sie nicht als Beschreibung des Wesens der Predigt versteht, sondern als Charakterisierung ihrer Gefahren. Predigt kann zum Diktat des Predigers über die Gemeinde oder zum Diktat der Gemeinde über den Prediger werden. Freiheit ist weder das eine noch das andere. Aber es gibt eine Chance, gerade bei einer einseitigen Kommunika­ tionsform zu einer Freiheit des Predigers wie des Hörers zu gelangen, bei der auf beiden Seiten Tiefendimensionen angesprochen werden, die sonst ausgeklammert bleiben.

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Predigt kann ein Diktat des Textes sein oder ein Diktat der Auslegung über den Text. Freiheit ist weder das eine noch das andere. Freiheit besteht darin, daß man den Geist des Textes in den Tiefenstrukturen seiner »Grammatik« erfaßt – und eben dadurch mit dem Buchstaben kreativ spielen kann. Dann hat man beides: Freiheit vom Buchstaben und Freiheit zum Buchstaben. Predigt kann ein Diktat des Kopfes über das Leben oder irrationaler Gewißheiten über den Kopf sein. Freiheit ist weder das eine noch das andere. Freiheit besteht darin, daß das ganze Leben einschließlich des Kopfes von denselben Grundmotiven bestimmt wird – und sowohl Änderungen im Kopf (also kognitive Prozesse und kognitive Umstrukturierungen) auf tieferliegende Motivationen und Emotionen einwirken als auch Änderungen emotionaler und motivationaler Einstellungen den »Kopf« frei machen für neue Einsichten. Predigt kann eine Diktatur der Transzendenz sein – oder deren Manipulation durch kluge Rhetoriker. Aber das ist keine Freiheit. Solche Predigten sind kein Zeugnis von dem Gott, der aus dem »Sklavenhaus« in die Freiheit führen will. Jede Predigt ist entweder Predigt von diesem Gott, oder sie ist Götzendienst. Wir sollten darüber nachdenken, was man tun kann, um Predigten zu verbessern. Dazu kann man viel Handwerkliches und manchmal sogar Künstlerisches anbieten. Predigten sind Ergebnis harter Arbeit an Tex-|201 ten und Sprache.16 Aber am Anfang steht m.E. die Aufgabe, die homiletischen Killersätze zu überwinden, die uns blockieren, und sie durch realistische homiletische innere Leitsätze zu ersetzen – Leitsätze, die die einschränkenden Bedingungen klar erkennen, unter denen Predigten stattfinden; aber Leitsätze, in denen in diesen Einschränkungen auch Chancen gesehen werden. Eine Predigt, die andere motivieren soll, beginnt damit, daß sich Prediger selbst zum Predigen motivieren. Daß sie sich auf die drei bis vier Stunden Arbeit freuen, die sie zur Predigtvorbereitung haben17 – nicht nur im Hinblick auf die Gemeinde, sondern im 16  Da ich oft gefragt werde, was man konkret zur Verbesserung der Predigtpraxis tun könne, darf ich hier einen Vorschlag skizzieren. Er beruht auf der Überlegung, daß wir am effektivsten durch Feed-back lernen. Mein Vorschlag lautet: Jedes Jahr sendet jeder Prediger und jede Predigerin (einschließlich des Superintendenten oder Dekans) eine anonyme und anonymisierte Predigt ein, die von einem Ausschuß des Pfarrkonvents evaluiert wird. Dieser Ausschuß nimmt eine kleine Auswahl unter den eingesandten Predigten vor, die von allen im Pfarrkonvent besprochen werden. Beim Austauschen der Predigten und bei der Evaluierung kann man ggf. auch mit einem benachbarten Pfarrkonvent zusammenarbeiten. Ein solches Verfahren aktiviert die in den Konventen ja schon immer vorhandene große homiletische Kompetenz – und das ist fast noch wichtiger als die Vermittlung der neuesten homiletischen Theoriegebilde. 17  Wenn ich von drei bis vier Stunden Predigtarbeit spreche, so setze ich voraus, daß man am Montag den Predigttext des nächsten Sonntags gelesen und ein wenig meditiert hat, daß er eingewebt wird in den Bewußtseinsstrom der ganzen Woche, so daß die drei bis vier Stun-

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Hinblick auf sich selbst: Weil jede Predigt eine Chance ist, sich selbst ein wenig zu entwickeln und zu entfalten. Weil man selbst etwas davon hat, auf das Bibelwort zu lauschen, seine Erfahrungen mit Gemeinde und Welt durchzuarbeiten, sein persönliches Leben zu reflektieren. Dazu aber müssen wir vielleicht einige innere Blockaden wegräumen, die uns die Predigtarbeit als Ergebnis mannigfacher Diktate von oben oder von unten erscheinen lassen, Killersätze, die unsere Freiheit ersticken, Killersätze, die Versagensangst und Mißerfolgsorientierung in uns schaffen. Erst wenn Prediger und Predigerinnen den Weg zur Predigt als ein Stück persönlicher Freiheit erleben, erst dann wird die Predigtvorbereitung wieder jenes Zentrum protestantischer Spiritualität des Pfarrers sein, das sie jahrhundertelang war. Machen wir uns immer wieder klar: Es gibt keine größere sprachliche Gestaltungsaufgabe als eine Predigt: Über jeder steht die Verheißung, daß durch menschliche Worte18 ein|202 Funke Ewigkeit in das Leben von Menschen fällt. Eine Predigt ist erst dann eine protestantische Predigt, wenn dieser Funke ein Funke Freiheit ist. Denn auch für die Predigt gilt: »Zur Freiheit hat uns Christus berufen. So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!« (Gal 5,1)

den am Samstag nur noch die Ausarbeitung einer schon vorher sich abzeichnenden »Predigtidee« sind. 18  Die Hochschätzung des Wortes habe ich in diesem Aufsatz vielleicht allzu selbstverständlich als protestantische Tradition vorausgesetzt. Ich weiß, daß viele Protestanten heute den Gottesdienst als ein ästhetisches und spirituelles »Gesamtkunstwerk« erleben, in dem die Predigt nur einen kleinen Anteil hat. Nach meinem Verständnis ist die Predigt jedoch der zentrale Teil. Nur ein Argument sei hier ausgeführt, das vom Gedanken der Freiheit ausgeht. Wer die Sakramente so sehr aufwertet, daß sie als non-verbale Kommunikation neben das Wort treten und ihm gegenüber gar einen Mehrwert darstellen, der soll bedenken: Das Wort wirkt frei. Es gibt keine Zulassungsbedingungen fürs Hören. Es gibt ebensowenig eine Effektivitätskontrolle. Sakramente aber werden seit je her mit Zulassungsbedingungen dargeboten. Sie sind daher Ansatzpunkt für kirchliche »Herr-|202 schaftsinteressen«. Bis heute etwa wird in der katholischen Kirche die Eucharistie den Geschiedenen verweigert! Die Zentralstellung des Wortes und die zentrale Bedeutung der Freiheit gehören im Protestantismus zusammen. Natürlich könnte man einwenden: Aber ist das Wort nicht an das Amt gebunden? War der Pfarrer als legitimierter Prediger des Wortes nicht immer auch ein Stück innerkirchlicher Herrschaft im Protestantismus? Man denke nur an den erst in diesem Jahrhundert aufgehobenen Ausschluß von Frauen vom Pfarramt! Zwar wird das Wort ohne Zugangsbedingungen jedem angeboten. Aber die Kanzel wurde um so mehr mit Zugangsbedingungen »verbaut«. Zweifellos: Entscheidend ist, wie demokratisch wird über den Zugang zur Kanzel entschieden! Entscheidend ist ferner, wie das verbum externum verstanden wird. Wird es zum entscheidenden Vermittler des Heils, so hat der Prediger eine große »Macht«. Wird es aber erst dort zum Vermittler von Heil, wo es durch ein verbum internum (durch unverfügbare Evidenzerlebnisse im Herzen des Hörers) zum Wort Gottes wird, dann ist die Macht des Predigers gering: Ohne dies verbum internum ist nur toter Buchstabe, was er sagt; durch dies »innere Wort« aber wird es zum lebendigmachenden Geist.

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10.3  Michael Herbst: Vollmächtig und missionarisch predigen  Michael Herbst/Matthias Scheider, … wir predigen nicht uns selbst. Ein Arbeitsbuch für Predigt und Gottesdienst, Neukirchen-Vluyn: Neukirchner Verlag/Aussaat, (2001) 32008, S. 17–30 (in Auszügen).

Theologische Grundlegung Mit Vollmacht predigen […] In der Verkündigung des Evangeliums will Gott zu Wort kommen und sich in Jesus Christus durch den Heiligen Geist zu erkennen geben. Wir haben deshalb die Aufgabe, den Menschen mitzuteilen, was sie unbedingt von ihm erfahren sollen. Gegründet auf biblische Texte, in denen er sich der damaligen Gemeinde eröffnete, kündigen wir die Gegenwart des sich selbst treu bleibenden Herrn der heutigen Gemeinde an.1 So findet es sich auch in den meisten zeitgenössischen Predigtlehren. Jürgen Ziemer z.B. schreibt: »Die Predigt ist in der Regel bezogen auf Texte der Heiligen Schrift. In der äußeren Bindung an einen bestimmten Bibelabschnitt findet die innere Bindung an das Wort Gottes ihren Ausdruck.«2 Und Horst Hirschler sagt es so: »Die Predigt soll der Hörergemeinde den biblischen Text als Hilfe zum Leben erschließen.«3 So entspricht es auch dem apostolischen Auftrag, den Paulus wie eine höchste Wertschätzung durch Gott selbst empfindet: »Weil Gott uns für wert geachtet hat, uns das Evangelium anzuvertrauen, darum reden wir, nicht, als wollten wir den Menschen gefallen, sondern Gott, der unsere Herzen prüft« (1. Thess. 2,4). Wie kann es aber gelingen, dass es zwischen dem Bibelwort und der heutigen Gemeinde wieder funkt, und dass die Predigt der Ort ist, an dem es funkt? Damit stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Vollmacht in der Verkündigung.

1  So formuliert es Manfred Seitz in seinem »Homiletischen Exerzitium«, Erlangen Masch. Man., u.a. 1979, 1. [Die bibliographischen Angaben wurden entsprechend dem buchinternen Literaturverzeichnis ergänzt.] 2  [ Jürgen Ziemer, Der Text, in: Karl Heinz Bieritz/Christian Bunners/Hartwig Daewel u.a., Handbuch der Predigt, Berlin 1990, 207–248, hier: 209.] 3  [Horst Hirschler, Biblisch predigen, Hannover 21988, 15.]

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1. Vollmacht – ein verlorener Begriff 4 Gehen wir an das Thema »Mit Vollmacht predigen« so heran, wie es gute Theologen-Sitte ist! Durchforsten wir also unseren homiletischen Bücherschrank, Abteilung: Lehrbücher. Inhaltsverzeichnis und Register. Stichwort: »Vollmacht«. Ergebnis: Fehlanzeige. Horst Hirschler,|18 Wolfgang Trillhaas, Peter Bukowski: Fehlanzeige. Hans-Werner Dannowski, Helge Stadelmann, Handbuch Predigt: Fehlanzeige. Auch die Alten: Leonhard Fendt, Helmuth Schreiner, Julius Schieder: Fehlanzeige. Der Katholik Rolf Zerfaß: Fehlanzeige. Ab ins Ausland, aber: Gustav Windren (Schweden) und Haddon Robinson (USA): Fehlanzeige.5 Einzig Rudolf Bohren hat sich in seiner 1971 erschienenen »Predigtlehre«6 mit der Frage der Vollmacht in der Verkündigung beschäftigt. Natürlich ist die Sache bei den meisten irgendwie zu finden: unter der Überschrift »Wort und Geist« oder »Die Wirkung der Predigt« oder »Der Prediger« – da findet sich schon manches, aber der theologische Begriff Vollmacht oder sein griechisches Äquivalent §xous6a (»exousia«) spielt in den Homiletiken nach dem Zweiten Weltkrieg keine Rolle mehr. Vermutlich ist damit mehr verloren gegangen als nur ein Begriff. Christian Möller hat einmal beklagt, dass wir nur noch nach der Kompetenz fragen und Wettbewerbsfähigkeit suchen: Pfarrer und Pfarrerin werden »nicht an der Reinheit ihrer Gesinnung, sondern an der Kunstfertigkeit ihrer professionellen Arbeit und am Erfolg ihres Handelns gemessen«7. Die Forderung nach immer mehr Kompetenz in mehr Bereichen aber steigere den Leistungsdruck des Pfarrers ins Unermessliche8. Dennoch: die erlernbare Kompetenz ist gut. Wir möchten Studierende so ausbilden, dass sie im Blick auf ihre Persönlichkeit, im Blick auf theologische Urteilsfähigkeit und auch im Blick auf das pastorale Handwerk kompetent werden. Aber haben sie darum auch schon Vollmacht? Was hat Vollmacht mit Kompetenz zu tun?

4  [Dieses Kapitel ist eine überarbeitete Fassung von: Michael Herbst, Mit Vollmacht predigen, in: ThBeitr 30 (1999),60–73.] 5  Zur angegebenen Literatur: H. Hirschler, Biblisch predigen; [Wolfgang Trillhaas, Einführung in die Predigtlehre, Darmstadt 51991; Peter Bukowski, Predigt wahrnehmen. Homiletische Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 21993; Hans-Werner Dannowski, Kompendium der Predigtlehre, Gütersloh 21990; Helge Stadelmann, Schriftgemäß predigen, Wuppertal 31996]; K.-H. Bieritz, u.a. (Hg.), Handbuch; [Leonhardt Fendt, Homiletik. Zweite Auflage bearbeitet von B. Klaus, Berlin 1970; Helmuth Schreiner, Die Verkündigung des Wortes Gottes, Schwerin 1936; Julius Schieder, Unsere Predigt, München 1957; Rudolf Zerfaß, Grundkurs Predigt. Bd. 1: Spruchpredigt, Düsseldorf 31992, Bd. 2: Textpredigt, Düsseldorf 1992; Gustav Wingren, Die Predigt, Göttingen 1955; Haddon W. Robinson, Biblical ­Preaching, Grand Rapids 1984.] 6  [Rudolf Bohren, Predigtlehre, Gütersloh 61993, z.B. 83–85 und öfter.] 7  [Christian Möller, Zwischen ›Amt‹ und ›Kompetenz‹, in: PTh 82 (1993), 460–475, 465.] 8  AaO., 466.

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Braucht der Vollmächtige noch Kompetenz und der Kompetente noch Vollmacht? Einer der wenigen, die sich intensiv mit der Frage nach der Vollmacht in der Verkündigung beschäftigt haben, ist der frühere Württembergische Bischof Theo Sorg mit seiner kleinen Studie »Berufung und Vollmacht« aus dem Jahr l965.9 Im Mittelpunkt der Überlegungen Sorgs steht Offb. 3,8: »Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, und niemand kann sie zuschließen, denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet.« Es geht Theo Sorg einerseits um eine Beschreibung von Vollmacht: sie ist die Tür, die Gott der Verkündigung und damit|19 dem Verkündiger bei den Menschen öffnet. Vollmacht kommt also von Gott, der seine Boten aussendet, befähigt und ihren Dienst bestätigt. Andererseits will Sorg aufzeigen, wie das Leben von Menschen aussieht, die von Gott bevollmächtigt werden. Sie haben eine kleine Kraft, d.h. Gott kann auch und gerade den Schwachen in besonderer Weise bevollmächtigen. Sie haben sein Wort behalten, d.h. ihre Verkündigung ist an die Christus-Offenbarung im apostolischen Zeugnis gebunden. Und sie haben seinen Namen nicht verleugnet, d.h. sie sind treu geblieben, wenn es darum ging, den einen Namen zu bekennen, in dem die Menschen Rettung finden sollen. 2. Kleines Biblicum: Vollmacht Was sagt die Heilige Schrift zum Thema Vollmacht? Ist Vollmacht eine besondere Auszeichnung weniger? Sind es also die religiösen Genies, die Vollmacht haben? Ist Vollmacht überhaupt etwas, was Menschen haben können? Und wenn sie Vollmacht haben, ist das dann dasselbe wie Erfolg? Wer sich in das Internet einschaltet und einer Suchmaschine den Auftrag gibt, den Begriff Vollmacht aufzusuchen, stellt sehr bald fest: das Wort Vollmacht findet sich fast ausschließlich in juristischen Kontexten. Da ist z.B. der § 167 BGB: »Die Erteilung der Vollmacht erfolgt durch Erklärung gegenüber dem zu Bevollmächtigenden oder dem Dritten, dem gegenüber die Vertretung stattfinden soll.« Eine Vollmacht ist demnach eine Handlungsberechtigung, die einer seinem Vertreter für bestimmte Geschäfte oder Verrichtungen erteilt. Vollmacht ist juristisch gesehen stets von einem anderen erteilte, d.h. abgeleitete, an einen Auftrag gebundene und auch revozierbare (§ 168 BGB) Ermächtigung. Dann aber ist sie auch tatsächliche Ermächtigung: Der Bevollmächtigte ist zeichnungsberechtigt und kann im Namen des Bevollmächtigenden handeln, 9  [Theo Sorg, Berufung und Vollmacht. Von den Grundlagen geistlichen Dienstes, Gießen 1965, 21985.]

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Verträge abschließen, Gelder bewilligen usw. Wir kennen solche Vollmachten in unserem Alltag bis hin zu Handlungsvollmachten für unsere Sterbestunde.10 So ist es auch im jüdischen Botenrecht: Der Gesandte ist wie der Sendende! Ein schönes Beispiel dafür ist Davids Brautwerbung um Abigajil 1.Sam. 25,39b-42. Und so ist es auch sprachlich in den biblischen Texten: Ist dort von Vollmacht die Rede (§xous6a, »exousia«), so ist sie im Unterschied zur Kraft|20 (d0namiV11, »dynamis«) die »von einer höheren Instanz oder Norm gegebene Möglichkeit und damit das Recht, die Erlaubnis, etwas zu tun.12« Nicht innere Qualitäten zählen hier, von denen wir ein »mehr« oder »weniger« besitzen könnten, sondern die »von oben« erteilte Befugnis. Wer »in Vollmacht« handelt, handelt immer in abgeleiteter Autorität: »im Namen«. Aber »im Namen« handelt er so wie der, der ihn autorisiert hat. Er hat Prokura, er ist Handlungsbevollmächtigter. Diese ist nicht sein Besitz. Sie kann ihm wieder entzogen werden (vgl. etwa die Geschichte des Königs Saul). Und sie ist keine Generalvollmacht: er kann damit nicht tun, was er will, sondern nur das, was er tun soll. Der »Blick« der §xous6a (»exousia«) geht also in zwei Richtungen: sie ist von oben gegeben (woher) und sie ist zu einem festen Zweck überlassen (wozu). Andere als von Gott verliehene Vollmacht kennt die Bibel nicht. Das gilt auch für die Macht des Teufels und seiner Heerscharen (vgl. Hiob 1–3, aber auch Offb. 6,8). Auch deren (reale!) Macht etwa zu Verführung, Lüge und Mord ist nur begrenzte Macht: in ihrer Fülle wie in ihrer zeitlichen Ausdehnung. Die Macht Gottes wird nicht durch eine ebenso große Gegenmacht begrenzt oder auch nur gefährdet: sie umgreift vielmehr heilvoll alle anderen Mächtigkeiten (Lk. 22,53; Apg. 26,19), so gewaltsam und böse sie sich auch darstellen: »Der Fürst dieser Welt, so sau’r er sich stellt, tut er uns doch nicht; das macht, er ist gericht’: ein Wörtlein kann ihn fällen« (EG 362,3). Nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes ist Jesus der Träger der §xous6a (»exousia«) schlechthin. Sie ist ihm gegeben durch die Sendung des Vaters (Woher? – Joh. 20,21a: »Wie mich mein Vater gesandt…«). Sie ist ihm gegeben, damit er tut, was der Vater will (Wozu? – Joh. 5,30: »Ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.«), und zwar zum Heil der Menschen. Jesu Vollmacht ist etwas ganz anderes als die Vollmacht des Statt10  So z.B. die »Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung« vom 11.9.1998, die (Kapitel 4 und 5) empfehlen, man solle im Blick auf eine u.U. eintretende Einwilligungsunfähigkeit einen Bevollmächtigten benennen, der im Interesse des z.B. komatösen Patienten mit den Ärzten über das weitere Vorgehen spricht und den Willen des Patienten zur Geltung bringt. 11  d0namiV steht für die dem Subjekt innewohnende Kraft und deren Ausübung. 12  [A. Noordegraaf, Vollmacht, in: ELThG 3 (1994), 2115–2117.]

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10.  Neuere Ansätze in der Homiletik

halters Pontius Pilatus (Joh. 19,10 f.), der seine (von Jesus sofort als von oben geliehene Macht charakterisierte) §xous6a zum Losgeben oder Kreuzigen, also zu Heil oder Unheil gebrauchen kann. Es ist die besondere Erfahrung der Menschen, denen Jesus begegnete, dass der Mann aus Nazareth sprach – und es geschah. Exemplarisch wird diese heilsame Vollmacht Jesu beschrieben in Lk. 4 und 5: in seiner Vollmacht entreißt er Menschen dämonischen Mächten (Lk. 4,36), predigt er das Evangelium vom Reich (4,32), vergibt er Menschen ihre Schuld und heilt ihre Krankheiten (5,17–26). Aufschlussreich ist dabei die Einsicht, dass es Jesus offenbar in seiner Vollmacht stets gelang, das Herz der Menschen zu treffen, die es mit ihm zu tun bekommen. Sein Reden und Tun erzielte also stets Wirkung, aber nicht immer im intendierten Sinne. Die Antrittspredigt in Nazareth etwa|21 (4,14–30) ist ein gutes Beispiel: er kommt »in der Kraft des Geistes« (4,14), er zieht sofort die Aufmerksamkeit auf sich (4,20), seine Predigt »kommt an«, aber ihr Ergebnis ist allgemeiner Zorn und der (allerdings vergebliche) Versuch, den Prediger zu steinigen (4,28–30). Jesus hat in seiner §xous6a (»exousia«) also durchaus nicht immer Erfolg, aber es kommt stets zu Wirkungen. Jesu Wirken in Nazareth und in Kapernaum unterscheidet sich nicht durch Vollmacht und Ohnmacht, sondern durch höchst wirksame, aber eben die Hörer in Glaubende und SichVerweigernde scheidende Vollmacht. Es gehört zum Geheimnis der Vollmacht Jesu, dass sie Menschen innerlich aufschließt zu einem freien und frohen Ja oder aber Halt macht vor dem dunklen Geheimnis eines sich verschließenden Nein. Es gehört zum Wesen des Evangeliums, dieses Nein nicht gewaltsam zu brechen und den sich Verweigernden nicht zu zwingen. Jesus bleibt nun in seiner §xous6a (»exousia«) nicht Solist. Vielmehr sendet er die Jünger aus und beteiligt sie damit an seinem Tun. Die Aussendung ist immer zugleich auch Bevollmächtigung und Befähigung. Jünger sind dazu berufen, in Jesu Nähe zu sein, von ihm zu lernen und zugleich in Vollmacht zu predigen und zu handeln: »Und er setzte zwölf ein, die er auch Apostel nannte, dass sie bei ihm sein sollten und dass er sie aussendete zu predigen und dass sie Vollmacht hätten, die bösen Geister auszutreiben« (Mk. 3,13–15). Und darum kann es auch heißen: »Wer euch hört, der hört mich!« (Lk. 10,16). Und: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch« (Joh. 20,21). Das Erstaunlichste, was über die Jünger gesagt werden kann, ist diese Ermächtigung: »Nun mag ich und eyn iglicher, der Christus Wort redet, frey sich rhumen, das seyn mund Christus mund sey. Ich bynn yhe gewisz, das meyn wort nitt meyn, sondern Christus Wort sey, szo mus meyn mund auch des seyn, des wort er redet.« (Martin Luther).13 13  [Martin Luther, Eine treue Ermahnung (eigentlich: Vermahnung) zu allen Christen …, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung, 1522. WA 8, 670–687, 638.]

10.3  Michael Herbst: Vollmächtig und missionarisch predigen

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Besonders deutlich wird diese Sendung als Bevollmächtigung in Mt. 9 f. Nachdem in einem Summarium (9,35) Jesu Tun zusammengefasst wird als Umhergehen, Lehren, Predigen und Heilen, werden die Jünger ausgesandt und ausdrücklich bevollmächtigt, dasselbe zu tun, was sie Jesus tun sahen (10,1; vgl. auch 10,7 f.). Ausdrücklich heißt es (10,1): er gab ihnen §xous6a (»exousia«). Aber diese den Jüngern verliehene §xous6a (»exousia«) ist kein Besitz: »Sie bleibt nur erhalten, wenn Gott durch die Kraft seines Geistes die Beauftragung beständig erneuert und ihnen das Wort schenkt, das sie zu sagen haben.«14 Im Blick auf die Wirkungen sind die Jünger nicht über ihrem Meister: Wirkung ist ihnen verheißen, nicht aber durchgängiger Erfolg. Auch sie|22 erfahren Zustimmung und Ablehnung, Siege in der sichtbaren und unsichtbaren Welt und auch Verfolgung und Anfechtung. Sie erleben, dass Vollmacht für sie nicht das Selbstverständliche ist: die Erfahrungen der Ohnmacht (Mk. 9,14–28) zeigen ihnen, dass sie von der Vollmacht Jesu abhängig bleiben. Zu ihrem Höhepunkt kommt die biblische Rede von der §xous6a (»exousia«) in Mt. 28,18–20. Der Auferstandene proklamiert in seinem »Regierungsantritt«, ihm sei nun alle §xous6a auf Erden übergeben (Mt. 28,18). Im Blick auf die Aussendung der Jünger in alle Welt und zu allen Völkern ist dies eine wesentliche Bestimmung: dem, der sie sendet, gehört nicht nur »ein bisschen §xous6a«, während andere Mächte leider noch »sehr viel §xous6a« besitzen. Ihm gehört alle §xous6a, so dass seine Gesandten nicht als Frontkämpfer losziehen, die mühsam den einen oder anderen Meter für Gott erstreiten. Sie kommen auch nicht als missionarische Kampfsportler, die ihre Gegner im Streit um die Wahrheit niederringen müssen. Sie kommen aber in der gelassenen Gewissheit: Ihm gehört alle §xous6a. Sie kommen und bitten die Menschen in allen Völkern darum, diese §xous6a doch auch anzuerkennen und ihr nicht länger zum eigenen Schaden zuwider zu leben. Das ist die missionarische Dimension unserer Verkündigung. Das heißt aber auch: alle Vollmacht bleibt an den Auferstandenen gebunden. Weil und insofern wir an ihn und seine Absichten gebunden sind und bleiben, ist uns Vollmacht zugesagt. Abseits von ihm gibt es nur Pseudo-Vollmacht: menschliche Überredung oder auch unmenschliche Überwältigung. Der Sendung Jesu entspricht darum auch ein bescheidenes und liebevolles Auftreten, nicht ein gewaltsames und machtvolles Gehabe (vgl. zu diesen Problemen 1. Kor. 2,1–5). Es ist auch nach Ostern die §xous6a des Gekreuzigten, in der die Jünger in aller Welt unterwegs sind. Die Schwachheit der Gesandten ist darum konsequenterweise kein Hindernis für die §xous6a. Paulus macht es am Beispiel seiner eigenen Person 14 

T. Sorg, Berufung, 34.

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10.  Neuere Ansätze in der Homiletik

deutlich: er beklagt seine Schwachheit und muss hören: »Lass dir an meiner Gnade genügen. Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig« (2. Kor. 12,1–10). Gerade der, der nicht zu »genügen« scheint, kann für Gottes Vollmacht das richtige Gefäß sein. Ein echtes Hindernis für die §xous6a (»exousia«) aber ist Sünde. Johanneisch gesprochen: »Ohne mich könnt ihr nichts tun« (Joh. 15). In diesem Sprachduktus geht es darum, bei Jesus zu bleiben, d.h. sein Wort zu hören und zu tun, in der Liebe zu bleiben und im Gehorsam gegenüber seinen Geboten. Der Ungehorsame blockiert die Vollmacht, er ist nicht mehr durchlässig für das, was der Auferstandene durch ihn tun will. […] |25 4. Konsequenzen 4.1 Theologische Konsequenzen Sie betreffen den Bereich unserer geistlich-theologischen Urteile. Zwei Aspekte will ich herausstellen: Zum einen: Vollmacht ist zugesprochene Handlungsvollmacht. Wir sind als Predigerinnen und Prediger mit der ganzen Gemeinde Jesu zusammen gesandt, und weil wir gesandt sind, sind wir auch beauftragt, und weil wir beauftragt sind, sind wir auch Bevollmächtigte. ›,Ihr werdet die Kraft des|26 Heiligen Geistes empfangen und werdet meine Zeugen sein«, in Cottbus und Rosenheim, in Tübingen und Itzehoe und in Stralsund und Düsseldorf. Da sollen wir nicht zweifeln, sondern es uns neu sagen lassen. Zum anderen: Wir sollen unterscheiden zwischen Wirkung und Erfolg. Wirkung hatte die Verkündigung Jesu, aber nicht immer Erfolg. In Nazareth, heißt es, konnte er fast nichts tun. Er traf das Herz von Menschen und stellte sie in die Entscheidung, aber die fiel keineswegs immer für ihn aus. Wir stehen nicht über unserem Meister. Anders gesagt: Wir müssen uns nicht jeden Misserfolg selbst zurechnen. Das ist das Gefährliche an diesem Thema: »Hättest du nur Vollmacht, dann würde es doch ganz anders aussehen in deiner Gemeinde«. Das gehört zur maßlosen Überbewertung des Pfarramtes, wenn wir so reden. Das ist eine ins Negative gewandte Allmachtsphantasie, die uns so denken lässt. Das berücksichtigt nicht die vielen Faktoren, die in einer Gemeinde einwirken, die Menschen und Geschichten, die Blockaden und Sturheiten, die Verschlossenheiten und auch Verstockungen. Genauso gefährlich ist natürlich das Gegenteil: Das Sich-Einrichten im Misserfolg und die geradezu ideologische Verdächtigung allen zahlenmäßigen Wachstums. Das ist geradezu ein neurotisches Arrangement, um es in der Sprache der Therapie zu sagen: Ich richte mich in dem ein, was krank macht. Ich verhalte mich so, dass sich das Negative immer nur wiederholen kann. Ein solches neuro-

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tisches Arrangement hat die Funktion, mich zu schützen vor eventuellen erneuten Enttäuschungen und Verletzungen. Ich mache Ihnen den Vorschlag, mit diesem neurotischen Arrangement zu brechen. Positiv gewendet: wieder etwas von Ihrer Verkündigung zu erwarten. 4.2 Persönliche Konsequenzen Im biblischen Teil haben wir gesagt: Schwachheit ist nicht das Problem, Sünde dagegen ist es. Jetzt wird es schwierig, hier weiterzumachen. Jetzt müsste man, wie es Paulus einmal schreibt die Unordentlichen zurechtweisen, die Schwachen tragen und die Kleinmütigen trösten (1. Thess. 5,14). Oft ist es ja so, dass genau das Hören falsch herum geschieht: Die Unordentlichen haben sich eine Ölhaut zugelegt, die Kleinmütigen dagegen sind so dünnhäutig, dass sie sich immer für alles selbst die Schuld geben. Die persönliche Konsequenz lautet: Ich ergreife aufs Neue die Zusage und den Anspruch meiner Ordination. In der EKU-Ordinationsagende heißt es: »Du wirst nun ermächtigt zu predigen, zu taufen und das Abendmahl auszuteilen. In Gottesdienst, Unterweisung und Seelsorge sollst du am Aufbau der Gemeinden mitwirken und sie zum Dienst in der Welt ermutigen.«15 Das gilt es, neu zu ergreifen: Du wirst nun ermächtigt. Die gewiesene|27 Blickrichtung geht bei unserem Thema immer zu dem hin, der ermächtigt, und nicht auf uns selbst zurück. Dann aber geht es noch einmal um den Unterschied zwischen Schuld und Schwachheit. Schwachheit ist kein Hindernis für den Geist Gottes. Das haben wir heute noch einmal bei Paulus gelernt. Im Gegenteil: Der Schwache ist, wenn er sich für Gottes Tun öffnet, derjenige, der nicht durch Eigenmächtigkeit, also eigene Mächtigkeit dem Wirken des Geistes im Wege steht. Er weiß, dass er sich Vollmacht nicht nehmen, sondern sie nur erbitten kann.16 Aber Schuld ist ein Hindernis. Exemplarisch wird dies deutlich an Achans Diebstahl in Jos. 7. Achan hatte sich am Besitz Gottes vergriffen und die Folge war, dass es nicht weiter ging mit dem Volk Gottes. Die Landnahme geriet ins Stocken. Es liegt wie ein Bann auf dem Volk Gottes, dass der Segen nicht fließen kann. Ich denke, wir brauchen das auch als Predigerinnen und Prediger, regelmäßig Bilanz zu ziehen und unser Leben an den Maßstäben Gottes zu prüfen, auch im Blick auf die Vollmacht unseres Dienstes. Und die Wiederentdeckung der Beichte täte uns dann sicher auch gut. Die Sache ist präzise formuliert bei ­Johann Christoph Blumhardt, der in den ersten Jahren 15  [Agende für die evangelische Kirche der Union, Bd. II/2: Gottesdienstordnungen für Ordination, Einführung, Bevollmächtigung und Vorstellung, Bielefeld 1979, 19.] 16  [Klaus Eickhoff, Die Predigt beurteilen, Wuppertal 1998, 19.]

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der Möttlinger Erweckung festhielt: »Alles Evangelium wirkt Buße. … Was aber aus eigener Buße fließt, wirkt wieder Buße, auch wenn’s lauter Evangelium ist. Was aber nicht aus eigener Buße heraus geredet ist, wirkt wie Seifenblasen gegen Festungs­mauern.«17 Positiv gewendet wird diese Seite unseres Themas durch das Stichwort vom Bleiben bei Jesus in Joh. 15. Darum geht es ja. »Ohne mich könnt ihr nichts tun«, sagt Christus (Joh. 15,5). Wenn ihr aber bei mir bleibt, bringt ihr viel Frucht. Und er sagt: dazu seid ihr bestimmt, viel Frucht zu bringen. Bleiben bei Jesus aber meint: an seinem Wort bleiben und an seinen Geboten bleiben, es meint also eine Übung und einen Gehorsam, eine Übung im Horchen auf Jesu Reden, einen Gehorsam gegenüber seinem Gebot. Unser Umgang mit Schrift und Gebet und unsere Umkehr zum Gehorsam, bis in die Fragen unseres Umgangs mit Geld, mit unserer Zeit, mit unserer Familie, mit unserer Geschlechtlichkeit, hat also Einfluss auf unsere Vollmacht. Dann geht es aber darum, Gott darum zu bitten, er möge unser Leben mit ihm erneuern und uns Berufschristen einen ganz neuen und frischen Zugang zum Evangelium schenken. Johannes Busch schrieb 1957 in seinen »Stillen Gesprächen«: »Je mehr du mit Jesus eins bist, desto mehr stehst du in deiner Arbeit in Kraft. Je mehr dein Leben Ihm gehört, desto vollmächtiger kannst du an anderen arbeiten.«18 |28 4.3 Homiletische Konsequenzen »Ich will von meiner Verkündigung wieder etwas erwarten«, so lautete der Leitsatz. »Ich will erwarten, dass Gott das, was ich sage, bestätigt und Wirkungen schenkt.« Dieser Leitsatz steht im Widerspruch zur viel beklagten »Schüchternheit«19 der Predigerinnen und Prediger, die sich fast dafür entschuldigen, dass sie »noch« predigen, oder die längst auf ein anderes Pferd setzen, wie jener junge Kollege, der in der Pommerschen Kirchenzeitung unter Berufung auf Jesus meint, es sei wichtiger, Gespräche zu führen, als Predigten zu halten, denn Jesus habe ja auch nicht gepredigt. Hat er nicht? Die Lustlosigkeit und Halbherzigkeit, der Mangel an Begeisterung und Freude am Weitersagen der besten Botschaft, die die Welt (leider nicht) kennt, sind Krankheitssymptome der Predigt. »Einer Gemeinde« aber, so sagt es Christian Möller zu Recht, »bleibt es nicht lange verborgen, wenn ein Prediger von seiner Predigt nichts erwartet.«20 Darum beginnt die Erneuerung der Predigt in Kopf und Herz der Predigerinnen und Prediger, wenn sie sich sagen: »Ich will von meiner Verkündigung wieder etwas erwarten!« 17 

151.]

18 

[Zitiert nach Friedrich Zündel, Johann Christoph Blumhardt, Gießen/Basel

[ Johannes Busch, Stille Gespräche, Wuppertal 131980, 77.] [Christian Möller, Seelsorglich predigen, Göttingen 21990, 15.] 20  AaO., 16. 19 

201983,

10.3  Michael Herbst: Vollmächtig und missionarisch predigen

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Nun tut der Heilige Geist das ja am liebsten in enger Zusammenarbeit mit uns. Der Heilige Geist ist ein großer Teamarbeiter. Während Jesus die Schwerstarbeit unserer Versöhnung mit Gott allein verrichten musste, will der Heilige Geist uns möglichst intensiv an seiner Arbeit beteiligen. 21 Er gleicht ein wenig dem Weinbergbesitzer in Mt. 20,1–16, der von morgens bis abends über den Markt geht und Mitarbeiter sucht, die ihre Kraft und ihre Zeit und ihre Möglichkeiten in seinen Dienst stellen. Das bedeutet für die homiletischen Konsequenzen: Die vollmächtige Verkündigung fällt nicht nur einfach vom Himmel. Gewiss, ohne das Ja des Geistes ist sie unmöglich. Und darum ist das erste auch die stetige Bitte um das Kommen des Heiligen Geistes. Veni creator spiritus, komm, Heiliger Geist! Wenn der Geist aber kommt, dann will er uns daran beteiligen und auch unser Handwerk. Technokraten neigen dazu, allzu sehr auf erlernbare Kompetenzen zu setzen; Charismatiker neigen dazu, den Geist allzu sehr als übernatürliche Superwaffe zu verstehen. Wenn wir also den Heiligen Geist bitten, unsere Verkündigung zu bevollmächtigen, dann wird er uns bitten, an unserem Handwerk zu feilen. Anders gesagt: In der Homiletik geht es darum, dem Geist zuzuarbeiten und nicht dem Geist im Wege zu stehen. Und so bekommt auch Kompetenz in der Frage der Vollmacht ihren sinnvollen Platz zugewiesen. […] |29 4.4 Kybernetische Konsequenzen Wieder etwas erwarten von der Predigt, das bedeutet auch: Konsequenzen für den Gemeindeaufbau ziehen. Wir denken dabei zunächst exemplarisch an die Zeit direkt vor und direkt nach den Gottesdiensten. Es geht um Gemeindeaufbau durch Sakristeiausbau. Vor dem Gottesdienst: Wie steht es um das Gebet für den Gottesdienst und die Verkündigung in ihm? Wollen wir wieder etwas erwarten, so sollen wir es auch konkret erbitten. Die Gemeinde ist die Trägerin der vollmächtigen Verkündigung. Sie wird darum auch für die, die auf verschiedene Weise an der Verkündigung beteiligt sind, bitten. Warum sollten nicht, angefangen mit Ältesten oder Presbytern, Christen zusammenkommen und den Gottesdienst im Gebet vorbereiten? Das Confiteor war ursprünglich das Rüstgebet der Liturgen in der Sakristei. Es ist eine große Rückenstärkung, vom Gebet der Geschwister getragen in den Gottesdienst einzuziehen. Nach dem Gottesdienst: Gewiss haben auch Predigtnachgespräche ihren Sinn, manchmal jedenfalls. Zuweilen aber haben sie die fatale Neigung, die Predigten zu zerreden. Gleichwohl sind sie eine Chance, die Gemeinde am Lauf des Wortes Gottes zu beteiligen und die mündige Gemeinde auch Verkündigung 21 

Vgl. zu diesen Überlegungen R. Bohren, Predigtlehre, 73–82.

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10.  Neuere Ansätze in der Homiletik

prüfen zu lassen. Ich meine aber, wir müssten auf Dauer auch damit rechnen, dass anderes nötig wird. Ich will wieder erwarten, dass die Predigt Wirkungen hat. Dann werde ich auch Möglichkeiten der Seelsorge anbieten. Gelegenheiten zur Aussprache, zur Beichte, zur persönlichen Segnung. Vielen fällt es schwer, einfach so zu kommen; ein regelmäßiges Angebot senkt die Schwelle. Wie­ derum brauche ich eine entrümpelte Sakristei. Vielleicht kommt keiner; dann habe ich Zeit, den Gottesdienst und meine Gemeinde im Gebet loszulassen. Vielleicht wird dieses Angebot aber auf Dauer angenommen. Vielleicht müssen sogar weitere in die Seelsorge nach dem Gottesdienst einbezogen werden, weil die Gemeinde dankbar diese Chance annimmt. Besser als Predigtnachgespräche fördern Predigt- und Gottesdienstwerkstätten 22 die Beteiligung der Gemeinde. Sie nehmen die Gemeindeglieder| 30 hin­ein in den Prozess der Predigt- und Gottesdienstvorbereitung. Der Predigttext wird in solchen Gruppen miteinander gelesen und bedacht. Der Austausch über den Text bringt eine Fülle von Fragen und Assoziationen, aber auch von Lebenserfahrung und Glaubenswissen in die Predigtarbeit mit ein. Wer zu predigen hat, hat hier Text und Gemeinde schon beieinander. […] Nehmen wir die Predigt ernst, dann endet sie nicht mit dem Amen. Das Amen in der Kirche ist sicher, aber wie ist es um das Weitergehen des Textes in der Gemeinde bestellt? Wie viele Bibelworte werden im Laufe einer Woche in einer Gemeinde konsumiert? Wie viele haben dagegen die Chance, mehrfach gehört zu werden, um anzukommen und Wohnung zu nehmen? Zu den kybernetischen Konsequenzen unseres Ansatzes könnte es gehören, das Bibelwort, das der Predigt zu Grunde lag, in der Woche in den Gruppen und Veranstaltungen der Gemeinde, aber auch bei Hausbesuchen erneut zu Gehör zu bringen und im Gespräch mit ihm und miteinander zu bleiben. Die Predigt wäre dann so etwas wie das Anzünden einer Kerze, die durch die folgende Woche getragen würde. Der Verbrauch von Bibeltexten in der Gemeinde würde gesenkt, die Nachhaltigkeit dagegen, mit der Texte in der Gemeinde gehört werden, gesteigert. Wie finden wir zu einer vollmächtigen Verkündigung? Hier werden wir zuletzt in die Abhängigkeit von Gott verwiesen: »Eine Predigt mag noch so korrekt sein, exegetisch verantwortlich erarbeitet, homiletisch ansprechend aufgebaut, systematisch behältlich gegliedert, sie bleibt totes Wort, sie ist ohne bewegenden Impuls und ohne ansteckende Kraft, wenn Gottes heiliger Geist nicht in ihr lebendig wird und den zündenden Funken vom Wort auf den Hörer überspringen lässt. Wo das aber geschieht, ist vollmächtige Verkündigung.«23 Anders gesagt: Da funkt es wieder zwischen dem Bibelwort und der heutigen 22  23 

K. Eickhoff, Predigt, 53–56. T. Sorg, Berufung, 29.

10.4  Wilhelm Gräb: Predigt als stimmige religiöse Lebensdeutung

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Gemeinde, und die Predigt erschließt der Hörergemeinde den biblischen Text als Hilfe zum Leben.«24

10.4  Wilhelm Gräb: Predigt als stimmige religiöse Lebensdeutung  Wilhelm Gräb, Gottesdienstliche Predigt als religiöse Lebensdeutung, in: Ders., Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 1998, S. 148–150.

Predigt als religiöse Rede Es ist damit eine Predigt gemeint, welche sich ihre Hörer und Hörerinnen als solche vorstellt, die so oder so ihr Leben in Deutungszusammenhänge hineingestellt finden oder auf der Suche danach sind. Sie haben immer schon ihre Vorstellung vom Leben und ihre Einstellung zu ihm, von dem, woran ihr Herz hängt, was ihnen wichtig ist, was sie anstreben, was sie fürchten, worauf sie hoffen. Da ist immer schon die Frage, sind auch mögliche Antworten im Blick, ob ein Sinn ist in allem, ob ich also an Gott glauben kann trotz all des Sinnwidrigen, das geschieht und an dem ich vielfach selber beteiligt war und bin. Solche Fragen brechen auf – vor allem, aber nicht nur – angesichts der Grenzen unserer analytischen Fähigkeiten, an den Grenzen unserer ethischen Sicherheit, an den Grenzen unserer Leidensfähigkeit. Ist, obwohl wir immer wieder an solche Grenzen stoßen und unser Wissen um sie uns in all unserem Denken und Handeln ständig begleitet, die Welt im Ganzen und mein eigenes Dasein in ihr vielleicht doch nicht sinnlos? An dieser existentiellen Frage arbeitet die Religion sich ab. Und es ist die uns eigene religiöse Produktivität bzw. unsere religiöse Sinndeutungsarbeit, all die Zweideutigkeiten, Rätsel und Wider-|149 sinnigkeiten zu sehen, die uns in dieser Welt begegnen und die das eigene Leben ausmachen, gleichwohl aber nach Lebens- und Weltdeutungen zu suchen, die uns wirksam, somit auch das eigene Verhalten orientierend, bestreiten lassen, daß es aufs Ganze von Welt und Leben hin gesehen unerklärliche Ereignisse gebe, das Leben unerträglich sei und die Hoffnung auf Gerechtigkeit ein bloßes Trugbild. Immer versuchen wir in unserer Sinnarbeit unsere fragmentarische Erkenntnis und unsere kontingenten Erfahrungen im Horizont der Idee eines umfassenden Ganzen zu deuten.1 Wir deuten eigene und fremde Leidenserfahrungen von den Anfragen her, die sie uns an den Sinn des Ganzen stellen lassen. Wir entwickeln Vorstellungen, wie die Welt durch das Verhalten von uns Menschen, so wir denn nur ein angemessenes Verständnis vom Ganzen der Wirk24 

1 

H. Hirschler, Biblisch predigen, 15. Vgl. U. Barth, Was ist Religion?, in: ZThK 93, 1996, 538–560.

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10.  Neuere Ansätze in der Homiletik

lichkeit gewinnen würden, einer lebensdienlichen Ordnung und Gestaltung näher gebracht werden könnte. Predigt, als religiöse Rede verstanden, heißt die Hörer und Hörerinnen als solche vorstellen, die immer schon in dieser Sinnarbeit begriffen sind. Sie sind es freilich unter den Bedingungen der modernen, pluralistischen Gesellschaft auf jeweils eigene und somit auch differente Weise. Nicht die religiöse Produktivität hat sich ja unter den sozialisationspraktischen Bedingungen dieser Gesellschaft verloren. Weitgehend verloren hat sich lediglich die Formierung dieser Produktivität durch ihr verpflichtend vorgegebene und alles durchprägende Verkündigungsinhalte und Lebensformen. Statt dessen haben wir es nun mit einer religiösen Produktivität zu tun, die vielfach auch als »vagabundierende« bezeichnet wird, die je nach Situation, je nach individueller Verfassung, je nach Gruppenzugehörigkeiten zu unterschiedlichen Formen gelebter Religion oder konfessorischer Nicht-Religion findet, wobei auch von den überlieferten Symbolen und Ritualen des Christentums ein wechselnder, mitunter kombinatorischer Gebrauch zum Zwecke eigener Selbstbesinnung gemacht werden kann, aber nicht muß. 2 Angesichts einer schweren Krankheit kann es sich Menschen nahelegen, hinduistisch an die ewige Wiedergeburt oder christlich an die Unsterblichkeit der Seele oder ebenfalls christlich, aber anders, an die Auferstehung des Fleisches zu glauben. Nach der jeweiligen Verfassung, der|150 jeweiligen Situation, der kommunikativen Bezüge vor allem, in die einer sich eingebunden findet, will ihm das eine oder das andere tröstlicher oder hilfreicher erscheinen. Vielleicht aber glaubt einer manchmal auch alles zusammen, weil gerade das ihm jetzt guttut. Angesichts der ökologischen Gefahr sehen sich Menschen veranlaßt, sowohl aus den mystischen Traditionen des Christentums wie auch aus buddhistischer Frömmigkeit heraus, und das auch in Entsprechung zu relativ modernen Konzepten eines sanfteren Umgangs mit der inneren und äußeren Natur, sich in Exerzitien des Schweigens zu üben, sich auf die Reise nach innen zu begeben, vegetarisch zu essen, eine neue Ehrfurcht vor dem Leben zu entwickeln. Was so in Gestalt unterschiedlicher individueller und kollektiver religiöser Selbstfestlegung in sowohl kognitiver wie sozialer Hinsicht geschieht, könnte man auch die Entwicklung eines ästhetischen Verhältnisses zur Religion nennen. Menschen produzieren, wählen und vermischen überlieferte und neu entworfene religiöse Anschauungen so, wie sie ihnen für den eigenen Lebenszusammenhang und 2  Vgl. V. Drehsen, Das Gespenst der Beliebigkeit. Chancen und Grenzen des Pluralismus in der Volkskirche, in: ders., Wie religionsfähig ist die Volkskirche? Sozialisationstheoretische Erkundungen neuzeitlicher Christentumspraxis, Gütersloh 1994, 250–285, sowie ders., Die Anverwandlung des Fremden. Zur wachsenden Wahrscheinlichkeit von Synkretismen in der modernen Gesellschaft, in: aaO., 313–345.

10.4  Wilhelm Gräb: Predigt als stimmige religiöse Lebensdeutung

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angesichts gesellschaftlicher und globaler Herausforderungen stimmig zu sein scheinen. Solche Stimmigkeit richtet sich nicht nach theologischen Kriterien oder den Normen kirchlicher Lehren.3 Dennoch wäre es wiederum falsch, diesen religiösen Symbolisierungen und Ritualisierungen bloße Beliebigkeit zu unterstellen. Das Kriterium ihrer Stimmigkeit liegt eben darin, daß sie denen, die sie sich aneignen und praktizieren, guttun, daß sie ihnen helfen, die Erfahrungen der Grenzen ihrer analytischen Fähigkeiten, ihrer Leidensfähgkeit, ihrer ethischen Sicherheit zu bewältigen. Predigt als religiöse Rede zielt auf die Ermöglichung solcher, immer subjektiv empfundenen, Stimmigkeit. Christlich ist sie, indem sie der Regel des »sola scriptura« zu folgen versucht, dadurch also, daß sie das Leben auslegt, indem sie die Bibel auslegt und umgekehrt. Das Kriterium ihrer Güte und Wahrheit ist dabei nicht die Entsprechung zu dogmatischen Lehrsätzen oder Bekenntnissen, sondern daß sich Stimmigkeit in den Herzen der Hörer aufbaut. Es sollte in der Auslegung der Bibel zu einer solchen Auslegung unseres Lebens kommen, daß wir dieses in einen übergreifenden Sinnhorizont hineingestellt finden, auch und gerade angesichts der Grenzen unserer analytischen Fähigkeiten, der Grenzen unserer Leidensfähigkeit, der Grenzen unserer ethischen Sicherheit. Wie da|151 von Gott und der Geschichte, welche die Bibel vom ihm erzählt, zu reden ist, so nämlich, daß unsere Einstellung zum Leben Festigkeit und Orientierung erfährt und unsere Vorstellung vom Leben trotz aller Gefährdungen und Selbstgefährdungen eine hoffnungsvolle Perspektive gewinnt, das hat die Predigt als religiöse Rede, in einer gegenwärtigen Hörern und Hörerinnen plausiblen Weise, zu artikulieren. Sie muß dann aber auch versuchen, das Christliche heute so zu sagen, daß verständlich, also von Hörern in ihrer konkreten Lebenssituation nachvollziehbar wird: Wie könnte das Gesagte in meinem Leben und für mein Leben wahr sein bzw. werden? Das ist somit die Frage, die sich die Homiletik heute vor allem vorzulegen hat.

3  Vgl. W. Engemann, Die Erlebnisgesellschaft vor der Offenbarung – ein ästhetisches Problem? Überlegungen zum Ort und zur Aufgabe der Praktischen Theologie heute, in: A. Grözinger/J. Lott (Hg.), Gelebte Religion. Im Brennpunkt praktisch-theologischen Denkens und Handelns (G. Otto zum 70. Geburtstag), Rheinbach 1997, 329–351.

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Copyright (chronologische Reihenfolge der abgedruckten Texte)

Aurelius Augustinus, Die christliche Bildung (De doctrina christiana). Übersetzung, Anmerkungen u. Nachwort v. Karla Pollmann, Stuttgart: Reclam, 2002, S. 149–211 (in Auszügen), © Reclam Stuttgart Albrecht Grözinger, Die Sprache des Menschen. Ein Handbuch. Grundwissen für Theologinnen und Theologen, München: Chr. Kaiser, 1991, S. 81, © beim Autor Gregor der Große, Buch der Pastoralregel. Mit einem Anhang: Zwölf Briefe Gregors des Grossen. Aus dem Lateinischen übersetzt v. Prälat Joseph Funk (Bibliothek der Kirchenväter II. Reihe Bd. IV), München: Verlag Josef Kösel & Friedrich Pustet, 1933, S. 130–133, © verjährt Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen u. unter Mitarbeit v. Helmut Hoping hg. v. Peter Hünermann, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 422009, S. 333 (761); 337 f. (770); 362 (809), © Herder Verlag Freiburg Hrabanus Maurus, De Institutione Clericorum. Über die Unterweisung der Geistlichen. Erster Teilband. Übersetzt u. eingeleitet v. Detlev Zimpel (Fontes Christiani Bd. 61/1), Turnhout: Brepols Publishers, 2006, S. 455–461; 465–469 (in Auszügen), © Brepols Pub­ lishers Turnhout Johann Ulrich Surgant, Handbuch für Seelsorger, das eine Anleitung zum Predigen bietet durch lateinische und volkssprachliche Rede, praktisch erläutert, mit allen anderen zur Seelsorge gehörenden Dingen, wohl ausgestattet, so zweckdienlich wie heilsam. © verjährt Martin Luther, WA 49, 588, 12–22, © verjährt Martin Luther, Operationes in psalmos (1519–21), in: WA 5, 537, 10 ff., hier zitiert nach BoA 7, S. 3,26–4,7, © verjährt Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg.im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 101986, S. 449, 6–14, © Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen Martin Luther, Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll (1522), in: Ders., Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bornkamm u. Gerhard Ebeling. Bd. 2, Frankfurt: Insel Verlag, 21983, S. 198–205, © Insel Verlag Berlin Martin Luther, Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mose sollen schicken (1525), in: Ders., Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bornkamm u. Gerhard Ebeling. Bd. 2. Frankfurt: Insel-Verlag, 21983, S. 207–224, © Insel Verlag Berlin

348

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Philipp Melanchthon, Unterricht der Visitatoren an die Pfarhern ym Kurfurstenthum zu Sachssen 1528, in: Robert Stupperich (Hg.), Melanchthons Werke in Auswahl. Bd. 1. Reformatorische Schriften, Gütersloh: C. Bertelsmann Verlag, 1951, S. 221–235, © verjährt Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 101986, S. 56, 58, 61, 69, © Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen Heinrich Bullinger, Das zweite helvetische Bekenntnis (1566). Ins Deutsche übertragen v. Walter Hildebrandt u. Rudolf Zimmermann. Mit einer Darstellung von Entstehung und Geltung sowie einem Namen-Verzeichnis, Zürich: Theologischer Verlag, 51998, S. 17–19, © Theologischer Verlag Zürich Huldrych Zwingli, Der Hirt (1524), in: Ders., Schriften I. Im Auftrag des Zwinglivereins hg. v. Thomas Brunnschweiler und Samuel Lutz unter Mitarbeit von Hans Ulrich Bächtold, Andreas Beriger, Christine Christ-von Wedel, Rainer Henrich, Hans Rudolf Lavater, Peter Opitz, Ernst Saxer und Peter Winzeler, Zürich: Theologischer Verlag, 1995, S. 243–312, hier S. 260–265, © Theologischer Verlag Zürich Andreas Hyperius, Die Homiletik und die Katechetik, verdeutscht u. mit Einleitungen versehen von Dr. G. Chr. Achelis und Dr. Eugen Sachsse, Berlin: Reuter und Reichard, 1901, S. 17–26, © verjährt Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehr­ entscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen u. unter Mitarbeit v. Helmut Hoping hg. v. Peter Hünermann, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 422009, S. 498 (1507), © Herder Verlag Freiburg Nicolaus Haas, Der Geistliche Redner Oder Gründliche Unterrichtung Vor Angehende Prediger / Was dieselbige Bey ihrem Antritt / sorgfältiger Verwaltung / allerhand ordentlichen und ausser=ordentlichen Zufällen / auch endlicher Niederlegung ihres Amts / so wohl mit GOTT / als ihren Zuhörern zu reden haben. In vier Theile abgetheilet Und Mit nöthigen Registern versehen, Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch, 1693, S. 136–143, © verjährt. Valentin Ernst Löscher, Edle Andachts-Früchte / oder 68. Auserlesene Oerter der Heiligen Schrifft / so von der Andacht handeln / zur Ermunderung des Geistes / in so vielen Predigten / nach XXV. unterschiedenen Methodis ausgeführet / Darinnen die Theologia Mystica Orthodoxa in VI. Theilen vorgetragen wird. Nebst Einem Vorbericht von der Theologia Mystica, und zwey Anhängen: I. Von dem Nuzen der Theologiæ Mysticæ wider die Päbstler / II. Von den Gränzen der Andacht und des Enthusiasmi, Dresden: Paul ­Günther Pfotenhauer, 1711, Bl. )()()()(2r-)()()()(5r, © verjährt Philipp Jacob Spener, Pia Desideria, oder Hertzliches Verlangen/Nach Gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen/sampt einigen dahin einfältig abzweckenden Christlichen Vorschlagen, Frankfurt am Mayn: Johann David Zunners, 1675, hg. v. Kurt Aland (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 170), 3. durchgesehene Aufl., Berlin: Verlag Walter de Gruyter, 1964, S. 78–81, © de Gruyter Berlin

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349

August Hermann Francke, Send- Schreiben vom erbaulichen Predigen. 1725, in: Ders., Predigten II, hg. v. Erhard Peschke (TGP Abt. II: August Hermann Francke Schriften und Predigten, hg. v. Erhard Peschke, Bd. 10), Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1989, S. 3–10, © de Gruyter Berlin Johann Lorenz von Mosheim, Anweisung erbaulich zu predigen. Aus den vielfältigen Vorlesungen des seeligen Herrn Kanzlers verfasset und zum Drucke befördert von Christian Ernst von Windheim, Erlangen: Walters, 1763. Reprint: Neu hg. u. eingeleitet v. Dirk Fleischer (Wissen und Kritik. Texte und Beiträge zur Methodologie des historischen und theologischen Denkens seit der Aufklärung, Bd. 12), Waltrop: Hartmut Spenner 1998, S. 109–177 (in Auswahl), © verjährt Johann Joachim Spalding, Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (11772; 21773; 31791), hg. v. Tobias Jersak [ = Johann Joachim Spalding, Kritische Ausgabe, hg. v. Albrecht Beutel, Erste Abteilung: Schriften, Bd. 3], Tübingen: Mohr Siebeck, 2002, S. 121–135, © Mohr Siebeck Tübingen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg. v. Jacob Frerichs, Berlin: Georg Reimer 1850, in: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke. 1. Abtheilung. Zur Theologie. 13. Band. Photomechanischer Nachdr., Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1983, S. 201–207, 212–217, © de Gruyter Berlin Predigten von F. Schleiermacher. Erste Sammlung. Dritte Auflage, Berlin: Verlag der Realschulbuchhandlung, 1816, ohne Seitenzählung [Xf], © verjährt Christian Palmer, Evangelische Homiletik, Stuttgart: J. F. Steinkopf’sche Buchhandlung, 1842, S. 1–10, © verjährt Theodor Christlieb, Homiletik. Vorlesungen, hg. v. Theodor Haarbeck, Basel: Jaeger & Kober, 1893, S. 5–8 (in Auszügen), © verjährt Martin Schian, Neuzeitliche Predigtideale, in: Monatsschrift für Pastoraltheologie Jg. 1, Berlin: Verlag von Reuther & Reichard, 1904, S.88–109, © verjährt Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Anastatischer Neudruck der Ausgabe von 1912, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 1, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1919, S. 967–969, © Mohr Siebeck Tübingen Karl Barth, Menschenwort und Gotteswort in der christlichen Predigt (1924), in: Zwischen den Zeiten 3 (1925), S. 119–140, jetzt in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1922– 1925, hg. v. Holger Fintze (Karl Barth Gesamtausgabe III), Zürich: Theologischer Verlag, 1990, S. 430–457, © Theologischer Verlag Zürich Rudolf Bultmann, Echte und säkularisierte Verkündigung im 20. Jahrhundert (1955), Universitas (10) 1955, S. 699–706, jetzt in: Ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Dritter Band, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 31965, S. 122–130, © Mohr Siebeck Tübingen

350

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Ernst Lange, Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, jetzt in: Ders., Predigen als Beruf: Aufsätze, hg. v. Rüdiger Schloz, Stuttgart: Kreuz Verlag, 1976, S. 9–51, © bei Rüdiger Schloz Gert Otto, Predigt als Rede. Über die Wechselwirkungen von Homiletik und Rhetorik, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz: Kohlhammer, 1976, S. 9–30, © bei Ursula Balz-Otto Axel Denecke, Persönlich Predigen. Erweiterte und aktualisierte Neuauflage. Mit einem kommunikationspsychologischen Geleitwort von Friedemann Schulz von Thun. Hamburger Theologische Studien Bd. 24, Münster/Hamburg/London: LIT Verlag, 2001, S. 42– 50, © beim Autor Gerhard Marcel Martin, Predigt als »offenes Kunstwerk«? Zum Dialog zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik, in: EvTh 39 (1984), München: Kaiser, S. 46–58, © beim Autor Albrecht Beutel, Offene Predigt. Homiletische Bemerkungen zu Sprache und Sache, in: PTh 77 (1988), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 518–537, © beim Autor Wilfried Engemann, Predigen und Zeichen setzen. Eine homiletische Skizze mit Beispielen, in: Uta Pohl-Patalong/Frank Muchlinsky (Hg.), Predigen im Plural. Homiletische Perspektive, Hamburg: E.B.-Verlag, 2001, S. 7–12, © E.B.-Verlag Hamburg Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, 2., durchgesehene und überarbeitete Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005, S. 29–37.65–72, © Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen Gerd Theißen, Über homiletische Killerparolen oder die Chancen protestantischer Predigt heute, in: PrTh 32 (1997), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 179–202, © beim Autor Michael Herbst/Matthias Scheider, … wir predigen nicht uns selbst. Ein Arbeitsbuch für Predigt und Gottesdienst, Neukirchen-Vluyn: Neukirchner Verlag/Aussaat, (2001) 32008, S. 17–30 (in Auszügen), © Neukirchner Verlag/Aussaat Wilhelm Gräb, Gottesdienstliche Predigt als religiöse Lebensdeutung, in: Ders., Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 1998, S. 148–150, © beim Autor

351

Bibelstellenregister

Genesis 3,5 3,15 19 ff. 22 22,18 28,16

175 56 63 268 57 149

Exodus 3,14 4,10.13 19,16 20,1 20,2

164 172 50 52 53

50,15 50,23 62,9 92,5 110,10 115,1 137, 1.6

64 64 98 15 63 38 176

Proverbien 1,7

63

Prediger 1,16

63

172 46 172 172 172 172 75 87 48 183 37 87 46 169 99 172 27 33 64 63 54

76, 77 172 27

Josua 7

339

1. Samuel 25,39b–42

335

1. Könige 17,8–16

173

Hiob 1–3

335

Jesaja 6,5 9,6 13,1 14,28 15,1 17,1 22 35,4 40,1 f. 40,31 48,17 49,8 53 53,1 55,1 ff. 55,8 56,11 (Vg.) 63 64,3 66,2 66,23

Psalmen 8,5 18,45 24,7.9

175 43 174

Jeremia 1 1,6 2,8

Leviticus 25

55

Deuteronomium 4,2 62, 67 4,12 52 18,15 f. 18 f. 57 21,17 48 25,5 f. 55

352

Bibelstellenregister

14,15 20,9 31,34

71 170 68

Ezechiel 34,18 f. 44,12

28 28

Hosea 8,4

27

Amos 3,8

170

Jona 1,3

172

Micha 6,8

64

Habakuk 1,1

172

Sacharja 9,1 12,1

172 172

Maleachi 1,1

172

Sirach 9,1 37,21

34 16

Matthäus 3,2 3,3 4,4 4,17 5,3.5 5,13 5,19 7 9 f. 9,35 10 10,1

69 174 182 69 47 165 70 76 337 337 31, 77 337

10,7 10,20 10,27 11,5 11,28 12,45 15,14 16,24–26 18 18,8 20,1 ff. 21,1–9 21,9 23,24 23,37 25 28,18–20 28,19 f. 28,20

69, 337 67 25, 30, 37 64 99 62 28 101 44 28 323, 341 87 f. 174 62 99 75 126, 337 1, 35, 70 169, 326

Markus 1 1,15 3,13–15 4,26 ff. 6 9,14–28 16 16,15 16,15 f.

76 173 336 323 32 337 31, 73 170 58, 68, 69

Lukas 1,70 2,12 4 4,14–30 4,32 4,36 5,17–26 6 10,16 10,23 10,36 f. 10,42 12,42–48 14,25–33 15,11 ff. 16

50 164 76 336 336 336 336 33 67, 336 87 58 182 71 101 323 75

Bibelstellenregister

17,2 17,10 22,53 24,45 24, 47

28 180 335 49 62, 69

Johannes 1,14 1,29 1,51 5,30 5,39 5,46 6,44 7,37.38 10,2 ff. 13,20 14,6 15 15,5 15,14 16 19,10 f. 20,21 20,29

169 173 272 335 48 48 68, 72 99 49 67 16 338 96, 340 101 77 336 335 f. 176

Apostelgeschichte 2,2–4 50 3,24 49 4 76, 77 6 76 7,55 272 10,6 68 13 79 16,14 68 17,11 48 17,18 166 20 79 26,19 335 Römer 1 1,1 1,1–4 1,2 1,5 2,14 f. 2,21–24

43, 74 171 45 48 168 55 70

3+4 3,4 3,20 5,2 5,5 6,2 6,9 8,32 10 10,4–17 10,13–17 10,15 10,16 10,17 12,4–6 16,26

65 179 63 71 100 69 69 46, 69 31 2 68 25 169 1, 2, 33 170 168

1. Korinther 1 1,5 ff. 1,30 2 2,1–5 2,2 2,3 2,9 2,26 3,2 3,7 4,15 9 9,11 12,12–27 13,1 14 14,19 14,34 14,38 14,40 15 15,14 15,27

74, 79 132 54 76 337 37 179 64 170 37 68 71 79 32 170 36, 100 222 37 34 27 102 79, 280 176 176

2. Korinther 1,19 f. 3,9 3,18 4,5

264 175 98 99

353

354

Bibelstellenregister

5,11 5,18 12,1–10

99 175, 183 338

Galater 1,11 f. 3,8 ff. 3,19 5,1 5,3 6,15

14 57 52 331 54 72

Epheser 1,23 4 4,11 4,22.24 5,23 6

170 66 132 69 170 77

Philipper 1 1,1 1,18 3,14 4,13

75 171 16 183 96

Kolosser 1,18 3,16

171 102

1. Thessalonicher 2 78 2,4 332 2,13 67 5,14 339 2. Thessalonicher 3 77 1. Timotheus 2,12 3 3,15

34 74, 75 67

5 5,1

74, 76, 79 20

2. Timotheus 1 77 1,13.14 95 2,2 132 3,5 25 3,16 67 3,16 f. 72 4 33, 37 4,2 132 Titus 1 1,9 1,16

75 33 70

1. Petrus 1,10–12 49 2,21 3 4,1–3 4,2

46 36 70 72

2. Petrus 1,1–3

97

1. Johannes 2,20.27 132 3,23 60 4,19 176 Hebräer 3,7 f. 4,7 11,1

169 169 182

Offenbarung 3,8 4,2 6,8 21,5

334 88 335 178

355

Personenregister

Achelis, Ernst Christian 5, 22, 72 Adorno, Theodor W. 264 Ahlfeld, Friedrich 147 f. Aland, Kurt 92 Alanus 30 Albrecht, Christian 40, 42, 85, 115, 128, 161 f., 191, 193 Alexander von Hales 36 Alt, Johann Karl Wilhelm 132 Ambrosius von Mailand 4 f., 73 Anderegg, Johannes 285–289 Anselm von Canterbury 168 Aristoteles 6 Arndt, Johann 94 Arnold, Heinz Ludwig 278 Augustin VI, 4 f., 6–16, 29 f., 73 Ausländer, Rose 305 Austin, John Langshaw 286 Bächtold, Hans Ulrich 69 Bahr, Hans-Eckehard 245 Barié, Helmut 245 Barth, Karl 159–161, 162–183, 192, 196, 231 f., 234 f., 246, 267 Barth, Ulrich 343 Bartmann, Bernhard 163 Basilius 73 Bassermann, Heinrich 125 Bastian, Hans Dieter 202; 217 Baumgarten, Otto 127 f., 141, 151–154 Bayer, Oswald 2, 277, 286 Beda venerabilis 73 Berger, Peter L. 268 Beriger, Andreas 69 Bernhard von Clairvaux 33, 73 Betz, Hans Dieter 245 Beutel, Albrecht 84 f., 104, 255 f., 272–291, 308 Beutel, Eckart 128 Bieritz, Karl-Heinz 272, 332 Bierling, Ernst Rudolf 139 Biermann, Wolf 307

Bitzius, Albert 145–147 Bizer, Ernst 164 Bloch, Ernst 241, 246 Blumhardt, Johann Christoph 339 Bohren, Rudolf 193, 195, 235 f., 246, 271, 333, 341 Boor, Helmut de 278 Bornkamm, Karin 44, 50 Brandt, Willy 228 f. Braun, Herbert 245 Braunschweiger, Heiner 265 Brecht, Bertolt 267 Brecht, Martin 284 Brunner, Emil 159 Brunnschweiler, Thomas 69 Bryant, William Cullen 240 Bühler, Karl 292 Bukowski, Peter 333 Bullinger, Heinrich 41 f., 162, 165, 168 Bultmann, Rudolf 159–161, 184–190, 192, 232–235, 243, 245 Bunners, Christian 332 Busch, Johannes 340 Buttrick, David 297, 300 f. Calvin, Johannes 169, 179, 277 Cardenal, Ernesto 326 Carpzov, Benedikt 86 Cäsarius von Arles 3 Chadwick, Henry 3, 5 Childers, Jana 301 f., 307 Christlieb, Theodor 125 f., 128, 135 f. Christ-von-Wedel, Christine 69 Chrysostomus 73 Cicero 6, 12 Cornehl, Peter 245 Cremer, Herman 139 Daewel, Hartwig 332 Dahm, Karl Wilhelm 258–261, 266, 273, 313 Daiber, Karl-Fritz 271

356

Personenregister

Dannowski, Hans-Werner 333 Dauderstadt, Christoph 85 Deeg, Alexander 258 Denecke, Axel 192 f., 246–253, 255 Denzinger, Heinrich 23, 80 Diem, Hermann 218 Dober, Hans Martin 128 Doderer, Klaus 278 Doerries, Bernhard 140, 145–147 Domin, Hilde 241, 246 Draeseke, Felix August Bernhard 148 Drecoll, Volker H. 5 f. Dreesman, Ulrich 84 f. Drehsen, Volker 40, 193, 257, 278, 308, 344 Drewermann, Eugen 321 Drews, Paul 127 f., 147, 154 Dürselen, Paul R. 150 f. Düwel, Klaus 278 Ebeling, Gerhard 44, 50, 280, 304 Eco, Umberto 255–257, 261, 264–267, 270–276, 294 Ehlers, Rudolph 143 Eich, Günter 302 f. Eickhoff, Klaus 339, 342 Engemann, Wilfried 85, 193, 256–258, 291–295, 306, 316, 345 Enzensberger, Hans Magnus 241, 246 Eslinger, Richard L. 297 Evang, Martin 162 Fendt, Leonhard 333 Fiedler, Caspar 85 Fintze, Holger 159 f., 162 Fischer, Hermann 161 Fischer, Johannes 321 Fleischer, Dirk 103 Flimm, Jürgen 305 Francke, August Hermann 83, 95–102 Frenssen, Gustav 151 Frerichs, Jacob 114, 116 Frey, Jörg 321 Funk, Joseph 18 Garhammer, Erich 256 Geest, Hans van der 269, 271 Geissner, Hellmut 238, 245 f.

Gemünden, Petra von 319 Gerhard, Johann 162 Gerok, Karl 147 Geyer, Hans-Georg 246 Goethe, Johann Wolfgang von 292 Gogarten, Friedrich 159, 164 Gogh, Vincent van 305 Goth, Joachim 246 Gräb, Wilhelm 115, 128, 160 f., 193, 257, 343–345 Graf, Anton V Graf, Friedrich Wilhelm 128, 159, 312 Gräven, Johann 85 Gregor der Große 6, 18–20, 28, 31, 36, 73 Gregor von Nazianz 18, 73 Grözinger, Albrecht 6, 276, 345 Grünberg, Paul 140 Grünewald, Matthias 173 Haas, Nicolaus 82, 85–88 Hacks, Peter 241, 246 Haecker, Theodor 171 Haendler, Otto 271 Haering, Theodor 137, 149 Haizmann, Albrecht 85 Hamm, Berndt 39 Hammer, Gerhard 282 Harms, Claus 129, 131 Harnack, Adolf von 5 Hase, Karl August von 164 Hasselmann, Niels 265 f. Hauschildt, Eberhard 162 Hausrath, Adolf 176 Hegel, Georg, Wilhelm Friedrich 311 Heidegger, Martin 161 Held, Heinz G. 257 Henkys, Jürgen 289 Henrich, Dieter 275 Henrich, Rainer 69 Heppe, Heinrich 164 Herbst, Michael 257, 332–343 Hermelink, Jan 193 Herms, Eilert 42 Hesse, Hermann 260 Hieronymus 44, 61, 73 Hild, Helmut 245, 271 Hildebrandt, Walter 67 Hirsch, Emanuel 249, 278, 289

Personenregister

Hirschler, Horst 332 f., 343 Hoffmann, Heinrich 153 Hofius, Otfried 2 Hofmann, Werner 276 f., 287 Holl, Karl 159 Hoping, Helmut 23, 80 Hrabanus Maurus 21, 26–30 Hume, David 84 Hummel, Gert 246 Hünermann, Peter 23, 80 Hyperius, Andreas 42, 72–80, 81, 138, 154 Iser, Wolfgang 275 Iwand, Hans Joachim 256 Jaspert, Bernd 161 Jens, Walter 238, 245 f. Jensen, Richard A. 300 Jersak, Tobias 84, 104 Jones, Hugh O. 278 Josuttis, Manfred 42, 192 f., 245, 249, 263 f. 267, 269 f., 274 Joyce, James 266 Jülicher, Adolf 153 Jüngel, Eberhard 273 Kaftan, Julius 181 Kaiser, Hermann 151 Kalthoff, Albert 140 Kant, Immanuel 164 Karlstadt, Andreas 277 Käsemann, Ernst 325 Kaufmann, Hans-Bernhard 245 Keckermann, Bartholomäus 168 Keller, Samuel 140 f., 149, 154 Kierkegaard, Sören 171, 268 f. Klaus, Bernhard 333 Kleemann, Jürg 245 Klener, Rudolf Ernst 163 Klostermann, Ferdinand 245 Köhler, Hartmut 297 Konfuzius 228 Kopperschmidt, Josef 238, 245 f. Körtner, Ulrich H. J. 316 Krusche, Peter 194 Kuhn, Thomas S. 273 Küng, Hans 273 Kutter, Hermann 159

357

Lange, Ernst 127, 191–193, 194–226, 255, 257, 259 f., 262 f., 266, 273, 290 f. Lauster, Jörg 1 f. Lavater, Hans Rudolf 69 Lec, Stanislaw Jerzy 261 Leiner, Martin 316 Leo der Große 73 Letteri, Gaetano 5 Lietzmann, Hans 4 Lindbeck, Georg A. 317 Link, Christian 305 Lischer, Richard 278 f., 281 Long, Thomas G. 300 Loofs, Friedrich 168 Lorenzer, Alfred 265, 274 Löscher, Valentin Ernst 82, 89–91 Lott, Jürgen 345 Lowry, Eugene 297, 300 Luckmann, Thomas 268 Lüdemann, Gerd 321 Lüpke, Johannes von 2 Luther, Henning 306 f. Luther, Martin 2, 39–41, 43–61, 82, 89, 94, 101, 133 f., 143, 164, 167, 171, 180, 187, 190, 217, 255, 272, 277–284, 290, 336 Lutz, Samuel 69 Lütze, Frank M. 193 Magass, Walter 238, 245 f. Mainberger, Gonsalv 246 Marezoll, Johann Gottlob 242, 246 Markschies, Christoph 4, 6 Martin, Gerhard Marcel 255 f., 258–271, 272–276, 278 Martius, Wilhelm 140 Mathesius, Johannes 143 Maximus von Tours 73 Mayer, Gottlob 138 Mayer, Johann Friedrich 86 Meckenstock, Günter 113 Melanchthon, Philipp 41, 61–65 Memmert, Günter 257 Metelmann, Volker 268 Miskotte, Kornelis Heiko 208 Möller, Christian 333, 340 Mortensen, Viggo 326 Mosheim, Johann Lorenz von 83 f.,103 f., 147

358

Personenregister

Muchlinsky, Frank 257, 291 Mühlen, Karl-Heinz zur 282 Müller, Adam 239, 245 f. Müller, Ernst Friedrich Karl 162 Müller, Hans Martin 22, 42, 81, 85, 128, 255 f., 272, 278, 289, 308 Naumann, Friedrich 145 f., 149 f. Neander, August 133 Nicol, Martin VI, 256, 258, 296–307 Nicolaus von Lyra 32 Niebergall, Alfred 191 Niebergall, Friedrich 127 f., 151 f. Nietzsche, Friedrich 238 Noordegraaf, Albert 335 Oberman, Heiko A. 282 Ogrzewalla, Michael 30 Ohlemacher, Jörg 278 Opitz, Peter 69 Origenes 61, 73 Otto, Gert 192 f., 227–246, 255 Palmer, Christian 125 f., 129–135 Paniel, Karl Friedrich 133 Pannenberg, Wolfhart 159, 286 Papst Gregor IX. 34 Papst Symmachus 33 Peschke, Erhard 95 Peters, Martin 84 Peterson, Erik 164 Piper, Hans-Christoph 271 Pohl-Patalong, Uta 257, 291 Pollmann, Karla 6 Quintilian 6 Ragaz, Leonhard 159 Raguse, Hartmut 321 Raschzok, Klaus 307 Redeker, Martin 113 Rendtorff, Trutz 289 Reymond, Bernard 297, 301 f., 307 Rice, Charles 297 Ritschl, Albrecht 127, 164 Ritschl, Dietrich 278, 317 Robinson, Haddon 333 Robinson, Judith 297

Robinson, Wayne Bradley 297 Rohls, Jan 159, 277 Rolffs, Ernst 151 Rörer, Georg 280 Rössler, Dietrich V, 23, 42, 162, 191, 193 f., 218, 236, 246 Roth, Dorothea 23 Rothe, Richard 176 Rothermundt, Jörg 193 Rühlemann, Gert 271 Sachsse, Eugen 73 Sack, Karl Heinrich 131 Sauter, Gerhard 173 Saxer, Ernst 69 Schanze, Helmut 245 Scheller, Arndt 151 Schian, Martin 85, 125, 128, 137–156 Schieder, Julius 333 Schiller, Friedrich 238 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst Vf., 113–115, 116–124, 126 f., 130 f., 138, 141, 146 f., 160, 170, 182, 192, 256 Schloz, Rüdiger 194 Schmaus, Michael 170 Schmid, Dirk VI Schmid, Heinrich 162 Schmidtchen, Gerhard 245, 271 Schmidt-Radefeldt, Jürgen 297 Schmitt, Franciscus Salerius 168 Schneider, Hans-Dieter 259, 262 Schneider, Matthias 332 Schneyer, Johann Baptist 21, 23 Scholz, Heinrich 182 Schöne, Gerhard 306 Schöttler, Heinz-Günther 256 Schottroff, Luise 245 Schreiner, Helmuth 333 Schrenk, Elias 140 Schreuder, Osmund 308 Schröer, Henning 272 Schubart, Andreæ Christophorus 85 Schuler, Melchior 168 Schultheß, Johannes 168 Schulz von Thun, Friedemann 246 Schumann, Robert 299 Schütz, Werner 85 Schweitzer, Albert 190

Biblische Personen

Schweizer, Alexander 130, 168 Seitz, Manfred 332 Seyfferth, Günter 160 Smend, Julius 144, 155 Sorg, Theo 334, 337, 342 Spalding, Johann Joachim 83 f.; 104–111 Spener, Philipp Jacob 82, 92–94 Spiegel, Yorick 245 Stadelmann, Helge 333 Stählin, Traugott 259 f. Steck, Wolfgang 42, 128 Steinbrink, Bernd 6, 282 Steinmeyer, Franz Karl Ludwig 154 Stendahl, Krister 325 Stephan, Horst 171, 181 Stier, Rudolf Ewald 126, 129 f. Stolt, Barbara 282 Strecker, Christian 325 Streitwolf, Friedrich G. 163 Stupperich, Robert 61 Sulze, Emil 142–145, 148, 156 Surgant, Johann Ulrich VI, 22, 30–38 Tanner, Klaus 312 Tertullian 168 Thaidigsmann, Edgar 2 Theißen, Gerd 256–258, 308–331 Thomas von Aquin 31, 34, 164 Thurneysen, Eduard 232, 234–236, 246 Tracy, David 273 Trillhaas, Wolfgang 333 Troeger, Thomas H. 296 Troeltsch, Ernst 39 f., 125 f., 156–158 Ueding, Gert 6, 246 282 Ullmann, Carl Christian 131 Umbreit, Friedrich Wilhelm Carl 131

Valéry, Paul 297, 301 Voigt, Friedemann 161 Wallmann, Johannes 85 Wardlaw, Don M. 303 Ware, Timothy 2 Warning, Rainer 270 Weber, Ludwig 139 f. Weder, Hans 300 Weeber, Martin 42, 85, 114 f., 128, 161 f., 191, 193 Weismann, Eberhard 22 Wenz, Gunther 159 Werdermann, Hermann 284 Werner, Julius 150 Wernicke, Horst 265 Wesley, John 140 Weyel, Birgit 257 Whitefield, Georg 140 Wiedemann, Hans-Georg 245 Wilhelm von Paris 33 Windheim, Christian Ernst von 103 Wingren, Gustav 333 Winter, Friedrich Julius 138 Wintzer, Friedrich 42, 69, 128, 161 Wolf, Herbert 282 f. Wolf, Johannes 218 Wolff, Walther 151 f. Zerfaß, Rolf 245, 333 Ziemer, Jürgen 332 Zimmermann, Rudolf 67 Zimpel, Detlev 26 Zündel, Friedrich 340 Zwingli, Ulrich 41 f., 69–72, 167 f., 277

Biblische Personen Abel 60, 320 Abigail 335 Abraham 50, 57, 60, 63, 169, 183, 268 Achan 339 Adam 50, 57, 60, 175 Amos 185

359

Barnabas 32 Cletus 32 Cornelius 68 Daniel 75

360

Personenregister – Biblische Personen

David 45, 57 f., 335 Esau 60

Matthäus 46 Matthias, der Apostel 32 Mose 31, 46–61, 172

Hesekiel 75

Noah 50, 60

Isaak 50, 60, 268 Ismael 60 Jakob 50, 60 Jeremia 75, 172 Jesaja 172 Johannes, der Täufer 50, 62, 69, 173, 178 Jona 172

Paulus 1, 24, 30, 32, 43–45, 52, 54, 66, 73–75, 77, 171 f., 181, 185 f., 188 f., 280, 319, 325, 337, 339 Petrus 32, 44–46, 48 f., 52, 68, 76 Pontius Pilatus 336

Kain 60, 320

Timotheus 32 Titus 32

Linus 32 Lukas 45 Lydia 68, 86

Saul 335

Zacharias 50, 88

361

Sachregister

Abendmahl (s. a. Eucharistie) 44, 93, 133, 149, 277, 339 Ästhetik (s. a. Produktionsästhetik, Rezeptionsästhetik) 115, 255 f., 258, 261, 263 f., 267, 269 f., 276, 297–301, 321, 331, 344 Affekt 89–91, 104 Allegorie 90, 282 Alte Kirche VI, 3–6, 134, 189, 237 Altes Testament 5, 35, 48–50, 53, 57 f., 60, 67, 99, 129, 172, 181, 185, 218, 304, 320 Altprotestantische Orthodoxie 81–91, 162, 164 Ambiguität 256 Amt (s.a. Predigtamt, Lehramt) 21, 31–36, 73 f., 77 f., 84, 86, 116, 119, 133, 158, 165, 175, 183, 193, 200 f., 223, 312, 331 Amtshandlung 56, 195–198, 204, 217, 230 f. Anfechtung 56, 65, 206–209, 337 Apologetik 144, 182 apologetische Predigt 138 f., 156 applicatio 81, 97. 99, 127, 199, 225, 274 f., 299 aptum (Angemessenheit) 14 f., 17, 282–284, 287 f., 307 argumentatio 10, 17, 272 Aufklärung 81–84, 103, 207 f., 216, 312 Auslegung (s.a. Schriftauslegung) 48, 63, 226, 304, 345 Begabung 8, 74, 76–79, 115 f., 135, 220–222, 289 Beichte 23, 32, 36, 281, 339, 342 Beispiel 21, 46, 56, 60 f., 63, 68, 71 Bekehrung 20, 32 f., 37, 83, 95–102, 104, 131, 140 f. Bekenntnis 21, 41, 74, 142–144, 152, 187, 189, 202, 345 Bekenntnisschriften 41, 109, 125 Belehrung (s.a. Lehre) 9, 11–14, 30, 36,

67 f., 77, 122 f., 143, 184, 186 f., 285, 288–290 Beredsamkeit (s.a. Redekunst) 8–12, 14–16, 103, 240 Beruf 34, 42, 67, 74, 84, 105 f., 117, 119, 149 f., 165, 200 f., 231, 241, 296, 231 Berufung 27, 68, 77 f., 160, 336 Bibel (s.a. Schrift, Wort Gottes) 5, 9 f., 72, 80, 120, 152, 167, 169, 171 f., 177, 179, 184, 197, 207,–210, 213 f., 224 f., 242, 244, 290, 300, 302–305, 312, 317–324, 327, 331, 334–338, 345 biblische Texte (s.a. Predigttext, Text) 192, 209, 215, 219, 244, 268, 293–295, 297, 301, 315, 317–320, 332, 335, 343 Bilder (s.a. Metapher) 60, 115, 122, 220, 241, 256 f., 261, 277, 280 f., 283 f., 289 f., 299, 301–307, 314, 318 f., 321, 324, 328 Bildung 6–16, 21 f., 26–29, 41 f., 74 f., 74, 77, 118, 121 f., 135, 194 f. Buße 22, 44, 62–64, 69, 95, 98, 107, 340 Christentum 1–3, 5, 83 f., 92, 113, 124, 126 f., 150, 176, 206, 209, 215, 312, 344 conclusio 17, 81 confirmatio 90 confutatio 90 darstellendes Handeln (s.a. wirksames Handeln) 114 f., 125–127, 129–136, 141 Diakonie 3, 194 f., 200, 202 f., 209 dialektische Theologie (s.a. Wort-Gottes-Theologie) 159, 196, 223, 231, 234, 237, 243, 248, 258, 260, 266 Disposition 17, 82, 86, 89 f., 92, 301 Dogmatik 81, 90, 108, 113, 115, 130, 137, 142–144, 180 f., 187, 189, 192, 221, 229, 242, 251 f., 289, 345 Ekklesiologie 39, 82, 113, 125 f., 255

362

Sachregister

elocutio 17 Emotion 240, 259, 261, 323–325, 330 Empirie 126–128, 160, 191 f., 215, 230, 248, 308 empirische Wende 191–193 epideiktische Rede 13 Epistel 35 Erbauung 18, 81, 83 f., 92, 94 f., 100–105, 122 f., 125, 130, 134–136, 142–145, 147, 261, 266, 268, 342 Erfahrung 291, 303 Erkenntnis 11, 13, 38, 68 f., 81, 105–110, 201, 216, 312, 314, 343 Ermahnung 8 f., 18–20, 25, 33 f., 36, 67, 72 f., 80 f., 88, 97, 285, 288–290 Erweckung 101, 105, 135 f., 304 erweckliche Predigt 140–142, 155 Eschatologie 188, 233, 279, 281 Ethik 93, 125, 144, 168, 186 f., 189, 312, 323, 325, 343–345 Eucharistie (s.a. Abendmahl) 22 f., 30 f., 163, 331 Evangelistik 135 Evangelium 14, 22, 28, 35, 45 f., 47–49, 53, 56–60, 62, 65 f., 68 f., 73, 78 f., 97, 107 f., 132, 135, 137–140, 149, 151, 154–156, 174, 184, 206, 264–267, 274 f., 279, 283–185, 287, 290, 293, 332, 325, 336, 340 – Evangeliumspredigt 25, 32, 40 f., 44, 47, 59, 62, 66, 69, 74, 204, 206, 287 – Kommunikation des Evangeliums 192, 195–198. 200, 214, 221 f. Exegese 91, 160 f., 179–181, 191 f., 212, 218–220, 226, 236 f., 241 f., 244, 260, 295, 309 f., 316, 319–321, 325, 342 exordium 17, 81, 87, 90, 92 Explikation 299 Freiheit 119, 175, 187, 189, 205, 207, 257, 277, 308–331 Frömmigkeit 5, 8, 13, 23, 25, 81, 120, 127, 165, 189. 194 f., 206, 215, 217 Gebet 13, 39, 41, 43, 65, 77, 86, 91, 94, 96, 98, 102, 114 f., 131, 133, 182 f., 281, 340–342 Gebote 36., 47, 49, 52–57, 60, 62–65, 73, 78, 129, 148, 186 f., 327, 338, 340

Gefühl 113–115, 158, 320, 324 Gegenwartsbezug der Predigt 137, 148–150, 156 Gehorsam 13–16, 55, 88, 104, 108, 160, 165, 167 f., 170 f., 206–208, 224, 234, 338, 340 Gemeinde 3, 10, 21, 50, 76, 79, 85, 106, 115–122, 124, 127, 129–137, 139, 141–144, 148, 151–158, 193, 195, 198–206, 209–212, 214 f., 217–222, 224–226, 230, 234, 257, 269, 272, 290, 302, 305 f., 310 f., 314 f., 319–321, 323, 326, 328–332, 338–343 Gemeindepredigt (s.a. Kultuspredigt) 126, 129–136 141, 143–145, 204 Gemeinschaft 113 f., 116, 121, 125, 132 f., 156–158, 167, 170, 173, 239 genera dicendi 9, 11–16, 138, – genera causorum 16 – genera elocutionis 17 – genus deliberativum 16 – genus demonstrativum 16 – genus grande 17 – genus iudiciale 16 – genus medium 17 – genus redargutivum 138 – genus subtile 17 geschichtliche Predigt 143 f. Gesellschaft 83, 107, 125 f., 159, 165, 194 f., 198–200, 211, 215 f., 223, 231, 240, 267, 304, 321, 326, 328, 344 Gesetz 19, 46–56, 60–63, 70, 75, 157, 165, 178, 186, 189, 233, 264, 274 Gesetz und Evangelium 40 f., 44, 47, 51, 69, 96, 174, 233, 264, 266, 274 Gewissen 46, 63, 78, 81, 105, 109 f., 163, 165–167, 184, 186, 206, 218, 223, 230 Glaube 1, 4 f., 8 f., 30, 34 f., 37, 39, 41, 46 f., 51–53, 56, 60–67, 70–72, 74, 76–78, 80 f., 83, 92 f., 95 f., 98–100, 102, 104, 107, 109, 118, 126, 131, 133, 135 f., 138 f., 147, 150, 157, 164 f., 167, 175 f., 182 f., 185–187, 189 f., 201 f., 206–209, 214, 219, 224, 233 f., 242 f., 245, 268, 270, 277, 280 f., 284, 300, 303 f., 312, 318, 322, 327 f., 343 Glaubenslehre 5, 109 Glaubenserfahrung 183, 247, 249 f., 252 f.

Sachregister

Gleichnis 75, 141, 257, 280 f., 283, 289, 290, 300, 304 f., 319 f., 323, 328 Glückseligkeit 104–111 Gnade 44, 52, 65, 69, 71, 77, 87 f., 92, 96 f., 105, 157, 163, 165, 175 f., 188 f., 233, 264, 287, 292 Gottesdienst 2–4, 39, 43, 74, 77, 114 f., 121 f., 126 f., 129 f., 132, 141, 143–145, 147, 149 f., 156, 163, 174, 190, 194–196,, 198–200, 203, 206, 208, 215 f., 222–224, 230 f., 241 f., 260, 263, 267, 269–271, 274, 281, 290, 301, 304, 309, 314 f., 324, 326 f., 331, 339, 341 f. Heiliger Geist 1, 30, 48–50, 65 f., 68, 70, 76 f., 93 f., 182 f., 197, 280, 332, 338, 341 f. Heiligung 54, 104, 158 Heilsordnung 109 Hermeneutik 5, 57–60, 160 f., 184–190, 192, 213, 217, 221, 256, 261, 267 f., 278, 284, 291, 299, 310, 316–321 Herz 9, 11, 16, 18, 28, 45 f., 50, 52 f., 55 f., 59, 61, 73, 76–81, 105 f., 107, 110 f., 131, 136, 138–140, 142, 145, 149, 154, 162, 166, 174, 178 f., 187, 188, 235, 292, 331, 336, 338, 340, 343, 345 Homiletik 5, 22, 30, 40,81, 83, 116 f., 125–128, 135 f., 145, 151, 154, 159, 180, 182, 184, 191–193, 202, 213, 218, 228, 235, 237 f., 255–258, 261, 267, 271 f., 276, 291–293, 296–301, 303, 304, 306 f., 316, 323, 328 f., 333, 341, 345 – ästhetische Homiletik 297–299 – formale Homiletik 5, 202, 238 – materiale Homiletik 5, 37, 238 – prinzipielle Homiletik 160, 191 homiletische Ausbildung (s.a. Theologiestudium) 8, 16, 21, 82, 289 homiletische Methode 211, 257 homiletische Praxis 191, 128, 236, 283 homiletische Situation 203– 214, 219, 225 f., 260, 279 homiletischer Akt 201 f., 204, 207 f., 210, 214, 219 homiletisches Verfahren 130, 192, 214–224, 260 Homilie 73, 82, 21, 267 f., 274 Hörer 4, 7, 9–15, 21, 35, 37, 75, 77 f., 83,

363

92–102, 104, 106, 109–111, 115, 120, 123, 127, 130 f., 136, 138, 142 f., 148, 153, 160, 165, 184, 186, 190, 192, 201–206, 208–217, 219 f., 222–226, 229 f., 230, 232, 234, 236, 239, 241–244, 246–253, 255, 256 f., 262 f., 266, 268–273, 276, 278–284, 290–294, 301, 305 f., 309 f., 313–316, 320, 329, 331 f., 336, 342–345 Hörerbezug 201, 204, 214, 225, 242 f. Hörerorientierung 6, 10, 18–20, 37, 93, 103, 127, 143, 148, 151, 153, 211, 215, Individualität 83, 115, 133, 344 Innerlichkeit (innerlicher Mensch) 50, 68, 71, 93–95, 133, 139, 143, 157 f., 336 Intuition 210, 221 inventio 17, 212, 220, 226, 331 Kasualpredigt 127, 204 f., 225 f., 242 Katechese 82, 134 Katechismus 93, 109, 142, 205, 210, 217, 327 f. Katechismuspredigt 142–145, 148 Katechumenat 202, 208, 214, 216, 220, 223, 260, 339 Kerygma 161, 184, 191, 211, 218, 231, 247, 256 f., 263 f., 267, 274, 284, 308 Keryktik 129, 136 Kirche 2, 5, 8, 27–29, 31, 33, 39, 41, 65–68, 72–75, 77, 92, 101 f., 113 f., 117–119, 124–126, 131 f., 135–140, 157 f., 161–171, 173–177, 179–183, 185, 190, 194–206, 210 f., 215, 221, 223–225, 230, 242, 244, 259 f., 270, 272, 298, 308. 312, 320 f. – katholische Kirche 2, 23, 42, 163, 331 – orthodoxe Kirche 2 Kirchengeschichte 41, 80, 83 f., 144, 196 Kirchenglauben 136 Kirchenjahr 21, 87, 118 f., 204 f. Kirchenkunde 127 Kirchenleitung 26, 67, 79 Kirchenreform 82, 92, 200, 211 Kommunikation 1, 41, 82, 192–198, 202–205, 207 f., 210 f., 214, 216, 220 f., 224–226, 231, 247 f., 250, 255, 258–261, 293, 304 f., 309 f., 313–316, 320, 327, 329, 331

364

Sachregister

Kommunikation des Evangeliums 195–198, 200, 214, 221 f. Kommunikationswissenschaft 243, 248, 261, 266, 270 f., 273, 275 f. Kompetenz 211, 221, 257, 293, 309, 315 f., 330, 333 f., 341 Konfession 312 Konfirmation 199 konkrete Predigt 137, 146 f., 152–156, 203 f., 220, 223, 229, 231–233, 242, 244, 260, 262, 268 Kultur 22, 84, 114, 159, 325 Kultus 5, 114 f., 117, 120, 122 f., 125, 129, 132–135, 141, 157 Kultuspredigt (s.a. Gemeindepredigt) 125 f., 144 f., 156 Kunst 27, 74, 114, 116 f., 135, 184, 228, 233, 238, 256, 265, 267, 269, 277, 296–299, 301 f., 306 f., 330 – Predigtkunst 300, 302, 329 – Predigt als offenes Kunstwerk 255 f., 261–276, 294, 306, 310 – Redekunst (s.a. Beredsamkeit) 6–8, 11, 92, 114 Kunstlehre 16, 116, 180, 182, 301 Kunstregeln 115 Kybernetik 221 f., 341–343 Laie 24. 31, 33 f., 37, 83, 22, 308 Laienpredigt 22–24, 33 f. Lebensdeutung 3 f., 257, 343–345 Lebensführung 16, 26, 28 f., 33, 36 f., 42, 69–72, 74–77, 79, 80 f., 95, 97, 104–106, 209 Lehramt (s.a. Amt, Predigtamt) 23, 27, 72–74, 79 f., 132 Lehre (s.a. Belehrung) 18, 26, 34, 36–38, 41 f., 44–47, 49, 61–63, 67, 71, 74–81, 95, 97, 99, 109–111, 118 f., 127, 130 f., 157, 166, 184, 189, 219, 277 f., 290, 303, 337, 345 Lehrpredigt 143, 156, 268, 293 Liturgie 117, 121 f., 131, 133, 217, 241, 309, 321 Martyretik 136 memoria 17 Metapher (s.a. Bilder) 287, 290, 305, 318 f.

Mission 124, 127, 197, 257, 332, 337 Missionspredigt 115, 125 f., 129–136, 140 Moderne 83, 127, 137, 141, 150, 151, 256, 276 f., 310, 312, 327 f., 344 – moderne Predigt 84, 125, 127 f., 137, 192 – moderne Theologie 127, 153, 155, 219 – moderner Mensch 140, 151, 174, 196, 217 modus inveniendi 7 Moral 113, 228 Motive und Quietive 151, 153 mutuum colloquium fratrum 44, 214, 223, 260 Mystik 126, 157 f., 165, 183 narratio 17, 90 narrative Predigt 274, 278–281, 297, 300 f. Neues Testament 35, 43, 53 f., 59, 67, 87, 107, 113 f., 129, 181, 184, 189, 266, 275, 304, 316, 320, 335 Neuprotestantismus 168 Neuzeit 83 f., 128, 137–142, 146, 153–155 Objektivität 164, 168–170 Offenbarung 73, 157, 161 f., 164, 168, 171 f., 177–182, 233, 316 f., 334 öffentliche Predigt 23, 25 f., 30 f., 34 f., 37, 41, 50 f., 65, 67 f., 74, 79, 244 Ökumene 2, 326 Ordination 105, 339 Orthodoxie 81 f., 85, 162, 164, 289 Pastoraltheologie 72, 82–84, 72, 104–111, 192 f., 200 f., 255, 258, 289 Performanz 296, 299, 301, 307 performative Sprachhandlung 286 Perikope 192, 204, 209, 218 f., 268, 295, 316 Perikopenordnung 155 peroratio 17 Person des Predigers 16, 26, 36 f., 42, 106, 117, 119, 134, 192, 200 f., 209, 213, 220 f., 249–253, 255, 269, 314 f., 316 Pfarrer 36, 82–84, 146, 151, 159 f., 172, 199–201, 205, 211, 218 f., 221–223, 231 f., 325, 329, 331, 333 Pietismus 81–83, 93

Sachregister

Poesie 236, 240 f. Polemik 144 Prädikaturen 22 Praeloquium 87 Praktische Theologie 84, 127, 191 f., 202, 223, 237, 276, 291 Predigt 30, 134, 162, 165, 171 f., 224 f., 234, 238, 242, 256, 290, 302, 315, 322, 329 Predigtabsicht 103 f. Predigtakt 34, 204, 260 Predigt als dialogisches Geschehen 39, 42, 134, 192, 225, 239–241, 252, 255–257, 309, 313, 315, 323, 327 Predigt als Rede 4, 227–246, 327 Predigtamt (s.a. Amt, Lehramt) 25 f., 31–36, 40, 65 f., 78, 84, 104–106, 108–110, 129, 170, 200, 288 Predigtaufgabe 84, 114, 126, 136, 170, 214 f., 272 f., 290, 303, 332 Predigtauftrag 1, 202, 204, 206, 214, 218, 220 f., 224 f., 260, 338 Predigthilfe 21, 82, 214, 224–226 Predigtideal 128, 137–156 – Inhalt der Predigt 117–129, 123, 127, 143, 160, 187 f., 224, 234–236, 243, 257, 288, 312, 324, 326, 344 – Inhalt und Form der Predigt 5, 81, 119, 228, 234–236, 238 f., 283, 299 f., 307, 310, 326, 329 Predigtkritik 217, 221, 226, 232, 260, 273 Predigtmeditation 289 Predigtmethode 7, 16, 92, 89–91, 111, 116, 123, 127, 211, 214 f., 217, 248, 255 f. Predigtpraxis 21, 40, 82, 113, 128, 145, 159, 191, 234, 244, 258, 271, 330 Predigtsituation (s.a. homiletische Situation, Situation) 194–226, 236, 259, 305, 310, 329 Predigtstoff 154 f. Predigttext (s.a. biblische Texte, Text) 90 Predigtthema (s.a. Thema) 127, 230, 288, 314, 326 Predigtvorbereitung 210, 217, 222, 244, 260, 289, 291, 331, 342 Predigtwirkung 125–127, 137, 141 f., 156, 200, 206, 217, 243, 259, 261, 267, 323, 333, 336–338, 340, 342 Predigtziel 103, 266, 268

365

Predigtzweck 79 f., 92 f., 95–102, 104–111, 120, 125, 129 f., 135, 284 f., Priestertum aller Gläubigen 270 Produktionsästhetik 255, 305 pronuntiatio 17 propositio 81, 87, 90 Psychologie 127, 150–153, 156, 215, 221 Rationalismus 132, 147 Rechtfertigung 41, 65, 73, 100, 108, 257, 275, 312, 318, 324 f., 329 Reformation 22, 39 f., 42, 81, 125, 163, 256, 264, 276–278, 317, 325 Religion 1, 22, 39, 68, 74, 83 f., 92, 107, 109–111, 113 f., 119, 124, 127, 137, 141, 146, 150, 156, 166, 190, 192, 195, 231, 245, 263 f., 312, 317, 322, 325, 327, 343–345 – kirchliche Religion 126 – religiöse Kirchenkunde 127 – religiöse Rede 4, 116–123, 343–345 – religiöse Volkskunde 127 – religiöser Sozialismus 159 – religiöses Bewusstsein 113 Religionsgeschichte 125, 167, 181 Religionsphilosophie 5, 125 Religionspsychologie 127 Religionssoziologie 191, 255 Religionsunterricht 203, 217, 221, 309 Religionswissenschaft 181 Rezeptionsästhetik 255–257, 269, 271–273, 275–278, 305 f. Rhetorik 3–7, 13 f., 16 f., 42, 92, 116, 192 f., 221, 227–246, 255, 282–284, 316, 321, 330 Ritual 241 Sakrament 5, 21–23, 39–41, 44, 65–67, 74, 93, 158, 163, 201, 277, 281, 309, 312, 331 Säkularisierung 184 f., 187 Schrift (s.a. Bibel, Wort Gottes) 9, 29 f., 33 f., 38, 45, 48 f., 58, 67, 72, 80, 142, 162, 168, 171 f., 180, 182, 312, 334 – reformatorisches Schriftprinzip 167 Schriftauslegung (s.a. Auslegung) 7, 24 f., 35, 42, 72 f., 80, 99, 144, 161, 163, 179, 197, 204 f., 212 f., 215, 225, 232–234, 310 f., 316, 321, 330, 345

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Sachregister

Schriftbindung 38, 67, 234, 320, 332 Seele 14, 27, 47, 93 f., 96–103, 105–108, 110 f., 142, 151, 153, 156, 158, 344 Seelenleitung 27, 32 Seelsorge 27, 31, 35, 197, 202, 209, 221, 325, 339, 342 Sekte 157 f., 167 Semiotik 275, 291–295 Sermon 73 Sinn 195, 286 f., 343–345 Situation (s.a. homiletische Situation, Predigtsituation) 127, 137, 159, 172 f., 175, 178, 182 f., 194–226, 231–233, 240, 242–244, 249–260, 262, 266, 268, 273, 277, 279, 282, 284, 289, 293, 316, 344 f. – kirchliche Situation 135 f. Situationsbezug 41, 127, 151 Skopus 179, 226, 267 f., 274, 316 soziale Predigt 139 f., 156 Sozialpsychologie 221, 259, 267 Soziologie 191, 215, 221 spezielle Predigt 146–148 Spiritualität 309, 321, 331 Sprache 1 f., 51, 117 f., 191, 199, 205–209, 221, 228, 239–241, 247, 264, 277, 279–288, 290, 295–300, 304, 308, 315, 317, 330 – instrumenteller Sprachgebrauch 285–287, 290, 299 – medialer Sprachgebrauch 287–289 – Zeichensprache des Glaubens 308–331 Sprachwissenschaft 282, 287 Subjektivität 134, 248, 250, 345 Suffizienz 67 Sünde 19, 36 f., 44, 46, 48, 51 f., 56 f., 62–65, 69 f., 70, 75, 96 f., 100, 113, 131, 175, 187, 338 f., Taufe 23, 44, 74, 83, 93, 135, 147, 166, 169, 199, 204, 339 Text (s.a. biblische Texte, Predigttext) 35, 41, 53, 89–91, 99, 114, 154, 179, 192, 194 f., 204 f., 219 f., 244, 256, 268, 274 f., 291, 293–295, 304 f., 309–311, 316–321, 330, 332, 342342 – Text und Situation 192, 194–226, 289 Textbindung 154 f., 220, 232, 235, 244, 332 Thema 90 f., 147 f., 154, 220, 297

Themapredigt 82 Theologie 41, 74, 89, 92, 125, 137, 159, 161, 180–182, 184, 219, 266, 311 Theologiestudium (s. a. homiletische Ausbildung) 26–29, 32, 36, 82, 92, 135, 165, 200, 221 f., 333 tractatio 81, 88 Tropik 283 Trost 46, 63 f., 81, 93, 97, 107 f., 133, 176, 243, 259, 261 Umkehr 318, 322–324, 340 usus 89 f., 138 usus consolatorius 81, 88 usus didascalicus 81 usus elenchticus 81, 88 usus epanorthoticus 81 usus paedagogicus 88 usus paedeuticus 81 usus vocabuli 281 Verantwortung 202, 208 f., 216, 284 Vergebung 44, 52, 62–65, 69, 96,100, 158, 178, 186 f., 277, 281 Vergewisserung 195 f., 257 Verheißung 47, 56 f., 60, 108, 184, 193, 202, 206–209, 212, 214 f., 219 f., 223–225, 281, 331 Verkündigung 161, 178, 180, 184–191, 195–197, 201, 225, 231, 233–235, 243, 249, 332–334, 337–341, 343 Vermittlungsauftrag der Predigt 174–177 Vernunft 30, 38, 101, 103 f., 106 f., 164, 207, 281 Verstand 8, 10, 28, 89, 93, 103 f., 110 Vollmacht 74, 76 f., 79, 257, 332–343 Wahrheit 3, 6 f., 11, 13, 16, 27 f., 34, 38, 74, 77 f., 81, 100, 105, 107, 110 f., 134, 138, 147–149, 196, 186 f., 201, 208, 227, 233, 238 f., 253, 300 Wesen des Christentums 1 f., 99, 101, 108, 127 Wiedergeburt 83, 344 Wille 29, 89, 103 f. wirksames Handeln (s.a. darstellendes Handeln) 114 f., 125–127, 129–136

Sachregister

Wort – äußeres Wort (verbum externum) 317, 331 – mündliches Wort 1, 41, 43 f., 49, 243 – Wort Gottes (s.a. Bibel, Schrift) 1, 6, 30, 32, 36, 57–59, 67, 71, 98, 160–183, 185, 197, 202, 204, 213 f., 230, 242 f., 278, 281, 283f., 312, 331 – Wort und Glaube 39, 277

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– Wort und Sakrament 65, 158 Wort-Gottes-Theologie 159, 191, 212, 256 Zeuge 179, 208f., 212, 220, 224 Zeugnis 139, 154, 168f., 173, 177, 179, 208f., 212, 214, 218, 220, 247, 249f., 269, 293–295, 330, 334 Zweifel 206, 212, 247, 250, 252, 272